Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980: Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert [1 ed.] 9783737010122, 9783847110125


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German Pages [431] Year 2019

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Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980: Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert [1 ed.]
 9783737010122, 9783847110125

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Jugendbewegung und Jugendkulturen Jahrbuch

herausgegeben von Meike Sophia Baader, Karl Braun, Wolfgang Braungart, Eckart Conze, Gudrun Fiedler, Alfons Kenkmann, Rolf Koerber, Michael Philipp, Dirk Schumann, Detlef Siegfried für die »Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung«

Jahrbuch 15 j 2019

»Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch« ist die Fortsetzung der Reihe »Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung«. Die Bandzählung wird fortgeführt.

Detlef Siegfried / David Templin (Hg.)

Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980 Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert

Mit 15 Abbildungen

V& R unipress

Finanziert durch das Hessische Ministerium fþr Wissenschaft und Kunst

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar.  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Redaktion: Susanne Rappe-Weber Umschlagabbildung: Unter Verwendung der Grafik »Frþhling« von Hugo »Fidus« Hçppener Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2365-9106 ISBN 978-3-7370-1012-2

Inhalt

Einleitung der Herausgeber Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Sven Reichardt Alternative Pfade. Politiken und Wissensformen der Subjektivierung, Erfahrung und Kreativität im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . .

29

Modernitätskritik Joachim C. Häberlen Genealogien der Vernunftkritik: Von der Lebensreform zur Alternativbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Bernadett Bigalke Healthy, Happy, Holy : »Yoga« und Selbstverhältnisse um 1900 und um 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Nadine Zberg Von der Gartenstadt in den Stadtdschungel. Stadtkritik am Anfang und am Ende der städtebaulichen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Wissenschaftskritik und Wissenschaftsgeschichte Rosa Eidelpes Gegenkultur : Zur Rolle der »Primitiven« für die Zivilisationskritik um 1900 und die »alternative Ethnologie« um 1980 . . . . . . . . . . . . . . 107

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Inhalt

Ulrich Linse Die wissenschaftliche Wiederentdeckung des historischen Alternativmilieus. Annotierte persönliche Erinnerungen . . . . . . . . . 125

Alternative Ernährung und Reformwirtschaft Eva Locher »Keimzellen einer einfachen, gesunden, friedlichen Lebensweise«. Zur Interaktion zwischen alten Lebensreformern und jungen Alternativen in der Schweiz in den 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . 151 Jörg Albrecht Reformkost und Naturkost. Kontinuitäten und Brüche alternativer Ernährung zwischen Lebensreform und Alternativmilieu . . . . . . . . . 173

Sexualität Elija Horn Sexuelle Befreiung aus Indien. Jugendkulturelle Verknüpfung von »östlicher Spiritualität« und Sexualität um 1918 und um 1980 . . . . . . 195 Lutz Sauerteig Von Hodann zu Amendt: Vorstellungen von sexueller »Liberalisierung«, kindlicher Sexualität und Geschlechterverhältnissen in der Sexualerziehung um 1900 und um 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Kulturelle Ausdrucksformen Gunter Mahlerwein Vom Zupfgeigenhansl zu Zupfgeigenhansel. Brüche und Kontinuitäten zwischen Wandervogel und Deutschfolkbewegung der 1970er Jahre . . . 255 Bodo Mrozek Walle, walle, nimm die schlechten Lumpenhüllen. Body politics der Langhaarigkeit in Lebensreform um 1900 und alternativem Milieu um 1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Weiterer Beitrag Kay Schweigmann-Greve »Ein Gespenst geht um in der BRD – das Gespenst der Jugendzentrumsbewegung!«. Die SJD – Die Falken und die unabhängige Jugendzentrumsbewegung in den 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . 295

7

Inhalt

Werkstatt Sandra Funck Sechster Workshop zur Jugendbewegungsforschung . . . . . . . . . . . . 321 Marcel Glaser Dissertationsprojekt: Peter Koller (1907–1996). Stadtplaner in Diktatur und Demokratie. Eine Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Viola Kohlberger »Es lebe Christus in deutscher Jugend!« Katholische Jugendverbandsarbeit im Bistum Augsburg 1945–1963 Ewgeniy Kasakow Thesen zum »Globalen 1968« in der Sowjetunion

. . . . . . . . . . 331

. . . . . . . . . . . . . 335

Rezensionen Claudia Selheim, Frank Matthias Kammel, Thomas Brehm (Hg.): Wanderland. Eine Reise durch die Geschichte des Wanderns, Nürnberg 2018 (Hans-Ulrich Thamer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Jugendbewegung, Stuttgart 2018 / Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charismas. Biographie, München 2007 / Christophe Fricker (Hg.): Krise und Gemeinschaft. Stefan Georges Der Stern des Bundes, Frankfurt am Main 2017 / Thomas Karlauf: Stauffenberg: Porträt eines Attentäters, München 2019 (Günter C. Behrmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Hans-Joachim Rieß: Die öffentliche Musikschule in Deutschland im Begründungszusammenhang kultureller Bildung. Eine ideengeschichtliche Untersuchung vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Kassel 2019 (Susanne Rappe-Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Mischa Honeck: Our Frontier is the World. The Boy Scouts in the Age of American Ascendancy, Ithaca / London 2018 (Frauke Schneemann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

8

Inhalt

Peter Michalzik: 1900. Vegetarier, Künstler und Visionäre suchen nach dem neuen Paradies, Köln 2018 (Wolfgang Braungart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Eckart Conze: Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, München 2018 (Hans-Ulrich Thamer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Steffen Theilemann: Harald Schultz-Hencke und die Freideutsche Jugend. Biografie bis 1921 und die Geschichte einer Bewegung, Gießen 2018 (Antje Harms) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Elija Horn: Indien als Erzieher. Orientalismus in der deutschen Reformpädagogik und Jugendbewegung 1918–1933, Bad Heilbrunn 2018 (Wolfgang Braungart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Susanne Heyn: Kolonial bewegte Jugend. Beziehungsgeschichten zwischen Deutschland und Südwestafrika zur Zeit der Weimarer Republik, Bielefeld 2018 (Gudrun Fiedler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Hartmut E. Arras: Vom Freischärler zum Propagandisten des Nationalsozialismus. Mein Vater Erwin Arras (1905–1942), Bremen 2018 (Jürgen Reulecke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Detlef Siegfried: 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018 (Saskia Fischer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Meike Sophia Baader, Christian Jansen, Julia König, Christin Sager (Hg.): Tabubruch und Entgrenzung. Kindheit und Sexualität nach 1968 (Beiträge zur historischen Bildungsforschung 49), Köln, Weimar, Wien 2017 (Karl Braun) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397

Rückblicke Susanne Rappe-Weber Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2018 . . . . . . 409 Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2018 und Nachträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

Inhalt

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Wissenschaftliche Archivnutzung 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419

Anhang Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

Einleitung der Herausgeber

Im Jahr 1980 erschien Gudrun Pausewangs autobiographisches Buch »Rosinkawiese« mit dem Untertitel »Alternatives Leben vor 50 Jahren«.1 Die Autorin, die in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren in einem alternativen Siedlungsprojekt ihrer vom Wandervogel geprägten Eltern im ländlichen Ostböhmen aufgewachsen war, schilderte das Leben in diesem Projekt in Form eines Briefromans aus der Perspektive ihrer Mutter. Adressiert waren die Briefe an den Enkel einer Freundin, der 1979 die Gründung einer Landkommune ins Auge gefasst hatte. Die 52-jährige Pausewang vermittelte mit ihrem Buch die Werte, Ideale und sozialen Praxen der alten Lebensreformbewegung einer neuen Generation von jugendlichen Alternativen, die ganz ähnliche Vorstellungen hegten – vom betont »einfachen« und »naturverbundenen Leben« auf dem Lande über die vegetarische Ernährung »aus Überzeugung« bis zur Nacktkörperkultur. Pausewangs Buch erschien auf dem Höhepunkt der Herausbildung eines linksalternativen Milieus, dessen Experimente mit alternativen Projekten, Betrieben und Landkommunen seit Mitte der 1970er Jahre einen Aufschwung erfahren hatten.2 Sie bezog sich positiv auf diese Entwicklungen, wenn sie betonte, dass sich »eine Wende in der gesamten Einstellung zum Leben anbahn[e]«, und indem sie möglichen Vorurteilen gegenüber alternativen Lebensstilen entgegenzuwirken suchte.3 Gleichzeitig war sie bestrebt, ihre Erfahrungen in realistischer Form zu vermitteln und der jungen Generation auch die Härten und Probleme des »Lebens auf dem Lande« und des damit verbundenen Außenseiterdaseins zu verdeutlichen. Gudrun Pausewang, die in den 1970er und 1980er Jahren selbst in der Friedens- und Anti-Atomkraft-Bewegung aktiv war bzw. sich in deren Sinne schriftstellerisch betätigte,4 nahm mit ihrem Roman die Rolle

1 Gudrun Pausewang: Rosinkawiese. Alternatives Leben vor 50 Jahren, Ravensburg 1980. 2 Vgl. Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014. 3 Pausewang: Rosinkawiese (Anm. 1), S. 17. 4 Vgl. Uwe Jahnke: Gudrun Pausewang. Leben und Werk, Ravensburg 2010.

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Einleitung der Herausgeber

einer Vermittlerin zwischen der alten Lebensreform- und der neuen Alternativbewegung ein, wobei sie letztlich mit beiden biographisch verwoben war. Neun Jahre vor dem Erscheinen von »Rosinkawiese«, im August 1971, hatte Der Spiegel mit einem Cover aufgemacht, das eine Gruppe von langhaarigen Jugendlichen mit einer Sense und anderen landwirtschaftlichen Geräten im Grünen zeigte. Unter dem Titel »Deutsche Jugendbewegung 71« wurde seitens des Magazins eine »Flucht[bewegung] aus der Gesellschaft« konstatiert.5 Die Abkehr zeitgenössischer Hippies von der Leistungsgesellschaft und ihre Suche nach Identität und Einfachheit wurden dabei mit den »Ich-Sucher[n] deutscher Romantik« und den »Wandervögel[n] der Ära vor Hitler« verglichen.6 Drei Jahre später referierte das Magazin einen ähnlichen Vergleich, den die CDU in Schleswig-Holstein vorgenommen hatte: »Die bundesdeutsche Jugend sei in einem Aufbruch ›ähnlich wie zur Zeit der Jugendbewegung‹ vor sechzig Jahren«, war nun zu lesen.7 Solche medial gezogenen Vergleiche zielten auf die offensichtlichen Ähnlichkeiten jugendlicher Ausdrucksformen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und um 1970 ab. Mit Blick auf BohHme, Lebensreform, Jugendbewegung und das zeitgenössische Alternativmilieu sprach der Publizist Christoph Conti 1984 von »offenkundig[en]« Parallelen zwischen den vier Phänomenen. Er warf die Fragen auf: »Gibt es eine Einheit der alternativen Bewegungen der letzten hundert Jahre? Oder sind die Beziehungen zufällig, der Zusammenhang […] willkürlich konstruiert?«8 Zwar unterstellt die Vorstellung einer »Einheit« eine falsche Homogenität, aber Zusammenhänge zwischen den verschiedenen historischen Phänomenen sind teilweise schon auf den ersten Blick evident. Darauf verweisen die Kontinuitäten, die es etwa zwischen Lebensreform und Alternativmilieu, aber auch zwischen alter und neuer Jugendbewegung gab. So waren die vom linken Flügel der Jugendbewegung initiierten Festivals auf der Burg Waldeck (1964–1969) ein bedeutender Katalysator der »Underground«-Kultur in der Bundesrepublik. Im Interesse für den Protestsong waren manche seiner Akteure mit den Liedermachern und Protagonisten des Polit- und Krautrock konfliktreich verbunden.9 In der Jugendzentrumsbewegung der 1970er Jahre spielte der Bund Deutscher Pfadfinder eine zentrale Rolle. Nach einem Linksruck um 1968 wandten sich 5 6 7 8

Der Spiegel, Nr. 33/1971, 09. 08. 1971. Peter Brügge: »Wir wollen, daß man sich an uns gewöhnt«, in: ebd., S. 36–51, hier S. 36. »Wo aber fängt das Petting an?«, in: Der Spiegel, 3/1974, 14. 01. 1974, S. 38–49, hier S. 38. Christoph Conti: Abschied vom Bürgertum. Alternative Bewegungen in Deutschland von 1890 bis heute, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 193. 9 Detlef Siegfried: Chanson Folklore International. Die Festivals auf der Burg Waldeck 1964 bis 1969, in: G. Ulrich Großmann u. a. (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung (Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums), Nürnberg 2013, S. 183–189.

Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980

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seine Protagonisten neuen Bewegungen wie der Schüler-, der Lehrlings- und der Jugendzentrumsbewegung zu und unterstützten diese u. a. durch die Organisation von Zeltlagern.10 In anderen sozialen Bewegungen der Zeit, in der Friedens- oder Anti-Atomkraft-Bewegung und später bei den Grünen, spielten zudem Personen eine Rolle, die ihre Sozialisation in jugendbewegten Bünden erhalten hatten. Zu nennen wären etwa Arno Klönne, Helmut Gollwitzer, Jürgen Seifert oder Robert Jungk.11 In den 1970er und 1980er Jahren gab es also auf der einen Seite immer wieder Bezugnahmen auf und Vergleiche mit früheren alternativen und lebensreformerischen Bewegungen, auf der anderen Seite sind aber auch tatsächliche Kontinuitäten auszumachen – wenn auch oft in eher untergründiger Form, etwa in Gestalt bestimmter Einzelpersonen, möglicherweise aber auch in organisations- und ideengeschichtlicher Hinsicht, mit Blick auf kulturelle Praxen oder habituelle Muster. Im vorliegenden Band, der auf die Tagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein im November 2018 zurückgeht, möchten wir solchen Fragen – nach Ähnlichkeiten und Differenzen, nach Bezugnahmen, Kontinuitäten und Brüchen zwischen Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1970/80 – nachgehen. Die Aufsätze des Bandes widmen sich dabei verschiedenen Teilphänomenen, die jeweils mit Blick auf beide Zeiträume untersucht werden, wobei die Autorinnen und Autoren vergleichend vorgehen oder nach Transfers fragen.

Forschungsstand und Fragestellungen Die Geschichte der Lebensreformbewegungen um 1900 ist seit den 1970er Jahren in den Blick der historischen Forschung geraten. Von zentraler Bedeutung war dabei die 1974 erschienene Studie »Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform« von Wolfgang R. Krabbe. Krabbe sah in der Lebensreform eine soziale Bewegung, die einen »evolutionäre[n] Wandel der Gesellschaft […] durch die Summierung individueller Selbst-Erziehung« anstrebte, dabei aber die Gestalt

10 David Templin: Vom Pfadfinderbund zur »Organisation der Selbstorganisierten«. Der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) und die Jugendzentrumsbewegung der 1970er Jahre, in: Karl Braun, Felix Linzner, John Khairi-Taraki (Hg.): Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung« (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 13j2017), Göttingen 2017, S. 181–203. 11 Zu Gollwitzer, Jungk und Seifert vgl. die biographischen Essays in: Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen (Formen der Erinnerung 52), Göttingen 2013. Als Auseinandersetzung eines »Jugendbewegten« der frühen 1920er Jahre mit der Jugendrevolte von »1968«: Klaus Mehnert: Jugend im Zeitbruch, Reinbek bei Hamburg 21978.

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Einleitung der Herausgeber

einer »säkularisierten Heilslehre« angenommen habe.12 Dabei unterschied er zwischen einem engeren Kreis organisierter Reformbewegungen, dem er Vegetarismus, Nacktkultur und Naturheilkunde zurechnete, und einem »äußeren Kreis«, der Boden- und Wohnungsreform, Siedlungsbestrebungen und die Jugendbewegung umfasse und lediglich Affinitäten zur Lebensreform aufweise.13 Die Unschärfe in der Bestimmung des Phänomens der »Lebensreform«, die hier deutlich wird, hat der Forschung bis in die jüngste Zeit zu schaffen gemacht. So kritisiert Bernd Wedemeyer-Kolwe in seiner 2017 erschienenen Überblicksdarstellung die zunehmende »definitorische Beliebigkeit« mit Blick darauf, was alles unter dem Begriff gefasst wird. Er geht stattdessen von einer engen Definition aus und rechnet – in Anknüpfung an frühe Studien zum Thema – lediglich die vier Strömungen der alternativen Ernährung, der Naturheilkunde, der Körperkultur und der Siedlung der »Lebensreform« zu. Ideologisch seien alle vier von der Trias aus »Selbstreform, Sozialutopie und Erlösungsphantasien« geprägt gewesen, was sie von anderen zeitgenössischen Reformbewegungen unterscheide.14 In den zahlreichen Studien, die seit den späten 1980er Jahren erschienen waren, waren bis dahin unterschiedliche lebensreformerische Bewegungen mit Blick auf Sozialstruktur, Vereine und Organisationsformen, Diskurse und gesellschaftliche Auswirkungen untersucht worden.15 Florentine Fritzen hat die Lebensreform als Netzwerk mit einer longue dur8e analysiert und deren Fort12 Wolfgang R. Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode (Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im Neunzehnten Jahrhundert 9), Göttingen 1974, S. 7, 169. 13 Ebd., S. 13. 14 Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2017, S. 11–21, hier S. 17. Wedemeyer-Kolwe formulierte seine Kritik vor allem mit Blick auf den Ausstellungskatalog von Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilke Peckmann, Klaus Wolbert (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001. Im Handbuch von Kerbs und Reulecke zu deutschen Reformbewegungen werden dagegen sehr heterogene Bewegungen behandelt, unter denen die »Lebensreform« lediglich eine Ausprägung darstellt; vgl. Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998. 15 Vgl. etwa Maren Möhring: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890–1930) (Kölner Historische Abhandlungen 42), Köln 2004; Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1996; Cornelia Regin: Selbsthilfe und Gesundheitspolitik. Die Naturheilbewegung im Kaiserreich (1889 bis 1914) (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 4), Stuttgart 1995; Judith Baumgartner : Ernährungsreform – Antwort auf Industrialisierung und Ernährungswandel. Ernährungsreform als Teil der Lebensreformbewegung am Beispiel der Siedlung und des Unternehmens Eden seit 1893 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3, Band 535), Frankfurt a. M. u. a. 1992; Cordula Hölzer : Die Antialkoholbewegung in den deutschsprachigen Ländern (1860–1930) (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3, Band 376), Frankfurt a. M. 1988.

Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980

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existenz bis in das späte 20. Jahrhundert in den Blick genommen.16 Aktuell wird die »Lebensreformbewegung in der Schweiz im 20. Jahrhundert« in einem Projekt an der Universität Fribourg unter der Leitung von Damit Skenderovic erforscht.17 Dass jüngere Studien das Fortwirken lebensreformerischer Bestrebungen auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersuchen, verweist darauf, dass die zeitlichen Grenzen des Phänomens nur unscharf zu bestimmen sind. Janos Frecot sprach bereits 1976 davon, dass die Lebensreformbewegung »im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ihren Anfang« genommen habe und »bis in die Gegenwart« reiche, auch wenn sie »ihre breiteste Entfaltung« im Kaiserreich erfahren habe.18 Die Erforschung des Alternativmilieus der 1970er/80er Jahre ist im Unterschied zu den lebensreformerischen Strömungen erst in den letzten zehn Jahren intensiv vorangetrieben worden. Nach einem Auftakt durch zwei Sammelbände19 fand die Konjunktur akademischer Schriften zum Thema ihren Niederschlag in Sven Reichardts Gesamtdarstellung von 2014 sowie zahlreichen Detail- und Lokalstudien, die unterschiedliche Aspekte – von spezifischen Räumen über alternative Subjektivierungsweisen bis zum alternativen Sport – beleuchten.20 Ein besonders starkes Interesse richtet sich zur Zeit auf transnationale Kontakte und Transfers. Dazu zählt etwa das alternative Reisen, für das Richards Jobs mit 16 Florentine Fritzen: Gesünder Leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert (Frankfurter historische Abhandlungen 45), Stuttgart 2006. 17 Vgl. www.lebensreform-zeitgeschichte.ch (03. 05. 2019) und den Beitrag von Eva Locher in diesem Band. 18 Janos Frecot: Die Lebensreformbewegung, in: Klaus Vondung, Gerhard Dilcher (Hg.): Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976, S. 138–152, hier S. 138. 19 Sven Reichardt, Detlef Siegfried (Hg.): Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa, 1968–1983 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 47), Göttingen 2010; Cordia Baumann, Nicolas Büchse, Sebastian Gehrig (Hg.): Linksalternative Milieus und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren (Akademie-Konferenzen 5), Heidelberg 2011. 20 Vgl. Reichardt: Authentizität (Anm. 2); Zur »Provinz« vgl. Julia Paulus (Hg.): ›Bewegte Dörfer‹. Neue soziale Bewegungen in der Provinz 1970–1990 (Forschungen zur Regionalgeschichte 83), Paderborn 2018. Spezifische Infrastrukturen und Räume des Milieus beleuchten Uwe Sonnenberg: Von Marx zum Maulwurf. Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren (Geschichte der Gegenwart 11), Göttingen 2016; David Templin: Freizeit ohne Kontrollen. Die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 52), Göttingen 2015. Den linken und alternativen »Psychoboom« untersucht Maik Tändler : Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren (Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 30), Göttingen 2016. Zu alternativer Körper- und Sportkultur: Simon Lattke: »Vögeln statt Turnen«. Neue linke, linksalternative und subversive Bewegungskultur in der Bundesrepublik Deutschland 1968–1989, Essen 2018. Emotionsgeschichtlich: Joachim Häberlen: The Emotional Politics of the Alternative Left. West Germany, 1968–1984, Cambridge u. a. 2018.

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Einleitung der Herausgeber

seinem Buch »Backpack Ambassadors« 2017 eine bedeutende Forschungsschneise geschlagen hat.21 Beim Blick auf die Heterogenität lebensreformerischer bzw. alternativer Ansätze, Bewegungen und Projekte ist gleichwohl deren enge Verzahnung und Verflechtung hervorzuheben. Ähnlich wie im alternativen Milieu der 1970er Jahre, in dem eine Person gleichzeitig in einer Anti-Atomkraft-Initiative mitarbeiten, in einem alternativen Betrieb beschäftigt sein, in ihrer Freizeit das alternative Kommunikationszentrum besuchen und Leserin einer alternativen Stadtzeitung gewesen sein konnte, lässt sich auch für die Zeit des Kaiserreichs sagen: »Häufig waren die Vegetarier Impfgegner, praktizierten Naturheilkunde, gehörten der Gartenbewegung an und förderten die FKK-Bewegung.«22 Im Unterschied zum alternativen Milieu, das stark von politisch linken Vorstellungen geprägt war und vor diesem Hintergrund in der Forschung auch mit dem Attribut »linksalternativ« charakterisiert wird,23 gab es in den Reform- und Jugendbewegungen des Kaiserreiches und der Weimarer Republik eine bedeutsame und einflussreiche völkische Strömung.24 Auch wenn die Ähnlichkeiten zwischen Lebensreform und Alternativmilieu in früheren Studien immer wieder am Rande aufschienen, ist bislang kein systematischer Vergleich oder eine Untersuchung von Kontinuitäten, Transferleistungen oder Rezeptionsweisen unternommen worden. Ansätze dazu finden sich in Studien aus den 1980er Jahren, die die alternativen Bewegungen der damaligen Gegenwart in eine Kontinuitätslinie zu solchen im 19. Jahrhundert stell-

21 Richard Ivan Jobs: Backpack Ambassadors. How Youth Travel Integrated Europe, Chicago u. a. 2017. Andere, aktuell bearbeitete Projekte behandeln den »Hippie Trail« oder binneneuropäische Alternativreisen. Für europäische Perspektiven auf das Alternativmilieu: Joachim Häberlen, Mark Keck-Szajbel, Kate Mahoney (Hg.): The Politics of Authenticity. Countercultures and Radical Movements across the Iron Curtain, 1968–1989 (Protest, Culture and Society 25), New York u. a. 2019; Knud Andresen, Bart van der Steen (Hg.): A European Youth Revolt. European Perspectives on Youth Protest and Social Movements in the 1980s, Basingstoke u. a. 2016; Detlef Siegfried: The Emergence of the Post-National Subject: Identity Constructions in European Alternative Milieus, 1966–83, in: Poul Villaume, Rasmus Mariager, Helle Porsdam (Hg.): The »Long 1970s«. Human Rights, East-West D8tente, and Transnational Relations, London u. a. 2016, S. 187–206; Robert Gildea, James Mark, Anette Warring (Hg.): Europe’s 1968. Voices of Revolt, Oxford 2013. 22 Barlösius: Lebensführung (Anm. 15), S. 217. 23 Gleichzeitig gab es insbesondere bei den frühen Grünen, aber auch in der Anti-AtomkraftBewegung Einflüsse rechter und anthroposophischer Strömungen, die teilweise selbst auf (völkische) Reformvorstellungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgingen. Vgl. Silke Mende: »Nicht rechts, nichts links, sondern vorn«. Eine Geschichte der Gründungsgrünen (Ordnungssysteme 33), München 2011. 24 Vgl. u. a. Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hg.): Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871–1918, München u. a. 1996.

Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980

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ten,25 sowie in Darstellungen zu einzelnen Feldern wie der alternativen Medizin, bei denen das gesamte Jahrhundert in den Blick genommen wird.26 Aktuell sind erneute Bemühungen in dieser Richtung zu verzeichnen.27 Das Interesse jüngerer Forscherinnen und Forscher konzentriert sich dabei auf theoretischkonzeptionelle Ansätze der Modernitätskritik, aber vor allem auf konkrete Felder einer alternativen Praxis der ökonomischen Kooperation, der Selbstverwaltung und Selbstbestimmung, der nicht immer konfliktfreien Spannung zwischen politischer Intervention und kulturellem Anderssein bzw. dem, was man als »Körperpolitik von unten« bezeichnen könnte: Sexualität, Drogengenuss, spezifische Codierungen in Haartracht und Bekleidung. Im vorliegenden Jahrbuch möchten wir deshalb vier Leitfragen nachgehen: erstens der Frage nach zeitgenössischen Bezugnahmen, Vergleichen und Verarbeitungen. Inwiefern wurde sich im alternativen Milieu nach »1968« auf frühere Lebensstilexperimente, auf Formen eines kulturellen oder politischen Radikalismus bzw. »Avantgardismus« bezogen? Wie sahen diese Bezüge aus, lässt sich etwa von Vorbildern sprechen oder entdeckten die Akteurinnen und Akteure gewissermaßen nachträglich ihre historischen »Vorläufer«? Damit eng verbunden ist, zweitens, die Frage nach Kontinuitäten und Verbindungslinien – ob in personeller, diskursiver, organisatorischer oder kultureller, habitueller Hinsicht. Interessant ist aber auch der Blick auf Brüche und die Frage, warum spezifische Erscheinungsformen, Orientierungen und Praxen zu bestimmten Zeitpunkten wieder aufgegriffen wurden. Hinterfragt werden muss dabei, welche Relevanz etwaige Verbindungslinien wirklich besaßen – oder ob sie möglicherweise nur von geringem Einfluss waren bzw. nur an den Rändern des Milieus wahrgenommen wurden. Drittens wollen wir – mit Blick auf spezifische Erscheinungsformen, von neuer Religiosität über alternative Ernährung bis zu 25 Vgl. Ulrich Linse: Ökopax und Anarchie. Eine Geschichte der ökologischen Bewegungen in Deutschland, München 1986; Conti: Abschied (Anm. 8). 26 Vgl. Robert Jütte: Geschichte der alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute, München 1996. Jütte wie Conti wenden den in den 1970er Jahren popularisierten Begriff »alternativ« auch auf historische Vorläuferströmungen an. Mit Blick auf Kontinuitäten und Wandel nach 1945, aber auf die Lebensreform bzw. deren spezifische Ausprägungen fokussiert: Baumgartner : Ernährungsreform (Anm. 15), S. 211– 265; Fritzen: Leben (Anm. 16). 27 In eine ähnliche thematische Richtung wie die Archivtagung, aus der dieses Jahrbuch hervorgegangen ist, zielte etwa die von Ludivine Bantigny, Anne Kwaschik und Sven Reichardt organisierte Summerschool am Deutschen Historischen Institut in Paris: Tagungsbericht: Cooperation and Self-Government: Sociopolitical Experiments in the Nineteenth and Twentieth Centuries, 17.–19. 09. 2018 Paris, in: H-Soz-Kult, 22. 04. 2019, www.hsozkult.de/ conferencereport/id/tagungsberichte-8241. – Auch Stefan Bollmann verweist in seiner populär ausgerichteten Darstellung der Aussteigerprojekte am Monte Verit/ auf Verbindungslinien und Parallelen zu Phänomenen wie den Hippies; vgl. Stefan Bollmann: Monte Verit/. 1900. Der Traum vom alternativen Leben beginnt, München 2017, S. 284–289.

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body politics – einen analytischen Vergleich der beiden gesellschaftlichen Phänomene Lebensreform und Alternativmilieu versuchen. Angesichts der Vielfalt und Heterogenität der beiden Strömungen – neben der zeitlichen und thematischen Eingrenzung stellen uns bereits die verwendeten Begrifflichkeiten vor Probleme – scheint dies ein größeres Unterfangen zu sein, dem wir uns mit diesem Band und den darin versammelten Beiträgen nur in ersten Ansätzen nähern können. Schließlich geht es uns, viertens, um eine übergreifende Einordnung der lebensreformerischen und alternativen Strömungen im 20. Jahrhundert. Inwieweit handelte es sich hier um Bewegungen, die nicht nur auf subjektiver Ebene Industriegesellschaft und technischen »Fortschritt« ablehnten und »zurück zur Natur« strebten, sondern auch analytisch als antimodernistisch einzustufen sind? Oder sollte man vielmehr umgekehrt von eher avantgardistischen Milieus sprechen, die die gesellschaftliche Selbstreflexion befördert und damit auch zum Wandel bzw. zur Erneuerung der modernen Gesellschaft beigetragen haben? Im Folgenden möchten wir einige Überlegungen anstellen, die an diese letzte Frage anknüpfend nach dem Stellenwert der untersuchten Phänomene in der Geschichte moderner Gesellschaften fragen.

Antimoderne Strömungen, bürgerliche Fluchtbewegungen oder Schrittmacher einer anderen Moderne? Die vielfältigen lebensreformerischen Bewegungen, die seit den 1880er Jahren einen Aufschwung erlebten, entstanden, so Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke in dem 1998 von ihnen herausgegebenen Handbuch zur Geschichte der deutschen Reformbewegungen, »als Reaktionen auf die Herausforderungen infolge von rascher Industrialisierung und Technisierung, von Urbanisierung, Unterhaltungsindustrie und Massenzivilisation«.28 Eine frühe ideengeschichtliche Deutung hob vor diesem Hintergrund die antimodernistischen Elemente im Denken der Lebensreformer hervor.29 In einer solchen Interpretation wird jedoch nicht nur die Selbstsicht der Reformer ausgeblendet, die »davon überzeugt [waren], daß ihre Ideen in die Zukunft weisen«,30 sondern auch die Über28 Kerbs: Handbuch (Anm. 14), S. 12. Ähnlich sah Krabbe in ihnen eine »Reaktion auf den sozio-ökonomischen Umwandlungsprozeß«, auf Industrialisierung und Urbanisierung; Krabbe: Gesellschaftsveränderung (Anm. 12), S. 13. 29 Vgl. als jüngere Studie, die mit dem »Antimodernismus«-Theorem arbeitet: Thomas Faltin: Heil und Heilung. Geschichte der Laienheilkundigen und Struktur antimodernistischer Weltanschauungen in Kaiserreich und Weimarer Republik am Beispiel von Eugen Wenz (1856–1945) (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 15), Stuttgart 2000. 30 Barlösius: Lebensführung (Anm. 15), S. 19; kritisch zum Deutungsmuster des Antimodernismus: ebd., S. 17–19; Möhring: Marmorleiber (Anm. 15), S. 13.

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schneidungen zwischen Gesamtgesellschaft und Lebensreform sowie die praktischen Auswirkungen der verschiedenen Reformansätze und ihre Rolle in kulturellen wie gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen, etwa in der Ernährungsweise, im Städtebau oder der Pädagogik. Eva Barlösius hob in diesem Sinne hervor, dass »viele ursprünglich lebensreformerische Handlungsweisen und Produkte in die Gesamtgesellschaft diffundiert sind« – von der Homoöpathie bis zu den Reformhäusern.31 Das gleiche könnte man über die Auswirkungen der alternativen Kultur der 1960er bis 1980er Jahre und ihre massenwirksamen Hervorbringungen von Wohngemeinschaften über Haschischkonsum bis zu Naturkostläden sagen. Als Warnung an die Anhänger des Alternativmilieus ihrer Gegenwart um 1970 verstanden Janos Frecot, Johann Geist und Diethart Kerbs ihr Buch über den Künstler Fidus (1868–1948), den sie als Repräsentanten »bürgerlicher Fluchtbewegungen« in Gestalt der Lebensreform interpretierten.32 Ihre These war, dass die Reformbewegungen mit ihren vielfältigen »Fluchtlinien« aufs Land, in die Vergangenheit und die Innerlichkeit »die gescheiterte Revolution von 1848« kompensierten.33 Jetzt, nach »1968«, müsse es darum gehen, den Irrweg in das unpolitische Anderssein zu vermeiden und stattdessen an der Verbindung von kultureller und politischer Opposition festzuhalten. Ähnlich argumentierte rund zehn Jahre später Ulrich Linse in seiner Untersuchung der »Inflationsheiligen« der 1920er Jahre, die in seiner Deutung der gescheiterten Novemberrevolution auf dem Fuße folgten und Heilserwartungen, die auf sozialrevolutionärem Wege, im Hier und Jetzt gescheitert waren, über den Weg der individuellen Erlösung und der Vergemeinschaftung im Kreise Gleichgesinnter bedienten.34 Überträgt man dieses Modell auf die 1970er Jahre, könnte man den Aufschwung des linksalternativen Milieus, der mit ihm verbundenen Subjektivierungsweisen und Projekte als Reaktion auf das Scheitern der Revolutionshoffnungen von »1968« – die bis Mitte der 1970er Jahre in Gestalt unterschiedlicher linksradikaler Strömungen, allen voran der ML- bzw. K-Gruppen weitergetragen wurden – interpretieren.35 Warum der erste Aufschwung alternativer Gegenkulturen (wie der US-amerikanischen Hippies oder der deutschen »Gammler«) dann bereits auf dem Höhepunkt des wirtschaftlichen Nach31 Barlösius: Lebensführung (Anm. 15), S. 19. 32 Janos Frecot, Johann Friedrich Geist, Diethart Kerbs: Fidus 1868–1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, München 1972, S. 17f. 33 Ebd., S. 21f., S. 19. 34 Ulrich Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983. Ebenfalls auf diese Deutung rekurrieren: Marc Cluet, Catherine Repussard (Hg.): »Lebensreform«. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht, Tübingen 2013. 35 Die Jahre 1977/78 stellten dabei einen Wendepunkt dar. Vgl. Michael März: Linker Protest nach dem Deutschen Herbst. Eine Geschichte des linken Spektrums im Schatten des »starken Staates«, 1977–1979 (Histoire 32), Bielefeld 2012.

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kriegsbooms und noch vor den Ereignissen von 1967–69 einsetzte,36 lässt sich über dieses Deutungsmuster allerdings nicht erklären. Vielmehr kam es auf dem Höhepunkt spezifischer Wellen kapitalistischer Modernisierung offenbar zu einem »Unbehagen« an der Kultur, das in gegenkulturellen Artikulationsweisen seinen Niederschlag fand. Das Scheitern von Revolutionen bzw. gesellschaftlichen Revolten als Ausdruck einer derartigen Kritik wirkte dann eher als zusätzlicher Faktor, der die Abwendung von der Sphäre des Politischen verstärkte. Einen anderen Zugang als das Theorem der »Fluchtbewegung« wählen Deutungsweisen, die die Lebensreform oder das alternative Milieu nicht primär als reaktionär oder defizitär, sondern umgekehrt als Schrittmacher, Katalysatoren oder sogar Avantgarden gesellschaftlichen Wandels interpretieren.37 Das analytische Konzept der sozialen Bewegung etwa hebt den Aspekt des gesellschaftlichen Wandels hervor und sieht in ihm das zentrale Ziel lebensreformerischer bzw. alternativer Strömungen. Angewandt auf die Lebensreform, wurde diese als »kulturorientierte Bewegung« beschrieben, die sich im Unterschied zu politischen Bewegungen auf den »soziokulturellen Bereich« beschränkt habe.38 Demgegenüber stand das alternative Milieu der 1970er Jahre in enger Verknüpfung mit den sogenannten »neuen sozialen Bewegungen«, die dezidiert politisch ausgerichtet waren.39 Die konzeptionelle Rahmung als soziale Bewegung betont zwar die Orientierung der Akteure auf das Herbeiführen eines gesellschaftlichen Wandels, reduziert das vielfältige Spektrum an lebensreformerischen bzw. (links)alternativen Aktivitäten und Bestrebungen jedoch tendenziell auf die Rolle eines zielgerichtet agierenden, breitere Kreise mobilisierenden Kollektivsubjekts, das sich in spezifischen Bewegungsorganisationen artikuliert. Aus dem Blick geraten dabei etwa Praktiken und Techniken der Subjektivierung bzw. der individuellen oder kollektiven Lebensführung und ihrer gesellschaftlichen Ausbreitung, die sich nicht per se in organisatorischen und mobilisierenden Strukturen ausdrückten. 36 Vgl. zum Aufschwung alternativer Jugendkulturen in den »langen 1960er Jahren«: Arthur Marwick: The Sixties. Cultural Revolution in Britain, France, Italy and the United States, c. 1958–c. 1974, Oxford u. a. 1998; Detlef Siegfried: Time Is On My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 41), Göttingen 32017. 37 Vgl. Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch (Anm. 14), S. 162. Zwar nicht als Katalysatoren, aber als »Seismographen kommender Entwicklungen« stufte Frecot die lebensreformerischen Bewegungen 1976 ein, als er darauf hinwies, dass ihre Anfänge bereits vor dem Höhepunkt der Industrialisierung und Urbanisierung eingesetzt hatten; Frecot: Lebensreformbewegung (Anm. 18), S. 139f., hier S. 140. 38 Joachim Raschke: Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, Frankfurt a. M. 1985, S. 109–112. 39 Baumann: Milieus (Anm. 19). Zur analytischen Unterscheidung von Milieu und sozialer Bewegung vgl. Dieter Rucht: Linksalternatives Milieu und Neue Soziale Bewegungen in der Bundesrepublik. Selbstverständnis und gesellschaftlicher Kontext, in: ebd., S. 35–59.

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So erlebten etwa die lebensreformerischen Ideen und Praxen, die im Kaiserreich randständig geblieben waren, nach 1918 eine Popularisierung und Kommerzialisierung, die sie zu einem »Teil des modernen städtischen Lebensstils« machten.40 Zur Grundlage einer ganzen Gesellschaftstheorie hat der Soziologe Andreas Reckwitz derartige Abfolgen gemacht: Wie die kulturelle Avantgarde im frühen 20. Jahrhundert die im 18. und 19. Jahrhundert dominierende bürgerliche Subjektkultur in Frage stellte, so wirkte die Gegenkultur der späten 1960er und frühen 1970er Jahre als sprengendes Element der Subjektkultur der organisierten Moderne, die als technokratisch, konformistisch und entfremdet empfunden wurde.41 Statt dessen wurde die Kollektivität der kleinen Gemeinschaft als »Voraussetzung gegenkultureller Subjektivität« betrachtet. Die Akteurinnen und Akteure der Gegenkultur implantierten der westdeutschen Gesellschaft ein Subjektivitätskonzept, das dem sozialen Trend der Individualisierung entsprach. Insofern Reckwitz den Gegenkulturen eine Schrittmacherfunktion für die Herausbildung neuer »Subjektkulturen« zuweist, hat der theoretische Impuls aus der Soziologie die Erforschung in der Geschichtswissenschaft angeregt – und auch Legitimität vermittelt, sich mit diesem auf den ersten Blick abseitig erscheinenden Gegenstand zu beschäftigen. Reckwitz’ These hat auch die Frage nach Ähnlichkeiten und Unterschieden, Kontinuitäten und Brüchen zwischen der Lebensreform um 1900 und dem Alternativmilieu um 1970/80 noch einmal dringlicher erscheinen lassen – auch weil sie nahelegt, dass diese Erscheinungen auf zwei unterschiedliche Entwicklungsstufen der Moderne (falls man sich auf dieses leicht teleologische Denkmodell überhaupt einlassen will) auf ähnliche und doch auch unterschiedliche Art und Weise reagierten. Will man die Ergebnisse der Beiträge und der ihr zugrundeliegenden Tagung zusammenfassend systematisieren, so schälen sich folgende Aspekte heraus. Erstens sind die Ähnlichkeiten zwischen Lebensreform und Alternativmilieu frappierend: eine Kombination aus neuen Subjektivierungsweisen, die das Individuum zu reformieren suchten, bei gleichzeitiger Aufwertung von Gemeinschaft und Kollektivität; der Fokus auf Authentizität, Natur bzw. Natürlichkeit; ganzheitliche Ansätze und die Aufhebung von Entfremdung; Kritik an Moderne, kapitalistischer Industrie und Rationalität; das Siedeln auf dem Lande usw. – die Liste der Gemeinsamkeiten zwischen lebensreformerischen und alternativen Strömungen ist lang. Mehrere Beiträge in diesem Band wählen eine vergleichende Herangehensweise und arbeiten entsprechende Ähnlichkeiten heraus. Die Methode des Vergleichs ermöglicht zwar, historische Erscheinungsformen 40 Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch (Anm. 14), S. 152f., hier S. 153. 41 Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006.

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klarer zu konturieren, verbleibt aber oftmals auf der Ebene dieser Phänomene. Um die Ähnlichkeiten in den kulturellen Artikulationsformen, Ideen und Praktiken erklären zu können, muss aber die Frage nach deren Ursachen aufgeworfen werden. Mit Blick auf die Lebensreform und das Alternativmilieu wird deutlich, dass die Entwicklungen der kapitalistischen Moderne in westlichen Gesellschaften – sei es im Zuge von Urbanisierung und Industrialisierung, sei es im Gefolge von Wirtschaftswachstum und Konsumgesellschaft – kulturelle Reaktionen in spezifischen gesellschaftlichen Milieus (vor allem des Bürgertums und der Mittelschichten) provozierten, die auf einer Ablehnung dieser Entwicklungen basierten, dabei »alternative Pfade« (Sven Reichardt) entwarfen und zu realisierten suchten, faktisch aber aufs Engste mit der kapitalistischen Moderne verwoben waren. Mit Blick auf konkrete Verbindungslinien müssen, zweitens, Ausmaß und Bedeutung von Kontinuitäten, Transfers und Interaktionen zwischen Lebensreform und Alternativmilieu deutlich relativiert werden. »Die Bewegungen der letzten fünfzehn Jahre griffen nur punktuell auf ihre ›Vorgänger‹ zurück«, betonte Christoph Conti bereits 1984.42 Obwohl es solche Bezugnahmen und Interaktionen durchaus gab und weitere Forschungen in dieser Hinsicht zu begrüßen wären, spielten Lebensreform und »alte« Jugendbewegung für die gegenkulturellen Akteurinnen und Akteure der 1960er bis 1980er Jahre insgesamt doch eine untergeordnete Rolle. Stattdessen werden im Hinblick auf den Transfer von Impulsen der deutschen Lebensreform einzelne Verbindungsstränge in der Regel überlagert von internationalen Einflüssen, die wiederum wie ein Filter für die Adaption früherer Traditionen wirkten. Bezugspunkte für das Alternativmilieu waren nicht nur nationale lebensreformerische Traditionen, sondern in hohem Maße über die Massenmedien transportierte Impulse insbesondere aus den USA – hier inspirierten vor allem die Hippies u. a. durch Drogen, Makrobiotik oder neureligiöse Orientierungen und Praktiken –, aber auch aus Asien (neue Spiritualität) und aus anderen europäischen Ländern wie Frankreich (Chanson), Skandinavien (allgemeine Liberalisierung) oder den Niederlanden (Provos und Kabouter). Insofern sind auch Kontinuitätsgeschichten nur sinnvoll, wenn man sie »verflechtungsgeschichtlich denkt, erforscht und erzählt« (Bernadett Bigalke). Gleichzeitig sind hier auch die, jedenfalls aus deutscher Perspektive, bedeutendsten Desiderate zu verzeichnen. Hierzulande ist man immer noch der Auffassung, es handele sich bei der Lebensreform und speziell bei der Jugendbewegung um ein spezifisch deutsches Phänomen, während der transnationale Ansatz auf diesem Gebiet ein Schat-

42 Conti: Abschied (Anm. 8), S. 193.

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tendasein führt, was dringend zu beheben wäre.43 Interpersonale Kontakte zwischen älteren Akteuren der Lebensreform und jüngeren Alternativen finden sich durchaus – so etwa beim Vegetarismus oder der Freikörperkultur – und wurden auch oftmals beiderseits als Bereicherung empfunden. Allerdings war das Verhältnis keineswegs unkompliziert, wurden die Vorstellungen der Älteren von den Jüngeren nicht selten als allzu dogmatisch empfunden. Drittens ist auch hier – im Gegensatz zu anderen Ländern wie etwa der Schweiz, die starke Kontinuitäten aufweisen – die Zäsur des Nationalsozialismus kaum zu überzeichnen, die ein unmittelbares Anknüpfen an lebensreformerische Traditionen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts problematisch erscheinen ließ – zumal nicht wenige Lebensreformer von eugenischen und völkischen Vorstellungen geleitet waren und sich entsprechend engagiert hatten. Dies lässt sich am Beispiel ästhetischer Präferenzen im Alternativmilieu zeigen, die zwar oberflächlich betrachtet teilweise Ähnlichkeiten mit der Lebensreform aufweisen, aber seit den 1960er Jahren oftmals aus dem Distanzierungsbedürfnis im Verhältnis zu (vermuteten) NS-Körperpraktiken entstanden, die sich vermeintlich in der Bundesrepublik fortgesetzt hätten. Darauf verweisen musikalische Vorlieben ebenso wie Sexualpraktiken und Präferenzen bei der Haartracht. Das Folk-Revival in der Musikkultur der Bundesrepublik ging insbesondere musikalisch auf Impulse aus den USA, Großbritannien und Irland zurück. Anleihen bei dem in der Jugendbewegung populären Liedgut wurden zwar gelegentlich sichtbar, konzentrierten sich aber auf das, was man als »widerständig« verstehen konnte und aus der Vormoderne oder dem 19. Jahrhundert stammte, die als nationalkulturell noch nicht allzu kontaminiert galten. Auch auf diesem Gebiet wurde Traditionsgut nicht ungebrochen wiederbelebt, waren »die alten Lieder« (Franz Josef Degenhardt) doch durch die Nazis diskreditiert worden. Im Hinblick auf Körperpraktiken wurde dem Leitbild des asexuellen und »metallisch glatten Maschinenkörpers« (Bodo Mrozek) der Nationalsozialisten ein sensitives, experimentierfreudiges und legeres Ideal entgegengestellt. Dass auch hier »widerständige« Traditionsbezüge entstanden, 43 Zur transnationalen Einbettung vgl. jetzt exemplarisch: Eva Locher : Wider den »Irrsinn der Welt«. Die Lebensreform in der Nachkriegsschweiz, Diss., Fribourg 2018. Die bisherige Forschung geht überwiegend davon aus, dass »die Lebensreformbewegung in Deutschland eine größere Resonanz als in den anderen europäischen Staaten hatte« (Barlösius: Lebensführung (Anm. 15), S. 15) oder sogar ein spezifisch deutsches Produkt darstellte. Vgl. Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch (Anm. 14), S. 156–158, der in der Lebensreformbewegung ebenfalls »ein vorwiegend deutsches […] genauer : ein norddeutsch-großstädtisch-protestantisches Phänomen« erblickt, auch wenn in anderen europäischen und nordamerikanischen Ländern vergleichbare Phänomene, wenn auch in weniger chiliastisch-extremer Ausprägung, existiert hätten. Die Forschung dazu stehe allerdings noch am Anfang (ebd., S. 156). Das sieht für »1968« und das Alternativmilieu anders aus, vgl. die Angaben zum Forschungsstand weiter oben.

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zeigt sich an dem verbreiteten Rekurs auf die Befreiungssemantik Wilhelm Reichs, während die Mode der langen Haare nicht auf historische Wegbereiter zurückging, sondern auf Vorbilder in der internationalen Popkultur. Viertens schält sich heraus, dass der grundlegenden Gemeinsamkeit einer Kritik an Erscheinungen der Moderne (Rationalität, Industrialisierung, Entfremdung, Technokratie etc.) zum Trotz die unterschiedlichen zeitgenössischen Kontexte die jeweiligen Wahrnehmungen und alternativen Pfade erheblich beeinflussten. Immer wieder wird deutlich, wie sehr gewachsener Wohlstand, Medialisierung, Demokratisierung und gestiegene Mobilität in der zweiten Jahrhunderthälfte quantitative wie qualitative Unterschiede zwischen beiden Milieus bzw. Bewegungen bedingten. So war die Indienbegeisterung um 1900 ein zahlenmäßig sehr begrenztes Phänomen, während die Sannyasins im »therapeutischen Jahrzehnt« (Maik Tändler) der 1970er Jahre Tausende zählten. Mit der Kritik an der konventionellen Landwirtschaft seit den 1970er Jahren lässt sich eine »Ökologisierung« (Jörg Albrecht) der Naturkost beobachten, die die Reichweite körperfixierter traditioneller Reformkost überstieg und sich in ein übergreifendes Konzept ökologischen Wirtschaftens einbetten ließ. Zugleich sorgten auch hier konsumindustrielle Mechanismen dafür, dass eine ursprünglich gegenkulturell intendierte Praxis durch Verbreiterung ihres kapitalismuskritischen Impulses verlustig ging. Und schließlich erfolgte die Wiederentdeckung und systematische Aufwertung einer empathischen Ethnologie in den 1970er Jahren im Kontext einer gesamtgesellschaftlichen Transformation, deren zentrales Merkmal in der »Arbeit am Selbst und seinem Innenleben« (Rosa Eidelpes) bestand. Soweit einige zentrale Befunde dieses Bandes, die in künftigen Forschungen natürlich weiter zu diskutieren und zu differenzieren wären.

Überblick über die Beiträge Eingeleitet wird der Schwerpunkt des vorliegenden Jahrbuches durch einen Aufsatz von Sven Reichardt, der anhand dreier »Pfade« wesentliche Merkmale beider Bewegungen bzw. Milieus und deren historischen Hintergrund – mit Blick auf anarchistische und frühsozialistische Impulse aus dem 19. Jahrhundert, aber auch auf Ulrich Herberts Modell der Hochmoderne – ausleuchtet. Damit verweist der Beitrag u. a. darauf, dass jenseits von Lebensreform und Alternativmilieu auch Bezugnahmen auf frühere historische Phänomene einbezogen werden müssen. Die Modernitätskritik beider Strömungen wird in den folgenden drei Beiträgen mit Blick auf verschiedene Teilaspekte untersucht. So stellt Joachim Häberlen die auch von direkten Transfers unterfütterten Übereinstimmungen in

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der Rationalitätskritik der beiden Bewegungen bzw. Milieus heraus. Ihren praktischen Ausdruck fanden solche Kritiken in der Ablehnung konventioneller Körperbedeckungen oder von moderner Urbanität. Demgegenüber identifiziert Nadine Zberg in der Stadtkritik der Wohnungsreformer um 1900 und der Linksalternativen um 1980 neben Gemeinsamkeiten auch Unterschiede, etwa wenn sie den utopisch-planenden Charakter der Gartenstadtbewegung dem dystopisch-anarchischen der linksalternativen Stadtkritiker gegenüberstellt. Den Aufschwung alternativer Formen des Religiösen und damit verbundener Körperpraktiken, etwa von Yoga, der sich sowohl im Kontext der Lebensreform wie dem des Alternativmilieus vollzog, nimmt Bernadett Bigalke am Beispiel der Theosophie und des New Age in den Blick. Dabei spielten internationale Bezüge und Transfers, vor allem der Orientalismus und Indien-Bezug, eine zentrale Rolle, auch wenn ebenso diachrone Transferprozesse auszumachen sind. Der Geschichte wissenschaftlicher Zugänge, die von lebensreformerischen bzw. alternativen Vorstellungen geprägt waren oder diese zum Gegenstand hatten, widmen sich die Beiträge von Rosa Eidelpes und Ulrich Linse. Ausgehend vom gegenkulturellen »Ethnoboom« der 1970er Jahre nimmt Rosa Eidelpes alternative Zugänge zu Völkerkunde bzw. Ethnologie in den Blick. Geprägt von der Kritik an moderner Rationalität und Zivilisation entdeckten junge Forscherinnen und Forscher in »primitiven Völkern« und Kulturen das »Andere« der westlichen Zivilisation. Damit rekurrierten sie letztlich auf ältere Topoi, die bereits die Völkerkunde im frühen 20. Jahrhundert geprägt hatten. Der autobiographisch gefärbte Beitrag von Ulrich Linse widmet sich dagegen der Entdeckung und Erforschung fortbestehender alter Siedlungsexperimente in den 1970er Jahren durch den Verfasser, die vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Aufschwungs alternativer Landkommunen zu verorten sind. Linse hat mit seinen Arbeiten die erste Historisierung der Lebensreform und Jugendbewegung in den 1970er und 1980er Jahren maßgeblich mit vorangetrieben.44 Sein Beitrag verweist insofern auch auf eine anstehende wissens- bzw. wissenschaftsgeschichtliche Historisierung dieser Forschungsaktivitäten. Reformbewegungen und alternative Ernährung stehen im Mittelpunkt der folgenden beiden Beiträge. So kann Eva Locher für die alternativen »Aussteiger« in der Schweiz der 1970er Jahre zeigen, wie diese in Kontakt mit älteren, zum Teil als Einsiedler lebenden Reformern kamen und auf deren Expertise und Infrastruktur zurückgreifen konnten. Mit Blick auf die Geschichte von Reformkost und Naturkost, die Jörg Albrecht in seinem Beitrag untersucht, können aber auch 44 Zum Beitrag Linses für die Forschung vgl. die Einleitung in: Judith Baumgartner, Bernd Wedemeyer-Kolwe (Hg.): Aufbrüche – Seitenpfade – Abwege. Suchbewegungen und Subkulturen im 20. Jahrhundert. Festschrift für Ulrich Linse, Würzburg 2004, sowie seine Studien, darunter : Ökopax; Barfüßige Propheten; Zurück, o Mensch, zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890–1933.

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Brüche zwischen beiden Strömungen hervorgehoben werden. So entstand mit den alternativen Naturkostläden eine zweite Vertriebsstruktur alternativer Ernährung, die den mittlerweile etablierten Reformhäusern aus der Ära der Lebensreform Konkurrenz machte. Diskurse und Praxen rund um das Feld der Sexualität werden in den Beiträgen von Lutz Sauerteig und Elija Horn behandelt. Lutz Sauerteig arbeitet heraus, dass Lebensreform und Alternativmilieu gleichermaßen ein Ausleben sexueller Freiheit im Kontrast zu sexuellen Tabus ihrer Zeit anstrebten. Während es allerdings um 1900 vornehmlich darum ging, Geschlechterrollen neu zu definieren, gehörte die Politisierung der Sexualität als Teil einer umfassenden »Befreiung« zu den Charakteristika des Alternativmilieus. Nicht mehr mangelnde Information – wie noch am Anfang des Jahrhunderts –, sondern die Erwartung, selbst seine sexuelle Identität zu finden und verantwortlich zu handeln, bestimmte die Problemlagen in den 1970er Jahren. Elija Horn richtet das Untersuchungsobjektiv zum Thema Sexualität auf die Indien-Begeisterung der Freideutschen Jugend und der Anhängerinnen und Anhänger von Bhagwan Shri Rajneesh. Er arbeitet heraus, dass sich die Begeisterung für Indien in beiden Fällen aus einer Kritik der jeweiligen deutschen Gegenwartsgesellschaft speiste. Am »spirituellen Ort« Indien erschien Sexualität ebenso natürlich wie sie ein Medium der Transzendenz sein konnte, wobei sexuelles Sichausleben in Bhagwans Zeichen eine sehr viel größere Rolle spielte als bei den nach geistiger Reinheit strebenden Freideutschen. In der anschließenden Sektion zu (weiteren) kulturellen Ausdrucksformen stehen Haartracht und Musik im Mittelpunkt des Interesses. Bodo Mrozek untersucht Ähnlichkeiten und Unterschiede bei der Kodierung von langem Haar als Freiheitssymbol in beiden Milieus. Dem Topos der Natürlichkeit kam dabei große Bedeutung zu, ebenso wie kulturellen Motiven, etwa der »Künstlerfrisur« oder dem Rekurs auf die Christus-Figur. Auf dem Gebiet der Musikkultur sieht Gunther Mahlerwein vor allem Brüche, die durch den Einschnitt des Nationalsozialismus und durch die Medialisierung begründet waren. Während das Musizieren im Wandervogel an gemeinsame Aktivitäten gebunden war, überwogen im Folk-Revival der 1970er Jahre die Rezeption und die politische Kontextualisierung. Auch in diesem Fall lassen sich Anknüpfungen an älteres, als »widerständisch« kodiertes Liedgut vor 1900 ebenso ausmachen wie internationale Einflüsse, vor allem aus den USA. Außerhalb des Schwerpunktes findet sich in diesem Jahrbuch ein Artikel von Kay Schweigmann-Greve, der sich mit der Beteiligung des Jugendverbandes SJD – Die Falken an der Jugendzentrumsbewegung der 1970er Jahre beschäftigt. Der Aufsatz macht deutlich, dass es neben lebensreformerischen und jugendbewegten Strömungen auch Organisationen aus der historischen Tradition der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie waren, deren Verbindungslinien

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und Berührungspunkte zu den alternativen Strömungen und sozialen Bewegungen nach »1968« in den Blick zu nehmen sind. Im September 2019

Detlef Siegfried, David Templin

Sven Reichardt

Alternative Pfade. Politiken und Wissensformen der Subjektivierung, Erfahrung und Kreativität im 19. und 20. Jahrhundert

Auf der Suche nach den Verbindungen zwischen alternativen Lebens- und selbstverwalteten Arbeitsformen im 19. und 20. Jahrhundert beschreite ich zunächst drei benachbarte und doch unterschiedliche Pfade. Der erste führt nach Ascona zum Museum in der »Casa Anatta«, in der die Ausstellung von Harald Szeemann aus dem Jahr 1978 als Dauerausstellung gezeigt wird: »MONTE VERITf. Le mammelle della verit/«. Seine Kunstinstallation, die Einsichten und Anschauungen sinnlich, direkt und intuitiv vermittelt, erzählt die utopische Geschichte des Monte Verit/ und seiner Umgebung zur Jahrhundertwende. Eine skurrile fünfköpfige Gruppe von Lebensreformern um den belgischen Industriellensohn Henri Oedenkoven, den Ex-Offizier und Lebenskünstler Karl Gräser und die montenegrinische Pianistin und Feministin Ida Hofmann floh im Jahre 1900 aus der urbanisierten und technisierten Industriegesellschaft und den lauten, anstrengenden, dreckigen und verqualmten Großstädten des späten 19. Jahrhunderts und zog alsbald Vegetarier und Naturköstler, Künstler und Tanzpädagogen, individualistische Anarchisten und sonnensuchende Anhänger der Freikörperkultur an. Sie alle befanden sich auf neuen Lebenswegen zwischen dem Wir einer zwanglosen Kommunengemeinschaft und einer beispielgebenden Ich-Verwirklichung. Die sich dort versammelnden und in vielfältige Fraktionen zerklüfteten Lebens- und Geistesreformer erscheinen wie das lokale und zugleich internationale Miniaturmodell dessen, was in der Alternativbewegung der 1970er Jahre breitenwirksam werden sollte.1 So wundert es nicht, dass der Mythos dieses Aufbruchs auch 70 Jahre später noch präsent war. In den späten 1970er Jahren war die Ausstellung, der internationalen Reputation Szeemanns gemäß, von Zürich, Berlin, Wien und Mün-

1 Zum Monte Verit/ siehe Harald Szeemann (Hg.): Monte Verit/. Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlich sakralen Topographie, Mailand 1978; Stefan Bollmann: Monte Verit/ 1900. Der Traum vom alternativen Leben beginnt, München 2017.

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chen gebucht worden.2 1978 berichtete die taz in einem zweiseitigen Ausstellungsbericht unter der Überschrift »Psychopathen aller Länder, vereinigt Euch!«, dass die Ausstellung in der Akademie der Künste eine Welt zutage gefördert habe, »die zur heutigen Westberliner Szene nicht ganz ohne Beziehungen ist«. Der damalige Reigen von Artisten, Theosophen, Frauenrechtlerinnen, Anthroposophen und Parapsychologen, vegetarischen Ärzten, Fastenkünstlern und Fruktariern, Nudisten und Anarchisten, so die taz weiter, »wäre heute auch massenweise von Spontis, Freaks, Schwulen, Emanzen, Drogenszene und Alternativ-Projekten bevölkert«: »Vielleicht finden letztere aus dem Sumpf von Berlin den Trampelpfad zum leider immer noch zu akademischen Berg der Ausstellungskunst und belächeln von oben herab die Gurus von gestern […] Dann wird es allerdings nicht ausbleiben, daß sie zu einem befreiten Lachen über sich selbst als Anarchos, Spontis oder Ökos finden«.3 Die Mitglieder des selbstverwalteten Berliner Verlagskollektivs Merve bemerkten in einem Brief an den französischen Philosophen Michel Foucault: »Wir haben in dem, was da in Ascona geschah an Gesamtkunstwerk, Weltanschauung, Leitmotiv, alles auch schön alternativ, in ein schallendes Gelächter über uns selbst ausbrechen müssen«.4 Gerade die bunte und überaus symbolreiche Mischung aus Anarchismus, Sexualrevolution, Frauenemanzipation und künstlerisch-religiöser Erneuerung war es, die auch das Alternativmilieu der 1970er Jahre ausmachte. Das kreative und utopische Versprechen lag in einer holistisch anmutenden Symphonie aus individueller Selbstreform und Selbstdarstellung, internationaler Bewegung, Antiautoritarismus und gemeinschaftsstiftender Kommunebildung. Weniger utopiegläubige Naturen erkannten schon früh, dass mit dem sanatorischen Nobeltourismus des mäzenatischen und weltgewandten Barons Eduard von der Heydt (1882–1964), der in den 1920er Jahren mondäne Hotelanlagen auf die anarchistischen, vegetarischen und künstlerischen Heilssucher folgen ließ,5 eine kapitalismuskonforme Einverleibung der lebensreformerischen Impulse begann, die auch die kapitalismuskritischen Ökosozialisten der 1970er Jahre mit der neoliberalen neuen Bürgerlichkeit der 1990er Jahre heimsuchte. Eine Abfolge also, in der die rebellische Potenz abnahm. Aus den anfänglich 2 Wahrheit im Lufthemd, in: Der Spiegel, 1978, Nr. 32, S. 140–142, hier S. 140. Zu Szeemann als Kurator siehe: http://www.getty.edu/research/special_collections/notable/szeemann.html. 3 Psychopathen aller Länder, vereinigt Euch!, in: taz, 1979, 20. 04. 1979, S. 12f. 4 Philipp Felsch: Merves Lachen, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, 2008, Nr. II/4, S. 11–30, hier S. 26. 5 Willy Rotzler : Der Baron auf dem Monte Verit/. Kleines Lebensbild von Eduard von der Heydt, in: Szeemann (Hg.): Monte (Anm. 1), S. 99–105; U. van Steen: Das seltsamste Dorf der Welt, in: Die Zeit, 1988, Nr. 26; Bollmann: Monte (Anm. 1), S. 289. Zum Sanatorium: Albert Wirz: Sanitarium, nicht Sanatorium! Räume für Gesundheit, in: Andreas Schwab, Claudia Lafranchi (Hg.): Sinnsuche und Sonnenbad. Experimente in Kunst und Leben auf dem Monte Verit/, Zürich 2001, S. 119–138.

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gesellschaftskritischen Experimenten wurde die hedonistische Erneuerung eines gesundheitssuchenden Bürgertums. Vitaler, gesünder, jünger und reiner wollten angesichts zahlreicher Lebensmittelskandale, wie Gammelfleisch, Dioxineiern oder Vogelgrippe, schließlich nicht nur die Reformkocher leben. Es blieb dabei nicht aus, dass Gesundheit zunehmend individualisiert verstanden und an Erfolg, Genuss, sex appeal oder Bildung gekoppelt wurde. Ein zweiter Pfad führt zur britisch-neuseeländischen Feministin Juliet Mitchell, die in ihrer 1971 vorgelegten Analyse zur zweiten Frauenbewegung einen neuen Modus politischer Praxis erkannte. Die Protestformen der Bürgerrechtsbewegung und der Jugendkultur hätten eine feministische »Politik der Erfahrung« inspiriert, die auf Subjektivität und Emotionalität setze. Das Persönliche, so fuhr Mitchell fort, werde endlich zum Ausgang der politischen Praxis. Mitchell führte diese Form des Politischen explizit auf die Tradition anarchistischer Ansätze des 19. Jahrhunderts zurück.6 Auch auf dem Monte Verit/ hatte sich mit Ida Hofmann eine Autorin eingefunden, die feministische Schriften für weibliche Unabhängigkeit und gegen die Unterdrückung der Frau in der (durch Staat und Kirche konzipierten) Ehe verfasst hatte.7 Politik wurde hier umfassend gedacht, sexuelle und körperliche Selbstbestimmung in den persönlichen Lebensumständen gehörte ebenso dazu wie die Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt, vor dem Gesetz oder in der Bildungspolitik. »The Personal Is Political« lautete bekanntlich das berühmte Motto der US-amerikanischen Feministin Carol Hanisch vom Februar 1969.8 »Politisch« waren dabei nicht nur institutionelle Strukturen und Regelungen in Gesellschaft, Wirtschaft oder Recht, sondern Machtverhältnisse, Hierarchien und Ungleichheiten im kulturwissenschaftlich weiten Sinn. Angesichts dieses Facettenreichtums wird deutlich, wie falsch es wäre, die Neuen Sozialen Bewegungen als »single issue« Bewegungen zu kennzeichnen, wie es manche Politologen getan haben. Vielmehr enthält die Politik nicht nur im 6 Juliet Mitchell: Frauenbewegung – Frauenbefreiung. Frankfurt a. M u. a. 1981, S. 11, 32. Englische Originalausgabe: Women’s estate, Harmondsworth 1971. 7 Bollmann: Monte (Anm. 1), S. 41, 75–79, 105. 8 Der Originaltext und eine Erklärung der Autorin zur Karriere des Slogans aus dem Jahr 2006 findet sich unter Carol Hanisch: The Personal Is Political, 1969/2006, http://www.carolha nisch.org/CHwritings/PIP.html [14. 02. 2019]. Zur Diversität der differenzfeministischen wie auch auf Gleichstellung ausgerichteten Frauenbewegung vgl. die dokumentengesättigte Überblicksdarstellung von Ilse Lenz (Hg.): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied von kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2008; Gisela Notz: Warum flog die Tomate? Die autonomen Frauenbewegungen der Siebziger Jahre. Entstehungsgeschichte, Organisationsformen, politische Konzepte, Neu-Ulm 2006; Elisabeth Zellmer: Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre in München, München 2011; Myra Marx Ferree: Varieties of Feminism. German Gender Politics in Global Perspective, Stanford 2012; Natalie Thomlinson: Race, Ethnicity and the Women’s Movement in England, 1968–1993, Basingstoke 2016.

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Feminismus, sondern auch bei der Ökologie- oder der Friedensbewegung eine Aufforderung zu einer umfassenden Umkehr. Weniger ihre Radikalität denn ihre weitgespannte Auffassung von politischer Veränderung macht diese Bewegungen besonders. Es ging um eine übergreifende Umkehr in Arbeit und Freizeit, in Familie und Freundschaften, im Wohnen und Arbeiten, in Sexualität, Körperverhältnissen und emotionalen Bindungen, in Konsumption und Produktion. In gewisser Weise, so kann man überspitzt formulieren, stand dieser Anspruch in der Tradition der Schaffung eines Neuen Menschen, also einer Vision der totalen Veränderung von Lebensauffassungen und -praktiken. Allerdings, und da unterscheiden sich linksalternative Einstellungen von hierarchischen Modellen, habe diese Veränderung nicht von außen und oben, sondern von innen und unten zu erfolgen, also als eine Form der Selbstgestaltung mit intrinsischem Anreiz. Individualismus und Gesellschaftsveränderung sind hier keine Gegensätze, sondern sollen in Einklang gebracht werden. Ein dritter Pfad führt zu dem Briefwechsel zwischen Theodor Adorno und seiner Doktorandin Elisabeth Lenk. Diese schrieb am 15. Mai 1968 folgende Zeilen aus dem rebellischen Paris: »Lieber Herr Professor Adorno, hier ist heute ein sehr schönes Wetter, und man lebt in einer Art Rauschzustand… Die alte französische Universität kracht in allen Fugen. Unzählige Fakultäten und Universitäten haben ihre Autonomie proklamiert und sind von Studenten und Professoren besetzt. Man schläft dort, isst, feiert, diskutiert Tag und Nacht, die Studentenrestaurants, Schwimmbäder, Auditorien sind Arbeitern geöffnet. Es ist ein wahrhaft fourieristischer Zustand«. Elisabeth Lenk wusste, wovon sie sprach, hatte sie doch zwei Jahre zuvor die Einleitung zu der von Theodor Adorno bei der Europäischen Verlagsanstalt herausgegebenen deutschen Ausgabe der Th8orie des quatre mouvements von Fourier (1808) verfasst.9 Tatsächlich wurden die Theorien und Entwürfe des Sozialutopisten Charles Fourier im Zuge der 68er-Bewegung wieder aktuell. Die Jugend- und Akademikerarbeitslosigkeit in den 1970er Jahren, die Entfremdungserfahrungen in einer sich rasch verstädternden, anonymer und grauer werdenden Industriegesellschaft mit Wohnsilos und Autobahnen, die Umwelt- und Gesundheitsrisiken sowie die wirtschaftlichen Monopolbildungen trugen dazu bei, dass Versuche zur Bildung einer gemeinschaftlich orientierten Gegengesellschaft und Alternativökonomie aufs Neue entflammten. Nicht nur das Motto der französischen Studentenbewegung »Die Fantasie an die Macht« (L’imagination au pouvoir) entstammte aus Fouriers Schrift »Aus der 9 Theodor W. Adorno, Elisabeth Lenk: Briefwechsel 1962–1969, hg. von Elisabeth Lenk, München 2001, S. 144f. Vgl. dazu Charles Fourier : Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen, hg. von Theodor W. Adorno, eingel. v. Elisabeth Lenk, deutsche Übersetzung von Gertrud von Holzhausen, Frankfurt a. M. 1966.

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Neuen Liebeswelt«, die 1977 im linken Wagenbach-Verlag auch auf Deutsch erscheinen sollte.10 Die Ideen sozietärer Ordnungen und einer selbstverwalteten Alternativökonomie in den 1970er Jahren wurzelten in nicht geringen Anteilen in den Genossenschaftsideen und anarchistischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts. Fouriers Vision einer genossenschaftlichen Ordnung, die er »Harmonie« nannte, war um 1968 nicht nur bekannt, sondern wurde, in abgewandelten Formen, in unzähligen experimentellen Wohn- und Arbeitsgemeinschaften neu praktiziert und zu einer Form von körperlicher Erfahrung und räumlichem Gemeinschaftserlebnis. Da Fourier nicht nur Wirtschafts-, sondern auch Liebesgemeinschaften propagiert hatte,11 wurde er anschlussfähig für eine Neue Linke, die sich in den 1960er Jahren aufmachte, den älteren Marxismus zu modernisieren, indem sie den Begriff der (soziokulturellen) Entfremdung vor den Begriff der (ökonomischen) Ausbeutung setzte.12 Dabei thematisierte sie Herrschaftsverhältnisse in Freizeit, Familie, Sexualität und sozialen Beziehungen. Die marxistische Theorie öffnete sich gegenüber der Psychoanalyse und untersuchte verstärkt auch kulturelle Veränderungen. Emanzipatorische Kommunikationsformen und experimentelle Lebensgestaltungen gehörten zum Kernbestand der Studentenbewegung wie auch des nachfolgenden linksalternativen Milieus, welches politisch stärker auf soziale Bewegungen statt auf herkömmliche Parteistrukturen setzte. Gegen die Unterdrückung des Individuums durch kapitalistisches Nützlichkeitsdenken setzten die Linksalternativen auf Selbstverwirklichung jenseits der entfremdeten Formen gesellschaftlich notwendiger Arbeit. Im linksalternativen Milieu vermischte sich marxistisches und anarchistisches Gedankengut mit kulturkritischen Überlegungen, lebensphilosophischen Anschauungen und existenzialistischen Ansätzen.13 Insgesamt waren die Vorstellungen auf die Ausgestaltung einer konkreten Lebenswelt in Form der sogenannten »Gegengesellschaft« ausgerichtet: »In der Alternativbewegung wird nicht nur mittels der Projekte Politik betrieben, sondern vor allem in ihnen oder zusammen mit ihnen«, schrieb der sympathisierende Zeitgenosse, linke Aktivist und Soziologe Joseph Huber.14 Soziale Gemeinschaftserlebnisse, praktizierte Solidarität und 10 Charles Fourier : Aus der neuen Liebeswelt. Über die Freiheit und die Liebe, Berlin 1977. 11 Richard Saage: Utopie und Eros. Zu Charles Fouriers »neuer sozietärer Ordnung«, in: UTOPIE kreativ, 1999, Nr. 105, S. 68–80. 12 Ingrid Gilcher Holtey : Die 68er Bewegung: Deutschland, Westeuropa, USA, München 2001, S. 14–17. Zur Bedeutung der Entfremdung in der Linken der 1970er Jahre siehe Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 22014, S. 55–66, 218–222. 13 Reichardt: Authentizität (Anm. 12), S. 192, 219f. 14 Walter Hollstein: Die Alternativbewegung. Fakten der Vergangenheit – Möglichkeiten für die Gegenwart, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 1998, Nr. 11.1, S. 154–164, hier S. 160.

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körperlich erfahrene Sinnlichkeit avancierten zum Modus sowohl kollektiver Selbstbestimmung als auch individueller Selbstverwirklichung. Es entstand eine ausgesprochen enge Verknüpfung von sozialem Handeln, Körperlichkeit und neuen Wissensformen. Soziale Verhältnisse wurden in der »moralischen Physiologie« dieses Milieus zu »Zeichen von Krankheit« und körperliche Krankheiten wurden als Ausdruck krisenhafter gesellschaftlicher Konflikte gedeutet.15 Einige der radikalsten Kommunenexperimente der 1970er Jahre, wie die Aktionsanalytische Organisation (AAO) des Wiener Aktionismus-Künstlers Otto Muehl, bezogen sich in ihren Schriften nicht nur auf Wilhelm Reich, sondern auch auf Charles Fourier. Die Arbeitsmoral des Kapitalismus, so wurde mit Bezug auf Fourier argumentiert, habe die körperliche Liebe zu einer Form der Belohnung degradiert. Es gelte einen neuen, einen gemeinschaftlichen Umgang miteinander aufzubauen, der sowohl eine Befreiung der Arbeit als auch eine Befreiung der Sexualität ermögliche. Sexuelle Freiheit sei die zentrale Bedingung für soziale Gleichstellung. Dass die AAO-Kommune in Friedrichshof, die in den 1970er Jahren einen massiven Aufschwung erlebte, immer mehr zu einer streng hierarchisierten Sekte degradierte, in der sich seit den 1980er Jahren auch pädophile Übergriffe häuften, verkehrte die Idee sexueller Offenheit letztlich in ihr Gegenteil.16 Auch der ganzheitlich argumentierende spirituelle Aktivist Dieter Duhm, anfänglich mit der AAO verbunden und seit den späten 1970er Jahren Organisator eigener Kommuneprojekte, nahm in seinen Schriften explizit auf Fourier Bezug. Er kritisierte, dass sich Partner in sexuellen Beziehungen voneinander abhängig machten, nur aufeinander ausrichteten und dabei einem »viel zu engen Treuebegriff« anhingen. In der von ihm inspirierten ZEGG-Kommune in Bad Belzig galt der französische Philosoph Fourier als wichtiger Impulsgeber.17 Insgesamt wurde keineswegs nur das Private und Intime zum Gegenstand der sozialen Praxis. Im linksalternativen Milieu Westeuropas und der USA gab es eine ganze Reihe von »activist entrepreneurs«, wie sie der US-amerikanische Historiker Joshua Clark Davis jüngst genannt hat. Gemeint sind genossen15 Wirz: Sanitarium (Anm. 5), S. 122. Zur Antipsychiatriebewegung siehe Gilles Deleuze, F8lix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a. M. 1974; Gilles Deleuze, F8lix Guattari: Rhizom, Berlin 1977; Jörg Bopp: Antipsychiatrie. Theorien, Therapien, Politik, Frankfurt a. M. 1980. 16 Zur AAO und der Kritik an ihr siehe Reichardt: Authentizität (Anm. 12), S. 686–698. 17 Dieter Duhm: Der unerlöste Eros, Radolfzell 1991, S. 57, 62; ders.: Die heilige Matrix: Von der Matrix der Gewalt zur Matrix des Lebens. Grundlagen einer neuen Zivilisation, Belzig 2001; Marc Engelhardt: Wo die Liebe wohnt, in: ders. (Hg.): Völlig utopisch. 17 Beispiele einer besseren Welt, München 2014, S. 211–226, hier S. 216f.; Dieter Duhm: Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG). Konzept eines ökologischen Dorfes als Forschungs- und Bildungszentrum, Lampertheim 1978; Reichardt: Authentizität (Anm. 12), S. 491–496.

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schaftlich ausgerichtete Alternativbetriebe, die aus den sozialen Bewegungen der späten 1960er und 1970er Jahre entstanden. Ihre Gründer waren der Überzeugung, die amerikanische Gesellschaft sei »sick from inequality, conformity, materialism, hypocritical moralism, and alienation«.18 Diese aktivistischen Unternehmer waren selbst Teil der verschiedenen sozialen Bewegungen, von den Bürgerrechtsprotesten und pazifistischen Strömungen bis zum Feminismus, der Umweltbewegung oder der Alternativkultur. Sie kämpften für Autonomie und Unabhängigkeit, für eine Form partizipatorischen Wirtschaftens, für eine solidarische Ökonomie des Teilens, des gemeinsamen Besitzes, des qualitativen und begrenzten Wirtschaftswachstums, für demokratische Arbeitsbeziehungen und für flache Arbeitshierarchien. Sie wiesen kapitalistische Normen des Eigentums, der Profitmaximierung und des hierarchischen Managements zurück.19 In den USA wie in Westeuropa wurde eine alternative Ökonomie aufgebaut, die sich gegen die kapitalistischen und entfremdenden Arbeitsbedingungen der Massenkonsumgesellschaft richtete, welche mit ihrer manipulativen Konsumkultur lediglich unerfüllbare und konformistisch zugeschnittene Wunschwelten produziere.20 Diese Aktivisten erweiterten das traditionelle Spektrum linker Analysen der Konsumgesellschaft. Sie artikulierten ein weites Verständnis der sozialen, spirituellen und psychologischen Probleme, die die moderne Wirtschaft aus ihrer Sicht hervorgebracht hatte. Mit ihren dezentralisierten und lokalen Produktionsweisen, mit demokratischen und humanisierenden Arbeitsbedingungen, mit horizontalen und gemeinschaftlichen Arbeitsformen, mit dem Bekenntnis zu kleinen und lokalen Geschäften, die auf ein Minimum an Verrechtlichungen und ein Maximum an Selbstverwirklichung setzten, waren diese Unternehmen auf eine Veränderung von wirtschaftlicher Produktion, von Arbeitsprozessen und Arbeitsbedingungen ausgerichtet. Das sollte die linksalternativen Unternehmungen fairer und gerechter machen, authentischer im Hinblick auf den gegenseitigen Respekt, auf Sensibilitäten und gesteigerte Aufmerksamkeit den Mitarbeitern gegenüber. Auch wenn viele Mitarbeiter von Alternativbetrieben schlechte Geschäftsleute waren,21 so opferten sie doch sehr viel Zeit für ihre Arbeit, da sie hoch motiviert für ihre Ziele kämpften. Obwohl der Lohn teilweise sehr gering war und keine oder kaum Sozialleistungen angeboten werden konnten: Diese Arbeiten wurden weniger als Ausbeutung denn als großartige Erfahrung, wichtige politische Arbeit und praktische Gemeinschaftsbildung, ja sogar als Inkarnation der eignen utopischen Hoffnungen verstanden. Der Anspruch auf Aufhebung 18 Joshua Clark Davis: From Head Shops to Whole Foods. The Rise and Fall of Activist Entrepreneurs, New York 2017, S. 3. 19 Davis: Head Shops (Anm. 18), S. 3f. 20 Für Deutschland siehe Reichardt: Authentizität (Anm. 12), S. 319–350. 21 Vgl. dazu Reichardt: Authentizität (Anm. 12), S. 334–340.

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»entfremdeter Arbeitsbedingungen« sollte durch ein ganzheitliches Konzept umgesetzt werden, in dem rotierende Aufgabenverteilung, die Verbindung von Kopf- und Handarbeit sowie von Freizeit und Arbeit eine zentrale Rolle spielten. Die Aufhebung der Trennung von Produktions- und Reproduktionssphäre wurde mit der einfachen Formel »gemeinsam arbeiten, gemeinsam leben« umschrieben. Der Spezialisierung professionalisierter Berufsausbildungen sollte mit vielfältigen, schöpferischen und frei gewählten Arbeitsformen eine Alternative entgegengesetzt werden. Gegen die Anonymität, Vereinzelung, Zerstückelung und Entfremdung der modernen Arbeitsgesellschaft wurden ganzheitliche Arbeitsformen in Szene gesetzt. Eine weitreichende Selbstbestimmung der Arbeitszeit und das Ableisten des Arbeitspensums ohne Druck, ohne Chef und ohne Profitorientierung zählten zu den zentralen Merkmalen dieser Alternativökonomie. Der Wunsch nach Überschaubarkeit und der Erlebnisaspekt gingen oft mit der Vorstellung solidarischer Arbeitszusammenhänge innerhalb einer »moralischen Ökonomie« einher. Unterschiedliche Leistungslöhne und Kontrollapparate sollten vermieden werden. Stattdessen zielten die stark bedürfnisbezogenen Arbeitszusammenhänge nicht nur auf eine Entfaltung der Persönlichkeit und Individualität, sondern auch auf Solidarität und Gemeinschaftlichkeit. Einheitslohn und Teamwork galten auch als Prinzipien für betriebliche Entscheidungen, die kollektiv und möglichst im Konsensprinzip erzielt werden sollten – also ohne die scheinbar laue Methode der Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip.22 Eine kritische Sicht auf diese Arbeitsformen haben die französischen Soziologen um den Bourdieu-Schüler Luc Boltanski und ðve Chiapello entworfen. Ohne die ordnende Hand eines Chefs oder Sozialingenieurs beruhte die alternative Projektarbeit mit ihren Freiheiten auf der Intensität zeitlicher Belastungen. Die Alternativbetriebe erscheinen mit ihrer flexiblen Ökonomie des autonomen Selbstmanagements, der Arbeit in kleinen und hierarchieflachen Teams als Vorreiter der neoliberalen und prekären »new economy« der 1990er Jahre. Teamarbeit, Eigenaktivität und Engagement, flexible Arbeitsstrukturen und flache Hierarchien waren Stichworte und Arbeitsformen, die in dem unternehmerischen Denken der 1990er Jahre wieder auftauchten. Die Modernität dieser Betriebsführung bestand darin, dass nicht durch Zwang von außen, sondern durch Selbstausbeutung geherrscht und gewirtschaftet wurde. In Deutschland wird diese Kritik von ehemaligen Pflasterstrand-Autor und heutigen Unter22 Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 2007, passim; Felix Klopotek: Projekt, in: Ulrich Bröckling u. a. (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2004, S. 216–221; Reichardt: Authentizität (Anm. 12), S. 319–350, insbes. S. 347ff; Sven Reichardt: War die antiautoritäre Linke neoromantisch? Exemplarische Beobachtungen in der Bundesrepublik Deutschland der siebziger Jahre, Konstanz 2015, S. 19–24.

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nehmensberater Matthias Horx, dem Freiburger Kultursoziologen Ulrich Bröckling oder dem jungen Hagener Historiker Arndt Neumann geteilt.23 Kritik erfuhr die genossenschaftliche Alternativökonomie aber nicht nur aus dieser Perspektive einer Foucault’schen Gouvernementalität, sondern bereits im berühmten Diktum von Theodor Adorno, dass es »kein richtiges Leben im Falschen« geben könne.24 Die K-Gruppen der 1970er Jahren hatten die anarchistisch-genossenschaftlichen Betriebe und die von Spontis getragene linksalternativ-selbstverwaltete Ökonomie explizit aufs Korn genommen und sich dabei bei Karl Marx’ berühmten Polemiken gegen Proudhon, Owen oder Fourier bedient. Wie um die Mitte des 19. Jahrhunderts geißelte man auch in den 1970er Jahren die »kleinbürgerliche« Kritik am Kapitalismus, den die Alternativen in seinen Grundsätzen nicht verstanden hätten und der nicht mit einer alternativen Fahrradwerkstatt, einem makrobiotischen Lebensmittelgeschäft oder einem Dritte-Welt-Laden zu beseitigen sei. Es sei eine politisch untaugliche Strategie, mit kleinen genossenschaftlichen Betrieben eine Vorbildwirkung und letztlich eine Gesellschaftsveränderung erzielen zu wollen. Eine solche Strategie stellte für die Kommunisten des 19. wie des 20. Jahrhunderts einen Verrat an der Revolutionsperspektive dar und zudem eine untaugliche, weil ineffiziente Methode der Produktion. Schon Karl Marx hatte gegen Robert Owen, Charles Fourier und Ptienne Cabet in den berühmten Formulierungen des Kommunistischen Manifests von 1848 polemisiert: Die »fehlgeschlagenen Experimente« verwerfen »alle revolutionäre[n] Aktion[en]«, sie seien nur die »versuchsweise Verwirklichung« von »gesellschaftlichen Utopien« und führten lediglich dazu, den Klassenkampf »ab[zu]stumpfen«. Die »Stiftung einzelner Phanastere, die Gründung von Home-Kolonien, Errichtung eines kleinen Ikariens«, so Marx, appellieren lediglich an die »bürgerlichen Herzen und Geldsäcke«. Den Versuchen des Aufbaus solcher sozialistischen Experimente erteilte Marx eine Absage. Sie seien nichts anderes als kleinbürgerliche Träumereien mit einem »fanatischen Aberglauben an die Wunderwirkungen ihrer sozialen Wissenschaft«. Die Vorstellungen und Praktiken dieser »reaktionären oder konservativen Sozialisten« blieben ohne Impuls zur Systemveränderung.25 23 Luc Boltanski, ðve Chiapello: Le nouvel ðsprit du Capitalisme, Paris 1999 (deutsche Fassung unter dem Titel »Der neue Geist des Kapitalismus«, Konstanz 2003); Matthias Horx: Das Ende der Alternativen oder Die verlorene Unschuld der Radikalität. Ein Rechenschaftsbericht, München u. a. 1985; Ulrich Bröckling: Projektwelten. Anatomie einer Vergesellschaftungsform, in: Leviathan, 2005, Nr. 33, Heft 3, S. 364–383; Bröckling: Selbst (Anm. 21); Klopotek: Projekt (Anm. 22), S. 216–221; Arndt Neumann: Kleine geile Firmen. Alternativprojekte zwischen Revolte und Management, Hamburg 2008. 24 Theodor W. Adorno.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M. 2003 [1951], S. 43. 25 Karl Marx: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin 1972 [1848], S. 459–493, hier S. 490f.

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Im späten 20. Jahrhundert kritisierten keineswegs nur Marxisten die selbstverwalteten Betriebe des linksalternativen Milieus. Auch der Spiegel machte sich in seiner Titelgeschichte zur »Deutschen Jugendbewegung« über die kleinteiligen Versuche zur Wirtschaftsreform lustig. Bereits die zugehörige Bildserie suggerierte, dass die Alternativökonomie zuvorderst aus Handwerksbetrieben romantischer Ökofreaks und Aussteiger bestünde.26 Tatsächlich aber waren innerhalb der Alternativökonomie nicht Handwerks-, sondern Dienstleistungsbetriebe besonders stark vertreten. Vor allem der hohe Anteil alternativer Medien beeindruckt. Im Jahr 1988 zählte man 700 Blätter der Alternativpresse mit einer Gesamtauflage von zwei Millionen Exemplaren, während der Anteil der Landwirtschaft im Bereich der Alternativökonomie minimal war.27 Die Handwerksorientierung des Alternativmilieus ist ein populärer Mythos, denn sie spielte in der Ökonomie der selbstverwalteten Betriebe eine stets untergeordnete, ja vernachlässigbare Rolle. Das war keineswegs nur in West-Berlin der Fall, wo unter den 1982 gezählten 1.200 Alternativprojekten gerade einmal sechs Prozent dem produzierenden Gewerbe zugeordnet werden konnten, während 71,3 Prozent dem Dienstleistungssektor zuzurechnen waren.28 Neben den Erhebungen zur Mauerstadt verfügen wir über eine sehr gründliche Studie, die in den Jahren 1986 und 1987 durchgeführt wurde. Die Untersuchung bezog sich auf 244 selbstverwaltete Betriebe in Hessen. Wie in Berlin war auch hier die Mehrzahl von ihnen im Dienstleistungssektor angesiedelt, das verarbeitende Gewerbe kam auf 13 Prozent, während Handwerk und Landwirtschaft zusammengenommen gerade einmal 6,9 Prozent ausmachten. Die größten Gruppen unter den 122 Betrieben des Dienstleistungssektors stellten das Gaststättengewerbe, der Bereich Kulturproduktion und Medien sowie die Buch- und Zeitschriftenverlage. Auch Unterricht, Bildung und Gesundheit bildeten wichtige Untergruppen innerhalb des Dienstleistungsgewerbes.29 Eine Studie zu den Großräumen Hannover und Nürnberg kam zu ähnlichen Branchenverteilungen. In einer Längsschnittuntersuchung zu Anfang und Mitte 26 Wir wollen, daß man sich an uns gewöhnt, in: Der Spiegel, 1971, Nr. 33, S. 44. Vgl. zur Bildpolitik des Spiegels im Hinblick auf das Bild von den Alternativen: Sven Reichardt: Inszenierung und Authentizität. Zirkulation visueller Vorstellungen über den Typus des linksalternativen Körpers, in: Habbo Knoch (Hg.): Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Kultur und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren, Göttingen 2007, S. 223–250, hier S. 235–246. 27 Reichardt: Authentizität (Anm. 12) S. 241. 28 Lothar Kolenberger, Hanns-Albrecht Schwarz: Abschlußbericht des Projekts: Zum Problem einer »Zweiten Kultur« in West-Berlin (Berlin-Forschung, Förderprogramm der FU Berlin für junge Wissenschaftler), 1982, Teil A, S. 31–40. Diese Studie findet sich im Archiv »APO und soziale Bewegungen« des Universitätsarchivs der FU Berlin (ohne Signatur). 29 Frank Heider u. a.: Fast wie im wirklichen Leben. Strukturanalyse selbstverwalteter Betriebe in Hessen, Gießen 1988, hier insbes. S. 47–54.

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der 1980er Jahre wurden 83 alternative Projekte und 12 Initiativen erfasst. Wiederum zeigt sich, dass die Alternativbetriebe zu knapp der Hälfte im Dienstleistungssektor tätig waren, während Land- und Forstwirtschaft mit 5,3 bzw. 3,3 Prozent (Stichjahre 1982 und 1985) vernachlässigt werden können. Das verarbeitende Gewerbe kam auf einen Anteil von rund 15 Prozent.30 Weitere Studien, etwa über Freiburg, Nordrhein-Westfalen oder das Saarland, haben diese Befunde bestätigt.31 Es war also keineswegs der Rückfall in die vormoderne Ökonomie kaum arbeitsteilig organisierter und naturverbundener Formen landwirtschaftlichen Arbeitens, sondern im Gegenteil eine Variante der postmodernen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft, die diese alternativen Betriebe auszeichnete. Schon auf den ersten Blick war das im 19. Jahrhundert anders – etwa bei der sozialutopischen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Brook Farm in Massachusetts, die vom ehemals unitarischen Geistlichen George Ripley als sozialreformerisches Experiment gegründet worden war und von 1841 bis 1847 bestand. Von den Farmern wurden, neben Viehhaltung und Milchwirtschaft, verschiedene Handwerke in kleinerem Rahmen ausgeübt. Schuhe, Kleidung, Heimtextilien und Haushaltsgegenstände konnten im nahen Boston verkauft werden.32 Eine ganze Gründungswelle von Produktivassoziationen entstand um die Mitte des 19. Jahrhunderts, wobei die Schwerpunkte der Tätigkeiten auf Handwerk, Küche, Ackerbau und Gartenarbeit gelegt wurden. Sich »vegetabilisch« zu ernähren, war in der Tat nicht nur auf dem Monte Verit/ eine Devise der Heilkunst, sondern unter Rohköstlern und Sinnsuchern weit verbreitet, wie Eva Barlösius und Florentine Fritzen in ihren Geschichten der lebensreformerischen Ernährung und des veganen Lebens aufgezeigt

30 Henrik Kreutz u. a.: Alternative Projekte zwischen Fortschritt und Anpassung. Eine Längsschnittstudie in zwei Großstadtregionen, Nürnberg 1989, S. 67. 31 Werner Becker : Zur Struktur der Alternativökonomie im Saarland – Ergebnisse einer Regionalstudie, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 1989, Nr. 2; H. 1, S. 21–33; Ohne Idealismus kaum Chancen zum Überleben, in: Freiburger Zeitung, 1985, Nr. 299 (28./ 29. 12.1985); Udo Schramm: Selbstverwaltete Betriebe in NRW – eine Bestandsaufnahme, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 1989, Nr. 2, H. 1, S. 29–33; Gerhard Fröhlich: Alternative e. V. Projekte und Bewegungen in den 1970er und 1980er Jahren, in: Ulrike Kammerhofer-Aggermann (Hg.): Ehrenamt und Leidenschaft. Vereine als gesellschaftliche Faktoren, Salzburg 2002, S. 233–244; Georgia Tornow: Alternativbetriebe: Totgesagte leben länger, in: taz, 1987, 09. 01. 1987; Dieter Korczak: Zur Einstellung und Lebenswelt von Alternativen, in: Archiv Infratest Forschung München, 1982, Nr. 10, S. 53. 32 Rudolf Stumberger: Das kommunistische Amerika. Auf den Spuren utopischer Kommunen in den USA, Wien 2015, S. 21–43; Sterling F. Delano: Brook Farm. The Dark Side of Utopia, Cambridge, MA u. a. 2004. Als Sammlung zeitgenössischer Berichterstattungen ist interessant: Joel Myerson: The Brook Farm Book. A Collection of First-Hand Accounts of the Community, New York 1987.

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haben.33 Neben ihren Ausprägungen als Naturheilbewegung, Vegetarismus und biologischer Landbau verstand sich die Lebensreform bekanntlich als ganzheitlicher und übergreifender Ansatz, der Kleidung, Freikörperkultur und Antialkoholismus ebenso umfasste wie Gemeinschaftsvorstellungen, Gartenstädte und Genossenschaften, Sexualreformen und Naturschutz, Reformpädagogik und freie Bildung, Theaterkunst, Ausdruckstanz und Kunstgewerbe sowie freireligiöse und anthroposophische Strömungen.34 Teilweise reichten diese Strömungen der 1880er bis 1920er Jahre über ihre eigentliche Hochzeit hinaus, wenn wir etwa an Reformhäuser und Reformwaren wie Bircher Müsli denken, welches der Schweizer Arzt und Gründer des Züricher Sanatoriums »Lebendige Kraft« Maximilian Bircher-Benner entwickelte. Es ist zudem kein Zufall, dass ein angebissener Apfel auf den Computern des Apple-Konzerngründers Steve Jobs prangt, der sich von Rohkost ernährte und Zen-Meditation praktizierte.35 Gerade die folgenreiche Verbindung zwischen der kalifornischen counterculture mit ihrem hippieförmigen Kommuneleben einerseits und den Computernerds des Silicon Valley andererseits schuf eine Melange aus ganzheitlich orientierten, kybernetischen Denkformen mit heterarchisch-dezentralen Organisationsprinzipien, die in den Kommunen der Gegenkultur ebenso wie in den sozialen Netzwerken des Internets wiederzufinden waren. Ganzheitliches Denken in Rückkopplungseffekten wurde experimentell erprobt: »Computers somehow seemed poised to bring to life the countercultural dream of empowered individualism, collaborative community, and spiritual communion«36. Der Anthropologe und Sozialtheoretiker Gregory Bateson hat dieses kybernetische 33 Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1997; Florentine Fritzen: Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im zwanzigsten Jahrhundert, Stuttgart 2006; Uwe Heyll: Wasser, Fasten, Luft und Licht. Die Geschichte der Naturheilkunde in Deutschland, Frankfurt a. M. u. a. 2006; Sabine Merta: Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult. Diätkost und Körperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880–1930, Stuttgart 2003; Cornelia Regin: Selbsthilfe und Gesundheitspolitik. Die Naturheilbewegung im Kaiserreich (1889 bis 1914), Stuttgart 1995. Vgl. auch die Beiträge von Jörg Albrecht und Eva Locher in diesem Band. 34 Einen guten Überblick bietet immer noch: Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998; Marc Cluet, Catherine Repussard (Hg.): »Lebensreform«. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht, Tübingen 2013; Judith Baumgartner, Bernd Wedemeyer-Kolwe (Hg.): Aufbrüche – Seitenpfade – Abwege. Suchbewegungen und Subkulturen im 20. Jahrhundert, Würzburg 2004; Bernd Wedemeyer-Kolwe: »Der neue Mensch«. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004. 35 Neben der Literatur in Anm. 33 und 34 siehe Florentine Fritzen: Gemüseheilige. Eine Geschichte des veganen Lebens, Stuttgart 2016; Bollmann: Monte Verit/ (Anm. 1), S. 115–147, insbes. 134–138, 144ff. Wirz: Sanitarium (Anm. 5), S. 124–128. 36 Ganz hervorragend dazu ist das Buch von Fred Turner : From Counterculture to Cyberculture. Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago u. a. 2006, Zitat ebd. S. 2.

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Denken, das er als den Planeten umspannende Gleichgewichtskreisläufe und Schaltkreise in der ökologischen Denkwelt konzipierte, mit seinem 1972 publizierten Erfolgsbuch »Steps to an Ecology of Mind« verbreitet.37 Viele New-Age Denker wie der Münchner Biochemiker, Systemforscher und Umweltexperte Frederic Vester waren der Ansicht, dass die intuitive Erfassung von komplexen Zusammenhängen der »anerzogenen Logik [des Westens], unseren Schlüssen von Ursache und Wirkung«, die »gradlinig und eindimensional« verliefen, überlegen war.38 Schon im 19. Jahrhundert war diese alternative Form des wissenschaftlichen Experimentalismus verbreitet gewesen. Als lukrativste Einnahmequelle stellte sich selbst auf der von Fourier inspirierten Brook Farm etwas anderes als die vormoderne Handwerksarbeit heraus: der Bereich der Bildung und der Erziehung. So wurden ein Kindergarten, eine Schule und verschiedene Möglichkeiten zur Erwachsenenbildung angeboten. Mit innovativen Musikpädagogen wie William Henry Fry und John Sullivan Dwight sowie seiner Schwester, der Malerin Mary Ann Dwight, oder der feministischen Schriftstellerin Margaret Fuller, inspirierten die dortigen Erziehungsexperimente bereits den britischen Sozialreformer Robert Owen.39 Verwaltung, Wissenschaft und Erziehung kamen in den Siedlungsprojekten des 19. Jahrhunderts nicht zu kurz.40 Das galt etwa für die Gartenstadt Hellerau bei Dresden, die um 1910 gegründet wurde und Nachahmer in Berlin, Frankfurt, Essen, Sankt Petersburg und Moskau fand. Nicht zufällig entstanden derartige Siedlungen in der Nähe von boomenden Großstädten, wobei im Falle von Hellerau deutlich wird, dass ihr innovativstes Potential im Erziehungsbereich rund um Felder wie Schulreform, rhythmischem Tanz und kreativer Theaterarbeit lag. Es ging, so schrieb der österreichische Dramatiker und Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal über den in Hellerau tätigen 37 Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt a. M. 1994, S. 407–411, 593–612; Thomas Rid: Maschinendämmerung. Eine kurze Geschichte der Kybernetik, Berlin 2016, S. 209–225. 38 Vester zitiert nach David Kuchenbuch: Ökolopoly. Spielen, Wissen und Politik um 1980, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 2016, Nr. 12, S. 145–159, hier S. 152. Vgl. auch Pascal Eitler : Körper – Kosmos – Kybernetik. Transformationen der Religion im »New Age« (Westdeutschland 1970–1990), in: Zeithistorische Forschungen 2007, Nr. 4, S. 116–136; Elke Seefried: Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945–1980, Berlin 2015, S. 408. Zur Kulturgeschichte der Kybernetik siehe auch: Michael Hagner, Erich Hörl (Hg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a. M. 2008; Philipp Aumann: Mode und Methode. Die Kybernetik in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2009. 39 Delano: Farm (Anm. 32), S. 40, 53–54, 166–183, 190–197; Stumberger : Amerika (Anm. 32), S. 29–38. 40 Anne Kwaschik: Gesellschaftswissen als Zukunftshandeln. Soziale Epistemologie, genossenschaftliche Lebensform und kommunale Praxis im frühen 19 Jahrhundert, in: Francia, 2017, Nr. 44, S. 189–211, hier S. 203.

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Schweizer Komponisten und Musikpädagogen Pmile Jaques-Dalcroze, bei der Eurhythmie um die heilende »Zusammenfassung der Seelenkräfte« gegen den »mechanisierenden Geist der Zeit«.41 Früh erwies sich der Bildungsbereich als das eigentliche Zentrum der alternativen Modernisierung, in dem Erziehung jenseits von Strafe und Pauken mit intrinsisch motivierter Neugier als Movens und Ausdruck künstlerisch-kreativer Begabungen betrieben wurde. Die Epoche der Hochmoderne erstreckte sich, folgt man dem Freiburger Zeithistoriker Ulrich Herbert, von den 1880er bis in die 1970er Jahre. Diese Phase sei geprägt von der Durchsetzung und Etablierung der Marktwirtschaft als dem vorherrschenden Wirtschaftsmodell. Die Phase der Durchsetzung und Breitenwirkung der Industrialisierung in Europa korrespondierte mit der Etablierung eines empirisch-analytischen Wissensverständnisses und entsprechenden Technologisierungen und Rationalisierungen der Wirtschaft. Die demographische Expansion Europas seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und die exorbitante Mobilitätssteigerung waren wiederum mit der Verstädterung und Alphabetisierung verbunden. Den sozialen Veränderungen vom Stand zur Klasse folgten zunehmend Individualisierungsschübe, die die primären Gruppenbildungen und Zugehörigkeiten erodieren ließen. Die Massengesellschaft und ihre Konsum- und Kommunikationsmuster verbanden sich mit der beginnenden Demokratisierung der politischen Herrschaft.42 Herberts Modell, welches in Lutz Raphaels kritischer Interpretation »ohne allzu viel Kulturalismus auskomm[t]«, verkennt, dass die scheinbar »autonom laufenden Basisprozesse« gerade am Beginn und Ende dieser Hochmoderne von einer Phase der spezifischen Verdichtung gesellschaftlicher Reflexivität geprägt waren.43 Die beiden Strukturbrüche in der Entwicklung der Moderne um 1880 und um 1970 wurden nicht zuletzt wegen dieser gesteigerten wissensbasierten Reflexivität als krisenhaft wahrgenommen. Es entstanden zu beiden Zeitpunkten neue Erkenntnismodi, die sich von einer linearen Fortschrittserzählung abgrenzten. Unter den vielfältigen Ordnungsentwürfen, die als Reaktion auf die Wahrnehmung einer Krise entstanden waren, machten die linksalternativ-anarchistischen Varianten nur einen Teil aus. Kritisiert wurden die hochmoderne Spezialisierung, der reine Funktionalismus und die kühle Abstraktion. Für den 41 Anne-Sophie Reichert: Leben im Versuch. Experimental Culture in Germany’s First Garten City Hellerau (1910–1914), Vortrag auf der Sommerschule »Cooperation and Self-Government: Sociopolitical Experiments in the Nineteenth and Twentieth Centuries« (17.– 19. September 2018) am DHI Paris. 42 Ulrich Herbert: Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History, 2007, Nr. 5, S. 5–21. 43 Zur Kritik an Herbert siehe: Lutz Raphael: Ordnungsmuster der »Hochmoderne«? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: ders.: Ordnungsmuster und Deutungskämpfe. Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2018, S. 133–154; Zitate ebd., S. 145 u. 147.

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Durchbruch der Postmoderne um 1970 ist die Wendung zum Subjektiven in Erzählung und Roman, zum Historismus in Städtebau und Architektur, zum Alltag in der Soziologie, zum Spätexpressionismus im Film, zum Narrativen in der Geschichtswissenschaft untersucht worden.44 In beiden Phasen um 1880 und um 1970 war der Kult des Konkreten und Körperlichen, der Unmittelbarkeit und Betroffenheit mit jeweils neuen komplexen Wissensformen verknüpft, die die Überspezialisierung und die aus ihrer Sicht zu schlichten Formen der linearen Rationalisierung und Versachlichung angriffen. Die Lebensreform um 1900 und die Gegenkulturen der 1970er Jahre können als zwei Schübe von Kulturkritik und ihrer milieuhaften Verfestigung verstanden werden. Beide thematisierten und reflektierten Aspekte des Wandels der modernen Gesellschaft und verschränkten ihre Formen von Planung und Utopie auf verschiedenen sozialen Experimentierfeldern. Die Konstanzer Wissenschaftshistorikerin Anne Kwaschik hat ermittelt, dass zwischen den 1820er und 1860er Jahren mehr als 60 Produktivgenossenschaften vornehmlich auf außereuropäischen Gebieten gegründet wurden. Neben dem Vereinigten Königreich waren es die USA und Kanada, wo 20 Siedlungen entstanden, die von Robert Owen selbst gegründet wurden oder von ihm inspiriert waren. Im nordamerikanischen Laboratorium entdeckten die Europäer mehr Gestaltungsmöglichkeiten als in ihren Heimatländern. Allein die Fourieristen gründeten seit den 1840er Jahren mehr als 40 Siedlungen auf der ganzen Welt, 30 davon in den USA. Zahlreiche religiöse Separatisten aus Deutschland hatten in den USA Kommunen ohne Privatbesitz, Löhne und Geldverkehr gegründet, in denen gemeinschaftlich gearbeitet und gelebt wurde. Diese Gründungswelle genossenschaftlicher Produktivassoziationen war gedacht als ein Experiment für das Zusammenleben von Menschen, in der insbesondere die Architektur der Häuser und der Siedlungen die Art und Weise ihrer zwischenmenschlichen Begegnungen durchregulieren sollte. Neben der ökonomischen Gütergemeinschaft sollten z. T. auch die Kinder in getrennten Häusern aufgezogen werden, Gemeinschafträume die Kontaktpflege steuern, selbst das Liebesleben wurde geplant:45 social engineering in einer Nussschale, das auf die Umwälzung des Sozialgefüges im Zuge der Industrialisierung und auf Entfremdungserfahrungen 44 Siehe in unserem Zusammenhang nur : Jürgen Habermas: Einleitung, in: ders. (Hg.): Stichworte zur ›Geistigen Situation der Zeit‹, Band 1: Nation und Republik, Frankfurt a. M. 1979, S. 7–35, hier S. 30f. Vgl. weiterführend Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. 45 Charles Nordhoff: The Communistic Societies of the United States, New York 1875; Kwaschik: Gesellschaftswissen (Anm. 40), S. 189–211 (Zahlenangaben auf S. 190f.); Friedrich Engels: Beschreibung der in neuerer Zeit entstandenen und noch bestehenden kommunistischen Ansiedlungen [1845], in: Marx-Engels-Werke, Band 2, Ostberlin 1985, S. 521–535, bes. S. 521–531.

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sowie Gesundheitsprobleme im Großstadtleben reagierte. Das Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum sollte in den neu geschaffenen Siedlungen, gewissermaßen unter Laborbedingungen, neu ausbalanciert werden. Kwaschik hat diese Siedlungen als »Kompensationsräume der Moderne« bezeichnet, in denen die Rationalisierungsbewegung der Moderne umgeformt und für mehr Muße und Kreativität und zugleich für weniger Arbeit und Herrschaft ihrer Bewohner genutzt werden sollte.46 In beiden Phasen, der Lebensreform wie der Alternativbewegung, wurde die Parzellierung und Spezialisierung des Wissens mit den Begriffen der Entfremdung, Umweltzerstörung und Gesundheitsbelastung, der anonymen Unwirtlichkeit der Verstädterung, der Beschleunigung des sozialen Lebens und dem Verlust übergreifender Sinnangebote in Verbindung gebracht. Vorreiter der in diesem Schema zusammengefassten Kritik an der Gesellschaft waren junge Künstler, Intellektuelle und subversive Literaten, deren gezielte Negation des bürgerlichen Habitus von einer politischen Affinität zum utopischen Radikalismus und Anarchismus zeugte. Sie suchten das Offene und Kontingente dieser Moderne zu ergründen: in kommunalen, netzwerkartig und gruppenbezogen organisierten Lebensstilexperimenten. Die neuen Wahrnehmungs-, Denk- und Beurteilungsweisen dieser präfigurativen Kultur47 waren durch ihre Ganzheitlichkeit, ihren Anspruch auf Ursprünglichkeit und Authentizität sowie einen kreativen Experimentalismus und die enge Verknüpfung von sozialem Handeln und Körperlichkeit gekennzeichnet. Der Körper galt ihnen als »Metonym der Gesellschaft« und als »Ausdruck sozialer Ordnung«.48 Nach und nach übernahm in beiden Fällen die etablierte Kultur Teile dieser alternativen Wissensformen und entdramatisierte und entpolitisierte diese Gegenkulturen.

46 Kwaschik: Gesellschaftswissen (Anm. 40), S. 210. 47 David Graeber : Frei von Herrschaft. Fragmente einer anarchistischen Anthropologie, Wuppertal 2008, S. 18. 48 Wirz: Sanitarium (Anm. 5), S. 122. Joachim Häberlen schreibt, die Lebensreform um 1900, analog zu den 1970er Jahren, »claimed to liberate bodies and feelings«. Allerdings sei diese Liberalisierung erst in der zweiten Bewegung politisiert worden, denn die Befreiung bezog sich jetzt auf die »oppression in capitalist and rationalist society« (Joachim C. Häberlen: The Emotional Politics of the Alternative Left, Cambridge 2018, S. 46). Die Lebensreformbewegung damit als »apolitisch« zu werten, basiert meines Erachtens auf einem zu traditionellen Politikbegriff.

Modernitätskritik

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Genealogien der Vernunftkritik: Von der Lebensreform zur Alternativbewegung

Wohlauf zum Tanz der grünen Kraft, zum Berg- und Tal-, zum Volks- und Freudenfest der alternativen Träumer in Ascona, Monte Verit/. […] Wir versammeln uns feiernd, tanzend, dankend und gedenkend zur 77. Wiederkehr der Gründung der Landkommune Monte Verit/ (1977), zum 100. Geburtstag ihres Gründers und Künders Gusto Arthur Gräser (1979) […] Auf zum Träumerball in Baladrume, auf den Spuren Hermann Hesses und Gusto Gräsers, durch das Tal des Friedens zur Höhle des Heiden und zum Felsen der heiligen Affen, […] auf zu Markt und Messe, Tanz und Theater, Musik und Magie, Rede und Gesang, Wanderung und Gang, Spiel und Kampf, zu Lust, Liebe und Überschwang, zum großen Miteinandergang, zum heiligen Ineinanderschlag, auf zum Monte Verit/.1

Mit diesen Worten lud eine Vorbereitungsgruppe aus dem schwäbischen Schelklingen im West-Berliner linksalternativen BUG Info zu einem Fest im schweizerischen Ascona am Monte Verit/. Dort hatte um die Jahrhundertwende eine Art Landkommune bestanden, deren Angehörige zum Teil der Münchner BohHme angehört hatten, aber auch von Ideen der Lebensreform inspiriert gewesen waren.2 Mitglieder und Besucher der Kommune, unter ihnen Hermann Hesse und die Tänzerin Isadora Duncan, arbeiteten nackt, oder zumindest fast nackt, im dortigen Garten oder übten Reigentänze, die den Körper aus dem strengen Regime des Balletts befreien sollten.3 Die Organisatoren des Festes 1978 wollten an diese Traditionen anknüpfen. In den folgenden Jahren fand das Fest 1 Anon.: Fiesta Ascona, Mont Verit/, in: BUG Info 1021, 22. Mai 1978, S. 3. 2 Zur Kommune auf dem Monte Verit/, siehe Gernot Böhme: Monte Verit/, in: Kai Buchholz u. a. (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Darmstadt 2001; Yme Kuiper : On Monte Verit/: Myth and Modernity in the Lebensreform Movement, in: Jitse Dijkstra, Justin Kroesen, Yme Kuiper (Hg.): Myths, Martyrs, and Modernity. Studies in the History of Religions in Honour of Jan N. Bremmer, Leiden 2010; Harald Szeemann (Hg.): Monte Verit/. Lokale Anthropologie als Beiträge zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie, Mailand 1979; Ulrike Voswinkel: Freie Liebe und Anarchie. Schwabing – Monte Verit/. Entwürfe gegen das etablierte Leben, München 2009. 3 Zu Duncan, siehe Natalia Stüdemann: Dionysos in Sparta: Isadora Duncan in Russland. Eine Geschichte von Tanz und Körper, Bielefeld 2008.

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erneut statt. Teilnehmerinnen und Teilnehmer, so berichtete eine Margret im Blatt aus München über das Fest 1980, machten Musik, »ein Medium, unabhängig von Sprache«, es gab Gymnastikgruppen, Tai Chi und Eurythmie. Aber nicht alles lief gut. Ein örtlicher Bauer, auf dessen Grund das Fest stattfand und der sich selbst als Anarchist bezeichnete, störte sich an nackten Brüsten und warf den Teilnehmern vor, sie hätten sich an seinem Brunnen die Zähne geputzt und damit das Wasser ungenießbar gemacht. Und schließlich erwies sich auch die Versorgung mit Lebensmitteln als eine Herausforderung, so dass das Fest ein vorzeitiges Ende fand.4 Das Fest in Ascona ist nur eine Spur, die andeutet, dass alternative Linke um 1980 Einflüsse der Lebensreform- und Jugendbewegung vom Beginn des 20. Jahrhunderts aufnahmen.5 Ein Blick in die Lektürelisten alternativer Linker ist dabei instruktiv. Hinweise auf solche Lektüren finden sich im »Informationsmagazin für Alternative« Ulcus Molle aus Bottrop, das nicht nur Buchbesprechungen veröffentlichte, sondern auch einen Versandhandel mit »alternativer« Literatur betrieb.6 Klassiker linker Theorie wie etwa die Werke von Marx und Engels oder auch die Schriften des Freudomarxisten Wilhelm Reich, die in den Theoriediskussionen um 1968 eine zentrale Rolle gespielt hatten, fanden sich dort nicht. Vielmehr wurde die Theoriesektion des Versandkatalogs vom Berliner Merve Verlag und den dort publizierten Schriften Michel Foucaults und Jean Baudrillards bestimmt.7 Aber ebenso wurden esoterische Bücher besprochen und vertrieben, etwa die Bücher Carlos CastaÇedas über seine angeblichen Begegnungen mit dem mexikanischen Schamanen Don Juan.8 Und nicht zuletzt fänden wir auf den Lektürelisten alternativer Linker Erich Scheurmanns Der Papalagi: Die Reden des Südsee Häuptlings Tuiavii aus Tiavea, veröffentlicht 1920, oder Hans Paasches Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschlands, ein Jahr später veröffentlicht, zu

4 Margret: Monte Verit/, eine Reise zum Berg der Reformen, oder : zum Bermudadreieck des Geistes, in: Das Blatt, 15.–28. 08. 1980, Nr. 178, S. 18–20. 5 Zur alternativen Linken und zur Terminologie, siehe grundsätzlich Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014; Sven Reichardt, Detlef Siegfried (Hg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010. 6 Zum linken Buchhandel, siehe Uwe Sonnenberg: Von Marx zum Maulwurf. Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren, Göttingen 2016. 7 Zur Geschichte des Merve Verlags siehe Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte, München 2015. 8 Siehe nur Carlos CastaÇeda: Die Lehren des Don Juan. Ein Yaqui-Weg des Wissens, Frankfurt a. M. 1973; ders.: Reise nach Ixtlan. Die Lehre des Don Juan, Frankfurt a. M. 1975.

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finden.9 Klaus-Bernd Vollmar, Herausgeber von Ulcus Molle, behauptete sogar, diese Bücher aus dem Umfeld der Lebensreform hätten mehr Leute in der Alternativszene politisiert als Marx und Engels.10 Beide Bücher bieten durch die Augen fiktionaler »Wilder« aus Afrika beziehungsweise der Südsee eine kritische Perspektive auf die moderne deutsche Gesellschaft, die den auswärtigen Besuchern als zutiefst unglücklich erscheint. Die Menschen lebten in kalten Steinhäusern, atmeten verpestete Luft, trugen einschnürende Kleidung und setzten alles daran viel Geld zu verdienen, um damit Dinge zu kaufen, die sie nicht bräuchten. Immer unter dem Druck zu arbeiten, hätten sie keine Chance das Leben zu genießen. Anstatt andere Menschen einfach als Menschen zu sehen, mussten sie diese stets in Kategorien einordnen, als Arbeiter oder Bürger, so dass sie ihr Gegenüber nur in einer Funktion erkennen konnten. Der Verweis auf die Bücher Scheurmanns und Paasches deutet auf eine Quelle linksalternativer Gesellschaftskritik in der Bundesrepublik hin, die selten in den Blick gerät. Wird nach Vorläufern der Neuen Linken gefragt, werden etwa Künstlergruppen wie SPUR und Subversive Aktion in Deutschland oder, auf internationaler Ebene, die Situationistische Internationale genannt; oder es wird auf unkonventionelle Jugendliche wie die westdeutschen Gammler oder die niederländischen Provos verwiesen.11 Zweifelsohne finden sich hier wichtige Vorläufer und Stichwortgeber der alternativen Linken. Allerdings übersieht eine solche eher kurzfristige Perspektive, dass sich die linksalternative Gesellschaftskritik der 1970er Jahre in eine längere Geschichte der Modernitätskritik, die mindestens bis 1900 reicht, einordnen lässt – wobei man durchaus überlegen könnte, diese Geschichte in die Romantik auszudehnen.12 Der Beitrag fragt danach, welche Elemente der Gesellschaftskritik aus dem Kontext der Lebensreform- und Jugendbewegung in der alternativen Linken aufgenommen wurden. Damit soll weder behauptet werden, lebensreformerische Kritik sei die einzige oder auch nur wichtigste Quelle linksalternativen Denkens gewesen, noch dass es bruch- und kritiklose Kontinuitäten gegeben hätte. In wichtigen Punkten 9 Hans Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschlands, Hamburg 1921; Erich Scheurmann: Der Papalagi: Die Reden des Südsee-Häuptlings Tuiavii aus Tiavea, Buchenbach 1920. 10 KBV (= Klaus Bernd Vollmar): Politische Überlegungen zur Alternativliteratur, in: Ulcus Molle, Dezember 1976, Sonderinfo 3, S. 10–16. 11 Siehe beispielsweise Timothy S. Brown: West Germany and the Global Sixties. The Antiauthoritarian Revolt, 1962–1978, Cambridge 2013; Quinn Slobodian: Foreign Front. Third World Politics in Sixties West Germany, Durham 2012; Detlef Siegfried: 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018. Mit westeuropäischer und US-amerikanischer Perspektive, siehe Gerd-Rainer Horn: The Spirit of ’68. Rebellion in Western Europe and North America, 1956–1976, Oxford 2007. Eine Ausnahme bildet das nicht-wissenschaftliche Buch von Christoph Conti: Abschied vom Bürgertum. Alternative Bewegungen in Deutschland von 1890 bis heute, Reinbek bei Hamburg 1984. 12 Siehe Thomas Tripold: Die Kontinuität romantischer Ideen, Bielefeld 2012.

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unterschieden sich die Gesellschaftskritiken von Lebensreform- und Alternativbewegung. Dennoch lohnt sich die Frage nach Bezügen.13 Was also war an Texten wie den Büchern von Scheurmann und Paasche oder Aktivitäten wie der Kommune von Monte Verit/ attraktiv für alternative Linke der späten 1970er Jahre? Wo lassen sich Verbindungslinien von der lebensreformerischen Kritik der Moderne zur Kritik der alternativen Linken ziehen? Im Zentrum beider Modernitätskritiken stand, so möchte ich hier argumentieren, eine Kritik der Rationalität als maßgeblichem Modus des Verstehens und Ordnens der Welt. Ein exklusiver Fokus auf Rationalität und Vernunft verhindere, so übereinstimmend Lebensreformer und Jugendbewegte einerseits und alternative Linke andererseits, eine ganzheitliche, natürliche und »freie« Erfahrung des (körperlichen) Selbst wie auch der Welt. Der erste Teil des Aufsatzes wird diese Kritik der Rationalität rekonstruieren. Aber weder Lebensreformer noch Linksalternative beließen es bei einer solchen allgemeinen Rationalitätskritik. Sie kritisierten ebenso moderne Städte und den Umgang mit Körpern, wie der zweite Teil des Aufsatzes zeigen wird.

Vernunftkritiken Weder in der Lebensreform- noch in der Alternativbewegung hatte die Vernunft einen guten Ruf. Erich Scheurmanns Der Papalagi etwa enthielt ein ganzes Kapitel mit dem Titel Die schwere Krankheit des Denkens. »Wenn das Wort ›Geist‹ in den Mund des Papalagi [so werden im Buch die Deutschen bezeichnet] kommt, so werden seine Augen groß, rund und starr ; er hebt seine Brust, atmet schwer und reckt sich auf wie ein Krieger, der den Feind geschlagen hat. Denn dies ›Geist‹ ist etwas, worauf er besonders stolz ist.«14 Dem Papalagi, so erklärt Scheurmann, ist das Denken »zum Zwang« geworden. »Er muss immerzu denken. Er bringt es nur schwer fertig, nicht zu denken und mit allen Gliedern zugleich zu leben. Er lebt oft nur mit dem Kopfe, während alle seine Sinne tief im Schlafe liegen.«15 Während der Papalagi bei schönem Sonnenschein sofort denkt, »Wie schön scheint sie [die Sonne] jetzt!«, würde der Samoaner einfach seine Glieder in der Sonne ausstrecken und sie am ganzen Körper wahrnehmen. »Er [der Samoaner] lässt seine Haut und Glieder für sich denken.«16 Dem fiktiven Häuptling Tuiavii zufolge stand hinter dem Zwang zu denken der Wunsch des Erkennens: »Erkennen, das heißt, ein Ding so nahe vor Augen zu haben, dass 13 Dies wird ausführlicher diskutiert in: Joachim C. Häberlen: The Emotional Politics of the Alternative Left. West Germany, 1968–1984, Cambridge 2018, S. 30–47. 14 Scheurmann: Papalagi (Anm. 9), S. 105. 15 Ebd., S. 106. 16 Ebd.

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man mit der Nase daran, ja hindurch stößt. Dieses Durchstoßen und Durchwühlen aller Dinge ist eine geschmacklose und verächtliche Begierde des Papalagi.«17 Denn, so kommentierte Scheurmann, eine wirkliche Erkenntnis würde es nie geben, nur der »Große Geist« habe wahre Erkenntnis. Daher gab Scheurmanns Häuptling auch den Rat, dem Papalagi nicht nachzueifern: »Denn wir sollen und dürfen nichts tun, das uns nicht stärker an Leib und unsere Sinne nicht fröhlicher und besser macht. Wir müssen uns hüten vor allem, was uns die Freude am Leben rauben möchte, … vor allem, was unseren Kopf in Streit mit unserem Leibe bringt.«18 Eine ähnliche rationalitätskritische Rhetorik findet sich auch in anderen Texten aus dem Kontext der Lebensreformbewegung. »Das Wort, der Begriff, die Abstraktion fraßen die Glückseligkeit des Fleisches, weil alles, was den Nerven und Muskeln Heiterkeit bereitete, dem Teufel zugesprochen wurde«, schrieb der politisch links orientierte Lebensreformer Robert Breuer etwa 1909. »Noch heute gibt es Scharen, die es für Höllenwerk achten, dass die Pforten der Sinne aufgestoßen werden sollen, dass sogar das Auge wieder sehen und genießen will.«19 Ähnlich kritisch gegenüber der Wissenschaft äußerte sich der jugendbewegte Charlie Strässer : »Nicht blutleere Wissenschaft […] ist das Ziel der aufgestörten Jugend. Sie will die Befreiung des Leibes, um alle Energien gegen die alles Beseelte ertötende Mechanisierung, alle Kräfte zu wahrhaft schöpferischem Tun freizubekommen, zu Taten, die durchbebt sind von dem Glauben und dem Glück, die im Leib verschlossen liegen.«20 Eine Vernunftkritik, wie sie Autoren aus dem Umfeld der Lebensreformbewegung formulierten, stieß in der alternativen Szene auf offene Ohren, stand diese doch im Zentrum der politischen Kritik der alternativen Linken. Das Buch Vulkantänze, verfasst von Herbert Röttgen und Florian Rabe (laut eines kritischen Rezensenten nur ein Alias für Röttgen, der das Buch alleine verfasst habe) und im Münchner Trikont-Verlag 1978 erschienen, bot eine solche Kritik.21 Röttgen war eine der zentralen Figuren der alternativen Szene in München: regelmäßiger Autor im lokalen Blatt, Mitherausgeber der Zeitschrift Autonomie: Materialien gegen die Fabrikgesellschaft und Gründer des Trikont-Verlags. Das 17 Ebd., S. 109. 18 Ebd., S. 111f. 19 Robert Breuer : Schönheit als Weltanschauung, in: Deutsche Kunst und Dekoration, 1908/09, Nr. 23, S. 154, zitiert nach Kai Buchholz: Lebensreform und Lebensgestaltung. Die Revision der Alltagspraxis, in: Buchholz u. a.: Lebensreform (Anm. 2), S. 363. 20 Zitiert ohne Quellenangabe in Michael Andritzky : Einleitung, in: Michael Andritzky, Thomas Rautenberg (Hg.): »Wir sind nackt und nennen uns Du«. Von Lichtfreunden und Sonnenkämpfern. Eine Geschichte der Freikörperkultur, Gießen 1989, S. 5. 21 Herbert Röttgen, Florian Rabe: Vulkantänze. Linke und alternative Ausgänge, München 1978. Die kritische Rezension stammt von G. Rossi: Der Tanz um einen erloschenen Vulkan, in: Das Blatt, 23.06.–06. 07. 1978, Nr. 123, S. 25.

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Buch ist zwar radikaler und politischer im Ton als die erwähnten Texte aus dem Kontext der Lebensreformbewegung. Was beide jedoch verbindet, ist eine Kritik an der Herrschaft des Verstandes zu Lasten von Körpern und Gefühlen. Das Buch beginnt mit einer Klage über den Tod des Mythos. »Mit dem Kentaur und der Waldnymphe stirbt der Mythos des Lebens. Die dunkle, unschuldige Nähe und Sanftheit der Menschen, die ihrem Tiersein noch nicht entwachsen waren, die das freie Umherschweifen noch kannten, die noch Zwiesprache hielten mit der Natur, diese Schatulle aus Erotik und Kraft, dieses halbmenschliche Begehren und Sehnen.« Der Mythos war Opfer eines Mordes geworden: »Die Mörder, das sind der Verstand mit seinem alles trennenden Beil, das Auseinanderreißen des Menschen in Leib und Körper, Seele und Geist, die Zerstörung seiner Freiheit und seiner Leidenschaft. Und der Staat, das ist dieser bleiche Tod, der alles seßhaft machen will, alles dem Nützlichkeitsgedanken unterordnen will.«22 Anklänge an die Rhetorik von Deleuze und Guattari, ihre Kritik des Sesshaften und ihre Zelebrierung des Nomadischen, sind hier unverkennbar.23 An anderer Stelle meinte Röttgen gar, das Rhizom sei jener »Sumpf«, von dem der Staat spräche, wenn er »die alternative[n] Ansätze« meinte, die sich »durch sein Gemäuer schieben – ob das nun Frauen, Kinder, Alte, Schwule, Männergruppen, verstreute Linke, Filmer oder Regionalisten sind.«24 Gleichzeitig bezog sich Röttgen aber auch auf Vorbilder aus der Lebensreform und Jugendbewegung. Ein von ihm mitherausgegebenes »Bildlexikon der Symbole« enthielt etwa Einträge zum lebensreformerischen Maler Fidus und zum Wandervogel.25 Auch wenn sich keine direkte Verbindungslinie von der Kritik an »blutleerer Wissenschaft« in der Lebensreform hin zur Zelebration des Mythos bei Röttgen und Rabe zeichnen lässt, so gibt es doch ein gemeinsames Grundmuster : die Kritik an rationalem Denken, und die Suche nach einem umfangreicheren, gleichsam holistischen Verständnis der Welt. Vulkantänze ist ein rhetorisch exzeptionelles Buch, das eine in der alternativen Linken weit verbreitete Vernunftkritik prononciert auf den Punkt brachte. Martin Lüdke etwa bemerkte 1979 in Unter dem Pflaster liegt der Strand, von einem »ungebrochenen Vertrauen in die Kraft der Vernunft« könne keine Rede mehr sein, »im Gegenteil: die Vernunft selber ist ins Gerede gekommen.« Dies gelte auch für die Linke: »Wer heute noch auf die Marxsche Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen setzt und entsprechend annimmt, dass im Zuge der fortschreitenden Naturbeherrschung die ›Fesseln‹ der Pro22 Ebd., S. 7f. 23 Siehe nur Gilles Deleuze, F8lix Guattari: Rhizome, Berlin 1977. Der Band wurde im linken Merve Verlag veröffentlicht. 24 Herbert Röttgen: Sumpf, in: Das Blatt, 04.-17. 11. 1977, Nr. 117, S. 14f. 25 Wolfgang Bauer, Irmtraud Dümotz, Sergius Golowin, Herbert Röttgen (Hg.): Bildlexikon der Symbole, München 1980.

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duktionsverhältnisse gesprengt würden, wird selbst unter ›Linken‹ wenig Freunde finden.« Gleichzeitig nahm Lüdke einen »gegenwärtigen Trend zum Irrationalismus« wahr.26 Ganz ähnlich schrieb Rainer Klassen in Ulcus Molle, dass »die Szene« oftmals als »anti-rational« verstanden werde, was »seinen Grund in der Brutalität der herrschenden Vernunft« habe.27 Im Frankfurter Pflasterstrand beschrieb ein anonymer Autor die Welt als »Labyrinthe, deren Erbauer und Bewacher die technologische Rationalität selbst ist.« Dort herrsche eine »effiziente anonym kalkulierte Logik«, die auf einem »selbstgesetzten Willen zur Herrschaft über die Natur« basiere.28 Und in der rationalitätskritischen Zeitschrift Konkursbuch schließlich argumentierte Georg Bergfleth 1979 gegen Jürgen Habermas und dessen »Traum von einer universalen Vernunftherrschaft«: »Es ist der Grundirrtum der Emanzipation, dass die Vernunft das Maß aller Dinge sei. Denn was die Vernunft ausmacht, und gerade die Vernunft, die sich zum Maß aller Dinge aufschwingt, ist nichts anderes als Herrschaft: Herrschaft über die Natur, über den Menschen und über sich selbst.«29 Mit dieser Vernunftkritik knüpften alternative Linke an die Kritik rationalen Denkens in der Lebensreform an.

Einsame Städte und Verdorrte Seelen Weder in der Lebensreform- und Jugendbewegung noch in der alternativen Szene blieben diese Kritiken an der Rationalität auf einer abstrakten Ebene stehen. Sie bildeten gleichsam das Fundament für eine Kritik spezifischer Praktiken. Dabei stechen insbesondere Kritiken an moderner Urbanität sowie am Umgang mit dem Körper ins Auge.30 Eine Lithographie aus dem Buch Der Zukunftsstaat (1904) von Friedrich Eduard Bilz mag als Beispiel für die Vielfältigkeit der Gesellschaftskritik in der Reformbewegung dienen; vgl. die Abb. auf S. 55.31 Im Staat der Gegenwart, wie er auf der linken Seite des Bildes dargestellt ist, schlafen die Menschen in »Schlafkammern mit geschlossenen 26 Martin Lüdke: Wildnis und Kultur, in: Unter dem Pflaster liegt der Strand, 1979, Nr. 6, S. 105–132, hier S. 107. 27 Rainer Klasse: Aphorismus zur Vernunft, in: Ulcus Molle, 1979, Nr. 3/4, S. 7. 28 Anonym: Grüne Liste – Natur als Politik, in: Pflasterstrand, 3.–16. November 1977, Nr. 18, S. 30–32. 29 Gerd Bergfleth: Kritik der Emanzipation, in: Konkursbuch. Zeitschrift zur Vernunftkritik, 1978, Nr. 1, S. 13–38, hier S. 27 (Hervorhebungen im Original). 30 Vgl. den Beitrag von Nadine Zberg in diesem Band. 31 F. Eduard Bilz: Der Zukunftsstaat. Staatseinrichtung im Jahre 2000. Neue Weltanschauung. Jedermann wird ein glückliches und sorgenfreies Dasein gesichert, Leipzig 1904. Zu Bilz siehe Diethart Kerbs: Die Welt im Jahre 2000. Der Prophet von Oberlößnitz und die Gesellschafts-Utopien der Lebensreform, in: Buchholz u. a.: Lebensreform (Anm. 2), S. 61–66.

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Fenstern«, oder liegen krank im Zimmer. Die Lithographie brachte eine in der Lebensreformbewegung weit verbreitete Kritik auf den Punkt: Die Menschen, so der vielfach geäußerte Vorwurf, hausten in steinernen Häusern ohne Licht, Sonne und frische Luft, zum Schaden der Gesundheit.32 Bei Scheurmann konnte man etwa lesen: »Der Papalagi wohnt wie die Seemuscheln in einem festen Gehäuse. […] Seine Hütte gleicht einer aufrechten Truhe aus Stein. Einer Truhe, die viele Fächer hat und durchlöchert ist.« In diesen »Truhen« herrschten Einsamkeit und Anonymität: »Und eine Aiga [ein erfundenes Wort für Familie] weiß oft von der anderen nichts. […] Sie wissen oft ihre Namen kaum, und wenn sie einander an dem Einschlupfloch begegnen, geben sie sich nur unwillig einen Gruß oder brummeln sich an wie feindliche Insekten.«33 Zu oft fehlte es an Fenstern, zu sehr war die Luft in diesen Räumen von Essensgerüchen und Rauch verdorben: Lebensbedingungen, unter denen die Menschen krank wurden, wie Lebensreformer meinten. Ganz in diesem Sinne kritisierten Lebensreformer und Jugendbewegte auch die bürgerliche Kleidung, die den Körper gleichsam gefangen hielt.34 In diesem Sinne spiegelte die Kleidung, so die Kritik, eine Zivilisation, die keinen Platz für Sinnesfreuden hatte. Eduard Bilz etwa meinte, dass »naturwidrige Einrichtungen« an »vielen heutigen Krankheiten die Schuld« tragen. Dazu zählte er allgemein eine »geistige Überbürdung«, aber auch eine »zu reizbare und schwer verdauliche Nährweise, sowie unsere übliche, die Körperausdünstung sehr hemmende Kleidung; dann das Korsett, durch welches edle innere Organe zusammengedrängt und verkrüppelt werden. Ferner der Genuss schlechter unreiner Luft in Wohn-, Arbeits- und Schlafräumen, dergleichen in Wirtshäusern.«35 Sofort verboten werden sollten seiner Auffassung nach das »Schleppentragen« und das »Schnürleibertragen der Damen«, die »Fußbekleidung der Kinder bei warmer Jahreszeit« ebenso wie »jede Kopfbedeckung der Kinder«.36 Ähnlich meinte auch Heinrich Pudor : »Der Kragen teilt den Menschen in einen lebendigen und einen toten Teil. Er verhindert, dass die Dämpfe und Dünste, die 32 S. etwa die Beiträge in Buchholz u. a. (Hg.): Lebensreform (Anm. 2); Marc Cluet, Catherine Repussard (Hg.): »Lebensreform«: Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht, Tübingen 2013; Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen, 1880–1933, Wuppertal 1998. Speziell zum Wohnen, siehe Kai Buchholz, Renate Ulmer : Reform des Wohnens, in Kai Buchholz u. a.: Lebensreform (Anm. 2), S. 557–550, Karen Ellwanger, Elisabeth Meyer-Renschhausen: Kleidungsreform, in: Kerbs, Reulecke (Hg.): Handbuch, S. 87–102. 33 Scheurmann: Papalagi (Anm. 9), S. 31. 34 Siehe etwa Astrid Ackermann: Kleidung, Sexualität und politische Partizipation in der Lebensreformbewegung, in: Cluet, Repussard: Lebensreform (Anm. 32), S. 161–182; Ellwanger, Meyer-Renschhausen: Kleidungsreform (Anm. 32). 35 Bilz: Zukunftsstaat (Anm. 31), S. 4f. 36 Ebd., S. 16.

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Illustration zu Friedrich Eduard Bilz: Der Zukunftsstaat. Staatseinrichtung im Jahre 2000, Leipzig 1904 (aus: Gerhard Paul (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 1: 1900–1949, Bonn 2009).

vom ganzen Leib aufsteigen und an dieser Stelle sich entladen wollen, an die Luft abgegeben werden, er verhindert die Kommunikation zwischen Kopf und Leib, er verhindert, dass die Lebensströme vom Kopf in den Leib und vom Leib in den Kopf weitergehen, er bildet recht eigentlich das Kainszeichen des modernen Kopfmenschen, der seinen Leib in das Leben vergessen hat mitzunehmen.«37 Es nimmt daher kaum Wunder, dass Lebensreformer und Jugendbewegte Nacktheit zelebrierten, die sie aber dezidiert als asexuell verstanden wissen wollten.38 Mit drastischen Worten erläuterte H. Sieker »die Scheu des Europäers vor Nacktheit«, die ihren »Hauptgrund in der Scham vor der Entblößung des Geschlechtsteils« habe: Die Gründe sind der Scham auch wert. […] Das Geschlechtsteil des Mannes von Heute sieht durchschnittlich so aus: graugrünliche Verwesungsfarbe, da die wenigsten jemals Luft und Sonne an diese Körperpartie, die den schlimmsten Schweißherd bildet, heranlassen; die Säurerückstände des Schweißes laugen das Fleisch aus und verleihen ihm 37 Heinrich Pudor : Die Nacktheit in Kunst und Leben, in: Der Eigene (1906), S. 16, zitiert nach Lothar Fischer: Getanzte Körperbefreiung, in: Andritzky, Rautenberg (Hg.): Lichtfreunden (Anm. 20), S. 106 (Hervorhebung im Original). 38 Siehe etwa Wolfgang R. Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974, S. 99.

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diese ekelerregende Farbe, sowie oft einen widerwärtigen Gestank. […] Diese Farbe deutet buchstäblich den Verfaulungsprozess an, da wenige soviel hygienisches Wissen besitzen, um unmittelbar nach der Begattung oder einmal tags diese Teile zu waschen. Wird es gar regelmäßig der Luft und besser noch den Sonnenstrahlen ausgesetzt, so gewinnt das Geschlechtsteil eine seidenfeine Haut und Farbe; die feinste Haut des Körpers!39

Aus lebensreformerischer Sicht herrschte in der modernen Welt ein kalter, körper- und sinnesfeindlicher Verstand, der sich in Wohnformen oder in Bekleidungsnormen manifestierte. Körper litten unter dieser Situation, gesundheitlich, aber auch emotional und sinnlich, weil die körperfeindliche Welt einen genussvollen, gleichsam ästhetischen Umgang mit Körpern nicht zuließ. Luftige Kleidung oder gar Nacktheit galten als Heilmittel,40 ebenso wie das Tanzen, über das Eduard Bilz meinte: »Alle Menschen, jung und alt, sollten fast täglich, womöglich im Freien, dem Tanz huldigen, weil dieses gesund ist und Körper und Geist hebt und aufrichtet. […] Auch die Erwachsenen sollten die heutigen Kinderspiele im Freien alle noch mitmachen, wie Haschemann, Ringel-RingelRosenkranz, usw.«41 Und Gustav Wyneken verstand die Jugendbewegung und insbesondere deren Treffen am Hohen Meißner 1913 als »Freiheitskampf des Leibes«: »Wer den ganzen Tag zwischen den Wänden der Schule sitzt oder in den steinernen Straßen der Städte umherläuft, der hat eigentlich gar keinen Körper, er läuft wie ein Wagen in steinernen Gleisen. Als eine Auflehnung hiergegen, als eine Feier des Wiederfindens des eigenen Körpers und des neuen Bundes mit ihm deute ich mir die Tanzerei vom Meißner.«42 Auch in der alternativen Linken war eine Kritik an Formen städtischen Lebens und am Verhältnis zum Körper in der kapitalistischen Gesellschaft verbreitet. Immer wieder konnte man in linksalternativen Publikationen vom Leben in »Betonsilos« in Städten wie »Krankfurt«, eine Verballhornung von Frankfurt, lesen.43 Im Vordergrund stand dabei eine Kritik an den emotionalen Auswirkungen insbesondere von Neubauquartieren wie dem Märkischen Viertel in Berlin. In diesen Vierteln herrschte, so ein verbreitetes Argument, nichts als Langeweile und Einsamkeit. Vertreter des Stadteilzentrums Kreuzberg in WestBerlin klagten etwa über die Auflösung von »intakte[n] Kommunikations39 H. [Hugo] Sieker : Fünf Sätze zu einer Hygiene der Ehe, in: Junge Menschen, Juli 1927, Nr. 7, S. 172, zitiert nach Marion E. P. de Ras: Körper, Eros und weibliche Kultur. Mädchen im Wandervogel und in der Bündischen Jugend, Pfaffenweiler 1988. 40 Zur Freikörperkultur siehe die mittlerweile klassische Studie von Maren Möhring: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890–1930), Wien u. a. 2004. 41 Bilz: Zukunftsstaat (Anm. 31), S. 394f. 42 Gustav Wyneken: Der weltgeschichtliche Sinn der Jugendbewegung, in: ders.: Der Kampf für die Jugend, Jena 1919, wieder abgedruckt in: Werner Kindt (Hg.): Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, Düsseldorf u. a. 1963, S. 152. 43 Siehe die ausführliche Diskussion in Häberlen: Politics (Anm. 13), S. 145–155.

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strukturen« nach dem Wegzug vieler Mieter in neugebaute Viertel am Stadtrand. »Während viele Familien, die hier früher wohnten, nun isoliert und meist ohne jeden Kontakt zur Nachbarschaft in anderen Neubauvierteln leben, hat derweil in Kreuzberg das moderne Leben Einzug gehalten: […] mit Seniorenheimen, die die alten Leute kontaktmäßig von der übrigen Bevölkerung trennen und deren Leben eintönig, langweilig und nutzlos erscheinen lässt.«44 Unter dem Titel »Stadtknast – Knaststadt« diskutierte Detlef Hartmann in der Hamburger Zeitschrift Große Freiheit die funktionale Fragmentierung moderner Städte, die jegliche Spontaneität unterdrücke. »Das Ziel einer solchen Unterdrückung ist die Zerlegung und Zerspaltung von ganz komplexen, umfassenden Lebensbereichen in ganz genau vordefinierte Orte, wo ganz genau gesagt ist, was da der Fall ist, was da gemacht werden muss.« Das Ergebnis waren »öde« Wohnviertel, in denen eine »sensorische Deprivation« herrschte. »Wenn die Neue Heimat halt nur Beton baut, nur glatten Rasen baut und also keinen Anhaltspunkt dafür bietet, sich da eigentlich wohlzufühlen, sich da aufzuhalten, dann ist es also praktisch das selbe wie […] wenn man weiß gekalkte Zellen zur Verfügung gestellt bekommt. […] Das Ergebnis dieser geplanten Öde, Monotoniegefühle, Apathie und Lethargie, sollen die Leute dazu bringen, sich im Zentrum zu erholen, im Zentrum zu kaufen und den Kaufakt sozusagen als das Zentrale in ihrem Leben anzusehen.«45 Ähnlich argumentierte ein anonymer Autor im Stuttgarter ’s Blättle, der »gigantische Straßenkonstruktionen« beklagte, die Stadtgebiete »zerschnitten« und »soziale Kontakte« zerstörten. »Die Kommunikation der Leute untereinander soll erschwert werden, alles läuft anonym – jeder für sich und gegen die anderen – alles wird leichter zu kontrollieren und leichter zu überwachen.«46 Gerade das letzte Argument ist insofern bemerkenswert, als dass Kritiker wie Scheurmann bereits in den 1920er Jahren eine Kommunikationslosigkeit in modernen Städten beklagt hatten. Diese Kritik am urbanen Leben in der alternativen Linken hatte immer wieder auch eine sinnlich-körperliche Dimension. Im Frankfurter Studentenmagazin diskus etwa hieß es: »Sinnlichkeit meint das Bestehen auf der Entfaltung aller menschlichen Sinne. Wie Schmecken, Riechen, Hören, Sehen, Fühlen. Wie verkrüppelt unsere Sinne durch das Leben in Beton, Lärm, Abgasen, Smog, Kantinenessen, Phosphatwürstchen, Gummibrötchen schon sind, nehmen wir ansatzweise wahr, wenn wir vom Urlaub nach Frankfurt zurück kommen und in den ersten Tagen mit stechenden Kopfschmerzen rumrennen, weil sich unser 44 Gespräch mit einem Vertreter des Stadtteilzentrums Kreuzberg, in: Traumstadt, Mai 1978, Nr. 3, S. 6–11. Siehe hierzu auch Christiane Reinecke: Am Rande der Gesellschaft? Das Märkische Viertel – eine West-Berliner Großsiedlung und ihre Darstellung als urbane Problemzone, in: Zeithistorische Forschungen, 2014, Jg. 11, Heft 2, S. 212–234. 45 Detlef Hartmann: Stadtknast – Knaststadt, in: Große Freiheit, März 1981, Nr. 43, S. 10–13. 46 Anonym: Häuserkampf, in: ’s Blättle, Juni 1982, Nr. 70, S. 6.

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Körper erst wieder an den Sauerstoffmangel und die Zellgifte anpassen muss.«47 Und im Münchner Blatt argumentierte ein Autor namens Rädli in einer Kritik an der »funktionalistischen Denkweise« der kapitalistischen Welt, dass »der Zustand des gesellschaftlichen Lebens Ausdruck eines verarmten Seelenlebens ist, wie das Sterben der Flüsse und Wälder, der Krebs und die Atemnot im Beton Ausdruck verdorrter Seelen ist.«48 Ähnlich wie in der Lebensreformbewegung versuchten Linksalternative Praktiken zu entwickeln, die ihnen eine ganzheitliche und »authentische« Körpererfahrung ermöglichen sollten, etwa in Form von Meditation, Karate oder nicht zuletzt Tanzen.49 Im Heidelberger Carlo Sponti berichteten Frauen beispielweise von einem »feministischen Therapiekongress« in Köln, auf dem sie mittels »tanzen, toben, Hektik machen, schreien« ihren »Körper fühlen« wollten. Dem Bericht der Frauen zufolge erlebten sie eine »explosionsartige« Dynamik, die ein besonderes Körpergefühl vermittelte: »Z. B. pantomimisches Tanzen, wildes Schreien, Grimassen schneiden, Grinsen bis zum Umschlagen in aggressives Schimpfen, aktionstheaterähnliches Ausdruckstanzen, Geburt spielen, gemeinsames Tanzen, das plötzlich rhythmisch wurde durch das Fingerschnalzen einer Frau, in das nach und nach alle anderen mit einfielen, über Hände Klatschen, mit den Füßen stampfen, an den Wänden trommeln: alle im gleichen Rhythmus, miteinander aufeinander bezogen und doch jede für sich = autonom.«50

Diese kurzen Ausführungen deuten an, dass sowohl auf der Ebene der Kritik am urbanen Wohnen und am Verhältnis zum Körper als auch auf der Ebene der Praktiken Überschneidungen und Anknüpfungspunkte zwischen Lebensreform und Alternativbewegung bestanden. Sowohl in der Lebensreform als auch in der Alternativbewegung lassen sich Versuche ausmachen, den Körper zu »befreien« und »authentischer« zu erleben.51 Allerdings sollte der Verweis auf Parallelen nicht über gravierende Unterschiede hinwegtäuschen. Die in der Lebensreform verbreitete Kritik an der Schamhaftigkeit moderner Menschen, die schon beim Anblick nackter Füße oder Arme erröteten,52 zielte gerade nicht auf eine Sexualisierung des Körpers ab. Alternative Linke hingegen propagierten die Erotisierung des ganzen Körpers, der eine Quelle der Lust darstellen sollte, die nicht

47 Frauenkollektiv : So, so, einen Frauenasta habt ihr – Ach ja, einen Frauenasta?, in: diskus, 20. 10. 1976, Nr. 5, S. 18–27. 48 Rädli: Verdorrte Seelen, in: Das Blatt, 01.-14. 09. 1978, Nr. 128, S. 24–27. 49 Siehe ausführlich die Diskussion in Häberlen: Politics (Anm. 13), S. 186–194. 50 Elisabeth: Weck die Kraft, die in dir steckt: Feministischer Therapiekongress in Köln, 20.–22. Mai, in: Carlo Sponti, Juni 1977, Nr. 34/35, S. 12. 51 Siehe mit kritischer Perspektive Möhring: Marmorleiber (Anm. 40). Zu meiner Kritik an Möhring, siehe Häberlen: Politics (Anm. 13), S. 41f. 52 Bilz: Zukunftsstaat (Anm. 31), S. 401f.

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auf Genitalien beschränkt bleiben sollte.53 Und Linksalternative sorgten sich zwar ebenso wie Lebensreformer um ihren gesunden Körper und versuchten sich in Praktiken alternativer Medizin, aber sie zelebrierten dabei keine starken, makellosen und eindeutig männlichen oder weiblichen Körper, wie dies in der Lebensreform verbreitet war, sondern idealisierten eher zerbrechliche und, gerade für Männer, »softe« Körper.54 Auch in diesem Sinne wäre es daher vereinfachend, eine direkte Kontinuitätslinie von Lebensreform zur Alternativbewegung ziehen zu wollen.

Schlussbemerkungen: Rationalitätskritik in Lebensreform, Alternativbewegung – und Faschismus? Die Rationalitätskritik der Lebensreform- und Jugendbewegung um 1900 war eine Quelle der Inspiration für die Alternativbewegung in den langen 1970er Jahren, wenn auch sicherlich nicht die einzige oder wichtigste. Die Rede von der »blutleeren« Wissenschaft, die Kritik an kalten Städten und unnatürlichen Verhältnissen zum eigenen Körper war auch für Linksalternative attraktiv. Ob Klaus Bernd Vollmar mit seiner Einschätzung richtig lag, Paasche und Scheurmann hätten mehr Linke politisiert als Marx, mag dahingestellt bleiben. Vielleicht ist seine Bemerkung auch ein Beleg dafür, dass endlose Diskussionen über Marx irgendwann schlicht ermüdend geworden waren. Diese Parallelen und Verbindungen deuten an, wie sich beide Bewegungen, und eventuell auch die Romantik als Vorläuferin der Lebensreformbewegung, in eine längere Geschichte von Modernitätskritiken einbetten ließen, in deren Mittelpunkt die Ablehnung einer angeblichen Herrschaft der technischen und wissenschaftlichen Vernunft zulasten von Gefühlen, Sinnen, Mythen und Körpern stand. Sicherlich wären auch explizit rechte, konservative und faschistische Modernitätskritiken in einer solchen Geschichte zu bedenken. Dass sich von Lebensreform und Jugendbewegung Linien, wenn auch gebrochene, zum Faschismus ziehen lassen, ist hinlänglich diskutiert. Alternative Linke waren sich durchaus bewusst, dass sie sich mit einer Anrufung von Mythen als Gegenpart zur Vernunft der Kritik aussetzten, konservative wenn nicht gar faschistische Ideen aufzugreifen. Ob die Versuche, sich anderen Mythen zuzuwenden und damit vom Faschismus abzugrenzen oder sich konservative Ideen in progressiver 53 Siehe hierzu Joachim C. Häberlen: Feeling Like a Child. Visions and Practices of Sexuality in the West German Alternative Left during the Long 1970s, in: Journal for the History of Sexuality, 2016, Jg. 25, S. 219–245. 54 Zu Idealen softer Männlichkeit, siehe Reichardt: Authentizität (Anm. 5), S. 699–718. Siehe auch Svende Merian: Der Tod des Märchenprinzen: Frauenroman, Hamburg 1980, sowie die Replik von Arne Piewitz: Ich war der Märchenprinz, Hamburg 1983.

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Absicht wieder anzueignen, überzeugen, ist dabei zweitranging. Es war jedenfalls kein blinder Fleck linksalternativer Autorinnen und Autoren.55 Diesen daher faschistisches Denken vorzuwerfen oder nachzuweisen, würde einzig wiederholen, was historische Akteure schon wussten. Produktiver wäre es zu rekonstruieren, wie genau Rationalitätskritiken als Modernitätskritiken funktionierten, wie sie sich unterschieden, wo es Anschlussfähigkeiten auch in kritischer Auseinandersetzung gab und welche Gegenmodelle sie entwarfen.

55 Siehe etwa Röttgen, Rabe: Vulkantänze (Anm. 21), S. 11–19; Nicola Schulz, Karl Heinz Albers: Nicht nur Bäume haben Wurzeln. Eine Streitschrift für einen Rückschritt zum Fortschritt, München 1982.

Bernadett Bigalke

Healthy, Happy, Holy: »Yoga« und Selbstverhältnisse um 1900 und um 1970 »So viel Freiheit! Ich bin überfordert. Was mach’ ich daraus? Ich such mir einen Yoga-Lehrer, der mir sagt, wann ich einatmen soll und wann aus.« (Die Freiheit von Dota Kehr, Album: Die Freiheit, 2018)

Die von den Zeithistoriker Pascal Eitler untersuchten Semantiken des in den 1970er und 1980er Jahren populären Yoga-Diskurses und der damit verbundenen körperorientierten Spiritualität1 werden in diesem Aufsatz mit dem YogaDiskurs in theosophischen Kreisen um 1900 verglichen. Dabei wird es auch um die Rekonstruktion von Selbstverhältnissen und anthropologischen Vorstellungen gehen. Es wird sich zeigen, dass der von Eitler konstatierte Prozess der Somatisierung des Religiösen, die Propagierung des Körpers als religiöses Erkenntnisinstrument, eine betont selbstverantwortliche Ethik und spezifische Orientalisierungsprozesse bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in der entsprechenden religiösen Kommunikation vorhanden waren.2 Es lassen sich 1 Pacal Eitler : Körper – Kosmos – Kybernetik: Transformationen der Religion im »New Age« (Westdeutschland 1975–1990), in: Zeithistorische Forschungen, 2007, Nr. 4, S. 116–136; ders.: »Alternative« Religion: Subjektivierungspraktiken und Politisierungsstrategien im »New Age« (Westdeutschland 1970–1990), in: Sven Reichardt, Detlef Siegfried (Hg.): Das alternative Milieu: Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010, S. 335–352; ders.: »Selbstheilung«. Zur Somatisierung und Sakralisierung von Selbstverhältnissen im New Age (Westdeutschland 1970–1990) , in: Sabine Maasen u. a. (Hg.): Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den »langen« Siebzigern, Bielefeld 2011, S. 161–181; ders.: »Orte der Kraft«: Körper, Gefühle und die religiöse Topologie des »New Age«, in: Frank Bösch, Lucian Hölscher (Hg.): Jenseits der Kirche: Die Öffnung religiöser Räume seit den 1950er Jahren, Göttingen 2013, S. 176–202; ders.: Der kurze Weg nach »Osten«. Orientalisierungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland um und nach 1968, in: Axel Schildt (Hg.): Von draußen. Ausländische intellektuelle Einflüsse in der Bundesrepublik bis 1990, Göttingen 2016, S. 288–305. 2 Es ist nicht klar, wieso Eitler in seinen Texten zum New Age wiederholt »die Lebensreform« um 1900 im Allgemeinen als die Bezugsgröße des Vergleichs nennt, die hauptsächlich auf antike Vorbilder rekurriert habe. Meines Erachtens müsste die Bezugsgröße zum New Age aber die

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sogar verschiedene praktische Versuche mit »Yoga« rekonstruieren.3 Darüber hinaus ist von einem Transfer dieser Diskurse und Praktiken über diachrone Netzwerke und (populäre) Medien auszugehen. Meine These einer solchen Kontinuität soll an einzelnen illustrativen Beispielen plausibel gemacht werden. Am Beispiel der Theosophischen Gesellschaft wird gezeigt, dass um 1900 propagierte Selbst- und Körpertechniken eben nicht hauptsächlich auf »antike« Vorbilder abhoben.4 Im ersten Abschnitt des Aufsatzes werde ich die Befunde Eitlers zur spirituellen Szene der 1970er und 1980er Jahre rekapitulieren und seine Interpretation vorstellen. Die von ihm hervorgehobenen Aspekte dienen mir dann als tertia comparationis für die Untersuchung der entsprechenden Diskurse und Praktiken um 1900. Dem Fallbeispiel liegen weltanschauliche Texte diverser Art aus der deutschsprachigen Theosophie zu Grunde.5 Im darauf folgenden dritten Abschnitt werde ich einen Vergleich unternehmen und im Anschluss Überlegungen zu verschiedenen Ausprägungen von Kontinuität vorstellen.

Die spirituelle Szene der 1970er und 1980er Jahre Orientalisierung von Religion Die religiöse Landschaft der alten Bundesrepublik ist nach 1968 durch die Religiosität des New Age6 ohne Zweifel diversifiziert worden.7 Dieser religiöse Wandel lässt sich laut Eitler in Teilen als Prozess einer Orientalisierung be-

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esoterische außerkirchliche (und körperorientierte) Religiosität um 1900 sein, deren primärer Bezug zu asiatischen Religionsentwürfen sehr deutlich ist; siehe Eitler : Selbstheilung (Anm. 1), S. 167. Yoga als Konzept und als Praxis fand um 1900 nicht nur »Beachtung« (Eitler : Körper (Anm. 1), S. 118), sondern prägte historische Akteure im nordamerikanischen, europäischen und indischen Raum maßgeblich. So bei Eitler : Selbstheilung (Anm. 1), S. 167. Zur Geschichte der Theosophie in Deutschland siehe Helmut Zander : Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis, 2 Bde., Göttingen 2007. Der Begriff »New Age« als auch das Kompositum »New Age Bewegung« sind unter Religionswissenschaftlern und Religionssoziologen umstritten; zur Debatte siehe Steven Sutcliffe: Category Formation and the History of »New Age«, in: Culture and Religion, 2003, Nr. 1, S. 5–29. Für einen einführenden Überblick: Peter Bräunlein: Die langen 1960er Jahre, in: Lucian Hölscher, Volker Krech (Hg.): Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum: 20. Jahrhundert – Epochen und Themen, Bd. 6/1, Paderborn 2015, S. 175–220; Diethard Sawicki: Esoterik, in: Lucian Hölscher, Volker Krech (Hg.): Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum: 20. Jahrhundert – Religiöse Positionen und soziale Formationen, Bd. 6/2, Paderborn 2016, S. 177–188.

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schreiben.8 Die Quellengrundlage seiner Diskursanalyse sind autoritative Texte des New Age von Bestseller-Autoren wie z. B. Marilyn Ferguson (1938–2008) und Frithjof Capra (geb. 1938) sowie Beiträge aus diversen Jahrgängen der auflagenstärksten Zeitschrift der Szene, Esotera, die seit 1970 unter diesem Namen im Hermann-Bauer-Verlag in Freiburg erschien. Sie hatte zu ihren Hochzeiten in den 1980er Jahren eine Auflage von 60.000 Exemplaren, die über Abonnements und an Kiosken vertrieben wurden, und war damit das einflussreichste esoterische Periodikum im deutschsprachigen Raum.9 Selbstverständliche Bezugsgrößen dieser Art weltanschaulicher Literatur stellten Begriffe wie »asiatisch« und »östlich« dar, die Religionen »Buddhismus«, »Hinduismus« und »Taoismus« sowie die Praktiken »Zen« und »Yoga«. Diese dienten u. a. als kultur- bzw. zivilisationskritisch intendierte Legitimationsmarker. Dabei benutzten die Akteure Argumentationen, die bereits in den 1960er Jahren im Kontext der counterculture10 verwendet worden waren.11 »Die in Kalifornien entstandene Counter Culture Bewegung entfaltet globalen Einfluss. In erster Linie sind es Printmedien, vor allem aber populäre Musik, die Lebensstil, Ideologie, Mode, Emotionalität und Habitus der Gegenkultur international bekannt machen. Von der Westküste der USA über New York, London und Amsterdam gelangen 8 Eitler : Körper (Anm. 1), S. 118; siehe ebenfalls Eitler : Weg (Anm. 1). 9 Eitler : Körper (Anm. 1), S. 119. Bereits die Geschichte dieser Zeitschrift gibt Hinweise auf Kontinuitäten zum Okkultismus und New Thought in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: »1949 war die Zeitschrift unter dem Titel Okkulte Welt mit dem Untertitel ›Übersinnliches Geschehen/Spiritismus, Magie, Astrologie und Okkulte Grenzgebiete‹ in Hannover erschienen. Ein Jahr später wurde sie an den Löwen-Verlag verkauft, der sie in Okkulte Stimme umbenannte […] 1958 erwarb der Freiburger Hermann Bauer Verlag die Zeitschrift, die seit dem Folgejahr als Die andere Welt erschien. Erstmals tauchte nun im Editorial das ›Neue Zeitalter‹ (New Age) auf, und die Inhalte verschoben sich allmählich vom Okkulten hin zu spirituellen und esoterischen Fragen«; vgl. Christoph Henselin: Die Zeitschrift »Esotera« als Forum der New-Age-Bewegung, in: Günther Klugermann u. a. (Hg.): Okkultes Freiburg: Ereignisse – Personen – Schauplätze, Kassel 2015, S. 70–71. 1970 kaufte Hermann Bauer dann den Johannes Baum Verlag. Hier war von 1923 bis 1970 die Zeitschrift Die weiße Fahne erschienen, welche bis dato das Organ der Neugeist-Bewegung (der deutschen Variante des New Thought) gewesen war. Die Zeitschrift Esotera entstand aus der Zusammenlegung der Weißen Fahne und Die andere Welt. Die Titelhistorie lässt sich über die Zeitschriftendatenbank (ZDB) nachvollziehen; vgl. https://zdb-katalog.de. Der zwischenzeitliche Erfolg geht auf Gert Geisler zurück, der 1973 die Redaktion übernahm, diese Funktion 28 Jahre lang ausfüllte und ihre Inhalte maßgeblich prägte. 10 Die einflussreichste zeitgenössische Studie stammt von dem US-amerikanischen Historiker Theodore Roszak: The making of a counter culture: Reflections on the technocratic society and its youthful opposition, Garden City, N.Y. 1969. Die deutsche Übersetzung erschien bereits 1971: ders.: Gegenkultur : Gedanken über die technokratische Gesellschaft und die Opposition der Jugend, Düsseldorf 1971. Zur Rezeptionsgeschichte seines Werkes und zur Begriffsgeschichte siehe Christopher Partridge: A Beautiful Politics: Theodore Roszak’s Romantic Radicalism and the Counterculture, in: Journal for the Study of Radicalism, 2018, Nr. 2, S. 1–34. 11 Eitler : Körper (Anm. 1), S. 128.

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Musik, Literatur, Mode, aber auch Therapieformen und Praktiken der neuen Spiritualität nach Berlin, Frankfurt und Heidelberg.«12

Für den Religionswissenschaftler Peter Bräunlein begünstigen bestimmte Formationen von Populärkultur die religiöse Produktivität. »Asien« oder der »Ferne Osten« werden in solchen Populärkulturen als »spirituelle« oder »mystische« Gegenwelt konstruiert, die voller wertvollem (religiösem) Wissen sei, dass es zu entdecken gelte. Die Verweise auf asiatische (religiöse) Traditionen werden verbunden mit kosmologischen und anthropologischen Aussagen. Insbesondere die »persönliche Verbindung« des Menschen mit dem »Kosmos« durch Praktiken wie »Yoga«, »Tai Chi« und »Meditation«, wird in solchen Texten herausgestellt. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass seit den 1970er Jahren nicht mehr »nur« eine Konstruktion durch mediale Vermittlung erfolgte, sondern touristisches Reisen der sogenannten Baby Boomer-Generation (geboren zwischen etwa 1945 und 1965) nach Indien und Nepal zu einer verbreiteten kollektiven Praxis wurde, wie die Geschichte des sogenannten Hippie Trails zeigt.13 Entsprechende Zuschreibungen zu und Phantasmen über bestimmte Gebiete, Kulturen und Religionen Asiens sind als affirmativer Orientalismus zu charakterisieren. Südasien wird dabei – meist durch Nordamerikaner14 und Europäer – zu einem spirituell überlegenen »Osten« erklärt und in kulturkritischer Absicht dem vermeintlich materialistischen und amoralischen »Westen« gegenübergestellt. Die sogenannte »östliche Kultur« wird dabei zu einem utopischen Leitbild.15

Somatisierung von Religion und die (religiöse) Semantik vom »Selbst« Eitler nimmt das beschriebene kulturelle Phänomen aus der Perspektive der Körpergeschichte in den Blick. Er beobachtet in den New Age-Netzwerken der 1970er Jahre eine »zunehmende Somatisierung und Sakralisierung von Selbstverhältnissen«.16 Diese betrachtet er mit Foucault nicht nur als Arbeit am »Selbst« und »Bewusstsein« (als Psychologisierung der Selbstführung), sondern 12 Bräunlein: Jahre (Anm. 7), S. 217. 13 Eitler : Körper (Anm. 1), S. 128–131; ders.: Selbstheilung (Anm. 1), S. 164, 167. Zum Hippie Trail vgl. Sharif Gernie, Brian Ireland: The hippie trail. A history, Manchester 2017. 14 David Weir : American Orient. Imagining the East from the colonial era through the twentieth century, Amherst 2011. 15 Siehe hinführend: Felix Wiedenmann: Orientalismus, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 2012, verfügbar : https://docupedia.de/zg/Orientalismus, [18. 01. 2019]. Der Begriff affirmative orientalism geht auf den US-amerikanischen Ethnologen Richard G. Fox zurück; siehe z. B. Richard G. Fox: »East of Said«, in: Michael Sprinker (Hg.): Edward Said: a critical reader, Oxford 1992, S. 144–156. 16 Eitler : Selbstheilung (Anm. 1), S. 161.

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er versteht diese Selbsttechniken als spezifische Körpertechniken, wie er vor allem am Beispiel Yoga deutlich machen will. Objektsprachlich wurde dieser Zusammenhang unter dem Begriff »Psychosomatik« verhandelt.17 Die von Eitler untersuchten programmatischen Texte, die (Yoga-)Ratgeber und die Zeitschrift Esotera bemühten einen religiösen Jargon, der hauptsächlich mit Komposita aus dem Wort »Selbst-« arbeitet. So gibt es einen religiös gerahmten Auftrag zur »Selbsterkenntnis« und »Selbstverwirklichung«. Es geht um »Selbstbestimmung«, »Selbstentfaltung«, »Selbstentdeckung«, »Selbstumwandlung«, »Selbsterziehung« und »Selbstheilung«, um die »Entfremdung des Selbst« zu überwinden. Diese Arbeit am »Selbst« zur Transformation desselben wird an anderer Stelle von den Akteuren aber auch als »Durchbildung und Höherbildung des ganzen Menschen«18 bezeichnet.19 Damit verbunden waren anthropologische Narrative von der Verbesserungs- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen und seiner besonderen Verbindung zum »Kosmos« bzw. »Universum« sowie die Betonung von »Ganzheitlichkeit«.20 Solchen Vorstellungen lag der monistische Ansatz »Alles ist Eins« zu Grunde. Unterschieden wurde das »Selbst« in den entsprechenden Texten dabei vom »Ego« oder »Ich« des Menschen: »Nicht das ›begrenzte Ich‹ der ›Suchenden‹21 stand mithin im Fadenkreuz der Anstrengung. Gebetsmühlenhaft beschworen wurde vielmehr die ›Befreiung vom Ego‹ bzw. ›Ich‹ – der ›heiligen Kuh des Abendlandes‹. […] Dieses ›wahre‹, ›große‹, ›höhere Selbst‹ wurde dem ›Ich‹, dem ›kleinen Selbst‹, mitunter überaus schroff gegenüber gestellt. […] Das ›Ich‹ abzuschütteln und zum ›großen Selbst‹ vorzustoßen, war eine anstrengende und langwierige ›Arbeit‹, eine ›Arbeit am Selbst‹.«22

Yoga, Selbstheilung, Therapeutisierung Das Sprechen über und Praktizieren von Yoga in der New Age-Szene hat für Eitler paradigmatischen Charakter, weil sich daran besonders gut die Somatisierung 17 18 19 20 21

Ebd., S. 164–165, 170; Eitler : Osten (Anm. 8), S. 293. Eitler : Selbstheilung (Anm. 1), S. 166. Ausführlich ebd. Eitler : Körper (Anm. 1), S. 131. Dieser Begriff wird in der Forschung übernommen. Soziologisch einflussreich war die Studie des Religionswissenschaftlers Wade Clark Roof: A generation of seekers. The spiritual journeys of the baby boom generation, San Francisco 1993. Zum »Suchenden« als Habitusform im New Age siehe Steven Sutcliffe: Seekership revisited: explaining traffic in and out of new religions, in: Eugene Gallagher (Hg.): Visioning new and minority religions. Projecting the future, Farnham 2017, S. 33–46. Esoterisch Suchende innerhalb der beiden deutschen Großkirchen thematisieren: Winfried Gebhardt u. a.: Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts. Der »spirituelle Wanderer« als Idealtypus spätmoderner Religiosität, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft, 2005, Nr. 2, S. 133–151. 22 Eitler : Selbstheilung (Anm. 1), S. 167–168.

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von Selbstverhältnissen zeigen lasse. Zudem erhielt Yoga in der bundesdeutschen Öffentlichkeit seit den 1970er Jahren Aufmerksamkeit und gehört zu den Praktiken, die seit den 1980er Jahren in die Gesamtgesellschaft diffundierten und Massenwirksamkeit entfalteten. »In vielerlei Hinsicht avancierte Yoga geradezu zum Inbegriff esoterischer Praktiken und Diskurse in den 70er und 80er Jahren und wurde zum Symbol und Etikett einer betont ›ganzheitlich‹ verfolgten ›Selbstheilung‹ […].«23 Eitler zufolge wurde Yoga auf diese Weise »zu einem regelrechten System beziehungsweise Dispositiv der Subjektivierung – häufig mit Rückwirkungen auf die Ernährung und die Wohnungseinrichtung oder die Bekleidung«.24 Yoga war also verbunden mit holistischen Gesundheitsdiskursen und wurde als Instrument (»Weg«) und Therapie gepriesen. Das Bedeutungsspektrum von »Yoga« bezog sich auf diverse körperliche Praktiken: Meditation, körperliche Reinigung, Atemübungen und Übungen mit Körperbewegungen. Die dabei erlangte »Körperkontrolle« führe dann auch zum »Geistestraining«.25 Vermittelt werden in den von Eitler untersuchten Texten ein differenziertes Wissen zu Bewegungs- und Atemtechniken sowie konkrete Anweisungen zu Körperhaltungen. Als Ziel wird die Herstellung einer ursprünglichen »kosmischen Harmonie« angegeben, die durch die Arbeit mit »Schwingungen«, »Energiefeldern« und »Strahlen« erfolge.26 Was die konkreten Motive oder Selbstthematisierungen der damaligen Leser dieser Zeitschriften und Yoga-Handbücher oder gar der Yogapraktizierenden betrifft, lassen diese sich aus dem Material nicht rekonstruieren, aber die erwünschte Rahmung wird in den als autoritativ anzusehenden Texten klar angesprochen.27

23 Ebd., S. 163. Für die Gegenwart siehe die religionssoziologische Studie von Markus Hero: Zur Psychologisierung und Therapeutisierung von Religion, in: Roland Anhorn (Hg.): Handbuch Therapeutisierung und Soziale Arbeit, Wiesbaden 2016, S. 605–619. 24 Eitler : Osten (Anm. 1), S. 296. 25 Eitler : Selbstheilung (Anm. 1), S. 172–173. 26 Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft: Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 810. 27 Zu in der Öffentlichkeit ausgeübten Yoga-Praktiken, zu den Typen der Institutionalisierung und zur Ausdifferenzierung der Yoga-Arten etc. gibt es für die Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre nach wie vor wenig Forschung. Immer noch instruktiv in dieser Hinsicht, mit Datenmaterial für die zweite Hälfte der 1980er Jahre, ist die Untersuchung von Christian Fuchs: Yoga in Deutschland. Rezeption, Organisation und Typologie, Köln 1990.

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Theosophie um 1900 Was ist die Theosophische Gesellschaft? Die Theosophische Gesellschaft (TG) wurde 1875 gegründet. Ihre Gründung ging von der Deutschrussin Helena Petrovna Blavatsky (1831–1893) und dem US-amerikanischen Anwalt und Journalisten Henry Steel Olcott (1832–1907) aus. Die TG konstituierte sich im personellen Umfeld der New Yorker spiritistischen Szene.28 Wegen Betrugsvorwürfen in Misskredit geraten, verkündeten Blavatsky und Olcott die Überwindung des Spiritismus. Statt spektakulärer Vorführungen übersinnlich begabter Medien warben sie für den »Okkultismus«, den sie zum einen als Glauben an eine verborgene Seite der Natur und zum anderen als Glauben an eine alte, sich in den vielfältigen religiösen Traditionen zeigende »Weisheit« entwarfen. Diese Weisheit könne ein Anhänger durch das Studium religiöser und philosophischer Texte erlangen (daher auch der Begriff »Lesereligion«29 für die Theosophie). Das Verhältnis zu den Spiritisten blieb vor dem Hintergrund inhaltlicher, aber auch personeller Überlappungen in den Folgejahrzehnten weiterhin gespannt. Im Jahr 1878 siedelten Blavatsky und Olcott nach Indien über und wählten als neues »Hauptquartier« der Gesellschaft Adyar (das heutige Chennai). Dort erlangten sie unter gebildeten Indern und Briten bald einen wachsenden Einfluss und etablierten sich durch die Gründung von Landesverbänden und Logen als global player. Auch in Deutschland entstanden drei große Verbände, die aus internen Spaltungen hervorgegangen waren. Zumeist organisiert in Vereinen wurden den theosophischen Mitgliedern drei Ziele gesetzt: 1. das Studium »okkulter Wissenschaft« (u. a. der Versuch der Erlangung »okkulter Kräfte«), 2. die Gründung einer »Universalen Bruderschaft«, und 3. die Wiedererweckung »östlicher« Literatur und Philosophie. Jeder Verein, der etwas auf sich hielt, gründete eine Bibliothek, und Theosophen beteiligten sich an vielen Übersetzungsprojekten buddhistischer und hinduistischer Texte. 28 Unter Spiritismus ist hier das Set an Ideen, Praktiken und Institutionen subsummiert, welches seit den 1840er Jahren ausgehend von den USA und sich von dort aus weltweit verbreitend mit der Kommunikation mit Geistern aus dem Jenseits beschäftigte. Für die USA siehe Cathy Gutierrez: Plato’s Ghost: Spiritualism in the American Renaissance, Oxford 2009; David K. Nartonis: The Rise of 19th-Century American Spiritualism, 1854–1873, in: Journal for the Scientific Study of Religion, 2010, Nr. 2, S. 361–373. Die für den deutschsprachigen Raum zentrale Monografie stammt von Diethard Sawicki: Leben mit den Toten: Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900, Zürich 2002. 29 Helmut Zander : Theosophische Zeitschriften in Deutschland bis 1945, in: Judith Baumgartner, Bernd Wedemeyer-Kolwe (Hg.): Aufbrüche – Seitenpfade– Abwege. Suchbewegungen und Subkulturen im 20. Jahrhundert. Festschrift für Ulrich Linse, Würzburg 2004, S. 99–120.

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Im Kontext des Wirkens der Gesellschaft in Indien verschob sich die weltanschauliche Schwerpunktsetzung zunehmend hin zum dritten in der Satzung genannten Ziel. Blavatsky und Olcott konvertierten zum Buddhismus und hatten einen regen – nicht immer konfliktfreien – Austausch mit reformhinduistischen Gruppierungen. Religionswissenschaftlich interessant ist das Motto der Gesellschaft: »Keine Religion ist höher als die Wahrheit«. Hier zeigte sich eine Religionskonzeption, die sich am Narrativ der philosophia perennis (bzw. prisca theologia) orientierte, das besagt, dass letztlich jede Beschäftigung mit und Hingabe an eine religiöse Tradition zur Wahrheit führe, denn in jeder liege die eine zeitlose Kernweisheit.30 Diese Entwicklung schlug sich nieder in Blavatskys programmatischem Hauptwerk The Secret Doctrine.31 Darin griff sie hinduistisches und buddhistisches Gedankengut auf, benutzte entsprechende religiöse Begrifflichkeiten, integrierte z. B. eine Reinkarnations- und Karmalehre und thematisierte auch Yoga.32 »Yoga« war zu dieser Zeit in Europa in gebildeten Kreisen bereits kein unbekannter Begriff mehr, aber durch die publizistische Arbeit der Theosophischen Gesellschaft erfuhr es als Konzept und Praxis eine enorme Popularisierung.33 Bevor ich näher auf Yoga eingehe, soll jedoch zunächst das Menschen- und Weltbild der Theosophen um 1900 erläutert werden.

Theosophische Anthropologie, Kosmologie und religiöse Semantik Die Kosmologie und die Anthropologie der Theosophen gehen auf Blavatskys Hauptwerk The Secret Doctrine zurück und wurden von Theosophen der zweiten Generation, insbesondere den Briten Annie Besant (1847–1933)34 und Charles Webster Leadbeater (1847–1934)35 weiterentwickelt. Ihr monistischer Ansatz postulierte die fundamentale Einheit alles Existierenden. Deshalb sei auch eine einheitliche wissenschaftliche Erklärung sinnlicher und übersinnlicher Phänomene möglich.36 Ebenso zentral war die Annahme, dass sich materielle und 30 Olav Hammer : Claiming Knowledge: Strategies of Epistemology from Theosophy to the New Age, Leiden u. a. 2001, S. 175; Wouter Hanegraaff: Esotericism and the academy. Rejected knowledge in western culture, Cambridge 2012, S. 6–12. 31 Helena Petrovna Blavatsky : The secret Doctrine. The Synthesis of Science, Religion and Philosophy, 2 Bde, London 1888. 32 Alles nachzulesen in Zander: Anthroposophie, Bd. 1. (Anm. 5). 33 Karl Baier: Meditation und Moderne, Bd. 1, Würzburg 2009, S. 306. 34 Annie Besant: Man and his Bodies, London 1896. 35 Charles Webster Leadbeater : Man visible and invisible. Examples of different types of men as seen by means of trained clairvoyance, London 1902. 36 Karl Baier : Yoga within Viennese Occultism: Carl Kellner and Co., in: ders. u. a. (Hg.): Yoga in transformation: historical and contemporary perspectives, Göttingen 2018, S. 387–438, hier S. 408.

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spirituelle Natur stetig höher entwickelten. Damit verknüpft sind die von Blavatsky eingeführten Reinkarnationsvorstellungen.37 Theosophen gehen von der Existenz eines alldurchdringenden Fluidums bzw. Äthers aus, genannt »Astrallicht«, das zugleich als religiöses und naturwissenschaftliches Prinzip wirke.38 Dieses liege der Einheit und Lebendigkeit des Kosmos zugrunde. Als Referenztheorie fungierte hier der Mesmerismus. Diesem zufolge habe der Mensch Anteil am kosmischen Fluidum und bestehe zum Teil sogar aus ihm (»Ätherleib«). Man könne seinen Körper mit diesem Fluidum aufladen, es speichern oder konzentrieren bzw. sein Strömen in verschiedene Richtungen dirigieren. Auf dem Wirken dieses Fluidums beruhten psychische Zustände wie Kontemplation, Trance und Ekstase oder die von den Anhängern begehrten »okkulten« Fähigkeiten wie Gedankenlesen oder Weissagung.39 Der Mensch als Mikrokosmos wird als Abbild des Makrokosmos interpretiert. Er habe sieben Körperhüllen; eine obere Dreiheit, die unvergänglich, und eine niedere Vierheit, die vergänglich sei. Diese niedere Vierheit von Körpern wird als Träger der irdischen Persönlichkeit des Menschen aufgefasst. Die oberen Drei gelten als unvergänglich. Deshalb solle ein Theosoph daran »arbeiten«, dass möglichst viele seiner irdischen Erfahrungen in den unsterblichen Teil der Prinzipien des Daseins eingehen. Diese Körperhüllen würden, so die Annahme, nach außen hin immer feinstofflicher.40 Vor dem Hintergrund des postulierten kosmologischen Gesetzes der stetigen Höherentwicklung wurde in den weltanschaulichen Texten ein religiöser Jargon in Bezug auf Subjektivierung und zugleich Somatisierung gepflegt, der dem der New Age-Szene, wie sie Eitler beschreibt, sehr ähnlich ist. Eingewoben in kosmologische, anthropologische und lebenspraktische Texte waren die stetige Aufforderung zur »Höherentwicklung des Selbst«, zur »Weiterentwicklung«

37 Olav Hammer : Theosophical Elements in New Age Religion, in: ders., Mikael Rothstein (Hg.): Handbook of the Theosophical Current, Leiden 2013, S. 237–260, hier S. 247–248; Helmut Zander: Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative religiöse Traditionen von der Antike bis heute, Darmstadt 1999. 38 Spätere theosophische Autoren differenzieren zwischen Materie (akasha) und Kraft (prana), wie überhaupt das ursprünglich feinstofflich gedachte Agens (der »Magnetismus«) in Energie- oder Kraftmodelle transformiert wird; Baier : Yoga (Anm. 36), S. 407. 39 Baier : Meditation (Anm. 33), S. 279. 40 Jörg Wichmann: Das theosophische Menschenbild und seine indische Wurzel, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 1983, Nr. 1, S. 12–33; James Santucci: Theosophical Society, in: Wouter Hanegraaf (Hg.): Dictionary of Gnosis & Western Esotericism, 2 Bde., Leiden 2005, S. 1114–1123; Baier : Meditation (Anm. 33), S. 279; John Crow: Taming the Astral Body : The Theosophical Society’s Ongoing Problem of Emotion and Control, in: Journal of the American Academy of Religion, 2012, Nr. 3, S. 691–717.

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sowie zu »Selbstbeherrschung« und »Selbsterkenntnis«.41 Als typisches Beispiel kann folgendes Zitat des Astrologen Friedrich Wehofer dienen, das eine theosophische Begründung für die Aufforderung zur vegetarischen Ernährung liefert: »Der Idealkörper wäre ein absolut gehorsamer Diener eines fortgeschrittenen Geistes. Die vollkommene Gesundheit müßte er besitzen, damit das sich manifestierende und seine Zwecke erfüllende Bewußtsein kein Hindernis, keinen Widerstand erfährt und keine Energieverluste erleidet durch Trägheit […] oder Leidenschaften seines physischen Vehikels. Die reine Diät ist eine der wichtigsten Vorbedingungen zum Fortschritt der Selbsterkenntnis, die ›Selbstbeherrschung‹ aber ist vor allem bedingt durch die Beherrschung unseres Leibes, und nur auf diesem Wege gelangen wir zur Unterscheidung unseres niedrigen, persönlichen Ichs, von dem fortgeschrittenen geistigen, dem höheren Ich in uns.«42

Der Wert des physischen Leibes wird in diesem Zusammenhang bestimmt durch seine Nützlichkeit für das geistige Wesen des Menschen, das Verhältnis von Geist und Körper wird also als instrumentelles Verhältnis beschrieben. Selbstbeherrschung ist damit für Theosophen zugleich Meisterung des Geistes und Körperbeherrschung. Der Körper bzw. die Körperhüllen der Menschen werden in dieser Anthropologie als mit allen anderen Körpern in der Welt verbunden gedacht. Der Mensch sei umgeben von »Schwingungen« oder »kosmischer Energie«, die permanent durch ihn ströme und auch auf die Mitmenschen ausstrahle. Zu achten sei deshalb auf die physische wie psychische Reinheit des Körpers. Im Endeffekt implizieren solche Vorstellungen vom Körper eine Moralisierung jeglicher sozialen Beziehung bei Betonung der Selbstverantwortung des Einzelnen. Angesichts der als permeabel und ungeschützt vorgestellten Körperhüllen wurden zudem Kontaminationsängste artikuliert, die auf den Nexus zwischen Lebensweise und esoterischem Körperbild verweisen. Ziel aller theosophischen Ethik und Selbstdisziplin war die sukzessive »Veredelung« des »ganzen« Menschen. Versprochen wurde eine moralische, kognitive und physische Transformation.43 41 Siehe Kapitel 4 in Bernadett Bigalke: Lebensreform und Esoterik um 1900. Die Leipziger alternativ-religiöse Szene am Beispiel der Internationalen Theosophischen Verbrüderung, Würzburg 2016. 42 Wehofer publizierte unter dem Pseudonym Friedrich Feerhow: Diät und seelische Entwicklung – Fleischkost oder Pflanzenkost. Eine Studie über die körperliche und geistige Bedeutung des Vegetarismus, Berlin-Charlottenburg 1914, S. 55 (Hervorhebung im Original). Zum vegetarischen Diskurs der Theosophen im Deutschen Kaiserreich siehe Bigalke: Lebensreform (Anm. 41), Kap. 4.1.2. 43 Baier : Meditation (Anm. 33), S. 343; Wichmann: Menschenbild (Anm. 40); Joy Dixon: Divine Feminine. Theosophy and Feminism in England, Baltimore 2001; Santucci: Society (Anm. 40); Crow: Body (Anm. 40). Zu einem weiteren theosophischen Subdiskurs und damit

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Um die Ähnlichkeit zum Yoga-Diskurs in der New Age-Szene aufzuzeigen, soll die Aufforderung zur praktischen Umsetzung der »Höherentwicklung« nun am Beispiel der Konzeption und ersten Praxen von »Yoga« und »Meditation« in der TG im deutschsprachigen Raum um 1900 verdeutlicht werden. Hierbei ist auf die grundlegende Studie Meditation und Moderne des Religionswissenschaftlers Karl Baier zu verweisen.44

Yoga und Meditation in der Theosophie Die Rezeption und Praxis von »Yoga« in theosophischen Kreisen umfasste zwischen 1880 und 1920 das ganze Spektrum von eher meditativen Praktiken bis hin zu Körperstellungen und Atemübungen. Dem vorangegangen war ein komplexer, wechselseitiger und verflochtener Rezeptionsprozess zwischen Europa, Indien und den USA, bei denen die heute geläufigen objektsprachlichen Kategorien wie »Hatha Yoga« erst entstanden.45 Seit den 1880er Jahren widmeten sich verschiedene theosophische Texte der Theorie und Praxis des Yoga.46 Begleitet wurde dies durch Rezeptions- und Konstruktionsprozesse, in denen (neo-)hinduistische Yoga-Texte übersetzt und mit westlichen therapeutischen, anthropologischen und philosophischen Entwürfen gerahmt wurden. Dazu gehörte z. B. die Verbindung von Sanskrit-Begriffen mit Konzepten aus dem Mesmerismus und der westlichen Naturwissenschaft. Mit Blick auf die unterschiedlichen Geschichten der jeweiligen theosophischen Landesgesellschaften ist diese Entwicklung zu spezifizieren. Das publizistische Eintreten der Theosophen für »Yoga« rief jedenfalls großes internationales Interesse hervor.47 Yoga in seiner meditativeren Form wurde dabei häufig christlich-westlich gerahmt, z. B. in Gebetsform, als ein »rationales SichÜberschreiten des Verstandes« im Sinne einer intellektuellen und tugendethischen Praxis.48

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verbundenen Praktiken (Körperarbeit), der sogenannten »Ätherisierung«, die seit den 1880er Jahren in der englischsprachigen Theosophie auftauchte und die sukzessive Loslösung des Menschen von seinem grobstofflichen Körper hin zum Astralkörper postulierte. Siehe ebenfalls Baier: Moderne (Anm. 33), S. 343–345, 374. Baier : Meditation (Anm. 33). Elizabeth De Michelis: A History of Modern Yoga: PataÇjali and Western Esotericism, London 2005; Mark Singleton: Yoga Body. The Origins of Modern Posture Practice, New York 2010; Thomas Dworschak: Die Geschichte des modernen Yoga. Motive der Konstruktion einer Tradition, in: Sport und Gesellschaft, 2017, Nr. 3, S. 195–219. Zur vor-theosophischen Yoga-Rezeption siehe Baier : Meditation (Anm. 33). Ebd., S. 306. Ebd., S. 374.

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Um 1890 bekamen die Theosophen mit der religiösen Bewegung des New Thought in den USA Konkurrenz, die sich ebenfalls international ausbreitete und massenwirksam mit Praktiken der säkularen Körperkultur arbeitete. »Die Verbindung von gesundheitsorientierter, autonomer Lebensführung und einem unorthodoxen Christentum, das für Einflüsse aus östlichen Religionen offen war, bot eine für viele Menschen attraktive Alternative gegenüber den okkultistischen und spiritistischen Organisationen und erwies sich als wichtige Quelle diverser Strömungen, von der alternativreligiösen und New-Age Szene des 20. Jahrhunderts und dem modernen Yoga bis hin zur Wellnessbewegung am Beginn des 21. Jahrhunderts.«49

Im New Thought, das auch als erste westliche Massenbewegung für Meditation gelten kann, ging es sowohl um therapeutische Angebote als auch um einen modernen, urbanen Lebensstil, um Selbstverwirklichung und spirituelle Entwicklung sowie um materiellen Erfolg. Baier schreibt diesem kulturellen Phänomen eine ähnliche Funktion wie der Lebensreformbewegung für den deutschsprachigen Raum zu.50 Denn New Thought entwickelte nicht nur Meditationsformen, sondern bot explizit körperliche Praxisorientierung an.51 Elemente aus dem New Thought wurden dann wiederum von theosophischen Autoren der zweiten und dritten Generation rezipiert. Im Hinblick auf Yoga und Meditation bezeichnet Baier diesen Prozess als »Durchstrukturierung« und »Verchristlichung« theosophischer Meditationspraxis. Für unsere Problematik interessant ist, dass meditative Praxis in den autoritativen theosophischen Texten nun zunehmend als maßgeblich für spirituellen Fortschritt bewertet wurde – und weniger tugendethisches Handeln. Den amerikanischen Diskurs zeitweilig reproduzierend wurden im deutschsprachigen Raum um 1900 intensivere Atemübungen für den »normalen« Theosophen zunächst als »zu gefährlich« abgelehnt, z. B. in den Vereinsperiodika. Heftige interne Debatten wurden geführt um Funktion und Nutzen des »Hatha Yoga«, das als Praxis mit Körperbewegungen interpretiert wurde. Diente es überhaupt der Höherentwicklung? Ab wann war ein Schüler in der Lage, solche Übungen gewinnbringend durchzuführen? Wann hatte der Einzelne genügend Körperkontrolle dafür?52 »At the end of the nineteenth century the four hegemonic schools concerning the interpretation of yoga, namely Theosophy, Neo-hinduism, academic orientalism, and psychology, were still clinging to a predominantly negative image of Hatha Yoga, whereas already in the early years of Theosophy, certain elements of it were evaluated positively and popularised.«53 49 Ebd., S. 435. 50 Ebd., S. 431; Mark Singleton: Suggestive Therapeutics. New Thought’s Relationship to Modern Yoga, in: Asian Medicine, 2007, Nr. 1, S. 64–84. 51 Baier : Meditation (Anm. 33), S. 376–378. 52 Siehe ausführlich Bigalke: Lebensreform (Anm. 41), Kap. 4.1.8. 53 Baier : Yoga (Anm. 36), S. 414.

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1912 erschien dann in Leipzig ein Meditationsbuch des Theosophen Hermann Rudolph (1865–1946), welches sich in seinem religiösen Jargon der Yoga-Klassifikation des neo-hinduistischen Reformers Swami Vivekananda (1863–1902) bediente.54 Vivekananda sprach von »Raja«, »Jnana«, »Bhakti« und »Karma Yoga«. Rudolphs Text ist laut Baier dem Typus des Bhakti-Yoga zuzuordnen.55 Zugleich wurde über den mesmeristisch geprägten Vivekananda die aus dem 19. Jahrhundert stammende Annahme »eines gemeinsamen energetischen Grundprinzips zur Interpretation der Erfahrungen […] in der Heil- und Meditationspraxis zum Allgemeingut der Alternativszene«.56 Auch in Rudolphs Text wurde die im kollektiven, aber auch privaten Rahmen ausgeübte Meditation als Praxis einer moralischen Entwicklung gerahmt. Eingebunden in den Ablauf von Rudolphs Anleitungen war nun jedoch tiefes rhythmisches Atmen und das Singen der Vokale des Alphabets.57 Rudolph übernahm und verbreitete damit – vermittelt über die New Thought-Rezeption – den Gedanken der therapeutischen Nutzung der Atmung. So wurden Atemübungen, die von seinem Vorgänger Franz Hartmann für ungeschulte Anhänger noch abgelehnt worden waren, durch den Einfluss der Körperkulturbewegung auf das alternativreligiöse Milieu immer beliebter.58 Lenken wir unsere Aufmerksamkeit von der Institutionengeschichte hin zur individuellen Yoga-Praxis einzelner Akteure, geraten Quellengattungen wie Biografien und Autobiografien in den Blick. Wahrscheinlich einer der Ersten, die im deutschsprachigen Raum körperlich orientiertes Yoga (Atemübungen und Körperstellungen) praktizierten, war der österreichische Industrielle, Erfinder, Okkultist und Rosenkreuzer Carl Kellner (1850–1905). Er rezipierte Yoga-Literatur diverser Art und verfasste selbst ein entsprechendes Traktat. Aber er zählte 54 Hermann Rudolph: Meditationen: Ein theosophisches Andachtsbuch nebst Anleitung zur Meditation, Leipzig 1912. 55 Bei der Erklärung seiner Klassifikation für das US-Publikum arbeitete Vivekananda mit westlichen Entsprechungen: »Raja Yoga« betone den »mystischen« Aspekt, »Jnana Yoga« die »Intellektualität«, »Bhakti Yoga« die »Hingabe« und Karma Yoga die »Praxis«. Siehe dazu ausführlich Dermot Killingley : Manufacturing Yogis. Swami Vivekananda as a Yoga Teacher, in: Mark Singleton, Ellen Goldberg, (Hg.): Gurus of modern yoga, Oxford 2014, S. 17–37, S. 28f. Vivekananda reformulierte vor seinem eigenen religiösen Hintergrund (Neo-Vedanta) indische Yoga-Lehren, die sich im Milieu des New Thought durch seine Vortragsreisen und Publikationen verbreiteten. Er lehrte Atemübungen und Meditationspraxis und formulierte eine »Theologie der Spiritualität« mit universalreligiösem Anspruch. »Er passt den Yoga in den neu entstehenden Bereich ein, in dem Gesundheitsbildung, Körperkultur und alternative Heilmethoden mit religiösem und psychologischem Hintergrund, Meditation und Gebet miteinander verbunden werden, und trägt damit zugleich wesentlich zu seiner Modernisierung bei«; Baier : Meditation (Anm. 33), S. 467, 478. 56 Baier : Meditation (Anm. 33), S. 480. 57 Ebd., S. 396–399, 408, 413. 58 Ebd., S. 413.

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auch zu denjenigen, die ganz praktisch und face to face von mobilen und westlich gebildeten indisch-stämmigen Lehrern gelernt hatten. Kellner setzte sich dezidiert für das Praktizieren von »Hatha Yoga« ein, was zu jener Zeit – wie gesagt – noch ein Novum war.59 Ein weiterer Akteur, der körperliche Praktiken in seine alltägliche Lebensführung einführte, diese als »Yoga« rahmte und ihnen therapeutische Funktionen zuschrieb, war der österreichische Schriftsteller, Theosoph, Freimaurer und Buddhist Gustav Meyer (alias Gustav Meyrink, 1868– 1932).60 Er experimentierte mit Atemübungen und Sitzstellungen. Seine YogaLektüren unternahm er in englischer Sprache.61 Ein reger Briefkontakt Meyers bestand zu Vivekananda, bei dem es u. a. um das »richtige« Praktizieren ging.62 Im folgenden Abschnitt werden die bis hierhin skizzierten Aspekte noch einmal vergleichend zusammengeführt, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten und diese in ihrem historischen Kontext zu verorten.

Der Vergleich Sowohl in den 1970er und 1980er Jahren als auch um 1900 haben wir es in den oben beschriebenen Gruppen und Milieus mit einem ähnlichen affirmativen Orientalismus-Diskurs zu tun. In der Fachliteratur kursieren hierzu weitere Begriffe wie okkulter,63 spiritueller,64 esoterischer65 oder sogar theosophischer

59 Baier : Yoga (Anm. 36), S. 414. 60 Ich verdanke diese Information Judith Bodendörfer : Vortragstitel: »War Kant imstande, sich auch nur Zahnschmerzen zu vertreiben? – Zum Verhältnis von Körper und Geist im theosophischen Denken«, gehalten auf der Tagung: Körper und Rationalität – Perspektiven aus der Körpergeschichte und aktuelle Debatten der Ethik vom 16.–17. 11. 2019 in Fribourg. 61 Swami Swatmara: The Hatha Yoga Pradipika: Published with the Original text and its commentary. Translated by Shrinivas Iyangar, B.A. Mandayam, 1893. Deutsche Übersetzung: Richard Schmid: Fakire und Fakirtum im alten und modernen Indien. Yoga-Lehre und Yoga Praxis nach den indischen Originalquellen, Berlin 1908; The Yoga Sutra of Patanjali, Bombay 1891 bezog er über die Theosophical Publication Society in London. Ebenso las er William Judge: The Yoga Aphorisms of Patanjali. An interpretation, New York 1889. 62 Hartmut Binder : Gustav Meyrink. Ein Leben im Bann der Magie, Prag 2009, S. 164, 168–189, 636–637. 63 Mark Bevir : The West turns Eastward. Madame Blavatsky and the Transformation of the Occult Tradition, in: Journal of the American Academy of Religion, 1994, Nr. 3, S. 747–767; Christopher Partridge: Orientalism and the Occult, in: ders. (Hg.): The occult world, Abingdon 2015, S. 611–625. 64 Harvey Gallagher Cox: Turning East. The promise and peril of the new orientalism, New York 1977. 65 Michael Altman: Orientalism in Nineteenth-Century America, in: Kathryn Gin Lum (Hg.): The Oxford Handbook of Religion and Race in American History, New York 2018, S. 123–140.

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Orientalismus.66 Im Wesentlichen beinhalten diese Charakterisierungen einen affirmierenden Verweis auf den »Orient« (insbesondere auf die Länder Ägypten, Indien,67 Japan, Nepal, Tibet68 und China69) durch Personen, die in esoterischen Netzwerken und Wissenskontexten involviert waren. Diese Länder wurden zum signifikanten »Anderen« einer esoterischen Historiographie.70 »Egypt is the land of initiation, of great mysteries; India is the source of concepts such as reincarnation, karma and the subtle bodies; Tibet plays the role of the homeland of sages and the repository of ancient scriptures. […] Esoterically, they are all stations in the transmission of an ageless wisdom, a philosophia perennis that has been accessible to the initiates of all times and places.«71

Für ein derartiges, weit popularisiertes Indien- und Tibetbild waren und sind neben persönlichen Reisen immer auch Medien (Romane, populärwissenschaftliche Reiseliteratur, Reisevorträge und Filme) sowie die massenwirksam inszenierten Begegnungen mit sogenannten Gurus aus Asien verantwortlich.72 66 Nicholas Goodrick-Clarke: The Theosophical Society, Orientalism, and the »Mystic East«. Western Esotericism and Eastern Religion in Theosophy, in: Theosophical History, 2007, Nr. 3, S. 3–28; Christopher Partridge: Lost Horizon. H. P. Blavatsky and Theosophical Orientalism, in: Olav Hammer, Mikael Rothstein (Hg.): Handbook of the Theosophical Current, Leiden 2013, S. 309–334; Karl Baier : Theosophical Orientalism and the Structures of Intercultural Transfer. Annotations on the Appropriation of the Cakras in Early Theosophy, in: Julie Chajes (Hg.): Theosophical appropriations. Esotericism, Kabbalah, and the transformation of traditions, Beer-Sheva 2016, S. 309–354. 67 Richard King: Orientalism and religion. Postcolonial theory, India and »the mystic East«, London 1999; Christine Maillard: Ex oriente lux. Zur Funktion Indiens in der Konstruktion der abendländischen esoterischen Tradition im 19. und 20. Jahrhundert, in: Andreas Kilcher (Hg.): Constructing Tradition. Means and Myths of Transmission in Western Esotericism, Leiden 2010, S. 395–412; Douglas McGetchin: Indology, Indomania, and orientalism. Ancient India’s rebirth in modern Germany, Madison 2009. 68 Peter Bishop: Dreams of power. Tibetan Buddhism and the Western imagination, London 1993; Frank Korom: Tibet und die New Age-Bewegung, in: Thierry Dodin (Hg.): Mythos Tibet. Wahrnehmungen, Projektionen, Phantasien, Köln 1997, S. 178–192; Martin Brauen: Traumwelt Tibet. Westliche Trugbilder, Bern 2000. 69 Karl-Heinz Pohl: Spielzeug des Zeitgeistes – Kritische Bestandsaufnahme der DaoismusRezeption im Westen, in: Josef Thesing (Hg.): Dao in China und im Westen. Impulse für die moderne Gesellschaft aus der chinesischen Philosophie, Bonn 1999, S. 24–46; Oliver Grasmück: Geschichte und Aktualität der Daoismusrezeption im deutschsprachigen Raum, Münster 2004. 70 Hammer : Knowledge (Anm. 30), S. 98–134. 71 Ebd., S. 170. 72 Zu entsprechenden Hollywood-Filmen und dem Einfluss von Daisezu Suzuki und Maharishi Mahesh Yogi siehe Jane Naomi Iwamura: Virtual orientalism. Asian religions and American popular culture, Oxford 2011. Zu Jiddu Krishnamurti siehe Arthur Versluis: American gurus. From American transcendentalism to new age religion, New York 2014, Kap. 7. Sowohl bei Suzuki als auch bei Krishnamurti bestehen persönliche Verbindungen zur Theosophischen Gesellschaft Adyar. Suzukis Schüler wiederum war Alan Watts, ein gern gelesener Autor in der New Age-Szene.

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Solche Begegnungen von Europäern und Nordamerikanern mit hochmobilen religiösen »Experten« aus Asien haben eine Geschichte, die mindestens bis zum »Weltparlament der Religionen« im Jahr 1893 im Kontext der World’s Columbian Exposition in Chicago zurückgeht.73 Die Rezeption von Wissen und Praktiken aus Hinduismus, Buddhismus und auch Daoismus folgte der Deutung der philosophia perennis. Die religiösen Quellen wurden als »mystische«, »spirituelle« und »zeitlose Wahrheiten« repräsentiert. Verstecktes, authentisches Wissen sollte über die Lektüre der Texte freigelegt und auf dieser Basis ein einfaches, spirituelles Leben in »Selbst-Realisierung« geführt werden.74 Diese Argumentationsweisen sind bis heute genuiner Teil des Yoga-Diskurses.75 Aus religionswissenschaftlicher Sicht handelt es sich dabei um Stereotypisierungen und Essenzialisierungen wie in anderen orientalisierenden Diskursen auch, jedoch hier mit einem positiven Bezug. Im Vergleich zu der Zeit um 1900 veränderten und multiplizierten sich die inhaltlichen Bezugnahmen und Narrative: So wurde die Imagination von und Repräsentation des tibetischen Buddhismus nach der Besetzung durch China in den 1950er Jahren stärker personalisiert, etwa durch die massive Medialisierung des 14. Dalai Lama im bundesrepublikanischen Diskurs. Eine explizite Bezugnahme auf die theosophischen »Mahatmas« in den Bergen Tibets wie um 1900 fand zu dieser Zeit nur noch in theosophischen Kreisen statt.76 »Zu Beginn des Zeitalters der Düsenflugzeuge, der Satelliten, der globalen Telekommunikation und des weltweiten Tourismus war Tibet weitgehend entmystifiziert. […] Die Einheitlichkeit der westlichen Tibetfantasien war verlorengegangen […].«77 Einen weiteren Unterschied stellte die verstärkte Bezugnahme auf Japan durch die Popularisierung einer spezifischen Konzeption des Zen-Buddhismus seit den 1940er Jahren dar. Prägend waren hier zunächst die Person und die Schriften des japanischen buddhistischen Intellektuellen »Daisetz« Teitaro Suzuki (1870–1966). Diese Spielart des Buddhismus wurde als mit der Moderne und der westlichen Wissenschaft kompatibel propagiert. Suzuki setzte auf die

73 Dorothea Lüddeckens: Das Weltparlament der Religionen von 1893. Strukturen interreligiöser Begegnungen im 19. Jahrhundert, Berlin 2002. 74 Partridge: Horizon (Anm. 66), S. 314. 75 Laura Christine Graham: Ancient, Spiritual, and Indian. Exploring Narratives of Authenticity in Modern Yoga, in: Russell Cobb (Hg.): The Paradox of Authenticity in a Globalized World, Wiesbaden 2014, S. 85–100. 76 Nicholas Goodrick-Clarke: The Coming of the Masters. The Evolutionary Reformulation of Spiritual Intermediaries in Modern Theosophy, in: Andreas Kilcher (Hg.): Constructing Tradition. Means and Myths of Transmission in Western Esotericism, Leiden u. a. 2010, S. 113–160. 77 Peter Bishop: Nicht nur Shangri-La: Tibetbilder in der westlichen Literatur, in: Dodin: Mythos (Anm. 68), S. 208–225, hier S. 220.

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individuelle Erfahrung des Einzelnen und inkludierte westliche humanistische Ideale.78 Neben der Rezeption Suzukis war es der britisch-amerikanische Schriftsteller Alan Watts (1915–1973), ein Anhänger Suzukis, der mit seinem The Way of Zen79 das Bild des Zen-Buddhismus in populären Kreisen im Westen maßgeblich beeinflusste. »The Way of Zen […] helped define ›Zen‹ as an atemporal religious orientation toward the immanent world around us. One result of this radical decontextualization was that ›Zen‹ was no longer tied to a particular time, place, or even practice and instead came to be used as a label for everything from literature to modern art to poetry, music, or dancing.«80

Watts selbst experimentierte seit den 1930er Jahren mit Meditationspraktiken und war während seiner ersten Lebensphase in Großbritannien Mitglied der London Buddhist Lodge gewesen.81 In literarischer Hinsicht wurden in den 1970er Jahren Hermann Hesses (1877–1922) orientalisierende Werke Siddharta von 1922 und Die Morgenlandfahrt von 1932 wiederentdeckt und zu ikonischen Schriften erklärt – auf beiden Seiten des Atlantiks.82 Ein dritter Punkt, der als wichtiger Unterschied zu der Zeit um 1900 zu nennen ist, weil er einen neuen geografischen Fokus spiritueller Imagination setzte, ist die zunehmende Rezeption und Romantisierung der Religiosität der nord- und südamerikanischen Indigenen (Native Americans oder First Nations). Publizistisch waren der amerikanische Ethnologe Carlos CastaÇeda (1925–1998) mit seinem Werk The Teachings of Don Juan83 sowie die amerikanischen Autoren 78 Robert Sharf: The Uses and Abuses of Zen in the Twentieth Century, in: Inken Prohl, Hartmut Zinser (Hg.): Zen, Reiki, Karate. Japanische Religiosität in Europa, Hamburg 2002, S. 143– 154; Jorn Borup: Zen and the Art of Inverting Orientalism. Buddhism, Religious Studies and Interrelated Networks, in: Peter Antes u. a. (Hg.): New Approaches to the study of Religion. Regional, Critical and Historical Approaches, Berlin 2004, S. 451–488; Thomas A. Tweed: American Occultism and Japanese Buddhism. Albert J. Edmunds, D. T. Suzuki, and Translocative History, in: Japanese Journal of Religious Studies, 2005, Nr. 2, S. 249–281; David McMahan: The Making of Buddhist Modernism, New York 2008; Inken Prohl: California »Zen«. Buddhist Spirituality Made in America, in: Amerikastudien / American Studies, 2014, Nr. 2, S. 193–206; Michael Bergunder : »Religion« and »Science« within a Global Religious History, in: Aries, 2016, Nr. 1, S. 86–141, hier S. 127f. 79 Alan Watts: The Way of Zen, New York 1957. Auf Deutsch erschienen als Zen-Buddhismus: Tradition und lebendige Gegenwart, Reinbek bei Hamburg 1961. 80 Prohl: Zen (Anm. 78), S. 197. 81 Versluis: Gurus (Anm. 72), S. 88. 82 Bräunlein: Jahre (Anm. 7), S. 213. 83 Carlos CastaÇeda: The teachings of Don Juan. A Yaqui way of knowledge, Berkeley 1968; auf Deutsch erschien das Werk im Fischer Verlag: Die Lehren des Don Juan. Ein Yaqui-Weg des Wissens, Frankfurt a. M. 1973.

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Frank Waters (1902–1995) mit seinem Buch Book of the Hopi84 und John Neihardt (1881–1973) mit dem schon 1932 erschienenen und 1961 wieder aufgelegten Werk Black Elk Speaks85 von zentraler Bedeutung.86 Mit der »Entdeckung« der indianischen Spiritualität verbunden war zudem die Schaffung eines neoschamanistischen Diskursfeldes in und außerhalb der akademischen Sphäre.87 Im Hinblick auf die Lebensführung kam neben dem Lesen und Diskutieren dieser weltanschaulichen Texte auch das individuelle und kollektive Experimentieren mit bewusstseinsverändernden Substanzen hinzu.88 »Zu Orientierungsgrößen eines aussichtsreichen bewusstseinserweiternden Drogenkonsums wurden in diesem Zusammenhang als ›nicht-westlich‹ markierte ›Hochkulturen‹ und insbesondere Religionen erklärt. Rückgriffe auf deren vermeintlich überlegenen Kenntnisse im Umgang mit Rauschmitteln und religiösen Ekstasen wurden unentwegt eingefordert. Sowohl ›indianische‹ als auch ›orientalische‹ […] Kulturen und Religionen gerieten auf diesem Wege zum konstitutiven Referenzrahmen und Gestaltungsprinzip psychedelischer Drogenpraktiken.«89

Der Historiker Schleking spricht deshalb auch von einer »Orientalisierung« und der Religionswissenschaftler Partridge von einer »Sakralisierung« des Drogenkonsums. Eine solche erfolgte um den Preis der Homogenisierung und Ahistorisierung dieser im psychedelischen Diskurs thematisierten amerikanischen und anderen Kulturen.90

84 Frank Waters: Book of the Hopi. Drawings and source material recorded by Oswald White Bear Fredericks, New York 1963, auf Deutsch: Das Buch der Hopi, Düsseldorf 1980. 85 John Neihardt: Black Elk speaks. Being the life story of a holy man of the Ogalala Sioux, New York 1932; ders.: Black Elk speaks. Being the life story of a Holy Man of the Oglala Sioux, Lincoln 1961. Durch die Initiative von C. G. Jung kommt es 1955 zur deutschen Übersetzung und Veröffentlichung in der Schweiz: Schwarzer Hirsch, John Neihardt: Ich rufe mein Volk. Leben, Traum und Untergang der Ogalalla-Sioux, Olten 1955. In der Bundesrepublik erschien das Buch 1962 im Deutschen Taschenbuchverlag unter dem Titel: Ich rufe mein Volk. Leben, Visionen und Vermächtnis des letzten großen Sehers der Ogalalla-Sioux, München 1962. 86 Bräunlein: Jahre (Anm. 7), S. 214. 87 Siehe zum Ethno-Boom den Beitrag von Rosa Eidelpes in diesem Band. Vertiefend Kocku von Stuckrad: Schamanismus und Esoterik. Kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen, Leuven 2003, Kap. II.1; Andrei Znamenski: The Beauty of the Primitive. Shamanism and Western Imagination, Oxford 2007, Kap. 6. 88 Christopher Partridge: The re-enchantment of the West, Bd. 2, London 2005, Kap. 3; Wouter Hanegraaff: Entheogenic esotericism, in: Egil Asprem u. a. (Hg.): Contemporary esotericism, London 2014, S. 392–409; Christopher Partridge: High culture. Drugs, mysticism, and the pursuit of transcendence in the modern world, New York 2018, Kap. 7. 89 Florian Schleking: Drogen, Selbst, Gefühl. Psychedelischer Drogenkonsum in der Bundesrepublik Deutschland um 1970, in: Pascal Eitler (Hg.): Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung – Politisierung – Emotionalisierung, Bielefeld 2015, S. 293–326, hier S. 304. 90 Ebd., S. 305, 309 u. Partridge: Re-enchantment, Kap 3 (Anm. 88), Bräunlein: Jahre (Anm. 7), S. 215–216.

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Das generelle Religionsverständnis war in beiden Zeiträumen kirchenkritisch, aber religionsfreundlich im Hinblick auf »asiatische« Religionen und Traditionen, die großen Wert auf persönliche religiöse Erfahrung legten. Dies zeigt sich auch in der sukzessiven semantischen Verschiebung auf der objektsprachlichen Ebene von »religiös« hin zu »spirituell«, die ab den 1950er Jahren zu beobachten ist. Der personale Gottesbegriff und dementsprechende Heilsentwürfe wurden zumeist abgelehnt.91 Die Typik der religiösen Semantik weist um 1900 und seit den 1970er Jahren Ähnlichkeiten auf.92 Begriffe wie »Entwicklung« sowie Komposita mit den Präfixen »Selbst« und »Höher« waren in beiden Diskursen zu finden. Dahinter steht das Narrativ der »spirituellen Entwicklung«, das der esoterische Diskurs u. a. aus dem evolutionistischen und fortschrittsorientierten Denken der Natur- und Sozialwissenschaften des 19. Jahrhunderts übernommen hatte, ebenso wie die Entwürfe der Romantiker, die von einer langsamen Entwicklung von niederen zu höheren Formen der Existenz ausgingen. Diese Auffassung vertreten jedoch nicht nur Theosophen, sondern auch New Thought-Autoren. Die kommunizierten Ziele und Funktionen des »spirituellen Fortschritts« oszillierten bereits um 1900 zwischen dem Wunsch reich zu werden und einer dezidierten Kulturkritik.93 Für die theosophischen Autoren und für die Entwürfe in der Esotera und in den New Age-Bestsellern sind monistische Kosmologien und Anthropologien zentral. Diese lassen sich u. a. ideengeschichtlich zurückverfolgen zum Mesmerismus,94 Swedenborgianismus, Spiritismus und dem New Thought.95 Sowohl um 1900 als auch im New Age gab es eine Vielzahl von Körperpraktiken im Bereich der kollektiven rituellen Praxis, der alltäglichen Lebensführung und im Kontext therapeutischer Angebote. Dazu zählten beispielsweise Meditation, spezielle Ernährungsweisen96 oder das heilende Auflegen von Händen97. 91 Hubert Knoblauch: Soziologie der Spiritualität, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft, 2005, S. 123–133; Sawicki: Esoterik (Anm. 7), S. 182. 92 Klaus Bayer: Religiöse Sprache. Thesen zur Einführung, Berlin 2. überarb. Aufl. 2009. 93 Wouter Hanegraaff: New Age Religion and Western Culture. Esotericism in the Mirror of Secular Thought, Leiden 1996, S. 462–482; Hammer : Elements (Anm. 37), S. 245–246. 94 Karl Baier : Der Magnetismus der Versenkung: Mesmeristisches Denken in Meditationsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Wege in die Moderne, Berlin 2013, S. 407–439. 95 Gute Überblicke in: Catherine Albanese: A Republic of Mind and Spirit, Yale 2007; Baier : Meditation (Anm. 33). 96 Für die Makrobiotik und den Vegetarismus siehe z. B. Jörg Albrecht in diesem Band. Darin auch eine relationale Systematik, was als alternative Ernährungsweisen zu bezeichnen ist. 97 Catherine Albanese: The Aura of Wellness. Subtle-Energy Healing and New Age Religion, in: Religion and American Culture, 2000, Nr. 1, S. 29–55; Jens-Uwe Teichler : »Der Charlatan strebt nicht nach Wahrheit, er verlangt nur nach Geld!« Zur Auseinandersetzung zwischen naturwissenschaftlicher Medizin und Laienmedizin im deutschen Kaiserreich am Beispiel

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In beiden Perioden wurde Yoga praktiziert, wobei es sich um ein ganzes Spektrum von eher geistig-meditativen bis hin zu physischen, an Körperstellungen und Atmung orientierten Praktiken handeln konnte. Im Unterschied zur Zeit um 1900 ist in den 1970er und 1980er Jahren eine Diffusion des »Yoga« als stärker körperlich orientierte Praxis bzw. ein quantitativer Zuwachs an tatsächlich Praktizierenden festzustellen. Damit einher ging auch eine Vervielfältigung der gesellschaftlichen Orte, an denen Yoga praktiziert wird.98

Kontinuitäten, Transformationen und Aktualisierungen In der Beantwortung der Frage, wie man die Kontinuität zwischen den beiden geschilderten Phänomenen im Verlauf des 20. Jahrhunderts denken und auch erforschen kann, orientiere ich mich abschließend zunächst an der Konzeption des Religionswissenschaftlers Helmut Zander, die er für sein Projekt der europäischen Religionsgeschichtsforschung dargelegt hat.99 In einem zweiten Schritt stellte ich die konkreten, direkt am Gegenstand orientierten Überlegungen des Religionswissenschaftlers Olav Hammer vor, um diese für den deutschsprachigen Raum zu durchdenken. In der longue dur8e betrachtet, ist Kontinuität als ein Wandlungsprozess zu denken, bei dem bei der Weitergabe gleichzeitig eine Transformation der Gegenstände erfolgt. Auch wenn der Begriff Kontinuität eigentlich zu den »stabilitätsorientierten Metaphern« gehört, soll er hier benutzt werden. Es finden bei der Transmission in diachronen Netzwerken selbstverständlich Anpassungen und Adaptionen statt. Der Begriff Pfadabhängigkeit ist für die historische Forschung eine nützliche, weil »elastische Metapher«, die besagt, dass »es kulturelle Festlegungen gibt, die nachfolgende Entwicklungen prägen. Das bedeutet nicht, ontologische Festlegungen für eine Kultur zu treffen, sondern historisch konvon Hypnotismus und Heilmagnetismus, Stuttgart 2002; Ulrich Dehn: Reiki als spirituelle Heilungs- und Behandlungsbewegung«, in: Inken Prohl u. a. (Hg.): Zen, Reiki, Karate. Japanische Religiosität in Europa, Hamburg 2002, S. 109–124; Anne-Cecile Hoyez: The world of yoga: The production and reproduction of therapeutic landscapes, in: Social Science & Medicine, 2007, Nr. 1, S. 112–124; Ruth Barcan: Complementary and alternative medicine. Bodies, therapies, senses, Oxford 2011. 98 Suzanne Newcombe: A social history of yoga and Ayurveda in Britain, 1950–1995, Cambridge 2008; Beatrix Hauser (Hg.): Yoga Traveling. Bodily Practice in Transcultural Perspective, Heidelberg 2013; Dworschak: Geschichte (Anm. 45); Karl Baier u. a. (Hg.): Yoga in transformation: historical and contemporary perspectives, Göttingen 2018. 99 Zanders These ist, dass in der Spätantike im christlichen Kontext ein neues Konzept religiöser Zugehörigkeit entsteht. Nicht mehr die Geburt eines Menschen in eine Religion hinein, sondern eine persönliche Entscheidung wird zum mächtigen Modus von Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft. Er untersucht die kulturellen und politischen Folgen, die dieser Modus zu bestimmten Zeiten angenommen hat.

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tingente und im Prinzip reversible, jedoch stabile Festlegungen anzunehmen.«100 Dabei bleiben manche Themen und Ideen in einem »Speichergedächtnis«, während andere im »kommunikativen Gedächtnis« (angelegt an die Konzeption von Assmann101) abgelegt sind. Themen und Praktiken sind also in Latenz oder in Aktualisierung begriffen. Dabei bedeutet Aktualisierung, »eine Vorstellung unter veränderten Bedingungen und in veränderter Deutung wieder aufzugreifen, sie möglicherweise aufgrund eines veränderten kulturellen Rahmens (wieder) zu entdecken (oder auch zu konstruieren), sie jedenfalls in einem veränderten Kontext zu interpretieren und in einen neuen Zusammenhang zu integrieren. Aktualisierung bedeutet mithin, entgegen einer auch möglichen Interpretation, dezidiert die Transformation von Traditionsgehalten. Aber dies passiert auf einem einmal abgesteckten Pfad.«102

Auch Olav Hammer fragt nach dem Wie und dem Wohin solcher Weitergabeprozesse und entwickelt hierfür eine Heuristik: »The New Age is eclectic, and these components can be combined in unexpected ways, generating new forms of religiosity that are partly Theosophical, but where the Theosophical influence is integrated into a practice that bears little similarity to anything that the founder of Theosophy, Helena Blavatsky, or her followers would have recognized. The historical predecessors that scholars can identify are often not the same as those invoked by ›New Agers‹ themselves.«103

Dieses von Hammer beschriebene Problem haben nicht nur Religionshistoriker. Um eine mögliche Operationalisierung zu illustrieren, setzt Hammer zunächst bei den Autoren und dem weltanschaulichen Schriftgut an. Er differenziert 1. eine direkte Verbindung, z. B. wenn nachzuweisen ist, dass ein New-Age-Autor theosophische Texte rezipiert hat oder gar Mitglied einer der theosophischen Gesellschaften war. Das trifft etwa auf Daisetz Suzuki zu; 2. eine mittelbare Verbindung, z. B. über eine der Nachfolgeorganisationen der Theosophischen Gesellschaften – beispielsweise wenn ein New-Age-Autor Mitglied einer Meditationsgruppe Alice Ann Baileys (1880–1949) war,104 anthroposophische Schriften rezipierte, Vorträge der Referenten des Summit Lighthouse105 besuchte oder die Schriften des amerikanischen Hellsehers Edgar Cayce (1877–1945) las 100 Helmut Zander: »Europäische« Religionsgeschichte. Religiöse Zugehörigkeit durch Entscheidung – Konsequenzen im interkulturellen Vergleich, Berlin 2016, S. 50. 101 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, S. 48–66. 102 Zander : Religionsgeschichte (Anm. 100), S. 52. 103 Hammer : Elements (Anm. 37), S. 237. 104 Sean O’Callaghan: The Theosophical Christology of Alice Bailey, in: Olav Hammer, Mikael Rothstein (Hg.): Handbook of the Theosophical Current, Leiden 2013, S. 93–112. 105 Michael Abravanel: The Summit Lighthouse. Its Worldview and the Theosophical heritage, in: Hammer, Rothstein (Hg.): Handbook (Anm. 104), S. 173–192.

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(Cayce hatte theosophische Reinkarnationsvorstellungen in seine mediale Praxis integriert, wenn er Informationen über vergangene Leben an seine Klienten weitergab);106 3. eine Verbindung durch spokespersons des New Age, die nicht unbedingt durch Nachfolgeorganisationen der Theosophie, wohl aber durch theosophische oder post-theosophische Religiosität geprägt sind; 4. eine durch vielfältige mediale Diffusionsprozesse vermittelte Verbindung; in dieser Perspektive geraten die Theosophie als Organisation und deren Akteure aus dem Blick, präsent sind jedoch deren zentrale Themen in der populären Kultur (Western Occulture107): Fernsehsendungen, die von »Atlantis« berichten, Zeitschriften mit Artikeln zu Reinkarnationsvorstellungen, Besuche bei alternativreligiösen Heilern, die mit den Konzepten »Chakra« und »Aura« arbeiten, Bücher, die von »ägyptischen Mysterien« berichten, okkulte Romane und die alltägliche Konversation über diese Themen;108 sowie 5. eine Verbindung, die aus einer Mischung der oben genannten Verbindungsmöglichkeiten besteht und die in der Empirie häufig anzutreffen ist.109 Den Verbindungsmöglichkeiten 2 und 3 von Hammer ist das Konzept der »Kontaktzone«110 hinzuzufügen, bei der sich Esoteriker unterschiedlicher Generationen und Kulturen in einem bestimmten Rahmen begegneten und ein face to face-Austausch stattfand.111 Historische Beispiele dafür sind die berühmten Eranos-Sommerkonferenzen am Lago Maggiore im Tessin, bei denen sich esoterische Autoren, Theologen, Philosophen, Psychologen und (Religions-)Historiker trafen, die unterschiedlicher kultureller Herkunft waren und verschie106 Shannon Trosper Schorey : Sleeping Prophet. The life and legacy of Edgar Cayce, in: Hammer, Rothstein (Hg.): Handbook (Anm. 104), S. 135–150. 107 Den Begriff »(Western) Occulture« hat der Religionswissenschaftler Christopher Partridge geprägt. »Occulture is a constantly evolving religio-cultural milieu/culture that both resources and is resourced by popular culture. […] Occulture is the cultural reservoir, which continually feeds new spiritual springs, sustains and challenges older traditions, and into which new ideas and novel confluences of old streams flow. Moreover […] popular culture is a key component of the occultural cycle, in that it feeds into the occultural reservoir and also develops mixes, disseminates, and popularizes those ideas«; Partridge: Horizon (Anm. 66), S. 314, FN 4. Siehe ausführlich Christopher Partridge: Occulture is Ordinary, in: Egil Asprem u. a. (Hg.): Contemporary esotericism, London 2014, S. 113–133. 108 Zur okkultistischen Literatur gibt der Historiker Diethard Sawicki einen sehr guten Überblick für Deutschland; Sawicki: Esoterik (Anm. 7). 109 Hammer : Elements (Anm. 37), S. 237–238, 248. 110 Der Begriff geht auf die Studie von Mary Louise Pratt: Imperial eyes. Travel writing and transculturation, London 1992 zurück. Er wird z. B. verflechtungsgeschichtlich aufgegriffen durch Harald Fischer-Tin8, der ihn für seine medizin- und wissenshistorisch angelegte Studie zu britischer Kolonialmedizin und indischem Ayurveda benutzt: Harald FischerTin8: Pidgin-Knowledge: Wissen und Kolonialismus, Zürich 2013. 111 Siehe auch am Fallbeispiel Lebensreform im Beitrag von Eva Locher in diesem Band. In Bezug auf die Alternativernährung und deren Distributionssektor siehe den Aufsatz von Jörg Albrecht in diesem Band.

Healthy, Happy, Holy: »Yoga« und Selbstverhältnisse um 1900 und um 1970

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dene Generationen repräsentierten. Darunter waren Alice Bailey, C. G. Jung (1875–1961), Friedrich Heiler (1892–1967), Martin Buber (1878–1965), Mircea Eliade (1907–1986), Daisetz Suzuki und Gershom Sholem (1897–1982). Die Treffen fanden von 1933 bis 1988 statt und widmeten sich jeweils einem zentralen Thema. Die rahmende Hauptfrage aller Tagungen war, welche Rolle »Mythen« und »Symbolismus« für die Geschichte und die Gegenwart moderner Kulturen spielen. Die erste der Konferenzen beschäftigte sich mit Yoga und Meditation.112 Im Eranos-Kreis wurde eine bestimmte Herangehensweise an Religion(en) zur Konvention, die der Religionswissenschaftler Wouter Hanegraaff als religionism bezeichnet und die Ähnlichkeiten mit dem perennialistischen Narrativ der weiter oben vorgestellten Esoteriker hat. Religionism meint, dass Text-Quellen im Hinblick auf die Suche nach dem »Ewigen« und »Universellen« untersucht werden sollen. Dahinter steht letztlich die Annahme, dass die eigentliche Referenz von Religion nicht im Bereich der menschlichen Kultur oder Gesellschaft liege, sondern in der persönlichen Erfahrung des »Göttlichen«.113 Dieses Narrativ ist eingebettet in eine Kritik am Projekt der Moderne. Ein weniger elitär-akademisches Format bildeten Kontaktzonen in Form von religiösen Kommunen. Das hat der Religionswissenschaftler Steven Sutcliffe, der im Hinblick auf Kontinuität von engeren oder loseren »lineages of practice« spricht, für die schottische Findhorn-Gesellschaft illustriert.114 In dieser Kommune begegneten sich seit Beginn der 1960er Jahre britische und US-amerikanische Anhänger der christlichen Theosophin Alice Bailey sowie alternativkulturell interessierte Baby Boomer. Die Siedlung funktionierte über Jahre hinweg als transnationaler Knotenpunkt eines New-Age-Netzwerks, das einen Querschnitt von Ideen und Praktiken hinsichtlich Spiritualität, alternativer Heilverfahren, Kunst, Handwerk und Gärtnern abbildete.115 Neben stabileren Kontaktzonen wie solchen Siedlungen waren es reisende spokespersons und Referenten, oft in der Rolle des »spirituellen Lehrers« oder »Gurus«, die temporär und an vielen Orten in den esoterischen Netzwerken für synchrone und diachrone Kommunikation sorgten. Um 1900 waren es etwa deutschstämmige US-Remigranten, die die alternativreligiöse Landschaft des Deutschen Kaiserreiches vervielfältigten.116 Ein Paradebeispiel für die Karriere 112 Olga Fröbe-Kapteyn: Yoga und Meditation im Osten und im Westen, Zürich 1934. 113 Hanegraaff: Academy (Anm. 31), S. 277–313; ausführlich zur Geschichte der Konferenzen: Hans Hakl: Eranos: Nabel der Welt. Glied der goldenen Kette. Die alternative Geistesgeschichte, Gaggenau 2015. 114 Sutcliffe: Category (Anm. 6), S. 15–16. 115 Ebd., S. 16. 116 Für die deutsche Theosophie waren das der Autor und Mediziner Franz Hartmann, für den Spiritismus das Medium Bernhard Cyriax und für Mazdaznan der Deutschschweizer David Ammann mit seiner Familie. Siehe Bigalke: Lebensreform (Anm. 42). Briten und US-

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einer spokesperson aus Indien ist der Autor Jiddu Krishnamurti (1895–1986), der qua Biografie eine direkte Verbindung zwischen beiden Perioden herstellte.117 Weitere Akteure waren die vielen hochmobilen Yoga- und Meditationslehrer, die in den letzten 120 Jahren gewirkt haben, wie Swami Vivekananda, Bellur Krishnamachar Sundararaja Iyengar (1918–2014), Maharishi Mahesh Yogi (1918–2008), »Rajneesh« Chandra Mohan Jain (»Bhagwan«, »Osho«,1931–1990) und Harbhajan Singh Khalsa (»Yogi Bhajan«, 1929–2004).118 Kontinuitäten lassen sich zudem durch die Rekonstruktion von Verlagsgeschichten (z. B. des gut aufgearbeiteten Eugen Diederichs Verlag119) und die Redaktionsgeschichte von Zeitschriften erfassen.120 Bei den kleinen weltanschaulichen Verlagen bestehen jedoch meist Schwierigkeiten, an die jeweiligen Archivalien bzw. Nachlässe zu gelangen oder es mangelt an Forschungsinteresse. Bräunlein bemerkt in diesem Zusammenhang, dass nicht selten vor dem Ausüben körperlich orientierter religiöser Praktiken zunächst eine kognitive Rezeption erfolgte: »Die Erweiterung des religiösen Feldes über die literarische Aufbereitung von Religionstraditionen kann als typisch gelten. Neue Formen von Religiosität werden zunächst als Leserreligion erschlossen.«121 Dabei verweist er auf die populären (literarischen) Lesestoffe als Quellen für die Rekonstruktion der Religionsgeschichten der »langen 1960er Jahre«. Auch die Nachlässe und Autobiografien einzelner Akteure können in dieser Hinsicht Auskunft geben, wie am Beispiel von Gustav Meyrink oder Carl Kellner gezeigt werden konnte.

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Amerikaner wie Alice Ann Bailey, Alan Watts und Edgar Cayce sind bereits erwähnt worden; vgl. Versluis: Gurus (Anm. 72). Maria Sofia Moritz: Globalizing »Sacred Knowledge«. South Asians and the Theosophical Society, 1879–1930, Bremen 2017. Iwamura: Orientalism (Anm. 72); Mario Goldman: Controversy, Cultural Influence, and the Osho/Rajneesh Movement, in: James Lewis u. a. (Hg.): Controversial New Religions, Oxford 2005, S. 176–194; Scott Lowe: Transcendental Meditation, Vedic Science and Science, in: Nova Religio, 2011, Nr. 4, S. 54–76; Stefanie Syman: The subtle body. The story of yoga in America, New York 2011; Suzanne Newcombe: The institutionalization of the yoga tradition. »Gurus« B. K. S. Iyengar and Yogini Sunita in Britain, in: Mark Singleton, Ellen Goldberg (Hg.): Gurus of modern yoga, Oxford 2014, S. 147–167; Thorsten Laue: Kundalini Yoga, Yogi Tee und das Wassermannzeitalter. Religionswissenschaftliche Einblicke in die Healthy, Happy, Holy Organization (3HO) des Yogi Bhajan, Berlin 2007. Friedrich Wilhelm Graf: Das Laboratorium der religiösen Moderne. Zur »Verlagsreligion« des Eugen Diederichs Verlag, in: Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996, S. 243–298; Justus Ulbricht u. a. (Hg.): Romantik, Revolution und Reform. Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900–1949, Göttingen 1999. Zum Buddhismus siehe Peter Sinnemann: Der eigentliche Mittelpunkt der buddhistischen Literatur. Zur Geschichte des Oskar Schloss Verlags, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte, 2004, S. 271–310. Ein sehr gutes Beispiel ist die Studie von Christoph Bochinger : New Age und moderne Religion. Religionswissenschaftliche Analysen, Gütersloh 1995. Bräunlein: Jahre (Anm. 7), S. 214.

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Die Bedeutungen zentraler objektsprachlicher Begriffe wandeln, verschieben und vervielfältigen sich, bleiben jedoch häufig in pfadabhängigen Wegen der Rezeption.122 Um noch einmal ein Beispiel aus dem Bereich der Selbstthematisierung zu nennen: Der um 1900 aus Sanskrittexten entnommene Begriff atman wurde in der populären Lesart indischer Traditionen übersetzt mit »Selbst« oder »Seele«. In der indischen Philosophie bezeichnete er das, was aus den Verwicklungen der empirischen Existenz zu befreien sei. In der westlichen Lektüre wurde er re-interpretiert als Befreiung des »Selbst«, so z. B. in der theosophischen Anthropologie. In einer späteren Lesart wurde diese Interpretation weiter umgedeutet in das Postulat, »sich selbst zu befreien« bzw. »zu sich selbst zu kommen« und »mit sich selbst eins zu werden«.123 Zu guter Letzt: Jede nationale Betrachtungsweise dieser beiden (religiösen) Phänomene, und das hat der Artikel gezeigt, kommt schnell an ihr Ende. Die Erzählung von Kontinuitätsgeschichten und ihren Pfadabhängigkeiten ist nur möglich, wenn man sie verflechtungsgeschichtlich denkt, erforscht und erzählt.

Fazit Über den Vergleich zweier Yoga-Diskurse wurde erstens gezeigt, dass körperorientierte Spiritualität, bestimmte Arten und Weisen der Selbstthematisierung, die Betonung einer selbstverantwortlichen Ethik und ein affirmativer Orientalismus sowohl um 1900 als auch seit den 1970er Jahren im deutschsprachigen Raum gebündelt vorzufinden waren. Dieses Cluster von Ideen und Praktiken hatte bereits um 1900 eine gewisse soziale Reichweite. Zweitens wurde die Hypothese plausibilisiert, dass dieser Diskurs in nachfolgende personale Netzwerke hinein- und über populäre Medienformen fortwirkte. Für die Erforschung von solchen Kontinuitätsgeschichten wurden in einem Zwischenschritt mögliche Ebenen und Gegenstände der Untersuchung benannt. Ausgangspunkt war eine Heuristik Olav Hammers, der diese für die Rekonstruktion der Entwicklung der Theosophie von der Moderne bis in die Spätmoderne vorschlägt. Zu den zu untersuchenden Ebenen bzw. Gegenständen gehören Kontaktzonen, Rezeptionsgeschichten von Lesestoffen, die Entwicklungen weltanschaulicher Zeitschriften, Institutionengeschichten von Vereinen und Verlagen sowie Biografien und Autobiografien von spokespersons aber auch von weniger bekannten Anhängern. Die Untersuchung hat drittens gezeigt, dass viele dieser Kontinuitätsgeschichten als global und verflochten zu erzählen sind. Insbesondere für die 122 Hammer : Knowledge (Anm. 31). 123 Dazu ausführlich Dworschak: Geschichte (Anm. 46), S. 209.

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Bundesrepublik und hier für die Periode zwischen 1945 und 1970 besteht jedoch noch erhöhter Bedarf an religions- und kulturgeschichtlichen Fallstudien, um ein dichteres und klareres Bild der Entwicklung dieses Diskurses aufzuzeigen.

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Von der Gartenstadt in den Stadtdschungel. Stadtkritik am Anfang und am Ende der städtebaulichen Moderne

»Unwirtlich«1 seien sie, oder gar »unmenschlich«,2 die zeitgenössischen Städte: So hörte sich die gegen Ende der 1960er Jahre immer lauter werdende Kritik am Städtebau der Nachkriegszeit in den USA und in Europa an, so auch in der Schweiz. Eine Flut von Publikationen, die breit in der Öffentlichkeit rezipiert wurden, setzte sich seit den 1970er Jahren kritisch mit den »Errungenschaften« der modernen Stadt – ihrer autogerechten Erschließung über Expressstraßen, ihren »grünen« Vorortsiedlungen sowie der »Sanierung« und »Entkernung« von Altbaugebieten – auseinander.3 Im Zuge dieser allgemeinen Wahrnehmung einer »Stadtkrise« vollzog sich nach 1970 in sehr kurzer Zeit ein Paradigmenwechsel – weg von der Modernisierung per Abriss und Neubau, hin zur Erhaltung der Stadt:4 Insbesondere die historistischen Stadtteile aus dem 19. Jahrhundert erfuhren eine neue Wertschätzung. Artikuliert wurde diese von zivilgesellschaftlichen Akteuren wie Bürgerinitiativen und den in diesen Jahren stark an Mitgliedern zulegenden Heimatschutz-Vereinen sowie dem urbanen Aktivismus der alternativen Linken.5 Zwar wurden »Sanierungs«- und Abbruchprojekte trotz Protesten vorerst weiterverfolgt. Doch spätestens mit der Wirtschaftskrise um 1974, die für eine Pleitewelle in der Bauwirtschaft sorgte, geriet die Ära der technokratischen stadtplanerischen Leitbilder und Großprojekte an ein Ende 1 Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt a. M. 1965. 2 Uwe Schultz: Umwelt aus Beton oder Unsere unmenschlichen Städte, Reinbek bei Hamburg 1971. 3 Für einen Überblick vgl. Dieter Schnell: Die Architekturkrise der 1970er Jahre, Baden 2013. 4 Vgl. Moritz Föllmer, Mark B. Smith: Urban Societies in Europe since 1945: Toward a Historical Interpretation, in: Contemporary European History, 2015, Nr. 24/4, S. 475–491, hier S. 481. 5 Vgl. Martin Baumeister, Bruno Bonomo, Dieter Schott: Introduction. Contested Cities in an Era of Crisis, in: dies. (Hg.): Cities Contested. Urban politics, heritage and social movements in Italy and West Germany in the 1970s, Frankfurt a. M. u. a. 2017, S. 7–30, S. 19–30; Jean-Daniel Gross: Ächtung und Rehabilitation des Historismus in Zürich. Der Wandel in der Rezeption historischer Architektur von 1960 bis 1980 in der Stadt Zürich und seine Bedeutung aus Sicht der Denkmalpflege, Zürich 2006, S. 7–8, 94–100.

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und es folgte eine städtebauliche Neuorientierung »nach dem Boom«, die einer stärker prozesshaften und kooperativen Stadtgestaltung den Weg bereitete.6 Ein kritisches Sprechen über die Stadt war nicht neu. Als eigenständige Disziplin hatte sich der moderne Städtebau im frühen 20. Jahrhundert in Europa aus einer kritischen Auseinandersetzung mit den industrialisierten Großstädten des 19. Jahrhunderts heraus formiert. Die theoretischen Impulse kamen dabei aus den sozialen und künstlerischen Reformbewegungen jener Zeit. Den desolaten hygienischen und sozialen – in den Augen der Zeitgenoss*innen: »sittlichen« – Verhältnissen in den »Mietskasernen« der Arbeiterquartiere setzten sie die Forderung nach Siedlungen voller »Licht, Luft und Sonne«7 entgegen. Mit ihrer Abneigung gegen die dicht bebaute Großstadt und ihren Entwürfen für funktionell gegliederte, aufgelockerte Siedlungen und Gartenstädte legten die Reformer*innen der Jahrhundertwende das Fundament für das »Neue Bauen« und die Klassische Moderne im Städtebau, die sich ab den 1920er Jahren voll entfalteten.8 Eine breite ablehnende Haltung gegenüber der Stadt der jeweiligen Gegenwart stand somit sowohl am Anfang als auch am Ende der städtebaulichen Moderne.9 Dystopische Schilderungen und ein kritisches Sprechen über die bestehenden Städte begleitete in beiden historischen Momenten eine neue Herangehensweise 6 Vgl. Tilnan Harlander : Zentralität und Dezentralisierung. Großstadtentwicklung und städtebauliche Leitbilder im 20. Jahrhundert, in: Clemens Zimmermann (Hg.): Zentralität und Raumgefüge der Großstädte im 20. Jahrhundert (Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung 4), Stuttgart 2006, S. 23–40. Zur Krise der planerischen Leitbilder, vgl. Michael Koch: Städtebau in der Schweiz 1800–1990. Entwicklungslinien, Einflüsse und Stationen (ORL-Bericht 81), Stuttgart u. a. 1992, S. 250ff. Sebastian Haumann hat darauf hingewiesen, dass die Verbreitung einer neuen »Planungskultur« in den 1970er Jahre gerade deshalb so erfolgreich war, weil an bestehende Instrumente zur Mitsprache angeschlossen werden konnte und also die Reduktion der Stadtplanung vor 1970 auf Technokratie und Profitorientierung einseitig sei, vgl. Sebastian Haumann: »Schade, dass Beton nicht brennt…«. Planung, Partizipation und Protest in Philadelphia und Köln 1940–1990 (Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung 12), Stuttgart 2011. Zur Diagnose der 1970er Jahre als Jahrzehnt krisenhafter Umbrüche nach dem Ende des Wirtschaftsbooms der Nachkriegszeit, vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. 7 Daniel Kurz: Die Disziplinierung der Stadt. Moderner Städtebau in Zürich 1900 bis 1940, Zürich 2008, S. 115. 8 Vgl. ebd., S. 85ff. 9 Dieses Paradigma war vom frühen 20. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre außerordentlich stabil. Carsten Jonas (Die Stadt und ihre Geschichte. Utopien und Modelle – und was aus ihnen wurde, Tübingen u. a. 2015, S. 170ff., 329–335) beschreibt, wie in Deutschland die »Großstadtfeindlichkeit« der Zwischenkriegszeit bruchlos vom Nationalsozialismus übernommen wurde und dann das städtebauliche Leitbild für den Wiederaufbau bestimmte – auch wenn sich bereits in dieser Zeit vereinzelt kritische Stimmen Gehör zu verschaffen suchten, vgl. John Pendlebury, Erdem Erten, Peter J. Larkham (Hg.): Alternative visions of post-war reconstruction. Creating the modern townscape, London 2015, S. 3–5. Erst in den 1960er Jahren setzte eine kritische Auseinandersetzung mit den vom Nationalsozialismus geprägten städtebaulichen Begriffen und Denkmustern ein (vgl. Jonas: Stadt, S. 368).

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an den Städtebau, die Entstehung eines neuen Blicks auf die Stadt. Im frühen 20. Jahrhundert war es insbesondere die Gartenstadt, die als neues städtebauliches Modell postuliert wurde. Mit ihrer Kritik am funktional entmischten Städtebau der Nachkriegszeit mit seinen »grünen« Vorortsiedlungen waren es gerade die Fluchtlinien des Gartenstadt-Modells, gegen das die alternative Linke in den 1970er und 1980er Jahren mit ihren Forderungen nach »Freiräumen« und einer Stadt, die Raum für alternative Lebensformen bot, kämpfte. Im Folgenden werden die Semantiken, Motive und Bilder der Stadtkritik in linksalternativen Zeitschriften und Flugblättern um 1980 aus Deutschschweizer Städten jenen aus den theoretischen und propagandistischen Schriften der deutschsprachigen Gartenstadtbewegung um 1900 gegenübergestellt. Die Stadtkritik sowohl dieser Reformbewegung als auch der alternativen Linken wird dabei als politische und epistemologische Konstruktionsleistung erkennbar. Als solche konnte sie in beiden historischen Momenten Wirksamkeit entfalten, indem sie auf einer anderen, neuen Beschreibung der Wirklichkeit beharrte.10 Mit den Texten bürgerlicher, vornehmlich männlicher Intellektueller aus dem Deutschland des fin de siHcle und den Underground-Zeitschriften und Flugblättern, die linksalternative Schweizer Jugendliche rund 80 Jahre später tippten, zeichneten, zusammenklebten, selber fotokopierten und untereinander austauschten, stelle ich zwei sehr unterschiedliche Quellenbestände einander gegenüber. Ein solche synoptische Lektüre dieser beiden Bestände ermöglicht es mir, erstmals die Parallelen und Differenzen der Art und Weise, wie in beiden historischen Milieus ausgehend von einem spezifischen kritischen Sprechen über die Stadt neu nachgedacht wurde, genauer zu beleuchten. Eine eingehende Untersuchung der Transfers stadtkritischer Topoi aus der Reformbewegung in die alternative Linke stellt derzeit noch ein Forschungsdesiderat dar.

Die Schweizer Alternativszene und ihre Kritik am »Beton« Unter dem Eindruck des »Utopieverlusts«,11 der »ökologischen Apokalypsestimmung«12 und der sich innerhalb kürzester Zeit formierenden Umweltbe10 Mit Bezug auf die 1970er Jahre haben Ariane Leendertz und Wencke Meteling die These einer »epistemischen Wendezeit« bzw. Zeit eines »semantischen Wandels« stark gemacht, vgl. Ariane Leendertz, Wencke Meteling: Bezeichungsrevolutionen, Bedeutungsverschiebungen und Politik. Zur Einleitung, in: dies. (Hg.): Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er Jahren (Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln 86), Frankfurt a. M. 2016, S. 13–33. 11 Vgl. z. B. Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 392; Jörg Türschmann: Am Strand von Tunix. Köperdiskurse, Pazifismus und Natursehnsucht in der Ökobewegung, in: Werner Faulstich (Hg.): Die Kultur der siebziger Jahre, München 2004, S. 37–48, hier: S. 37, 42.

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wegung zogen in den frühen 1970er Jahren auch in der Schweiz viele »Aussteiger«, »Hippies« und »Öko-Freaks«, die »in den Bergen finden [wollten], was [sie] in der Stadt verloren« hatten,13 in abgelegene Dörfer im Toggenburg, Wallis und Tessin.14 Zugleich schuf die linksalternative Szene in den Städten eine gegenkulturelle Infrastruktur, bestehend aus selbstverwalteten Betrieben, einer alternativen Presse, linken Buchläden, Szene-Kneipen, Frauenräumen und Wohngemeinschaften.15 Mit dem Strukturwandel infolge der Wirtschaftskrise 1973/74 gerieten die vormals von der industriellen Produktion belegten Stadtteile zunehmend in den Fokus von Bauwirtschaft und alternativer Szene. So kamen alternative WGs in den günstigen Wohnungen der Arbeiterquartiere unter, nachdem der Schweizer Staat Mitte der 1970er Jahre die krisenbedingte Arbeitslosigkeit mit der Ausweisung vorwiegend italienischer »Saisonniers« ins Ausland exportiert hatte.16 Die innenstadtnahen Blockrandbebauungen der Gründerzeit mit ihren günstigen Wohnungen wurden in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren aber auch großflächig abgerissen und durch moderne Büroneubauten ersetzt.17 Die alternative Szene sah sich durch diesen Trend in ihrer Existenz bedroht: Die Forderungen nach günstigen Wohnungen für WGs, nach »Freiräumen« für alternative Kultur und nach einem Autonomen Jugendzentrum standen denn auch im Zentrum der sogenannten Achtziger Bewegung als einer »urbanen Revolte«,18 die im Anschluss an den Zürcher »Opernhaus12 Patrick Kupper : Die »1970er Diagnose«. Grundsätzliche Überlegungen zu einem Wendepunkt der Umweltgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte, 2003, Jg. 43, S. 325–348, hier S. 344. 13 So der Aufruf auf einem Plakat für das erste »Hochalpine Urland-Camp« der Aussteigergruppe »Bärglütli« aus dem Zürcher Umland von 1971, abgedruckt in: Stefan Bittner : Die romantische Wende nach 1968. Das Beispiel der Schweizer Aussteiger-Gruppierung Bärglütli, in: Janick Marina Schaufelbuehl (Hg.): 1968–1978. Ein bewegtes Jahrzehnt in der Schweiz, Zürich 2009, S. 237–247, hier S. 237. 14 Zur Umweltbewegung, vgl. Kupper : Diagnose (Anm. 12), S. 328–338. Zum Zusammenhang von Stadtflucht und der Wahrnehmung von Umweltproblemen vgl. Bittner : Wende (Anm. 13), S. 242–243. Zu den Landkommunen in den Alpen und den »Bärglütli« siehe auch den Beitrag von Eva Locher in diesem Band. 15 Die Bezeichnung »Szene« wird in den Quellen zur Selbstbeschreibung verwendet. Zu neuen linken Milieus in der Schweiz in den frühen 1970er Jahren, vgl. Damir Skenderovic, Christina Späti: Die 1968er-Jahre in der Schweiz. Aufbruch in Politik und Kultur, Baden 2012. Zu der stadtpolitischen Ausrichtung der alternativen Linken in Zürich, vgl. Thomas Stahel: Wo-WoWonige. Stadt- und wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1968, Zürich 2006. 16 Vgl. Stahel: Bewegungen (Anm. 15), S. 181. Rund 230.000 ausländischen Arbeiter*innen wurde 1975 und 1976 die Wiedereinreise verweigert (vgl. Jakob Tanner : Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München 2015, S. 419f.) – bei damals rund 6 Millionen Einwohner*innen in der Schweiz. 17 Vgl. Gross: Ächtung (Anm. 5), S. 7. 18 So etwa der Zeitzeuge Christian Schmid: Wir wollen die ganze Stadt! – Die Achtziger Bewegung und die urbane Frage, in: Heinz Nigg (Hg.): Wir wollen alles, und zwar subito! Die Achtziger Jugendunruhen in der Schweiz und ihre Folgen, Zürich 2001, S. 352–368.

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krawall« Ende Mai 1980 zwei Jahre lang in verschiedenen Schweizer Städten mit Großdemonstrationen und vielfältigen Protestaktionen präsent war.19 Die kritische Auseinandersetzung mit der »Stadt« in der alternativen Linken erschöpfte sich aber nicht im Ruf nach eigenen Räumen. Der Nachkriegsboom hatte auch in der Schweiz breite Teile der Bevölkerung am Wohlstandswachstum teilhaben lassen. Um vielen Menschen den Traum eines Lebens als bürgerliche Kleinfamilie im Grünen zu ermöglichen und dabei selbst gut zu verdienen, setzte die Bauwirtschaft auf Großsiedlungsbau auf billigem, meist schlecht erschlossenem, an den Stadträndern gelegenem Bauland, auf standardisierte Grundrisse und vorgefertigte Bauelemente.20 In den linksalternativen Zeitschriften wurden diese Neubausiedlungen scharf attackiert und als »kaninchenstallhochhäuser«21 bzw. »monobetonierte wohnsilos und lebefabriken« bezeichnet.22 Die genormten Wohnungstypen erschienen den Alternativen als Gefängnis für das Individuum, als »Einbetonierung« in »Sachzwänge«.23 Ins Bild gesetzt zeigt das ein Zürcher Flugblatt: Zu sehen ist die Frontseite eines rechteckigen mehrgeschossigen Hauses, die sich als schwarzes Gitter oder Raster präsentiert. In den freien Rasterfeldern, die zu klein geraten scheinen, krümmt sich jeweils ein einzelner gezeichneter Mensch in unmöglichen Verrenkungen zusammen. Das vorgegebene Raster – die gesellschaftliche Norm – wird als geradezu physisch verstümmelnd dargestellt. Für individuelle Bedürfnisse und persönliche Entfaltung, so vermittelt das Bild deutlich, ist hier kein Platz vorgesehen. Die linksalternative Kritik richtete sich somit zum einen gegen die soziale Norm der bürgerlichen Kleinfamilie, auf die diese Neubauten rastergleich zugeschnitten waren, und zum anderen gegen die standardisierte Massenabfertigung der Bedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten. Für die alternative Szene war diese Art des Wohnungsbaus Ausdruck einer Industrialisierung des Wohnens, in der dieses auf eine Funktion reduziert wurde. Entgegengesetzt wurde dem ein ganzheitlicher Begriff von Wohnen als »Leben«. In den Beschreibungen der linken Aktivist*innen bestand ein enger Zusammenhang zwischen dieser Industrialisierung des Wohnens im modernen Städtebau der 1950er- und 1960er Jahre und dem Feindbild eines ausbeuterischen

19 Einen Überblick über die Ereignisse in der Schweiz gibt der Sammelband von Nigg: Jugendunruhen (Anm. 18). 20 Fabian Furter und Patrick Schoeck-Ritschard zeichnen diesen Zusammenhang exemplarisch in ihrer Studie über die Großsiedlungen des Schweizer Bauunternehmers Ernst Göhner nach, vgl. dies.: Göhner Wohnen. Wachstumseuphorie und Plattenbau, Baden 2013. 21 Z. B. Stilett, 1980, Nr. 54 (Zürich). 22 Drahtzieher, 1981, Nr. 12 (Bern). »Wohnsilo« war eine gängige Bezeichnung und tauchte wiederholt auf, z. B. im Stilett, 1980, Nr. 56 (Zürich) oder im Brecheisen, 1981, Nr. 2 (Zürich). 23 Vgl. Drahtzieher, 1981, Nr. 12 (Bern).

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Abb. 1: Flugblatt, Zürich ca. 1980 (Stadtarchiv Zürich)

kapitalistischen Systems, das sich in der Figur der »Spekulanten«24 verdichtete: Diese kleine, von Profitgier getriebene Gruppe unterwerfe die Mietbevölkerung und auch die Umwelt einer hocheffizienten Verwertungsmaschinerie, um sich selbst zu bereichern. In dystopisch-paranoider Manier ist dies Ende der 1970er Jahre auch in der von den Betreibern des Zürcher Alternativ-Ladens Armadillo herausgegebenen Zeitschrift Stilett nachzulesen: »viele leute werden mangels stadtwohnungen in die vororte gedrängt. am längeren arbeitsweg, meist mit eigenem pw, verdienen öl- und autoindustrie. […] im appartementzimmer, im kalten, einengenden neubau, wo du nichts rauslassen kannst, kriegst du einen frust und du stürzst dich umso mehr auf konsum-ersatzbefriedigungen zum vorteil der konsumindustrie. […] die betonumwelt stumpft ab, erstickt phantasie, lebenslust, kreativität – zerstört somit identität […]. je mehr identität zerstört wird, desto unsicherer und lenkbarer werden die leute – zum vorteil derjenigen, die pseudo24 Zum Feindbild des Spekulanten vgl. Sebastian Haumann: Stadtzerstörung durch »Spekulanten«. Ein Feindbild der 1970er Jahre, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 2013, Nr. 2, S. 133–150.

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glück, -sicherheit und -ordnung anbieten: also wieder kapital und seine instrumente im parlament & bei den behörden. somit dient beton zur zementierung der machtverhältnisse.«25

Politik und Verwaltung werden in dieser Darstellung zum verlängerten Arm der »konsum-« bzw. »öl- und autoindustrie« – kurz: des »kapitals« – und damit Teil eines feindlichen Komplexes, der die ganze Gesellschaft durchdringt und sie nach seiner Logik der industriellen Produktion und Profitoptimierung gestaltet. Die Stichworte, die den semantischen Gegenpol dazu andeuten – »phantasie, lebenslust, kreativität« und »identität« – akzentuieren noch deutlicher als das oben beschriebene Flugblatt das Individuelle, eine schöpferische, sich entfaltende Belebtheit, auf deren »Zerstörung« es dieser industriell-kapitalistische Komplex abgesehen zu haben scheint. In ähnlicher Manier ist in der Berner Zeitschrift Provinz die Rede von einer »grosse[n] Maschine vom Kapital getrieben«, die sich zunehmend verselbstständige und außer Kontrolle gerate: »Ihr Endprodukt ist die Betonwüste.«26 In diesem Text sind sogar die oben noch marginal vorhandenen menschlichen Akteure aus Politik und Wirtschaft verschwunden. Die (Bau)Wirtschaft erscheint als entmenschlichtes System bzw. als »Maschine«, die, völlig entfesselt, nur noch sich selbst dient. Mit dem Motiv der »Betonwüste« wird die Stadt als dystopischer Ort geschildert: Sie wird nach der »gewinnbringende[n] Totsanierung«27 zur »City« mit »kahle[n] monotone[n] Hochhausfassaden«.28 Die physischen Eigenschaften des Betons werden dabei metaphorisch aufgeladen. Im Verarbeitungszustand weich, formbar, beinahe flüssig, lässt sich Beton überall einsetzen, ohne besondere Rücksicht auf lokale Gegebenheiten nehmen zu müssen. Das Bild der »Verbetonierung« oder »Zubetonierung«29 der Stadt evoziert damit die Vorstellung eines gigantischen Betonmischers, der seine Ladung über die Stadt ergießt – zurück bleibt eine homogene graue Landschaft bar jeglicher Natur, die »Betonwüste«.30 Ist der Beton einmal fest geworden, weist er eine außerordentliche Härte, Starrheit und Resistenz auf – worauf das oben zitierte Sprachbild der »Zementierung der Machtverhältnisse« abhebt. Im Motiv der einförmigen, erstarrten Betonwüste verdichten sich Assoziationen des Lebensfeindlichen, Gleichförmigen und Industrialisierten. 25 26 27 28 29 30

Stilett, [1979], Nr. 51 (Zürich). Provinz, 1984, Nr. 3 (Bern). Flugblatt »Alle Jahre wieder«, Zürich ca. 1981, Schweizerisches Sozialarchiv Ar. 201.89.7. Provinz, 1984, Nr. 3 (Bern). Z. B. Drahtzieher, 1981, Nr. 4, 10 (Bern); tell, 1981, Nr. 54 (Zürich). Vgl. Adrian Forty : Concrete and Culture. A Material History, London 2012, S. 43ff. Forty bezeichnet Beton als »paradigmatic symbol of modernity« und weist darauf hin, dass der Widerstand gegen Beton immer auch als Widerstand gegen die Moderne zu verstehen sei, vgl. ebd., S. 14–21, zitierte Stelle S. 15.

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Stadtkritik in den Reformbewegungen: Wider das »vernunftlose Durcheinander« Das Motiv der Stadt als dystopische Wüste bildete auch ein zentrales Moment der Stadtkritik der Reformer*innen der Jahrhundertwende, und zwar über die Grenzen der politischen Lager hinweg.31 Der antisemitische Publizist Theodor Fritsch bezeichnete in seinem utopischen Buch »Die Stadt der Zukunft« von 1896 die Städte seiner Gegenwart als »wüste Häuserhaufen«.32 Er zitierte ausführlich aus einer Studie des sozialdemokratischen Soziologen Gustav F. Steffen, der die Großstadt des 19. Jahrhunderts als »einförmige […] meist abstossend hässliche […] Häuserwüste« beschrieben hatte.33 In der verbreiteten Metapher der »Steinwüste«, die etwa der Dichter und Gartenstadt-Anhänger Heinrich Hart oder auch der Heimatschutz-Gründer und spätere Nationalsozialist Paul Schultze-Naumburg um 1900 zur Beschreibung der industrialisierten, rasch wachsenden Städte mit ihren überfüllten Arbeiterquartieren in Blockrandbebauung verwendeten,34 ist die Nähe zur von den linksalternativen Zürcher Aktivist*innen beschworenen »Betonwüste« der 1970er Jahre unüberhörbar. In beiden Fällen wurden mit dem Motiv der Wüste Assoziationen der Monotonie, des ästhetischen Mangels und der Lebensfeindlichkeit aufgerufen. Anstelle der »kaninchenstallhochhäuser« war es um 1900 die »Mietskaserne«,35 in der das Wohnen vor allem des Proletariats rationalisiert und der »nackten kurzsichtigste[n] Selbstsucht und Vorteils-Gier«36 der »Spekulanten und Unternehmer«37

31 Im Punkt der Kritik an den zeitgenössischen Großstädten und der Gartenstadt als potentielle Lösung schien man sich durch die politischen Lager hindurch einig gewesen zu sein und auch keine Berührungsängste gehabt zu haben: So nannte der Sozialist Bernhard Kampffmeyer etwa den völkischen Antisemiten Fritsch als Vorreiter der Gartenstadtbewegung, vgl. Bernhard Kampffmeyer : Die Englische Gartenstadtbewegung, in: Gartenstadt Gesellschaft (Hg.): Die Vermählung von Stadt und Land. Ein soziales Experiment, Berlin 1903, S. 5. Bollerey und Hartmann erwähnen die »parteipolitische Abstinenz« der Gartenstadtbewegung, vgl. dies.: Der neue Alltag in der grünen Stadt. Zur lebensreformerischen Ideologie und Praxis der Gartenstadtbewegung, in: Eckhard Siepmann (Hg.): Kunst und Alltag um 1900 (Werkbund-Archiv Jahrbuch 3), Lahn-Gießen 1978, S. 189–237, hier S. 191. 32 Theodor Fritsch: Die Stadt der Zukunft, Leipzig 1896, S. 4. 33 Gustav F. Steffen: Aus dem modernen England, Leipzig 1895, zitiert in: Fritsch: Stadt (Anm. 32), S. 7. 34 Heinrich Hart: Vorwort, in: Gartenstadt Gesellschaft: Vermählung (Anm. 31), S. 3; SchultzeNaumburg benutzt den Begriff in seinen »Kulturarbeiten« (ders.: Naumburg: Städtebau (Kulturarbeiten 4), München 1906, S. 13). Vgl. Sonja Hnilica: Metaphern für die Stadt. Zur Bedeutung von Denkmodellen in der Architekturtheorie (Architekturen 15), Bielefeld 2012, S. 129. Zur Blockrandbauweise als typischer Bauweise der neuen Arbeiterquartiere im 19. Jahrhundert vgl. Kurz: Disziplinierung (Anm. 7), S. 63. 35 Gartenstadt-Genossenschaft Zürich: Programm, Zürich 1908, S. 4. 36 Fritsch: Stadt (Anm. 32), S. 7.

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unterworfen wurde. Wie in den linksalternativen Zeitschriften der 1970er- und 1980er Jahren verbanden sich die Semantiken des Unbelebten und Monotonen also auch in den Texten der Städtebaureformer38 mit einer Kritik an der industriellen Moderne, in der das Individuelle von der »Masse« bzw. den »grossen Massenmietshäusern«39 verschluckt werde. Für die Reformer war diese Industrialisierung des Lebens in der modernen Stadt untrennbar mit einer »Entfremdung von der Natur«40 verbunden und gerade darum so schädlich. Das entfremdete Leben in der Stadt würde zum Niedergang von »Volksgesundheit« und Sittlichkeit führen, so die in den Reformbewegungen der Jahrhundertwende geteilte Ansicht.41 Hans Kampffmeyer, der bürgerliche Sozialreformer und Gartenstadt-Anhänger, monierte am Vorabend des Ersten Weltkriegs etwa, dass die »alten schönen Handwerksformen« durch die maschinelle Produktion verdrängt würden, die nicht nur die Häuser mit »Dutzendornamenten« verschandele, sondern auch die Wohnungen mit »billigem Flitterkram« und »ornamentüberladene[n] Basarmöbel[n]« anfülle.42 Diese Tendenz manifestierte sich in Kampffmeyers Augen in besonders bedauernswerter Weise in der baukulturellen Epoche seiner Gegenwart, die er als akademische und eklektische Verirrung, als »künstlerische Unkultur« und »tote Formensprache«, die von »fleissige[n] Kunsthistoriker[n] und eifrige[n] Photographen« verbreitet werde, verurteilte.43 Kampffmeyer zielte hier auf die Architektur des Historismus, in der er den Inbegriff aller modernen städtebaulichen Missstände und der »unnatürlichen« städtischen Lebensweise zu erkennen glaubte.44 Die Überwindung dieser mit der modernen Großstadt verbundenen Missstände fiel damit für die Reformer der Jahrhundertwende mit einer Rückführung des modernen Menschen in eine natürliche(re) Existenzweise in eins: »Die so37 Hans Kampffmeyer : Die Gartenstadtbewegung (Aus Natur und Geisteswelt 259), Leipzig 2 1913, S. 92. 38 Wenn ich mich auf die ausschließlich männlichen Autoren der hier besprochenen Texte beziehe, verwende ich die männliche Pluralform. Es waren aber auch Frauen in den Reformbewegungen aktiv und publizierten zur Stadt; ein Überblick findet sich im jüngst erschienenen Sammelband von Katia Frey und Eliana Perotti, vgl. dies. (Hg.): Frauen blicken auf die Stadt. Architektinnen, Planerinnen, Reformerinnen (Theoretikerinnen des Städtebaus 2), Berlin 2019. 39 Kampffmeyer : Gartenstadtbewegung (Anm. 37), S. 2. 40 Otto Möricke: Die Bedeutung der Kleingärten (Schriften des Badischen Landeswohnungsvereins), Karlsruhe 1912, S. 3. 41 Vgl. z. B. Kampffmeyer : Gartenstadtbewegung (Anm. 37), S. 1 oder Fritsch: Stadt (Anm. 32), S. 6. 42 Kampffmeyer : Gartenstadtbewegung (Anm. 37), S. 91, 94. 43 Ebd., S. 91. 44 Daniel Kurz beschreibt diese um 1900 sich rasch durchsetzende Abwertung der historistischen Architektur, vgl. Kurz: Disziplinierung (Anm. 7), S. 93–97.

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ziale Erkenntnis steht heute auf dem Standpunkte, dass sie im Ackerbau und dem Landleben die eigentliche Quelle der nationalen Kraft und Gesundheit erblickt«,45 schrieb Theodor Fritsch 1896. Die zentrale Herausforderung war es also, eine Stadt zu bauen, die keine war – eine »natürliche« Stadt, in der wie auf dem Land gelebt werden konnte. Das durch »blinden Zufall«46 gebildete, »vernunftlose Durcheinander«47 der modernen Großstadt sollte der Kraft einer ordnenden Vernunft unterworfen werden. »Was wäre natürlicher, als dass man eine räumliche Scheidung der Gebäude nach ihrer Bauart und Bestimmung vornähme?«,48 fragte Fritsch rhetorisch. Denn seines Erachtens war es genau die »Ordnungs-Widrigkeit« und »Regellosigkeit« der städtebaulichen Umgebung, welche »den Geist der Unvernunft, der Verwirrung und Zuchtlosigkeit« in den Menschen hervorbringe, während Schönheit und Regelmäßigkeit sich positiv auf »den Menschengeist« auswirkten:49 »In der Wildnis, im Chaos entfachen sich die wildesten und rohesten Triebe, während selbst die Bestie an Ungeberdigkeit [sic] verliert, wo sie sich in den Schranken einer überlegenen ordnenden Gewalt fühlt. Der Geist der Ordnung, die Macht der Harmonie wirkt zähmend auch auf das roheste Gemüt.«50

Für Fritsch war die Vorstellung von Natur und Natürlichkeit also untrennbar mit den Attributen der Vernunft und harmonischen Ordnung verbunden – eine Vorstellung, zu der sowohl die unkultivierte, ungezähmte Natur als Wildnis als auch die chaotische Großstadt, die er als »vernunftlos« und widernatürlich begriff, einen bedrohlichen Kontrapunkt bildeten.51 Eine nach den Prinzipien der Vernunft, Harmonie und Ordnung angelegte Stadt sollte die modernen Menschen von ihrer »Entfremdung von der Natur« in den Großstädten heilen: Vollzogen werde sie in der »Vermählung von Stadt und Land«,52 indem »[d]as Land in die Stadt, die Stadt auf das Land«53 geholt werde – so lautete die Mission

45 46 47 48 49 50

Fritsch: Stadt (Anm. 32), S. 6. Ebd., S. 3. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 7. Ebd. Die Vorstellung eines prägenden Einflusses der Umgebung auf Moral und Charakter war zu Fritschs Zeit sehr populär, vgl. Friedrich Lenger : Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013, S. 134f. 51 Diese Dichotomie, in der die industrialisierte Großstadt mit der Vorstellung der ungebändigten, unzivilisierten Natur oder Wildnis in eins fällt, ist z. B. auch bei Camillo Sitte zu finden, vgl. Hnilica: Metaphern (Anm. 34), S. 104ff. 52 So der Titel einer von der Gartenstadt-Gesellschaft herausgegebenen Broschüre: Vermählung (Anm. 31). 53 Hart: Vorwort (Anm. 34), S. 4.

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der Gartenstadtbewegung, die damit den Begriff der Stadt fundamental umdeutete.54 Dass der »Geist der Ordnung«, der sich bei der Anlage der idealen Gartenstadt ins Werk setzen sollte, jeweils jener des Autors und Planers selbst war, lässt sich aus den Texten der Reformer unschwer herauslesen. So sinnierte etwa Heinrich Hart über die Gartenstadt als Paradies und Ort der Vollkommenheit und fragte rhetorisch, ob es »in der Tat ein so kühner Traum« sei, dass Menschen das vollbringen könnten, »was die Vergangenheit nur den Göttern zuzutrauen wagte«.55 Und Hans Kampffmeyer imaginierte in einer patriarchalen Fantasie die Gartenstadt als einen »jungfräuliche[n] Boden«, deren »grösste[r] Vorteil, […] in dem Fehlen der mannigfachen Widerstände und Reibungsflächen, die das mürrische Gestern dem zukunftsfrohen Heute zu hinterlassen pflegt«, bestehe.56 Die Planer stellten sich eine weiße Fläche vor, auf der sie ihre städtebaulichen Visionen einschreiben konnten. Nicht zufälligerweise ist es daher – wie etwa auf Ebenezer Howards berühmtem Diagramm der Gartenstadt57 – der Blick von oben herab, den sie beim Entwurf der idealen Stadt einnahmen. Die epistemologische Praxis, die sich in diesem »planner’s gaze«58 manifestiert und mit der der eigene Standpunkt entrückt und damit absolut gesetzt wird, bezeichnet Donna Haraway auch als »god trick«.59 Auf dem Höhepunkt des europäischen Imperialismus verschränkte sich in den Schriften der hier diskutierten Reformer das patriarchale Motiv des gottgleichen Städtebauers,60 der die weiblich konnotierte Natur gestaltet und mit seiner »höheren Vernunft« »zähmt« und »ord54 Einen reichhaltigen Überblick über die Geschichte der Gartenstadtidee und ihrer Umsetzung sowie über aktuelle Forschungsdiskussionen bietet der von Thomas Will und Ralph Lindner herausgegebene Sammelband: Gartenstadt. Geschichte und Zukunftsfähigkeit einer Idee, Dresden 2012. In ihrem einleitenden Beitrag besprechen Susanne Jaeger und Gunther Wölfle auch den bisher weitverästelten und zuweilen unübersichtlichen Forschungsstand, vgl. dies.: Von Letchworth bis Canberra. Zur Verbreitung einer Idee, in: ebd., S. 8–23, hier S. 19–21. Ein kürzerer, aber dennoch die wesentlichen Punkte umfassender Einstieg ist bei Lampugnani zu finden, vgl. Vittorio Magnago Lampugnani: Die Stadt im 20. Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes, 2 Bde, Berlin 2010, hier Bd. 1, S. 11–41. Unter dem Aspekt der »Disziplinierung« beleuchtet Daniel Kurz in seiner Studie die Gartenstadt im diskursiven Rahmen des Modernebegriffs und bindet auch die Schweizer Geschichte mit ein, vgl. Kurz: Disziplinierung (Anm. 7), S. 85–138. 55 Ebd., S. 3. 56 Kampffmeyer : Gartenstadtbewegung (Anm. 37), S. 77, vgl. auch ebd. S. 93; ähnliches findet sich auch bei Fritsch: Stadt (Anm. 32), S. 3. 57 Ebenezer Howard: Garden Cities of To-morrow, London 1902, S. 22. 58 Zum »planner’s gaze« und Visualisierungspraktiken in der modernen Stadtplanung vgl. Pendlebury : Visions (Anm. 9), S. 6. 59 Donna Haraway : Situated knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies, 1988, Nr. 14/3, S. 575–599, hier S. 581. 60 Zum Topos vom gottgleichen Architekten und umgekehrt von Gott als Baumeister, vgl. Hnilica: Metaphern (Anm. 34), S. 115–116.

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net«, mit dem Motiv einer tabula rasa, eines »leeren« Landes, als Ort eines Neuanfangs und Vorbedingung der Realisierung einer idealen Stadt. Bei Fritsch als Wegbereiter der völkischen Bewegung und Propagandist des Antisemitismus gestaltete sich diese »harmonische« und »vernünftige Gliederung«61 der Stadt als ständisch-sozialhierarchisches Stufensystem mit entsprechend segregierten Zonen.62 Eine solche »geordnete« Stadt bezeichnete er als »organisches Wesen«.63 Mit dieser zu Fritschs Zeit in bürgerlichen Kreisen beliebten Metapher des Organismus als romantischem Gegenbild zum Industrialismus konnten die Ordnung der Stadt – und damit auch die politischen Machtverhältnisse und sozialräumlichen Hierarchien – als natürlich gegeben dargestellt werden.64 Wie die Natur im Garten gebändigt und geordnet erscheint, sollte in der Gartenstadt die Bevölkerung – das »Volk« – geordnet und gezähmt werden. Den Hintergrund solcher Bestrebungen bildete die Bedrohlichkeit, die in den Augen des Bürgertums von den städtischen Slums der Fabrikarbeiter*innen ausging: In einer Übertragung von Vorstellungen über die »wilden« und »primitiven« Völker in den Kolonien erschienen den Stadtbürger*innen die Behausungen der europäischen Arbeiterschaft als »dunkler Kontinent« im Herzen Europas,65 als Hort von Elend und sittlichem Verfall. Die funktional entmischte Gartenstadt und das nach dem Ideal der bürgerlichen Familie aufgebaute »Kleinhaus«66 sind vor diesem Hintergrund nicht nur als philanthropische sozialreformerische Projekte, sondern auch als Instrumente zur Disziplinierung oder eben »Zähmung« der Arbeiterschaft im Sinne eines social engineering zu lesen.67 61 62 63 64

Fritsch: Stadt (Anm. 32), S. 5. Vgl. ebd., S. 10–11. Ebd., S. 5. Vgl. Bollerey : Alltag (Anm. 30), S. 201; und Hnilica: Metaphern (Anm. 34), S. 53f., 65. Auch Hans Kampffmeyer verwendete die Metapher des Organismus zur Beschreibung der Gartenstadt, vgl. Kampffmeyer : Gartenstadtbewegung (Anm. 37), S. 70. Ferner diente die Organismus-Metapher auch zur Legitimierung drastischer städteplanerischer Eingriffe, wenn etwa »kranke« Teile beseitigt werden sollten, vgl. Hnilica: Metaphern (Anm. 34), S. 81–89; Kurz: Disziplinierung (Anm. 7), S. 163–165. 65 Vgl. z. B. Hnilica: Metaphern (Anm. 34), S. 112. Zur Gleichsetzung der britischen Slums mit Afrika als »dunklem Kontinent« vgl. William Booth: In Darkest England and the way out, London 2004, orig. 1890. 66 Kampffmeyer : Gartenstadtbewegung (Anm. 37), S. 3. 67 Vgl. Kurz: Disziplinierung (Anm. 7), S. 84. Philipp Sarasin hat die planerischen Interventionen in und das neue Sprechen über die Stadt anhand des Hygienediskurses und des Projekts der »Assanierung« der europäischen Städte untersucht (ders: Die moderne Stadt als hygienisches Projekt, in: Vittorio Magnago Lampugnani, Katia Frey, Eliana Perotti: Stadt& Text. Zur Ideengeschichte des Städtebaus im Spiegel theoretischer Schriften seit dem 18. Jahrhundert, Berlin 2011, S. 99–112) und auf den Zusammenhang zwischen dem Hygienediskurs, der Machtposition des städtischen Bürgertums und der Konstruktion der

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Während das Modell der Gartenstadt in seiner Umsetzung als Vorortsiedlung für die Mittelschichten im 20. Jahrhundert weltweit Karriere machte, war es die paternalistische Einschreibung einer bestimmten Lebensform, die bei der alternativen Linken der 1970er und 1980er Jahre auf Ablehnung stieß. Mit den Semantiken des Monotonen, Industrialisierten und Unbelebten griffen sie zur Kritik der »grünen« Vorortssiedlungen auf eben jenes Vokabular zurück, das die städtebaulichen Reformer der Jahrhundertwende zur dystopischen Beschreibung der Städte ihrer Gegenwart verwendet und gegen die sie die Gartenstadt als Heilmittel propagiert hatten.

Ein »herrliches Durcheinander«: alternatives Leben in der Stadt Während also die Reformbewegten die industrialisierte Stadt des 19. Jahrhunderts mit Hilfe der Gartenstadt von der »unvernünftige[n] Engigkeit und Gedrängtheit des Zusammenwohnens«68 befreien wollten, war es eine andere Art von Bedrängtheit, die die linksalternativen AktivistInnen in den 1970er- und 1980er Jahren in den »einengenden«69 Neubauten der Vorortsiedlungen empfanden. Es war der als erstickend und stumpfsinnig beschriebene Alltag in der »betonumwelt« aus Wohnblock, Autobahn und Bürohochhaus und damit eine geistige Enge, auf die ihre Kritik zielte. Gegenüber dieser in den einzwängenden Rechtecken auf dem oben beschriebenen Flugblatt (Abb. 1) verbildlichten starren städtebaulichen Form und die daran geknüpften normierten Lebensentwürfe brachten sie ein Bild der Stadt in Stellung, das gerade die physische Dichte, das gedrängte und chaotische Beisammensein in engen Gassen bejahte. Es ist das »herrliche[…] Durcheinander«,70 wie es eine Zeichnung auf einem Umschlag der Zeitschrift Delirium aus dem Umfeld der Zürcher Achtziger Bewegung zeigte (Abb. 2). Der Blick der Betrachterin richtet sich darauf auf einen Hof oder Platz, der mit einigen Bäumen bepflanzt und von schmalen, aneinandergebauten vierbis fünfgeschossigen Stadthäusern umschlossen ist, die mit Erkern, Türmchen, Ziergiebeln und verkröpften Gesimsen das opulente Formenrepertoire des Historismus zur Schau stellen. Der ganze Hof und die Häuser sind bis auf die Dächer hinauf von einem fröhlichen Gewimmel an Menschen bevölkert, die verschiedenen sozialen oder künstlerischen Tätigkeiten nachgehen oder einfach meditieren, rumliegen oder rauchen. Jenseits dieses Hofes erstrecken sich bis an den Horizont moderne Hochhäuser – eine »Betonwüste« ohne Menschen, der Arbeiterinnen und Arbeiter als »Fremde« hingewiesen (ders.: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt a. M. 2001, S. 190, vgl. ebd. S. 187–211). 68 Fritsch: Stadt (Anm. 32), S. 6. 69 Stilett, 1979, Nr. 51 (Zürich). 70 Stilett, 1980, Nr. 56 (Zürich).

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gegenüber der im Bildvordergrund liegende Hof auf einem Wimpel und einem Straßenschild als »Inselstrasse« ausgewiesen wird. Quer zur fiktiven Inselstraße führt zur Rechten eine Straße aus dem Bild heraus. Gekennzeichnet ist sie als »Rennweg« und verweist – neben dem mitschwingenden Imperativ – damit auf das Einkaufsquartier im Zentrum von Zürich, die Außenwelt der Konsumindustrie, von der sich das mit der Metapher der »Insel« bezeichnete Areal abhebt. Was hier als positiver Gegenpol zur »Lebensfeindlichkeit« und »Monotonie« der »Betonwüste« hervortritt, sind die verspielten Ornamente der historistischen Architektur, Bäume sowie die Dichtheit und Ungeordnetheit des sozialen Miteinanders, in dem niemand einer »entfremdeten« Arbeit nachgehen zu müssen scheint.

Abb. 2: Umschlag Delirium Nr. 2, Zürich 1981 (Stadtarchiv Zürich)

Die Befreiung aus dem »kalten, einengenden neubau«71 im Vorort ist für die alternative Linke also genau in den historistischen »Mietskasernen« und Stadtteilen möglich, die im 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung für die zugewanderte arbeitende Bevölkerung gebaut worden waren und die etwa Hans Kampffmeyer noch als entfremdete und tote Architektur kritisiert hatte. Es seien diese »alten […] Häuser […], die uns so gut gefallen & die wir wollen«,72 71 Stilett, 1979, Nr. 51 (Zürich). 72 Flugblatt »Zürcher Stadtdemontage«, Zürich ca. 1980, Stadtarchiv Zürich, V.L.135: 3.2.

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wie auf einem Flugblatt der Achtziger Bewegung zu lesen war. »Alt« wurde dabei zumeist architekturhistorisch undifferenziert für sämtliche Bauwerke verwendet, die vor dem Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit errichtet worden waren. In einer einfachen Identifizierung von »alt« mit »schön« und der Gegenüberstellung zu »neu« als »hässlich« wurden diese »alten Häuser« gegen die negativ besetzte moderne Architektur der Nachkriegszeit in Stellung gebracht, die sich durch die Verwendung von Beton und Glas als Baumaterialien sowie industriell vorgefertigte Bauelemente auszeichneten.73 Gegenüber diesen als Teil eines entfremdeten industrialisierten Komplexes wahrgenommenen Bauten wurden die Gebäude aus dem 19. Jahrhundert durch die Beschreibung als »alte Häuser« belebt und damit naturalisiert: Die Charakterisierung als »alt« enthob sie den präzisen historischen Zusammenhängen ihrer Entstehung und ordnete sie dem zeitlosen Bereich des schon immer Dagewesenen zu, der Natur. Als scheinbar von selber »gewachsene« Häuser verfügten sie über eine Art »Leben«, die ihren Abriss konsequenterweise als »Mord« erscheinen ließ.74 Diese Bedrohung wurde metonymisch übertragen auf die ganze Stadt als »Lebensraum«,75 der »zubetoniert« werde, und somit zu einer Frage von »Leben oder Tod« für die Zürcher »WG-scene«: »Entweder wir gewinnen wenigstens teilweise oder wir werden zubetoniert.«76

In der postapokalyptischen Wildnis Wie in den Reformbewegungen der Jahrhundertwende war es in den Zeitschriften und Flugblättern der alternativen Linken also eine lebensfreundliche, »natürliche« oder mit der »Natur« im Einklang stehende Form von Stadt, die als Ideal und Gegenbild zu einer monotonen, industrialisierten und »toten« Stadt formuliert wurde. Im Gegensatz zum wohlgeordneten reformerischen »Garten« und dessen ebenso zahmen wie vernünftigen Bewohner*innen schloss die linksalternative Konzeption der Stadt als natürlichem »Lebensraum« an die Vorstellung eines Biotops mit seinem sensiblen ökologischen Gleichgewicht an. Damit bezog sie sich auf ein Bild der »unberührten Natur« als ungezähmter, 73 Diese Gleichungen galten in den 1970er Jahren nicht nur in der alternativen Linken, vgl. Katharina Brichetti: Romantisierende Stadtbilder. Historismus und postmoderner Historismus im Vergleich, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte, 2016, Nr. 2, S. 36–50, hier S. 48. 74 Z. B. Stilett, [1979], Nr. 51 (Zürich); Focus, 1973, Nr. 43 (Zürich). Gebäude, für die Neubaupläne bestanden, wurden als »bedroht« bezeichnet. 75 Z. B. in Brecheisen, 1981, Nr. 1 und 1983, Nr. 3 (Zürich), verschiedene Flugblätter der Zürcher Achtziger Bewegung, Provinz, 1984, Nr. 5 (Bern). 76 Stilett, 1980, Nr. 56 (Zürich).

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menschenferner Wildnis, wie sie im ausgehenden 20. Jahrhundert de facto bereits kaum mehr anzutreffen war. In einer derart imaginierten Wildnis hausten die alternativen Aktivist*innen als »stadtindianer«, als »krieger und eisbärenjäger«:77 Über diese sich selbst ethnisierende Zuordnung zu den aus europäischer Warte wahrgenommenen »Naturvölkern« schrieben die Alternativen sich ebenso in das semantische Feld des Natürlichen, Belebten und daher Schützenswerten ein wie die »alten« Häuser und Stadtteile. Das in der alternativen Szene formulierte Ideal eines »Stadtdschungel[s]«78 funktionierte damit als epistemologische Konstruktion, mit der die historischen Stadtteile mit ihren günstigen Wohnungen und ihrer dichten und durchmischten Urbanität als »natürlich« und damit »gut« ausgewiesen wurden, während die Büroneubauten in der »City« und die »grünen« Vorortsiedlungen als Teile eines entfremdeten, lebensfeindlichen industriellen Komplexes politisch delegitimiert wurden. Mit ihrem Einsatz von Metaphern und Bildern wie Wildnis, Durcheinander und Dschungel propagierte die alternative Szene eine Erfahrung und Deutung von Stadt, die in der Sprache der Planerinnen und Bauunternehmer der Neubausiedlungen und Bürohochhäuser nicht artikulierbar war. Damit verfolgte sie eine sehr ähnliche Strategie wie die Gartenstadtbewegten und Stadtreformer*innen der Jahrhundertwende: Diese hatten, indem sie die Großstadt des 19. Jahrhunderts als lebensfeindliches, widernatürliches und ungesundes Chaos kritisierten, die »vernünftig« geordnete, sozial und funktional gegliederte Gartenstadt als logisches – weil »natürliches« – Gegenbild dazu konstruiert. Darin wurde etwas zuvor Undenkbares als möglich und wirklich vorgestellt: eine Stadt, in der wie auf dem Land gelebt werden konnte. Mit einer vergleichbaren politischen und epistemologischen Konstruktionsleistung formulierten die alternativen AktivistInnen um 1980 mit dem »Dschungel« und dem gefährdeten ökologischen »Lebensraum« eine Vorstellung der Stadt, die jener der reformerischen Gartenstadt diametral entgegenstand. Das Begehren nach Natur erweist sich dabei als integraler Bestandteil des Urbanitätsdiskurses im 20. Jahrhundert, der nicht vorschnell als »stadtfeindlich« klassifiziert werden sollte. Vielmehr ist dies ein Ansatzpunkt für weitere Forschung. Die hier geleistete schlaglichtartige Gegenüberstellung der stadtkritischen Diskurse der Gartenstadtbewegung um 1900 und der alternativen Linken ein Dreivierteljahrhundert später verdeutlicht, wie die Verschiebungen in der Konzeption von »Natur« auf die Entwürfe von »Stadt« zurückwirkten. Die 77 Vgl. Flugblatt »Dämonstration« (Zürich, ca. 1980), Schweizerisches Sozialarchiv Ar.201. 209.6. Die »eisbärenjäger« müssen als Teil des Metaphernkomplexes der Achtziger Bewegung gelesen werden, in dem die Schweiz aufgrund ihres unterkühlten gesellschaftlichen Klimas als vom »Packeis« eingeschlossen beschrieben wird, das die Aktivist*innen »schmelzen« wollten. 78 Provinz, 1984, Nr. 1 (Bern).

Stadtkritik am Anfang und am Ende der städtebaulichen Moderne

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Vorstellung einer zur Stadt gemachten Natur, die die Reformer der Jahrhundertwende mit der Gartenstadt entwarfen, gründete in ihrem Selbstverständnis vom als Herrscher über die Natur. In der alternativen Linken Mitte der 1970er Jahre war dieses Selbstverständnis nicht mehr aktualisierbar : Unter dem Eindruck der Umweltbewegung und der nuklearen Bedrohung des Kalten Krieges drängte sich vielmehr eine Sichtweise auf die Menschen als Widersacher*innen einer fragilen, existentiell bedrohten Natur auf. In dieser Konzeption der Natur als etwas Bedrohtem und Schützenswertem gründet die von der alternativen Linken entworfene Utopie einer zur Natur gewordenen Stadt, in der der Widerspruch zwischen menschlicher Zivilisation und Ökosystem aufgehoben ist. Radikal ausformuliert wurde diese Stadtvision auf dem Umschlag einer Nummer des Stiletts, die im Herbst 1979, nur Wochen bevor der Nato-Doppelbeschluss die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Zentraleuropa festlegte, erschien. Er zeigt eine Zeichnung der Stadt Zürich nach einer Katastrophe: Eine wilde, urwaldhafte Natur hat sich die Stadt größtenteils zurückerobert; Teile der Stadt, darunter das Großmünster mit seinen zwei Türmen als Wahrzeichen von Zürich, sind noch als Ruinen vorhanden. Ein nacktes Paar, das an Darstellungen von Adam und Eva erinnert, scheint fröhlich durch die Wildnis zu streifen. Auf der rechten Bildseite ist auf dem Überrest eines Pfeilers »Parodiese now« zu lesen – ein Hinweis, der die Lesart der Szenerie als Parodie des Paradiesgartens mit Adam und Eva unterstreicht und zugleich unterminiert, verweist er doch auf den kurz zuvor erschienenen Vietnamkriegsfilm »Apocalypse now«. Dieser zeigte Vietnam als Schauplatz eines apokalyptisch anmutenden Krieges, der nicht nur die dortige »paradiesische« Wildnis verwüstete, sondern durch seinen Charakter als Stellvertreterkrieg die Gefahr einer nuklearen Eskalation auf globaler Ebene in sich barg. Paradies und Apokalypse überlagern sich auf dem Stilett-Cover gegenseitig: In einem historischen Moment von No Future, in dem sich die menschliche Zivilisation vollends gegen sich selber gewandt zu haben schien, entwirft dieses Bild eine Vorstellung des Paradieses jenseits der Apokalypse, als posthumane Wildnis, als Natur, vom Menschen als ihrem größten Widersacher befreit. Damit erscheint die nukleare Zerstörung hier als eine Art postmoderner Wiedergänger der Vorstellung einer tabula rasa, die vorgibt, das Versprechen der Utopie doch noch einzulösen.

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Nadine Zberg

Abb. 3: Umschlag Stilett Nr. 52, Zürich 1979 (Schweizerisches Sozialarchiv)

Abbildungsnachweise Abb. 1: Flugblatt »Mehr Wohnungen statt Trakts«, Zürich, ca. 1980, Stadtarchiv Zürich, V.L.135: 3.2. Abb. 2: Umschlag Zeitschrift Delirium, hrsg. v. Verein Pro AJZ, Nr. 2 (Zürich 1981), aus: Stadtarchiv Zürich. Abb. 3: Umschlag Zeitschrift Stilett, Nr. 52 (Zürich 1979), aus: Schweizerisches Sozialarchiv.

Wissenschaftskritik und Wissenschaftsgeschichte

Rosa Eidelpes

Gegenkultur: Zur Rolle der »Primitiven« für die Zivilisationskritik um 1900 und die »alternative Ethnologie« um 1980

Die sogenannte »primitiven Kulturen« waren im Laufe der europäischen Geschichte oft Projektionsfläche der jeweils »eigenen« Kultur und wurden zu Antipoden der Zivilisation und zur Ressource der kulturellen Erneuerung stilisiert.1 Diese Tradition der primitivistischen Kulturkritik schreibt sich bis in den Diskurs der modernen Ethnologie hinein fort: Dabei bestimmt sich das »Eigene« in Relation zum jeweils als »fremd« gedachten Gegenüber. Am Beispiel eines spezifisch deutschen Strangs der ethnologischen Kulturkritik im 20. Jahrhundert werden im Folgenden Kontinuitäten und Brüche in Bezug auf die Funktion der »fremden Kulturen« für die Revision und Transformation des europäischen Selbstverständnisses deutlich gemacht.

Rückkehr der Romantik? Im Mai 1979 polemisierte Hannelore Schlaffer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel »Aufzug der neuen Romantiker« gegen ein von ihr diagnostiziertes, intellektuelles Phänomen: Mithilfe von »Narretei und Aberglaube« und »gerüstet mit Liedern und Drogen« riefen derzeit, so Schlaffer, zahlreiche oppositionelle Intellektuelle zum Angriff auf den vermeintlichen »Wissenschaftsaberglauben«.2 Die seit längerem grassierende »Vernunftkritik«, der sich die abendländische Kulturgeschichte als reine »Elendsgeschichte des Denkens« darstelle, habe sich zu einer fundamentalen Wissenschaftskritik ausgewachsen. Die Selbst- und Seelensuche der postrevolutionären »Alternativen« der 1970er Jahre3 sei im Rückzug ins Phantastische kulminiert. Dieser Trend reiche inzwischen weit über die linksalternative Szene hinaus, manifes1 Vgl. Karl-Heinz Kohl: Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Frankfurt a. M. 1986. 2 Hannelore Schlaffer : Der Aufzug der neuen Romantiker. Jenseits des Realitätsprinzips / Über neue Tendenzen intellektueller Opposition, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 05. 1979. 3 Ebd.

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tiere sich in der auflagenstarken Fantasy-Literatur der sogenannten »HobbitPresse«4 und mache sich zunehmend auch im universitären, geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich bemerkbar : Statt revolutionär auf das Utopische setze die gegenwärtige Studierendengeneration nun auf die Exotik nicht-westlicher Kulturen: »Hand in Hand mit der fiktiven Wiederentdeckung einer prähistorischen Vergangenheit geht, wie in jeder romantischen Bewegung, die der exotischen Ferne.«5 Tatsächlich ist Schlaffer, obwohl ihr Urteil über die Literaturlandschaft der späten 1970er Jahre allzu pauschal ausfällt, in ihrer Beobachtung zuzustimmen: Die Semesterlektüre vieler Studierender umfasste gegen Ende der 1970er Jahre nicht mehr – oder nicht nur – die Werke von Marx oder Adorno bzw. die im Merve-Verlag veröffentlichten Theorien des französischen Poststrukturalismus,6 sondern einen neuen Kanon: Die (größtenteils fiktiven) ethnographischen Berichte des Anthropologen Carlos CastaÇeda, diverse literarische (Selbst-) Auskünfte über die Lebensweisen der amerikanischen Hopi oder der australischen Aborigines,7 Erich Scheurmanns fiktiver Südsee-Reisebericht Papalagi8 oder auch die »poetische Anthropologie« (Helmut Heißenbüttel) des Schriftstellers Hubert Fichte. Solche und viele weitere Titel beriefen sich, zumeist idealisierend, auf die Kultur und das Denken nicht-westlicher bzw. sogenannter »primitiver Kulturen«. Die Grenzen zwischen Tatsachenbericht und Fiktion, Reisebericht und Dichtung sowie zwischen Philosophie und Spiritualität bzw. Esoterik waren dabei oft fließend. Aber auch die im engeren Sinne »wissenschaftliche« Literatur zum selben Themenfeld war beliebt, darunter die Werke des anarchistischen Philosophen Paul Feyerabend, der das »wilde Denken« der Magie als legitime Erkenntnisform verstand9 oder der ethnographische Reisebericht des Ethnologen und Surrealisten Michel Leiris über seine Begegnung mit religiösen Kulten in Nordafrika.10 Und schließlich erlebte auch das Fach Ethnologie eine historische Hochphase. Die Studierendenzahlen, die seit Ende der 1960er Jahre stetig angestiegen waren, explodierten ab Mitte der 1970er Jahre 4 Schlaffer meint damit den Klett-Cotta-Verlag, der u. a. die deutschsprachige Übersetzung der Fantasy-Romane J. R. R. Tolkiens veröffentlichte. 5 Ebd. 6 Vgl. Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie, München 2015, S. 99ff. 7 Vgl. beispielsweise Doug Boyd: Rolling Thunder. Erfahrungen mit einem Schamanen der neuen Indianerbewegung, München 1978, oder Vine Deloria: Nur Stämme werden überleben. Indianische Vorschläge für eine Radikalkur des wildgewordenen Westens, München 1976. Beide Bücher wurden in der Zeitschrift Trickster beworben bzw. besprochen, vgl. Trickster, 1979, Nr. 3, S. 24. 8 Zuerst erschienen 1920 in Buchenbach (Baden), seit den 1950er Jahren zahlreiche Auflagen. 9 Vgl. Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang, Frankfurt a. M. 1976. 10 Vgl. bspw. Hubert Fichte: Xango. Die afroamerikanischen Religionen II. Bahia. Haiti. Trinidad, Frankfurt a. M. 1976; ders.: Petersilie. Die afroamerikanischen Religionen IV: Santo Domingo, Venezuela, Miami, Grenada, Frankfurt a. M. 1980.

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geradezu.11 Die Erwartungen der neuen Generation von Studierenden, von denen viele dem linksalternativen Milieu nahestanden, wurden allerdings von der Realität der in Deutschland fachlich stagnierenden und strukturell verknöcherten Disziplin enttäuscht.12 In der Folge formierte sich an den Rändern der Universität, in expliziter Abgrenzung zum nüchternen Positivismus der Nachkriegsethnologie, eine wissenschafts- und erkenntniskritische »ethnologische Sub- bzw. Gegenkultur«.13 Ihre Protagonistinnen waren auf der Suche nach einer »alternativen Ethnologie«,14 die sich im Rahmen von studentischen »Ethnotreffs«, selbstorganisierten Arbeitsgruppen und selbstgedruckten Zeitschriften im Fanzine-Stil,15 in experimentellen ethnologischen Ausstellungsprojekten,16 Arbeitskreisen zum »Verstehen fremden Denkens«17 oder Carlos-CastaÇedaLesegruppen materialisieren sollte.18

11 1983 konstatierte Hans-Joachim Hug, an westdeutschen Universitäten seien insgesamt 4.000 Studierende im Fach Ethnologie bzw. Volkskunde eingeschrieben, vgl. ders.: Zu viele studieren Völkerkunde. Zum Arbeitsmarkt der Ethnologen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 08. 1983, wiederabgedruckt in: Cargo, 1983/84, Nr. 3, S. 44–46. 12 Vgl. Dieter Haller : Die Suche nach dem Fremden. Geschichte der Ethnologie in der Bundesrepublik 1945–1990, Frankfurt a. M. 2012, S. 1988ff. 13 Vgl. Fritz Kramer : Am Rande der akademischen Anthropologie, in: Trickster, 1989, Nr. 17, S. 56–72, hier: S. 68. Nach Fritz Kramer handelte es sich alles in allem allerdings um eine »Subkultur-Ethnologie, der es nie gelungen ist, in das Machtzentrum der Institute vorzustoßen.« (ebd., S. 68). Diese These muss angesichts der universitären Stellungen, die ehemalige Trickster-Mitarbeiter wie Hermann Amborn, Werner Petermann oder Thomas Hauschild inzwischen bekleiden oder bekleideten, allerdings bezweifelt werden. 14 Vgl. Andrea: Göttingen ’77, in: Trickster, 1978, Nr. 1, S. 47–54, hier S. 51. 15 Die erste Nummer des Züricher Ethno-Bulletin erschien 1975; ebenfalls 1975 die erste Nummer der von Hans Peter Duerr herausgegebenen Zeitschrift Unter dem Pflaster liegt der Strand, die Schwerpunkte waren Schamanismus und anarchistische Erkenntnistheorie. Es folgte die Gründung der Zeitschriften Prokrustes (1977) bzw. Trickster (1978), Cargo (1980) und zahlreiche weiterer, zumeist studentischer und selbstverlegter ethnologischer Informationsblätter bzw. Zeitschriften. Für einen Überblick über (vor allem akademische) Zeitschriftenprojekte vgl. Peter Junge: Ethnologische Zeitschriften. Deutschland – Österreich – Schweiz, Berlin 1987. 16 Vgl. bspw.: Anonym: Die exotische Bilderflut. Zur Ausstellung im VK-Museum Zürich, in: Cargo, 1982, Nr. 1, S. 64–65. Die Ausstellung wurde von Studierenden im Rahmen eines Museologie-Kurses organsiert; der Katalog dazu: Martin Brauen (Hg.): Fremden-Bilder, Zürich 1982. Die Ausstellung »Der große Fluß ertrinkt im Wasser« (1983) beruhte auf einem Konzept von Claus Biegert und Rainer Wittenborn, vgl. Peter Braun: Kraut und Rüben oder : Der Bann des Vegetabilen. Leonore Mau und Hubert Fichte im Feld der deutschen Ethnologie zwischen 1975 und 1985, in: ders. (Hg.): Ethno/Graphie Reiseformen des Wissens, Tübingen 2002, S. 213–242, hier S. 217. 17 Vgl. Sybille: Wo fangen wir an? in: Cargo, 1982, Nr. 1, S. 14. 18 Vgl. Prokrustes, 1977, Nr. 0, S. 28.

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Abb. 1: Erste Ausgabe der Zeitschrift Trickster, März 1978.

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Von diesem »Ethnoboom«19 profitierten insbesondere kleinere Verlage aus dem linksalternativen Milieu wie das Syndikat-Verlagskollektiv in Frankfurt am Main und der Verlag Trikont bzw. Trikont-Dianus in München.20 Sie vermarkteten erfolgreich wissenschaftliche und grenzwissenschaftliche Literatur zum Thema Magie, Hexerei oder »indianischem Schamanismus«.21 Kein Buch ist repräsentativer für das Verschwimmen der Grenzen zwischen akademischer und populärwissenschaftlicher Literatur sowie für die Breitenwirkung, die dem Fach und Diskurs der Ethnologie in dieser Zeit zukam, als Hans Peter Duerrs Bestseller Traumzeit – über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. Duerrs Studie, mit der er sich nach einigen vergeblichen Anläufen schließlich im Fach Philosophie habilitieren konnte, erschien 1978 bei Syndikat und verkaufte sich rasch tausendfach.22 Traumzeit beinhaltete eine fundamentale Kritik an den kulturellen und epistemischen Ausschlussprozessen in der westlichen Zivilisationsgeschichte. Duerr widmete sich am Beispiel der Hexenverfolgung in Europa und der Rolle von Schamanen in nicht-westlichen Gesellschaften kulturellen Grenzgängerfiguren, die zwischen »Zivilisation« und »Wildnis« wandelten und so die kontingente Sphärentrennung zwischen Natur und Kultur in Frage stellten. Solche Figuren, so Duerr, wurden im Laufe der abendländische Kulturgeschichte als »Wildes« und »Primitives« ins »Draußen« der Zivilisation verbannt.23 Nebenbei rekurrierte er mehr oder weniger offen auf seine eigenen Versuche, sich mithilfe von bewusstseinserweiternden Drogen in andere Erfahrungswirklichkeiten zu begeben. Der fast 200 Seiten starke Anmerkungsapparat mit den zahlreichen zitierten Quellen wurde – im Sinne der nichtakademischen, »sinnlichen und lesbaren« Sprache, die zu fördern sich Syndikat auf die Fahnen geschrieben hatte24 – ans Ende des Buches verbannt. 19 Diesen Begriff benutzte Lothar Baier in einem Artikel zum selben Phänomen, vgl. ders.: Von guten Geistern verlassen. Essays von Hans-Jürgen Heinrichs: Die katastrophale Moderne, in: Die Zeit, 08. 11. 1985. 20 Weitere Kleinstverlage, die »ethnologische« Literatur veröffentlichten, waren beispielsweise der B. Heymann-Verlag in Wiesbaden, der Qumran-Verlag in Frankfurt a. M., der KarinKramer-Verlag in Berlin und der Lamuv-Verlag in Bornheim-Merten. 21 So der Titel der Programmreihe, die ab 1980 im Trikont-Dianus-Verlag erschien und Titel wie Magische Gegenwart von Sergius Golowin und das Bildlexikon der Symbole von Joan Hailfax umfasste. Vgl. Christoph Bochinger : »New Age« und moderne Religion: religionswissenschaftliche Analysen, Gütersloh 1994, S. 159–160. 22 Hans Peter Duerr : Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt a. M. 1978. Laut Ulrich Greiner 50.000 Mal, vgl. ders.: »Die Hexen sind unter uns«, in: Die Zeit, 15. 03. 1985. Duerr selbst spricht von über 150.000 verkauften Exemplaren, vgl. Dieter Haller: Interview Hans Peter Duerr, 09. 08. 2009«, [http://www.germananthropology.com/ad ditional-interviews/#D]. 23 Vgl. Duerr : Traumzeit (Anm. 22), S. 19. ff. 24 Vgl. Marina Zimmermann: Die Syndikat Autoren- und Verlagsgesellschaft im Kontext der Mitbestimmungsdebatte des Literaturbetriebs, Magisterarbeit: Johannes Gutenberg-Universität Mainz 2014, S. 80.

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Abb. 2: Verlagswerbung für den Syndikat-Verlag in der Zeitschrift Trickster.

Traumzeit wurde zur Fibel eines ethnophilen Jahrzehnts.25 Das Buch traf den Nerv einer Zeit, in der sich die Kapitalismuskritik der linken Bewegungen zur fundamentalen Zivilisationskritik zuspitzte.26 Duerrs Studie verstand sich aber nicht nur als zivilisations-, sondern auch als wissenschaftskritisches Manifest gegen den raubtierhaften Rationalismus des Westens, der sich letztlich auch noch sein eigenes »Draußen« durch Analysen und Erklärungen intelligibel und einhegbar zu machen versuche.27 Dagegen verwies Duerr auf die Archipele sogenannter »primitiver« Denk- und Lebensformen – den Schamanismus der nordamerikanischen LuiseÇo- und Yaqui-Indigenen beispielsweise –, deren Weltzugänge sich eben nicht restlos analysieren und begreifen ließen.28 Traumzeit stellte aber kein einfaches Plädoyer für ein going native dar, das heißt für die bloße Übernahme der fremden Weltsicht. Die Position, die Duerr dem Ethnologen zudachte, war vielmehr diejenige eines kulturellen und epistemischen Grenzgängers: Der Ethnologe ist bei Duerr das zeitgenössische Pendant zur Hexe und zum Schamanen. Ethnologie zu betreiben, das bedeute, temporäre 25 Reinhold Messner soll das Buch sogar auf seiner Expedition zum K2 mit sich getragen haben, vgl. Rolf Gehlen, Bernd Wolf: Vorwort, in: dies. (Hg.): Der gläserne Zaun. Aufsätze zu Hans Peter Duerrs »Traumzeit«, Frankfurt a. M. 1983, S. 8. 26 Vgl. zum Kontext des »Ethnobooms« auch Braun: Kraut (Anm. 16), S. 216ff. 27 Vgl. Duerr : Traumzeit (Anm. 22), S. 151ff. 28 Vgl. ebd., S. 113.

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Abb. 3: Verlagswerbung für den Trikont-Verlag in der Zeitschrift Trickster.

Expeditionen über die Ränder der eigenen Zivilisation und Alltagswahrnehmung hinaus zu wagen – und bereichert mit Erkenntnissen vor allem über die eigene Gesellschaft zurückzukommen –, denn man könne das »Drinnen« der eigenen Kultur nur verstehen, wenn man auch das »Draußen« mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib erfahren habe: »Und um zu sehen, was es ›zu Hause‹ dreht, wie es dort ›arbeitet‹, müssen wir dorthin gehen, wo der Werwolf umgeht, und es mag sogar sein, daß wir bisweilen mit den Werwölfen heulen müssen, um zu verstehen, wie sie heulen.«29 In Traumzeit zeigten sich die zentralen Momente jener »ethnologischen Subkultur« der späten 1970er und frühen 1980er Jahre: »Ethnologie« war mehr als nur der Name für ein Studienfach oder eine wissenschaftliche Disziplin. Es war der Titel für ein über die Wissenschaft hinausreichendes Projekt, in dessen Mittelpunkt die Suche nach einer neuen, anti-akademischen Form des Wissens stand – nach einem Wissen, das nicht mehr einfach analysierte und kategori29 Ebd., S. 155 (Hervorhebung im Original).

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sierte, sondern zu einem »echten Verstehen« und »Sehen« führen sollte.30 Das Studium nicht-westlicher Kulturen, insbesondere im Rahmen der ethnologischen Feldforschungsreise, wurde außerdem als Weg zu einer ebenso radikalen wie existenziellen Entfremdungserfahrung gedacht:31 Die »Erschütterung«,32 die dabei im Ethnologen oder der Ethnologin selbst hervorgerufen werden sollte, wurde, im Gegensatz zur kapitalistischen »Entfremdung«, als bewusst und absichtsvoll herbeigeführte Selbst-Entfremdung gedacht, die den Boden für eine neue Sinnlichkeit und Sensibilität bereiten sollte.33

Von der fremden zur eigenen »Kultur« Für die Idee der Selbsttransformation durch das Studium fremder Kulturen gab es bereits historische Vorläufer, und Schlaffer hatte recht, wenn sie in diesem Zusammenhang auf die deutsche Romantik verwies.34 Bereits Johann Gottfried Herder betonte die Bedeutung der »Völkerkunde« für die »Volkskunde« als Wissenschaft von der eigenen Kultur.35 In seiner Nachfolge wiesen romantische Strömungen der Völkerkunde eine zentrale Rolle im Prozess der deutschen Identitätsbildung zu.36 Auch die historische »Volks- und Völkerkunde«, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts als akademische Disziplin herausbildete, knüpfte an die Tradition des Kulturvergleichs an. Im Jahr 1858 verkündet Wilhelm Heinrich Riehl, der heute oft als Gründer der wissenschaftlichen Volkskunde genannt 30 Vgl. ebd., S. 151ff. 31 Stärker noch als Duerr hob Fritz Kramer die Bedeutung der empirischen Feldforschungsund Fremderfahrung gegenüber der »imaginären Ethnologie« der Lehnstuhlethnologen hervor, vgl. Fritz Kramer : Verkehrte Welten: zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1977. 32 Vgl. Duerr : Traumzeit (Anm. 22), S. 151. 33 In diesem Sinne war »Ethnologie« in den 1970er Jahren in gewissem Sinne auch die Wiederaufnahme des avantgardistischen Projekts, Kunst (bzw. Wissenschaft) mit »Leben« zu verbinden (vgl. Peter Bürger : Studien zum französischen Surrealismus, Frankfurt a. M. 1996, S. 17 ff). Auch Thomas Hauschild betont im Rückblick, dass im Umfeld der ethnologischen Subkultur der 1970er Jahre die verzögerte Rezeption einer vom Surrealismus geprägten Strömung der französischen Ethnologie eine große Rolle spielte; vgl. Thomas Hauschild: »Dem lebendigen Geist«. Warum die Geschichte der Völkerkunde im »Dritten Reich« auch für Nichtethnologen von Interesse sein kann«, in: ders. (Hg.): Lebenslust und Fremdenfurcht. Ethnologie im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1995, S. 13–62, hier S. 39. 34 Hans Peter Duerr bekannte sich, auf Schlaffers Kritik angesprochen, freimütig zur romantischen Tradition: »Diese Welt, in der wir leben, fordert ja […] heraus, so etwas wie ein Romantiker zu werden, womit ich einen Menschen meine, dem ein von Wissenschaft und Technik kastriertes Leben nicht genügt.« Hans Peter Duerr : Romantische Ethnologie. Ein Interview (1979), in: ders.: Satyricon. Essays und Interviews, Frankfurt a. M. 1985, S. 101–121, hier S. 119. 35 Vgl. Johann Gottfried von Herder : Von deutscher Art und Kunst, Hamburg 1773. 36 Vgl. Wolfgang Kaschuba: Einführung in die Europäische Ethnologie, München 2012, S. 20ff.

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wird, diese habe das Bewusstsein für die Besonderheiten der »Heimat« durch das Studium der Fremde zum Ziel: »Nur wer in der Fremde gewesen ist, vermag die Heimath objectiv zu erfassen und zu schildern (…) und der ächte Volksforscher reist, nicht blos um das zu schildern, was draußen ist, sondern vielmehr um die rechte Sehweite für die Zustände seiner Heimath zu gewinnen.«37 Der »Völkerkunde« bzw. ihrer Nachfolgewissenschaft, der Ethnologie als »Wissenschaft vom kulturell Fremden«,38 war immer auch die Vorstellung immanent, über das Studium der fremden Kulturen vergleichend zum Wesen der eigenen zu gelangen.39 Als der moderne Fortschrittsoptimismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die Krise geriet, wurde nicht-europäischen, nicht-industrialisierten und scheinbar nicht-zivilisierten Kulturen noch eine zusätzliche Bedeutung beigemessen: »Kultur« wurde nun zum Gegenbegriff zur »Zivilisation« und die »primitiven« Kulturen zum Ideal unverfälschter Natürlichkeit.40 Lebensreformer und Anhänger der Jugendbewegung, die den Lebensstil im deutschen Kaiserreich kritisierten, verwiesen insbesondere auf (Deutsch-)Afrika als utopischen Ort für einen zivilisatorischen Neubeginn.41 So wurde beispielsweise in den Schriften Hans Paasches, der der Wandervogelbewegung nahestand,42 die scheinbare »Wildnis« Afrikas zum Gegenpol der heruntergekommenen euro-

37 Wilhelm Heinrich Riehl: Die Volkskunde als Wissenschaft, mit einem Verlagsbericht »12 Jahre Arbeit für die deutsche Volkskunde« und einem Anhang »Der Wilhelm-HeinrichRiehl-Preis der Deutschen Volkskunde«, Berlin 1935. 38 Vgl. Karlheinz Kohl: Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung, München 1993. 39 Maria Stavrinaki kritisiert in diesem Zusammenhang: »Seit seinen ersten Regungen bei Herder und dann in der Romantik diente der ›Primitive‹ dazu, die Partikularitäten einer Kultur, einer Nation oder eines Stammes gegen die Herrschaft des (französischen) Universalismus zu verteidigen«; Maria Stavrinaki: Warum haben sich die 1930er Jahre mit der Steinzeit identifiziert, in: Anselm Franke, Tom Holert (Hg.): Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart [1930], Berlin 2018, S. 84–92, hier S. 90. 40 Auch die historische »Völkerkunde« beschränkte sich nicht auf die Beschreibung, sondern stellte die »Ursprünglichkeit« des »Primitiven« der Industrialisierung und Modernisierung als Kontrastbild entgegen. Sie trug so nicht unwesentlich dazu bei, den Bezugsrahmen für diese Zivilisationskritik bereitzustellen; vgl. Suzanne Marchand: Leo Frobenius and the Revolt against the West, in: Journal of Contemporary History, 1997, Nr. 32/2, S. 153–170, hier S. 154. 41 Vgl. Jürgen Reulecke: »Des Kaisers neue Völker«. Zu diesem Band und seinem Schwerpunktthema, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2005, Nr. 2, S. 12–19, hier S. 12f. Vgl. auch die exemplarische Studie von Catherine Repussard: Lebensreform im Schatten des Kilimandscharo. Freiland von Theodor Hertzka (1890), in: dies., Marc Cluet (Hg.): »Lebensreform«. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht, Tübingen 2013, S. 267–281. 42 Vgl. Winfried Mogge: »Lukanga Mukara wiederendeckt«, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1984/85, Nr. 15, S. 455–459.

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päischen Zivilisation.43 In seinem Briefroman Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland,44 wies Paasche einem Afrikaner die Rolle des Ethnographen und kritischen Beobachters der Missstände im deutschen Kaiserreich zu. Im traditionsreichen Genre der Lettres Persanes werden die scheinbar »primitiven« Afrikaner den Europäern als kultivierte und weise Kritiker der westlichen Zivilisation gegenübergestellt.45 Die Afrikanerinnen selbst bleiben dabei allerdings fiktive Figuren, eine Phantasie ihres Autors, der sie in erster Linie als Zeugen für seine Anklage gegen die westliche Lebensweise heranzieht. Dagegen waren die ethnologischen Studien von Leo Frobenius – Paasches Zeitgenosse und Kompagnon in der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte sowie Gründer des ersten außerakademischen ethnologischen Forschungsinstituts in Deutschland – tatsächlich um die Erforschung und Beschreibung des afrikanischen Kontinents bemüht, wenngleich seine Thesen heute überwiegend widerlegt sind.46 Wie für Hans Paasche hatte auch für Frobenius Afrika in Bezug auf Deutschland eine Spiegelfunktion. Frobenius ging von der Existenz einer ewigen »Kulturseele« aus und fasste Kulturen als Organismen, die von einem zyklischen Werden und Vergehen bestimmt sind.47 Mit seiner Theorie der »Kulturkreislehre«, die er später unter dem Eindruck Oswald Spenglers zur »Kulturmorphologie« weiterentwickelte, blieb Frobenius zwar eine Ausnahmegestalt im evolutionistischen Diskurs seiner Zeit. Er begründete mit der Kulturmorphologie allerdings eine moderne Variante der kulturkritischen Ethnologie bzw. ethnologischen Selbstkritik, die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fortwirkte. Von seinen Forschungsreisen in Afrika, so formulierte Frobenius rückblickend, sei er »hoffnungslos-traurig aus den Ländern des Glücks wieder[gekehrt] 43 Vgl. bspw. Hans Pasche: Die Wildnis (1916), in: ders.: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland (zuerst 1927), Bremen 1984, S. 85–88. 44 Vgl. Paasche: Forschungsreise (Anm. 43). Laut Winfried Mogge wurde der Roman nach seiner erneuten Veröffentlichung nach dem Tod Paasches zum »Kultbüchlein« der Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg; vgl. Mogge: Lukanga (Anm. 42), S. 456. 45 Der Forschungsreisende Lukanga Mukara ist Bürger des fiktiven afrikanischen Landes Kitara und erstattet seinem König Bericht zur Frage, ob die europäischen Länder wirklich fortschrittlich sind. Das Urteil fällt durchweg negativ aus: Die Industrialisierung verpeste die Luft und schädige die Umwelt, die unmenschlichen Arbeitsbedingungen beuten die Menschen aus, die Frauen seien unterdrückt, die Kleidung schnüre den Körper ein, der Alkoholkonsum schädige die Gesundheit, die Wissenschaft verdumme das Volk usw. Einzig positiv ist Lukanga Mukaras Begegnung mit den Wandervögeln auf dem Hohen Meißer. In ihrer natürlichen Lebensweise erkennt er die Zukunft eines kulturell erneuerten Deutschlands; vgl. Paasche: Forschungsreise (Anm. 43). S. 79ff. 46 Vgl. zur »Wissenschaftlichkeit« Frobenius’ kritisch DeWitt Clinton Durham: Leo Frobenius and the Reorientation of German Ethnology, 1890–1930, Univ. Diss., Stanford University 1985. 47 Vgl. Leo Frobenius: Paideuma. Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre, München 1921, S. 11f.

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in die des Jammers, mit ihrer bis zum Stumpfsinn verkümmerten Disziplin, […] und ihrer in Schematismus verknöcherten ›Wissenschaft‹«.48 In Bezug auf Afrika unterschied er dabei zwischen zwei »Urkulturen«: Die dem Zweckdenken verhaftete »hamitische Kultur« der Sahara und die mystische, sinnsuchende »äthiopische Kultur« der Waldregionen. Frobenius bezog sich positiv auf Schwarzafrika, das er dem »äthiopischen« Kulturkreis zuschlug: Schwarzafrika sei kreativ und kulturell eigenständig – und damit der deutschen »Kulturseele« verwandt.49 Weil die Kulturkreise weder an ihre menschlichen Träger noch an einen Erdteil gebunden seien, könnten sich kulturelle »Seelenverwandtschaften« auch über die Kontinente hinweg ergeben. Gerade diese Verwandtschaften erlaubten es Frobenius, Afrika immer im Verhältnis zur eigenen, deutschen Gegenwart zu denken, deren kultureller Ermüdung er die kindliche »Naivität«, »Lebenskraft« und »Seelenfähigkeit« der Afrikanerinnen gegenüberstellte.50 Frobenius profitierte vom Kolonialsystem des deutschen Kaiserreichs, das seine Forschungsreisen ideologisch und finanziell förderte, und stützte mit seinen Forschungen den Kolonialismus.51 Seine Theorie der Kultur, die von der Idee der »Rasse« unabhängig ist, stand später zwar in einem gewissen Spannungsverhältnis zur nationalsozialistischen Rassenlehre, dennoch kollaborierte Frobenius bereitwillig mit dem Regime und ließ sich seine Sammlung finanzieren.52 Es ist deshalb weniger überraschend, als es auf den ersten Blick scheinen mag, dass seine zwölfbändige Schriftenreihe mit dem Titel Atlantis: die Volksmärchen und Volksdichtungen Afrikas zwischen 1921 und 1928 im völkerkundlichen Verlag des deutschnationalen Lebensreformers Eugen Diederichs erschien.53 Atlantis widmete sich zwar den kulturellen Ausdrucksformen des gleichnamigen mystischen Kontinents, der Frobenius als Ursprungskultur des westafrikanischen »Kulturkreises« galt. Der Kern von Diederichs Programm konzentrierte sich aber auf die Schaffung und Stärkung einer nationalen deut48 Vgl. ders.: Atlantis. Volksmärchen und Volksdichtungen Afrikas, Bd. 1: Volksmärchen der Kabylen, Jena 1921, S. II. 49 Vgl. ders.: Schicksalskunde im Sinne des Kulturwerdens, Leipzig 1932, S. 109. 50 Vgl. ders.: Atlantis (Anm. 48), S. 1. 51 Vgl. zu Frobenius’ Expeditionen Bernhard Streck: Leo Frobenius. Afrikaforscher, Ethnologe, Abenteurer, Frankfurt a. M. 2014, S. 25ff. 52 Vgl. Hans Fischer : Völkerkunde im Nationalsozialismus. Aspekte der Anpassung, Affinität und Behauptung einer wissenschaftlichen Disziplin, Berlin u. a. 1990, S. 85f. 53 Vgl. Christina Niem: Eugen Diederichs und die Volkskunde. Ein Verleger und seine Bedeutung für die Wissenschaftsentwicklung, Münster u. a. 2015, S. 159ff. und dies.: Zum Engagement des Verlegers Eugen Diederichs: Volkskunde, Jugendbewegung und Körperkultur, in: Karl Braun, Felix Linzer, John Khairi-Taraki (Hg.): Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer ›Aufrüstung‹ (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 13j2017), Göttingen 2017, S. 123–138. Diederichs förderte die Entwicklung des Fachs »Volkskunde« zudem durch die Finanzierung eines Lehrauftrags in Jena, vgl. ebd., S. 127.

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schen Kultur durch die Förderung von Literatur mit »Volksdichtungen«, Märchen- und Sagenbände und die Kompilierung von bisher schriftlosem, deutschen »Kulturgut«: »Einer Zeit, die noch keine ihr eigene Kultur hat […] und ihrer noch dringend bedarf«, sollte so »der Spiegel älterer Epochen deutschen Wesens entgegengehalten« werden.54 Doch Frobenius lieferte mit seinen Studien zur (ebenfalls schriftlosen) untergegangenen Schönheit der afrikanischen »Urkultur« nicht nur ein mögliches Vorbild für eine zukünftige deutsche Kulturgeschichte. In ihren afrikanischen »Seelenverwandten« konnten seine kulturkritischen Zeitgenossen zudem sich selbst und ihr »Kulturschicksal« wie in einem Spiegel betrachten. Frobenius’ Werk hatte darüber hinaus eine wissenschafts- und rationalitätskritische Dimension: Der »technischen Verstandesarbeit« und dem »verknöcherten Verstand« der Europäerinnen stellte er die »intuitive Weltanschauung«55 der Afrikaner gegenüber, ihre »Unmittelbarkeit« und ihren »Instinkt«, der den Deutschen im Laufe der Zivilisationsgeschichte abhanden gekommen sei.56 Mit seinen eigenen Forschungen wollte Frobenius dem »Gefühl« gegenüber dem »Verstand« wieder zu seinem Recht verhelfen: Er setzte auf »Ergriffenheit« und »Einfühlung«, mit deren Hilfe die »Ganzheit« oder »Einheit« der fremden Kultur intuitiv erfasst werden sollte.57 Der Ethnologe selbst verfügte bei Frobenius über geradezu zukunftsweisende, sinnliche Fähigkeit: Er hat, im Gegensatz zur verkümmerten Sensitivität der meisten Europäer und wie die von Frobenius idealisierten Afrikanerinnen, wieder »Augen […] zum Erkennen, Ohren zum Erlauschen und Fingerspitzen zu wirklichem Fühlen«.58 Er ist, so suggeriert Frobenius, ein »Sehender«, der wahrnimmt, »was bei uns nicht nur durch Gewohnheit, sondern auch durch massenhaftes Wissen und durch Krankhaftes Nur-Anerkennen von ›Tatsachen‹ überdeckt oder verschüttet ist […].«59 54 Zitiert nach Niem: Engagement (Anm. 53), S. 125–126. Diederichs bemühte sich, Frobenius’ Werk in sein Programm einzupassen und spekulierte dabei sogar in der Verlagsankündigung über kulturelle Verwandtschaften zwischen der »afrikanisch-atlantischen« Kultur und der Kultur der »deutschen Urzeit«, vgl. Niem: Diederichs (Anm. 53), S. 163. 55 Das Gegensatzpaar lautet bei Frobenius »mechanistisch« vs. »intuitiv«: Die »mechanistische« Weltauffassung suche die einzelnen Vorgänge und Erscheinungen durch Gesetze zu erfassen, die »intuitive« Weltanschauung »begnügt sich damit, die bedeutsamen Phänomene zu finden […]«. Vgl. Frobenius: Paideuma (Anm. 47), S. 7. 56 Damit korrespondiert die lebensreformerische Kritik am »blutleeren Intellektualismus« und der »utilitaristischen Fortschrittsgläubigkeit«, vgl. Walter Laqueur : Die deutsche Jugendbewegung. Eine Historische Studie. Studienausgabe, Köln 1978, S. 256. 57 Antonio Roselli weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass »Ergriffenheit« im frühen 19. Jahrhundert noch eine ästhetische Kategorie war, vgl. ders.: »Ergriffenheit« als Medium und Gegenstand der Kulturkritik bei Leo Frobenius und Ernesto De Martino«, in: Kultursoziologie, 2017, Nr. 1, S. 51–75, hier S. 54. 58 Vgl. Frobenius: Paideuma (Anm. 47), S. 17. 59 Vgl. ebd.

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»Alternative Ethnologie« oder ethnologische Avantgarde? Es lassen sich zahlreiche Parallelen zwischen der Kulturkritik der Jahrhundertwende und derjenigen der »Alternativen« der 1970er Jahre benennen.60 In Bezug auf die diskutierte ethnologische Variante sind sowohl Kontinuitäten als auch Brüche erkennbar : Wie die Lebensreform am Anfang des 20. Jahrhunderts, so griff auch die Alternativszene in den 1970er Jahren bei der Suche nach »authentischen« Lebensformen auf nicht-westliche, sogenannte »primitive« »Kulturen« zurück.61 Bücher wie Scheurmanns Papalagi62 oder Paasches Forschungsreise wurden wiederentdeckt, neu aufgelegt und zu Kultbüchern.63 Im wissenschaftsnahen Umfeld der »ethnologischen Subkultur« erlebte zudem die Kulturmorphologie eine erneute Rezeption.64 Frobenius’ Lehre wurde nach 1945 an bundesdeutschen ethnologischen Instituten zwar noch unterrichtet, galt aber spätestens seit den 1960er Jahren als »spekulativ, romantisch und unwissenschaftlich« und verlor im Fachdiskurs zunehmend an Bedeutung.65 Dass die Kulturmorphologie die ästhetischen und kulturellen Ausdrucksformen von Gesellschaften in den Mittelpunkt stellte, machte sie aber umso attraktiver für die linksalternative Szene, deren Fokus sich zunehmend von der ökonomischen auf die soziokulturelle »Entfremdung« und damit in die Sphäre der »Kultur« verlagerte.66 60 Vgl. dazu die anderen Beiträge in diesem Band. 61 Vgl. Sven Reichardt, Detlef Siegfried: Das alternative Milieu. Konturen einer Lebensform, in: dies. (Hg.): Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010, S. 9–24, hier 18. Zum Authentizitätsideal des alternativen Milieus vgl. Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014. 62 Vgl. Horst Cain: »Tuiavi’is Papalagi« in: Hans Peter Duerr (Hg.): Authentizität und Betrug in der Ethnologie, Frankfurt a. M. 1987, S. 252–270. 63 Vgl. Peter Morris-Keitel: »Umwertung aller Werte!«. Hans Paasches »Lukanga Mukara« neu gelesen, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1988–1992, Nr. 17, S. 163–176, hier S. 164. In der Ausgabe des Berliner Klaus Bär-Verlags wurde Paasches Buch nun mit dem zusätzlichen Untertitel versehen: »Eine Kritik der europäischen Kultur, verfaßt von einem Exoten«. In der im alternativen Packpapier-Verlag publizierten Ausgabe wurde der Roman als »Kulturkritik an Deutschland« beworben. Erich Scheurmanns Südsee-Reisebericht »Papalagi« galt als Paasche-Plagiat. Vgl. Mogge: Lukanga (Anm. 42), S. 456. 64 U. a. durch Hans Peter Duerr, Eike Haberland, Bernhard Streck; vgl. dazu Haller : Suche (Anm. 12), S. 256ff. 65 Vgl. ebd., S. 57. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte der Kulturmorphologie auch Fritz Kramer : Einfühlung. Überlegungen zur Geschichte der Ethnologie im präfaschistischen Deutschland, in: Hauschild: Lebenslust (Anm. 33), S. 85–102. 66 Vgl. Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Frankfurt a. M. 2006, S. 441ff. Zum Spannungsfeld des Kulturbegriffs im Frankfurt der 1970er Jahre vgl. Wolfgang Schivelbusch: Intellektuellendämmerung. Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den zwanziger Jahren, Frankfurt a.

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Darüber hinaus hallte in den Diskussionen über eine »alternative Ethnologie« das Echo von Frobenius’ Rationalitäts- und Wissenschaftskritik nach. In der »ethnologischen Subkultur« wurde nicht nur die wissenschaftliche Rationalität, sondern auch der dialektische Modus der marxistischen Kritik abgelehnt.67 Stattdessen diskutierte man über die Möglichkeit von subjektiven und »sinnlichen« Erkenntniszugängen. So formulierten die Herausgeberinnen der Zeitschrift Prokrustes in Abwandlung eines Marx-Zitats: »Der Hauptmangel aller bisherigen Wissenschaft (den Marxismus-Leninismus eingeschlossen) ist, daß der Gegenstand die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich-menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv.«68 Auch bei Hans Peter Duerr trat, wie bereits ausgeführt, die sinnliche Wahrnehmung – das »Sehen« – an die Stelle des »Verstehens«, Analysierens und Interpretierens.69 Und in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Trickster berichtete eine »Gabi« über die Gründe für ihren Studienabbruch: »Die Wissenschaftler behaupten dauernd, daß sie Wirklichkeit überhaupt untersuchen und erfassen. Inzwischen kann ich darüber nur noch lachen und die armen Irren bedauern, […] meine Lehrmeister werden nicht mehr blutleere Bücherwürmer sein, deren Fäden zum Leben und Erleben längst gekappt sind.«70 Der »blutleeren« Wissenschaft wurde die »lebendige« Erfahrung der ethnologischen Forschungsreise und ihre transformative Kraft entgegengestellt. Bereits bei Frobenius hatte die Begegnung mit fremden Kulturen eine in anthropologischer Hinsicht geradezu avantgardistische Dimension. In der »Ergriffenheit« vom »Wesen der Erscheinungen« konnte sich der europäische Ethnologe in seiner natürlichen Leiblichkeit neu erfahren.71 Dieser empathische Bezug auf den Ethnologen als »neuen Menschen« mit verstärkter Fähigkeit zur

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M. 1982, S. 19 ff, sowie Bernhard Streck: Entfremdete Gestalt. Die Konstruktion von Kultur in den zwei Frankfurter Denkschulen, in: Hauschild: Lebenslust (Anm. 33), S. 103–120. Vgl. Kristina Muenzenmaier: Brief Review. Hans Peter Duerr, Traumzeit – Uber die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation (Dreamtime: On the border of savagery and civilization), in: Dialectical Anthropology, 1983, Nr. 7/4, S. 329–332, hier S. 332. Vgl. Prokrustes, 1977, Nr. 0, S. 12. Vgl. Duerr : Traumzeit (Anm. 22), S. 157. Gabi: warum ich gegangen bin, in: Trickster, 1978, Nr. 1, S. 61–68, hier S. 67. Der Ethnologe Hans Fischer warnte 1987 in diesem Zusammenhang vor der Wiederkehr eines (präfaschistischen) »Jahrhundertwende-Irrationalismus«; vgl. Fischer : Völkerkunde (Anm. 52), S. 103. Stärker als die Tendenz zum Aussteigertum war aber in der »ethnologischen Subkultur« die Tendenz verbreitet, wissenschaftliche Rationalität nicht völlig aufzugeben, sondern – siehe Duerr – eher nach Grenzgängerformaten zwischen going native und wissenschaftlicher Beobachtung zu suchen. Vgl. Leo Frobenius: Die Kulturgeschichte Afrikas (1933), Frankfurt a. M. 1993, S. 25ff. Vgl. kritisch zu Frobenius und seiner Wiederentdeckung in den 1970er Jahren Thea Büttner, Lutz Gentsch: Leo Frobenius (1873–1938) – Leistungen und Irrwege eines bürgerlichen Afrikaforschers und spätkapitalistischen Kulturphilosophen«, in: Asien, Afrika, Lateinamerika, 1979, Nr. 7/2, S. 296–308, hier S. 304.

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»Einfühlung« kehrte in den 1970er Jahren in radikalisierter Form wieder. Ziel war nun allerdings nicht mehr die Erneuerung der deutschen »Volksseele« – sondern die Transformation des eigenen »Ichs«. Dieses »Ich« wurde zunächst als problematisches, kapitalistisch entfremdetes Subjekt gedacht, das einer umfassenden Transformation bedurfte. »Ich ist ein Skandal«, so drückte es der Ethnologe und Kleinstverleger Hans-Jürgen Heinrichs aus und wendete sich damit nicht nur gegen Subjektvorstellungen, die von festen Subjektgrenzen und eindeutigen, kulturellen Identitäten ausgehen, sondern auch gegen die dominanten »Systeme der Vernunft und Ratio, der Technik und Technologie […] innerhalb derer Wirklichkeit gar nicht verstehbar ist.«.72 Dagegen gelte es für das zukünftige (ethnologische) Ich, »über die Reflexion hinauszugehen, in die Dimension der Phantasie, des Entwurfs, der Vision vorzudringen und sich zu sensiblisieren für alle gedanklichen, emotionalen und physikalischen Veränderungen in der Welt«.73 Mehr als ein wissenschaftliches Unternehmen im eigentlichen Sinne erweist sich das Projekt einer »alternativen Ethnologie« deshalb im Rückblick als Teil der Suche nach einer neuen Subjektivität und Sensibilität, wie sie die 1970er Jahre kennzeichnete.74 Ethnologie zu betreiben bedeutete für viele »alternative« Ethnologen jener Zeit, an ihrer eigenen Selbstbefreiung zu arbeiten, das heißt an der Befreiung von westlichen Welt- und Selbstverhältnissen und an der Infragestellung der eigenen, westlichen Subjektivität. Die kulturelle Fremdbegegnung im Rahmen der ethnologischen Feldforschungsreise wurde gewissermaßen als Werkzeug zur Subjektmodellierung gedacht.75 In diesem Sinne lässt sich das Projekt einer »alternative Ethnologie« auch als kulturelle Dimension der in den 1970er Jahren so wichtigen Beschäftigung mit »Beziehungsformen« deuten und als Ausdruck des zeitgenössischen »Erfahrungshungers« nach einem epistemisch nicht-fixierbaren »ganz Anderen«.76 Den Kern eines solches Projekts

72 Vgl. Hans-Jürgen Heinrichs: Erzählte Welt. Lesarten der Wirklichkeit in Geschichte, Kunst und Wissenschaft, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 16. 73 Ebd. 74 Vgl. den programmatischen Aufsatz von Herbert Marcuse: Die neue Sensibilität, in: ders.: Versuch über die Befreiung, Frankfurt a. M. 1969, S. 43–76. Hubert Fichtes Titel für sein mehrbändiges, literarisch-ethnographisches Großprojekt lautete »Die Geschichte der Empfindlichkeit«. 75 Ähnlich konstatiert Ulla Biernat, das Reisen sei in den 1970er Jahren Teil einer »Versuchsanordnung zwischen dem Selbst und dem Anderen« gewesen. Vgl. Ulla Biernat: Ich bin nicht der erste Fremde hier: Zur deutschsprachigen Reiseliteratur nach 1945, Würzburg 2004, S. 103. Vgl. zu Figuren der Subjektivierung in den 1970er Jahren auch: Maik Tändler : Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren, Göttingen 2016. 76 Vgl. Michael Rutschky : Erfahrungshunger. Ein Essay über die 1970er Jahre, Köln 1980, S. 48.

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bildete weniger wissenschaftliche Erkenntnis, als vielmehr die Arbeit am eigenen Innenleben.77 Trotz dieses Plädoyers für die empirische Begegnung mit dem »Anderen« materialisierte sich, das hatte bereits Schlaffer erkannt, die »alternative Ethnologie« zunächst vor allem im Medium der Schrift, nämlich in den Texten der diversen Ethno-Zines und Publikationen der linken Kleinstverlage. Und auf dieser Ebene sticht das Experimentieren mit neuen Darstellungsformen hervor: An die Stelle der nüchternen, ethnologischen Forschung trat der subjektive und selbstreflexive Erfahrungsbericht bzw. die literarische und künstlerische Ethnographie,78 an die Stelle der ethnologischen Analyse die »Ethnopoesie« oder auch die Bild-TextCollage.79 In diesen neuen Ausdrucksformen zeigte sich, dass »Kultur« im Umfeld der »ethnologischen Subkultur« nicht mehr als die »Lebenssubstanz« verstanden wurde, die noch Frobenius in ihr gesehen hatte. Das Interesse galt nun vielmehr kulturellen Elementen und Fragmenten, die zu neuen Konstellationen montiert werden konnten, um trans-kulturelle Wahlverwandtschaften aufzuzeigen oder herzustellen. So brachte beispielsweise »Thomas« in der Zeitschrift Trickster den Starkult im Rock’n’Roll und die Verehrung aztekischer Götter miteinander in Verbindung und berichtete: »Wir hatten fremde Glaubensformen auf unsere Phantasie wirken lassen und die hatte sofort verdrängte […] und halbverdrängte (Rock) Parallelformen nach ›oben‹ geschwemmt. Wir hatten die Grenze zu einer fremden Kultur begonnen zu überschreiten […].«80 Ethnologie wird hier also zu einem Werkzeug der (popkulturellen) Selbsttransformation. Man mag diese Auswüchse der »ethnologischen Subkultur« mit einem Ausdruck von Fritz Kramer als »imaginäre« Ethnologie kritisieren,81 mit Schlaffer als neoromantische Phantastik – oder gar als (neokoloniale) Aneignung von Versatzstücken aus »fremden Kulturen«, denn den Angehörigen dieser Kulturen kam in den wenigsten Fällen eine eigene Stimme zu.82 Festhalten lässt sich in 77 Deshalb kritisierte Hannelore Schlaffer in ihrem Artikel die Haltung der »neuen Romantiker« als – gemessen am Politikverständnis der 1960er Jahre – unpolitisch und einzig auf das »individuelle Glück« konzentriert; vgl. Schlaffer : Aufzug (Anm. 2). 78 Der von Hans-Jürgen Heinrichs 1980 gegründete, kurzfristig sehr populäre Qumran-Verlag, in dem auch einige Schriften von Hubert Fichte erschienen, verstand sich in diesem Sinne als Verlag für »Kunst und Ethnologie«. 79 Vgl. bspw. Gary Snyder: Wie sich Ethnopoesie verwirklichen läßt, in: Trickster, 1982, Nr. 9/ 10, S. 16–23. 80 Thomas: Die Rock’n’Roll-Generation geht ihren Weg. Interview mit mir selbst, in: Trickster, 1978, Nr. 1, S. 38. 81 Vgl. Kramer : Welten (Anm. 31), S. 7ff. 82 In den Zeitschriften regelmäßig abgedruckte Texte und Berichte von Vertretern indigener Kulturen bestätigen eher diese Regel. Fritz Kramer wies immer wieder auf die Notwendigkeit der empirischen Fremderfahrung im Rahmen der ethnologischen Feldforschungsreise hin, vgl. ebd. Diese (kostspielige und zeitaufwendige) Feldforschungsreise musste allerdings für einen Großteil der Studierenden bloßes Desiderat bleiben.

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jedem Fall, dass die »alternativen Ethnologinnen« in Bezug auf ihre sprachlichen Darstellungsformen gewissermaßen »post-authentisch« dachten: Es ging gerade nicht mehr um die Reproduktion von »archaischen Illusionen« (L8vi-Strauss), sondern um die Herstellung von kulturellen Synkretismen. Die Wissenschaft der Ethnologie lieferte dabei nicht nur wichtige intellektuelle Ressourcen für die Öffnung des Denkhorizonts über die immer noch engen geistigen Grenzen der Bundesrepublik hinaus, sondern vor allem auch für neue Selbstentwürfe. Inwiefern in diesen Entwürfen bereits der Weg von der »ethnologischen Gegenkultur« zur Avantgarde einer postmodern, kulturell ausdifferenzierten Individualität83 geebnet wurde, das müsste auf einem anderen Blatt geschrieben werden.

83 Vgl. Reichardt: Authentizität (Anm. 61), S. 888ff.

Ulrich Linse

Die wissenschaftliche Wiederentdeckung des historischen Alternativmilieus. Annotierte persönliche Erinnerungen

»Landkommune« war eines der Zauberworte, welches in den späten 1960er Jahren aus der Neuen Welt nach Europa drang und eine neue »alternative« Wohn- und Lebensweise zu verwirklichen versprach. So neu mochte einem Historiker das Phänomen freilich nicht erscheinen, kannte man lebensreformerische Stadt- und Landkommunen doch bereits aus der eigenen deutschen Geschichte (einschließlich von deren überseeischen bzw. kolonialen Fortsätzen),1 ganz abgesehen von den bekannteren vorausgehenden Experimenten des sogenannten »utopischen Sozialismus« wie z. B. Ikarien.2 So lag es angesichts der kommunalen Neugründungen nach amerikanischem Impuls3 für einen Geschichtsforscher nahe, sich erst einmal mit Geschick und Geschichte der vergangenen Kommunen im deutschsprachigen Raum zu befassen, zumal sich ja mehrere ältere und neuere wissenschaftliche Arbeiten bereits zu dem Thema geäußert und dabei dieses Siedlungswesen nicht nur einer systematischen Betrachtung unterzogen,4 sondern das Augenmerk besonders auf die jugendbe-

1 Siehe zuletzt die Romane von Marc Buhl: Das Paradies des August Engelhardt, Frankfurt 2011, und von Christian Kracht: Imperium, Köln 2012. Auf die von Friedrich Nietzsches antisemitischem Schwager Bernhard Förster in Paraguay gegründete Siedlungskolonie »Nueva Germania« hatte ich bereits 1992 hingewiesen: Von »Nueva Germania« nach »Eden«, in: Bauwelt, Heft 83, 13. 11. 1992, S. 2453–2455. In seinem Roman »Die Siedler«, München 1996, entwarf Werner Kopacka die Geschichte einer christlichen Sektengemeinschaft in Paraguay. 2 Siehe zuletzt Uwe Timm: Ikarien. Roman, Köln 2017. 3 Über sie reflektierte 1977 Harald Glätzer in seiner soziologischen Diplomarbeit an der Universität Bielefeld: Alternative Lebensformen und kollektive Produktion in Landkommunen, veröff. als: Landkommunen in der BRD – Flucht oder konkrete Utopie?, Bielefeld 1978. 4 G. A. Küppers-Sonnenberg: Deutsche Siedlung. Idee und Wirklichkeit. Erster Teil: Gesamtdarstellung des deutschen Siedlungswesens in allen Formen und Spielarten, Berlin 1933 (mehr nicht erschienen); Hans-Ulrich Helmer, Rolf Maniszewski, Jürgen Padberg: Die Meuterei der Bürgerkinder oder wie kommt das Schiff ins Traumland. Die Kommune- und Siedlerbewegung der 20er Jahre. Ein Beitrag zur Ideengeschichte gemeinschaftlichen Wohnens, Universität Hannover, Fachbereich Architektur, Doppelstudienarbeit 1983. Ich danke Bernd Wedemeyer-Kolwe für den Hinweis auf diese Veröffentlichung.

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wegten Landkommunen der 1920er Jahre gerichtet hatten.5 Und die letzten ehemaligen »Siedler« meldeten sich damals sogar noch selbst zu Wort,6 gleichzeitig mit ersten neuen deutschen Landkommunarden.7 Es folgten darauf konsequenterweise die ersten wissenschaftlichen Vergleiche zwischen den alten und neuen deutschen Landkommunen.8 Nach dem Ersten Weltkrieg waren Jugendliche beiderlei Geschlechts aus den tradierten Familienmustern und den für sie durch die Eltern auf dem Arbeitsmarkt vorgesehenen, aber nicht immer auch realisierbaren, Berufskarrieren ausgebrochen und hatten – beflügelt durch politische und/oder religiöse Glaubensüberzeugungen – in der Praxis soziale und ökonomische Experimente begonnen. Anhänger der Einzelsiedlung standen damals Verfechter der Gemeinschaftssiedlung gegenüber : »doch dürfte die Neigung zur Gemeinschaftssiedlung überwogen haben aus dem sozialen Einschlag der Zeit heraus, aus dem fast allseitigen Bestreben nach Einung und Zusammenfassung aller Lebensbereiche und nicht zuletzt aus der Tatsache, dass bei jungen Menschen die wirtschaftli5 Georg Becker : Die Siedlung der deutschen Jugendbewegung. Eine soziologische Untersuchung. Diss. Hilden 1929; Elisabeth Fleiner : Genossenschaftliche Siedlungsversuche der Nachkriegszeit, Heidelberg 1931; Manfred Fuchs: Probleme des Wirtschaftsstils von Lebensgemeinschaften. Erörtert am Beispiel der Wirtschaftsunternehmen der deutschen Jugendbewegung, Göttingen 1957; Antje Vollmer : Die Neuwerkbewegung 1919–1935. Ein Beitrag zur Geschichte der Jugendbewegung, des Religiösen Sozialismus und der Arbeiterbildung, Diss. Berlin 1973; Gustav Heineke: Frühe Kommunen in Deutschland. Versuche neuen Zusammenlebens. Jugendbewegung & Novemberrevolution 1919–24, Bielefeld und Herford 1978. 6 Gudrun Pausewang: Rosinkawiese. Alternatives Leben in den zwanziger Jahren, Ravensburg 1980 und dann mehrere weitere Auflagen als dtv-Taschenbuch 1981 erschienen die Erinnerungen des 1975 verstorbenen Walter Hundt: Bei Heinrich Vogeler in Worpswede, Worpswede und Bremen 1981; ca. 1988 wurde veröffentlicht Karl und Margret Voelkel: Höhbeck (die Lebenserinnerungen von Margret Voelkel im 1. Teil waren 1982 verfasst worden), Hattstedt/ Nordfriesland. Siehe dazu Tanja Ott: Der Traum vom einfachen Leben in den zwanziger Jahren – Die Siedlungsprojekte Rosinkawiese und Höhbeck, in: Alan Nothnagle, Carl Holmberg (Hg.): Auf freiem Grund mit freiem Volk. Alternative Siedlungen in Deutschland und Schweden im industriellen Zeitalter, Berlin 1999, S. 111–123. 7 Bernd Leineweber : Pflugschrift. Über Politik und Alltag in Landkommunen und anderen Alternativen, Frankfurt a. M. 1981. Leineweber lebte 1981 noch in der 1975 nach amerikanischem Vorbild gegründeten Landkommune Barhof im niederbayerischen Rottal und gehörte 1982 zu den Begründern der Lebensgemeinschaft »Utopiaggia« in Mittelitalien. Über seine damals bereits 25-jährige Erfahrung als Landkommunarde berichtete er in dem RadioKulturfeature von Conrad Lay : Gelebte Utopien (9): Die Landkommune. Hessischer Rundfunk, Frankfurt a. M., 24.06.2001. 2001 konnte man freilich bereits wieder auf eine neue deutsche Kommune-Welle im Gefolge der Wiedervereinigung blicken; siehe: Detlef Bansamir : Zur Situation Kommunitärer Gemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, Diplomarbeit FU Berlin 1996. 8 Peter Schneider: Barkenhoff, Blankenburg, Mühlengrund – Eine Analyse sozialistischer Landkommunen in Deutschland. 8-Wochenarbeit im Rahmen der Prüfung für Diplomsozialwirte an der Universität Göttingen, November 1979.

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chen Kräfte fast durchweg schwach waren.«9 In solcher menschlicher Vergemeinschaftung und bündische Vergesellschaftung sollte die ganze Person zu ihrem individuellen Recht kommen. Ich wollte aber dezidiert nicht bloß papierne Quellen zu diesem Themenbereich sichten, sondern mit eigenen Augen prüfen, was denn von den »alternativen« Ansätzen – den gemeinwirtschaftlich-ökonomischen ebenso wie den weltanschaulich-kulturellen – der 1920er Jahre den Wirklichkeitstest bestanden hatte, also noch – in welcher Form auch immer – weiterlebte. Aufgrund des damaligen Standardwerks von Klaus Bergmann war ich dabei gewarnt vor der möglichen agrarromantisch-reaktionären Seite solcher lebensreformerischen Unternehmungen.10 Aber meine Beschäftigung mit den Anarchisten der Münchner Rätezeit (die breite Untersuchung dieses historiographischen Themenfeldes einschließlich seiner Vorgeschichte war erstmals in der zweiten Hälfte der 1960er Jahren durch den Münchner Lehrstuhlinhaber für Bayerische Geschichte Karl Bosl initiiert worden),11 mit Erich Mühsam und dessen Erfahrungen auf dem Monte Verit/ bei Ascona12 und mit dem »VerwirklichungsSozialismus« von Mühsams Freund Gustav Landauer13 hatte mich auch neugierig gemacht auf die libertär-pazifistischen Potentiale solcher historischen 9 So Matthäus Schwender in seiner »Geschichte des Vogelhofs« in: Deutsche Lebensanschauung und Lebensgestaltung aus der Wirklichkeit des Vogelhofs gesehen. Eine Richtungsund Bekenntnisschrift von Friedrich Schöll und seinen Mitarbeitern, Vogelhof 1931, S. 28. 10 Klaus Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim am Glan 1970. 11 Das wissenschaftliche Resultat war u. a. Karl Bosl (Hg.): Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen, München und Wien, 1969 (ich hatte mich darin über »Die Anarchisten und die Münchner Novemberrevolution« ausgelassen). 12 Ulrich Linse: Der Rebell und die »Mutter Erde«: Asconas »Heiliger Berg« in der Deutung des anarchistischen Bohemien Erich Mühsam, in: Harald Szeemann (Hg.): Monte Verit/. Berg der Wahrheit, Venezia-Martellago 1978, S. 26–36. Ca. 1976 war im Berliner Verlag Klaus Guhl ein Nachdruck von Erich Mühsams Schrift »Ascona« erschienen (1. Aufl. Locarno 1905; erneute Aufl. bei Guhl 1982; 1979 hatte der Züricher Sanssouci-Verlag eine erweiterte Ausgabe publiziert: Erich Mühsam: Ascona und Wiedersehen mit Ascona. Vereinigte Texte aus den Jahren 1905, 1930 und 1931). Weitere Literatur zum Monte Verit/: Martin Green: Mountain of Truth. The Counterculture Begins. Ascona, 1900–1920, Hanover und London 1986; Sam Whimster (Hg.): Max Weber and the Culture of Anarchy, Houndmills, Basingstoke and London 1999; Andreas Schwab, Claudia Lafranchi (Hg.): Sinnsuche und Sonnenbad. Experimente in Kunst und Leben auf dem Monte Verit/, Zürich 2001; Andreas Schwab: Monte Verit/ – Sanatorium der Sehnsucht, Zürich 2003; Stefan Bollmann: Monte Verit/: 1900 – Der Traum vom alternativen Leben beginnt, München 2017; Peter Michalzik: 1900: Vegetarier, Künstler und Visionäre suchen nach dem neuen Paradies, Köln 2018. 13 Eugene Lunn: Prophet of Community. The Romantic Socialism of Gustav Landauer, Berkeley, Los Angeles und London 1973; Christoph Knüppel: »Aus der Scholle festem Grunde wächst dereinst die Freiheitsstunde«. Gustav Landauer und die Siedlungsbewegung, in: Von Ascona bis Eden. Alternative Lebensformen (Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft 27), Lübeck 2006, S. 45–66.

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Experimente. Auf diesem Wege habe ich dann als forschender Historiker in den 1970er und frühen 1980er Jahren Fragmente des lebensreformerischen Alternativmilieus von 1900 in seinen durch die Jugendbewegung in den 1920er Jahren überformten Ausprägungen noch persönlich kennengelernt. Zweifellos hat sich damals zu Beginn der 1980er Jahre auch eine breitere intellektuelle Öffentlichkeit für derlei soziale Experimente interessiert, sonst wäre es nicht möglich gewesen, die Ergebnisse meiner historischen Nachforschungen in den beiden dtv-Bändchen »Zurück o Mensch zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890–1933« (München 1983) und »Ökopax und Anarchie. Eine Geschichte der ökologischen Bewegungen in Deutschland« (München 1986) zu publizieren und Überlegungen zu diesem Thema auch andernorts in kleineren Beiträgen einer breiteren Leserschaft vorzustellen.14 Drei solche damaligen Begegnungen mit historischen jugendbewegten Landkommunen seien nachfolgend kurz in Text und Bild rückerinnernd beschrieben. Ich kann an dieser Stelle nur kurz auf den Umstand hinweisen, dass es bei den zwei Siedlungen Blankenburg und Schwarzerden jeweils Stadtkommunen (in Berlin bzw. Darmstadt) als Vorläufer und Sammelpunkte für das ländliche Unternehmen gab, sich also der angebliche Gegensatz von Stadt und Land in diesen Fällen stark nivellierte.

Die »kommunistische Siedlung« Blankenburg bei Meitingen (heute: Gemeinde Nordendorf im Landkreis Augsburg) Revolutionsforschung am Münchner Institut für Bayerische Geschichte Die Blankenburger Siedlung entdeckte ich zu Beginn der 1970er Jahre im Münchner Hauptstaatsarchiv, als ich dort auf der Suche nach Quellen über die 14 Ulrich Linse: Rückzug aufs Land – Isolierung vom Land: Die ruralen Kommunen der Jugendbewegung, in: Anna D. Brockmann (Hg.): Landleben, Reinbek 1977, S. 150–158; ders.: Siedlungen und Kommunen der deutschen Jugendbewegung. Ein Überblick und eine Interpretation, in: Ulrich Klemm, Klaus Seitz (Hg.): Das Provinzbuch. Kultur und Bildung auf dem Lande, Bremen 1989, S. 186–199 (Wiederabdruck aus dem Jahrbuch des Archivs der Deutschen Jugendbewegung, Bd. 14, Witzenhausen 1982/83, S. 13–28). 2006 fand ich zufällig im Internet den von mir bzw. dem Verlag nicht autorisierten Abdruck des Kapitels über »Völkische Siedlung« aus meinem Band »Zurück o Mensch zur Mutter Erde« (1983); dies hing sicher mit den aktuellen Aktivitäten neu-völkischer Siedler zusammen, über die ich dann in Ulrich Linse: Völkisch-jugendbewegte Siedlungen im 20. und 21. Jahrhundert, in: Gideon Botsch, Josef Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik, Berlin u. a. Boston 2014, S. 29–73, berichtete. In den 1980er Jahren war es aber überwiegend eine »linke« Öffentlichkeit, die das Thema gedanklich begleitete, siehe etwa meine Betrachtung: Neues Leben, neue Sünden. Über die Experimente der Landkommunen in Deutschland, in: Kursbuch 74, Dezember 1983, S. 55–68.

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Münchner Revolution von 1918/19 war. Dort fiel mir im Repertorium eine Akte des Bayerischen Innenministeriums mit dem Titel »Die kommunistische Siedlung Blankenburg 1919« auf. Die Blankenburger Kommune war sozusagen ein bis dahin übersehenes Epizentrum der Münchner revolutionären Ereignisse gewesen, so wie Heinrich Vogelers bekanntere anarcho-kommunistische Barkenhoff-Siedlung in der früheren Künstlerkolonie Worpswede die Bremer Revolution begleitet hatte.15 Hans Kochs programmatische Broschüre »Der Weg zum Bolschewismus« (München [1919]) war das Gründungsdokument der Blankenburger Kommune.16

Klassenloser Kommunismus? Ich versuchte daraufhin systematisch die ehemaligen Blankenburger Siedler und Siedlerinnen aufzuspüren und von ihnen Informationen über ihr damaliges und späteres Leben zu erhalten. Dies wurde dadurch erleichtert, dass die Ehemaligen damals auch selbst ihre zumeist abgebrochenen persönlichen Kontakte wieder aufnahmen und sich über ihre Erinnerungen austauschten. Am meisten verblüffte es mich, dass das gemeinsame kommunale Leben von Jugendlichen verschiedenster sozialer Herkunft, von Arbeiter- und Bürgersöhnen bzw. -töchtern (so war die »Seele« der Blankenburger praktischen Gartenbauarbeit, Hilde Jäger, eine Stuttgarter Ministertochter, die ich ebenfalls noch persönlich in Berlin kennenlernte) keineswegs die erstrebte soziale Ausgleichung im späteren Leben bewirkt hatte. Der gelebte Armuts-»Kommunismus« der Landkommunarden machte also in keiner Weise die durch Geburt und Sozialisation eingeschliffenen Klassenschranken unwirksam. »Hako«, also Hans Koch, der Gründer der kollektiven Landsiedlung Blankenburg, der damals als gut vernetzter Geldbeschaffer wirkte und Kontakt zu mit der Jugendbewegung und der Revolution 15 Der damaligen Aktualität seiner Position war es zu verdanken, dass 1972 in der »Sammlung Luchterhand« die Sammlung »Heinrich Vogeler : Das Neue Leben. Schriften zur proletarischen Revolution und Kunst« erschien und 1979 der Journalist David Erlay unter den Schlagworten »Künstler Kinder Kommunarden« die Darstellung: Heinrich Vogeler und sein Barkenhoff, Fischerhude 1979, veröffentlichte. Ich selbst durfte an einem der vier Symposien, abgehalten zwischen 1984 und 1992, über »Träume Wege Irrwege. Nachdenken über Heinrich Vogeler« (hg. von Ernstheinrich Meyer-Stiens, Worpswede 1992) teilnehmen. 16 Details zu dieser Schrift finden sich in einem Interview von Jutta Bohnke-Kollwitz mit Hans Koch. Das Interview wurde am 13.06.1982 in gekürzter und überarbeiteter Form im Westdeutschen Rundfunk gesendet. Mit weiteren Kürzungen und sprachlichen Veränderungen ist es abgedruckt bei Günter Wiemann: Hans Löhr und Hans Koch. Politische Wanderungen, Braunschweig 2011, S. 176–191. Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf den ungekürzten und unredigierten Originaltext des Interviews, der als Manuskript u. a. im Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb) N 76 (Nachlass Hans Koch), vorliegt.

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sympathisierenden Mäzenen hielt,17 wurde später schließlich zum »Eigenunternehmer-Kapitalisten«, freilich mit innovatorischen unternehmerischen Impulsen.

Technische Innovation Die Anregung für diese technischen Neuerungen kam aus Hakos praktischer Erfahrung als gehandicapter Kriegsverletzter des Ersten Weltkriegs mit der Blankenburger Landarbeit (die ja für die Selbstversorger vor allem Gartenarbeit gewesen war). Als Sympathisant einer sozialistischen Weltanschauung, die eine positive Sichtweise auf »die Maschine« beinhaltete, auch wenn er deren zerstörerisches Potential in den Materialschlachten des Krieges am eigenen Leib erfahren hatte, romantisierte er nicht die ländliche Handarbeit als »Dienst am Boden«. Stattdessen hatte er den nüchternen Einfall, dass insbesondere ein der harten Muskelarbeit entwöhnter Städter bei der Bodenbearbeitung maschinelle Unterstützung brauchte, sozusagen eine »motorisierte Hand«: »Ich sagte mir : Immer auf den Knien herumrutschen und Unkraut jäten usw., das muss auch anders zu machen sein.«18 Mit dieser schon in Blankenburg ins Auge gefassten Zielsetzung ließ er 1925 – er lebte damals in der Siedlung Harxbüttel19 – ein »durch Motor betriebenes Handgerät für Garten- und Feldarbeit« patentieren, bei welchem der Motor auf einer Rückentrage befestigt war und die Verbindung zwischen der Kleinhacke und dem Motor durch eine biegsame Welle hergestellt wurde.20 Über diverse praktisch-organisatorische Zwischenschritte21 erwuchs aus diesen Anfängen nach dem Zweiten Weltkrieg die von Hako und seinen Kindern betriebene Maschinenfabrik »HAKO Werke«, die erst in Pinneberg und später in Bad Oldesloe ihren Sitz hatte. 17 Bereits der Kauf des Siedlungshofes erfolgte über externe Geldgeber. Leider ist in Hertha Koenigs bisher publizierten Lebenserinnerungen »Hinter den Kulissen eines Lebens« (Bielefeld 2004) kein Hinweis auf diese Episode. Nach Hakos Erinnerung wurde das »Geschäft« durch Oskar Maria Graf in München eingefädelt und Hertha Koenig übergab der Gemeinschaft außer dem Scheck auch den Deserteur Willi Strobel, ihren Schützling. Der andere Geldgeber war der Dichter Georg Kaiser. 18 Interview Jutta Bohnke-Kollwitz (Anm. 16). 19 Siehe Wiemann: Hans (Anm. 16). 20 Hans Koch: Bodenbearbeitung mit Kleinmotoren, Scheyern/Oberbayern 1937, aktualisierte Neuaufl. Mannheim 1977. »Ich bin der Erfinder des tragbaren Rückenmotors mit biegsamer Welle für austauschbare Werkzeuge, von der Heckenschere bis zu leichten Motorharken. Das Original steht heute im Deutschen Museum in München« (Jochen [Vorfelder]: Alternativbewegung 1916. Ein Gespräch mit Hans Koch, in: Netzwerk-Rundbrief Nr. 15 vom 14. 12. 1981, S. 15). Faksimile der Patentschrift bei Wiemann: Hans Löhr und Hans Koch (Anm. 16), S. 196–198. 21 Details bei Wiemann: Hans (Anm. 16), S. 204–207.

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1967 schied Hako mit siebzig Jahren im Unfrieden mit der Familie aus der Firma aus22 – nicht zuletzt, weil er unter dem Einfluss der neuen Alternativbewegung begann, auch selbst wieder über kollektive Lebens- und Arbeitsformen nachzudenken. Vor diesem Hintergrund sah er die Tätigkeit seiner eigenen Kinder im Betrieb zunehmend kritisch: »Diese Jung-Manager, sicher sind das brillante Kaufleute mit Geschäftssinn, die haben mich doch immer wieder nur für einen weltfremden Spinner gehalten, als ich mit irgendwelchen Neuerungen kam […] Mir war immer noch bewusst, dass diese Art von Unternehmung auf Dauer keine Zukunft hat.23 Von mir aus hätte ich das ganze gern wieder als Basis genommen, um wieder Lebensgemeinschaften auf dem Land ins Leben zu rufen und in größerem Rahmen weiter mit anderen Lebens- und Arbeitsformen zu handwerken. Aber das lag meinen Kindern, die alle in der Firma sind, gar nicht […] Die haben lieber neue Produktionszweige, wie z. B. Reinigungsmaschinen, Schneeräumer, Rasenmäher und dergl. erschlossen, als sich Gedanken über Formen von gemeinsamer und freier Arbeit zu machen.«24 Dieser »Hako im Umbruch« war es, den ich 1970 kennenlernte.

»Alternative« Nahrung? Die unmittelbare Frucht der oben geschilderten technischen Bemühungen von Hako und seiner Erfindung einer Kleinmotorhacke erlebte ich überraschenderweise an Ostern 1983 auf Kreta, als ich bei einer Wanderung bei Knossos auf ein paar einheimische Weinbauern stieß, die gerade mit einer Hako-Bodenfräse das Land bearbeiteten. Nachdem ich ihnen von Hako als realer und uns persönlich bekannter Person erzählt hatte, zwangen sie mich begeistert, mit ihnen ihr Mahl mit so viel übersüßem »türkischem Honig« (wie wir hierzulande sagen; also Halva) zu teilen, dass es mir dabei fast schlecht wurde. Wohl nicht den 22 Dieser letzte »Modernisierungsschritt« Hakos wird bei Wiemann: Hans (Anm. 16), S. 218, in die kryptischen Worte gekleidet: »In den 1930er Jahren löste sich Hans Koch endgültig von den Entwürfen gemeinschaftsbeseelter Siedlungen, aber auch nach der Gründung der wirtschaftlich so erfolgreichen HAKO-Werke in Bad Oldesloe kehrten seine Erinnerungen stets zu den Wurzeln seiner symbolischen Ent-Bürgerlichung zurück, wie sein Interview mit Jutta Bohne-Kollwitz aus dem Jahr 1985 [richtig: 1982] ausweisen kann.« Der entsprechende kritische Teil des Interviews fehlt aber gerade in diesem Buch. Die Spannungen mit den Kindern hingen wohl auch mit Hakos Trennung von seiner ersten Ehefrau Helene geborene Dmuchowski zusammen. 23 Unter dem Nachfolger Tyll Necker, seinem Schwiegersohn, internationalisierte sich das Unternehmen und die Produktion verlagerte sich auf die Herstellung von Maschinen für Innen- und Cityreinigung sowie Anlagenpflege. Necker, bekannt geworden als Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, verstarb 2001 im Alter von 71 Jahren. Im Jahre 2007 wurde das bisherige Familienunternehmen von der Possehl-Gruppe übernommen. 24 Jochen [Vorfelder]: Alternativbewegung (Anm. 20), S. 15.

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Vorstellungen deutscher lebensreformerischer Abstinenter entsprechend, bedankte ich mich für die liebenswürdig erwiesene Gastfreundschaft mit Zigarettenpäckchen. Überhaupt schienen mir die Lebensreformer in ihrer Ablehnung von »Genussmitteln«, sofern sich dieses Bekenntnis in den erforschten Kommunen finden ließ, oft nur aus der dort real herrschenden Not eine Tugend zu machen. Aufgrund des Mangels wurde wohl eine wirklich »alternative« Nahrung, wie sie insbesondere die Lebensreform-Religion von Mazdaznan ihren Anhängern in Kochbüchern und Lebensratgebern nachdrücklich empfahl, nicht verwirklicht. Aber »Sonnennahrung« (rohes Obst) war die billigere und praktikable Variante.

Jugend- und Alters-Sexualität Im Dezember 1971 besuchten mich die ehemaligen Blankenburger Kommunarden Hans Koch und Elsbeth Kühnen in München. Wir fuhren zusammen nach Berg am Starnberger See, wo sie mir die Stelle zeigten, an der das Haus gestanden hatte, in dem Elsbeth einst, schwanger von Alfred Kurella, untergekommen war. (Der sexuelle Verkehr hatte sich bei diesen älteren Wandervögeln also doch nicht nur auf »Petting« beschränkt, wie Hako naiv meinte.) Die kleine dort etablierte Wohnkommune, so der antibürgerliche Gedanke dieser Nachkriegsjugendlichen (den es in ganz ähnlicher Weise bei den radikalen Völkischen und ihrem Modell der »Mehrehe« gab), sollte gemeinsam für die Schwangere und das Kind einstehen. Für mich nunmehrigen »Jungen« war an der ganzen Sache am überraschendsten, dass sich die alte Dame gerade in Hako – der einst die Vaterschaft für das Kind freiwillig übernommen hatte – nun tatsächlich verliebt hatte und es offenbar heftige Eifersuchtsszenen gegeben haben muss. (Hako lebte, nach der Trennung von seiner ersten Frau, mit der 15 Jahre jüngeren Elf Redlich, einer Atemtherapeutin, Yogalehrerin und Märchenerzählerin zusammen). Dabei gelang es mir zwar nicht, in dem altgewordenen, aber umtriebigen und kontaktfreudigen Ex-Unternehmer mit leichtem BohHme-Touch noch den mir aus enthusiastischen alten Beschreibungen und einem Jugendfoto bekannten charismatischen Epheben von einst zu spüren, aber seine bereits von Käthe Kollwitz gerühmte »Selbstsicherheit« war ungebrochen. Und es war meine erste Begegnung mit einer Alterserotik, die trotz der damals u. a. von der Berliner Kommune 1 inszenierten sexuellen »Selbstbefreiung« noch kein öffentliches Thema geworden war.25

25 Siehe Ulrich Pfeil: Die Kommune 1 – eine zeitbedingte Form von Subversivität, in: C8cilia Fernandez, Olivier Hanse (Hg.): Gegen den Strom. Untergrundbewegungen und Gegen-

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Kontakte mit der zeitgenössischen Alternativszene Hako erkannte rasch, dass es zwischen dem revolutionären Jugendaufbruch der Achtundsechziger und seinen eigenen Jugendexperimenten eine Parallele gab. Er nahm Verbindung mit den Vertretern der neuen alternativen Strömungen auf, wobei sein Vorstellungs-»Billett« meine historische Monographie über das Blankenburger Experiment war.26 »Dieses Buch hat Kontakte gebracht mit den neuen Ansätzen […] Ich habe persönlich enge Beziehungen mit den Leuten auf dem Ufa-Gelände in Berlin,27 mit dem Netzwerk Berlin, die also alternative Unternehmungen zu finanzieren suchen,28 mit dem Reinighof bei Pirmasens, die sich der Schafzucht besonders angenommen haben.«29 Er fand zudem Kontakt mit der 1973 in der Haute Provence gegründeten linkspolitischen Landkooperative »Longo ma"«:30 »Es ist ein eigenartiges Phänomen, dass die Landbevölkerung zum Teil wegen des einfacheren Lebens in die Industrie gegangen ist und die verlassenen Höfe von jungen Städtern wieder belebt werden. Das ist nicht nur in Deutschland so, sondern auch in Frankreich, in der Schweiz, in Holland. Und mit all diesen Gruppen habe ich sehr engen Kontakt. Und ich bin auch überall gewesen. Wie sie gehört haben, dass ich die ersten Ansätze vor dem Ersten Weltkrieg und nach dem Ersten Weltkrieg gemacht habe, da sind die sofort hellhörig geworden. Sie haben mich hier [in Meinerzhagen] abgeholt bis nach Marseille und Basel hin. Ich bin also in engstem Kontakt.«31 Und zur Bekräftigung fügte er hinzu: »Leute meiner Generation? Da gibt es wenige, mit denen ich

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kulturen in den deutschsprachigen Ländern des 20. Jahrhunderts (Convergences 81), Bern 2014, S. 125–140. Ulrich Linse: Die Kommune der deutschen Jugendbewegung: Ein Versuch zur Überwindung des Klassenkampfes aus dem Geiste der bürgerlichen Utopie. Die »kommunistische Siedlung Blankenburg« bei Donauwörth 1919/20 (Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, Beiheft 5, Reihe B), München 1973. »Ufa-Fabrik« in Berlin-Tempelhof. Hako gab mir dazu den entsprechenden Artikel in der von der Bundeszentrale für politische Bildung unter dem Titel »Alternativ« publizierten PZ Nr. 34, September 1983, S. 22f. Netzwerk Selbsthilfe e. V. im Mehringhof (Gneisenaustr. 2) in Berlin. Jochen Vorfelder, der Geschäftsführer von »Netzwerk«, suchte Hako auf und veröffentlichte ein Interview mit ihm: Jochen [Vorfelder]: Alternativbewegung 1916 (Anm. 20), S. 11–15. Zur Schäfereisiedlung Reinighof fügte Hako in einem Interview die Bemerkung hinzu: »Sie haben also wieder an alte, verloren gegangene Betriebsformen angeknüpft, wodurch dann auch ganze verwüstete Gegenden allmählich wieder durch solche Jugendgruppen in Kultur gebracht und sinnvoll gewertet werden«: Interview Jutta Bohnke-Kollwitz (Anm. 16). Zusammen mit einem Kommunarden vom Reinighof schrieb Hako zu Beginn der 1980er Jahre an seinen Lebenserinnerungen, die wohl nicht fertiggestellt wurden. Eine Veröffentlichung kam jedenfalls nicht zustande, aber auch ein Manuskript ist in Hakos Nachlass im AdJb, N 76, nicht nachweisbar (freundliche Mitteilung von Elke Hack, 03. 08. 2018). Vgl. Andreas Schwab: Landkooperativen Longo ma". Pioniere einer gelebten Utopie, Zürich 2013. Interview Jutta Bohnke-Kollwitz mit Hako (Anm. 16).

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mich gut verstehe. Mit jungen Leuten verbindet mich mehr, gemeinsame Gedanken und Ideen […] Nachträglich wird man ja auch bestätigt, was unsere Träume angeht, auch unser Alltag, wie waren ja auch nie weniger als zehn, zwölf Leute am Tisch, Kleinfamilie hat mir nie gelegen, war auch nur ein Teil dieser ganzen Sackgasse.«32 Noch ein Jahr vor dem 1995 erfolgten Tod des damals 97Jährigen konnte ich ihm meinen Beitrag »Jugend setzt sich ab: alternative Siedlung um 1920« für den Ausstellungskatalog »Schön ist die Jugendzeit …?« widmen.33

Und ein Blick über die »Mauer« nach Ost-Berlin Selbst eine andere Figur am Rande der Blankenburger Kommune, Alfred Kurella,34 der in den 1950er Jahren zum zentralen stalinistischen Ideologen der DDRKulturpolitik aufgestiegen war und den ich in Ostberlin im Herbst 1973 (zwei Jahre vor seinem Tod) aufsuchte, hatte den Briefkontakt mit den alten Blankenburgern wieder aufgenommen. Kurella, der einst – als Alternative zum Blankenburger Projekt einer Binnensiedlung – »Unterwegs zu Lenin«35 gewesen war, erzählte mir mit neu entfachtem Enthusiasmus vom Erlebnis der im August 1973 stattgefundenen »X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten«, die vor seiner Wohnung im Funktionärsbau am Ostberliner Alexanderplatz stattgefunden hatten.36 Aber auch er verblüffte mich dadurch, dass ihn das jugendbewegte kommunistische Erlebnis nicht von seinem ihm seit Geburt mitgegebenen bürgerlichen Klassen-Habitus befreit hatte: Eine ganze Wand seines Zimmers war mit den bekannten blauen und braunen Ausgaben der sozialistischen Klassiker bedeckt, in denen Hunderte von Zettelchen steckten. Er hatte 1968 noch mit 73 Jahren in Jena über »Das Eigene und das Fremde. Neue Beiträge zur Theorie des sozialistischen Humanismus« promoviert! Kurella war also dem Typus des bürgerlich-professoralen Buchstaben-Gelehrten nicht entronnen, und 32 Jochen [Vorfelder]: Alternativbewegung 1916 (Anm. 20), S. 15. 33 Ulrich Linse: Jugend setzt sich ab: alternative Siedlung um 1920, in: Harald Parigger (Hg.): »Schön ist die Jugendzeit …?«. Das Leben junger Leute in Bayern 1899–2001 (Ausstellungskatalog), Augsburg 1994, S. 35–37. 34 Der Gründer der Münchner »Freien Sozialistischen Jugend« hatte 1918 zusammen mit Friedrich Bauermeister und Hans Koch den Aufruf »Absage und Beginn. Worte an die Kameraden« (Leipzig 1918) veröffentlicht. Der »Blankenburger« Hans Koch (»Hako«) ist übrigens nicht identisch mit dem späteren Kurella-nahen DDR-Kulturfunktionär Hans Koch. 35 So der Titel seiner Erinnerungen: Alfred Kurella: Unterwegs zu Lenin. Erinnerungen, OstBerlin 1967, 2. Aufl. 1975. 36 Siehe dazu Stefan Wolle: Weltjugendspiele in Ost-Berlin. Das Woodstock des Ostens, in: Spiegel-Online, https://www.spiegel.de/einestages/weltjugendspiele-in-ostberlin-a-947520. html (28. 07. 2008).

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selbst dessen dogmatischer Engstirnigkeit nicht.37 Inzwischen bereue ich es, dass ich mich beim Besuch nicht getraut hatte, ihn nach seiner, allerdings umstrittenen, Mitschuld am Tod seines jüngeren Bruders Heinrich 1937 während der stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion zu befragen.38

Politische Positionierung Die historische Verbindung der Blankenburger Siedlung mit den revolutionären Ereignissen in der bayerischen Landeshauptstadt war überdeutlich. Siedeln war für die Blankenburger 1919 keine eskapistische Flucht aus der Politik gewesen,39 sondern deren praktische Umsetzung im Geiste der Anarcho-Kommunisten Gustav Landauer40 und Peter Kropotkin.41 Und als die Münchner Räterepublik zusammenbrach, leisteten die Blankenburger deren vom Tod bedrohten Mitgliedern Fluchthilfe. Dass die Siedler später in der Zeit des Nationalsozialismus

37 Eine psychologische Deutung Kurellas findet sich bei Martin Schaad: Die fabelhaften Bekenntnisse des Genossen Alfred Kurella. Eine biographische Spurensuche, Hamburg 2014. 38 Das Gerücht von Alfred Kurellas Denunziation seines Bruders wird auch bei Schaad: Bekenntnisse (Anm. 37), S. 70, Anm. 151, erwähnt; Schaad konnte aber in den Kaderakten der beiden Brüder keine Beweise dafür finden. 39 Das Thema »Lebensreform als bürgerlicher Eskapismus« war damals ein besonders durch das Buch von Janos Frecot, Johann Friedrich Geist, Diethart Kerbs: Fidus 1868–1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, München 1972 (erweit. Neuaufl. Hamburg 1997) aufgeworfenes Thema. Frecot hat über seine eigenen Erinnerungen an die Fidus-Tochter Hilde Altmann-Reich berichtet, in: Janos Frecot: Von Gärten und Häusern, Bildern und Büchern. Texte 1968–1996, Berlin 2000. Eine späte Antwort auf die EskapismusHypothese gab Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt/Main 1997, indem sie die der Modernität zugewandte Seite der Lebensreform betonte. Siehe zum ganzen Themenbereich Bernd-Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2017. Zu Fidus selbst gibt es eine Dissertation von Claudia Bibo: Naturalismus als Weltanschauung? Biologistische, theosophische und deutsch-völkische Bildlichkeit in der von Fidus illustrierten Lyrik (1893–1902), Frankfurt a. M. 1995. 40 Siehe dazu Ulrich Linse (Hg.): Gustav Landauer und die Revolutionszeit 1918–1919. Die politischen Reden, Schriften, Erlasse und Briefe Landauers aus der Novemberrevolution 1918/1919, Berlin 1974. Siehe jetzt: Michael Brenner: Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923, Frankfurt a. M. 2019. 41 Eine besondere Bedeutung für Hako hatte Peter Kropotkins, von Gustav Landauer übersetztes empirisches Werk »Landwirtschaft, Industrie und Handwerk oder Die Vereinigung von Industrie und Landwirtschaft, von geistiger und körperlicher Arbeit« (Berlin 1904 und 1910), weil von Kropotkin die »Verbindung zum Boden […] im Zusammenhang mit anderen Unternehmungen« empfohlen wurde, dieser »aber auch alles, was technisch möglich war – künstliche Beregnung, Einsatz von Glas, also Gewächshäuser, Treibbeete usw. –, befürwortete. Das leuchtete mir sehr ein. Ich war also immer sehr technisch interessiert und versiert«: Interview Jutta Bohnke-Kollwitz (Anm. 16).

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auch andere politische Wege als Kurella gingen, ist inzwischen zumindest punktuell bekannt.42

Die völkische Landkommune »Vogelhof« (heute: Teilort von Ehingen im Alb-Donau-Kreis) Der »Vogelhof« bei Erbstetten 1981 Als ich den »Vogelhof« erstmals in den Jahren 1981 und 1982 aufsuchte, gab es auch dort keine Landkommune mehr.43 Sie war inzwischen in Folge wirtschaftlicher und politischer Vorgänge aufgelöst worden.44 Aber einer der AltSiedler, Matthäus Schwender, betrieb vor Ort mit seiner Frau Hanna, der Tochter und dem Schwiegersohn (dessen Vater Fritz Biermann war einer der Mitgründer der Siedlung gewesen) immer noch eine nun private Landwirtschaft. Und er hütete dort einen großen Schatz an historischen Quellen. Darunter waren – überraschend für mich, weil es im Gegensatz zum »bilderlosen« Blankenburg stand45 – auch zahlreiche historische Fotos. Dazu kam Schwenders ungetrübtes Erinnerungsvermögen, verbunden mit ungebrochener Vitalität und der doch sanften Liebenswürdigkeit eines 83-Jährigen (er verstarb 1987).

42 Das gilt für Hako und Paul Kunze: siehe zu letzterem das Kapitel »Im Nationalsozialismus« in: Anja Benscheidt, Alfred Kube: Paul Kunze. Ein norddeutscher Expressionist (1892–1977) (Historisches Museum Bremerhaven. Kleine Schriften 9), Bremerhaven 2012, S. 71–84. 43 Die »Geschichte des Vogelhofs« hat Matthäus Schwender selbst 1931 erzählt, in: Lebensanschauung (Anm. 9), S. 28–33. 44 Im Kontext des neu erwachten Interesses an den alten Kommunen kam es zur »Musealisierung« des Vogelhofs. In der von Hartmut Kistenfeger verfassten und von der »Museumsgesellschaft Ehingen e. V.« herausgegebenen Schrift: Der Vogelhof. Eine Siedlung mit Landerziehungsheim aus dem Geist der Jugendbewegung, Ehingen 1987, heißt es: »Wir danken den Familien Schwender und Biermann für ihre Unterstützung bei der Veröffentlichung und ihre jahrelange Förderung des Ehinger Museums. Auf diesem Weg haben mehrere Gegenstände aus der Siedlung Vogelhof Eingang in das Museum gefunden« (Umschlag Innenseite). Die Broschüre ist dem im gleichen Jahr verstorbenen Matthäus Schwender gewidmet. Nach dem Tod von Matts und Hanna Schwender und dem altersbedingten Wegzug des Ehepaars Biermann in ein Seniorenheim brach die Siedlungs-Tradition auf dem Vogelhof endgültig ab. 45 In diesem Einzelfall hing das wohl nicht damit zusammen, dass Bild-Propaganda in der Zeit der Novemberrevolution vor allem ein Instrument der politischen Rechten und nicht der Linken war, sondern mit der ganz kurzen Dauer der Blankenburger Siedlung im Gegensatz zum Vogelhof.

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Alternativer Tod Wenn ich heute zurückblicke, ist mir von den damaligen Besuchen auf dem »Vogelhof« die Radikalität in nachdrücklicher Erinnerung geblieben, mit der die Siedler sich von ihrer doch aus ideologischen Gründen hochgepriesenen bäuerlichen Nachbarschaftswelt absonderten und sich nicht etwa in sie zu integrieren suchten. Deutlich sichtbar und regelrecht inszeniert war die programmatische Absage der Siedler an die sie umgebende Gesellschaft der Lebenden beispielsweise durch die »germanische« Bestattung der verstorbenen »völkischen« Siedlungsmitglieder weitab vom christlichen Gemeindefriedhof ihrer bäuerlichen Nachbarn in freier Natur am Rande des Wolfstals. Diese Praxis war offenbar gegen die Friedhofspflicht einst auch gesetzlich erstritten worden. Eine solche Art des »Neuanfangs vom Boden her« war konsequent. In einem Interview mit Matts Schwender aus den frühen 1980er Jahren findet sich der Hinweis: »Am sonnigen Hang zum Wolfstal inmitten von Wacholdern und Orchideen, schlafen einige Gründer des Vogelhofes. Auch Matts Schwender will hier seine letzte Ruhe finden. Ob ihm unsere Bürokratie dieses Recht der früheren Siedler zugesteht? Matts will darum kämpfen.«46 Er muss diesen Kampf verloren haben; denn er und seine Frau sind auf dem Kirchhof von Erbstetten begraben.47 Einzigartig war diese Waldbestattung der Vogelhof-Siedler jedoch nicht: Iduna Rall, die Tochter von Willo Rall, dem germanophilen Siedlungsgründer von »Runheim« – einer bei Laufen am Kocher in einer Waldrodung gelegenen unmittelbaren Vorgänger- und dann Parallelsiedlung zum Vogelhof –, erzählte dem Verfasser während eines Interviews 1982, dass ihr Vater seine früh verstorbenen Kinder ebenfalls im Wald beerdigt habe: »Meine Kinder kommen nicht unters Kreuz im Friedhof.« Nach einem Einspruch der Nachbarn habe er die Leichen eigenhändig exhumiert und nach angeblich »arischer« Inder- und Germanensitte verbrannt. Er wurde darauf wegen Leichenbeseitigung verurteilt. Später fand er durch seine Tochter über die Theosophie zum Christentum zurück und wollte zur Sühne auf dem christlichen Friedhof anstatt bei seiner Frau und seinen Kindern im Urnengrab bestattet werden.

46 Werner Bauer: Matts vom Vogelhof, in: der eisbrecher, Nr. 3, August 1983, S. 274–276, hier S. 276. 47 Freundliche Mitteilung von Franz Romer, Vorsitzender der Museumsgesellschaft Ehingen e.V. vom 10. 07. 2018. Im Wolfstal liegen u. a. die frühere Siedlerin Luise Haas (Todesjahr mir unbekannt) und das Gründer-Ehepaar Maria und Friedrich Schöll (gestorben 1965 bzw. 1967) begraben.

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Alternative Sexualität Das Spannungsverhältnis zur traditionellen christlichen Moral ihrer ländlichen Umwelt zeigte sich auf dem Vogelhof aber nicht nur in Gestalt des Exodus der Toten, sondern auch in den Konflikten mit Nachbarn aufgrund der von den Siedlern praktizierten Nacktkultur sowie der von einer Minderheit von ihnen verwirklichten Mittgart-Mehrehe. Die Siedler-Mehrheit freilich verwarf diese Form der Ablehnung der herrschenden christlich-monogamen Ehe-Auffassung und nötigte die Abweichler unter Hans Reichart 1924 zum Verlassen der Siedlung. Auf Nachfragen – man darf nicht übersehen, dass auch für einen Historiker im Zuge der mentalen 1968er-Revolution die Sexualität ein relevanter Forschungsaspekt geworden war – gab Matts Schwender überraschende Einblicke in die einstigen sexuellen Praktiken der Jugendbewegten auf dem Vogelhof. Vielleicht lag dies darin begründet, dass für ihn dieses Thema bereits im Zuge der sexuellen Revolution der 1920er Jahre seinen ausschließlich nicht-öffentlichen, intimen Charakter verloren hatte. Die in der Jugendbewegung viel diskutierte »Geschlechtsnot«48 und die a-sexuelle »Kameradschafts«-Ethik hatten die Siedler zu überwinden gesucht durch die Sexualpraktik der von dem Schweizer Lebensreformer Werner Zimmermann49 propagierten Karezza-Methode. Diese Praktik des Coitus reservatus nahm die »Pille« insoweit vorweg, als sie Geburtenverhütung und Lustgewinn zu verbinden trachtete.

Ökologische Sensibilität Schließlich ist im Rückblick aber auch die ganz unterschiedliche Form der Wirklichkeits-Wahrnehmung beim Historiker und bei Matts Schwender bedenkenswert. Ich suchte sozusagen den personellen und materiellen Ist-Zustand der ehemaligen Landkommune mit dem überlebenden Mitgründer Schwender fotografisch schwarz auf weiß zu dokumentieren. Dieses Bestreben nach authentischer Bestandsaufnahme ging so weit, dass ich einen Satz der gerade für das Verbrennen vorgesehenen verwitterten, ursprünglich grünen Fensterläden 48 Ulrich Linse: »Geschlechtsnot der Jugend«. Über Jugendbewegung und Sexualität, in: Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985, S. 245–309. 49 Zur Geschichte der Lebensreform in der Schweiz und zu Werner Zimmermann vgl. Ulrich Linse: »Der alte Shinti-Geist« und die »Lebensreform«. Der Deutsch-Schweizer Werner Zimmermann (1893–1982) und seine drei Japan-Reiseberichte über das »geistige Nippon«, in: Inken Prohl, Hertmut Zinser (Hg.): Zen, Reiki, Karate. Japanische Religiosität in Europa (Bunka 2), Hamburg 2002, S. 211–247; Stefan Rindlisbacher: Popularisierung und Etablierung der Freikörperkultur in der Schweiz (1900–1930), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 2015, Bd. 65, 3, S. 393–413.

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des »Alten Hauses« mit dem aufgemalten Vogelhof-Emblem, das zugleich ein Wandervogel-Symbol sein sollte,50 als originale Sachquelle rettete. Die Fensterläden dokumentierten auch die Zeit von 1921 bis 1952, als die Siedlung Vogelhof zusätzlich noch eine Jugendherberge gewesen war. Matts Schwender dagegen, der Waldbauernbub aus dem Pfälzer Wald, schenkte dem Verfasser eine Reihe von Farbfotos der »Angstblüte« (extreme Pollen- und Zapfenbildung) der beiden hohen Fichtenreihen am »Philosophenweg« bei der Ansiedlung, die für ihn in diesem Ausmaß ein neuartiges und beunruhigendes Umweltphänomen darstellte. Heute bringt man dieses mit Klimawandel und forstlichen Nährstoffaspekten in Zusammenhang, wobei die Samen-Überproduktion die Wälder schwäche und so selbst wiederum zu einem Faktor des »Waldsterbens« werde. Die ökologische Sensibilität der »alten« Lebensreformbewegung – im Falle des Vogelhofes basierend auf dem temperenzlerischen Askese-Ideal einer »naturgemäßen Lebensweise«, einer »reinen, giftfreien Lebensführung«51 – rückte für mich durch diesen kleinen fotografischen Quellenbeleg ins helle Licht. Schon 1931 erwähnte Schwender in seinem Rückblick auf die Geschichte des Vogelhofs »die uns […] selbstverständliche Umstellung der ganzen Düngerwirtschaft nach den aus unserer Weltanschauung herauswachsenden Gesichtspunkten«.52 Die von Schwender 1981 im Sinne einer Kontinuitätsthese53 postulierte Entwicklung von der alten Lebensreform hin zum Umweltschutz, der damals für zeitgenössische Kommunen von größerer Bedeutung war,54 hat mich später noch ausführlicher beschäftigt.55 50 »Der Hof hatte bis zu unserem Kauf [1921] ein eigenartiges Schicksal. Von einem alten Schulmeister unserer politischen Gemeinde Erbstetten auf dem nur mit Wacholder bewachsenen Vogelplatz gegründet, erhielt er von der Bezeichnung des ganzen Gewannes seinen Namen ›Vogelhof‹. Dieser Name wurde für uns ›Wandervögel‹ symbolisch«, so Matts Schwender in: Deutsche Lebensanschauung (Anm. 9), S. 29. 51 Der Vogelhof erwartete von Bewerbern die Bereitschaft zu einem Leben »in naturfroher und naturgemäßer Weise (frei von Fleisch, Alkohol und Tabak)«: Auskunftsblatt der Siedlung, ca. 1930, zit. nach Ulrich Linse (Hg.): Zurück o Mensch zur Mutter Erde, München 1983, S. 220. Der Fragebogen für Neubewerber enthielt demgemäß den Fingerzeig: »Sind Sie schon enthaltsam und seit wie lange a. von berauschenden Giften, b. von Tabak, c. von Fleisch?« Die Gründer der Siedlung einschließlich Matts Schwender waren Wehrtempler (also Mitglieder der Jugendorganisation der abstinenten Guttempler) – deren Reinheits-Ideal scheint mir eine bisher übersehene historische Wurzel erhöhter ökologischer Aufmerksamkeit zu sein. 52 Lebensanschauung (Anm. 9), S. 32. 53 Solche Kontinuitäten sind etwa auf lebensreformerisch-medizinischem Gebiet vorhanden; siehe Ulrich Linse: Ralph Bircher in den 1950er- und 1960er-Jahren: Von den »Zivilisationsschäden« zur Umweltkrise – Perspektiven einer alternativen »Lebenswissenschaft« aus konservativem Geiste, in: Eberhard Wolff (Hg.): Lebendige Kraft. Max Bircher-Benner und sein Sanatorium im historischen Kontext, Baden 2010, S. 166–187. 54 Helmut Kistenfeger, der Matts Schwender 1981 interviewte, schrieb über ihn: »Wichtig ist für ihn, dass die Idee einer möglichst wenig künstlich arbeitenden Landwirtschaft, die von der Alternativbewegung heute aufgegriffen wird, schon vor einer Generation Menschen ernsthaft

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Technik-Bejahung Aber auch eine meiner damaligen Blindstellen ist an dieser Stelle nachträglich zu beklagen: Vor dem Hintergrund von Hakos »linken« Überlegungen zur Mechanisierung der Handarbeit hätte ich auf Matts Schwenders Hinweis auf die Schwere der landwirtschaftlichen Arbeit hellhöriger reagieren müssen: »Die Art der Arbeit im Handwerklichen war und blieb der weggelegten Stadtarbeit am nächsten verwandt und wurde deshalb noch am leichtesten ertragen. Anders wirkte sich die Landarbeit aus. Wir mussten erkennen, dass Landarbeit von Tagesgrauen bis zur sinkenden Nacht einen Körper braucht von Stahl und Eisen«.56 Das führte wohl zur Umstellung von der Landwirtschaft auf den Garten- und Obstbau sowie handwerkliche Produktionsprojekte, aber auch zu Überlegungen technischer Innovationen: »Obwohl wir in unserer Landwirtschaft meist mit Pferden arbeiteten, faszinierte mich seit 1936 der Holzvergasermotor. Ich hatte mir eine umfangreiche Sammlung an Fachliteratur darüber zugelegt und korrespondierte auch mit Ferdinand Porsche …«57 Bereits zuvor bestanden Pläne, den sogenannten »Turm« im neu gebauten »Werkgemeindehaus« mit einem Windmotor zur Energiegewinnung für die dortigen Gewerke auszurüsten, die jedoch nicht realisiert wurden.58 Diese Hinweise verdienen insbesondere deshalb Interesse, da die völkischjugendbewegten Siedler ja eigentlich das unverdorben-»einfache« Bauernleben fern von der technisierten und dadurch vermassten« Großstadt suchten – und das ausgerechnet mit Hilfe einer die Städter meist körperlich überfordernden Handarbeit. Dazu kam die Tatsache, dass sowohl Hako wie Matts Schwender kriegsversehrt und dadurch körperlich beeinträchtigt aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekommen59 und deshalb für einen sie entlastenden Einsatz von techni-

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bewegt hat«; hk [= Hartmut Kistenfeger]: »Land-Kommunen« nichts neues: Vor 60 Jahren »Werks-Gemeinschaft« auf dem Vogelhof, in: Schwäbische Zeitung, 12. 08. 1981. Etwa mit Blick auf den Stettiner Siedler, »Naturwart« und Ornithologen Paul Robien, siehe Ulrich Linse: Die »Naturwarte – eine ökologische Siedlung der Weimarer Zeit, in: Nothnagle: Grund (Anm. 6), S. 143–164; ders: Paul Robien – Eine Würdigung seines Lebens, in: Paul Robien (1882–1945). Ein pommerscher Naturschützer und Ornithologe, Friedland/ Mecklenburg 1998, S. 7–22. Ich hatte 1995 die Ehre, am deutsch-polnischen Stettiner Symposium aus Anlass von Robiens 50. Todestag (genauer: dem Tag seiner Ermordung) teilzunehmen. Aus diesem Anlass wurde am ehemaligen Ort seiner »Naturwarte« auf der Mönne-Insel (nun eine Wüstung) von politischen Repräsentanten Polens und Deutschlands ein Gedenkstein eingeweiht. Matthäus Schwender : Geschichte des Vogelhofs, in: Lebensanschauung (Anm. 9), S. 30. Bauer : Vogelhof (Anm. 46), S. 276. Vielleicht finden sich im Zuge der Erschließung der Sammlung im AdJb noch Unterlagen dazu. Kistenfeger : Vogelhof (Anm. 44), S. 12, 14. Matts Schwender berichtete 1931, dass er im Herbst 1917 an der Flandernfront schwer verwundet wurde, ein halbes Jahr in Lazaretten verbrachte und dann im Frühjahr 1918 »mit

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schen Hilfsmitteln offen waren. Es verdient unseren Respekt, dass die frühen Vogelhof-Siedler, um Freunde zu treffen, mit dem Fahrrad in die fünf Stunden entfernte Landeshauptstadt Stuttgart strampelten und am nächsten Tage wieder zurück auf die Schwäbische Alb60 – eine archaische Form von Auto-Mobilität. Das Fehlen eines eigenen Kraftfahrzeugs erwies sich für die Vermarktung besonders der handwerklichen Erzeugnisse der Kommune (Produkte der Druckerei, Schusterei, Schreinerei und Schlosserei) als großes Hemmnis. Matts Schwender betrieb dann von 1936 bis 1951 mit seinem Holzvergaser ein kleines Mietwagenunternehmen neben der Landwirtschaft.61 Diese punktuellen Beobachtungen zum Technik-Verhältnis sind freilich einzuordnen in das generelle Dilemma der Völkischen, sich zwischen einer an der Vergangenheit orientierten Einstellung als »Waldvolk« (im Sinne von Raoul Henry Franc8 und Wilhelm Kotzde) und einer gegenwartsnahen Bejahung der Technik (nicht zuletzt in der Landwirtschaft62 und im Wehrbereich) entscheiden zu müssen. Dies stellte auch ein Generationsproblem dar.63 Der »reactionary modernism« des Nationalsozialismus64 bot ihnen hier schließlich eine mögliche Kompromisslösung.

Völkisch = nationalsozialistisch? Natürlich wird man fragen, ob nicht auch das Thema der NS-Verstrickung der völkischen Siedler zum Thema meiner Interviews wurde. Dies kam ausführlich zur Sprache. Freilich war zweifelhaft, inwiefern die von Schwender gemachte begriffliche Trennung zwischen »völkischen« Siedlern wie dem antisemitischen Hauptgründer der Siedlungsschule und späteren NSDAP-Mitglied Friedrich

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weitgehend abgebautem und für das Soldatsein fernerhin unbrauchbarem Körper in meinen [Bank-]Beruf beurlaubt und dann [aus der Armee] entlassen« worden sei: Lebensanschauung (Anm. 9), S. 28. Bauer : Vogelhof (Anm. 46), S. 276. hk: Land-Kommunen (Anm. 54). So wurde von einem Flügel der völkischen »Artamanen« schließlich die Industrialisierung Deutschlands und die Maschinisierung seiner Landwirtschaft bejaht; siehe Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008, S. 220f. Siehe die Analyse des Stichworts »Technik« im Vokabular der bündischen Zeitschrift »Die Kommenden« bei Stefan Breuer, Ina Schmidt: Die Kommenden. Eine Zeitschrift der Bündischen Jugend (1926–1933) (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 15), Schwalbach/Taunus 2010, S. 291–296. Jeffrey Herf: Reactionary modernism. Technology, culture and politics in Weimar und the Third Reich, Cambridge 1984.

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Schöll65 auf der einen Seite und der angeblich harmlosen »volklichen« und toleranten Ausrichtung der Mehrheit auf der anderen Seite mehr als eine nachträgliche Scheinrechtfertigung war.66 So fand der Verfasser in den ihm überlassenen Unterlagen der Siedlung einen »Fragebogen« an potentielle Bewerber, der auch die Frage enthielt: »Sind Sie und Ihre Frau germanischer Abstammung?« Und in den Grundsätzen der Siedlung war bereits 1920 niedergelegt: »Die Siedlung steht auf dem Boden eines arisch-christlichen Glaubens […] Wir wollen völkische Reinhaltung der Siedlung und Pflege deutscher Eigenart.«67 Und noch 1931 hieß es klar und deutlich über die Voraussetzungen der Mitgliedschaft in der Siedlung: »Fremdblütige sind ausgeschlossen.«68 Die Siedlung hieß programmatisch »Hellauf-Siedlung«, weil dort nur »reines Blut« (samt hellem Haar, heller Haut, hellen Augen) und keine »Mischseelen« erwünscht waren.69 Der Nationalsozialismus machte sich bekanntlich dieses bereit liegende und durch den verlorenen Ersten Weltkrieg radikalisierte rassistische Potential der »Völkischen« zunutze. Eine eigenständig organisierte »völkische Religion« jedoch – ob in »kristlich«-deutscher oder heidnisch-nordischer Spielart, wie in den Weimarer Jahren auf den jährlichen »Arbeitsgemeinschaften« des Vogelhofes diskutiert – haben die Nationalsozialisten dagegen schlussendlich als unliebsame Konkurrenz unterbunden.

65 Siehe Christoph Knüppel: Friedrich Schöll: »Schulsiedlung Vogelhof«. Lebensreform als »Ausmerzung alles Wesensfremden«, in: Manfred Bosch u. a. (Hg.): Schwabenspiegel – Literatur vom Neckar bis zum Bodensee 1800–1950, Biberach/Riß 2006, S. 731–764.; Christoph Knüppel: »Vorarbeiten zur geistigen Einheit des deutschen Volkes«. Friedrich Schöll als Leiter der Württembergischen Bauernhochschule und der Arbeitsgemeinschaft Vogelhof, in: Paul Ciupke u. a. (Hg.): »Erziehung zum deutschen Menschen.« Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, Essen 2007, S. 187–215. – Schöll hat sich 1946 in seinem Spruchkammerverfahren erstaunlich bequem aus seiner Verantwortung gemogelt, indem er sich als Opfer des Nationalsozialismus ausgab (wegen der Schließung seiner Schule 1937), seine Lehrertätigkeit an einer Adolf-Hitler-Schule 1943/44 als persönliches Opfer darstellte (Trennung von Familie und Garten) und als Kriegsdienstverpflichtung rechtfertigte, wobei ihm sein zusätzlich zum bisherigen Ruhegehalt dort bezahltes »Parteigehalt« wenigstens erlaubt habe, einen Teil der auf der Siedlung lastenden Schulden abzutragen. Er kam mit diesen Ausreden beim Spruchkammerurteil mit einer Kürzung seiner Pension um 25 % durch (Staatsarchiv Sigmaringen, Wü 13 T2 Nr, 1124/171). 66 Für Schwenders Darstellung spricht ein Brief Friedrich Schölls an Ernst Emanuel Krauß (Pseudonym: Georg Stammler) vom 7. Heuerts (Juli) 1936: »Aber die Lage hier ist zur Zeit seelisch kaum tragbar. Ich verschweige Dir nicht, dass ich fast meinen ganzen MitarbeiterStab neu aufbauen muss, und dass hinter der Hetze auch in gewissem Sinne Matts Schwender steht, der dem Nationalsozialismus ganz ferne steht und die Schule, wie ich sie hier vertrete, durchaus ablehnt« (AdJb, N 33, Nr. 140). 67 Friedrich Schöll, 1. Siedlerbrief (1920), zitiert nach Linse (Hg.): Mensch (Anm. 51), S. 204f. 68 Deutsche Lebensanschauung (Anm. 9), S. 42. 69 Ebd.

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Die »Frauensiedlung« Schwarzerden (heute Gemeinde Gersfeld im Landkreis Fulda) Zur Ökonomie der Siedlungskommunen Sowohl die »kommunistische« Kommune Blankenburg wie die »völkische« Kommune Vogelhof waren, als ich sie vor Ort aufsuchte, ökonomisch längst gescheitert und durch Reprivatisierung von Grund und Boden verschwunden. Im Gegensatz dazu erlebte ich an Pfingsten 1980 in der »Gymnastikschule Schwarzerden« (»Berufsfachschule für Gymnastik und Gesundheitserziehung. Staatlich anerkannte Ergänzungsschule mit Internat«, so der damalige Werbeprospekt)70 in der Rhön zwei Tage lang eine seit der Siedlungsgründung 1923 sehr lebendig gebliebene Einrichtung. Hatten sich die landwirtschaftlichen Produktions-Kommunen als nicht überlebensfähig erwiesen, auch nicht in der Schöllschen Kombination einer »Schulsiedlung« (Heimschule plus Landwirtschaft mit Handwerk), so stieß die gymnastische Dienstleistungskommune Schwarzerden auf eine (teilweise staatlich subventionierte) gesellschaftlichpädagogische Nachfrage. Damit stellte sich dem Verfasser erneut die Frage nach den ökonomischen Aspekten der alten Landkommunen. Denn die vorangegangenen Gespräche hatten ihm im Falle von Blankenburg deutlich gemacht, dass es bei einem Schwerpunkt auf der Produktion landwirtschaftlicher und gärtnerischer Produkte die von den Siedlern befürchtete Tendenz zur eigenen mentalen »Verbäuerlichung« gab. Andererseits verdammte aber die fehlende wirtschaftliche Rentabilität die Siedler zur Abhängigkeit von Mäzenen, also zur Bettelei, und machte so die erstrebte Autarkie innerhalb der um sie herum weiterbestehenden alten Wirtschaftsweise zur Farce. Wollte man deshalb Landwirtschaft und schulische Dienstleistung wie auf dem Vogelhof kombinieren (das Schulinternat war dort der Hauptabsatzort für die eigenen landwirtschaftlich-gärtnerischen Erzeugnisse), so hatte diese Regelung mit der politischen und finanziellen Krise der Einrichtung Ende der 1930er und zu Beginn der 1940er Jahre zur personellen und generationellen Polarisierung geführt: Da der Schulleiter Schöll nie in der Landwirtschaft des Hofes tätig gewesen war, warf ihm Matts Schwender als Geschäftsführer der Gesamtsiedlung (er hatte sowohl eine Bankausbildung wie eine landwirtschaftliche Lehre absolviert) vor, er wolle – durch seine staatliche Pension als Lehrer persönlich gesichert – die ganze Siedlung als bloßes Anhängsel in die Schule eingliedern (»Siedlungsschule«) 70 Die »Gymnastikschule Schwarzerden« wurde 1995 nach 68 Jahren geschlossen, stattdessen 1997 die »Physiotherapie-Schule Schwarzerden« eröffnet (dazu die sog. »Rhön-Akademie« mit Gesundheitsthemen). Diese Veränderung spiegelt natürlich auch die Medikalisierung der historischen »Körperkultur«.

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anstatt der Landwirtschaft und dem Handwerk einen gleichrangigen Platz in einer umfassenden »Werkgemeinde« einzuräumen.71

Frauen-Kommune Ein solches das genossenschaftliche Gesamt-»Unternehmen« sprengendes Auseinandertreten der verschiedenen Funktionsträger hatte es offenbar in Schwarzerden nicht gegeben, obwohl auch dort Landwirtschaft und Schule zunächst gemeinsam und arbeitsteilig existierten, bis dann mit der Zeit die Landwirtschaft zurücktrat. Hatten in Blankenburg und auf dem Vogelhof die scheinbar »verlorenen Söhne des Bürgertums«72 – mit jeweils einem »AlphaTier« im Zentrum – das Sagen und die Frauen eine, freilich überlebenswichtige, dienende Rolle, war Schwarzerden eine Frauenkommune, die von drei Frauen gegründet und geleitet wurde. Dahinter stand das Bestreben dem alten Rollen71 Siehe dazu den Brief von Matts Schwender an Friedrich Schöll von 1942 bei Linse (Hg.): Zurück o Mensch zur Mutter Erde (Anm. 51), S. 214–216. Schwender lehnte deshalb auch Schölls Bezeichnung »Schulsiedlung Vogelhof« ab und wollte sie ersetzt sehen durch die Bezeichnung »Gesamtsjedlungs-Gemeinde Vogelhof und ihre Teilgebiete« (Schwenders handschriftl. Korrektur der Überschrift auf S. 49 von Deutsche Lebensanschauung (Anm. 9). Aber auch die Schule selbst war eine Gemeinschaftsleistung, wie Matts Schwender, zusätzlich in der Schule Fachlehrer für Werkunterricht und Gymnastik, betonte. In einem Begleitbrief an Ewald Könnemann zur gerade genannten Broschüre schrieb er am 16. Lenzing [März] 1937 »im Namen der Vogelhofgründer, die die ›Siedlung Vogelhof‹ nicht nur gleichwesentlich mitbegründen halfen, sondern die diese auch nach der Gründung durchtrugen & durchbissen. Dazu gehörte Friedrich Schöll nur an den Randkreis. Denn seine Kräfte reichten bei Weitem nicht zu, den Beginn, Aufbau & das Durchhalten seines Teilgebietes Schule zu leisten. Auch dafür haben sich andere seelisch & körperlich aufgeopfert. Es widerstrebt mir & all den anderen dies sagen zu müssen, doch das andauernde ehr- & machtsüchtige Arbeiten Schölls mit Halbwahrheiten in der Öffentlichkeit & besonders in der lebensreformerischen Presse zwingt uns dazu« (Abschrift dieses Briefes in Schwenders Exemplar der Broschüre Deutsche Lebensanschauung (Anm. 9), Kopie im Besitz des Verf.). 72 Reinhard Preuß: Die verlorenen Söhne des Bürgertums. Linke Strömungen in der deutschen Jugendbewegung 1913–1919, Köln 1991. Auch ich hatte meine Forschungen zunächst auf diese linken Strömungen fokussiert (Ulrich Linse: Die Entschiedene Jugend 1919–1921. Deutschlands erste revolutionäre Schüler- und Studentenbewegung, Frankfurt a. M. 1981), aber später, »aus aktuellem Anlass« sozusagen, die rechten Strömungen zunehmend ins Visier genommen: Ulrich Linse: Aussteiger der zwanziger Jahre. (Völkisch-religiöse) Landsiedlungen in Württemberg, in: Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt (Ausstellungsreihe »Stuttgart im Dritten Reich«), Stuttgart 1983, S. 226–245; ders.: Völkisch-rassische Siedlungen der Lebensreform, in: Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hg.): Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871–1918, München u. a. 1996, S. 397–410; ders.: »Fundamentalistischer« Heimatschutz. Die »Naturphilosophie« Reinhard Falters, in: Uwe Puschner, G. Ulrich Großmann (Hg.): Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 156–178; ders.: Siedlungen (Anm. 13).

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modell der patriarchalen Familie zu entkommen (weshalb Schwarzerden in der feministischen Geschichtsschreibung gebührende Aufmerksamkeit erhielt).73 Auch ich war beeindruckt vom »Amazonenstaat unter der Wasserkuppe«.74 Leitbild war nicht die Ehefrau als »Hausfrau«, sondern die selbstständige Frau, die auch bei »Männerarbeiten« zupacken konnte. Familiengründungen der Siedlerinnen waren unerwünscht, denn – so wurde argumentiert – Familien wollten Sonderrechte und das führe zur »Cliquen«-Wirtschaft und zerstöre die Kommune. Dass in den Siedlungen tatsächlich eine zusätzliche arbeitsmäßige und emotionale Belastung gerade der traditionellen Frau drohte, die zwischen ihrer dienenden Familien- und der Gemeinschaftsrolle hin- und hergerissen wurde, zeigen die Ausführungen der auf völkischen Familienidealen aufgebauten Vogelhof-Genossenschaft zur »Frauenfrage«.75 Das Ziel der körperlichen Arbeit in der Frauengemeinschaft, so betonte Marie Buchhold 1979 gegenüber dem Verfasser, war die »Erlangung einer sozialen Intelligenz«, hervorgerufen durch das gegenseitige »Sich-Lieben in Gestalt eines gegenseitigen Sich-Förderns«. Das habe auch eine Familiengründung der Leiterinnen ausgeschlossen, die ein erotisch verbundenes Frauenpaar waren (man vermied damals noch den Ausdruck »lesbisch«). Buchhold hob hervor, dass 73 Gudrun Schwarz: »Gemeinschaftsleben ist immer ein Wagnis«. Frauensiedlung und -gymnastikschule Schwarzerden in der Rhön, in: Die ungeschriebene Geschichte. Historische Frauenforschung. Dokumentation des 5. Historikerinnentreffens in Wien, 16.-19. 04. 1984, Himberg bei Wien1984, S. 238–250; Ortrud Wörner-Heil: Mit Frauen unabhängig gemeinsam leben und arbeiten: Von der Utopie zur Sozialreform. Ursprünge der Frauensiedlung Schwarze Erde in der Rhön, Diss. Kassel 1994, Buchveröffentlichung unter dem Titel: Von der Utopie zur Sozialreform. Jugendsiedlung Frankenfeld im Hessischen Ried und Frauensiedlung Schwarze Erde in der Rhön 1915–1933, Darmstadt 1996; dies.: »In der Idee leben!« Frauen siedeln in der Rhön, 1922–1927, in: Nothnagle, Holmberg: Grund (Anm. 6), S. 125–142. Inzwischen hat der Verein Schwarzerden selbst veröffentlicht: Chronik der Schule Schwarzerden: Geschichte einer Frauensiedlung in der Rhön 1927–1987, hg. Schwarzerden/ Rhön e. V., zusammengestellt von Dietlind Brehme, Gersfeld-Bodenhof 1989, und eine Festschrift: 75 Jahre Schwarzerden 1927–2002 (Mitteilungen der Schule Schwarzerden und des Bundes der SchülerInnen und Freunde von Schwarzerden), Gersfeld-Bodenhof 2002. 74 Ulrich Linse: Der Amazonenstaat unter der Wasserkuppe. Deutschlands erste ländliche Frauenkommune, in: Peter Ulrich Hein (Hg.): Künstliche Paradiese der Jugend, Münster 1984, S. 65–73. 75 »Die Familie ist eine natürliche Einheit innerhalb der Siedlung mit den in ihrem Wesen gegebenen Lebensrechten. Die Frauen sind selbstverantwortlich mitbestimmend und müssen ebenso, wie der Mann die soziale Unterordnung unter den Betrieb, so die organische Bindung an die Gemeinschaft zu dem ehelichen Verhältnis zum Gatten und über dieses hinaus lernen. Die daraus sich ergebenden Rechte bringen auch Pflichten, die von ganz anderer Wesensart sind als die einer nur der Familie, dem Manne und sich selbst verantwortlichen Hausfrau. Die ›Frauenfrage‹ auf der Siedlung ist noch schwerer als die ›Männerfrage‹« (Deutsche Lebensanschauung (Anm. 9), S. 41). Leider habe ich es damals versäumt, Matts Schwenders Frau Hanna und seine Tochter zu diesem Gesichtspunkt zu interviewen.

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auch der Mann in die Förderung seiner »sozialen Intelligenz« mit einbezogen werden müsse: »denn wenn er so bleibt wie er ist (orientiert auf Gewinn, Vorteil, Leistung) geht er vor die Hunde.« Buchhold wollte das ausdrücklich nicht als anarchistisches oder kommunistisch-antikapitalistisches Bekenntnis verstanden wissen – dieser Hinweis bezog sich wohl kritisch auf die 1968er Jugendbewegung – sondern als »soziales« Bekenntnis: »Kapital als Machtinbegriff muss bekämpft werden, eingedämmt auch durch Gesetze. D. h. dem Vermögenden müssen soziale Grenzen gesetzt werden.«

Rebellion und Anpassung In mehreren Interviews, welche der Verfasser 1979 in München mit der geistig kraftvollen 89-jährigen Marie Buchhold führen konnte (sie starb 1983),76 erzählte sie ihren Weg.77 Die Studentin der Religionsphilosophie, Enkelin eines protestantischen Pfarrers und Tochter eines altphilologischen Geheimrats hatte einst das Studium und den für sie geplanten Staatsdienst an den Nagel gehängt. Als »schwarzes Schaf« der Familie verkaufte sie ihr bei den Eltern stehendes Klavier – Statussymbol der »höheren Tochter« – für 700 Mark und erstand dafür die erste Kuh für die Siedlung in der Rhön. Und so nahmen dann eines Tages, wie sie dem Verfasser unnachahmlich erzählte, die beiden Aussteigerinnen Vogeler und Buchhold, die »Eingänge [und Ausgänge] des Lebens und das Euter der Kuh Alma, die ein Klavier war, in Augenschein«. Über die Jahre stellte sich aber auch in Schwarzerden – wie in den anderen Jugendbewegungskommunen – die wirtschaftliche Überlebensfrage. Wollte man nicht scheitern, bot sich es sich an, selbst zur Institution zu werden. Dies war möglich, weil das gymnastische, sozial-pädagogische Alternativangebot auf gesellschaftliche Resonanz stieß und die Siedlerinnen damit auf dem Felde der Lehrerinnen-Ausbildung einen Ansprech- und wohl auch Finanzpartner in der Kultus-Ministerialbürokratie fanden. Das Überleben der Gemeinschaftssiedlung, das war mein Fazit nach dem Besuch der Gymnastikschule und dem Gespräch mit einigen der dortigen Lehrerinnen, war gelungen, weil sich die Gründerinnen und deren Nachfolgerinnen nicht elitär von der Gesellschaft abkapselten, sondern eine sozial dienende Aufgabe fanden, die auf dem körperlich und psychologisch individuell fundierten Leitbild der Selbstständigkeit der Frau beruhte. Freilich rückte dadurch 76 Die beiden anderen Siedlungsgründerinnen Elisabeth Vogler (1892–1975) und Marta Neumayer (1900–1976) waren damals leider bereits verstorben. 77 Siehe inzwischen auch Henriette Schmitz: Gedankenwelten (Ambivalenzen und Konstanten): Vorbereitung, Aufbau und Entwicklung der Schule Schwarzerden in den pädagogischtheoretischen Schriften (1915–1940) von Marie Buchhold, Diplomarbeit am FB Erziehungswissenschaften der Universität Frankfurt a. M. 2000.

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das »alternative« Experiment schließlich in eine Staatsnähe, welche im »Dritten Reich« unter anderem auch zur persönlichen Parteimitgliedschaft Buchholds und zur Verquickung der pädagogisch-praktischen »sozialen Arbeit« der Siedlung mit den rassepolitischen Zielsetzungen der »Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt« führte.

Fazit Durch meine Interviews mit Hans Koch, Matts Schwender und Marie Buchhold hatte ich beeindruckende Persönlichkeiten kennengelernt. Diese Kommunegründer waren allesamt Angehörige der »jugendbewegten Jahrhundertgeneration« (Jürgen Reulecke) der um 1900 Geborenen. Der Erste Weltkrieg hatte ihnen ihre Jugend geraubt. Politisch desillusioniert und in ihrer durch die familiäre Herkunft vorgegebenen Berufsperspektive verunsichert, hatten sie ihrem Leben einen neuen Sinn in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten zu geben gesucht. Ihre berufliche »Neuorientierung« begann mit dem ländlichen »Moratorium« der Kommune. Die »Selbstbestimmung« sollte dort aber ihrer Vision nach erst im verantwortungsvollen sozialen Miteinander optimale Verwirklichung finden. Dazu reaktivierten sie den jugendbewegten Vorkriegs-Stil und schritten von der Freizeit-Gemeinschaft zur Lebens- und Besitz-Gemeinschaft. Dies implizierte auch eine grundsätzliche Kritik und radikale Alternative zur Politik und Ökonomie des Wilhelminismus, ohne aber in die Weimarer sozialdemokratischen Strukturen einzumünden (stattdessen ließen sich ihre Ansätze später durch den Nationalsozialismus absorbieren). Die Siedlerinnen und Siedler hatten im Widerstand gegen ein Zeitalter der »totalen« Erfassung des Menschen ein »selbstbestimmtes Leben« eingefordert und ein solches entsprechend ihrer Möglichkeiten riskiert. Obwohl sich ihre Pläne schließlich nur fragmentarisch in der Wirklichkeit umsetzen ließen, waren sie keine Gescheiterten – weder fühlten sie sich als solche noch waren sie es angesichts der Desiderate ihrer Gegenwart und der Zukunft. Die sie motivierende Haltung nennt man oft herablassend »Zivilisationsmüdigkeit«, tadelnd »Kulturpessimismus« oder gar »Antimodernismus«. Ihr kraftvoller Optimismus zur Gestaltung einer anderen, besseren Moderne aus der Wurzel eigener Erkenntnis und gegen mannigfache gesellschaftliche Widerstände (die oft schon bei ihren Kindern, die ihre eigenen Wege gehen wollten, begannen) wurde für mich nochmals auf den Punkt gebracht beim Besuch des Öko-Siedlers Willy Ackermann im Juni 1980 in seiner Waldsiedlung auf dem Weißen Berg bei Tiddische.78 Er hielt dort zusammen mit seiner Frau Frieda bis zu seinem Tode 78 Diese Interview-Reise war eine Suche nach den letzten Spuren der sog. Inflationsheiligen

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als 80-Jähriger 1985 ungebrochen die Gandhi-Ideale seiner einstigen »Wendepunkt-Gemeinschaft« hoch: »Wo ein Willy ist, ist ein Weg!«79

(u. a. Treffen mit Friedrich »Muck« Lamberty), aber das ist schon wieder ein anderes Thema. Ein Teil meines damaligen Ton-Interview-Materials mit Ackermann und Lamberty wurde ausgewertet im Radio-Feature von Robert Schurz: Wahrheitsmensch und tanzender Messias. Die Hochkonjunktur der Inflationsheiligen (Deutschlandfunk 19. 10. 2010 und 25. 04. 2017). 79 Über Ackermann berichtete erstmals Ulrich Weyland: Vor 50 Jahren ausgestiegen, in: Stern, 1979, Nr. 46, S. 118–132. Zur »Gandhi-Revolution mit Webstuhl und Spaten« der »Wendepunkt-Gemeinschaft« und Ackermann siehe: Ulrich Linse: Ökopax und Anarchie. Eine Geschichte der ökologischen Bewegungen in Deutschland, München 1986, S. 125–152. Aktueller Stand: K. Nafets: In [sic] Gedenken an Frieda und Willy Ackermann (2017), zusammen mit 12 Kommentaren: http://www.fotocommunity.de/photo/in-gedenken-an-frie da-und-willy-ackermann-k-nafets/6924445 (aufgerufen 28. 06. 2018).

Alternative Ernährung und Reformwirtschaft

Eva Locher

»Keimzellen einer einfachen, gesunden, friedlichen Lebensweise«. Zur Interaktion zwischen alten Lebensreformern und jungen Alternativen in der Schweiz in den 1970er Jahren

Einleitung. Synchrone Transferprozesse zwischen Lebensreform und Alternativmilieu Der vorliegende Beitrag behandelt das Verhältnis von Reform- und Alternativmilieu in der Schweiz in den 1970er Jahren. Er untersucht die synchrone Interaktion, indem er den Fokus auf die umweltverträgliche und gesunde Lebensweise legt, nach der sowohl Lebensreformerinnen als auch Personen aus dem Alternativmilieu strebten. Transfer-, Verflechtungs- und Zirkulationsprozesse zwischen den beiden Milieus – als abgrenzbare Kulturen konzeptualisiert – bilden den Mittelpunkt der Analyse.1 Wenn Kulturtransfers als dynamische Prozesse begriffen werden, die als Verschränkung von Selektions-, Vermittlungsund Rezeptionsprozessen auftreten,2 lassen sich entsprechende Übertragungsmodalitäten vom Reform- ins Alternativmilieu in den Blick nehmen. Es wird danach gefragt, inwiefern junge Alternative ältere lebensreformerische Diskurse und Praktiken rezipierten, die analytisch als untrennbar aneinandergekoppelte »Praxis/Diskurs-Formationen«3 verstanden werden, sie modifizierten und sich aneigneten. Zweitens kehrt der Beitrag die Blickrichtung um, wenn er der Frage nachgeht, wie Reformer die Aktivitäten der Alternativen wahrnahmen, wer aktive Vermittlerrollen einnahm und inwiefern Lebensreformer die neuen Initiativen der 1970er Jahre unterstützten. Das Inbeziehungsetzen dieser zwei Sozi-

1 Zum Konzept des Transfers vgl. bspw. Matthias Middell: Kulturtransfer und Historische Komparatistik. Thesen zu ihrem Verhältnis, in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung, 2000, Nr. 10/1, S. 7–41, S. 18. 2 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Der Kulturtransferansatz, in: Christiane Solte-Gresser, HansJürgen Lüsebrink, Manfred Schmeling (Hg.): Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive, Stuttgart 2013, S. 37–50, S. 40. 3 Andreas Reckwitz: Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation, in: Herbert Kalthoff, Stefan Hirschauer, Gesa Lindemann (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a. M. 2008, S. 188–209, S. 201f.

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alformationen mit besonderem Augenmerk auf deren Bemühungen um eine umweltverträgliche Lebensweise erlaubt es, neue Erkenntnisse sowohl über das Reform- als auch über das Alternativmilieu im späten 20. Jahrhundert zu gewinnen. Ernährungsreformerische, naturheilkundliche und freikörperkulturelle Konzepte machten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert den Kern der Lebensreform aus.4 Die Reformer5 strebten nach einem selbstbestimmten, einfachen, gesunden und naturbewussten Leben, das sie durch den Verzicht auf Alkohol, Tabak und Fleisch sowie bestimmte Körperpraktiken und eine spezifische Alltagsgestaltung zu verwirklichen suchten. Diese Selbstreform sollte zu einer Verbesserung und Veränderung der als krank wahrgenommenen Gesellschaft führen.6 Lebensreformerische Praktiken und Diskurse breiteten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus Deutschland in andere Länder aus. In der Schweiz bildete sich ein weitläufiges und aktives lebensreformerisches Netzwerk heraus.7 Der sozialreformerische Anspruch und das Ziel des gesunden und an der Natur ausgerichteten Lebens blieben während des gesamten 20. Jahrhunderts aktuell, so dass in dieser Hinsicht eine starke Kontinuität auszumachen ist. Die Reformerinnen der zweiten Jahrhunderthälfte transportierten diese Grundsätze nahezu ohne Modifikationen in die Nachkriegsjahrzehnte, passten aber die Begründungen für ihre Lebensführung dem sich verändernden Kontext an. So kritisierten sie verschiedene Aspekte der Massenproduktions- und

4 Wolfang Krabbe zählte in seiner grundlegenden Studie von 1974 den Vegetarismus, die Naturheilkunde und die Freikörperkultur zum engeren Kreis der Lebensreform, weiter außen verortete er unter anderem die Siedlungs- und Gartenstadtbewegung, die Boden- und Wohnungsreform und die Reformpädagogik, vgl. Wolfgang Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974, S. 12. 5 Hier werden die männliche und die weibliche Form in beliebigem Wechsel verwendet, wenn Personengruppen beide Geschlechter umfassen. Das erspart umständliche Konstruktionen ebenso wie das generische Maskulinum und schließt dennoch alle Geschlechter mit ein. 6 Vgl. Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2017, S. 20. 7 Zu diesen Transfers vgl. für die Ernährungsreform Martina Lienert: Bircher-Benner im System der Ernährungsreform, in: Eberhard Wolff (Hg.): Lebendige Kraft. Max Bircher-Benner und sein Sanatorium im historischen Kontext, Baden 2010, S. 52–77; für die Naturheilkunde vgl. Sabina Roth: Im Streit um Heilwissen. Zürcher Naturheilvereine anfangs des 20. Jahrhunderts, in: Hans Ulrich Jost, Albert Tanner (Hg.): Geselligkeit, Sozietäten und Vereine. Sociabilit8 et faits associatifs, Zürich 1991, S. 111–137; für die Freikörperkultur vgl. Stefan Rindlisbacher: Popularisierung und Etablierung der Freikörperkultur in der Schweiz (1900– 1930), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 2015, Nr. 65/3, S. 393–413.

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Massenkonsumgesellschaft, propagierten als gesellschaftsverändernde Alternative aber nach wie vor die Veränderung des täglichen Denkens und Handelns.8 In den »langen 1950er Jahren«9 vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1960er Jahre, als der Lebensstandard in weiten Teilen der Bevölkerung stieg, erlebte die Lebensreform in der Schweiz einen markanten Aufschwung. Das Interesse an reformerischen Vereinen nahm zu, was sich in steigenden Mitgliederzahlen niederschlug. Neben Reformzeitschriften, die bereits seit der Jahrhundertwende erschienen, traten neue Periodika, so dass reformerische Ideen immer breitere Kreise erreichten. In der Schweiz der Nachkriegszeit lässt sich ein lebensreformerisches Milieu als »alltagsweltlich verankerter Erfahrungs- und Kommunikationsraum«10 ausmachen, zu dem Einzelpersonen, Organisationen und informelle Zusammenschlüsse gehörten. Die unterschiedlichen Gruppierungen setzten zwar jeweils thematische Schwerpunkte auf die Ernährungsreform, die Naturheilkunde oder die Freikörperkultur, ihre Forderungen überlappten sich aber und ihre Anhängerschaft kombinierte meist verschiedene Praktiken im Alltag. Die soziale Trägerschicht reformerischer Vereine rekrutierte sich, wie in anderen Ländern auch, vom sozioökonomischen Standpunkt her betrachtet aus der Mittelschicht. In Reformorganisationen engagierten sich überwiegend Personen, die bereits eine berufliche Position erlangt und Familien gegründet hatten. Sie waren einerseits mit den nötigen finanziellen Ressourcen ausgestattet, um sich den spezifisch reformerischen und teuren Konsum der möglichst naturbelassenen Lebensmittel, Körperpflegeprodukte und Alltagsgegenstände leisten zu können. Andererseits verfügten Angehörige der Mittelschicht über den nötigen Bildungsgrad, um für die typischen reformerischen Krisendiskurse und Bewältigungsstrategien empfänglich zu sein.11 Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs und des steigenden Lebensstandards identifizierten die Reformer der Nachkriegszeit zahlreiche Krisen: Sie sahen das 8 Nur wenige Studien beziehen die deutsche Lebensreform der Nachkriegszeit mit ein, vgl. Florentine Fritzen: Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006; Corinna Treitel: Eating Nature in Germany. Food, Agriculture, and Environment, c. 1870 to 2000, Cambridge 2017. Für die Entwicklung der Lebensreform in der Schweiz nach 1950 vgl. Eva Locher : Wider den »Irrsinn in der Welt«. Die Lebensreform in der Nachkriegsschweiz, Dissertation, Freiburg i.Ü. 2018. 9 Vgl. Georg Kohler : Konsumglück, Kalter Krieg und Zweite Moderne. Die Schweiz und die Fifties, in: Thomas Buomberger, Peter Pfrunder (Hg.): Schöner leben, mehr haben. Die 50er Jahre in der Schweiz im Geiste des Konsums, Zürich 2012, S. 7–19, S. 8. 10 Dieter Rucht: Linksalternatives Milieu und Neue Soziale Bewegungen in der Bundesrepublik. Selbstverständnis und gesellschaftlicher Kontext, in: Cordia Baumann, Nicolas Büchse, Sebastian Gehrig (Hg.): Linksalternatives Milieu und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren, Heidelberg 2010, S. 35–59, S. 40f. 11 Für sämtliche Informationen in diesem Beitrag zur Entwicklung der Lebensreform in der Schweiz nach 1950 vgl. Locher : »Irrsinn in der Welt« (Anm. 8).

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wertvolle »Leben« als von der »Zivilisation« bedroht und machten als verschiedenste Missstände aus, in denen sie »Zivilisationsschäden« erblickten: sich verbreitende Krankheiten, den zeitgenössischen gehetzten Lebensstil, die steigende Umweltverschmutzung oder einen allgemeinen »Werteverlust«. Als sich seit den 1950er Jahren die Produktion und der Verbrauch verschiedener Rohstoffe im Vergleich mit früheren Phasen exponentiell beschleunigten und sich die Schadstoffbelastung in Luft, Wasser und Boden vervielfachte,12 avancierte zum zentralen Anliegen der Lebensreformerinnen das Postulat, ein harmonisches Miteinander von Mensch und Umwelt, also ein »ökologischeres Leben«,13 zu erreichen. Die »naturgemäße Lebensweise« repräsentierte die wichtigste reformerische Lösungsstrategie, um die empfundene Krise zu überwinden. Die Reformer bemühten sich um eine Lebensgestaltung, die sich möglichst an den »Naturgesetzen« orientierte, die Vorteile für den Einzelnen und seine physische wie psychische Gesundheit bringen und gleichzeitig die Umwelt schonen sollte. Die 1970er Jahre repräsentieren für die Geschichte der Lebensreform in der Schweiz eine wichtige Übergangsphase. Bis zu diesem Zeitpunkt diffundierten zentrale reformerische Praktiken und Diskurse in breitere Kreise. Als um 1970 das allgemeine Umweltbewusstsein stieg,14 registrierten die Lebensreformerinnen die wachsende Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Umweltthemen und das größere Engagement neu gegründeter Organisationen. Sie bemerkten mit Genugtuung, dass sie aufgrund ihrer Warnungen vor der Umweltzerstörung nicht mehr als »Sektierer und Gesundheitsapostel« abgekanzelt wurden.15 Dass das Interesse der Gesamtgesellschaft an einer möglichst natürlichen Ernährung, an einer ganzheitlichen Betrachtungsweise oder an naturheilkundlichen Verfahren zunahm, veranlasste den Redakteur der Reformhaus-Zeitschrift Reform+Diät 1967 zur Einschätzung, dass vieles, wofür sich Reformer vor »zwanzig oder zehn Jahren noch mit Vehemenz einsetzen mußten« zu »Allgemeingut« geworden sei.16 In den 1970er Jahren traten auch neue Akteure aus dem Alternativmilieu in Erscheinung. Deren Anliegen deckten sich weitgehend mit lebensreformerischen Forderungen, propagierten doch auch sie die Selbstveränderung als 12 Vgl. Christian Pfister: The »1950s Syndrome«and the Transition from a Slow-Going to a Rapid Loss of Global Sustainability, in: Frank Uekötter (Hg.): The Turning Points of Environmental History, Pittsburgh 2010, S. 90–118. 13 Fritzen: Gesünder leben (Anm. 8), S. 253. 14 Vgl. J. R. McNeill: The Environment, Environmentalism, and International Society in the Long 1970s, in: Niall Ferguson, Charles S. Maier, Erez Manela, Daniel J. Sargent (Hg.): The shock of the global. The 1970s in perspective, Cambridge 2010, S. 263–278. 15 Ernst Steiger : Unser Weg. Der Schweiz. Verein für Volksgesundheit als Wegbereiter zur modernen Gesundheitsvorsorge, in: Die Volksgesundheit, 1971, Nr. 64/6, S. 5–8. 16 Ernst Steiger : Ein neues Lebensgefühl. 20 Jahre Reform + Diät, in: Reform+Diät, 1967, Nr. 6/ 7, S. 1.

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zentrales Instrument jeglicher Gesellschaftsentwicklung. Wichtiger als der politische Kampf erschien ihnen, eine kritische Masse von Personen zu einem neuen Lebensstil zu animieren, was wiederum einen gesellschaftlichen Wandel nach sich ziehe.17 Sowohl das Reform- als auch das Alternativmilieu rekrutierten vornehmlich Personen aus der Mittelschicht und mit höherem Bildungsgrad. Anders als in lebensreformerischen Vereinen, deren Mitglieder und Protagonisten meist fortgeschrittenen Alters waren, engagierten sich im Alternativmilieu jedoch vor allem junge Menschen unter dreißig Jahren.18 Die beiden Gruppen differenzierten sich dementsprechend nach Alter. Wird der vieldeutige Generationenbegriff auf Alterskohorten bezogen und definiert als soziale Formation benachbarter Geburtsjahrgänge, die durch Selbst- und Fremdzuschreibungen bestimmt werden und aufgrund spezifischer Prägungen, Denk- und Handlungsmuster sowie einem Zusammengehörigkeitsgefühl miteinander verbunden sind,19 lassen sich das reformerische und das alternative Milieu als zwei generationelle Sozialformationen konzeptualisieren. Dabei boten ihre Werte und Handlungen für die jeweils andere soziale Gruppe Anschlussmöglichkeiten. So erinnerten die Ziele und Forderungen der Alternativen an Topoi, welche die Reformer seit Jahren vorbrachten: Nicht nur strebten gegenkulturell Engagierte nach Selbstverwirklichung, Natürlichkeit, Ganzheitlichkeit, Nachhaltigkeit und Authentizität, sondern sie formulierten auch eine Kritik an der Gesellschaft, die diese als »entfremdet« deutete.20 Seit 1970 avancierte der Umweltschutz auch in alternativen Kreisen zu einem zentralen Anliegen. Sie vertraten die Idee, dass zwischen persönlichen Konsum- und Lebensstilentscheidungen sowie sozialer Veränderung ein enger Zusammenhang bestehe. Viele junge Leute erprobten Modelle naturnaher und umweltfreundlicher Lebensführung und wollten mit ihrer Verhaltensänderung zur Überwindung der ökologischen Krise beitragen. Sie formulierten eine vehemente Konsumkritik, die aber keinen grundsätzlichen Verzicht beinhaltete, sondern mit der Frage verknüpft war, welche Güter und welche Formen des Konsumierens richtig und ökologisch vertretbar seien.21 17 Vgl. Peter Braunstein, Michael William Doyle: Introduction. Historicizing the American Counterculture of the 1960s and ’70s, in: dies. (Hg.): Imagine Nation. The American Counterculture of the 1960s and ’70s, New York, London 2002, S. 5–14, S. 10. 18 Zum sozialen und generativen Profil des Alternativmilieus vgl. Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 45ff. 19 Zur Definition vgl. Detlef Siegfried: Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 61. 20 Zum alternativen Milieu, seinen Zielen und seiner Kritik vgl. Sven Reichardt, Detlef Siegfried (Hg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010; Baumann u. a. (Hg.): Milieu (Anm. 10); Reichardt: Authentizität (Anm. 18). 21 Vgl. Jens Ivo Engels: Umweltschutz in der Bundesrepublik – von der Unwahrscheinlichkeit einer Alternativbewegung, in: Reichardt, Siegfried (Hg.): Milieu, S. 405–422.

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Den in den 1970er Jahren aktiven Lebensreformern entging nicht, dass im Alternativmilieu Experimente stattfanden, die lebensreformerische Ideale aufgriffen. So erkannte der Gründer der Schweizer FKK-Organisation Eduard Fankhauser 1974: »Wir dürfen nicht vergessen, dass hier und dort auch vielversprechende ansätze vorhanden sind, die erkennen lassen, dass die jungen das überspitzte konsum- und prestigedenken der alten nicht kritiklos übernehmen. […] man verlässt die gleise des eingefahrenen perfektionismus und besinnt sich wieder auf die wahren werte des lebens. man verlässt gesicherte stellen in büros und fabriken, um in verlassenen tälern und bergdörfern durch biologischen landbau, bei handwerklich-schöpferischer betätigung seine bedürfnisse zu befriedigen, für sich und seine nachkommen keimzellen einer einfachen, gesunden, friedlichen lebensweise zu schaffen, um der drohenden umweltkatastrophe die stirn zu bieten.«22 Einerseits spricht aus Fankhausers Einschätzung Genugtuung darüber, dass jüngere Personen Werte vertraten, die auch Reformerinnen wichtig waren. Indem der FKK-Vereinspräsident die alternativen Initiativen als »vielversprechend« apostrophierte, lobte er den Lebensstil dieser Jungen. Andererseits war ebendiese indirekte Aneignung reformerischer Postulate durch die gegenkulturell Engagierten für die Lebensreformer mit Ambivalenzen verbunden: Dass sich lebensreformerische Praktiken und Diskurse ins Alternativmilieu verschoben, verschaffte den Reformvereinen keine neue Schlagkraft. Die jungen Alternativen zeigten im Gegenteil kein Interesse daran, in die traditionell organisierten Reformvereine mit ihrer älteren Trägerschaft einzutreten, und beurteilten deren Mitglieder zum Teil auch als zu »dogmatisch«.23

Natürliche und unverarbeitete Produkte für die gesunde Ernährung. Die Aneignung lebensreformerischer Praktiken und Diskurse im Alternativmilieu Gehörte die Frage, wie und was man aß, zu den wichtigsten Aspekten der Lebensreform, sprengte dieser spezifische Ernährungsstil in den 1970er Jahren den Rahmen des Reformmilieus und stieß insbesondere in gegenkulturellen Kreisen 22 Eduard Fankhauser : Grenzen des Naturismus, in: Die neue Zeit 74, 1974, S. 4–8, S. 8. Die Schweizer FKK-Zeitschrift Die neue Zeit praktizierte die sogenannte Reformschreibweise, die nach 1950 auf eine Unterscheidung in Klein- und Grossschreibung verzichtete, während zuvor zusätzlich noch »sch« durch »sh« ersetzt worden war. Diese Schreibweise sollte das reformerische Ideal der einfachen Lebensweise auch in Grammatik und Orthographie wiederspiegeln. 23 Arbeitsgemeinschaft Umwelt beider Hochschulen: Umdenken – Umschwenken: Alternativen – Wegweiser aus den Sachzwängen der grosstechnologischen Zivilisation? Wanderausstellung ETH Zürich 1975, Zürich 1975, L VII 1.

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auf Interesse. In Abgrenzung von Massenproduktion, dem Einsatz von chemischen Düngemitteln oder der kommerzialisierten Verpackungsweise avancierte die Frage, wie man kochte und was man zu sich nahm, zu einem zentralen Charakteristikum des alternativen Lebensstils.24 Die reformerische Ernährungsweise, die auf Gesundheit ausgerichtet war und möglichst unverarbeitete und natürliche Produkte empfahl, gewann an Popularität: Den Alternativen erschien sie als Teillösung für die drohende Umweltkatastrophe.25 Der reformerische Ernährungsstil hatte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert im Kontext der einsetzenden Industrialisierung der Lebensmittelproduktion herausgebildet. Ernährungsreformer reagierten auf die intensivierte Technisierung, Automatisierung und Industrialisierung der Lebensmittelverarbeitung, indem sie den stärker konfektionierten Produkten naturbelassene Speisen gegenüberstellten. Ihre wichtigste Forderung lag darin, zu einer »natürlichen« und gesunden Ernährung zurückzukehren.26 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, im Zuge der sogenannten »Fresswelle«27, als globalisierte Warenströme ein immer größeres Angebot von Produkten zur Verfügung stellten und sich eine Kultur des Massenkonsums herausbildete,28 blieb dieser Anspruch aktuell. Nach wie vor basierte die Ernährung der Reformer auf »lebensfrischen Speisen« wie Pflanzen und Vollkorn, welche direkt aus der Natur stammten und nicht durch Erhitzen verändert worden waren. Größtmögliche Gesundheit erhoffte sich außerdem, wer möglichst knapp und mit Mäßigung aß.29 Die Ernährungsreformer attestierten diesen Prinzipien in der Nachkriegszeit eine neue Dringlichkeit und versprachen sich durch die »naturgemäße« Ernährungsweise Schutz vor neuen Gesundheitsrisiken wie Pestiziden oder radioaktiven Rückständen in der Nahrung.30 Der Transfer ernährungsreformerischer Konzepte ins Alternativmilieu lässt sich am Beispiel des Alternativkatalogs aufzeigen, der zwischen Juli 1975 und April 1978 in drei Bänden erschien. Wie sein amerikanisches Vorbild, der von

24 Vgl. Karen Hovde: Health Foods, in: Gina Misiroglu (Hg.): American Countercultures. An Encyclopedia of Nonconformists, Alternative Lifestyles, and Radical Ideas in U.S. History, Armonk 2009, S. 365–368, S. 367. 25 Vgl. Treitel: Eating Nature in Germany (Anm. 8), S. 267. 26 Vgl. Judith Baumgartner : Ernährungsreform, in: Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998, S. 115–126. 27 Arne Andersen: Der Traum vom guten Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt a. M., New York 1997, S. 36. 28 Vgl. Eva Maria von Wyl: Ready to Eat. Die Schweiz entdeckt amerikanische Esskultur, Baden 2015, S. 54ff. 29 Vgl. bspw. Ralph Bircher : Kernsätze der Ernährung. Was die Ernährung zur Gesundheit beitragen kann, Frankfurt a. M., Zürich 1951, S. 20ff. 30 Vgl. Ralph Bircher : Lebenswerte Gegenwart. Doppelgesicht der Not, Erlenbach 1958, S. 144ff.

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Stewart Brand herausgegebene Whole Earth Catalog,31 versammelte das Schweizer Pendant Beiträge zahlreicher Autorinnen zu unterschiedlichen Bereichen des alternativen Lebens. Er stellte eine Art Nachschlagewerk dar, indem er Hintergrundinformationen publizierte, konkrete Tipps und Anleitungen zur Lebensgestaltung gab sowie weiterführende Literatur und Adressen bzw. Kontaktdaten vermittelte.32 In der zweiten Ausgabe des Alternativkatalogs vom Mai 1976 erschien ein Beitrag unter dem Titel »Grundsätzliches zur Ernährung«, in dem die Autorin Christa Nussbaum den Alternativen die Forderungen der Ernährungsreform näher brachte und sich auf ernährungsreformerische Literatur berief. Sie empfahl die Handbücher des bekannten Zürcher Ernährungsreformers und naturheilkundlich orientierten Arztes Maximilian Bircher-Benner (1867–1939),33 verschiedene Publikationen aus dem auch nach dem Tod des Gründers aktiven Bircher-Benner-Verlag, die ernährungstheoretischen und -praktischen Abhandlungen des Reformhausgründers Rudolf Müller (1899– 1986)34 und Wegweiser der naturheilkundlichen Kneippvereine. Zudem informierte sie über den Bücherleihdienst des Reformhauses Ruprecht in Bern, der Literatur zu Ernährung und Gesundheit vertrieb.35 Inhaltlich orientierte sich Nussbaum stark an den ernährungsreformerischen Konzepten. Wie die Reformerinnen verstand auch die Autorin des Alternativkatalogs den Menschen als »harmonische Einheit mit der ganzen Welt«, der seinen Körper mittels einer »differenzierten, naturnahen Nahrung« erhalten solle. Nahrungsmittel, die mit technischen Mitteln »entfremdet« und dadurch ihres Reichtums beraubt wurden, konnten dies nicht erbringen. Entsprechend den reformerischen Empfehlungen propagierte Nussbaum deshalb natürlich gewachsene, biologisch oder organisch gezogene Lebensmittel, die nicht »denaturiert« – das heißt künstlich gefärbt, sterilisiert, gefrierfähig und keimunfähig gemacht, mit künstlichen Vitaminen angereichert oder mit Duftstoffen behandelt – sein durften. Auch mit der ernährungsreformerischen Theorie, dass 31 Zum Whole Earth Catalog und Stewart Brand vgl. Fred Turner: From Counterculture to Cyberculture. Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago, London 2006; Andrew G. Kirk: Counterculture Green. The Whole Earth Catalog and American Environmentalism, Lawrence 2007. 32 Vgl. Alternativkatalog, Bd. 1: Juli 1975, Bd. 2: Mai 1976, Bd. 3: April 1978. 33 Zu Bircher-Benner vgl. Albert Wirz: Die Moral auf dem Teller. Dargestellt an Leben und Werk von Max Bircher-Benner und John Harvey Kellogg, zwei Pionieren der modernen Ernährung in der Tradition der moralischen Physiologie / mit Hinweisen auf die Grammatik des Essens und die Bedeutung von Birchermues und Cornflakes, Aufstieg und Fall des patriarchalen Fleischhungers und die Verführung der Pflanzenkost, Zürich 1993. 34 Als idealisierenden biographischen Überblick vgl. Rosmarie Fröhlicher-Beglinger : Rudolf Müller. Der geniale Schweizer Reformhaus-Pionier. Ein Erlebnisbericht von Rosmarie Fröhlicher-Beglinger, Küssnacht am Rigi 2004. 35 Christa Nussbaum: Grundsätzliches zur Ernährung, in: Alternativkatalog 2 (Anm. 32), S. 257–260, S. 260.

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Titelbild des Alternativkatalogs, Band 2, Mai 1976. Der Katalog verbreitete lebensreformerische Ernährungsempfehlungen.

Zucker, raffiniertes Getreide und Fleisch die Gesundheit zerstören und nur frisches Gemüse und Obst, kaltgepresste Öle und Nüsse, Kernen und Hülsenfrüchte gesundheitsfördernd seien, stimmte sie überein.36 Mit dieser direkten und ausführlichen Bezugnahme auf die Ernährungsreformer reproduzierte Nussbaum nicht nur deren Konzepte, sondern übernahm auch das lebensreformerische Vokabular. Der Transfer dieser ernährungsreformerischen Praktiken und Diskurse aus dem Reform- ins Alternativmilieu war jedoch auch von Brüchen gekennzeichnet. Die gegenkulturellen Aktivistinnen wählten die Elemente aus, die sie als wichtig erachteten, und grenzten sich in anderen Punkten von der Lebensreform ab. Entsprechend dem alternativen Credo des Selbermachens animierte beispielsweise Christa Nussbaum ihre Leserinnen dazu, möglichst viel selbst herzustel36 Ebd.

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Hedy Bircher-Rey : Essen und Wissen, Zürich 1941; eines der typischen lebensreformerischen Bücher, das Alternativen das nötige Ernährungswissen zur Verfügung stellte.

len, etwa Korn zu Hause zu mahlen und direkt zu verarbeiten. Sie argumentierte damit im Sinne der Vorstellung der Alternativen, dass langsame Prozesse wie Mahlen, Backen oder das Gärtnern mit den eigenen Händen in der sich beschleunigenden Welt notwendige Momente des Innehaltens und der Entschleunigung darstellten.37 Das bedeutete jedoch gleichzeitig, dass Nussbaum den Einkauf im Reformhaus trotz dessen unverzichtbarer Funktion als Ort, an dem das ernährungsreformerische Wissen verfügbar war, nur bedingt empfehlen konnte. So riet sie davon ab, aus Bequemlichkeit einfach im Reformhaus einzukaufen.38 Für die Reformhäuser als Fachgeschäfte im »Dienst der Gesundheitsförderung nach lebensreformerischen Grundsätzen«39 brachte das breitere Interesse 37 Vgl. Warren J. Belasco: Appetite for Change. How the Counterculture took on the Food Industry, Ithaca, London 2007, S. 50ff. 38 Vgl. Nussbaum: Ernährung (Anm. 35), S. 258. 39 Staatsarchiv Zürich, Z 2.2807: Statuten des Verbandes Schweizerischer Reformhäuser.

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an ernährungsreformerischem Wissen und den dazugehörigen Produkten in den 1970er Jahren keinen nachhaltigen Aufschwung. Zwar vergrößerte sich in diesem Jahrzehnt die Anzahl der im Verband Schweizer Reform- und Diätfachgeschäfte zusammengeschlossenen Läden,40 Mitte der 1970er Jahre traten jedoch neue Konkurrenten auf den Markt und die Umsätze der Reformbranche brachen ein: Erstens setzten nun auch die Großverteiler der Lebensmittelbranche sowie Drogerien auf Reformprodukte.41 Zweitens präsentierte sich auch die Infrastruktur des Alternativmilieus als Hindernis für eine weitere Expansion der Reformhäuser. In der Gegenkultur engagierte Personen zogen entsprechend Nussbaums Empfehlungen zuerst die Eigenproduktion und dann den Einkauf in kollektiv organisierten Läden mit politischem Anspruch in Betracht. Alternative Geschäfte strebten ebenso nach politischer Veränderung wie nach einer pluralistischen Wirtschaft und verfolgten vor allem nicht-kommerzielle Ziele, wenn sie die eigenen Überzeugungen und Werte streuten und Freiräume für Zusammenkünfte oder Diskussionsrunden anboten.42 Sie agierten als direkte Konkurrenten zu den etablierten Reformhäusern, da sie mit ihrem Angebot in deren Marktsegment vordrangen. Das Sortiment des alternativen Lebensmittelgeschäfts »S’Lotusblüemli« in Bern beispielsweise entsprach jenem der Reformhäuser : Es verkaufte biologisches Gemüse und Früchte, Vollkornmehl und -getreide, Hülsenfrüchte, Sojaprodukte, Nüsse und Dörrobst ebenso wie die typischen Körperpflegeprodukte lebensreformerischer Firmen.43

Ökologische Landkommunen in den Alpen. Unterstützung der Alternativen durch Lebensreformer Dass Personen aus dem Alternativmilieu nach einer umweltfreundlicheren Lebensführung suchten, führte auch zu einem Boom an ökologischen Siedlungsexperimenten. Seit den frühen 1970er Jahren propagierten junge Alternative neue Formen des Zusammenlebens als Option zur Selbstentfaltung des Einzelnen und zur Veränderung der Gesellschaft.44 Die Bewohner von ruralen Kom-

40 Vgl. Schweizerisches Wirtschaftsarchiv, Berufsverbände Ba 386: Jahresberichte des Verbands Schweizer Reformhäuser und Diätfachgeschäfte VSRD. 41 Vgl. Kurt Niederer-Steidle: Grün – grüner – blassgrün. Die Reformhäuser in der Schweiz. Mit Essays über Bircher-Benner, Rudolf Müller, Nelly Hartmann, Ebnat-Kappel 2006, S. 42. 42 Vgl. Joshua Clark Davis: From Head Shops to Whole Foods. The Rise and Fall of Activist Entrepreneurs, New York 2017, S. 49. 43 Vgl. Martin Burkard: S’Lotusblüemli. Spezialgeschäft für Ernährung, in: Alternativkatalog 2 (Anm. 32), S. 274. 44 Zu den verschiedenen Typen von Kommunen im alternativen Milieu vgl. Reichardt: Authentizität (Anm. 18), S. 469ff.

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munen, die Wert auf eine ressourcenschonende Lebensweise legten, brachten sich landwirtschaftliche Kenntnisse und Fertigkeiten meist autodidaktisch durch Bücherstudium und praktische Versuche bei und bauten für den Eigenbedarf an. Erzielten sie einen Produktionsüberschuss, verkauften sie ihre Produkte über alternative Vertriebskanäle in Städten.45 In der Schweiz formierten sich Wohngemeinschaften zunächst in Städten im studentischen Umfeld, um 1972/1973 entstanden jedoch aus antiurbanen Reflexen und ökologischen Überlegungen immer mehr umweltbewusst agierende Kommunen auf dem Land.46 Die Alpen, wo die kleinflächige und produktionsärmere Landwirtschaft gegenüber jener in Talregionen immer mehr in Rückstand geriet,47 avancierten zum Raum, in dem sich alternative Produktionsgemeinschaften ansiedelten. Als in den 1970er Jahren die bäuerliche Jugend aus dem Primärsektor abwanderte und sich in der Alplandwirtschaft ein akuter Personalmangel manifestierte, rückten die sogenannten »neuen Älpler« – Akademiker, Handwerker oder Angestellte aus dem Alternativmilieu außerhalb der traditionellen bäuerlichen Rekrutierungsgruppen – nach.48 Sie erprobten in den Bergen den »Ausstieg« als naturnahes, freies und selbstgenügsames Leben. Dabei konstruierten sie die Alpen als Orte des Weggehens und der Abkehr vom städtischen Leben, als exotische Destination zur Verwirklichung spirituellen Suchens und als Gegenwelt zur kritisierten modernen Gesellschaft.49 Trotz der übereinstimmenden Kritik von Alternativen und Reformern am konsumorientierten und umweltbelastenden Lebensstil, der gemeinsamen Ablehnung technischer und chemischer Hilfsmittel in der Landwirtschaft oder dem geteilten Wunsch nach natürlicher und gesunder Nahrung, stellte sich für die Reformer in den 1970er Jahren nicht die Frage, selbst »auszusteigen«. Während die Kommunen auf dem Land meist ungefähr dreißig Jahre alte Personen aus der Stadt anzogen,50 waren die Reformer älter und beruflich wie familiär eingebunden. Sie lebten in dem Sinne »alternativ«, dass sie bereits ein eigenes Produktions- und Konsumnetzwerk aufgebaut hatten, das Ausdruck ihrer Gesell45 Vgl. ebd., S. 470ff. 46 Vgl. Stefan Bittner: Jenseits der Kleinfamilie. Kommunen in Zürich, in: Erika Hebeisen, Elisabeth Joris, Angela Zimmermann (Hg.): Zürich 68. Kollektive Aufbrüche ins Ungewisse, Baden 2008, S. 18–27, S. 20. Als Überblick über Kommunen in der Schweiz vgl. Damir Skenderovic, Christina Späti: Die 1968er-Jahre in der Schweiz. Aufbruch in Politik und Kultur, Baden 2012, S. 126ff. Als zeitgenössische Reportage vgl. Rolf Herzog: Kommunen in der Schweiz, Basel 1972. 47 Vgl. Rahel Wunderli: Berglandwirtschaft im Strukturwandel. Bauern/Bäuerinnen aus Ursern (UR) und politische Institutionen während der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts, Altdorf 2016, S. 202ff. 48 Vgl. Robert Kruker, Herbert Maeder : Hirten und Herden. Alpkultur in der Schweiz, Olten 1983, S. 140f. 49 Vgl. Markus Schütz: Die Alp als Ort der Gegenkultur, Lizentiatsarbeit, Basel 2010, S. 45ff. 50 Vgl. Reichardt: Authentizität (Anm. 18), S. 467f.

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schaftskritik war und Praktiken ermöglichte, die zur Gesellschaftsveränderung beitragen sollten. Anders als die Kommunarden, denen die Kleinfamilie als Inbegriff für alles galt, was sie ablehnten, stilisierten die Reformer die Familie zur »Ur- und Keimzelle alles Lebens und jeglicher Gemeinschaft«.51 Sie richteten ihr Hauptaugenmerk auf die Gesundheitserziehung und eine gesunde Lebensweise mit dem Ziel »gesunder Familien«.52 Die Reformer zielten in den 1970er Jahren darauf, die Gesellschaft innerhalb der bestehenden Strukturen durch die eigene Lebensgestaltung zu reformieren, die keinen offenkundigen Bruch mit dem bisherigen Lebensmodell vorsah. Reformerische Wohnprojekte waren in der zweiten Jahrhunderthälfte in reformerischen Zeitschriften kein dominierendes Thema mehr, lediglich Einzelpersonen erprobten konkrete Siedlungsexperimente. Der Großteil der Reformer verbrachte nur vorübergehend Zeit an abgelegenen Orten ohne Komfort, diese Rückzugsorte waren jedoch von Anfang an als temporäre Ferienorte konzipiert.53 Im Gegensatz zu den radikalen Experimenten der Alternativen pflegten Reformerinnen den Gemüse- und Früchteanbau für den Eigenbedarf meist nebenher. Der einflussreiche und über die Landesgrenzen hinweg bekannte Reformer Ralph Bircher (1899–1990) beispielsweise – der Sohn des Arztes Maximilian Bircher-Benners, der dessen Erbe pflegte und vor allem zu ernährungsreformerischen Fragen publizierte54 – riet seiner Leserschaft 1976 explizit davon ab, das städtische und mittelständische Leben aufzugeben. Man solle den Hauptverdienst im Beruf unbedingt behalten und sich ausschließlich in seiner Freizeit dem Eigenbau im Garten als »schöpferische[r] Tätigkeit« zuwenden.55 Manche Lebensreformer erkannten jedoch, dass die ökologischen Landkommunen mit der ihnen inhärenten Konsumkritik, der umweltverträglichen Lebensweise und dem Selbstanbau einige ihrer eigenen Ideale umsetzten. Während sich viele Alternative beim praktischen Erproben dieser Lebensweise auf das reformerische Wissen und die Infrastruktur stützten – der Alternativkatalog empfahl Reformpublikationen und Kurse von Lebensreformern –,56 51 Ht: Familie – Ursprung der Gesundheit, in: Die Volksgesundheit, 1967, Nr. 60/8, S. 6–7. 52 Ebd. 53 Die ernährungsreformerische Schweizer Waerland-Bewegung beispielsweise erwarb in den 1970er Jahren das ehemalige Maiensäss Meraggia im Tessin, das nur zu Fuß zu erreichen war und ist. Sie baute es zu einem Ferienheim ohne Komfort aus, in dem ein »Zurück zur Natur« möglich sei. Vgl. bspw. Ernst Klauser : Meraggia – Ein Traum wird Wirklichkeit, in: Waerland Monatshefte, 1978, Nr. 28/6/7, S. 192. 54 Vgl. als biographischen Überblick Wirz: Moral (Anm. 33), S. 99ff. 55 Ralph Bircher: Arbeitsplatz beibehalten, in: Der Wendepunkt im Leben und im Leiden (künftig kurz: Wendepunkt), 1976, Nr. 53/2, S. 69–71. 56 Bspw. wurden die Obstbaukurse des Reformkaufmanns und Biolandwirts Günter Voigt oder die Gartenbaukurse von Anita Schoch, die in Reformzeitschriften über den Biolandbau publizierte und eine reformerische Arbeitsgruppe für den biologischen Landbau leitete,

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verfolgten die Reformer die Entwicklungen der alternativen Siedlungsexperimente mit großem Wohlwollen und Interesse. Insbesondere Ralph Bircher sah in den Initiativen der 1970er Jahre die Verwirklichung dessen, was er schon lange gefordert hatte und was in der »Überfluß- und Wegwerf-Gesellschaft« untergegangen sei.57 Bereits in den 1950er Jahren hatte er die Selbstversorgung gepriesen: »Wer sich einen Selbstversorgergarten anlegt und ihn betreut, der ist kein Massenmensch. Er legt an den Tag, dass er Kultur in sich hat, dass eine unschätzbare Selbstheilkraft, ein Zug zur Eigenständigkeit in ihm wirkt […].«58 Wie er bereits 1958 in seinem Buch »Lebenswerte Gegenwart. Doppelgesicht der Not« gefordert habe, erprobten nun »unternehmungsmutige Menschen« neue Lebensmuster, um eine »menschenwürdige und lebenswerte Nachmoderne« zu schaffen. Bircher wünschte sich, dass dieses »Suchen« lebendig bleibe und sich weiterentwickle.59 Er beobachtete deshalb die Kommunenexperimente in verschiedenen Ländern genau, las die amerikanische Zeitschrift Communities. Journal of Cooperative Living und informierte die Leserschaft seiner Reformzeitschrift Der Wendepunkt im Leben und im Leiden über einzelne Experimente, beispielsweise die US-Landkommune Twin Oaks in Virginia.60 Bircher glaubte zwar nicht, dass Kommunen als »Modelle für die Zukunft der westlichen Gesellschaft« taugten und »Alternativlösungen der Hochzivilisation« boten, hielt sie aber für ideale »Übungsfelder der Gesellschaftsveränderung«: Junge Menschen entwickelten dort Fähigkeiten und Qualitäten, »die heute gefährlich verkümmert sind und deren sie bedürfen, um zu Pionieren auszuwachsen, die an der Lösung für das Ganze mitarbeiten können«. So könnten die Kommunarden vielleicht eine »menschlichere Zeit« herbeiführen.61 Eines dieser »Übungsfelder der Gesellschaftsveränderung« stellte die Bärglütli-Kommune in den Walliser Alpen dar, deren Bewohnerinnen in engem Kontakt mit Lebensreformern standen. Als »Bärglütli« bezeichneten sich 500 bis 1.000 junge Menschen, die in ein von einer Zürcher Kommune initiiertes Camp

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angepriesen. Vgl. O. A.: Praktiker, in: Alternativkatalog 2 (Anm. 32), S. 218; mk: Arbeitsgruppe für biologischen Landbau, in: Alternativkatalog 2 (Anm. 32), S. 210. Bircher: Arbeitsplatz (Anm. 55). Bircher: Gegenwart (Anm. 30), S. 151. Ralph Bircher : Besuch in einer »Grasfresser-Kommune«, in: Wendepunkt, 1971, Nr. 48/7, S. 300–303. Vgl. Ralph Bircher: Kommunennöte und ihre Überwindung, in: ebd., 1973, Nr. 50/7, S. 313–317; ders.: Kommunennöte und ihre Überwindung II, in: ebd., 1973, Nr. 50/12, S. 552–555; ders.: Kommunen. Erfahrungen und Wandlungen, in: ebd., 1978, Nr. 55/4, S. 155–159; ders.: Wesenszüge der neuen Gesellschaft, in: ebd., 1978, Nr. 55/8, S. 351–353. Zu Twin Oaks vgl. als knappe Übersicht Timothy Miller: The Sixties-Era Communes, in: Peter Braunstein, Michael William Doyle (Hg.): Imagine Nation. The American Counterculture of the 1960s and ’70s, New York, London 2002, S. 327–351, S. 333. Bircher: Kommunennöte II (Anm. 60), S. 552; ders.: Was aus einem verlassenen Bauernhof wurde, in: Wendepunkt, 1973, Nr. 50/6, S. 245–248, S. 245f.

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zogen, das in den Sommermonaten 1971 bis 1973 auf der Gerenalp stattfand. Für die Entstehung der Bärglütli entscheidend war die Wahrnehmung der Umweltprobleme. Mit der sommerlichen Auszeit wollten die jungen Leute das Verhältnis zur Welt und Gesellschaft ändern: »Wir wollen in den Bergen finden, was wir in der Stadt verloren haben: die harmonische Beziehung zur Natur, zu den Mitmenschen, zu uns selbst.«62

Plakat der Bärglütli, erschienen in der National-Zeitung vom 13. Oktober 1971.

Im Camp, dessen personelle Zusammensetzung sich mit Neuankömmlingen und Weiterreisenden beständig änderte, bemühten sich die jungen Alternativen darum, neue Werte zu finden, ihr Bewusstsein zu verändern und ein neues Lebensgefühl zu entwickeln. In Gruppen erledigten sie die täglichen Arbeiten wie Einkaufen, Kochen oder Bauen und den Unterhalt der Steinhütten und Zelte. Außerdem fanden Spiele, Tänze, Musik-, Yoga- und Meditationsrunden statt. 62 Plakat von 1971, erschienen in der National-Zeitung, 13.10.1971.

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Wichtig waren auch die Diskussionen, Schulungen und Kurse, mit denen neue Denkweisen erschlossen werden sollten. Als wirksamstes Mittel, um Konventionen zu durchbrechen, sahen die Bärglütli die Hinwendung zum Einfachen. Das Camp sollte diese Einfachheit direkt erfahrbar machen. Einige Campbewohner lebten deshalb nackt, ernährten sich ohne Fleisch und Alkohol und möglichst »natürlich«. Nebst der Erforschung des Selbst als Grundlage einer neuen Gesellschaft war erklärtes Ziel der Campbewohnerinnen, den Ausstieg zu proben und herauszufinden, wer fähig und bereit wäre, ganzjährig in den Bergen zu leben.63 Das Beispiel dieser Kommune illustriert die lange Kontinuität reformerischer Diskurse und Praktiken, die sich in den 1970er Jahren in der synchronen Interaktion zwischen Lebensreformern und Bärglütli artikulierte und neue Zielgruppen erreichte. Einzelne ältere Reformer, die sich bereits in der ersten Jahrhunderthälfte der Lebensreform zugewandt hatten und deren Grundsätze kontinuierlich respektierten, unterstützten die Aussteiger und ermöglichten den direkten Austausch. Sie unterschieden sich aufgrund ihrer Lebensläufe von der reformerischen Basis und setzten die Prinzipien der Lebensreform radikaler um als die Mehrheit der Reformerinnen. Der vormalige Reformhausinhaber, ehemalige Zentralsekretär des naturheilkundlichen Schweizerischen Vereins für Volksgesundheit und Verfechter des biologischen Landbaus Paul Häusle (Jg. 1896) war einer der lebensreformerischen Sympathisanten der jungen Kommunarden. Zum Zeitpunkt der hochalpinen Camps hatte der 75-Jährige seine Tätigkeit für den Naturheilkundeverein bereits aufgegeben und lebte in der neuoffenbarerischen religiösen Gemeinschaft »Lichtzentrum Bethanien« in Sigriswil am Thunersee. Dort praktizierte er die lebensreformerische Ernährungsweise ohne Nikotin, Alkohol und Fleisch und versuchte die biologische Selbstversorgung in eine »urchristlich fundierte Kommune« zu überführen.64 Er trug direkt zum Wissenstransfer zwischen Reform- und Alternativmilieu bei, indem er den Bärglütli Kenntnisse über naturheilkundliche Behandlungsweisen vermittelte. Die Campbewohner erachteten die Naturheilkunde als von »lebenswichtiger Bedeutung«65 und engagierten deshalb in allen drei Sommercamps Paul Häusle als »Fachperson mit jahrzehntelanger Erfahrung und gutem Verständnis für die Probleme unserer Ge63 Zu den Bärglütli vgl. Stefan Bittner : Höhenflüge im Underground. Die Bärglütli und ihre Sommer-Camps 1971–1973. Ein Schweizer Hippie-Dropout-Phänomen als Ausdrucksform des »romantischen Komplexes«, Lizentiatsarbeit, Bern 2006; Stefan Bittner : Die romantische Wende nach 1968. Das Beispiel der Schweizer Aussteiger-Gruppierung Bärglütli, in: Janick Marina Schaufelbuehl (Hg.): 1968–1978. Ein bewegtes Jahrzehnt in der Schweiz, Zürich 2009, S. 237–247. 64 Schweizerisches Sozialarchiv, Ar 201.25.3: Brief von Paul Häusle an Ernst Schuler. 65 O. A.: Naturheilkunde, in: Bärglütli-Echo, 12. 01. 1972, Nr. 2, S. 3.

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neration«. Er gab praktische Kurse über die Heilkräfte von Licht und Luft, Kräuter, Massagen, Bäder und Wickel sowie über Atemtechniken.66 Häusles konsequent vorgelebte vegetarische, medikamentenfreie und spirituelle Lebensweise bewog etliche Bärglütli dazu, sich im Anschluss an die Camps bei Häusle in der neuoffenbarerischen Gemeinschaft einzuquartieren: Der Alternative Markus Senn (Jg. 1950), der bei den Bärglütli im ersten Camp 1971 als naturheilkundiger »Medizinmann« gewirkt hatte, blieb mit seiner Frau Verena Senn rund fünf Jahre im »Lichtzentrum Bethanien«.67 Mitte der 1980er Jahre zogen die Senns mit ihren Kindern in einen verlassenen Hof im Tessiner Maggiatal, den sie bis heute biologisch bewirtschaften.68 Auch andere Reformer aus der älteren Generation stellten den Bärglütli unverzichtbare Infrastruktur zur Verfügung und ermöglichten ihnen, die Siedlungsexperimente nach den Sommercamps weiterzuführen. Etliche Aussteiger wohnten nach dem Aufenthalt im Wallis in Düdingen in der Nähre von Freiburg i. Ü. beim Holzbildhauer Wilhelm Goslich (1898–1981), der sich Wigo nannte. Er gehörte zum Schweizer FKK-Verein Organisation von Naturisten in der Schweiz und dem transnationalen freikörperkulturellen Zusammenschluss Kissinger Kreis und publizierte in der Schweizer Reformzeitschrift Regeneration über christlich-ethischen Vegetarismus sowie die Ernährung ohne Milchprodukte. In Düdingen lebte er zurückgezogen als Einsiedler.69 Goslich hatte großes Verständnis für die »Hippies« und hielt ihren Wunsch, sich selbst zu versorgen und gesunde, hochwertige Lebensmittel zu gewinnen, für äußerst wichtig. Diese Jungen hätten gemerkt, »dass es höchste Zeit ist, einzuspringen«. Goslich ließ deshalb einige der Bärglütli in seinem Haus wohnen, das daraufhin im Alternativkatalog als »offizieller Bärglütli-Hof« bezeichnet wurde.70 Die Jungen lernten das Land zu bebauen und verkauften auf dem Markt ungespritztes Gemüse und Obst, das sie bei den Nachbarsbauern gegen Abgabe des halben Entgelts pflücken durften. Als gläubige und spirituelle Person attestierte ihnen Goslich, alles »mit und für den Schöpfer« zu tun. Als überzeugter ethischer Veganer war er begeistert, dass »diese Hippies hier im stillen Tal« erkannt hatten, wie alles ohne die Hilfe von Tieren funktioniere und wie sich der Mensch von Pflanzen ernähren könne.71

66 Vgl. ebd.; o. A.: Kurs von Paul Häusle in der ersten Aprilwoche, in: Frii-Blettli 6, o. J. 67 Vgl. Bittner : Höhenflüge (Anm. 63), S. 149. 68 Vgl. Familie Senn: Aufbau der Siedlung, 2017, http://www.muntlareita.ch/azienda/aufbau_ der_siedlung/index.html [29. 7. 2018]. 69 Vgl. die Reformperiodika Regeneration 1972–1973; Kissinger Rundbriefe 1972–73. 70 O. A.: Drei konkrete Beispiele: Bärglüütli, Neu-Walserbund, Longo ma", in: Alternativkatalog 1 (Anm. 32), 1975, S. 35. 71 Wilhelm Goslich: Bärglütli im stillen Tal, in: Wendepunkt, 1973, Nr. 50/12, S. 558–559.

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Andere Bärglütli wiederum erprobten nach den Sommercamps das ganzjährige Leben in den Alpen und bewirtschafteten abgelegene Bergbauernhöfe. Sie konnten dabei auf die Unterstützung jener Reformer zählen, die sich in der Mitte der 1970er Jahre gegründeten gemeinnützigen Gesellschaft Bergheimat zusammengeschlossen hatten. Diese von Reformern ins Leben gerufene Organisation verfolgte das Ziel, verlassene Höfe und Weiler in den Alpen wieder zu besiedeln und deren Bewirtschaftung zu fördern. Die Gesellschaft sammelte für diesen Zweck Geld und stellte die Materialien für die Berglandwirtschaft zur Verfügung, während junge Menschen aus den unterschiedlichsten Berufen die Siedlungen praktisch aufbauten und unterhielten.72 Initiator der Bergheimat war der Reformhausgründer, Publizist und Bildhauer Rudolf Müller (1899–1986), der bereits in den 1950er Jahren enge Kontakte zur Berner subkulturellen Szene unterhalten und einige Jahre lang eine Reformschule in Vallamand am Murtensee betrieben hatte.73 Müller war durch Familienmitglieder mit den Bärglütli in Kontakt gekommen: Sein Sohn Tobias Müller war in den Bärglütli-Camps aktiv und übernahm danach den von der Bergheimat unterstützten Hof Hockmatte im Wallis.74 Hatte Rudolf Müller bereits bei früheren Aktivitäten die Selbstversorgung und den biologischen Anbau propagiert, vertiefte er diese Interessen in der Bergheimat. Die biologische Landwirtschaft als Anbausystem, das statt auf chemischsynthetische Mittel in der Düngung, der Bodenbearbeitung und dem Pflanzenschutz auf natürliche Stoffe und Lebewesen wie Mikroorganismen setzte,75 genoss in der Lebensreform schon immer einen hohen Stellenwert. Die Reformer der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stilisierten diese Anbauweise zum zentralen Movens der angestrebten Gesellschaftsveränderung und zum »einzigen Ausweg aus der Sackgasse«, respektiere sie doch die Kreisläufe der Natur, komme ohne schädliche Hilfsmittel aus und ermögliche die Produktion von gesunden und natürlichen Lebensmitteln.76 In der Nachkriegszeit bot das Reformmilieu deshalb eine wichtige Plattform für den Wissensaustausch, für die 72 Vgl. Peter F. Kopp: Bergheimat, in: Regeneration 9/5, 1974, S. 4–5. 73 Vgl. Fröhlicher-Beglinger : Rudolf Müller (Anm. 34); zur Reformschule in Vallamand vgl. Fredi Lerch: Begerts letzte Mission. Ein subkultureller Aufbruch, Zürich 1996, S. 158ff., S. 285ff. 74 Vgl. Privatarchiv Stefan Bittner, nicht klassiert: Transkript Interview Stefan Bittner mit Sergius Golowin; Tobias Müller, Monika Bachmann: Aktion Bergheimat. 3. Bericht, in: Sonnseitig leben, 1975, Nr. 23/128, S. 9. 75 Vgl. Gunter Vogt: Entstehung und Entwicklung des ökologischen Landbaus im deutschsprachigen Raum, Bad Dürkheim 2000, S. 14ff. »Biologischer« und »ökologischer Landbau« sind deckungsgleiche Begriffe. Während sich in Deutschland die Bezeichnung »ökologischer Landbau« einbürgerte, setzte sich in der Schweiz der Begriff »biologische Landwirtschaft« durch. 76 Vgl. z. B. Ernst Steiger : Ohne Gift! Der einzige Ausweg aus der Sackgasse, in: Die Volksgesundheit, 1969, Nr. 62/12, S. 26–27.

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Propagierung und die Förderung dieser Wirtschaftsweise ebenso wie für Vertriebs- und Bezugskanäle biologisch erzeugter Produkte. Müllers Bergheimat unterstützte eine Siedlung, sofern sie biologisch wirtschaftete und die Selbstversorgung anstrebte. Diese Ausrichtung stellte die Verbindung der neuen, von Alternativen bewirtschafteten Bergbetriebe zur lebensreformerischen Ernährungs- und Lebensweise als Grundlage der Gesellschaftsreform sicher : »Das sind absolut notwendige Bedingungen zu einer Befreiung von der heutigen ›Wohlstandsgesellschaft‹, und das muss der Jugend, welche sie einfach verlassen will, weil dieselbe sie abstösst, eingehämmert werden [sic]! Einfach negieren ist nicht schwer, besser machen gilt! Wir helfen damit eine nutzlose und vielleicht blutige Revolution zu vermeiden – und ermöglichen eine kulturelle Revolution mit ethischen Zielen. Kann man sich etwas Wertvolleres vorstellen?«77 Die biologische Selbstversorgung propagierten die Reformer in der Bergheimat aus zwei Gründen als Ausweg aus der krisenhaften Situation: Erstens entsprach sie ihren Vorstellungen der gesunden Ernährung, die sich mit jenen der alternativen Siedlerinnen deckte, welche den reformerischen Ernährungsstil als Absage an den Massenkonsum und als Ausdruck der umweltbewussten Lebensweise verstanden. Bergheimat-Siedler sollten entsprechend den vegetarischen Überzeugungen der Lebensreformer Ackerbauern sein und sich Vieh ausschließlich zum Eigenbedarf halten. Zweitens gingen die Reformer auch von ökonomischen Vorteilen dieser Wirtschaftsweise aus. Indem die Neubergbauern keine Monokulturen wie die Talbetriebe anlegten, sondern auf Sortenvielfalt setzten, sollten sie unabhängiger von politischen oder spekulativen Preisschwankungen agieren können.78 Der auf biologischem Anbau, Selbstversorgung und einer ökologischen Grundhaltung basierende Lebensstil der 1970er Jahre, wie er von den Bärglütli propagiert und von der Bergheimat unterstützt wurde, nahm zahlreiche lebensreformerische Postulate wie das Ideal der Gesundheit, die angestrebte Naturnähe oder den Verzicht auf Chemie und Technik auf.

Fazit. Zum Verhältnis von Reform- und Alternativmilieu In den 1970er Jahren standen Lebensreformer und Vertreterinnen aus dem Alternativmilieu in der Schweiz in direkter Interaktion. Insbesondere die Suche nach einer umweltverträglichen und gesunden Lebensweise bot dafür inhaltliche Anknüpfungsmöglichkeiten. Während die Alternativen auf lebensreformeri77 Rudolf Müller : Aktion Bergheimat, in: Sonnseitig leben, 1974, Nr. 22/124, S. 8. 78 Vgl. Peter F. Kopp: Gemeinnützige Gesellschaft »Bergheimat«. Gratisgeld für Neubergbauern, in: ÖKOJournal, 1975, Nr. 3/2, S. 31.

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sches Wissen zurückgriffen, um den eigenen Lebensstil umzugestalten, sahen die Reformer in den neuen gegenkulturellen Initiativen eine Bestätigung ihres eigenen Tuns. Im Bereich Ernährung als wichtigem Feld der Verwirklichung eines ökologischen Lebens manifestierten sich direkte Transferprozesse vom Reform- ins Alternativmilieu. In alternativen Publikationen machten gegenkulturelle Autorinnen auf lebensreformerische Literatur und Rezeptbücher aufmerksam und brachten ihrer Leserschaft die Grundlagen der Ernährungsreform näher. Zugleich selektierten und modifizierten sie, was wie an die Alternativen weitergegeben werden sollte. Obwohl alternative Köchinnen die Reformhäuser als Orte, an denen das relevante Ernährungswissen verfügbar war, nutzen konnten, sollten sie zuerst ans Selbermachen und erst danach an die Läden des Alternativmilieus denken. Weil diese das gleiche Sortiment wie Reformhäuser anboten, ging der Transfer von ernährungsreformerischen Praktiken ins Alternativmilieu nicht mit einem Aufschwung der Reformhäuser einher. Auch bei den gegenkulturellen Landkommunen in den Schweizer Alpen lassen sich Transfers von Reformern zu Alternativen beobachten. Kam »Aussteigen« für Reformerinnen nicht infrage, verfolgten sie die Entwicklung der Kommunen mit großem Wohlwollen und erkannten darin die Verwirklichung ihrer eigenen Ideale. Einzelne Reformer lieferten tatkräftige Unterstützung. Die gemeinsam geteilte Einschätzung, dass eine Umweltkatastrophe drohe und dass dieser mit der Veränderung der eigenen Lebensweise begegnet werden solle, resultierte in einer generationell fragmentierten Kooperation: Während ältere Lebensreformer im Hintergrund finanzielle Mittel beschafften, das nötige Wissen zur Verfügung stellten, publizistische Unterstützung leisteten oder ihre eigene Infrastruktur zur Verfügung stellten, setzten die jüngeren Alternativen die angestrebte biologische Selbstversorgung in die Tat um. Diese reformerische Unterstützung für Landkommunen zeigt, wie die vegetarische Ernährung, die biologische Anbauweise und das Ideal der Selbstversorgung gleichzeitig im Reform- und im Alternativmilieu propagiert wurden und wie sich zwischen den beiden Gruppen enge Austauschprozesse etablierten. Mit dieser generationellen Rollenverteilung und den altersübergreifenden Kooperationen widerlegten diese Sozialformationen die zeitgenössisch vor allem von den Medien konstruierte und verbreitete Deutung eines Generationenkonflikts um »1968«.79 Die Aussteiger in den Bärglütli-Camps suchten sich nicht von den alten Lebensreformern abzugrenzen, sondern rezipierten deren Erfahrungen und Wissen. Sie nahmen die Reformer nicht als Gegner wahr, sondern als 79 Zum Generationenkonflikt bzw. der Abgrenzung Jugendlicher von Erwachsenen vgl. Detlef Siegfried: 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018, S. 21; Skenderovic, Späti: Die 1968er-Jahre in der Schweiz (Anm. 46), S. 18.

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Gleichgesinnte, die sich seit Langem für die umweltverträgliche und gesunde Lebensweise einsetzten. Dass diese Interaktion so konfliktfrei vonstattenging, dürfte auch daran gelegen haben, dass die Alternativen nicht mit der Elterngeneration zu tun hatten, sondern dass Reformer wie Paul Häusle, Wilhelm Goslich und Rudolf Müller eher ihrer Großelterngeneration zuzurechnen waren. Die engen Austauschbeziehungen zwischen Reform- und Alternativmilieu resultierten aber nicht in gestärkten organisatorischen Verbindungen. Die Alternativen zog es nicht in die eher traditionell organisierten, von mittelständischen Familien und Senioren geprägten Reformvereine und sie begegneten der »Dogmatik« vieler Reformer mit Skepsis. Als in den 1970er Jahren lebensreformerische Praktiken und Diskurse ins Alternativmilieu und von dort aus auch in breitere Kreise diffundierten, setzte deshalb ein Erosionsprozess der reformerischen Organisationsstrukturen ein. Bereits seit den 1960er Jahren hatten Reformvereine mit der nachlassenden Konsequenz ihrer Basis bei der Umsetzung der reformerischen Prinzipien oder mit drohender Überalterung zu kämpfen.80 Bis Ende der 1970er Jahre traten die wichtigsten reformerischen Protagonisten von ihren Funktionen zurück, Reformzeitschriften stellten ihr Erscheinen ein und die Vereine verloren seither wieder kontinuierlich an Mitgliedern.81 Dass im Alternativmilieu eine Aneignung reformerischer Praktiken und Diskurse stattfand, beschleunigte die Auflösung des Reformmilieus, standen neuen und vor allem jüngeren interessierten Personen fortan doch andere Möglichkeiten zur Verfügung, um die »naturgemäße Lebensweise« zu verwirklichen. Auch wenn einzelne reformerische Organisationen oder Periodika in der Schweiz bis heute existieren, franste seit den späten 1970er Jahren das eigentliche Reformmilieu aus und verlor an Kontur. Der Begriff »Lebensreform« geriet allmählich in Vergessenheit, und Konzepte, die auf die Lebensreform zurückgehen, fungieren heute unter anderen Schlagworten wie beispielsweise »Gesundheitsprävention«, »Fitness«, »Naturverbundenheit« oder »Achtsamkeit«. Die Geschichte der Lebensreform in der Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich dementsprechend als Erfolgsgeschichte lesen, die jedoch gleichzeitig – mit besonderem Augenmerk aufs Alternativmilieu – auch die Geschichte einer Verdrängung ist.

80 Vgl. Locher : Irrsinn (Anm. 8), S. 261ff. 81 Vgl. ebd., S. 16.

Jörg Albrecht

Reformkost und Naturkost. Kontinuitäten und Brüche alternativer Ernährung zwischen Lebensreform und Alternativmilieu

Dieser Beitrag geht der Frage nach den Kontinuitäten und Brüchen zwischen Lebensreform und Alternativmilieu am Beispiel der alternativen Ernährung nach. Dabei stütze ich mich auf Ergebnisse meiner religionswissenschaftlichen Dissertation,1 die die Geschichte der alternativen Ernährung in Deutschland von der Herausbildung des organisierten Vegetarismus im 19. Jahrhundert bis zum »Bio-Boom« der jüngsten Vergangenheit im Hinblick auf ihre kulturelle Dynamik untersucht. Im Fokus standen jene Prozesse der kulturellen Transfers und Transformationen, durch die sich vormals marginale oder nonkonforme Vorstellungen und Praktiken ausbreiten und einen anerkannten, bisweilen sogar hegemonialen Status in einer Gesellschaft erlangen konnten. Dies kann als Herausbildung und Auflösung von Nonkonformismus-Konstellationen2 untersucht werden. Solche sich gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt in Opposition befindlichen Vorstellungen und Praktiken, konzentrieren sich häufig in bestimmten Sozialzusammenhängen, welche ich als nonkonforme Milieus bezeichne.3 Al1 Die Arbeit wurde unter dem Titel »Vom ›Kohlrabi-Apostel‹ zum ›Bionade-Biedermeier‹. Zur kulturellen Dynamik Alternativer Ernährung« an der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig eingereicht und im Februar 2019 erfolgreich verteidigt. 2 Darunter verstehe ich spezifische Infragestellungen von Hegemonialverhältnissen durch nicht-hegemoniale Akteure, die soziokulturell wirksam sind und im Sinne der Kulturtheorie Bourdieus als Gegensatz von Orthodoxie und Heterodoxie aufgefasst werden können. Zum Nonkonformismus vgl. Jörg Albrecht: Religiöser Nonkonformismus. Theoretische Überlegungen aus religionswissenschaftlicher Perspektive, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde, 2016, Jg. 21, S. 104–114. 3 Von einem devianztheoretischen, d. h. relationalen und nichtessenzialistischen Verständnis von »Nonkonformismus« ausgehend und in modifizierender Anlehnung an Colin Campbells religionssoziologischem Konzept des »cultic milieus« (Colin Campbell: The Cult, the Cultic Milieu and Secularization, in: A Sociological Yearbook of Religion in Britain, 1972, Nr. 5, S. 119–136) bezeichne ich über das Individuum hinausgehende Häufungen, Vernetzungen und lose Organisationsstrukturen heterogener abweichender und nonkonformer Vorstellungen und Glaubenssysteme zusammen mit ihren Praktiken und Institutionen als nonkon-

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ternative Ernährung gehört in typischer – wenn auch nicht notwendiger – Weise zu der für diese Milieus geradezu konstitutiven kulturellen Heterogenität. Diese Heterogenität umfasst die nonkonformistische Infragestellung vieler Elemente der vorherrschenden Alltagskultur, beispielsweise hinsichtlich der Sexualität, des Wohnens oder der Kleidung. Aber auch die Infragestellung hegemonialer Ansichten oder Positionen in weiteren gesellschaftlichen Feldern: etwa der Medizin, Wissenschaft, Kunst, Religion, Politik oder Ökonomie. Zunächst aber einige terminologische Anmerkungen zum Begriff der alternativen Ernährung: In der historischen Objektsprache taucht die Bezeichnung »alternative Ernährung« erst mit der spezifischen Konjunktur des Wortes »alternativ« Ende der 1970er Jahre auf. Sie meinte zunächst die im historischen (links-) alternativen Milieu4 bekannten und vermutlich nur von wenigen Akteuren praktizierten besonderen Ernährungsformen.5 Später ging sie in die Alltags- und Wissenschaftssprache über und fungiert seitdem als Sammelbegriff für abweichende Ernährungsformen.6 Ich grenze den Begriff alternative Ernährung in meiner Verwendung als metasprachlichen Oberbegriff nominal in zweifacher Hinsicht ein: Erstens verstehe ich in relationaler Bestimmung darunter zu einem gegebenen Zeitpunkt von der vorherrschenden Ernährungsweise abweichende Formen der Esskultur. Zweitens beschränke ich mich, inhaltlich gesehen, auf vorwiegend pflanzlich orientierte Ernährungsstile, die sich ausgehend vom Fleischverzicht entwickelten und die mit variierenden Einschrän-

forme Milieus. Solche sich historisch nur temporär ausgestaltenden sozialen Räume verdichteter Kommunikation und Interaktion, die zur sozialen Umwelt und ihren hegemonialen Normen in Spannung stehen, zeichnet eine fluktuierende Trägerschaft aus. Nonkonforme Milieus stellen ein potenzielles soziales Substrat für kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen anstrebende Bewegungen zur Verfügung und stellen eine wichtige Ressource für nicht-hegemoniale Innovationen dar. Während die Existenz solcher Milieus ein konstantes Merkmal von komplexeren Gesellschaften darstellt, variiert ihre konkrete historische Realisierung beträchtlich. 4 Sven Reichardt, Detlef Siegfried (Hg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010; Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014. 5 Vgl. stellvertretend folgende Publikationen: Gerd Billen, Otmar Schmitz: Alternative Ernährung. Handbuch für eine gesunde Kost und autonome Verbraucher, Frankfurt a. M. 1982; Romay von Keudell: Alternative Ernährung. Mit biologisch reinen Produkten gesund bleiben – Giftstoffe und Umweltbelastungen vermeiden, München 1982; Uwe Kolster: Gesunde Kleinkinder durch alternative Ernährung. Der zweite Ernährungsweg, Stuttgart 1983; Friedhelm Mühleib: Wege bewußter Ernährung. Alternative Kostformen im Überblick, hg. v. Auswertungs- und Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten e.V., Bonn 1983; Rolf Goetz: Andere Ernährung. Ein Führer durch die alternativen Kostformen, Schaafheim 1988. 6 Claus Leitzmann, Markus Keller, Andreas Hahn: Alternative Ernährungsformen, Stuttgart 2 2005.

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kungen der Lebens- oder Genussmittelauswahl oder der Verarbeitungsintensität der Nahrung verbunden werden. Unter diesen Oberbegriff lassen sich die – in den beiden historischen nonkonformen Milieus (der Lebensreform um 1900 und der Alternativkultur seit den 1970er Jahren) – propagierten und sich transformierenden Vorstellungen und Praktiken der Ernährung subsumieren, die ich mit den jeweiligen zeitgenössisch etablierten Bezeichnungen der »Reformkost« und der »Naturkost« fasse und einander gegenüberstelle. Diese materialisierten sich in der Herausbildung eigener Produktions- und Distributionsstrukturen alternativer Ernährung sowie in deren Sortimenten: am augenfälligsten in den »Reformhäusern« und in den »Naturkostläden«. Hinsichtlich der Ausgangsfrage vertrete ich die These, dass sich am Beispiel der alternativen Ernährung sowohl Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten aufzeigen lassen. Einer der ersten Medienberichte über die nach »68« entstehende Alternativkultur war ein Spiegel-Artikel aus dem Jahr 1971. Im Kontext der dort beschriebenen Aktivitäten und Motive der »neuen deutschen Jugendbewegung« nach dem US-amerikanischen Vorbild der Counter Culture – wie beispielsweise dem Rückzug aus der Gesellschaft aufs Land durch die Gründung von Kommunen verbunden mit der Absicht der Selbstversorgung – finden sich interessante Hinweise auf alternative Ernährung. Die in diesem Artikel unmittelbar hergestellten Parallelen zu den Themen und Praktiken der Lebensreform- bzw. Jugendbewegung wurden als »apolitische Flucht« gedeutet. Es dürfte kein Zufall sein, dass wenig später die ersten kulturhistorischen Forschungen zum Phänomen der Lebensreform erschienen, die diesen Topos zum Teil explizit aufgriffen.7 In Abgrenzung zu einigen aus den 1968er Studentenprotesten hervorgegangenen Gruppierungen, die sich politisch radikalisierten und einen zeitnahen revolutionären Gesellschaftswandel propagierten, wurde in der neuen deutschen Gegenkultur die – einigen Beobachtern schon aus der Lebensreform bekannt vorkommende – Idee hervorgehoben, dass eine erfolgreiche Veränderung der Gesellschaft eher durch eine Transformation des »Selbst« und der eigenen praktischen Lebensführung, als durch einen gewalttätigen Umsturz der bestehenden Verhältnisse zu erreichen sei: »›Revolution? Quatsch und vorbei!‹ so Raymond Martin, 19 Jahre, ein maßgeblicher Mann für die Scene [sic] weit um Nürnberg. ›All die Revolution-Jetzt!-Schreier, ApoAggressoren, Terroristen und Mode-Maoisten‹ sollten von ihm und seinen amerikanischen Underground-Lehrmeistern erfahren, wie man, vorerst, Revolution mit sich 7 Janos Frecot, Johann Friedrich Geist, Diethart Kerbs: Fidus 1868–1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, erw. Neuauflage Hamburg 1997 (1972); Wolfgang R. Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974.

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selber macht: ›stoned‹, frei von Zwängen und Gewalt, naturgerecht ernährt (›Du bist, was Du ißt‹) und voller, voller Liebe.«8

Der »naturgerechten« Ernährung kam bei dieser »Selbst-Revolution« offensichtlich eine zentrale Stellung zu. Über die Konsumvorlieben der Mitglieder einer der ersten neuen Landkommunen9 erfährt man folgendes: »Wenn sie weiter Lebensmittel vom Reformversand beziehen, so hängt das mit dem Gebot der Reinheit zusammen, dem sie […] größte Bedeutung beimessen. Der glücklich-neue Mensch braucht: makrobiotisch einwandfreie Haferflocken und Nüsse, ungeschälten Reis und reinen, braunen Zucker. Wer noch saubere Drogen zu kleinen Preisen bringt, der betreibt in den Augen dieser Scene [sic] ein ›reines, überaus ehrliches Geschäft‹ – ein Missionar des inneren Wandels.«10

An diesem Zitat ist aus meiner Perspektive folgendes hervorzuheben. Erstens wird eine besondere Ernährungsweise hervorgehoben, für die ein spezifisches »Gebot der Reinheit« konstitutiv sei: Die Leitdifferenz »rein – unrein« korreliert dabei mit der Opposition gegen das hegemoniale »Establishment«. So heißt es weiter im Artikel: »[D]er sich erneuernde Erdenbürger […] läßt sich nicht von der Industrie ›in den Mund scheißen‹«.11 Einen grundsätzlichen Unterschied zur traditionellen »Reformkost« markierend, schließt diese besondere Ernährungsweise den Drogen- (und Genussmittel-) konsum explizit nicht aus, im Gegenteil: Die entsprechenden Substanzen werden nach der gleichen Leitdifferenz klassifiziert. Zweitens findet sich ein Verweis auf die Makrobiotik, eine zu jener Zeit populäre japanische alternative Ernährungsform. Und drittens schließlich findet sich ein Verweis auf das Distributionsnetzwerk der alten Lebensreformbewegung: Die Beschaffung der den speziellen Ansprüchen genügenden Lebensmittel geschieht über den »Reformversand«. Es liegt nahe, den Grund dafür im Mangel eigener Versorgungsstrukturen oder in der noch nicht erreichten, aber angestrebten Selbstversorgung zu suchen. Im Folgenden werde ich jeweils einen Blick auf die alternative Ernährung vor dem Zweiten Weltkrieg sowie seit den 1970er Jahren werfen. Die dazwischen 8 P. Brügge: Wir wollen, daß man sich an uns gewöhnt, in: Der Spiegel, 1971, Nr. 33, S. 36–51, S. 37. 9 Bevor die ersten Landkommunen gegründet wurden, gab es zunächst die berühmten Stadtkommunen (wie Kommune I und II in Berlin). Einen Bezug zur deutschen kommunalen Tradition vor dem Zweiten Weltkrieg halte ich im Gegensatz zu Reichardt: Authentizität (Anm. 4), S. 464 für wenig wahrscheinlich. Eine Bewusstwerdung entsprechender Vorläufer erfolgte vermutlich erst ab 1980 mit der Veröffentlichung von Gudrun Pausewangs autobiographischer Erzählung »Rosinkawiese. Alternatives Leben vor 50 Jahren« und dann in Folge von Linses einschlägiger Veröffentlichung: Ulrich Linse (Hg.): Zurück, o Mensch, zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890–1933, München 1983. 10 Brügge: Wir (Anm. 8), S. 40. 11 Ebd.

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bestehenden Verbindungen oder Brüche sollen anhand der Entstehung und Entwicklung der Konzepte der Reformkost und Naturkost herausgearbeitet werden, die sich über die Herausbildung und Veränderungen der Distributionsstrukturen alternativer Ernährung (d. h. Reformhäuser bzw. Naturkostläden) und ihrer Sortimente erschließen lassen. Abschließend werden diese verglichen und eingeordnet.

Vegetarismus, naturgemäße Lebensweise und Reformkost: alternative Ernährung vor dem Zweiten Weltkrieg Das Reformhaus als spezifische Institution der Distribution alternativer Ernährung in lebensreformerischer Tradition existiert bis heute. Ende des 19. Jahrhunderts bildeten sich erste Strukturen zur Befriedigung des spezifischen Bedarfs der Lebensreformer : zunächst in Kombination von vegetarischen Gaststätten und Versandhandlungen und schließlich auch als eigene Verkaufsstätten einer sich ausdifferenzierenden Reformwarenwirtschaft. Das erste derartige Spezialgeschäft soll in Deutschland 1887 als »Gesundheitszentrale« in Berlin eröffnet haben, das erste mit dem Wort »Reformhaus« im Namen sei das 1900 in Wuppertal eröffnete »Reformhaus Jungbrunnen« gewesen.12 Bezeichnenderweise waren Lebensmittel nicht der Hauptbestandteil im Sortiment der Reformwaren. Vielmehr wurde vor allem Wäsche, daneben auch Literatur, Sportartikel und andere Waren, verkauft.13 Zu letzteren gehörten beispielsweise Hand-Schrotmühlen für den Hausgebrauch, die benötigt wurden, um nicht verfügbares Vollkornbrot selbst backen zu können.14 Ausgangspunkt der Reformkost war die Idee der »naturgemäßen Lebensweise«15, die sich in Deutschland seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der Verbindung von Naturheilkunde und ethisch sowie naturalistisch-gesundheitlich begründetem Fleischverzicht herauszubilden begann. Dies vollzog sich im Rahmen transnationaler Prozesse, da der moderne organisierte Vegetarismus seine Ursprünge vor allem in Großbritannien und Nordamerika hat. Die Vorläufer und Initiatoren der vegetarischen Gesellschaften waren häufig protes12 Krabbe: Gesellschaftsveränderung (Anm. 7), S. 113; Sabine Merta: Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult. Diätkost und Körperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880–1930, Stuttgart 2003, S. 178ff; Florentine Fritzen: »Gesünder leben«. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 44f. 13 Merta: Wege (Anm. 12), S. 183. 14 Zum Vollkornbrot vgl. Jörg Melzer : Vollwerternährung: Diätetik, Naturheilkunde, Nationalsozialismus, sozialer Anspruch, Stuttgart 2003, S. 83–89. 15 Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1997.

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tantische, in der Tradition des Puritanismus stehende Gruppierungen. In London wurde 1847 die sich säkular und moralreformerisch verstehende Vegetarian Society gegründet. Dies war die erste vegetarische Organisation weltweit, der 1850 ein amerikanisches Pendant folgte.16 Die Gründung des ersten deutschen Vegetariervereins erfolgte 1867 in Nordhausen durch Eduard Baltzer (1814–1887). Er hieß zunächst »Verein für natürliche Lebensweise«. Baltzer war der »bedeutendst[e] Theoretiker und […] wichtigst[e] Organisator des Vegetarismus in Deutschland«.17 Bevor er sich dem Vegetarismus zuwandte, war der evangelische Theologe, der wegen nonkonformer religiöser Ansichten keine Anstellung als Pfarrer bekam, aus der Preußischen Landeskirche ausgetreten und hatte eine freireligiöse Gemeinde gegründet. Zum Vegetarismus gelangte er über die Lektüre der Schriften des Naturarztes und Sanatoriumbetreibers Theodor Hahn (1824–1883). Dieser hatte erstmals den Fleischverzicht als therapeutische und präventive Maßnahme in die Naturheilkunde implementiert, was als ein wichtiger Ausgangspunkt der vielfältigen Bestrebungen der Lebensreform angesehen werden kann.18 Aus meiner Sicht handelt es sich bei diesem systematischen Fleischverzicht um eine nonkonforme Innovation: Zwar beriefen sich die Vegetarier auf antike und frühneuzeitliche Traditionen, jedoch war für die meisten Zeitgenossen der vorsätzliche Verzicht auf Fleisch etwas völlig Neues und Abwegiges. Die zu dieser Zeit einsetzende wissenschaftliche Erforschung der physiologischen Zusammenhänge der Ernährung maß dem Fleisch die größte Bedeutung für die menschliche Ernährung bei: Es galt als das »Supernahrungsmittel« schlechthin und zusammen mit dem »wissenschaftlich« begründeten »Eiweißdogma« kann man geradezu von einer »Fleischreligion des 19. Jahrhunderts« sprechen.19 Im Zusammenhang mit anderen soziokulturellen und ökonomischen Transformationsprozessen wie der Rationalisierung und Intensivierung der Landwirtschaft, 16 Vgl. Julia Twigg: The Vegetarian Movement in England, 1847–1981. A Study in the Structure of its Ideology, [London 1981], verfügbar unter: http://www.ivu.org/history/thesis/index. html [12. 06. 2019]; Karen Iacobbo, Michael Iacobbo: Vegetarian America: A History, Westport, Connecticut 2004; James R.T.E. Gregory : Of Victorians and Vegetarians. The Vegetarian Movement in Nineteenth-century Britain, London u. a. 2007; Adam D. Shprintzen: The Vegetarian Crusade. The Rise of an American Reform Movement, 1817–1921, Chapel Hill 2013. 17 Frecot u. a.: Fidus (Anm. 7), S. 33. Krabbe: Gesellschaftsveränderung (Anm. 7), S. 56. 18 Karl E. Rothschuh: Naturheilbewegung, Reformbewegung, Alternativbewegung, Stuttgart 1983, S. 79. 19 Albert Wirz: »Schwaches zwingt Starkes«. Ernährungsreform und Geschlechterordnung, in: Hans-Jürgen Teuteberg, Gerhard Neumann, Alois Wierlacher (Hg.): Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven, Berlin 1997, S. 438–455, S. 440. Vgl. Uwe Heyll: Der »Kampf ums Eiweißminimum«. Zum Konflikt zwischen wissenschaftlicher Ernährungslehre und Ernährungsreform in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Deutsche medizinische Wochenschrift, 2007, Jg. 132, Nr. 51/52, S. 2768–2773.

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der Industrialisierung und der Urbanisierung nahm auch der Konsum von Fleisch und Zucker drastisch zu, was vor dem Hintergrund früherer Hungerkatastrophen überwiegend als Fortschritt angesehen wurde. Das galt jedoch nicht für die zivilisationskritischen Anhänger der naturgemäßen Lebensweise. Sie verzichteten neben Fleisch überwiegend auch auf den Verzehr von Weißmehl, Zucker, Salz und Gewürzen sowie von zeitgenössischen Genussmitteln wie Kaffee, Tee, Alkohol und Tabak. Doch waren diese Restriktionen in ihrer Absolutheit und Reichweite immer umstritten. Über die Zulässigkeit des Konsums von Milch und Eiern sowie der Erhitzung der Nahrung beispielsweise wurde bereits unter den Gründervätern des modernen Vegetarismus kontrovers diskutiert: Hahn lehnte das Kochen als unnatürlich ab und propagierte eine Art Rohkost aus Früchten, Gemüse und Nüssen, aber auch roher Milch und gebackenem Vollkornbrot (nach Sylvester Graham). Baltzer gelangte erst nach einer Weile zu der Auffassung, dass in Konsequenz tierethischer Erwägungen auch der Verzehr von Milch und Eiern grundsätzlich abzulehnen sei. Der frühere Revolutionär von 1848/49 Gustav Struve (1805–1870) hingegen, der zu den am längsten praktizierenden Vegetariern zählte und schon im Londoner Exil die Vielfalt der Auffassungen der britischen Vegetarier kennengelernt hatte, propagierte beispielsweise den Verzehr von Salz als existenziell notwendig und befürwortete sogar Alkohol in Maßen. Hinsichtlich der Milchund Eierfrage gab er sich pragmatisch und argumentierte dabei missionarischstrategisch: »Allein ich achte es nicht für klug und nicht für richtig, sich zu weit von den herrschenden Ansichten zu entfernen. Wer sich des Fleisches streng und gewissenhaft enthält, wird dadurch allein schon oft großen Anstoß geben und sich selbst oft Verlegenheiten bereiten. […] Die Aufrechterhaltung eines gewissen geselligen Zusammenseins mit anderen Menschen würde dadurch [den Verzicht auf Eier, J. A.] sehr erschwert. Es mag eine Zeit kommen, da die Vermeidung auch von Eiern sich empfehlen dürfte. […] Einige Schwärmer sind zwar der Ansicht, der Mensch dürfe dem jungen Kalbe oder Zicklein die diesem von der Natur bestimmte Nahrung nicht entziehen. Allein dieses scheint mir eine ganz übertriebene Sentimentalität […]. Extravaganzen der bezeichneten Art [Verzicht auf Milch, J. A.] führen niemals zum Heile. Wer zu große Anforderungen an den Menschen stellt, erreicht gar nichts. Ist die Menschheit einmal auf den Standpunkt emporgehoben, daß sie sich der Fleischkost enthält, dann möge sie weiteren Reformen entgegen gehen.«20

Obwohl die Normen einer naturgemäßen Lebensweise naturalistisch aus anthropologischen Annahmen hergeleitet wurden, finden sich bereits in den Publikationen der ersten Vegetarier viele weitere Gründe für die Abkehr von der 20 Gustav Struve: Pflanzenkost, die Grundlage einer neuen Weltanschauung, Stuttgart 1869, S. 13 und 16.

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schädlichen Zivilisationskost, die in typischer Weise miteinander verkoppelt waren. Im Zentrum stand die Frage nach der ethischen Zulässigkeit des Tötens von Tieren. In viel größerem Umfang wurden allerdings die gesundheitlichen Fragen behandelt, denen offensichtlich das größte Interesse galt. Darüber hinaus wurden »sittliche« Gründe für den Fleischverzicht erörtert (d. h. die Wirkungen der Ernährung auf Seele und Affekthaushalt des Menschen) sowie individuellund volkswirtschaftlich-ökonomische Gründe. Im Gegensatz zu den heutzutage geführten Debatten fehlte allerdings die ökologische Dimension vollständig. Entscheidend ist aber festzuhalten, dass sich mit der Transformation der Reformwarenbranche auch eine Transformation der alternativen Ernährung vollzog, die in der Herausbildung einer spezifischen Reformkost aus dem viel mehr als Ernährung umfassenden Ideal der naturgemäßen Lebensweise bestand. Mit ihrer pragmatischen Veralltäglichung ging eine Vervielfältigung des Sortiments einher : Spezielle vegetarische Produkte wie alkoholfreie Getränke, Nussmuse, Trockenfrüchte, Fleischersatz-, Kaffeeersatz- und Milchersatzprodukte oder Pflanzenmargarine und Nahrungsergänzungs- und Gesundheitsmittel wie z. B. Nährsalzpräparate waren zum Teil modernste Produktinnovationen, die auch auf den konventionellen Lebensmittelsektor ausstrahlten.21 Nach dem Ersten Weltkrieg begann sich die Branche durch einen genossenschaftlichen Zusammenschluss zu konsolidieren. Dabei vollzog sich laut Florentine Fritzen im Laufe der 1920er Jahre eine Trennung der Lebensreformbewegung, d. h. hier der institutionalisierten Reformwarenwirtschaft und ihrer (teils organisierten und teils diffusen) Kundschaft, vom ethisch motivierten Vegetarismus, der sich bis zur Auflösung durch die Nationalsozialisten in den Vegetariervereinen zu konzentrieren begann.22 Der Fleischverzicht, der in dieser Ernährungsreform zunehmend in den Hintergrund trat, wurde nahezu ausschließlich gesundheitlich begründet.23 Dies erlaubte schließlich die Option der Fleischreduktion in der Reformkost, während der ethische Vegetarismus, der einen konsequenten Fleischverzicht implizierte, immer mehr zur Privatangelegenheit wurde. Bei den Verfechtern der Reformkost setzte sich die Auffassung durch, dass eine gemischte, fleischarme Kost die optimale Ernährungsweise darstelle. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen »Gleichschaltung« der Lebensreformbewegung und der Exklusion des organisierten Vegetarismus wurde diese Position Ende der 1930er Jahre folgendermaßen auf den Punkt gebracht: »Die heutige Lebensreform steht auf dem Standpunkt, daß die nie21 Vgl. den Beitrag von Stefan Rindlisbacher in diesem Band. 22 Fritzen: Leben (Anm. 12), S. 49. 23 Merta: Wege (Anm. 12), S. 181. Zum Verhältnis von Vegetarismus bzw. Lebensreform und »Ernährungsreform« siehe: Judith Baumgartner : Ernährungsreform. Antwort auf Industrialisierung und Ernährungswandel. Ernährungsreform als Teil der Lebensreform am Beispiel der Siedlung und des Unternehmens Eden seit 1893, Frankfurt a. M. 1992, S. 11.

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deren Reiche den höheren zu dienen haben, wobei in maßvoller Weise auch das Tierreich einbezogen wird.«24 Als kontinuierliches Merkmal der Reformkost muss dennoch hervorgehoben werden, dass das Sortiment des Reformhauses bis heute – mit der Ausnahme der Integration von Bio-Abteilungen in größere Reformhaus-Verkaufsstätten – ausschließlich vegetarisch ist.

Makrobiotik, Vollwerternährung und Naturkost: alternative Ernährung ab den 1970er Jahren Entstehung der Naturkostläden Als Anfang der 1970er Jahre in westdeutschen Universitäts- und Großstädten die ersten später Naturkost-Läden genannten Lebensmittelgeschäfte eröffneten, deren Betreiber und Kunden dem alternativen Milieu zuzuordnen sind, konnten die Reformhäuser schon auf eine über siebzigjährige Geschichte der Distribution von alternativer Ernährung zurückblicken. In der Entstehung dieses neuen Distributionssektors alternativer Ernährung wird zunächst die grundsätzliche Diskontinuität zur Lebensreform deutlich. Besondere Bedeutung kam dafür dem kulturellen Transfer (gegen-)kultureller Praktiken und Deutungsmuster aus der US-amerikanischen Counter Culture zu.25 Strukturell vergleichbar mit dem Beginn der Reformwarenbranche entwickelte sich der Naturkostsektor innerhalb der kulturellen Heterogenität eines neuen nonkonformen Milieus (mit einer neuen Generation von Akteuren in einem veränderten historischen Kontext). Dessen ernährungsbezogene Bestrebungen, denen im Gegensatz zur Situation um 1900 innerhalb der gesellschaftskritischen Vielfalt des alternativen Milieus nur untergeordnete Bedeutung zukam, reichten von mit Selbstversorgeridealen gegründeten Landkommunen bis zur Schaffung von Läden und Restaurants für eine spezielle Ernährungsweise. Vor dem Hintergrund, dass Naturkost im Laufe der 1970er Jahre – im Rahmen der zu dieser Zeit einsetzenden linksalternativen »dissidenten Kaperung« des an Bedeutung zunehmenden Umweltthemas26 – zu einem zentralen Element praktischer ökologischer Lebensführung avancierte, erstaunt, dass die Ökologie anfänglich überhaupt keine Rolle spielte. In den wenigen vorhandenen Informationen, die über die ersten dieser neuen Läden für

24 Werner Altpeter: Was ist Lebensreform? Grundlegende Gedanken über sämtliche Gebiete der heutigen Lebensreform, Stuttgart 1939, S. 12, zitiert nach Fritzen: Leben (Anm. 12), S. 230. 25 Reichardt: Authentizität (Anm. 4), S. 30ff. 26 Jens Ivo Engels: Umweltschutz in der Bundesrepublik. Von der Unwahrscheinlichkeit einer Alternativbewegung, in: Reichardt, Siegfried: Milieu (Anm. 4), S. 405–422, S. 413.

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alternative Ernährung existieren, wird dagegen die kulturelle Heterogenität des Milieus sichtbar.27 Der erste derartige Laden soll 1971 als »Peacefood« in West-Berlin gegründet worden sein und wurde zusammen mit einem makrobiotischen Restaurant von deutschen Anhängern der neo-hinduistischen Ananda Marga-Bewegung betrieben. In Hamburg eröffnete 1972 der Laden »Schwarzbrot Naturspeisewaren«, in dem makrobiotische Lebensmittel, Tee und internationale anarchistische Publikationen verkauft wurden. Ein weiterer derartiger Laden war das 1973 in Münster eröffnete »Makrohaus«. Dessen Gründer Rainer Welke erzählt in der Rückschau: »Alles fing damit an, dass ich mich Anfang der ›Wilden Siebziger‹ sehr intensiv mit fernöstlicher Philosophie beschäftigte. Ich studierte in langen Nächten nur schwer entschlüsselbare Schriften, darunter das tibetanische Totenbuch. Und wenn das nicht mehr weiterhalf, dann musste das ägyptische Totenbuch her. Hermann Hesse war ohnehin Pflichtlektüre und natürlich studierte ich auch die Philosophie Chinas. Irgendwann las ich den Tao Te King des Laotse. Hier lief mir zum ersten Mal der Begriff des Yin und Yang über die Zeilen. 1971, ich war damals frische 21 Jahre jung, führte mich mein Weg nach Amsterdam und dort in eine auch für Amsterdamer Verhältnisse interessante Einrichtung namens ›De Kosmos‹. Es gab dort öffentliche Meditationsräume. In der Teestube spielte ein junges Hippie-Mädchen am Klavier ›Let it be‹ von den Beatles. Und im Souterrain gab es ein sehr schönes makrobiotisches Restaurant. Dort saßen wir alle im Schneidersitz auf dem Boden und aßen zum ersten Mal Vollkornreis mit Gemüse, Meeresalgen und Tamari. Die Atmosphäre war sehr gedämpft. Man sprach, wenn überhaupt, sehr betont und bewusst. Ich war begeistert und glaubte bereits zu spüren, wie mich das erste makrobiotische Gericht meines Lebens körperlich und seelisch geheilt hat.«28

Das heute noch bestehende Naturkostunternehmen »Rapunzel« ging aus einer makrobiotisch inspirierten Selbstversorgerkommune hervor, die 1975 ihren ersten Laden in Augsburg eröffnete. Es spielte dann eine entscheidende Rolle beim Aufbau von Groß- und Zwischenhandelsstrukturen und der Vernetzung der Akteure bzw. Betriebe und ihrer Konstitution als Branche. Die erste überregionale Branchenversammlung, an der über vierzig Läden teilnahmen, fand 27 Eine intensive kulturgeschichtliche Aufarbeitung der Entstehung und Entwicklung des Naturkostsektors steht noch aus. Aufgrund dieses Forschungsdesiderats stütze ich mich für die folgenden Passagen überwiegend auf die an ein breites Publikum gerichtete Darstellung von Helma Heldberg: Die Müsli-Macher. Erfolgsgeschichten des Biomarktes und seiner Pioniere, München 2008. 28 Rainer Welke, in: http://rainerwelke.com/bio-geschichte/40-jahre-naturkost/ [15. 11. 2017]. Für einen Überblick zum zeitgenössischen religionshistorischen Kontext siehe Peter Bräunlein: Die Langen 1960er Jahre, in: Lucian Hölscher, Volkhard Krech (Hg.): Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Bd. 6/1: 20. Jahrhundert – Epochen und Themen, Paderborn 2015, S. 175–220.

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1975 statt und hieß bezeichnenderweise noch »Makrotreffen«. So unterschiedlich die jeweiligen Unternehmen waren, bestand ihre hervorstechendste Gemeinsamkeit doch im Bezug zur Makrobiotik, einer japanischen Ernährungslehre.29

Diskontinuitäten und transnationale Transfers: Japanische Makrobiotik Die spirituell konnotierte japanische Makrobiotik ist eine alternative Ernährungsform mit globaler Ausstrahlung. Sie hat eine eigene transnationale Verflechtungsgeschichte, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht und hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden kann.30 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie durch den Japaner Georges Ohsawa (Nyoiti Sakurazawa, 1893–1966) in Westeuropa und Nordamerika verbreitet. Dieser war zunächst Anhänger und bald führendes Mitglied der Bewegung »Shoku- Yo¯ Kai«, einer Gesellschaft für Heilung und gesunde Lebensführung durch richtige Ernährung. Ohsawa diagnostizierte Krankheiten und behandelte sie durch ernährungstherapeutische Anweisungen. Mit seinem »Principe Unique« (1931) erweiterte er die ernährungszentrierte Gesundheitslehre in zahllosen Vorträgen und seinem umfangreichen Schrifttum um Themen der Philosophie, Religion und Politik. Das übergeordnete Ziel der individuellen Heilung durch richtige Ernährung war die Herstellung gesellschaftlicher Harmonie und – vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs – letztendlich die Verwirklichung des Weltfriedens. Im Zentrum von Ohsawas ambitionierten Reformbemühungen aber stand eine praktische Ernährungslehre, in welcher die Lebensmittel entsprechend ihrer ›Eigenschaften‹ nach dem daoistischen Yin-Yang-Dualismus klassifiziert wurden und z. B. »brauner« (also ungeschälter) Reis als wichtigstes Lebensmittel galt. Von einem Anhänger Ohsawas wurde 1957 in Belgien ein erstes europäisches – heute noch existierendes – makrobiotisches Unternehmen begründet, welches nach der Ehefrau Ohsawas »Lima« benannt wurde. Es diente dem Import und später der Produktion der speziellen Lebensmittel (neben Reis v. a. traditionell fermentierte Sojaprodukte). Ab Mitte der 1960er Jahre verbreitete Ohsawa seine Lehren in den USA unter den Namen »Zen Diet« und »Zen Macrobiotics«. Besonders populär wurden sie in der amerikanischen Counter Culture. 29 Diese teilt lediglich Namen und Anspruch mit der berühmten diätetischen Schrift »Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern« des in Weimar wirkenden königlichen Leibarztes Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836). Deren erste Auflage erschien 1797. Den Zusatz »Makrobiotik« enthielt der Titel aber erst ab der 3. Auflage von 1805. 30 Historisch-kritische Literatur zu Ohsawa und der japanischen Makrobiotik ist rar. Relativ neutral und immer noch am Ausführlichsten: Ronald Ernst Kotzsch: Macrobiotics. Yesterday and Today, Tokyo und New York 1985.

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Neben ihrer asiatisch-religiösen Exotik soll der Grund dafür in der dieser Ernährungsweise zugeschriebenen Fähigkeit zur gründlichen »Reinigung« des Körpers von Drogenexzessen gelegen haben.31 Aufgrund prominenter Anhänger und mindestens eines Todesfalls, der mit ihrer Ausübung in Zusammenhang gebracht wurde und für Aufsehen sorgte, wurde sie ab Mitte der 1960er Jahre überregional bekannt und scheinbar erst mit dem transnationalen Transfer der Counter Culture auch in Europa in größerem Ausmaß rezipiert.32 Die Makrobiotik muss als ein entscheidender – wenn auch nicht hinreichender – Faktor kultureller Innovation und Dynamik für das Entstehen der Naturkost- respektive der Bio-Branche angesehen werden. Ihre Bedeutung für die Herausbildung des Naturkostsektors verdeutlicht folgendes Zitat des oben erwähnten Naturkostladenbetreibers Rainer Welke: »Es gab aber auch damals schon einige echte [Makrobiotik-] Hardliner, von denen ich einmal völlig zur Sau gemacht wurde, weil ich einem Kunden in meinem Laden erlaubt hatte, eine Apfelsine zu essen, die natürlich extrem Yin ist. Aber was sollte ich machen? Es waren die besten Kunden.«33

Veränderungen der Naturkost Während die heute kaum noch bekannte japanische Makrobiotik um 1970 international ein alternativer und exotischer Ernährungstrend war, verlor sie ab Mitte der 1970er Jahre in der Naturkostszene des alternativen Milieus an Bedeutung und trat in den Hintergrund. In Folge der unter anderem als »Ökologische Revolution«34 bezeichneten Transformationsprozesse kam es in diesem Zeitraum zu einer Ökologisierung alternativer Ernährung. So plädierte beispielsweise die US-amerikanische Autorin Frances Moore Lapp8 (*1944) zur Lösung des virulenten Welthungerproblems für den Fleischverzicht.35 Sie machte 31 Besonders in Form der berühmt-berüchtigt gewordenen zehntägigen »diet no. 7« aus braunem Reis und Salz. 32 Dieser Diffusionsprozess ist im Hinblick auf Ideen und Praktiken der Makrobiotik bis jetzt noch nicht untersucht, vgl. die knappe Bemerkung bei Kotzsch: »In the late ’60s and early ’70s there was an influx of young Americans into Europe. Many had been involved in the drug culture and the peace movement or other early aspects of the counterculture. Many had some experiance and understandings of macrobiotics as it was developed in the [United] States […]«; Kotzsch: Macrobiotics (Anm. 30), S. 219. 33 Rainer Welke, in: http://rainerwelke.com/bio-geschichte/40-jahre-naturkost/ [13. 08. 2019]. 34 Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011; Frank Uekötter: Eine ökologische Ära? Perspektiven einer neuen Geschichte der Umweltbewegungen, in: Zeithistorische Forschungen/ Studies in Contemporary History, 2012, Jg. 9, Nr. 1, S. 108–114. 35 Christian Gerlach: Die Welternährungskrise 1972–1975, in: Geschichte und Gesellschaft, 2005, Jg. 31, Nr. 4, S. 546–585; Heike Wieters: Die Debatten über das »Welternährungspro-

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diesen ihren Lesern schmackhaft, indem sie auf die sich erhöhende Konzentration von Umweltgiften und Rückständen in Lebensmitteln verwies, die zunähmen, je weiter jene sich am Ende der Nahrungskette befinden würden. Ihr Buch »Diet for a Small Planet« (1971) erschien im deutschen Buchhandel 1978 unter einem signifikant modifizierten Titel in der Reihe »fischer alternativ« des Fischer-Verlages.36 Vor dem Hintergrund zunehmend problematisierter Schadstoffbelastungen mehrte sich unter den Alternativköstlern des Milieus, aber auch darüber hinaus, der Bedarf nach schadstofffreien bzw. -armen Lebensmitteln und es kam zu einer wechselseitig dynamisierenden Kooperation mit dem alternativen Landbau. Die entscheidende Referenz für die Zulässigkeit von Auswahl und Zubereitung der Lebensmittel im Sinne der Naturkost wurde aber die Lehre der Vollwerternährung. Die Entwicklung der »Naturkost« und ihres Sortiments lässt sich mit den Entwicklungsphasen des alternativen Milieus nach Dieter Rucht korrelieren.37 Erstens: In der Phase seiner »Entstehung« stand die Makrobiotik im Zentrum. Entsprechend bestand das Sortiment vornehmlich aus importierten makrobiotischen Lebensmitteln und sonstigem Zubehör für einen alternativen Lebensstil. Zweitens: Während immer mehr Läden eröffnet wurden, trat die Makrobiotik zunehmend in den Hintergrund. In der »Hochphase« des alternativen Milieu dominierte das Konzept der »Vollwerternährung« die Vorstellung von Naturkost. Entsprechend bestand das Sortiment der Läden aus vegetarischen Grundnahrungsmitteln in Vollwertqualität (Getreide und Müslis, Reis, Öle usw.) vorzugsweise aus alternativem Landbau, wobei eine wechselseitige Stimulations- und Expansionsdynamik einsetzte. Drittens: Mit der Phase des »Zerfalls« des Milieus veränderten sich wiederum die Läden und ihr Sortiment: Die Läden wie auch die mittlerweile entstandenen Naturkost-Produzenten und -Großhändler wandelten sich wie andere Teile der alternativen Infrastruktur von Gemeinschaftsprojekten zu kommerziellen Unternehmen und professionalisierten sich. Dabei glich sich das Sortiment zunehmend dem des konventionellen Lebensmittelhandels an: Weißmehlprodukte, zuckerhaltige Produkte wie Süßwaren und sogar Fleisch fanden Eingang. Mit einem entscheidenden Unterschied: Sie waren nun nahezu vollständig in Bio-Qualität verfügbar.

blem« in der Bundesrepublik Deutschland, 1950–1975, in: Dominik Collet, Thore Lassen, Ansgar Schanbacher (Hg.): Handeln in Hungerkrisen. Neue Perspektiven auf soziale und klimatische Vulnerabilität, Göttingen 2012, S. 215–241. 36 Frances Moore-Lapp8: Die Öko-Diät. Wie man mit wenig Fleisch gut ißt und die Natur schont, Frankfurt a. M. 1978. Zur Reihe »fischer alternativ« vgl. Dieter Rucht: Das alternative Milieu in der Bundesrepublik. Ursprünge, Infrastruktur und Nachwirkungen, in: Reichardt, Siegfried (Hg.): Milieu (Anm. 4), S. 61–86, S. 77f. 37 Ebd., S. 70–80.

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Kontinuitäten und nationale Transfers: Vollwerternährung Während in Bezug auf die transnationalen Transfers aus der amerikanischen Counter Culture hinsichtlich der Makrobiotik sowie der zunehmenden Ökologisierung alternativer Ernährung vornehmlich deren Diskontinuitäten deutlich werden, zeichnen sich jedoch auch Kontinuitäten ab. So lassen sich – allerdings nicht in systematischer und flächendeckender Weise – auf der Mikroebene direkte Kontakte und Transfers zwischen der alten Lebensreform und dem neuen Alternativmilieu nachweisen.38 Beispielsweise stößt man vereinzelt auf Hinweise folgender Art. Der Gründer des oben erwähnten Hamburger Naturkostladens »bekam außerdem Kontakt zu einem alten Ehepaar, die Anhänger des dänischen [korrekt: schwedischen, J.A.] Ernährungsreformers Are Waerland [1876–1955] waren und Gemüse und Kräuter in ihrem Garten anbauten. ›Die kamen dann morgens und brachten uns Kräuter in den Laden, 30, 40 verschiedene Sorten, frisch. Die haben wir den Anarchos angeboten, die die anarchistischen Zeitschriften kaufen wollten, und den Makrobiotikern der ersten Stunde. Es war hochinteressant, wie eifrig diese alten Leute – die jungen Leute auf ihre Ideen bringen wollend – die Mühe auf sich nahmen, uns diese Kräuter herzuschaffen.‹«39

Eine besondere Bedeutung für die weitere Entwicklung der Naturkost kommt zudem der ökologischen Neu-Kontextualisierung der Vollwerternährung im alternativen Milieu zu. Dieser Prozess ist bis jetzt nicht näher untersucht worden, und ich werde dieses Desiderat im Folgenden umreißen.Die Vollwerternährung erfreute sich ab Mitte der 1970er Jahre zunehmender Beliebtheit im alternativen Milieu und in der Naturkostszene (erkennbar beispielsweise an der Bedeutung von Vollkorngetreideprodukten, insbesondere dem Müsli, und entsprechendem Zubehör wie Getreidemühlen zur Selbstherstellung von Frischkornbreien und Vollkornbrot). Sie konnte scheinbar unkompliziert in die spezifischen umweltund gesundheitsbezogenen sowie kernkraft- und kapitalismuskritischen Befindlichkeiten von Teilen des alternativen Milieus integriert werden: »Für mich war damals Kollaths Vollwertlehre so revolutionär und spannend wie vorher Marx. Hier wie dort ging es darum, eine bessere Welt für die Menschen zu schaffen.«40 Zunächst ein Rückblick auf die Entstehung der Vollwerternährung: In der Zwischenkriegszeit war es infolge verschiedener Entwicklungen wie der Entdeckung und Benennung der Vitamine, der Reduzierung der ernährungsphysiologischen Kostsätze für Eiweiß und der Reflexion der Hungerkatastrophe im 38 Vgl. den Beitrag von Eva Locher in diesem Band. 39 Heldberg: Müsli-Macher (Anm. 27), S. 77. 40 Wolfgang Mock: Getreidemühlen-Hersteller (u. a. KoMo Gmbh), in: https://naturkost.de/na turkost-von-a-z/wer-sind-die-bios/die-siebziger-jahre/ [13. 08. 2019].

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Ersten Weltkrieg zu einer Annäherung zwischen Ernährungsreform und Ernährungswissenschaft gekommen. Dies bildete auch die Basis der selektiven staatlichen Aufwertung alternativer Ernährung im Nationalsozialismus, die in biopolitischer und kriegswirtschaftlicher Absicht erfolgte. Es ging um die Verbesserung der »Volksgesundheit« und die Verwirklichung der »Autarkie«. Dabei wurde auf verschiedene Elemente alternativer Ernährung zurückgegriffen, unter anderem indem der Verzehr von Vollkornbrot politisch forciert wurde.41 In diesem Kontext entwickelte der Mediziner, Rassehygieniker und Ernährungswissenschaftler Werner Kollath (1892–1970) seine Ernährungslehre, die Vollwerternährung.42 Seine systematische Darlegung einer »Ordnung der Nahrung« erschien erstmals 1942 und stellt mittlerweile einen »Klassiker« in der alternativen Ernährungsliteratur dar, der im Jahr 2005 in die siebzehnte Auflage ging. Als »Vollwertkost« definierte Kollath eine Ernährung, die »alles enthält, was der Organismus zu seiner Erhaltung und zur Erhaltung der Art benötigt«.43 Nach dem Krieg wurde Kollath allerdings marginalisiert, ihm gelang es nicht wieder eine Position im Wissenschaftssystem zu erlangen. Dafür wurde er im lebensreformerischen Milieu der Nachkriegszeit aktiv, wo er als vorbildlicher Wissenschaftler galt und neben seinen Schriften auch ein »Kollath-Frühstück« erfolgreich über das Reformhaus vermarkten konnte. An welchen Stellen kam es nun zu Transfers zwischen alter Lebensreformbewegung und neuer Alternativbewegung? Wie verlief die Rezeption der Vollwerternährung, die im »Müsli« ihren signifikantesten Ausdruck fand? Das bekannteste Beispiel für eine personelle Verbindung ist der deutsche Arzt Max Otto Bruker (1909–2001), der in den 1960er und 1970er Jahren einer der prominentesten Verfechter der Vollwertlehre in der Bundesrepublik war.44 Er begann seine Arztkarriere im Nationalsozialismus, wobei er Methoden der Naturheilkunde und Homöopathie kennenlernte. Bruker setzte nach dem Krieg die von den Nationalsozialisten angestrebte Synthese von Naturheilkunde und wissenschaftlicher Medizin, die sogenannte »Neue Deutsche Heilkunde«,45 im Kleinen praktisch fort. 41 Uwe Spiekermann: Vollkorn für die Führer. Zur Geschichte der Vollkornbrotpolitik im Dritten Reich, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 2001, Jg. 16, Nr. 1, S. 91–128. 42 Uwe Spiekermann: Der Naturwissenschaftler als Kulturwissenschaftler : Das Beispiel Werner Kollaths, in: Gerhard Neumann, Alois Wierlacher, Rainer Wild (Hg.): Essen und Lebensqualität. Natur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Frankfurt a. M. 2001, S. 247–274. Zu Biographie und Werk ausführlich Melzer : Vollwerternährung (Anm. 14), S. 207–282. 43 Werner Kollath: Die Ordnung unserer Nahrung, Stuttgart 172005, S. 61. 44 Zu Biographie und Werk ausführlich Melzer : Vollwerternährung (Anm. 14), S. 355–388. 45 Alfred Haug: Die Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde (1935/36). Ein Beitrag zum Verhältnis von Schulmedizin, Naturheilkunde und Nationalsozialismus, Husum 1985; Detlef Bothe: Neue Deutsche Heilkunde 1933–1945. Dargestellt anhand der Zeitschrift »Hippokrates« und der Entwicklung der volksheilkundlichen Laienbewegung, Husum 1991.

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Er integrierte die Vollwerternährung erfolgreich in die therapeutische und allgemeine Krankenverpflegung der von ihm geleiteten Kliniken. Auf Basis seiner Erfahrungen und Patientendaten begann er die herkömmlichen Ernährungsgewohnheiten öffentlichkeitswirksam anzuprangern und für vermeintlich durch sie verursachte »Zivilisationskrankheiten« verantwortlich zu machen. Zu einer Zeit, in der Zucker noch als schlankmachender Energiespender beworben wurde, erregten Brukers »Kampfschriften« gegen den Konsum von Industriezucker besondere Aufmerksamkeit und brachten ihm Auseinandersetzungen mit der Zuckerindustrie ein. Aus seiner Sicht kollidierten dabei wirtschaftliche Interessen mit den medizinischen Notwendigkeiten der Gesundheitsprävention. Bei der durch studentische Initiativen ausgelösten (Re-)Etablierung der »wissenschaftlichen« Vollwerternährung in der Ernährungswissenschaft der Universität Gießen spielte der persönliche Kontakt mit Bruker ebenfalls eine Rolle.46 Für zusätzliche Sympathien im alternativen Milieu dürfte außerdem seine relativ frühe öffentliche Polemik gegen die Nutzung der Kernkraft47 und sein Engagement in einer »Grünen Liste« gesorgt haben. Dass seine Angst vor »Erbschädigungen« durch Radioaktivität möglicherweise auch von eugenischen Erwägungen getragen war, scheint zunächst kaum jemandem in den Sinn gekommen sein, zumindest finden sich keine entsprechenden Hinweise. Zu einer Kontroverse über Brukers rassistische und fremdenfeindliche Einstellungen sowie über seine Mitgliedschaft in verschiedenen, teils völkisch-biologistischen orientierten Organisationen kam es erst Mitte der 1980er Jahre.48 Sie gipfelte Anfang der 1990er Jahre in einer juristischen Auseinandersetzung mit der »Radikalökologin« und ehemaligen Grünen-Politikerin Jutta Ditfurth (*1951). Demnach darf er gegen seinen Willen »als Scharnierstelle zwischen Ökologie- und Naturkostbewegung auf der einen Seite und Neonaziszene auf der anderen Seite bezeichnet« werden.49 Spätestens zu dieser Zeit begannen sich auch die Naturköstler des bereits zerfallenden alternativen Milieus mit der Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, wie etwa aus dem 46 Karl von Koerber, Thomas Männle, Claus Leitzmann: Vollwert-Ernährung. Grundlagen einer vernünftigen Ernährungsweise, Heidelberg 1981. Vgl. Melzer : Vollwerternährung (Anm. 14), S. 392–404. 47 Radkau: Ära (Anm. 34), S. 127. 48 Dies erfolgte vermutlich in Folge der beginnenden historischen Aufarbeitung der Medizin im Nationalsozialismus vgl. Walter Wuttke-Groneberg: Volks- und Naturheilkunde auf »neuen Wegen«. Anmerkungen zum Einbau nicht-schulmedizinischer Heilmethoden in die Nationalsozialistische Medizin, in: »Alternative Medizin«. Argument-Sonderband, 1988, AS 77, S. 27–50. 49 Jutta Ditfurth: Entspannt in die Barbarei. Esoterik, (Öko-)Faschismus und Biozentrismus, Hamburg 1996, S. 51. Siehe auch Robert Jütte: Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute, München 1996, S. 58f. und Melzer : Vollwerternährung (Anm. 14), S. 358.

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Vorwort einer Buchreihe mit dem Titel »Es lebe das Vegetariat! Vorkämpfer der natürlichen Lebensweise« von 1994 hervorgeht: »Die Vorkämpfer des Vegetarismus und der Lebensreform in Deutschland waren keine bürgerlichen Spießer oder gar rechtslastige Naturärzte, keine Ludendorfer [sic] und auch keine Nationalökogrünen – sie waren Revolutionäre der Revolution von 1848! Gustav Struve, Theodor Hahn und Eduard Baltzer sind die bekanntesten. […] Seit dem 3. Reich kam der deutsche Vegetarismus endgültig in den üblen Ruf der Verbundenheit mit Nationalismus und Faschismus. So kommt auf uns eine nationalsozialistisch geläuterte Tradition der Lebensreform. Und die übriggebliebene Altherrenriege gibt sich alle Mühe, uns die Tradition der Lebensreform als braune Naturkostsuppe zu verkaufen. Neonazis, rechtskonservative Naturärzte und national gesinnte Geschäftsleute in einem Verein verfälschen die revolutionären Ideen des Vegetarismus. […] Schmeißt die betulichen Seichtheiten bürgerlicher Gesundheitstanten weg, schickt den Verlagen die schlappen Ergüsse rechtslastiger Naturärzte zurück. Gebt acht, grad im grünbraunen Spektrum sind viele ›erfolgreich‹ entnazifizierte untergetaucht und wittern Morgenluft – die natürliche Lebensweise ist radikal oder gar nicht!«50

Auf diese Weise konnten sich die Naturköstler von den nationalsozialistischen und konservativen Traditionen alternativer Ernährung abgrenzen und ursprüngliche politische und weltanschauliche Gemeinsamkeiten hervorheben, indem sie auf deren vermeintlich revolutionäre Wurzeln verwiesen. Dies zeigt, wie Kontinuitäten und Diskontinuitäten immer auch zeitgenössisch und aus bestimmten Perspektiven gedeutet oder auch hergestellt werden.

Fazit: Parallelen, Unterschiede, Kontinuitäten und Diskontinuitäten Das letztlich immer unterbestimmt und diffus bleibende Ernährungsideal der Naturkost einte in den 1970er Jahren ein gewisser praktischer Konsens hinsichtlich der Auswahl, dem Verarbeitungsgrad und der Produktionsweise der Lebensmittel: Bevorzugt wurden möglichst »frische«, »unverarbeitete« Grundnahrungsmittel, die naturnah und ohne Einsatz »giftiger« Hilfsstoffe produziert worden waren, vor allem Cerealien, Obst und Gemüse, während Fleisch, industriell verarbeiteter Zucker und andere Genussmittel abgelehnt wurden. Beim Vergleich von »Reformkost« und »Naturkost« fällt als Gemeinsamkeit zunächst die große Bedeutung auf, die pflanzlichen Grundnahrungsmitteln (vor allem Getreide) zukam. In beiden Zusammenhängen wurden Fleisch und Zucker ab50 Ohne Autorenangabe: »Vorwort zur Herausgabe«, in: Eduard Baltzer : Vegetarismus und soziale Reform (Buchreihe: »Es lebe das Vegetariat! Vorkämpfer der natürlichen Lebensweise«), Osnabrück 1994, [S. IV f]. »Auf dem Gesundheitstag in Bremen 1984 entstand der Plan, den heutigen Naturköstlern einen Wegweiser zu ihrer eigenen Geschichte zu geben«; ebd., [S. V].

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gelehnt, wobei diese Ablehnung in der Naturkost mit der Zeit abgeschwächt wurde. Auch hinsichtlich des Verarbeitungsgrades der Lebensmittel zeigen sich ähnliche Ansichten: Hier wie dort finden sich Leitmotive wie »Einfachheit« und »Natürlichkeit«. Gleichwohl lassen diese Vorstellungen mannigfaltige Ausdeutungen zu und so finden sich in beiden Ansätzen auch bemerkenswerte Unterschiede: Salz, Gewürze, Alkohol und Tabak werden in der neuen »Naturkost« nicht mehr grundsätzlich problematisiert (bzw. neu gedeutet). Insbesondere hinsichtlich der als »Drogen« klassifizierten Konsumgüter finden sich neue Einbettungen – sowohl in hedonistischer als auch in »Selbst«-optimierender (»Bewusstseinserweiterung«) Absicht. Mit dem sich durch die Re-Kontextualisierung der Lehren der Vollwerternährung in einen Prozess der Ökologisierung verstärkt herausbildenden Anspruch auf ausschließliche Rohstoffproduktion durch alternative Landwirtschaft ging die Naturkost über die Normen der traditionellen Vollwerternährung hinaus. Im Verlauf der 1980er Jahre konzentrierte sich der gesamte Naturkostsektor zunehmend auf die mit dieser agrarischen Produktionsweise (ökologischer Landbau) assoziierte Lebensmittelqualität (»Bio«). Diese wurde damit zum entscheidenden Konstitutions- bzw. Differenzkriterium sowohl gegenüber der konventionellen Lebensmittelwirtschaft als auch gegenüber der Reformhausbranche. Obwohl die Ideen eines alternativen Landbaus (zunächst im Sinne eines tierfreien Landbaus) bereits unter den ersten organisierten Vegetariern seit den späten 1860er Jahren diskutiert worden waren und erste praktische Versuche in den 1920er Jahren vermarktbare Produkte hervorgebracht hatten, kam es zu keiner dauerhaften Kooperation des sogenannten »natürlichen Landbaus« und der Reformhäuser. Die Produkte des durch Rudolf Steiner inspirierten und sich anthroposophisch organisierenden »biologisch-dynamischen Landbaus« (unter der Marke »Demeter«) hingegen fanden zumindest Eingang in das Reformhaussortiment und stellen dort bis heute eine spezielle Nische dar. Betrachtet man die »Naturkost« analog zur Reformkost als Innovation alternativer Ernährung, so fallen verschiedene Parallelen hinsichtlich ihrer kulturellen Dynamik auf. Zuerst wird deutlich, dass beide ihren soziokulturellen Ursprung in einem nonkonformen Milieu hatten: Der nonkonformistische Impetus der neuen »Gegenkultur« beinhaltete eine radikale Infragestellung der hegemonialen Kultur auf vielen Ebenen. Allerdings könnte man demgegenüber das lebensreformerische Milieu im Kaiserreich sogar als eine Art ernährungsund körperfixierte Subkultur charakterisieren, während im weiten Spektrum der nonkonformen Ansichten und Praktiken des alternativen Milieus der Bundesrepublik die Ernährung nur eine untergeordnete, vielleicht sogar marginalisierte Rolle spielte. Trotzdem war sie an die utopischen Vorstellungen von einer Gegengesellschaft mit einer Gegenökonomie, an die Themenfelder der Konsumund Kapitalismuskritik sowie an die Ökologieproblematik anschlussfähig. Dies

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erlaubte den erfolgreichen Aufbau eines eigenen entsprechenden Distributionssektors parallel zur bereits vorhandenen traditionellen Reformwarenwirtschaft. Ähnlichkeiten fallen zudem zur sozialen Funktion der Läden auf: Diese waren in beiden Fällen eben nicht nur Lebensmittelgeschäfte, sondern auch Informationszentren und Szenetreffs. Sie fungierten zudem als Schnittstellen bzw. Kontaktzonen zwischen den nonkonformen Milieus und ihrer gesellschaftlichen Umwelt, indem sie den Ideen- und Praxistransfer in die hegemoniale Kultur durch niedrigschwellige Angebote und Dienstleistungen beförderten. Mit der Ausweitung und Professionalisierung der Naturkostbranche vollzog sich – durch die Transformation der alternativen Ideen in konsumierbare Produkte und der Weltanschauungen zu Waren – ein erstaunlich ähnlicher Prozess der kulturellen Kompatibilisierung alternativer Ernährung, wie er, wenngleich in weit geringerem Ausmaß, mit der Herausbildung der Reformhausbranche einhergegangen war. Die in diesem Prozess von den Akteuren erbrachten Kompromisse und Anpassungsleistungen trugen zur Reduktion der Spannung zwischen nonkonformem Milieu und hegemonialem System und damit zur Auflösung der Nonkonformismus-Konstellation bei. Solche kulturellen Synthesen können wiederum wechselseitig sowohl als wichtige Faktoren als auch als Folgen der kulturellen Dynamik betrachtet werden: So vollzog sich – vor dem Hintergrund sozialstruktureller Veränderungen sowie variierender Angebots- und Nachfrageverhältnisse – auf der ideologischen und der ökonomisch-strukturellen Ebene eine Abkehr von der zuvor im alternativen Milieu konstitutiven Kapitalismus- und Gesellschaftskritik. Die vormals nonkonforme Naturkost- bzw. Bio-Branche integrierte sich – unter Austragung typischer milieuinterner »Realo-Fundi«Konflikte zwischen den Befürwortern der »Professionalisierung« und den Gegnern der »Konventionalisierung« – vollständig in die marktwirtschaftlichen und rechtlichen Strukturen des hegemonialen Ernährungssystems und damit in die Logik seiner Sachzwänge. Im Gesamtzusammenhang der Geschichte alternativer Ernährung in Deutschland zeigte sich zwischen Reformkost und Naturkost einerseits ein deutlicher Kontinuitätsbruch: Die neuen Alternativen schöpften zunächst aus anderen Quellen, die durch transnationale Transfers verfügbar wurden. Andererseits lassen sich dennoch personelle und ideologische Kontinuitäten nachweisen, die leicht zeitversetzt ernährungsreformerische Wissensbestände und Praktiken ins alternative Milieu tradierten und diesen Bruch überbrückten. Hier zeigt sich eine Gleichzeitigkeit von Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Das erneute Auftauchen von Elementen alternativer Ernährung seit den 1970er Jahren war verbunden mit ihrer erfolgreichen Anpassung und Anschlussfähigkeit an und ihrer Integration in eine neue gesellschaftliche Umwelt im Rahmen des ökologischen Paradigmas. Diese wurde mehrheitlich von neuen nonkon-

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formen Akteuren getragen. Gleichzeitig bestanden personelle Verbindungen und Schnittmengen zu Akteuren der alten (Nachkriegs-) Lebensreformbewegung, durch die es sowohl zu Wissenstransfers kam als auch zu gegenseitigen Abgrenzungen.

Sexualität

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Sexuelle Befreiung aus Indien. Jugendkulturelle Verknüpfung von »östlicher Spiritualität« und Sexualität um 1918 und um 1980

Das 20. Jahrhundert, mitunter als das »Jahrhundert der Jugend«1 beschrieben, weist eine Vielzahl an Jugendkulturen auf – darunter solche, die sich in religiöser Weise indischen bzw. vermeintlich indischen Glaubens- und Denktraditionen zuwendeten. Eine erste Welle dieses Indieninteresses ist um 1900 in lebensreformerischen Milieus und wenig später in Kreisen der Bündischen Jugend zu verzeichnen. Ab Mitte der 1960er Jahre lässt sich in Westeuropa und Nordamerika eine erneute Indienbegeisterung unter jungen Menschen, vor allem aus Alternativ- bzw. Gegenkulturen, beobachten. In beiden Formationen wurden sexuelle Fragen, insbesondere das Streben nach sexueller Liberalisierung, im Zusammenhang mit religiösen Konzepten Indiens thematisiert. Während Einigkeit darüber besteht, dass die Auseinandersetzung mit Sexualität spezifisch für die Lebensphase der Jugend ist,2 wurde bislang kaum erforscht, wie Referenzen auf fremdkulturelle Wissensbestände Diskurse und Praktiken von Jugendsexualität prägen.3 In diesem Artikel befasse ich mich daher in vergleichender Weise mit der unter Bezug auf »Indien« erfolgten Thematisierung von Sexualität bei Angehörigen der Freideutschen Jugend um 1918 und den NeoSannyasins gegen Ende der 1970er Jahre. Dabei gehe ich der Frage nach, wie und warum Indien bzw. indische Religiosität – oder das, was man sich darunter vorstellte – an jugendkulturelle Topoi anschlussfähig war. Was kennzeichnete die jugendkulturelle Verknüpfung von indischer Religiosität und emanzipativen sexuellen Bestrebungen? Dabei diskutiere ich auch, wo sich Kontinuitäten bzw. 1 U. a. von Bodo Mrozek: Das Jahrhundert der Jugend?, in: Martin Sabrow, Peter Ulrich Weiß (Hg.): Das 20. Jahrhundert vermessen. Signaturen eines vergangenen Zeitalters, Bonn 2017, S. 199–218. 2 S. dazu z. B. Helmut Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, Wiesbaden 2005, S. 254. 3 Dass der Zusammenhang bspw. zu einem religiös gefärbten Indieninteresse besteht, darauf verweisen u. a. Bernd Wedemeyer-Kolwe: »Der neue Mensch«. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Würzburg 2004 sowie Elija Horn: Indien als Erzieher. Orientalismus in der deutschen Reformpädagogik und Jugendbewegung 1918–193,. Bad Heilbrunn 2018, S. 181ff.

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Brüche zwischen lebensreformerischen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und den Alternativkulturen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre abzeichnen. Sowohl die Freideutsche Jugend wie auch die Neo-Sannyasins können als Jugendkulturen verstanden werden. Bei Jugendkulturen handelt es sich um »eigenständige kulturelle Aufbrüche, Reformbewegungen und Subkulturen von Jugendlichen, bei denen diese die agierenden Subjekte und zugleich ihr eigenes Publikum sind. Mit dem Begriff verbindet sich die Kritik am Befehlenden, am Mainstream und am Erwachsenen-Establishment.«4 Identifikationsstiftende Merkmale von Jugendkulturen sind Gruppensymbole wie Kleidung, Sprache, Musikstil etc. Der Begriff »Jugendkultur« geht u. a. auf Gustav Wyneken zurück, einen bedeutenden, allerdings 1918 längst erwachsenen Akteur der Jugendbewegung.5 Die Geschichte von Jugendkulturen im deutschsprachigen Raum beginnt mit dem Wandervogel um 1900, aus dem heraus sich ab 1913 die Freideutsche Jugend formierte.6 Die Freideutschen kamen größtenteils aus bildungsbürgerlichen Milieus und schlossen an Wandervogeltraditionen an, trugen z. B. eine bestimmte Kluft, sangen Lieder aus dem »Zupfgeigenhansl«, hatten eigene Publikationsorgane etc. In Abgrenzung zur Elterngeneration erkämpften sie sich Räume, in denen sie über sich selbst verfügen konnten, indem sie mit Gleichaltrigen beispielsweise mehrtägige Wanderungen unternahmen. Dem Anspruch auf jugendliche Selbstbestimmung und dem jugendlichen »Willen zum Fortschritt der Kultur«7 wurde auf dem Ersten Freideutschen Jugendtag 1913 in Form der »Meißnerformel« Ausdruck verliehen: »Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung vor eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. Zur gegenseitigen Verständigung werden Freideutsche Jugendtage abgehalten. […].«8 Jugend etablierte sich – flankiert von einer neuen Sozialgesetzgebung9 – als Moratorium, eine Zeit des Aufschubs sowie der Identitätsfin-

4 Winfried Böhm, Sabine Seichter : Wörterbuch der Pädagogik, Paderborn 2018, S. 251f. 5 Vgl. Wilfried Breyvogel: Eine Einführung in Jugendkulturen. Veganismus und Tattoos, Wiesbaden 2005, S. 11. 6 Vgl. u. a. Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015. 7 Siegfried Bernfeld: Die neue Jugend und die Frauen [1914], in: ders.: Sämtliche Werke in 16 Banden, hg. von Ulrich Herrmann, Bd. 1, Theorie des Jugendalters, Schriften 1914–1938, Weinheim, Basel 1991, S. 36. 8 Knud Ahlborn: Das Meißnerfest der Freideutschen Jugend [1913], in: Werner Kindt (Hg.): Grundschriften der deutschen Jugendbewegung. Düsseldorf 1963, S. 109. 9 Zum Beispiel Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (09. 07. 1922), in: Reichsgesetzblatt 54/1922, S. 633–647.

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dung – und wurde zum Mythos.10 Die Mythisierung von Jugend trieben die Jugendbewegten selbst voran. Deutlich wird das u. a. an der Heiligsprechung eigener jugendbündischer Aktivitäten mittels religiöser Indienverweise seit etwa 1918.11 Ein Thema, das im Zusammenhang damit diskutiert wurde, war die »sexuelle Frage«, die beispielsweise der Freideutsche Alfred Kurella mithilfe der »Weisheiten Indiens« zu lösen hoffte.12 Die Verknüpfung von Sexualität und indischer Religiosität findet sich ab der Mitte der 1970er Jahre bei einer auch als »Jugendsekte«13 verschrieenen Gruppierung wieder, bei den Anhänger*innen des indischen »Sex-Gurus«14 Bhagwan Shri Rajneesh,15 die sich als Neo-Sannyasins16 bezeichneten. Ein Großteil der Neo-Sannyasins stammte laut einer zeitgenössischen Studie »aus einer akademisch orientierten Mittelschicht« und war zwischen 20 und 40 Jahren alt; Frauen bildeten die Mehrzahl.17 Klaus Peter Horn konstatierte in seiner Studie aus dem Jahr 1982 eine große Nähe zur alternativkulturellen »Wohngemeinschaftsszene« sowie eine Abneigung gegen private und berufliche Festlegung; er interpretierte beides als Ausdruck von »Gesellschaftsdistanz und Suche nach neuen Lebenszusammenhängen«.18 Erkennungszeichen der Neo-Sannyasins waren die orange-rote Kleidung und eine Holzperlenkette (Mala) mit dem Bild von Rajneesh. Im Jahr 1974 hatte Rajneesh im westindischen Poona einen Ashram19 gegründet, 10 Vgl. u. a. Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985. 11 Horn: Indien (Anm. 3), S. 171ff. 12 Alfred Kurella: Körperseele (2), in: Freideutsche Jugend 1918, S. 235–252, hier S. 247f. 13 Rüdiger Hauth: Die nach der Seele greifen. Psychokult und Jugendsekten, Gütersloh 1985. 14 Sekten. Zehn Minuten lautes Hu, in: Der Spiegel, 21. 08. 1978, S. 88. 15 »Baghwan Shri Rajneesh, bürgerlicher Name: Chandra Mohan Jain (1931–1990). 16 Abgeleitet von Sanskrit sannya¯sin, »der, der alles aufgegeben hat«; Bezeichnung eines Hindus, der jeglichen Besitz und Status aufgegeben hat, vgl. Karl-Peter Gietz: Osho-Bewegung, in: Christoph Auffarth, Jutta Bernard, Agnes Imhof (Hg.): Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien, Bd. 2: Haar – Osho-Bewegung, Stuttgart u. a. 1999, S. 630–632. Neben den Neo-Sannyasins gab es z. B. die sogenannte Hare-Krishna-Bewegung (Internationale Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein, 1966 gegründet) und die »geistige Erneuerungsbewegung« der Transzendentalen Meditation (1957 gegründet von Maharishi Mahesh Yogi). 17 Klaus Peter Horn: Rebellion gegen den Verstand? Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung über deutsche Neo-Sannyasins in Poona (Dissertation Freie Universität Berlin), Berlin 1982, S. 145f; Gunther Klosinski: Warum Bhagwan? Auf der Suche nach Heimat, Geborgenheit und Liebe, München 1985, S. 137f; Angelika Zeisberg: Die Sannyasins in Bad Bhagwan. Geschichte ihrer sekundären Sinnangebote als Antwort auf das neue Phänomen der Postadoleszenz, Frankfurt a. M. 1987, S. 31. 18 Horn: Rebellion (Anm. 17), S. 150. 19 Sanskrit, eigentlich »Einsiedelei, religiöse Zufluchtsstätte«. Der Begriff wurde im Deutschen im Zuge der Popularität Rajneeshs im Sinne von »spirituelles Zentrum« gebräuchlich; vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: DWDS-Wortverlaufskurve für »Aschram / Ashram«, URL: https://www.dwds.de/r/plot?view=2& corpus=zeitungen& norm=abs&

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der bis zu seiner temporären Schließung 1981 u. a. von tausenden jungen Deutschen besucht wurde.20 Seine »Lehre« entwickelte er in Anlehnung an verschiedenste hinduistische sowie buddhistische Traditionen und Praktiken einerseits und psychotherapeutische Ansätze andererseits. Ebenfalls Eingang fanden Ideen von Friedrich Nietzsche und Georges I. Gurdjieff.21 Mit diesem »hochexplosiven Gemisch […], das […] viele in die äußersten Bezirke ihres Bewusstseins hinauskatapultiert[e]«,22 erlangte Rajneesh rasch große Bekanntheit. Insbesondere die im Ashram praktizierte »freie Liebe« erregte große mediale Aufmerksamkeit. Bevor ich näher auf die jugendkulturelle Verknüpfung von sexueller Liberalisierung und indischer Religiosität bei Freideutschen und Neo-Sannyasins eingehe, bedarf es eines Exkurses zur Entstehung der in der westlichen Hemisphäre verbreiteten Indienbilder. Die orientalisierten Bilder eines primär religiös rezipierten Indiens bildeten, so meine These, in beiden Fällen die Grundlage für die jugendkulturellen Formen des Indieninteresses. Jedoch bestanden in beiden Fällen Diskrepanzen zwischen den religiösen Konzepten, mit denen für Formen liberalisierter Sexualität argumentiert wurde, und dem, was zeitgenössisch wie retrospektiv über die faktisch praktizierte Sexualität berichtet worden ist. Es ist anzunehmen, dass »das Indische« nicht zuletzt deswegen attraktiv war, weil es im Kontrast zum »Establishment« stand, dem jugendkulturellen Gegenentwurf Ausdruck verlieh und daher zur jugendkulturellen Selbstinszenierung beitrug.

Topos Indien: Projektionsfläche für romantische und sexuelle Fantasien Im Verlauf des 20. Jahrhunderts bezogen sich verschiedene jugendkulturelle Gruppierungen auf Vorstellungen von Indien, die sich kulturgeschichtlich in die Zeit um 1800 zurückverfolgen lassen und als Resultate einer expandierenden

smooth=line& genres=0& grand=1& slice=1& prune=0& window=0& wbase=0& logavg= 0& logscale=0& xrange=1945%3A2017& q1=Aschram& q2=Ashram [25. 02. 2019]. 20 Vgl. Wilhelm Bittorf: »Die liebende Gabe, die mich durchdringt«. SPIEGEL-Reporter Wilhelm Bittorf über den Aschram in Poona und die Suche nach östlicher Weisheit (l), in: Der Spiegel, 02. 03. 1981, Nr. 10, S. 193; Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 826. 21 Gietz: Osho-Bewegung (Anm. 16). 22 Michael: Die religiöse Revolte. Jugend zwischen Flucht und Aufbruch, Frankfurt a. M. 1979, S. 172.

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globalen Wissenszirkulation verstanden werden können.23 Im Folgenden wird vor allem die Herausbildung romantischer Indienbilder in groben Linien nachgezeichnet, da sie Erklärungsansätze dafür bieten, warum »Indien« für junge Menschen im 20. Jahrhundert attraktiv war. Grundsätzlich wird Indien – als Teil des sogenannten Orients – hier als Projektionsfläche für westliche Fantasien begriffen. Den Prozess, in dem im Westen gängige Indienbilder hervorgebracht werden, bezeichnet Gayatri C. Spivak als »Othering«. Dabei wird etwas oder jemand als im negativen Sinn andersartig gebrandmarkt, und zwar mit dem Ziel, innerhalb der bestehenden hegemonialen Ordnung das Eigene positiv aufzuwerten.24 Demgegenüber wies die jugendbewegte Indienrezeption um 1918 romantisierende und idealisierende Projektionen auf.25 Diese jugendkulturelle »Sehnsucht nach Indien«26 geht auf die Romantik zurück, als sich ein zivilisationskritisches Unbehagen an den durch Aufklärung und technischen Fortschritt in Gang gesetzten Entwicklungen seinen Weg bahnte. Romantikerinnen und Romantiker hegten Skepsis gegenüber einem primär rationalen Zugriff auf die Welt. Stattdessen betonten sie das MystischFantastische, idealisierten die Natur und die Kindheit als Zustand der Unverdorbenheit und Unschuld.27 Ende des 18. Jahrhunderts erregten Übersetzungen antiker indischer Schriften die Aufmerksamkeit von jungen Intellektuellen und Künstlern wie Novalis oder den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Sie meinten in den Texten die Verwirklichung ihrer romantischen Ideale zu erkennen. »Indien« repräsentierte für sie – im Gegensatz zu ihrer eigenen Lebenswelt – Natürlichkeit, Ursprünglichkeit, Fantasie, Reinheit und Kindlichkeit. Während Joseph Görres von Indien als dem »Land, wo die jugendliche Menschheit die frohen Kinderjahre lebte«,28 sprach, zeichnete Karoline von Günderode in ihrer »Geschichte eines Braminen« (1803) das Bild von Indien als

23 Vgl. u. a. Richard King: Orientalism and Religion. Postcolonial Theory, India and ›the Mystic East‹, London 1999 oder Colin Campbell: The easternization of the West. A thematic account of cultural change in the modern era, New York 2007. 24 Gayatri C. Spivak: The Rani of Sirmur. An Essay in Reading the Archives, in: History & Theory, 1985, Nr. 24 (3), S. 247–272. Said zufolge repräsentiert der Orient das – kulturell, zivilisatorisch und auch »rassisch« inferiore – Andere des westlichen Selbst, was einerseits der Affirmation der westlichen Zivilisation und andererseits der Legitimation kolonialer Unterdrückung und Ausbeutung dient(e), vgl. Edward Said, Orientalism, New York 1979. 25 Vgl. Horn: Indien (Anm. 3). 26 Programmatischer Titel einer Sammlung deutscher literarischer Texte über Indien: Veena Kade-Luthra (Hg.): Sehnsucht nach Indien. Literarische Annäherungen von Goethe bis Günter Grass, München 2006. 27 Vgl. u. a. Meike Sophie Baader : Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld, Neuwied 1996. 28 Joseph Görres: Glauben und Wissen, München 1805, S. 13.

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einer Selbsterkenntnis verheißenden pädagogischen Provinz.29 Die romantische Idee von Kindheit als einem »Goldenen Zeitalter« fand ihre Parallele im romantischen Indienbild.30 Die Germanistin Christine Maillard bezeichnet diese romantisch-indophile Strömung mit dem um 1800 gebräuchlichen Begriff der Indomanie. Darunter versteht sie ein komplexes historisches Phänomen, das erst im Kontext der sich damals etablierenden, teleologisch ausgerichteten geschichtsphilosophischen Konzepte zu begreifen sei.31 Bei Johann Gottfried Herder wurde Indien zum paradiesischen Ursprung der Menschheit, »einem Meer süßer Träume und erquickender Gerüche«.32 Wiederum stellte »Indien« das Andere dar, allerdings positiv gewendet und in Form einer Kritik am Eigenen. Dabei zielte die romantische Indomanie mitnichten auf die Überwindung der globalen Vorherrschaft Westeuropas im kolonialen Zeitalter. Jene Sehnsucht, das Begehren nach »Indien«, stellte lediglich die Kehrseite der abwertenden Sichtweise dar : Indien, lokalisiert auf einer längst überwundenen Stufe in der geschichtlichen Entwicklung, blieb subaltern. Begehren ist in abendländischen Konzepten des Selbst bzw. der Selbstwerdung eng an Alteritätskonstruktionen gekoppelt. Das Andere wird als konstitutiv für das Eigene begriffen und stellt zugleich einen Mangel dar, der Begehren auslöst.33 Begehren wiederum strebt nach Erfüllung, also Aneignung, Einverleibung, Eroberung. Im »Othering« schwingen also sexuelle Konnotationen mit, auf die bereits Edward Said aufmerksam gemacht hat.34 Mit Blick auf eine vom Westen als »pervers« diffamierte »orientalische Moral« – man denke an die angeblich dem »Kama Sutra«35 entnommenen pornografischen Illustrationen – etablierte sich nach 1800 eine Assoziation »between the Orient and the freedom of licentious sex. […] the Orient was a place where one could look for sexual 29 Karoline v. Günderode: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien. Band 1: Texte, hg. von W. Morgenthaler, Frankfurt a. M. 2006, S. 303–314; ausführlich dazu Elija Horn: Indien-Mode und Tagore-Hype, in: S. Reh, U. Schwerdt, W. Keim (Hg.): Reformpädagogik und Reformpädagogik-Rezeption in neuer Sicht, Bad Heilbrunn 2016, S. 149–168. 30 Vgl. Horn: Indien (Anm. 3), S. 79ff. 31 Christine Maillard: Indomanie um 1800. Ästhetische, religiöse und ideologische Aspekte, in: Charis Goer, Michael Hofmann (Hg.): Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850, München 2008, S. 73f. 32 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit [1784–91], Bd. 1, Berlin, Weimar 1965, S. 285. 33 Vgl. u. a. Birgit Althans: Das maskierte Begehren. Frauen zwischen Sozialarbeit und Management, Frankfurt a. M., New York 2007, S. 28. 34 Said: Orientalism (Anm. 24). 35 Vatsyayanas »Kama Sutra« ist ein ursprünglich nicht illustriertes Lehrbuch über Sitten und Konventionen in nordindischen Städten um etwa 300 n. Chr. Es enthält auch Anleitungen zum Geschlechtsverkehr, die jedoch nur einen geringen Anteil des Textes ausmachen, vgl. beispielsweise Vatsyayana: Das Kamasutra, übersetzt von Klaus Mylius, Leipzig 1987.

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experience unobtainable in Europe«.36 Anders gesagt: Der Orient – und damit auch Indien – wurde zum Anderen der eigenen westlichen, als zivilisiert und gebändigt wahrgenommenen Sexualität.

Freideutsche Jugend: Streben nach Harmonisierung von Jugend und Sexualität Um und nach 1918 lässt sich unter den Freideutschen ein übergreifendes Interesse an Indien ausmachen: Viele Jugendbewegte wurden zu »Tagore-Jünger[n]«,37 Hermann Hesses Roman »Siddhartha« (1923) entwickelte sich zum Kultbuch. Als Kenner der Jugendbewegung konstatierte der Reformpädagoge Adolf Reichwein 1922, die Jugend befinde sich im »Asientaumel«.38 Während die Jugendbewegung angesichts der unterschiedlichen Deutungen des Ersten Weltkriegs, der Niederlage Deutschlands und ihrer Folgen auseinanderzubrechen drohte, machten »östliche Weisheiten« über ideologische Gräben hinweg »nachhaltigen Eindruck«.39 Vorläufer dieses Interesses waren neureligiöse Bewegungen wie Theosophie oder Mazdaznan sowie die Popularisierung »fernöstlicher« Körperübungen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb lebensreformerischer Strömungen und im bürgerlichen Milieu verbreitet hatten.40 Darwins Evolutionstheorie, Nietzsches Philosophie von der »Umwertung aller Werte«, der rasante technische und gesellschaftliche Wandel und die daraus resultierende »transzendentale Obdachlosigkeit«41 um 1900 hatten das Bedürfnis nach umfassender (Neu-)Orientierung geweckt. Man erhoffte sich von den neureligiösen Körperpraktiken, das Selbst und die Gesellschaft einer Reform zu unterziehen, »an deren Endpunkt ein ›Neuer Mensch‹ in einer ›Neuen Welt‹ stehe«.42 Die Hinwendung zu asiatischer Religiosität und die damit einhergehende Herausbildung einer »neuen Jugendreligion« im »Zusammenhang […] mit einer durch Krieg, Niederlage, Revolution und Inflation verschärften Sinn36 Said: Orientalism (Anm. 24), S. 190. 37 Lisa Tetzner : Die literarischen Wegbereiter der Jugendbewegung, in: Martin Rockenbach (Hg.): Jugendbewegung und Dichtung, Leipzig, Köln [1924], S. 10; s. auch Rita Panesar : Der Hunger nach dem Heiland. Das Bild des indischen Dichters und Philosophen Rabindranath Tagore in Deutschland während der Weimarer Zeit, Magisterarbeit Universität Hamburg 1997, unveröffentlicht, Nutzung mit Erlaubnis der Autorin. 38 Adolf Reichwein: Die junge Generation und die Weisheit des Ostens, in: Vivos Voco. Zeitschrift für neues Deutschtum, 1922, Nr. 2 (12), S. 715. 39 Ebd. 40 Vgl. u. a. den Beitrag von Bernadett Bigalke in diesem Band sowie Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2017, S. 118ff. 41 Georg Luk#cs prägte diesen Ausdruck in seiner »Theorie des Romans« (1916). 42 Wedemeyer-Kolwe: Mensch (Anm. 3), S. 14.

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und Identitätskrise [im] jugendbewegten Bildungsbürgertum«43 können als Krisenbewältigung gedeutet werden. Die Landkommunardin und Gymnastiklehrerin Marie Buchhold, der »Freigeist«44 Alfred Kurella sowie der spätere Volkshochschulgründer Fritz Klatt, alle bis auf Letzteren zunächst Wandervögel und später Freideutsche, sind typische Vertreter eines lebensreformerisch und neureligiös inspirierten, jugendbewegten Indieninteresses. Buchhold, Kurella und Klatt befolgten gegen Ende des Ersten Weltkrieges die Vorschriften der Mazdaznan-Lehren, die sich u. a. auf »altindische« Quellen bezogen und diese mit eugenischen Ideen verknüpften.45 Neben komplizierten diätischen Regeln galt es Vorschriften im Bereich der geschlechtlichen Hygiene und der Sexualität zu beachten.46 Obwohl die offene Thematisierung von Sexualität als anrüchig galt, war die Verknüpfung von »indischen« Körperübungen und Sex kein Novum: So hatte es bereits 1910 einen Skandal um die sexualmagischen Yogapraktiken im theosophischen »Ordo Templis Orientis« gegeben47. Auch Buchhold, Kurella und Klatt verknüpften »östliche« Körpertechniken mit Sexualität.48 Mit beiden Themen schlossen sie an jugendbewegte Debatten an – zum einen an die »Indien-Mode«, zum anderen an die »Geschlechtsnot der Jugend«.49 Spätestens seit dem Erscheinen von Hans Blühers »Die Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen« (1912) waren Kontroversen über Geschlecht und Sexualität aus der Jugendbewegung nicht mehr wegzudenken. Das 43 Ulrich Linse: Asien als Alternative? Die Alternativkulturen der Weimarer Zeit: Reform des Lebens durch Rückwendung zu asiatischer Religiosität, in: Hans G. Kippenberg, Brigitte Luchesi (Hg.): Religionswissenschaft und Kulturkritik. Beiträge zur Konferenz »The History of Religions and Critique of Culture in the Days of Gerardus van der Leeuw (1890–1950)«, Marburg 1991, S. 325–364, hier S. 336. 44 Martin Schaad: Die fabelhaften Bekenntnisse des Genossen Alfred Kurella. Eine biographische Spurensuche, Hamburg 2014, S. 49. 45 Ausführlich zu Mazdaznan, s. Kapitel 3.5 in Bernadett Bigalke: Lebensreform und Esoterik um 1900. Die Leipziger alternativ-religiöse Szene am Beispiel der Internationalen Theosophischen Verbrüderung, Würzburg 2016. 46 Vgl. u. a. O. Z. Hanish: Deutsche Masdasnan-Wiedergeburts-Lehre, hg. von David Amman, Leipzig [1916]. 47 Florian Mildenberger, Thomas K. Gugler : Yoga und Sexualität. Eine problematische Beziehung, in: Sexuologie, 2016, Nr. 23 (1–2), S. 35. Der »Ordo Templis Orientis« ist eine deutschösterreichische okkulte Organisation und wurde 1901 gegründet. 48 Vgl. u. a. Ortrud Wörner-Heil: Von der Utopie zur Sozialreform. Jugendsiedlung Frankenfeld im hessischen Ried und Frauensiedlung Schwarze Erde in der Rhön 1915 bis 1933, Darmstadt, Marburg 1996, S. 358–359; Fritz Klatt: Von Liebe und Leidenschaft, in: Alfred Kurella (Hg.): Die Geschlechterfrage der Jugend, Hamburg [1919], S. 43–55; Ulrike Koch: Fritz Klatt, in: Käthe-Kollwitz-Museum Berlin (Hg.): Käthe Kollwitz und ihre Freunde (Katalog zur Sonderausstellung anlässlich des 150. Geburtstages von Käthe Kollwitz), Berlin 2017, S. 65–74. 49 Ulrich Linse: »Geschlechtsnot der Jugend«. Über Jugendbewegung und Sexualität, in: Koebner : Mythos (Anm. 10), S. 245–309.

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gemeinsame Wandern von Jungen und Mädchen brachte das Thema des sexuellen Begehrens auf die Tagesordnung – ein Stück weit wohl auch zum Schrecken der Jugendlichen selber, die meist für ein »kameradschaftliches«, das heißt nicht-sexuelles Miteinander plädierten. Insgesamt wurden höchst unterschiedliche Standpunkte vertreten, die von Siegfried Bernfelds psychoanalytischem Ansatz über Max Hodanns sozialistische Sexualerziehung, Annie und Wilhelm Reichs »aufklärende Propaganda«50 bis zu Gustav Wynekens Konzept des Eros reichten.51 Im Folgenden konzentriere ich mich auf Alfred Kurellas Idee der »Körperseele«, die er ab 1918 in mehreren Artikeln darlegte. Darin forderte er, u. a. in Bezugnahme auf religiöse Konzepte Indiens, das Recht der Jugend »auf freie Hingabe«.52 Der frühere Meißnerfahrer Alfred Kurella (1895–1975), Sohn eines Arztes, gehörte gegen Ende des Ersten Weltkrieges gemeinsam mit Fritz Klatt zum »Westender Kreis«, in dem sich jugendbewegte Kriegsgegner trafen.53 Die einer Kommune gleichende Wohngemeinschaft bot zudem Raum für sexuelle Experimente, für die Kurella und Klatt in der »Masdasnan Wiedergeburtslehre« von Otoman Hanish (1916) nach Anregungen suchten.54 Als Kurella damit beauftragt wurde, ein Heft der Zeitschrift »Freideutsche Jugend« zum Thema »Europa–Asien« herauszugeben, suchte er den Kontakt mit Marie Buchhold, die ihn mit den Ideen des Hindureformers Vivekananda bekanntmachte. Ferner tauschte er sich mit Gustav Wyneken über die »Bhagavad Gita«55 aus. In Sachen indisch inspirierter Religiosität in der Jugendbewegung war Kurella also bestens informiert.56 In seinen kontrovers diskutierten »Körperseele«-Artikeln sprach sich Kurella – entgegen gängiger Konventionen – für vorehelichen Geschlechtsverkehr und »freie Hingabe« aus. Er kritisierte, dass junge Menschen aufgrund bürgerlicher 50 Wittenzellner prägt den Begriff der »aufklärenden Propaganda«, darunter versteht sie Texte, »die Wissen propagierten, das man als sexualaufklärerisch bezeichnen kann [und das] im Kontext eines politischen Programms und der dazu gehörigen Strategie verortet« ist, vgl. Jana Wittenzellner : Zwischen Aufklärung und Propaganda. Strategische Wissenspopularisierung im Werk der spanischen Sexualreformerin Hildegard Rodriguez (1914–1933), Bielefeld 2017, S. 112. 51 Vgl. u. a. Siegfried Bernfeld: Jugendbewegung und Jugendforschung. Sämtliche Werke, Bd. 2, hg. v. U. Herrmann, Weinheim, Basel 1994; Max Hodann: Bub und Mädel, Rudolstadt 1925; Annie Reich: Wenn dein Kind dich fragt, Leipzig u. a. 1932; Wilhelm Reich: Der sexuelle Kampf der Jugend, Berlin u. a. 1932; Gustav Wyneken: Eros, Lauenburg 1921. Das letztgenannte Buch präsentiert Wynekens Verteidigung gegen den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs an einigen seiner Schüler. 52 Kurella: Körperseele (2) (Anm. 12), S. 241. 53 Koch: Klatt (Anm. 48). 54 Ebd., S. 68. 55 Gedicht aus dem indischen Epos »Mahabharata« (kompiliert zwischen ca. 400 v. Chr. – 400). 56 Ausführlich dazu: Horn: Indien (Anm. 3), Kapitel 5.1.

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Moralvorstellungen in Liebesdingen ungeübt blieben, weshalb spätere Ehen häufig scheiterten.57 Er forderte: »Fühlen ein Jüngling und ein Mädchen […], dass sie zueinander gehören, im Letzten zueinander kommen müssen […], dann müssen sie diesem Zuge Folge leisten.«58 Zur Begründung dieser Forderung holte Kurella weit aus. Jugend stellte für ihn einen transzendentalen Daseinszustand und damit etwas Höheres, ja Heiliges dar, das es zu bewahren gelte – die »ewigkeitsuchende[…] Seele«.59 Demgegenüber beginne mit dem »Erlebnis der Leiblichkeit« das weltliche Dasein, es entferne den Menschen in Anbetracht der »entartete[n] […] Geschlechtlichkeit« und des mangelnden Gefühls für »feinere Beziehungen« vom Ewigen und bringe ihn in die Nähe des Todes.60 Kurella griff damit eine zeitgenössische Lesart geschichtsphilosophischer Konzepte des 18. Jahrhunderts auf.61 Die Zeit vor dem Erwachsensein setzte er mit dem »Goldenen Zeitalter« und ganzheitlicher Existenz gleich, wohingegen in seiner Deutung nach dem Ende der Jugend ein Verfall einsetzte, der den baldigen Tod ankündigte. Kurella, der der Jugend die Aufgabe einer kulturell-gesellschaftlichen Erneuerung beimaß,62 plädierte für einen langen Aufenthalt am »Altar der Jugend«.63 Da sich junge Menschen dennoch nach »leiblicher Vereinigung« sehnten, bedürfe es einer der Jugend gemäßen, das heißt sie nicht gefährdenden Sexualmoral. Jugendsexualität sollte ermöglicht, also befreit werden. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, verwies Kurella auf die metaphysische Dimension von Sexualität, von denen religiöse Konzepte Indiens, insbesondere Yoga, kündeten. Sexualität könne nämlich eine »Ersatzbildung für die […] verlorengegangene Fähigkeit [sein], das Bewusstsein des abgesonderten Ich zu überwinden und das Erlebnis des All zu gewinnen durch religiöse, auf anderen körperlichen Funktionen (Atem, Konzentration) beruhende Übungen«.64 Kurella berief sich dafür auf die »Veden«65 und die darin überlieferten Körperlehren.66 Ein solches Verständnis und die entsprechende Handhabung jener Lehren ermögliche Sexualität für Jünglinge und Mädchen, ohne deren 57 Alfred Kurella: Körperseele (4), in: Alfred Wolfenstein (Hg.): Die Erhebung. Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung, Berlin 1919, S. 314. 58 Kurella: Körperseele (2) (Anm. 12), S. 242. 59 Kurella: Körperseele (4) (Anm. 57), S. 307. 60 Ebd., S. 312. 61 Vgl. u. a. Oswald Spengler : Der Untergang des Abendlandes, Wien 1918. 62 Alfred Kurella: Deutsche Volksgemeinschaft. Offener Brief an den Führerrat der Freideutschen Jugend, Hamburg 1918. 63 Kurella: Körperseele (4) (Anm. 57), S. 310f. 64 Kurella: Körperseele (2) (Anm. 12), S. 245f. 65 Nahezu alle hinduistischen Strömungen berufen sich auf die »Veden«, eine seit ca. 1500 v. Chr. über Jahrtausende hinweg entstandene Sammlung religiöser Texte. 66 Kurella: Körperseele (2) (Anm. 12), S. 247.

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Jugend zu zerstören. Mehr noch: Wer Sexualität in diesem Sinn praktizierte und sich auch sonst an die »alten Lehren« hielte, würde zur »Einheit des Seelenleibes in jeder Tat des Tages gelangen«,67 also quasi das »Goldene Zeitalter« wiedererlangen. Die jugendliche Gemeinschaft schließlich sei der geeignete Ort, zu solch einer Sexualität zu erziehen. Hier werde das geschlechtliche Begehren zu »tiefste[m] Zusammenhalt« führen und zur »Entstehung eines neuen Menschen« beitragen.68 Kurella wollte nicht nur Körper und Seele, sondern auch die Freideutsche Jugend unter diesem utopischen Motto (wieder) vereinen. Zusammengefasst argumentierte Kurella für das »Recht auf freie Hingabe«, indem er auf ein Bild von Indien als dem idealisierten Anderen rekurrierte, das an romantische Denktraditionen anschließt. Die so orientalisierte Jugendsexualität verknüpfte jugendbewegte Zivilisationskritik und jugendkulturelle Selbstüberhöhung. Die von Kurella entworfene, der Jugend angeblich angemessene Sexualität war jedoch keineswegs »frei«. Ihm zufolge sollte »körperliche Hingabe […] zum großen seelischen Erlebnis, zum stärksten Antrieb auf dem Wege unserer geistigen Menschwerdung«69 werden und durfte daher nicht primär lustgesteuert sein. Zwar ist insgesamt wenig über die gelebte Sexualität Kurellas bekannt, allerdings scheinen zwischen seinen Ideen und deren Umsetzung Diskrepanzen bestanden zu haben. Eine Weggefährtin des »Westender Kreises« empfand Kurellas »freien Sex« als Überforderung und die von ihm umgesetzte neue Sexualmoral als »grausam«.70 Es ist zu vermuten, dass die Bedürfnisse seiner Partnerin(nen) eine eher untergeordnete Rolle für Kurella spielten.

Neo-Sannyasins: Überwindung des Egos durch entfesselten Sex Das 1918 noch sehr ferne Indien war seit den 1960er Jahren näher gerückt. Bereits bevor sich die Beatles 1968 im Ashram von Maharishi Mahesh Yogi im nordindischen Rishikesh aufhielten, waren junge »Westler«, vor allem aus alternativen Milieus, auf dem »Hippie-Trail«, also dem Landweg über die Türkei, Iran und Afghanistan nach Indien gereist.71 Unter ihnen waren auch tausende 67 68 69 70 71

Kurella: Körperseele (4) (Anm. 57), S. 312. Ebd., S. 315. Kurella: Körperseele (2) (Anm. 12), S. 247. Schaad: Bekenntnisse (Anm. 44), S. 130. Vgl. u. a. Sharif Gemie, Brian Ireland: The hippie trail. A history, 1957–78, Manchester 2017; eine Gruppe des Nerother Wandervogel reiste 1928 auf demselben Weg nach Indien, vgl. Elija Horn: Orientalismus und Exotisierung in den Texten zur Indienfahrt des Nerother Wandervogel, in: Eckart Conze, Susanne Rappe-Weber (Hg.): Ludwigstein. Annäherungen an die Geschichte der Burg (Jugendbewegung und Jugendkulturen 11j2015), Göttingen 2015, S. 413– 418.

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Deutsche, die sich selbst und ihr Bewusstsein von den Beschränkungen der westlichen Konsum- und Leistungsgesellschaft befreien wollten.72 Praktische Tipps enthielten alternative Reiseführer wie Tony Wheelers »India. A Travel Survival Kit« (1981), den Soundtrack zur Reise lieferten Titel wie George Harrisons »Om Hare Om (Gopala Krishna)« (1969). Auch eine mit religiösen Praktiken (vermeintlich) indischen Ursprungs verknüpfte Sexualität war nach der sogenannten »sexuellen Revolution« und einer erneuten Indien-Modewelle nach 1968 in Westdeutschland zwar kein Novum, enthielt aber durchaus das Potenzial zur Schlagzeile. 1975 berichtete beispielsweise eine deutsche Studentin im Spiegel, sie sei dank Yoga stets gut drauf und könne nach den Übungen »unwahrscheinlich gut bumsen«.73 Ganz im Duktus der Befreiungsrhetorik der späten 1960er Jahre galt Sexualität auch den Neo-Sannyasins als Energie, »deren Unterdrückung sich gegen die Lebendigkeit des Menschen richtete und deren Freisetzung der erste Schritt zur Veränderung des menschlichen Bewusstseins war«, wie Angelika Zeisberg in einer Studie von 1987 betonte.74 Sexualität war deshalb im Ashram-Alltag der Neo-Sannyasins wie auch für viele andere, jedoch nicht alle religiös gestimmten »Indienfahrer« von zentraler Bedeutung.75 Rajneeshs religiös-psychotherapeutischer Synkretismus samt Bezügen zu Tantra76 und die weitgehend libertäre Atmosphäre in seinem Ashram entsprachen den gegenkulturellen Bedarfen der westlichen Indienfahrer*innen. Wie der Anthropologe Nik Douglas feststellt, bot Rajneesh den »Westlern« alle Verheißungen, die Tantra ihren Vorstellungen nach zu bieten hatte: »a free love cult promising enlightenment, an exciting radical community«.77 Das von Rajneesh propagierte Heilsziel war die Zerstörung des Egos, das – Sinnbild für den westlichen Lebenswandel – eine Illusion sei. Kultur in Form von Regeln und Institutionen, so Rajneesh, entfremde den Menschen von seinem natürlichen Zustand, in dem er von Liebe, die ihn mit Gott verbinde, durchdrungen sei. Die Neo-Sannyasins sollten sich demgegenüber von erstarrten kulturellen Konventionen befreien, um wieder in eine »natürliche Verbindung zu Gott« treten zu

72 Agnieszka Sobocinska: Following the »Hippie Sahibs«. Colonial cultures of travel and the Hippie Trail, in: Journal of Colonialism and Colonial History, 2014, Nr. 15 (2); auf die besonders inbrünstigen Bemühungen der Deutschen verweist Gita Mehta: Karma Cola, New Delhi 1993 [1979], S. 74. 73 Religion für müde Europäer, in: Der Spiegel, 27. 01. 1975, Nr. 5, S. 96. 74 Zeisberg: Sannyasins (Anm. 17), S. 54. 75 Vgl. u. a. Harald Hetzel: Indienfahrer Sex, Weiden 2016 sowie Mehta: Karma (Anm. 72). 76 Esoterische Strömung hinduistischer Lehren; zur westlichen Tantra-Rezeption vgl. Hugh C. Urban: Tantra, American Style. From the Path of Power to the Yoga of Sex, in: Istvan Keul (Hg.): Transformations and transfer of Tantra in Asia and beyond, Berlin 2012, S. 457–494. 77 Nik Douglas: Spiritual sex. Secrets of Tantra from the ice age to the new millennium, New York 1997, S. 15.

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können.78 Deshalb, so ließ Rajneesh in einer zeitgenössischen Broschüre verlautbaren, »rebelliert die junge Generation im Westen ständig gegen alles. […] Das östliche Bewusstsein […] sagt: Das Ego ist das ganze Problem. […] nicht der Stärkste überlebt, sondern […] der, der mit dem Strom des Lebens fließt«.79 Rajneesh stellte in Aussicht, mithilfe seiner »Wissenschaft der Transformation« ein authentisches Selbst wiederzuerlangen und zur »Erleuchtung im Zustand des All-Eins-Seins [zu] gelangen«.80 Die Transformation zum göttlichen und mithin wahren Selbst erreichte man laut Rajneesh durch Verstehen, das aus Erfahrung resultiere. Die westlichen Adepten nahmen daher im Ashram an verschiedenen Selbsterfahrungs- und Encounter-Gruppen81 teil, wo sie unter Einsatz psychotherapeutischer Methoden ihr »Ego aufsprengen« wollten.82 Rajneesh gewährte ihnen dabei »totale Freiheit, alles zu erleben, was euer Körper und euer Verstand erfahren wollen«.83 Es galt jegliche Unterdrückung abzuschütteln, indem man unerwünschten Gefühlen wie Zorn oder Eifersucht, unterdrückter sexueller Lust bzw. Angst vor Sexualität freien Lauf ließ.84 Das hemmungslose Ausleben von Sexualität stellte demzufolge eine Möglichkeit dar, sich auf den Weg zur Selbstüberwindung zu begeben. Deutlicher gesagt: Nicht die Sexualität selbst sollte befreit werden, sondern im Gegenteil: Der Mensch sollte letztlich im Hindurchgehen durch seine sexuellen Begierden deren Wertlosigkeit für das göttliche Selbst einsehen und hinter sich lassen. Soweit die Theorie. Medial wurde das Bild der Neo-Sannyasins von Skandalen und Enthüllungsgeschichten über wilde Sexorgien und sadistische Praktiken im »SexKloster« dominiert,85 die im Nachgang zu Eva Renzis Andeutung, im Ashram vergewaltigt worden zu sein,86 seit Mitte 1978 vermehrt erschienen. Die Vorstellung vom »Sex […] unter fremdem Himmel, auf indischen Pritschen«87 78 Vgl. Katja Kleinsorge: Die Bhagwan-Kontroverse. Der Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh im Spiegel der indischen Regionalpresse, Dissertation Universität Leipzig 2014, Manuskript S. 85. 79 So zit. in Mildenberger: Revolte (Anm. 22), S. 172f. 80 Gietz: Osho-Bewegung (Anm. 16), S. 631. 81 Encounter ist eine Gruppentherapieform aus dem Zweig der Humanistischen Psychologie und geht auf Carl Rogers sowie William Schulz zurück. 82 Reichardt: Authentizität (Anm. 20), S. 826. 83 So zit. in Mildenberger: Revolte (Anm. 22), S. 175. 84 Einschränkend ist zu ergänzen, dass unter Sexualität nahezu immer heterosexuelle Handlungen verstanden wurden. Zu Homosexualität äußerte sich Rajneesh ambivalent, vgl. u. a. Rajneesh: The Dhammapada. The Way of the Buddha, Vol. 2 (Talks given in Poona from 01/ 07/79 to 10/07/79), S. 99, URL: http://www.oshorajneesh.com/download/osho-books/bud dha/DhammapadVol2.pdf ?x37574 [30. 04. 2019]. 85 Gestorben. Bhagwan Shree Rajneesh, in: Der Spiegel, 22. 01. 1990, Nr. 4, S 208. 86 Sekten. Zehn Minuten lautes Hu, in: Der Spiegel, 21. 08. 1978, Nr. 34, S. 88–89. 87 Bittorf: Gabe (Anm. 20), S. 213.

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weckte exotische Fantasien und lockte ein entsprechendes Publikum an. Der Umgang mit Sexualität, der in seiner entgrenzten Weise auch übergriffige Formen annahm, gestaltete sich also insgesamt deutlich weltlicher, als konzeptionell dargelegt. So berichtete der Psychologe Gunther Klosinski von einer 25-jährigen Studentin, die sich aufgrund sehr praktischer Probleme, nämlich ihrer Orgasmusschwierigkeiten, an der Tantra-Gruppe des Ashrams beteiligte.88 Auch andere Studentinnen konnten sich in Poona eigenen Angaben zufolge zu ihrer Zufriedenheit sexuell ausleben.89 Der Spiegel-Reporter Wilhelm Bittorf fokussierte in seinen Berichten ebenfalls auf Frauen, welche die Mehrzahl der Bhagwan-Anhänger*innen stellten, und beschrieb etwa, dass mehrere »Jüngerinnen« beim »Energie-Darshan […] eine Art Orgasmus erleben oder simulieren«.90 Insgesamt jedoch charakterisierte Bittorf die Atmosphäre im Ashram als harmlose »Pyjama-Party für späte Teenager«.91 Der Philosoph Peter Sloterdijk erinnerte sich hingegen an sexuelle Aktivitäten, die er als »öde Rammelei« bezeichnete und die aus seiner Sicht mit den religiösen Aspirationen in keinerlei Verbindung gestanden hätten.92 Der Theologe Michael Mildenberger, ein Experte für asiatisch inspirierte Jugendreligionen in den späten 1970er Jahren, zeigte sich ebenfalls skeptisch: »Welcher Europäer […] vermag in der Tiefe seines Wesens Sexualität als Überstieg zur Transzendenz zu erfassen? Muss es nicht notwendig zu Missverstehen oder neuer Frustration kommen?«93 Die Art und Weise, in der Neo-Sannyasins ihr religiös begründetes Ziel realisierten, ihre Sexualität in lustbetonter und entgrenzter Weise auszuleben, wird von den Beteiligten ebenso wie von zeitgenössischen Beobachter*innen und Forscher*innen unterschiedlich eingeschätzt. Einige bagatellisierten die Bedeutung von Sex für die Neo-Sannyasins, andere berichteten von promisk und konsensual ausgelebter Sexualität bis hin zu Vorkommnissen sexualisierter Gewalt.94 Die heterogene Quellenlage, bestehend aus Medienberichten, Erinnerungen und zeitgenössischen Studien, verlangt hier nach einer differenzierteren Auswertung. Grundsätzlich kann jedoch das (sexuelle) Freiheitsstreben der NeoSannyasins nicht losgelöst von deren Selbstunterwerfung unter Rajneesh und seine »Lehre« sowie den als Negativfolie installierten gesellschaftlichen Normen betrachtet werden. 88 89 90 91 92

Klosinski: Bhagwan (Anm. 17), S. 52ff. Ebd., S. 104, 195. Bittorf: Gabe (Anm. 20), 212f. Ebd. Sven Michaelsen, Peter Sloterdijk: »Man denkt an mich, also bin ich« [Interview], in: Süddeutsche Magazin, 2014, Nr. 45. 93 Mildenberger: Revolte (Anm. 22), S. 177. 94 Horn: Rebellion (Anm. 17); Klosinski: Bhagwan (Anm. 17), S. 51; Hugh Milne: Bhagwan. The god that failed, New York 1987, S. 175.

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Vergleich und Fazit Im Vergleich des Umgangs mit der jugendbewegten »Geschlechtsnot« um 1918 mittels religiöser Verweise auf Indien und der angestrebten Selbsterlösung mittels ausgelebter Sexualität bei den Neo-Sannyasins um 1980 zeigt sich die Anschlussfähigkeit eines romantisch orientalisierten Indienbildes an jugendkulturelle Bedarfe im Bereich der Sexualität. Die Hinwendung zu »östlichen Lehren« stellte eine Möglichkeit dar, um Krisensymptome zu bearbeiten, deren Ursachen in der westlichen Zivilisation lokalisiert wurden. Freideutsche wie Neo-Sannyasins rekurrierten dabei auf Vorstellungen, denen zufolge Indien für Ursprünglichkeit, Jungsein, Natürlichkeit und Religiosität stand. In diesen schlug sich die Denkweise einer geschichtsphilosophischen Parallelisierung von Phylo- und Ontogenese nieder. Die Aneignung indischer Glaubenskonzepte sollte – metaphorisch gesprochen – zweierlei bewirken: die Abwehr oder gar Überwindung von Tod und Verfall sowie die Begründung von jugendlicher Lebendigkeit, harmonischer Ganzheitlichkeit und Authentizität. Derartige Projektionen wurden bereits um 1800 »reformpädagogisch« aufgeladen: Indien wurde imaginiert als spiritueller Ort, an dem Menschen ohne den zivilisierenden Eingriff der Erziehung, gleichsam auf natürliche Weise ihr wahres Selbst entfalten könnten.95 Damit wurde »Indien« ein gewissermaßen antiautoritäres Potential zugeschrieben, das insbesondere für jugendliche Gegenkulturen attraktiv war. All diese Vorstellungen tauchten bei Jugendbewegten und Neo-Sannyasins wieder auf: Indische Religiosität und deren Praktiken sollten zur Selbstfindung beitragen, die in der westlichen Zivilisation erzeugten Deformationen der Persönlichkeit mit ihrer Hilfe rückgängig gemacht werden. In beiden Fällen überlagerten sich romantische mit sexualisierten Indienbildern, indem die Natürlichkeit von Sexualität betont und deren Potential zum Transzendenten bzw. zur Harmonisierung hervorgehoben wurden. Bei Kurella ging es darum, mittels religiöser Praktiken aus Indien im sexuellen Vollzug die vermeintlich ursprüngliche Einheit von Körper und Seele – und damit auch von Seele und Welt – wiederzuerlangen, den drohenden Verfall abzuwenden und so die Entwicklung zum »Neuen Menschen« voranzubringen. Die Neo-Sannyasins hofften darauf, ihr wahres Selbst zu entdecken, indem sie jegliche, aber vor allem die sexuelle Unterdrückung abschüttelten. Dass es sich dabei um Projektionen handelte, die typisch für ein »Othering« sind, wird daran deutlich, dass zwischen den konzeptionell-religiösen Argumenten für eine befreite(re) Jugendsexualität und deren gelebter Realität enorme Diskrepanzen bestanden. Einerseits wurde »Indisches« als Inspirationsquelle oder Argument für die Realisierung eigener Bedürfnisse sowie zur Abgrenzung von der Elterngeneration benutzt. Die Es95 Dazu ausführlich Horn: Indien (Anm. 3), Kapitel 3.

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sentialisierung indischer Religiosität und ihre spezifisch westliche Aufladung und Deutung sind nicht zuletzt daran erkennbar, dass Auftreten und Verhalten der Neo-Sannyasins von der Bevölkerung in Poona als regelwidrig und den Anstand verletzend wahrgenommen wurden.96 Zugleich lassen sich Unterschiede in der Indienrezeption zwischen Freideutschen und Neo-Sannyasins ausmachen. Während um 1918 – fernab von Indien – lediglich ein kleiner elitärer Kreis für eine befreite Jugendsexualität mithilfe religiöser Praktiken indischer Provenienz argumentierte und experimentierte, gab es zwischen 1974 und 1981 tausende Neo-Sannyasins, die tatsächlich nach Südasien reisten. Grobe Schätzungen gehen von mehr als 50.000 deutschen Ashram-Besucher*innen in Poona aus.97 In Deutschland gab es 1979 knapp 30 Rajneesh-Zentren.98 Zudem fand die Bearbeitung von Krisensymptomen bei Freideutschen und Neo-Sannyasins vor dem Hintergrund völlig unterschiedlicher historischer Kontexte statt. Nach 1945 entstand eine neue Weltordnung, die mit dem Kalten Krieg globale Bedrohungsszenarien hervorrief. Demgegenüber stand die tatsächliche Kriegserfahrung der Jugendbewegten um 1918. Wissensgeschichtlich lässt sich ab den späten 1960er Jahren eine enorme Popularisierung psychologischen Wissens konstatieren und eine damit einhergehende Tendenz zum therapeutischen Denken. Für die Neo-Sannyasins spielten psychotherapeutische Ansätze bei der Verwirklichung ihrer Heilsziele eine zentrale Rolle. Demgegenüber war der Einfluss psychologischen Denkens in der Jugendbewegung – trotz jugendbewegter Psychoanalytiker wie Siegfried Bernfeld, Harald Schultz-Hencke oder Otto Fenichel – insgesamt geringer. Das zeigt sich auch im Umgang mit Sexualität, zumindest auf der theoretischen Ebene: Kurella, der mit psychoanalytischen Ansätzen rudimentär vertraut war, lehnte eine »überreizt[e] und mechanisiert[e]«99 Sexualität ab. Zwar wollte er sexuelle Entfaltungsmöglichkeiten durch religiöse Praktiken wie Yoga ausloten, allerdings stets mit dem Ziel der »geistigen Menschwerdung«100 und damit im Rahmen relativ enger Vorstellungen von Reinlichkeit und Natürlichkeit, die den »Neuen Menschen« charakterisierten. Zumindest auf rhetorischer Ebene kann bei Kurella von einer – psychoanalytisch gesprochen – befreiten Libido keine Rede sein. Demgegenüber nahm das Ausagieren von Sexualität – ob mit oder ohne Tantra – bei den Neo-Sannyasins einen psychotherapeutischen Stellenwert ein – mit dem Ziel, jenen Energien freien Lauf zu lassen, die bislang unterdrückt gewesen, jedoch zur Bewusstseinsveränderung nötig wären.101 Die »Übungen« 96 97 98 99 100 101

Kleinsorge: Bhagwan-Kontroverse (Anm. 78), S. 88. Bittorf: Gabe (Anm. 20). Horn: Rebellion (Anm. 17), S. 69. Kurella: Körperseele (4) (Anm. 57), S. 315. Kurella: Körperseele (2) (Anm. 12), S. 248. Vgl. Zeisberg: Sannyasins (Anm. 17), S. 54.

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im Ashram fügten sich problemlos in den sogenannten Psychoboom Ende der 1970er Jahre ein.102 Obwohl auch bei Rajneesh und seinen Anhänger*innen vom »Neuen Menschen« und gesellschaftlicher Erneuerung gesprochen wurde, so dominierten in Interviews therapeutische Bedarfe und persönliche Entwicklungsziele.103 Man kreiste letztlich um sich selbst. Nicht zuletzt waren sowohl um 1918 als auch in den Jahren um 1980 männliche und weibliche Jugendliche bzw. junge Erwachsene involviert – wobei Mädchen und Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Minderzahl, unter den Neo-Sannyasins hingegen in der Mehrzahl waren. Dass patriarchale Strukturen in beiden Fällen nicht als ein zu überwindendes Hemmnis für die umfassende »sexuelle Befreiung« angegangen wurden, zeigt sich an Berichten über sexualisierte Grenzüberschreitungen – meist gegenüber weiblichen Mitgliedern, womöglich auch gegenüber Kindern.104 Insgesamt scheint es weder den Freideutschen noch den Neo-Sannyasins gelungen zu sein, die im Rahmen ihrer religiösen Aktivitäten angestrebte sexuelle Befreiung in umfassender Weise zu erlangen.105 Im Gegenteil: Das religiös begründete Ziel nach Befreiung diente auch der Befriedigung eigener sexueller und/oder Machtbedürfnisse, wodurch die Freiheiten anderer Beteiligter beschnitten, deren Grenzen überschritten wurden. Der Mangel an Reflexion über strukturelle Machtverhältnisse zwischen Eigenem und Anderem ist nicht nur im sexuellen Zusammentreffen von Individuen problematisch, sondern auch auf globaler Ebene. Indien war für beide Jugendkulturen eine geeignete Projektionsfläche bzw. ein verfügbares Experimentierfeld. Dabei enthielt die in den orientalisierten Indienbildern wirksame Kombination aus Exotik, emanzipatorischen wie kulturkritischen Forderungen, alternativen Gesellschaftsentwürfen und deren sexueller Aufladung bis in die frühen 1980er Jahre offenbar noch ein gewisses subversives Potential, das jugendkulturell nutzbar gemacht wurde. Aktuell scheint hingegen die Attraktivität religiöser Indienbilder für Jugendliche und junge Erwachsene gesunken zu sein. Yoga und Tantra gehören derzeit eher zum Wellnessprogramm derjenigen, die in den 1980er Jahren jung waren.

102 Mehr dazu s. Reichardt: Authentizität (Anm. 20), Maik Tändler : Das therapeutische Jahrzehnt. Psychoboom, Politik und Subjektivität in den 1970er Jahren, Göttingen 2016. 103 Vgl. Horn: Rebellion (Anm. 17); Klosinski: Bhagwan (Anm. 17); Mildenberger : Revolte (Anm. 22); Zeisberg: Sannyasins (Anm. 17). 104 Vgl. Schaad: Bekenntnisse (Anm. 44), S. 130; Klosinski: Bhagwan (Anm. 17), S. 186–189; Mehta: Karma (Anm. 72), S. 152. 105 Die magere Quellenlage zur praktizierten Sexualität bei Kurella und im »Westender Kreis« liefert lediglich Indizien.

Lutz Sauerteig

Von Hodann zu Amendt: Vorstellungen von sexueller »Liberalisierung«, kindlicher Sexualität und Geschlechterverhältnissen in der Sexualerziehung um 1900 und um 1968

Dieser Beitrag untersucht Kontinuitäten und Brüche in den Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen und kindlicher Sexualität sowie in den gesellschaftlichen Haltungen zu Sexualmoral und Sexualverhalten von Jugendlichen am Beispiel der Diskurse über Sexualität und Sexualaufklärung von Jugendlichen um 1900 und um 1968. Dabei geht es mir insbesondere darum, den Begriff der »sexuellen Liberalisierung« einer Kritik zu unterziehen, die zeigen soll, dass er, wenn überhaupt, nur einen äußerst begrenzten Erklärungswert besitzt und mehr verschleiert als zur Analyse beiträgt. Ich werde mich zunächst mit dem im Verständnis der Zeitgenossen »progressiven« Aufklärungsdiskurs um 1900 (hier verstanden im weiteren Sinne als die Periode von der Jahrhundertwende bis 1933) beschäftigen und dann den Blick auf die späten 1960er und die 1970er Jahre lenken, die oft unter dem Schlagwort der »sexuellen Revolution« verhandelt werden. Auch wenn ich Behauptungen historischer Kontinuitäten skeptisch gegenüber stehe – die sozialen und kulturellen Verhältnisse sind meist zu unterschiedlich –, gibt es Themenfelder und Fragen, die Jugendliche und Sexualaufklärer in beiden Zeitabschnitten bewegt haben. Zudem griffen die sogenannten Achtundsechziger auf Texte aus den späten 1920er und frühen 1930er Jahren zurück, insbesondere von Wilhelm Reich und Siegfried Bernfeld, die sie für ihre ideologischen Diskurse relevant hielten.

Der »progressive« Aufklärungsdiskurs der Jahre um 1900 Siegfried Bernfeld (1892–1953) war bereits während seines Studiums über die Grenzen Wiens hinaus bekannt geworden als »der führende Repräsentant und intellektuelle Kopf« der Jugendkulturbewegung.1 Peter Dudek sieht in der Ju1 Peter Dudek: »Er war halt genialer als die anderen«. Biografische Annäherungen an Siegfried Bernfeld, Gießen 2012, S. 51; vgl. Ulrich Herrmann: Die Jugendkulturbewegung. Der Kampf um die höhere Schule, in: Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler (Hg.): »Mit uns

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gendkulturbewegung den wohl »entschiedenste[n] Ausdruck für die Versuche, im Kaiserreich und in der österreichisch-ungarischen Monarchie eine Gegenöffentlichkeit zu Elternhaus, Schule und Universität herzustellen«.2 Man kann die Jugendkulturbewegung als einen ersten Versuch von Jugendlichen beiderlei Geschlechts sehen, sich gegen die geltenden sexualmoralischen Normen des ausgehenden Kaiserreichs aufzulehnen. Sie war, in den Worten Ulrich Herrmanns, eine »wirkliche Emanzipationsbewegung« gegen die Kontrolle und Überwachung durch Elternhaus und Schule und für »die Förderung und Intensivierung jugendlicher Intellektualität« und, so Philip Lee Utley, »the twentieth century’s first left-wing political youth movement«.3 Trotz einer begrenzten Anhängerschaft von ca. 3.000 Personen gelang es der Jugendkulturbewegung, ihre kontroversen Themen in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen. John Williams spricht von einer »moral panic«, die ihre Forderungen nach Unabhängigkeit sowie ihre Proteste gegen autoritäre Strukturen des Bildungssystems und gegen die strikten sexualmoralischen Normen 1913/14 auslösten.4 Ihr wesentliches Medium dazu war die von Bernfeld und Georges Barbizon (d. i. Georg Gretor, 1892–1943) redigierte Zeitschrift Der Anfang, die, da beide rechtlich noch minderjährig waren, als verantwortlichen Herausgeber den Spiritus Rector der Jugendkulturbewegung, Gustav Wyneken (1875–1964), angab. Rasch wurden die zwischen Mai 1913 und Juli 1914 in Franz Pfemferts (1879–1954) linkem Verlag »Die Aktion« erschienenen grünen Hefte des Anfang zum reichsweit beachteten »Forum jugendlicher Gegenöffentlichkeit«, das von der Presse und in den bayerischen, preußischen und badischen Landtagen kontrovers diskutiert sowie von Kultusministerien mit größtem Argwohn beobachtet und scharf kritisiert wurde, auch wenn die Auflage mit maximal 2.000 Exemplaren überschaubar blieb.5

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zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985, S. 224–244; Fritz Jungmann [d. i. Franz Borkenau]: Autorität und Sexualmoral in der freien bürgerlichen Jugendbewegung, in: Max Horkheimer u. a. (Hg.): Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, Reprint Lüneburg 1987 [1936], S. 669–705, S. 686–896. Dudek: Annäherungen (Anm. 1), S. 52; ähnlich Herrmann: Jugendkulturbewegung (Anm. 1), S. 232. Herrmann: Jugendkulturbewegung (Anm. 1), S. 224, 227f.; Philip Lee Utley : Radical youth. Generational conflict in the Anfang movement, 1912–January 1914, in: History of Education Quarterly, 1979, Nr. 19, S. 207–228, S. 207. John Alexander Williams: Ecstasies of the young: sexuality, the youth movement, and moral panic in Germany on the eve of the First World War, in: Central European History, 2001, Nr. 34, S. 163–189. Dudek: Annäherungen (Anm. 1), S. 54; Williams: Ecstasies (Anm. 4), S. 178–184; Utley : Youth (Anm. 3); Philip Lee Utley : Schism, romanticism and organization: Anfang, January–August 1914, in: Journal of Contemporary History, 1999, Nr. 34, S. 109–124; Klaus Laermann: Der Skandal um den Anfang. Ein Versuch jugendlicher Gegenöffentlichkeit im Kaiserreich, in: Koebner u. a.: Zeit (Anm. 1), S. 360–381; Vanessa Tirzah Hautmann: Kulti-

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Was Zeitgenossen am meisten überrascht und schockiert haben dürfte, war, dass sich im Anfang Jungen und Mädchen mit Sexualität und Sexualmoral auseinander setzten.6 Aber nicht nur hier, sondern auch in dem von Bernfeld Anfang 1913 in Wien begründeten »Sprechsaal« konnten Jugendliche öffentlich u. a. über Fragen von Sexualität und Sexualmoral und das Verhältnis der Geschlechter diskutieren. Bernfeld hatte den Sprechsaal als ein unregelmäßig tagendes Diskussionsforum für Leser*innen des Anfang konzipiert, das in der Folgezeit rasch wuchs und in anderen Städten kopiert wurde. Allerdings stießen die Sprechsäle bald auf behördlichen Widerstand. In Wien überwachte die Polizei den Sprechsaal und verbot ihn schließlich im März 1914, während in München das Bayerische Kultusministerium im Januar 1914 Schülern nicht nur dessen Besuch untersagte, sondern auch das Lesen des Anfang verbot.7 Mitglieder des im Herbst 1912 ebenfalls von Bernfeld gegründeten »Akademischen Comit8 für Schulreform« richteten daraufhin 1914 in Wien eine kostenlose Schülerberatungsstelle ein, den »Grünen Anker«, in dem diese sich von Ärzt*innen, Juristen, Pädagogen und anderen Ansprechpartner*innen unter anderem zu sexuellen Fragen beraten lassen konnten.8 Im Frühjahr 1914 kam es zum zeitweisen Bruch mit Wyneken, der wegen seiner Unterstützung des Anfang und der Jugendkulturbewegung in den Fokus der Kritik seitens Politik und Polizei geraten war. Es hatte zudem interne Spannungen zwischen Wyneken und Bernfeld, Barbizon und Walter Benjamin (1892–1940) gegeben, bei denen es um Wynekens Einfluss als offizieller Herausgeber der Zeitschrift sowie um dessen asketische Position gegenüber Sexualität, Alkohol und Rauchen ging.9 Sexuelle Identität, Sexualmoral und jugendliches Sexualverhalten sowie Freikörperkultur und Nacktheit waren in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg innerhalb der deutschen Jugendbewegung zu zentralen Themen geworden. Insbesondere Auseinandersetzungen über Homoerotik und Homosexualität sowie die Funktion des »pädagogischen Eros« hatten die Gemüter der Jugend-

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viertes Triebleben. Sexualität und Geschlechtermoral in der Jugendzeitschrift Der Anfang, in: Karl Braun, Felix Linzner, John Khairi-Taraki (Hg.): Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung« (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 13j2017), Göttingen 2017, S. 19–32, S. 22. Williams: Ecstasies (Anm. 4); Laermann: Skandal (Anm. 5); Hautmann: Triebleben (Anm. 5). Dudek: Annäherungen (Anm. 1), S. 64f., 68f.; Sabine Richebächer : Psychoanalyse im Exil. Otto Fenichel und die geheimen Rundbriefe der linken Freudianer, in: Jahrbuch der Psychoanalyse, 2000, Nr. 42, S. 125–164, S. 126; Herrmann: Jugendkulturbewegung (Anm. 1), S. 237f.; Laermann: Skandal (Anm. 5), S. 371ff.; Ulrich Linse: Die Entschiedene Jugend 1919–1921. Deutschlands erste revolutionäre Schüler- und Studentenbewegung, Frankfurt a. M. 1981, S. 35f.; Utley : Youth (Anm. 3), S. 213, 216. Dudek: Annäherungen (Anm. 1), S. 63f, 71f.; Richebächer : Psychoanalyse (Anm. 7), S. 126; Herrmann: Jugendkulturbewegung (Anm. 1), S. 232–239. Williams: Ecstasies (Anm. 4), S. 179–183; Utley : Schism (Anm. 5), S. 118f.

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lichen, deren Eltern und einer breiteren Öffentlichkeit bewegt.10 Der der Frankfurter Schule nahestehende Soziologe Franz Borkenau (1900–1957) wies allerdings darauf hin, dass es sich eher um theoretische Diskussionen gehandelt und »eine wirkliche Befreiung des Sexus« in der Jugendkulturbewegung nicht stattgefunden habe.11 Ebenfalls zentral war die Frage der Stellung von Mädchen innerhalb der Jugendbewegung, was vor und nach dem Krieg für erhitzte Auseinandersetzungen über das Verhältnis der Geschlechter zueinander sorgte.12 Mitglieder der Jugendbewegung äußerten sich verstärkt zu diesen Themen in der Öffentlichkeit. Im Oktober 1913 veröffentlichte der damals 20-jährige Herbert Blumenthal (1893–1978), ein Freund Bernfelds und Benjamins, einen Beitrag im Anfang mit dem programmatischen und gleichzeitig provozierenden Titel »Jugendliche Erotik«. Die Jugend habe entdeckt, so stellte er einleitend fest, »daß sie ein großes, reiches, gewaltiges Triebleben besaß, das in der Öffentlichkeit vom Philistertum tot geschwiegen wurde«.13 Lange sei die Jugend »den Geboten der ›Moral‹ gefolgt, hatte zu unterdrücken versucht, was nicht zu unterdrücken war und mußte also ihre Triebe durch Heimlichkeit, durch verstecktes und verbotenes Tun schänden«. Hiergegen habe sich jetzt jedoch Widerstand gebildet, insbesondere in der Großstadtjugend. Diese lasse sich »nicht länger unterdrücken und schrie dem Philister die Wahrheit ins Gesicht, wie stark und gesund, wie unzerstörbar ihr Triebleben sei«. Sie stürzte sich in den »Strudel« des Trieblebens, das »zum betonten Moment jugendlichen Lebens« 10 Vgl. Sven Reiß: »Renaissance des Eros paidikos«. Erotisch-sexuelle Leitbilder und Alltagspraxen in der deutschen Jugendbewegung, in: Braun u. a: Avantgarden (Anm. 5), S. 61–75; Claudia Bruns: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880–1934), Köln u. a. 2008; Thijs Maasen: Pädagogischer Eros. Gustav Wyneken und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf, Berlin 1995; Ulfried Geuter : Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung. Jugendfreundschaft und Sexualität im Diskurs von Jugendbewegung, Psychoanalyse und Jugendpsychologie am Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1994. 11 Jungmann [Borkenau]: Autorität (Anm. 1), S. 638. 12 Vgl. Barbara Stambolis: Weiblichkeit im Männerbund. Von »lieblichen Jungfrauen« zu »verbengelten Gestalten«, in: Historische Jugendforschung, 2010, N. F. 7, S. 55–74; Meike Sophia Baader : »Wie kam das Weib nun schließlich doch an die Lagerfeuer der Jugendbewegung?« Gesellungs-, Vergemeinschaftungs- und Beziehungsformen als Geschlechterkonstruktionen um 1900, in: ebd., S. 75–95; Irmgard Klönne: »… nicht Wasser mehr und Feuer …«: Das Geschlechterverhältnis in der Jugendbewegung, in: Ulrich Herrmann (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit …«. Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim, München 2006, S. 155–169; Sabine Andresen: Mädchen und Frauen in der bürgerlichen Jugendbewegung. Soziale Konstruktion von Mädchenjugend, Neuwied 1997, Kap. 3 u. 5; Geuter : Homosexualität (Anm. 10), S. 59–67; Irmgard Klönne: »Ich spring’ in diesem Ringe«: Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung, Pfaffenweiler 1990; Marion E. P. de Ras: Body, Femininity and Nationalism. Girls in the German Youth Movement 1900–1934, New York u. a. 2008. 13 Herbert Blumenthal: Jugendliche Erotik, in: Der Anfang. Vereinigte Zeitschriften der Jugend, NF1 (1913/14), Nr. 6, S. 166–169, dieses und die folgenden Zitate S. 166.

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wurde. Blumenthal sah Sexualität »unumschränkt im Mittelpunkt des Daseins« der Großstadtjugend stehend. Sie sei »zum Unbedingten geworden, zum absoluten Lebensinhalt«, was man auch an der zeitgenössischen Lyrik und Malerei sehen könne, die »rein erotisch« geworden sei. Die Kunst »schreit es der Welt ins Gesicht, wie unanständig, wie schamlos die Jugend durch ihre Unterdrückung werden mußte«. Die Jugend sei jedoch erst von der repressiven bürgerlichen Sexualmoral in diese »Sumpf« hineingetrieben worden.14 Blumenthals Beitrag entstand im Kontext einer weit über die Jugendbewegung hinausgehenden und seit dem Fin de SiHcle zu beobachtenden Sexualisierung und sexuellen Objektivierung von Kindern und Jugendlichen, insbesondere von Mädchen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diskutierten Pädiater, Psychologen und Psychoanalytiker über die Existenz und Bedeutung kindlicher Sexualität. Künstler wie Heinrich Zille, Egon Schiele, Gustav Klimt, Otto Kokoschka oder Hugo Höppener (Fidus) in der Jugendbewegung und Fotografen wie Wilhelm v. Gloeden stellten öffentlich wirksam ihre Obsessionen mit dem nackten, (vor)pubertären Körper dar. Literaten wie Thomas Mann, Stefan George, Arthur Schnitzler, Karl Kraus oder Peter Altenberg phantasierten über das pubertäre Kind, insbesondere über das »Kindweib« (Fritz Wittels), aber, wie im Fall von George und Mann, auch über Knaben. Der 1928 wegen sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Mädchen angeklagte Architekt Adolf Loos (1870–1933) kommentierte 1902: »Der Ruf nach Jugend erscholl. Das Weibkind kam in Mode. Man lechzte nach Unreife.«15 Immer wieder verhandelten Gerichte Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern, so zum Beispiel gegen Egon Schiele und Gustav Graef, gegen den Vorsitzenden des Alt-Wandervogels Wilhelm Jansen (1866–1943) und seinen »Päderastenclub« oder in den 1920er Jahren gegen Wyneken – Fälle, über die die Presse jeweils sensationshungrig und ausführlich berichtete.16 14 Ebd., S. 167. 15 Adolf Loos: Damenmode, in: Dokumente der Frauen, 1902, 6, Nr. 23, S. 660–664, S. 661f; Klaralinda Ma: Der »Fall« Loos, in: Inge Podbrecky, Rainald Franz (Hg.): Leben mit Loos, Wien u. a. 2008, S. 161–172. Den Begriff »Kindweib« prägte der Psychoanalytiker Fritz Wittels: Avicenna (d. i. Fritz Wittels): Das Kindweib, in: Die Fackel, 15. 07. 1907, 9, Nr. 230/ 231, S. 14–33. 16 Lutz Sauerteig: Loss of innocence. Albert Moll, Sigmund Freud and the invention of childhood sexuality around 1900, in: Medical History, 2012, Nr. 56, S. 156–183; Kathrin Peters: Anatomy is sublime. The photographic activity of Wilhelm von Gloeden and Magnus Hirschfeld, in: Michael Thomas Taylor, Annette Timm, Rainer Herrn (Hg.): Not Straight from Germany. Sexual Publics and Sexual Citizenship since Magnus Hirschfeld, Ann Arbor 2017, S. 170–190; Barnet Hartston: The Trial of Gustav Graef. Art, Sex, and Scandal in Late Nineteenth-Century Germany, DeKalb 2017; Peter Dudek: »Sie sind und bleiben eben der alte abstrakte Ideologe!« Der Reformpädagoge Gustav Wyneken (1875–1864) – Eine Biographie, Bad Heilbrunn 2017, Kap. 5; Sven Reiß: Päderastie in der deutschen Jugendbewegung. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung, in: Zeitschrift für Pädagogik, 2016, Nr. 62, S. 670–683,

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Blumenthals Beitrag war ein Plädoyer dafür, die jugendliche Sexualität anzuerkennen. »Wir alle«, so schrieb er, »empfinden instinktiv, daß wir das Triebleben als solches nicht verleugnen dürfen, auch wenn es noch nicht Bestandteil der Kultur ist«.17 Es ging Blumenthal zum einen um den Protest gegen die bürgerliche Sexualmoral und zum anderen um »die prinzipielle Anerkennung eines wesentlichsten Lebensgebietes«, nämlich des Rechts der Jugend auf Sexualität. Es gehe »um unsere Erotik und also um ein heiliges Gut«, so stellte er emphatisch fest.18 Wie das jugendliche Sexualverhalten zu gestalten sei, schien ihm zunächst noch zweitrangig. »Darum sind wir so unentwegt positiv, wo es um jugendliche Erotik geht, so frei von Bedenken, so skrupellos; wir übernehmen die Erotik mit allem Drum und Dran an Unkultur […], wir machen den Tanz deutlich erotisch, wir flirten und lieben, wo wir nur können« und »schaffen fortwährend neue Gelegenheiten zur erotischen Geselligkeit der Jugend«.19 Dabei könne es die Jugend jedoch nicht belassen, sondern sie habe »die Verpflichtung, unser eigenes Triebleben zu gestalten«.20 Blumenthals Beitrag war damit auch eine scharfe Kritik an der erotischen Kultur, an dem Flirten und dem »Draufgängertum«, den »barbarische[n], unserem innersten Wesen ganz fremde[n] Tänze[n], in denen wir direkt mit unserem Leibe der Roheit [sic] und Häßlichkeit dienen« und den »stickigen, schwülen, barbarisch dekorierten Sälen«. Er schloss seinen Beitrag mit dem Appell: »Aus dem Protest der Geknechteten muß die Schwärmerei der Freien werden.«21 Andere Autoren beklagten ebenfalls die Erotisierung der Kultur. So brandmarkte der Freistudent Friederich Mono das Tanzen, besonders den »Schieber« (das Engtanzen) als eine »von der heutigen Moral ausnahmsweise erlaubte geschlechtliche Berührung«, durch die die Jungen der »widerlich forciert zu Schau getragenen Sinnlichkeit« der Mädchen zum Opfer fallen würden.22 Mono warf Schülerinnen »eine üble, verwilderte Poussier-Erotik« vor, zu deren Merkmalen er das »Dekollet8« ebenso zählte, wie Parfüm, durchsichtige Strümpfe (»Florstrümpfe«) und »transparenter Humpelrock« (ein enger langer Rock) sowie

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S. 674f.; Jennifer Evans: Seeing subjectivity. Erotic photography and the optics of desire, in: The American Historical Review, 2013, Nr. 118, S. 430–462; Ludger Derenthal, Christine Kühn, Kristina Lowis (Hg.): Die nackte Wahrheit und Anderes. Aktfotografie um 1900, Berlin 2013; Bruns: Politik (Anm. 10), S. 242–245; Marina Schuster : Fidus. Maler keuscher Nuditäten, in: Michael Grisko (Hg.): Freikörperkultur und Lebenswelt. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Freikörperkultur in Deutschland, Kassel 1999, S. 207–237; Maasen: Eros (Anm. 10); Geuter : Homosexualität (Anm. 10), S. 38–43, 49–58, 196–210. Blumenthal: Erotik (Anm. 13), dieses und die folgenden Zitate S. 167. Ebd., S. 168. Ebd., S. 167. Ebd., dieses und die folgenden Zitate S. 168. Ebd. Friederich Mono: Unsere Geselligkeit, in: Der Anfang, 1913/14, NF 1, Nr. 7, S. 200–210, S. 200f.

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durch Korsett, »Megabusol« oder Watte vergrößerte Brüste. Die Schuld an dieser »Schweinerei« hatten seiner Ansicht nach »Mädchenschule und Mädchenerziehung«, die dazu führten, dass »die engen Schranken, die früher dem weiblichen Geschlecht aufgerichtet waren«, gefallen seien.23 Diese veränderten Moralvorstellungen hätten zur »traurige[n] Selbsterniedrigung« der Mädchen geführt.24 Notwendig sei eine »Verdrängung des verflucht dirnenmäßigen Beigeschmacks durch einen selbstbewußten Stolz« bei den Mädchen.25 Ein Junge aus Wien namens Ernst kritisierte, dass die herrschende Sexualmoral Hand in Hand ginge mit einer verfehlten Sexualaufklärung, mit »schädigenden Verlogenheiten«, die »zu Unschuld und Unwissenheit noch die Unwahrheit« hinzufügte. Es sei ein »Merkmal philiströser, unaufrichtiger, innerlich nicht ganz reiner Naturen«, »jenes Mysterium« der Liebe in »den teuflischen Nimbus eines ›heiligen Geheimnisses‹« zu kleiden. Die Liebe werde durch die »Schamlosigkeit, von der Nacktheit, dem reinsten Symbol reiner Wahrheit, [als] ›heikel‹ zu sprechen«, zerstört. Ernst sah darin eine »Entfremdung natürlicher Ursprünglichkeit« und forderte eine Rückkehr zur »naive[n] Keuschheit des Mittelalters«, als »man bei dem gröbsten Unwissen an weltlichen Geschehen der Natur tausendmal näher stand als heute, da illustrierte Bücher ohne Anstand gelesen wurden, die wegen ihrer Illustrationen heute als unsittlich einfach verboten würden«. Durch ein »allmähliches Rückerziehen der Jugend« hoffte er wieder »zu einem mehr ursprünglichen Fühlen« zurückfinden zu können.26 Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern wurde in einer Zeit, in der Jungen und Mädchen an den Schulen und in ihrer Freizeit prinzipiell getrennt waren, zunehmend problematisch. Die Kommentare spiegeln die Verunsicherung von Jugendlichen wider, wie sie mit ihren aufkommenden sexuellen Gefühlen umgehen konnten und durften, was die Sexualmoral ihnen gestattete und wo sie die Grenzen des Akzeptablen herausfordern konnten. Ein Ausweg aus diesen Verwirrungen schien sich mit dem Konzept der »Kameradschaft« anzubieten, welches das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen enterotisieren und auf eine asexuelle Ebene heben sollte. Auf diese Weise hoffte man, gemeinsames Wandern, Übernachten und Baden in der Jugendbewegung zu ermöglichen.27

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Ebd., S. 202. Ebd., S. 203. Ebd., S. 208. Ernst: Nacktheit – Wahrheit, in: Der Anfang, 1913/14, NF 1, Nr. 5, S. 138–140. Klönne: Wasser (Anm. 12), S. 161–166; Klönne: Mädchen (Anm. 12), S. 258–264; Otto Neuloh, Wilhelm Zilius: Die Wandervögel. Eine empirisch-soziologische Untersuchung der frühen deutschen Jugendbewegung, Göttingen 1982, S. 93ff.; Jungmann [Borkenau]: Autorität (Anm. 1), S. 684.

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Ein männlicher Zeitzeuge erinnerte sich später : »Es war alles so rein kameradschaftlich, daß es nie ins Erotische ging.«28 Auch Mono propagierte ein kameradschaftliches Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen, jedoch mit einer erotischen Ausrichtung. So suchte er »eine verstehende Kameradin als natürliche Ergänzung, eine Kameradin, die uns ebenbürtig zur Seite tritt«, denn »der junge Mann mit menschlichen, intellektuellen und seelischen Interessen steht sexuell […] allein«.29 Er hoffte, dass »sich auf dem Boden einer gesunden Geselligkeit eine Erotik entwickeln wird«, die von einer »wohltuende[n] Ehrlichkeit« geprägt sei.30 Solange solch ein kameradschaftliches Verhältnis, das »dem Austauschbedürfnis der Geschlechter in befriedigender Weise Genüge leiste«, nicht existierte, blieben der männlichen Jugend nur die von Mono verteufelten »Bars, Caf8häuser, Operettentheater, Kabarett, Kellnerin, Tanz-, Laden- und andere Mädchen«, die Mono jedoch zutiefst ablehnte.31 Mädchen und junge Frauen wiesen die Versuche, sie für den Verfall der Moral verantwortlich zu machen, scharf zurück und beanspruchten eine gleichberechtigte Position in der Jugendbewegung. Sie wollten mit den Jungen »schreiten Seit’ an Seit’« und sahen die Geschlechterdifferenzen nicht mehr als unüberbrückbare Gegensätze, »nicht Wasser mehr und Feuer« wie es in Hermann Claudius’ »Wanderlied« von 1914 hieß.32 »Als ich den Artikel [von Mono] gelesen hatte, war ich zuerst wie vor den Kopf geschlagen«, und zwar »vor Entrüstung!«, beschwerte sich eine weibliche Stimme aus Berlin.33 Autoren wie Mono seien so »gedankenlos-unkameradschaftlich«, dass sie eine »weibliche ebenbürtige Kameradschaft« nicht verdient hätten, so eine anonyme Studentin. Jungen dürften nur dann von Kameradschaft mit Frauen sprechen, wenn sie sich Frauen gegenüber selbst kameradschaftlich verhielten, z. B. einen Professor boykottierten, der Frauen aus seinen Seminaren ausschloss.34 Eine anonyme Studentin warf Mono »Aufgeblasenheit und Selbstgefälligkeit« vor und meinte, dass weniger die Mädchenerziehung an den beklagten Umständen schuld sei, sondern »die ›Moral‹ des männlichen Teils« und der »naive Dünkel der männlichen Seele«, die sich in Monos Ausführungen widerspiegelte.35 G. Rün schrieb in ihrer Erwiderung, dass es nicht die Mädchen waren, die die Jungen mit ihrer Sinnlichkeit 28 So einer der von Wilhelm Zilius befragten männlichen Zeitzeugen, Neuloh, Zilius: Wandervögel (Anm. 27), S. 94. 29 Mono: Geselligkeit (Anm. 22), S. 205. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 207. 32 Hermann Claudius: Wanderlied, in: Die arbeitende Jugend, Monatsbeilage des Hamburger Echo, Juni 1914; vertont von Michael Englert 1915. Vgl. Klönne: Wasser (Anm. 12), S. 155f. 33 H. S.: Protest, in: Der Anfang, 1913/14, NF 1, Nr. 9, S. 263. 34 Erwiderung. Von einer Studentin, in: Der Anfang, 1913/14, NF 1, Nr. 9, S. 261–263, S. 261f. 35 Ebd., S. 262; ähnlich auch H. S.: Protest, in: ebd., S. 263.

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verführten, sondern die Jungen ließen ihnen nur die Wahl zwischen »Sumpf oder Einsamkeit«. Während sie selbst immer wieder nach einem Kameraden gesucht und zeitweise auch einen gefunden habe, sah sie sich oft mit ihrer »großen, großen Sehnsucht« alleine gelassen.36 Sie berichtete von zwei Jungen, denen sie näher gekommen war. Einen der beiden, »einen Kameraden«, hatte sie mit 17 Jahren kennengelernt. Die »Katastrophe« war in ihren Augen jedoch nicht das »Erotische«, das sich bald entwickelt hatte, denn »wir […] sind ja doch gesunde Menschen, wir fühlen und empfinden ja doch wie die andern!«, sondern die Katastrophe war, »daß dann die Kameradschaft fort ist« und nur das »Einsamsein« übrig blieb.37 Auch wenn Mädchen noch vor dem Ersten Weltkrieg Aufnahme in Wandervogelgruppen fanden oder eigene Gruppen gründeten, blieb das gemeinsame Wandern von Mädchen und Jungen umstritten, sodass es zu Spaltungen in der Bewegung kam.38 Glaubt man dem jungen Alfred Kurella (1895–1975), dann war der Umgang zwischen Jungen und Mädchen doch nicht so asexuell, wie es die Bünde gerne gesehen hätten. Unvermeidlich hätten sich, so notierte er Anfang 1914, »einzelne Jungen und Mädchen enger« zusammengeschlossen, »ihre letzten Ideen, Gedanken und Gefühle, Leiden und Freuden miteinander geteilt. Denn daß wir nicht eine Art Erotik haben wollen, die sich auf dunklen Promenadenbänken herumdrückt, ist doch wohl selbstverständlich.«39 Franz Borkenau kam jedoch auf der Basis seiner Gespräche mit Mitgliedern der Jugendkulturbewegung in den 1930er Jahren zu dem Schluss, dass die Forderung nach vorehelichem Geschlechtsverkehr und Promiskuität, zumindest in den Gruppen in Wien, eher theoretischer Natur war und es allenfalls zu »Jungehen« unter Jugendlichen gekommen war. Erst gegen Ende des Ersten Weltkriegs löste sich die bürgerliche Sexualmoral so weitgehend auf, dass »der wirklichen Promiskuität« ähnliche Verhältnisse zu beobachten waren und eine Rückkehr zu den sexualmoralischen Vorstellungen des Kaiserreichs ausgeschlossen schien, auch wenn

36 G. Rün: Erwiderung, in: ebd., S. 264–265, S. 265. 37 Ebd., S. 265. 38 Bruns: Politik (Anm. 10), S. 229–232; Ras: Body (Anm. 12); Andresen: Mädchen (Anm. 12); Geuter : Homosexualität (Anm. 10), S. 59–67; Klönne: Mädchen (Anm. 12); Magdalena Musial: Die Mädchenbünde in der Jugendbewegung. Eine Bestandsaufnahme, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1984/85, Nr. 15, S. 13–36; Neuloh, Zilius: Wandervögel (Anm. 27), S. 90–97. 39 Alfred Kurella: Jungen und Mädels. Mit einer Epistel von unserm armen, vielgelästerten Wandervogel, in: Der Anfang, 1913/14, NF 1, Nr. 9, S. 258–260, S. 260. Vgl. auch die Diskussion über die (Un-)Möglichkeit eines kameradschaftliche Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen in der Zeitschrift Wanderscharen 1919, Geuter : Homosexualität (Anm. 10), S. 210–212.

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die Diskussion über Sitte und Anstand während der Weimarer Republik nicht verstummte.40 Auf der einen Seite sprachen sich, in der Tradition von Hans Blühers »Antifeminismus«, zahlreiche männliche Kommentatoren gegen den Zugang von Mädchen zur Jugendbewegung aus und viele Jungen verteidigten in ihrer »maskuline[n] Protesthaltung« (Klönne) das elitäre Männerbundkonzept.41 Hans Breuer (1887–1918) etwa verlangte in seinem vielbeachteten fiktiven »Teegespräch«, mit dem er den Diskurs über Geschlechterrollen in der Jugendbewegung prägte, eine strikte Trennung der Geschlechter im Wandervogel. Denn das gemeinsame Wandern bewirke, dass »die Buben verweichlichen« und die »Mädchen dagegen verbengeln und verwildern« würden.42 Auf der anderen Seite forderten Mädchen und junge Frauen gegen Breuers Zementierung traditioneller Geschlechterrollen und gegen Blühers antifeministisches Diktum, Frauen seien »ungeistig«,43 mit wachsendem Selbstbewusstsein sowohl die volle Teilnahme in der Wandervogelbewegung als auch einen gleichberechtigten Zugang zum Bildungssystem und zur Berufstätigkeit. Sie verteidigten ihren Anspruch auf Intellektualität und Sexualität, auf Eros und Logos.44 Welchen Bruch mit den Konventionen der bürgerlichen Gesellschaftsmoral die Geschlechterverhältnisse in der Jugendbewegung bedeuteten, erkannte Eli40 Jungmann [Borkenau]: Autorität (Anm. 1), S. 687, vgl. auch S. 698f. Vgl. Lutz Sauerteig: Sünde – Gefahr – Risiko – Management. Konzepte sexueller Gesundheit in der deutschen Sexualerziehung im 20. Jahrhundert, in: Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin (im Druck); Lutz Sauerteig: Sex, medicine and morality during the First World War, in: Roger Cooter, Mark Harrison, Steve Sturdy (Hg.): War, Medicine and Modernity, 1860–1945, Stroud 1998, S. 167–188; Cornelie Usborne: The New Woman and generation conflict. Perceptions of young women’s sexual mores in the Weimar Republic, in: Mark Roseman (Hg.): Generations in Conflict. Youth Revolt and Generation Formation in Germany, 1770–1968, Cambridge 1995, S. 137–163. 41 Hans Blüher : Was ist Antifeminismus?, in: Der Aufbruch. Monatsblatt aus der Jugendbewegung, 1915, Nr. 1, S. 39–44; Klönne: Wasser (Anm. 12), S. 161, Zitat S. 158. Vgl. Ute Planert: Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen 1988; Reiß: Renaissance (Anm. 10), S. 66–71; Bruns: Politik (Anm. 10); Geuter : Homosexualität (Anm. 10). 42 Hans Breuer: Das Teegespräch, in: Wandervogel, 1911, 6, Nr. 1/2, S. 31–38, S. 34. Vgl. Bruns: Politik (Anm. 10), S. 233f.; Klönne: Mädchen (Anm. 12), S. 175–183. 43 Blüher : Antifeminismus (Anm. 41), S. 40. 44 Z. B. Dorothee Berendes, Idamarie Solltmann: Zwei Gespräche, in: Schriften zur Jugendbewegung, Mai 1916 (Die Jugend zum Sexualproblem I), S. 42–47; Susanne Köhler : Antwort auf Franz Sachs’ »Rede an die Kameradinnen«, in: ebd., Juni 1916 (Die Jugend zum Sexualproblem II), S. 65–71; Lia Bergen: »Miteinander«, in: ebd., S. 89–91; Grete Gillet: Die Stellung der Mädchen in der freideutschen Jugend, in: Freideutsche Jugend, 1916, Nr. 2, S. 121–123; Lucia Schmidt: Unsere Mädchen und die Frauenbewegung, in: ebd., S. 123–127; die Beiträge von Else Stroh und Ingeburg Meier : Antifeminismus und wir Freideutsche. Fünf Beiträge, in: ebd., 1917, Nr. 3, S. 72–87, S. 72–80; Marie Buchhold: Mädchen und Frauen, in: ebd., 1921, Nr. 7, S. 285–287. Vgl. Klönne: Mädchen (Anm. 12), S. 183–192, 219–237.

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sabeth Busse-Wilson (1890–1974), als sie die biologistisch begründeten Geschlechterdifferenzen und -rollen in Frage stellte und sie als sozial- und kulturbegründete Unterschiede beschrieb.45 Sie kritisierte, dass für Mädchen »jene Periode des Losgebundenseins, die dem jungen Manne zwischen der Schulzeit und dem Eintritt in das Berufsleben eingeräumt wird«, versagt werde.46 In ihren Augen habe erst das Kameradschaftskonzept, das eine »völlige Umstürzung der bürgerlichen Geschlechtsauffassung« bedeutete, eine »grundsätzlich andere Einstellung zum Geschlechtlichen« herbeigeführt und »das Gedeihen und Entstehen jenes menschlich-befreiten und herzlichen Verhältnisses zwischen Jünglingen und Mädchen« ermöglicht, auch wenn es »zunächst durch asketische Strenge erkauft werden« musste.47 Sie sah in der »radikale[n] Keuschheit« der Jugendbewegung zunächst eine Reaktion auf die bürgerliche Sexualmoral und die, unter anderem auch von Blumenthal kritisierte, Sexualisierung der Kultur, empfand sie aber dennoch als seltsame Ausprägung des Geschlechterverhältnisses: »diese Männer und Mädchen rühren sich nicht nur nicht an, sondern verlieben sich auch nicht und halten ihre unter derartigen Umständen bewahrte Neutralität für das Normale und Selbstverständliche«.48 Diese »Flucht vor dem Eros« sei aber nur ein »Ausweichen vor dem eigentlichen Problem«, das Busse-Wilson zum einen in der bürgerlichen Sexualmoral mit ihrer »Unterdrückung« jugendlicher Sexualität sah, in deren Folge die von Hans Blüher propagierte Männerbundidee in weiten Teilen der Wandervogelbewegung auf Resonanz gestoßen sei und zur Verbreitung der »mann-männlichen Liebeseinstellung« als Verlegenheitslösung – sie sprach von »Not-Invertierten« – geführt habe.49 Zum anderen erkannte sie »ein gewisses erotisches Manko« und eine »äußere und innere Reizlosigkeit«, die für einen Teil der Mädchen in den Bünden typisch sei und diese für Jungen »weniger begehrenswert« mache, eine Beobachtung, die vom Schriftsteller und liberalen Strafrechtsreformer Fritz Dehnow (1889–1960) geteilt wurde.50 Busse-Wilson sah zwar auch positive Anzeichen, denn die Jugend diskutiere über alternative Beziehungsformen zur bürgerlichen »Besitzehe«, die gleichwohl die Prinzipien von »Treue und Verpflichtung« aufrechterhielten und für »die

45 Elisabeth Busse-Wilson: Liebe und Kameradschaft [1920], in: Werner Kindt (Hg.): Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, Bd. 1, Düsseldorf u a. 1963, S. 327–334; vgl. Britt Großmann: Elisabeth Busse-Wilson (1890–1974). Eine Werk- und Netzwerkanalyse, Weinheim 2017. 46 Busse-Wilson: Liebe (Anm. 45), S. 327. 47 Ebd., S. 328. 48 Ebd., S. 329. 49 Ebd., S. 330. 50 Ebd., S. 330f.; Fritz Dehnow: Jugendbewegung und Sexualleben, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft, 1923/24, Nr. 10, S. 276f.

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natürlichen Rechte des Liebesempfindens« einträten.51 Sie befürchtete aber, dass aufgrund der von Jungen und Mädchen als »erotische(n) Einsamkeit« empfunden Beziehungslosigkeit, die Jugendbewegung in Gefahr gerate, zum »Tummelplatz der Geschlechtslosen« zu werden.52 Ihre Diagnose wurde von Franz Sachs (geb. 1894) bestätigt. Sachs befürwortete zwar den kameradschaftlichen Umgang von Jungen und Mädchen, denn er führe dazu, »daß an die Stelle der unschönen Explosionen zu einander [sic], die aus der überhitzten Atmosphäre der gegenseitigen Absperrung bis zum zwanzigsten Lebensjahr entstand, mehr und mehr die friedliche Harmlosigkeit eines ewigen Sonntagnachmittags tritt, an dem Kamerad und Kameradin im Endlichen miteinander spazieren gehen«.53 Wie Busse-Wilson befürchtete er jedoch, dass die Kameradschaft, das »Du-sagen, Hand in Hand gehen, Volkstanz […], eine neu erwachte Freude am Körper, am Nackten« in »einen Zustand der Neutralität münden« würde. In diesem Zustand würden Jungen und Mädchen »fühlen, daß man sich eigentlich nicht näher kommt, daß keine Geheimnisse und tiefsten Ahnungen aufwachsen, die zu dem herrlichen Erlebnis des Mann-Weib-Tums führen«.54 Die Gefahr sei, dass insbesondere die Jungen in einer dauerhaften Jugendlichkeit stecken blieben und nicht erwachsen werden würden und dass »die neutrale Beziehungslosigkeit unter den Geschlechtern« eine spätere Eheund Familienschließung erschwere oder unmöglich mache.55 Fritz Dehnow bemerkte sarkastisch, in der Jugendbewegung der 1920er Jahre machten sich »sogenannte ›junge Alte‹, ›ewig Junge‹ […], die aller Biologie spotten wollten«, breit.56 Noch deutlicher in seiner Opposition zur bürgerlichen Sexualmoral wie auch zu Blühers Männerbundkonzept hatte sich zwei Jahre zuvor der linke Freideutsche Alfred Kurella geäußert. In scharfen Worten griff er die bürgerliche sexuelle Doppelmoral an und sprach sich für das Recht von Jungen und Mädchen auf »freie Hingabe, auf das Geschlechts-, will sagen Geisteserlebnis« aus, und damit für vorehelichen Geschlechtsverkehr und sexuelles Ausprobieren im Sinne von »Lehrjahre[n] der Weiblichkeit« und »Lehrjahre[n] der Männlichkeit«.57 Mädchen und Jungen, die sich noch nicht zum Geschlechtsverkehr bereit 51 Busse-Wilson: Liebe (Anm. 45), S. 333. 52 Ebd., S. 332. 53 Franz Sachs: Das Verhältnis der Geschlechter, in: Adolf Grabowsky, Walter Koch (Hg.): Die freideutsche Jugendbewegung: Ursprung und Zukunft, Gotha 1920, S. 45–49, S. 45; Dudek: Annäherungen (Anm. 1), S. 78. 54 Sachs: Verhältnis (Anm. 53), S. 46. 55 Ebd., S. 47f. 56 Dehnow: Jugendbewegung (Anm. 50), S. 277. 57 Alfred Kurella: Körperseele, in: ders. (Hg.): Die Geschlechterfrage der Jugend, Hamburg 2. überarb. Aufl. 1920, S. 7–28, S. 15 [erschien zuerst in: Freideutsche Jugend, 1918, Nr. 4, S. 235–252].

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fühlten, riet er, die »geschlechtliche[…] Forderung ihres Körpers« durch »Selbstliebe«, durch Masturbation, zu befriedigen, die jedoch nicht zum »Götzendienst ungeistiger […] Lust« ausarten dürfe.58 Jedoch »erst in der Hingabe an den Einen […] werdet Ihr in die Gemeinschaft der Lebenden aufgenommen«.59 Den ersten Geschlechtsverkehr beschrieb er als einen Übergangsritus des Jugendlichen zum Erwachsensein, der jedoch weder Jünglinge »zu Lüstlingen« noch Mädchen »zu Huren« mache, sondern zum »großen seelischen Erlebnis, zum stärksten Antrieb auf dem Wege unserer geistigen Menschwerdung« werde.60 Kurella stilisierte damit Sexualität zur Kulturaufgabe, als »Notwendigkeit« für »unsere Geistigkeit, unsere Kultur«, die gegenwärtig nahezu »religiöse Bedeutung« habe.61 Frank Borkenau sprach zwar von Kurellas Flucht »ins Reich des Idealismus«.62 Allerdings war Kurella insofern doch realistisch, als dass er auch auf das Risiko einging, während dieser »Lehrjahre« schwanger zu werden, was Jugendliche durch geeignete Methoden der Empfängnisverhütung verhindern könnten.63 Es überrascht wenig, dass Kurellas Plädoyer für vorehelichen Geschlechtsverkehr und Promiskuität – allerdings keine willkürliche, denn er setzte ein Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Sexualpartnern voraus – aus unterschiedlichen Richtungen kritisiert wurde, z. B. von dem Rassenhygieniker Max v. Gruber (1853–1927) oder von Dankwart Gerlach (1890–1979) vom nationalistischen Flügel der Jugendbewegung.64 Für den kulturkritischen Verleger und Herausgeber der kulturpädagogischen Zeitschrift Die Tat, Eugen Diederichs (1867–1930), gehörten diejenigen in der Freideutschen Jugend, die meinten, »sich subjektivistisch erotisch ausleben« zu können, zu den »Zersetzungserscheinungen unserer Zeit« und nicht »zum aufbauenden Teil unseres Volkstums«.65 Auch wenn er sich nicht namentlich auf Kurella bezog, richtete sich seine Kritik klar an dessen Adresse. Kurellas Ansichten waren aber auch in der Freideutschen Jugend selbst umstritten.66 Der jugendbewegte Sozialökonom und religiöse Sozialist Eduard Heimann (1889–1967) beispielsweise verlangte, dass

58 59 60 61 62 63 64

Ebd., S. 14. Ebd., S. 9, 13. Ebd., S. 12, 14, 23. Ebd., S. 23. Jungmann [Borkenau]: Autorität (Anm. 1), S. 700. Kurella: Körperseele (Anm. 57), S. 15f. Max von Gruber : Offener Brief, in: Alfred Kurella (Hg.): Die Geschlechterfrage der Jugend, Hamburg 1919, S. 15–16; Dankwart Gerlach: Geschlechterfragen, in: ebd., S. 11–15. 65 Eugen Diederichs: Freideutsche Jugend und sexuelle Frage, in: Die Tat, 1919/20, Nr. 11, S. 952–953, S. 953. 66 Vgl. Klönne: Mädchen (Anm. 12), S. 124–127.

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sich die Jugend »rein zu halten [habe] für die reine Liebe«.67 Er verteidigte Treue und Ehe als »Inbegriff allen Glückes und aller Schönheit« und lehnte Empfängnisverhütungsmittel ab, denn der Wunsch nach Kindern ergebe erst die »unverminderte Ganzheit der Liebe«.68 Ganz ähnlich argumentierte Else Stroh, die von jugendlichen Paaren »Selbstzucht und Askese« forderte, bis sie heiraten konnten.69 Franz Sachs glaubte an einen dritten Weg zwischen »dem Besitzaberglauben des früheren Ehemenschen und dem freischweifenden Sexual- und Liebeskommunismus« / la Kurella. Dieser dritte Weg dürfe allerdings nicht »aus Jüngling und Mädchen ein neutral verwaschenes Wesen ›Mensch‹« machen, sondern müsse es beiden ermöglichen, »in heroischer Distanz zu einander entbrennen« zu können, um »stolz und eigen, frei und doch zusammen […] den Weg [zu] beschreiten, während ein Flammenbogen sie verbindet«.70 Aus einer anderen Richtung argumentierend, sah der Arzt und Freideutsche Harald Schultz-Hencke (1892–1953) sowohl in den Vorschlägen Kurellas als auch Heimanns »Utopien im schlechten Sinn, keine wirkliche Lösungen«.71 Er stimmte zwar Kurellas sexualmoralischem Argument zu, dass sexuelle Beziehungen sich »so widerspiegeln [müssen], wie es den inneren Beziehungen wirklich entspricht«, warf ihm und Heimann aber vor, »die Selbstherrlichkeit des sexuell-körperlichen Triebes« zu übersehen. Der Sexualtrieb sei ein »Reflex«, der alle moralischen Erwägungen überlagern würde.72 Entweder man akzeptiere dies oder unterdrücke den »sexuellen Reflex«, was zu »schwerer Nervosität« führe.73 Der Ausweg war, dafür zu sorgen, dass »dem Trieb gar nicht die Möglichkeit gegeben wird, […] überhaupt aufzutreten« und unter dieser Bedingung sei sexuelle Enthaltsamkeit »an sich sehr wohl möglich«.74 Damit werde in der Jugendbewegung »der Körper des anderen ›tabu‹«.75 Vorsichtig drückte sich der führende Freideutsche und Arzt Knud Ahlborn (1888–1977) aus. Er betonte zwar, dass Kurella als erster »das Schweigen gebrochen« und die Sexualprobleme der Jugend angesprochen habe, hielt dessen Lösungen aber für »verfehlt«, insbesondere dessen Ideen zur freien Liebe.76 67 Eduard Heimann: Bemerkungen zur Geschlechterfrage, in: Freideutsche Jugend, 1918, Nr. 4, S. 252–257, S. 252. 68 Ebd., S. 254, 256. 69 Else Stroh: Ueber Eros, Liebe und Ehe, in: Freideutsche Jugend, 1919, Nr. 5, S. 309–313, S. 309. 70 Sachs: Verhältnis (Anm. 53), S. 48f. 71 Harald Schultz-Hencke: Hemmungen. Ein Beitrag zur Geschlechterfrage, in: Freideutsche Jugend, 1919, Nr. 5, S. 303–308, S. 303. 72 Ebd., S. 304f. 73 Ebd., S. 305f. 74 Ebd., S. 306. 75 Ebd. 76 Knud Ahlborn: Noch eine Erwiderung auf Kurellas Aufsatz »Körperseele«, in: Freideutsche Jugend, 1919, Nr. 5, S. 170–174, S. 171, 173.

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Ahlborn forderte »vorausschauende Körper- und Willensbildung« der Jugend, die einen kameradschaftlichen Umgang zwischen Jungen und Mädchen, eine »gemeinsame Körperausbildung« sowie gemeinsames nacktes »Luft-, Sonnenund Wasserbaden« ermöglichen würde.77 Der junge Psychoanalytiker und Mediziner Otto Fenichel (1897–1946), der sich Anfang 1914 in Wien der Jugendkulturbewegung angeschlossen hatte, dagegen pries Kurellas Beitrag als »eine Tat« und »Wendepunkt in der Geschichte der Jugendbewegung«.78 Ohne ihn beim Namen zu nennen, bezog sich Fenichel in seinem Beitrag auch auf Blumenthal und wies die bisher in der Jugendbewegung vertretenen Ansätze, durch Selbstbeherrschung und Askese die sexuellen Triebe zu kontrollieren, als krankmachend zurück. Er rief stattdessen Jugendliche zur »Redlichkeit« gegenüber sich selbst und zur »innere[n] Wahrhaftigkeit« auf, sich ihrer Sexualität zu stellen, denn: »Nicht Unglück zu verhüten gilt es, sondern Glück zu schaffen.«79 Fenichel formulierte hier eine neue, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Toleranz einfordernde Sexualmoral, wenn er postulierte: »Solange die Integrität der Gesellschaft dadurch nicht verletzt wird, ist jede Sexualhandlung jeder anderen gleichberechtigt.« Er wies damit jede Form äußerlicher Kontrolle und Regulierung der Sexualität durch Staat und Gesellschaft zurück, einschließlich strafrechtlicher Bestimmungen gegen den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen: »In eine Sache, die nur ein oder zwei Einzelmenschen betrifft, haben nur ein oder zwei Einzelmenschen dreinzureden«, allerdings nur bei »unschädlichen (sexuellen) Handlungen«, dies war Fenichels einzige Einschränkung.80 Ansonsten sollte das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung für Frauen und Männer gleichermaßen gelten.81 Neben diesen theoretischen Diskussionen in der Jugendbewegung konnten Jugendliche zunehmend auch praktischen Rat in sexuellen Fragen finden. Dies war zwar noch weit entfernt von einer umfassenden sexuellen Aufklärung, aber langsam entwickelten sich erste Möglichkeiten für Jugendliche, sich über sexuelle Fragen zu informieren. So war es einzelnen, im Kontext der Revolution von 1918/19 entstandenen Schülerräten gelungen, an Berliner Schulen Vorträge über Fragen der Sexualität durchzusetzen, und der Zentrale Schülerausschuss setzte sich auf einem Treffen im Dezember 1918 in München für die Einführung von

77 Ebd., S. 172. 78 Otto Fenichel: Grundsätze zu jeder Sexualethik, in: Kurella: Geschlechterfrage (Anm. 75), S. 30–37, S. 30; Elke Mühlleitner : Ich – Fenichel. Das Leben eines Psychoanalytikers im 20. Jahrhundert, Wien 2008, S. 60–62, 75. 79 Fenichel: Grundsätze (Anm. 78), S. 31f. 80 Ebd., S. 34. 81 Ebd.

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Sexualerziehung im Schulcurriculum ein.82 Die ebenfalls im Kontext der Revolution und im Umfeld von Hermann Schüllers (1893–1948) »Bund Aufbau« entstandene »Freien Schülerschaft Berlin« betrieb in ihrer praktischen Arbeit neben mehreren Sprechsälen Ende 1919 auch eine Arbeitsgruppe für Sexuologie am Dorotheenstädtischen Gymnasium, die von Otto Fenichel geleitet wurde.83 Schüllers Bund Aufbau und die Freie Schülerschaft Berlin waren Bestandteil der »Entschiedenen Jugend« und sahen sich in der Tradition der Jugendkulturbewegung, der sie eine geistesrevolutionäre und sozialistische Wende verpassen wollten und in der sie die bürgerliche mit der proletarischen Jugendbewegung zu vereinen beabsichtigten.84 Neben diesen politischen Zielen ging es der Entschiedenen Jugend auch um die Überwindung traditioneller bürgerlicher Familienkonzepte sowie um die »sexuelle Frage«. So hieß es im Programm der Freien Schülerschaft vom Februar 1919, dass nur durch solche Schülergemeinschaften »die eigentlichen Nöte der Jugend, ihre Eingeengtheit in den Zwang der Tradition, die Formlosigkeit ihrer Erotik, die spielerische Unerfülltheit ihres Daseins, gelöst werden« können.85 Eine Berliner Schülerin klagte über die in ihren Augen überholte Sexualmoral und dass immer noch »Schicklichkeit und Anstand« eingefordert würden. »Wenn ein Mädchen sich von einem Jungen zur Schule bringen läßt, – es kann ihr Bruder sein, – so schickt sich das nicht.« Unterhielt sich eine Schülerin mit einem ledigen Lehrer, »so gerät mindestens das halbe Lehrerinnenzimmer in Aufregung über diesen Verstoß gegen die gute Sitte!«86 Die Schülerin forderte demgegenüber »einen frischen neuen Geist« an den Schulen, der Koedukation zulasse, durch den die Jugend »zu innerer Wahrheit und zu eigener Verantwortung erzogen werde« und der so ein »neues Menschengeschlecht« hervorbringe.87 Deutlich moderater als Kurella und Fenichel waren die Positionen des aus der Wandervogelbewegung kommenden sozialistischen Arztes, Sexualreformers und -pädagogen Max Hodann (1894–1946). Es ist nicht ausgeschlossen, dass er, damals noch Medizinstudent, auf dem Ersten Treffen der Freideutschen Jugend 1913 auf dem Hohen Meißner Kurella oder Bernfeld kennenlernte; später stand

82 Andrew Donson: The teenagers’ revolution. Schülerräte in the democratization and rightwing radicalization of Germany, 1918–1923, in: Central European History, 2011, Nr. 44, S. 420–446, S. 428, 433. 83 Berlin: Sprechsäle und Arbeitsgruppen der freien Schülerschaft, in: Der Neue Anfang [Basel], 1919, 1, Nr. 21/22, S. 362; vgl. Mühlleitner : Fenichel (Anm. 78), S. 102, 107; Linse: Jugend (Anm. 7), S. 44ff. 84 Linse: Jugend (Anm. 7). 85 Programm der Freien Schülerschaft Berlin, in: Der neue Anfang [München], 1, 15. 02. 1919, Nr. 4, S. 63f., S. 64. 86 Herta: Rede einer Schülerin, in: Der neue Anfang [München], 1, 15. 03. 1919, S. 91–96, S. 95f. 87 Ebd., S. 96.

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er mit Otto Fenichel in Kontakt.88 In seinen Aufklärungsbüchern bezog Hodann sich immer wieder auf die grünen Hefte des Anfang. Er notierte später in einem im Exil verfassten Entwurf zu seiner Autobiographie anerkennend, dass der Kreis um Wyneken »die geistige Krise« der Zeit verstanden habe und die Mitglieder der Jugendkulturbewegung »unerschrocken« daran gegangen seien, die »Pubertätsschwierigkeiten mit dem Seziermesser der Kritik zu behandeln«.89 Hodann stand jedoch deren »rein idealistischer Vorstellung, dass ›die Jugend‹ aus sich heraus eine ihre eigene Kultur schaffen könne«, skeptisch gegenüber. Der Jugendkulturbewegung fehle »die reale Beziehung zu den gesellschaftsgestaltenden Kräften«.90 Gleichzeitig kritisierte er die apolitische Haltung des Wandervogels, die er als unbefriedigenden »psychische[n] Vegetarismus« abkanzelte.91 Drei Jahre nach dem Treffen auf dem Hohen Meißner veröffentlichte Hodann in Helene Stöckers Zeitschrift Die neue Generation seinen ersten Beitrag zur Diskussion über Jugendsexualität. Während sich die Mitglieder des Wandervogels »peinlich berührt« gefühlt hätten, als Blüher 1912 Sexualität und Homosexualität thematisierte,92 hätten sich die Mitglieder der Jugendkulturbewegung in ihrer Zeitschrift »in erfreulicher Selbstsicherheit mit den Fragen des Verhältnisses der Geschlechter zueinander« beschäftigt und sich zu sexuellen Fragen geäußert.93 Gleichwohl sah Hodann als prinzipielles Problem der Jugend, dass sie immer noch zutiefst geprägt sei von den Konventionen und sexualmoralischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts. »Auf dem Gebiete des Erotischen« herrsche bei den meisten Jugendlichen »ein seelischer Wirrwar« und eine Scheu, sich über ihre sexuellen Nöte zu äußern.94 Sich direkt auf Blumenthal beziehend, betonte er in seiner Kritik an Blüher, dass die Sexualität »eines der stärksten Momente im Leben überhaupt« sei und es für die Jugend daher wichtig wäre, in diesen Fragen »ehrlich zu sein«, unabhängig davon ob sich die erotischen Ge88 Dudek: Annäherungen (Anm. 1), S. 77; Williams: Ecstasies (Anm. 4), S. 172f.; Mühlleitner : Fenichel (Anm. 78), S. 77; vgl. Karl Braun: Jugendbewegung, Sexualaufklärung, Sozialhygiene. Das Beispiel Max Hodann (1894–1946), in: Braun u. a.: Avantgarden (Anm. 5), S. 33–60; die leider ungenügende Biographie von Wilfried Wolff: Max Hodann (1894–1946): Sozialist und Sexualreformer, Hamburg 1993. 89 Arbetarrörelsens Arkiv och Bibliotek, Stockholm (ARAB), 233/1, Max Hodann, Flucht in die Wälder, S. 4. 90 Ebd., S. 2f. 91 Ebd., S. 3. 92 Vgl. Hans Blüher : Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. Ein Beitrag zur Erkenntnis der sexuellen Inversion, Berlin-Tempelhof 1912. 93 Max Hodann: Das erotische Problem in der bürgerlichen Jugendbewegung, in: Die Neue Generation, 1916, Jg. 12, Nr. 7–8, S. 199–206, Wiederabdruck in ders.: Sexualpädagogik, Erziehungshygiene und Gesundheitspolitik: Gesammelte Aufsätze und Vorträge (1916– 1927), Rudolstadt 1928, S. 9–16, S. 13. 94 Ebd., S. 10f.

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fühle auf das andere oder das eigene Geschlecht bezögen.95 Hodann, der im Auftrag der Centralarbeitsstätte für Jugendbewegung die Schriften zur Jugendbewegung herausgab,96 forderte in einem der sexuellen Frage der Jugend gewidmeten Themenheft im Mai 1916, Homosexualität als gleichberechtigte sexuelle Orientierung anzuerkennen und den § 175 des Strafgesetzbuches, den er für »eine Schmach der Zeit« hielt, abzuschaffen.97 Man müsse sich offen mit Fragen kindlicher und jugendlicher Sexualität auseinandersetzen, denn Sexualität habe »mehr im Leben zu bedeuten, als nur Kinder entstehen zu lassen«.98 Von den Autoren, die Texte zur Sexualerziehung und zur Sexualpädagogik in der Zeit vor 1933 verfassten, war Hodann der innovativste und pragmatischste, aber auch umstrittenste Autor, der sich am offensten zeigte gegenüber den sexuellen Fragen und Problemen junger Menschen. Er war vielen Menschen ein Begriff, in der Arbeiterschaft kannte man ihn unter dem Spitznamen »Hodenmaxe«.99 Seine beiden Aufklärungsbücher für Kinder und Jugendliche, Bub und Mädel von 1924 und, zwei Jahre später, Woher die Kinder kommen, waren in der Arbeiterschaft recht verbreitet und markierten einen Wendepunkt in der deutschsprachigen Aufklärungsliteratur.100 Kein Autor zuvor hatte Aufklärungstexte in einer derart klaren, medizinisch präzisen und gleichzeitig verständlichen Sprache verfasst und mit Querschnittszeichnungen die Sexualanatomie des männlichen und weiblichen Körpers illustriert. Hodann äußerte auch hier sein Verständnis für die sexuellen Nöte der Jugend und stimmte nicht in den Kanon derjenigen ein, die Masturbation verdammten, sondern erkannte den Anspruch Jugendlicher auf sexuelle Erfüllung an.101 Angesichts dessen, dass ca. die Hälfte der 16- bis 17-jährigen Mädchen in Berlin bereits Geschlechtsverkehr 95 Max Hodann: Sexualität und Jugend, zugleich ein Versuch zur Kritik der Blüherschen Schriften, in: Schriften zur Jugendbewegung, Mai 1916 (Die Jugend zum Sexualproblem I), S. 34–41, S. 34. 96 Vgl. Braun: Jugendbewegung (Anm. 88), S. 38f. 97 Hodann: Sexualität (Anm. 97), S. 99. 98 Ebd., S. 35, 41. 99 Karl Fallend: Wilhelm Reich in Wien. Psychoanalyse und Politik, Wien, Salzburg 1988, S. 85–93. 100 Max Hodann: Bub und Mädel. Gespräche unter Kameraden über die Geschlechterfrage, Leipzig 1924, erw. und überarb. Aufl. (4.–6. Tausend) [1924] (Entschiedene Schulreform. Abhandlungen zur Erneuerung der deutschen Erziehung, Bd. 25), 8. und letzte Aufl. 1928 mit, laut Hodann, insgesamt 40.000 verkauften Exemplaren; ARAB 233/5: Hodann an Redaktion der Zeitung »Nation«, Bern, v. 09. 12. 1946); Max Hodann: Woher die Kinder kommen: Ein Lehrbuch, für Kinder lesbar, Rudolstadt 1926, in überarb. Aufl. mit dem Titel: Bringt uns wirklich der Klapperstorch? Ein Lehrbuch für Kinder lesbar, Rudolstadt 1928, eine 2. Aufl. erschien 1930 mit einer Auflagehöhe von 25.000 Exemplaren. Vgl. Lutz Sauerteig: Representations of pregnancy and childbirth in (West) German sex education books, 1900s–1970s, in: ders., Roger Davidson (Hg.): Shaping Sexual Knowledge. A Cultural History of Sex Education in Twentieth Century Europe, London u. a. 2009, S. 120–160, S. 133ff. 101 Hodann: Bub (Anm. 100), S. 38.

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gehabt hätten (bei Jungen sei das nicht viel anders), dürfe man nicht den »Kopf in den Sand stecken«, schrieb er 1924.102 Die bürgerliche Sexualmoral, die Jugendlichen Sexualaufklärung bis zur Ehe vorenthielt, nannte Hodann »eine Unmoral, eine Heuchelei schlimmster Sorte«.103 Deshalb erklärte er detailliert die Sexualanatomie, schrieb ausführlich über Reproduktion, beschrieb Methoden zur Empfängnisverhütung und diskutierte Fragen der Abtreibung. Es überrascht daher wenig, dass Hodanns im Greifenverlag erschienene Bücher auf Widerspruch stießen und zum Teil beschlagnahmt wurden.104 Hodann hielt es zwar für besser, wenn Jugendliche mit festen Beziehungen noch warten würden, denn »erst reife Menschen sollen sich in Liebe verbinden«.105 Dennoch äußerte er keine grundsätzlichen moralischen Vorbehalte dagegen, dass Jugendliche Geschlechtsverkehr hatten, vorausgesetzt, dass dies in einer festen Partnerbeziehung geschah. Die »geschlechtliche Verbindung als Liebesereignis hat für zwei Menschen, über die das Ereignis hereinbricht, mehr zu bedeuten, als nur der Erhaltung der Art zu dienen«.106 Wenn ein junges Paar Geschlechtsverkehr habe, sollte es sich allerdings über »Vorbeugungsmittel« auskennen und diese verwenden. Es sei »hier, wie überall, besser, vorzubeugen, als hernach in Schwierigkeiten zu kommen und die Gesundheit der Frau aufs Spiel zu setzen«.107 Weder das Aufklärungsbuch noch der sexualpädagogische Elternratgeber der Psychoanalytikerin Annie Reich (1902–1971) waren so erfolgreich wie Hodanns Bücher.108 Reich stellte jedoch die Sexualerziehung stärker als Hodann in einen politischen Kontext. Man könne, so bemerkte sie einleitend zu ihrem Erziehungsratgeber, »die Frage der sexuellen Erziehung des Kleinkindes […] nur im Zusammenhang mit der allgemeinen Stellung der Sexualität in der kapitalistischen Gesellschaft« betrachten.109 So verhinderte beispielsweise die »Wohnungsmisere der kapitalistischen Welt […] jede richtige Sexualerziehung«, u. a. weil es in Arbeiterwohnungen keine getrennten Schlafräume für Kinder gäbe

102 Ebd., S. 12. 103 Ebd., S. 13. 104 Hans-Joachim Bergmann: »Deutschland ist eine Republik, die von Rudolstadt aus regiert wird«. Das Strafverfahren gegen Max Hodann und Karl Dietz im Rudolstadt des Jahres 1928 – zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Greifenverlags, in: Marginalien, 1990, Nr. 117, S. 35–43. 105 Hodann: Klapperstorch (Anm. 100), S. 40f. 106 Hodann: Bub (Anm. 100), S. 68. 107 Ebd., S. 44f. 108 Annie Reich: Der Verein »Das Kreide-Dreieck« erforscht die Geheimnisse der Erwachsenen, hg. von der Pädagogischen Abteilung des Sexualpolitischen Seminars in Berlin, Berlin [1932]; Annie Reich: Wenn dein Kind dich fragt …: Gespräche, Beispiele und Ratschläge zur Sexualerziehung, Leipzig, Berlin, Wien [1932]. 109 Reich: Kind (Anm. 108), S. 3.

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und diese häufig im gleichen Bett wie ihre Eltern schlafen müssten.110 Deutlich kritisierte sie die Unterdrückung der Frau, die schon bei kleinen Mädchen und deren Sexualität anfange.111 Masturbation sah Reich für »vollkommen unschädlich« an und riet Eltern, das Kind gewähren zu lassen, denn Masturbation sei »eine notwendige Vorbereitungsperiode für die spätere Sexualität der Erwachsenen«.112 Dieselbe Position hatte zuvor auch ihr Ehemann Wilhelm Reich (1897–1957) vertreten, der ebenfalls kein prinzipielles Problem darin sah, dass Jugendliche Geschlechtsverkehr hatten. Die Schwierigkeiten entstünden lediglich aus den sozialen und gesellschaftlichen Umständen wie Wohnungsnot, Sittlichkeit und »Schwangerschaftsangst«. Ob Jugendliche »ohne weiteres geschlechtlich verkehren« sollten, hänge daher »im Einzelfall von dem Maß an seelischer Gesundheit, von der materiellen Abhängigkeit, von der Wohnungsfrage und anderen schwierigen Dingen ab«.113 Annie Reich schloss ihren Erziehungsratgeber, den sie ein Jahr vor der Trennung von ihrem Mann verfasste, mit der für die Achtundsechziger dann später so wichtigen Feststellung: »Erst die Befreiung des Proletariats von seinen Unterdrückern wird die Befreiung der Sexualität herbeiführen.«114 Immer wieder kam sie auf die politische Dimension der Sexualerziehung von Kindern und Jugendlichen und auf die Notwendigkeit einer antiautoritären Erziehung im Allgemeinen zurück. Das von Eltern frühzeitig aufgeklärte Kind, so stellte sie fest, werde »kritisch und selbständig« und könne »nicht mehr mit Autorität« erzogen werden. Zudem wisse es, »daß auch Eltern und Lehrer Menschen sind, die, wie es selbst, sexuelle Dinge tun«. Kinder sehen daher Erwachsenen nicht mehr als »unnahbare Gottheiten«. Reich argumentierte gegen »absolute[n] Gehorsam«, der die Grundlage jeder reaktionären Erziehung« sei und »mit Prügel und militärischem Gehorsam […] brave Staatsbürger« herbringe.115 Wesentlich für die Sexualtheorie von Wilhelm Reich und sein marxistischpsychoanalytisches Denken war die Annahme einer im Naturzustand »gesunden« Sexualität des Menschen.116 Die »orgiastische Potenz« setze in diesem Zustand positive Energien frei. Sobald der Mensch die Möglichkeit zur freien sexuellen Entfaltung habe, sei er in der Lage, sein Triebleben zu steuern und ein 110 111 112 113

Ebd., S. 19. Ebd., S. 25. Ebd., S. 20f., Zitat S. 20. Wilhelm Reich: Sexualerregung und Sexualbefriedigung, und: Beantwortung sexueller Fragen, Wien 1929, 4. Aufl. 1930, S. 37, Zitate S. 45f. 114 Reich: Kind (Anm. 108), S. 32. 115 Ebd., S. 16. 116 Vgl. Karl Fallend, Bernd Nitzschke (Hg.): Der »Fall« Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik, Frankfurt a. M. 1997, überarb. Aufl. 2002; Anna Bergmann: Wilhelm Reichs »sexuelle Massenhygiene« und seine Vision einer »freien« Sexualität, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 1996, Jg. 9, S. 315–334.

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ausgewogenes Verhältnis zwischen sozialen Ansprüchen und sexuellen Bedürfnissen zu finden. Im Gegensatz zu Freud ist für Reich der ungehemmte Sexualtrieb keine Bedrohung für die Kultur, d. h. die von Freud für die Kulturproduktion postulierte Sublimierung der Sexualität ist für Reich nicht nur unnötig, sondern gefährlich. Denn eine unterdrückte Sexualität führte für Reich zu krankhaftem und asozialem Verhalten. »Die antisozialen Handlungen«, so Reich in der in den USA überarbeiteten Ausgabe der Funktion des Orgasmus von 1940, »entstammen sekundären, durch die Unterdrückung des natürlichen Lebens entstandenen Trieben, die der natürliche Sexualität widersprechen. […] Die neurotische Lustangst ist die Grundlage der Reproduktion der lebensverneinenden, Diktatur begründenden Weltanschauungen durch die Menschen selbst.«117 Reich postulierte damit einen kausalen Zusammenhang zwischen unterdrückter (genitaler) Sexualität und autoritären Strukturen, Grausamkeit und Faschismus.

Normalisierung kindlicher und jugendlicher Sexualität um 1968 Nach 1945 waren Hodanns Aufklärungsbücher ebenso in Vergessenheit geraten wie die radikalen Forderungen der Jugendkulturbewegung, Bernfelds Werk und die Arbeiten der Reichs. Die Sexualerziehung der Adenauerschen Bundesrepublik war von einer Pädagogik geprägt, die auf traditionelle Familien- und Eheideale einer imaginierten intakten Vergangenheit der Jahrhundertwende zurückgriff, voreheliche Enthaltsamkeit predigte, Empfängnisverhütung verurteilte und traditionelle Geschlechterrollen verlangte. Diese Sexualpädagogik fügte sich in das Konzept der Re-Christianisierung und Wiederherstellung einer konservativen Gesellschaftsordnung, wie sie die Bonner Regierung des Rheinlandkatholizismus betrieb.118 Die von den Sexualaufklärern der 1950er und frühen 1960er Jahre propagierte Sexualmoral wurde allerdings von Jugendlichen immer weniger praktiziert. Wie 117 Wilhelm Reich: Die Funktion des Orgasmus. Sexualökonomische Grundprobleme der biologischen Energie, Frankfurt a. M. 1972, S. 16. 118 Lutz Sauerteig: From the fear of conception to the management of sex. Birth control in West German sex education material, c. 1945–1980, in: Lutz Niethammer, Silke Satjukow (Hg.): »Wenn die Chemie stimmt« …: Geschlechterbeziehungen und Geburtenkontrolle im Zeitalter der »Pille«, Göttingen 2016, S. 211–241; Sybille Steinbacher : Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik, München 2011, Kapitel 1; Sauerteig: Representation (Anm. 100), S. 138–140; Lutz Sauerteig: Die Herstellung des sexuellen und erotischen Körpers in der westdeutschen Jugendzeitschrift BRAVO in den 1960er und 1970er Jahren, in: Medizinhistorisches Journal, 2007, 42. Jg., S. 142–179; Dagmar Herzog: Sex After Fascism. Memory and Morality in TwentiethCentury Germany, Princeton u. a. 2005, Kapitel 3.

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Umfragen zeigten, wandelten sich sowohl die sexualmoralischen Vorstellungen wie auch das Sexualverhalten von Jugendlichen in der Nachkriegszeit, vor allem in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Vorehelicher Geschlechtsverkehr wurde von einem zunehmenden Anteil der westdeutschen Bevölkerung als moralisch vertretbar angesehen und Jungfräulichkeit verlor die Bedeutung, die sie noch um 1900 besessen hatte. Sehr viel früher als noch ein oder zwei Generationen zuvor begannen Jugendliche, sexuelle Erfahrungen zu sammeln und zwar in allen Formen, von der Masturbation, über den ersten Kuss und Petting, bis hin zum ersten Geschlechtsverkehr. Immer weniger Jugendliche hielten sich noch an das Gebot vorehelicher Enthaltsamkeit. Besonders auffällig waren die Veränderungen im Sexualverhalten von Mädchen, die in den 1970er Jahren in der Mehrheit früher als Jungen sexuell aktiv wurden. Dies war bis dahin genau umgekehrt gewesen.119 Diese Veränderungen der sexualmoralischen Vorstellungen und des Sexualverhaltens sowie die von viele Zeitgenossen beklagte »Sexwelle«, die die Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren zu überrollen schien, sahen viele als ein Anzeichen für einen fortschreitenden Verfall der Sitten, der, so die Sorge, zu einer wachsenden Promiskuität unter Jugendlichen führen würde.120 Gegen Ende der 1960er Jahre begannen Sexualpädagogen wie beispielsweise der Arzt und Psychotherapeut Martin Goldstein, der später als Dr. Jochen Sommer und Dr. Alexander Korff die Sexualaufklärung der Jugendzeitschrift Bravo prägte, auf die Veränderung in den sexualmoralischen Vorstellungen und jugendlichem Sexualverhalten zu reagieren. Gleichzeitig stieg der Druck auf die Schulpolitiker*innen, Sexualaufklärung an den Schulen verpflichtend einzuführen. Nach langen Diskussionen einigten sich die Kultusminister der Länder 1968 darauf, Sexualaufklärung im Sinne einer Vermittlung biologischer Fakten über Reproduktion und Sexualität an Schulen verpflichtend einzuführen.121 119 Lutz Sauerteig: East and West German Kinseys. Sex surveys and normalising young people’s sexuality after World War II (im Druck); Sauerteig: Herstellung (Anm. 118), S. 15–17; Gunter Schmidt: Zur Sozialgeschichte jugendlichen Sexualverhaltens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Claudia Bruns, Tilmann Walter (Hg.): Von Lust und Schmerz. Eine Historische Anthropologie der Sexualität, Köln u. a. 2004, S. 312–325. 120 Elizabeth D. Heineman: Before Porn Was Legal. The Erotica Empire of Beate Uhse, Chicago, Ill. 2011, Kapitel 3, 5; Steinbacher : Sex (Anm. 118), Kapitel 3; Annette Timm: The Politics of Fertility in Twentieth-Century Berlin, Cambridge u. a. 2010, S. 222–226, 297, 299; EvaMaria Silies: Liebe, Lust und Last. Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2010, S. 328–335; Sauerteig: Herstellung (Anm. 118), S. 17; Herzog: Sex (Anm. 118), Kapitel 2–3; Franz X. Eder : Die »Sexuelle Revolution« – Befreiung und/oder Repression?, in: Ingrid Bauer, Christa Hämmerle, Gabriella Hauch (Hg.): Liebe und Widerstand: Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen, Wien u. a. 2005, S. 397–414. 121 Empfehlung zur Sexualerziehung in den Schulen, in: Sammlung der Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland, Nr. 659 v. 03. 10. 1968, Neuwied 1969; vgl. Sauerteig: Fear (Anm. 118), S. 215–216; Christin Sager:

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Sowohl konservative wie auch liberale Kommentatoren kritisierten den hierzu 1969 von der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung als Schulbuch für Sexualkunde herausgegebenen Sexualkunde-Atlas jedoch massiv wegen seines biologistischen Ansatzes.122 Zur gleichen Zeit wurde Wilhelm Reichs Sexualtheorie im linksalternativen Milieu in den späten 1960er und 1970er Jahren wieder neu entdeckt und stieß hier als Erklärung für autoritäres Verhalten und Faschismus sowie als Handlungsanweisung, zu einer reformierten Menschlichkeit zu gelangen und den »Neuen Menschen« zu schaffen, auf wachsendes Interesse. Insbesondere Reichs Bücher Die Funktion des Orgasmus von 1927 und Die sexuelle Revolution aus den 1930er Jahren, die um 1968 in zahlreichen Raubdrucken und offiziellen Reprints zirkulierten, wurden für die Achtundsechziger zu Kultbüchern, »zu einem Vademekum«.123 Basierend auf der von Reich inspirierten und von Herbert Marcuse (1898–1979) und Theodor Adorno (1903–1969) weiterentwickelten These, dass eine unterdrückte Sexualität zu Aggression und Autoritätshörigkeit führe und damit ursächlich für den Faschismus gewesen sei,124 strebten die Achtundsechziger eine von den bürgerlichen Moralnormen, den kapitalistischen Konsumzwängen und dem Leistungsprinzip »befreite« und durch Liebe »geadelte« Sexualität an. Ohne eine antikapitalistische Gesellschaftsreform wäre, so Marcuses Theorem, nur die scheinbare Freiheit einer repressiven Entsublimierung erreichbar, die vom politischen Kampf ablenkte. Der Diskurs über Sexualität rückte damit im linksalternativen Milieu in den Vordergrund des Projektes des »Neuen Menschen«, der seine Sexualität frei und befriedigt ausleben Das aufgeklärte Kind. Zur Geschichte der bundesrepublikanischen Sexualaufklärung (1950–2010), Bielefeld 2015, S. 132–134. 122 Sauerteig: Representations (Anm. 100), S. 145. 123 Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 652. 124 Zur Rezeption von Psychoanalyse, Freud, Bernfeld, Marcuse und Reich in der 68er-Bewegung, Detlef Siegfried: 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018, S. 59–70; Joachim C. Häberlen: The Emotional Politics of the Alternative Left. West Germany, 1968–1984, Cambridge 2018, S. 47–56; Christine Weder : Intime Beziehungen. Ästhetik und Theorien der Sexualität um 1968, Göttingen 2016, S. 38–120; Tatjana Freytag: Sexualität und Befreiung bei Herbert Marcuse, in: Meike Sophia Baader u. a. (Hg.): Tabubruch und Entgrenzung. Kindheit und Sexualität nach 1968, Köln 2017, S. 191–199; Reichardt: Authentizität (Anm. 123), S. 652–658; Ulrike Heider : Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt, Berlin 2014, S. 31, 55–60; Anthony D. Kauders: Drives in dispute. The West German student movement, psychoanalysis, and the search for a new emotional order, 1967–1971, in: Central European History, 2011, Jg. 44, S. 711–731; Kristina Schulz: 1968. Lesarten der »sexuellen Revolution«, in: Matthias Frese, Julia Paulus, Karl Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u. a. 2003, S. 121–133; Stefan Micheler : Der Sexualitätsdiskurs in der deutschen Studierendenbewegung der 1960er Jahre, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 2000, Jg. 13, S. 1–39, S. 10–14.

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könne. Dieser »Neue Mensch« sei Reich zufolge nicht mehr zu zerstörerischen oder sadistischen Handlungen fähig, sondern würde, ohne repressive Sublimierung, frei von Aggressionen gütig auf die Mitmenschen zugehen. Es ging aber den alternativen Linken nicht nur um eine Kritik an den herrschenden sexualmoralischen Normen, sondern um mehr : Es ging ihnen darum, die Praktiken des »Sex-haben« über den Geschlechtsverkehrs hinaus auszuweiten.125 Stichwortgeber war Herbert Marcuse, dessen Eros und Kultur (1957) und Der eindimensionale Mensch (1967) zu Basistexten der Achtundsechzigerbewegung wurden. Seine Interpretation der Beziehung von Sexualität und Befreiung sowie seine Verknüpfung der theoretischen Konzepte von Freud und Marx waren »paradigmatisch für die Gesamtausrichtung der klassischen kritischen Theorie«.126 Ein zentraler Kritikpunkt Marcuses war die Begrenzung des Sex auf die genitale Befriedigung. Er forderte stattdessen eine Sexualität, die den ganzen Körper mit all seinen erogenen Zonen einbezog und die sich zu einer polymorphen Sexualität ausweitete. Dies lenkte den Blick der Achtundsechziger auf die kindliche Sexualität, in der sie eine ursprünglichere Sexualität erkannten, die (noch) nicht von Kapitalismus, Konsumzwang und Rationalismus überformt war. Man wollte Sexualität wieder so unbegrenzt und ganzheitlich erleben wie Kinder – oder jedenfalls wie die Achtundsechziger glaubten, dass Kinder ihre Sexualität erlebten. Der Sex sollte nicht mehr auf den Orgasmus fixiert werden, sondern die Achtundsechziger wollten mittels verschiedener körperlicher und nichtkörperlicher Praktiken den gesamten Körper zur Quelle sexueller Lust werden lassen.127 Damit wurden in den 1970er Jahren die sogenannte »Befreiung« der kindlichen Sexualität von den herrschenden sexualmoralischen Normen und die Sexualerziehung von Kindern und Jugendlichen zu Leitthemen der linksalternativen Bewegung.128 Neben Theoretikern wie Reich und Marcuse fanden dabei auch die vom Rowohlt-Verlag in hohen Auflagen verbreiteten Texte des briti125 Joachim C. Häberlen: Feeling like a child. Dreams and practices of sexuality in the West German Alternative Left during the long 1970s, in: Journal of the History of Sexuality, 2016, Jg. 25, S. 219–245; Häberlen: Politics (Anm. 124), S. 186–194. 126 Freytag: Sexualität (Anm. 124), S. 191; Herbert Marcuse: Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud [1955], Stuttgart 1957; Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft [1964], Neuwied, Berlin 1967. 127 Häberlen: Child (Anm. 125); Häberlen: Politics (Anm. 124), S. 188f. 128 Vgl. Jens Elberfeld: Von der Sünde zur Selbstbestimmung. Zum Diskurs »kindlicher Sexualität« (Bundesrepublik Deutschland 1960–1990), in: Peter-Paul Bänzinger u. a. (Hg.): Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren, Bielefeld 2015 , S. 247–283; Reichardt: Authentizität (Anm. 123), S. 762–767; Meike Sophia Baader : Zwischen Politisierung, Pädosexualität und Befreiung aus dem »Getto der Kindheit«. Diskurse über die Entgrenzung von kindlicher und erwachsener Sexualität in den 1970er Jahren, in: Baader u. a.: Tabubruch (Anm. 124), S. 55–84.

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schen Reformpädagogen Alexander S. Neill (1883–1973) zur antiautoritären Erziehung enorme Beachtung. In Nachfolge seines Freundes Reich propagierte Neill ein freizügiges Ausleben jugendlicher Sexualität.129 Welche Rolle der Diskurs über kindliche und jugendliche Sexualität in der Achtundsechziger-Bewegung spielte, werde ich im Folgenden anhand der Forderungen der Schülerbewegung, an Beispielen der im Kontext der Achtundsechzigerbewegung entstandenen Aufklärungsliteratur und anhand des Umgangs mit kindlicher Sexualität in Kinderläden und Kommunen zeigen. Inspiriert von der Studentenbewegung und mit Unterstützung vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) hatten sich Schüler, vornehmlich an Gymnasien, 1967 in einer Schülerbewegung organisiert.130 Eines ihrer zentralen Anliegen war es, in Schülerzeitungen und Vortragsverstaltungen die Mitschüler*innen über Fragen von Sexualität und Empfängnisverhütung zu informieren. Lautstark und gegen den Widerstand von Lehrern, Eltern, Schulbürokratie und Politik forderten Schüler*innen nicht nur ein Recht auf Information über Sexualität, sondern auch auf Sex. Legendär ist 1968 der Aufruf des angehenden Soziologen und Frankfurter SDSlers Günter Amendt (1939–2011) vor Schüler*innen in Baden-Baden, »Reck und Schwebebalken, Kisten und Kasten – kurz, alle jene Kastrations- und Entjungferungswerkzeuge – aus der Turnhalle« zu entfernen und stattdessen Decken und Matten auszubreiten, damit Schüler »sich paarweise ausstrecken, / fair l’amour, um Liebe zu machen […]«.131 129 Alexander S. Neill: Summerhill. A Radical Approach to Education, London 1962, S. 208f. Sein Bestseller in Deutschland mit einer Auflagenhöhe von über einer Million Exemplaren in den 1970er Jahren war : A. S. Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill [1962], Reinbek 1969. Vgl. Baader : Politisierung (Anm. 128), S. 58f.; Reichardt: Authentizität (Anm. 123), S. 727f; Andreas Gestrich: Kindheit und Jugend – individuelle Entfaltung im 20. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln u. a. 2001, S. 465–487, S. 468ff. 130 Timothy S. Brown: West Germany and the Global Sixties: The Antiauthoritarian Revolt, 1962–1978, Cambridge, New York 2013, S. 244–252; Detlef Siegfried: Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 498–506; Torsten Gass-Bolm: Revolution im Klassenzimmer? Die Schülerbewegung 1967–1970 und der Wandel der deutschen Schule, in: Christina v. Hodenberg, Detlef Siegfried (Hg.): Wo »1968« liegt, Göttingen 2006, S. 113–138, S. 119–124; Günter Amendt: »Sexfront«. Revisited, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 2006, Nr. 19, S. 159–172, S. 162–163; Herzog: Sex (Anm. 118), Kap. 4, bes. S. 147f.; Torsten Gass-Bolm: Das Gymnasium 1945–1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland, Göttingen 2005, S. 268, 275–276; Axel Schildt: Nachwuchs für die Rebellion. Die Schülerbewegung der späten 60er Jahre, in: Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 229–251; Ulrike Heider : Schülerprotest in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1984, S. 88–128, 169. 131 Amendt hatte dies 1968 in einem Vortrag im Rahmen eines Teach-ins zur Gründung einer Unabhängigen Schülergemeinschaft vor Schüler*innen in Baden-Baden gefordert. Die Schüler*innen veröffentlichten den Text in ihrer neuen Schülerzeitung »C ¸ a ira«, die wegen

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Amendt wandte sich an Jörg Schröder (geb. 1938), Verleger des linken MärzVerlages, mit dem Vorschlag, ein Aufklärungsbuch für Jugendliche zu verfassen, das sich von den verfügbaren Aufklärungstexten unterscheiden sollte. Inspiriert von Freud, Marcuse und Wilhelm Reich – aber, wie er später betonte, kein »Reichchianer« wegen dessen »penetrante[m] Heterozentrismus samt dazugehöriger Homophobie« –,132 schrieb Amendt, oft in einem ironischen, teilweise schnoddrigen Ton, und illustrierte mit einem Team um Alfred von Meysenbug (geb. 1940) unter Verwendung von Fotos, Pop Art und Comics ein Aufklärungsbuch ganz neuen Stils: Sexfront erschien 1970 zum Preis von nur 5 DM.133 Nahaufnahmen einer Vulva in Farbe und eine Fotoserie über einen sich versteifenden Penis, umgangssprachliche Wörter wie »ficken«, »vögeln«, »Möse« oder »Schwanz«, Ratschläge für Mädchen und Jungen zu Masturbation, Petting und Orgasmus, Informationen über geeignete Verhütungsmittel und deren Anwendung sowie eine ausführliche Darstellung von männlicher und weiblicher Homosexualität als gleichberechtigte Sexualitäten – das konnten Jugendliche so in keinem anderen Aufklärungsbuch finden. Es überrascht daher wenig, dass Amendts Sexfront vor der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften landete. Das rheinland-pfälzische Sozialministerium hatte insbesondere an der Darstellung von Masturbation und Homosexualität Anstoß genommen sowie an den »obszöne[n] Fotografien […] und Zeichnungen« und wollte die Sexfront auf dem Index sehen. Die Bundesprüfstelle wies den Antrag jedoch zurück.134 Amendt hatte sich in Sexfront allerdings nicht völlig vom genitalen Sexualdenken verabschiedet. Zwar erklärte er, »daß petting keine eigene Art des Sexuallebens«, sondern »vielmehr Teil des Sexualaktes« sei. Ganz im Sinne der Ausweitung des erotischen Körpers führte er aus, »daß es keine Tabuzonen am männlichen oder weiblichen Körper gibt, daß Zunge und Lippen, Hände und Glied keine Haltezonen kennen, daß der Geschlechtsverkehr ebenso erregend ist Aufforderung zur Unzucht daraufhin beschlagnahmt wurde. Deshalb verbreiteten andere Schülerzeitungen Amendts Vortragstext, z. B. Rote Schülerpresse. Organ der Sozialistischen Schülerbewegung, Nr. 1 [1968], in: Archiv der deutschen Jugendbewegung, N 139 Nr. 145, Vorlass Linse: Schülergruppen; Schüler-Zeitungen: Faire l’amour, in: Der Spiegel, 15. 04. 1968, Nr. 16, S. 78–80, S. 78; vgl. Gass-Bolm: Gymnasium (Anm. 130), S. 268. 132 Amendt: »Sexfront« (Anm. 130), S. 164. 133 Günter Amendt: Sexfront, Frankfurt a. M. 1970. 1975 erschien eine Lizenzausgabe bei Zweitausendeins und ab 1982 übernahm Rowohlt die Rechte. Vgl. auch Massimo Perinelli: Günter Amendt: Sexfront (1970). Oder : »Das Einfache, das schwer zu machen ist«, in: Olaf Stieglitz, Jürgen Martschukat (Hg.): Race & Sex: Eine Geschichte der Neuzeit, Berlin 2016, S. 142–149; Weder : Beziehungen (Anm. 124), S. 121–147. 134 Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH), Nachlass Günter Amendt, 11/A10, M02, Mappe 2: Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, Entscheidung Nr. 2283, 185. Sitzung über Sex-Front von Günter Amendt, 5. 2. 1971, S. 3; vgl. Perinelli: Amendt (Anm. 133), S. 137; Weder : Beziehungen (Anm. 124), S. 123f.; Micheler : Sexualitätsdiskurs (Anm. 124), S. 21f.

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wie wechselseitiges Küssen des Schwanzes und der Möse, wo die Zunge den Kitzler des Mädchen reizt, der Mund das Glied des Jungen umschließt und lutscht«. Er scheute auch nicht davor zurück, das Lecken am After zu erwähnen. Zwar hielt er den Begriff »erogene Zone« für »irreführend«, denn es seien »prinzipiell alle Bereiche des menschlichen Körpers erogen bzw. lustempfindlich«. Er stellte dann aber doch fest, es gäbe »besonders leicht erregbare Stellen dort, wo die Haut dünn und Nerven konzentriert sind«, wie beispielsweise an den weiblichen Brustwarzen – die männlichen erwähnte er nicht.135 Zudem betonte er, dass Paare nur dann »ungetrübt« Lust empfänden, »wenn der Geschlechtsverkehr nicht ausgeschlossen« sei, denn wenn dieser »immer als unerfüllbarer Wunsch im Hintergrund steht, dann wird petting zu einer unbefriedigenden Fummelei«.136 Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Der evangelische Religionslehrer Horst Kirchmeier (geb. 1933) monierte, dass Amendt nicht »Zärtlichkeit gleichwertig neben genitale Sexualität« stelle, sondern sie »in den Bereich des ›Prä-Sexuellen‹« degradiert habe, auf das dann »die eigentliche, richtige Sexualität erst noch kommt – nämlich das klassische Vögeln«.137 Auch der Psychoanalytiker und Zeit-Autor Bernd Nitzschke (geb. 1944) konnte keine wirkliche »Erotisierung des gesamten Körpers« in der Sexfront finden. Stattdessen sei Amendt auf »den überdimensionalen Phallus« fixiert, womit die von »ihm geforderte Zärtlichkeit […] vollends auf der Strecke« bliebe.138 Dass es mehr Darstellungen männlicher als weiblicher Genitalien gab, sah auch der Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt (geb. 1938) in seiner Amendt verteidigenden Replik. Er meinte jedoch, Amendt würde »ständig das Unterdrückungsverhältnis zwischen Mann und Frau reflektieren« und die Phalli hätten die Funktion, »den ›Männlichkeitswahn dieser Gesellschaft‹ (Amendt) bloßzustellen und zu karikieren«.139 Dennoch warfen Leser*innen Amendt vor, in der Sexfront die Frau wieder als »nur passives Lustobjekt des Mannes« dargestellt zu haben, die »aber selbst keine Lust empfinden durfte«.140 Ein zweites Beispiel für diese neue Art der Aufklärungsliteratur ist ein Buch des Kult-Fotografen der 1960er Jahre, Will McBride (1931–2015), das dieser zusammen mit der Kinderpsychologin Helga Fleischhauer-Hardt (geb. 1936) 135 Amendt: Sexfront (Anm. 133), S. 37. 136 Ebd., S. 33. 137 FZH, 11/A10, B11, Mappe 3: Horst Kirchmeier, Berlin, an Günter Amendt, offener Brief, 10. 02. 1980. 138 Bernd Nitzschke: Erhellung und Verdunkelung, in: Die Zeit, 27. 11. 1970, Nr. 48, Literaturbeilage S. 6–7, S. 6. 139 FZH, 11/A10, B11, Mappe 1: Manuskript eines Leserbriefs von Gunter Schmidt an Die Zeit, als Reaktion auf Bernd Nitzschkes Kritik, 05. 12. 1970. 140 FZH, 11/A10, B11, Mappe 2: Angela und Winfried Heidrich, Farmsen, an Günter Amendt, März Verlag, 11. 10. 1970.

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unter dem Titel Zeig mal! 1974 im evangelischen Jugenddienstverlag veröffentlichte.141 Sich ausdrücklich neben Freud auf Herbert Marcuse, Wilhelm Reich, Erich Fromm und Alexander Mitscherlich beziehend, glaubte McBride, »daß die Unterdrückung von Sexualität bei Kindern, und insbesondere bei Jungs zur Bildung einer überaus aggressiven Gesellschaft führt«.142 Um das Ideal des »Neuen Menschen« zu verwirklichen müsse man, so McBride, »zuerst bei einer neuen Erziehung des Neuen Kindes anfangen«. Und dazu gehörte für ihn, Kindern zu einer Sexualität zu verhelfen, die »frei von Angst und Schamgefühlen« war. »Wenn man den Kindern beibringt, stolz auf ihren Körper und dessen Funktionen zu sein, und ihnen Selbstsicherheit gibt, dann hat man ein selbstbewußtes Kind, das fähig ist, mit seiner Sexualität und der anderer fertig zu werden.«143 Dies war McBrides Programm, als er Zeig mal! fotografierte. Seine großformatigen schwarz-weiß-Fotos erzählen aus der Perspektive von zwei kleinen Kindern, einem Mädchen und Jungen, wie sie ihre Körper und Sexualität entdeckten. Er sah seine Fotos überwiegend nackter Körper als »Abbilder von Erfahrungen«, die den verwundbaren »Neuen Menschen« und das »Neue Kind« in ihren Emotionen darstellten.144 Die Fotos sollten den lustvollen und erotischen Körper repräsentieren. McBride und Fleischhauer-Hardt hatten das Bilderbuch Zeig mal! als Ausgangspunkt für das Gespräch zwischen Eltern und Kind mit der Intention verfasst, dem Kind zu helfen, »seine Fragen und Probleme zur Sexualität zu äußern und zu verarbeiten« und den »Weg zu einer glücklichen, von Liebe, Zärtlichkeit und Verantwortungsgefühl geprägten Sexualität« zu finden.145 Im Gegensatz zu Amendts Sexfront blieb das Narrative der Sexualität in Zeig mal! im Wesentlichen jedoch den traditionellen Geschlechterrollen verhaftet. So war, trotz einiger Verweise auf gleichgeschlechtliches Begehren, Sexualität bei McBride heteronormativ angelegt und das Buch endete mit den emphatischen Aussagen des Jungen und des Mädchen, dass sie, wenn erwachsen, Vater bzw.

141 Will McBride, Helga Fleischhauer-Hardt: Zeig mal! Ein Bilderbuch für Kinder und Erwachsene, Wuppertal 1974, 6. Aufl. 1983; vgl. Sauerteig: Representations (Anm. 100), S. 150–153; Oliver Gehrs: Die Geschichte von »Zeig mal!« zeigt, wie sich die Gesellschaft auf den Weg zurück in die Verklemmung machte – Biographie eines Aufklärungs-Buchs, in: Dummy, 2005/06, Nr. 9, S. 40f.; Christin Sager: »Zeig Mal!« – Aber wie viel?! Sexualaufklärungsbücher und ihre Fotografien um 1968, in: Bänziger u. a.: Revolution (Anm. 121), S. 63–85. Zu McBride siehe Michael Koetzle: Lust auf Leben. Anmerkungen zur Fotografie von Will McBride, in: Will McBride: Adenauer und seine Kinder : Fotografien 1956–1968, hg. von Monika Flacke, [Berlin] 1994, S. 7–17; Peter Weiermair (Hg.): Will McBride: 40 Jahre Fotografie, Schaffhausen [u. a.] 1992, S. 156–178. 142 Will McBride: I, Will McBride, Köln 1997, S. 369. 143 Ebd., S. 371. 144 Will McBride: Boys, München 1986, S. 111, zitiert nach Koetzle: Lust (Anm. 141), S. 8. 145 McBride, Fleischhauer-Hardt: Bilderbuch (Anm. 141), S. 2f.

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Mutter werden wollten.146 Wie schon Amendts Sexfront so war auch McBrides Zeig mal! höchst umstritten. Versuche, es auf den Index jugendgefährdender Schriften zu bringen, scheiterten jedoch ebenfalls.147 Was McBrides Buch als problematisch erscheinen ließ, war das Vorwort des Sexualpädagogen Helmut Kentler (1928–2008), in dem dieser sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern als positiv darstellte. Kentler befürwortete eine vorbehaltslose Bejahung kindlicher Sexualität als »Vorbedingung dafür, daß eine sexualfreundliche Kultur entstehen kann, in die auch die Kinder integriert sind«, und forderte, dass Kinder »soweit das entsprechend ihrem Alter nur immer möglich ist, von den Erwachsenen als gleichberechtigte Partner ernstgenommen werden«.148 In einem späteren Beitrag wiederholte er die typische Legitimationspropaganda der sogenannten Pädophilenbewegung, dass der Pädosexuelle »dem Kind etwas geben« wolle, nämlich Liebe, und damit dem Kind »etwas Gutes« täte; dass es in pädosexuellen Beziehungen keine Gewalt gebe und »Kinder Spaß an Sexualität haben und darum von sich aus sexuell aktiv werden« würden.149 In der Einleitung zu Zeig mal! zitierte Kentler ausführlich aus Protokollen der Kommune 2, die diese bereits 1969 in Auszügen im Kursbuch veröffentlicht hatte. Darin berichtete Eberhard Schultz (geb. 1943) über ein sexuelles Erlebnis im April 1968 mit einem dreieinhalbjährigen Mädchen aus der Kommune.150 Die Mitglieder der Kommune 2 kommentierten, dass das »sexuelle Interesse der Kinder, wenn es nicht durch Einschüchterung und Verbote gehemmt wird, […] bis zu koitusähnlichen Nachahmungen der Erwachsenensexualität« gehen würde. Die Kinder würden selbst die »Unmöglichkeit« erkennen, »ihre genitalen Wünsche mit Erwachsenen zu befriedigen«. Wesentlich war für die Kommunarden jedoch, »daß die Kinder diese Erfahrungen wirklich ausleben konnten«,

146 Ebd. (Anm. 141), S. 152–155. Vgl. Sauerteig: Representations (Anm. 100), S. 153. 147 Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften: Zur Kinder- und Jugendgefährdung durch Propagierung von Kindersexualität. Entscheidung der Bundesprüfstelle v. 13. 12. 1974 nebst Gutachten der Prof. Dr. Horst Scarbath und Gunther Otto zum Buch Zeig Mal, in: Medien- und Sexual-Pädagogik, 1975, Jg. 3, Nr. 4, S. 29–39. Vgl. McBride: I (Anm. 142), S. 372f.; Susanne Mayer : Der Schatten von 1968: Das Jugendamt Frankfurt will die über zwanzig Jahre alte Aufklärungsbroschüre Zeig mal! indizieren, in: Die Zeit, 11. 10. 1996, Nr. 42. 148 Helmut Kentler: Kindersexualität, in: McBride, Fleischhauer-Hardt: Bilderbuch (Anm. 141), S. 4–11, S. 10f. 149 Helmut Kentler : Pädophilie. Tabus und Vortabus. Ein Widerspruch, in: Konkret – Sexualität, 1980, Nr. 2, S. 31–32, S. 31. 150 Christel Bookhagen u. a.: Kommune 2. Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. Kollektives Leben mit politischer Arbeit verbinden!, Berlin 1969, S. 91f.; Christel Bookhagen u. a.: Kindererziehung in der Kommune, in: Kursbuch, 1969, Nr. 17, S. 147–178; vgl. Elberfeld: Sünde (Anm. 128).

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was zur Voraussetzung hätte, »daß die Erwachsenen nicht nur keine Verbote aussprachen, sondern ihre eigenen Hemmungen überwinden konnten«.151 Auch im Kontext der Diskussionen über antiautoritäre Erziehung rangierten Fragen, wie mit kindlicher Sexualität umzugehen sei, wie man Kindern helfen müsse, ihre Sexualität frei auszuleben, und welche Herausforderungen und Konsequenzen sich hieraus für das Verhalten der Erwachsenen ergaben, ganz oben auf der Tagesordnung.152 Daniel Cohn-Bendit (geb. 1945) berichtete über seine Erfahrungen 1972 als Erzieher im Kindergarten der Universität Frankfurt, dass sein »ständiger Flirt mit allen Kindern […] bald erotische Züge« angenommen habe und er »richtig fühlen« konnte, »wie die kleinen Mädchen von fünf Jahren schon gelernt hatten, mich anzumachen«.153 Später bestritt er zwar, dass es zu sexuellen Kontakten mit Kindern gekommen sei, aber er schilderte in seinem Erfahrungsbericht, dass es ihm »mehrmals passiert« sei, »daß einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln« und wenn die Kinder darauf bestanden hatten, habe er sie trotz Bedenken »dennoch gestreichelt«.154 Sich auf die Arbeiten von Reich, Marcuse und Kentler beziehend155 betonten die Mitglieder eines Berliner Kinderladens 1968, dass sich Eltern und Erzieher kindlicher Sexualität gegenüber »grundsätzl[ich] positiv, bejahend« verhalten sollten: »Wir müssen von bloss duldender zu bejahender Haltung kommen«. Nur dann könnten Kinder »ihre sexuellen Bedürfnisse artikulieren u[nd] befriedigen«.156 Die Kinderladengruppe verfolgte damit ein Erziehungskonzept, 151 Bookhagen u. a.: Kommune (Anm. 150), S. 93. 152 Massimo Perinelli: Longing, lust, violence, liberation: discourses on sexuality on the radical left in West Germany, 1969–1972, in: Scott Spector, Helmut Puff, Dagmar Herzog (Hg.): After »The History of Sexuality«: German Genealogies With and Beyond Foucault, New York u. a. 2012, S. 248–281, S. 268f.; Reichardt: Authentizität (Anm. 123), S. 721–743; Anthony D. Kauders: Auf dem Weg zum neuen Menschen: Die Rezeption der Psychoanalyse in der frühen Kinderladenbewegung, in: Luzifer-Amor, 2014, Jg. 27, Nr. 54, S. 7–24; Meike Sophia Baader : »An den großen Schaufensterscheiben sollen sich die Kinder von innen und die Passanten von außen die Nase platt drücken«. Kinderläden, Kinderkulturen und Kinder als Akteure im öffentlich-städtischen Raum seit 1968, in: dies., Ulrich Herrmann (Hg.): 68 – engagierte Jugend und kritische Pädagogik. Impulse und Folgen eines kulturellen Umbruchs in der Geschichte der Bundesrepublik, Weinheim, München 2011, S. 232–251; Herzog: Sex (Anm. 118), S. 162–174. 153 Daniel Cohn-Bendit: Der grosse Basar. Gespräche mit Michel L8vy, Jean-Marc Salmon, Maren Sell, München 1975, S. 140. 154 Ebd., S. 143; Jacqueline H8nard: Danys dumme Streicheleien, in: Die Zeit, 08. 03. 2001, Nr. 11. 155 Institut für Zeitgeschichte (IfZ), Bestand Helke Sander, ED 914/37: Literaturliste für alle, die an sozialistischen Kindergärten arbeiten wollen [ohne Datum]. 156 IfZ, ED 914/37: o. D. [August 1968]: Kindergartenprogramm. [Arbeitspapier des Kinderladens Charlottenburg I, Jebenstrasse] Zusammenfassung der Diskussionen vom Donnerstagabend.

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das aktiv kindliches Sexualverhalten fördern wollte und von Eltern verlangte, dass sich die »bejahende Einstellung zur Sexualität der Kinder […] auf alle Verhaltensweisen und Äusserungen der Erwachsenen erstrecken« müsse.157 Anders als die Kommune 2 war die Kinderladengruppe in Bezug auf sexuelle Interaktionen zwischen Kindern und Erwachsenen jedoch zurückhaltend: »Bei den onanistischen Bestrebungen werden nur dann Probleme auftauchen, wenn die Kinder ihre Eltern dazu anhalten[,] sie zu befriedigen. Die Erwachsenen sollten sich dabei grundsätzlich passiv verhalten, und die Kinder darauf hinweisen, daß sie diese Bedürfnisse viel besser mit anderen Kindern befriedigen können […].«158 Berichte aus der Kommune 2 und den Kinderläden über sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern wurden in der westdeutschen Presse kritisch kommentiert und lösten Proteste aus, u. a. seitens des Deutschen Ärztinnenbundes und der Frauenbewegung.159 Die Literaturjournalistin Petra Kipphoff (geb. 1937) sprach von »Kinderausbeutung« und dem Schaden, die »die ach so verständnisvollen Sex-Spielchen eines frustrierten Kommunarden mit einem vierjährigen Mädchen« anrichteten.160 Gleichzeitig es gab auch immer wieder Stimmen, die sich wie Kentler öffentlich positiv über sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen äußerten, die die strafrechtlichen Bestimmungen über Kindesmissbrauch und Inzest kritisierten und debattierten, ob Kinder Zeugen des elterlichen Geschlechtsverkehrs werden sollten.161 Mit Verweis auf die Schwulen- und die Frauenbewegung bemühte sich die Pädophilenbewegung, sich ebenfalls als Emanzipationsbewegung darzustellen. Sie suchte dabei nicht nur in der Schwulenbewegung, sondern auch bei der alternativen Linken nach Verbündeten für ihre Forderungen nach Aufhebung des strafrechtlichen Verbots sexueller Kontakte mit unter 14-Jährigen (§ 176 StGB). Gleichzeitig versuchten sie sich als Verteidiger des Anspruchs von Kindern und Jugendlichen auf Sexualität darzustellen. So behauptete die Deutsche Studien- und Arbeitsgemeinschaft Paedophilie: »Pädophilie ist das Talent, Signale von Kindern zu verstehen und aufzunehmen und für die Kinder verstehbar und annehmbar an diese zurückzugeben«, was dann zu einer »freiwillige[n] zärtliche[n] Beziehung zu dem Erwachsenen« führen könne, die von Kindern als »schön und wertvoll

157 Ebd. 158 Ebd. Mit einem anderen Beispiel einer Diskussion über den Umgang mit kindlicher Sexualität in einem Berliner Kinderladen 1973, Baader : Politisierung (Anm. 128), S. 75f. 159 Z. B. Kindererziehung. Aufrechter Gang, in: Der Spiegel, 26. 10. 1970, Nr. 44, S. 62–90, S. 63. 160 Petra Kipphoff: Frauenkursbuch, in: Die Zeit, 01. 08. 1969, Nr. 31. 161 Z. B. Otto Felicitas Gmelin: Zärtlichkeit, Inzest und die »denaturierte Naturalisierung« der Familienbeziehung. Ein Beitrag zur vorschulischen Sexualerziehung, in: Vorgänge, 1973, Jg. 12, Nr. 5, S. 59–76.

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erlebt« würde und die »den Bedürfnissen des Kindes« entspräche sowie für ihr »Leben dienlich und wertvoll« sei.162 Viele linke Kommentatoren sahen sich in eine schwierige Position gedrängt, denn einerseits kämpften sie für sexuelle Emanzipation und gegen die Unterdrückung sexueller Triebe, andererseits argumentierten sie gegen sexuelle Ausbeutung und Unterdrückung. Auch in der Frauenbewegung waren die Reaktionen ambivalent.163 Die Herausgeberin des Frauenmagazins Emma, Alice Schwarzer (geb. 1942), bezog 1980 deutlich Position gegen Versuche der Vereinnahmung durch die Pädophilenbewegung und deren Slogan, Pädosexualität sei ein »Verbrechen ohne Opfer«. Sie hielt »Pädophile nicht für eine zu befreiende verkannte Minderheit, sondern für das willkommene Sprachrohr einer Männergesellschaft, die es schon immer gut verstanden hat, ungleiche Beziehungen als ›gleich‹ zu propagieren – um dann so unbehelligter herrschen zu können«. Es gehe der Pädophilenbewegung »nicht um das Recht der Kinder auf ihre Sexualität«, sondern es gehe »um das Recht der Erwachsenen auf die Sexualität der anderen, der Kinder«.164 Zwar wies Schwarzer auf das Machtgefälle zwischen Kind und Erwachsenen in pädosexuellen Beziehungen hin, sprach sich aber dennoch für eine »Straffreiheit von freiwilligen sexuellen Beziehungen Heranwachsender, egal mit wem«, aus.165 Die ambivalente Position der Linken wird am Beispiel Günter Amendts deutlich, der sich einerseits für die sexuelle Selbstbestimmung von geschlechtsreifen Jugendlichen einsetzte, aber andererseits das Machtgefälle zwischen Kind und Erwachsenen betonte und eine einvernehmliche Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen ausschloss: »So haben wir vor zehn Jahren die Befreiung der Sexualität nicht gemeint«, schrieb er und wies damit Versuche zurück, die Pädophilenbewegung als Teil der »Emanzipationsdiskussion« zu

162 FZH, 11/A10, B11, Mappe 3: Deutsche Studien- und Arbeitsgemeinschaft Paedophilie e. V. (DSAP) Rhein-Main, Frankfurt, an Günter Amendt, 17. 04. 1980; ebd.: Freundschaft mit Kindern-Förderkreis e. V. Münster, Krefeld, an Günter Amendt, 30. 05. 1980, mit sehr ähnlichen Argumenten. Vgl. Sven Reichardt: Pädosexualität im linksalternativen Milieu und bei den Grünen in den 1970er bis 1990er Jahren, in: Baader u. a.: Tabubruch (Anm. 124), S. 137–160; Claudia Bundschuh: Die sogenannte Pädophilenbewegung in Deutschland, in: ebd., S. 85–100; Detlef Siegfried: Grenzen der Freiheit. Ernest Borneman und die Sexualität von Kindern, in: ebd., S. 200–217, S. 206–214; Häberlen: Child (Anm. 125); Reiß: Päderastie (Anm. 16); Elberfeld: Sünde (Anm. 128); Franz Walter, Stephan Klecha, Alexander Hensel (Hg.): Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte, Göttingen 2015; Christian Füller : Die Revolution missbraucht ihre Kinder. Sexuelle Gewalt in deutschen Protestbewegungen, München 2015. 163 Baader : Politisierung (Anm. 128), S. 60; Reichardt: Pädosexualität (Anm. 162), S. 145f. 164 Alice Schwarzer : Emanzipierte Pädophilie?, in: Emma, April 1980, Nr. 4, S. 5. 165 Alice Schwarzer, Günther Amendt: Wie frei macht Pädophilie?, in: ebd., S. 26–31, S. 28.

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verstehen.166 Zum einen sah er den Jugendschutz als »Schutz vor Ausbeutung und Unterdrückung« für die Jugend, zum anderen forderte er, dass »über die sexuellen Rechte der Jugend […] erneut diskutiert werden« müsse, denn »die Schutzalterbestimmungen sind willkürlich und zudem diskriminierend«, weil sie homosexuellen Jugendlichen erst mit 18 Jahren, heterosexuellen aber bereits mit 16 das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zugestanden.167 Gleichzeitig zerpflückte Amendt die Argumente der »Pädo-Aktivisten« im linksalternativen und Sponti-Milieu sowie die Propagandastrategien der Pädophilenbewegung mit ihren Gleichsetzungen von Kindern und Jugendlichen, den rhetorischen Verweisen auf die Päderastie in der Antike und ihrem Argument, dass es um den Schutz emotional vernachlässigter Jugendlicher ginge.168 Auch wenn Jens Elberfeld der Auffassung ist, »dass es den Protagonisten der Kommune Zwei gerade nicht darum ging, Sex mit Kindern zu propagieren«, sondern »sie in derartigen Handlungen einen notwendigen Zwischenschritt in der psychischen Entwicklung der Kinder und der freien Entfaltung ihrer Sexualität« sahen,169 wurde ihr Beitrag als Legitimation von Pädosexualität gelesen, wie beispielsweise Kentlers Vorwort zu Zeig mal! verdeutlicht. Ähnliche Pädosexualität rechtfertigende Äußerungen finden sich beispielsweise auch in der pädagogischen Zeitschrift betrifft: erziehung, die sich 1973 unter der Überschrift »Pädophilie: Verbrechen ohne Opfer« des Themas annahm. Das Themenheft wurde eröffnet mit einem Beitrag des niederländischen Psychologen und Aktivisten der dortigen Pädophilenbewegung, Frits Bernard (1920–2006).170 Auch der Beitrag des Psychiaters und Sexualwissenschaftlers Eberhard Schorsch (1935–1991) sah in pädosexuellen Beziehungen nicht grundsätzlich eine Gefahr für das Kind und nahm positiv zu Bernards Artikel Stellung.171 Es könnten weitere Autoren genannt werden, die sich in den 1960er und 1970er Jahren positiv über Pädosexualität geäußert haben, wie beispielsweise der einflussreiche Jazzkritiker, Filmemacher und Sexforscher Ernest Borneman (1915–1995), ein Reichianer, der sich mehrfach zum Thema kindlicher Sexualität äußerte. Borneman stellte das Inzestverbot in Frage und wollte in gewaltfreien pädosexuellen Kontakten keinen Missbrauch erkennen, sondern glaubte, dass es die 166 Ebd., S. 27; Günter Amendt: Nur die Sau rauslassen? Bei der Pädophilie-Diskussion sind viele Interessen im Spiel. Aber kaum die Kinder, in: Konkret – Sexualität, 1980, Nr. 2, S. 23–30, S. 24; Günter Amendt: Sexueller Missbrauch von Kindern. Zur Pädophiliediskussion von 1980 bis heute, in: Merkur, 2010, Jg. 64, Nr. 739, S. 1161–1172, S. 1164. Vgl. Perinelli: Amendt (Anm. 133), S. 139. 167 Amendt: Sau (Anm. 166), S. 24. 168 Ebd.; vgl. Amendt: Missbrauch (Anm. 166). 169 Elberfeld: Sünde (Anm. 128), S. 265. 170 Frits Bernard: Pädophilie – eine Krankheit? Folgen für die Entwicklung der kindlichen Psyche, in: Betrifft: Erziehung, 1973, Jg. 6, Nr. 4, S. 21–23. 171 Eberhard Schorsch: Liberalität reicht nicht, in: ebd., S. 23–26.

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Verbote und strafrechtlichen Verfolgungen waren, die Kinder Schaden zufügten.172 Derartige Beiträge trugen zum »allgemein verbreiteten Laissez-fair in Sachen kindlicher Sexualität« bei.173 Zum einen verwischten sie im öffentlichen Diskurs der 1960er und 1970er Jahre den Unterschied zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität. Zum anderen ignorierten die erwähnten Berichte über intergenerationelle sexuelle Erlebnisse sowie die Artikel zur Pädosexualität und die Äußerungen von Wissenschaftlern wie Kentler, Schorsch, Borneman oder dem Bremer Soziologen Rüdiger Lautmann das Macht- und Autoritätsgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern sowie das sexuelle Selbstbestimmungsrecht von Kindern und Jugendlichen. Im öffentlichen Diskurs wird dies anhand von Beiträgen in alternativen Stadtzeitungen wie der Berliner Zitty und Zeitungen wie der taz oder linksalternativen Magazinen wie dem Frankfurter Pflasterstrand oder der um 1970 wichtigsten Publikation der radikalen Linken in Berlin, Agit 883, deutlich.174 Auf der politischen Ebene war die Pädophilienbewegung in den 1980er Jahren, zum Teil jedenfalls, bei den Grünen bzw. der Alternativen Liste erfolgreich und konnte dort ihre Forderungen nach Entschärfung oder Streichung der relevanten strafrechtlichen Bestimmungen einbringen.175 Zudem bediente sich die Pädophilen-Lobby in ihren Kampagnen in den 1990er Jahren der den sexuellen Kindesmissbrauch verharmlosenden wissenschaftlichen Aussagen zur Pädosexualität.176

172 Nach heftigen Angriffen beteuerte Borneman Anfang der 1990er Jahre, dass er im sexuellen Missbrauch von Kindern ein Verbrechen sah. Siegfried: Grenzen (Anm. 162); Detlef Siegfried: Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher, Göttingen 2015, S. 272–281; Danny Michelsen: Pädosexualität im Spiegel der Ideengeschichte, in: Walter u. a. (Hg.): Grünen (Anm. 162), S. 23–59; Baader : Politisierung (Anm. 128); Bundschuh: Pädophilenbewegung (Anm. 162), S. 86–91. 173 Reichardt: Authentizität (Anm. 123), S. 766. 174 Perinelli: Longing (Anm. 152); Massimo Perinelli: Lust, Gewalt, Befreiung. Sexualitätsdiskurse, in: rotaprint 25 (Hg.): agit 883. Bewegung, Revolte, Underground in Westberlin 1969–1972, Hamburg, Berlin 2006, S. 85–99; Amendt: Missbrauch (Anm. 166); Reichardt: Pädosexualität (Anm. 162); Daniel Boese: Pädophilie in der zitty. Als Sprachrohr der alternativen Szene debattierte zitty 1979 über die Straffreiheit von Sex mit Kindern, in: Zitty, 201, Jg. 34 , Nr. 13, S. 34–36. Auch der Spiegel berichtete über die Diskussion: Sexualität – Mächtiges Tabu. Eine »Pädophilie-Debatte« ist entbrannt, in: Der Spiegel, 21. 07. 1980, Nr. 30, S. 148–155. 175 Stephan Klecha: Die Grünen zwischen Empathie und Distanz in der Pädosexualitätsfrage: Anatomie eines Lernprozesses, Wiesbaden 2017; ders.: Die Grünen als Avantgardepartei und Vertreterin eines bereits vergangenen Zeitgeistes, in: Baader u. a.: Tabubruch (Anm. 124), S. 161–188; Walter u. a. : Grünen (Anm. 162); Reichardt: Pädosexualität (Anm. 162), S. 143–147. 176 Siegfried: Grenzen (Anm. 162), S. 209.

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Es ist auch kein Zufall, dass im Zuge der »Sexwelle« der 1960er Jahre Verlage pornografische Literatur verlegten,177 in der es auch um den sexuellen Missbrauch von Kindern ging. Zu den bekanntesten Beispielen zählen die deutsche Übersetzung des Romans von John Cleland aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, Die Memoiren der Fanny Hill, die zuerst 1963 im Kurt-Desch-Verlag erschienen und, nachdem der Bundesgerichtshof in einer aufsehenerregenden Entscheidung das Verbot des Romans 1969 aufgehoben hatte, von Rogner und Bernhard in München verlegt wurde,178 sowie der Felix Salten (1869–1945) zugeschriebene, kurz nach der Jahrhundertwende verfasste Roman Josefine Mutzenbacher, der in den 1960er Jahren zunächst von skandinavischen Verlagen verbreitet wurde, 1969 ebenfalls bei Rogner und Bernhard erschien und ab 1971 von der auf Pornografie spezialisierten Venus-Press in Hamburg vertrieben wurde. Seit 1978 wird die Mutzenbacher als preiswertes Taschenbuch von Rowohlt in hohen Auflagezahlen verlegt (und seit 1980 auch Clelands Fanny Hill).179 Gerichte hatten die Mutzenbacher bereits in den späten 1960er Jahren für »unzüchtig« erklärt. Nachdem die Bundesprüfstelle den Roman 1968 auf den Index jugendgefährdender Schriften gestellt hatte, ordnete das Amtsgericht München 1971 die Beschlagnahmung der Exemplare beim Verlag Rogner und Bernhard an.180 Nachdem eine Verwaltungsklage Rowohlts gegen die Indizierung Anfang der 1980er Jahre erfolglos geblieben war, legte der Verlag Verfassungsbeschwerde ein. Im November 1990 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass der pornografische Roman unter die Freiheit der Kunst falle und deshalb von der Bundesprüfstelle nicht mehr als jugendgefährdend indiziert werden dürfe. Zwar wurde vor dem Verfassungsgericht über die im Roman dargestellte Kinderprostitution, Inzest und Promiskuität gestritten, aber dass er auch Akte sexuali177 Vgl. Pascal Eitler : Die »Porno-Welle«. Sexualität, Seduktivität und die Kulturgeschichte der Bundesrepublik, in: Bänzinger u. a.: Revolution (Anm. 128), S. 87–111. 178 John Cleland: Die Memoiren der Fanny Hill, illustriert von Lilo Rasch-Nägele, Wien u. a. 1963, München 1969 sowie, übersetzt von Erika Nosbüsch, Reinbek bei Hamburg 1980; vgl. Fanny Hill ist freigesprochen. Das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 22. Juli 1969, in: Vorgänge, 1969, Nr. 8, S. 371–373; vgl. Steinbacher : Sex (Anm. 118), S. 295–299, 311–315, 324–326. 179 Josefine Mutzenbacher [d. i. Felix Salten]: Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt, München 1969, Reinbek bei Hamburg 1978. Vgl. Sauerteig: Loss (Anm. 16), S. 173f.; Horst Albert Glaser : Die Unterdrückung der Pornographie in der Bundesrepublik: Der sogenannte Mutzenbacher-Prozeß, in: Peter Brockmeier, Gerhard R. Kaiser (Hg.): Zensur und Selbstzensur in der Literatur, Würzburg 1996, S. 289–306; Michael Farin: Die letzten Illusionen. Josefine Mutzenbacher vor Gericht, in: ders. (Hg.): Josefine Mutzenbacher oder die Geschichte einer wienerischen Dirne: von ihr selbst erzählt, München 1990, S. 503–544; Liste der verschiedenen Ausgaben in: ebd., S. 545–548. 180 »Josephine Mutzenbacher« in München beschlagnahmt, in: Concepte, 1971, Jg. 7, Nr. 2, S. 40; Sieghart Ott: Josefine Mutzenbacher – eine Gefahr für die Belange der Gemeinschaft?, in: Vorgänge, 1971, Nr. 10, S. 110–111.

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sierter Gewalt und sexuellen Missbrauchs von Kindern thematisierte, blieb unberücksichtigt. Im Mittelpunkt stand lediglich die Frage, inwieweit der Roman Kinder und Jugendliche »sittlich« gefährdete und welchen Rang die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit der Kunst im Verhältnis zum Kinder- und Jugendschutz besaß.181 Das Revival der Mutzenbacher Ende der 1960er Jahre kann auch aus dem Kontext des zeitgenössischen sexuellen Befreiungsdiskurses erklärt werden.182 So meinte die Verlegerin Marianne Bernhard auf einer Pressekonferenz 1970, dass sich ihr Verlag nach der Wiederveröffentlichung der Mutzenbacher verpflichtet fühlte, »die Leute auch in Zukunft nicht im Stich zu lassen und ihnen dabei zu helfen, in jedem Lebensalter das beste aus ihren natürlichen Gaben zu machen«.183 Sexualisierte Gewalt blieb, so stellte Meike Sophia Baader zu Recht fest, in den 1970er und 1980er Jahren weitgehend ein blinder Fleck.184 Die Sexualisierung des Kindes, die bereits ein gutes halbes Jahrhundert zuvor begonnen hatte, erreichte in der Bundesrepublik der späten 1960er und der 1970er Jahre einen Höhepunkt. Sie bildete den Kontext für die mindestens ebenso lange Geschichte von Pädosexualität und des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Auch in der Jugendbewegung kann man dabei eine direkte Verbindung sehen, von Wilhelm Jansens »Päderastenclub« zur »Pädo-Burg« Balduinstein.185 Wie Sven Reiß zeigt, kam es nach 1969 zu Überschneidungen zwischen Pädophilen- und Jugendbewegung, u. a. unter dem Deckmantel des Einsatzes für eine freie Kinder- und Jugendsexualität.186 Während sich Schüler- und Studentenbewegung Ende der 1960er und in den 1970er Jahren gegen den Widerstand von Schulbürokratie, staatlichen Autoritäten, konservativen Kreisen der Gesellschaft, insbesondere der Kirchen, und zum Teil auch der Eltern für eine umfassende sexuelle Aufklärung von Kindern 181 Bundesverfassungsgericht: BVerfGE 83, 130 – Josephine Mutzenbacher, Beschluss des Ersten Senats vom 27. November 1990, [Aktenzeichen] 1 BvR 402/87, in: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 27. 11. 1990, Nr. 83, S. 130ff. Dort auch zu den verschiedenen Urteilen der unteren Instanzen. 182 Clemens Ruthner : The back side of Fin-de-SiHcle Vienna. The infamously infantile sexuality of Josefine Mutzenbacher, in: Clemens Ruthner, Raleigh Whitinger (Hg.): Contested Passions. Sexuality, Eroticism, and Gender in Modern Austrian Literature and Culture, New York u. a. 2012, S. 91–104, S. 94. 183 Ki. [d. i. Petra Kipphoff]: Der Münchner Jung-Verlag, in: Die Zeit, 27. 03. 1970, Nr. 17, S. 23. 184 Baader : Politisierung (Anm. 128), S. 69. 185 Sauerteig: Loss (Anm. 16); Reichardt: Pädosexualität (Anm. 162), S. 137; Sven Reiß: Schatten der Jugendbewegung. Sexualisierte Gewalt und Pädosexualität in jugendbewegten Gruppen, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2010, NF Nr 7, S. 319–336; Franz Walter: Im Schatten des Liberalismus. Die Pädophiliedebatte begann nicht mit den Grünen, in: Indes, 2014, Jg. 3, Nr. 4, S. 121–133. 186 Reiß: Renaissance (Anm. 10), S. 71–74.

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und Jugendlichen einsetzten, für den freien Zugang zu Verhütungsmitteln kämpften und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung für sich einforderten, während einige politisch linksstehende Sexualaufklärer wie Günter Amendt Jugendliche mit ihren Aufklärungsbüchern entsprechende Informationsquellen zur Verfügung stellten, blieb das politische Projekt der Sexualität ein Minenfeld. Achtundsechziger-Eltern, die mit ihrer eigenen sexuellen Befreiung kämpften, hatten einen Drahtseilakt zu meistern zwischen Respekt gegenüber der Sexualität ihrer Kinder und der Gefahr, die Grenzen zum sexuellen Missbrauch zu überschreiten. Während Sexualpädagogen wie Martin Goldstein schon Ende der 1960er Jahre mit dem Konzept der Verhandlungsethik eine auf Konsens basierende neue Sexualmoral formulierten und populäre Jugendzeitschriften wie Bravo die Verhandlungsmoral in ihren Aufklärungsnarrativen immer wieder einübten, blieben Sexualpädagogen wie Kentler gefangen in einer Sexualideologie, die alle Sexualität aktiv befreien wollte, um autoritäre Charaktere zu verhindern und den Faschismus zu bekämpfen. Wissentlich oder nicht, bahnten sie damit den Weg, den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zu legitimieren und halfen, entsprechende Berichte von Betroffenen zu ignorieren.

Fazit: Kontinuitäten und Brüche Die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen zu beantworten, ist nicht einfach. In seinem Versuch einer sexualwissenschaftlichen Zeitdiagnose bezeichnete es Reimut Reiche (geb. 1941), Cheftheoretiker des Sexuellen der Achtundsechziger, als sinnlos, »eine historische Epoche mit einer anderen Epoche oder einen Zustand der kulturellen Evolution mit einem anderen Zustand daraufhin zu vergleichen, ob sexuelle Befriedigung zu- oder abnimmt. Jede Epoche hat ihren Code, der das grundsätzliche Verfehlen des Begehrens repräsentiert.«187 Dennoch zeigen sich einige Gemeinsamkeiten im Verlangen der Jugendlichen um 1900 und um 1968, die sexualmoralischen Vorstellungen ihrer jeweiligen Zeit zu befreien und ungehindert Zugang zu Informationen über das Sexuelle zu bekommen sowie ihre erotischen Empfindungen und ihr sexuelles Verlangen auszuleben. Die Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die Schüler- und Studentenbewegung der späten 1960er Jahre, die allerdings eine sehr viel breitere Basis besaßen, waren gleichermaßen, so Lee Utley, romantische Bewegungen, die von ihrer moralischen Überlegenheit überzeugt waren.188 187 Reimut Reiche: »… versage uns die volle Befriedigung« (Sigmund Freud). Eine sexualwissenschaftliche Zeitdiagnose der gegenwärtigen Kultur, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, 2000, Nr. 15, S. 10–36, S. 26. 188 Utley : Schism (Anm. 5), S. 122.

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Während es der Jugend zu Beginn des 20. Jahrhunderts darum ging, ein neues Verhältnis zwischen den Geschlechtern auszuhandeln und sie zunächst mit Neudefinitionen von Geschlechterrollen und dem Geschlechterverhältnis beschäftigt war, traten in den 1920er Jahren zusätzliche politisch-ideologische Aspekte der Sexualität hinzu. Diese Politisierung des Sexes verschärfte sich für die Achtundsechzigerjugend, die nicht nur nicht nur ihre Sexualität uneingeschränkt ausleben und ausprobieren wollte, sondern Sexualität in einer Bipolarität von »Unterdrückung« und »Befreiung« diskutierte. Das, was als »Liberalisierung« der Sexualität, als ihre »Befreiung« beschrieben wird, führte zwar zu neuen und größeren Freiräumen, schuf aber gleichzeitig wieder neue Normen und Konventionen. Anfang des 20. Jahrhunderts betrafen diese beispielsweise den kameradschaftlichen und ent-erotisierten Umgang mit dem anderen Geschlecht und die Verhandlung der eigenen erotischen und sexuellen Wünsche, auch zum eigenen Geschlecht, in oftmals geschlechtergetrennten reinen Jungen- oder Mädchengruppen. Um 1968 mussten Jugendliche lernen, den Sex mit dem jeweiligen Partner oder der Partnerin auszuhandeln. Für Jugendliche in den 1970er Jahren war es sehr viel einfacher geworden, sich über Sexualität, über sexuelle Praktiken und über Empfängnisverhütung zu informieren, als es noch für ihre Altersgenossen zu Beginn des Jahrhunderts war. Zudem hob der Gesetzgeber in den 1970er Jahren zahlreiche rechtliche Vorschriften zur Reglementierung der Sexualität auf (Entkriminalisierung von Kuppelei und Ehebruch) bzw. reformierte diese (z. B. Homosexualität, Senkung des Alters der Volljährigkeit und des Schutzalters). Jugendliche gewannen damit ein gehöriges Maß an Autonomie. Dies ist ein wesentlicher Unterschied. Labels wie »pervers« und »abnormal« wurden durch die empirische Sexualforschung zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgelöst. Was noch und was nicht mehr »normal« war, wurde nunmehr empirisch definiert als das, was viele bzw. nur wenige taten. Solange alle Involvierten gleichberechtigt, ohne Machtgefälle und aus freien Stücken zustimmten, war keine sexuelle Praktik mehr moralisch verboten. Man kann dies als »liberal« bezeichnen. Aber der Druck, unter den Jugendliche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerieten, alles verhandeln zu müssen, sich über den Sex ständig informieren und die Techniken der Liebe und des Sexes beherrschen zu müssen, darf nicht unterschätzt werden. Wer nunmehr versagte, keinen Erfolg in der Liebe hatte, ungewollt schwanger wurde oder sich mit einer Geschlechtskrankheit ansteckte, der war selbst verantwortlich, denn er beherrschte nicht die Technologien des Selbst, um zum individuellen sexuellen Glück zu finden. Sexualität war, spätestens seit Ende der 1960er Jahre, eingebunden in eine neoliberale Gouvernementalitätsstrategie, welche die Verant-

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wortung zurück auf das Individuum verlagert hatte.189 Der Sex hatte sich gewandelt. Er war aber 1968 nicht einfacher geworden als für Jugendliche zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Was sich verändert hatte, war das Koordinatensystem, in dem Jugendliche den Sex aushandeln konnten und mussten. Das Mehr an Autonomie kam zum Preis einer erheblich gewachsenen Verantwortung für sich selbst und den Partner bzw. die Partnerin. Meiner Ansicht nach sind daher die Befreiungsmetapher und die Liberalisierungsrhetorik für das historische Verständnis ungeeignete oder zumindest nur sehr eingeschränkt brauchbare analytische Konzepte.

189 Vgl. Sauerteig: Fear (wie Anm. 118), S. 217f.

Kulturelle Ausdrucksformen

Gunter Mahlerwein

Vom Zupfgeigenhansl zu Zupfgeigenhansel. Brüche und Kontinuitäten zwischen Wandervogel und Deutschfolkbewegung der 1970er Jahre

Im Jahr 1977 gab der »Verein Jugendhaus Altrhein« einen Film in Auftrag, um den Ablauf des von ihm seit 1970 jährlich veranstalteten Open Air Festivals auf dem Sportplatz der rheinland-pfälzischen Landgemeinde Eich zu dokumentieren. Bei diesem kleinen Festival, das im wesentlichen lokale Bands aus dem Bereich der Rockmusik präsentierte, traten in jenem Jahr gleich mehrere Gruppen auf, die sich in Repertoire und Instrumentarium deutlich vom Rockmusikkontext abhoben. Der Film zeigt Ausschnitte aus dem Programm einer Heidelberger Band namens »Larynx«, dann folgt der Auftritt einer aus einer lokalen »Jugendzentrums-Songgruppe« hervorgegangenen Gruppe namens »Rapunzel«.1 Trotz aller akustischen Probleme des nicht synchron geschnittenen FilmSoundtracks ist unschwer zu hören, dass hier deutsche Lieder mit altertümlichen Texten gesungen und mit einem fast ausschließlich nicht-elektrischen Instrumentarium begleitet wurden. Die Eingabe von Textfragmenten in digitalen Suchmaschinen zeigt schnell, dass es sich bei den Liedern um musikalischtextliches Material unterschiedlichen Alters handelt. »Wo soll ich mich hinkehren«, das erste kurze Beispiel aus dem Repertoire der Gruppe »Larynx«, wird als »Landsknechtlied« in das 16. Jahrhundert datiert, ihre Ballade vom Schinderhannes stammt aus dem 19. Jahrhundert, der von »Rapunzel« vorgetragene »Markgraf über Rhein« ist in Liedersammlungen des 19. Jahrhunderts enthalten, bezieht sich aber auf die Vormoderne.2 1 Der von dem Fotografen Peer Raaz gedrehte Film ist online einzusehen: https://www.youtube. com/watch?v=jI94yA-ghW8 [14. 09. 2018], Auftritt »Larynx« ab Min. 16.02, Auftritt »Rapunzel« ab 44.27. Zur Geschichte des Open Air Festivals und des Films vgl. Gunter Mahlerwein: Wie Woodstock aufs Land kam. Medienpraktiken einer ländlichen Jugendkultur der siebziger Jahre, in: Clemens Zimmermann, Gunter Mahlerwein, Aline Maldener (Hg.): Landmedien. Kulturhistorische Perspektiven auf das Verhältnis von Medialität und Ruralität im 20. Jahrhundert (Jahrbuch für die Geschichte des ländlichen Raumes 2018), Innsbruck u. a. 2018, S. 258–280. 2 Eine einfache Möglichkeit der Recherche bietet das Volksliederarchiv : https://www.volkslie derarchiv.de/ [27. 02. 2019].

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Den teilweise mehrstimmigen Gesang begleiten die Musiker und Musikerinnen, drei junge Männer im ersten Beispiel, drei Frauen und zwei Männer im zweiten Fall, mit verschiedenen Gitarren, Mandolinen, Blockflöte, Geige, fünfsaitigem Banjo, Glockenspiel, Dulcimer (einem sowohl im Mittelalter als auch in den amerikanischen Appalachen heute noch verwendeten Saiteninstrument) und E-Bass. Die Reaktion des Publikums war – zumindest am Applaus bei »Larynx« wird das deutlich – durchaus wohlwollend. Sieht man sich die weiteren beim Festival aufgetretenen Bands in dem 47 Minuten langen Film an, dann zeigt sich die Dominanz von Gruppen, die lautstark und mit englischen Texten verschiedene Spielarten der Rockmusik der 1970er Jahre, Blues, West Coast oder Fusion, präsentieren. Die Gegensätzlichkeit der musikalischen Darbietung wird allerdings durch die Übereinstimmungen im Kleidungs- und Frisurstil der Musiker etwas abgemildert, die sich nicht grundsätzlich unterscheiden. Auch vom Alter her scheinen die Akteure nicht weit auseinander zu liegen, der überwiegende Teil dürfte sich im Altersspektrum zwischen 18 und 25 Jahren bewegt haben. Auffällig allerdings ist, dass zwar in nur einer der Rockbands eine Frau als Sängerin agiert, bei »Rapunzel« aber immerhin die Mehrheit der Bandmitglieder weiblich ist. Die parallele Präsenz zweier Musikstile könnte auf den ersten Blick kaum gegensätzlicher ausfallen: einerseits die durch Lautstärke und elektrisch verursachte Soundeffekte sich definierende, auf der Basis von durch Bass und Schlagzeug stark betonter, bluestypischer ternärer Rhythmik aufbauende Rockmusik nach angloamerikanischem Vorbild, andererseits das eher im oberen Frequenzbereich sich bewegende Ideal eines »unverfälschten«, leisen Klanges, produziert von »akustischen«, teilweise exotisch anmutenden Instrumenten zur harmonisch-rhythmischen Unterfütterung Jahrhunderte alter deutschsprachiger Texte und Melodien. Trotzdem – und das zeigt eben nicht zuletzt diese filmische Dokumentation – wurden in den 1970er Jahren beide Spielarten als Ausprägungen jugendkulturell konnotierter Popularmusik verstanden. Um 1977 befand sich die Deutschfolkbewegung – und um deren Vertreter handelte es sich bei den hier vorgestellten Beispielen – auf ihrem Höhepunkt. Sicher nur eine Minderheit der jugendlichen Konsumenten popmusikalischer Produkte ansprechend, hatte seit den späten 1960er Jahren eine nicht genau zu beziffernde Anzahl von Einzelinterpreten und Musikgruppen in der Bundesrepublik und – zeitlich etwas versetzt – auch in der DDR begonnen, traditionelle deutschsprachige Lieder aus vergangenen Jahrhunderten zu recherchieren, zu arrangieren, in Konzerten vorzutragen und auf Schallplatte zu verbreiten. Etwa hundert Langspielplatten mit traditionellen Liedern und Tanzmusikmelodien entstanden zwischen den frühen 1970er und den frühen 1980er Jahren, darunter neben vielen in Kleinauflagen produzierten Tonträgern auch ausgesprochene Verkaufserfolge wie die Platte »Volkslieder 1« des Duos »Zupfgei-

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genhansel«, die etwa 300.000 Mal verkauft wurde, und eine sicher auch in die Hunderttausende gehende Auflage der »Volkssänger«-LP des Liedermachers Hannes Wader.3 Bis Mitte der 1970er Jahre waren über hundert Folkclubs eröffnet worden. Etwa 50 jährliche Folkfestivals wurden in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre gezählt, deren Besucherzahlen ständig stiegen. In Tübingen wurden 1977 etwa 9.000 Besucher gezählt, 8.000 in Ingelheim im Jahr 1980.4 Dass sich die Begeisterung für deutschsprachige Lieder nicht nur auf passives Konsumieren bei Konzerten und am Plattenspieler beschränkte, zeigt sich am vom Duo »Zupfgeigenhansel« herausgegebenen Liederbuch »Es wollt ein Bauer früh aufstehen«, das in 250.000 Exemplaren verkauft wurde, aber auch an der Neuauflage der über 1.000-seitigen Sammlung »Volkslieder demokratischen Charakters« des DDR-Volksliedforschers Wolfgang Steinitz durch den Verlag »Zweitausendeins« 1979, der das Buch exklusiv vertrieb.5 Gewiss ist die hier an quantitativen Daten gemessene Popularität des Phänomens weit entfernt von der anderer Sparten der Populärmusik der 1970er Jahre, andererseits zeigt sich aber, dass es sich um eine nicht so kleine Nische im populärmusikalischen Spektrum jener Zeit handelte, die auch auf einige Beachtung in der zeitgenössischen Publizistik und Wissenschaft stieß. Schon in der Presseberichterstattung der 1970er Jahre wurden Parallelen der neuen »Volkslied-Renaissance« zu der um 1900 gesehen: »Der Wandervogel erhob sich, einem Phönix gleich, aus der Asche«, beobachtete Thomas Rothschild in einem Zeit-Artikel im Juli 1976. Der »Zupfgeigenhansl« sei zwar tot, meldete der Spiegel 1977, um ihn aber dennoch mit den in diesem Sommer stattfindenden Festivals in Verbindung zu bringen.6 Wissenschaftlich beschäftigten sich zuerst die professionellen Volksliedforscher aus der Volkskunde bzw. Kulturanthropologie mit dem Phänomen. So fragte bereits 1977 Barbara James, Mitarbeiterin des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg, ob die »derzeitige Folkwelle« ein »Ausläufer der Wandervogelbewegung« sei. Namen und Reper-

3 Florian Steinbiß: Deutsch-Folk: Auf der Suche nach der verlorenen Tradition, Frankfurt a. M. 1984, S. 9; »Zupfgeigenhansel – Ein Wiedersehen nach dreißig Jahren«, Dokumentation von Kornelius Friz, verfügbar unter https://literaturinstitut-hildesheim.de/thomasfriz, [15. 09. 2018]. 4 Thomas Geyer: Besucherbefragung auf dem 3. Tübinger Folk- und Liedermacherfestival. Bericht über ein studentisches Arbeitsprojekt, in: Jahrbuch für Volksliedforschung, 1978, Nr. 23, S. 69–102, hier S. 69; Ina Kuhn: »Aufbruch, Freiheit, Selbstbestimmung« – zu Kontinuität und Wandel des Ingelheimer Eurofolk Festivals, Masterarbeit Mainz 2016, S. 35. 5 Wolfgang Steinitz: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Bde. I und II als Reprint in einem Band, Berlin (West) 1979 [zuerst: Berlin-Ost 1955, 1962]. 6 Thomas Rothschild: Die Wiederkehr des Volksliedes, in: Die Zeit, 1976, Nr. 32, S. 29f.; Artikel »Folk auf Burg und Bergen«, in: Der Spiegel, 1977, Nr. 23, S. 176.

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toire der Bands erinnerten sie schon 1976 an die Wandervogelgruppen.7 Eine »neue Jugendbewegung« nahm ihr Kollege Otto Holzapfel wahr.8 In seinem aus einer Radiosendung hervorgegangenen Buch zum »Deutsch-Folk« sah der Journalist Florian Steinbiß zwar bei allen Parallelen auch die Differenzen zwischen Wandervogel und Folkbewegung der 1970er Jahre, unterstrich aber auch den Zusammenhang, indem er mit Verweis auf zeitgenössische Fotos auf die Ähnlichkeiten von Heidelberger Wandervögeln 1908 und musizierenden Teilnehmern des Folk-Festivals in Ingelheim 1974 aufmerksam machte.9 Tatsächlich scheinen die Verbindungen auf der Hand zu liegen. Die musikalische Praxis verbindet ganz offensichtlich die Jugendbewegung der Jahrhundertwende mit der »Folkszene« – wie sie sich selbst nannte – der 1970er Jahre. Das Singen eines Repertoires, das sich teilweise aus Sammlungen oral tradierter, im 19. Jahrhundert schriftlich aufgezeichneter Lieder, zu einem großen Teil auch aus bereits in früheren Jahrhunderten gedruckten Publikationen speist, die Liedbegleitung mit der Gitarre und wenigen anderen Instrumenten und schließlich das häufig im Freien und in kollektiven Zusammenhängen stattfindende Musizieren lassen sich bei beiden Bewegungen beobachten. Vielfältige Parallelen dürften im Detail aufzuspüren sein. Als Beispiel sei nur an den Namen des erfolgreichsten Folkensembles »Zupfgeigenhansel« erinnert, das sich nach dem bekanntesten Liederbuch des Wandervogels benannte, wenn auch sich mit einem zusätzlichen Buchstaben leicht distanzierend. In diesem WandervogelLiederbuch wiederum sind mit dem Landsknechtlied und der Ballade von der Markgrafentochter zwei von drei der eingangs angeführten Beispiele zu finden.10 Ganz offensichtlich handelt es sich beim »Folkrevival« der 1970er Jahre (um einen im internationalen Sprachgebrauch gängigen Begriff für dieses Phänomen zu nutzen) um ein transnationales Phänomen, mit je national oder regional eigenen Aneignungsformen. Die Frage nach Brüchen und Kontinuitäten zwischen Wandervogel und Deutschfolk wäre also in abgewandelter Form zu stellen: Welche Rolle spielte die musikalische Praxis der »alten« Jugendbewegung in der west- (und ost-) deutschen Ausprägung einer international auszumachen-

7 Barbara James: Plattenbesprechung: Fiedel Michel, Fiedel Michel 4, Singspiel, in: Jahrbuch für Volksliedforschung, 1976, Nr. 21, S. 239f.; Barbara James: Versuch einer Beschreibung der deutschen Folkszene ’76, in: Jahrbuch für Volksliedforschung, 1977, Nr. 22, S. 113–118, S. 117. 8 Otto Holzapfel: Plattenbesprechung: Hein und Oss Kröher singen Volkslieder, in: Jahrbuch für Volksliedforschung, 1977, Nr. 22 , S. 203f. 9 Steinbiß: Deutsch-Folk (Anm. 3), S. 22f. 10 Vgl. Hans Breuer (Hg.): Der Zupfgeigenhansl, Leipzig 901920, S. 68, 202.

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den Neuinterpretation tradierter Liedbestände in einem populärmusikalischen Kontext?11 Im Folgenden sollen daher zunächst der Umgang des Wandervogels mit traditionellen Liedern und dessen Folgen für die musikalische Praxis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Danach wird der Verlauf des Folkrevivals in transnationaler Perspektive skizziert, um im Anschluss die spezifische Entwicklung der Deutschfolkbewegung in der Bundesrepublik12 in den Blick zu nehmen.

Das »konstruierte Volkslied« von der Romantik bis zum Wandervogel Der Volksliedbegriff sollte nach Eckhard John in »einer kritischen Popularmusikforschung« keine Verwendung finden, da er irreführend hinsichtlich der »sozialen Trägerschaft«, ideologisch aufgeladen und als Oberbegriff für »traditionelle und populäre Lieder« unbrauchbar sei.13 Der im Folgenden dennoch verwendete Terminus meint daher immer das seit Herder und den romantischen sowie wissenschaftlichen Annäherungen des 19. Jahrhunderts so verstandene Text-Ton-Gebilde, dessen Autorenschaft nicht bekannt ist und das aus frühneuzeitlichen Liedersammlungen extrahiert oder von Sammlern im 19. und frühen 20. Jahrhundert in zumeist ländlichen Regionen aus dem Repertoire nicht-professioneller Sängerinnen und Sänger aufgezeichnet wurde. Der Konstruktcharakter als »altes Volkslied« im Sinne einer invented tradition ist dabei aufgrund der Auswahl, häufig genug auch der textlichen und musikalischen Bearbeitung durch die bildungsbürgerlichen Sammler evident.14

11 Zur transnationalen Dimension von Populärkultur vgl. Dietmar Hüser (Hg.): Populärkultur transnational. Lesen, Hören, Sehen, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre, Bielefeld 2017. 12 Die sehr aktive Folkszene der DDR kann in diesem Aufsatz leider nicht berücksichtigt werden, vgl. hierzu: Wolfgang Leyn: Volkes Lied und Vater Staat: die DDR-Folkszene 1976–1990, Berlin 2016. 13 Eckhard John: Erfundene Tradition. Volkslieder als nationale Stereotypen, in: Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.): Typisch Deutsch: (Eigen-)Sichten auf populäre Musik in diesem unserem Land 2014 (Beiträge zur Popularmusikforschung 41), Bielefeld, S. 63–75, S. 74. 14 Lutz Röhrich: Die Textgattungen des popularen Liedes, in: ders.: Gesammelte Schriften zur Volkslied- und Volksballadenforschung, Münster 2002, S. 3–22, S. 18–22; Nils Grosch: Über das Alter der Populären Musik und die Erfindung des »Volkslieds«, in: Sabina Meine, Nina Noeske (Hg.): Musik und Popularität. Aspekte zu einer Kulturgeschichte zwischen 1500 und heute, Münster 2011, S. 59–76, S. 60–68.

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In der musikalischen Praxis des Wandervogel, die v. a. durch gemeinschaftlichen, häufig gitarrenbegleiteten Gesang gekennzeichnet war,15 spielte dieses Konstrukt »altes Volkslied« bereits nach wenigen Jahren eine bedeutende Rolle, konnte in ihm doch der gleiche zivilisationskritische Gestus zum Ausdruck gebracht werden, den man auch dem temporären Ausbrechen aus der städtischen Umgebung in den ländlichen Raum zuschrieb. Der Suche nach dem »Wahren, Echten« in der Natur und nach einer vermeintlich vormodernen Ganzheitlichkeit in Teilen der ländlichen Welt entsprach die Projektion auf eine entsprechend imaginierte Vergangenheit. In der Aneignung des Liedmaterials aus den Sammlungen des 19. Jahrhunderts und in der mit den ländlichen Exkursionen verbundenen Möglichkeiten des eigenen Sammelns popularen Liedmaterials konnte sich die noch junge Bewegung ein Alleinstellungsmerkmal in der Vielfalt singender Gemeinschaften sichern. Denn auch außerhalb des Chorwesens kann von einer regelrechten Singbewegung im späten 19. Jahrhundert gesprochen werden. Deutlich wird das etwa an der Vielzahl und der bis in die Millionen gehenden Auflagen der publizierten Liederbücher. Allein für den Zeitraum zwischen 1890 und 1910 können fast 250 Neuerscheinungen oder Wiederauflagen gedruckter Liedersammlungen für die verschiedensten Zielgruppen im Kaiserreich nachgewiesen werden.16 Viele dieser Bücher wurden mehrfach, einige über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder aufgelegt, so dass teilweise sehr hohe Auflagen erreicht wurden. »Köhlers Taschenliederbuch für das deutsche Volk« etwa mit »500 der beliebtesten Volks-, Studenten-, Wander- Trink-, Jäger-, Turner-, Soldaten-, Feuerwehr-, Liebes-, Post- und Telegraphen-, Radfahrer-, Kegler-, Vereins-, humoristische etc. Lieder(n)«, das offensichtlich ganz verschiedene Zielgruppen adressierte und Bedürfnisse befriedigte, erreichte um 1905 bereits eine Auflage von 800.000, bis 1914 wurde es mehr als 1,5 Millionen Mal abgesetzt.17 Eine ähnlich weite Verbreitung hatten im 19. Jahrhundert schon Ludwig Erks Sammlungen für den Volksschulgebrauch, 15 Kirstin Schreiber : Kulturkritik in der deutschen Jugendbewegung. »Wandervogel« 1896–1914, Diss. Universität Siegen 2014, verfügbar unter : https://dokumentix.ub.uni-sie gen.de/opus/volltexte/2015/871/pdf/schreiber.pdf [28. 02. 2019], S. 58–84; Jürgen Reulecke: »Wir wollen zu Land ausfahren«, in: G. Ulrich Großmann u. a. (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung (Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg), Nürnberg 2013, S. 34f.; Barbara Stambolis: Autonomie und Selbstbestimmung. Der Wandervogel vor dem Ersten Weltkrieg, in: Großmann u. a.: Aufbruch, S. 36–42; Helmut König: Singen in den Bünden. Der Zupfgeigenhansl und seine Nachfolger. Drei Phasen der Jugendbewegung im Spiegel repräsentativer Liederbücher, in: Ulrich Herrmann (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim u. a. 2006, S. 232–275, S. 233. 16 Nach einer Recherche im Bibliotheksbestand des Zentrums für Populäre Kultur und Musik/ Freiburg, http://swb.bsz-bw.de/DB=2.316/ [28. 09. 2018]. Liedersammlungen für Gesangvereine wurden hierbei nicht berücksichtigt. 17 Angaben nach: Online-Katalog des Zentrums für Populäre Kultur und Musik.

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etwa der »Liederkranz«, drei Liederhefte, die 127 Auflagen mit 700.000 Exemplaren erreichten, oder das »Singvögelein«, das bis zum Ende des Jahrhunderts 1,2 Millionen Mal verkauft wurde.18 Auch wenn diese Liederbücher keine Auskunft über die Praxis des Singens in den verschiedenen Gruppen bieten, so dürfte ihre massenmediale Verbreitung doch als Hinweis auf intensives Singen in etlichen sozialen Konstellationen und Situationen zu verstehen sein. Der 1909 von Hans Breuer herausgegebene »Zupfgeigenhansl« war nicht das erste Liederbuch des Wandervogel und er blieb auch nach seinem Erscheinen trotz einer an die Million reichenden Auflage nicht ohne Alternativen.19 Anders als bei den anderen Liederbüchern der Wandervögel war es das Programm des »Zupfgeigenhansl«, ausschließlich »alte Volkslieder« aufzunehmen.20 Die Begründung Breuers war nicht ästhetisch, sondern gemeinschaftsideologisch geprägt. Das Volkslied sei Ausdruck des »ganzen, in sich noch geschlossenen Menschen«, der noch auf dem Land, nicht mehr aber in der städtischen Moderne anzutreffen sei. Erst durch »neue Kriegsnöte und nationale Sturmfluten«, also durch die Wiederherstellung von Volk als Gemeinschaft, könnten wieder »neue Volkslieder« hervorgebracht werden, so Breuer 1913. Die Umsetzung seines »alte Volkslieder«orientierten Programmes scheint allerdings weniger konsequent. Zumindest in der bis 1913 stark erweiterten Auflage werden keineswegs ausschließlich jahrhundertealte Lieder präsentiert. So finden sich auch Lieder, die Breuer selbst als »volkstümlich« charakterisiert, etwa Vertonungen von Friedrich Silcher, oder Soldatenlieder von den Befreiungs- bis zu den Einigungskriegen. Der Erfolg des »Zupfgeigenhansl« lässt sich aus verschiedenen Faktoren erklären: Die vielseitige Verwendbarkeit des Liedmaterials, das zu einem beträchtlichen Teil erstmals für ein allgemeines Publikum erschlossen wurde, der trotz aller Inkonsequenzen verglichen mit den anderen Liederbüchern der Zeit glaubhaft erscheinende Anspruch, einen Kanon »wahrer, echter Volkslieder« zu präsentieren, vielleicht auch sein auf dem Buchmarkt gut erkennbarer und sich von der Konkurrenz abhebender Name, dessen Markencharakter durch die von Generationen Jugendbewegter gebrauchte Abkürzung »Zupf« noch gesteigert wurde.21 18 Sina Hosbach: Das Liederbuch in der Grundschule: Eine multidimensionale Bestandsaufnahme, o. O. 2014, S. 52–54. 19 Wolfgang Kaschuba: Volkslied und Volksmythos. Der »Zupfgeigenhansl« als Lied- und Leitbuch der deutschen Jugendbewegung, in: Jahrbuch für Volksliedforschung, 1989, Nr. 34, S. 41–55. 20 Die im Folgenden ausgewerteten Vorworte finden sich in: Breuer: Zupfgeigenhansl (ohne Seitenzählung); vgl. auch Schreiber : Kulturkritik (Anm. 15), S. 184–190. 21 Vgl. etwa die Erinnerungen Carlo Schmids, zitiert nach: Wolfgang Lindner : Jugendbewegung als Äußerung lebensideologischer Mentalität. Die mentalitätsgeschichtlichen Präferenzen der deutschen Jugendbewegung im Spiegel ihrer Liedertexte, Hamburg 2003, S. 24, oder das Vorwort des »Liederbuchs der Arbeiterbewegung«, ebd., S. 83.

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Nach dem Ersten Weltkrieg sind zwei unterschiedliche, aber personell und ideell verknüpfte Entwicklungen auszumachen: zum einen die Liedkultur der bündischen Gruppierungen, in denen die »alten Volkslieder« Breuerscher Prägung zugunsten von Fahrten- und neuen Wanderliedern zurückgedrängt wurden,22 zum anderen die Jugendmusikbewegung, die den Kunstcharakter von Musik stärker betonte und ein Spektrum umfasste, das von sozialdemokratischen Kultusministern bis zu offen völkischen Gruppen reichte.23 Die Förderung aktiven Musizierens in Schulen und Jugendmusikschulen, die von der Jugendmusikbewegung selbst herausgegebenen oder beeinflussten Liederbücher24 und die Wiederentdeckung sowie der musikpädagogische Einsatz alter Instrumente, insbesondere der Blockflöte, haben die Musikerziehung und den Umgang mit dem Volkslied bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt.25 Die ideologische Anschlussfähigkeit großer Teile der bündischen Jugend und der Jugendmusikbewegung an den Nationalsozialismus führte bei allen Verwerfungen, die zwischen einzelnen Bünden und deren Angehörigen und dem NS-System zu beobachten sind, doch zu einer weitgehenden Übernahme des von den jugendbewegten Liedersammlern zusammengestellten Materials, wenn auch etliche der neueren Fahrtenlieder mit der Zeit weichen mussten.26 Der Zupfgeigenhansl erschien noch 1940. Die Volkslied-Ideologie des Nationalsozialismus weist trotz aller Unterschiede Ähnlichkeiten mit der Hans Breuers auf. So mutet die Aussage Adolf Seiferts in seinen Ausführungen über »Volkslied und Rasse« von 1940, eine zukünftige Volksliedblüte sei erst dann wieder möglich, wenn »es gelinge, aus der desorientierten Masse wieder ein homogenes Volk zu formen«, wie eine Fortschreibung des Breuerschen Vorwortes von 1913 an.27

22 König: Singen (Anm. 15), S. 7f. 23 Zum Folgenden v. a. Dorothea Kolland: Die Jugendmusikbewegung, in: Diethard Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen, Wuppertal 1998, S. 379–395; Markus Zepf: Musik bewegt. Zu Lied und Musik der Jugend- und Singbewegung bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Großmann: Aufbruch (Anm. 15), S. 67–72. 24 Nils Grosch: Das »Volksliederbuch für die Jugend«. Volkslied und Moderne in der Weimarer Republik, in: Lied und populäre Kultur, 2003, Nr. 48, S. 207–238. 25 Zum Einfluss der Jugendmusikbewegung auf die Kirchenmusik und die Musikwissenschaft vgl. Rainer Bayreuther: Die Situation der deutschen Kirchenmusik um 1933 zwischen Singbewegung und Musikwissenschaft, in: Archiv für Musikwissenschaft, 2010, Nr. 67, S. 1–35, S. 14–19. Dass sich die beiden Ausprägungen jugendbewegter Musikpraxis personell und ideell vielfach überschnitten, ist Thema eines Dissertationsprojektes von Franziska Meier, die erste Ergebnisse vorstellt in: dies.: Ideen- und Kulturtransfer durch das Liedgut der bündischen Jugend, in: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde, 2017, Nr. 58, S. 7–31. 26 Arno Klönne: Die Bündischen unter dem Druck der Politisierung, in: Großmann: Aufbruch (Anm. 15), S. 113–119, S. 117f. 27 Gisela Probst-Effah: Der Einfluß der nationalsozialistischen Rassenideologie auf die deutsche Volksliedforschung, in: Günter Noll (Hg.): Musikalische Volkskultur und die politische Macht, Essen 1994, S. 382–401, Zitat S. 387.

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Die Wiedergründungen bündischer Gruppen nach 1945 führten noch einmal zu einer Blütezeit des entsprechenden Liedmaterials. Dabei wurden neben den alten und neuen Fahrtenliedern auch Volkslieder aus den Wandervogelzeiten in das Repertoire aufgenommen. Allerdings kann gerade im Bereich der Volkslieder von einer Internationalisierung des Repertoires und einer Tendenz zur Abkehr vom »Zupfgeigenhansl« gesprochen werden.28 Die bündischen Lieder andererseits wurden weit über die Gruppen hinaus durch konfessionelle Jugendgruppen und Schulliederbücher verbreitet, wie etwa der Erfolg der »Mundorgel« des CVJM zeigt. In der Schulmusik waren durch den anhaltenden Einfluss der Akteure der Jugendmusikbewegung Teile des alten Volksliedrepertoires noch präsent. Erst der Einfluss der Kritik Theodor W. Adornos an der Jugendmusikbewegung und der musischen Bildung sowie neue musikpädagogische Konzepte führten langfristig zu Veränderungen in der Lehrerausbildung. Zudem ließen die populärmusikalischen Entwicklungen der späten 1950er und 1960er Jahre die Beschäftigung mit Volksliedern auch in der Schule als nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Mindestens bis in die späten 1960er Jahre, je nach Lehrergeneration auch darüber hinaus, war die schulische Singpraxis zumindest im Elementarbereich aber noch zu einem Großteil vom letztlich durch die Jugendbewegung und ihre Nachfolger überlieferten Material geprägt.29

Volkslieder als Folksongs – transnationale Reanimationen eines umstrittenen Genres Die Festivals auf der Burg Waldeck hat Detlef Siegfried in ihrer Bedeutung für die Jugendkultur der 1960er Jahre ausführlich beschrieben.30 Hier trafen verschiedene Traditionslinien zusammen: einerseits die aus dem eher linken Spektrum der bündischen Jugend stammenden Initiatoren des Festivals, deren Gruppierungen sich teilweise schon vor 1933 internationale Lieder angeeignet hatten. 28 König: Singen (Anm. 15), S. 7. 29 Karl-Jürgen Kemmelmeyer : Die Geschichte der Musikpädagogik in Deutschland. Vortrag zur Veröffentlichung im Kongressbericht der Third Session of the Academic Council on History of Music Education October 2012, verfügbar unter : http://www.prof-kemmelmeyer.de/docs/ geschichte-Musikpaedagogik-1945-93-Entstehung-ifmpf-KJK-2012.pdf [01. 03. 2019], S. 11f. 30 Detlef Siegfried: Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, 22008, S. 571–600. Vgl. außerdem: Oss und Hein Kröher : Rotgraue Raben. Vom Volkslied zum Folksong, Heidenheim/Brenz 1969, S. 57–99; Steinbiß: Deutsch-Folk (Anm. 3), S. 33–38; Irmgard Klönne: »Wo sind unsre Lieder, unsre alten Lieder?« Vom Pfadfinderinnenbund zu den Waldeckfestivals, in: Dieter Baacke (Hg.): Handbuch Jugend und Musik, Opladen 1998, S. 173–191, S. 189–191; Richard Nate: »Nachsehen, was mit der alten Linde war …«. Zum Umgang mit dem Volkslied in der Folkbewegung der sechziger und siebziger Jahre, in: Jahrbuch für Volksliedforschung, 1994, Nr. 39, S. 76–95, S. 76.

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Andererseits traten aber auch Sänger und Organisatoren auf, die aus dem Bereich der Populärmusik kamen und von amerikanischen und britischen Folksängern sowie französischen Chansonniers angeregt wurden. Wesentlich für die Waldeck-Festivals war die Einbeziehung internationaler Interpreten. Der Unterschied der Veranstaltung, die von ihren Protagonisten zum »Bauhaus der europäischen Folklore« oder »Gruppe 47 der Liedermacher« überhöht wurde, zur bisherigen Singpraxis in den Bünden war, dass es sich hier nicht um Gemeinschaftsgesang handelte, sondern um individuelle Vorträge, bei denen das Publikum teilweise mitsingend und vor allem mitdiskutierend partizipieren konnte. Dabei dominierte die aus der populärmusikalischen Praxis übernommene Auftrittsituation mit Bühne, Verstärkeranlage und sogar Rundfunkmitschnitt. Nicht nur die explizit linke Ausrichtung des Festivals, sondern gerade auch dieser Aspekt der Rezeption geriet in die Kritik des konservativeren Teils der Nerother Wandervögel.31 Die ideologischen Kämpfe der Studentenbewegung überlebte das Waldeckfestival nicht, 1969 fand das Festival nach den ausufernden Diskussionen im Jahr 1968 zum letzten Mal statt. Die Sänger, die auf der Waldeck bereits mit traditionellen deutschen Liedern auftraten – Karl Wolfram, Peter Rohland, Hein und Oss Kröher –, können zweifelsohne als Pioniere der Deutschfolkbewegung angesehen werden.32 Sie begannen gerade auch in der Auseinandersetzung mit der internationalen Folklore ein Liedrepertoire zu erschließen, das politisch über den Verdacht des Reaktionären erhaben war : Landstreicherballaden, jiddische Lieder, Lieder der 1848er Bewegung. Mitte der 1960er Jahre lösten diese Bemühungen aber noch kaum Nachahmung aus. Selbst auf der Waldeck scheinen sie nicht in der ersten Reihe gestanden zu haben.33 So konnte Degenhardt 1968 in seinem bekannten, in keiner Abhandlung zum Thema fehlenden Lied nach den »alten Liedern« fragen und trotz der Bemühungen von Kröher, Rohland und Wolfram feststellen, dass nach Schulgesang, Wandervogel und Nationalsozialismus diese Art Musik nicht mehr wiederbelebbar sei.34

31 Siegfried: Time (Anm. 30), S. 571–573. 32 Steinbiß: Deutsch-Folk (Anm. 3), S. 36f.; Kröher : Raben (Anm. 30), S. 57–61; Holger Böning: Peter Rohland, die Waldeckfestivals und das politische Lied der Revolution von 1848, Vortrag im Willy-Brandt-Haus Berlin am 15. September 2011, verfügbar unter : https://www. peter-rohland-stiftung.de/index.php [01. 03. 2019]; Eckard Holler : Peter Rohland. Volksliedsänger zwischen bündischer Jugend und deutschem Folkrevival, puls (Dokumentationsschrift der Jugendbewegung), 2005, Nr. 24. 33 Nate: Volkslied (Anm. 30), S. 76. 34 Gisela Probst-Effah: Folk – Folklore – Volkslied, in: Ruth-E. Mohrmann, Volker Rodekamp, Dietmar Sauermann (Hg.): Volkskunde im Spannungsfeld zwischen Universität und Museum. Festschrift für Heinrich Siuts zum 65. Geburtstag, Münster 1997, S. 373–380, hier S. 377f.

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Dass genau dieses dann ein paar Jahre später doch geschah, ist ohne die Impulse der Waldeck und speziell der genannten Sänger nicht zu erklären. Dass es aber in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre noch nicht möglich war, hatte mehrere Gründe. Zum einen kam 1968 dazwischen. In den sich radikalisierenden Diskussionen innerhalb der intellektuellen Jugend hatten Rückbesinnungen auf – zudem faschismusverdächtige – Traditionen keinen Platz. Zweitens scheint das Volksliedrepertoire für die Jugendlichen der 1960er Jahre, die die von Degenhardt angesprochenen, negativ bewerteten Praktiken des Volksliedsingens teilweise noch erfahren hatten, jugendkulturell kaum attraktiv gewesen zu sein, gerade vor dem Hintergrund der mit Beat und Rock zur Verfügung stehenden Alternativen. Auch die Abneigung gegenüber der kommerziellen »volkstümlichen Musik« der Elterngeneration dürfte eine Rolle gespielt haben. Dass die Beschäftigung mit traditionellem Liedmaterial dann erst in den frühen 1970er Jahren einsetzte, kann als spezifisch westdeutsche Entwicklung angesehen werden. Denn anderswo war diese Entwicklung deutlich früher zu beobachten. Auch in den USA hatte sich bereits im 19. Jahrhundert ein Interesse für die »Musik des Volkes« gezeigt, das sich in Liedersammlungen und in Adaptionen popularer Stilelemente in der Kunstmusik geäußert hatte. Bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurden Feldaufnahmen gemacht, die bald den Kern des Repertoires einer eher urbanen, politisch links ausgerichteten Singbewegung in den 1930er und 1940er Jahren, des ersten sogenannten Folkrevivals, lieferten. Ein zweites Folkrevival setzte in den späten 1950er Jahren mit zunächst politisch weniger eindeutigen Interpreten, aber erheblichem kommerziellen Erfolg ein. Träger dieser Bewegung waren überwiegend weiße Studenten, die sich nun ursprünglich aus ländlichen Regionen stammenden Musikstilen wie Blues oder Bluegrass verschrieben. Obwohl Folk zweifelsohne als eine Spielart moderner Populärmusik zu verstehen ist und sich über die gleichen Medien und Organisationsformen wie Jazz und Rock ’n Roll verbreitete, wurde in der überwiegend akademischen Folkszene dennoch der Anspruch einer antikommerziellen, oppositionellen Musikkultur mit hohem Authentizitäts- und Distinktionspotenzial aufrechterhalten. Durch die Verbindungen vieler Akteure mit der Bürgerrechtsbewegung gewann dieser Anspruch an zusätzlicher Legitimation.35 35 Bernd Ostendorff: Das amerikanische Folksong Revival: Ein Rückblick, in: Jahrbuch für Volksliedforschung, 1998, Nr. 43, S. 93–99; Robert Cantwell: When we were good. The Folk Revival, Cambridge/Massachusetts 1996; Stephen Moore: The New Traditionalists. Folk Music, Authenticity and Modernity in Cold War America, 1958–1962, Thesis M.A. California State University 2011, verfügbar unter : https://pqdtopen.proquest.com/doc/890203244. html?FMT=ABS [01. 03. 2019]; Stephen Fox Lorenz: Cosmopolitan Folk: The Cultural Politics of the North American Folk Music Revival in Washington, DC, Diss. Washington 2015, verfügbar unter : https://pqdtopen.proquest.com/doc/1524722519.html?FMT=ABS [01. 03. 2019].

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In verschiedenen europäischen Ländern und Regionen lassen sich je eigene Adaptionen dieses amerikanischen Folkrevivals beobachten. Sehr früh wurden die Impulse in England übernommen. Dort war es in Auseinandersetzung mit einer ersten Volkslied- und Volkstanz-Renaissance des frühen 20. Jahrhunderts zu einem auch über personelle Verbindungen hergestellten Transfer gekommen, der bereits in den frühen 1950er Jahren zur Entstehung einer quantitativ beachtlichen, deutlich links orientierten Folkcommunity geführt hatte. Gerade vor diesem politischen Hintergrund wurden auch hier Diskussionen um vermeintliche Authentizitäten erbittert geführt, vor allem als die dortige Folkbewegung wiederholt populärmusikalischen Einflüssen ausgesetzt war.36 Auch die Wiederbelebung traditioneller Musik in den sich auf gemeinsame »keltische« Wurzeln beziehenden Regionen und Ländern, v. a. in Irland und Schottland,37 aber auch in der Bretagne38 und in Galizien,39 verlief über das amerikanischbritische Folkrevival. Neben der Beschäftigung mit den seit dem 19. Jahrhundert gesammelten ballads sind in diesen Ländern seit den 1950er Jahren auch starke Bemühungen zu erkennen, ein von internationalen populärmusikalischen Einflüssen weitgehend unbelastetes Tanzmusikrepertoire mit teilweise schon vergessenem Instrumentarium zu rekonstruieren.40 Insbesondere die Vorstellung authentische Formen von Folkmusik präsentiert zu bekommen, eröffnete Bands und Interpreten aus diesen Ländern und Regionen seit den frühen 1970er Jahren in der Bundesrepublik ein aufnahmebereites Publikum. Die Verbreitung insbesondere der irisch-schottischen sowie der bretonischen Folkmusik über Medien, Konzerte und direkte Urlaubskontakte löste dann bald Fragen nach den eigenen Volksmusiktraditionen aus.41 Das war der Ausgangspunkt für das nach den ersten Waldeck-Experimenten zweite Folkrevival.

36 Michael Brocken: The British Folk Revival 1944–2002, Farnham 2003; Judith Anne Murphy : Folk on Tyne: Tyne Side Culture and the Second Folk Revival, 1950–1975, Diss. Newcastle 2007, verfügbar unter : http://nrl.northumbria.ac.uk/1731/ [01. 03. 2019]. 37 Ailie Munro: The Democratic Muse. Folk Music Revival in Scotland, Aberdeen 1996, S. 9–19; Gabriele Haefs: Das Irenbild der Deutschen, Frankfurt a. M. 1983, S. 176–183. 38 Jonathyne Briggs: Sounds French: Globalization, Cultural Communities, and Pop Music, 1958–1980, New York 2015, S. 114–122. 39 Jos8 Colmeiro: Bagpipes, Bouzoukis and Bodhrans: The Reinvention of Galician Folk Musik, in: Helena-Migu8lez-Carballeira (Hg.): A Companion to Galician Culture, Woodbridge 2014, S. 93–114; ders.: Peripheral Visions/Global Sounds. From Galicia to the World, Liverpool 2017. 40 Haefs: Irenbild (Anm. 36), S. 84–137. 41 James: Versuch (Anm. 7), S. 113; Porträt Jürgen Schöntges, Tom Kannmacher, in: Folkmagazin, 1977, Nr. 1, S. 17–22; vgl. auch die Selbstdarstellungen von Deutschfolkmusikern auf ihren Homepages: Tom Kannmacher: https://www.kannmachmusik.de/deutsch/%C3% BCber-mich/ [01. 03. 2019]; Liederjan: http://www.liederjan.com/historie.htm [01. 03. 2019].

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Das zweite Folkrevival Trotz einiger personeller Überschneidungen handelte es sich bei den Trägern des zweiten Folkrevivals um junge Musiker, die sich dem Thema traditioneller Musik weitgehend unbeeinflusst von den Anfängen auf der Waldeck näherten, häufig zunächst irische Musik nachspielten und auch schon in anderen popmusikalischen Genres aktiv gewesen waren.42 Innerhalb der linksalternativen Szene, zu der diese Bewegung zweifelsohne zu rechnen ist, war ein die Geschichte des Volksliedes nicht reflektierender Umgang mit traditioneller Musik nicht denkbar. In der Konstruktion des »einfachen Volkes«, das in seinen Liedern »Kritik an den Herrschenden« übt, wie sie Hannes Wader im Begleittext zu seiner LP »Volkssänger« 1975 unternahm, dürften sich wohl etliche Deutschfolkmusiker wiedergefunden haben.43 Ganz offensichtlich lehnte sich diese Deutung an die des DDR-Volksliedforschers Wolfgang Steinitz an, dessen »Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten« bereits 1955 und 1965 in zwei Bänden erschienen waren. Dabei stehen in dieser von der Deutschfolkszene intensiv genutzten Sammlung neben konkret politischen Liedern, etwa aus der Revolution 1848/49, solche, die als Kritik an den sozialen Verhältnissen gedeutet werden können, etwa indem sie Standesunterschiede oder ökonomische Ungleichheiten benannten.44 Insgesamt lässt sich das Repertoire der meisten Deutschfolkbands beschreiben als eine Mischung aus einerseits mehr oder weniger politisch zu deutenden und andererseits kaum kritische Substanz beinhaltenden Liedern, die zu einem Großteil aus Vormoderne und 19. Jahrhundert, zu einem kleineren Teil aus dem 20. Jahrhundert stammten. Hinzu kamen instrumentale, auf überlieferten Tanzmelodien basierende Stücke.45 Die Konzentration auf bestimmte Gruppen und Situationen in der deutschen Geschichte kann verstanden werden als Versuch einer Identitätsbestimmung, einerseits durch eine Solidarisierung mit unterprivilegierten Schichten, die als politisches Programm in der Studentenrevolte um 1968 und danach so nicht funktioniert hatte, als es eben nicht zum Zusammenschluss mit der Arbeiterschaft gekommen war, weswegen ein Ausweichen auf eine vormoderne Vergangenheit attraktiv erschien. Andererseits wollte man anknüpfen an die positiven Traditionen der als Belastung wahrgenommenen neueren deutschen Geschichte. Instrumente, Spieltechniken und Arrangements zeigen einen »in42 43 44 45

Steinbiß: Deutschfolk (Anm. 3), S. 41–43. Nate: Volkslied (Anm. 30), S. 80. Steinitz: Volkslieder (Anm. 5), S. XIX–XLIV. Für diese Aussage wurden die Informationen von 41 Langspielplatten von Deutschfolkmusikern ausgewertet, die über die Seite https://www.discogs.com/de/ recherchiert werden konnten [01. 03. 2019].

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ternationalen Stil« in einer Mixtur aus nordamerikanischen, irisch-schottischen, englischen, französischen Elementen, erweitert um Anleihen aus der populären Musik der Nachkriegsjahrzehnte, der in keiner Weise auf in Deutschland tradierte Formen volksmusikalischer Betätigung zurückzuführen ist.46 Zweifelsohne handelt es sich beim Deutschfolk um ein populärmusikalisches Phänomen, das unter Verwendung von teilweise tradiertem musikalischen Material ein weiteres popmusikalisches Feld neben Blues, Jazz, Rock usw. eröffnete. Trotz der augenscheinlichen Verwurzelung im Feld der Populärmusik war die Selbstwahrnehmung der Akteure dieses Genres in einem hohen und identitätsstiftenden Maß geprägt von der Vorstellung, einer popmusikalischen Strukturen sich verweigernden musikalischen Bewegung anzugehören.47 Auch in diesem Diskurs wurden bereits in den USA und in England geführte Debatten aufgenommen, die die politische und moralische Vorrangstellung der Folkmusik gegenüber anderen Genres betonten. Die distinktiv genutzte Sonderposition des Folk leiteten seine Anhänger aus dem verglichen mit Pop und Rockmusik geringeren kommerziellen Verwertungspotenzial ab, angefangen von der weniger kapitalintensiven Ausstattung der Musiker über die geringere Distanz zwischen Produzenten und Konsumenten bis zu fehlenden massenmedialen Phänomenen wie Starkult sowie exorbitanten Gagen und Gewinne für Musiker und Manager. Verbreitet waren die Produktion und der Vertrieb von Platten über Kleinlabels oder im Eigenverlag. Selbst die Professionalisierung der wenigen Stars der Szene wurde kritisch begleitet.48 Diese antikonsumistische Haltung wurde im Vergleich mit anderen Popgenres als konsequentere Umsetzung politischer Ansprüche verstanden. Der Authentizitätsbegriff wurde auch musikalisch gewendet, im Sinne eines von der Musikindustrie unabhängigen Agierens, das nicht entfremdete kulturelle Artikulationen und gleichzeitig Identitätsbildungen zuließ, die über das eigene Milieu hinaus sozusagen überzeitliche Vergemeinschaftungen versprachen. Popmusikgeschichte ist von Bewegungen und Gegenbewegungen geprägt. Auch das ist ein Hinweis auf die populärmusikalische Verortung der Folkmusik. Folk fand sein Publikum als alternatives Angebot zur Rockmusik der 1970er Jahre, insbesondere zu den mit immer größerem technischen Aufwand betriebenen Varianten. Dass die Welle des Deutschfolk nach etwa zehn Jahren als jugendkulturelle Erscheinung wieder abgeebbt war, spricht auch für diese Interpretation. Punk und New Wave – weniger vielleicht die Neue Deutsche Welle, 46 Tom Kannmacher : Das deutsche Volkslied in der Folksong- und Liedermacherszene seit 1970, in: Jahrbuch für Volksliedforschung, 1978, Nr. 23, S. 33–42, S. 37. 47 Vgl. etwa den Titelsong der 1973 erschienenen LP »Wackawackaboing und Boom Boom Bang«, von Tom Kannmacher, der sich kritisch mit der Praxis »semiprofessioneller« Rockbands auseinandersetzt. 48 Vgl. hierzu die Diskussionen in verschiedenen Ausgaben des Folkmagazins, z. B. Folkmagazin, 1976, Nr. 4, S. 12–14, 1976, Nr. 5, S. 7–12.

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die ein anderes Milieu ansprach – wurden für den Teil der sich als oppositionell verstehenden Schüler und Studenten, die das Gros der Folkbewegung ausmachten, attraktiver. Der Erfolg der Deutschfolkbewegung in den 1970er Jahren erklärt sich auch aus seiner Anschlussfähigkeit an verschiedene soziale Bewegungen. Hier ist etwa an die Jugendzentrumsbewegung zu denken, die einen wesentlichen Teil der Auftrittsmöglichkeiten bereitstellte, aber auch als Rekrutierungsreservoir aktiver Musiker angesehen werden kann.49 Mit der Jugendzentrumsbewegung, aber auch mit der Ökologiebewegung, der Regionalismusbewegung, den Geschichtswerkstätten oder den Bürgerinitiativen verband die Folkbewegung ein ähnliches Verständnis von Selbstorganisation, vom Veränderungspotenzial durch Bewegungen »von unten« sowie einen letztlich positiven Begriff des handelnden Akteurs aus dem – mit dem Begriff Hannes Waders zu reden – »einfachen Volk«. Fragt man nach dem Verhältnis von Wandervogel und Folkbewegung, überwiegen letztlich die Brüche. Dass die deutsche Folkbewegung im Vergleich zu anderen Ländern spät einsetzte, kann mit dem Überdruss am letztlich durch die Jugendbewegung etablierten Volkslied zu erklären sein, auch wenn die aus der bündischen Jugend stammenden Pioniere der Folkszene eine gewisse Brückenfunktion einnahmen. Das Repertoire überschnitt sich teilweise, was zu einem geringeren Teil auf die Nutzung der jugendbewegten Liedersammlungen zurückzuführen sein mag, mehr noch aber auf die gemeinsamen Quellen aus dem 19. Jahrhundert. Die Definition des Volksliedes weist starke Differenzen auf, auch wenn in beiden Fällen von einer konstruierten Gemeinschaft als Quelle des Repertoires gesprochen werden kann, die im Fall des Wandervogels nationalvölkisch, im Fall der Folkbewegung sozial und politisch definiert war. Stand im Wandervogel das gemeinsame Tun im Vordergrund, so dominierte im Deutschfolk bei allen Partizipationsangeboten doch eine konzertante oder medial übertragene Präsentation eines künstlerisch gestalteten Programms. Als ähnlich könnten die sozialen Träger der Bewegungen angesehen werden, in beiden Fällen in der Mehrheit Schüler und Studenten mit hohem Freizeitpotenzial. Während aber im Wandervogel das städtische Bürgertum dominierte, zeigten sich in der »Folkszene«, die ein breiteres soziales Spektrum umfasste,50 auch die Folgen der erweiterten Bildungschancen seit den späten 1950er und frühen 1960er Jahren.

49 Vgl. David Templin: Freizeit ohne Kontrollen. Die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre, Göttingen 2015; Gunter Mahlerwein: Revolte im Dorf ? Innovationspotenziale und Traditionsbezüge ländlicher Jugendzentren in Rheinhessen, in: Julia Paulus (Hg.): »Bewegte Dörfer«. Neue soziale Bewegungen in der Provinz 1970–1990, Paderborn 2018, S. 177–186. 50 Vgl. hierzu Geyer, Besucherbefragung.

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Walle, walle, nimm die schlechten Lumpenhüllen. Body politics der Langhaarigkeit in Lebensreform um 1900 und alternativem Milieu um 1980

Vergleicht man Fotos von Lebensreformern um 1900 und Mitgliedern des alternativen Milieus um 1980, so fällt früher oder später ein Detail ins Auge: Vor Naturkulissen dekorativ posierend oder auf dem Feld mit Gleichgesinnten im Schweiße körperlicher Arbeit, wallen nicht nur weite Gewänder ; es wallen auch lange Haare und buschige Bärte. Oberflächlich betrachtet nur ein modisches Detail, sind der Haartracht doch vielfältige Diskurse eingeschrieben. Sie betreffen Vorstellungen von Natürlichkeit im Gegensatz zur Zivilisation, die Geschlechterordnung, die Körperhygiene, können aber auch utopische Gesellschaftsentwürfe und rassistische Praktiken zum Ausdruck bringen. Um diese Zuschreibungen geht es im vorliegenden Beitrag. Dazu eine Vorbemerkung: Haare lassen sich als »toter« Teil des Körpers besonders leicht modifizieren. Körpermodifikationen wiederum gelten als »zentraler Bestandteil derjenigen Praktiken, über die menschliche Gesellschaften Identitäten herstellen und aufrechterhalten«.1 Wie die Körpergeschichte hervorgehoben hat, gehören sie daher zu den somatechnics, die den Körper als ein ineinandergreifendes System »auslegbarer Zeichen« definieren, als »ein mehrschichtiges Dokument mit Ausradierungen, Neu- und Wiedereinschreibungen«.2 Die Analyse derjenigen Techniken, die sich mit der Modifikation der Haare befassen, führt daher auf praxeologisches Gebiet. Einer Anregung von Sven Reichardt folgend,3 ist die Praxeologie besonders geeignet, holistische Bewegungen zu analysieren, die durch konkrete Praktiken den ganzen Menschen erfassen wollten, also nicht nur den Geist, sondern vor allem auch den Körper. 1 Vgl. im Anschluss an Clifford Geertz und Susan Stryker : Eva Bischoff: »Modifizieren«, in: Netzwerk Körper (Hg.): What Can a Body do? Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M., New York 2012, S. 70–82, hier S. 71 u. 77. 2 Ebd. 3 Vgl. Sven Reichardt: »Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung«, in: Sozial.Geschichte 22 (2007), S. 43–65, bes. S. 60; Lucas Haasis, Constantin Rieske: Historische Praxeologie. Zur Einführung, in: dies. (Hg.): Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns, Paderborn 2015, S. 7–54.

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Gleichwohl sind auch Körpertechniken nicht aus sich selbst heraus entstanden, sondern wurzeln oftmals in Ideen. Es geht also nicht nur darum, Praktiken zu beschreiben, sondern auch deren ideengeschichtliche Fundamente freizulegen. Dafür werden im Folgenden einige wesentliche Themenkomplexe auf Grundlage von Beständen des Archivs der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein und des Archivs der Jugendkulturen in Berlin-Kreuzberg stichprobenartig betrachtet: zunächst der Natürlichkeits-Diskurs, dann ältere Motive, die in religiösen und künstlerischen Traditionen wurzeln, aber auch außerwestliche Körper(vor)bilder, bevor ein intertemporär vergleichendes Resümee gezogen wird.4

Natürlichkeit Haare werden aus anthropologischer Perspektive als evolutionärer Überrest – nämlich des tierischen Fells – gedeutet, das seine wärmende Funktion mit der Zivilisation verloren hatte und durch Kleidung ersetzt wurde. Maren Möhring hat in ihrer Studie zur Nacktkultur herausgestellt, dass die propagierte »Rückkehr zur Natur« der Lebensreform einen regelrecht anti-evolutionären Impetus hatte.5 Es ging darum, Eingriffe des Menschen in als »natürlich« erachtete Vorgänge wieder zurückzunehmen. Dies betraf wissensbasierte medizinische, orthopädische oder hygienisch-kosmetische Interventionen, aber auch die körperformenden Einschnürungen durch Korsette, Schuhe oder Kleidung. In diesem Zusammenhang hatte etwa der völkische Nudist Richard Ungewitter, ein früher Verfechter der Freikörperkultur, die Haare in den Mittelpunkt einer eigenen ästhetischen Rassetheorie gestellt.6 Wie er 1906 in einer im Selbstverlag verbreiteten entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung der Nacktheit ausführte, habe der Urmensch das Fell verloren, weil nackte Haut seit jeher als schöner angesehen worden sei, weswegen sich die schwach behaarten Men4 Ich danke Susanne Rappe-Weber und Birgit Richter (Archiv der deutschen Jugendbewegung, AdJb) sowie Daniel Schneider (Archiv der Jugendkulturen, AdJ) für ihre Hilfe sowie für die Hilfe bei der Bildbeschaffung und –bearbeitung Carsten Deiters und S. Rappe-Weber (AdJb), Jörg Rehder vom Verlag Der Spiegel, Daniel Schneider (AdJ) und Frank Schmitter (Monacensia–Literaturarchiv). 5 Maren Möhring: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890–1930), Köln u. a. 2004, bes. S. 40f., 84, 254, 262, 292, 337. 6 Vgl. zu Ungewitter Uwe Puschner : Mit Vollkornbrot und Nacktheit. Arbeit am völkischen Körper. Gustav Simons und Richard Ungewitter. Lebensreformer und völkische Weltanschauungsagenten, in: Karl Braun, Felix Linzner, John Khairi-Taraki (Hg.): Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung« (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 13j2017), Göttingen 2017, S. 77–93. Ich danke Uwe Puschner für Hinweise zu diesem Text.

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schen absichtsvoll miteinander gepaart hätten und die Fellträger so allmählich ausgestorben seien.7 In seiner programmatischen Schrift »Nackt« verwahrte sich Ungewitter zwei Jahre später gegen das Tragen von Kopfbedeckungen. Insbesondere den Herrenhut hielt er für »das allerentbehrlichste Kleidungsstück«: »Immerhin schaden die weiblichen Kopfbedeckungen nicht viel, weil sie nicht am Kopfe festsitzen. Deshalb trifft man die Glatze bei den Weibern kaum an, wohingegen sie sich beim männlichen Geschlechte mehr und mehr einbürgert. Man war bisher der Meinung, daß die Luftabgeschlossenheit die Glatze herbeiführe, indem die Haare durch die festgehaltene Schweiß- und Dunstschicht ersticken. Sicher ist diese Treibhausluft schädlich, aber nur in sehr geringem Maße, denn wir finden auch bei Männern, die jahrelang sog. luftundurchlässige (poröse) Hüte und Mützen tragen, die Glatze verbreitet. Nicht daran liegt also die Schuld, ›sondern‹, wie Ingenieur Heß-Münche in der ›Lebenskunst‹ über ›Gesunde Kopfbedeckungen‹ schreibt: ›…an der beim Tragen der bisher gebräuchlichen Kopfbedeckungen unvermeidlichen Hautspannung, welche die Haarzwiebeln zerstört.‹«8

In dieser Körperbildungstheorie ruft der selbst erklärte Körperästhet gleich mehrere Topoi auf, die für die Lebensreform zentral sind: ein binäres Geschlechterbild, die Wohltaten von Luft und Licht für die physische Gesundheit und schließlich eine schuldhafte kultürliche Verbildung durch einengende Praktiken, hier des Kopfbedeckens. Wenngleich die unbehaarte Körperhaut im Zentrum seiner Ästhetik stand, so galt es doch, das Kopfhaar als Überrest vorbzw. frühevolutionärer Natürlichkeit zu bewahren. Dies galt nicht nur für Männer. In der Reformzeitschrift Die Schönheit plädierte ein Artikel 1907 gegen Kopfbedeckungen auch von Frauen, da »das offene wallende Haar des Weibes höchster Schmuck ist« und es »eine unglaubliche, ja hygienische Verirrung bedeutet, wenn die Frauen ihre Haare in eine engere, viel einförmigere Masse zusammenflechten […]«.9 Nicht nur gesundheitliche Gründe wurden angeführt; offenes Haar galt als ein geradezu libertäres Zeichen, das für die Befreiung der Frau aus ihren Zwängen stand: »Das offene Haar aber ist ein schönes Symbol der Freiheit und wenn die Fessel der beruflichen Tätigkeit gefallen ist: in der Freiheit ist es eine wundervolle Zier. Die fröhlich erlöste Entfesselung kündigt es an. ›Laßt uns lachen!‹ scheint es zu rufen, wenn es leise flattert.«10

7 Vgl. Richard Ungewitter : »Wie der Mensch nackt wurde«, in: ders. (Hg.): Die Nacktheit in entwicklungsgeschichtlicher, gesundheitlicher, moralischer und künstlerischer Bedeutung, Stuttgart 1906, S. 7–15. Vgl. AdJb, P 1 Nr. 1311. 8 Richard Ungewitter : Nackt. Eine kritische Studie von Richard Ungewitter, Stuttgart 1909, S. 94 (Hervorhebung im Original). 9 Walter Toepekmann: Offenes Haar, in: Die Schönheit, 1907, Bd. IV/1, S. 416–420, hier S. 416. 10 Ebd., S. 417.

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Als »Fessel« wird in dieser emphatischen Feier des langen Haares das Kopftuch verstanden, das hygienische Vorschriften bei der Arbeit erforderten, und das damals emblematisch für weibliche Erwerbstätigkeit in Landwirtschaft und Industrie stand. Das gelöste Haar der Frau wird als Zeichen nicht nur gegen die Einengung durch Kleidung, sondern auch gegen die Industrialisierung in Position gebracht, die den Menschen in ein maschinelles Räderwerk einspanne und auch körperlich umbilde, wenn hier auch nur im vergleichsweise peripheren Bereich der Haartracht.

Abb. 1: Franz Müller-Münster : »Morgensonne«. Illustrationen in der Zeitschrift Die Schönheit präsentieren immer wieder Frauen mit offenem, wallendem Haar als Ausdruck einer zivilisationskritischen Natürlichkeit. Quelle: Die Schönheit. Mit Bildern geschmückte Zeitschrift für Kunst und Leben, 1907, Bd. 4, Nr. 9, S. 516, im Original koloriert.

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Zur Erreichung einer neuen Natürlichkeit werden der Frau aber auch pflegende Praktiken auferlegt, die ein anderer Autor derselben Zeitschrift in detaillierten Handlungsanweisungen formuliert: regelmäßiges Durchbürsten, Spitzenschneiden, Waschen und Trocknen, idealerweise durch Regen und Wind.11 Diese wenigen Maßnahmen betrieben jedoch eine Reduktion des umfangreichen Pflegeprogramms, wie es Ratgeber um 1900 Frauen empfahlen: u. a. abendliches Flechten sowie Waschungen und Spülungen mit Bay-Rum, Franzbranntwein, Schnaps, Teerseife, Pottasche, Eigelb oder Soda.12 Die Rückkehr zur Natur als Zivilisationskritik gegen die Auswirkungen der Moderne ist ein beständiger Topos auch im alternativen Milieu der 1970er und 1980er Jahre. Darwinistische Theorien waren nach dem Nationalsozialismus hier allerdings weit weniger und allenfalls im völkischen Flügel etwa der frühen Ökologiebewegung verbreitet. Doch zumindest mancher Zeichner schien von einer Rückkehr zum Ganzkörperhaar zu träumen. In linken Szenemagazinen illustrierten Karikaturen langmähniger Zeitgenossen ein alternatives Schönheitsideal, das auf Urwüchsigkeit setzte. Langhaarigkeit war in den frühen 1970ern nicht mehr mit Evolution, sondern mit Revolution verbunden. Deutlich wird das an einer satirischen Zeichnung, die im Januar 1972 in der linken Schülerzeitung Kontra.Punkt am Schulzentrum Barsinghausen erschien, und auf der ein stark behaarter »Nepomuk« zu sehen war, der sich im Wortsinne gegen die Reaktion sträubte.13 Die Wurzeln solcher ästhetischen Normierungen liegen freilich schon in den 1960er Jahren und reichen bis in die USA. Einem Bestimmungsversuch des San Francisco Chronicle von 1967 zufolge war der Versuch, einen Hippie zu definieren, ebenso schwierig wie Wasser in einem Sieb festzuhalten. Für die meisten Menschen sei er aber klar an Äußerlichkeiten erkennbar : an den nackten Füßen, der wallenden Kleidung und einem Mangel an Sauberkeit, zuallererst aber an langen Haaren.14

11 Heinrich Pudor: »Haarpflege«, in: Die Schönheit, 1907, IV/1, S. 163–168. Vgl. allgemein: Susanne Breuss: Waschen, schneiden, legen. Geschichte der Frisier- und Haarpflegetechniken, in: dies. (Hg.): Mit Haut und Haar. Frisieren, Rasieren, Verschönern (Ausstellungskatalog), Wien 2018, S. 172–197. 12 Vgl. exemplarisch Landwirtschaftliche Haushaltungskunde. Ein wirtschaftliches ABC der Bauernfrau und Lehrbuch für Haushaltungsschulen, hg. von M. Lichtenberg, 3. Auflage, Berlin 1921 (zuerst: 1907), S. 128–129. 13 KontraPunkt, 1972, H. 1, unpag. (Archiv der Jugendkulturen, Berlin). 14 Phiz Mozesson: What is A Hippie?, in: San Francisco Sunday Examiner and Chronicle (California Living), 09. 04. 1967, S. 6–9, hier S. 7. Vgl. Nicole Tiedemann: Lange Männerhaare als jugendkulturelles Zeichen nach 1945, in: Christian Janecke (Hg.):, Haar tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung, Köln, Weimar 2004, S. 233–250. Grundlegend: ders.: Tragbare Stürme. Von spurtenden Haaren und Windstoßfrisuren, Marburg 2003.

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Abb. 2: »Nepomuk« (anonym). Karikatur zotteliger Urwüchsigkeit aus der Schülerzeitung KontraPunkt, 1972, Nr. 1, unpag. Quelle: AdJ, Berlin.

Die zentrale Bedeutung dieses körperlichen Merkmals verbreitete im selben Jahr ein Bühnenstück weltweit, das in New York uraufgeführte Musical Hair von Gerome Ragni, James Rado und Galt MacDermot. Hair brachte es zum BoxofficeErfolg am Broadway und wurde seit 1968 mehrere Jahre lang weltweit, auch im deutschsprachigen Europa inszeniert und 1978 schließlich für das Kino ver-

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filmt.15 Im Zentrum der collageartigen Rahmenhandlung steht ein junger Langhaariger, der zum Kriegsdienst nach Vietnam eingezogen werden soll. Die bunte Lebenswelt der Hippies, ihre Praktiken des Drogenrausches und der Bisexualität, aber auch politische Einstellungen des Pazifismus und esoterische Erwartungshorizonte (evoziert wird ein »Zeitalter des Wassermannes«) stehen in hartem Kontrast zu den Schrecken des Krieges in Vietnam, die in späteren Fassungen auf dem Hintergrund einer Videoleinwand als dokumentarische Kulisse eingespielt wurden. Metaphorische Bedeutung hat die titelgebende Haartracht der Hippies. Als historische Vorbilder nennt die deutsche Bühnenfassung, die Anfang der 1970er Jahre in einem Dutzend Städte des deutschsprachigen Europas gezeigt wurde,16 mythologische und populärkulturelle Referenzen wie Medusa und die Kinderbuchfigur Struwwelpeter, die der Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann 1844 erschaffen hatte. Auch im Musical wurde das Haar der Natur zugeordnet bzw. als Gottesgabe gepriesen. Gleichzeitigt erteilten die Songtexte hegemonialen Hygiene-Regimen eine Absage: »Wenn ich das wüßt / warum mein Haar so ist! / Es wächst so dicht, so schnell, / fast kriminell, / mein Haar wächst pausenlos. / Frag nicht, warum denn bloß… / Es sprießt und schießt und wächst / eben wie verhext. Darling! Ich liebe sehr sogar / mein langes Haar. / Es darf nicht nur in den Kragen ragen, / alles schöne Haar war schulterlang und länger! Klar Mom, nicht wahr Daddy? / Wunderbar ist so langes Haar. / Haar, Haar, Haar, Haar, Haar, Haar! / Laßt es leben, / Gott hat’s mir gegeben, / mein Haar! Laß es spielen im Wind. / Laß drin wühlen ein Kind. / Mach daraus für die Laus ein Zuhaus! / Bau im Haargeäst – yeah! / dem Star ein Nest – yeah! / Wie wunderbar, wie sonderbar / eine Welt allein für mich / das ist mein Haar! / Haar, Haar, Haar, Haar, Haar, Haar!«17

Die Bühnensequenz steigert sich in einen ekstatischen Rausch hinein, in dem die Schauspieler*innen ihre langen Mähnen wie beim Headbanging schütteln. Die eingestreuten »Yeah!«-Rufe sind eine deutliche Referenz an anglo-amerikanische Vorbilder, vor allem an die so genannte »Beatlemania«, die um 1965 in zahlreichen Karikaturen und Zeitungsüberschriften die Langhaarfrisuren der Beatles auf die Titelseiten gebracht und einen Diskurs um das androgyne Exterieur der »quecksilbrigen Zottel-Knaben« mit den »Fransen-Frisuren« bzw. der vier »Liverpudel« provoziert hatte, wie es in einem exemplarischen Artikel

15 Hair, USA 1979, 116 Min., Regie: Milosˇ Forman. 16 Mit Aufführungen u. a. in München, Düsseldorf, Berlin, Hamburg, Böblingen, Frankfurt, Nürnberg, Köln, Essen, Duisburg, Wien, Zürich. 17 Deutsche, leicht veränderte Fassung von Ulf von Mechow, Karl-Heinz Freynick und Walter Brandin; zit. nach: Haare. Das vollständige Textbuch mit einer Gebrauchsanleitung für das Musical »Hair«, München 1969, S. 34.

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hieß.18 Auch im Musical Hair spitzt sich die Lage zu, als der Protagonist den militärischen Haarschnitt verweigert. Das Stück stieß auf heftige Ablehnung nicht nur bei Konservativen, die sich insbesondere von den Nacktszenen provoziert fühlten, sondern auch bei Linken, die in dem Musical ein Instrument der Kommerzialisierung des Undergrounds erkannten.19 Wenn sich die ekstatische Feier der Langhaarigkeit in Hair auch aus popkulturellen Quellen speist, so erinnert sie doch frappierend an die Emphase aus der lebensreformerischen Zeitschrift Die Schönheit. Für Männer stellten lange Haare noch in den frühen 1970er Jahren einen Tabubruch dar, da ein androgynes Erscheinungsbild mit den hegemonialen militärischen Männlichkeitsbildern brach. Detlef Siegfried hat die harten Konflikte beschrieben, die Normalisierungsverstöße nicht nur in, sondern auch auf den Köpfen in den 1960er Jahren erregten und die in drakonischen Maßnahmen zur Bekämpfung junger »Gammler« kulminierten.20 Die Grenzen des Wachstums verliefen damals noch entlang des Hemdkragens bzw. des Stahlhelmrandes.21 Solche Konflikte zogen sich in die 1970er Jahre hinein, wie ein weiterer Artikel aus der Kontra.Punkt belegt, in dem eine Meldung aus der Bild-Zeitung kolportiert wird: Der 56 Jahre alte Fabrikant eines Schaltgeräte-Unternehmens aus Gaildorf habe deren Bericht zufolge seinen 15 Jahre alten kaufmännischen Angestellten mit den Worten entlassen, er wolle keinen Lehrling um sich haben, »der eine Frisur wie ein Filmschauspieler neuer Art, ein Bankräuber, ein Rauschgifthändler oder gar ein Polizistenmörder hat«. In der Begründung habe der Fabrikbesitzer gegenüber der Zeitung angegeben, zur Zeit der Einstellung drei Monate zuvor seien die Haare noch »an der Grenze« gewesen, mittlerweile jedoch sprössen sie über den Hemdkragen hinaus: »Hängekoteletten und Nackenhaare ertrage ich nicht bei einem Lehrling, der erst zeigen muss, ob er für’ s Leben taugt.«22 Die linke Schülerzeitung kommentiert die Episode mit dem lakonischen Satz, der Lehrling habe seine Frisur behalten und sich eine neue Stelle gesucht.23 Wie sehr die Frisurenfrage noch in den 1980er Jahren politisiert war, zeigt beispielhaft eine Collage der Szene-Zeitschrift Der ExTerminator von 1985, in der eine hineinkopierte Anzeige gegen Glatzenbildung Haartransplantation 18 Ein ganz neues Beatles-Gefühl, in: deutsche jugend, 1964, Bd. XII, S. 373. 19 Vgl. Detlef Siegfried: Protest am Markt. Gegenkultur in der Konsumgesellschaft um 1968; in: Christina von Hodenberg, ders. (Hg.): Wo »1968« liegt. Reform und Revolte in der Bundesrepublik, Göttingen 2006, S. 48–78, hier S. 58; ders.: Time Is On my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen22017, S. 393f. 20 Detlef Siegfried: Der Sound der Revolte. Studien zur Kulturrevolution um 1968, Weinheim u. a. 2008, bes. S. 62–64. 21 Vgl. zur entsprechenden Dienstvorschrift der Bundeswehr: Netz unterm Helm, in: Der Spiegel, 13. 03. 1967, S. 59. 22 Vgl. Kontra.Punkt, 1972, H. 1, unpag., AdJ Berlin. 23 Ebd.

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empfiehlt. Deren Abdruck lässt sich als ironisch gebrochener Verweis auf die neofaschistische Skinheadbewegung lesen, da ausgesprochene Kurzhaarfrisuren in der rechten Szene der 1980er uniform getragen wurden.24 Aber auch weniger weltliche Motive begründeten Langhaarfrisuren, wie im Folgenden gezeigt wird.

Die Dichterfrisur In den 1950er Jahren, als schon die Elvis-Frisur Medienkontroversen erregte, bezog sich der »Knigge des 20. Jahrhunderts« noch ex negativo auf die Künstler : »Die Frisur des Herrn soll glatt und unauffällig sein. Lange Haare, die über Ohren und Kragen herabfallen, sogenannte Künstlerfrisuren [Hervorheb. BM], wirken ungepflegt. Niemals darf ein Herr künstliche Haarwellen tragen. Es gibt ihm ein unmännliches Aussehen.«25 Als Anfang/Mitte der 1960er Jahre Männer, die gegen diese etablierte Frisurenordnung normativer Männlichkeit verstießen, zum Ziel von Spott und Kritik, aber auch polizeilicher Diskurse wurden, bemerkte ein Autor von Liaisons, der Zeitschrift der französischen Polizei, es erschließe sich ihm nicht, inwiefern eine Zottelfrisur einen politischen Protest ausdrücken könne; auch verstehe er nicht, was das Vernachlässigen grundlegender Regeln der Hygiene mit Philosophie zu tun habe. Zur »Säuberung der Straßen« kündigte die Zeitschrift ein Jahr später die Operation »Anti-Beatnik« an.26 Ähnliche Konflikte spielten sich auch in der Bundesrepublik ab, wo es etwa mit den Schwabinger Krawallen im Sommer des Jahres 1962 zu den bislang größten öffentlichen Straßentumulten der Nachkriegszeit kam.27 Entzündet hatten sie sich an einem Auftritt von Straßenmusikanten, die dem »bund deutscher jungenschaften« (bdj) entstammten und damit in direkter Tradition zur Jugend- und Reformbewegung der Vorkriegszeit standen.28 Abweichende Lebensformen erregten im Umfeld der Schwabinger Krawalle, aber auch noch Jahre danach immer wieder Konflikte. Lange Haare galten wie in anderen Künstlervierteln auch hier als dernier crie. In seinen Lebenserinnerungen beschreibt der 24 Der ExTerminator, 1985, H. 1, Juli, S. 12, AdJ Berlin. 25 W. von Ginök: Lebenskunst. Ein Buch vom guten Benehmen für Jedermann. Der Knigge des 20. Jahrhunderts, Krefeld 1951, S. 43–44. 26 Les Parisiens d8couvrent un animal inconnu: Le Beatnik, in: Liaisons 55, 14. 09. 1964, S. 1f.; Pour le propret8 des rues: op8ration ›ANTI-BEATNIKS«, in: Liaisons 97, 06. 09. 1965, S. 7–8. Dazu: Bodo Mrozek: Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin 2019, S. 694ff. 27 Vgl. Gerhard Fürmetz (Hg.): »Schwabinger Krawalle«. Protest, Polizei und Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre, Essen 2006. 28 Stefan Hemler : Auftakt eines kulturrevolutionären Umbruchs? Die »Schwabinger Krawalle« 1962, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2007, N. F. 4, S. 74–101.

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ortskundige Erich Mühsam das Schwabing der Jahrhundertwende als einen Ort der BohHme, in dem sich »Genieanwärter aller Art« herumtrieben und die Langhaarigkeit der Schwabinger Männer ebenso wie die Kurzhaarigkeit der Frauen bereits »ein wichtiges Kennzeichen« war.29 Besonders wurde die Langhaarigkeit von Männern im George-Kreis gepflegt, der in Schwabing – während der Kosmiker-Episode – eines seiner frühen Zentren hatte. »Stefan George ist ohne sein Haar nicht Stefan George. Rascher als an seinem priesterähnlichen Rock und der hageren, aufrechten Gestalt wird man ihn an seinem Haar erkannt haben. Vor dem Gesicht noch, das einprägsam genug war, kam das Haar als eine lodernde und zugleich fest gebaute Größe«, schreibt die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff in einer Meditation über eine HaarReliquie aus dem im Literaturarchiv Marbach ausgestellten Künstler-Nachlass.30 Sie sieht die »Kunstgewerblichkeit«, mit der er seine Dichtung mit genau festgelegter Typographie und Buchausstattung ausübte, sogar wesentlich in seinem Schopf begründet, »aus dem kein Härchen auf eigene Rechnung wegstreben durfte«.31 Wie sehr schon im späten 19. Jahrhundert Langhaarigkeit mit Künstler- bzw. Dichtertum konnotiert war, illustrieren die Spottverse, die der junge Stefan George auf einen von ihm wenig geschätzten, ebenfalls Verse schmiedenden Klassenkameraden dichtete, der die Haare ähnlich lang trug wie er selbst: Da wurde mir mit einmal klar Dass hinter langem Dichterhaar Und hinter hoher Dichterstirn Nicht immer wohnt ein Dichterhirn.32

Jahrzehnte später rächte sich diese Arroganz, als Georges Frisur selbst zur Zielscheibe des Spottes des ihm in inniger Feindschaft verbundenen (und »minderbehaarten«) Konkurrenten Rudolf Borchardt wurde, der nun seinerseits höhnisch von der »üppigen Chevelure« bzw. der »starren Haarwelle« des selbsterklärten Meisters berichtete und sich über die »Art, wie er die Mähne baute«, belustigte.33 29 Erich Mühsam: Namen und Menschen. Unpolitische Erinnerungen, Berlin o. J. [1978], vgl. auch Ulrike Voswinckel: Freie Liebe und Anarchie. Schwabing – Monte Verit/. Entwürfe gegen das etablierte Leben, München 2009, S. 39. 30 Sibylle Lewitscharoff: »Wie er die Mähne baute. Stefan Georges Haare«, in: Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hg.): Denkbilder und Schaustücke. Das Literaturmuseum der Moderne, Marbach a. N. 2006, S. 181–184, hier S. 181. 31 Ebd., S. 182. 32 Robert Boehringer : Mein Bild von Stefan George, Stuttgart 1976, S. 23; Michael Landmann: Stefan George, in: ders.: Erinnerungen an Stefan George. Seine Freundschaft mit Edith Landmann, Amsterdam 1980, S. 5–61, hier S. 17. Dazu: Gunilla Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, Berlin u. a. 2011, S. 144. 33 Zit. n. Lewitscharoff: Mähne (Anm. 30), S. 183.

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Als Dichter-Attribute sind Langhaarigkeit und Denkerstirn allerdings älteren Ursprungs; sie lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Frühe Plastiken und Reliefs – wie Beispiele aus dem dritten Jahrhundert v. Chr. belegen – ordnen den Philosophen langes, ungepflegtes Haar zu, wie es die Kyniker in Verachtung äußerlicher Dinge getragen haben sollen.34 Um 1900, als die hegemoniale Männerhaartracht abermals eher kurz war, wurde die Dichtermähne mit Kreativität, künstlerischem Genius und einem lockeren Lebensstil assoziiert. Sie war damit Teil des »Kreativitätsdispositivs«, das sich in der Moderne etablierte und auch den »Künstlerstar« als einen mit Charisma ausgestatteten Ästhetisierungsagenten hervorbrachte, demgegenüber sich das Publikum als ein für ästhetische Signale empfängliches Kollektivsubjekt formierte.35 Diese Beobachtung gilt in besonderem Maße auch für die Lebenskünstler der Reformbewegungen, deren eigentliches Kunstwerk die »soziale Plastik« ihrer Anhängerschaft darstellte. Auch die »Künstlerfrisur« überlebte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der sie nun das Haupt des Popstars schmückte, der von demselben Kreativitätsdispositiv als gleichfalls charismatische Figur mit »riskanter« Lebensführung hervorgebracht wurde.36

Das Christus-Motiv Ihr bisweilen heiliger Ernst beim Werben für eine gesunde Lebensweise hatte den Lebensreformern der Jahrhundertwende die evangelisierende Spottformel der »Kohlrabi-Apostel« bzw. der »Inflationsheiligen« eingebracht. Riemchensandalen, Lendenschurze und Stirnbänder korrespondierten nicht nur rein optisch mit populären Christusdarstellungen, wie Ulrich Linse es beschrieben hat: »Als Pendant zu immer konkreter werdenden politischen Heilsvorstellungen bevölkern ab etwa 1880 bis 1914 Heilige, Apostel, Propheten und Christusfiguren die europäische Literatur und – in geringerem Maße – auch die Malerei.«37 Christus-Bildnisse produzierte beispielsweise der Maler und Lebensreformer Wilhelm Diefenbach, der sich um 1892 auch selbst in ErlöserPosen portraitierte.38 Auch in seiner Lebensführung weckte Diefenbach Erin34 Dem Kynikerbildnis ist wiederum die Ikonographie von Zeus und Asklepios eingeschrieben; vgl. Martin Büchsel: Die Entstehung des Christusporträts. Bildarchäologie statt Bildhypnose, Mainz 2007, S. 17. 35 Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 32013, S. 34. 36 Ebd., S. 87. 37 Ulrich Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der Zwanziger Jahre, Berlin 1986, S. 29. 38 Vgl. Pamela Kort: Karl Wilhelm Diefenbach: Der »Vegetarier-Apostel«, in: dies., Max Hollein: Künstler und Propheten. Eine geheime Geschichte der Moderne 1872–1972, Köln 2015, S. 15–55.

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Abb. 3: Mit Stirnband und Jesuslatschen: Der Lebensreformer Konrad Karl Kurzrock verkörperte idealtypisch den Typus des »Barfüßigen Propheten« [um 1906]. Quelle: Vorlass Ulrich Linse, AdJb, N 139 Nr. 29.

nerungen an biblische Motive. Ein Zeitgenosse bescheinigte ihm, »daß er sich nicht nur in Haar und Kleidung christusartig trug, sondern auch wirklich für einen verkannten Messias hielt«.39 Diefenbachs Schüler Hugo Höppener, bekanntgeworden unter seinem Pseudonym Fidus, knüpfte hier nahtlos an, nicht nur in eigener Gestalt, sondern auch in seinem grafischen Werk mit Darstellungen jener »blondhaar-umflossenen Mägdelein und […] von wunderbar gesträhltem Haupt- und Barthaar umwallten, aus leer-großen Augen ›machtvoll‹ blickenden Köpfe[n] eines Allvaters oder Mysterienpriesters«, wie sie ein Ausstellungskatalog schon 1930 beschrieb.40 Auch auf seinem wohl bekanntesten Werk Das Lichtgebet, das zur Ikone des Wandervogels wurde, reckt sich textilfrei ein Jüngling der Sonne entgegen, der mit ausgebreiteten Armen sowohl die Positur des Gekreuzigten einnimmt als auch gleichzeitig germanisierend das 39 Fritz Schumacher, zit. n. Janos Frecot, Johann Friedrich Geist, Diethart Kerbs (Hg.): Fidus 1868–1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, erw. Neuaufl. München 1997, S. 80. Diese Selbstwahrnehmung teilte er mit anderen Zeitgenossen, etwa mit dem esoterischen Dichter Alfred Schuler aus der Schwabinger kosmischen Runde, der in der Hoffnung nach Rom reiste, man würde ihn dort als Messias »erkennen« und zum Papst ausrufen. 40 Zit. ebd., S. 194.

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Algiz, die »Lebensrune« formt – und damit das Neuheidentum mit dem Christuskult amalgiert. Nun ist die Langhaarigkeit Christi selbst erklärungsbedürftig. Die in der westlichen Welt weitverbreitete Christus-Vorstellung mit langem, glatten Haar und hellen Augen darf als Produkt einer kulturellen Adaption gelten, die für einen Sohn Bethlehems keineswegs wahrscheinlich gewesen sein dürfte. Tatsächlich zeigen frühe Christus-Darstellungen, etwa aus theodosianischer Zeit um 380, den Gottessohn nicht mit langem Glatthaar, sondern bartlos und »mit aufwendig gedrehten und gelockten Haaren«.41 In der weiteren Christus-Ikonographie werden vor allem zwei antagonistische Typen ausgemacht, die ihre Ursprünge in weltlichen Genres haben: Zum einen das Kaiserportrait, gelegentlich mit einem an ein Diadem erinnernden Haarbogen, und zum anderen das bereits erwähnte Philosophenabbild im Stile der Kyniker, womit zwei antagonistische Jesus-Figurationen benannt sind: der Herrscherchristus und der Denkerchristus.42 Neben die langen Haare trat bei Letzterem gelegentlich eine zerfurchte Stirn als Merkmal des Grüblers. Der extrem langhaarige Christus reiht den vergeistigten Messias zudem in die Bildtradition des vorchristlichen Charismatikers ein, dem lange Haare magisch-göttliche Kräfte verliehen.43 Die Lebensreform rekurrierte nicht nur in ihrer Malerei auf den letzteren Typus. Die Zeitschrift Die Schönheit schwärmte von Jesus 1908 nicht nur als einer »gewaltigen göttlichgroßen Persönlichkeit«; ihr gilt er auch als »eine geniale Künstlernatur«, die den Körper höher geachtet habe als die Kleidung.44 Der Christus-Rekurs der Lebensreform bezog sich dabei gerade auf dessen leibliche Gestalt im Lendenschurz, die als religiöse Legitimation für den Nudismus in Dienst genommen wurde. In Jesu Ausspruch »Seht ihr denn nicht ein, dass das Leben mehr wert ist als die Speise, und der Leib mehr als die Kleidung?«45 erkannte der Autor der Schönheit »eine direkte Hochstellung des Menschenleibes im Gegensatz zur Kleidung, und eine Aufforderung, nicht für das Gewand zu sorgen, sondern für den Körper selbst, den schon das Alte Testament als Ebenbild Gottes, also etwas heiliges, nicht etwas verächtliches betont«.46 (Um hinzuzufügen, Jesus hätte »bei den alten Germanen« schwerlich so viele Krankheiten zu heilen gefunden.) Holistische Lebensentwürfe lebten in der Zwischenkriegszeit fort und wurden als Reaktion auf die Verunsicherungen von Verlusterfahrungen wie Weltkrieg und Währungsverfall gedeutet, die auch die Büchsel: Entstehung (Anm. 34), S. 17. Ebd. S. 26. Vgl. Zanker, 1985, zit. n. ebd., S. 17. Oskar Wuppermann: Jesus und sein Verhältnis zur Schönheit, in: Die Schönheit, 1908, H. 6, S. 1–8, hier S. 5. 45 Die Bibel: Evangelium nach Matthäus, Kapitel 6, Vers 23. 46 Wuppermann: Verhältnis (Anm. 44), S. 5.

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Figur des Inflationsheiligen hervorbrachte. Diese weltlichen Heiligen waren selbst bald so inflationär, dass um 1927 in Berlin von einer »Messias-Seuche« die Rede war.47 Als deren idealtypische Verkörperung kann Gusto Gräser gelten, den Fotografien in linnenem Gewand, mit Stirnband über dem langen Haar und wallendem Vollbart festhielten. Von Zeitgenossen wurde Gräser, der als »Vater der Alternativbewegungen« gilt, auf Postkarten als Möchtegern-Messias verspottet.48

Abb. 4: Die Original-Bildunterschrift dieses um 1922 verbreiteten Porträts des Reformers Gusto Gräser lautet: »Die ,Messias‹-Seuche in Berlin. Einer der ,Propheten‹ auf einem PropagandaSpaziergang«. Sie knüpfte bildsprachlich an das Motiv des »Rattenfängers von Hameln« an und bediente eine frühe Sektenangst. Quelle: Literaturarchiv Monacensia, München, L 2897/1.

In den 1970er Jahren erfuhr die Nachahmung der Jesus-Gestalt eine erneute Konjunktur. Schon in den 1960ern hatten sich jugendliche Gammler auf Jesus berufen. »Jesus war der erste Gammler«, lautete ein Graffito vor der West-Berliner Gedächtniskirche. In der DDR trugen eher weltlich eingestellte Beat-Fans christliche Kreuze als oppositionelle Abzeichen, wie ein Observationsbericht 47 Vgl. Kort: Künstler (Anm. 38) , S. 180. 48 Vgl. ebd.

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Abb. 5: Der Spiegel-Titel »Jugendsekten – die neue Droge« aktualisierte die Sektenangst der Zwischenkriegszeit um 1978. Orientalisierende Motive verorten die Gefahr im »fernen Osten« – vor allem in Indien. Copyright: DER SPIEGEL 29/1978.

festhält: »Die Jugendlichen […] tragen überwiegend lange Haare. Sie sind fast alle mit ›Parkern‹ (Kapuzenmänteln, Kutten) bekleidet«. Zudem trugen manche Jugendliche selbstgefertigte Metallabzeichen mit einem christlichen Kreuzsymbol. Auf die Bedeutung der Kreuze angesprochen, erklärte einer von ihnen, »daß das Tragen des Kreuzes ein Symbol dafür ist, dass Jesus der größte Gammler aller Zeiten war«.49 Diese Abzeichen wurden intern »Gammlerkreuze« 49 Ministerium für Staatssicherheit (MfS) beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehem. DDR (BStU MfS) AU, Nr. 12493/70, Bd. 1, Ermittlungsbericht, Berlin, 12. 4. 1967, Bl. 302. Ein anderer Vernehmungsbericht kommt allerdings zu der Ansicht, die Kreuze würden »zum Zeichen der Stons-[sic!] Anhänger getragen, d. h. diese wollen Stons-[sic!]Anhänger sein.«, BStU MfS AU, Nr. 12493/70, Bd. 1, Protokoll einer Be-

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genannt.50 In den 1970er Jahren erfuhr die Christusbegeisterung neue Impulse. Als charismatisches Idol einer naiven Glaubensbewegung fungierte der Heiland vor allem bei den Jesus People, die international zahlreiche Anhänger um sich scharten. Der »jesus people report« beschrieb die Bewegung 1972 so: »Barfüßig, in Sandalen, in Tennis- und Stoffschuhen, langes Haar, kurzes Haar, Mädchen, deren Haare wie Kaskaden auf die Schultern fallen, Jungen mit Bartansätzen […] Sie begegnen einem in knöchellangen, bunten Kleidern oder in verschwitzten Hemden, in grellen modernen Farben oder in ausgewaschenen alten Sachen. Aber ihre Gesichter strahlen und ihre Augen leuchten. Ihre Wangen sind gerötet von der Leidenschaft ihres neuen Glaubens. Sie sprudeln über. Man spürt die Intensität ihrer Erweckung. Diese bärtigen Jugendlichen, die manchmal noch ungläubig die Köpfe schütteln und sagen: ›Mann ich habe die Polizei gehaßt und nun kann ich jeden lieben. Preiset den Herrn!‹«51

Auch die Lebensform der Kommune wurde von der charismatischen Bewegung aufgenommen, der ästhetischen Mobilisierung diente das Genre God Rock von zumeist langhaarigen Musikern; Massentaufen in Flüssen und festivalartige Zusammenkünfte boten Gemeinschaftserlebnisse. Anstelle abstrakter Glaubensregeln und religiöser Dogmen trat hier eine charismatisch verstandene Christusfigur, die auch Züge eines linken Volksheiligen hatte und in betont jugendlicher Sprache beschworen wurde: »Er ist ein revolutionärer Volksheld, ein persönlicher Freund, ein Liebhaber, er macht ›high‹, er ist der Retter. Jesus ist der neueste Schrei. Er ist die Sache, die ›in‹ ist.«52 Die Parallelen sind offenkundig: Die Körperlichkeit der Bewegung gründete neben langen Haaren auf einer nicht-sexuellen Nähe, die auf Umarmung und Berührung setzte, es wurde gepredigt und Pornographie – auch in Mahnwachen vor Sex-Shops – ähnlich vehement bekämpft wie in der weitgehend auf nichterotischen Körperkult setzenden Lebensreform. Zwar gehörte die sektenartige Jugendbewegung nicht dem linksalternativen Milieu im engeren Sinne an, doch war ihre Erweckungstheologie zweifellos Teil des Mosaiks charismatischer Bewegungen, die sich als »neue Religiosität« teils in Opposition zu den institutionalisierten Kirchen formierten. Allerdings rekurrierte die Jesus-Bewegung weniger auf die langhaarigen Propheten der Jahrhundertwende; Motivator war der amerikanische Pastor Chuck Smith aus Südkalifornien. Über die eng umrissene Bewegung hinaus erfuhr die Jesus-Begeisterung abermals durch eine Broadway-Produktion einen Popularisierungsschub: mit dem Musical Jesus Christ Superstar, einem Frühwerk des damals noch unbefragung, Berlin, 06. 05. 1967, Bl. 310 sowie »Operatives Material ›Kreuzträger‹«, Berlin, 12. 4. 1967, ebd., Bl. 312ff. 50 BStU MfS AU, Nr. 12493/70, Bd. 2, Vernehmungsprotokoll Arnulf P., Berlin, 03. 08. 1967, Bl. 282. 51 jesus people report: O Mann JESUS liebt dich, Wuppertal 1972, S. 13–14. 52 Ebd., S. 54.

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kannten Musicalproduzenten Andrew Lloyd Webber von 1971. Das Musical wurde ein Jahr später auch in Berlin und Münster aufgeführt und 1973 für die Leinwand verfilmt.53 In dieser Rock-Oper wurde erneut die Figur des in asketisch-charismatischer Tradition stehenden Rockstars mit der des Heilands verschmolzen.54 Die neuen Jesus-Bewegungen sind allerdings nur einige von vielen religiös-esoterischen Strömungen innerhalb der alternativen Bewegungen der 1970er/80er Jahre – zu nennen wären auch die Taiz8-Gemeinschaft, die Family of Love und viele andere mehr.55 Deutliche Parallelen zu den Propheten der Jahrhundertwende und zu außerwestlichen Vorbildern wie etwa dem in Jugendbewegung und Lebensreform äußerst populären indischen Dichter und Bartträger Rabindranath Tagore finden sich auch bei charismatischen Gurus des New Age wie Maharishi Mahesh Yogi, Bhagwan Shree Rajneesh oder Swami Prabhupada.56 In der Rezeption der Letztgenannten sind auch orientalisierende Motive im Spiel – Pascal Eitler spricht von der »Orientalisierung der Religion« in jenen Jahren – in denen abermals langes Haar als Signifikant des Heilsbringer-Status‹ fungiert.57 In der Sektenangst jener Jahre lassen sich überdies deutliche Parallelen zur perhorreszierten »Prophetenseuche« aus dem ersten Jahrhundertdrittel finden. Aufklärungsbroschüren warnten vor den neuen Charismatikern, und das Thema fand sich unter der Überschrift »Jugendsekten – Die neue Droge« 1978 in reißerischer Aufmachung auf dem Cover des Spiegel.58

Rassialisiertes Haar In den 1970er Jahren wurden die Haare nicht nur wieder länger, auch voluminöse Lockenfrisuren wurden im linksalternativen Milieu getragen. Einer der Ursprünge ist der so genannte »Afro«, eine dicht gelockte, nach außen sich zur Kugelform rundende Frisur, die in den USA als Merkmal eines neuen schwarzen Selbstbewusstseins galt.59 Popularisiert wurde sie durch Bürgerrechtsbewegun53 Jesus Christ Superstar, USA: 1973, 106 Min., Regie: Norman Jewison. 54 Vgl. Edgar Reuber: Werkanalyse der Rockoper Jesus Christ Superstar : musikalisch-theologische Perspektiven, Halle a. d. Saale 2007. 55 Vgl. Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 815. 56 Vgl. ebd., S. 807–809. Zeugnis einer frühen Indienbegeisterung legen auch Romane Herman Hesses ab. 57 Vgl. Pascal Eitler : Körper – Kosmos – Kybernetik. Transformationen der Religion im ›New Age‹ (Westdeutschland 1970–1990), in: Zeithistorische Forschungen, Studies in Contemporary History, 2007, Bd. 4, S. 116–136. 58 Der Spiegel, Nr. 29 vom 17. 07. 1978. 59 Vgl. Jens Balzer : Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er, Berlin 2019, bes. S. 154–169.

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gen, vor allem die militante Black Panther Party, aber auch durch ikonisierte Persönlichkeiten wie Angela Davis. Haare wurden im 20. Jahrhundert nicht nur aufgrund ihrer Länge, sondern auch aufgrund ihrer Textur stark rassialisiert. In seinem Buch über »Afroamerikanophilie« hat Moritz Ege herausgearbeitet, wie der Afro sich über Plattencover und Werbemittel – etwa die Afri-Cola-Werbung von Charles Wilp – auch in der bundesdeutschen Alternativszene verbreitete. Die Lockenköpfe des Kommunarden Rainer Langhans und des Fußballers Paul Breitner etwa wurden explizit als Afro-Frisuren wahrgenommen und thematisiert.60 Über die Modifikation der Haare ließ sich eine positiv rezipierte Blackness im Sinne einer kulturellen Aneignung herstellen. Man wollte über die Frisur »schwarz werden«, wie Ege es nennt. Diese Praktik weist aber auch darauf hin, dass – umgekehrt – glattes langes Haar als Marker von Whiteness rezipiert wurde und die Präferenz für diese Haartexturen eine potenziell rassistische war, die auf Ausschluss beruhte. Die Belege in Lebensreform und Jugendbewegung für diese ästhetische Disposition, der stets auch ethnisierte Hierarchien mit teils antisemitischem Charakter eingeschrieben waren, sind Legion und müssen hier nicht noch einmal erläutert werden. Interessanter erscheint die Frage, inwieweit auch die Afrophilie Parallelen oder Vorläufer in der ersten Jahrhunderthälfte hatte. Eine Antwort findet sich im ehemaligen deutschen Kolonialoffizier Hans Paasche.61 Ähnlich wie in der internationalen Boy- bzw. Girl Scout-Bewegung Robert Baden-Powells, die sich auf exotisierende Stereotypen außerwestlicher »natürlicher« Instinkte berief,62 entwarf auch der zum Pazifisten und Abstinenzler geläuterte Ex-Militär Paasche in seinem Buch »Die Briefe des Negers Lukanga Mukara« einmal mehr das Bild des edlen Wilden, dessen Natürlichkeit dem zivilisatorisch verbildeten Europäer als Ressource wieder zugänglich gemacht werden müsse. Das aus Perspektive eines fiktiven Afrikaners geschriebene Büchlein in Form eines Briefromans geht auch eingehend auf Kopfbedeckung und Haartracht ein. So lässt Paasche seinen fiktiven Mukara einen Brief nach Afrika schreiben, in dem sich Motive des Nacktmenschen Ungewitter wiederfinden lassen: »Du glaubst gewiß, die Bewohner des Landes außerhalb der großen Städte gingen nackt einher : nein, auch sie bekleiden sich vom Kopf bis zu den Füßen, und vor allem sieht man nie einen Mann, der keinen Hut auf dem Kopfe trüge. Wenn jemand in einer Stadt ohne Hut ginge, würden die Eingeborenen [die Deutschen, B.M.] scharenweise hinter 60 Vgl. Moritz Ege: Schwarz werden. ›Afroamerikanophilie‹ in den 1960er und 1970er Jahren, Bielefeld 2007, S. 128–129. 61 Vgl. Werner Lange: Hans Paasches Forschungsreise ins innerste Deutschland. Eine Biographie. Mit einem Geleitwort von Helga Paasche, Bremen 1995, bes. S. 91–108. 62 Inspiriert von den kolonialen Indien-Romanen Rudyard Kiplings, besonders von Kim (1901), aber auch The Jungle Book (1894).

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ihm herlaufen und ihn verspotten. Der Hut ist das Zeichen der Würde, und wenn er auch nur aus einem schmutzigen schweißdurchtränkten Bündel Zeug besteht, es gilt als vornehm ihn zu tragen. So kommt es, daß den meisten Wasungu [Deutschen] die Kopfhaare aus Mangel an Licht und Luft wegfaulen und der Kopf kahl wird. Das ist denn auch eine große Sorge aller Männer, und sie geben viel Geld aus bei Leuten, die mit der Pflege des Kopfhaares anderer Eingeborener Geld verdienen wollen. Dort lassen sie sich die verschiedensten Flüssigkeiten empfehlen und verkaufen. Nur das eine tun sie nicht, was nichts kostet und in Deutschland wie in Kitara von dem ärmsten Manne am leichtesten gebraucht werden kann: keinen Hut auf den Kopf zu tun.«63

Ein besonderes Gräuel ist dem fiktiven Afrikaner das Tragen von Perücken: »Mädchen mit Haaren anderer Menschen und mit Steißfedern wilder Tiere«.64 Umso mehr ist er erfreut, als er 1913 zum Freideutschen Jugendtag auf den Hohen Meißner kommt und dort einen ganz anderen Typus Mensch erblickt: »Sie trugen kein Leibgerüst und keine Zwangsschuhe. Sie trugen keine Steißfedern wilder Tiere auf dem Kopfe. Ihr eigenes Haar hing in goldenen Flechten über den Rücken, und Kränze roter Beeren schmückten die Köpfe. Als Lukanga das alles sah, war er wieder froh und folgte ihnen, wohin sie gingen: den Berg hinab und wieder auf einen andern Berg hinauf, wo ein alter Häuptlingssitz emporragte.«65 Man kann den »Lukanga« also durchaus im Sinne einer Afrophilie lesen, als Prozess eines Othering, nicht im Sinne eines abwertenden Rassismus, sondern als verklärenden Exotismus, dem allerdings ebenfalls problematische Ethnisierungen und Sexualisierungen eingeschrieben sind. Paasche ist dabei durchaus keine Ausnahme, auch in der Zeitschrift Die Schönheit finden sich zahlreiche Rekurse auf eine ursprüngliche außerwestliche Natürlichkeit, etwa Japans, Mexikos oder der Südsee.66 Ein Autor der Schönheit reiste eigens nach Tahiti, um sich dort, im »Land des ewigen Frühlings«, die »nackten braunen Sonnenkinder« zum Vorbild zu nehmen. Allerdings seien diese schon dem »schädigenden Einfluß« und »immerwährendem Druck ihrer weißen ›Befreier‹« ausgesetzt gewesen, wie er ebenso kolonialkritisch wie exotisierend anmerkte.67 Um 1980 erlebte die Idee des edlen Wilden, der den zivilisatorisch verbildeten Europäern den Spiegel vorhält, einen erneuten Aufschwung mit einer Neuauflage des 1920 erstmals veröffentlichten Bestsellers »Der Papalagi. Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea« (den man nach einem Gerichtsurteil aus 63 64 65 66

Hans Paasche: Die Briefe des Negers Lukanga Mukara, Werther bei Bielefeld [1921], S. 23–24. Ebd., S. 88. Ebd., S. 86. Gemeint ist die Burg Hanstein in Thüringen. Die Artikelserie »Die Schönheit der Erde« präsentierte u. a. Japan, Nordamerika oder Mexiko als Orte intakter Natürlichkeit; vgl. exemplarisch: Von der Schönheit der Erde. II. Japan, in: Die Schönheit, 1906/07, Nr. IV/1, S. 287–296; IV/6, S. 360–368; Nordamerika, in: ebd., Bd. IV/8, S. 483–492. 67 Vgl. Dr. H. zum Busch: Tahiti, in: Die Schönheit, 1923, Bd. 19, S. 281–286.

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den 1980er Jahren nicht als Plagiat von Paasches Idee bezeichnen darf).68 Von 1977 bis 1980 erfuhr dieses zum Kultbuch der Alternativbewegung avancierende Werk neun Auflagen, Übersetzungen in zehn Sprachen, und brachte es bis auf 1,7 Millionen verkaufter Exemplare allein in Deutschland. Auch der vermeintliche Südseehäuptling kritisiert darin das Tragen von Kopftüchern und Hüten, die auf den Köpfen schwankten »wie ein Boot, das schlecht geladen ist«.69 Der »Papalagi« repräsentiert damit eine der direkten Kontinuitäten zwischen beiden Reformbewegungen – um 1900 und 80 Jahre später.70

Fazit Die Motive des Haartragens sind vielfältig und bisweilen widersprüchlich, was bei einem Vergleich so heterogener Phänome wie der Lebensreform und dem Alternativmilieu freilich nicht überraschen kann. Gleichwohl überschneiden sich viele Motive aus beiden Szenen. Lange Haare galten als Freiheitssymbol, Ausdruck einer neuen Natürlichkeit oder als dezidiert unbürgerliches Signum einer Künstlerimago, die damit am Rande der Gesellschaft verortet wurde. Allerdings rekurrierten die Hippies und Alternativen der 1970er und 1980er Jahre nicht nur auf die Lebensreform und ihre Propheten. Ihre Inspiration fanden sie teils eher in US-amerikanischer Popkultur, es wurden aber auch ältere Codierungen und Semiotiken aufgerufen, die bis auf früh- und vorchristliche antike Bildtraditionen zurückgehen. Überdies muss davon ausgegangen werden, dass lange Haare in den 1970er und 1980er Jahren weniger eine Kontinuität mit der Urgroßelterngeneration herstellen sollten, sondern vor allem eine Abkehr von den ästhetischen Idealen der Großeltern und Eltern demonstrierten, die im Nationalsozialismus sozialisiert worden waren. Für eine genauere Bewertung müsste daher auch die Zwischenzeit betrachtet werden, in der die Kurzhaarigkeit von Männern und langes Haar bei Frauen zu den propagierten Markern einer heteronormativ-binären Frisurenordnung wurden. Schon in den 1920er Jahren wurde das Leitbild eines metallisch glatten Maschinenkörpers populär, wie es etwa der naturistische Gymnastiker Hans Sur8n propagierte und hierzu auch die 68 Erich Scheuermann: Der Papalagi. Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea, Neuausgabe, Zürich 1980, (Buchenbach 1921);. Auch Paasches Buch wurde 1984 neu aufgelegt: Hans Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland (Das Andere Deutschland 2), Bremen Verlag 1984, ebenso in der alternativen Reihe Packpapier im Verlag Grüner Zweig; zum Plagiatsvorwurf vgl. AdJb, N 177 Nr. 20. 69 Ebd., S. 27. 70 Vgl. auch Peter Morris-Keitel: Umwertung aller Werte. Hans Paasches »Lukanga Mukara« neu gelesen, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1988–1992, Bd. 17, S. 163–176.

Walle, walle, nimm die schlechten Lumpenhüllen

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Entfernung aller Körperhaare mittels Rasierapparaten oder gar des »Absengen[s] durch Streichhölzer« empfahl.71 Diese »Militarisierung der Haut« (Maren Möhring), die – wenngleich in geringerem Maße – auch den weiblichen Körper betraf, der ebenfalls mit einem »Muskelkorsett« bzw. einem »Muskelbüstenhalter« gehärtet werden sollte, wirkte nicht zuletzt in den nationalsozialistischen Schönheitsidealen fort.72 Linke Jugendbewegungen verstießen gegen dieses Ideal mit langem, in die Stirn hängenden Haar am Vorderkopf, was hier nur ein Beispiel andeuten soll. Eberhard »tusk« Koebel, der Begründer von dj.1.11, veröffentlichte 1932 in seiner Zeitschrift Das Lagerfeuer unter der Überschrift »haartracht-betrachtung« eine Vignette, in der er die jugendbewegte Frisurenvarianz weltanschaulich sortierte: »manchmal sieht man kahlgeschorene köpfe wie eier, scheußlich! sind wir sträflinge? wenn die haare dieser eierköpfe wieder wachsen, sehen sie aus wie ein fell. christliche pfadfinder haben oft stehhaare. freischar junger nation trägt ein kleines scheitelchen in einem eigens dafür stehengelassenen schöpfchen. aber wir löwen tragen mähnen und brüllen gewaltiglich.«73

Auch dieses Beispiel aus der Zeit zwischen den beiden untersuchten Phänomenen zeigt, dass die Konnotationen durchaus variabel waren: Galten lange Haare zu Zeiten militärischer Kurzhaarschnitte als Befreiung, so konnten es wenige Jahrzehnte später radikale Enthaarungskuren sein, die nun einen neu gedachten Reformkörper hervorbringen sollten. Unter ähnlichen Prämissen konnte in den Jahren nach 1977 etwa die Punk-Bewegung igelkurze Frisuren als Befreiung von der etablierten Langhaarigkeit der Hippies proklamieren, da diese Reformfrisur sich mittlerweile hegemonial durchgesetzt hatte. Gegenkulturelle Signifikanten, so lässt sich daher resümieren, befinden sich in dynamischen Beziehungen mit der Hegemonialkultur und unterliegen Wechselwirkungen, die teils dieselben Zeichen mit konträren Bedeutungen aufladen können. Langes Haar ist ein solches Zeichen und es verbindet Lebensreform und Alternativmilieu über einen langen Zeitraum hinweg.

71 Vgl. Möhring: Marmorleiber (Anm. 5), S. 346f. 72 Ebd. 73 tusk: haartracht-betrachtung, in: Das Lagerfeuer, 1932, 3. Jg., Heft 5/6, Titelseite.

Weiterer Beitrag

Kay Schweigmann-Greve

»Ein Gespenst geht um in der BRD – das Gespenst der Jugendzentrumsbewegung!«.1 Die SJD – Die Falken und die unabhängige Jugendzentrumsbewegung in den 1970er Jahren

Während die Geschichte der unabhängigen Jugendzentrumsbewegung der 1970er und frühen 80er Jahre in den Gesichtskreis der Zeitgeschichte bzw. der historischen Jugendforschung geraten ist2 und auch das Verhältnis einzelner Jugendverbände (z. B. des Bundes Deutscher Pfadfinder, BDP3) mit unterschiedlicher Untersuchungstiefe dargestellt wurde, gibt es bisher keine Untersuchung zum Verhältnis der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken zu dieser Bewegung. Auch für andere Organisationen des sozialen und politischen Spektrums von Sozialdemokratie und Gewerkschaften (Jusos4, Jugendwerk der Arbeiterwohlfahrt, Naturfreunde, DGB-Jugend) fehlen entsprechende Untersuchungen. Ein Vergleich zwischen diesen Organisationen, der differenzierte Aussagen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden in ihrem Umgang mit der Jugendzentrumsbewegung treffen könnte, ist daher gegenwärtig nicht möglich. Es geht hier deshalb zunächst nur um eine erste Annäherung an die Praxis des Falkenverbandes. Die »Falken« waren seit Beginn des 20. Jahrhunderts selbst als Protestbewegung von Arbeiterjugendlichen gegen Fremdbestimmung durch Fabrikherren und Handwerksmeister, aber auch durch die Funktionäre der eigenen Erwachsenenorganisationen, entstanden.5 Gut ein halbes Jahrhundert später, selbst 1 Friedhelm Vetter : Tätigkeitsbericht 1973–1974 des Ortsvereins Gifhorn zur Bezirkskonferenz des Bezirkes Braunschweig, 22./23. März 1975; Archiv der Arbeiterjugendbewegung (AAJB), SJD-BS-GF-3/1. 2 David Templin: Freizeit ohne Kontrollen. Die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre, Göttingen 2015. 3 David Templin: Vom Pfadfinderbund zur »Organisation der Selbstorganisierten«. Der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) und die Jugendzentrumsbewegung der 1970er Jahre, in: Karl Braun, Felix Linzer, John Khairi-Taraki (Hg.): Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung« (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 13j2017), Göttingen 2017. 4 Zu den Jusos vgl. jedoch Templin: Freizeit (Anm. 2), S. 107–118. 5 Vgl. Cornelius Schley : Die Sozialistische Arbeiterjugend Deutschlands (SAJ). Sozialistischer Jugendverband zwischen politischer Bildung und Freizeitarbeit (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Jugendbewegung 30), Frankfurt a. M. 1987, bes. Kap. 1.

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vielerorts etabliert und Teil der institutionalisierten Jugendpflege, trat ihnen in der unabhängigen Jugendzentrumsbewegung jugendliches Streben nach Selbstorganisation nun oppositionell entgegen. Ihre Reaktionen fielen regional sehr verschieden aus. Sie waren einerseits Konkurrenten um die Trägerschaft von Jugendhäusern, andererseits lieferten sie an Orten, wo sich linke Bestrebungen in der Minderheit befanden, etwa auf dem flachen Land in Norddeutschland, der Bewegung organisatorische Unterstützung und arbeiteten aktiv in JZ-Initiativen mit. Viele Jugendliche, die aus Kinder- und Jugendgruppen der Falken kamen, wurden in der Jugendzentrumsbewegung aktiv. Die Falken unterhielten bereits in den 1950er und 1960er Jahren »Falkenheime« und »Häuser der offenen Tür«, in denen dem eigenen Anspruch nach Selbstverwaltung von Arbeiterjugend praktiziert wurde. Arbeiterjugendliche sollten sich in ihren Reihen organisieren, nicht außerhalb der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Die um 1970 aufkommende neue Jugendbewegung stellte daher einerseits das eigene Selbstverständnis in Frage, andererseits boten Einrichtungen des Jugendverbandes tatsächlich Räume, die – jedenfalls teilweise – die Bedürfnisse befriedigten, die andernorts Ursache der JZ-Bewegung waren. In dem bundesweit existierenden Jugendverband mit regional sehr unterschiedlichen Gliederungen und einem Bundesvorstand, der zwar von den starken nordrhein-westfälischen Bezirken dominiert wurde, aber bis zu einem gewissen Grad eigenständig agierte, stellte sich das Verhältnis zur Jugendzentrumsbewegung komplex dar : Die Position des Bundesverbandes entsprach weitgehend derjenigen, die die Bezirke in Nordrhein-Westfalen formuliert hatten; dennoch artikulierten sich zumindest auf den Bundeskonferenzen auch andere Positionen. In den Verbandsgliederungen außerhalb von NordrheinWestfalen stellte sich die Praxis gänzlich anders da als in den sozialdemokratischen Hochburgen des Ruhrgebietes. Im Folgenden soll das Agieren der Falken in unterschiedlichen Kontexten Nordrhein-Westfalens und Niedersachsens behandelt werden, die zeigen, welche zentrale Rolle die Stärke und kulturelle Ausstrahlung des sozialdemokratischen Milieus auf Verbandskultur und politisch-pädagogische Ausrichtung der Falken sowie auf ihre Interaktion mit anderen Milieus und politischen Strömungen hatte. Von diesen differenten Voraussetzungen war auch das Verhältnis der Falken-Ortsverbände zu den lokalen JZ-Initiativen geprägt, es reichte von Fremdheit und Konkurrenz bis zu aktiver Unterstützung. Beeinflusst durch die Schüler-, Lehrlings- und Studentenbewegungen Ende der 1960er Jahre fanden innerhalb der Falken massive Richtungsauseinandersetzungen statt. Infolge dieser Konflikte veränderte sich das Selbstverständnis der Organisation: Bis dahin waren die Falken im Wesentlichen ein Kinder- und Jugendverband, der sich als Teil der »Sozialdemokratischen Bewegung« verstand. Gruppenarbeit und Zeltlager standen im Mittelpunkt, daneben beschäf-

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tigten sich die Falken mit Jugendpolitik, insbesondere durch ein Engagement in den Jugendringen und Einflussnahme auf die jugendpolitischen Positionen der SPD.6 1973 wurde in Gelsenkirchen ein neuer, »linker« Bundesvorstand gewählt, der Primat der innerverbandlichen Debatte wechselte von der Pädagogik zur Politik. Die marxistisch geprägte neue Mehrheit im Verband betrachtete sich nunmehr dezidiert als die organisierte Vertretung proletarischer Kinder und Jugendlicher innerhalb der Arbeiterbewegung. Zwar blieb die organisationspolitische Bindung an die SPD bestehen, die Falken verstanden sich jedoch nunmehr als eigenständig genug, um sich zu Fragen der Atomkraft, der Unterstützung von Befreiungsbewegungen in Lateinamerika oder der NATO-Nachrüstung deutlich links von der Sozialdemokratie zu positionieren.

Die Positionen zur Jugendzentrumsbewegung im Bundesverband Die meisten Berührungen zwischen dem Jugendverband und der Jugendzentrumsbewegung bestanden an der Basis, in den Ortsverbänden. Dem Bundesverband und den Falken in den sozialdemokratischen Großstädten des Ruhrgebietes kam die unabhängige JZ-Bewegung allenfalls als Randphänomen in den Blick. Daher kam es erst auf der Bundeskonferenz im Jahre 1975 in Frankfurt a. M., als die Bewegung bereits auf ihrem Höhepunkt angelangt war, zu einer Diskussion über das Verhältnis der Falken zur Jugendzentrumsbewegung. Die drei konträren Anträge formulierten plastisch die differenten Positionen. Kleinere Gliederungen wie der Bezirk Braunschweig, dessen Antrag die Debatte ausgelöst hatte, vertraten eine Minderheitsposition, die auf eine andere Praxis zurückzuführen war : In den niedersächsischen Klein- und Mittelstädten wie auch in Hannover unterstützte man die Jugendzentrumsbewegung aktiv, es bestanden personelle Überschneidungen. Die Bundeskonferenz wies den Braunschweiger Antrag, der Unterstützung und das Engagement in der Jugendzentrumsbewegung forderte, zurück und statuierte, dass die Gewerkschaftsjugend und der eigene Verband die legitime und ausreichende Vertretung der selbstorganisierten Arbeiterjugend seien. »Aus Mangel an einer langfristigen politischen Perspektive« einer Selbstverwaltung neben der Arbeiterbewegung und ihren Organisationen bestehe für diese Organisationsform keine Notwendigkeit.7 Die Konferenz debattierte über die JZ-Bewegung, nicht mit ihr. 6 Vgl. Kay Schweigmann-Greve: Erich Lindstaedt 1906–1952. Mit Hordentopf und Rucksack als Funktionär der Arbeiterjugendbewegung in die Bonner Republik, Hannover 2015. 7 Initiativantrag Nr. 26, S. 3, Antragsteller Bundesvorstand, Handakte Bundesvorstand zur 15. Bundeskonferenz, AAJB, SJD BV 29/16.

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In den örtlichen Initiativen, so hieß es weiter, sammelten sich »vornehmlich Schüler aus Gymnasien, der Realschule und ein relativ kleiner Teil von Arbeiterjugendlichen«. Die »notwendige und richtige Forderung nach selbstbestimmten Aktivitäten in der Freizeit« wurde zwar anerkannt, die »Selbstorganisation als politisches Organisationsprinzip« jedoch abgelehnt: »War die Forderung nach selbstbestimmten Aktivitäten in der Freizeit vor allem gegen die konfessionellen Jugendorganisationen gerichtet, so richtet sich die Ideologie der Selbstorganisation als politische Organisationsform vor allem gegen die Gewerkschaften und die Arbeiterjugendverbände.«8

Diese Ablehnung der »Organisationen und Organisationsformen der Arbeiterbewegung« durchziehe gerade »diejenigen Jugendzentrumsinitiativen, die sich, ihrem Anspruch nach, für die Interessen der Arbeiterjugend einsetzen wollen«.9 Aus dieser Ablehnung werde deutlich, »daß streng zu unterscheiden ist, zwischen dem Prinzip der Selbstorganisation, das in der Arbeiterjugendbewegung schon seit ihrem Entstehen als Selbstverständlichkeit ihres Gruppenlebens und als Voraussetzung ihrer innerorganisatorischen Entscheidungsstruktur [existiert] und der ›Selbstorganisation als politische Organisationsform‹. Unserem Verständnis nach ist Selbstorganisation der Arbeiterjugend nur in einem sozialistischen Arbeiterjugendverband möglich und die Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken versteht sich deshalb auch als ein selbstorganisierter Arbeiterjugendverband.«10

Gemessen an diesem Maßstab weise das »politische Organisationsprinzip ›Selbstorganisation‹« keine Vorteile »gegenüber der politischen Kampfkraft in den Organisationen der Arbeiterbewegung« auf. Der Jugendzentrumsbewegung sei es nicht gelungen, langfristige politische Aktivität zu gewährleisten, die vielfältigen politischen Niederlagen der Initiativen trügen vielmehr zur Resignation der Beteiligten bei. Jugendzentrumsinitiativen könnten daher »auf längere Sicht […] nicht neben, sondern nur in enger Kooperation mit den Arbeiterjugendverbänden existieren«.11 Dennoch sei die Mitarbeit von Falken in ihnen eine Möglichkeit, die eigenen Forderungen nach »Vergrößerung des räumlichen Angebots an Jugendfreizeitstätten und zur Verwirklichung unserer Vorstellungen von Selbstverwaltung und Selbstgestaltung von Freizeit und der politischen Aktivitäten der organisierten und nicht organisierten Arbeiterjugend« zu artikulieren. Bereits auf der Konferenz artikulierte sich Widerspruch gegen die unterschiedliche Bewertung der Selbstorganisation der Arbeiterbewegung und der Jugendzentrumsbewegung. Die Vertreter des Bezirks Hannover 8 9 10 11

Ebd., S. 1. Ebd. Ebd., S. 2. Ebd., S. 3.

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stellten klar, dass »für unseren Verband nicht die Organisationsbereitschaft der Jugendlichen Voraussetzung der Arbeit sein könnte«.12 Auch aus Nordrhein-Westfalen regte sich Widerspruch, der im Anschluss an die grundsätzlichen Positionen, wie sie der Bundesvorstand in seinem Antrag formuliert hatte, dennoch nicht die »Arbeiterjugendbewegung« sondern die konkreten Jugendlichen, an die sich das Angebot der Jugendzentren richten sollte, in den Mittelpunkt stellte: Der Antrag konzedierte, »daß der Freizeitbereich sich in erster Linie auszurichten hat auf die anzustrebenden Veränderungen im Produktionsbereich«, sprach aber nicht von »Arbeiterjugendlichen« und den Erfordernissen der Arbeiterbewegung. Stattdessen wurde betont, dass die Einrichtungen der »Förderung und Unterstützung der Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen«13 dienten. »Offenheit – nicht nur für Einzelpersonen, sondern auch für alle Gruppen und Arbeitskreise im Einzugsbereich des Hauses«, sowie »Freiwilligkeit« der Selbstbestimmung und Mitverantwortlichkeit für Jugendliche und ihre Gruppen sollten die Praxis leiten. Es gehe dabei um »Erziehung zur Selbstständigkeit der Jugendlichen« und die Heranführung an die »Gremien der Einrichtung, die Planung und Durchführung der Arbeit im Haus entscheiden«.14 Weiterhin wurden – wie auch von den Jusos und vielen freien Initiativen – qualifizierte hauptamtliche Fachkräfte als Mitarbeiter, eine gesetzliche Regelung durch den Landtag und ausreichende finanzielle Förderung durch die Kommunen verlangt. Alle drei Anträge betonten, dass die Jugendzentren nicht als »Inseln der Freiheit« bzw. »sozialistische […] Inseln« in der repressiven kapitalistischen Gesellschaft missverstanden werden dürften. Dies stand im Widerspruch zu den pädagogischen Vorstellungen der Falken in ihrer Zeltlager- und Gruppenarbeit: Der zentrale Ansatz der Pädagogik Kurt Löwensteins (1885–1939),15 des wichtigsten pädagogischen Mentors der Falkenbewegung, beruhte gerade auf der Stärkung des Selbstbewusstseins und der Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen durch die zeitweise Aufhebung der allgegenwärtigen Einschränkungen, die der Kapitalismus für Arbeiterkinder in der Weimarer Republik mit sich brachte. Die Organisation von »Gegenwelterfahrungen«, insbesondere in Zeltlagern – den »roten Kinderrepubliken« –, sollte Kindern und Jugendlichen 12 Protokoll zur Bundeskonferenz der SJD Die Falken 1975, S. 59; AAJB, ZA 3007. 13 Initiativantrag Nr. 13, Antragsteller Jürgen Meißner und 15 weitere Unterschriften, Handakte Bundesvorstand zur 15. Bundeskonferenz, AAJB SJD-BV 29/16. 14 Da der Verband der Falken die Rechtsform eines nicht eingetragenen Vereins hat, gehören alle Immobilien des Verbandes eingetragenen Trägervereinen, deren Geschicke von den Vorständen des Jugendverbandes (mit) bestimmt werden sollen. Es gibt jedoch vielerorts Institutionen, deren Trägervereine sich vom Falkenverband entfernt haben, was regelmäßig mit Konflikten verbunden ist. 15 Vgl. Kay Schweigmann-Greve: Kurt Löwenstein – demokratische Erziehung und Gegenwelterfahrung, Berlin 2016.

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ermöglichen, bereits unter kapitalistischen Bedingungen in der Gegenwart selbst die Erfahrung von Sozialismus und Freiheit zu machen. Sie sollten zu starken selbstverantwortlichen Persönlichkeiten heranwachsen, die aufgrund positiver eigener Erlebnisse in der Lage wären, soziale und politische Verantwortung zu übernehmen.16 Es hätte nahe gelegen, auch den »Freiraum ohne Kontrollen« konzeptionell als eine selbst erkämpfte Zone zu verstehen, in der, ähnlich wie im Zeltlager, emanzipatorische, die Persönlichkeit der Jugendlichen stärkende »Gegenwelterfahrungen« gemacht werden konnten. Dass dieser Zusammenhang in der Diskussion nicht aufgegriffen wurde, zeigt, in welchem Maße die politische die pädagogische Perspektive ersetzt hatte.

Die Entwicklung im Bezirk Westliches Westfalen Das Alltagsgeschehen in den Falkenheimen Nordrhein-Westfalens scheint weitgehend von den Jugendlichen selbst bestimmt worden zu sein, dies jedoch in einem Rahmen, der vom Trägerverein – und nicht, wie in den selbstverwalteten Jugendzentren, die auf die Jugendzentrumsbewegung zurückgingen, von der kommunalen Jugendpflege und der Öffentlichkeit – gesetzt wurde. Fragen des Musikgeschmacks, lange Haare oder die Kleidung scheinen, so lassen die Berichte der Zeitzeugen schließen, nicht zu größeren Konflikten geführt zu haben, Differenzen gab es allerdings um Politisches. Norbert Kozicki, damals Jugendlicher, erinnert sich an eine Situation 1975/76 im Falkenheim in Wanne-Eickel – dessen Trägerverein gehörten Helmut Helwig und der örtliche SPD-Landtagsabgeordnete an –, in der die Grenzen der Selbstverwaltung deutlich wurden: Es ging um den Aushang eines Anti-AKW-Plakates des Kommunistischen Bundes, auf dessen Entfernung Helwig bei einem Besuch des Heimes bestand (es wurde später wieder aufgehängt).17 Insbesondere in Nordrhein-Westfalen hatte sich die Praxis der Falken seit den 1950er Jahren verändert: Neben und teilweise an die Stelle der Gruppen und Zeltlager waren »Häuser der offenen Tür« getreten, deren Besucher nicht mehr notwendig einer Falkengruppe angehörten.18 Der bereits erwähnte Initiativantrag aus dem Bezirk Westliches Westfalen wurde auf einer Landeskonferenz in Gelsenkirchen beschlossen, bevor er in die Bundeskonferenz eingebracht wurde. Der zu dieser Landeskonferenz erstellte Arbeitsbericht enthält einen Beitrag des 16 Vgl. Kurt Löwenstein: Sozialismus und Erziehung. Eine Auswahl aus den Schriften 1919–1933, hg. v. Ferdinand Brandecker und Hildegard Feidel-Mertz, Berlin u. a. 1976. 17 Telefonat des Verfassers mit Norbert Kozicki, 22. 01. 2019. 18 Für die generelle Entwicklung von Jugendeinrichtungen ohne Anspruch auf feste Gruppenzugehörigkeit seit den 1950er Jahren vgl. Templin: Freizeit (Anm. 2), bes. S. 40–55 mit weiteren Literaturverweisen.

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Falken-Bildungs-und Freizeitwerkes NRW e.V., dem zu dieser Zeit 31 Trägervereine angehörten, die eines oder mehrere Falkenheime betrieben.19 Hier wurde der etablierte Charakter der nordrhein-westfälischen Falkenarbeit als Teil der institutionellen Jugendpflege deutlich, eine Perspektive, die dem »Bewegungsimpuls« von Jugendlichen, wie sie sich in der Jugendzentrumsbewegung engagierten, denkbar fern stand und sich auch stark vom Selbstverständnis aktiver Jugendlicher bei den Falken unterschieden haben dürfte. Als Grundlage der Arbeit der Falken wurden im Bericht die »Pioniertaten« der Wiederaufbauphase hervorgehoben, in der bereits viele lokale Falkenheime (»Jugendheime der offenen und teiloffenen Tür«) entstanden seien. Mit ihren Mitbestimmungsmodellen für Jugendliche waren sie bis zu einem bestimmten Maße Vorläufer der späteren Jugendzentrumsinitiativen, unterschieden sich jedoch von diesen durch ihre Integration in den Falkenverband sowie die Betonung fester, zeitlich verbindlicher Gruppenangebote. Diese Häuser, so der Bericht weiter, müssten ihre Ergänzung in überregionalen Einrichtungen (»Freizeit- und Bildungszentren, Zeltplätze, Freizeitstätten im Naherholungsbereich«) finden. Viele der Jugendhäuser seien zwischenzeitlich »dem Verband aus den Händen geglitten«.20 Neue Einrichtungen seien in den zurückliegenden Jahren hauptsächlich von finanzstärkeren konfessionellen Trägern geschaffen worden, denen gegenüber man ins Hintertreffen zu geraten drohe. Es bestehe inzwischen eine Dominanz dieser Träger im jugendpolitischen Bereich, »mit den damit verbundenen Einflußmöglichkeiten auf Kinder und Jugendliche«. Und weiter : »Die Jugendzentrumsbewegung hat deutlich gemacht, daß die Einrichtungen der konfessionellen Träger als Kommunikationszentren für Kinder und Jugendliche – jedenfalls in weiten Bereichen – nicht angenommen werden.«21 Der Kampf »großer Teile der Jugend für selbstverwaltete Jugendzentren« sei »als Reaktion auf ihre Ausbeutung und Unterdrückung im Betrieb, in der Schule und in der Familie« zu begreifen. »Daraus kann aber nicht gefolgert werden, daß der Verband alle Jugendzentrumsbewegungen unreflektiert unterstützt. Vielmehr muss gewährleistet sein, daß konservative (JU, SU) und chaotische Gruppen (KGruppen) nicht zum Zuge kommen können.«22 Es sei Aufgabe »sozialistischer Pädagogen« dafür zu sorgen, dass die Proteste und Aktionen für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum »einen Lehrling in einer Kleinstadt z. B. bei Hausbesetzungen« nicht »in grundlegende existenzielle Schwierigkeiten« geraten ließen.23 19 Sozialistische Jugend Deutschlands-Die Falken: Arbeitsbericht., 8. Landeskonferenz NRW, 1./2. März 1975, hg. v. SJD-Die Falken, Landesverband NRW, Gelsenkirchen [1975]. 20 Ebd., S. 94. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 95. 23 Ebd.

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Diese Analyse ignorierte, dass sich die Proteste der JZ-Bewegung primär gegen das generelle Fehlen von Orten, an denen Jugendliche sich ungezwungen treffen konnten, und auch gegen die Struktur bestehender, oft kommunaler Einrichtungen richteten. Die Forderung nach selbstbestimmten Freizeitorten dürfte auch eher Ausdruck individueller Freizeit- und Konsumbedürfnisse gewesen sein als Protest gegen kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse oder die Dominanz kirchlicher Einrichtungsträger. Diese Sichtweise entsprach jedoch der an einem recht mechanischen Marxismus orientierten Verbandsperspektive und der antikonfessionellen Grundhaltung der Organisation. Sie mag jedoch auch von speziellen regionalen Umständen beeinflusst gewesen sein. Es folgte eine Problemanalyse hinsichtlich der eigenen Heime. Die »›Pioniere‹ der Falkenheime« stünden »kaum noch in der aktiven Verbandsarbeit«, der »positive Prozess der Verjüngung des Funktionärskörpers« habe auch zu Problemen geführt. Es gäbe »Entfremdungsprozesse«, die teilweise auf politischen Differenzen beruhten, teilweise auf »Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Nutzung der Häuser«24 – eine freundliche Umschreibung der Differenzen hinsichtlich der pädagogischen Konzepte zwischen den Generationen, zwischen traditioneller Verbandsarbeit und den neuen Ansätzen von »antiautoritärer Pädagogik«, »Basisdemokratie« und »freier Liebe«, die mittlerweile auch in NordrheinWestfalen den Verband erreicht hatten. Vor diesem Hintergrund erscheint die Eingangsformulierung des bereits vorgestellten Initiativantrags Jürgen Meißners auf der Bundeskonferenz als Aufforderung an die Politik, die materiellen Voraussetzungen der Expansion der eigenen Arbeit zu schaffen: »Zur Förderung und Unterstützung der Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen kommt der Einrichtung von Jugendzentren besondere sozialpädagogische und gesellschaftspolitische Bedeutung zu. Hierzu bedarf es sowohl einer gesetzlichen Regelung durch den Landtag von NRW als auch einer verstärkten finanziellen Unterstützung durch den Landtag, die Stadtverordnetenversammlungen und Kreistage in NRW.«25 Ehemalige Aktive dieser Jahre erinnern sich nicht an persönliche Begegnungen mit der freien Jugendzentrumsbewegung. Dem Falken-Funktionär Norbert Kozicki aus Wanne-Eickel zufolge war diese »im Ruhrgebiet im sozialdemokratischen Milieu kein Thema«.26 Der damalige Landesvorsitzende von 24 Ebd., S. 96. 25 Antrag auf der Landeskonferenz NRW, AAJB SJD-NRW 3/12, identisch mit dem Initiativantrag Nr. 13 (Anm. 13). 26 Norbert Kozicki, in den 1970er Jahren ehrenamtlicher, später hauptamtlicher Gruppenleiter, Funktionär und Sekretär der Falken aus Wanne-Eickel in einem Telefonat mit dem Verfasser am 22. 01. 2019. Genauso erinnern dies andere Aktive wie Rainer Kulessa, Gruppenleiter und ehrenamtlicher Funktionär der Falken aus Gelsenkirchen, später im Bundesvorstand, und Harald Wirbals, Bildungssekretär in der Bundesschule der Falken.

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NRW, Helmut Helwig, und andere organisierten die materielle Grundlage für die Expansion der Falkenjugendeinrichtungen, die in der Lage gewesen zu sein scheinen, die Jugend im sozialdemokratischen Milieu des Ruhrgebietes zu großen Teilen erfolgreich zu integrieren. Trotzdem gab es auch in sozialdemokratischen Hochburgen mit starken Falkengliederungen freie Initiativen und solche, die der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) oder dem Kommunistischen Jugendverband (KJV) der KPD nahestanden: Bereits im November 1972 wurde in Moers eine Aktion »Jugendkastell« gegründet, die Vertreter von Landjugend und Falken forderten seine Einrichtung als JZ in Selbstverwaltung.27 Im Sommer 1973 schrieb ein Michael Steinmann aus Bochum von der Arbeitsgemeinschaft Jugendzentrum (AGJZ) in der SDAJ-Zeitung elan: »Mit uns zusammenarbeiten wollen nun aber erfreulicherweise die Falken. Damit sind die Differenzen zwischen AGJZ und Falken beigelegt.«28 Im November 1973 unterstützten die Falken in Dortmund ein freies Jugendzentrum.29 An der Demonstration einer Jugendzentrumsinitiative in Kamen 1973 beteiligen sich neben der DGB-Jugendgruppe und einem Komitee »Arbeiterjugend gegen politische Entlassungen und Gewerkschaftsausschlüsse« auch die lokale Falken-Gruppe.30 Selbst in eigenen Häusern gab es vereinzelt Auseinandersetzungen mit Kräften außerhalb des sozialdemokratischen Milieus. 1974 existierte im Essener Stadtteil Holsterhausen ein von den Falken betriebenes Jugendheim mit einem marxistisch orientierten Sozialarbeiter, dem im September 1976 von den Falken gekündigt wurde (vermutlich wegen seiner Nähe zum KBW). Jugendliche protestierten, es entwickelte sich ein »Kampf gegen die Entlassung und für ein selbstverwaltetes Jugendheim« mit Wandzeitungen, Unterschriftensammlung und einem offenem Brief – offenbar eine KBW-nahe Initiative. Als am 25. Oktober 1976 Jugendliche das geschlossene Heim betreten wollten, öffneten sie die Tür mit einem Schraubenzieher, die Falken benachrichtigten Polizei und Staatsschutz. Es kam zur Gründung einer »Gruppe Freies Jugendheim Holsterhausen«: »Wir beschließen, die Forderung nach einem Heim zu erheben, das von uns selbst geleitet wird und das von den Falken in unsere Hand gegeben werden muß!«31 27 Datenbank David Templin zur »Jugendzentrumsbewegung 1970–1982«. 28 Elan, 1973, H. 8, S. 46f. 29 Vgl. z. B. den Bericht eines Autorenkollektivs: Der Aktionskreis für ein freies Jugendzentrum und die Politik der SPD in Dortmund, in: Erziehung und Klassenkampf, 1974, Nr. 15–16, S. 105–114, hier S. 109. 30 Kämpfende Jugend, November 1973, Nr. 10, S. 5. 31 Gruppe Freies Jugendheim Holsterhausen: Falkenaufsicht = Staatsaufsicht. Das Jugendheim in Selbstverwaltung!, Essen [ca. 1976], Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, 14–9, 61, 07.

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In Hagen bestand 1975 eine Freizeitinitiative für ein freies Jugendzentrum, die wirksame Mitbestimmungsrechte forderte, an der u. a. SDAJ, Falken und DGBJugend beteiligt waren.32 Wenn es eine Kooperation mit kommunistischen Gruppen gab, dann eher mit der DDR-nahen SDAJ und seltener mit anderen, etwa maoistischen Gruppen der »neuen Linken«. Ein Gegenbeispiel hierzu scheint die Auseinandersetzung um ein in Trägerschaft der Falken befindliches Jugendzentrum in Unna gewesen zu sein. Sowohl die sympathisierende Berichterstattung des Arbeiterkampf33 legt die Vermutung nahe, es habe eine Verbindung zum Kommunistischen Bund (KB) bestanden, wie auch der Umstand, dass es 1976 polizeiliche Hausbesuche bei den verantwortlichen Falkenfunktionären und einen (erfolglosen) CDU-Einspruch beim Regierungspräsidenten gegen die Förderentscheidung durch die SPD gab. Noch 1978 war der Konflikt nicht gänzlich ausgestanden.34 Rolf Stöckel, damals Mitglied im Unterbezirksvorstand Hamm-Unna der Falken, berichtet von der Initiative der Jusos in Unna zur Gründung dieses JZ, und erinnert sich weiter : »Es gab öfter polizeilichen Ärger für die Falken auch in Unna im Zusammenhang mit Anti-NPD-Demos und öffentlichen Rekrutenvereidigungen z. B. 1978 wg. unserer Bündnisse in der Friedensbewegung mit SDAJ und KBW-Leuten. Die hatten aber keinen Einfluss auf das JZ.«35 Es ist erstaunlich, dass all diese Ereignisse und Konflikte in der Debatte auf der Bundeskonferenz 1975 nicht auftauchten! Dies könnte entweder darauf zurückzuführen sein, dass es den etablierten Jugendpolitikern auf den Wahlkonferenzen der Bezirke gelungen war, kritische Delegierte der entsprechenden Ortsverbände von der Konferenz fernzuhalten, oder dass angesichts der damaligen Größe des Falkenverbandes diesen Vorkommnisse als Einzelereignissen keine bedeutende Rolle zugemessen wurde. Allenfalls die Formulierungen im Antrag des Bundesvorstandes, die Ablehnung der »Organisationen und Organisationsformen der Arbeiterbewegung« durchziehe gerade »diejenigen Jugendzentrumsinitiativen, die sich, ihrem Anspruch nach, für die Interessen der Arbeiterjugend einsetzen wollen«,36 zeigt, dass diese Konflikte unterschwellig präsent gewesen sein müssen. Wenn Norbert Kozicki sich erinnert: »Die Jugendzentrumsbewegung war für uns weit weg, wir haben sie jedoch mit Sym-

32 Elan, 1975, H. 2, S. 23. 33 Sozialistische Korrespondenz, 1976, April/2; Arbeiterkampf, 26. 04. 1976, Nr. 79. 34 Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (Hg.): Bildung und Erziehung durch Jugendhilfe. Konzepte – Probleme – Konflikte. Reader zum 6. Deutschen Jugendhilfetag, Köln 1978. 35 Rolf Stöckel in einer E-Mail an den Verfasser vom 19. 05. 2019. 36 Initiativantrages Nr. 26: Handakte Bundesvorstand zur 15. Bundeskonferenz 1975, S. 1, AAJB, SJD BV 29/16.

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pathie betrachtet!«,37 so spiegelte dies nur einen Ausschnitt der damaligen Verbandsrealitäten wider.

Die Entwicklung in Niedersachsen Das Falken-Jugendzentrum Lister Turm und die Unabhängigen Jugendzentren in Hannover Im Bezirk Hannover hatte 1970 eine »Linkswende« stattgefunden. An die Stelle der »rechten«, an politischer Pädagogik wenig interessierten Sozialdemokraten, die der »antiautoritären Pädagogik« ablehnend gegenüberstanden und deren Gruppen- und Zeltlagerarbeit wenig politisiert war, trat ein neuer, verjüngter Vorstand. Die Älteren zogen sich daraufhin weitgehend aus der Arbeit zurück.38 Entsprechend dem veränderten Ansatz der »sozialistischen Opposition« hatten sich für die Falken neben der traditionellen Gruppenarbeit in den Ortsverbänden neue Tätigkeitsfelder im Bereich der Lehrlingsarbeit und der Schülerarbeit entwickelt. Darin verstanden sich die Falken als Teil sozialer Bewegungen außerhalb des Verbandes, so auch der Jugendzentrumsbewegung. In Hannover hatte sich die Jugendzentrumsbewegung bereits früh in scharfer Auseinandersetzung mit der sozialdemokratischen Stadtverwaltung entwickelt: Nach einem Konzert der Polit-Rockband »Ton Steine Scherben« im Audi Max der Universität Hannover besetzten etwa 300 Jugendliche am 16. Dezember 1971 ein leer stehendes Fabrikgebäude in der Arndtstraße 20, um dort ein autonomes Jugendzentrum einzurichten.39 Die Stadt reagierte mit massiver Repression und ließ das Gebäude drei Tage später durch einen großen Polizeieinsatz mit Was-

37 Telefonat des Verfassers mit Norbert Kozicki, 22. 01. 2019. Auch Rainer Kulessa, Falkenfunktionär in Gelsenkirchen und Bundesvorstandsmitglied, erinnert sich in einer E-Mail an den Verfasser vom 17. 12. 2018 daran, dass das Thema JZ im Bundesvorstand in den 1970er Jahren und die SDAJ in Gelsenkirchen »keine Rolle« spielten. 38 Vgl. Heinrich Eppe: Veränderungen der Partizipationsstrukturen in den Zeltlagern des Bezirks Hannover der SJD-Die Falken unter dem Einfluss der Studentenbewegung, in: Jochen Zimmer (Hg): Lagerfeuer im Atomzeitalter. Gewerkschaftliche und sozialdemokratische Jugendgruppen unter Einfluss der ApO, Duisburg 2009, S. 122–179. 39 Telefoninterview mit Heiner Rosenbrock, einem Aktivisten der Kornstraße, am 05. 01. 2019. Vgl. David Templin: »Modellprojekt« oder »Seuchenherd«. Zum Umgang westdeutscher Kommunen mit Protesten für selbstverwaltete Jugendzentren am Beispiel Hannover, in: Alexandra Jaeger, Julia Kleinschmidt, David Templin (Hg.): Den Protest regieren. Staatliches Handeln im Umgang mit neuen sozialen Bewegungen und linken Organisationen in den 1970er und 1980er Jahren, Essen 2018, S. 75–100.

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serwerfern räumen.40 Die anwesenden Jugendlichen wurden von der Polizei misshandelt und die angeblichen »Rädelsführer« mit Prozessen überzogen.41 Die Falken nahmen nicht nur an der Protestdemonstration gegen die Räumung teil, sondern stellten sich spontan, als der Demonstrationszug an der Arndtstraße 20 vorbeiführte, mit ihren Megafonen vor die offenen Tore und forderten die Teilnehmer auf, nicht erneut in das Gebäude einzudringen, da dort eine große Zahl Polizisten bereitstanden, die bereits erwartungsvoll »mit den Schlagstöcken in der einen in die andere Hand klopften« und auf die Erlaubnis zum Losschlagen warteten.42 In der Folgezeit entschied sich ein Teil der Besetzer gegen erneute Besetzungsaktionen und mietete in der Nähe ein Grundstück an. Hieraus entwickelte sich das noch heute bestehende Unabhängige Jugendzentrum (UJZ) Kornstraße. Von Anfang an nahmen Falken an den Aktivitäten der UJZ-Initiativen teil. Innerhalb der Hannoverschen Falken äußerte sich die Sympathie gegenüber Jugendzentrumsinitiativen in der Zurverfügungstellung von Infrastruktur (Räume, Druckmöglichkeiten, Zelte, VW-Bus) und einer massiven Fürsprache in den Gremien der SPD und gegenüber der kommunalen Jugendpflege.43 Die Falken übernahmen auch selbst die Trägerschaft eines Jugendzentrums, das am 9. Februar 1974 eröffnet wurde44 und dessen Tätigkeit und Integration in den Jugendverband zu jahrelangen Diskussionen führte. Das bis heute existierende Falken-JZ Lister Turm befindet sich in einem Hinterhaus der alten Musikhochschule Hannovers, deren Hauptgebäude 1974 zu einem Freizeitheim für den umgebenden Stadtteil List umgewidmet wurde. Im Zusammenhang dieser Planung wurde den Falken im Frühjahr 1973 von der städtischen Jugendpflege die Trägerschaft angeboten, verbunden mit Büroräumen für das Bezirks- und Unterbezirksbüro des Verbandes im Haupthaus.45 Dieses Angebot entsprang offensichtlich einem Interesse der Jugendpflege, die UJZ-Initiative für die Stadtteile List und Buchholz zu schwächen. Aus ihrer Perspektive dürfte für eine Trägerschaft der Falken gesprochen haben, dass es sich um einen Jugendverband handelte, der einerseits aktiv am Stadtjugendring beteiligt war, dessen Gruppen und Zeltlagerarbeit der Jugendpflege bekannt waren und der – trotz aller Kon40 UJZ Kornstraße: »Jugendliche kämpfen um autonome Zentren«, in: http://www.neuepresse. de/Hannover/Meine-Stadt/NP-Serie-50-Jahre-68er/UJZ-Kornstrasse-Jugendliche-kaempfenum-autonome-Zentren [27. 12. 2018]. 41 StadtA Hannover, Akte Jugendamt Nr. 530. 42 Bericht Arno Mekelburg, damals Bezirksvorsitzender der Falken in Hannover, am 16. 01. 2019. 43 Michael Vester, Prof. für Soziologie an der Universität Hannover und Vorsitzender des Trägervereins des UJZ Kornstraße, in einem Gespräch am 16. Januar 2019, Vgl. auch: Kornstraße: Falken fordern Mittel, in: Neue Hannoversche Presse, 04. 02. 1975. 44 Jürgen Hohmann: Jugendprojekt Lister Turm, in: Roter Falke (RF), April 1974, Nr. 13, S. 5. 45 Ebd., S. 4.

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flikte mit der regierenden SPD – locker an deren Strukturen angebunden war. Auf der anderen Seite fanden die Falken mit ihren gewerkschaftsnahen Lehrlingsgruppen Akzeptanz in den Kreisen linker Jugendlicher, da sie als Teil der Lehrlingsbewegung wahrgenommen wurden und sich der Verband aktiv am Protest gegen die Räumung der Arndtstraße beteiligt hatte. Außerdem gab es personelle Überschneidungen im Engagement für die Unabhängigen Jugendzentren Glocksee und Kornstraße – man kannte sich. Auch der benachbarten Initiative für ein UJZ Oststadt/List standen die Falken »solidarisch gegenüber« und unterstützten sie »durch Bereitstellen von Räumen und Drucken ihrer Flugblätter«.46 In einem Flugblatt erklärte diese Initiative dennoch, weshalb das Falken-JZ Lister Turm, »kein Ausweg aus dieser Misere« sei und ihr Anliegen nicht obsolet mache: Das Gebäude sei viel zu klein und es gebe »eine ›Selbstverwaltung‹ der Jugendlichen nur unter der Kontrolle der Falken«.47 Trotz kooperativem Umgang wird auch hier die für JZ-Initiativen typische Distanz zu Organisationen deutlich, die eine fremde Eigenlogik und überlokale Strukturen aufwiesen. Beides stand dem Streben nach Selbstbestimmung der Protagonisten in den Initiativen entgegen. Die Initiative für ein UJZ in Oststadt/List hatte im März 1974 mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie einem Straßenfest auf ihr Anliegen aufmerksam gemacht.48 Am 30. März besetzten dann »fast 100 Jugendliche« im Anschluss an dieses Fest einen »seit etwa drei Jahren lehrstehenden Luftschutzbunker«.49 Am 4. April wurden die Besetzer, die sofort mit der Instandsetzung begonnen und in einem Flugblatt die Stadt um Gespräche gebeten hatten, von der Polizei »überrumpelt«. Der »vorsorglich bereitgestellte Wasserwerfer brauchte nicht eingesetzt zu werden«, und die zu dieser Zeit anwesenden 13 Jugendlichen sowie zwei Kinder wurden ohne massivere Gewaltanwendung aus dem Gebäude entfernt.50 Die geräumte Initiative berichtete in der Hannoverschen Fresse über Unterstützung durch Dritte: »Der Kampf der Initiativgruppe wurde nur vom KJV und von der ASOL [Aktionsgruppe Stadtteil Oststadt/List] konsequent unterstützt. KJV Genossen beteiligten sich in großer Zahl an der Besetzung und Verteidigung des Bunkers… lächerlich machte sich die SDAJ, …die Wahlpropaganda für die DKP betrieb und Mitbestimmung im Jugendzentrum forderte… Die SPD

46 Jürgen Hohmann in einem Kommentar zu einem kritischen Artikel aus einer »Juso-Wahlkampfzeitung«, ebd., S. 6. 47 Das Flugblatt ist dokumentiert in der Hannoversche Fresse Nr. 8, deiner Zeitung aus dem linskradikalen Spektrum, die nach Erinnerung von Zeitzeugen in diesen Nummern im Jugendzentrum Kornstraße produziert wurde; StadtA Hannover, Akte Jugendamt 390. 48 Symbolisches Jugendzentrum, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ), 30. 03. 1974. 49 HAZ, 01. 04. 1974. 50 HAZ, 05. 04. 1974.

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Ortsgruppe Oststadt/List unterstützte die Initiative teilweise verbal…«51 Im selben Monat erschien eine Ausgabe des Roten Falken (RF), der Bezirkszeitung der Falken, mit Beiträgen und dokumentierter Zeitungsberichterstattung, Flugblättern des AStA der Universität Hannover und der geräumten Jugendlichen selbst. Die Falken rechtfertigten die Übernahme des Lister Turms: »Im Frühjahr 1973, die Jugendzentrumsbewegung war durch Fraktionskämpfe und Schwierigkeiten in der inhaltlichen Arbeit stark geschwächt«, habe die Stadt die Übernahme angeboten.52 »In den Sommer- und Herbstmonaten gab es lose Kontakte zur Jugendzentrums-Initiativgruppe Oststadt/List, die aber eher als ein verbalradikaler kleiner Haufen ohne Basisverankerung eingeschätzt wurde.«53 Die Übernahme des JZ Lister Turm wurde von den Jusos, die die Urheberschaft der UJZ-Initiative Oststadt/List für sich reklamierten, kritisiert. Sie warfen den Falken vor, die Stadt hätte diesen längst »Hausrecht und Nutzungserlaubnis« entzogen, wenn »dort eine konsequente politische Arbeit betrieben worden wäre«.54 Auch im Bundesverband der Falken war der Konflikt wahrgenommen worden, wenig wohlwollend schrieb ein früherer Sekretär aus NRW, der den Verband im Zorn verlassen hatte, in seiner Generalabrechnung mit den Falken, dass sich »der Bezirk Hannover und andere kleinere Gliederungen… [zwar] grundsätzlich für die JZ-Bewegung« einsetzten, »wenn auch in der Praxis, z. B. in Hannover, dann doch das Verbandsinteresse über die Solidarität mit einer JZI siegte«.55 Das JZ Lister Turm stellte ein wesentliches Arbeitsfeld für die Hannoverschen Falken dar, wie sich aus dem Stellenwert, der ihm im Roten Falken und in Berichten für Bezirkskonferenzen eingeräumt wird, unschwer ablesen lässt. Mit dem Jugendamt war vereinbart worden, dass das JZ Lister Turm sich zu einem Treffpunkt für »nichtorganisierte Arbeiterjugendliche (Volksschüler, Lehrlinge, Jungarbeiter)« aus den Stadtteilen List, Oststadt und Buchholz entwickeln sollte. Es bestand »außerdem der Anspruch, das Angebot nicht an die intellektuelle Jugend zu richten«.56 Unterstützt durch einen Sozialarbeiter, einen Jugendleiter, einen Jahrespraktikanten und ehrenamtliche Mitarbeiter aus dem Lehrlingsbereich des Verbandes sollte versucht werden, »die Jugendlichen politisch so zu motivieren, daß sie sich für ihre Interessen einsetzen«. Dabei stünde nicht nur die politische Aktion im Vordergrund. Man war vielmehr überzeugt, dass »vor Auszüge aus der Hannoverschen Fresse, Nr. 9, StadtA Hannover, Akte Jugendamt Nr. 390. Hohmann: Jugendprojekt (Anm. 44). Ebd. Wiedergabe eines Artikels aus einer »Juso-Wahlkampf-Zeitung«, in: RF, April 1974, Nr. 13, S. 6. 55 Martin Henkel: Wir sind die Junge Garde des Sekretariats. Basis und Bürokratie bei der SJDDie Falken, Bochum 1976, S. 86. 56 Hohmann: Jugendprojekt (Anm. 44). 51 52 53 54

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allen Dingen längerfristige inhaltliche Arbeit in Gruppen Bewußtseinsprozesse hervorbringt.«57 Die Hannoverschen Falken hatten sich in einem bezirksinternen Umstrukturierungsprozess in einen »Oberschülerbereich«, einen »Betriebsund Gewerkschaftsbereich« und einen »Kinder- und Hauptschülerbereich« gegliedert. Während im übrigen Verband Schüler und Studenten mit ihren aus der Studentenbewegung stammenden Ideen dominierten, verstand sich der Betriebs- und Gewerkschaftsbereich als Teil der Lehrlingsbewegung.58 In dessen Strukturen war auch das JZ Lister Turm angesiedelt. Es existieren zu dieser Zeit Betriebsgruppen der Falken in acht Hannoverschen Betrieben, deren Koordinationsrat sich im JZ Lister Turm traf.59 Die Integration des JZ in die verbandlichen Strukturen verlief nicht problemlos. Ein Konfliktfeld war das Verhältnis der Nutzer, weitgehend nicht organisierter proletarischer Jugendlicher, zum übrigen Verband. Da die Wurzeln der Falken historisch in der Selbstorganisation von Arbeiterjugendlichen im Kaiserreich und der Weimarer Republik lagen, spielte das Selbstverständnis »Arbeiterjugend« zu sein und diese politisch zu repräsentieren eine wichtige Rolle. Bis zu den sozialen Umbrüchen der 1970er Jahre dürfte dieses Selbstverständnis auch der Mitgliedschaft der Falken entsprochen haben. Gerade im Bezirk Hannover hatte sich jedoch in Folge des Engagements von Schülern und Studenten nach »1968« die soziale Zusammensetzung gewandelt. Auch weiterhin suchte der Verband jedoch die Nähe zu den Gewerkschaften und spielte für die linke Strömung in der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr eine wichtige Rolle. Auch für Jugendliche, die selbst aus der Mittelschicht stammten, war die »Arbeiterjugend« ein wichtiger Bezugspunkt in ihrem Selbstverständnis.60 In einem Beitrag des Roten Falken gut zwei Jahre nach der Eröffnung des Hauses wurde die bisherige Arbeit mit den Jugendlichen und »die inzwischen stark negativ besetzte Existenz des JZ innerhalb des Verbandes« analysiert.61 Es gebe eine Ablehnung gegenüber proletarischen Jugendlichen, die kein Interesse an inhaltlicher Arbeit hätten, sondern nur Musik hören, konsu-

57 Ebd., S. 4. 58 Zur Lehrlingsbewegung vgl. Knud Andresen: Gebremste Radikalisierung: Die IG Metall und ihre Jugend 1968 bis in die 1980er Jahre, Göttingen 2016, S. 114–217. 59 Jürgen Hohmann in einem Telefonat am 28. 01. 2019. Betriebsgruppen bestanden Hohmann zufolge beim Schreibwarenhersteller Pelikan, im Krankenhaus Siloah, im Zoo Hannover, beim Reifenhersteller Continental und der Firma Kabelmetall. 60 Zum Verhältnis der Jugendzentrumsbewegung zur »Arbeiterjugend« außerhalb der Falken vgl. David Templin: Avantgarde im Klassenkampf oder aufstiegsorientierte Minderheit? Arbeiterjugend in sozialen Bewegungen der späten 1960er und 1970er Jahre, in: Arbeit – Bewegung – Geschichte, 2018/III, S. 39–56. 61 Einiges zum Jugendzentrum, in: RF 1976, Nr. 4, S. 3–17, hier S. 4.

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mieren und entspannen wollten.62 Doch dürfe man »Unterschichtsarbeiterjugendliche nicht als ›Flipper‹, Haschbrüder‹« abqualifizieren und ihr Verhalten »generell nicht als letzten Endes ausschließlich persönlich verschuldete Macke abtun«.63 Auch in anderen Stadtteilen Hannovers bestand das Problem für Jugendliche, Räume für selbstbestimmte Freizeitgestaltung zu finden, berichtete ein »Frank« aus Hannover-Stöcken im RF. Es handelte sich um Jugendliche, die dankend Hilfe vom Sozialarbeiter des UJZ Kornstraße annahmen, wo sie sich zeitweise trafen, aber auch mit den Falken zusammenarbeiteten. Die Räume der Stöckener Falken sollten mit Unterstützung der Jugendlichen an zwei Tagen in der Woche ein offenes Angebot bereithalten, an den anderen Tagen fand dort weiter die Gruppenarbeit der Falken statt.64 Die Initiative für ein Jugendzentrum führte letztlich nicht zur Trägerschaft der Falken, die sich nicht »mit Nachdruck« darum bemühten, da sie vor der Übernahme einer weiteren Einrichtung zurückschreckten, bevor das JZ Lister Turm ausreichend in den Verband integriert war. Schließlich entstand in Stöcken ein kommunales Jugendzentrum.65 Betreuer und Aktive aus dem UJZ Kornstraße ebenso wie aus anderen Jugendzentren nahmen im Jahr 1974 an Zeltlagern der Falken teil. In der UJZHauszeitung Von + zum Korn wurde im April 1974 eine längere Ausschreibung für die Teilnahme am »Lehrlingscamp der Falken« zu Pfingsten veröffentlicht.66 In einem für die Jugendpflege der Stadt Hannover geschriebenen Bericht über die Arbeit der Kornstraße wurde von der Teilnahme am »Pfingstcamp der Falken in Wennigsen (13 Teilnehmer)«67 berichtet. In der Von + zum Korn wurden auch drei Falkenzeltlager in den Sommerferien (Kinderzeltlager auf der Nordseeinsel Föhr für Kinder bis 12 Jahren, Schülerzeltlager in Hallein/Österreich für 12–15 Jahre, und Lehrlingslager ab 15 Jahre an der Cite d’Azur/Frankreich) beworben. Für das Lager in Hallein kündigte die UJZ-Zeitung auch den Termin des ersten Vorbereitungsseminars für Betreuer (bei den Falken traditionell als »Helfer« bezeichnet) an, über das sie dann auch berichtete. Demnach nahmen fünf Personen aus der Kornstraße zusammen mit Falken aus der Gruppenarbeit des Bezirkes und aus dem Jugendzentrum Lister Turm an dem Vorbereitungswochenende teil. Dort wurde auch die Frage diskutiert, warum das UJZ Korn62 Diese Probleme hatten nicht nur Falken-JZs, sondern fast alle selbstverwalteten Jugendzentren; vgl. Templin: Freizeit (Anm. 2), S. 349–358, S. 405–428. 63 RF, 1976, Nr. 4, S. 4f. 64 »Frank«, in: RF, 1976, Nr. 3, S. 19. 65 Telefonat mit Jürgen Hohmann am 27. 12. 2018. 66 Von + zum Korn, 11. 04. 1974, Nr. 10, S. 4. 67 Alvons Diemer, Michael Vester : Kornstraße ’74. Arbeitsbereiche und Aktivitäten des UJZ Hannover-Nordstadt in der Kornstraße. Stand: November 1974 [1974], Privatarchiv des Verfassers (KSGA).

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straße mit ins Zeltlager fahre. Alvons Diemer, der hauptamtliche Mitarbeiter des UJZ, nannte als Beweggründe die »miese finanzielle Lage der Kornstraße, Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, Mangel an Erfahrung« der eigenen Ehrenamtlichen.68 Auch die Frage möglicher Konflikte wurde angesprochen, man hielt sie jedoch wegen der Übereinstimmung in der theoretischen Konzeption des Zeltlagers für unwahrscheinlich.69 Die vorbereitende Lagerfete am 17. Juli 1974 fand gemeinsam für alle Teilnehmer im UJZ Kornstraße statt.70 Arno Mekelburg, hannoverscher Bezirksvorsitzender und Lagerleiter, erinnert sich, dass im Lager selbst die Zusammenarbeit durchaus konfliktbehaftet war, das »Kornstraßendorf« führte ein gewisses Eigenleben.71 Dieter »Alvons« Diemer hatte eine spezielle Vorgeschichte mit den Falken: 1972 hatte er als hauptamtlicher Bildungsreferent der Falken für den Kreisverband Düsseldorf ein Zeltlager mit 40 Teilnehmern in Seeheim an der Bergstraße geleitet, das aus politischen Gründen abgebrochen worden war und zu Diemers fristloser Entlassung und seinem Ausschluss aus dem Verband geführt hatte.72 Anlass war die Benennung eines der Zelte des Lagers durch die Jugendlichen nach Petra Schelm, einer ein Jahr zuvor von der Polizei in einem umstrittenen Einsatz erschossenen RAF-Aktivistin, ein angeblich RAF-solidarisches Transparent im Lager und das teilweise gewaltsame Vorgehen gegenüber den herbeigeeilten Landes- und Bundesvorsitzenden, die diese Zustände beenden wollten. Diese Vorgeschichte war den hannoverschen Falken bekannt, der Bericht in Erziehung und Klassenkampf wurde auf dem Wochenendlehrgang 18./ 19. Mai 1974 kritisch diskutiert.73 Wenige Wochen später übersandten die hannoverschen Falken dem Bundesvorstand einen neuen Aufnahmeschein Diemers, verbunden mit dessen persönlicher Stellungnahme und der bezirklichen Einschätzung, dass »der Vorstand des Bez. Hannover einen echten Grund für die Nichtaufnahme des Dieter Diemer nicht sieht. Wir haben hier Diemer und seine Arbeit in Hannover kennengelernt und sehen von hier aus keinen Hinderungsgrund ihn aufzunehmen«.74 Auch das Zeltlager in Hallein war mit Konflikten verbunden, allerdings solchen mit der örtlichen Bevölkerung, der Polizei und den Ortsbehörden. Etwa 50 Jugendliche aus dem Zeltdorf der Kornstraße75 störten einen örtlichen Gottes68 69 70 71 72

Protokoll der Teamsitzung vom 24.04.74, Top Nr. 3, KSGA. Ebd. Protokoll des vorbereitenden Teamerrates, in: Mittellager vom 25. 06. 1974, KSGA. Telefonat mit Arno Mekelburg am 16. 01. 2019. Vgl. den Beitrag in: Erziehung und Klassenkampf, 1972, Nr. 8, S. 3–48, sowie aus Sicht der Falkenfunktionäre im Verbandsausschlussverfahren: Bericht über das Zeltlager des Kreisverbandes Düsseldorf… in Seeheim an der Bergstraße vom 26. 07. 1972, AAJB, SJD-BV 25/9. 73 Lehrgang für das Mittellager, 18./19.05.74 in Wennigsen, Protokoll vom 19. 05. 1974, KSGA. 74 AAJB, SJD.BV-5/164. 75 Telefonat mit Arno Mekelburg am 16. 01. 2019.

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dienst, rauchten, aßen Chips während des Abendmals und rülpsten laut. Die durch Gottesdienstbesucher herbeigerufene Polizei griff sich zwei Jugendliche aus der Gruppe und nahm diese mit auf die Wache.76 Die übrigen Jugendlichen folgten. Dort setzte sich Alvons Diemer mit den aufgebrachten Polizisten auseinander und zog schließlich mit allen Jugendlichen zurück ins Lager. Noch am selben Tag erschien eine Ausgabe der Lagerzeitung, in der das Verhalten der Gruppe kritisiert wurde: Man habe nur an das eigene Vergnügen an der Provokation gedacht, die Halleiner Kirchgänger beleidigt und gegen sich aufgebracht.77 Bei einer Vollversammlung am Folgetag, an der ein herbeigeeilter Vertreter der österreichischen Kinderfreunde (der dortigen Schwesterorganisation) und ein Polizist teilnahmen, habe der Lagerleiter die Aktion als »Dumme-Jungen-Streich« hingestellt.78 In einer ausführlichen Stellungnahme, möglicherweise für die städtische Jugendpflege Hannovers verfasst, relativierten die Falken die Vorwürfe im Nachhinein und führten entlastende Umstände an, die im Polizeibericht weggelassen worden seien. Das Verhalten in der Kirche wurde nicht gerechtfertigt, aber auf die anschließende Diskussion darüber unter den Zeltlagerteilnehmern hingewiesen: »Dieses Auftreten der Gruppe stieß im Lager auf heftige Kritik und wurde sehr ausführlich diskutiert, wie die Lagerzeitung belegt, allerdings in dem provokativen Stil geschrieben, den Jugendliche haben, wenn ihnen keine Zensur droht.«79 Auffällig ist, dass die Beteiligung des Jugendzentrums – das in Hannover ohnehin sehr umstritten war – mit keinem Wort erwähnt wurde.

Unabhängige Jugendzentren in Dörfern und Kleinstädten Auch im damaligen Landkreis Hannover existierten mehrere Jugendzentrumsinitiativen. Zeitzeugen erinnern sich an Bestrebungen in Langenhagen, Burgdorf, Großburgwedel und Mellendorf, an denen Falken in unterschiedlichem Maße beteiligt waren.80 Als Jugendverband mit einem ausgedehnten Freizeitangebot und gleichzeitig politischen Angeboten war er auch außerhalb großer Städte sowohl für Jugendliche aktiv, die an Zeltlagern und Freizeitangeboten teilnehmen wollten, ohne sich gleich verbindlich zu organisieren, wie für Personen, die einen Einstieg in die politische Arbeit suchten. Jugendliche, denen das 76 »Diese Lagerzeitung braucht einen Namen«, 28. 07. 1974 (Erstausgabe), S. 2–4, KSGA. Ein Beitrag, der das Verhalten in der Kirche launig beschreibt und das Vorgehen verteidigt: Rote Falken – schwarze Seelen, in: Halleiner Zeitung, 01. 08. 1974, S. 1. 77 Diese Lagerzeitung braucht immer noch einen Namen vom 28. 07. 1974, Nr. 2, S. 3, KSGA. 78 Lagerzeitung vom 29. 07. 1974, Nr. 4, KSGA. 79 Bericht von Arno Mekelburg, S. 1, AAJB, SJD-BV 17/12. 80 Telefonat mit Jürgen Hohmann am 06. 01. 2019.

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auf politische Bildung und Aktion fokussierte Programm der Jusos zu eng war und die ohne Arbeitnehmer zu sein nicht Mitglied in der Gewerkschaftsjugend werden konnten, die sich mit Kindern und Jugendlichen beschäftigen und mit »Kopf und Hand« tätig sein wollten – ein Profil, für das Jugendzentrumsarbeit nahe lag – gingen zu den Falken. So ergab sich eine Mischung von jungen Menschen, die Gemeinschaft und Freizeitgestaltung im Freundeskreis suchten und sich in einem weiten Sinne politisch links verstanden, aber auch Jungfunktionären, die mit den bei den Falken gesammelten Organisationserfahrungen in die Sozialdemokratie, die Gewerkschaften oder die entstehende AntiAtomkraft- und Umweltbewegung gingen. Viele Jugendzentrumsinitiativen unter Beteiligung von Falken zeugen hiervon. Im Jahre 1971 entstand in Mellendorf, seit 1974 ein Ortsteil der Gemeinde Wedemark in der Region Hannover, eine Jugendzentrumsinitiative unter starker Beteiligung der Falken. Die Initiative erhielt 1973 eine Baracke für ihr Projekt. Ein Bericht im Roten Falken enthält eine differenzierte Darstellung des JZ, seiner Besucher und seines Verhältnisses zum Ortsjugendring, Jugendverwaltung und sozialdemokratisch dominierten Ortsrat: »Auf das JZ angewiesen sind vor allem Jugendliche aus Arbeiterfamilien, die kein eigenes Zimmer haben und denen es zu Hause stinkt sowie Lehrlinge, die kein Motorrad oder Auto besitzen. Bei ihnen herrscht auch stark die oben beschriebene Konsumhaltung und das ›Abschalten-wollen‹ vom Alltag vor. Bei vielen von ihnen ist die Bereitschaft da, mit anzupacken, wenn was anliegt (hier können sie auch ihr berufliches Können nutzen), in Arbeitsgruppen sind sie so gut wie gar nicht zu finden (›alles bloß Laberei!‹).«81

In der folgenden Zeit bildete sich eine zunehmende Kluft zwischen den JZBesuchern auf der einen und den Falken auf der anderen Seite heraus: Während es in der Anfangsphase wichtig gewesen sei, »den Ruf eines ›Falkenzentrums«82 abzubauen, um auch unpolitische Jugendliche als Besucher zu gewinnen, nahm die Beteiligung der Falken am Verwaltungsrat, dem Organ der Selbstverwaltung ab. Der Bericht spricht im April 1974, ein Jahr nach der Eröffnung, von den politisch bewussten Verwaltungsratsmitgliedern als »vereinzelt vor sich hinmuckelnde Falken«,83 denen die Mehrzahl der Benutzer gegenüberstehe. Die »Haupt›interessen‹ der meisten Jugendlichen waren: möglichst laut und ungestört Musik hören, Bier trinken, Feten, vom Alltag in der Schule, Betrieb abzuschalten, von der Familie wegzukommen und vielleicht mal ›ne Frau aufzurei-

81 Harald Müller : Jugendzentrum in der Provinz: Beispiel Mellendorf, in: In RF, April 1974, Nr. 13, S. 12–16, hier S. 14. 82 Ebd. S. 12. 83 Ebd. S. 13f.

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ßen‹ (eine Hoffnung, die sich fast nie erfüllte)«.84 Interesse an inhaltlichen Arbeitsgruppen bestand bei dieser Nutzergruppe nicht, obwohl man den Falken und den Jusos einen ganzen Raum als »politisches Büro«85 zur Verfügung stellte. Als dann noch ein Versuch einzelner Falkenmitarbeiter, das »Drogenproblem« durch Hausverbote in den Griff zu bekommen, an der Mehrheit scheiterte, wurde »die Kluft Ortsverband-Jugendzentrum wiederum ein merkliches Stück größer«.86 Auch im Falkenbezirk Braunschweig existierten derartige Initiativen. Der Ortsverband Gifhorn, aus dem auch der zu Anfang zitierte abgelehnte Antrag zur Bundeskonferenz 1975 stammte, berichtet in seinem Rechenschaftsbericht zur Bezirkskonferenz 1974 von seiner Mitarbeit in der örtlichen Initiative: »Die ›Aktion Jugendtreff‹ Gifhorn wurde von der Sozialistischen Jugend und einigen linken Jusos ins Leben gerufen. Durch Unterstützung des SJR [Stadtjugendring] gelang es ihr, die Forderung nach einem selbstverwalteten Jugendtreff […] durchzusetzen.«87

Ländliche Jugendzentren spielten auch im niedersächsischen Falkenbezirk Weser/Ems eine große Rolle: Im Rechenschaftsbericht zur Bezirkskonferenz am 3./4. März 1979 in Lemwerder hieß es: »In Orten, in denen inzwischen Jugendzentren eingerichtet wurden, gehören Falken zu den aktiven Trägern der Zentrumsarbeit. Hingewiesen sei hier auf Oldenburg, Emden, Moormerland, Hinte, Leer, Georgsmarienhütte, Lemwerder, Berne, Brake, Rhauderfehn usw.«88 Heinz Feja, Gruppenleiter, 1979/80 Zivildienstleistender, später Bezirksvorsitzender der Falken in Weser/Ems, erinnert sich an aktive Falken in der Jugendzentrumsarbeit in Rhauderfehn, Moormerland, Lemwerder und Georgsmarienhütte. So wurde in Lemwerder aus den Falkenräumen heraus für ein Jugendzentrum gekämpft, etwa indem 1976/77 Demonstrationen organisiert wurden. In Rhauderfehn wurde ein altes Bauernhaus unter Beteiligung der Falken und der Jusos renoviert89 und in Moormerland waren Aktive des bereits 1975 gegründeten Trägervereins 1978 an der Gründung eines Falken-Ortsverbandes beteiligt. Das SJD-Rundschreiben Nr. 1 des Bezirkes Weser-Ems vom 4. Oktober 1978 meldete: »Vor einiger Zeit gründete sich in Papenburg ein Ortsverband der Falken, erst vor kurzem schlossen sich in Moormerland JZ-Aktive und Andere zu einem Falken-OV zusammen; beide OV’s beteiligten sich wie Ihr wißt auch am Kinderlager bzw. am SJ84 85 86 87

Ebd. S. 13. Ebd. S. 15. Harald Müller : Wie ein Ortsverband seine Basis verliert, in: RF, Februar 1974, Nr. 12, S. 10. Friedhelm Vetter : Zum Arbeitsbereich Jugendtreff (Materialien zur Bezirkskonferenz), AAJB, SJD-BS-GF-3/1. 88 Rechenschaftsbericht zur Bezirkskonferenz 1979, S. 35, AAJB SJD-BV 8/135. 89 Information am 20. 01. 2019 durch Heinz Feja.

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Camp. Nun soll zukünftig auch in Leer wieder Falken-Arbeit gemacht werden: noch in diesem Monat treffen sich im selbstverwalteten Jugendzentrum Rhauderfehn an Falkens sehr Interessierte aus Leer mit den Rhauderfehner Genossen, um die Möglichkeiten für eine OV-Gründung konkret zu prüfen und anzugehen.«90

Im August 1980 meldete das »Info« des OV Moormerland: »Im Jugendbereich des Ortsverbandes der SJD Die Falken steht weiterhin die Jugendzentrumsarbeit im Vordergrund der Aktivitäten. Die Mitglieder des OV’s nehmen ferner aktiv als Helfer im Rahmen des Ferienprogramms der Gemeinde Moormerland teil… Ab September 1980 wird im Jugendzentrum donnerstags eine Arbeitsgruppe ›Politisches Lied‹ entstehen, die zur Song- und Liedermachergruppe ausgebaut werden soll… Vor der Bundestagswahl werden die SJD-Die Falken, OV Moormerland sich an der Aktion ›Stoppt Strauß – Ostfriesen gegen rechts‹ beteiligen…«91

Im Jugendzentrum wurde zudem für die Jugendgruppenleiterausbildung der Falken geworben.92 Es gab auch weiterhin politische Konflikte, über die in der örtlichen Publikation der Falken berichtet wurde, etwa als das selbstverwaltete Jugendzentrum in Rhauderfehn die Aufführung einer »Anti-Atom-Revue« organisieren wollte und dies mittels »Leserbriefen, Diskussionen, Überprüfung der Rechtslage durch einen Anwalt und das ausführliche Gespräch mit der Gemeinde« erst einmal gegen den örtlichen Schulleiter und Bürgermeister durchsetzen musste.93 Auch in Georgsmarienhütte waren die Falken am Kampf für das selbstverwaltete JZ beteiligt, 1979 übernahmen sie innerhalb der Jugendzentrumsinitiative, der die Stadt nach zweieinhalb Jahren ihre Räume wieder fortnahm, die »Geschäftsführung« beim Kampf für neue Räume.94 Im Bildungsplan der Falken Weser/Ems 1979/80 finden sich auch ortsübergreifende Veranstaltungen für die JZ-Bewegung, dort wurde ein zweiteiliges Seminar zum Erfahrungsaustausch lokaler Initiativen, verbunden mit einer Analyse der aktuellen Situation, angekündigt.95 90 SJD-Rundschreiben des Bezirkes Weser-Ems vom 04. 10. 1978, Nr. 1, S. 8. Das Rundschreiben Nr. 5/80 berichtet, dass aus der Initiative »Stoppt Strauß« ein »Arbeitskreis gegen Rechtsentwicklung/Neofaschismus« entstanden sei, der sich im »Diskussionszimmer« des JZ träfe; AAJB SJD-BV 8/135. 91 Info Nr. 2/80 des SJD-Die Falken-Ortsvereins Moormerland, [1980] S. 19f., AAJB SJD-BV 8/ 135. 92 Die Ostfriesen-Zeitung berichtet am 17.05. und am 29. 05. 1980 ausführlich über die Moomerländer Falken und auch ihre Arbeit im JZ. 93 betrifft…«, 1980, Nr. 1 der SJD Die Falken, Bezirk Weser Ems in Oldenburg, AAJB SJD-BV 8/ 135. Zu politischen Konflikten zwischen JZ und Kommunen nach Einrichtung solcher Zentren vgl. Templin: Freizeit (Anm. 2), S. 461–513. 94 Karl-Heinz Diekmann: Vorlage zur SJD die Falken Arbeit, Ortsverband Georgsmarienhütte [1979], S. 35, AAJB SJD-BV 8/135. 95 Bildungsplan 79/80. Auch der Bildungsplan 1980 enthält Überlegungen für den Austausch zwischen den verschiedenen JZ. Der spätere Rechenschaftsbericht zur Bezirkskonferenz berichtet von 50–60 Teilnehmern, AAJB SJD-BV 8/135.

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Kay Schweigmann-Greve

Fazit Anders als etwa beim Bund Deutscher Pfadfinder (BDP)96 fand der Kontakt der Falken zur Jugendzentrumsbewegung primär auf der Ebene der Gruppen und lokalen Gliederungen statt. Eine bundesweit einheitliche Haltung der Falken zur unabhängigen Jugendzentrumsbewegung gab es nicht. Trotz der Ablehnung durch den NRW-bestimmten Bundesverband unterstützten regionale und lokale Gliederungen die Bewegung aktiv. Falken waren vielerorts Initiatoren und/oder Aktivisten der freien Jugendzentrumsbewegung. Die hierbei auftretenden Unterschiede in verschiedenen Regionen Deutschlands können in dieser ersten Annäherung allerdings nicht intensiver beleuchtet werden. Immerhin lässt sich feststellen, dass sich vielerorts in Nordrhein-Westfalen, insbesondere in einer sozialdemokratisch bestimmten Stadt wie Gelsenkirchen, nur geringe Anknüpfungspunkte für eine freie Jugendzentrumsbewegung fanden. Dort betrieben die Falken in den 1970er Jahren zwanzig Häuser der offenen Tür, die mit kommunaler Förderung erbaut und betrieben wurden, daneben existierte ein evangelisches Haus (»Bonni«). Selbst in der »Pappschachtel«, dem einzigen kommunalen Jugendangebot mit stärkerer Ausrichtung auf Kulturarbeit, dem Auftreten von Bands usw., waren Mitglieder der Falken als Hauptamtliche tätig.97 Das einzige unabhängige Jugendzentrum KOMIC konnte sich nur wenige Jahre halten.98 Während andernorts Räume fehlten, in denen sich Jugendliche ungestört treffen konnten, existierten hier offene Einrichtungen. Der drängendste Antrieb, sich ein eigenes Haus zu erkämpfen, entfiel damit. Die Jugendzentrumsbewegung war jedoch auch vom Aufbegehren gegen die Fremdbestimmung durch Elternhaus, Schule und im Betrieb motiviert. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass die Falkenheime diese Oppositionshaltung gänzlich konfliktfrei integrieren konnten. Deren Leiter waren oft den pädagogischen Konzepten der 1960er Jahre verhaftet und hielten wenig von jugendlicher Selbstbestimmung und offenen Angeboten ohne verbindliche Gruppenstruktur. Dennoch bestanden praktisch in jedem Stadtteil Möglichkeiten, sich ohne Verzehrzwang warm und trocken zu treffen, Tischfußball oder Billard zu spielen. Es ist zu vermuten, dass es auch in den Falkenheimen zu Konflikten kam. Diese haben sich jedoch in Archivunterlagen nicht in greifbarer Form niedergeschlagen; weitere Forschungen, etwa in Form von Zeitzeugenbefragungen, wären zur Klärung dieser Frage erforderlich.

96 Vgl. Templin: Pfadfinderbund (Anm. 3). 97 Information durch Rainer Kulessa am 21. 01. 2019. 98 Dokumentation zum UJZ KOMIC, in: https://www.gelsenkirchener-geschichten.de/viewfo rum.php?f=7, [01. 02. 2019].

Die SJD – Die Falken und die unabhängige Jugendzentrumsbewegung

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In Großstädten wie Hannover war das Milieu von SPD und DGB-Gewerkschaften, in dem sich die Falken bewegten, nicht so dominant wie in den Städten des Ruhrgebietes. Gleichzeitig war es politisch breiter gefächert und reichte bis zu dezidiert linkssozialistischen Positionen. Michael Vester etwa, Politikwissenschaftler an der Hannoverschen Universität, und eine wichtige Verbindungsperson zwischen unterschiedlichen Lagern, war aktives Mitglied des Trägervereins des UJZ Kornstraße und gehörte damals sowohl der SPD wie dem Sozialistischen Büro an. Es gab eine selbstbewusste linke Szene, mit der die Falken um aktive Jugendliche konkurrieren mussten und die auch auf die Jugendlichen, die sich bei den Falken engagierten, einen mehr oder minder großen Einfluss ausübte. Persönliche Bekanntschaften und Überschneidungen zwischen den Aktivisten in den Jugendzentrumsinitiativen und Gruppenleitern der Falken banden den Jugendverband in die größere Szene linker, protestierender Jugend ein, wie sie in jenen Jahren bestand. Mitglieder der Falken arbeiteten aktiv sowohl im UJZ Glocksee wie im UJZ Kornstraße mit. Zudem verfügten die Falken über ausreichend Ressourcen – und bessere Verbindungen zur kommunalen Jugendpflege –, um dort eine wichtige Fürsprecherrolle für die Unabhängigen Jugendzentren einzunehmen und darüber hinaus ein eigenes JZ zu betreiben. Im ländlichen Bereich Niedersachsens boten die weitgehend auf sich selbst gestellten Ortsverbände der Falken Jugendlichen lokale Strukturen für ihre Bestrebungen, die zum Teil angenommen wurden. Auch die umgekehrte Entwicklung war möglich, dass nämlich aus einer Jugendzentrumsinitiative heraus Jugendliche, die sich an Aktionen der kommunalen Jugendpflege beteiligen wollten oder sich für überregionale Kontakte interessierten, einen neuen Ortsverband der Falken ins Leben riefen. Dies führte oft zu einem parallelen Engagement der Jugendlichen bei den Falken und in den Jugendzentrumsinitiativen, ohne dass dieses Arbeitsfeld bei den Falken die traditionelle Kinder- und Jugendgruppenarbeit, Bildungsseminare und Zeltlager verdrängt hätte. Auch die Bezirksvorstände in Hannover, Braunschweig und Weser/Ems standen diesen Initiativen positiv gegenüber, ohne sich jedoch im Bundesverband gegenüber den mitgliederstarken nordrhein-westfälischen Gliederungen durchsetzen zu können.

Werkstatt

Sandra Funck

Sechster Workshop zur Jugendbewegungsforschung*

Zum sechsten Mal fand der Workshop zur Jugendbewegungsforschung auf der Jugendburg Ludwigstein statt. Von und für NachwuchswissenschaftlerInnen organisiert, bietet der interdisziplinär angelegte Workshop die Möglichkeit, Forschungsarbeiten zu den Themen Jugendbewegungen und -kulturen, aber auch den Reformbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts im informellen Rahmen zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen. Als Gastreferentin begleitete in diesem Jahr Ulrike Pilarczyk (Braunschweig) die Veranstaltung. In ihrem Einführungsvortrag lotete sie Möglichkeiten und Grenzen bildanalytischer Forschung für die Geschichtswissenschaft aus.1 Zunächst führte sie in die Grundlagen der seriell-ikonographischen Fotoanalyse ein, charakterisierte im nächsten Schritt die Fotografie als Quellengattung und demonstrierte abschließend ihre methodischen Überlegungen an Fotografien, die im Kontext der jüdischen Jugendbewegung in der Weimarer Republik entstanden sind. Die seriell-ikonographische Fotoanalyse ermögliche »große (fotografische) Datenmengen auszuwerten, um komplexe, theoretisch aufgeladene Forschungsgegenstände zu bearbeiten und längere historische Zeiträume kulturvergleichend in den Blick nehmen zu können.«1 Die Fotografie als Quellengattung zeichnet sich, so Pilarczyk weiter, durch ihren Doppelcharakter als Aufnahme und Bild, als technisches Medium zwischen Intention und Zufall sowie als Massenmedium und soziale Praxis aus. Ihr Plädoyer, Bildquellen stärker bei Forschungsarbeiten zu berücksichtigen, dürfte für die im Workshop vorgestellten Arbeiten eine gewinnbringende Bereicherung darstellen.

* Dieser Beitrag wurde online veröffentlicht: Tagungsbericht: Sechster Workshop zur Jugendbewegungsforschung, 20. 04. 2018–22. 04. 2018 Witzenhausen, in: H-Soz-Kult, 01. 12. 2018, . 1 Ulrike Pilarczyk: Grundlagen der seriell-ikonografischen Fotoanalyse. Jüdische Jugendfotografie in der Weimarer Zeit, in: Jürgen Danyel, Gerhard Paul, Annette Vowinckel (Hg.): Arbeit am Bild. Visual History als Praxis, Göttingen 2017 (Visual History. Bilder und Bildpraxen in der Geschichte 3), S. 75–99, hier S. 76.

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Sandra Funck

Johann Thun (Lyon / Leipzig) ging der Frage nach, inwiefern theoretische Auseinandersetzung und praktische Umsetzung in Bezug auf die sozial-literarische Kategorie Bund ineinandergreifen. Die Idee des Bundes entstand zwar bereits vor dem Ersten Weltkrieg, gewann aber erst in der Weimarer Republik an Popularität. Jugendbewegte, aber auch rechtsextreme Gruppierungen wie der Wehrverband »Stahlhelm – Bund deutscher Frontsoldaten« griffen diese Organisationsform auf und machten sie zu ihrem Leitbild. Der Dichter Stefan George etwa, Begründer des George-Kreises, nahm mit seinem Gedichtband »Stern des Bundes« Bezug auf die Kategorie des Bundes, ebenso die soziologische Forschung der Zeit. Hier formulierte Hermann Schmalenbach in »Die soziologische Kategorie des Bundes« für die Entstehung eines Bundes konstitutive Faktoren. Ferner leisteten Ferdinand Tönnies und Helmut Blesse wichtige Beiträge. Mit völkischem Siedeln am Beispiel der Freilandsiedlung Donnershag in Nordhessen beschäftigte sich Felix Linzner (Würzburg) in seinem Vortrag. Im Jahr 1919 gründete Ernst Hunkel gemeinsam mit seiner Frau Margarete die Freilandsiedlung Donnershag GmbH bei Sontra, die bald zum Treffpunkt für Anhänger der radikalen, völkisch geprägten Strömungen in der Lebensreform avancierte, zu deren Vertretern auch Hunkel zuzählen ist. Neben einer vegetarischen Ernährung und Freikörperkultur sollten die Siedlungsbewohner*nnen hier nach Hunkels Vorstellungen ebenfalls »die Aufzucht rassisch wertvoller Kinder im Geiste deutscher Volks- und Lebenserneuerung« praktizieren. Es sollte darum gehen, rassenideologische Überlegungen in die Praxis umzusetzen. Insgesamt gelang es Linzner überzeugend darzulegen, wie die völkischen Strömungen der Lebensreform die Praxis des Siedelns für sich vereinnahmten. Magali Gottsmann (Göttingen) stellte erste konzeptionelle Überlegungen ihres Dissertationsprojektes zur textuellen und visuellen Selbstdarstellung der Jugendbewegung in ihren Zeitschriften zur Diskussion. Ziel ihres Projektes ist es, aus diskursanalytischer Perspektive die Selbstbilder der Jugendbewegung im Zeitraum von 1896 bis 1930 zu untersuchen. Der Ansatz bezieht nicht nur die Artikel, sondern ebenso die Gestaltung der Zeitschriften mit ein, da so die Materialität und Medialität der Quellen in den Blick geraten. Aufgrund der regen publizistischen Tätigkeit jugendbewegter Gruppen – teils in eigenen Zeitschriftenverlagen – kann Gottsmann auf umfangreiche Bestände zurückgreifen. Die Auswahl der Zeitschriften erfolgt nach den Kriterien Auflagenstärke, Zeitraum, Verwendung von Fotografien sowie Relevanz der Zeitung innerhalb der Jugendbewegung. Da Arbeiten zum Zeitschriftengut der Jugendbewegung ein Forschungsdesiderat darstellen, könnte Gottsmanns Studie einen wichtigen Beitrag an der Schnittstelle von mediengeschichtlicher wie literaturwissenschaftlicher Forschung leisten.2 2 Die bislang einzige Arbeit, die sich mit den Zeitenschriften der Jugendbewegung befasst:

Sechster Workshop zur Jugendbewegungsforschung

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Martin Leimbach (Berlin) fragt in seiner Masterarbeit nach politischer Motivation, Formen und Ausprägungen des Alkoholverzichts in jüdischen Jugendwanderbewegungen vor 1933. Erste Überlegungen zeigte Leimbach am Beispiel des »Schwarzen Haufens«, einer Teilgruppe des Wanderbundes »Die Kameraden«, deren Mitglieder vor allem Jugendliche des deutsch-jüdisch assimilierten Bürgertums waren, sowie des jüdischen Wanderbundes Blau-Weiß als Teil der zionistischen Strömung der jüdischen Jugendbewegung. Leimbach bezieht in seine Untersuchung Bestände aus dem Archiv der deutschen Jugendbewegung, dem Centrum Judaicum Archiv – Stiftung Neue Synagoge sowie aus dem Archiv der Jugendkulturen in Berlinmit ein. Abstinenz werde, so ein Ergebniserster Analysen, nicht in dem Maße reflektiert wie anfangs vermutet. Die Verknüpfung mit Lebensstilen und Haltungen der Lebensreformbewegung, so einer der Vorschläge in der Diskussion, könnte das Vorhaben von Leimbach stärker kontextualisieren und dadurch präzisieren. Nach wie vor existieren nur wenige Studienüber Jugendverbände und ihre Arbeit nach 1945. Die Herausforderung besteht dabei darin, über einen rein organisationsgeschichtlichen Zugriff hinaus die Bedeutung der Jugendverbände mit aktuellen Forschungsdebatten der Zeitgeschichte zu verknüpfen. Zwei Dissertationsprojekte nehmen sich dieser Herausforderung an. Anne-Christine Hamel (Leipzig) gab einen Einblick in zentrale Fragestellungen sowie den Quellenkorpus ihres Dissertationsprojektes über die kulturelle und heimatpolitische Arbeit der »Deutschen Jugend des Ostens« (DJO). Hamel beabsichtigt, die Ziele und das Selbstverständnis der in der DJO organisierten jungen(Heimat-)Vertriebenen herauszuarbeiten. Erfahrungen von Flucht und Vertreibung, so ihre These, führten nicht bei allen VertreterInnen der jungen Vertriebenengeneration zu einer raschen Assimilation innerhalb der deutschen Aufnahmegesellschaft. Vielmehr sei die Arbeit innerhalb der DJO Ausdruck einer aktiven internationalen Kultur- und Interessenpolitik, die sich insbesondere ab Mitte der1950er-Jahre intensivierte. Das Dissertationsprojekt von Viola Kohlberger (München) leistet einen Beitrag zur bislang kaum erforschten Geschichte der katholischen Jugendverbandsarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Kohlberger vollzieht die Entwicklung des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) am Beispiel des Bistums Augsburg nach. Sie untersucht 14 Verbände aus dem urbanen und ländlichen Raum anhand von vier Schwerpunkten: Erstens die regelmäßigen Treffen der Leitungsebene in der Diözese, zweitens die Großveranstaltungen, an denen die katholische Jugend des Bistums beteiligt war, drittens die diözesanen Jugendhäuser als Zentren für Schulung und Erholung und vierMalte Lorenzen: Zwischen Wandern und Lesen. Eine rezeptionshistorische Untersuchung des Literaturkonzepts der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung 1896–1923 (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Schriften 19), Göttingen 2016.

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tens die Führungspersönlichkeiten, zum Beispiel geistliche Begleiter, die oft in Personalunion mehreren Verbänden zeitgleich vorstanden. Hierdurch kommt sie dem Verhältnis der organisierten Jugendgruppen auf Diözesanebene, dem Einflussdieser Gruppen auf die Bistums- und Verbandspolitik sowie auf die Gesellschaft auf die Spur. Neuen Perspektiven auf die 68er-Bewegung im Kontext der langen 1960erJahre gingen die folgenden Vorträge nach. Hans-Peter Jourdan (Frankfurt a. M.) fragte, welche Rolle die Junge Presse Hessen (JPH) als selbstorganisierte Landesarbeitsgemeinschaft jugendeigener Zeitungen mit ihrem Bildungsangebot seit 1958 für die Redakteurinnen und Redakteure der Schülerzeitungen spielte. Die JPH bot für ihre Mitglieder eine Plattform zum Austausch und organisierte Seminare zur journalistischen Praxis, der Gestaltung und Realisierung von Schülerzeitungen, aber auch zu politischen Themen. Die JPH, so die These von Jourdan, wurde zum wichtigen Akteur der Schülerbewegung in Hessen: Einige Schülerzeitungsredakteure aus dem engsten Kreis der Vereinigung wurden Mitglieder des Aktionszentrums Unabhängiger und Sozialistischer Schüler (AUSS), der Dachorganisation der antiautoritären Schülerbewegung mit Sitz in Frankfurt, unter der sich von 1967 bis1969 Schülergruppen organisierten. Die JPH habe mit ihren Seminaren zur Politisierung dieser Jugendlichen beigetragen. Jourdan nimmt damit eine Trägergruppe der Protest ein den Blick, die die Forschung bislang kaum berücksichtigt hat. Ob es ein globales 68 auch in der Sowjetunion gegeben habe, fragte Ewgeniy Kasakow (Perm) in seinem Vortrag. Beiträge über die globale Dimension von 1968, deren Anregungen Kasakow hier vertiefte, haben verstärkt anlässlich des 40. Jubiläums Eingang in die Forschung gefunden. Hier seien aber lange die Parallelen zwischen den um 1968 protestierenden Jugendlichen etwa in der Sowjetunion und der Bundesrepublikignoriert worden. Dabei seien, so die These Kasakows, die Intentionen und Ausprägungen der Proteste nicht so unterschiedlich gewesen, betrachte man die Proteste der sowjetischen »Sˇestidesjatniki« im Kontext der sogenannten langen 1960er-Jahre, welche er im Falle der Sowjetunion von 1956 bis 1968 ansetzt. Im Westen sei dort eine junge, gebildete Alterskohorte, meist Studenten, Trägergruppe der Proteste gewesen. Kasakow betonte die Gemeinsamkeiten zwischen den Generationen in Ost und West im Bereich der Jugendkultur, so zum Beispiel die Solidarität mit den als unterdrückt wahrgenommenen Ländern der Dritten Welt, Drogenkonsum sowie die Ausprägung einer jugendlichen Gegenkultur, die ihren Ausdruck in Mode, Musik und individueller Lebensgestaltung fand. Mit seinem Vortrag über die deutsche Jugendbewegung im Rundfunk widmete sich Michael Kubacki (Marburg) einer Quellengattung, die in der Jugendbewegungsforschung bisher wenig Beachtung gefunden hat. Bis zum Siegeszug des Fernsehens in den 1960er-Jahren galt das Radio als zentrales Mas-

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senmedium. Am Beispiel des Radiobeitrages »Das Gift der blauen Blume« von Harry Pross, der im Jahr 1961 im Hessischen Rundfunk ausgestrahlt wurde, zeichnete Kubacki Debatten über die Darstellung der Jugendbewegung in der Bundesrepublik in den1960er-Jahren nach. Einige Akteure der Jugendbewegung, darunter Werner Kindt und der Freideutsche Kreis, empfanden den Beitrag als Provokation. Sie versuchten, weitere Ausstrahlungen des Beitrages zu verhindern und forderten eine Gelegenheit für eine Gegendarstellung, die schließlich von Friedrich Kayser vorgelegt wurde. Zwei weitere Vorträge verfolgten einen biographischen Ansatz. Mit der Biografie Enno Nartens (1889–1973) – mit besonderem Fokus auf die zeitgenössische Rezeption seines Wirkens – beschäftigt sich Stefanie Wilke (Kassel) in ihrem Dissertationsprojekt. Als Namensgeber des sogenannten dritten Ringes auf der Jugendburg Ludwigstein, handelt es sich um einen zentralen Bezugspunkt in der heutigen Erinnerungspraxis der Jugendburg. Eine Aufarbeitung von Nartens Biographie, insbesondere seine Verstrickung in den Nationalsozialismus, scheint demnach mehr als geboten. Wilkes Studie hat zum Ziel, das komplexe politische und gesellschaftliche Wirken Enno Nartens quellengestützt in all seinen Facetten zu beleuchten. Politisch bewegte Narten sich im Lauf seines Lebens in äußerst unterschiedlichen, mitunter extremen Milieus. 1919 trat er in die SPD ein, die er aber 1932 verließ. In den 1920er-Jahren beteiligte er sich am Wiederaufbau der Jugendburg Ludwigstein und war bis 1925 Geschäftsführer der Vereinigung Jugendburg Ludwigsteine. V. Wegen des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« wurde Narten aus seiner Tätigkeit als Direktor eines Burschen- und Lehrlingsheimes in Leipzig entlassen. Im Jahr 1940 trat Narten dann in die NSDAP ein, was er Zeit seines Lebens bestritt. Marcel Glaser (Kassel) gab abschließend einen Einblick in die jugendbewegte Biografie des österreichischen Architekten und Stadtplaners Peter Koller (1907–1996). Als Proteg8 von Albert Speer erhielt Kollerunter anderem in den 1930er-Jahren den Auftrag, die »Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben«– heute Wolfsburg – zu planen. In seiner Jugend in den 1920er-Jahren war Koller Mitglied und später Gauführer im Bund der Adler und Falken, der Teil der antisemitisch völkischen Strömung der bündischen Jugend war. Nach dem Zweiten Weltkrieg pflegte er weiterhin seine Netzwerke, die er in dieser Zeit aufgebaut hatte. In den 1950erJahren unterhielt er enge Beziehungen zum Dörnbergbund, in dem sich ehemalige Mitglieder des Bundes der Adler und Falken zusammengeschlossen hatten. Kollers Berghof in Kärnten avancierte zum Treffpunkt des österreichischen Wandervogels und blieb dies bis in die 1980er-Jahre. Seine jugendbewegte Biographie berührt die Debatte über das Verhältnis von Jugendbewegung und Nationalsozialismus.

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Zum Abschluss galt der Dank Frauke Schneemann und Anne-Christine Hamel, die mehrere Jahre den Workshop erfolgreich organisiert und durchgeführt haben.

Konferenzübersicht Ulrike Pilarczyk (Braunschweig): Möglichkeiten und Grenzen bildanalytischer historischer Forschung Johann Thun (Lyon / Marburg): Zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Der ›Bund‹ als sozial-literarische Kategorie Magali Gottsmann (Göttingen): Die Selbstdarstellung der Jugendbewegung in Bild und Text am Beispiel ihrer Zeitschriften Michael Kubacki (Marburg): Die deutsche Jugendbewegung im Hörfunk. Debatten über die Darstellung der Jugendbewegung in der Bundesrepublik Deutschland Anne-Christine Hamel (Leipzig): Jugendliche Identitätsentwicklung im Kontext von Flucht und Vertreibung – Konstruktion und Ausprägung kultureller Identität innerhalb der »Deutschen Jugend des Ostens« (DJO) Viola Kohlberger (München): Themenfelder der katholischen Jugendverbandsarbeit des Bistums Augsburg 1945–1963 Martin Leimbach (Berlin): Verschiedene Motivationen der Abstinenz Felix Linzner (Marburg): Völkisches Siedeln im hessischen Sontra Hans-Peter Jourdan (Frankfurt am Main): Schülerzeitung im Kontext der 68er Bewegung Ewgeniy Kasakow (Perm): »Global Sixties« in der Sowjetunion und der Bundesrepublik. Sˇestidesjatniki, Dissidenten, 68er in vergleichender Perspektive Stefanie Wilke (Kassel): Enno Narten – Eine rezeptionshistorische Biographie Marcel Glaser (Kassel): Vergangenheitsbewältigung. Der Architekt Peter Koller, die Adler und Falken und der Dörnbergbund

Marcel Glaser

Dissertationsprojekt: Peter Koller (1907–1996). Stadtplaner in Diktatur und Demokratie. Eine Biographie

Die individualbiographische Prägekraft der Jugendbewegung ist seit längerem Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Betrachtungen.1 Im Zentrum der Auseinandersetzung steht dabei besonders die Frage nach dem Verhältnis von Jugendbewegung und Nationalsozialismus. Für den Marburger Historiker Eckart Conze bildet dieses Problem geradezu eine »Gretchenfrage, der sich keine biographische Annäherung entziehen kann, auch wenn sie in der Regel darin nicht aufgehen darf«. Zugleich aber warnt er davor, »der Mitgliedschaft in einer Gruppe oder einem Bund der Jugendbewegung überhaupt eine unmittelbare und direkt zurechenbare Wirkung zuzuschreiben«.2 Die Frage nach der Wirkung jugendbewegter Erfahrungen liefert einen wertvollen Zugang für die Auseinandersetzung mit der Biographie des Architekten Peter Koller, der vor allem für die Planung der »Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben«, dem heutigen Wolfsburg, bekannt ist. Als sich Koller nach dem Untergang des NS-Staates mit seiner eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen begann, bildeten derartige Überlegungen über mehr als drei Jahrzehnte einen wichtigen Bestandteil seiner autobiographischen Reflexionen über die eigene NS-Belastung. Als Zeitzeuge stand Koller seit den 1970er Jahren zahlreichen Architekten und Historikern ausführlich Rede und Antwort. Eine in den 1950er Jahren noch feststellbare kritische Haltung zur eigenen jugendbewegten Vergangenheit verschwand jedoch in dem Moment, als der Architekt um die öffentliche Deutung seines Lebenswerks rang. Der Verweis auf die Prägekraft der Jugendbewegung diente nun vor allem als Argument, um jede ideologische Nähe zum Nationalsozialismus zu leugnen. So verortete er noch 1988 in einem Zeitungsinterview seine »geistige Herkunft« im »nationalen Flügel der Jugendbewegung«, die aber »mit den Nationalsozialisten […] nichts zu tun« gehabt habe.3 1 Vgl. Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013. 2 Eckart Conze: Otto Abetz, in: ebd., S. 55–67, hier S. 57. 3 Thomas Götz: Die 1000jährige Planung für Graz, in: Kleine Zeitung vom 7. Februar 1988.

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Nicht nur im Prozess der eigenen Selbsthistorisierung sondern sowohl für die Hinwendung zum Nationalsozialismus als auch für die Berufswahl und das Selbstverständnis als Architekt und Stadtplaner spielt die Frage nach der Prägekraft der Jugendbewegung eine wichtige Rolle. Das Dissertationsprojekt arbeitet die Biographie Kollers erstmals wissenschaftlich auf und will dabei weniger zu einer architekturhistorischen Einordnung von Leben und Werk gelangen, sondern dieses aus einer kulturhistorischen Perspektive erforschen. Daneben fragt das Projekt nicht nur nach dem Selbstverständnis von Architekten und Stadtplanern, sondern auch nach ihrer Verortung in der deutschen Gesellschaft. Es zielt somit auf die Beschreibung einer gesellschaftlichen Elite und die Geschichte einer Profession im 20. Jahrhundert. Die Arbeit entsteht an der Universität Kassel und wird von Prof. Dr. Winfried Speitkamp betreut. Sie befindet sich zurzeit im Prozess der Manuskripterstellung. Peter Koller war ein typischer Vertreter der Kriegsjugendgeneration. Er wurde 1907 in Wien als Sohn eines Zahnarztes geboren und wuchs in gesicherten bürgerlichen Verhältnissen auf. Nachdem der Vater 1914 in Kriegsgefangenschaft geraten war, prägte ihn die strenge Erziehung der Mutter. Das 1923 erwachte Interesse an volkskundlichen Themen brachte ihn schließlich in persönlichen Kontakt mit dem völkischen Philosophen Wolfgang Schultz (1881– 1936), der 1919 die Wiener Ortsgruppe »Thule« des Deutschen Schulvereins gegründet hatte, aus der später die erste Ortsgruppe der Adler und Falken in Österreich hervorgegangen sein soll.4 Zunächst im Österreichischen Wandervogel aktiv, schloss sich Koller Mitte der 1920er Jahre schließlich den Adlern und Falken an, deren Wiener Gauführer er später wurde. In diesen Gruppen entstanden Freundschaften, die Netzwerke begründeten, fast ein Leben lang hielten und die Entwicklung Kollers beeinflussten und prägten. In der Jugendbewegung erfuhr er eine Erziehung, die seine Hinwendung zum Nationalsozialismus zumindest zu einem wesentlichen Teil präformierte, gab es auf ideologischem Terrain zwischen den Adlern und Falken und den Nationalsozialisten doch zahlreiche Berührungspunkte. Der NSDAP, so erklärte er 1954 einem ehemaligen Mitschüler, sei er 1931 beigetreten, weil »mein ganzer Lebensweg, mein ganzer Erziehungsgang darauf hindrängte«.5 Im NS-Staat gelang Koller ein bespielloser Aufstieg. Dank der Förderung von Albert Speer (1905–1981) erhielt er Aufträge für zahlreiche prominente Bauvorhaben des Regimes, neben der Planung der »Stadt des KdF-Wagens« war er 4 Luise Fick: Die deutsche Jugendbewegung, Jena 1939, S. 147. 5 StadtAWOB, S11/74, Peter Koller an Erich Neumann-Walter, 12. Februar 1954. Zu den Adlern und Falken siehe Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015, S. 93–99.

Dissertationsprojekt: Peter Koller (1907–1996)

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unter anderem für die Neugestaltung von Graz und Innsbruck verantwortlich. Nachdem die Arbeiten im Zuge des Kriegsverlaufes 1942 weitgehend eingestellt wurden, meldete sich Koller zur Wehrmacht. Sein Verhalten kann mit einer jugendbewegten Prägung erklärt werden, legte doch die »militärische Grundierung des bündischen Ideals« nahe, »dass es seine eigentliche Erfüllung im Zweiten Weltkrieg finden konnte«.6 Obgleich eine große Zahl von Architekten und Planern in der Zwischenkriegszeit einem Bund der Jugendbewegung angehörte, haben insbesondere Architekturhistoriker durch ihre Konzentration auf formal-ästhetische Aspekte und Stilfragen diese Mitgliedschaften und ihre Wirkungen bisher kaum näher betrachtet.7 In den Plänen und Entwürfen der Architekten spiegeln sich aber die gesellschaftlichen Probleme und Machtverhältnisse ebenso wie die Wunschvorstellungen ihrer Autoren wider. Die Analyse der Planungen erlaubt daher Rückschlüsse auf die eigenen Ideale und Gesellschaftsvorstellungen, aber auch auf die Verwerfungen in der Gesamtgesellschaft und die Grundzüge der historischen Epoche. Wie die Mitglieder der Jugendbewegung verstanden sich auch die in den 1920er Jahren in Ausbildung befindlichen Architekten und Planer als zukünftige Elite. Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, sah diese Berufsgruppe sich daher besonders dazu berufen, als technokratische Funktionselite und Sozialingenieure an der Neuordnung der Städte und der Gesellschaft mitzuwirken. Daneben nahmen jugendbewegte Haltungen auch ganz konkret Einfluss auf den eigenen Lebensweg, zum Beispiel in der Wahl der Lehrer an der Universität. Erich Kulke (1908–1997), Kommilitone Kollers an der TH Berlin und wie dieser Mitglied der Adler und Falken sowie Schüler Heinrich Tessenows (1875–1950), erkannte etwa in Tessenows Lehre und den Bemühungen der Jugendbewegung um ein »einfaches, naturverbundenes und sozial ausgeglichenes Leben« eine »Geistesverwandtschaft«, die schließlich den Ausschlag für die Wahl des berühmten Lehrers gab.8 In der Bundesrepublik Deutschland hielt Koller in den 1950er und 1960er Jahren Kontakt zum »Dörnbergbund«, in dem sich ehemalige Mitglieder der 6 Rüdiger Ahrens: »Privatleben ist Fahnenflucht«. Prägekräfte der bündischen Jugend (1918– 1933), in: Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen, Göttingen 2015, S. 145–167, hier S. 163. 7 Auch in der Kollektivbiographie von Werner Durth: Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900–1970, Neuausgabe, Stuttgart, Zürich 2001, findet die Jugendbewegung keine Erwähnung. 8 StadtA WOB, S11/Koller-Privat/18, Ansprache Erich Kulkes zur Verleihung der HeinrichTessenow-Medaille, 1990, Bl. 1. Zu Kulke siehe Claudia Selheim: Erich Kulke (1908–1997): Wandervogel, Volkskundler, Siedlungsplaner und VJL-Vorsitzender, in: Eckart Conze, Susanne Rappe-Weber (Hg.): Ludwigstein. Annäherungen an die Geschichte der Burg (Jugend und Jugendbewegung. Jahrbuch 11j2015), Göttingen 2015, S. 253–272.

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Marcel Glaser

Adler und Falken sammelten. Er engagierte sich anfangs durch Vorträge, trat dem Bund aber nicht bei. Gegenüber dem Architekten Kurt Reuter, einem ehemaligen Mitglied der Adler und Falken, begründete Koller seine Haltung mit der weltanschaulichen Einstellung des Bundes. Diese sei »so völlig veraltet, überholt und eigentlich absurd […], daß wir meist gar nicht recht wissen, wie wir uns mit den Leuten stellen sollen, […], die Kameradschaft und das Zusammengehörigkeitsgefühl sind immer noch da, man muss aber vermeiden, auf konkrete wesentliche Dinge zu sprechen zu kommen, weil man verschiedene Sprachen spricht«.9 Daraus folgte aber nicht, den Kontakt zu den Ehemaligen abzubrechen. Koller war stets bereit, einstige Weggefährten zu unterstützen. Als die Stadt Wolfsburg in den 1950er Jahren ein Vertriebenendenkmal errichtete, vermittelte er beispielsweise als Stadtbaurat den Auftrag für die Gestaltung der Wappen der ehemaligen deutschen Ostgebiete an Ulrich Kottenrodt (1906–1984), den Sohn von Wilhelm Kotzde (1878–1948), der 1920 die Adler und Falken gegründet hatte.10 Da die Verarbeitung der eigenen jugendbewegten Vergangenheit im Dörnbergbund aber auf Grund der politischen Einstellung der Mitglieder an ihre Grenzen stieß, musste ein anderer Kommunikationsrahmen gefunden werden. So entwickelte sich Kollers Bergbauernhof in Kärnten seit den 1970er Jahren zu einem Treffpunkt des Österreichischen Wandervogels. Hier kam in regelmäßigen Abständen bis 1993 eine jugendbewegte Erinnerungsgemeinschaft zusammen, um »noch einmal unsere Lieder erklingen […] und Erinnerungen lebendig werden [zu]lassen«.11

9 StadtA WOB, S11/74, Peter Koller an Kurt Reuter, 11. Februar 1952. 10 Ullrich Kottenrodt erhielt für diesen Auftrag 4.750 DM, obwohl die von ihm gefertigten Wappen nicht den Vorstellungen der Wolfsburger Stadtverwaltung entsprachen und daher nicht zur Ausführung gelangten. Der Vorgang ist dokumentiert in: StadtA WOB, HA 1751, Bd. 2. 11 StadtA WOB, S11/Koller privat/11, Rundschreiben des Österreichischen Wandervogels, Landesgruppe Kärnten, September 1993.

Viola Kohlberger

»Es lebe Christus in deutscher Jugend!« Katholische Jugendverbandsarbeit im Bistum Augsburg 1945–1963

Die katholische Jugendverbandsarbeit wurde gegen Ende der 1930er Jahre verboten und kam zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung zum Erliegen. Vor allem in den Pfarreien wurde die Arbeit oft noch verbotenerweise weitergeführt, beispielsweise unter dem Deckmantel des Jugendchors. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Karten neu gemischt und die Jugendarbeit wurde an vielen Stellen, auch überregional, sehr schnell wieder aufgenommen, zunächst mit der Auflage der Lizensierung durch die Besatzungsmächte. Die bistumsweite Lizensierung der Katholischen Jugend für die Diözese Augsburg wurde im Mai 1946 von Domkapitular Josef Hörmann beantragt. Miteinbegriffen waren folgende Organisationen: Jungmännerverband, Gesellenverein, Marianische Kongregation, Katholische Pfadfinderschaft St. Georg, Neudeutschland, Quickborn, Jungfrauenverbände, Marianische weibliche Kongregation und Heliand.1 Die Geschichte der katholischen Jugendverbandsarbeit in Deutschland in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist bislang kaum erforscht. Für das Bistum Augsburg liegt denn auch noch keine wissenschaftlich fundierte historische Untersuchung vor. Das Ziel meines Dissertationsprojekts ist es folglich, die Entwicklung des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) vom Wiederaufbau der Jugendarbeitsstrukturen nach 1945 bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) und dem Tod des Augsburger Bischofs Joseph Freundorfer 1963 in diesem Bistum zu untersuchen. Für einzelne Bistümer wie beispielsweise Regensburg,2 Mainz,3 Würzburg,4 Paderborn5 und Bamberg6 liegen Aufsätze oder Monografien vor, die einen Blick 1 Vgl. Archiv des Bistums Augsburg (ABA) BO 95: Schreiben des Bischöflichen Seelsorgeamtes Augsburg an die Militärregierung für Schwaben, Augsburg 06. 05. 1946. 2 Hans Dietrich: Vom Jugendbund zum Jugendverband. Zur Entwicklung der kirchlichen Jugendarbeit in der Diözese Regensburg Bund der Deutschen Katholischen Jugend, Regensburg 1989, S. 49–193. 3 Barbara Nichtweiss (Hg.): Bis hierher und weiterhin. 50 Jahre Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) im Bistum Mainz (Mainzer Perspektiven. Berichte und Texte aus dem Bistum 11), Mainz 1997.

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auf die Geschichte und die Entwicklung der Jugendverbände in ihrer Diözese werfen. Einige Autoren und Autorinnen wie Bernd Börger,7 Mark Edward Ruff8 oder Nina Buthe9 gehen auch auf die bundesweite Entwicklung des BDKJ ein. Dabei sollen zum einen die Entwicklung der sogenannten Stammjugend im Bistum Augsburg – also die Katholische Landjugendbewegung (KLJB) in den ländlichen sowie die Katholische Jungmännergemeinschaft (KJG) und die Katholische Frauenjugendgemeinschaft (KFG) in den urbanen Räumen – erforscht und für die Jugendarbeit relevante Themenfelder wie die Arbeit der Diözesanführung, inhaltliche Schwerpunkte, die Ausbildung der Laienführerinnen und Laienführer, Werkwochen für Jugendliche und die Nutzung der diözesaneigenen Jugendhäuser detailliert erschlossen werden. In das Forschungsprojekt einbezogen sind zum anderen die verschiedenen Gliedgemeinschaften des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend, nämlich die arbeitende Jugend (Christliche Arbeiterjugend, Kolpingjugend, Katholische Kaufmännische Frauenjugend), die Pfadfinder (Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg, Pfadfinderinnenschaft St. Georg), die studierende Jugend (Bund Neudeutschland, Bund Heliand, Marianische Kongregationen), die Sportjugend (Deutsche Jugendkraft), Quickborn und die Vertriebenenjugend (Junge Aktion der Ackermanngemeinde, Aktion Junges Schlesien der Eichendorffgilde). Deren Arbeit auf Diözesanebene ist ebenso Gegenstand der Dissertation wie deren Einbindung in den BDKJ Augsburg und die jeweiligen bundesweiten Strukturen. Forschungsleitend ist dabei die Frage nach dem Verhältnis und der wechselseitigen Beziehung der einzelnen organisierten Jugendgruppen auf Diözesanebene sowohl untereinander als auch hinsichtlich ihres Einflusses auf ihr Umfeld. Diesen komplexen, für das Funktionieren und das Selbstverständnis der katholischen Jugendarbeit außerordentlich wichtigen Sachverhalt haben die bisherigen Untersuchungen stets ausgeklammert. Das weit verzweigte Netz der insgesamt 15 Verbände und Bünde ist mit einer zweiten Forschungsfrage ver4 Martin Schwab: Kirche leben und Gesellschaft gestalten. Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) in der Bundesrepublik Deutschland und der Diözese Würzburg 1947–1989 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 51), Würzburg 1997. 5 Matthias Schulze: Bund oder Schar – Verband oder Pfarrjugend? Katholische Jugendarbeit im Erzbistum Paderborn nach 1945 (Paderborner Studien zur Jugendarbeit 1), Paderborn 2001. 6 BDKJ Diözesanverband Bamberg: Wurzeln der Zukunft. 60 Jahre BDKJ Bamberg 1947–2007, Bamberg 2007. 7 Bernd Börger : Jugend in Deutschland nach 1945 – am Beispiel der organisierten jungen Katholiken. Startprobleme, Aufbauschritte, Konzeptionen, Organisationsformen, Düsseldorf 1991. 8 Mark Edward Ruff: The Wayward Flock: Catholic Youth in Postwar West Germany 1945–1965, London 2005. 9 Nina Buthe: Zwischen »Kirche« und »Welt«? Diskurse über den Wertewandel im Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) (1947–1976), Bochum 2013.

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bunden, die den Blick nach innen richtet und untersucht, wie sich diese Gemeinschaften im Lauf der Zeit positionierten, welcher Verband und welche Leitungspersönlichkeiten den Kurs vorgaben und wer deren Gegenspieler waren. Diese umfassende Forschungsfrage werde ich anhand von vier Themenfeldern untersuchen. Der erste Punkt ist das Diözesanführer- und Diözesanführerinnentreffen: Ab der Gründung des BDKJ gehörten regelmäßige Treffen der Führerschaft zum festen Bestandteil des Programms. Neben Treffen der Dekanatsführerschaft wurde einmal im Jahr eine meist fünftägige gemeinsame Arbeitstagung der Dekanatsführerschaft, Stadtführerschaft und der Führerschaft der Gliederungen im BDKJ der Diözese Augsburg durchgeführt. Parallel dazu gab es eine jährliche Arbeitstagung und Konferenz der Dekanatsjugendseelsorger. Zusätzlich sind die eintägigen Veranstaltungen des Diözesan-Führerrats zu nennen, die mehrmals pro Jahr stattfanden. An ihr nahmen Laien und Priester als Vertreter der Gliederungen oder des Stammes teil. Anhand dieser regelmäßigen und teilweise gut protokollierten Tagungen lässt sich das Zusammenspiel der einzelnen Gruppen gut erforschen, da sich in den Niederschriften die für die Stammjugend und Gliedgemeinschaften wichtigen Themen widerspiegeln und sich hier unter anderem auch die Positionierung einzelner Personen und Verbände deutlich ablesen lässt. Das zweite Themenfeld sind Großveranstaltungen, die sich drei unterschiedlichen Veranstaltungstypen zuordnen lassen. Als erstes sind die Veranstaltungen der Gliedgemeinschaften auf Diözesanebene zu nennen. Beispiele hierfür sind der Bundestag des Bundes Heliand im August 1957 oder Sportveranstaltungen der Deutschen Jugendkraft, zu denen alle Mitglieder des Bundes eingeladen waren. Der zweite Typ sind Veranstaltungen, die von der Diözesanführung des BDKJ unter Mithilfe der Gliedgemeinschaften organisiert wurden und an denen diözesanweit alle Mitglieder des Bundes teilnahmen. Als Beispiele sind der Diözesantag 1949 in Augsburg oder das Jugendprogramm bei der Feier der Ulrichswoche, die 1955 ebenfalls in Augsburg stattfand, zu nennen. Zum dritten Typ gehören Veranstaltungen der Bundesebene des BDKJ wie das bundesweite Treffen der Führerschaft 1953 in Augsburg oder der Eucharistische Weltkongress 1960 in München. Bei beiden Veranstaltungen war die Katholische Jugend der Diözese Augsburg sowohl als Teilnehmerin als auch als Organisatorin beteiligt. Das dritte Themenfeld sind die diözesaneigenen Jugendhäuser. Als erstes Schulungsheim der Diözese nahm das Jugendhaus Wieskirche bei Steingaden im Frühjahr 1946 seine Arbeit unter der Leitung von Alfons Satzger auf. Bereits Ende 1946 konnte das Bischöfliche Jugendseelsorgeamt über drei Häuser verfügen: Das eben erwähnte Jugendhaus Wieskirche, das Bergheim Maria Trost bei Nesselwang und das Hubertushaus bei Steibis. In den folgenden Jahren kamen

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immer mehr Hütten und Häuser dazu; so wurde im Jahr 1960 bei Sonthofen das Jugendhaus Elias errichtet. An der Finanzierung und Errichtung dieses Hauses beteiligte sich die katholische Jugend der gesamten Diözese. Aus den Quellenmaterialien kann entnommen werden, dass die verschiedenen Häuser von allen Jugendverbänden genutzt wurden und auch als Orte der Begegnung dienten, beispielsweise bei diözesanweiten Schulungskursen oder thematischen Wochenenden. Das letzte Themenfeld, das im Grunde die anderen drei durchdringt, ist das der Führungspersönlichkeiten. Es gibt eine Reihe von Belegen dafür, dass Personen auf Diözesanebene an mehreren Stellen eingesetzt wurden oder in mehreren Verbänden gleichzeitig ein Amt innehatten. Das betrifft beispielsweise geistliche Begleiter wie den Augsburger Max Ziegelbauer oder den Wieskuraten Johannes Dischinger. Hier muss eingehend geprüft werden, ob die entsprechende Person ihr Amt nur nominell innehatte oder ob sie aktiv Entscheidungen in ihrer jeweiligen Gruppe traf und beispielsweise in ihrer Gemeinde für den Aufbau und Erhalt verschiedener Gliedgemeinschaften zuständig war. In den Fokus werden neben den geistlichen Begleitern die weltlichen Diözesanführerinnen und Diözesanführer der einzelnen Verbände gestellt, da diese kraft ihres Amtes Entscheidungen für die gesamte Jugend ihres Verbandes treffen konnten. Methodischer Ansatz wird jener der Neuen Kulturgeschichte sein. Das Denken und Handeln der Augsburger Akteure in der katholischen Jugendarbeit wird vor dem Hintergrund der wechselseitigen Verhältnisse betrachtet, in denen die einzelnen dargestellten Personen und Gruppen zueinanderstehen. So wird die akteursgebundene Sicht auf die Geschichte mit der Sicht auf die strukturalen Aspekte verbunden.10

10 Vgl. Stefan Jordan: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Paderborn 32016, S. 212.

Ewgeniy Kasakow

Thesen zum »Globalen 1968« in der Sowjetunion*

Gab es in der UdSSR »1968«? »In Bulgarien und der Sowjetunion fand ›1968‹ nicht statt«, schrieb Angelika Ebbinghaus in dem Band Die letzte Chance? 1968 in Osteuropa, der im Jubiläumsjahr 2008 erschien.1 Dies scheint die durchgesetzte Lehrmeinung zu sein. Ein solches Urteil kommt meist zustande, wenn Forscher erst den »Prager Frühling« als den Inbegriff von »1968« im Ostblock postulieren und dann die Reaktionen darauf in einzelnen Ländern vergleichen.2 Wenn die 1968-Forschung sich darauf beschränkt, die Meldungen aus dem Kalenderjahr aus verschiedenen Ländern zu vergleichen3, so bleiben Ereignisse in der Sowjetunion wie die Unruhen afrikanischer Studenten am Roten Platz im Dezember 1963,4 die »Glasnost-Demonstration« von 200 Menschen auf den Pusˇkin-Platz 19655 oder die Aktion der literarischen SMOG-Gruppe am Todestag von Majakovskij im selben Jahr unter dem Slogan »Entjungfern wir den Sozialistischen Realismus«6 außerhalb des * Diese Thesen sind ein modifizierter Teil meiner Dissertation »Oppositionsmodelle in der späten UdSSR am Beispiel der Konföderation der Anarchosyndikalisten (KAS) und ihrer Vorläuferorganisationen« an der Universität Bremen (Druck i. V.). 1 Angelika Ebbinghaus: Das Jahr 1968 in Ost und West. Zu diesem Buch, in: dies. (Hg.): Die letzte Chance? 1968 in Osteuropa. Analysen und Berichte über ein Schlüsseljahr, Hamburg 2008, S. 20. 2 Vgl. Zolt#n Marusza: Das Jahr 1968 und seine Wirkung im Ostblock, in: Oliver Rathkolb, Friedrich Stadler (Hg.): Das Jahr 1968 – Ereignis, Symbol, Chiffre (Zeitgeschichte im Kontext 1), Göttingen 2010, S. 55–74.; vgl. Michail Rozˇanskij: Raznomyslie v uslovijach: dobrovol’noj nesvobody : pokolenie sovetskich idealistov, in: Raznomyslie v SSSR i Rossii (1945–2008): Sbornik materialov naucˇnoj konferencii 15–16 maja 2009 goda, Moskau 2010, S. 180–206. 3 S. z. B.: Rolf Werenskjold: The Revolution Will Be Televised. The Global 1968 Protests in Norwegian Television News, in: Between Prague Spring and French May. Opposition and Revolt in Europe, 1960–1980 (Protest, culture and society 7), New York, Oxford 2011, S. 177– 198. 4 Ob odnoj zlonamerennoj ˇsumiche v burzˇuaznoj presse, in: Pravda, 21. 12. 1963. 5 5 dekabrja 1965 goda, Moskau 2006. ˇ to i zacem. Ob istorii SMOGa I o mnogom drugom, Moskau 2007. 6 Vladimir Aljenokov : C

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Rahmens der Betrachtung. Selbst diejenigen Forscher, die dem Konzept »langes globales Jahr 1968« anhängen, konzentrieren sich, wenn es um den Osten geht, lediglich auf Ereignisse in Polen und Jugoslawien.7 Dabei geht die 1968-Forschung schon lange von einem »langen Jahr 1968« aus – die dazugehörigen Ereignisse umfassen längst nicht nur das kalendarische Jahr.8 In verschiedenen Ländern werden die Zeitrahmen unterschiedlich bestimmt, so setzte z. B. die Protestwelle in den USA schon zu Beginn des Jahrzehntes an, in den Niederlanden war 1966 der eigentliche Höhepunkt der Jugendproteste9 und in Deutschland hat sich seit Gerd Koenens gleichnamigem Buch der Begriff »Rotes Jahrzehnt« (1967–1977) etabliert.10 Detlef Siegfried verortet »1968« in einem weiten zeitlichen Kontext, der »von etwa 1958 bis 1973 reicht«.11 Zunehmend wird auch die Stilisierung des Jahres 1968 zu einer Chiffre kritisch hinterfragt.12 Somit erscheint es sinnvoll, die Forschung zum »langen 1968« wesentlich früher anzusetzen.13 Als Beginn des Zeitrahmens für die UdSSR gilt hier das Jahr 1958. In diesem Jahr begannen die Versammlungen der zuerst lediglich an Dichtkunst interessierten Jugendlichen vor dem neueröffneten Denkmal für Vladimir Majakovskij in Moskau. Wie auch die Jugendrebellion in vielen anderen Ländern spielte sie sich in einem relativ engen Rahmen ab und umfasste vor allem die Studenten aus der Hauptstadt. Die Versammlungen fanden regelmäßig (auf dem Höhepunkt allwöchentlich) bis 1962 statt und wurden am Ende von Komsomol und Miliz unterbunden. Bereits 1965 gab es Wiederbelebungsversuche, die ebenfalls Repressionen ernteten. Der Majakovskij-Platz war ein Sammelbecken, in dem schon bald die Trennung in rein ästhetische und politische Opposition stattfand.14 Unter anderem bildete sich eine Gruppe junger 7 Peter Birke, Bernd Hüttner, Gottfried Oy : Alte Linke – Neue Linke? Die sozialen Kämpfe der 1968er Jahre in der Diskussion (Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 57), Berlin 2009. 8 Aleksander Tarasov : 1968: pirstrastnyj vzgljad. Jubilejnyje razmysˇlenija, in: Svobodnaja mysl’, 2008, Nr. 8, S. 135–144. 9 Hanco Jürgens, Jacco Pekelder, Falk Breitschneider : »1968« als transnationale Kulturrevolution, in: dies. (Hg.): Eine Welt zu gewinnen! Formen und Folgen der 68er Bewegung in Ostund Westeuropa, Leipzig 2009, S. 15. 10 Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001; vgl. zur Situation in den USA: Bruce Schulman: The Seventies. The Great Shift in American Culture, Society, and Politics, New York 2002, S. XII, 219f. 11 Detlef Siegfried: 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018, S. 8. 12 Ingo Cornils: Writing the Revolution. The Construction of »1968« in Germany, Rochester 2016; Armin Nassehi: Gab es 1968? Eine Spurensuche, Hamburg 2018. 13 Neueste Studien zeigen, dass auch vor Beginn der »Tauwetter«-Periode die sowjetische Jugend der Nachkriegszeit der Partei Sorgen bereitete und keineswegs brav war : Juliane Fürst: Stalin’s Last Generation. Soviet Post-War Youth and the Emergence of Mature Socialism, Oxford 2010. 14 Ljudmila Polikovskaja: My predcˇustvie Predtecˇa…. Plosˇcˇad’ Majakovskogo 1958–1965, Moskau 1997; Benjamin Tromly : Making the Soviet Intelligentsia. Universities and Intel-

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Studenten, die für den ungarischen Aufstand von 1956 schwärmten, sich selber als Anarchosyndikalisten bezeichneten und Überlegungen fürr Anschläge auf Chrusˇcˇov und den Parteitag der KPdSU anstellten. Ihre Interessen gingen jetzt weit über den Majakovskij-Platz hinaus, zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung sammelte die Gruppe Informationen über die Massenunruhen in Murom und Alexandrovsk und suchte nach Möglichkeit der Intervention.15 Doch auch die Namen derjenigen, die in ihren Aktivitäten nicht so weit gingen, finden sich später in den Listen von berühmten Dissidenten, Samizdat-Verbreitern, »inoffiziellen« Künstlern oder Kunsthändlern. In der Zeit zwischen dem XX. Parteitag und der Niederschlagung des Prager Frühlings suchte die unzufriedene Jugend – vor allem an den Hochschulen der großen Städte – nach Wegen und Formen, um ihre Unzufriedenheit auszudrücken.16 Es kam zu zahlreichen Gründungen von konspirativen Gruppen, aber auch zu Plänen das System »von innen« zu verändern.17 Für Ljudmila Alekseeva (1927–2018) beginnt 1965 die erste Phase der Menschenrechtsbewegung, die bis 1968 noch keinen organisatorischen Rahmen gefunden hatte.18 Im Jahr 1968 begann dann mit der Herausgabe der Samizdat-Bulletins »Chronik der laufenden Ereignisse« die eigentliche Dissidentenbewegung.19 Der August 1968 bildet somit nicht den Beginn, sondern eigentlich das Ende des »langen 1968« in der UdSSR.20 Die Hoffnungen auf eine Veränderung des Sozialismus waren jäh enttäuscht, aber auch von Versuchen, politische Untergrundgruppen zu gründen, nahm man in Moskau und Leningrad zunehmend Abstand.21 Es war der Beginn der Bewegung der Dissidenten, deren Selbstverständnis es war, mit legalen und öffentlichen Mitteln nicht für politische Programme, sondern für die Einhaltung der sowjetischen Verfassung zu kämpfen.22 Andere »Sˇestidesjatniki« (die »60er«-Generation) – Altersgenossen und Kommilitonen der Dissidenten und Untergrundler – konzentrierten sich auf ihre

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lectual Life under Stalin and Khrushchev (New Studies in European History), Cambridge 2014. S. 198–200. Nikolaj Mitrochin: Anarcho-syndikalizm i ottepel’, in: Obsˇcˇina, 1997, Nr. 50, S. 39–46. Vladislav Zubok: Zhivago’s Children. The Last Russian Intelligentsia, Cambridge 2009. Ljudmila Alekseeva: Istorija inakomyslija v SSSR. Novejsˇij period, Benson 1984, S. 249; »Delo« molodych istorikov (1957–1958 gg.), in: Voprosy istorii, 1994, Nr. 4, S. 106–135. Ebd., S. 249–258. Ebd., S. 258–264. Evgenij Saburov sieht den August 1968 als endgültiges Scheitern der Sˇestidesjatniki-Generation, deren eigentlicher Beginn der XX. Parteitag 1956 war; siehe: Evgenij Saburov : Neporotoe pokolenie, in: Sˇestidesjatniki, Moskau 2007, S. 31–34. Kramola – Inakomyslie v SSSR Pri Chrusˇcˇeve i Brezˇneve, 1953–1982 gg. Rassekrecˇennye dokumenty Verchovnogo Suda i Prokuratury SSSR, Moskau 2005. Aleksander Danie˙l: 1968-j god v Moskve. Nacˇalo, in: Neprikosnovennyj zapas, 2008, Nr. 4 (60), S. 131–140.

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Karrieren in der Partei und im Wissenschaftsbetrieb. Ihre nichtkonformen Ansichten kamen erst in der Perestroika-Zeit voll zur Entfaltung.

»Sˇ estidesjatniki« zwischen 1956 und 1968 »1968« wird verstärkt als Gegenstand der Generationsforschung behandelt. Das wirft die Frage auf, ob es eine gemeinsame »68er«-Generation im Westen und im Osten gegeben hat. Tatsächlich sind viele bekannte »Sˇestidesjatniki« etwas älter als z. B. die bekanntesten bundesdeutschen oder US-amerikanischen »68er«. Während Erstere meist vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, überwiegen bei Zweiteren die in den 1940er Jahren Geborenen. Pal Tam#s spricht von »Sˇestidesjatniki« als von zwischen 1920 und 1930 Geborenen23, während die russische Wikipedia den Zeitrahmen großzügig zwischen 1925 und 1945 ansetzt. Zudem bezeichnen Begriffe wie »68er« oder »Sˇestidesjatniki« vor allem die Zeit der Politisierung, aber nicht die der größten Wirkung. Gewirkt haben die (westlichen) »68er« vor allem nach 1968: nachdem sie ins Berufsleben eingestiegen sind, »lange Märsche durch Institutionen« antraten und z. B. in den 1980er und 1990er Jahren in Führungspositionen gelangten. So auch die »Sˇestidesjatniki«: Das Lebenswerk der Menschenrechtlerin Ljudmila Alekseeva begann in den 1970er Jahren, als die Illusionen der 1960er Jahre vorbei waren und der langatmige Kampf der Dissidenten begann.

Generationsprojekt: Nachholender Widerstand Gerade mit den »68ern« in der Bundesrepublik weisen die sowjetischen »Sˇestidesjatniki« eine wichtige Parallele auf. Ihr Kampf war ein Kampf der »Zuspätgeborenen«. Die unbewältigte nationalsozialistische und stalinistische Vergangenheit erzeugte bei denen, die noch viel zu jung gewesen waren, um Widerstand zu leisten, sowohl Misstrauen gegenüber den älteren Generationen (die angeblich nicht genügend Widerstand geleistet hätten) als auch das dringende Bedürfnis, den Widerstand nachzuholen.24 Dieser »nachholende Widerstand« richtete sich gegen die angebliche Restauration der »alten Ordnung«. Die Befürchtungen, dass jede Verschärfung der staatlichen Politik gegenüber der Opposition letztendlich auf eine Rückkehr zum Massenterror hinausliefe, be23 Pal Tamasˇ : Sˇestidesjatniki – pokolenie s legkimi i zˇabrami. Mezˇdu intelligenciej I intellektualami, in: Vivat, Jadov! K 80-letnemu jubeleju: sbornik, Moskau 2009, S. 407–412. 24 Zu der Situation in der BRD siehe: Karin Wetterau: 68. Täterkinder und Rebellen. Familienroman einer Revolte, Bielefeld 2017.

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schleunigten die Radikalisierung und ließen jeden Protest gegen die Verschärfungen dagegen pathetisch wirken. Heute erscheint dieses Pathos oft unverständlich – doch für die jeweilige Protestbewegung waren personelle Kontinuitäten ein unbestreitbarer Beweis für die akute Gefahr der Wiederkehr der Vergangenheit.

Internationale Solidarität und nationale Identitätssuche Das »Globale 1968« wird als transnationales Ereignis bezeichnet.25 Die Protestbewegungen in verschiedenen Ländern nahmen ständig Bezug aufeinander ; der aus der sozialistischen Arbeiterbewegung stammende Slogan von der »internationalen Solidarität« ging um. Gleichzeitig war es auch die Zeit des Erstarkens der nationalistischen Bewegungen in der Ersten, der Dritten und, wie im Folgenden geschildert wird, auch in der Zweiten Welt. Das ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Schon die Protestbewegung im Westen verstand unter »internationaler Solidarität« vor allem Unterstützung für den Befreiungsnationalismus im kolonisierten Trikont. Dabei wurde vor allem Lenins Theorie zitiert, die streng zwischen unterdrückendem Nationalismus, den es zu bekämpfen gilt, und dem unterdrückten Nationalismus, dem die Revolutionäre Unterstützung gewähren sollen, unterscheidet. Damit war die Diskussion eröffnet, welche Nationen als unterdrückt zu betrachten sind.26 Während z. B. in Deutschland auch unter Linken die Ansicht vorkam, dass die Deutschen Opfer der westlichen und östlichen Imperialismen sind, fragten sich in der Sowjetunion manche Kritiker des Bestehenden warum die Unabhängigkeit von Algerien und Vietnam fortschrittlich, aber die von Ukraine, Litauen oder Armenien reaktionär sein soll. Der Blick der meisten (russländischen) sowjetischen Dissidenten auf den »unterdrückten« Nationalismus der nationalen Republiken und Ostblockstaaten war vom schlechten Gewissen wegen der eigenen kolonialen Rolle geprägt.27

25 Martin Klimke: 1968 als transnationales Ereignis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2007, Nr. 14–15, S. 22–27. 26 Tromly : Intelligentsia (Anm. 14), S. 228–230. 27 Dieses Paradigma brachte der liberale jüdische Dissident Michail Cheifec auf den Punkt, wenn er dafür plädiert, den jungen Nationalismus der »kleinen Völker« mit mehr Nachsicht, als den russischen zu Behandeln. Dabei bezog er sich auf Frantz Fanon; siehe Michail Cheifec: Mesto i vremja. Russkoe pole, in: ders.: Izbranoe: tom 1, Char’kov 2000, S. 66–67.

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Die nachträgliche Deutung der Akteure Oft werden die demokratischen Dissidenten Osteuropas den linksradikalen 68ern im Westen gegenübergestellt. Dabei werden viele Parallelen ignoriert. Die Themen der Rebellierenden im Osten und im Westen waren gar nicht so unterschiedlich, wie es im Nachhinein oft erscheint. »Obwohl ich seit langem zum Begriff Revolution in einem eher negativen Verhältnis stehe, wurde ich doch zum Mitstreiter einer der vielleicht bedeutendsten Revolutionen seit Menschengedenken«, begann 1977 Andrej Amal’rik (1938–1980) seine Aufzeichnungen, die bemerkenswerterweise im russischen Original »Aufzeichnungen eines Dissidenten«, in der deutschen Übersetzung aber »Aufzeichnungen eines Revolutionärs« betitelt sind.28 Der wesentlich jüngere Schriftsteller Viktor Erofeev (Jg. 1947) erinnert sich an seine Studienjahre an der Lomonossow-Universität Moskau: »1968 war ich weder in Paris, noch in Prag, aber Paris und Prag waren in mir. Beide Revolutionen waren meine Revolutionen, die Revolutionen meines Lebens. In der Sowjetunion, mitten im Zentrum von Breschnjews Moskau lebend, auf der Hauptstraße, die damals Gorki-Straße hieß, wirkte ich irgendwie daneben und war einsam: Niemand in meiner Umgebung teilte meine Ideen. Die Studenten der Staatlichen Moskauer Universität, an der ich Philologie studierte, verhielten sich zumeist gleichgültig gegenüber den revolutionären Ereignissen in Europa. Von ihrem Wesen her waren sie keine Aufrührer. Sie waren nicht einmal sowjetische Konformisten: Sie wollten, dass man sie in Ruhe ließ, die Politik mit ihren unvorhersehbaren Folgen machte ihnen Angst. Woher kamen bei mir diese rebellischen Leidenschaften?«29

Das Leiden an der Passivität der Umgebung, das Gefühl Teil einer weltweiten Bewegung zu sein und gleichzeitig »eine kleine radikale Minderheit« (so eine der berühmten APO-Formulierungen in der BRD) zu bleiben – das waren durchaus gemeinsame Gefühle der Akteure des »langen 1968« in Ost und West.

28 Andrej Amalrik: Aufzeichnungen eines Revolutionärs, Berlin u. a. 1983, S. 7. 29 Viktor Erofeev : Dlinnovolosyj bunt, in: ders.: E˙nciklopedija russkoj z˙izni, Moskva 2015, S. 480–483, hier S. 480.

Rezensionen

Hans-Ulrich Thamer

Wanderland. Eine Reise durch die Geschichte des Wanderns, hg. von Claudia Selheim, Frank Matthias Kammel, Thomas Brehm (Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums), Nürnberg 2018, 383 S., ISBN 978-3-946217-17-6, 52,– E Das Wandern ist nicht nur des Müllers Lust, wie das romantische Volkslied suggeriert, sondern mittlerweile auch beliebtes Thema der Kulturwissenschaften. Gleich drei Museen haben in den vergangenen Jahren Sonderausstellungen zum Thema »Wandern« präsentiert. Die Berliner Alte Nationalgalerie hat im Sommer 2018 unter dem Titel »Wanderlust. Von Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir« vor allem Werke der Bildenden Kunst ausgestellt. Ein Jahr zuvor wurde in Eisenach ebenfalls die »Wanderlust« thematisiert, damals als »Die Sehnsucht nach dem Paradies«. Vom November 2018 bis zum April 2019 hat das Germanische Nationalmuseum, seinem Selbstverständnis eines kulturhistorischen Museums entsprechend, in einer Zeitreise die »kulturelle Praxis des freiwilligen, scheinbar zweckfreien Wanderns« vom Zeitalter der Aufklärung bis in die Gegenwart behandelt. Das Nürnberger Museum knüpfte damit an seine 2013, in Kooperation mit dem Archiv der deutschen Jugendbewegung präsentierte Ausstellung »Aufbruch der Jugend. Die deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung« an und stellte nun das Wandern in einen sehr viel breiteren kulturellen und auch wirtschaftlichen Zusammenhang, der sich nicht nur im Prozess der Moderne entfaltete und zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Konjunkturen und Ausprägungen bzw. politische Instrumentalisierungen erlebte, sondern indirekt auch den kulturhistorischen Ort des »Wandervogels« und der »Bündischen Jugend« absteckte, der als Suche nach alternativen Lebens- und Gemeinschaftsformen einerseits einen historischen Sonderfall darstellte, andererseits mit einer sehr viel breiteren Wirkungsgeschichte auch auf die bürgerliche Gesellschaft und die neu entstehenden sozialen und kulturellen Bewegungen ihrer Zeit ausstrahlte. Zu den Schnittmengen und Ungleichzeitigkeiten in der Geschichte des Wanderns gehört auch die lange Tradition des Gesellenwanderns, das in dem Nürnberger Ausstellungsnarrativ nur als kontrastierende Folie zum »zweckfreien« Wandern vor allem in der Kultur der Romantik und der entstehenden Freizeitkultur der industriellen Gesellschaft des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts kurz angesprochen wird, obwohl es bis tief in das zweite Drittel

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des 19. Jahrhunderts reichte und nicht wenige der Parteiführer der frühen deutschen Arbeiterbewegung ihre prägenden Ehr-Vorstellungen und Solidaritätserfahrungen als wandernde Handwerksgesellen erworben hatten. Zur selben Zeit hatten Schriftsteller sich aufgemacht, um die Natur zu erleben und zu erforschen, um ihren Traum von der Zivilisationsferne und der Rückbesinnung auf eine stolze (Ruinen-)Vergangenheit zu leben. Gleichzeitig hatte der Turnvater Jahn dem Wandern einen nationalen bzw. völkischen Sinn gegeben, der weit über die bloße Körperertüchtigung hinausging und ihn sowie die entstehende deutsche Turnbewegung auf die Suche nach dem vermeintlichen deutschen Volkscharakter führte. Das wurde zur Geburtsstunde einer deutschen Wanderideologie, für die der Ausstellungskatalog eine Fülle von Zeugnissen bietet. Die verengte Vorstellung, dass das Wandern eine spezifisch deutsche Angelegenheit und eine konstitutive Manifestation eines deutschen Sonderwegs sei, wie sich das vorübergehend im deutschen Selbstverständnis festgesetzt hatte, wird im umfangreichen Aufsatzteil des Kataloges allein schon durch Beispiele aus der Kultur der englischen und französischen Romantik relativiert und fände sicherlich noch weitere Belege für einen entsprechenden Kulturvergleich. Das Auf und Ab in der Praxis der Wanderbewegung und der damit verbundenen Freizeitkultur bis in die Gegenwart, das mit Objekten und Texten ausführlich belegt wird, wirft die Frage auf, warum sich das Wandern einer je unterschiedlichen Beliebtheit erfreute und erfreut, wo es doch immer schnellere und auch komfortablere Möglichkeiten der freiwilligen Fortbewegung und Freizeit- bzw. Sportgestaltung gibt. Wenn das Wandern sicherlich zu den deutschen Erinnerungsorten gehört, so ist (und darin ist den Herausgebern zuzustimmen) seine Geschichte vermutlich ebenso sehr von transnationalen Faktoren abhängig, zu denen die Industrialisierung und Urbanisierung sowie im Zusammenhang damit auch die fortgesetzte Beschleunigung und Differenzierung unserer Lebenswelten gehören, die die Suche nach alternativen Kulturformen, zu denen auch die Lebensreform- und Jugendbewegung gehörten, immer wieder angespornt haben. Dass das Thema Wandern in allen seinen Facetten und kulturgeschichtlichen Bezügen, einschließlich seiner Zeitgebundenheit und Ungleichzeitigkeiten, in einer Ausstellung, die auf die Präsentation von originalen Objekten, von Kunstwerken bis Gegenständen des Alltäglichen und Banalen bedacht ist, eine große Herausforderung für die Ausstellungskuratoren darstellt, wird im Katalog angedeutet. Umso wichtiger sind darum die thematisch weit gespannten Beiträge im Aufsatzteil des Kataloges, die diesem fast schon den Charakter eines Handbuches verleihen. Auch die rund 250 Objekte, die für die Ausstellung zusammengetragen und sorgfältig beschrieben werden, geben einen guten Überblick über die Kulturgeschichte des Wanderns und ihre Sachzeugnisse, vom romantischen Gemälde bis zum Spazierstock mit eingebauter Weinbrandflasche bzw.

Wanderland. Eine Reise durch die Geschichte des Wanderns

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zu den Wanderschuhen von Helmut Kohl. Ist das Wandern am Ende doch ein deutscher Sonderweg? Auch wenn die Lektüre eines Kataloges sicherlich nicht den Besuch einer Ausstellung ersetzen kann, bietet der Band ein lesenswertes Kompendium einer populären Freizeit- und Kulturgeschichte.

Günter C. Behrmann

Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Jugendbewegung, Stuttgart: J. B. Metzler 2018, 250 S., ISBN 978-3-476-04574-4 (e-book: 978-3-476-04475-5), 69,99 E Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charismas. Biographie, München: Karl Blessing Verlag 2007, 816 S., ISBN 978-3-89667-151-6, 24,95 E Christophe Fricker (Hg.): Krise und Gemeinschaft. Stefan Georges Der Stern des Bundes, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2017, 488 S., ISBN 978-3-465-04328-7, 49,00 E Thomas Karlauf: Stauffenberg. Porträt eines Attentäters, Blessing Verlag, München 2019, 368 S., ISBN 978-3-89667-411-1, 24,00 E Wenige Monate nach dem Ersten Freideutschen Jugendtag erschien im Februar 1914 ein Gedichtwerk, das wie kein anderes mit der Jugendbewegung in Verbindung gebracht wird: Stefan Georges Stern des Bundes. Denn es enthält die bei vielen Anlässen in kleinen wie in großen Runden auch gemeinsam gesprochenen Verse: »Wer je die flamme umschritt / Bleibe der flamme trabant / Wie er auch wandert und kreist: / Wo noch ihr schein ihn erreicht / Irrt er zu weit nie vom ziel. / Nur wenn sein blick sie verlor / Eigener schimmer ihn trügt: / Fehlt ihm der mitte gesetz / treibt er zerstiebend ins all.« »Mit solchen, das bündische Lebensgefühl dichterisch überhöhenden Zeilen«, schrieb Thomas Karlauf 2007 in seiner George-Biographie, habe sich George »ein ihm über Jahrzehnte dankbares und treues Publikum« geschaffen (398), ja mehr noch: in der »Sehnsucht breiter bürgerlicher Schichten nach dem großen Menschen und Führer der Jugend« habe »die Verehrung für Stefan George unter den 15- bis 25-Jährigen am Vorabend des Ersten Weltkriegs überdimensionale Ausmaße« angenommen. »Vergleichbare Phänomene begegnen erst wieder in der Pop-Kultur Mitte der sechziger Jahre« (400). Hierzu zitiert Karlauf aus »zahlreichen Briefen jugendlicher Verehrer, die sich in Georges Nachlass erhalten haben«, drei Briefe, worin emphatisch dem Dichter und dessen Dichtung gehuldigt wird (400f.). Sie tragen die Daten 15. 06. 1907, 03. 03. 1910 und

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12. 04. 1911. Demnach haben schon in den Jahren, in denen sich der 1910 mit dem ersten Jahrbuch für die geistige Bewegung hervortretende George-Kreis bildete, Jugendliche fern davon in dem ihnen nur durch dessen Dichtungen bekannten George einen Heilsbringer gesehen. Das ist gewiss bemerkenswert. Auf überdimensionale Ausmaße einer am Vorabend des Ersten Weltkriegs in der Jugendbewegung verbreiteten George-Verehrung lässt sich daraus allerdings nicht schließen. Gleichwohl könnte zutreffen, dass George nirgendwo »so viele Bewunderer gefunden hat« wie dort (397). Ein gar mit der Pop-Kultur Mitte der 1960er Jahre vergleichbarer George-Kult müsste sich dann jedoch in zurechenbaren Quellen, also nicht nur in Briefen einzelner Jugendlicher zeigen, die womöglich nicht einmal jugendbewegt waren. Vielmehr müsste gefragt werden, wo und wie George und dessen Dichtungen in jugendbewegten Gemeinschaften wahrgenommen wurden. Mit dieser Frage gerät man indes in ein weites Feld. Die florierende George-Forschung hat es, sieht man von wenigen Ausnahmen ab, kaum beachtet, weil George mit seinem Kreis früh auf Distanz zur Jugendbewegung gegangen ist. War hier die Distanz zu groß, so war sie dort, wo George innerhalb der Bewegung bedeutsam wurde, häufig zu gering. Jugendbewegte konnten den Stern des Bundes so lesen, als seien insbesondere sie darin angesprochen. In den 1920er Jahren haben sie das vermehrt auch getan. So hat sich in der »bündischen Zeit« die Vorstellung verbreitet, zwischen George und der Jugendbewegung bestehe ein Sonderverhältnis. Vielfach wiederholt, auch ausgesponnen, konnte sich diese Vorstellung seither so weit verfestigen, dass ihr selbst noch Karlauf in seiner sorgfältig recherchierten George-Biographie folgt. Nun sind in den vergangenen Jahren mehrere Arbeiten entstanden, welche die Zweifel nähren, die ohnehin überall dort geboten sind, wo der Jugendbewegung ungeachtet ihrer Heterogenität und ihres ständigen Wandels feste Eigenschaften zugeschrieben wurden und werden. Die sich mehrende Kritik an der oft nur fortgeschriebenen statt belegten Annahme, George habe die Jugendbewegung nachhaltig beeinflusst, hat die Stefan-George-Gesellschaft bewogen, ihre Jahrestagung 2016 diesem Thema zu widmen. Die dreizehn Referate dieser zusammen mit dem Archiv der deutschen Jugendbewegung im Stefan-GeorgeHaus in Bingen veranstalteten Tagung liegen nun in dem vom Vorsitzenden der Gesellschaft, dem Bielefelder Literaturwissenschaftler Wolfgang Braungart, herausgegebenen und eingeleiteten Band der Metzler-Reihe Abhandlungen zur Literaturwissenschaft vor. Schon das Inhaltsverzeichnis lässt erkennen, wo der Schwerpunkt der Tagung lag. Neun der Titel beziehen sich explizit auf die »Jugendbewegung« und/oder auf jugendbewegte Bünde und Kreise. Es bleiben vier weitere Beiträge, von denen drei, ohne dies im Titel anzuzeigen, ebenfalls davon handeln. Einzig Rainer Kolk belässt es in seiner »Skizze« zu »literarischen Texte[n] aus den ersten drei

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Jahrzenten des 20. Jahrhunderts, worin zentral ›Jugend‹ thematisiert wird« (11), bei einer allerdings langen Anmerkung zur Jugendbewegung und George. Es ging auf der Tagung somit um die Rezeption von Dichtungen Georges in einer der um 1900 entstandenen sozialen Bewegungen, nicht um Fragen ihrer Interpretation, auch nicht um Georges Biographie und die Kreise seiner Folger. Wer nach Interpretationen kompetenter Interpreten suchte, griff bislang vor allem zum Kommentar zu dem Werk Stefan Georges von Ernst Morwitz, einem der im »Dritten Reich« vertriebenen deutsch-jüdischen Angehörigen des George-Kreises. Dem Stern des Bundes sind darin allein siebzig Seiten vorbehalten. Aus der gegenwärtigen George-Forschung ist nun Krise und Gemeinschaft, eine noch sehr viel breiter angelegte, nahezu 500 Buchseiten füllende Kommentierung hinzugekommen.1 Wenngleich dieses von Christophe Fricker herausgegebene, in der Forschungsgruppe »Poetry and Personhood in Modern Europe« des Hanse-Kollegs Delmenhorst erarbeitete Werk hier nicht eingehend gewürdigt werden kann, sei es denjenigen empfohlen, die sich über die Rezeption des »Sterns« hinaus für dieses Gedichtwerk interessieren. Mit Frickers Einleitung enthält es im ersten Teil zehn Essays zu dessen zeit-, werk- und kreisgeschichtlicher Einordnung wie zur Komposition und zu grundlegenden inhaltlichen Bezügen. Im zweiten Teil folgen vierzehn Beiträge zum Verständnis von zwanzig »Grundworten«. Der dritte Teil enthält schließlich ausführliche Einzelinterpretationen zu zwanzig der insgesamt hundert Gedichte. Die sechzehn Autoren verbindet, so Fricker, in »der Auseinandersetzung mit einem polarisierenden, selbst in seinen Grundzügen umstrittenen Werk« (12), das Bemühen um dessen »aufmerksamen, bewussten, kritischen, neugierigen Nachvollzug« (14) »als Dichtung, Kunstwerk, Lyrik, geformte, gestaltete Äußerung, als Kommunikation« (21). Hierbei werden Perspektiven eröffnet, die hier außer Acht bleiben können. Zumindest drei der Beiträge halte ich im Hinblick auf die Rezeption des »Sterns« in der Jugendbewegung indes für lesenswert: Bruno Pieger, der gegenwärtig wohl beste Kenner der Dichtungen Georges, geht in seinem Essay »Der Stern des Bundes als tektonisches Gebilde« dessen bis zur Jahrhundertwende zurückreichender Entstehungsgeschichte nach und rekonstruiert die formale Struktur wie den Sinn der kunstvollen Komposition des Gedichtzyklus mit seinen 9+3x30+1 Gedichten. Tina Winzen verfolgt Georges Flammen-Metaphorik durch das Gedichtwerk hindurch bis zu Wer je die Flamme umschritt. Hierzu hat Fricker eine Einzelinterpretation verfasst, neben der sich auch noch eine beachtenswerte weitere Interpretation im Essay von Ludwig Lehnen Der Stern des Bundes und das Transzendenz-Problem der Moderne findet (197). 1 Christophe Fricker (Hg.) : Krise und Gemeinschaft. Stefan Georges »Der Stern des Bundes«, Frankfurt a. M. 2017.

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Zurück zur Jugendbewegung: Was lässt sich quellennah ausmachen, wenn man Justus H. Ulbricht folgt, der in seinem Beitrag Deutschland ewig unsere Liebe. George-Splitter in zerrissener Zeit darauf hinweist, dass erstens in Georges Dichtung nicht nur für junge Leser vieles schwer verständlich, teils auch unverständlich war, dass zweitens »die Literatur- und Textrezeption der Jugendbewegung vor dem ersten Weltkrieg [wie danach, G.C.B.] sich höchst heterogener weltanschaulich und ästhetisch vielgestaltiger und damit auch widersprüchlicher Textwelten zu bemächtigen wusste«, drittens »Abenteuer und Eindrücke auf der Fahrt und im Lager eine offensichtlich bedeutend wichtigere Rolle als Lektüreerlebnisse« spielten (89) und viertens oft nur schwer nachweisbar ist, »welche Leseerfahrungen als Handlungsanweisungen oder -optionen verstanden wurden und welche Texte beim jugendbewegten Leser schließlich zu konkreten Handlungen im kulturellen und politischen Feld der jeweiligen Zeit geführt haben« (91)? Als gesellschaftlich nicht weiterreichend eingebundene, insoweit »freie« altershomogene Gemeinschaften sind jugendbewegte Gruppierungen vor allem unter Gymnasiasten und den – nicht korporierten – Freistudenten entstanden. Manfred Hettling und Daniel Watermann eröffnen neue Perspektiven auf diesen vielfach dargestellten, aus der Bewegung heraus oft überhöht gedeuteten Prozess, indem sie ihn sozial- und kulturgeschichtlich neu rahmen. Auf der Grundlage eigener zeitlich weit ausgreifender empirischer Untersuchungen zum »bürgerlichen Vereinsmodell« fragen sie, wo und inwiefern dieses in seinen vielen Varianten auf je spezifische Zwecke ausgerichtete »Modell« dadurch herausgefordert wurde, dass die jugendbewegten Vereinigungen sich mit einem umfassenden »Anspruch auf Ganzheitlichkeit«, dem Versprechen, »sich in besonderer Weise als Gemeinschaft zu verstehen, zu verhalten und zu bewähren« sowie mit der »Unterscheidung und gegenseitigen Bindung von Führung und Gefolgschaft« (47f.) vom bürgerlichen Vereinswesen abgesetzt haben. Damit stand die Jugendbewegung freilich nicht allein. »Lebensreform, Reformpädagogik, Jugendbewegung und George-Kreis: sie alle nahmen«, so Braungart in seiner Einleitung, »kulturkritische Impulse auf, wie sie in Europa im modernekritischen Diskurs vielfach artikuliert wurden« (5). Zum Grundbestand dieses Diskurses zählte in Deutschland die Idealisierung der »Gemeinschaft« als einer »Art Gegenideologie zur Industriegesellschaft« (Helmut Plessner). Hiervon geht Hans-Ulrich Thamer in Bünde und Kreise. Jugendbewegte Gemeinschaftsformen von der Weimarer Republik bis in die frühe Bundesrepublik aus. Stärker als Hettling und Watermann nimmt er dabei die Erlebnisräume und -weisen jugendbewegter Gruppen, deren Konstanten und Veränderungen in den Blick. Obwohl er die George-Rezeption nicht thematisiert, schlägt er so eine Brücke zu den darauf bezogenen Beiträgen.

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Eines der überraschendsten Ergebnisse der neueren Forschung präsentiert Malte Lorenzen, der in seiner Dissertation zum Literaturkonzept der bürgerlichen Jugendbewegung 1896–1923 (2016) die zahlreichen Zeitschriften jugendbewegter Vereinigungen ausgewertet hat. In den 1.500 Rezensionen, die er dort ausfindig machen konnte, ließen sich in der »Zeit vor dem Ersten Weltkrieg keine Belege für eine George-Rezeption in der Jugendbewegung finden« (196). Es ist daher kaum anzunehmen, dass die jugendbewegten Kriegsfreiwilligen, wie man immer noch lesen kann, 1914 mit dem Stern des Bundes im Tornister in den Krieg gezogen sind. Gesichert ist hingegen, dass schon vor dem Krieg in der Jugendkulturbewegung Gustav Wynekens und Siegfried Bernfelds George gelesen wurde. Nun hat Wyneken bekanntlich mit Schülern seiner Freien Schule Wickersdorf 1913 am Freideutschen Jugendtag teilgenommen und dort gesprochen. Er wird deshalb oft als führende Figur der Jugendbewegung betrachtet. Mit seinem Glauben an eine von der »Jugend« getragene kulturelle Weltrevolution und seiner darauf gründenden prophetisch-priesterlichen Anspruchshaltung stand er jedoch quer zu einer Mehrheit der Freideutschen wie zur Reformpädagogik. Anhänger fand er zwar auch dort, doch eher unter seinen Schülern. Hierzu zählte Walter Benjamin, der bereits 1905 in seinem dreizehnten Lebensjahr zu Wyneken in das Lietzsche Landerziehungsheim Haubinda gekommen war. Georg Doerr verfolgt in »Läuterung des Samens« – Gustav Wyneken und Stefan George als geistige Führer des jungen Walter Benjamin zunächst, wie eng Benjamin mit dem von ihm bewunderten Deutsch- und Philosophielehrer, Künder der »Jugendkultur« und des »pädagogischen Eros« verbunden blieb, als dieser Wickersdorf gründete. Nach eigenem Bekunden wurde er zu einem »strengen und fanatischen Schüler Wynekens« (223). In den Jahren vor dem Krieg hat er sich vollauf für die Jugendkulturbewegung engagiert und dabei Wynekens kulturrevolutionäre Radikalität bei Auftritten in »Sprechsälen« und in Artikeln für die kurzlebige Zeitschrift Anfang noch überboten. Schon in Haubinda war ihm bis dahin verschlossene zeitgenössisch-moderne Literatur nahegebracht worden. So fand er um 1910 zu Dichtungen Georges. Sie gewannen für ihn eine ähnliche Bedeutung wie Wynekens pädagogische Mission. Als Wyneken, der noch in seiner Meißnerrede alle Kriegsverherrlichung verworfen hatte, in die sich im Sommer 1914 verbreitende Kriegsbegeisterung einstimmte, brach Benjamin mit seinem Lehrer und Leitbild. So endete auch sein Engagement für die Jugendkulturbewegung. Da er nie mehr darauf zurückgekommen ist, hätte Doerr hier schließen können. Er fährt jedoch fort, um insbesondere gegenüber Adornos wirkungsvollem Bild Benjamins nachzuweisen, dass dieser zum einen die in der Jugendkulturbewegung gewonnenen »Ideen in seinen Texten in verschlüsselter, oft esoterischer Form weitergetragen hat« (226) und dass zum anderen George, allerdings nur der George bis zu dem von Benjamin höchst negativ

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beurteilten Stern des Bundes, die »Schreib- und Denkweise Benjamins nachhaltig bestimmt hat« (235). Dies geschieht in einer Weise, die beispielhaft zeigt, dass langfristig prägende Einflüsse auf Denk- wie Handlungsweisen und, genereller, Wirkungen von Ideen wie von ideenhaltiger Dichtung oft nur indirekt aufzuspüren sind. George, so nochmals Braungart, »wollte zunächst vor allem dies: mit Kunst zur Kunst zu erziehen; dann, in der zweiten Werkphase nach etwa 1900, mit Kunst für das Leben, für seine Vorstellung vom Leben. Das war ein Leben in Entschiedenheit, ein Leben in zeit- und kulturkritischer Opposition gegenüber der modernen Massenkultur, ein radikal ›reformiertes‹ Leben« (1). Mehr als in der ersten wirkte er in dieser zweiten Phase – oft gebietend – durch das geschriebene und kultisch gesprochene dichterische Wort in individuellen face-toface-Beziehungen seiner Wahl. Von der notwendig durch Medien der Massenkommunikation vermittelten Öffentlichkeit der städtisch-industriellen Gesellschaft hielt er sich fern. Gleichwohl hat er die von ihm freilich umsichtig kontrollierten Editionen seiner Dichtung wie der sie kommentierenden Literatur und wissenschaftlichen Werke aus seinem Kreis nicht nur geduldet, sondern auch gefördert. So gelangten seine Dichtungen in den öffentlichen Raum, in dem sich nicht oder nur teilweise verfolgen lässt, wer, wann, wo wie darauf aufmerksam wurde. In- und extensiv wurden sie sowohl innerhalb als auch außerhalb der Jugendbewegung zumeist individuell oder in Zweierbeziehungen zwischen jugendlichen Freunden sowie zwischen »Lehrern« und »Schülern« rezipiert. Ihre Aneignung reichte, wovon – so bei Benjamin – eigene Gedichte, öfter noch die häufige wörtliche Berufung auf Dichtung Georges in Korrespondenzen zwischen Freunden zeugen, teils sehr weit. Das sind Quellen, worauf in Stefan George und die Jugendbewegung wohl deshalb kaum zurückgegriffen wird, weil Dichtung – zumal Dichtung Georges – in größeren Gruppen nicht in ähnlicher Weise kommuniziert werden konnte. Auch das scheinbar näher liegende MeisterJünger-Verhältnis des nach der Jahrhundertwende entstandenen George-Kreises, einer literarisch ungemein produktiven Intellektuellenassoziation, ließ sich bruchlos weder auf jugendbewegte Bünde und deren Gruppen noch auf LehrerSchüler-Gemeinschaften in freien Schulen übertragen. In Wickersdorf wurde das bereits 1914 (Doerr, 219), in Bünden der Jugendbewegung hingegen allem Anschein nach erst in den Weimarer Jahren versucht. Solche Versuche verfolgt Michael Philipp in Publikationen des Wandervogel Norddeutscher Bund, der Jungmannschaft Königsbühl und der Südlegion, Kleinbünden, welche 1920, 1924 und 1932 bei den in der bündischen Jugend häufigen Spaltungen entstanden sind. »Ihrer Selbstwahrnehmung nach realisierten sie, was Georges Gedichte beschworen: den Bund von Freunden als Lebensform, Totalität und Hermetik der Gemeinschaft, die erosbestimmte Erziehung Jüngerer durch einen älteren

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Führer oder die Feier der Gemeinschaft« (183). Artikuliert wurde diese Selbstwahrnehmung allerdings überwiegend von Führern jenseits des Jugendalters. Philipps Beitrag lassen sich die Beiträge von Reinhard Pohl zu Stefan George als Leitbild in Karl Christian Müllers Jungenbund »Trucht« 1929–1934 und Micha Brumlik über Jüdische Jugend zwischen Martin Buber und Stefan George, zwischen Berlin und Palästina. Die Werkleute und der Kibbuz Hasorea zur Seite stellen. Wie in anderen kaum Juden aufnehmenden, teils auch offensiv antisemitischen Bünden einerseits und den deutsch-jüdischen Bünden andererseits waren die Gemeinsamkeiten des Gruppenlebens und seines jugendbewegt ideellen »Überbaus« in Müllers »Trucht«, einer Gegengründung zu Eberhard Köbels dj.1.11, und den »Werkleuten«, eines sich 1932 unter Hermann (Menachem) Gerson verselbständigenden Kreises im jüdischen Jugendbund »Kameraden«, größer als die Unterschiede. So beriefen sich Müller und Gerson auf George. Was – und wieviel – die jüdischen Bünde dennoch von den Bünden mit mehrheitlich deutschnationaler, teils auch völkisch-rassistischer Führung trennte, wurde in diesen beiden Bünden bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach den Märzwahlen 1933 dann überdeutlich. Der saarländische Studienrat Müller, der unter dem Pseudonym »Teut Ansolt« Gedichte und Essays schrieb und publizierte, trat im April 1933 heimlich der NSDAP bei, verfasste, indem er George national vereinnahmte, Elogen auf Hitler und näherte sich mit der Trucht der »neuen Gestalt des Jungenlebens« (192) im Jungvolk und der HJ. Hingegen sahen die weit links stehenden Werkleute nach dem nationalsozialistischen Judenboykott vom 1. April 1933 eine Zukunft nur noch in Palästina, wo sie 1936 den heute noch bestehenden Kibbuz Hasorea gründeten. Zu den Bünden, für die Dichtungen Georges bedeutsam wurden, zählte auch der nach dem Ersten Weltkrieg durch Abspaltungen vom Deutschen Pfadfinderbund entstandene Bund Deutscher Neupfadfinder. Auf ihn gehen Eckart Conze unter dem ideengeschichtlichen Thema »Neuen adel den ihr suchet …«. Aristokratismus in der Jugendbewegung nach 1918 und Justus H. Ulbricht in seinem schon erwähnten Beitrag näher ein. Die Neupfadfinder sind häufig auch außerhalb der Literatur zur Geschichte der Jugendbewegung beachtet worden, weil ihnen in ihrer Jugend aus der deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts nicht wegzudenkende Personen angehört haben. Unter ihnen fand und findet der Hitler-Attentäter Claus von Stauffenberg weit über Deutschland hinaus die stärkste Beachtung. Da mit seinem Attentat vieles in der deutschen, aber nicht nur der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts in Frage stand und weiterhin steht, wurden diese Tat und der Täter zum Gegenstand vergangenheitspolitischer Deutungen, die mehr in der Nachwelt vorherrschenden Sichtweisen und ihnen zugrundeliegenden Deutungsbedürfnissen als den historisch erschlossenen oder doch erschließbaren Realitäten entsprachen. Thomas Karlauf hat nun eine Biographie Stauffenbergs vorgelegt, die ohne vorgängige

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Deutungen des auch filmisch mehrfach dargestellten Attentats dessen historische Hintergründe und Stauffenbergs Motive erhellen soll. Inwieweit es Karlauf dabei gelungen ist, die biographische Literatur, an der es keineswegs mangelt, von Grund auf zu revidieren, mag die Fachdiskussion zeigen. Im Hinblick auf Stauffenberg, George und die Jugendbewegung scheint mir mehreres beachtenswert. Der 1907 geborene Stauffenberg und dessen ältere Zwillingsbrüder Berthold und Alexander haben in Stuttgart das Eberhard-Ludwigs-Gymnasium, Württembergs traditionsreiches »Gymnasium illustre« besucht. Dichtungen Georges und Literatur seines Literaturkanons wurden ihnen bereits am »EbeLu« nahe gebracht. Mit Mitschülern schlossen sie sich bald nach der Gründung der Neupfadfinder diesem Bund an. Was im Deutsch- und Griechischunterricht behandelt wurde, inspirierte sie auch dort, zumal Dichtung Georges und Hölderlins. Kenntnis von George hatten sie zudem über ihren Cousin Woldemar von Uxkull-Gyllenband. Dieser war George schon früh begegnet, als Ernst Morwitz ihn in jungen Jahren unter seine Fittiche genommen hatte. Nach der Rückkehr aus dem Krieg nahm er sein Studium der Alten Geschichte wieder auf und wurde in Heidelberg in den George-Kreis aufgenommen. So kamen die StauffenbergBrüder 1923 ebenfalls in Verbindung mit dem Meister. Im sehr breiten Spektrum der jugendbewegten George-Rezeption sind sie als Grenzfälle zu betrachten. Nur sie wurden unter all den Jugendbewegten, welche George verehrten, unter dessen Jünger aufgenommen und zwar schon in der Zeit ihrer Zugehörigkeit zu den Neupfadfindern. Zwischen dem Meister und ihnen entwickelte sich eine außerordentlich enge Beziehung. Gemeinsam wie individuell blieben der Altphilologe Alexander, der Jurist Berthold und der nach dem Abitur 1926 sogleich der Reichswehr beigetretene Claus von Stauffenberg George über dessen Tod hinaus verpflichtet. Seine Dichtung, deren Rezeption bei weitem nicht so bündisch imprägniert war wie bei Angehörigen der zuvor erwähnten Bünde, behielt für sie eine kaum zu überschätzende Bedeutung. Dennoch führten auch bei ihnen keine direkten Wege von der »Kunst« zum »Leben«. Dichtung liefert keine Konditionalprogramme, die angeben, was unter den je gegebenen Bedingungen in einer konkreten Lage zu tun ist. Letztlich entscheidet dies der/die Handelnde unter den von ihm/ihr vorgefundenen und gedeuteten Umständen. Sinn gewinnt das Handeln für die eigene Person und andere allerdings erst über die Worte, welche es sinnfällig zu motivieren und zu legitimieren vermögen. Dies kann auf sehr unterschiedliche Weise, so auch ganz ohne Bezüge auf Dichtung, geschehen. Dass für die Brüder Stauffenberg bei der Vorbereitung des Attentats vom 20. Juli 1944 allein Dichtung Georges in Betracht kam, erscheint heute vielen auch deshalb befremdlich, weil das Attentat – die einzige Aktion des Widerstandes, bei der ein Regimewechsel vorbereitet war –

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im »Eid« Claus von Stauffenbergs aus dem Geist von Georges »Geheimen Deutschland« gerechtfertigt wurde. Dessen viel erörterte problematische Züge werden in Stefan George und die Jugendbewegung mehrfach, so von Conze im Hinblick auf den »Aristokratismus« bei George und den Neupfadfindern (78ff.) angesprochen. Was dazu gesagt wird, hält sich bei Überblicksreferaten jedoch notwendig in engen Grenzen. Lesern, die sich ein eigenes Urteil bilden wollen, sei daher Karlaufs Biographie Claus von Stauffenbergs empfohlen. Er führt die vorliegende Forschung mit eigenen Recherchen weiter, stützt sich dabei auch auf seine stupenden Kenntnisse der Biographie und Dichtung Georges und reflektiert aus der gewachsenen historischen Distanz zum Attentat wie zur Gedenkkultur der Bonner Republik dessen gängige Deutungen. Hiervon rückt er vor allem dort ab, wo das Attentat als moralisch motivierte Handlung gewertet wird, die biographisch fundiert war. Karlauf hebt dagegen hervor, dass sich in der familialen, schulischen und jugendbündischen Sozialisation geprägte Haltungen Stauffenbergs früh in einer Gegnerschaft zur Weimarer Demokratie manifestiert haben, die in der Reichswehr bestärkt wurde. Als Berufsoffizier konnte er zwar nicht Mitglied einer Partei werden. Er hat sich aber erkennbar politisch positioniert, Leitvorstellungen der nationalen Rechten geteilt, 1933 die »nationale Revolution« begrüßt und nach der NS-Machtergreifung dem »neuen Staat« willig gedient. »Bis zum Sommer 1942«, so Karlauf, »deckte sich Hitlers Politik weitestgehend mit den Vorstellungen und Erwartungen, die Stauffenberg an den durch diese Politik herbeigeführten Aufstieg Deutschlands zur europäischen Vormacht geknüpft hatte« (31f.). Erst bei dem sich in der Schlacht von Stalingrad abzeichnenden Scheitern dieser Politik scheint er sich gegnerischen Positionen in Kreisen des militärischen und zivilen Widerstands genähert zu haben. Dabei leiteten ihn, was für Karlauf zentral ist, weiterhin nationalpolitische Motive. »Nicht das Entsetzen über die Verbrechen des Nationalsozialismus, sondern die Entschlossenheit, den Krieg möglichst rasch zu einem für Deutschland einigermaßen glimpflichen Ende zu bringen« (226) haben Stauffenberg demnach bei dem 1943/44 dann mit großer Entschlusskraft und Umsicht vorbereiteten – dennoch gescheiterten – Attentat geleitet. Nach der Darstellung Karlaufs zeigt sich somit bei Claus von Stauffenberg eine hohe Kontinuität der handlungsleitenden Denk- und Sichtweisen, die in der Herkunft aus altem Adel, der Dichtung Georges, der engen persönlichen Beziehung zu George und dem frühen Eintritt in das Offizierskorps gründen.Auch die Schulbildung im »EbeLu« sowie die Erlebnis- und Geisteswelt der Neupfadfinder werden kurz erwähnt (116f.). Gleichwohl scheint mir, dass diese Kontinuitäten im Porträt eines Attentäters überbetont werden. Sieht man von Claus von Stauffenbergs frühem Eintritt in die Reichswehr ab, so unterschieden sich die ihn und seine Brüder prägenden Einflüsse kaum. Im Gegensatz zu Claus

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schloss sich Berthold jedoch schon 1935, also bereits in der Phase einer breiten Akzeptanz des NS-Regimes, Kreisen des Widerstands an. Er blieb aus keineswegs nur nationalpolitischen Motiven damit verbunden. Keinem anderen hat Claus von Stauffenberg bei seiner Annäherung an den Widerstand, dem Entschluss zum Attentat und dessen Vorbereitung so vertraut wie seinem Bruder Berthold, der schließlich auch seinen »Eid« mitformuliert hat. Obwohl Karlauf dies durchaus berücksichtigt hat, spitzt er seine These zu den Beweggründen des Attentäters als Gegenthese zu den in der Gedenkkultur und Literatur bislang vorherrschenden Deutungen so zu, dass sie dort, wo sie bei einer vollen Einbeziehung Berthold von Stauffenbergs und eigener Quellen (208ff.) relativiert werden müsste, nicht relativiert wird. Das sei hier auch deshalb kritisch angemerkt, weil im Hinblick sowohl auf die Jugendbewegung als auch auf George und das nationalsozialistische »Dritte Reich« häufig Kontinuitätslinien isoliert und so beschrieben werden, als seien sie geradewegs darauf zugelaufen. Das geschieht in Stefan George und die Jugendbewegung schon deshalb nicht, weil die Annahme einer starken Beeinflussung der Jugendbewegung durch George in den Beiträgen mehrfach eingeschränkt, teils auch zurückgewiesen wird. So findet Susanne Rappe-Weber in Freundschaft und Exklusion. Zur Bedeutung des gemeinsamen Lesens im Spiegel der »ruppenbücher« von »Wandervogel« und bündischer Jugend in den von ihr ausgewerteten Gruppenbüchern nur wenige Anhaltspunkte für George-Lektüre. Das mag an den im Archiv der Jugendbewegung, dem für die meisten Beiträge genutzten Archiv, vorhandenen Quellen liegen. Ergiebiger sind zur George-Rezeption und ihren Fortwirkungen im »Dritten Reich« jedenfalls zwei weitere hier noch nicht erwähnte Beiträge, die gleichfalls spezifische Quellen erschließen. Zu Der Flamme Trabant. Die Politisierung der Flammen- und Feuersymbolik von Ernst Moritz Arndt bis zu Stefan George hat Michael Fischer vom »Zentrum für populäre Kultur und Musik«, dem früheren Volksliedarchiv, dessen reiche Bestände gesichtet. Barbara Stambolis zieht in ihrem die gesamte Geschichte der Jugendbewegung überspannenden Beitrag Von Feuern, Flammen und Brüdern im Kreis. Überlegungen zur Kreisbedürftigkeit und Kreispraktiken in der Jugendbewegung, mit und ohne George Bilder des schon in der Freideutschen Jugend fotografisch viel dokumentierten Zusammenstehens, -tanzens, -sitzens im Kreis und Fahrtenbücher bündischer Gruppen heran. Stambolis und Fischer wenden sich dabei vor allem den oben zitierten Versen aus dem Stern des Bundes zu, welche vielfach als »poetischer Schlüsseltext der Jugendbewegung« (Braungart) betrachtet werden. Dafür sprechen, wovon Stambolis (147) ausgeht, ihr häufiger Gebrauch und ihre besondere Bedeutung für »Gemeinschaftsrituale« in »Zeiten massiver gesellschaftlicher Verunsicherungen und Umbrüche«. Sie stellt Georges Versen Friedrich Gundolfs mehrfach vertontes Schließ Aug und Ohr für eine Weil’ vor dem Getös der Zeit zur Seite (152f.), dessen Schluss: »und in das

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Feuer, das verraucht, wirf dich als letzten Scheit«, gleichfalls einer Flammen- und Feuersymbolik folgt. Zweifellos eigneten sich beide Gedichte, da sie von halbwüchsigen Jungen in bündischen Gruppen bis zu Senioren des Freideutschen Kreises Angehörige aller Altersgruppen unmittelbar und stark angesprochen haben, für Gemeinschaftsrituale in krisenhaften Zeitläuften. Ob allein schon von diesem Gebrauch in Bünden, Kreisen und Gruppen der Jugendbewegung auf eine George-Rezeption geschlossen werden kann, erscheint mir jedoch fraglich. Zur Verwendung, Kommentierung und Vertonung von Wer je die Flamme umschritt führt Fischer eine Fülle von Beispielen an. Danach finden sich die Verse mehrfach positiv annotiert in Anthologien aus dem »Dritten Reich«. Bis hin zur Eignung für »Bariton, gemischten Chor und Orchester« (144) wurden sie auch wiederholt üppig vertont. Im Anschluss an Braungart hebt Fischer zudem hervor, dass sich in der Jugendbewegung die alles andere als neue, ihr auch nicht eigene Flammen- und Feuersymbolik mit einer »rituell-performative(n)« (145) Dimension verband, die sie bei George nicht besaß. Jugendbewegte und ehemals Jugendbewegte hatten bei Wer je die Flamme umschritt wie bei und in das Feuer, das verraucht, wirf dich als letzten Scheit auch dann fast immer viel erlebte Runden um entflammte und verrauchende Feuer im Sinn, wenn sie nicht darum versammelt waren. Hingegen ist kaum vorstellbar, dass sich der nur sehr selten zusammenfindende George-Kreis mit dem Meister jemals um ein Feuer scharte. Jedenfalls hat sich die Flammen- und Feuersymbolik, worauf auch die Deutungen der Metaphorik in Krise und Gemeinschaft abstellen, bei George und Gundolf vollkommen von konkretem Erleben gelöst. Ihre ohnehin gegebene Vieldeutigkeit wird dadurch noch beträchtlich gesteigert. Wofür Flamme und Feuer standen respektive stehen sollten, wenn in der Jugendbewegung Wer je die Flamme umschritt gesprochen und/oder Schließ’ Aug’ und Ohr für eine Zeit in einer der von Stambolis dokumentierten (153) Vertonungen gesungen wurde, blieb dabei offen. Allerdings ist Gundolfs wohl um 1930, also Jahre nach dem Zerwürfnis zwischen ihm und George entstandenes, weder formal noch inhaltlich georgianisches Gedicht nicht so fungibel relationierbar wie Georges Verse. Für NS-Formationen taugte es nicht. Bereits 1932 in die Lieder der Südlegion aufgenommen (Stambolis, 150) wurde es nach 1933 in Gruppen gesungen, die sich der Staatsjugend zu entziehen suchten. Als wir das Lied in den 1950er Jahren bei den Georgspfadfindern sangen, wurde es widerständigen Gruppen der katholischen Jugend und der Weißen Rose zugerechnet. So scheint es auch heute noch – oder wieder – einige Attraktivität zu besitzen. Dass diejenigen, die es singen, auch von Gundolf wissen, ist unwahrscheinlich, war aber schon immer ebenso eine Ausnahme wie ein Wissen über George in den jugendbewegten Gruppen und Kreisen beim vermeintlichen Schlüsseltext Wer je die Flamme umschritt.

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Von einer George-Rezeption, hierin decken sich die Ergebnisse aller Beiträge zu Stefan George und die Jugendbewegung, lässt sich nur in Minderheiten dieser Bewegung sprechen, der ja selbst nur eine Minderheit in der Minderheit der – überwiegend männlichen – Jugendlichen angehörte, welche weiterführende Schulen und Hochschulen besuchen konnten. Obwohl – vielleicht auch: gerade weil – sich der Umfang der Rezeption, deren Träger und vor allem ihr Verständnis von Dichtungen Georges beträchtlich unterschied, eröffnen sich Einsichten in die deutsche Geschichte vom späten 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und die Orte der Jugendbewegung in dieser Geschichte, die so weder allein aus der Bewegung heraus noch über deren vielfältige andere Rückgriffe auf weltanschauliche und ästhetische Texte der Zeit zu gewinnen sind.

Susanne Rappe-Weber

Hans-Joachim Rieß: Die öffentliche Musikschule in Deutschland im Begründungszusammenhang kultureller Bildung. Eine ideengeschichtliche Untersuchung vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (= Diss. Universität Wien 2018), Kassel: Bosse Verlag 2019, 453 S., ISBN 978-3-7649-2836-0 Der Autor weiß, wovon er schreibt: Als langjähriger Leiter der hessischen Geschäftsstelle im Verband deutscher Musikschulen stehen ihm die gegenwärtigen Aufgaben, Verdienste und Probleme der Musikschulen in Deutschland klar vor Augen. Dagegen bleibt hinter der aktuellen Fassade die historische Entwicklung, die zu dem heutigen öffentlichen Angebot geführt hat und die in engem Zusammenhang mit den Erfolgen der Jugendmusikbewegung zu sehen ist, meist verborgen – Motivation für den Verf. zu der vorliegenden Arbeit. Musikschaffende wie Leo Kestenberg, Fritz Jöde und Wilhelm Twittenhoff haben in der Weimarer Republik, letztere auch noch einmal nach 1945, die entscheidenden Argumente für die Bedeutung musischer bzw. kultureller Bildung zur ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung, insbesondere in der Jugend, für die Bildungspolitik erarbeitet und geliefert. Kürzungen und Streichungen bei den Musikschulen müssen seitdem immer im Hinblick auf die damit einhergehende Beeinträchtigung von Bildungschancen gerechtfertigt werden; deren Förderung genießt einhellige Zustimmung. Die von Rieß als Dissertation eingereichte Studie vollzieht diese Diskurse des 20. Jahrhunderts nach und stellt in chronologischer Folge die Protagonisten in ihrem jeweiligen Umfeld vor. Die entscheidenden Denkfiguren zur Neubewertung der Rezeption von Musik und der Musizierpraxis haben Hermann Kretzschmar (1848–1924) mit der »musischen Erziehung« und Georg Götsch (1895–1956) mit der »musischen Dimensionalität« des Menschen gegeben. Damit könnten die durch die Moderne verloren gegangenen Fertigkeiten bzw. Kenntnisse im Bereich der Musik, Sprache und Bewegung wieder erlangt und so die einseitig rationale Ausrichtung überwunden werden. Diese ästhetischen Erfahrungen sollten in den Alltag integriert sein und möglichst in Gemeinschaft und damit in einem öffentlichen Rahmen erfolgen. Die Erfahrungen aus der so begründeten Singe- und Musizierpraxis der Jugendbewegung fanden dann, in Verbindung mit anderen Reformbewegungen, Eingang in Leo Kestenbergs (1882–1962) Grundsatzschrift Musikerziehung und Musizierpraxis (1921) und seinen darauf basierenden Bil-

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dungsgesamtplan für Preußen, den er bis 1932 vom Kultusministerium aus verwirklichen konnte. Eine seiner Maßnahmen bestand in der Einrichtung einer »Jugendmusikschulabteilung« an der staatlichen Kirchen- und Schulmusikakademie in Berlin-Charlottenburg; Gründer und Leiter dieser ersten öffentlichen Musikschule wurde Fritz Jöde (1887–1970). Während Kestenberg vor allem den Musikunterricht an staatlichen Schulen durch mehr Gesangs- und Instrumentalanteile verbessern wollte, setzte Jöde bei der Unterstützung bereits bestehender Sing- und Musizierkreise an, um durch Hilfe zur Selbsthilfe die musikalischen Bedürfnisse »des Volkes« zu erfüllen. Volksmusikschulen, bezahlbar und für weite Bevölkerungskreise erreichbar, an denen qualifizierte Lehrkräfte unterrichteten, sollten eine elementare Musikerziehung und damit die angestrebte musikalische Volksbildung vermitteln. Konkret führt der Verf. diese Entwicklung am Beispiel der Volksmusikschulen in Augsburg, Hamburg, Berlin-Charlottenburg und Berlin-Neukölln sowie an Berliner Einrichtungen zur Ausbildung entsprechender Lehrkräfte aus und geht auf die Kurse und Seminarinhalte ein, mit denen das Ziel des gemeinsamen mehrstimmigen Singens und Musizierens, die Kenntnis von Musikwerken und -literatur sowie die Aufführungspraxis vermittelt wurden. Im Nationalsozialismus – ein Kapitel, das trotz seiner Brisanz mit gut 20 Seiten recht knapp ausfällt – wurde an die Erfolge der erweiterten Musikvermittlung angeknüpft, um die Musik systematisch für die Ziele des Staates zu nutzen. Bestehende Strukturen wurden gleichgeschaltet, wobei sich die neuen Inhalte, beispielsweise im Liedgut, erst allmählich durchsetzten. Den Musikschulen, unterteilt in Jugendmusikschulen und Musikschulen des Volksbildungswerks für die Erwachsenen, kam die Aufgabe zu, so der Jöde-Schüler und Leiter des Musikreferats in der NS-Reichsjugendführung, Wolfgang Stumme (1910–1940), die Grundlagen für das Musizieren im NS-Staat zu schaffen. Viele Protagonisten der Jugendmusikbewegung wirkten an diesen, nun staatstragenden Aufgaben mit und übernahmen teils leitende Positionen, darunter Fritz Jöde, Wolfgang Stumme und Wilhelm Twittenhoff (1904–1969). Leo Kestenberg hingegen floh vor den Nationalsozialisten nach Israel. Für die Zeit nach 1945 unterscheidet der Verf. drei Ebenen, um zu erklären, wie die Notwendigkeit von Musikschulen in 70 Jahren bundesrepublikanischer Geschichte vermittelt wurde; die DDR wird nicht behandelt. Auf der Ebene von Gesetzen der Kultusministerien bzw. Programme der kommunalen Kulturämter wurde zunächst um ein neues Leitbild für die öffentliche Musikpflege gerungen, bei der sich die Musiklobbyisten mit der Neukonzeption von politischer und kultureller Bildung in den Schulen und in der Jugendförderung auseinandersetzen mussten. Eine wichtige Öffnung des einengenden Verständnisses von musischer Bildung brachte die Idee der »Soziokultur« (Hermann Glaser, Karl Heinz Stahl) in den 1970er Jahren, derzufolge die Demokratie ästhetischer

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Kreativitäts- und Phantasieräume bedürfe. Daraus abgeleitet wurden umfassende Ansätze formuliert, die der kulturellen Bildung eine Querschnittsfunktion in vielen Bereichen zuschrieben, so in der Aneignung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber auch für die Aktivierung gesellschaftlicher Teilhabe auf der Basis von Freiwilligkeit und Stärkenorientierung. Während die Gesetzgebung für den Kultusbereich schnell neue Vorgaben formulieren musste, zeigt sich auf der Ebene der Musik das auch aus anderen gesellschaftlichen Bereichen bekannte Beharrungsvermögen. Viele NS-Musikschaffende stilisierten sich überwiegend als bloße Mitläufer oder gar Gegner des Regimes und arbeiteten nun, die Demokratie akzeptierend, unter Bezug auf die Zeit vor 1933 einfach weiter. Twittenhoff legte 1951, anknüpfend an Jödes Volksschulbegriff, einen Entwurf zur Einrichtung von Jugendmusikschulen vor, in denen die aktive musikalische Betätigung durch Singen und Instrumentalspiel gefördert sowie die individuelle Förderung begabter Nachwuchskräfte betrieben werden sollten. Auf dieser Basis unterstützten dann viele Städte entsprechende Einrichtungen. 1966 trat an die Stelle der Jugendmusikschule die öffentliche Musikschule im Verband deutscher Musikschulen (VdM). Diese Entwicklung ist nicht ohne die Kritik des Philosophen Theodor W. Adorno an der Ideologie der Jugendmusikbewegung zu verstehen. Er lehnte die Vorstellung ab, dass die Praxis des gemeinsamen Musizierens etwas an der Entfremdung des Menschen in der Moderne ändern könne. Zudem warf er der Jugendmusikbewegung vor, einen künstlerisch verkürzten Musikbegriff zu propagieren und aus der NS-Zeit, in der die überhöhten Vorstellungen von Gemeinschaftsmusik eklatant vereinnahmt worden waren, nichts gelernt zu haben. Stattdessen forderte er eine Erziehung zur Mündigkeit bzw. Kritikfähigkeit im Umgang mit dem Phänomen Musik. Twittenhoff setzte sich mit dieser Kritik, aber auch anderen Problemlagen der Musikschulen (mangelnde Spitzenförderung, problematische berufsständische Positionierung der Lehrkräfte) auseinander. Mit der neuen Organisation im VdM, die aus den Musikschulen Institutionen öffentlicher Bildung machte, gewann der strukturierte Instrumentalunterricht, sowohl mit dem Ziel des Laienmusizierens als auch für eine spätere Berufspraxis im Bereich Musik, neue Bedeutung. In besonderer Weise zeigten sich diese Prinzipien in der Elementaren Musikpädagogik, also dem breitenwirksamen Einführungsunterricht. Essentiell war die Verbindung zum Musikunterricht an den allgemeinbildenden Schulen, ein Aspekt, der in jüngster Zeit durch die Zunahme von Ganztagsschulen noch wichtiger geworden ist. Der Band schließt mit 20 Thesen, in denen der Verf. nicht zuletzt das Potential des umfassenden Begriffs kultureller Bildung betont, um die, häufig von Sparzwängen bedrohten, öffentlichen Musikschulen an zentraler Stelle des Kulturlebens zu positionieren und diese zu selbstbewusster Weiterentwicklung anzu-

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regen. So engagiert und zielstrebig der Verf. seine Ausgangsfragestellung verfolgt, bleibt doch an manchen Stellen die diskursive Darstellung auf der Strecke. Autoren werden nacheinander vorgestellt und zitiert; es entsteht kein vertiefendes Gesamtbild des Personen- und Institutionen-Netzwerkes. Auch eine Überarbeitung des Originallayouts der Dissertation hätte dem Buch gut angestanden. Gleichwohl bietet die Arbeit eine gründliche historische Heranführung an das Phänomen »Musikschule« in Westdeutschland und dessen enge Verbindungen mit der Jugendmusikbewegung.

Frauke Schneemann

Mischa Honeck: Our Frontier is the World. The Boy Scouts in the Age of American Ascendancy, Ithaca, London: Cornell University Press 2018, S. 374, ISBN 978-1-5017-1618-8, 39,95 $

Mit seinem 1893 veröffentlichten Essay The Significance of the frontier in American History1 trieb der Historiker Frederick Jackson Turner die These der Schlüsselrolle der frontier im Prozess der nationalen Identitätsbildung Amerikas voran. Seine These legte den Grundstein für eine nationale Mythenbildung, die bis heute vielfach wissenschaftlich aufgegriffen und analysiert wird. Der frontier-Begriff spielt auch in der Habilitation von Mischa Honeck in Zusammenhang mit globalen Expansionsbestrebungen Amerikas eine zentrale Rolle: erstens als geographisches Grenzland und Treffpunkt von Kulturen, zweitens als soziopolitisches Grenzland, welches Menschen in verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Privilegien unterteilt, drittens als eine Zone der Initiation, in der Jungen und Männer ihre Maskulinität durch Spiel und Abenteuer erproben und viertens als nationaler Mythos, der Amerikas Aufeinandertreffen mit dem Rest der Welt prägt (2). Untersuchungsgegenstand von Honecks Forschung ist der Jugendverband der Boy Scouts of America (BSA) und dessen Verortung in diesen physischen und imaginären Grenzgebieten. Mit der Studie soll gezeigt werden, wie die BSA Amerikas globale Expansion im Laufe des 20. Jahrhunderts einerseits widerspiegelten, andererseits mitermöglichten. Über eine reine Organisationsgeschichte der BSA hinaus wird somit nicht nur die Entwicklung der USA zur imperialen Supermacht nachgezeichnet; die Arbeit zeigt auf eindrucksvolle Art und Weise die Wechselwirkungen und Verknüpfungen der Felder »Jugend«, »Männlichkeit« und des Selbstverständnisses als »Empire« innerhalb der amerikanischen Kultur. Zwei miteinander verbundene Thesen sind hierbei leitend: Die Konstruktion einer young imperial masculinity (3) durch die BSA diente als wichtiges Hilfsmittel der amerikanischen globalen Expansion und die globalen Entwicklungen formten wiederum amerikanische Vorstellungen von age und gender – Begriffe, die zentrale Analysekategorien im Werk darstellen. Die Gliederung folgt chronologischen und thematischen 1 Frederick Jackson Turner : The Significance of the frontier in American history, in: Annual Report of the American Historical Association, 1893, S. 197–227.

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Schwerpunkten, die sich von der Gründung des Verbandes 1910 bis in die frühe Phase des Kalten Kriegs in den 1960er Jahren hinziehen. Das Fazit bezieht Entwicklungen bis in die heutige Zeit mit ein. Im ersten Kapitel werden die Ursprünge transnationaler Jugendorganisationen und der BSA um die Jahrhundertwende bis zur Zwischenkriegszeit beleuchtet. Hierbei wird deutlich, dass sowohl gesellschaftliche Ängste, die eng mit dem imperialen und nationalen Niedergang verbunden waren, als auch die Betonung der Jugend als gesonderter Lebensabschnitt bedeutsame Faktoren für den Ursprung der Pfadfinderbewegung im Allgemeinen darstellten. Diskussionen über Rasse, Sexualität, Geschlecht und Staatsbürgerschaft bestimmten die Diskurse, in denen das nationale Wachstum und die Entwicklung der white male youth als Analogien aufgefasst wurden. Im Angesicht der Ausweitung gesellschaftlicher Handlungsspielräume für Frauen wurde die Weltbühne als letzter Zufluchtspunkt für die Erprobung der eigenen Männlichkeit nach Pioniervorbild angesehen. Die USA knüpfte mit der suggerierten kindlichen Unschuld der BSA leicht an Narrative der friedfertigen moralischen Polizei und demokratischen Supermacht an, die ihre Verantwortung nun auf die globale Ebene ausweitete. Die Scouts wurden als agents of imperial regeneration (53) angesehen. Handlungsmöglichkeiten innerhalb dieses geographisch erweiterten Settings stellt das zweite Kapitel vor. Honeck nimmt hier die medienwirksamen Afrikaund Antarktisexpeditionen der 1920er Jahre in den Blick, die von professionellen Entdeckern angeleitet und von ausgewählten Scouts begleitet wurden. Zum einen sollte das intergenerationelle Zusammenspiel der Expeditionsteilnehmer auf Reisen betont und somit bereits existierende Geschlechternarrative und soziale Hierarchien zementiert werden. Zum anderen sollte so die Kompetetivität der amerikanischen Jugend zum Ausdruck gebracht werden, die ihre Männlichkeit an imperialen Grenzen beweist und ihre Fähigkeiten gegen Auswüchse der Delinquenz und des hedonistischen Verfalls ihrer Altersgenossen in der Heimat einsetzen kann. Eine offizielle Form des globalen Zusammenkommens stellt das dritte Kapitel dar, welches auf die Welttreffen (Jamborees) der männlichen Pfadfinder eingeht, die in einem vierjährigen Turnus stattfinden. Der internationale Austausch der Jugendlichen sollte in Kontrast zur offiziellen Diplomatie eine authentische Alternative darstellen. Dass dieses Modell der Globalität ein eindeutig westernisiertes war und die campfire diplomacy (89) an der Überbetonung des Nationalen, Rassismus, Sprachbarrieren und der Überwachung durch Erwachsene oftmals scheiterte, wird hier deutlich beschrieben. Diese Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis wird im vierten Kapitel aufgegriffen und unter dem Aspekt des Rassismus untersucht. Zwar bemühte man sich vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg darum, Minderheiten innerhalb des Verbandes durch verschiedene Programme miteinzubeziehen, doch dies diente

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primär der Betonung der traditionellen imperial order (135), welche die Kontrolle dieser Gruppen und nicht zuletzt deren Erziehung zum Gehorsam beinhaltete. In der US-amerikanischen Gesellschaft sollte so vor allem die Minderung von Rassenkonflikten bewirkt werden. Die vordergründige Akzeptanz einer »Rassenvielfalt« innerhalb der Organisation muss folglich im Kontext der Globalisierung und der US-imperialen Ausweitung betrachtet werden. Honeck zeigt jedoch auch, dass die Minderheiten ihrerseits das Scouting nutzten, um eigene Männlichkeitsnormen zu prägen und soziale und politische Anerkennung zu erlangen. Nicht zuletzt eröffneten die BSA als Verband auch Eintrittsmöglichkeiten des zivil-gesellschaftlichen Engagements für Randgruppen. Das fünfte Kapitel beschreibt die Phase des ideologischen Kampfes der BSA ab den 1930er Jahren bis in den Zweiten Weltkrieg hinein. Die Stilisierung der Jugend als wichtiger politischer Akteur führte auch bei den BSA dazu, dass sie sich mit rivalisierenden kommunistischen und faschistischen Jugendorganisationen auseinandersetzen mussten, die Strukturen der Pfadfinderarbeit oftmals kopierten.2 Die BSA nutzten das Image als Garanten der Demokratie und knüpften durch ihren Einsatz für das common good (183) der Nation auch an neue Männlichkeitsideale an, die den Staatsdienst als persönliche Selbsterfüllung in den Fokus rückten. Beim Eintritt Amerikas in den Zweiten Weltkrieg beanspruchten die BSA schließlich die Rolle einer gesellschaftlichen Vorhut, die die Massen unter den Idealen der Inklusion und Toleranz zur Verteidigung des american way (195) mobilisieren sollte. Nach dem Zweiten Weltkrieg sahen sich die BSA fundamentalen globalen Veränderungen ausgesetzt, die im folgenden Kapitel beschrieben werden: das Erwachen militärischer globaler Allianzen, der Prozess der Dekolonialisierung und der Aufstieg internationaler Institutionen. Beide Nachkriegsjahrzehnte stellten schließlich die Blütezeit der Organisation dar, die durch Cold War nationalism (107) und eine stark ansteigende Geburtenrate einen enormen Anstieg der Mitgliederzahlen verzeichnen konnte. Antikommunismus und die Verteidigung der freien Welt, mit Betonung des Rechts auf Religionsausübung im Kontrast zum kommunistischen Atheismus, waren zwei Säulen der amerikanischen »Kalten-Kriegs-Kultur«. Die BSA trugen zu dieser Kultur bei, indem sie diese religiöse Renaissance nutzen, um das Image des Kreuzritters zu transportieren, welches sie auf die Bereiche der civil defense programs, der Wissenschaft und der Beziehungen zum Ausland übertrugen. Durch die Fusion von Patriotismus, Christentum und Männlichkeit wurden die BSA zu modellhaften Cold War citizens (212) stilisiert, die ihre Fertigkeiten nun auch auf wissenschaftlicher Ebene erproben sollten und die frontier auf den Weltraum auswei2 Dies waren innerhalb Amerikas die Young Pioneers of America (YPA) und der GermanAmerican Bund (GAB).

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teten. Zugleich sollten sie im Ausland als agents of liberation (228) und unofficial ambassadors (232) fungieren. Anhand der Pfadfinderarbeit in den Militärbasen Westdeutschlands, Japans und Südkoreas werden abschließend Chancen und Grenzen dieses Aspekts der imperialen Machtausübung aufgezeigt. Die enge Beziehung zwischen US-Militär und BSA zeigte sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Stationierung von Scouts in Militärbasen im Ausland. Hierdurch sollten auf friedliche und spielerische Weise Kontakte zur Zivilbevölkerung hergestellt werden. Die USA gaben sich im Ausland stets als demokratischer Heilsbringer, nicht selten wurde dies jedoch als hierarchisches Verhältnis mit amerikanischer Dominanz aufgefasst. Auch die Behandlung ausländischer Scouts erfolgte oftmals nicht nach demokratischen Maßstäben und wurde als übergriffig empfunden. Insbesondere nach der globalen 68er Bewegung erwuchs jene Kritik auch aus der gesellschaftlichen Mitte der USA selbst und konfrontierte die BSA in den 1970er Jahren mit ihrer langen Tradition des Chauvinismus, Rassismus und Sexismus. Honecks Habilitation zeigt überaus anschaulich, wie das Image der kindlichen Unschuld und Verspieltheit der Scouts als friedliches Mittel amerikanischer globaler Expansion eingesetzt wurde und welche Bilder der Jugendlichkeit und Vitalität rückwirkend auf das amerikanische Selbstbild übertragen wurden. Zudem wird der hohe Stellenwert geschlechterkonformen Verhaltens innerhalb des Verbandes deutlich, welches mehrheitlich patriarchalische Züge trägt. In einem globalen Setting wurden Formen von age und gender laufend modifiziert und Grenzen ihrer Wirkung ausgelotet. Honeck leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung von zivilen Institutionen und Netzwerken sowie deren Wirkungskreisen und -möglichkeiten über den eigenen nationalen Rahmen hinaus. Aufgrund der umfassenden Quellenrecherche gelingt es ihm hierbei, verschiedene Perspektiven der Organisationsstruktur einzubeziehen, wenngleich die unterste Ebene des einzelnen Verbandsmitglieds größtenteils unbeleuchtet bleibt. Dies ist, wie der Verfasser richtig hervorhebt, ein generelles Problem der Jugendforschung, da Quellen von Kindern und Jugendlichen in Archiven rar sind. Weitere interessante Einblicke hätte eventuell ein breiter angelegter Einsatz der Oral History bringen können, der nicht nur Pfadfinder miteinbezieht, die in den ausländischen Militärcamps stationiert waren. Interessant wären in diesem Zusammenhang weitere Einblicke in Erfahrungswelten, die Rassismus und Ausgrenzung in lokalen und regionalen Kontexten thematisieren und Aufschluss darüber geben, wie es um ein nationales und transnationales Selbstverständnis der Randgruppen in der Organisation bestellt war. Als Manko des ansonsten detailreichen und umfassenden Projektes kann festgehalten werden, dass der Aufstieg Amerikas als Supermacht primär aus männlicher Perspektive erzählt wird. Natürlich ergibt sich dies zwingend aus der Wahl des Untersuchungsgegenstandes und die strikte Trennung von weiblicher und

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männlicher Pfadfinderarbeit wird hervorgehoben. Da es nun aber auch um das Selbstbild und -verständnis einer gesamten Nation geht, wäre der stärkere Einbezug weiblicher Scoutarbeit wünschenswert gewesen. Letztendlich könnte man Honeck das in Ansätzen vorwerfen, was die Historikerin Glenda Riley dem Initiator des frontier-Mythos Frederick Jackson Turner rückblickend in einem ihrer Aufsätze vorwarf: »Frederick Jackson Turner overlooked the Ladies.«3

3 Glenda Riley : Frederick Jackson Turner Overlooked the Ladies, in: Journal of the Early Republic, 13. 02. 1993, S. 216–230.

Wolfgang Braungart

Peter Michalzik: 1900. Vegetarier, Künstler und Visionäre suchen nach dem neuen Paradies, Köln: DuMont 2018, 414 S., ISBN 978-3832-1987-32, 24,– E

Dies ist ein Buch über den Monte Verit/ und über das, was er repräsentiert. Auch das war nämlich die geschichtliche Wirklichkeit Europas um 1900: »Vegetarier, Künstler und Visionäre«, ein in jeder Hinsicht also anderes Leben. Insofern: nicht nur ein – besonders im Deutschen Reich – zunehmend aggressiver werdender Nationalismus; nicht nur die sich steigernde Dynamik der Industrialisierung; nicht nur die Verschärfung der sozialen Gegensätze. Sondern die Ausbildung jenes ideologischen, kultur- und modernekritischen, lebensreformerischen Syndroms, dessen problematische Potentiale sich wenige Jahrzehnte später zeigen sollten und dessen Bedeutung dennoch bis heute ungebrochen ist. Der Monte Verit/ im Tessin, der »Vegetarier, Künstler und Visionäre« aller Art angezogen hat, lässt sich geradezu als allegorischer Berg für dieses Syndrom verstehen. So bedeutend dieses große Thema für Geschichte und Selbstverständnisse der Moderne ist: Ohne einen Anflug von Ironie lassen sich viele dieser Überspanntheiten und Verrücktheiten von Lebensreform und Kulturkritik, wie sie sich im Tessin konzentrierten, heute kaum in Erinnerung rufen. Geschickt delegiert der Autor Kommentar und ironische Reserve auch an die Dörfler oder, zum Beispiel, an den sichtlich irritierten »Polizeikommissar Franchino Rusca« (126f.), von dem der Rezensent nicht weiß, ob es eine historische Figur ist, es aber annimmt (im Nachwort beteuert der Autor den »faktischen Gehalt« des Buches, 411). Dies ist also, noch einmal, der Titel verrät das nicht, ein fakten- und anekdotenreiches Buch zum Monte Verit/, ein Buch, das Geschichten, auch Mutmaßungen und Geschichtchen aller Art zu Wort kommen lässt. Ein etwas anderes Buch, weil es auf eine systematisch strukturierte Darstellung verzichtet und die große Geschichte in einzelne Miniaturen auflöst, manche nur einen Abschnitt, manche eine halbe Seite, manche auch zwei bis drei Seiten lang; vorgetragen im Präsens durch einen auktorialen Erzähler, der sich auskennt und doch Abstand hält: »Noch ein Blick nach Heidelberg« (136), »Schauen wir kurz nach Jasnaja Poljana« zu Tolstoi (152). Diesen Abstand muss ein historischer Beobachter tatsächlich haben, wenn er den Anspruch aufrechterhalten will, über

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geschichtliche Wirklichkeit zu sprechen und kein fiktionales Buch vorzulegen – auch wenn er sich in die Personen hineindenkt und ihre Innensicht verstehen will. Ein beliebig herausgegriffenes Beispiel: Vertraut mit seinen Figuren und ihnen so nah, dass die Vornamen genügen, berichtet der Erzähler : »Mit Jahresbeginn [1905] tritt ein neues Programm für den Monte Verit/ in Kraft. Henri [Oedenoven] und Ida [Hofmann] haben die vergangenen Monate verbissen daran gearbeitet. Sie haben die Nase voll davon, dass sie immer falsch wahrgenommen und verstanden werden.« (165) Wo nur vermutet werden kann, wird das auch markiert. Lakonisch, nur eine Notiz, wie ein Tagebucheintrag, heißt es etwa am Schluss: »Karl Gräser stirbt in Mendrisio. Auch Jenny Hofmann ist wohl, vor längerer Zeit, in dieser Nervenheilanstalt gestorben.« (404, Hervorheb. W.B.) Oder : »›Die Welt des Tänzers‹ von Rudolf von Laban erscheint.« (405) Auch diese Halbzeile bildet einen eigenen Absatz. Michalzik ist ausgezeichnet informiert; er will historische Genauigkeit bis ins Detail. Sachliche Fehler kann ich nicht sehen. Unnötig finde ich, wenn allzu demonstrativ gezeigt wird: Ich beherrsche das Handwerk; ich schreibe auch theoriegeleitet. Etwa S. 127; zunächst eine pathetische, aber kluge und meines Erachtens zutreffende Interpretation des Freikörperkultes, die auch nicht unterschlägt, dass hinter dem ganzen Zauber doch sehr ernste Anliegen stehen: »Es ist eine brennende Sehnsucht nach Wahrheit, einer einfachen Form von Wahrheit, die sich im nackten Körper zeigt. Die Idee ist, dass der bloße Körper die einfache Wahrheit ist. Der Körper ist die Kirche [eine gute Metapher? – der Körper ist keine Institution; W.B.], der sie hier huldigen.« Gehuldigt wird weder – postmodern – dem Körper als Tempel, noch dem Körper als Kirche; höchstens in ihnen – aber dann wem? Doch dann sollen wir Leser sehen, wo der TheorieHammer hängt, und schon rutscht der Text ein wenig ins Geschwurbel: »Aber der Körper ist nicht eindeutig, wie spätere Jahrzehnte zeigen. Der Körper ist ebenfalls diskursiv, konstruiert, gemacht. Wegen dieses Gegensatzes können Reinheit, die offene, enttabuisierte, aber auch beruhigte Sexualität, wie sie Ida Hofmann propagiert, mit der wilden, düsteren Erotik zusammengehen, die den Ruf des Berges ausmacht. Im Bild des Nackten lebt beides. Der Nackte entsexualisiert und sexualisiert den Körper.« (127) Was hat man jetzt besser verstanden? Dass die ganze Sexualität, nicht nur auf dem Monte Verit/, eine ziemlich ambivalente Sache ist? Das haben wir uns schon so gedacht. Geschickter scheint mir das in Sprache gebracht, wo Michalzik dafür die literarischen Möglichkeiten stärker nutzt. Einerseits überzieht das Buch manchmal die Nahsicht. Andererseits können grundsätzliche Ambivalenzen gerade so sprachliche Gestalt gewinnen. Über Nietzsche heißt es etwa [ja, die großen Namen und Stichwortgeber fehlen nicht; so auch Max Weber, Tolstoi, Hauptmann]: »Er liebt es zu dinieren, an der Tafel sozusagen Hof zu halten, auch wenn er grundsätzlich alleine speist. Er findet

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Gefallen an den Kellnern, die ihm stets vornehm bekleidet erscheinen in ihren langen weißen Schürzen. Sie tragen sie etwas tiefer um die Hüften gebunden, als es Nietzsche schicklich scheint. Das gefällt ihm besonders gut« (20). Der Philosoph des Dionysischen traut seinem Lieblingsgott doch nicht so recht und liebt seinen Kitzel trotzdem. Über dieses ins Literarische spielende Darstellungsverfahren kann man sicher streiten. Ich finde es wirklich bemerkenswert, wie Michalzik so der Vielstimmigkeit und Prozesshaftigkeit, der Gleichzeitigkeit der Positionen und der inneren Dynamik der Vorgänge auf dem Monte Verit/ und in seinem kulturgeschichtlichen Kontext eine originelle Gestalt verleiht. Freilich sitzt der Autor damit zwischen den Stühlen: Wissenschaftlich ist das Buch nicht so ohne weiteres benutzbar. Und der neugierige Laie kann nicht prüfen und nicht sicher sein, wo die historische Rekonstruktion aufhört und die Fiktion anfängt. Ein Register und ein ausführliches Verzeichnis der Quellen, durchaus auch die eine oder andere Anmerkung: Der Autor hätte sich damit nichts vergeben; dem überwiegend erzählerischen Duktus hätte das keinen Abbruch getan; im Gegenteil: Es hätte die Seriosität nur unterstrichen, die das Buch durchaus hat. Dennoch: Man kann das Buch aufschlagen, wo man will – und bleibt schnell hängen, weil man auch dies sofort spürt: In all diesen Verrücktheiten, die hier nacherzählt werden, geht es um die großen Fragen, die sich im Verlauf der Geschichte der Moderne eben nicht von selbst erledigt haben: »Wie soll ich leben, damit die Welt ein guter Ort wird? […] Wie geht ein gutes Leben?« (24, s. auch 39f. zu Tolstoi). Auf dem Monte Verit/ »entsteht ein neues Feld der Lebenskunst« (33). Ja, und welche es denn sein soll, darauf gibt es eben nicht nur eine Antwort, damals nicht und nicht heute.

Hans-Ulrich Thamer

Eckart Conze: Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, München: Siedler 2018, 559 S. Abb., 2 Kart., ISBN 978-3-8275-0055-7, 30,– E

Hundert Jahre danach hat nicht nur der Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkriegs eine große öffentliche Beachtung gefunden. Auch das Kriegsende 1918 und die Pariser Friedensverträge, die im Sommer 1919 unterzeichnet wurden, sind verstärkt in den Blick wissenschaftlicher und publizistischer Betrachtungen gerückt. Dass damit nicht noch einmal die einst leidenschaftlich geführte Kriegsschulddebatte wiederbelebt wurde, wie das der eine oder andere Leser von Christopher Clarks Schlafwandler entgegen der Absicht des Autors erhofft hatte, ist auch Verdienst zweier gewichtiger Neuerscheinungen zu den Friedensschlüssen von 1919. Denn beide Autoren, der Marburger Historiker Eckart Conze in seinem hier zu besprechenden Buch Die große Illusion wie sein Freiburger Kollege Jörn Leonhard in seiner umfangreicheren Darstellung des Überforderten Friedens, der thematisch noch weitergehender das gesamte Panorama der Konflikte und Bürgerkriege der Jahre 1918 bis 1923 beschreibt, rücken die Komplexität von Kriegsende und Friedenserwartungen, von Neuordnungsversuchen und Machtpolitik, von nationalen Dynamiken und globaler Öffentlichkeit in den Fokus ihrer Analysen – einer Komplexität, der die Friedenkonferenz, wie Conze überzeugend ausführt, »nicht gerecht werden konnte« (492). Darum liegt der Schwerpunkt der aktuellen Forschung nicht länger auf der Kriegsschuldfrage und auch nicht allein auf der deutschen Frage bzw. dem Phänomen des Nationalsozialismus, der oft als unausweichliche Folge des »Diktats von Versailles« bezeichnet und damit indirekt auch entlastet wurde. Vielmehr untersucht Conze die Bedingungen und Entscheidungen der Friedensverhandlungen in den Pariser Vororten aus einer über Deutschland und auch Europa hinausgehenden globalen Perspektive, und er beschränkt sich dabei nicht nur auf die unmittelbare Nachkriegszeit, sondern er beschreibt in knappen und präzisen Skizzen auch die Wirkungen des gescheiterten Friedens von 1919 bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Versailles wird als »Chiffre für einen Friedensschluss und eine internationale Ordnung« (20) verstanden, deren Bedeutung und Wirkung globale Dimension besitzen und über den Zweiten Weltkrieg hinausreichen. Dazu gehört auch, dass der Autor die Versailler Kon-

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ferenz mit ihren insgesamt fünf Friedensverträgen (und -orten) als eine »offene historische Situation« (19) begreift, und deren engen Zusammenhang mit der Geschichte des Krieges, seinen Opfern und traumatischen Erfahrungen wie mit den davon bestimmten Widersprüchlichkeiten und machtpolitischen Dynamiken bzw. politischen Interessen darstellt. Das ist der Hintergrund für die weitergehende und erkenntnisleitende Frage, ob es überhaupt möglich war, »nach einem totalen Krieg einen Frieden zu schließen, den Sieger und Besiegte gleichermaßen als gerecht und akzeptabel anerkennen können« (16)? Die Vorstellungen einer liberalen Nachkriegsordnung, in der Sieger und Besiegte friedlich und in einer von einer neuen Rechtsordnung geprägten Welt leben sollten, sei nach den realen und mentalen Verwüstungen des totalen Krieges eine Illusion geblieben – darum auch der Titel des Buches. Denn im langwierigen politischen Ringen um eine neue Ordnung Europas und der Welt prallten nicht nur die unterschiedlichen Friedensvorstellungen von Siegern und Besiegten aufeinander. Vielmehr ließen sich die divergierenden Friedensziele der Siegermächte nur durch Zugeständnisse und Kompromisse überbrücken, was zu vielfältigen Enttäuschungen und heftiger Kritik auf allen Seiten führte. Darum gab es schon bald kaum noch Befürworter der Friedensschlüsse. Die Friedensverträge konnten und wollten die alten Spannungen und Interessengegensätze, die von der Kriegspropaganda übersteigerten Feindbilder und mentalen Folgen des Krieges nicht abbauen, sondern sie wurden nur mühsam verdeckt und verbanden sich bald mit neuen Konfliktherden, die oft im Gefolge der widersprüchlichen Neuordnungskonzepte entstanden waren. Was 1919 schließlich in den Friedensverhandlungen, an denen die Besiegten nicht beteiligt waren, sondern die sie nur entgegennehmen konnten, beschlossen wurde, war der Stoff für Frustrationen, Schuldzuweisungen, radikale Revisionsforderungen und Rachegefühle, die die internationale Ordnung wie zahlreiche nationale Verfassungssysteme schwer belasteten und sich als ganz unterschiedliche Konfliktpotentiale bis weit in die Nachkriegszeit hinein verlängerten. Dazu gehörten auch die Verwerfungen der politischen Kultur der beteiligten Staaten, in denen sich, was der Vf. noch zusätzlich hätte ausführen können, trotz der Schrecken des gerade überstandenen Krieges ein verstärkter Bellizismus und eine unversöhnliche Gewaltbereitschaft in weiten Teilen der Nachkriegsgesellschaften ausbreiteten. Die »beispiellose Komplexität der Friedensschlüsse und seiner Ordnungsaufgaben«, die Conze mit guten Gründen als Ursachen für die Unmöglichkeit einer allgemein akzeptierten Friedensordnung und damit für die große Illusion ansieht, wird in den drei großen Abschnitten des Buches ausführlich und luzide dargestellt. Im ersten Kapitel »Wege aus dem großen Krieg« werden die unterschiedlichen Kriegsziele und Friedensinitiativen der kriegführenden Mächte als Ausgangspunkt und Vorbelastung der Friedensverhandlungen zusammenfassend beschrieben, die dann im zweiten Kapitel »Frieden schließen 1919/20«

Die große Illusion

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behandelt werden. Dabei beschreibt der Vf. die Machthierarchien und Konferenzorganisation sowie die Mechanismen der Friedensstiftung. Diese spiegeln nicht nur die Interessen und Machtverhältnisse der beteiligten Staaten, sondern verdeutlichen auch die neue Macht der Öffentlichkeit, die sich nicht nur in dem großen Aufgebot an Journalisten, Bildreportern und politischen Beobachtern, die angereist waren, zeigte und deren Vertreter indirekt durch gezielte Indiskretionen und andere Vorstöße sich in die Entscheidungen einmischten, sondern auch in der Mobilisierung der »Straße«. Das machte den großen Unterschied zum Wiener Kongress 1814/15 aus, der 1919 zwar immer wieder als Muster angesprochen wurde und der eine vergleichbare Aufgabe der europäischen Neuordnung zu leisten hatte, aber im vertrauten Rahmen einer noch aristokratisch-höfischen Gesellschaft stattfand und zu einer mehr oder weniger einvernehmlichen, für viele Jahre stabilen Lösung fand. Ausführlich diskutiert Conze noch einmal die Genese und politische Instrumentalisierung des berühmten »Kriegsschuldparagraphen« 231, der eine ganze Generation von Deutschen in Erregung bringen sollte und von den Besiegten zusammen mit den symbolischen Inszenierungen der französischen »Gastgeber« als besonderer Akt der Demütigung empfunden wurde. Das führte dazu, dass der Paragraph 231, ob er nun als juristisch wasserdichte Begründung der Reparationsforderungen oder auch als Mittel der Demütigung verstanden worden war, bis in die geschichtswissenschaftlichen deutschen Darstellungen der zweiten Nachkriegszeit zum Dreh- und Angelpunkt der Konferenzgeschichte und ihrer Interpretation wurde. Das kam in der jahrzehntelangen emotionalen deutschen Beschäftigung vor allem mit dem Kriegsbeginn zum Ausdruck, aus der sich bald eine »Kriegsunschuldlegende« (382) entwickelt hatte, die jede differenzierte Erörterung der Geschichte des deutschen Kaiserreichs und seiner Verantwortung für den Krieg erschwerte und gleichzeitig eine aggressive Revisionspolitik in der Zwischenkriegszeit förderte. Auch Conzes ausgewogene Darstellung, die die Positionen aller Beteiligten diskutiert und damit auch den Erkenntnisgewinn der Geschichtswissenschaft demonstriert, kann sich dieser belastenden Problematik der »deutschen Frage« nicht entziehen, auch wenn seine Erzählung der Friedensverhandlungen und der dort anzutreffenden internationalen Öffentlichkeit deutlich macht (und dies wohltuend hervorhebt), dass es in Versailles um mehr ging, nämlich um globale Probleme und Konflikte. Das kam allein schon durch die Anwesenheit von künftigen weltpolitisch wichtigen Akteuren wie dem späteren indischen Ministerpräsidenten Nehru oder dem vietnamesischen Revolutionär Ho Chi Minh in Versailles zum Ausdruck, wo diese vergeblich versuchten, Gehör zu finden und von wo diese ihrerseits mit tiefen Frustrationen nach Hause fuhren. Allein ihre Präsenz – damals noch als Randfiguren – verdeutlicht die weltpolitische Dimension von »Versailles« und deutet an, wie groß und weit gespannt die

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Hans-Ulrich Thamer

Illusionen waren, die diese Serie von internationalen Mega-Konferenzen hinterließen und die »Versailles« nicht nur zu einem deutschen Erinnerungsort machten.

Antje Harms

Steffen Theilemann: Harald Schultz-Hencke und die Freideutsche Jugend. Biografie bis 1921 und die Geschichte einer Bewegung, Gießen: Psychosozial-Verlag 2018, 445 S., ISBN 978-3-8379-2802-0, 59,90 E

Harald Schultz-Hencke (1892–1953) war ein einflussreicher Psychoanalytiker der 1920er- bis 1950er-Jahre, als Begründer der deutschen Neoanalyse und wegen seiner ambivalenten Haltung im Nationalsozialismus jedoch auch stets umstritten.1 Kenner*innen der bürgerlichen Jugendbewegung hingegen dürfte Schultz-Hencke vor allem als Aktivist der Freideutschen Jugend bekannt sein, der sich federführend an den Debatten etwa um Krieg, Geschlechterfrage oder freideutsches Selbstverständnis beteiligte und ab etwa 1918 zu den wichtigsten Sprecher*innen der Freideutschen gehörte. Trotz seiner zeitgenössischen Prominenz als Jugendbewegter und später als Psychotherapeut ist sein Leben und Werk bisher nur in Ansätzen erforscht worden. Der Psychoanalytiker Steffen Theilemann hat nun die erste Biographie über Schultz-Hencke vorgelegt. Diese widmet sich dessen Leben bis 1921, mithin vor allem der Zeit, in der SchultzHencke studierte und in der bürgerlichen Jugendbewegung aktiv war. Zunächst befasst sich Theilemann ausführlich mit der Familiengeschichte Schultz-Henckes. Akribisch hat er die Vorfahren väter- und mütterlicherseits, Verwandte und Freund*innen der Familie recherchiert und dabei auch einige bisher unbekannte Details, etwa die genealogische Herkunft der Mutter von Schultz-Hencke, rekonstruiert. Nach relativ knapp gehaltenen Ausführungen zu den Familienverhältnissen und der Schulzeit des 1892 in Berlin als Sohn eines Chemikers geborenen Schultz-Hencke folgen ein Kapitel zum Medizinstudium in Freiburg und ein Kapitel zum Ersten Weltkrieg. Obgleich Schultz-Hencke in seinen Aufsätzen in der Zeitschrift Freideutsche Jugend den Krieg ablehnte, meldete er sich als Kriegsfreiwilliger und diente als Feldunterarzt an der Westfront im Elsass und in verschiedenen Reservelazaretten Südwestdeutschlands.

1 Vgl. Bernd Nitzschke: »Ich muß mich dagegen wehren, still kaltgestellt zu werden«. Voraussetzungen, Umstände und Konsequenzen des Ausschlusses Wilhelm Reichs aus der DPG/IPV in den Jahren 1933/34, in: Karl Fallend, Bernd Nitzschke (Hg.): Der »Fall« Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik, Frankfurt a. M. 1997, S. 68–130.

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Antje Harms

Wie ambivalent und widersprüchlich seine Einstellung zum Krieg war, zeigt auch sein Tagebuch, aus dem Theilemann immer wieder ausführlich zitiert. Den mit Abstand größten Teil des Buches nimmt Schultz-Henckes Engagement in der bürgerlichen Jugendbewegung ein. Im Alter von etwa 20 Jahren stieß Schultz-Hencke auf die an der Freiburger Universität ansässige, freistudentisch geprägte und Gustav Wyneken nahestehende Pädagogische Gruppe bzw. Freiburger Abteilung für Schulreform, deren Leitung Schultz-Hencke 1913 von Walter Benjamin übernahm. Da er, seltsamerweise und anders als in der Kurzbiographie in der Kindtschen Quellenedition dargestellt, die Ankündigung vom Freideutschen Jugendtag nicht mitbekam und daher nicht am Treffen auf dem Hohen Meißner im Oktober 1913 teilnahm (60, Anm. 66), lernte er die Freideutsche Jugend erst 1916 näher kennen. Rasch machte er sich hier als Redner auf diversen Tagungen und Autor der Zeitschrift einen Namen. Dass Schultz-Hencke zu den Wortführer*innen und wichtigsten Personen der Freideutschen Jugend gehörte, ist nicht neu. Wie einflussreich er tatsächlich war, wird jedoch erst aus den von Theilemann neu erschlossenen Quellen ersichtlich. So kann Theilemann mithilfe von bisher unbekannter bzw. nicht näher beachteter Korrespondenz belegen, dass die Führung der Freideutschen Jugend ab der Jenaer Tagung im April 1919 allmählich von Knud Ahlborn auf Schultz-Hencke überging (247–252). Gleichzeitig wird hier deutlich, dass Schultz-Hencke sich bestens als Mittler zwischen den verschiedenen freideutschen Fraktionen eignete, verfügte er doch über intensive und persönliche Kontakte sowohl zum sozialistischen Flügel, besonders zu Karl und Mia Bittel, als auch zum völkischen Flügel um Frank Glatzel und den Jungdeutschen Bund, mit dem er ab 1919 gemeinsame Pläne für eine neue jugendbewegte Zeitschrift schmiedete. Er selbst verortete sich bei den linken Freideutschen, distanzierte sich ab 1919 aber zunehmend von deren Kurs Richtung Kommunismus und Rätesystem und engagierte sich mehr und mehr im bildungspolitischen Bereich als vermeintlich drittem Weg zwischen links und rechts. Neben der zusammen mit Ahlborn ausgearbeiteten Idee von einem Orden, der der Freideutschen Jugend eine neue organisatorische Form geben und vornehmlich pädagogisch wirken sollte (174–177, 208ff.) verfolgte Schultz-Hencke auch weitreichende Pläne für eine Freie Volkshochschule, die er 1919 im mittelfränkischen Marloffstein zu realisieren suchte. In mehreren Kapiteln schildert Thielemann das bildungspolitische Wirken von Schultz-Hencke und geht dabei auch auf bisher Unbekanntes wie dessen Mitarbeit in der Reichszentrale für Heimatdienst und dessen Begegnungen mit Walther Rathenau ein. Unterbrochen wird die Darstellung des jugendbewegten und pädagogischen Engagements immer wieder von Exkursen über das Privatleben Schultz-Henckes zwischen 1913 und 1921. Relativ weitschweifig referiert Theilemann hier anhand von Tagebüchern und Briefen vor allem über das Liebesleben von

Harald Schultz-Hencke und die Freideutsche Jugend

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Schultz-Hencke, befördert dabei aber auch einige interessante Details zur sexuellen Sozialisation von Jugendbewegten ans Licht, die die bisherigen Forschungen zur Geschlechterfrage in der Jugendbewegung um eine lebensweltliche, erfahrungsgeschichtliche Dimension ergänzen. Dass beispielsweise die vor allem von linken Freideutschen vertretenen Ideen von jugendlicher Erotik und freier Liebe durchaus auch in die Tat umgesetzt wurden, lässt sich an den polyamourösen Dreiecksverhältnissen, die Schultz-Hencke sowohl mit Martha Paul und deren Ehemann Meinhard Hasselblatt als auch später mit Gertrud und Max Bondy unterhielt, erkennen. An solchen Stellen wird deutlich, wie sehr autobiographische Quellen die bisherigen Forschungen zur bürgerlichen Jugendbewegung, die sich größtenteils auf die Auswertung von Zeitschriften stützen, um neue Perspektiven und Erkenntnisse bereichern können. Allerdings gelingt es Theilemann nur unzureichend, die von ihm erstmals erschlossenen Tagebücher und Briefe Schultz-Henckes in ihren historischen Kontext einzubetten und im Zusammenhang mit den politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen zu analysieren, innerhalb derer bürgerliche junge Männer in Kaiserreich und früher Weimarer Republik sozialisiert wurden. Weder geht er näher auf seinen Quellenkorpus ein – wie etwa die Tagebuchaufzeichnung von Schultz-Hencke in das »Privatarchiv des Autors« gelangten (21, Anm. 24) und in welchem Verhältnis diese zu den Tagebüchern aus dem Bundesarchiv Koblenz stehen, bleibt offen – noch werden narrative Struktur und Schreibanlass der autobiographischen Schriften reflektiert. Dementsprechend liegt der Fokus ganz auf der Hauptperson Schultz-Hencke, dessen Ansichten und Erfahrungen ausführlich geschildert werden, meist ohne auf deren konkreten Hintergrund oder ähnlich gelagerte Diskurse in der Jugendbewegung einzugehen. Dementsprechend selten geht das Buch über eine rein biographische und beschreibende Darstellung hinaus und bietet letztendlich wenig neue Erkenntnisse zu Jugendbewegung, Kriegserfahrungen, bürgerlicher Jugend oder politischer Sozialisation zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Zudem wird der Leserin so auch nicht klar, was das Typische und was das Besondere an Schultz-Henckes Vita ist. Ein stärkerer Einbezug von einschlägiger Sekundärliteratur und eine Einordnung in den Forschungsstand wäre hier sehr wünschenswert gewesen und hätte Theilemann zudem vor manchem Fehlurteil bewahrt, etwa dem von der allgemeinen Kriegsbegeisterung 1914 (»Ganz Deutschland war euphorisiert«, 65). Insgesamt fehlt dem Buch die konzeptuelle Rahmung beispielsweise in Form einer Einleitung, die auch das methodische Vorgehen erörtert, die Begrenzung des Untersuchungszeitraums bis 1921 begründet und die der biographischen Darstellung zugrunde liegende Fragestellung deutlich gemacht hätte. So aber handelt es sich bei der hier besprochenen Arbeit vor allem um eine akribische Aneinanderreihung biographischer Details,

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Antje Harms

die für weitere Forschungen zu jugendbewegten Lebensläufen durchaus interessant sein dürften, die Leserin letztlich jedoch im Unklaren lassen, warum und zu welchem Ende diese Biographie geschrieben wurde. Als die im Titel angekündigte »Geschichte einer Bewegung« taugt das Buch jedenfalls kaum.

Wolfgang Braungart

Elija Horn: Indien als Erzieher. Orientalismus in der deutschen Reformpädagogik und Jugendbewegung 1918–1933, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2018, 285 S., ISBN 978-3-7815-2232-9, 44,– E

Jugendbewegung und Reformpädagogik hängen miteinander zusammen. Aber wie? Personelle Überschneidungen gibt es, Überlagerungen der Netzwerke und, besonders gewichtig, ideologische Gemeinsamkeiten zuhauf: gesellschafts- und kulturkritischer, lebensreformerischer, reformpädagogischer Art. Der IndienDiskurs gehört auch dazu. So ganz neu ist das sicher nicht. Dennoch muss man dies erst einmal an den Quellen nachweisen. Dies gelingt Elija Horn ohne Zweifel. Um es also ganz klar und unmissverständlich gleich vorab zu sagen: Dies ist ein wichtiges, ein verdienstvolles Buch, weil es ein wirklich wichtiges Problem entfaltet. Was nun folgt, ist mein Aber. Es ist ein Aber gegen zu großes Vertrauen in theoretische Ansätze mit ihrem Jargon; es ist ein Aber der Darstellung, ein Aber, dass dies doch Menschen lesen sollen, vielleicht auch Studierende von heute. Wir wollen sie doch erreichen. Oder wollen wir das nicht? Ja, Indien ist ein Sehnsuchtsland der Moderne, von dem man sich so seine eigenen Wunschbilder gezeichnet, mehr noch: ziemlich bunt gemalt hat. Im Gefolge von Edward Saids Bibel des Orientalismus von 1978 (engl. Original: Orientalism) gehört es sich für die postkoloniale kulturwissenschaftliche Forschung, auch die Indienrezeption des Westens in dieses Forschungsparadigma zu integrieren.1 Horn wählt den Titel seiner Studie sehr geschickt. Er variiert nämlich den von Julius August Langbehns Rembrandt als Erzieher (zuerst 1890), diesem unsäglichen kultur- und zivilisationskritischen Pamphlet, ein äußerst einflussreicher Bestseller der Weltanschauungsliteratur2 des 19. Jahrhunderts, und gibt damit auch eine Leitlinie vor: Der schon im 18. Jahrhundert (Herder) und dann stärker noch mit der Romantik sich ausprägende und etablierende Indien-Diskurs dient auch der deutschen Reformpädagogik und der Jugendbewegung zur kulturkritischen Reflexion der westlichen Moderne. In der post1 Eine äußerst profunde, klare und knappe Darstellung und Kritik des Forschungsparadigmas Orientalismus von Felix Wiedemann unter: Orientalismus, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 19. 04. 2012, URL: http://docupedia.de/zg/Orientalismus?oldid=125460 [19. 03. 2019]. 2 Diesen, wie ich meine, sehr guten Begriff hat der Stuttgarter Germanist Horst Thom8 geprägt.

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Wolfgang Braungart

kolonialen Terminologie, der sich Elija Horn verschreibt: Er dient als Projektionsfläche. Metaphors we think by. Denn was ist damit genau gemeint? Wie entsteht geschichtlicher Sinn, wenn ich etwas als Projektionsfläche nutze? – Dass die postkoloniale Theoriesprache selbst homogenisieren, stereotypisieren und zu kurzschlüssigen Formeln führen kann, ist in der Kritik dieses Forschungsparadigmas längst kritisch beobachtet worden. Auch Horn ist davon nicht frei: »Der Inder Tagore bietet sich perfekt als Projektionsfläche deutscher Nachkriegshoffnungen an« (65). Was soll das genau heißen? Oder zu »einer Postkarte der Berliner Indien-Ausstellung von 1898« (die man gerne gesehen hätte: das Buch bleibt eigentümlicherweise fast bildlos – bei diesem Thema!): »Das erotisch lesbare Bild [eines »südindischen Jünglings mit nacktem Oberkörper«] ruft ein Begehren hervor, das in eine Linie mit der Sexualisierung des Orients zu stellen ist« (72). Das Modell Horns ist klar : »Die westliche Moderne, wesentlich3 definiert durch ihre Krisenhaftigkeit, bildet gewissermaßen den Nährboden für die hier skizzierten Indienbilder. Gerade Angehörige der Reformbewegungen um 1900, ihrer Herkunft nach meist dem bürgerlich-protestantischen Milieu zugehörig, arbeiteten sich an den Bedingungen dieser modernen Welt ab« (77, Hervorheb. W. B.). »Bürgerlich-protestantisches Milieu« – ist das richtig? Und was meint Moderne nun als »Nährboden«? Und was meint man mit diesem beliebten Verb »sich abarbeiten«? Auch diese so eingebürgerte wie ungenaue HintergrundMetapher – kritischer, bitte: »In Deutschland vervielfältigen sich die romantischen Indienbilder im Laufe des 19. Jahrhunderts. Indien wird zum Anderen des eigenen Selbst stilisiert, das Land und die Menschen werden vor dem Hintergrund der Zivilisationskritik als Gegenstand eines diffusen Begehrens exotisiert« (77). Oder, wie es theoriekonform bei Horn auch heißt: »othering«, wohin man schaut. Das ist der postkoloniale Theorie-Jargon.4 Aber was genau ist das »Andere«, was das »Selbst« (in der analytischen Philosophie übrigens längst als Kategorie schwer problematisiert)?5 Warum ist das »Begehren« diffus? Nur weil es nicht begrifflich ist? Nach der Einleitung (1) rekonstruiert das erste Hauptkapitel (2), wie der pädagogische und jugendbewegte »Reformdiskurs« und der »Orientalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« zusammenhängen. Der Rückgang ins 18. Jahrhundert und in die Romantik müsste deshalb eigentlich einen anderen 3 Aber Essentialismen aller Art werden auch in dieser Arbeit selbstverständlich kritisiert. 4 Ein anderes Beispiel aus dem Fazit: »Mit Orientalismus als Analysewerkzeug wird der Fokus auf die Illegitimität der globalen westlichen Hegemonie gelegt, indem die diskursiv postulierte und kolonial exekutierte Inferiorität des ›Orients‹, hier speziell Südasiens, kritisch in den Blick gerückt wird« (253). 5 Ich beziehe mich auf verschiedene Publikationen Ansgar Beckermanns; siehe https://www. uni-bielefeld.de/philosophie/personen/beckermann/ [19. 03. 2019].

Indien als Erzieher

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Platz haben. Aber richtig ist es, wie gesagt, schon: Damals fing die westliche Indienbegeisterung, ja der Indienkult an.6 Beide Epochen, Aufklärung und Romantik, Herder und Schlegel, kommen dann gleich noch einmal zu Wort, wenn es im folgenden Kapitel (3) um die »Verknüpfungen von orientalistischen Indien-Diskursen mit Vorstellungen von Kindheit, Erziehung und Bildung seit Ende des 18. Jahrhunderts« geht. Wo ist das Wahre und Heile in den trostlosen Zeiten der Moderne noch zu finden? Im Kind, in der Kindheit und eben – in Indien. Woran muss sich also alles pädagogische Denken orientieren, was ist das Modell? Am Kind und an Indien. Das ist der Kerngedanke. Bei Horn heißt das aber so: »Die Parallelisierung von Phylo- und Onthogenese [!] ist wesentlicher Ausgangspunkt für die Infantilisierung Indiens, welche wiederum erziehungsrelevante Gedanken aufweist. […] Zentral ist dabei die Kopplung der Infantilisierung Indiens an romantische Kindheitsvorstellungen – beides resultiert aus den gleichen Quellen« (79). Es tut mir leid, aber es ist so: Wir, ich meine wirklich uns, die Zunft der Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen, haben es doch selbst in der Hand: Wir müssen – mit Rilke – vielleicht auch unser »Leben ändern« (und sicher sollten wir auch bereit sein, von Indien zu lernen, von jedem anderen Kulturraum aber ebenso). In jedem Fall aber müssen wir unser Schreiben ändern!7 Es darf zugänglich sein; das ist keine Schande. Bis hierher bleibt die Arbeit auf bereits weitgehend erkundetem Terrain und geht in den Spuren der Orientalismus-Forschung. Ihr Kernstück sind jedoch die nun folgenden, belegreichen, gründlich aus den Quellen erarbeiteten Kapitel, die den Indien-Vorstellungen und der Indien-Rezeption in Reformpädagogik und Jugendbewegung von 1918 bis 1933 gewidmet sind (Kap. 4 und 5). Die Einschränkung auf diesen Zeitraum ist ein wenig willkürlich. Aus der hier und überhaupt gerne genutzten These von der Krisenhaftigkeit der 1920er Jahre kann man sie schwerlich begründen – zeigt das Buch doch selbst, dass es um mehr geht als um ein relativ kurzlebiges Phänomen. Jetzt kommen bekannte (immer wieder und mit Recht: Tagore und Gandhi »als Heilsgestalten« und Führerfiguren, 256) 6 Man kann es auch so ausdrücken: »So findet die Romantik mit ihrem Streben nach dem Poetischen, dem Fantastischen, dem Transzendenten und dem Ursprünglichen in dem Indien, das ihnen aus Herders Schriften und den indischen Übersetzungen entgegentritt, eine perfekte Projektionsfläche für ihre zentralen Sehnsüchte. Wie gezeigt werden konnte, ist dieses Indienbild das Ergebnis eines romantischen ›Otherings‹ – ebenso wie das romantische Bild vom Kinde, mit dem es in vielen Aspekten deckungsgleich ist« (254). Dieses Verständnis der Romantik nimmt nichts von der philosophischen Reflexionskraft und Differenziertheit, von der Verschränkung von Transzendentalphilosophie und Transzendentalpoesie, die die neuere Romantikforschung herausgearbeitet hat, in sich auf; es sollte eigentlich längst verabschiedet sein. Ich verweise nur auf die Arbeiten Manfred Franks. 7 Ich muss leider sagen: Die zitierten Stellen sind keine ausnahmsweise einmal aus den Fugen geratenen Formulierungen. Es ist hier die Regel wie überhaupt in unseren Wissenschaften. Im Buch, Innentitelei, heißt es: »Dieser Titel wurde in das Programm des Verlages mittels eines Peer-Review-Verfahrens aufgenommen«. Was soll man davon bloß halten?

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und weniger bekannte Namen zu Wort; deutsch-indische Netzwerke werden thematisiert; besondere Aufmerksamkeit gilt der Odenwaldschule: beeindruckend, wie hier die Archive genutzt werden (Nachweise: 264f.). Das ausführliche »Fazit« (Kap. 6) gibt immer wieder auch ein kritischpädagogisches Interesse zu erkennen, das sich auf unsere Gegenwart richtet. Der Schluss: »Deutsche Bildungseinrichtungen sind also weiterhin Orte der Reproduktion von Orientalismus. Diese Diskurse gilt es sich bewusst zu machen und zu revidieren – nicht zuletzt, weil die sich darin materialisierenden, historisch etablierten Machtasymmetrien dem bundesweit curricular verankerten Ziel einer demokratischen Bildung samt dem darin enthaltenen emanzipativen Anspruch entgegenstehen«. (261) Ob das so gelingen kann?

Gudrun Fiedler

Susanne Heyn: Kolonial bewegte Jugend. Beziehungsgeschichten zwischen Deutschland und Südwestafrika zur Zeit der Weimarer Republik, Bielefeld: transcript Verlag 2018, ISBN 978-3-8376-4265-0, 39,99 E

Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg 1918 und dem anschließenden Versailler Friedensvertrag 1919 verlor das damalige Deutsche Reich seine Kolonien in Afrika, China und im Pazifik. Wie alle anderen ehemaligen Kolonien wurde auch Deutsch-Südwestafrika, heute: Namibia, unter die Oberhoheit des Völkerbundes gestellt, der der Regierung der Südafrikanischen Union, heute: Republik Südafrika, das Mandat zur Verwaltung des Landes übergab. Damit verloren die Kolonialbewegung im Deutschen Reich und die in Südwestafrika verbliebenen rd. 6.000 Siedler – eine heterogene Gruppe aus den verschiedensten Regionen Deutschlands (Farmer, Arbeiter und Angestellte in den Minengesellschaften, Handwerker und Geschäftsleute) – ihren jeweiligen Bezugspunkt. Die Kolonialfrage verschwand nach und nach aus der tagesaktuellen Politik des Reiches. Ohne finanzielle Unterstützung aus dem Mutterland auf sich allein gestellt, kämpften die deutschen Siedler nach dem Verlust ihrer führenden gesellschaftlichen Stellung um ihr Ansehen und ihre ökonomische Existenz. Anhänger der Kolonialbewegung in Deutschland einerseits und deutsche Siedler in Südwest andererseits versuchten, durch Einfluss auf die nachwachsende Generation ihre jeweilige Position zu stabilisieren und zu verstetigen. Dabei verharrten beide Gruppen in ihrer im wilhelminischen Kaiserreich erworbenen Haltung. Die Jugendlichen erschienen ihnen als Garanten für eine Festigung ihrer durch den grundlegenden Wandel in Gefahr geratenen Welt- und Wertvorstellungen. Beide Gruppen verbanden mit dem jeweils anderen Land Träume und Vorstellungen. Die Kolonialbewegung, u. a. Kolonialverbände, einflussreiche Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft, versuchte, die deutsche Öffentlichkeit im Sinne einer »Kolonialrevision« (81) zu beeinflussen. Als imaginiertes deutsches Siedlerkollektiv (11) versuchten die Siedler, die nunmehr unter fremder Verwaltung standen, sich autonom und selbstbestimmt zu organisieren und die von ihnen als deutsche Kultur verstandene Lebensweise zu tradieren. Beide Gruppen hatten wenig persönliche Berührungspunkte. Sie glichen sich darin, dass die eigentlichen Akteure Männer bzw. männliche Ju-

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gendliche waren und Frauen deutlich weniger Handlungsoptionen zugestanden wurden. Methodisch versteht Heyn ihre Arbeit als Analyse der Beziehungsgeschichten zwischen der ehemaligen Kolonie und dem Deutschen Reich bzw. ihrer Metropole, die sich als jeweils unterschiedliche Lebensräume wechselseitig aufeinander bezogenen und beeinflussten. Dabei untersucht sie die »Kolonialfantasien« der rückwärtsgewandten Kolonialverbände im Vergleich zu den »realen Handlungsmöglichkeiten« (19) der Siedler nach 1919. Deutschland blieb für einen Teil des »imaginierten weißen Siedlerkollektivs« (11) weiterhin wichtig: für die Berufsausbildung, für das Kennenlernen deutscher Kultur durch nachwachsende Generationen aber auch für die Rückversicherung des eigenen Deutschseins. Mit »Reisebeihilfen, Schul- und Ausbildungsstipendien« (218) unterstützten die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) und der Frauenbund. Für die historische Jugendforschung ist die intergenerationelle Fragestellung besonders interessant, betrachtet die Arbeit doch zwei völlig unterschiedliche deutsche Gesellschaftsstrukturen. Beide Gruppen versuchen, über die Erziehung bzw. Instrumentalisierung der nächsten Generation ihren jeweiligen Vorstellungen eine Zukunft zu geben. In beiden Gruppen kam es zu Divergenzen zwischen den Generationen, ausgelöst durch selbstbestimmte Ziele der Heranwachsenden. Die Jugendarbeit der Deutschen Kolonialgesellschaft griff aufgrund ausreichender eigener Erfahrungen auf Mythen und Zukunftsvisionen über Südwestafrika bei den von Erwachsenen geleiteten Schul- und Jugendgruppen zurück. Zeltlager, Literatur und Zeitschriften (z. B. Jambo) mit kolonialen Themen konnten auf Dauer nicht wirklich koloniale Realität vermitteln. Die Vorstellungen der Erwachsenen verloren ihre Anziehungskraft. Erst die bisher wenig beachteten, an der bündischen Jugendbewegung ausgerichteten Kolonialpfadfinder griffen gegen Ende der 1920er Jahre den Kolonialgedanken mit dem eigenständigen Motto »Deutscher Raum für deutsche Jugend« (142) zukunftsfähig auf, indem sie unter Kolonisierung nun auch das Siedeln im osteuropäischen Raum verstanden, damit den Zeitgeist trafen – und Anschluss an das rechte politische Lager fanden. Am Briefwechsel der südwestafrikanischen Familie Hälbich zeigt die Autorin die sehr viele stärkere Bindungskraft eines durch christliche Missionierung (Rheinische Missionsgesellschaft) motivierten Familienverbandes, der in den 1920er Jahren etliche seiner Söhne, aber auch einige Töchter selbstorganisiert in das deutsche Mutterland zur Ausbildung bzw. zum Studium schickte. Unter Deutschsein verstanden die Hälbichs, eine noch heute in Namibia ansässige Familie, eine fundierte christliche Gesinnung. Die zur Qualifizierung nach Deutschland geschickten Heranwachsenden mussten ihre eigene Identität im Spagat zwischen dem temporär angelegten Aufenthalt in einem deutlich veränderten und modernisierten Deutschland der Weimarer Republik und der Lebensperspektive innerhalb einer konservativen Siedlerge-

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sellschaft in Afrika finden. Nicht selten kam es zu einer Neudefinition der eigenen Vorstellungen von Identität und Heimat, die nicht mehr nur an Südafrika gebunden sondern territorialunabhängig waren und beide Lebensbereiche einbezogen. Die Stärke des südwestafrikanischen Familienverbandes und sein Überlebenswille zeigten sich jedoch darin, dass die Heranwachsenden trotz mehrjähriger Abwesenheit die Rückkehr nach Südwestafrika kaum grundsätzlich in Frage stellten. Allerdings brachten sie eigene Vorstellungen über ihr zukünftiges Leben in Südafrika mit, hatten sie doch in einer anderen Welt auf einem anderen Kontinent Erfahrungen sammeln können. Methodisch an das Konzept der entangled history angelehnt, hat Susanne Heyn wechselseitige postkoloniale Beziehungsgeschichten zwischen Deutschland und Südwestafrika hoch reflektiert untersucht und dafür intensiv in Archiven in Namibia, in Deutschland, u. a. im Archiv der deutschen Jugendbewegung, und in der Schweiz recherchiert. Die Autorin, Teilnehmerin am Jugendbewegungs-Workshop 2013, bietet überraschende Einsichten und Perspektivwechsel für den Blick auf das Verhältnis zwischen Europa und Südwestafrika. Sie hat bei ihrer Betrachtung auch die bisher wenig beachteten jugendbewegten Kolonialpfadfinder einbezogen und ihre Position innerhalb der kolonial bewegten Jugend formuliert. Der intergenerative Ansatz, der auf die jeweiligen Perspektiven zweier deutscher Gesellschaften eingeht, variiert und verdeutlicht das Thema Fremd- und Selbstbestimmung von Jugendlichen erkenntnisreich. Heyn zeigt die Grenzen der Erziehung von Jugendlichen in einer sich dynamisch wandelnden Gegenwart auf. Darüber hinaus bietet das Kapitel über die Hälbichs in Südwest und in Europa interessante Brechungen zum Thema Das Fremde und das Eigene mit Beobachtungen zu Identitätsfindungen und Heimatvorstellungen einer auf zwei Kontinenten lebenden jüngeren Generation. Gerade dieser Teil bietet im Hinblick auf die aktuelle Diskussion zu Migration und Heimat anregenden Lektürestoff. Susanne Heyns Buch ist beeindruckend.

Jürgen Reulecke

Hartmut E. Arras: Vom Freischärler zum Propagandisten des Nationalsozialismus. Mein Vater Erwin Arras (1905–1942), Bremen: Donat-Verlag 2018, 544 S., ISBN 978-3-943425-69-7, 19,80 E

Intensivere Nachfragen nach dem konkreten Verhältnis ihrer Kriegseltern, geboren ab Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn der 1920er Jahre, zum Nationalsozialismus haben lange Zeit die Kriegskinder, geboren in den 1930er Jahren bis zum Kriegsende 1945, nur selten gestellt, doch nach ihrem Ausscheiden aus dem Berufsleben seit etwa 2000 begann dann eine inzwischen vielfältige Befassung mit diesem Thema. Anfangs war sie vor allem durch Angehörige der Kriegskindergeneration des Zweiten Weltkriegs angestoßen worden, deren Väter von der Front nicht zurückgekommen waren. Etwa jedes dritte Kind dieser Altersgruppe gehört dazu! Vor allem den nach dem Krieg vaterlos aufgewachsenen Söhnen ging es nun im Seniorenalter darum, sich psychohistorisch zu verorten und danach zu fragen, welche lebenslang prägenden Folgen der Vaterverlust für sie gehabt hat. Eine breite Beschäftigung mit dem Forschungsfeld Generationengeschichte, Stichwort: Generationalität, begann nun, die seither zu einer beträchtlichen Anzahl von Veröffentlichungen geführt hat: zum einen aus einer abständig wissenschaftlichen Sicht auf die sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhänge und Folgen, zum anderen dann zunehmend auch mit Blick auf einzelne Biographien und eigene Familiengeschichten – dies dann im Extremfall bis hin zu einem »traurige(n) Resümee: Mehr als befremdlich«! Auf ein solches »trauriges Resümee« (440–445) läuft die umfangreiche und differenzierte »Spurensuche« von Hartmut Arras mit Blick auf seinen Vater hinaus, dessen Verhalten zum Welt- und Menschenbild des Nationalsozialismus und völkisch-rassistische »Gesinnung« gegenüber den Juden seit den frühen 1920er Jahren bis zu seinem Soldatentod Ende 1942 an der Ostfront sein 1939 geborener Sohn als »erschreckend« und »unerträglich« bleibend bezeichnet. Die 2000 von H. Arras nach einem zufälligen und ihn herausfordernden Impuls begonnenen und dann weit ausgreifenden Recherchen führten schließlich zu der nun, im Bremer Donat-Verlag erschienenen, Lebensgeschichte des 1905 in einem südhessischen Dorf nicht weit von Darmstadt geborenen Vaters Erwin Arras. Das diese eindrucksvolle Biographie abschließende Urteil über seinen Vater

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Jürgen Reulecke

lautet: »Ich empfinde ein Bedauern, eine persönliche Trauer gepaart mit Zorn, über seine selbst gesteuerte Fehlleitung der ihm gegebenen Talente« (445). Nach einer einleitenden Darstellung seiner weit ausgreifenden »Spurensuche« seit Beginn seiner Recherchen in etwa fünfzig Museen, Bibliotheken, Instituten und Archiven (z. B. neben dem Archiv der deutschen Jugendbewegung auch in 18 Stadtarchiven) folgen fünf Hauptkapitel, beginnend mit einer generationellen Verortung seines Vaters in der »Kriegsjugendgeneration«, die der Journalist und Publizist Sebastian Haffner (1907–1999) selbstkritisch in seiner vielbeachteten und von Arras herangezogenen Autobiographie »Geschichte eines Deutschen« aus dem Jahre 2000 als »die eigentliche Generation des Nazismus« charakterisiert hat (62). Stichworte von H. Arras zu den auch seinen Vater prägenden Impulsen beim Aufwachsen der Jahrgänge 1900 bis 1910 kurz vor und dann im Ersten Weltkrieg lauten etwa: Weltmachtträume und Fortschrittsoptimismus, Kriegstaumel, Kriegswirklichkeit und Friedenssehnsucht, Erwartung einer völkischen Diktatur sowie Entwicklung von einem zunächst latenten zu einem aggressiven Antisemitismus. Wie bereits in diesem Startkapitel hat H. Arras auch in den folgenden vier Hauptkapiteln die seinen Vater betreffenden Herausforderungen und gesellschaftlichen Impulse umsichtig zu verorten und zu deuten versucht, indem er die vorliegenden Forschungsergebnisse in einer immens breiten Weise herangezogen und auf sechzig Seiten in einem Anmerkungsapparat mit über 1.300 Fußnoten belegt hat. Zeittypische Fotos, z. B. aus der damaligen Presse sowie aus Familienbesitz, und eine beträchtliche Zahl von Faksimiles von Quellen ergänzen seine Ausführungen. Die weiteren vier Kapitel beschäftigen sich zunächst mit den Umständen, nach denen sein Vater als Gymnasiast und Student in den 1920er Jahren sehr früh »bereits politisiert« worden ist und in einer paramilitärischen Gruppe sowie in einem »geheimen Feldjägerdienst« quasi jugendbewegt-rechtsextrem geprägt wurde. Ausbildung, Stellensuche, Heirat, Studium an der Volkshochschule Darmstadt sowie dann ab April 1931 seine Einstellung in Bad Oldesloe als Handelslehrer in einer städtischen Berufsschule bestimmten dessen weitere Entwicklung, die von H. Arras im Folgenden unter anderem auch aufgrund des erhaltenen Briefwechsels seines Vaters durch eine Vielzahl von persönlichen Äußerungen nachvollziehbar ist. Dabei wird dann »der enthusiastische und hohe Einsatz von Erwin Arras für die NSDAP« in dessen verschiedenen Mitgliedschaften, z. B. der SA, der NS-Volkswohlfahrt und im NS-Lehrerbund (190), detailliert dargestellt – dies einschließlich des von ihm lautstark vertretenden Antisemitismus. Im folgenden dritten Kapitel widmet sich H. Arras der Entwicklung, die schließlich seinen Vater zu einem »Berufsschuldirektor und rassenpolitisch aktiven Kreisschulungsleiter« werden ließ (260ff.), von dem u. a. die Aussage stammt, dass Hitler »der ehrlichste Staatsmann der Welt« sei (214f.). Zunehmend sei er in dieser Lebensphase dann – so H. Arras – »ein Aufstachler zu

Vom Freischärler zum Propagandisten des Nationalsozialismus

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Hass, Rassismus und Vernichtung« geworden (266), der sich – schließlich als Leiter der Kreisberufsschule Liebenwerda im Landkreis Brandenburg südlich von Berlin – in seinen vielen Zeitungsbeiträgen, Schriften und Reden an den Vorbildern Adolf Hitler, Alfred Rosenberg, Joseph Goebbels, Robert Ley usw. orientiert habe. Das vierte Hauptkapitel widmet H. Arras den drei Fronterfahrungsjahren seines Vaters. Nach einem Musterungsbescheid 1938 hat sich Erwin Arras im September 1939 (als, wie er betonte, »höchste Pflicht, dem Führer zu dienen«) zum »Waffendienst« gemeldet und kam zunächst als Soldat nach Nordfrankreich, ehe er dann 1941 zu einem »Standortkommandanten« in Russland ernannt wurde. Aus dem von H. Arras breit zitierten Briefwechsel aus dieser Zeit zwischen seinem Vater und seiner Mutter geht hervor, dass es zunehmend zwischen beiden zu erheblichen Verständigungsschwierigkeiten und Informationslücken kam, die bei der Mutter zu wachsender »Bitterkeit und Verunsicherung« führten (370). Bei einem russischen Artillerieangriff am 30. Dezember 1942 im sogenannten »Kessel von Demjansk« kam Erwin Arras dann ums Leben und wurde von seinen Kameraden vor Ort beerdigt; ein Foto des Grabes wurde seiner Frau zugesandt. H. Arras betont in diesem Kontext, dass sich bei dem ab Herbst 1942 dort von den Russen erzwungenen Rückzug der deutschen Truppen ein »neues Kapitel der deutschen Besatzungsverbrechen« ereignet habe, bei dem über sechzig Dörfer zerstört worden seien und sich schreckliche Szenen mit den Bewohnern abgespielt hätten (385f.). Abschließend geht H. Arras in diesem vierten Kapitel noch ausführlich auf die Idee seines Vaters ein, ein Buch mit dem Titel »Lebensgesetz des Nationalsozialismus« zu verfassen, mit dem es auch darum gehen sollte, die Vernichtung »unwerten Lebens« im Sinne Hitlers zu unterstützen. Das Vorhaben seines Vaters, so H. Arras, habe dieser (»sich maßlos überschätzend«) als einen »religiösen Aufriss des Nationalsozialismus« sowie eine »Geburtshilfe« für eine »deutsche arteigene Religion« verstanden und den Text ab April 1942 an der Front engagiert niederzuschreiben begonnen, in dem das erste Kapitel den Titel »Das völkische Lebensgesetz« erhielt. Neun Tage vor seinem Tod schickte er seiner Frau das bis dahin geschaffene Manuskript mit der Bitte, dieses von der NSDAP-Kreisleitung abschreiben und dann im Rassenpolitischen Reichsamt begutachten zu lassen. Ausführlich hat sein Sohn den darin formulierten »politisch-religiösen Glauben ohne christliche Grundlage« zitiert und kommt zu dem Schluss, dass sein Vater hier mit verworrenen Vorstellungen eine »allzu ehrgeizige und zu hochgreifende Vision« verfolgt habe, die eine »reine Hybris« gewesen sei (398). Vor dem abschließenden schon zitierten »traurigen Resümee« seiner Darstellung der Lebensgeschichte seines Vaters hat H. Arras noch ein zwar kurzes, aber dennoch detailreiches fünftes Hauptkapitel verfasst, in dem es zunächst um die Praxis der Entnazifizierung nach 1945 in den Bundesländern und dann um

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Jürgen Reulecke

das Bestreben seiner Mutter ab 1946 geht, eine Witwenpension zu erhalten. Sie beantragte schließlich für sich und ihre Kinder beim damaligen »Hessischen Ministerium für politische Befreiung« die Bewilligung einer solchen Pension, die dann jedoch erst nach längerem Hin und Her und einer anfänglichen deutlichen Beurteilung ihres Ehemannes als »Belasteter« schließlich doch aufgrund von stark verharmlosenden Aussagen von Freunden im Februar 1949 zu dem Urteil führte, dass er weder zur Gruppe der Hauptschuldigen noch zur Gruppe der Belasteten gehört habe, allenfalls zur Gruppe der »Minderbelasteten«, so dass die Pension zu bewilligen sei. Dieser Entscheid zeige, so H. Arras kritisch mit Blick auf die damalige zunehmend immer milder werdende Art des Umgehens mit der Schuldfrage, »dass und wie es gelungen war, die ideologische Einstellung von Erwin Arras zu verharmlosen und entgegen der Wahrheit zu behaupten, er habe eine kritische Haltung zum NS-Regime entwickelt« (425). Zwei weitere damalige Verfahren gegen ehemals aktive NS-Mitglieder aus der Familie Arras, nämlich gegen seinen Großvater Ernst Arras und einen Schwager seines Vaters, bei denen es Ende der 1940er Jahre dann nach längeren Verhandlungen schließlich ebenfalls zur verharmlosenden Kategorisierung »Mitläufer« kam, hat H. Arras abschließend ebenfalls noch kurz behandelt. Als Hauptgrund für sein insgesamt »trauriges Resümee« und sein »mehr als befremdlich(es)« Urteil über seinen Vater Erwin Arras, den er im familiären Bereich durchaus als liebenden Ehemann und Vater erlebt habe, betont sein Sohn abschließend dessen Verhalten als ein »verbaler Überzeugungstäter« und als Propagandist einer »völkischen Gesinnung«, in deren Folge menschliches Verhalten und menschliche Gesinnung völlig aus dem Ruder gelaufen seien, sowie als ein »unbeirrter Nationalsozialist mit absoluter Siegesgewissheit«, der eine »völkische Moral im Dienst der Unmoral« habe wüten lassen, die dann den »Tod für viele Millionen und Verderben über weite Teile Europas« gebracht habe (444). Das Fazit dieses recht ungewöhnlichen und beeindruckenden Bemühens eines Sohnes, den eigenen Vater mit dessen Gesinnung und Handeln als Angehörigen der »eigentlichen Generation des Nazismus« (s. o.) differenziert in die Geschichte zu stellen, lautet: »Scham bleibt für das, was an Unfassbarem von Deutschland ausging, Verantwortung dafür, dass es nicht wiederkehrt, auch nicht als Propaganda. Wachsamkeit ist geboten« (445).

Saskia Fischer

Detlef Siegfried: 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen: Reclam 2018, 299 S., 60 Farb- u. SW-Abb., ISBN 978-3-15-011149-9, 28,– E

Die breite Forschung zu 1968 hat in vielen Studien bereits vielfältige Aspekte der Studentenbewegung herausgearbeitet, die von der Internationalität der Revolte (so Ingrid Gilcher-Holtey)1 bis zur Betonung ihres zum Teil auch problematischen radikalen und gewalttätigen Potentials (etwa Götz Aly)2 reichen. Hinzu kommt eine Fülle von individueller Erinnerungsliteratur der Akteure von 1968 (u. a. Peter Schneider).3 Der nun vorliegende, sehr akribisch und umfassend argumentierende Band von Detlef Siegfried konzentriert sich besonders auf das Verhältnis von Kultur und Politik. Er verortet zudem die sogenannte 1968er Bewegung in einem wesentlich breiteren zeitlichen Kontext, der für Siegfried von 1958 bis 1973 reichte, und versteht somit das allzu leicht mit der Studentenbewegung assoziierte Datum »1968« hingegen als Hoch-Zeit in einer weitreichenden, länger vorbereiteten und anhaltenden gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Umbruchphase. Überdies deutet Siegfried die Geschichte der Studentenbewegung in Westdeutschland, wie es auch die Arbeiten GilcherHolteys belegen, als »Teil der europäischen und der Globalgeschichte von 1968« (8). Insgesamt verdichten sich für ihn in der Chiffre »1968« Entwicklungen, die lange vor dieser Zeit begannen, internationale Strahlkraft besaßen und vielschichtiger waren, als es die Konzentration auf das Jahr 1968 und eine rein politische Lesart der Bewegung wirklich zu erfassen vermögen. »1968«, so Siegfried, »wurde nicht nur durch politische Forderungen geprägt, sondern viel grundsätzlicher noch durch das Ideal eines anderen Lebens« (28). Diesen Ansatz des Bandes entfaltet Siegfried plausibel und differenziert am Beispiel der Popmusik, deren Bedeutung und Wirkung innerhalb der Studentenrevolte sich als roter Faden durch seine Studie zieht. Durch sie – so seine These – konnten sich auch diejenigen mit den Erneuerungsbestrebungen der 1 Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1998; dies.: Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA, München 2001. 2 Götz Aly : Unser Kampf 1968, Frankfurt a. M. 2008. 3 Peter Schneider: Rebellion und Wahn. Mein ’68, Köln 2008.

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Saskia Fischer

Studentenbewegung identifizieren, die kein tiefergehendes Interesse an Politik besaßen. Eindrücklich weist Siegfried mit Blick auf diesen Aspekt der Breitenwirkung der Studentenbewegung nach, wie politische Mobilisierung im weitesten Sinne und Zugehörigkeit zur Studentenrevolte auf dieser unpolitischen Dimension der Bewegung gründeten und wie komplex letztlich das Verhältnis von Kultur und Politik ist und vor allem in den 1960er Jahren war. Neben dem Fokus auf den Lebensstil, die kulturell-musikalischen Vorlieben der jungen Generation und auch die Konsumkultur ist es eine besondere Stärke des Bandes, dass er dabei eben nicht die Kehrseite ausspart, sondern dezidiert offen legt, wie sehr die sich in den 1960er Jahren herausbildende Gegenkultur selbst wiederum von der »Kulturindustrie« vereinnahmt wurde und wohl gerade deshalb so massenwirksam werden konnten. Die Studie entwirft ein breites, panoramatisches Spektrum, beleuchtet sowohl die sexuelle Liberalisierung, die spielerisch-ironischen Aktionen der Kommune I als auch die politischen Bewegungen und zeigt, dass die Politisierung bis in die Schülerschaft und die »Lehrlingsbewegung« (183) ausstrahlte, die gerade durch die Popmusik zur Studentenbewegung Zugang fand (181). Sehr aufschlussreich für diesen geweiteten Blick auf die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Transformationsprozesse der 1960er Jahre ist das Kapitel über die Rolle der bündischen Jugend, in dem diese am Beispiel des Waldeck-Festivals mit seinem »bündischen Ursprungskern« (113) dargelegt werden. Die Burg Waldeck im Hunsrück, seit 1910 Treffpunkt der Jugendbewegung, erlangte zentrale Bedeutung für eine größere Öffentlichkeit in den 1960er Jahren durch das Festival Chanson Folklore International, das über die Medien Radio und Fernsehen weitere öffentliche Aufmerksamkeit erhielt. Nicht nur traten Franz Josef Degenhardt und internationale Folkgrößen der Zeit wie Phil Ochs oder Odetta in diesem Rahmen auf; eine Besonderheit des Waldeck-Festivals war zudem das diskutierfreudige studentische und gymnasiale Publikum, was dem Ganzen wiederum eine politische Dimension gab. Initiiert vom studentischen Arbeitskreis des linken Flügels der Jugendbewegung verband das Festival politische Fragen mit dem in der Jugendbewegung seit jeher stark vorherrschenden Interesse für Musik. Die Ausrichtung des Festivals bewirkte, dass die Burg Waldeck, nach Siegfried, »zu einem Brennpunkt der kulturellen und politischen Kontroversen in den 1960er Jahren« wurde (113). Neben der politischen Liedermacherszene, die auf der Burg Waldeck auftrat, wurde der politische Zuschnitt des Festivals zu gleichen Teilen durch Auftritte von John Pearse, Hannes Wader oder Schober & Black merklich unkonkret gehalten, indem von diesen Akteuren eher »folkloristische[], satirische[] und lebensweltlich-anarchische[] Impulse« ausgingen (114). Es ist gerade, wie Siegfried folgert, diese nur ungefähre, diffuse Oppositionshaltung, die sich eben nicht ausschließlich auf das Politische bezog, die die breit anschlussfähige Faszination des Festivals aus-

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machte. Doch eben dieser Zuschnitt, der innerhalb der kulturellen Szene im Deutschland der 1960er Jahre zunehmend interessanter wurde, beschied letztlich das Ende des Festivals auf der Burg Waldeck. Die Verbindung von Politisierung und Unterhaltung hatte längst Medien, Konzertveranstalter, Aktionsbündnisse und politische Organisationen auf den Plan gerufen, die sie sich zu eigen machten und zu einer Vielzahl solcher Veranstaltungen in ganz Deutschland führten und nun wesentlich umfassender als es auf der Burg Waldeck möglich war, eine breite Öffentlichkeit für sich einnehmen konnten. Siegfried allerdings deutet »[d]ie Waldeck« als »bedeutenden Katalysator dieses Verbreitungsprozesses« und als »Brennpunkt, an dem immer wieder kontrovers über die Gegenwartstendenzen in der Gesellschaft und ihre Folgen für eine oppositionelle Kultur verhandelt wurde« (118). Der vorliegende Band ist ein sehr genau recherchiertes Buch, das das Ereignis 1968 in seiner Vielschichtigkeit erörtert und dabei als zentralen Kulminationspunkt in einer Zeit des sich rasch vollziehenden und einschneidenden gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Wandels begreift. Es ist vor allem die Konzentration auf die Popmusik, die diesen Band so lesenswert macht. Die von Siegfried entfalteten Überlegungen zum Verhältnis von Kultur und Politik, und genauer zur Bedeutung der Musik für die Studentenrevolte, dürften auch für die Analyse heutiger politischer Bewegungen und Transformationsprozesse äußert interessant sein, weil sie die Popmusik nicht lediglich als Mittel innerhalb der politischen Agitation, sondern in ihrer weitreichenden, massenwirksamen, auch unpolitischen und ökonomisch eingebetteten Wirksamkeit begreift, durch die die komplexen Mechanismen, aber auch die Ambivalenzen politischer und kultureller Erneuerungsbestrebung eindrücklich deutlich werden.

Karl Braun

Meike Sophia Baader, Christian Jansen, Julia König, Christin Sager (Hg.): Tabubruch und Entgrenzung. Kindheit und Sexualität nach 1968 (Beiträge zur historischen Bildungsforschung 49), Köln: Böhlau 2017, 330 S., ISBN 978-3-412-50793-0, 40,– E Ausgangspunkt dieses Sammelbandes ist laut Ankündigungstext die Aufdeckung von Missbrauchsfällen in verschiedensten Institutionen, die verstärkt ab 2010 in die Öffentlichkeit gelangten. So verwundert es nicht, dass im Zentrum der transdisziplinär angelegten sechzehn Aufsätze Pädophilie und Missbrauch stehen. Das ist – angesichts des aktuellen diskursiven Stellenwerts des Themas – ein durchaus sinnvoller Ansatz, der allerdings den Titel des Sammelbandes »Tabubruch und Entgrenzung« etwas unterläuft. Denn, wie vor allem die Beiträge von Detlef Siegfried zu Ernest Borneman und von Sophinette Becker zu »Leerstellen« in aktuellen Diskursen zur Pädosexualität aufzeigen, fanden TabuHinterfragung und Zulassung freier Handlungsmöglichkeiten nach 1968 in wesentlich breiterem gesellschaftlichem Ausmaß statt als nur im intergenerationellen Kontakt. Becker verweist zum z. B. auf die »Familialisierung […] der jugendlichen Sexualität. Ganz viele erste sexuelle Erfahrungen von Jugendlichen finden heute nicht im Auto oder sonst irgendwie heimlich, sondern in der elterlichen Wohnung statt, auch wenn die Eltern da sind […]. Sie [die Eltern, K. B.] bewirten dann ganz selbstverständlich die Sexualpartner_innen ihrer fünfzehnjährigen Kinder beim Frühstück« (322).

Insgesamt wird die inzwischen erfolgte Normalisierung liberalerer Praktiken hinsichtlich kindlicher Sexualität (z. B. Reinlichkeitserziehung, Aufklärung, sexuelle Erfahrung von Schüler*innen in Peergroup-Zusammenhängen) im Sammelband jedoch kaum erwähnt; vielleicht, weil viele dieser Praktiken seit den 1970er Jahren gänzlich normalisiert sind und somit nicht weiter bedenkenswert erscheinen; vielleicht aber auch, weil der Missbrauch-Diskurs so übermächtig geworden ist: Detlef Siegfried spricht sogar von der »MissbrauchsParanoia der frühen neunziger Jahre« (208), eine Bezeichnung, die auch für die 2010er Jahre – nach Odenwald-Schule, katholischer Kirche und #MeToo – Geltung beanspruchen darf. Und Harry Willekens benennt in seinem sehr informativen, die juristischen Gegebenheiten kritisch abwägenden Aufsatz Der rechtliche Umgang mit der Sexualität von Jugendlichen die »Verbissenheit, mit

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der das Kindesmissbrauchsthema durch die Medien geht, und die eine rationale Abwägung der Vor- und Nachteile des strafrechtlichen Ansatzes so erschwert« (134f.). Denn ein Versuch von Liberalisierung und Normalisierung, der ab den frühen sechziger Jahren im Sexualdiskurs unternommen wurde, hat keinerlei Normalität erreicht, ist also völlig denormalisiert, praktisch kriminalisiert: die Pädophilie. Die Pädophilie-Bewegung ging von einer zentralen Behauptung aus, nämlich derjenigen, dass einvernehmliche und gewaltfreie sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern, deren Status als geschlechtliche Subjekte vorausgesetzt war, eine normale und für beide Seiten befriedigende Form von Sexualbetätigung darstelle. Meike Sophia Baader geht in ihrem Aufsatz Zwischen Politisierung, Pädosexualität und Befreiung dieser Behauptung am Beispiel der Ausgabe 4/1973 der Zeitschrift betrifft: erziehung nach. Diese war unter dem Aufmacher »Pädophilie: Verbrechen ohne Opfer« (Abb., 64) erschienen. Die Behauptung einer Kinder nicht schädigenden Pädosexualität illustriert Baader mit einem Zitat von Eberhard Schorsch, einem damals bekannten Hamburger Sexualwissenschaftler : »[…] dass ein ›gesundes Kind in einer intakten Umgebung nichtgewalttätige sexuelle Erlebnisse ohne Folgen‹ verarbeite« (66).1 Diese Position, hier von Eberhard Schorsch vertreten, fand in Teilen der westdeutschen Sexualwissenschaft Zustimmung; sie war angedockt an die Emanzipationsbewegung von Homosexuellen oder an Die Grünen im Partei-Bildungsprozess: siehe v. a. den breit angelegten und materialreichen Beitrag von Sven Reichardt Pädophilie im linksalternativen Milieu2 sowie die Aufsätze von David Paternotte The International (Lesbian and) Gay Association and the question of pedophilia und Stephan Klecha Die Grünen als Avantgardepartei und Vertreterin eines bereits vergangenen Zeitgeistes.3 Die für Pädophilie Verständnis aufbrin1 Baader zitiert Schorsch aus dem genannten Heft von betrifft: erziehung von 1973; im Beitrag von Dagmar Herzog Sexuelle Traumatisierung und traumatisierte Sexualität. Die westdeutsche Sexualwissenschaft im Wandel findet sich das Schorsch-Zitat ebenfalls (mit der Erweiterung: »ohne negative Dauerfolgen«, 47), zitiert z. B. in: Der Spiegel, 1976, Nr. 28. Ende der 1980er Jahre hat Schorsch sich von dieser Aussage distanziert: »Inzwischen wissen wir längst, dass die Utopie auf sexuellem Sand gebaut war« (zit. bei Herzog ebd.). 2 Reichardt zitiert neben Eberhard Schorsch weitere Pädophilie-Unterstützer (die »zum Teil sehr weitgehendes Verständnis für pädosexuelle Handlungen entwickelten«, 150) aus der deutschen Sexualwissenschaft und Psychatrie: Helmut Kentler, Rüdiger Lautmann, Reinhardt Lempp. Reichardt führt ebenfalls französische Unterzeichner*innen einer Petition »zur Absenkung des Schutzalters und (zur) Verringerung des Strafmaßes« (151) an: Es handelt sich um die crHme de la crHme der damaligen französischen Philosophie. 3 Warum bei Klecha, der das »Techtelmechtel« der frühen, sich formierenden Grünen mit verschiedenen pädophilen Plattformen genau nachzuzeichnen versteht, von ihm referierte linksalternative sexualtheoretische Positionen mit unpräzisen Verben wie »wabern« (167, 181) oder »hineinschwappen« (168) benannt werden, kann m. E. als symptomatisch gelten; dazu mehr im Fortgang.

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gende sexualtheoretische Aussage jedoch war nie konsensfähig und gesellschaftlich immer heftig umkämpft. Aber – und dies ist festzuhalten – die Behauptung einer einvernehmlichen und gewaltfreien Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern, auch wenn umstritten, war in den 1970er und 1980er Jahren zumindest diskursfähig, d. h. sie konnte mit gewissem Recht ausgesagt werden, war nicht – wie dies heute der Fall ist – im Sinne einer Aussagefähigkeit unsagbar.4 Ein Problem dieses Sammelbandes, das auf ein darüber hinaus reichendes Problem verweist, besteht darin, dass in der gegenwärtigen Diskursformation Pädophilie und Missbrauch praktisch synonym geworden sind; sie lassen sich nach den 1990er Jahren theoretisch nicht mehr trennen. Die gegebene Macht-Asymmetrie zwischen Erwachsenen und Kindern verhindert jegliches Einvernehmen und überführt potentielle sexuelle Kontakte zwangsläufig in Gewaltförmigkeit: Pädophilie ist immer Missbrauch. Im zu untersuchenden Zeitraum vor den 1990er Jahren allerdings ist dieses Zusammenfallen zweier Diskursstränge noch nicht gegeben. Dabei ist zu bedenken, dass der Begriff Missbrauch semantisch höchst unscharf, eigentlich nicht zu fassen ist. Sophinette Becker schreitet im Aufsatz Aktuelle Diskurse über Pädosexualität/ Pädophilie und ihre Leerstellen die »begrifflichen Schwierigkeiten« souverän ab, indem sie feine Unterschiede herausarbeitet: »›Sexueller Missbrauch‹ ist oft als Begriff kritisiert worden, weil er impliziert, es gebe einen ›guten sexuellen Gebrauch‹ von Kindern. Trotzdem hat er sich eingebürgert, weshalb ich ihn auch benutze. Und was den Gebrauch betrifft, müssen wir uns eingestehen, dass wir in jeder sexuellen Interaktion bei der dafür notwendigen Sexualisierung den/die andere/n immer auch gebrauchen, sonst geht es gar nicht« (315).

Trotz aller Reflexivität und Differenzierung bei den weiterführenden Überlegungen zum Begriff Missbrauch zeigt sich meines Erachtens in diesem Zitat eine kleine, aber für das Thema insgesamt folgenreiche Unschärfe. Becker schreibt: 4 Z. B. wäre es heute undenkbar, dass Bücher wie Peter Schult: Besuche in Sackgassen. Aufzeichnungen eines homosexuellen Anarchisten, München 21982 oder Anna Leon: Einfacher Bericht, Berlin u. a. 1982, beide in linken Verlagen (Trikont, März) erschienen, auf den Markt kommen könnten. Zu Schult und dessen umstrittener Rezeption siehe Reichardt (139ff.); warum Reichardt die Selbstdefinition Schults als »Anarchist« übernimmt, bleibt unklar. Ebenfalls bei Reichardt die Überlegungen zu Veröffentlichungen der Berliner »Kommune 2« und dem dort als problematisch thematisierten Verhältnis von Erwachsenen und Kindern. Das Konzept der Kommune 2, schon im Titel ablesbar : Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. Kollektives Leben mit politischer Arbeit verbinden! (Berlin 1969), entzieht sich dem Pädophilie-Diskurs und versucht v. a. an die Tradition der Weimarer Sexualaufklärung (Wilhelm und Annie Reich) anzuknüpfen, deren Ziel es war, Psychoanalyse nicht als Heilmethode, sondern als Neurosen-Prophylaxe für Heranwachsende zu konzipieren. Die von Reichardt zitierte Stelle (143) wird in der »Revolutionierung« von einem Zitat von Annie Reich zur kindlichen Sexual-Wissbegier (dort S. 90) eingeleitet. Die Kommune 2 und ihre Praxis von Selbst-Psychoanalyse in Gruppe hätte als »Tabubruch und Entgrenzung« eines eigenen Artikels bedurft.

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»Alice Schwarzer schreibt in einem ihrer Rückblicke (2013): ›1975, bei meinen Gesprächen mit Frauen über den ›Kleinen Unterschied‹ hörte ich zum ersten Mal eine Frau sagen, ihr Vater habe sich an ihr vergangen. Den Begriff Missbrauch gab es noch nicht‹« (315).

Wenn im gegenwärtigen Diskurs Pädophile und Missbrauch nicht mehr sinnvoll zu trennen sind, es aber – und hier hat Alice Schwarzer sicher recht – Missbrauch als sexualtheoretischen Begriff 1975 noch gar nicht gab, dann hat eine Verschiebung stattgefunden, die vergangene Diskurse aus heutiger Sicht rückwirkend überformt und praktisch unverstehbar macht. An dieser Nicht-Verstehbarkeit leidet der Sammelband insgesamt. Wenn Klecha in seinem Beitrag zu den Grünen, wie bereits erwähnt, pädophile Positionen mit relativ denunzierenden Verben umschreibt, wenn Claudia Bundschuh im Titel ihres Aufsatzes zur Pädophilenbewegung in Deutschland diese als »sogenannte Pädophilenbewegung« bezeichnet, wenn aus unerfindlichen Gründen bei einem zeitgenössischen Thema wie dem vorliegenden in den Literaturlisten zwischen »Quellen« und »Literatur« – ich fürchte fast: aus unbewusst gebliebenen Gründen der NichtKontaminierung mit »Heute-Unsagbarem«5 – unterschieden werden muss, dann können solche Details als symptomatische Hinweise auf einen klaren Bruch in der Diskursformation – also der Wahrheitsfähigkeit oder zumindest der Diskussionswürdigkeit von wirklichkeitsstrukturierenden Aussagen im Sinn Michel Foucaults – gelesen werden. Ein solcher Bruch, wie der hier behauptete, bedarf jedoch einer theoretischen Unterfütterung: Gegen die in den 1970er und 1980er Jahren noch gültige (wenn auch umstrittene) Annahme, dass Kinder sexuelle Subjekte mit eigenen Interessen und unter Umständen gerontophilen Neigungen seien (siehe Zitat Borneman bei Siegfried, 207), steht ab den 1990ern die Negierung dieses kindlichsexuellen Subjekt-Status durch ein Ausgeliefert-Sein an die Machtposition von Erwachsenen, ein Ausgeliefert-Sein, welches keine sexuelle Interaktion mehr zulassen, nicht einmal mehr denken kann. Dieser sexualtheoretischen Umgewichtung und einschneidenden Grenzziehung nach dem Versuch der Versprachlichung des Pädophilie-Anliegens, nach diskursiv öffentlicher Entgrenzung also, wird im vorliegenden Sammelband kaum Aufmerksamkeit zuteil. Positionen von Sigmund Freud und dem um 1968 breit rezipierten Wilhelm Reich sind eher spärlich vertreten; in den Literaturlisten tauchen sie v. a. im Quellen-Register auf, was immer das bedeuten mag. Auf der schon erwähnten 5 Die Unterscheidung stört beim Nachschlagen der zitierten Texte; völlig absurd wird sie, wenn, im sonst sehr differenzierenden Aufsatz zu Position und Rezeption von Marcuse von Tatjana Freytag Sexualität und Befreiung bei Herbert Marcuse, die deutsche Übersetzung Triebstruktur und Gesellschaft bei den Quellen, das us-amerikanische Original Eros and Civilization aber in der Literatur verortet wird.

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Titelseite von betrifft: erziehung, 4/1973, mit der Themenankündigung Pädophilie: Verbrechen ohne Opfer ist neben dem Text eine Zeichnung zu sehen: Ein Denkmal, auf dem ein Junge und ein Mädchen stehen; über ihrem Unterleib, auf beide verteilt, findet sich der Satz »Kinder haben/ keine Sexualität«. Auf dem Sockel des Denkmals ist folgende Inschrift zu lesen: »Dieses Mahnmal stürzte frevelnd Dr. Sigmund Freud, wir haben es wieder errichtet. Die deutsche Justiz.« Es war aber nicht die deutsche Justiz, welche die Freudsche Anthropologie – der Charakter-Aufbau bestimmt vom Trieb-, vom Libido-Schicksal in je eigenen Individuum – stürzte, sondern eine inner-psychoanalytische Diskussion um die Verführungstheorie, wie sie von Freud in den Jahren zwischen 1895 und 1897 vertreten worden war. 1984 war in den Vereinigten Staaten das Buch The Assault on Truth. Freud’s Suppression of the Seduction Theory von Jeffrey M. Masson erschienen, im gleichen Jahr noch kam es in Deutschland unter dem Titel Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie.6 Masson, der Zugang zum Freud-Archiv besaß, hatte in den Briefen Freuds an Wilhelm Fließ – sie gelten immerhin als die Selbst-Analyse Freuds – Lücken ausgemacht, die darauf hindeuteten, dass in der Veröffentlichung der Fließ-Briefe eine frühe Einsicht Freuds unterdrückt werden sollte. Danach habe es sich bei dem, was Freud »Verführung« genannt hatte und was Neurosen bei den von ihm behandelten Frauen auszulösen schien, um realen körperlichen Verkehr, um intime Berührung bis zur Vergewaltigung im Kindesalter, gehandelt. Freud habe diese Position eines real stattfindenden Übergriffs von Erwachsenen auf (zumeist weibliche) Kinder auch öffentlich vertreten, sei damit aber – laut Jeffrey M. Masson – in wissenschaftliche Isolation geraten, bis er 1897 die Verführung als reales körperliches Gewalt-Geschehen aus strategischen Gründen – Erfolgslosigkeit! – habe fallen lassen und als imaginierte Sexualszenen neu konfiguriert habe.7 Massons zunächst eher inner-psychoanalytische Neugewichtung traf jedoch den Nerv der Zeit in der Mitte der 1980er Jahre: auf der einen Seite die Propagierung von gewaltfreier Pädophilie als normale Sexualbeziehung, auf der anderen Seite eine sich aus den Erfahrungen der Frauenbewegung herauskristal6 Jeffrey M. Masson: The Assault on Truth. Freud’s Suppression of the Seduction Theory, New York 1984 (dt.: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie, Reinbek bei Hamburg 1984; 2. überarb. Aufl. Freiburg 1992; ders. (Hg.): The Complete Letters of Sigmund Freud to Wilhelm Fliess, 1887–1904, Cambridge (Mass.) 1985 (dt.: ders. (Hg.): Sigmund Freud. Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, Frankfurt a. M. 1986). 7 Siehe hierzu exemplarisch: Rudolf Sponsel: Der Widerruf der Mißbrauchstheorie (»Verführungstheorie«) durch Sigmund Freud. Die bahnbrechenden Forschungsergebnisse Jeffrey M. Massons. Aus der Abteilung Kritische Arbeiten zur Psychoanalyse und Analytischen Psychotherapie, IP-GIPT. Erlangen 2001, http://www.sgipt.org/th_schul/pa/misbr/wideru.htm [24. 06. 2019].

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lisierende Selbsthilfebewegung von und für Frauen, die in der Kindheit sexuelle Übergriffe – welche auch immer – hatten durchleben müssen. In Deutschland nahmen Selbsthilfe-Organisationen wie Wildwasser (gegründet 1983) und Zartbitter (1984) Massons Eliminierung der infantilen Sexual-Phantasie-Produktion anstelle von real und als Gewalttat vor sich gehenden Beziehungen (in engeren und weiteren sozialen Netzen wie Familien und Freundschaftskreisen) sehr gern auf und tourten mit diesem Thema, das die psychoanalytische Theoriebildung kindlicher Sexualität im Kern angriff, durch die Bonner Republik.8 Mit Massons Behauptung, Freud habe bewusst und aus strategischen Gründen die Verführung als realen Zugriff von Erwachsenen auf hilflose Kinder unterdrückt, war nicht nur der Ruf Freuds als objektiver Wissenschaftler in Frage gestellt, sondern vielmehr die psychoanalytische Theoriebildung im Kern getroffen. Seitens der Psychoanalyse erfolgte umgehend ein Gegenangriff: Jean Laplanche und J.-B. Pontalis, die 1967 das Standard-Werk Das Vokabular der Psychoanalyse veröffentlicht hatten, brachten bereits 1985 das Werk Urphantasie. Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie auf den Markt.9 Sie erwähnten Jeffrey Masson nicht direkt, nahmen jedoch Zitate aus Massons vollständiger Ausgabe der Fließ-Briefe (ebenfalls aus dem Jahr 1985) auf. Im »Postskript 1985« und im Fortgang ist zu lesen: »Es galt, so banal gewordenen Begriffen wie Autoerotismus oder so verrufenen und unverstandenen wie dem der Verführung ihren vollen und grundlegenden, wenn nicht gar transzendentalen Wert zurückzugeben. […] Zumindest sind wir das Risiko eingegangen im ›sexuellen‹ Bereich der Psychoanalyse die ›Kinder‹-Frage nach den Ursprüngen neu zu stellen, die, obwohl sie kein Bürgerrecht im positiven Sinn besitzt, dem Denken keine Ruhe lassen kann […]« (S. 8f; Hervorhebungen wie im Original). »Wenn die Historiker der Psychoanalyse in ihrem Rückgriff auf den offiziellen Standpunkt Freuds uns gegenüber behaupten, die Preisgabe der Verführungstheorie aufgrund eines Tatsachenbeweises habe den Weg zur Entdeckung der kindlichen Sexualität gebahnt, dann simplifizieren sie eine Entwicklung, die weitaus vieldeutiger war. […] Es stimmt zwar, dass im Zusammenhang mit der Preisgabe der Verführungstheorie im Briefwechsel mit Fließ drei Themen vorherrschend werden: die infantile

8 Die Rezeption von Massons Behauptungen in den frauenbewegten Selbsthilfegruppen Mitte der 1980er Jahre ist – meines Wissens – nicht erforscht. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung, in der Vertreterinnen von Wildwasser zusammen mit Klaus Theweleit in Stuttgart auftraten, wohl im Sommer 1984, und Jeffrey Massons Behauptungen als revolutionär vorstellten. Soweit ich es überblicke, hat sich Theweleit nicht weiter mit Masson beschäftigt. 9 Der Text war 1964/65 in der Zeitschrift Les temps modernes erschienen; jetzt wurde er mit einem »Postskript 1985« veröffentlicht, wobei »einige Anmerkungen in den Text eingebaut und die bibliographischen Angaben präzisiert« wurden (S. 9), in: Jean Laplanche, J.-P. Pontalis: Urphantasie. Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie, Frankfurt a. M. 1992 (franz. Original 1985).

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Sexualität, die Phantasie, der Ödipus. Das ganze Problem liegt freilich darin, wie sie artikuliert werden« (S. 26; siehe v. a. S. 25–29).

Es scheint, als hätten Laplanche und Pontalis – wir, die Psychoanalytiker, gegen den Historiker der Psychoanalyse Masson – mit Schrecken erkannt, was mit dessen vollständiger Veröffentlichung der Briefe Freuds an Fließ und der damit verbundenen Interpretation auf dem Spiel stand: die Reputation der Psychoanalyse als Gültigkeit beanspruchen könnende Sexualtheorie. Denn wenn Freuds Verführungstheorie der Jahre 1895 bis 1897, »die der Erinnerung realer Verführungsszenen die determinierende Rolle in der Ätiologie der Psychoneurosen zuschreibt« allein Stimmigkeit besitzt und nicht auch die »phantasierte Szene, bei der das Subjekt (im allgemeinen ein Kind) sexuelle Annäherungen […] eines Erwachsenen passiv erleidet«10 (wobei neben den imaginierten Szenen »reale Zugriffe« keineswegs auszuschließen sind), dann bricht die Theorie der kindlichen Sexualität sowie die psychoanalytische Theorie-Bildung insgesamt in sich zusammen.11 Genau dies ist gegen Ende der 1980er Jahre geschehen: Die »Trommel« des Missbrauchs löste die psychoanalytische Theorie, die in der erregten Öffentlichkeit implodierte, ab; symptomatisch sei hier der bereits genannte Aufsatz von Rudolf Sponsel angeführt: Der Widerruf der Mißbrauchstheorie (»Verführungstheorie«) durch Sigmund Freud. Im Klartext heißt dies: Kinder phantasieren keine sexuellen Inhalte, diese werden gewaltförmig an sie herangetragen und ihnen aufgezwungen; es gibt keine infantile Sexualität, die einen anthropologisch-theoretischen Stellenwert beanspruchen dürfte. Den Kindern war die sexuelle Unschuld, die Jean-Jacques Rousseau für seinen Modell-Knaben Pmile zwar behauptet, welcher er aber durch die Notwendigkeit einer ständigen Überwachung in Hinblick auf das Geschlecht selbst misstraut hatte, wieder zugeschrieben, wenn nicht aufgezwungen worden.12 Im gesamten Miss10 Jean Laplanche, J.-B. Pontalis: Verführung (Verführungsszene, Verführungstheorie), in: dies.: Vokabular der Psychoanalyse, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1972, S. 587. Zu Laplanche siehe auch Sophinette Becker, S. 318. 11 Die damalige Diskussion um die Verführungstheorie bedürfte eines eigenen Aufsatzes; ich musste hier etwas weiter ausholen, um den vorliegenden Sammelband in die Folgen des damaligen Diskurses einordnen zu können. 12 Siehe hierzu: Karl Braun: »Gläserner Körper«? Sexualaufklärung in Deutschland 1770–1800, in: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung, 1996, NF 31, S. 89–101. Der einleitende Beitrag von Julia König, deren Dissertation im Erscheinen ist, befasst sich unter der Vorgabe von »Verflüssigung und Reetablierung der Generationengrenze« (S. 21) mit den Kinderhexenprozessen des 17./18. Jahrhunderts; vielleicht wäre ein Blick auf die »Generationendifferenz in Zeiten der Umwälzung sexueller Ordnung« bei der Versprachlichung kindlicher Sexualität unter der neuen Nerventheorie, wie sie Albrecht von Haller in der Trennung von reizbaren und empfindlichen Teilen im ausgehenden 18. Jahrhundert formuliert hatte und wie sie von Tissot aufgegriffen worden war, dem Thema des Sammelbandes näher gewesen. Trotzdem lohnt der Blick auf Kinder im Hexenzusammenhang.

404

Karl Braun

brauchsdiskurs darf – erstaunlich genug – eine Figur nicht auftreten: das in Hinblick auf sexuelle Interaktion aktive oder diese Betätigung zumindest gern zulassende Kind. Für den Zusammenhang des zu rezensierenden Sammelbandes ist die Bedeutung der Genealogie des Identisch-Werdens von Pädophilie und Missbrauch bedeutsam; ihr Fehlen ist meines Erachtens der zentrale blinde Fleck13 des Buches. Vor diesem Hintergrund jedoch erweisen sich viele der Beiträge als die Problematik sowohl des Befreiungs- als auch des Missbrauchsdiskurses gut benennend. Vor allem die Fallbeispiele, wie Christin Sagers Beitrag zur Sexualaufklärung oder Jan-Hendrik Friedrichs Text zur Nürnberger Indianerkommune, aber auch Meike Sophie Baaders Bemerkungen zum Summerhill-Konzept von Alexander Neill (58) wissen den Zeitgeist der Jahre zwischen 1965 und 1990 gut zu fassen. Besonders informativ, weil erfahrungsgesättigt, erweist sich in dieser Hinsicht der Betrag von Christian Jansen zur Kindlichen Sexualität und »Pädophilie« in Heidelberg 1978–1981. Besonders wohltuend liest sich der schon angesprochene, den Band abschließende Beitrag von Sophinette Becker. Die hier gezeigte grundsätzliche Skepsis zu Begrifflichkeiten wie Pädosexualität und Missbrauch überzeugt, indem die problematischen Fragen auf den Punkt gebracht werden. Der Text überzeugt zudem in einer Zeit, in welcher weder für Erwachsene noch für Kinder eine wirklich gültige Sexualtheorie existiert (die Dichotomie von sex und gender, von Geschlechtskörper und Geschlechtsidentität, trägt hier nicht) und in welcher die Paraphilien, unter strikter Tabuierung kindlicher Sexualität bei gleichzeitiger Sexualisierung von Kindern, in Blüte stehen und in relativer Breite das frühere Feld polymorph-perverser Neigungen abdecken (siehe S. 321). Beckers Aussage zum Begriff Missbrauch ist bereits zitiert; nur ist Missbrauch nicht als Gegenkonzept zu einem guten oder richtigen Gebrauch konzipiert, sondern ist meines Erachtens als Verkürzung einer im Band mehrfach zitierten juristischen Formel zu lesen: § 174 StGB Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses (z. B. Reichardt, 143) und davon abgeleitet § 176 StGB Sexueller Missbrauch von Kindern (schon im StGB für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871). Sophinette Becker hat, ich wiederhole es, darauf hingewiesen, dass Menschen bei jedem real stattfindenden Sexualkontakt »den/die andere/n immer auch ein Stück gebrauchen« (315). Und Becker streift zumindest – angesichts der gleichzeitigen Behauptung von kindlicher Unschuld und der Sexualisierung von Kindern in Werbung und Medien – die Abschaffung der Sexualität als solche. »Manchmal denke ich, vielleicht wollen alle am liebsten pubertätsunterdrückende Hormone nehmen, weil wir dann nämlich nicht mehr alt werden, sondern schön und 13 Zu den blinden Flecken siehe Baader, S. 57f.

Tabubruch und Entgrenzung

405

jung bleiben und die Sexualität dann auch abgeschafft wird. Aber das ist natürlich nur eine leicht verzweifelte ironische Überspitzung« (323).

Angesichts der zunehmenden diskursiven Überführung sexueller Kontakte in Gewaltförmigkeit, z. B. im Missbrauchsdiskurs und bei #MeToo, stellt sich allerdings die Frage, ob Sexualität nicht nur in leicht verzweifelter Überspitzung, sondern sehr ernsthaft auf der Kippe steht und sich eine neue Geschlechtsordnung14 abzuzeichnen beginnt, welche die moderne Sexualität hinter sich lässt. Sex-Roboter bestücken inzwischen nicht nur Bordelle, sondern bevölkern bereits Wohnungen, Harmony (und Henry) von der Firma Realbotix15 – zum Preis eines Mittelklassewagens zu erwerben und den jeweiligen körperlichen Vorlieben der Käufer*innen angepasst – lassen grüßen. Der unvermeidliche interaktive Gebrauch einer anderen realen Person bei sexuellen Handlungen weicht Gebrauchsgegenständen mit eingeschränkter Sprechfähigkeit. Und falls einmal kindlich gestaltete Sex-Roboter hergestellt werden? Doch bis dies geschieht oder aus Tabugründen eben nicht, stellt sich die Frage: Wie soll im alltäglichen Internet-Gebrauch praktisch und juristisch mit virtuellen Sex-Kids umgegangen werden?

14 Zum Begriff Geschlechtsordnung, der den der Sexualität als moderne Sexualität historisiert und deren Beginn in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts verortet – er löst das biblisch gesetzte Konzept von Zucht und Unzucht ab – siehe Karl Braun: Gott und die Nerven, nervöse Leiden und die Libido. Bemerkungen zu Präsenz, Bedeutungsartikulation, Diskurs, in: Sonja Fielitz (Hg.): Präsenz Interdisziplinär. Kritik und Entfaltung einer Intuition, Heidelberg 2012, S. 247–269, hier v. a. S. 258ff., sowie ders: Sexualität, kulturwissenschaftlich, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Tübingen 42004, vollständig neu bearbeitete Auflage 1998–2007, hier Bd. 8, Sp. 1253–1255. 15 Siehe: https://www.realdollx.ai/ [25. 06. 2019].

Rückblicke

Susanne Rappe-Weber

Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2018

Lebensreform und Alternativkulturen – das Thema der Archivtagung war das ganze Jahr über im Archiv präsent, insbesondere durch zwei größere Zugänge aus diesem Bereich. Im März konnte der Nachlass von Dr. Walter Fränzel aus dessen letztem Lebensort in Glüsingen (bei Lüneburg) übernommen werden. Walter Fränzel war eine der zentralen Figuren der vielfältigen Alternativbewegungen der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts. Im personellen und institutionellen Schnittfeld zwischen Jugendbewegung, Reformpädagogik, Lebensreform und Freikörperkultur bündelten sich in ihm wesentliche Strömungen, Gruppen, Projekte, Orte, Handlungsfelder und Ideen. Bereits in seiner Jugendzeit in Dresden kam er mit Naturheilkunde und Freikörperkultur in Berührung, 1908 gründete er in Jena die Freistudentenschaft neu, war maßgeblicher Mitinitiator des jugendbewegten Sera-Kreises um Eugen Diederichs, nahm 1913 am Hohen Meißner Fest teil, wurde 1919 Geschäftsführer der neu gegründeten Thüringer Volkshochschule und 1920 Leiter des Ernst Abbe-Jugendheim, arbeitete von 1924 bis 1926 im Landerziehungsheim Bergschule Hochwaldhausen und von 1927 bis 1932 als Lehrer an der Berliner Aufbauschule von Fritz Karsen. Gleichzeitig leitete er ab 1927 die von ihm 1926 gegründete eigene Schule, das Lichtschulheim Lüneburger Land in Glüsingen, die einzige staatlich anerkannte Schule auf Freikörperkulturgrundlage in der Weimarer Republik, die er nach Schließung des Schulbetriebs 1933 zusammen mit seiner Frau Elise bis 1963 als Pension und vegetarisches Ferienheim weiterführte. Daneben schrieb Walter Fränzel, ein promovierter Germanist, unzählige Artikel und Bücher zu verschiedensten Thematiken (nicht nur) der Alternativkultur und gab etliche Zeitschriften der Bewegung (z. B. Soma) heraus. Der nahezu vollständig erhaltene Nachlass von Walter Fränzel dokumentiert diese Stationen und Positionen. Im Juli übergab Prof. Ulrich Linse (München) weitere Teile seiner Materialsammlungen zu Alternativsiedlungen, insbesondere zum »Vogelhof« bei Erbstetten, 1920 unter dem Namen »Siedlung Hellauf« von Friedrich Schöll gegründet, an das AdJb. Der Vogelhof bei Erbstetten (1921 gegründet) und die Hellauf-Schule (1925 gegründet) waren eine völkische Siedlungskommune bzw.

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Susanne Rappe-Weber

ein Landschulheim bei Hayingen im Süden der Schwäbischen Alb, die von 1921 bis 1938 existierten. Landwirtschaft, Gärtnerei und Obstanbau sicherten die Selbstversorgung ab. Gemäß lebensreformerischem Programm trugen die Siedler Reformkleidung und frönten der Freikörperkultur, lebten in Bezug auf Alkohol und Nikotin abstinent und ernährten sich vegetarisch. 1938 erfolgte die Schließung durch die Nationalsozialisten, die Landwirtschaft wurde aber darüber hinaus weiter betrieben. Gründer der Einrichtungen war der völkische Lebensreformer, Lehrer und Herausgeber der Zeitschrift »Hellauf« Friedrich Schöll (1874–1967), der bereits vor 1914 einen Kreis aus Antialkoholikern, Deutsch-Völkischen und Deutsch-Christlichen um sich gesammelt hatte. Er stand in Kontakt mit Karl Strünckmann und Alfred Daniel und verfolgte das Projekt einer »arisch-christlichen Lebensgemeinschaft«. Kriegsversehrte Wandervögel und andere Lebensreformer schlossen sich an. Im März 1921 erfolgte der Ankauf des »Vogelhofes« durch die 1920 gegründete »Hellauf«-Genossenschaft, deren Geschäftsführer Matthäus Schwender war. Daraufhin folgte der Einzug von etwa 35 Siedlern aus dem Umfeld der Jugendbewegung, mit dem Bestreben, in einer naturgemäßen, gesunden und ausdrücklich »deutschen« Lebensweise zu siedeln. Auseinandersetzungen gab es 1924 über die ideale Eheform, was zur Abspaltung von Gruppenmitgliedern führte. Friedrich Schöll gründete nach seiner Pensionierung 1925 das Landerziehungsheim und lud jährlich zur »Arbeitsgemeinschaft für die geistigen Grundlagen der deutschen Zukunft« ein, die den Vogelhof zum Zentrum völkischer Siedlung in der Weimarer Republik machte. 1939 erfolgte die Schließung von Siedlung und Schule durch die NS-Landesregierung in Stuttgart. Nach 1945 gab es diverse Neubesiedlungsversuche, bis 1956 ein Schullandheim seinen Platz in den Räumlichkeiten fand. Diese Zugänge entsprechen der gewünschten Erweiterung des Sammlungsprofils des Archivs in Richtung »Lebensreform«, sind wertvoll, knüpfen an bereits Vorhandenes an, versprechen interessante wissenschaftliche Erträge und schließen inhaltliche Lücken. Zugleich wurden damit die Kapazitäten des Magazins weitgehend ausgeschöpft, sodass perspektivisch nach Erweiterungsflächen Ausschau gehalten werden muss. Des Weiteren bekam die vom Wissenschaftlichen Beirat initiierte Diskussion über eine künftige museale Präsentation innerhalb der Burg zum Thema »Jugendbewegung«, basierend auf den Sammlungen des Archivs, deutlichere Konturen. Zunächst bot ein Vortrag von Dr. Jens-Christian Wagner von der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten Gelegenheit, systematisch nach den musealen Perspektiven im Umgang mit Objekten zu fragen (Bewahrung, Erforschung, Präsentation) und diese mit den bisherigen Erfahrungen im Archiv abzugleichen. Das breite Themenspektrum und die Vielfalt der Objekte machten deutlich, wie lohnend eine Entwicklung in Richtung »Museum« sein könnte. Im

411

Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2018

Gespräch mit weiteren Akteuren der Jugendburg, die das Jubiläum »100 Jahre Jugendburg 2020« im Blick haben, zeichnete sich im Lauf des Jahres ab, dass es für das Archiv mittelfristig sowohl um eine Erweiterung der Magazinflächen als auch neue, größere Ausstellungsflächen gehen sollte, die zur Attraktivität und historischen Lesbarkeit der Jugendburg erheblich beitragen würden.

Archivstatistik 2018 Auskünfte

2013 315

2014 203

2015 284

2016 294

2017 269

2018 289

Benutzer

113

114

131

122

63

103

Benutzertage

228

163

249

281

177

217

Besucher

863

480

1045

1283

1346

933

Besuchergruppen

22

15

16

25

29

17

Seminargruppen

9

8

8

11

11

16

Seminarteilnehmer

137

147

125

210

174

181

Scanaufträge

603

417

627

1088

868

2487

Personal Bei den Stellen der Archivleiterin Dr. S. Rappe-Weber, der Archivarin E. Hack und der B.A./ FAMI B. Richter gab es keine Veränderungen. Anfang August wurde die Bundesfreiwillige Dr. Jennifer Meyer eingestellt, die sich damit – über ihre Dissertation zu einer völkischen Politikerin der Weimarer Republik einschlägig ausgewiesen – durch die Tätigkeit als Bundesfreiwillige auf eine Laufbahn im Archivwesen vorbereitet hat. Mit einem Werkvertrag über 300 Stunden hat Frauke Schneemann M.A. die Verzeichnung des ZAP im vierten Jahr fortgesetzt. Als Werkaufträge, bezahlt aus Drittmitteln, bearbeiteten Sandra Funck und Elisabeth Hensgen den Aktenbestand »Stiftung Demokratische Jugend«.

Ehrenamt, Praktikum, Werkvertrag – Ehrenamtlich: Johan P. Moyzes und Lutz Kettenring (Pfadfindergeschichte), Michael Kubacki und Felix Linzner (Workshop Jugendbewegungsforschung)

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Susanne Rappe-Weber

– Werkvertrag Frauke Schneemann, Göttingen: Erschließung von Pfadfinderunterlagen der Sammlung ZAP (01. 01.–30. 06.) – Werkvertrag Sandra Funck, Göttingen: Erschließung des Aktenbestandes »Stiftung Demokratische Jugend« (01. 01.–31. 12.) – Werkvertrag Elisabeth Hensgen, Witzenhausen: Technische Aufbereitung des Aktenbestandes »Stiftung Demokratische Jugend« (01. 01.–31. 12.) – Werkvertrag Michael Kubacki, Marburg: Redaktion des Archivjahrbuchs (01. 06.–30. 09.) – Werkverträge Bianca Kranz und Anne Hildebrand, Witzenhausen: Vorbereitungen für das Projekt zur Bestandserhaltung der Zeitschriften vor 1945 (23. 10.–31. 12.) – Praktikum Anne Schmidt, Hessisch Lichtenau: Erschließung kleinerer Nachlässe (19. 02.–16. 03.) – Praktikum Johanna Küsters, Marburg: Erschließung kleinerer Nachlässe (09.–27. 07.) – Praktikum Hannah Behling, Gießen: Erschließung der Materialsammlung »Vogelhof« (06. 08.–28. 09.) – Praktikum Laura Maria Bulczak, Göttingen: Erschließung des Nachlasses von Erich Bitterhoff (17. 09.–12. 10.)

Erschließung E. Hack hat nach den Übernahmen des Nachlasses Fränzel und der Materialsammlung »Vogelhof« jeweils eine sofortige Erst-Erschließung vorgenommen um die Auffindbarkeit der Bestände zu gewährleisten. Außerdem hat sie weiter an der Überarbeitung der Fidus-Erschließung gearbeitet, womit anlässlich des Jubiläumsjahres willkommene Detailinformationen ausgewiesen wurden. Abgeschlossen wurden die Arbeiten an den Künstlernachlässen Karl Wilhelm Diefenbach und Luise Danker. B. Richter hat die Rückstände in der Buch- und Zeitschriftenkatalogisierung aufgearbeitet. Darüber hinaus übernahm sie die Verzeichnung kleinerer Bestände. Nebenberuflich bearbeitet sie seit September 2018 die Überlieferung des Freideutschen Kreises (A 200). Fortgesetzt wurde die Erschließung des Zentralarchivs der Pfadfinderbewegung (ZAP) durch Frauke Schneemann M. A. (A 233, Stand Ende 2018: 1.853 VZE). Fortlaufend erschloss Sandra Funck den Bestand »Stiftung Demokratische Jugend« (A 263, Stand Ende 2018: 1.300 VZE). Ab Mitte Mai war der Online-Bibliothekskatalog (OPAC) des Archivs »produktiv« geschaltet – ein Meilenstein, der über verschiedene Medien öffentlich gemacht wurde. Anfragen anderer Bibliotheken signalisieren klar, dass mit dem

Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2018

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OPAC Raritäten der Spezialbibliothek über den Bibliotheksverbund deutlich besser als zuvor gefunden werden. Aber auch als internes Arbeitsinstrument stellt das System eine erhebliche Verbesserung dar, lassen sich Titelaufnahmen doch über die Verbunddaten sehr viel effektiver einbinden. Gleichzeitig bereichert das AdJb mit seinen Spezialgebieten und einschlägigen Titeln das Angebot des Hessischen Bibliotheksverbundes insgesamt.

Zugänge Den bedeutendsten Zugang stellte der Nachlass von Walter Fränzel in einem Umfang von 192 Archivkartons dar (N 230), der kurz vor dem Tod des Sohnes Jörg Fränzel aus dem ehemaligen Wohnhaus des Nachlassers abgeholt wurde. Die wertvollen Unterlagen sind nur oberflächlich geordnet und müssen daher in mehreren Stufen archivfachlich erschlossen werden. Ebenfalls aus dem Bereich der Lebensreform stammt die Materialsammlung von Ulrich Linse, die im Sommer aus München in das Archiv geholt wurde, und in einem Umfang von 6 lfm Manuskripte, Akten, Veröffentlichungen sowie zwei Fensterläden aus dem ehemaligen »Vogelhof« beinhaltet. Weitere kleinere Zugänge, von insgesamt 27: Nachlass Wolfram Becker genannt Pitt, Ortsgruppe Erlangen der Finkensteiner Singgemeinde, Nerother Wandervogel, Nachlass Erich Meier, Hamburg, Nachlass Gisela Reiners durch Dietlind Brehme, Nachlass Gero von Schönfeldt, Ergänzungen zum Vorlass Hansdieter Wittke, Aktenbestand Evangelische Jungmännerbünde, Nachlass Gero von Schönfeldt, Ergänzungen zum Vorlass Hansdieter Wittke, Nachlass Margot und Dieter Kramer, Veröffentlichungen aus dem Nachlass von Detlef Lecke.

Ausstellung Zum Tag des Offenen Archivs am 03. 03. 2019 wurde eine Ausstellung über die »Stiftung Demokratische Jugend« erarbeitet und gezeigt (eine Vitrine). Bis zum 30. 09. 2018 war die Dauerausstellung unter dem Titel »Jugend – bewegt und …« vollständig zu sehen. Zur Tagung wurde die Sonderausstellung »Forschen zur Lebensreform. Quellen im Archiv der deutschen Jugendbewegung« eröffnet. Eine Medienstation, fünf Vitrinen sowie acht Quellenplakate veranschaulichen eine große Bandbreite an Forschungsmöglichkeiten. Neben Beständen zu lebensreformerischen Siedlungsprojekten, thematisch orientierten Sammlungen, Fotografien, Objekten wie Kleidung und Kunstwerken sind hier vor allem einige umfang-

414

Susanne Rappe-Weber

reiche Nachlässe zu nennen, die wertvolle Quellen zur Erforschung der Lebensreform enthalten: Nachlass Hugo Höppener, genannt Fidus (AdJb, N 38), Nachlass Karl Wilhelm Diefenbach (AdJb, N 151), Nachlass Gertrud Prellwitz (AdJb, N 27), Vorlass Ulrich Linse (AdJb, N 139), Nachlass Walter Fränzel (AdJb, N 230), Aktenbestand der Siedlung »Vogelhof« bei Erbstetten (AdJb, A 221), Bilderbestand Julius Groß (AdJb, F 1).

Beteiligung an fremden Ausstellungen – Mahlzeit. Geschichte(n) vom Essen in Hessen (Ausstellung des Hessischen Landesarchivs 2018–2020) – Wanderland. Eine Reise durch die Geschichte des Wanderns (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, 29. 11. 2018–28. 04. 2019) – Macht der Mode. Zwischen Kaiserreich, Krieg und Republik (LVR-Industriemuseum, Oberhausen, 01. 05.–28. 10. 2018) – Mythos Neue Frau (LVR-Industriemuseum, Oberhausen, ab Dezember 2018) – »Uns gehört die Stadt!« Kids, Kunst und Krawall in Aachen (Neues Stadtmuseum Aachen, 09. 06.–30. 09. 2018) – Vertrauensfragen. Der Anfang der Demokratie im Südwesten 1918–1924 (Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart, 30. 09. 2018–11. 08. 2019) – »Like you! Freundschaft analog und digital« (Museum für Kommunikation, Frankfurt, 25. 10. 2018 – August 2020) – Sachsen und Böhmen. Liebe, Leid und Luftschlösser (Staatliches Museum für Archäologie, Chemnitz, 27. 09. 2018–15. 04. 2019) – 1918 – Zwischen Niedergang und Neubeginn (Hessisches Landesmuseum, Kassel, 10. 11. 2018–28. 04. 2019)

Archivführungen, Seminare, Präsentationen Zahlreiche Treffen von Ehemaligengruppen der Jugendbewegung, Älteren- und Klassentreffen sowie im Einzelnen: Bündischer Kreis, 28 Pers. (20. 01.), Pfadfinderbund Mosaik, 25 Pers. (03. 03.), Beräuner-Treffen, 135 Pers. (17. 03.), Ehem. Bündische Hochschulgruppe »Asgarb«, 25 Pers. (30. 04.), Besuchergruppe Metz, 20 Pers. (17. 05.), Hessischer Landtag, 8 Pers. (18. 05.), Besuchergruppe Braun, 11 Pers. (24. 05.), Drei-Ecken-Kreis, 25 Pers. (23. 06.), Exkursion der Archivschule Marburg, 40 Pers. (27. 06.), Bundesamt für Familie und zivilges. Aufgaben, 5 Pers. (29. 08.), Deutsche Reformjugend, 10 Pers. (04. 09.), Hessischer Naturfreunde-Verband, 5 Pers. (08. 09.), Bundesfreiwillige der Jugendburg, 6

Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2018

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Pers. (21. 09.), Bündisches Frauenforum, 25 Pers. (22. 09.), Wandergruppe Conrad, 4 Pers. (13. 10.) Archivseminar der Universität Göttingen, Institut für Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie mit 25 Teilnehmenden (Prof. Moritz Ege, 18. 01.); Archivseminar der Universität Kassel, Historisches Seminar mit 10 Teilnehmenden (Stefanie Wilke, 01. 02.); Archivseminar der Universität Kiel, Institut für Europäische Ethnologie/ Volkskunde mit 25 Teilnehmenden (Sven Reiß, 27.–28. 02.), Schulung des RJB-Hessen mit 25 Teilnehmenden (Stephan Sommerfeld, 09. 05.), Blockseminar der Universität Gießen, Historisches Institut mit 6 Teilnehmenden (Maria Daldrup, 25.–27. 06.), Archivseminar der Universität Hannover, Institut für Landschaftsarchitektur mit 10 Teilnehmenden (Prof. Dr. Wolschke-Bulmahn, 16. 07.), Archivseminar der Hertie-Stiftung mit 15 Pers. (29. 08.), Archivseminar des BdP-Stammes »Graue Drachen« aus Karben mit 25 Pers. (04. 10.), Archivseminar der Universität Würzburg, Lehrstuhl für Europäische Ethnologie / Volkskunde mit 10 Pers. (Felix Linzner, 10. 11., 08. 12.), Archivseminar der Universität Kassel, Fachbereich Agrarwissenschaften mit 20 Pers. (Prof. Dr. Werner Troßbach, 27. 11.)

Tagungen – Vortrag und Gespräch »Musealisierung – eine Perspektive für die Jugendburg Ludwigstein?« (03. 03., 20 Teiln.) – Tag des offenen Archivs: Demokratie und Bürgerrechte mit eigener Ausstellung zum Bestand »Stiftung Demokratische Jugend« (03. 03., 25 Bes.) – Workshop Jugendbewegungsforschung (20.–22. 04., 21 Teiln., Gastvortrag von Prof. Dr. Ulrike Pilarczyk, Braunschweig) – Tag des offenen Denkmals und Handwerkermarkt (09. 09., 30 Bes.) – Archivtagung »Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert« (Prof. Dr. Detlef Siegfried, Dr. David Templin, 19.–21. 10. 2018, 80 Bes.)

Veröffentlichungen und Vorträge Eckart Conze, Susanne Rappe-Weber (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung. Historisierung und Selbsthistorisierung nach 1945 (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 14j2018), Göttingen: V& R unipress 2018, 316 S.

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Susanne Rappe-Weber

Susanne Rappe-Weber – Einleitung der Herausgeber, zus. mit Eckart Conze, in: Die deutsche Jugendbewegung. Historisierung und Selbsthistorisierung nach 1945 (wie oben), S. 9–13 – »Bündische Jugend«, in: Historisches Lexikon Bayerns, in: Historisches Lexikon Bayerns URL: (22. 08. 2018) – Hans Breuer (1883–1918) – Stationen des Gedenkens zwischen Zupfgeigenhansl und völkischem Denken, in: Musik in Baden-Württemberg. Jahrbuch 2017/18, Bd. 24 – Jubiläumsband, Stuttgart 2018, S. 227–235 – »Hoch das Wandern!«. Neue Gemeinschaftsformen im Wandervogel, in: Wanderland. Eine Reise durch die Geschichte des Wanderns (Ausstellungskatalog), hg. von Claudia Selheim, Mathias Kammel und Thomas Brehm, Nürnberg 2018, S. 134–142 – Objektbeschreibungen: »Zeitschrift ›Der Wanderer – Monatsschrift für Jugendsinn und Wanderlust‹«, »Fahne des Wandervogel e.V. Lübeck«, »Album des Steglitzer Wandervogel e.V. mit Fotografie ›Bettenlager‹«, in: Wanderland (wie oben), S. 326–327 – Tagungsbericht: »1968« – Gesellschaftliche Nachwirkungen auf dem Lande, 22.–23. 02. 2018 Stadthagen, in: H-Soz-Kult, 13. 07. 2018, in: www.hsozkult.de/ conferencereport/id/tagungsberichte-7790> – Hans Breuer (1883–1918) – Stationen des Gedenkens, in: Ludwigsteiner Blätter Nr. 279, S. 31–36 – Musealisierung – eine Perspektive für die Jugendburg Ludwigstein. Vortragsund Diskussionsabend am 2. März 2018, in: Ludwigsteiner Blätter Nr. 277, S. 26–29 – Vortrag: Zur Biografie von Katharina »Erda« Hertwig (1878–1953). Vortrag bei der Pfadfinder-Fachtagung in Mülheim / Ruhr (14.04.) – Vortrag: Woodcraft, the International Union of Socialist Youth and New Scouting in Germany after the First World War ; Vortrag auf der Konferenz »Education for Social Change. The Many Histories of Woodcraft Folk« an der Universität London (15.09.) Susanne Rappe-Weber und Elke Hack – Vortrag : »Fidus, wollen Sie mir Bruder, Führer sein?« – Stationen der FidusRezeption in der Jugendbewegung – Vortrag in der Veranstaltungsreihe des Bezirksamtes Steglitz-Zehlendorf von Berlin (06. 11.)

Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2018 und Nachträge

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Archäologisches Freilichtmuseum Oerlinghausen (Hg.): Nazis im Wolfspelz. Germanen und der rechte Rand, Wuppertal: de Noantri 2016 Meike Sophia Baader, Christian Jansen, Julia König, Christin Sager (Hg.): Tabubruch und Entgrenzung. Kindheit und Sexualität nach 1968, Köln: Böhlau 2017 Frank Becker, Ralf Schäfer (Hg.): Sport und Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen: Wallstein 2016 Stefan Bollmann: Monte Verit/ 1900. Der Traum vom alternativen Leben beginnt, München: Deutsche Verlagsanstalt 2017 Horst-Pierre Bothien, Matthias von Hellfeld, Stefan Peil, Jürgen Reulecke: Ein Leben gegen den Strom. Michael Mike Jovy – Widerstandkämpfer, Jungenschafter, Diplomat, Berlin: LIT 2017 Gideon Botsch: Die »Hakenkreuzschmierwelle« 1960 und das Verbot des Bundes Nationaler Studenten, Berlin: Metropol 2017 Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Jugendbewegung, Stuttgart: J.B. Metzler 2018 Vera Brittain: Vermächtnis einer Jugend, Berlin: Matthes & Seitz 2018 Hans-Peter Drögemüller, Fritz Schmidt, Peter Milde: Griechische Leiden – griechische Impressionen, Baunach: Spurbuchverlag 2018 Franziska Dunkel, Christopher Dowe, Caroline Gritschke (Hg.): Vertrauensfragen – Der Anfang der Demokratie im Südwesten (1918–1924) (Ausstellungskatalog), Stuttgart: Haus der Geschichte Baden-Württemberg 2018 Mischa Honeck: Our Frontier is the World. The Boy Scouts in the age of American ascendancy, Ithaca: Cornell University Press 2018 Elija Horn: Indien als Erzieher. Orientalismus in der deutschen Reformpädagogik und Jugendbewegung 1918–1933, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2018 Helmut König: Helms Lieder. Die Lieder von Helm König, Baunach: Spurbuchverlag 2018

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Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2018 und Nachträge

14. Wilhelm Kreutz, Karen Strobel: Der Kommandant und die Bibelforscherin. Rudolf Höss und Sophie Stippel – zwei Wege nach Auschwitz, Mannheim: Freundeskreis Marchivum 2018 15. Myriam Kroll, Holger Hermansen (Hg.): Uns gehört die Stadt. Kids, Kunst und Krawall in Aachen (Ausstellungskatalog), Aachen: Neues Stadtmuseum / Centre Charlemagne 2018 16. Peter Lampasiak: Erinnerungen aus einem Leben im 20. und 21. Jahrhundert, Baunach: Spurbuchverlag 2018 17. Mario Martone, Ippolita Di Majo: Capri-Revolution, Milano: La nave di Teseo 2018 18. Peter Michalzik: 1900. Vegetarier, Künstler und Visionäre suchen nach dem neuen Paradies, Köln: Dumont 2018 19. Sven Oliver Müller : Kommunikation im Musikleben. Harmonien und Dissonanzen im 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018 20. Florian Noetzel: Lieder & Songs to go. Mit Noten, Akkorden und Grifftabellen, München: Bassermann 2018 21. Angela Reinthal (Hg.): Maria Blei – Tagebuch für Tochter Billy. »Deine Liebe ist wild wie der Sturzbach«, Wien: Böhlau 2018 22. Detlef Siegfried: 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen: Reclam 2018 23. Maik Tändler : Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren, Göttingen: Wallstein 2016 24. Sebastian Zilles: Die Schulen der Männlichkeit. Männerbünde in Wissenschaft und Literatur um 1900, Köln: Böhlau 2018 25. Robert M. Zoske: Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose. Eine Biografie, München: Beck 2018

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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22.

Evelyne Adenauer, Frechen: Hermann Hoffmann und Quickborn Alexander Afanaskin, Moskau (Russland): Die Studie von Erich Fromm unter modernen Bedingungen Jorias Bach, Sontra: Zeitschriften der Jugendbewegung Ulf Bahr, Barsinghausen: Jubiläum der Pfadfinder-Bildungsstätte Fallingbostel Lea Ball, Kassel: Jüdische Jugendbewegung Arne Bartram, Gießen: Flucht und Vertreibung als Thema der Neuen Ostpolitik im Hessischen Rundfunk Eva Baur, München: Hans Paasche Susanne Bauerfeind, Hagen: Alma de l’Aigle Tim Beutler, Jena: Rechtsintellektuelle und Völkische in Thüringen, 1919– 1933 Sven Bindczeck, München: Geschichte der Burg Ludwigstein Johannes Bosch, Eppelheim: Lebensreformbewegung vor und nach dem Ersten Weltkrieg Alexander Brauer, Singen: Feldwandervogel Christopher Büdeker, Hameln: Die Deutsche Arbeiterbewegung Sungyoun Chung, Halle: Tanz und Gymnastik in der Zwischenkriegszeit Marcus Coesfeld, Bielefeld: Kampfsport im Deutschen Reich Maria Daldrup, Dortmund: Jugendkulturen Simone De Santiago Ramos, Denton (USA): Die 1920er Jahre in der Weimarer Republik Annika Dörner, Göttingen: Koloniale Jugendgruppen Moritz Ege, Göttingen: Swing-Begeisterung und familiärer jugendlicher Alltag im Nationalsozialismus am Beispiel Berlins Vivian Fenske, Bremen: Die Entwicklung rechter Jugendbewegungen Michael Fremerey, Oberursel: Deutsche Jugendbewegung 1920–1940 Marcel Glaser, Felsberg: Peter Koller – Architekt der Stadt des KdF-Wagens

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23. Anne Göpel, Berlin: Konservativ-wissenschaftliche Jugendbewegung? Britische und deutsche Jugendbünde zwischen den Kriegen 24. Karl Traugott Goldbach, Kassel: Jugendmusikbewegung 25. Magali Gottsmann, Göttingen: Selbstdarstellung der Jugendbewegung bis 1933 26. Ewald Grothe, Gummersbach: Zur Biographie des Juristen Ernst Rudolf Huber (1903–1990) 27. Robin Haukamp, Paderborn: Der Einfluss der 68er-Bewegung auf das Deutsche Jugendherbergswerk 28. Julia Hauser, Berlin: Verflechtungsgeschichte des Vegetarismus, 1850–1960 29. Joachim Hene, Eisenach: Jochen Hene in der Wandervogelbewegung und als Schriftleiter von Der Eisbrecher 30. Anne Hildebrand, Göttingen: Jugendbewegungen im Nationalsozialismus 31. Gregor Höppner, Berlin: Der Junabu und Mädchen im Wandervogel 32. Annina Hofferberth, Gießen: Zeitgenössische Rezeption von NS-Inszenierungen 33. Razak Khan, Berlin: Wilhelm Schwaner, Alfred Ehrentreich und Indien 34. Günther Klein, Wiesbaden: Dokumentation zu Hugo »Fidus« Höppener 35. Christa Kleindienst-Cachay, Bielefeld: Ausdruckstanz 36. Stephanie Knauer, Marl: Selbstdarstellung von Reformpädagogen. Eine exemplarische Studie zu Fotografien von Gustav Wyneken 37. Hendrik Knop, Neudietendorf: Jugendbewegung und Sozialpädagogik 38. Helmut Koch, Homberg: Der Erste Weltkrieg und die Kirche am Beispiel der Zeitung »Heimatgrüße aus dem Homberge« 39. Anna Koelle, Düsseldorf: Rolf Gardiner 40. Frank König, Marburg: Jugendbewegte Siedlungen am Edersee 41. Michael Kubacki, Marburg: »Deutsche Jugendbewegung« im Rundfunk 42. Jörg Hannes Kuhn, Bad Münstereifel: Zum bündischen Leben des Ernst Reden 43. Wolfgang Laschka, Groß-Umstadt: Vereinsgeschichte des BDP Groß-Umstadt 44. Sacha Lehn, Göttingen: Swing-Jugend, 1930–1960 45. Felix Linzner, Würzburg: Ausstellung »(Jugendbewegte) Reform-Siedlungen« 46. Heike Meuser, Nieder-Olm: Rheinhessische Bauernhochschule 1926 und ihre Verbindung zur Artamanenbewegung 47. Kristian Meyer, Hamburg: Jugendbewegung seit den 1970er Jahren 48. Lothar Molin, Arnsberg: 100 Jahre Verbandsgründung des Deutschen Jugendherbergswerkes, 1919–2019 49. Bodo Mrozek, Potsdam: Langhaarigkeit in Lebensreform um 1900 und Alternativem Milieu um 1980

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50. Yorck-Philipp Müller-Dieckert, Northeim: Die Grüne Aktion Zukunft 51. Nicole Nunkesser, Dortmund: Jugendkulturelle Selbstinszenierung in den 1950er Jahren im Ruhrgebiet 52. Manfred Reddig, Göttingen: Pfadfindergeschichte 53. Sven Reiß, Fahrenkrug: Päderastie in der deutschen Jugendbewegung. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung 54. Simon Richter, Wyndmoor (USA): Der Nachlass von Wilhelm Kotzde-Kottenrodt 55. Martin Saintemarie, Valdivienne (Frankreich): Völkische Jugend und Landarbeit. Die Artamanen (1924–1935) 56. Lutz Sauerteig, Darlington (Großbritannien): History of Sex Education (1880s–1970s) 57. Kirsten Schönewolff, Hattingen: Gertrud Ruhfus in der bündischen Jugend 58. Viktor Schopp, Wiesbaden: NS-Ideologie im Sportunterricht 59. Carola Schormann, Lüneburg: Heinrich Spitta. Werk und Wirkung 60. Tillmann Severin, Berlin: Romanprojekt Bünde und Jungenschaft in Berlin 1929/34 61. Miriam Spring, Sankt Augustin: Musik der Jugendbewegung 62. David Thoma, Freigericht: Alfred Schmidts Habilitation an der GoetheUniversität, 1968–1973 63. Ida Maria Vollmar, Freiburg: Artammädel 1924–1945 64. Markus Wegner, Berlin: Aufbruch im Untergang? Die Reaktion der jüdischen Jugendbewegung im Wendejahr 1933/34 65. Karlheinz Weißmann, Göttingen: Handbuch der politischen Symbolik 66. Brianne Wesolowski, Nashville (USA): Lebensreform, Bewegungsstudien und Transatlantischer Austausch 67. Stefanie Wilke, Kassel: Biografie Enno Narten 68. Hartmut Zippel, Hamburg: Rudolf Ibels Wandervogeltätigkeit

Anhang

Autorinnen und Autoren

Jörg Albrecht, Dr. des. phil., Religionswissenschaftler, Associate Member der Kolleg-Forschergruppe »Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernities« (Universität Leipzig); Forschungen zu Alternativer Ernährung und religiöser Gegenwartskultur ; Veröffentlichungen u. a. zur Fachgeschichte und Theorie der Religionswissenschaft, zur Religionssoziologie der DurkheimSchule sowie zu Nonkonformismus und Alternativer Ernährung Günter C. Behrmann, Prof. Dr. em., Professor für Didaktik der politischen Bildung, 1975–1993 Universität Osnabrück/ Abt. Vechta, 1993–2009 Universität Potsdam; Veröffentlichungen zur politischen Sozialisation, politischen und historischen Bildung, politischen Kultur, Wissenschafts- und Bildungsgeschichte Bernadett Bigalke, Dr. phil., Religionswissenschaftlerin; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leipzig; Forschungsschwerpunkte: Religion und Medizin, Westliche Esoterik und Neue Religiöse Bewegungen im 19. und 20. Jh. Karl Braun, Prof. Dr., seit 2002 Professor am Institut für Europäische Ethnologie/ Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg; Forschungsschwerpunkte im Rahmen von Kulturtheorie, europäischer Kulturgeschichte und Kulturanthropologie: Sexualitätsgeschichte, Jugendbewegung, spanische Kulturanthropologie, deutsch-tschechische Beziehungen, Genozid am europäischen Judentum (Fokus Theresienstadt) Wolfgang Braungart, Prof. Dr., Professor für Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Näheres: http:// www.uni-bielefeld.de/lili/personen/braungart/

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Autorinnen und Autoren

Rosa Eidelpes, Dr. phil., Religionswissenschaftlerin; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leipzig; Veröffentlichungen zu europäischer Literatur- und Kulturgeschichte und Ästhetik Gudrun Fiedler, Dr. phil., Studium der Geschichte und Germanistik, Archivdirektorin, seit 2006 Leiterin des NLA-Staatsarchivs Stade; Arbeitsgebiete: Geschichte Niedersachsens (nach 1945), Niedersächsische Wirtschaftsgeschichte, Geschichte der Jugendbewegung Saskia Fischer, Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin; seit 2018 wissenschaftliche Koordinatorin am Zentrum für interdisziplinäre Forschung, Universität Bielefeld; Arbeitsschwerpunkte: Literatur des 20. Jahrhunderts, Literatur über die Shoah, Lagerliteratur, Literatur nach 1945, Drama, Theater und Ritual Sandra Funck, M.A./ M.Ed., Geschichte und Klassische Philologie; Doktorandin an der Georg-August-Universität Göttingen am Lehrstuhl für Europäische Kultur- und Zeitgeschichte; Mitarbeiterin im Universitätsarchiv Göttingen Marcel Glaser, M.A., Doktorand und Lehrbeauftragter am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel sowie freier Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte und Städtpräsentation (IZS) der Stadt Wolfsburg; Veröffentlichungen zur Geschichte der Stadt Wolfsburg, zur NS-Gesellschaftsund Stadtplanungsgeschichte Joachim Häberlen, Ph.D., Assistant Professor of Modern Continental European History an der University of Warwick; Veröffentlichungen zur Geschichte der Alternativen Linken Antje Harms, Historikerin und Wissenschaftliche Koordinatorin im Sonderforschungsbereich 1015 »Muße« der Universität Freiburg; Dissertation: »Generation – Geschlecht – Gemeinschaft. Linke und rechte Jugendbewegte zwischen Wilhelminischem Kaiserreich und Weimarer Republik«; Veröffentlichungen zu Antisemitismus, Feminismus, Kriegserfahrungen und Geschlechterverhältnissen in der bürgerlichen Jugendbewegung Elija Horn, Dr. phil., Erziehungswissenschaftler und Indologe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft der Technischen Universität Braunschweig; Forschungen im Bereich der Historischen Bildungsforschung (Reformpädagogik, Jugendbewegung, Orientalismus, Transnationale Geschichte) sowie zu Sexualpädagogik und Genderstudies

Autorinnen und Autoren

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Ewgeniy Kasakow, Dr. phil., Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Comparative History and Political Studies (CCHPS) an der Universität Perm (Russland); Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Opposition in der Sowjetunion, Geschichte der Jugendsubkulturen in der Sowjetunion, Das lange 1968 im Osten und Westen Viola Kohlberger, Promovendin bei Prof. Dr. Franz Xaver Bischof, wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München Ulrich Linse, Prof. Dr., 1992–2004 Professor für Neuere Geschichte/ Zeitgeschichte an der Hochschule München, vorher Gymnasiallehrer im Zweiten Bildungsweg; Forschungen und Veröffentlichungen besonders zur Geschichte der »alternativen« sozialen Bewegungen vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Eva Locher, M.A., Historikerin; 2014–2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin im SNF-Forschungsprojekt »Die Lebensreformbewegung in der Schweiz im 20. Jahrhundert« und Lehrbeauftragte am Studienbereich Zeitgeschichte der Universität Freiburg (CH); Forschungsschwerpunkte: Lebensreformbewegung, Alternatives Milieu und Umweltbewegung; verschiedene Tätigkeiten im Bereich der Wissensvermittlung Gunter Mahlerwein, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Kultur- und Mediengeschichte der Universität des Saarlandes, vorher langjährige Tätigkeit als selbstständiger Musiklehrer und Historiker ; zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte ländlicher Gesellschaften, Stadt-, Dorf- und Regionalgeschichte von der Frühneuzeit bis zur Gegenwart, Jugendkultur- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts Bodo Mrozek, Dr. phil., Historiker, derzeit Fellow am Berliner Kolleg Kalter Krieg des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ), zuvor Vertretung des Lehrstuhls für Theorie und Geschichte der Populären Musik an der HumboldtUniversität zu Berlin sowie Mitarbeiter u. a. am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF); Veröffentlichungen zur Jugend- und Popgeschichte, zuletzt »Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte« (Berlin: Suhrkamp 2019) Susanne Rappe-Weber, Dr. phil., Studium der Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaften, 1993–1997 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Potsdam, seit 2002 Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung; Arbeitsschwerpunkte: Archiv- und Historische

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Autorinnen und Autoren

Bildungsarbeit, Historische Jugendforschung, hessische Regional- und Agrargeschichte Jürgen Reulecke, Prof. Dr., 1984–2003 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen, danach bis Ende 2008 Professor für Zeitgeschichte und Sprecher des Sonderforschungsbereichs Erinnerungskulturen an der Universität Gießen; Forschungsschwerpunkte: Geschichte von Sozialreform, sozialen Bewegungen und Sozialpolitik im 19. und 20. Jahrhundert; Geschichte der Urbanisierung; Geschichte von Jugend und Jugendbewegungen sowie Generationengeschichte im Kontext einer allgemeinen Erfahrungsgeschichte Sven Reichardt, Prof. Dr., Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Konstanz; Veröffentlichungen zum Faschismus, zu sozialen Bewegungen und soziokulturellen Milieus, zu Terrorismus, Bürgerkrieg und Krieg und zu Theorien und Methoden in der Geschichtswissenschaft Lutz Sauerteig, Dr. phil., Kulturhistoriker, Senior Lecturer in Medical Humanities, Newcastle University ; Veröffentlichungen zur Geschichte von Gender und Sexualität, zur Sexualerziehung in Deutschland im 19. und 20. Jh., zur Gesundheitspolitik und zur Geschichte der Geschlechtskrankheiten Frauke Schneemann, M. A., Historikerin; Studium der Geschichte und Politikwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen; Dissertationsprojekt zur Pfadfindergeschichte nach 1945 Kay Schweigmann-Greve, Dr. phil., Jurist, Justiziar einer niedersächsischen Kommune und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Hannover, Rechtswissenschaftliche Fakultät; Veröffentlichungen zu Chaim Zhitlowsky und Kurt Löwenstein, Aufsätze zur Jugendbewegung, Arbeiterbewegung und Judentum, Übersetzungen aus dem Jiddischen Detlef Siegfried, Prof. Dr., Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Universität Kopenhagen; Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Bundesrepublik und Europas nach 1945, Geschichte der Massenkultur, linksradikale Bewegungen im 20. Jahrhundert David Templin, Dr. phil., Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück; Veröffentlichungen zu sozialen Bewegungen und Jugendkulturen, Stadt- und Migrationsgeschichte und öffentlichen Unternehmen im National-

Autorinnen und Autoren

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sozialismus, aktuell Bearbeitung eines Forschungsprojektes zu »Einwanderungsvierteln« im 20. Jahrhundert Hans-Ulrich Thamer, Prof. Dr., Studium der Fächer Geschichte, Klassische Philologie und Politikwissenschaft, em. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster ; Forschungsschwerpunkte: Französische Revolution, Geschichte des Nationalsozialismus und des europäischen Faschismus, Politische Rituale und symbolische Kommunikation in der Moderne, Kulturgeschichte von Museen und Ausstellungen Nadine Zberg, M.A., Dissertation im Doktoratsprogramm »Geschichte des Wissens« am »Zentrum Geschichte des Wissens« in Zürich zur Politisierung des urbanen Raums und der Stadtentwicklung in den 1970er und 1980er Jahren