Familie im 20. Jahrhundert: Konflikte um Ideale, Politiken und Praktiken 9783110651010, 9783110646771

The family was an embattled social institution in the 20th century. Competing notions of society focused on the family.

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German Pages 596 Year 2019

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Versuchte Einhegung gesellschaftlicher Veränderungen: Familienvorstellungen im Kaiserreich
3. Projektionsfläche für Wunschvorstellungen und Realität im Alltag: die Familie in der Weimarer Republik
4. Rassenideologischer Opportunismus: die Familie im Nationalsozialismus
5. Familien als Ankerpunkte in beiden Teilen Deutschlands während der Aufbauphase der 1950er Jahre
6. Familienideale und familiale Praktiken im Zeichen statistischer Indikatoren, 1960–2000
7. Etablierung eines neuen institutionellen Settings in Ost- und Westdeutschland in den 1960er und 1970er Jahren
8. Rekonfiguration der Ideale „Familie“ und „Partnerschaft“ zwischen den 1970er und 1980er Jahren
9. Zusammenfassung: Kontinuität, Konflikt und laute Evolution
Quellen- und Literaturverzeichnis
Ortsregister
Personenregister
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Familie im 20. Jahrhundert: Konflikte um Ideale, Politiken und Praktiken
 9783110651010, 9783110646771

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Familie im 20. Jahrhundert

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Wertewandel im 20. Jahrhundert Band 6 Herausgegeben von Andreas Rödder

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Christopher Neumaier

Familie im 20. Jahrhundert Konflikte um Ideale, Politiken und Praktiken

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ISBN 978-3-11-064677-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-065101-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-064692-4 ISSN 2366-9446 Library of Congress Control Number: 2019944663 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist die gekürzte und überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Mai 2018 von der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam angenommen wurde. Mein Dank gilt zunächst insbesondere Andreas Rödder, der mich im April 2008 an die Johannes Gutenberg-Universität in Mainz geholt hat und mir dort alle Freiheiten zum Forschen ließ. Gerade den kritischen Austausch über wissenschaftliche Zugriffe in einer freundlichen Atmosphäre habe ich dabei sehr zu schätzen gelernt. Im September 2012 wechselte ich ans Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, wo mir Frank Bösch und Martin Sabrow eine neue institutionelle Heimat gaben, der ich mich sehr verbunden fühle. Vor allem Frank Böschs zahlreiche Ratschläge waren während der Recherche und der Schreibphase sehr hilfreich. Ihm wie den beiden weiteren Gutachtern meiner Habilitationsschrift – Christiane Kuller und Manfred Görtemaker – danke ich für ihre Anregungen, die ich gerne aufgenommen habe. Der fortwährende wissenschaftliche Austausch und die Diskussion unterschiedlicher Ansichten zur Frage, wie die Rolle der Familie zu bewerten und wie die Argumente zu gewichten seien, legten die Basis für diese Arbeit. Von den Gesprächen im Rahmen des Mainzer Forschungskolloquiums habe ich sehr profitiert. Dass über die Fachdiskussionen hinaus Freundschaften entstanden, dafür möchte ich mich besonders bei Bernhard Dietz, Anna Kranzdorf, Jörg Neuheiser, Felix Römer und Tobias Seidl bedanken, wegen ihnen werde ich meine Zeit in Mainz immer in schöner Erinnerung behalten. Neue Anregungen bekam ich in Potsdam im Rahmen von Frank Böschs Doktoranden- und Postdoc-Treffen genauso wie im ZZF-Forschungskolloquium und in den Sitzungen der Abteilung „Geschichte des Wirtschaftens“, wofür ich besonders Rüdiger Graf, Ralf Ahrens, Henning Türk, André Steiner und Anne Sudrow danke. Auch hier hätte das Forschen nur halb so viel Freude bereitet, wenn wir uns nicht auch immer wieder außerhalb der Arbeitszeit getroffen hätten, auch um Themen jenseits der aktuellen Forschungsdiskussionen zu besprechen. Auch von den Kommentaren und Anmerkungen zu meinen Präsentationen auf Forschungskolloquien und Tagungen an der HU Berlin, dem DHI London und dem MPI für Wissenschaftsgeschichte, der GSA und dem Historikertag in Mainz sowie den Universitäten Münster, Florenz, Bielefeld, Frankfurt und Kiel habe ich enorm profitiert. Ohne die finanzielle Unterstützung durch die DFG während meiner Zeit in Mainz hätte sich das Projekt nicht realisieren lassen, wofür ich mich sehr bedanke. Gesonderter Dank gebührt den ArchivarInnen im Bundesarchiv (Berlin, Koblenz), im Archiv der sozialen Demokratie, im Archiv für Christlichhttps://doi.org/10.1515/9783110651010-201

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Vorwort

Demokratische Politik, im Archiv für Christlich-Soziale Politik, im Archiv des Liberalismus, im Archiv Grünes Gedächtnis, im Archiv der Deutschen Frauenbewegung, im FFBIZ, im Evangelischen Zentralarchiv, im Archiv des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, im Archiv des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung, im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen und im Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages. Zudem waren bei Recherchearbeiten, Korrekturlesen und Tagungsvorbereitungen Sören Brandes und Florian Manthey eine große Hilfe. Gedankt sei auch Elise Wintz von De Gruyter und dem Lektor Robert Kreusch, deren Anmerkungen hilfreich waren, um dem Buch seine endgültige Form zu geben. Der wissenschaftliche Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand Familie wird zwar nur indirekt vom eigenen familiären Umfeld geprägt. Aber die eigene Familie schafft den Rahmen, der für das Gelingen eines so langwierigen und arbeitsintensiven Projekts unablässig ist, wofür ich mich bei meiner Mutter Ulrike, meinen Schwestern Teresa und Katharina und ihren Ehepartnern Michael und Stefan sowie meiner Tante Christiane bedanken möchte. Rückhalt, Unterstützung und Abwechslung bekam ich zu Hause von meiner Frau Michaela und unserem Sohn Leonard, denen ich dieses Buch widme.

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1.1

Fragestellung und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

1.2

Eingrenzung und Bedeutung des Untersuchungsgegenstandes Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

1.3

Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

1.4

Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

1.5

Quellenbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

1.6

Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

1.7

Aufbau und Eingrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

2. Versuchte Einhegung gesellschaftlicher Veränderungen: Familienvorstellungen im Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Genese „moderner“ Familienformen und Strahlkraft des Ideals der christlich-bürgerlichen Kernfamilie . . . . . . . . . . . . .

41

Dramatisierung, Polarisierung und Biologisierung der Diskurse um die Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

Potenzielle Handlungsspielräume und weitreichende Gedankenspiele . . . . . . . . . . . . . . .

63

Vermeintlich eindeutige Trends und Radikalisierung der Standpunkte während des Ersten Weltkriegs . . . . . . . .

71

Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

3. Projektionsfläche für Wunschvorstellungen und Realität im Alltag: die Familie in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

3.1

Polarisierte Familienideale und multiple Praktiken im Familienalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Demographie im Spannungsfeld konträrer Familienideale, eugenischen Denkens und externer Bedrohungsszenarien . . .

129

3.3

Konträre Perspektiven auf die Ehescheidung . . . . . . . . . .

150

3.4

Öffentliche Diskussion alternativer Ehekonzepte . . . . . . . .

176

3.5

Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195

3.2

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8

Inhaltsverzeichnis

4. Rassenideologischer Opportunismus: die Familie im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1

199

Politische Einflussnahme und versuchte Redefinition der Familienideale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

Rassen- und bevölkerungspolitische Ausrichtung des Familienrechts: das Großdeutsche Ehegesetz 1938 . . . . .

223

Konflikte zwischen gesetzten Idealen und sozialen Praktiken: die Beispiele Ehescheidung und nichteheliche Geburt . . . . .

240

4.4

Schrumpfender Handlungsspielraum im Krieg . . . . . . . . .

251

4.5

Familienleben zwischen Kriegsalltag und Nachkriegszeit . . .

259

4.6

Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

282

5. Familien als Ankerpunkte in beiden Teilen Deutschlands während der Aufbauphase der 1950er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

4.2 4.3

5.1

Abgrenzung, Orientierung und Kontinuität: Familienpolitik und Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

Devianzen vom Ideal der Kernfamilie im „Golden Age of Marriage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

300

5.3

Ambivalente Interpretationen der Geschlechterrollen . . . . .

312

5.4

Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

327

6. Familienideale und familiale Praktiken im Zeichen statistischer Indikatoren, 1960–2000 . . . . . . . . . . . . . . . . .

329

5.2

6.1

Relativierung des Zäsurcharakters der 1960er und 1970er Jahre

329

6.2

Statistiken als Indikatoren für Veränderung . . . . . . . . . .

331

6.3

Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355

7. Etablierung eines neuen institutionellen Settings in Ost- und Westdeutschland in den 1960er und 1970er Jahren . . . . . . . . . .

357

7.1

Der Bruch mit der Rechtstradition des BGB: das Familiengesetzbuch der DDR . . . . . . . . . . . . . . . .

359

Neubestimmung des familienpolitischen Standorts in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

372

7.3

Reform des westdeutschen Ehe- und Familienrechts . . . . . .

379

7.4

Sorgerecht: von der „elterlichen Gewalt“ zur „elterlichen Sorge“ 404

7.2

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Inhaltsverzeichnis

7.5

„Entdeckung“ der Gewalt in der Familie in Westdeutschland .

409

7.6

Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

421

8. Rekonfiguration der Ideale „Familie“ und „Partnerschaft“ zwischen den 1970er und 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . .

423

8.1

Von Ehe und Familie zu familialen Lebensformen . . . . . . .

423

8.2

Konfliktfelder: Berufsarbeit von Müttern und Regelung der Kindererziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

435

8.3

Partnerschaft als Integrationsmodell für Familienbeziehungen

456

8.4

Begrenzte Pluralisierung der Familienformen . . . . . . . . .

488

8.5

Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

505

9. Zusammenfassung: Kontinuität, Konflikt und laute Evolution . . . .

509

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

519

1

Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

519

2 2.1 2.2 2.3 2.4

Gedruckte Quellen und Literaturverzeichnis Quelleneditionen . . . . . . . . . . . . . . . Gedruckte Quellen (anonym) . . . . . . . . Gedruckte Quellen (mit Verfasser) . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

522 522 522 528 550

3

Internetressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

589

Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

591

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

592

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1. Einleitung „Aber es treten schon Anzeichen gewisser Zersetzungserscheinungen hervor, die unsere Familie bedrohen“,1 warnte 1918 der nationalkonservative Bevölkerungswissenschaftler und Präsident des Bayerischen Statistischen Landesamtes Friedrich Zahn. Auch die Sozialdemokratin Sophie Schöfer diskutierte 1922 die vermeintlichen Auflösungstendenzen von Ehe und Familie: „Warum nur leiden so viele Menschen in der Ehe Schiffbruch, warum erfüllen sich die Liebes- und Eheträume der Menschen nicht“,2 fragte sie und spielte auf die wachsende Zahl geschiedener Ehen an. Über die politischen Lager hinweg verhandelten Zeitgenossen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine vermutete Erosion der Familie. Zugleich erinnern die Äußerungen an jüngere Kontroversen um die unsichere Zukunft der Familie. „Was kommt nach der Familie?“,3 fragte die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim im Jahr 2000. Auch sie deutete Auflösungserscheinungen zumindest an, die in den Medien ebenfalls immer wieder diagnostiziert wurden. „Nur noch jeder Zweite lebt in einer Familie“,4 hielt zum Beispiel die Frankfurter Allgemeine Zeitung 2013 in ihrer Online-Ausgabe fest und warnte anschließend vor den sozialen und demographischen Folgen. Die Familie war über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg in allen politischen und gesellschaftlichen Lagern wie auch verschiedenen wissenschaftlichen Fachrichtungen eine vieldiskutierte Sozialformation, da über sie Gesellschaftsvorstellungen als Ganzes verhandelt wurden. Diese bisweilen heftigen Kontroversen, die massiven Konflikte um die Familie resultierten und resultieren noch heute aus deren zentraler gesellschaftlicher Rolle. Die Familie strukturiert als „Basisinstitution“ das soziale Zusammenleben und ihr werden spezifische Funktionen zugeordnet. So soll zum Beispiel die Kindererziehung zumindest in Teilen in der Familie erfolgen.5 Die Familie ist somit für jedes Individuum ein entscheidender Faktor der Biographie und ein zentraler Ort der Sozialisation.6 Die Familie hält für ihre Mitglieder eine Ordnungsfunktion bereit, indem sie einen Orientierungsrahmen liefert und als imaginierter oder realer Schutzraum firmiert. Sie bietet ihren Mitgliedern Stabilität und Sicherheit. Die Familie ist dabei stets eine Projektionsfläche von Sehnsüchten und Hoffnungen. Der Historiker Lutz Niethammer bezeichnet die Familie in diesem 1 2 3 4 5 6

Zahn, Familie und Familienpolitik, 8. Schöfer, Eheproblem, 6. Beck-Gernsheim, Familie. Nur noch jeder Zweite lebt in einer Familie, in: FAZ online. Vgl. Rosa, Beschleunigung, 179; Konietzka/Kreyenfeld, Familie, 257; Huinink/Konietzka, Familiensoziologie, 25. Ähnlich bei Gestrich, Geschichte (2010), 1; Hill/Kopp, Stand, 9. Vgl. Huinink/Konietzka, Familiensoziologie, 11.

https://doi.org/10.1515/9783110651010-001

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1. Einleitung

Zusammenhang als eine „konkrete Utopie“, ein „Phantasieprodukt“, in dem sich „eine Projektion der Wünsche nach Wärme, Selbstverständlichkeit und Hilfe, nach Einfachheit, Fairness und Schutz“ bündelt.7 Die Familienvorstellungen regulieren, wie zukünftig das Zusammenleben bzw. das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gestaltet werden soll. Sowohl als Institution wie auch als individuell ausgestaltetes Beziehungsnetz bietet die Familie Orientierung und Stabilität. Während des 20. Jahrhunderts allerdings divergierten die Ansichten darüber, wie die Familie aussehen sollte und wie sie ebendiese Aufgaben zu erfüllen vermöchte. Aus diesem permanenten Spannungsfeld von Sicherheitsgefühl einerseits und unterschiedlichen normativen Ansichten über die Familie andererseits erklärt sich, warum Politiker, Kirchenvertreter, Wissenschaftler und Medien im 20. Jahrhundert über das „richtige“ Verständnis von Familie stritten. Zudem resultierte die auf individueller Ebene immer wieder geäußerte hohe Wertschätzung für die Familie aus dem mit ihr assoziierten Gefühl von Geborgenheit. Schließlich bot die Familie Schutz vor den Gefahren der Alltagswelt, wenngleich auch hier unterschiedliche Ansichten über das ideale Familienleben aufeinanderprallten. Wie die Familie auszusehen habe, wie die Familienbeziehungen auszugestalten seien und wie sich der soziale Wandel der Familie vollziehen sollte, haben im 20. Jahrhundert Politiker, Kirchenvertreter, Wissenschaftler und Medien, aber auch Familienmitglieder diskutiert. Im Folgenden soll entgegen der Thesen argumentiert werden, die sich an die Deutung des US-amerikanischen Politologen Ronald Inglehart von der stillen Revolution der Werte zwischen Mitte der 1960er Jahre und der zweiten Hälfte der 1970er Jahre anlehnen und auch von Familiensoziologen adaptiert werden8 : Im Hinblick auf die Familienideale, die Familienpolitik und das Familienleben sind sowohl die Beschreibung als stille Revolution wie auch die postulierte historische Einmaligkeit der Wertverschiebung zu hinterfragen. Die Familienpolitik, die Familienideale und die sozialen Praktiken des Familienlebens standen in unterschiedlichen Zeitabschnitten und unterschiedlichen politischen Systemen im Mittelpunkt öffentlich wie privat ausgetragener lautstarker Kontroversen. Die Ideale, Politiken und Praktiken wandelten sich während des gesamten 20. Jahrhunderts in polarisierten Aushandlungsprozessen. Es werden im Folgenden vor allem die besonders heftigen 7

8

Für die Zitate: Niethammer, Privat-Wirtschaft, 48, 54. Zur Rezeption dieser These vgl. u. a. Moeller, Mütter, 62f.; Münch, Familienpolitik (1945–1949), 651; Moeller, Unbenannt und allgegenwärtig, 323. Inglehart, Revolution, 3–18. Ähnlich bei Klages, Wertorientierungen, 9, 20ff. Für eine Zusammenfassung vgl. Hillmann, Wertewandelsforschung; Thome, Wertewandel in Europa; ders., Wandel gesellschaftlicher Wertvorstellungen; Heinemann, Wertewandel; Neumaier/ Gensicke, Wert/Wertewandel. Zur Rezeption des Wertewandels in der Familiensoziologie; vgl. u. a. Nave-Herz, Bedeutungswandel, 211f.; Peuckert, Familienformen (2012), 667–670; Huinink/Konietzka, Familiensoziologie, 108ff.; Burkart, Familiensoziologie, 136.

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1.1 Fragestellung und Ziele

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öffentlichen Konflikte um bzw. in den Familien betrachtet. In zahlreichen Debatten stand nicht der Streit, sondern die Suche nach Kompromissen und Lösungen im Vordergrund. Die Familie als umkämpfte Sozialformation befand sich als Privatraum und als öffentlich regulierte Institution somit stets in einem Spannungsverhältnis. Dabei wurden anhand der Familie Gesellschaftsvorstellungen diskutiert. Es ging um das allgemeine Verständnis der Geschlechterrollen, das Verhältnis der Generationen, die Bedeutung von Hausarbeit und Berufstätigkeit sowie die Vorstellungen zu Partnerschaft und Kindererziehung.9 Damit verknüpft war stets die Frage, welche Familienformen legitimiert oder diskriminiert und vonseiten des Staates gefördert werden sollten.10 Anhand des Untersuchungsgegenstandes Familie möchte die Arbeit einen Beitrag zum Verständnis leisten, wie sich im 20. Jahrhundert die gesellschaftliche Selbstbeschreibung in Deutschland veränderte. Zudem wird analysiert, inwiefern das Wechselspiel von gesellschaftlichen Idealen und sozialen Praktiken diesen Prozess beeinflusste.11

1.1 Fragestellung und Ziele Die Arbeit untersucht die Familie auf drei Ebenen: die diskursiv verhandelten Ideale bzw. Leitbilder, die sozialen Praktiken und die institutionellen Rahmungen.12 Dabei geht sie der Frage nach, in welcher Beziehung die drei Dimensionen zueinander standen. Zunächst muss im Hinblick auf die diskursiv verhandelten Idealvorstellungen gefragt werden, wie die Akteure in Politik, Wissenschaft, Öffentlichkeit und Gesellschaft in unterschiedlichen Zeitabschnitten „die Familie“ definierten. Wann und wie veränderte sich ihr Verständnis von „der Familie“?13 Wie verschoben sich die normativen Argumentationsstandards insbesondere in den besonders heftigen Konflikten um das Jahr 1900, im Anschluss an die beiden Weltkriege sowie während des Nationalsozialismus und der deutschen Zweistaatlichkeit? Auch gilt es zu klären, welche Personen und sozialen Gruppen in den 9 10 11 12

13

Vgl. Großbölting, Himmel, 35. Ähnlich bei Moeller, Unbenannt und allgegenwärtig, 320. Vgl. Schneider, Grundlagen, 13. Für dieses grundsätzliche Problem vgl. Mitterauer/Sieder, Einführung, 9. Ähnlich bei Schneider, Familie und private Lebensführung, 14; Gestrich, Geschichte (2010), 1; ders., Neuzeit, 366. Sie werden allgemein verstanden u. a. als rechtliche Regelungen oder ökonomische Möglichkeiten. Für diese Dreiecksbeziehung vgl. Dietz/Neumaier, Nutzen, 302f.; Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive, 30f. Hier wird nach den Familienleitbildern gefragt, die wie folgt definiert werden können: „Leitbilder bündeln kollektiv geteilte bildhafte Vorstellungen von etwas Erstrebenswertem, sozial Erwünschtem und gesellschaftlich weit Verbreitetem – und daher auch grundsätzlich Erreichbarem.“ Schneider/Diabaté/Lück, Familienleitbilder, 13.

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1. Einleitung

„Machtkonflikten um Diskurshoheit“14 während der jeweiligen Zeitabschnitte die Stimme erhoben und welche Interessen bzw. Strategien sie verfolgten. Wie veränderten sich ihre Positionen im Untersuchungszeitraum? Welche Konflikte um Familienideale trugen sie aus und in welchen Arenen? Zweitens werden die sozialen Praktiken analysiert. Wie wandelten sich die Sozialstruktur der Familien und das Zusammenleben im Familienalltag während des 20. Jahrhunderts? Es wird dabei zwischen der äußeren Struktur der Familie und der innerfamilialen Praxis unterschieden. Wie waren die Familien aufgebaut und wie regelten sie die Rollenverteilung zum Beispiel bei der Haushaltsführung und Kindererziehung? Inwiefern waren Familienpraktiken politisch steuerbar? Zudem wird zwischen Bildung, Geschlecht, Konfession, Alter, Erwerbstätigkeit, Schicht- und Milieuzugehörigkeit, politischer Einstellung und Wohnort differenziert. Drittens wird ermittelt, in welche institutionellen Rahmenbedingungen die Familienideale und sozialen Praktiken eingebettet waren. Dabei werden insbesondere die gesetzlichen Bestimmungen und die Konstellationen in den fünf unterschiedlichen politischen Systemen in Deutschland zwischen dem späten 19. und 20. Jahrhundert in den Blick genommen. Anschließend kann das Dreiecksverhältnis zwischen Diskurs, Praxis und Institutionen näher bestimmt werden: In welcher Austauschbeziehung standen die drei Dimensionen? Welche Ebenen initiierten Wandlungsprozesse? Welchen Einfluss hatte insbesondere das politische System? Wo lagen die Grenzen der Veränderungen? Inwiefern deckten sich die Aussagen der Politiker, Kirchenvertreter, Wissenschaftler und Journalisten zu den wahrgenommenen Wandlungsprozessen mit qualitativen und quantitativen wissenschaftlichen Erhebungen? Dabei ist auch zu untersuchen, ob es lediglich diskursiv verhandelte Phänomene waren, die die beteiligten Personen und sozialen Gruppen bewusst überzeichneten oder konstruierten, oder ob der Konflikt auch in der Praxis geführt wurde. Damit kann auch der Frage nachgegangen werden, inwiefern zeitgenössische, öffentlich verhandelte Diagnosen oder wissenschaftliche Befunde Politiker in ihrem Handeln beeinflussten – aber auch umgekehrt: inwiefern Politiker, Kirchenvertreter, Wissenschaftler und Journalisten die Erhebungen oder das wissenschaftliche Sprechen über die Familie maßgeblich prägten. Indem diese Studie die gesellschaftlich akzeptierten Familienideale mit den Praktiken des Familienlebens sowie den institutionellen Rahmenbedingungen korreliert und untersucht, wie sie sich in Wechselwirkung historisch-diachron wandelten, werden wesentliche gesellschaftlich-kulturelle Veränderungen im Deutschland des 20. Jahrhunderts analysiert. Die Arbeit versteht sich daher als Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts und kombiniert unterschiedliche Zugänge der Politik-, Sozial-, Wirtschafts-, Kultur- und Ge14

Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive, 30.

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1.1 Fragestellung und Ziele

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schlechtergeschichte sowie der Familiensoziologie. Dabei sollen sowohl die langen Linien der Veränderungsprozesse als auch der Einfluss konkreter historischer Konstellationen bestimmt werden. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vom Kaiserreich bis zum Ende der 1980er Jahre. Die Arbeit setzt somit im späten 19. Jahrhundert an, da die sich damals beschleunigenden Modernisierungsprozesse, wie Industrialisierung, Rationalisierung, Säkularisierung, Emanzipation, Individualisierung, Pluralisierung und Urbanisierung, das Sprechen über die Familie wie auch den Alltag prägten. Diese Prozesse folgten dabei keinesfalls ausschließlich einem linearprogressiven „Fortschrittsnarrativ“. Sie beinhalteten ebenso widersprüchliche Entwicklungen wie Phasen eines beschleunigten bzw. verlangsamten sozialen Wandels.15 Zu fragen ist dabei, welche sozialen Gruppen bestimmte Familienkonstellationen zu spezifisch historischen Zeitpunkten als „modern“ kodierten und wie sich ihre Positionen verschoben.16 So lassen sich auch Kontinuitäten bzw. Brüche über die politischen Zäsuren und Systeme hinweg untersuchen und ermitteln, wann neue Konflikte um die Familie einsetzten oder wann sie an bereits verhandelte Kontroversen anknüpften. Infolgedessen geht es darum, die Transformationsprozesse, die Interdependenzbeziehungen und die sich beschleunigenden und verlangsamenden Wandlungsprozesse zu analysieren, anhand derer sich Kausalitätsbeziehungen bestimmen lassen.17 Dabei nimmt die Arbeit ausschließlich Familien in Deutschland in den Blick,18 wobei aber Familien mit Migrationshintergrund weitgehend ausgeklammert werden, da ihre Zahl erst Ende der 1970er Jahre signifikant zunahm.19 Die Perspektive wird auf Deutschland begrenzt, da die 15

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Vgl. Rödder, Moderne, 182f.; Mergel, Modernisierung; Schildt, Modernisierung; Degele, Modernisierung; Raithel, Konzepte, 267–272. Für eine Kritik am Konzept der „Moderne“ vgl. Degele, Modernisierung, 328f.; Mergel, Modernisierung, 9–12; Schildt, Modernisierung. Ulrich Herbert hat zudem für den Begriff der „Hochmoderne“ plädiert: Herbert, Geschichte, 19. Zur kritischen Diskussion der Tragfähigkeit dieses Konzepts vgl. Raphael, Ordnungsmuster in der „Hochmoderne“, 79–85. Für die Perspektive auf das 20. Jahrhundert vgl. Herbert, Geschichte, 13, 15. Ulrich Herbert spricht ebenfalls vom „langen 20. Jahrhundert“, lässt es in den 1890er Jahren beginnen, aber erst um das Jahr 2000 enden. Vgl. ebenda, 13. Für einen ähnlichen Ansatz der zeitlichen Eingrenzung vgl. Osterhammel, Verwandlung, 86f. Für eine Analyse des Wandels der Familien in den USA während des 20. Jahrhunderts vgl. Heinemann, Concepts; dies. (Hg.), Inventing; dies., Wert. Für den Anteil der Familien mit Migrationshintergrund in der Bundesrepublik aus zeitgenössischer Perspektive vgl. Die Lage der Familien. Dritter Familienbericht, 153. Für eine rückblickende soziologische Analyse vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 49; Seifert, Migration, 72. Die als gering eingeschätzte Bedeutung der Familien mit Migrationshintergrund zeigt sich auch in der zeitgenössischen Beobachtung wie dem Dritten Familienbericht von 1979. In der langen Berichtsversion wurden ausländische Familien in „Exkursen“ thematisiert; im zusammenfassenden Bericht hingegen wurde explizit vermerkt, dass in diese

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1. Einleitung

Familie in einen nationalen Kontext eingebettet war. So wurden nicht nur die Themen national verhandelt, sondern die jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen wie das Scheidungs- und Sorgerecht galten ebenfalls lediglich innerhalb des Nationalstaats. In Deutschland legte vor allem das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) ab seinem Inkrafttreten 1900 die rechtlichen Rahmenbedingungen über fünf politische Systeme hinweg fest. Erst mit dem Familiengesetzbuch (FGB) in der DDR 1965 und den Reformen des Nichtehelichenrechts 1969, des Eheund Scheidungsrechts 1976 und des Sorgerechts 1979 in Westdeutschland brach diese Rechtseinheit auf. Auch die familienpolitischen Leistungen unterlagen nationalen Spezifika, die in historische Kontexte eingebettet waren. Nach 1945 fällt im Zuge des aufkeimenden Kalten Kriegs insbesondere die politische Frontstellung zwischen der realsozialistischen DDR auf der einen und der demokratisch verfassten Bundesrepublik auf der anderen Seite auf, die in jeweils unterschiedliche frauen- und familienpolitischen Zielsetzungen mündete. So orientierte sich der westdeutsche Sozialstaat am Ernährermodell (male breadwinner model), wohingegen in Ostdeutschland das Ideal der berufstätigen Frau und Mutter als Leitlinie firmierte. Die nationalstaatliche Perspektive der Arbeit wird aber partiell durchbrochen, zum Beispiel wenn Politiker, Juristen, Sozialwissenschaftler und Journalisten die Kontroversen um Geschlechterrollen und die Regelung der Ehescheidung sowie die gesellschaftliche Stellung von Familien in anderen Ländern rezipierten. Diese Prozesse liefen in der Regel nicht parallel ab. Vielmehr handelte es sich um transnationale serielle Phänomene, die in eine jeweils spezifische nationalstaatliche Rahmung eingebettet waren.20

1.2 Eingrenzung und Bedeutung des Untersuchungsgegenstandes Familie „Die Familie gibt es selbst innerhalb relativ enger Untersuchungsräume nicht“,21 konstatiert der Historiker Andreas Gestrich: Familienideale sowie Familienleben

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21

Variante des Berichts „ausländische Familien“ nicht aufgenommen worden seien. Vgl. Die Lage der Familien. Dritter Familienbericht (Zusammenfassender Bericht), 58; Die Lage der Familien. Dritter Familienbericht, 153–163. Vgl. Neumaier/Ludwig, Individualisierung, 271ff.; Süß, Sicherheit, 176; Lewis, Decline. Für das Verhältnis von nationalstaatlicher zu transnationaler respektive europäischer bzw. globaler Perspektive vgl. Herbert, Geschichte, 11f., 19f. Gestrich, Geschichte (2010), 2 [Hervorhebung im Original; C. N.]. Ähnlich bei Moeller, Unbenannt und allgegenwärtig, 320. Die Familiensoziologen Dirk Konietzka und Michaela Kreyenfeld bezeichnen Familie als ein „moving target“ und verstehen darunter einen „Gegenstand, der sich mit dem sozialhistorischen und kulturellen Kontext wandelt“. Konietzka/Kreyenfeld, Familie, 257.

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1.2 Eingrenzung und Bedeutung des Untersuchungsgegenstandes Familie

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veränderten sich in historisch-diachroner Perspektive und es existierten zu jedem Zeitpunkt unterschiedliche gesellschaftlich verhandelte Ideale sowie Formen des Familienlebens nebeneinander und beeinflussten sich gegenseitig. Historische Studien zur Geschichte der Familie haben allerdings bisher weder dieses Wechselverhältnis zwischen Familienidealen und Familienformen noch ihren dynamischen Charakter umfassend untersucht. So beklagt Sibylle Buske, dass „den Veränderungen des Familienbegriffs seit den sechziger Jahren methodisch und analytisch nicht Rechnung“22 getragen worden sei. Robert G. Moeller geht in der Kritik noch weiter und plädiert generell dafür, dass die Familie als Analysekategorie historisiert werden müsse.23 Dazu ist es aber notwendig, dass die verwendete analytische Familiendefinition weiter gefasst ist als das jeweils zeitgenössische Familienverständnis. Denn würde die Familie ausschließlich als christlich-bürgerliche Kernfamilie definiert – d. h. ein verheiratetes heterosexuelles Elternpaar, das mit gemeinsam gezeugten minderjährigen Kindern in einer Haushaltsgemeinschaft lebt –, dann blieben bei der wissenschaftlichen Analyse alle davon abweichenden familialen Lebensformen ausgeklammert. Es könnte folglich nicht untersucht werden, wie sich das Familienverständnis wandelte und wie schließlich auch Alleinerziehende und ihre Kinder sowie nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern als Familien galten.24 Um eben solche Grenzverschiebungen der jeweils zeitgenössischen Vorstellungen von „der Familie“ untersuchen zu können, wird im Folgenden „die Familie“ als Analysekategorie über die Eltern-Kind-Beziehung definiert: Als Familie gilt jede intergenerationelle Lebensform zwischen mindestens einem Elternteil und einem minderjährigen Kind, die in einer Haushaltsgemeinschaft leben bzw. während eines längeren Lebensabschnitts gelebt haben. Damit orientiert sich die Arbeit an der aktuell gängigen soziologischen Familiendefinition und differenziert zwischen drei unterschiedlichen Familienformen: Ehepaare, unverheiratete Paare und Alleinerziehende jeweils mit Kind(ern).25 22

23 24

25

Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 17. Buske verweist auf folgende Arbeiten: Münch, Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft; Rölli-Alkemper, Familie. Vgl. Moeller, Unbenannt und allgegenwärtig, 320. Ähnlich argumentiert die Soziologin Rosemarie Nave-Herz: „Um familialen Wandel und die Pluralität von Familienformen erfassen zu können und um nicht Veränderungen durch die gewählte Begrifflichkeit von vornherein auszuschließen, ist es notwendig, eine Definition von Familie auf einem möglichst hohen Abstraktionsniveau zu wählen.“ Nave-Herz, Einleitung, 2. Vgl. Konietzka/Kreyenfeld, Familie, 257; Huinink/Konietzka, Familiensoziologie, 36ff.; Schneider, Grundlagen, 11. In der öffentlichen Diskussion werden mittlerweile drei unterschiedliche Familienformen diskutiert: Für die erste Position ist Ehe eine notwendige Voraussetzung, um von Familie sprechen zu können. Zweitens gelten alle Eltern-Kind-Gemeinschaften als Familien. Die dritte Position ist noch offener. Sie begreift jede „exklusive Solidargemeinschaft“ als Familie. Vgl. ebenda, 12.

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1. Einleitung

Die Familie besitzt des Weiteren einen „Doppelcharakter“, auf den Familiensoziologen wie Norbert F. Schneider verweisen. Die Familie ist einerseits eine „soziale Institution“, die in einer Austauschbeziehung mit ihrer Umwelt steht und zudem innerhalb der Gesellschaft wie auch für ihre Mitglieder Funktionen übernimmt. Andererseits ist Familie auch „ein individuell gestaltetes soziales Beziehungsnetz und damit eine wandelbare Konstruktion, die subjektiv mit Sinn versehen wird“.26 Sie wirkt somit als Ordnungsmodell und reguliert, wie zukünftig das Zusammenleben bzw. das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gestaltet werden soll. Aus der Perspektive ihrer Mitglieder ordnet die Familie die Sozialbeziehungen. Wird die Familie als gesellschaftliche Institution gesehen, rückt die Frage in den Mittelpunkt, welche Funktionen sie für die Gesellschaft übernimmt. Als zum Beispiel die Kindererziehung zum Teil an Kindergärten und Schulen übertragen wurde, debattierten Wissenschaftler, Politiker und Kirchenvertreter während der 1970er Jahre, wie dieser Prozess zu beschreiben sei. Waren die behaupteten Veränderungen Ausdruck eines „Funktionsverlusts“ oder einer „Funktionsentlastung“27 bzw. einer „Verlagerung von Funktionsteilen“28 ? Der Historiker Michael Mitterauer und der Soziologe Friedhelm Neidhardt sprachen sich bereits in den 1970er Jahren vehement dagegen aus, die Veränderungen als „Verlust“ zu deklarieren, da hier nicht zwischen politischem Familienverständnis und wissenschaftlicher Analyse unterschieden werde. Sie plädierten daher dafür, die Begriffe „Funktionsentlastung“29 bzw. „Verlagerung von Funktionsteilen“30 zu verwenden.31 Egal welche Begrifflichkeiten nun diese Veränderung beschreiben, so geht es stets um die Frage, welche Funktion die Institution Familie innerhalb der Gesellschaft übernimmt.

1.3 Thesen Viele Zeithistoriker sehen die 1970er Jahre als einen Epochenbruch, vielleicht sogar als die Wasserscheide des 20. Jahrhunderts. Eric Hobsbawm spricht vom Ende des „Goldenen Zeitalters“ der Nachkriegsprosperität und vom Beginn 26

27 28 29 30 31

Ebenda. Siehe auch Schneider, Familie in Westeuropa, 25; Lüscher, Lebensformen, 110; Lüscher/Wehrspaun/Lange, Begriff, 62f. Auch in den USA wird „der“ Familie diese Bedeutung zugeschrieben. Vgl. Heinemann, Wert, 1ff. Mitterauer, Funktionsverlust, 93. Neidhardt, Familie, 57. Mitterauer, Funktionsverlust, 93. Neidhardt, Familie, 57. Vgl. Mitterauer, Funktionsverlust, 93; Neidhardt, Familie, 57. Die Soziologin Rosemarie Nave-Herz favorisiert den Begriff „Bedeutungswandel“ gegenüber dem negativ konnotierten Ausdruck „Bedeutungsverlust“. Vgl. Nave-Herz, Bedeutungswandel, 220.

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1.3 Thesen

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des „Erdrutsches“ mit einer Vielzahl von Krisen. Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael verorten ebenfalls den „Strukturbruch“ in den 1970er Jahren, der die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine Phase während des Booms und eine „nach dem Boom“ unterteilt.32 Andreas Wirsching wiederum datiert die Zäsur auf die späten 1970er und frühen 1980er Jahre und Martin H. Geyer vertritt die These, dass an dieser Wendemarke der Beginn der „Gegenwart der Vergangenheit“ eingesetzt habe.33 Demnach reichen die damals beginnenden Veränderungen bis in das frühe 21. Jahrhundert. Diese Lesart lehnt sich in Teilen an zeitgenössische sozialwissenschaftliche Deutungsangebote aus den 1970er und 1980er Jahren an. Daniel Bells nachindustrielle Gesellschaft, Amitai Etzionis Active Society oder Ronald Ingleharts und Helmut Klages’ Wertewandel beschreiben den Zeitraum von Mitte der 1960er bis in die 1970er Jahre als Phase eines beschleunigten gesellschaftlich-kulturellen Wandels.34 Entgegen dieser zeitgenössischen Deutung wird im Folgenden die Zäsur in den 1960er und 1970er Jahren relativiert.35 Es wird argumentiert, dass sich die Sozialstruktur der Familie weitaus weniger stark gewandelt hat, als die zeitgenössische Debatte auf den ersten Blick vermuten lässt. Stattdessen müssen die Veränderungen in zwei anderen Bereichen verortet werden. So markieren die 1960er und 1970er Jahre eine einschneidende diskursive und juristische Zäsur, weil sich das Reden über die Familie veränderte und zudem zahlreiche Gesetzesreformen umgesetzt wurden. Zum Beispiel waren ab den 1970er Jahren das sogenannte partnerschaftliche Familienmodell und die egalitär-gleichberechtigten Geschlechterrollen primär diskursive Phänomene. In den Debatten ging es ebenfalls um die Frage, wie Individuum, Familie, Staat und Nation aufeinander bezogen waren. Die Zeitgenossen diskutierten 32

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Vgl. u. a. Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer (Hg.), Vorgeschichte; Hobsbawm, Zeitalter, 324–362, 503–537; Rödder, Bundesrepublik Deutschland, 28ff.; Schildt, Sozialgeschichte, 82–87; Doering-Manteuffel/Raphael, Boom, 10f.; Görtemaker, Geschichte, 597–652; Conze, Sicherheit, 379. Für eine Diskussion des Forschungsstandes vgl. Geyer, Suche. Für das vielzitierte Schlagwort „nach dem Boom“ vgl. Doering-Manteuffel/Raphael, Boom; Doering-Manteuffel/Raphael, Epochenbruch. Zur Frage des Strukturbruchs im Hinblick auf die Arbeitswelt vgl. Andresen/Bitzegeio/Mittag (Hg.), Strukturbruch. Vgl. Wirsching, Preis, 20ff.; Geyer, Gegenwart, 89. Vgl. Bell, Gesellschaft; Etzioni, Society; Inglehart, Revolution; Klages, Wertorientierungen. Zum Methodenproblem vgl. v. a. Graf/Priemel, Zeitgeschichte; Dietz/Neumaier, Nutzen; Pleinen/Raphael, Zeithistoriker; Ziemann, Sozialgeschichte und empirische Sozialforschung; Dietz/Neuheiser, Welt. Für diese Position vgl. auch Bösch, Grenzen. Für eine Diskussion des Zäsurcharakters der 1970er Jahre vgl. v. a. Doering-Manteuffel/Raphael, Boom, 11; Rödder, Bundesrepublik Deutschland, 28ff.; Schildt, Sozialgeschichte, 82–87; Jarausch (Hg.), Ende; Geppert/Hacke (Hg.), Streit; Raithel/Rödder/Wirsching (Hg.), Weg; Doering-Manteuffel/Raphael, Epochenbruch; Wirsching, Turning Point. Für eine Diskussion der 1970er und 1980er Jahre als Wendemarke vgl. ebenfalls Therborn, Tide; Eley, End; Kaelble, The 1970s; Chassaigne, Why the 1970s Really Matter; Wirsching, Significance.

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1. Einleitung

also anhand der Familie das Verhältnis von Individualität, Gemeinschaft und Gesellschaft. Im Folgenden wird diesbezüglich argumentiert, dass bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Dichotomie zwischen Staat und Familie einerseits und Staat und Individuum andererseits die öffentlichen Kontroversen dominierte, sich diese Frontstellung aber erstmals in den 1920er Jahren aufweichte und schließlich in den 1950er Jahren aufzulösen begann. Zusehends ließen sich Individual- und Gemeinschaftsinteressen in einer Familie verwirklichen – wenngleich Grenzen bestehen blieben. Hier knüpft die vorliegende Studie an die Individualisierungsthese an,36 eine Leiterzählung der Sozialwissenschaften. Sie differenziert jedoch deren Befunde historisch, indem gezeigt wird, dass sich der gesellschaftliche Wandel stets nur graduell vollzog und alte Ideale und Praktiken nie komplett ihre Gültigkeit verloren.37 Die Antwort auf die Frage, wie soziale Praktiken und Ideale aufeinander bezogen waren, hängt entscheidend vom politischen System ab. Wie liefen die Veränderungsprozesse in den demokratischen Gesellschaften der Weimarer Republik und der Bundesrepublik sowie den Diktaturen des Nationalsozialismus und der Deutschen Demokratischen Republik ab? In freiheitlich-demokratischen Staaten, so die Vermutung, veränderten sich als erstes die sozialen Praktiken in gesellschaftlichen Teilgruppen sowie partiell auch die gesamtgesellschaftlich geführten und öffentlich verhandelten Diskurse um die Familienideale, wohingegen sich in Diktaturen, wie dem „Dritten Reich“ und der DDR, zunächst die politisch gesetzten Diskurse über Familienideale änderten und im Anschluss die institutionellen Rahmenbedingungen durch Gesetzesreformen an die neuen Leitlinien angepasst wurden. Zu klären ist dabei, wie sich die sozialen Praktiken hierzu verhielten. Es soll aufgezeigt werden, ob sie den diskursiven Verschiebungen entweder zeitlich versetzt folgten oder ob eine Diskrepanz zwischen sozialen Praktiken auf der einen Seite und institutionellen Rahmungen bzw. diskursiv verhandelten Idealen auf der anderen Seite bestehen blieb. Die partielle oder vereinzelte Angleichung der sozialen Praktiken an die diskursiv artikulierten Ideale – und umgekehrt – verdient besondere Aufmerksamkeit. Die Gründe für dieses Verhalten lassen sich kaum ermitteln, da es methodisch nur selten möglich ist, die „Grenzen zwischen Zustimmung, An36

37

Individualisierung wird verstanden als „die Auf lösung vorgegebener sozialer Lebensformen“ und zugleich werden die Individuen eingebettet in „neue institutionelle Anforderungen, Kontrollen und Zwänge“. Beck/Beck-Gernsheim, Individualisierung, 11f. [Hervorhebung im Original; C. N.]. Siehe v. a. Beck, Risikogesellschaft, 206. Siehe auch Beck-Gernsheim, Dasein; Beck/Beck-Gernsheim, Individualisierung; Beck, Risikogesellschaft, 206. In Bezug auf Familie vgl. u. a. Burkart, Familiensoziologie, 237–264, 302–306; Huinink/Konietzka, Familiensoziologie, 105ff.; Peuckert, Familienformen (2012), 659–667. In Bezug auf die Sittlichkeitsdebatte vgl. Steinbacher, Sex, 354. Für eine Zusammenfassung aktueller Forschungspositionen vgl. Berger/Hitzler (Hg.), Individualisierungen. Für diese Argumentation vgl. insbesondere Eribon, Rückkehr, 218f.

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1.4 Methodik

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passung, Hinnahme und Unterstützung zu bestimmen“.38 Donna Harsch argumentiert am Beispiel der Reform des Abtreibungsrechts, dass nicht nur der vom Staatsapparat geprägte öffentliche Diskurs analysiert werden dürfe, sondern auch der „whispered dialogue – neither completely suppressed nor genuinely public“39 – erfasst werden müsse. Dieser finde sich insbesondere in vertraulicher Korrespondenz und in hinter verschlossenen Türen ausgetragenen politischen Auseinandersetzungen. Aber auch in Zeitungsartikeln könne er aufgespürt werden – sofern die Beiträge auf ihre zwischen den Zeilen enthaltenen Anspielungen hin gelesen würden.40 Damit lässt sich der „Eigen-Sinn“ der Experten und Journalisten bzw. der Familienmitglieder und damit „die potentielle Mehrdeutigkeit von Haltungen und Handlungen“41 erfassen. Es muss aber auch nach der Bedeutung politischer Zäsuren für die Prozesse gefragt werden: Hatten sie primär einen Effekt auf das Reden über die Familie sowie die institutionellen Rahmenbedingungen und weniger auf das Familienleben selbst? Oder lassen sich direkte Folgen für den Familienalltag bestimmen? Dass gerade die beiden Weltkriege oder die politischen Entscheidungen im Nationalsozialismus oder die deutsche Zweistaatlichkeit durchaus gravierend auf den Familienalltag rückwirkten, gilt als unbestritten. Allerdings kann dies nicht ausschließlich an den politischen Zäsuren 1914/18, 1933, 1939 und 1945/49 festgemacht werden. Zu untersuchen ist außerdem, wo die Grenzen der Beeinflussung verliefen.42

1.4 Methodik In dieser Studie werden die Politiken, Familienideale und Familienpraktiken in fünf verschiedenen politischen Systemen analysiert und nach den Spezifika der jeweiligen Zeitabschnitte gefragt. Darüber hinaus wird für die Zeit der deutschen Zweitstaatlichkeit untersucht, ob sich die Ideale und Praktiken in zwei parallel existierenden divergierenden politischen Systemen auseinanderentwickelten.43 Dabei wird die Familie stets aus zwei Blickwinkeln analysiert: der „top-down“-Perspektive gesellschaftlicher Eliten, wie Kirchenvertreter, Po38 39 40 41 42 43

Moeller, Mütter, 33. Ähnlich bei Mazower, Kontinent, 62. Harsch, Society, 56. Vgl. ebenda. Lindenberger, Diktatur, 23. Ausführlich erläutert bei ders., Eigen-Sinn. Für die Ambivalenz zwischen Bedeutung und Relativierung der politischen Zäsuren für die Geschichte der Familie vgl. v. a. Gestrich, Geschichte (2010), 4–10, 27–35. Vgl. Kaelble, Historischer Vergleich; ders., Vergleich, 12, 17; Haupt/Kocka, Vergleich, 9, 11–16. Im Unterschied zu Hartmut Kaelbles Position wird der Vergleich auch auf aufeinanderfolgende historische Epochen bezogen. Vgl. Kaelble, Historischer Vergleich.

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1. Einleitung

litiker, Interessenverbände und Wissenschaftler; der „bottom-up“-Perspektive, also aus den Familien selbst. Während in der Arbeit die Leitthemen bezüglich der Familie und die zentralen Entwicklungen in den jeweiligen Zeitabschnitten repräsentativ erfasst werden konnten, sind die Befunde zu den Familien lediglich für die jeweils herangezogenen Untersuchungssamples und die jeweils erfassten Zeitabschnitte aussagekräftig. Vereinzelt lassen sich die Aussagen zum Verlauf des Familienlebens, des Alltags und der Geschlechterrollen auf die Bevölkerung extrapolieren und es können daraus für bestimmte Phasen repräsentative Ergebnisse abgeleitet werden. Methodisch knüpft die vorliegende Studie einerseits an die Familiensoziologie an. Andererseits wird das Methodenrepertoire der Politik-, Sozial-, Geschlechtersowie Kultur- und Alltagsgeschichte herangezogen. In Anlehnung an die Soziologie werden fünf Untersuchungsdimensionen von Familie unterschieden. Zunächst gilt es, die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Familien zu analysieren. Zweitens müssen die Geschlechterrollen wie auch die Beziehungsmodelle zwischen den Partnern bzw. den Eltern und Kindern berücksichtigt werden. Damit rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie im Alltag die Arbeitsteilung geregelt wurde und welche Macht- und Autoritätsverhältnisse vorlagen. Drittens wird die Familie als dynamisches System verstanden, das maßgeblich durch die familialen Übergänge Heirat, Geburt eines Kindes und den Auszug der Kinder geprägt wird. Aber auch die Beziehungen der Familienmitglieder zueinander verändern sich über die Zeit. Viertens projizieren Politiker, Kirchenvertreter und Familienmitglieder einen subjektiven Sinn in die Familie, der ebenfalls Rückschlüsse auf die Gründe für den Wandel der Familienideale und der sozialen Praktiken zulässt. Hier kann insbesondere die unterschiedliche gesellschaftliche Bedeutung der familialen Lebensformen ermittelt werden. Fünftens wird eingehend das komplexe Wechselverhältnis analysiert zwischen der Familie als Institution, die bestimmte Funktionen übernimmt, und der Familie als soziale Lebensgemeinschaft, in der Individuen interagieren.44 Familie figuriert aus allen fünf Perspektiven als symbolbeladenes Medium, das Politiker, Kirchenvertreter, Juristen und Wissenschaftler in ihrem Diskurs unterschiedlich ausdeuten. Indem diese Mehrdeutigkeiten genauso wie die Veränderungen der Interpretationen von Familie und die dahinterstehenden Ordnungsvorstellungen untersucht werden, knüpft diese Studie an die Kulturgeschichte der Politik an.45 Darüber hinaus versteht sich die Arbeit als Beitrag zur Sozialgeschichte, im Sinne einer Gesellschaftsgeschichte, da die Austausch44

45

Vgl. Konietzka/Kreyenfeld, Familie, 257; Huinink/Konietzka, Familiensoziologie, 25; Schneider, Grundlagen, 12ff.; Eribon, Rückkehr, 84. Als Funktionen der Familie gelten u. a. die „Reproduktions- und Sozialisationsfunktion“, wirtschaftliche Funktionen, die Kulturfunktion. Vgl. Konietzka/Kreyenfeld, Familie, 257; Mitterauer, Funktionsverlust, 95–112. Vgl. v.a Mergel, Überlegungen; ders., Kulturgeschichte, 191f.; Frevert, Politikgeschichte; Rödder, Klios; Landwehr, Kulturgeschichte, 319ff.

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beziehungen zwischen den unterschiedlichen Arenen von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur einen weiteren Analyseschwerpunkt bilden. Zudem untersucht die Arbeit, wie Heiratsalter, Kinderzahl und Scheidungsneigung die sozialstrukturellen Veränderungen von Familie beeinflussten. Ein weiterer Fokus liegt auf den Geschlechterbeziehungen: Wie wurden Geschlechterrollen – aber auch Generationenbeziehungen – innerhalb der Familie ausgedeutet und in Alltagspraktiken übersetzt? Wie veränderten sich diese Positionen im Laufe des 20. Jahrhunderts und in welche normativ kodierten, wissenschaftlichen, juristischen bzw. politischen Argumentationsstandards waren sie eingebettet? Mittels dieser Schwerpunktbildung möchte die Arbeit die Veränderung der Familienleitbilder wie auch der Vorstellungen von Müttern, Vätern und Kindern in den Blick nehmen. Diese diskursive Ebene wird anschließend mit den sozialen Beziehungen in den Familien kontrastiert, wobei hier ein stärker alltagsgeschichtlicher Zugriff dominiert.46 Im Mittelpunkt steht folglich die komplexe Austauschbeziehung zwischen den diskursiv verhandelten Idealen sowie den sozialen Strukturen und den Praktiken in Familienkonstellationen. Für diese Prozesse übernimmt Sprache eine zentrale Funktion. Sie strukturiert Gesellschaft und kann überdies Veränderungsprozesse auslösen oder auf sie einwirken.47 Sicherlich bildet die Austauschbeziehung die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse nur in Teilen ab. Die Wechselbeziehung zwischen diskursiv verhandelten Idealen bzw. Sozialstrukturen und den Praktiken liefert damit genauso wenig wie andere theoretische Modelle eine umfassende Erklärung für soziokulturellen Wandel, was in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften wohl auch kaum möglich ist. Sie erlaubt es aber dennoch zu analysieren, wie sich Familienideale und Praktiken im 20. Jahrhundert veränderten. Beide Perspektiven lassen sich theoretisch-methodisch mit einem praxeologischen Ansatz fassen, der jedoch primär als „tool kit“48 von Zugriffsmöglichkeiten verstanden werden sollte.49 Soziale Praktiken werden als „know how abhängige und von einem praktischen ‚Verstehen‘ zusammengehaltene Verhaltensroutinen“50 verstanden, die indirekt einen Rückschluss auf Ideale erlauben. Sie werden definiert „als allgemeine und grundlegende normative Orientierungsvorstellungen [. . . ], die für das Denken, Reden und Handeln auf individueller und kollektiver Ebene Vorgaben 46 47 48 49

50

Vgl. exemplarisch Nathaus, Sozialgeschichte, 204f., 217–224; Kemper/Heinsohn, Geschlechtergeschichte, 332–339, 348–351; Opitz, Um-Ordnungen. Zur Bedeutung von Sprache vgl. exemplarisch Ayaß, Sprachsoziologie; Reichardt, Geschichtswissenschaft, 54. Reckwitz, Grundelemente, 293. Vgl. Graf, Theorie, 111, 125f. Rüdiger Graf verweist auch auf die Defizite eines praxeologischen Ansatzes: Er leiste „nicht die beim Theoriegebrauch gewünschte Erklärungsleistung und Rationalitätssteigerung“. Diese Kritik zielt aber primär auf Forschungsvorhaben, die ausgehend von der Theorie Fragestellungen konzipieren. Vgl. ebenda, 125. Reckwitz, Grundelemente, 289.

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machen und die explizit artikuliert oder implizit angenommen werden können“.51 Insofern bildet Sprache ebenfalls Ideale ab. Beide – soziale Praktiken und Sprache – ermöglichen es damit, regelmäßiges Verhalten, gesellschaftlich akzeptierte Ideale und individuelle Handlungsspielräume sowie deviantes Verhalten und Reden in historischer Perspektive zu bestimmen.52 Am Beispiel der Familie wird im Folgenden analysiert, in welchem ständigen Spannungsverhältnis Ideale und soziale Praktiken standen, wobei die Analyse insbesondere auf Machtbeziehungen und Sinnzuschreibungen fokussiert. Interaktion ist damit vor allem ein „Deutungskampf “ um die Frage, was als „normal“ und was als „abweichend“ zu gelten habe. In diesem Machtkampf geht es folglich darum, die Deutungshoheit über Ideale und Praktiken zu erlangen. Es soll so ein gesellschaftlicher Konsens über sozial akzeptiertes Verhalten hergestellt werden. Die konkreten Praktiken hingegen neigen stets dazu, von diesen Vorgaben abzuweichen, wodurch sie gesellschaftlich verhandelte Ideale beeinflussen.53 Allerdings muss berücksichtigt werden, dass nicht streng zwischen diskursiv artikulierten Idealen bzw. Leitbildern und sozialen Praktiken unterschieden werden kann. Hierbei handelt es sich um eine analytische Differenzierung, die am empirischen Fallbeispiel verwischt. Denn Ideale werden auch in Praktiken aktualisiert bzw. sind kaum losgelöst von Praktiken zugänglich. Die Dichotomie zwischen Ideal und Praxis findet sich in der Empirie also nicht konturscharf wieder. Gleichzeitig gab es Konstellationen, in denen beide Ebenen bisweilen unverbunden nebeneinanderstanden. Auch dieses Phänomen soll untersucht werden.54

1.5 Quellenbasis Familie ist ein Querschnittsthema, bei dem eine Vielzahl von sozialen Akteuren aus Politik, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien miteinander interagieren. So überlagern sich in der Familienpolitik Zuständigkeiten, Kompetenzen und Interessen des Familienministeriums mit den Ansichten des Justiz- und So51 52

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Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive, 29 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Siehe auch Dietz/Neumaier, Nutzen, 302. Vgl. Reckwitz, Grundelemente, 288–296; Reichardt, Geschichtswissenschaft; Welskopp, Mensch, 39–46, 66–69; Hirschauer, Praktiken, 75. Für eine kritische Auseinandersetzung mit Andreas Reckwitz’ Zugriff vgl. Bongaerts, Praxis. Vgl. Reichardt, Geschichtswissenschaft, 44, 47, 57, 63f.; Welskopp, Mensch, 59f.; Landwehr, Kulturgeschichte, 318; Kemper/Heinsohn, Geschlechtergeschichte, 347f.; Paulus/Silies/ Wolff, Bundesrepublik, 18. Für Beispiele hierzu aus der historischen Bürgertumsforschung vgl. Hettling/Hoffmann, Wertehimmel, 337f., 342; Hettling, Kultur, 319f.; Hahn/Hein, Werte, 12.

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1.5 Quellenbasis

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zialministeriums sowie der katholischen und evangelischen Kirche oder von Wissenschaftlern, wie Soziologen, Juristen, Pädagogen, Demographen und Medizinern.55 Diese Vielstimmigkeit bildet auch die Quellenauswahl der vorliegenden Studie ab. Zudem wurden neben familienpolitischen Entwicklungen auch gesellschaftliche, wissenschaftliche und medial inszenierte Konflikte um die Familie untersucht, weshalb die Querverbindungen zwischen Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit in noch stärkerem Maße berücksichtigt werden mussten. Eine solche Vernetzung ist überdies kein Signum der Familie in der Bundesrepublik, sondern findet sich auch in der DDR sowie in der Zwischenkriegszeit. Daher stützt sich die Arbeit auf einen heterogenen Quellenbestand, der sich aus unveröffentlichten und publizierten Schriftstücken unterschiedlichster Provenienz zusammensetzt. Die ausgewählten Quellen bilden zunächst die politischen und öffentlichen Debatten genauso wie die politischen Entscheidungen ab. Die Studie stützt sich des Weiteren auf statistische Quellen, die unter anderem auf Erhebungen des Deutschen Reichs und des Statistischen Bundesamtes beruhen. Darüber hinaus wurde die zeitgenössische wissenschaftliche Debatte vor allem von Juristen und Sozialwissenschaftlern ausgewertet. Zudem wurden die Unterlagen von gesellschaftlichen Gruppen wie Verbänden, Frauenrechtlerinnen oder des Laienkatholizismus bei der Analyse berücksichtigt. Ferner fanden Alltagsdokumente wie Tagebücher oder Familienberichte Eingang in die Darstellung. Die politisch verhandelten Leitthemen der jeweiligen Zeitabschnitte und die zentralen Entscheidungen und Entwicklungslinien ließen sich zunächst mit dem umfangreichen Bestand des Bundesarchivs mit seinen Standorten in Berlin und Koblenz bestimmen. Zum Beispiel war es möglich, anhand der Dokumente des Reichsjustizministeriums, der Reichskanzlei, der Deutschen Arbeitsfront und der Partei-Kanzlei der NSDAP die Diskussionen um die Familie vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nachzuzeichnen. Für die politischen Entscheidungen zur Familie in der DDR waren wiederum die Unterlagen des Ministeriums für Justiz, des Obersten Gerichts der DDR, des Amtes für Jugendfragen und des Staatssekretärs für Kirchenfragen von entscheidender Bedeutung. Die Unterlagen der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv rundeten die Perspektive auf die politische Stellung der Familie in der DDR ab. Vor allem handelt es sich hierbei um die Tagungen des Parteivorstandes des Zentralkomitees (ZK) der SED, die Protokolle des Politbüros, der Abteilung Frauen im ZK der SED sowie des Bundesvorstandes des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands. Für die familienpolitischen und juristischen Entwicklungen der Familie in Westdeutschland wurden wiederum vor allem die Unterlagen des Bundesfamilienministeriums und des Bundesministeriums der Justiz herangezogen. 55

Vgl. Münch, Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 317f.; Kuller, Familienpolitik, 6.

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1. Einleitung

Darüber hinaus waren in vielen Akten neben Vermerken, Schriftwechseln und Protokollen von Ausschuss- und Fraktionssitzungen auch Auszüge aus Parteiprogrammen, Reden in Reichs- und Bundestag, Gesetzesentwürfe sowie Stellungnahmen von Politikern abgeheftet, sodass die politischen Debatten und Entscheidungsprozesse umfassend dokumentiert waren. Ferner ließen sich anhand der Dokumente die zeitgenössische öffentliche und wissenschaftliche Debatte sowie die sozialwissenschaftliche Perspektive auf die Familien partiell rekonstruieren. Denn dort sind Pressemitteilungen, Zeitungsartikel, Stellungnahmen von Kirchenvertretern, Wissenschaftlern, Laien und Vertretern der Frauenbewegung sowie Erhebungen des Statistischen Reichsamtes und des Statistischen Bundesamtes wie auch Erhebungen des Instituts für Demoskopie in Allensbach für Westdeutschland seit den 1950er Jahren abgelegt worden. Dieses Quellenmaterial wurde noch durch weitere einschlägige Bestände ergänzt. Die politischen Debatten und Entscheidungen der westdeutschen Parteien ließen sich mit den Unterlagen im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), im Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), im Archiv für ChristlichSoziale Politik, im Archiv des Liberalismus und im Archiv Grünes Gedächtnis erhellen. Bei der Auswahl lagen die Schwerpunkte vor allem auf den Fraktionssitzungen, Ausschusssitzungen, Pressemitteilungen und der medialen Berichterstattung. Da zudem die Pressedokumentationen des AdsD und des ACDP mit den Schlagworten Familienpolitik und Familienrecht ausgewertet wurden, konnte auch die mediale Diskussion über die Familie repräsentativ erfasst werden. Die zeitgenössischen Debatten von Juristen und Politikern bis in die 1970er Jahre bildeten des Weiteren mehrere einschlägige Quelleneditionen zur Reform des Familienrechts ab. Darüber hinaus gaben die Unterlagen des Parlamentsarchivs des Deutschen Bundestages Aufschluss über weitere juristische Kontroversen in Westdeutschland seit den 1970er Jahren.56 Neben den rechtlichen Auseinandersetzungen um die Familie wurden überdies zahlreiche Publikationen von Sozialwissenschaftlern, v. a. von Soziologinnen und Soziologen, ausgewertet. Dieses Quellenmaterial enthält neben Forschungspositionen auch Material zum Familienleben. Allerdings weisen diese Dokumente deutliche Lücken auf, da die Erhebungen lediglich für bestimmte Zeitabschnitte vorliegen – für die späten 1920er Jahre, die späten 1940er bzw. die 1950er Jahre sowie für die 1970er und 1980er Jahre.57 Hierbei handelt es sich im Regelfall um sozialwissenschaftliche Forschungsvorhaben, die, angeregt von zeitgenössischen sozialen und politischen Problemlagen, umfassende quantitative wie qualitative Datenmengen zu Familienkonstellationen erhoben haben. Sie vermitteln somit einen Eindruck von der Wahrnehmung 56 57

Vgl. v. a. Schubert (Hg.), Familien- und Erbrecht; ders. (Hg.), Familienrechtsausschuß; ders. (Hg.), Projekte; ders. (Hg.), Reform. Ähnlich bei Möhring, Essen, 42f.

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des Familienlebens zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in bestimmten sozialen Klassen bzw. Milieus. Jedoch müssen die zum Erhebungszeitpunkt gültigen wissenschaftlichen Standards genauso reflektiert werden wie der Entstehungskontext und die ideologisch-thematischen Rahmenbedingungen des jeweiligen Zeitabschnitts.58 Für die späten 1920er Jahre sind insbesondere die Forschungsarbeiten der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit zu nennen. In deren Rahmen entstand die von Alice Salomon und Gertrud Bäumer herausgegebene Reihe Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart.59 Für die Nachkriegszeit liegen ebenfalls zahlreiche zeitgenössische empirische Erhebungen zum Familienleben vor. Hierzu zählen insbesondere Helmut Schelskys Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart,60 Gerhard Wurzbachers Leitbilder gegenwärtigen deutschen Familienlebens61 oder Gerhard Baumerts Deutsche Familien nach dem Kriege.62 Die Rolle von Frauen analysierte ein zweites Set von Arbeiten wie Elisabeth Pfeils Untersuchung zur Berufstätigkeit von Müttern und in den 1970er Jahren Helge Pross’ Studien zur Gleichberechtigung im Beruf und zu den Hausfrauen, die noch durch weitere zeitgenössische Erhebungen der 1980er Jahre ergänzt wurden.63 Die Studien setzen sich immer aus zwei Teilen zusammen: den empirischen Erhebungen und der jeweiligen Deutung bzw. der Perspektive des jeweiligen Verfassers auf die Familien. Beides kann nicht getrennt voneinander betrachtet werden, da die Blickrichtung des Autors die empirische Erhebung vorstrukturiert. Zudem waren die wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten miteinander verwoben. So führten Helge Pross oder Sigrid Metz-Göckel und Ursula Müller ihre Studien im Auftrag der Zeitschrift Brigitte durch, welche ein konservatives Leserpublikum ansprach. Diese Prämissen müssen berücksichtigt werden, wenn die jeweiligen Ergebnisse zum Familienalltag, den Geschlechterverhältnissen und den Rollenverständnissen sowie deren Wandel historisch verortet werden. Darüber hinaus bündeln sich in den regelmäßig erschienenen Berichten der jeweiligen Bundesregierung zu Jugend, Frauen und Familie eine Vielzahl von quantitativen und qualitativen Befunden zur Entwicklung der Familien in West58 59 60 61 62 63

Vgl. Gestrich, Geschichte (2010), 56f. Vgl. u. a. Salomon/Baum (Hg.), Familienleben. Zum methodischen Umgang soziologischer Texte mit einer historischen Darstellung vgl. Nolte, Ordnung, 22f. Vgl. Schelsky, Wandlungen. Vgl. Wurzbacher, Leitbilder. Für eine Zusammenfassung der Argumentation Schelskys und Wurzbachers vgl. Jakob, Familienbilder, 200–207. Vgl. Baumert, Familien. Vgl. u. a. Pfeil, Berufstätigkeit; Pross, Gleichberechtigung; dies., Wirklichkeit; dies., Männer; Metz-Göckel/Müller, Mann; Die Rolle des Mannes; Hartenstein u. a., Geschlechtsrollen; Nichteheliche Lebensgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland.

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1. Einleitung

deutschland, die einen Überblick über diverse Veränderungen vermitteln, wie den zeitgenössisch verhandelten Familienbegriff oder die Aufteilung der Kindererziehung zwischen Familien und Kindergärten bzw. -krippen.64 Die breite empirische Basis zur sozialen Praxis wird überdies ergänzt durch weitere soziologische Forschungsarbeiten, wie von René König, Rosemarie Nave-Herz sowie Sibylle Meyer und Eva Schulze.65 Die sozialstrukturellen und kulturellen Veränderungen zwischen den 1950er und 1980er Jahren haben folglich zahlreiche Soziologinnen und Soziologen in der Bundesrepublik untersucht. Für die DDR liegen keine vergleichbaren Daten vor. Denn während in Westdeutschland mehrere Forschungseinrichtungen um die Deutungshoheit genauso wie um die Mittelzuweisung konkurrierten, was eine Pluralität an Ansätzen und Befunden förderte, lag demgegenüber in der DDR eine monopolitisch geregelte Forschungslandschaft vor und lediglich vonseiten des Staates wurde über die Verwendung der Mittel bestimmt. Ungeachtet dieser Unterschiede können durchaus zumeist singulär erhobene Daten, wie des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig, für die historiographische Analyse herangezogen werden.66 Ferner wurden gesellschaftliche Gruppen wie die katholische und die evangelische Kirche, der Laienkatholizismus und die Frauenbewegung berücksichtigt. Insofern bilden die Bestände in kirchlichen Archiven einen weiteren wichtigen Quellenkorpus.67 Zudem lieferte die Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung sowohl für die Zwischenkriegszeit als auch für die 1950er Jahre umfangreiches Material zur Frage der Ehescheidung und der rechtlichen Stellung von Frauen. Das Archiv des Frauenforschungs-, -bildungsund -informationszentrums e. V. enthält zahlreiche Ausschnittsammlungen zur medialen Debatte über das Verhältnis von bürgerlicher Kernfamilie und alternativen Familienformen wie den nichtehelichen Lebensgemeinschaften und Alleinerziehenden sowie die Verbreitung von Gleichberechtigung und alternativer Vatermodelle in der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre.

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Vgl. u. a. Bericht der Bundesregierung über die Lage der Jugend (1965); Bundesminister für Familie und Jugend, Erster Familienbericht; Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft [1966]. Vgl. u. a. König, Materialien; König, Soziologie der Familie; Tyrell, Ehe; Lüscher, Lebensformen; Nave-Herz (Hg.), Wandel; dies., Bedeutungswandel; Meyer/Schulze, Krieg; dies., Auswirkungen; dies., Lebensgemeinschaften (Alternativen). Zur Herleitung vgl. exemplarisch Weingart, Stunde, 240–244. Hierzu zählen v. a. das Evangelische Zentralarchiv in Berlin (EZA), das Archiv des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) und das Archiv des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche Deutschlands (ADW) sowie des Deutschen Familienverbandes im Bundesarchiv in Koblenz.

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1.6 Forschungsstand Die vorliegende Arbeit schließt an zwei Stränge der Forschungsliteratur an: Sie erweitert zunächst die Studien zur Geschichte der Familie, die vor allem die Zeit vom 19. Jahrhundert bis zu den frühen 1970er Jahren abdecken. Zugleich ergänzt sie diese Perspektive mit jüngeren Arbeiten aus der Familiensoziologie, die sich eingehend mit den 1970er und 1980er Jahren auseinandergesetzt haben und historisiert diese zugleich. Die enge Kopplung zwischen beiden Forschungssträngen zeigt sich einerseits bei der Adaption familiensoziologischer Methoden an die historische Fragestellung. Andererseits liegen deutliche Analogien zwischen sozial- und geschichtswissenschaftlichen Arbeiten bei der Bewertung der Zäsuren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor.68 Die späten 1960er und frühen 1970er Jahre gelten als revolutionäres Jahrzehnt, in dem sich ein umfassender gesellschaftlich-kultureller Wandel vollzogen habe. Die 1950er Jahre werden wiederum als Phase relativer Stabilität interpretiert, in der es zur „Restauration der traditionellen Kernfamilie“69 gekommen sei. Wie sich wiederum die Veränderungen in diesen drei Jahrzehnten zum Rest des 20. Jahrhunderts verhielten, ist demgegenüber bisher nicht umfassend untersucht worden. Jüngere historische und soziologische Studien nehmen meist lediglich bestimmte Familienformen, wie Alleinerziehende, in den Blick. Oder sie untersuchen die Familie in relativ kleinen Untersuchungszeiträumen, wie der Zwischenkriegszeit, dem Nationalsozialismus oder der Nachkriegszeit bzw. den 1950er und 1960er Jahren.70 Diese Forschungslücke wird geschlossen, indem sowohl die spezifischen Entwicklungen einzelner Jahrzehnte eingehend untersucht als auch diese anschließend in der Geschichte des 20. Jahrhunderts verortet werden.

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Für soziologische Arbeiten vgl. u. a. Trotha, Wandel; Schneider, Familie und private Lebensführung; Beck-Gernsheim, Weg; dies., Familie; Nave-Herz, Familie heute; Huinink/ Konietzka, Familiensoziologie; Burkart, Familiensoziologie; Schneider (Hg.), Lehrbuch; Peuckert, Familienformen (2012). Für historische Studien vgl. u. a. Niehuss, Kontinuität; dies., Familie und Geschlechterbeziehungen; Frevert, Umbruch. Zur Dynamik der 1950er Jahre vgl. ebenfalls Schissler, Preface. In Bezug auf Sexualität argumentiert Sibylle Steinbacher ähnlich: „Mit der Übernahme normativer Termini wie ‚Modernisierung‘ und ‚Fortschritt‘, ‚Restauration‘ und ‚Rückständigkeit‘, derer sich die Zeitgenossen selbstreflexiv bedienten, lässt sich der Prozess des Umbruchs im Umgang mit Sexualität nicht erklären.“ Steinbacher, Sex, 347. Niehuss, Kontinuität, 334. Vgl. u. a. Rosenbaum, Formen; dies., Proletarische Familien; Beck-Gernsheim, Dasein; Beck/Beck-Gernsheim, Individualisierung; Heineman, Difference; Mouton, Nurturing. Für eine Zusammenfassung des Forschungsstandes vgl. Gestrich, Geschichte (2013).

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1. Einleitung

1.6.1 Überblicksdarstellungen und Fallstudien zur Geschichte der Familie und der Frauen

Aufbauen kann die vorliegende Arbeit auf eine umfassende Forschungsliteratur bezüglich der Geschlechtergeschichte und der Geschichte der Familie, die als Forschungsthemen in den 1970er und 1980er Jahren entdeckt wurden. Mittlerweile gelten beide Bereiche als etablierte Forschungsfelder, die anhand zahlreicher Arbeiten empirisch fundiert worden sind.71 Während die Geschlechtergeschichte sich insbesondere mit der innerfamilialen Rollenerwartung und den Aushandlungen von Geschlechterrollen auseinandersetzt,72 befassen sich Arbeiten zur Geschichte der Familie mit verschiedenen Aspekten von Familie. Insbesondere Andreas Gestrich liefert in seiner Überblicksdarstellung Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert eine knappe Zusammenschau wichtiger Fakten und Forschungsdiskussionen.73 Die historische Familienforschung bediente sich zunächst insbesondere der Ansätze der historischen Demographie, der historischen Sozialisationsforschung sowie der Geschlechtergeschichte und erweiterte das Methodenrepertoire um die neue Kulturgeschichte und die historische Anthropologie.74 Die vorliegende Arbeit schließt methodisch an diese Trends an. Ein empirischer Schwerpunkt der historischen Studien lag wiederum auf der Rolle der Frauen. Sie seien der entscheidende Auslöser für die Veränderungen der Familienleitbilder und des Familienlebens in den 1970er Jahren gewesen, argumentiert Gestrich in Anlehnung an soziologische Forschungspositionen. Er verweist auf „die zunehmende Selbstbefreiung der Frauen aus patriarchalischen Familienverhältnissen, ihr Streben nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit“.75 Anders positioniert sich demgegenüber Till van Rahden in seinen Aufsätzen zur Rolle des Vaters in der frühen Bundesrepublik: Er schreibt den Vätern eine zentrale Rolle bei den Veränderungsprozessen der 1950er und 1960er zu und 71

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Vgl. u. a. Hausen, Familie; Frevert, Frauen-Geschichte; dies., Frauen; dies., Mann; Bock, Frauenforschung; dies., Geschichte; Hausen/Wunder (Hg.), Frauengeschichte; Kühne, Männergeschichte; Reulecke, Männerbünde; Silies, Liebe; Gerhard, Frauenbewegung; Paulus/Silies/Wolff (Hg.), Zeitgeschichte. Für eine Einführung in die Geschlechtergeschichte vgl. Opitz, Um-Ordnungen; Lundt, Frauen- und Geschlechtergeschichte; Kemper/Heinsohn, Geschlechtergeschichte. Für einen aktuellen Forschungsüberblick zur Geschichte der Familie vgl. Moeller, Unbenannt und allgegenwärtig; Gestrich, Geschichte (2013), 55–124. Vgl. u. a. Hausen, Polarisierung; dies., Aufsatz. Vgl. Gestrich, Geschichte (2010); ders., Geschichte (2013). Siehe auch ders., Neuzeit; Gestrich, Sozialgeschichte. Vgl. Gestrich, Geschichte (2010), XI; ders., Geschichte (2013), XIII. Für einen dezidiert kulturgeschichtlichen Zugriff auf Familie von der Antike über das Mittelalter zur Moderne vgl. ders./Krause/Mitterauer, Geschichte. Gestrich, Geschichte (2010), 9. Für die Soziologie vgl. exemplarisch Geißler, Sozialstruktur (2002), 365f.

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verweist auf das Ideal der „demokratischen Vaterschaft“. In dieser Zeit sei „eine sanftere und gefühlsbetonte Form der Männlichkeit“76 entstanden, so van Rahden, die eine Vorbedingung einer demokratischen Gesellschaft wie auch einer „demokratischen Familie“ darstelle.77 Sicherlich waren dem neuen Ideal auch Grenzen gesetzt, da die traditionelle Geschlechterordnung weitgehend bestehen blieb.78 Veränderungen, die bereits vor den 1950er Jahren eingesetzt hatten, nimmt van Rahden weniger in den Blick und streift daher bei seiner Analyse die Frage, wie männliche und weibliche Rollenideale aufeinander bezogen waren und sich wechselseitig beeinflussten. Auch die Eltern-Kind-Beziehung wird bisher in historischen Arbeiten lediglich am Rande angesprochen und in dieser Arbeit eingehend aus geschlechterhistorischer Perspektive untersucht. Mit dieser Schwerpunktsetzung baut die Arbeit darüber hinaus auf den umfangreichen empirischen Forschungsarbeiten der Sozialhistoriker Reinhard Sieder und Michael Mitterauer aus den 1970er und 1980er Jahren auf.79 Vor allem Sieders Sozialgeschichte der Familie von 1987 liefert einen wichtigen Überblick. Es fällt auf, dass schon die Kapiteleinteilung auf eine starre Struktur der Familien bis zum Ersten Weltkrieg hinweist. Sieder differenziert analytisch zwischen der bäuerlichen Familie, den Familien der Heimarbeiter und der Handwerker, der bürgerlichen Familie und der Arbeiterfamilie. Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg spricht Sieder dann allgemein von lohnabhängigen Familien. Er deutet damit an, dass die Grenzen zwischen den einzelnen Familientypen nicht mehr eindeutig umrissen waren. An ebendiesem Punkt möchte die vorliegende Arbeit ansetzen und fragen, ob die Entgrenzung der einzelnen Familientypen schon vor den 1920er Jahren eingesetzt habe und zugleich distinkte Unterscheidungskriterien in der Zwischenkriegszeit weiterhin bestehen geblieben seien. Sieders letztes Kapitel „Goldenes Zeitalter“ und Krise der Familie von 1960 bis zur Gegenwart ist aus doppelter Perspektive interessant. An dieser Stelle fließen Sieders Analyse und seine eigenen Erfahrungen in der wissenschaftlichen Darstellung ineinander. Er orientiert sich am Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie und zieht sie, wie zahlreiche seiner Zeitgenossen, als den normativen Bezugsrahmen für die Interpretation der ablaufenden Veränderungen heran. Da ein Familienmodell als normativer Bewertungsrahmen herangezogen wird, erscheinen die Veränderungen der 1970er Jahre fast zwangsläufig als grundstürzend. Das erklärt auch sein Deutungsangebot vom „Goldenen Zeitalter“ und der „Krise der Familie“, das sich auf die Kernfamilie bezieht. Davon abweichende Familienformen wie Alleinerziehende oder nichteheliche Lebensgemeinschaften 76 77 78 79

Rahden, Vati (2010), 123. Vgl. ebenda, 122f. Siehe auch Rahden, Demokratie; ders., Vati (2007); ders., Religion. Vgl. Rahden, Vati (2010), 149. Vgl. Mitterauer/Sieder, Patriarchat; dies. (Hg.), Familienforschung; Sieder, Sozialgeschichte. Zur Sozialgeschichte der Jugend vgl. Mitterauer, Sozialgeschichte.

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werden weniger berücksichtigt.80 Die Verknüpfung von Erfahrung und Analyse lässt sich auch bei Angela Vogels Aufsätzen zur Familie und zu Frauen bzw. zur Frauenbewegung beobachten. Sie urteilt aus der Perspektive der Frauenbewegung gerade über die politischen und juristischen Bestrebungen der Ära Helmut Kohl kritisch, da hier versucht wurde, die „emanzipatorischen“ Bestrebungen der 1970er Jahre ein Stück zurückzunehmen.81 Sofern dieses Ineinanderfließen von persönlicher Erfahrung und wissenschaftlicher Analyse reflektiert wird, können beide Arbeiten gerade im Hinblick auf ihre Deutung des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts weiterhin gewinnbringend verwendet werden. Monika Wienforts Arbeit Verliebt, Verlobt, Verheiratet reicht historisch weiter zurück. Sie untersucht, wie sich das Familienverständnis seit der Romantik verändert hat. Ihre Kernthese geht davon aus, dass die Liebe als Basis für Paarbeziehungen zwar weiterhin Bestand, die Ehe als Lebensmodell jedoch an Bedeutung verloren habe. Diesen Bruch datiert sie auf das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts. Sie belegt anhand schlaglichtartiger Fallstudien, wie sich schon in den zwei vorangegangenen Jahrhunderten der Handlungsspielraum von Frauen und Männern verschoben hat. Da Wienfort den Fokus ihrer Studie auf die Geschichte der Ehe legt, berücksichtigt sie die Veränderung familialer Lebensformen jenseits von Ehepaaren nur vereinzelt. In der hier vorliegenden Studie wird analytisch ein erweiterter Familienbegriff herangezogen, wodurch im Unterschied zu Wienfort alleinerziehende Mütter und nichteheliche Lebensgemeinschaften stärker in eine Geschichte der Familie integriert werden können. Diese Stoßrichtung verfolgt auch Sibylle Buske in ihrer Dissertation Fräulein Mutter und ihr Bastard, die als eine Geschichte der Unehelichkeit im 20. Jahrhundert konzipiert ist und die langen Entwicklungslinien herausarbeitet. Buske orientiert sich in ihrer Darstellung an der rechtshistorischen Entwicklung. Damit deckt ihre Arbeit die Zeit vom Inkrafttreten des BGB im Jahr 1900 bis zur Reform des Nichtehelichenrechts 1970 ab, wobei ein klarer Schwerpunkt auf der Zeit nach 1945 liegt. Dies begründet Buske mit dem sich dynamisierenden Wandel gegen Ende der 1950er Jahre, der letztlich in der Rechtsreform mündete. Obwohl Buske die rechtshistorische Entwicklung in den Vordergrund stellt, erweitert sie diese Perspektive gekonnt um eine sozial-, kultur- und geschlechtergeschichtliche Dimension. Beide Stränge werden in dieser Studie aufgegriffen und schließlich noch um eine weitere Familienform ergänzt, die ebenfalls vom Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie abweicht: die nichteheliche Lebensgemeinschaft.82 Andere Studien befassen sich wiederum mit Teilaspekten von Familie wie Ehescheidung, weiblicher Berufstätigkeit und Familienpolitik und liefern zum 80 81 82

Vgl. Sieder, Sozialgeschichte. Vgl. Vogel, Familie; dies., Frauen. Vgl. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 12f., 20f.

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jeweiligen Themengebiet einen vertieften Einblick. Hierzu zählen insbesondere Dirk Blasius’ Ehescheidung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Christine von Oertzens Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen, Klaus Jörg Ruhls Verordnete Unterordnung und Carola Sachses Studie zum Hausarbeitstag.83 Darüber hinaus muss die mehrbändige Reihe Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland nach 1945 genannt werden, die jeweils in einem Teilkapitel eine Zusammenschau wichtigster Veränderungen in der Familien-, Frauen- und Jugendpolitik in beiden deutschen Staaten gibt.84 In der Summe wurde in den Teilkapiteln der vorliegenden Arbeit immer wieder auf diese Ergebnisse Bezug genommen und sie wurden sowohl in die langen Linien des 20. Jahrhunderts wie auch der Geschichte der Familie eingebettet. 1.6.2 Frauen im frühen 20. Jahrhundert

Ein weiterer zentraler Strang der Forschungsliteratur, auf den die vorliegende Arbeit aufbaut, ist im Bereich der Geschlechtergeschichte entstanden. Zunächst ist Ute Daniels 1989 veröffentlichte Dissertation zu benennen. Sie hinterfragt die „emanzipatorische Wirkung“ des Ersten Weltkriegs auf Arbeiterfrauen in den drei Bereichen Beruf, Familie und Politik. Daniel verwebt in ihrer Studie erfahrungs- und strukturgeschichtliche Ansätze mit einer frauengeschichtlichen Perspektive und zeigt so, wie Alltagsgeschichte und Historische Sozialwissenschaft miteinander kombiniert werden können.85 Darüber hinaus legte Birthe Kundrus mit Kriegerfrauen eine weitere wichtige Studie vor. Sie geht darin generell der Frage nach, wie die Kriegsunterstützung als familienpolitisches Instrument eine doppelte Funktion erfüllte: finanzieller Beitrag zur Unterstützung der Familien und Steuerungsinstrument für den Familienalltag und die Geschlechterrollen.86 Daran schließt die vorliegende Studie an und verortet diese Befunde in den langen Entwicklungslinien des 20. Jahrhunderts. 83

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Vgl. Blasius, Ehescheidung; ders., Ehescheidung (1987); ders., Rechtsgleichheit; Oertzen, Teilzeitarbeit; dies., Abschied; dies., Fräulein; dies., Teilzeitarbeit für die moderne Ehefrau; dies./Rietzschel, Kuckucksei; Ruhl, Unterordnung; Sachse, Hausarbeitstag. Siehe auch dies., Eisen; dies., Normalarbeitstag. Vgl. Wengst (Hg.), Zeit (2/1); ders. (Hg.), Zeit (2/2); Schulz (Hg.), Bundesrepublik Deutschland 1949–1957; Ruck/Boldorf (Hg.), Bundesrepublik Deutschland 1957–1966; Hockerts (Hg.), Bundesrepublik Deutschland 1966–1974; Geyer (Hg.), Bundesrepublik Deutschland 1974–1982; Schmidt (Hg.), Bundesrepublik Deutschland 1982–1989; Hoffmann/Schwartz (Hg.), Deutsche Demokratische Republik 1949–1961; Kleßmann (Hg.), Deutsche Demokratische Republik 1961–1971; Boyer/Henke/Skyba (Hg.), Deutsche Demokratische Republik 1971–1989. Vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, 12f. Zur Eingrenzung des Untersuchungszeitraums und Untersuchungsgegenstandes Vgl. ebenda, 13f. Vgl. Kundrus, Kriegerfrauen, 15, 26f.

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1. Einleitung

Karen Hagemanns Dissertation Frauenalltag und Männerpolitik verknüpft ebenfalls Struktur- und Erfahrungsgeschichte. Sie beleuchtet einerseits die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen für den Alltag der Frauen während der 1920er Jahre. Darüber hinaus untersucht sie den Handlungsspielraum und das Verhalten von Frauen aus dem Arbeitermilieu.87 Obwohl Hagemann ihren Untersuchungsgegenstand auf das sozialdemokratische Milieu im Stadtstaat Hamburg regional und politisch eng absteckt, korreliert sie die lokalen Entwicklungen mit den auf der Reichsebene ablaufenden Prozessen und Ereignissen. Insofern gibt Hagemann einen allgemeinen Einblick, wie sich der Frauenalltag während der Weimarer Republik wandelte, auf den im Folgenden aufgebaut wird.88 Die Entwicklungen in den nachfolgenden Jahrzehnten liegen außerhalb von Hagemanns Untersuchungszeitraum und werden in dieser Studie um die Perspektive des 20. Jahrhunderts verlängert. 1.6.3 Familie von der Zwischen- bis zur Nachkriegszeit

Welchen Veränderungen die Debatten um die Familie in der Weimarer Republik unterlagen, analysiert wiederum Rebecca Heinemann mit ihrer Studie Familie zwischen Tradition und Emanzipation am Beispiel des katholischen und des sozialdemokratischen Milieus. Zwei Leitthemen prägten die öffentlich ausgetragenen Kontroversen. Zeitgenossen nahmen die 1920er Jahre als „Krisen- und Übergangszeit“89 wahr, in der die Institution Familie eine Stabilisierungsfunktion übernehmen sollte. Allerdings divergierten die zeitgenössischen Ansichten über die „richtige“ Familie.90 Heinemann legt somit anhand zentraler zeitgenössischer Themen offen, welche Bedeutung Familie für gesellschaftliche Entwicklungen zugeschrieben wurde. Wie stark sowohl die Themen als auch die Vorstellung von der Familie als stabilisierend wirkende Institution die öffentlichen Kontroversen schon im ausgehenden 19. Jahrhundert sowie in die 1960er und 1970er Jahre prägten, kann aufbauend auf Heinemanns Befunden eingehend diskutiert werden. Andere Studien haben sich intensiv mit den unterschiedlichen politischen Zugriffen auf den Privatraum Familie beschäftigt. Cornelie Usbornes Arbeit Frauenkörper – Volkskörper geht dem Verhältnis zwischen dem Gesamtinteresse des Volkes und dem individuellen Interesse der Frauen am Beispiel Geburten-

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Vgl. Hagemann, Frauenalltag, 13. Vgl. ebenda, 13f. Heinemann, Familie, 11. Zur wissenschaftlichen Annäherung an den Begriff der „Krise“ vgl. u. a. Föllmer/Graf/Leo, Einleitung; Mergel, Krisen. Vgl. Heinemann, Familie, 11ff. Familie galt somit als „Garantin gesellschaftlicher Stabilität“. Ebenda, 11.

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kontrolle und Bevölkerungspolitik in der Weimarer Republik nach.91 Wie stark sich die familienpolitischen Intentionen der Weimarer Republik von der NSFamilienpolitik unterschieden, betont Michelle Moutons From Nurturing the Nation to Purifying the Volk. Im Nationalsozialismus war der staatliche Zugriff auf die Familie zentralistisch geregelt sowie wesentlich rigider und umfassender als in der Weimarer Republik. Mouton untersucht dabei aber auch das Missverhältnis zwischen den Intentionen der Regierung und der alltäglichen Realität in den Familien, indem sie die Umsetzung der familienpolitischen Maßnahmen auf lokaler Ebene in Westfalen analysiert.92 Elizabeth Heinemans What Difference Does a Husband Make? untersucht wiederum wie Mouton vor allem die familienpolitischen Maßnahmen zwischen den 1920er und 1950er Jahren. Im Unterschied zu Mouton konzentriert sich Heineman auf alleinstehende Frauen und Mütter, wie dies bereits der Titel ihrer Arbeit zum Ausdruck bringt.93 Umbruch und Veränderung der Geschlechterrollen sind ihre Leiterzählungen für ihre beiden Personengruppen während der 1930er und 1940er Jahre, die dann in der zeitgenössischen Wahrnehmung des Nachkriegsdeutschlands, wenngleich nur für kurze Zeit, die „Stunde der Frauen“94 einleiteten. Rückt die Familie ins Zentrum des Erkenntnisinteresses, dann ergibt sich ein konträrer Befund, wie dies Hester Vaizey in Surviving Hitler’s War herausarbeitet. Familie war während des Kriegs und in der Nachkriegszeit der Ankerpunkt vieler verunsicherter Frauen und Männer. Familie war als Institution unhinterfragt und akzeptiert. Gleichzeitig hatten die Belastungen des Kriegs und der Nachkriegswirren die emotionalen Beziehungen zwischen Familienmitgliedern sogar noch verstärkt. Vaizey betont ebenfalls die Persistenz traditioneller Geschlechterrollen, die ebenfalls nicht erodierten. Die Familie ging also gestärkt aus den Krisenjahren zwischen 1939 und 1948 hervor. Von einer Krise der Familie kann nach dieser Lesart keine Rede sein.95 Beide Sichtweisen scheinen auf den ersten Blick unvereinbar nebeneinander zu stehen. Bei genauerem Hinsehen wird evident, dass Vaizey mit ihrem alltagsgeschichtlichen Zugriff ein komplementäres Versatzstück zu den Arbeiten von Mouton und den im Folgenden vorgestellten Studien von Merith Niehuss und Robert Moeller vorgelegt hat. Letztere konzentrieren sich auf die Familie als Institution und untersuchen, welche Vorstellungen von Familie gesellschaftliche 91 92 93

94 95

Vgl. Usborne, Frauenkörper, 11. Vgl. Mouton, Nurturing, 3f., 12–15,19–25. Für NS-Familienpolitik vgl. ebenfalls Pine, Nazi Family Policy. Vgl. Heineman, Difference, XV, 4. Zu Heinemans Forschungspositionen vgl. ebenfalls dies., Families; dies., Hour (1996); dies., Motherhood; dies., Mothers; dies., Stunde; dies., Hour (2001). Vgl. Heineman, Hour (1996); dies., Stunde. Vgl. Vaizey, Surviving, 2–5.

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1. Einleitung

Eliten diskursiv verhandelten. Vaizey hingegen fragt nach den Gedanken und Gefühlen der Familienmitglieder, also dem innerfamilialen Beziehungsgeflecht. Die unterschiedlichen Interpretationen resultieren ferner aus den jeweiligen Untersuchungsgegenständen. Heineman analysiert alleinstehende Frauen und Mütter; Vaizey berücksichtigt ausschließlich Kernfamilien, also Ehepaare mit gemeinsamen Kindern, in Westdeutschland. Alle Familienformen jenseits dieser eng definierten Familien bzw. Personengruppen werden wie die ihnen innewohnende soziale Dynamik am Rande thematisiert. 1.6.4 Familien in der Bundesrepublik zwischen den 1950er und den frühen 1970er Jahren

Den Charakter der Familie als Netzwerk von Sozialbeziehungen nehmen Merith Niehuss und Robert G. Moeller in ihren Studien zur Familie in der frühen Bundesrepublik nur partiell in den Blick. Sie untersuchen hingegen vorrangig die Familie als soziale Institution. In ihrer strukturgeschichtlich konzipierten Arbeit Familie, Frau und Gesellschaft stützt sich Niehuss auf eine breite Quellenbasis wie statistische Erhebungen, die allerdings sowohl die Individuen in den Hintergrund treten lassen als auch ihren individuellen Einfluss auf die gesellschaftlichen Strukturen nur am Rande thematisieren. Zudem suggerieren die quantitativen Daten Veränderungen, die wiederum von qualitativen Bewertungen relativiert würden. Das betrifft insbesondere die zeitgenössische Interpretation von der Bedrohung der Institution Familie, die vom Anstieg der Scheidungszahlen in der Nachkriegszeit und der weiblichen Berufstätigkeit in den 1950er Jahren ausgelöst wurde.96 Sicherlich spielte die Kernfamilie in den 1950er und 1960 Jahren für die gesellschaftliche Entwicklung eine zentrale Rolle, weshalb sich der Historiker Robert G. Moeller in Geschützte Mütter genauso wie Niehuss auf diesen Familientyp konzentriert. Moeller belegt anhand der Debatten um die Familie und die Geschlechterrollen, wie das politische Projekt „Wiederherstellung der ‚Normalfamilie‘“ – der bürgerlichen Kernfamilie – in der frühen Bundesrepublik umgesetzt wurde.97 Zeitgenossen schrieben dieser Familienform große Bedeutung zu, da sie für sie die „Rückkehr zur Normalität nach dem Trauma und den Verwüstungen des Krieges“98 symbolisierte. Die „Refamilialisierung“99 oder „Restauration der traditionellen Kernfamilie“,100 wie es Merith Niehuss bezeichnet, war ein

96 97 98 99 100

Vgl. Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 7ff. Moeller, Unbenannt und allgegenwärtig, 323. Ebenda. Siehe auch Moeller, Mütter. Moeller, Unbenannt und allgegenwärtig, 322. Niehuss, Kontinuität, 334.

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1.6 Forschungsstand

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Charakteristikum der 1950er Jahre, beschreibt jedoch lediglich einen Teilaspekt der ablaufenden Prozesse. Erstmals setzte sich die bürgerliche Kernfamilie in der sozialen Praxis in den 1950er Jahren in weiten Gesellschaftsteilen durch. Wenn jedoch die niedrigeren Heiratsquoten sowohl der 1920er als auch der 1970er Jahre als Referenzpunkte herangezogen werden, dann erscheinen die 1950er und frühen 1960er Jahre als „eine historische Ausnahmesituation“101 und nicht als Normalfall, weshalb der Begriff „Restauration“ der Kernfamilie die Veränderungen lediglich partiell abbildet.102 Moeller untersucht die Politiker und Kirchenvertreter und konzentriert sich dabei auf die diskursiv verhandelten Familienideale, wodurch der Schwerpunkt auf dem institutionellen Charakter von Familie liegt. Ferner steht das Modell der bürgerlichen Kernfamilie im Mittelpunkt seiner Studie. Davon abweichende Familienformen wie Ein-Eltern-Familien werden weniger in die Darstellung miteinbezogen. Das Urteil trifft auch auf Lukas Rölli-Alkempers Arbeit Familie im Wiederaufbau zu, die sich mit dem Katholizismus und der Familie in der frühen Bundesrepublik befasst. Gleichwohl geht Rölli-Alkemper über die Analyse der von Katholiken und Politikern verhandelten Familienleitbilder hinaus, indem er diese Ideale mit der sozialen Praxis des katholischen Milieus korreliert. Rölli-Alkemper kommt zu dem Ergebnis, dass der Katholizismus in den 1950er Jahren eine Hochphase erlebt habe, wenngleich sich unter der Oberfläche Veränderungsprozesse angedeutet, die schließlich in den 1960er Jahren die Stabilität des katholischen Milieus erodieren lassen hätten.103 Zu klären bleibt gleichwohl, inwiefern in den 1950er Jahren katholische Glaubensgrundsätze für die soziale Praxis überhaupt handlungsleitend waren. Die Familienpolitik zwischen der Gründung der Bundesrepublik und der Mitte der 1970er Jahre analysiert Christiane Kullers Familienpolitik im föderativen Sozialstaat und ergänzt vorliegende politikwissenschaftliche Studien sowohl um eine fundierte historische Tiefenschärfe als auch um eine „föderative Perspektive“. Im Fokus stehen die Träger der Familienpolitik und die von ihnen angedachten bzw. umgesetzten Maßnahmen. An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an und ergänzt Kullers Befunde, korreliert dabei auch die familienpolitischen Entscheidungen mit dem Familienleben.104 Die familienpolitischen Konzeptionen bis in die 1980er Jahre hinein ergänzt wiederum David Schumanns Arbeit Bauarbeiten am Fundament der Gesellschaft.105 Inwiefern sich die wohlfahrtsstaatliche 101 102 103 104

105

Peuckert, Familienformen (2012), 37. Vgl. ebenda; Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 17; Coontz, Tagen, 13f. Vgl. Rölli-Alkemper, Familie, 28ff. Für eine anderslautende Interpretation der Rolle des Katholizismus in den 1950er Jahren vgl. Ziemann, Entwicklung. Vgl. Kuller, Familienpolitik, 4f. Für politikwissenschaftliche Arbeiten vgl. u. a. Langer-El Sayed, Familienpolitik; Cramer, Lage; Joosten, Frau; Münch, Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Vgl. Schumann, Bauarbeiten.

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1. Einleitung

Politik der Bundesrepublik auf die soziale Gruppe der Mittelschicht auswirkte, geht Dagmar Hilpert in ihrer Dissertation Wohlfahrtsstaat der Mittelschichten? nach. Die Mittelschicht war nach Hilpert Adressat und Profiteur der Sozialpolitik und expandierte aufgrund der politischen Unterstützung.106 Diese Arbeiten stellen zu unterschiedlichsten Themenfeldern einen breiten Fundus an empirischen Informationen bereit, auf den im Folgenden aufgebaut und angeknüpft wird. Die späten 1970er wie auch die 1980er Jahre haben Historiker hingegen bisher weniger untersucht. Sie sind bis heute primär das Terrain der Familiensoziologen. Auch hier wird die Arbeit anschließen und die historische Perspektive bis zur Wiedervereinigung im Jahr 1990 verlängern.107 1.6.5 Familie und Frauen in der Geschichte der DDR

Für die Zeit nach 1945 kann zudem die Geschichte der Familie nicht ohne Beachtung des aufkeimenden Kalten Kriegs untersucht werden. Moellers Geschützte Mütter zeigt eindrücklich auf, wie stark in der Bundesrepublik die familienpolitische Rhetorik während der 1950er Jahre von der Frontstellung des Kalten Kriegs geprägt war.108 Während Moeller sich aus einer westdeutschen Perspektive der Familie nähert und die DDR lediglich als rhetorisch verhandelte Negativfolie präsentiert, nimmt ein weiteres Set an Arbeiten die Geschlechterrollen und Familienideale aus der Perspektive der DDR in den Blick. Im Kern der Argumentation stehen dabei diskursiv verhandelte Ideale, rechtliche Regelungen und die sozialen Praktiken. Seinen Entstehungskontext sowie das Familiengesetzbuch der DDR selbst analysiert Ute Schneiders Hausväteridylle oder sozialistische Utopie? und arbeitet unter anderem heraus, wie sich das Leitbild der berufstätigen Frau verbreitete.109 Ebenfalls aus einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive nähert sich Donna Harsch in ihrer Monographie Revenge of the Domestic diesem Thema. Die häuslich-private Sphäre habe eine enorme Beharrungskraft aufgewiesen, an der von außen herangetragene Reformanstrengungen der Politik gescheitert seien.110 Den primären Fokus auf Akademikerinnen legt Gunilla Budde in ih106 107

108 109 110

Vgl. Hilpert, Wohlfahrtsstaat. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass mittlerweile immerhin zahlreiche historische Studien den Zeitraum von Mitte der 1940er bis Mitte der 1970er Jahre entdeckt haben. Noch 2001 war auch die Nachkriegszeit das Terrain der Soziologinnen und Soziologen gewesen. So beklagte Merith Niehuss damals, dass die Nachkriegsfamilien fast ausschließlich von Soziologen – nicht aber Historikern – untersucht worden seien. Vgl. Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 9. Vgl. Moeller, Mütter, 355. Vgl. Schneider, Hausväteridylle, 1–4. Vgl. Harsch, Revenge, 1f.

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1.7 Aufbau und Eingrenzung

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rer Habilitationsschrift Frauen der Intelligenz und hinterfragt dabei die Lesart von einer Erfolgsgeschichte der Frauenemanzipation in der DDR. Sie kann die Diskrepanz zwischen dem Ideal der emanzipierten Frau und der Praxis des vom traditionellen Rollenverständnis geprägten Familienlebens offenlegen.111 Indem Budde beide Ebenen – diskursiv verhandelte Wunschbilder und soziale Alltagspraxis – berücksichtigt, kann sie untersuchen, wie zeitgenössische Sichtweisen hinterfragt und differenziert werden können. Im Folgenden wird im Anschluss an ihre Analyse die Perspektive bis in die 1980er Jahre verlängert und zugleich in die langfristigen Veränderungsprozesse von Familienidealen und Geschlechterrollen im 20. Jahrhundert eingebettet.

1.7 Aufbau und Eingrenzung Die vorliegende chronologisch-thematisch strukturierte Arbeit untersucht „die Familie“ aus unterschiedlichen Perspektiven, wobei in jedem Zeitabschnitt abhängig von den jeweils zeitgenössisch verhandelten Themen spezifische Schwerpunkte gesetzt wurden. Gleichwohl wurden mehrere Themen ausgeklammert oder konnten lediglich partiell diskutiert werden. Vor allem das Thema Sexualität sowie die Kontroversen um Abtreibung und § 218 blieben ausgespart, da es hier nicht primär um die Familie als Institution oder Lebensgemeinschaft ging. Vielmehr standen individuelle Freiheiten und – vor allem bei den Debatten um die Regelung der Abtreibung – das Selbstbestimmungsrecht der Frau im Vordergrund. Das erste Kapitel Versuchte Einhegung gesellschaftlicher Veränderungen untersucht, wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die bürgerliche und die proletarische Familie als neue und als „modern“ kodierte Sozialformationen entstanden und wie sie mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Jahr 1900 in ein neues rechtliches Setting eingebettet wurden. Anschließend werden die um die Jahrhundertwende beginnende Dramatisierung, Polarisierung und Biologisierung der Diskurse untersucht und die Folgen des Ersten Weltkriegs für die Familienideale und den Familienalltag diskutiert. Der Abschnitt Projektionsfläche für Wunschvorstellungen und Realität im Alltag zeigt, wie sich in den 1920er Jahren im öffentlichen Diskurs konträre Familienvorstellungen und Geschlechterrollenmodelle gegenüberstanden. Im Mittelpunkt der Analyse stehen dabei zunächst die verhandelte „Krise der Familie“ und die Frage, wie die Institution Familie auf die Gesellschaft stabilisierend einwirken könne. Im Zuge der Aushandlungsprozesse diskutierten Zeitgenossen vor allem die unterschiedlichen 111

Vgl. Budde, Frauen, 13f. Mit Fokus auf die Familie im deutsch-deutschen Vergleich vgl. dies., Alles bleibt anders.

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1. Einleitung

Rollen der Frau als Ehefrau, Mutter, Hausfrau und Berufstätige. Sie untersuchten überdies die Sozialstruktur von Familien und Familienbeziehungen. Im Nationalsozialismus erfuhr die Institution Familie besondere Wertschätzung, wenngleich dies unter neuen Gesichtspunkten erfolgte und ein rassenideologischer Opportunismus die politische Einflussnahme und versuchte Redefinition der Familienideale prägte. In diesem Zeitabschnitt stand ein funktionalistisches Familienverständnis im Vordergrund, dass sich an den rassenideologischen Zielen des Regimes orientierte. Daher wurden jeweils die Familienideale und Geschlechterrollen politisch und juristisch gesetzt. Abschließend analysiert dieses Kapitel, wie die Institution Familie während der Nachkriegszeit in einem Spannungsverhältnis zwischen Überlastung und Konflikten einerseits sowie Zusammenhalt und Wertschätzung andererseits stand. Das Kapitel Familien als Ankerpunkte in beiden Teilen Deutschlands während der Aufbauphase der 1950er Jahre thematisiert, wie die Institution Familie in zwei konträre politische Systeme mit divergierenden Idealen eingebettet war und wie dies in unterschiedlichen frauen- und familienpolitischen Zielen mündete, während sich die sozialen Praktiken über die innerdeutsche Grenze hinweg weiterhin ähnelten. Zudem werden Familienformen jenseits der christlich-bürgerlichen Kernfamilie wie die Alleinerziehenden und die „Onkelehen“ diskutiert. Abschließend werden die unterschiedlichen zeitgenössischen Interpretationen zu den Geschlechterrollen untersucht und es wird gefragt, welche methodischen Vorannahmen die jeweiligen Deutungen bedingten. Das Kapitel Familienideale und familiale Praktiken im Zeichen statistischer Indikatoren betrachtet die in den 1960er Jahren einsetzenden statistisch gemessenen Veränderungen anhand der Indikatoren Heiratsneigung, Geburtenziffern und Ehescheidungszahlen und diskutiert, wie sie zeitgenössisch interpretiert wurden. In den 1960er und 1970er Jahren erfolgte die Etablierung eines neuen institutionellen Settings in Ost- und Westdeutschland. Einerseits stehen dabei die Rechtsreformen und der damit einhergehende Bruch der Rechtstradition des BGB im Vordergrund. Darüber hinaus erfolgte in Westdeutschland unter der sozialliberalen Koalition eine Neubestimmung des familienpolitischen Standorts. Als Sozialphänomen wurde überdies Gewalt in der Familie, d. h. des Ehemannes und Vaters gegenüber den Frauen und Kindern „entdeckt“ und die damit einhergehenden sozialen Probleme öffentlich verhandelt. Das letzte Kapitel Rekonfiguration der Ideale „Familie“ und „Partnerschaft“ zwischen den 1970er und 1980er Jahren setzt drei Schwerpunkte. Es betrachtet, wie sich Partnerschaft zum Leitbegriff der 1970er Jahre entwickelte. Zudem analysiert das Kapitel, wie in den 1970er Jahren eine Pluralisierung der Familienideale und damit einhergehend auch des Sprechens über Familie erfolgte, bevor abschließend auf die vermeintlichen Defizite der Institution Familie eingegangen wird.

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2. Versuchte Einhegung gesellschaftlicher Veränderungen: Familienvorstellungen im Kaiserreich 2.1 Genese „moderner“ Familienformen und Strahlkraft des Ideals der christlich-bürgerlichen Kernfamilie Im ausgehenden 18. Jahrhundert trat neben die „traditionellen“ Familien der Bauern, Handwerker und den Mischtypus der Heimarbeiterfamilien die erste als „modern“ kodierte Familienform – die bürgerliche Familie. Die Familien der unselbständigen Arbeiter begannen sich ebenfalls zu verändern und ließen im 19. Jahrhundert über mehrere Generationen hinweg den zweiten Typ einer „modernen“ Familie entstehen – die Familie der Industriearbeiter. Bei beiden Familienformen handelte es sich um Kernfamilien, die sich aus einem Elternpaar und Kind(ern) zusammensetzten. Folglich gehörten Großeltern und unverheiratete Geschwister in der Regel nicht mehr zur Haushaltsgemeinschaft. Die sich wandelnden Produktionsbedingungen lösten diesen Veränderungsprozess aus, da sie zu einer räumlichen Trennung von Wohnort und Arbeitsstätte führten. In proletarischen Familien strukturierte insbesondere der Arbeitstag und die Arbeitszeit das Familienleben.1 Zudem prägte der Wohnraum das soziale Verhalten, auf den später eingegangen wird. Soziale Praktiken initiierten damit einen gesellschaftlichen Wandel. Obwohl sich die beiden neuen Familientypen im Hinblick auf die Trennung von Wohnraum und Arbeitsort ähnelten, unterschieden sie sich in einem entscheidenden Punkt: den Arbeitsverhältnissen.2 Während männliche Angehörige des Bürgertums oft als Unternehmer und Beamte tätig waren, standen die Arbeiter in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis mit meist unsicherem Einkommen. Ihr Verdienst reichte oft nicht aus, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Deshalb mussten in proletarischen Familien die Ehefrauen und älteren Kinder zuverdienen, obschon die Ehemänner normalerweise die Berufstätigkeit ihrer Frauen ablehnten. Der Zuverdienst der Mütter lag zudem meist unter dem der Kinder, da sie oft in Branchen mit niedrigeren Löhnen wie der Textilindustrie arbeiteten. Ferner mussten Arbeiterfrauen ihre Berufstätigkeit häufig unterbrechen, zum Beispiel, wenn sie nach der Geburt eines Kindes aus der Fabrik ausschieden. Dann leisteten sie jedoch vielfach weiterhin mit der 1 2

Vgl. Sieder, Sozialgeschichte, 125f., 146–149; Ehmer, Gesellen, 115f., 124–127; Nipperdey, Geschichte (1866–1918), 47f.; Rosenbaum, Formen, 18, 476; Saldern, Häuserleben, 15. Vgl. Rosenbaum, Formen, 13, 21ff., 379, 470.

https://doi.org/10.1515/9783110651010-002

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2. Versuchte Einhegung gesellschaftlicher Veränderungen

schlecht bezahlten Heimarbeit einen Beitrag zum Familieneinkommen. Daneben sicherten sich Arbeiterfamilien durch die Untervermietung von Wohnraum unter anderem an „Schlafgänger“ ein zusätzliches Einkommen.3 Deutliche Unterschiede zeigten sich auch bei der gesellschaftlichen Verbreitung des jeweiligen Familienmodells. Die besondere Bedeutung der Arbeiterfamilie resultierte im ausgehenden 19. Jahrhundert aus ihrer zunehmenden quantitativen Verbreitung. Das Modell der bürgerlichen Familie prägte die Vorstellung vom ideellen Familienleben und beeinflusste so – trotz seiner geringen Verbreitung – alle gesellschaftlichen Gruppen.4 Zugleich initiierten die sozialen Praktiken eine Debatte um die gesellschaftliche Bedeutung der beiden Familienmodelle und die dahinterstehenden Ideale. Die argumentative Basis für die Befürworter wie die Gegner des bürgerlichen Familienideals legten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem vier Autoren: Der protestantische Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl entwarf ein ideologisiertes, naturrechtlich konstruiertes patriarchalisches Familienleitbild vom „Ganzen Haus“, das zudem den Bezugspunkt für das bürgerliche Familienmodell bildete und weiter unten diskutiert wird. Sein Ideal entwarf er erstmals 1855 in der Studie Die Familie, die in seiner vierbändigen Reihe Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik erschien, welche aus seiner Perspektive die zentralen Merkmale der sozialen Verhältnisse und kulturellen Lebensweise der Deutschen herausarbeitete. Bis 1935 erschien das Werk Die Familie in 17 Auflagen und entfaltete eine enorme Reichweite.5 Riehls Familienmodell standen die emanzipatorischen Konzepte von Karl Marx, Friedrich Engels und August Bebel entgegen. Die Schriften von Karl Marx und vor allem Friedrich Engels’ Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats von 1884 entwickelten eine ähnliche Prägekraft wie Riehls. Der Sozialdemokrat August Bebel griff Marx’ und Engels’ Kritik an der Familie als Herrschafts- und Machtinstrument auf und erreichte mit seiner Schrift Die Frau im Sozialismus ebenfalls ein breites Publikum. Allein zwischen 1879 und 1902 erschien die Arbeit in 34 mehrfach überarbeiteten und aktualisierten Auflagen.6

3 4 5

6

Vgl. Sieder, Sozialgeschichte, 185–191; Nipperdey, Geschichte (1866–1918), 68; Ullrich, Großmacht, 321; Frevert, Frauen-Geschichte, 88. Vgl. Tenfelde, Arbeiterfamilien, 179; Rosenbaum, Formen, 476, 483f. Kleinbürgerliche Schichten übernahmen ebenfalls das bürgerliche Ideal. Vgl. Berg, Familie, 95. Vgl. Schwägler, Soziologie, 35; ders., Anfänge, 15; König, Soziologie der Familie, 1; Evans, Politics, 256; Nave-Herz, Wilhelm Heinrich Riehl, 15; Kuhn, Familie, 71. Zu Riehls Leben und einem Überblick seiner Arbeiten vgl. Altenbockum, Wilhelm Heinrich Riehl; Lövenich, Sittlichkeit; Schwägler, Soziologie, 33f.; Kuhn, Familie; Nave-Herz, Wilhelm Heinrich Riehl. Neben Riehl setzte sich auch der Franzose Fréderic Le Play mit der Familie des 19. Jahrhunderts auseinander. Für einen Vergleich der Forschungspositionen vgl. u. a. Gestrich, Geschichte (2010), 57f.; König, Soziologie der Familie, 5–8. Vgl. Marx/Engels, Manifest; Engels, Ursprung; Bebel, Frau, 19, 21f.

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2.1 Genese „moderner“ Familienformen

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Beide Positionen bildeten in den öffentlichen Konflikten um Familienideale und Geschlechterrollen normativ aufgeladene Positionen ab. Die Autoren beschrieben in ihren Arbeiten folglich keine sozialen Praktiken. Vielmehr konstruierten sie unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe, wie das Zusammenleben zukünftig aussehen solle.7 Ihre Schriften waren somit Teil eines schwelenden Konfliktes um gesellschaftliche Zukunfts- und Ordnungsentwürfe. Die Familienideale prägten aber nicht allein diese Schriften. Vielmehr wurden sie von einer Gemengelage zahlreicher miteinander verwobener Größen beeinflusst, wie dem Einfluss von Elternhaus, Schule, Kirche, Recht, Ärzten oder aber Zeitungen und literarischen Darstellungen.8 Der Familie selbst kam für diesen Prozess ebenfalls eine zentrale Funktion zu, da sie gleichermaßen den strukturellen Rahmen wie auch die individuellen Freiräume für die Aneignung der „bürgerlichen Kultur“9 bot. Literarisch verarbeitete diese Austauschbeziehung Thomas Mann in seinem Roman Die Buddenbrooks. Er zeichnet darin nach, wie Kinder in einer bürgerlichen Umwelt aufwachsen und zentrale bürgerliche Werte wie Familie, Arbeitsethos, Disziplin, Bildung und Religiosität internalisieren, aber zugleich an deren Umsetzung scheitern.10 Bürgerinnen und Bürger erlernten somit ein „Set von Werten, Einstellungen und Vorstellungen“,11 mittels derer die Unterschiede zu anderen sozialen Gruppen wie der Arbeiterschaft zum Ausdruck kamen.12 Die Familie und das praktizierte Familienleben nahmen eine zentrale Rolle bei der Tradierung und Beeinflussung von Idealen ein, wie dies auch Historikerinnen und Historiker herausgearbeitet haben. Gunilla Budde bezeichnet die Familie als den „Dreh- und Angelpunkt ‚bürgerlicher Kultur‘“,13 der bis weit über die Grenzen der soziokulturellen Formation des Bürgertums hinaus in andere soziale Gruppen strahlte. Obwohl verschiedene Faktoren das zeitgenössische Verständnis von „der Familie“ prägten, nahmen die Arbeiten von Riehl sowie von Bebel, Marx und Engels insbesondere aus drei Gründen eine hervorgehobene Position ein. Erstens bildeten sie die beiden Extrempole von Gesellschaftsentwürfen ab. Zweitens gelang es 7

8 9

10 11 12 13

Vgl. Gestrich, Geschichte (2010), 7; König, Soziologie der Familie, 6; Mitterauer, Mythos, 39. Ähnlich auch bei Schwägler, Soziologie, 36; Nave-Herz, Wilhelm Heinrich Riehl, 27; Huinink/Konietzka, Familiensoziologie, 17. Für eine Zusammenfassung der zeitgenössischen Rezeption vgl. Ritter/Tenfelde, Arbeiter, 539–542. Vgl. Nipperdey, Geschichte (1866–1918), 45. Bürgerliche Kultur kann definiert werden als „ein Ensemble von Normen, Mentalitäten und Lebensweisen, die für bürgerliche Schichten charakteristisch waren“. Ullrich, Großmacht, 279. Siehe auch Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit, 42–45. Vgl. Mann, Buddenbrooks. Zur Herleitung der bürgerlichen Werte vgl. Schulz, Lebenswelt, 3, 8f., 19–22. Hettling, Kultur, 319. Zur Differenzierung zwischen bürgerlichen Familien und Arbeiterfamilien vgl. u. a. Sieder, Sozialgeschichte, 125–211. Budde, Bürgerinnen, 258. Ähnlich bei Evans, Family, 115.

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2. Versuchte Einhegung gesellschaftlicher Veränderungen

ihnen, scharf konturierte Ideale zu entwerfen, die bis weit ins 20. Jahrhundert als „Leitsterne“14 für das ideale Familienleben firmierten und die öffentlichen Diskussionen um die Familie maßgeblich prägten.15 Ihre Entwürfe eines idealen Familienlebens waren drittens Versuche, die wahrgenommenen Verschiebungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie Industrialisierung, Arbeitsteilung, Urbanisierung, Frauenarbeit und Emanzipation sowie den vielfach diskutierten Verlust männlicher Autorität gedanklich zu bewältigen. Exemplarisch kann die Veränderung an den Folgen von Industrialisierung und Urbanisierung aufgezeigt werden. Beide Prozesse ließen ab den 1870er Jahren großflächige, voneinander getrennte Räume, wie Industrie- und Wohnviertel entstehen. Zudem wuchs der Anteil der Bevölkerung in Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern zwischen 1871 und 1910 von 14 auf 40 Prozent und bis 1933 nochmal auf 47 Prozent. Der erste Zuwachs resultierte aus der Zuwanderung und einem Geburtenüberschuss, der zweite aus der Eingemeindung von Nachbarorten.16 Dieses massive Wachstum führte gerade in Großstädten wie Berlin und Hamburg zu einer Wohnungsnot bzw. einem -mangel, den der Wohnungsbau nicht auffangen konnte. In Berlin entstanden bereits in den 1860er Jahren erste sogenannte „Mietskasernen“ – mehrstöckige Mietshäuser mit Innenhöfen mit kleinen Wohnungen für Arbeiter und Angestellte – und verstärkt dann in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende auch in anderen urbanen Räumen. Dies ließ die durchschnittlichen Bewohnerzahlen pro Haus deutlich ansteigen, wie in Berlin von 48 Bewohnern 1861 auf 72 1895 und vor 1914 auf 76. Zudem nahm der Anteil der Bevölkerung, die im dritten Stock oder höher wohnte, von 1861 bis 1890 von 18 Prozent auf 40 Prozent zu. In anderen Städten wuchs ihr Anteil auf gut 25 bis 30 Prozent. Zudem veränderten die Bauten das Stadtbild, da in Berlin fünfstöckige Häuser zu dominieren begannen.17 Nicht die Mietskasernen an sich sahen zeitgenössische Beobachter kritisch. Vielmehr identifizierten sie die Wohnraumverdichtung als Problem. Zwischen 1890 und 1905 lag in Berlin die Bewohnerzahl pro Hektar bebauter Wohnfläche bei 719 bis 745 Personen, wohingegen sie in anderen Städten wie Frankfurt am Main lediglich 173 bis 266 Personen erreichte. Es wurde von Beobachtern sogar vermutet, dass in Berlin im Kaiserreich bis zu 600.000 Personen in Wohnungen lebten, in denen jedes Zimmer mit mindestens fünf Personen belegt war. Meist wohnten gerade Arbeiter als Untermieter oder Mieter auf beengtem Wohnraum. Im Schnitt besaß eine fünfköpfige Arbeiterfamilie höchstens zwei Zimmer. Zudem hatte selten jedes Familienmitglied ein eigenes Bett. Enge und Überfüllung prägten damit den Alltag. Sicherlich bildeten die Mietskasernen das Extrem des 14 15 16 17

Hettling/Hoffmann, Wertehimmel, 340. Vgl. Schwägler, Soziologie, 30. Vgl. Saldern, Häuserleben, 17; Reulecke, Aspekte, 93. Vgl. Bodenschatz, Berliner Mietskaserne, 128f.; Saldern, Häuserleben, 42; dies., Kommunalpolitik, 344; Schulz, Mietskaserne, 48–52.

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2.1 Genese „moderner“ Familienformen

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Wohnungsbaus ab und symbolisierten bis in die 1920er Jahre die zeitgenössisch verhandelte Wohnungsnot, gleichwohl prägten Angebotsmangel, hohe Preise, Überbelegung sowie Qualitätsdefizite bei Bauweise und Hygiene den städtischen Wohnraum.18 Während im Sommer die Wohnungen feucht, stickig und heiß waren, ließen sie sich im Winter kaum beheizen. So besaßen 1875 53 Prozent der Wohnungen lediglich ein beheizbares Zimmer. Dieser Anteil fiel bis 1911 zwar auf 44 Prozent. Der Anteil der Wohnungen mit zwei beheizbaren Zimmern nahm aber nur langsam von 25 auf 31 Prozent und von mindestens drei Zimmern von 22 auf 25 Prozent zu.19 Der Anteil der Kleinwohnungen, d. h. mit einem oder zwei beheizbaren Zimmern, lag in den zehn größten Städten 1905 noch bei 60 bis 80 Prozent des Wohnungsbestandes.20 Daran, dass um 1900 20 Prozent der Familien einen „Aftermieter“, einen „Schlafburschen“ oder „Schlafgänger“ hatten, zeigt sich, wie verdichtet der Wohnraum in deutschen Städten war. Zudem wurde für den Ballungsraum Ruhrgebiet sogar geschätzt, dass der Anteil der Haushalte mit Schlafgängern ungefähr 50 Prozent ausgemacht haben müsste. Gerade in Konstellationen mit beengtem Wohnraum und einer „halb-offenen Familienstruktur“21 kam es immer wieder zu sozialen Konflikten, die gerade konservative Beobachter kritisch beurteilten und dabei die urbane Lebensweise insgesamt als problematisch klassifizierten.22 Es entstand eine Diskussion um die „Zerstörung der Familie“, die zudem durch die häufigen Umzüge begünstigt werde. Neben dem Bürgertum diskutierten auch gerade Sozialisten diese Probleme und versuchten, auf sie einzugehen.23 Erst um 1914 führten steigende Reallöhne, verkürzte Arbeitszeiten und besserer Wohnraum dazu, dass eine „Privatisierung der Arbeiterfamilie“24 einsetzte und sich damit die Lebensweisen des Bürgertums und zumindest der besserverdienenden gelernten Arbeiter angleichen konnten.25 Im ausgehenden 19. Jahrhundert war diese Veränderung jedoch nicht absehbar. Damals erfüllten die konstruierten Familienideale im Alltag eine wichtige Ordnungsfunktion. Als idealisierte Handlungsmaximen steckten sie den Orientierungsrahmen ab, in dem sich das individuelle Verhalten bewegen sollte. 18 19 20 21 22

23 24 25

Vgl. Nipperdey, Geschichte (1866–1918), 146f.; Kastorff-Viehmann, Kleinhaus, 271f.; Ritter/ Tenfelde, Arbeiter, 586–592; Wienfort, Geschichte, 149; Schomerus, Wohnung, 211. Vgl. Saldern, Häuserleben, 344f.; Ritter/Tenfelde, Arbeiter, 586–592; Wienfort, Geschichte, 149; Nipperdey, Geschichte (1866–1918), 142. Vgl. Kastorff-Viehmann, Kleinhaus, 271. Für das Zitat: Brüggemeier/Niethammer, Schlafgänger, 153. Vgl. Ehmer, Wohnen, 143f.; Ritter/Tenfelde, Arbeiter, 586–592; Wienfort, Geschichte, 149; Sieder, Sozialgeschichte, 167f. Zur Definition dieses zeitgenössischen Begriffs vgl. Ehmer, Wohnen, 132. Vgl. Sieder, Sozialgeschichte, 183f.; Ritter/Tenfelde, Arbeiter, 605f. Sieder, Sozialgeschichte, 185 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Vgl. Ullrich, Großmacht, 321; Ritter/Tenfelde, Arbeiter, 598–603; Sieder, Sozialgeschichte, 185; Saldern, Häuserleben, 85.

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2. Versuchte Einhegung gesellschaftlicher Veränderungen

Im konkreten Einzelfall bestand jedoch die „Eigensinnigkeit des Subjekts“26 fort, sodass lediglich einzelne Aspekte, oft auch nur partiell, umgesetzt wurden. Einige Menschen verstießen aber auch bewusst gegen gesellschaftliche Konventionen und grenzten sich so von der Mehrheitsmeinung ab.27 Da ferner im 19. Jahrhundert nur ein Bruchteil der Familien die notwendigen materiellen und strukturellen Voraussetzungen für das bürgerliche Familienideal erfüllte, wirkte schon allein dieser Faktor limitierend auf die Verbreitung der bürgerlichen Familie. Der male breadwinner mit relativ hohem Einkommen war genauso eine Minderheit wie die vom Ideal antizipierte Zusammensetzung der Familie aus Ehemann und Ehefrau sowie zwei Kindern – einem Jungen und einem Mädchen.28 Die Diskrepanz zwischen diskursiv verhandelten Idealen und sozialen Praktiken lässt sich also nicht monokausal erklären. Zudem resultierte die Differenz aus dem utopischen Charakter der Familienideale, schließlich lieferten sie auch den Orientierungsrahmen einer zukünftigen Gesellschaftsordnung. Sie sollten ein neues gesellschaftliches Ordnungsmodell in einer Zeit des Wandels etablieren. Bebel sprach von einem „Zeitalter einer großen sozialen Umwälzung“29 und bezog sich damit auf die veränderten Rahmenbedingungen. Eine zentrale Veränderung vollzog sich, als in den 1860er Jahren ein Liberalisierungsprozess einsetzte und schließlich 1875 die gesetzlichen Regelungen im Deutschen Reich vereinheitlicht wurden. Dazu zählten vor allem die Einführung der obligatorischen Zivilehe und die Aufhebung der Heiratsbeschränkungen. Diese hatten zum Beispiel eine Eheschließung vor allem aus ökonomischen Gründen untersagt, wenn zum Beispiel ein Tagelöhner mit seinem Verdienst eine Familie nicht ernähren konnte.30 Nun rückte eine Eheschließung auch für einkommensschwache Bevölkerungsteile in erreichbare Nähe. Von der Reichsgründung bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs stieg nicht nur im Reichsdurchschnitt, sondern auch bei Industriearbeitern und Handwerkern die Heiratsquote an. 1882 hatte sie für beide Gruppen noch bei 39 Prozent gelegen und 1907 erreichte sie fast 45 Prozent. Im Deutschen Reich insgesamt stieg die Quote von 51 Prozent 1870 geringfügig auf 52 Prozent 1890 und auf knapp über 54 Prozent 1910 an.31 Parallel entfaltete das Ideal der bürgerlichen Kernfamilie eine immer stärker werdende Strahlkraft. Selbst Riehl, der das Ideal des „Ganzen Hauses“ mit seinen 26 27 28 29 30 31

Reichardt, Geschichtswissenschaft, 56. Vgl. Rosenbaum, Formen, 14, 478; Nipperdey, Geschichte (1866–1918), 45. Vgl. Rosenbaum, Formen, 379; Budde, Weg, 56. Bebel, Frau, 25. Vgl. Wienfort, Geschichte, 41, 93; Gestrich, Geschichte (2010), 29f.; Rosenbaum, Proletarische Familien, 134; Gestrich, Neuzeit, 505–508. Vgl. Tenfelde, Arbeiterfamilien, 183f.; Ritter/Tenfelde, Arbeiter, 547, 551; Hubbard (Hg.), Familiengeschichte, 72; Sieder, Sozialgeschichte, 198f.

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vier Merkmalen – Zusammenleben mehrerer Generationen, Zugehörigkeit des Gesindes zum Familienverband, Einheit von Produktionssphäre und Lebensraum sowie patriarchalische Vormachtstellung des Hausvaters – favorisierte, kam nicht umhin festzuhalten, dass sich auch bereits zwischen Eltern und Kindern ein „Familienbewußtsein“32 einstellen könne.33 1883 orientierte sich der Brockhaus an diesem Leitbild und wählte eine breite Familiendefinition. Als Familie galt eine „Form des Zusammenlebens, welche auf die Geschlechtsvereinigung des Mannes und des Weibes und auf den dadurch bedingten Hinzutritt neuer Individuen gegründet ist“.34 Die Familie umfasste zwei Elternteile unterschiedlichen Geschlechts mit gemeinsam gezeugten Kindern. Während der Artikel an dieser Stelle die Formen des Zusammenlebens offenhielt, folgte im Anschluss eine weitere Eingrenzung. Von den drei Formen – Monogamie, Polygamie und wilde Ehe – erachtete der Brockhaus lediglich die lebenslange Monogamie als sittlich.35 Das dem katholischen Bürgertum entstammende Herders Konversations-Lexikon definierte Familie 1904 noch enger im Sinne katholischer Vorstellungen. Als Familie galt demnach lediglich die lebenslang monogame „Gemeinschaft der Eheleute u[nd] der Kinder“.36 Hier zeigt sich bereits, wie stark sich die katholischen Familienvorstellungen und das bürgerliche Ideal gegen Ende des 19. Jahrhunderts ähnelten.37 Typisch für diese Art von Kernfamilie waren ferner eine ausgeprägte hierarchische Struktur und eine soziale Ungleichheit der Geschlechter, die ihre Mitglieder bei den innerfamilialen Praktiken in eine klare Arbeits- und Rollenverteilung übersetzten.38 Diese Struktur konnte sich nach Riehls Verständnis nicht verschieben, da sie faktisch vom Naturrecht vorgegeben sei: „In dem Gegensatz von Mann und Weib ist die Ungleichartigkeit der menschlichen Berufe und damit die soziale Ungleichheit und Abhängigkeit als ein Naturgesetz aufgestellt [. . . ].“39 Riehl ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er die Trennung zwischen den männlichen und weiblichen Bereichen als Indikator für eine höhere kulturelle Entwicklungsstufe wertete. Infolgedessen erfüllte die Institution Familie eine doppelte Funktion: Sie war in der zeitgenössischen Wahrnehmung Signum eines 32 33

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Riehl, Familie, 165. Vgl. ebenda, VI, 165; Gestrich, Geschichte (2010), 6; Rosenbaum, Formen, 116; Schwägler, Soziologie, 33; Herzer, Möglichkeiten, 61. Zum Konzept des „Ganzen Hauses“ vgl. u. a. Brunner, Haus (1968); ders., Haus (1988); Mitterauer, Familie, 21ff.; Freitag, Haushalt; Groebner, Haus. Familie [Brockhaus 1883], 557. Vgl. ebenda. Familie [Herders Konversations-Lexikon 1904], 410. Vgl. Rölli-Alkemper, Familie, 39. Vgl. Gestrich, Geschichte (2010), 6f., 57; Budde, Bürgerinnen, 250; Schwägler, Soziologie, 35ff.; Herzer, Möglichkeiten, 60ff., 70; Nave-Herz, Wilhelm Heinrich Riehl, 25; Mitterauer, Mythos, 39. Riehl, Familie, VI.

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kulturellen Fortschritts und entfaltete zugleich eine stabilisierende Wirkung auf die Gesellschaft. Katholische Kirchenvertreter wie der Lehrstuhlinhaber für Moraltheologie und Apologetik in Münster, Joseph Mausbach, rekurrierten ebenso auf eine naturrechtliche Begründung der hierarchischen Geschlechterunterschiede.40 Lexika griffen diese Beschreibung der innerfamilialen Rollenverteilung ebenfalls auf. Der Brockhaus erklärte, der Vater besitze die „unbedingte Gewalt“41 über die unmündigen Kinder. Herders Konversations-Lexikon bezeichnete den Vater als das „natürliche Haupt“42 der Familie. Die Vormachtstellung des Vaters gegenüber den Kindern, aber auch gegenüber der Ehefrau war damit festgelegt. Zudem zeigt sich, wie stark sich protestantischer und katholischer Glaube überschnitten, weshalb im Folgenden von der christlich-bürgerlichen Kernfamilie gesprochen wird. Gleichwohl wies die Familie nach katholischem Verständnis ein paar Spezifika auf. Zunächst handelte es sich bei der Ehe um ein Sakrament und konnte daher nicht geschieden werden. Die Ehe war ein Vertrag zwischen zwei Partnern, sein Zweck die Zeugung von Kindern. Bei der Familie handelte es sich um eine Institution, die sich ausschließlich aus einem verheirateten Ehepaar und den gemeinsamen Kindern zusammensetzte. Zweitens war die Familie nach der katholischen Soziallehre dem Staat und der Gesellschaft vorgeordnet und wirkte stabilisierend. Dieses Argument führte der Reichstagsabgeordnete des Zentrums, Josef Racke, auf dem Katholikentag 1887 in Trier ins Feld. Für ihn war „die christliche Familie [. . . ] das unerschütterliche Bollwerk“,43 das jedweden Umsturzversuch abwehre und eine stabile Gesellschaftsordnung garantiere.44 Nach außen handelte es sich bei der Familie in den Augen der katholischen Kirche, aber auch des Protestanten Riehl, um eine vorgesellschaftliche und vorstaatliche Institution, die letztlich die Stabilität der sozialen Ordnung garantiere, und zugleich eine ahistorische, statische Größe, die auf festen, unveränderlichen Wesensmerkmalen beruhe.45 Im Hinblick auf das propagierte Rollenmodell deckten sich dabei die Position der Kirchenvertreter durchaus mit den Ansichten der Arbeiterschaft und der Frauenbewegung. Auch Vertreterinnen der proletarischen Frauenbewegung argumentierten, dass die Frau zwar „gleichwertig“, aber dennoch „anders“ sei und ihr Lebensziel in den Berufen als Hausfrau und Mutter liege. Politiker und Juristen wählten hierfür eine neue rhetorische Unterscheidung. Sie sprachen von einer „Andersartigkeit in der Gleichheit“46 und bezeichneten dies als „Gleichwer40 41 42 43 44 45 46

Vgl. Rölli-Alkemper, Familie, 35ff., 47ff.; Herzer, Möglichkeiten, 61. Familie [Brockhaus 1883], 558. Familie [Herders Konversations-Lexikon 1904], 410. Josef Racke zit. n.: Lokal-Komitee zu Trier (Hg.), Verhandlungen, 249. Vgl. ebenda; Evans, Politics, 257, 261; Herbert, Geschichte, 51. Vgl. Gestrich, Geschichte (2010), 7; Brendecke, Riehl, Wilhelm Heinrich von. Schwab, Gleichberechtigung, 791 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.].

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tigkeit“. Darunter verstanden sie, dass sich Frau und Mann einerseits rechtlich hinsichtlich „Konstitution und Funktion“ unterschieden, andererseits aber „im Rang der Werte und Würden“47 glichen. Diese Unterscheidung fing unter anderem das von den Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung propagierte Konzept der „organisierten Mütterlichkeit“ ein. Lediglich einige Mitglieder des radikalen Flügels der Bewegung um Hedwig Dohm, Rosa Mayreder und Bertha von Suttner lehnten dieses Modell ab. Sie setzten sich für ein „naturrechtlich begründetes egalitäres Emanzipationskonzept“48 ein. Friedrich Engels sah in der hierarchischen Struktur der Familie die zu überwindende Schwachstelle. Die Familie sei ein Herrschaftsinstrument, das über das patrilineale Verwandtschaftsprinzip die Kapitalanhäufung wie auch die Hegemonie des Mannes ermögliche. Die Rolle der Frau werde so reduziert auf die Funktion als „erste Dienstbotin“,49 es komme zur „offne[n] oder verhüllte[n] Haussklaverei der Frau“.50 Die Frauen würden in der Familie genauso ausgebeutet wie die Arbeiter im Kapitalismus, argumentierte Engels.51 Ähnlich positionierte sich Bebel, der die Ehefrau ebenfalls als „Sklavin“52 bezeichnete und damit die soziale, rechtliche und ökonomische Abhängigkeit der Frau vom Ehemann anprangerte. Arbeit war auch in diesem Familienleitbild das zentrale strukturierende Merkmal. Im Unterschied zu Riehl basierte jedoch die Stellung der Frau nicht auf einer naturrechtlichen Ordnung. Vielmehr sei sie aus den jeweiligen Produktionsverhältnissen historisch gewachsen. Folglich sei dieser Zustand auch veränderbar. Insofern gingen Bebel, Marx und Engels von einer prinzipiellen Wandelbarkeit als zentralem Merkmal von Familie aus. Gleichwohl schätzte entgegen diesen Ausführungen die Mehrzahl der männlichen Arbeiterführer die Rolle der Ehefrau als gering ein. Sie übernahmen vielmehr das bürgerliche Geschlechterbild, wonach der Ehemann die Familie nach außen repräsentieren solle.53 Die Differenzierung – gleichwertig und doch anders – mündete in einem jeweils spezifischen Rollenmodell, das Kindererziehung weiblich konnotierte und in der Familie verortete. Die Familie übernahm damit eine zentrale Funktion in der Gesellschaft, die auch das Herder-Lexikon ansprach. Sie solle die „Erhaltung u[nd] Erziehung 47

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Ebenda. Ähnlich findet sich dieses Argumentationsmuster bei Hagemann. Sie fasst die zeitgenössische Differenzierung als „Gleichwertigkeit, aber Andersartigkeit“ zusammen. Hagemann, Frauenalltag, 307. Siehe auch Greven-Aschoff, Frauenbewegung, 37–44. Hagemann, Frauenalltag, 307. Zur Position der bürgerlichen Frauenbewegung im Hinblick auf „Mütterlichkeit“ als spezifisches Merkmal der Frau vgl. Sachße, Mütterlichkeit, 102–107. Engels, Ursprung, 75. Ebenda. Vgl. Gestrich, Geschichte (2010), 60f. Zur Herleitung siehe Engels, Ursprung, 75f. Bebel, Frau, 35. Vgl. Ritter/Tenfelde, Arbeiter, 636f.; Nipperdey, Geschichte (1866–1918), 44; Hagemann, Frauenalltag, 307; Stoehr, Mütterlichkeit.

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des Menschengeschlechts“54 garantieren, d. h. die Zeugung von Kindern und deren Erziehung. Welche enorme Bedeutung der Kindererziehung in der Familie zukam, lässt sich exemplarisch am Beispiel der bürgerlichen Familie belegen. Obwohl Väter als höchste Autorität in die Kindererziehung involviert waren, wahrten sie eine distanzierte Rolle. Kindererziehung fiel in den Aufgabenbereich der Mutter und wertete so ihre Position auf. Einerseits stiegen die Anforderungen an die Erziehung, was die wachsende Zahl pädagogischer Abhandlungen zur Kindererziehung belegt. Zugleich bauten die Mütter aber auch eine intime und emotionale Beziehung zu ihren Kindern auf. Aufgrund der exklusiven MutterKind-Beziehung fungierten sie als Mittler zwischen den Kindern und ihren distanziert-autoritären Vätern.55 Die Forschung bezeichnet dies als „Entstehung der Mutterliebe“.56 Über die Erziehung wollten die Eltern ihren Kindern zudem zentrale bürgerliche Ideale wie Leistung, Pünktlichkeit und Pflichterfüllung vermitteln, unterschieden bei den jeweiligen Erziehungszielen jedoch klar zwischen den Geschlechtern.57 Die Jungen sollten durch Bildung auf ihre späteren Berufsrollen vorbereitet werden und die Merkmale Selbständigkeit, Unerschrockenheit und Durchsetzungsfähigkeit in sich vereinen. Die Sozialisation der Mädchen aus höheren Schichten zielte auf das Erlernen der Haushaltsführung und die Vorbereitung repräsentativer gesellschaftlicher Empfänge. Die Mädchen bekamen über ihre Erziehung vermittelt, dass ihre Sphäre auf die Familie begrenzt sei.58 Die geschlechtsspezifischen Rollenvorstellungen beeinflussten neben der Erziehung aber auch das Verhalten der Eltern und der älteren Geschwister, welche die tradierten Rollenmuster vorlebten.59 Insofern firmierte die Institution der Familie als Transmitter und Bewahrer der Familienideale und Geschlechterrollen. Die Ausführungen in den Lexika zeigen, dass das Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie sowohl bei der Zusammensetzung der Familie wie auch der innerfamilialen Rollenverteilung enge Grenzen absteckte. Zu ihren entscheidenden Wesensmerkmalen gehörten die lebenslange monogame Ehe zwischen zwei Partnern unterschiedlichen Geschlechts, gemeinsam gezeugte Kinder, die

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Familie [Herders Konversations-Lexikon 1904], 410. Vgl. Sieder, Sozialgeschichte, 135–139; Gestrich, Geschichte (2010), 35; Berg, Familie, 96, 102; Budde, Bürgerinnen, 258; dies., Weg, 166–192. Vgl. Shorter, Wandel. Vgl. Budde, Bürgerinnen, 191, 258; dies., Weg, 112–148; Ullrich, Großmacht, 318f. Jüngst hat die Forschung auch die emotionale Bindung der Väter an die Kinder betont. Vgl. Gestrich, Geschichte (2010), 35. Vgl. Ullrich, Großmacht, 319; Budde, Weg, 197, 220. Gunilla Budde benennt „Selbständigkeit, Unerschrockenheit, Durchsetzungsfähigkeit, Draufgängertum und Wagemut“ als Wesensart, die sich bürgerliche Eltern von ihren Söhnen wünschten. Ebenda, 197. Für ähnliche Ideale im sozialdemokratischen Milieu vgl. u. a. Hagemann, Frauenalltag, 97. Vgl. Gestrich, Geschichte (2010), 38f.

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Haushaltsgemeinschaft, die Kindererziehung durch die Mutter und die Vorrangstellung des Ehemannes bzw. Vaters. Dieses Ideal akzeptierte schichtübergreifend das Bürgertum genauso wie die Arbeiterschaft. Aber auch die Vertreterinnen des Bundes Deutscher Frauenvereine wie die Frauenrechtlerinnen Marianne Weber, Helene Lange und Gertrud Bäumer und die Sozialreformerin Alice Salomon maßen der Ehe eine zentrale Bedeutung bei, denn erst aus einer ehelichen Verbindung könne ihrer Ansicht nach die Institution Familie hervorgehen.60 Die klassische Familie der bürgerlichen Lexika war damit eine angestrebte Norm, die aber in vielen Fällen nicht der Realität entsprach. Von diesem Ideal abweichende Lebensmodelle wie alleinerziehende Mütter und ihre Kinder galten nach dem zeitgenössischen Verständnis des ausgehenden 19. Jahrhunderts zudem nicht als „Familie“. Ihnen haftete ein enormer Makel an. Sie wurden als soziales Problem wahrgenommen, das unterschiedlich weit verbreitet war.61 In Preußen lag die Quote nichtehelicher Geburten im Jahr 1830 bei beinahe sieben Prozent, während sie in Süddeutschland sogar 15 Prozent erreichte. Ein Grund hierfür lag bei den wesentlich rigoroseren Heiratsbeschränkungen. Nachdem diese weggefallen waren, ging die Quote außerehelicher Geburten im ausgehenden 19. Jahrhundert langsam zurück und sank im Deutschen Reich bis 1871 auf neun Prozent und stieg dann bis 1913 nur geringfügig auf zehn Prozent. Erst im Laufe des Ersten Weltkriegs nahm die Quote wieder deutlich zu und erreichte 1919 14 Prozent. In den 1920er Jahren schwankte die Nichtehelichenquote zwischen ca. zehn und 13 Prozent. In Berlin wurde demgegenüber bereits zwischen 1903 und 1913 der Anteil der nichtehelich geborenen Kinder auf bis zu 25 Prozent geschätzt.62 Die sexuellen Praktiken wandelten sich hingegen nicht. Viele der erstgeborenen Kinder waren vorehelich gezeugt worden und in einigen Fällen heirateten die Paare noch vor der Geburt, um die Diskrepanz zwischen Ideal und Lebenswirklichkeit im individuellen Lebensentwurf zu überbrücken. Schließlich hielten sie so zumindest auf dem Papier das gesellschaftlich akzeptierte Familienideal ein.63 Andere Mütter nichtehelich geborener Kinder versuchten den Makel zunächst zu verschleiern und heirateten später, um das Kind nachträglich zu 60

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Vgl. Budde, Weg, 25; Ullrich, Großmacht, 317, 320; Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 68, 71. Zum Bund Deutscher Frauenvereine vgl. u. a. Greven-Aschoff, Frauenbewegung, 18–21, 285–299; Gerhard, Unerhört, 170–175. Zur Biographie Helene Langes vgl. ebenda, 145f. Zur Biographie Alice Salomons vgl. ebenda, 299ff. Zur Biographie Marianne Webers vgl. ebenda, 348. Vgl. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 71f. Zum Problem der Rekonstruktion der Zahl unehelicher Geburten vgl. Mitterauer, Mütter, 13–21. Vgl. Niemeyer, Struktur, 68f.; Hubbard (Hg.), Familiengeschichte, 109; Hagemann, Frauenalltag, 181f. Vgl. Wienfort, Geschichte, 41, 93, 189; Gestrich, Geschichte (2010), 29, 83; Rosenbaum, Proletarische Familien, 134.

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legitimieren, wobei dies nicht notwendigerweise mit dem Kindsvater geschehen musste. Diese Strategie zeigt die Niederschrift des Lebenslaufs eines Mannes auf, der 1890 im ländlichen Bayern geboren wurde. Als dem Lehrer zur Einschulung die Geburtsurkunde vorgelegt werden musste, erklärte seine Mutter, dass sie das Dokument vergessen habe und später nachreichen werde. Dem Versprechen kam sie jedoch nicht nach. Dem Betroffenen erschloss sich der Grund für das Verhalten seiner Mutter erst viele Jahrzehnte später. In den 1930er Jahren forderte er selbst die Geburtsurkunde beim zuständigen Pfarramt an und bemerkte, dass auf dem Dokument ursprünglich der Geburtsname der Mutter vermerkt und erst später der Nachname seines Vaters hinzugefügt worden war.64 Die Studie Familienverhältnisse geschiedener und eheverlassener Frauen berichtete 1932 von einem ähnlichen Verhalten der Mütter. Die Fabrikarbeiterin Johanna K. brachte 1909 als 18-jährige unverheiratete Frau ihre Tochter zur Welt. Kurze Zeit später heiratete sie den Kindsvater. Frau Sch. gab ebenfalls an, dass sie 1907 ihren Sohn geboren und im folgenden Jahr den Vater geheiratet habe.65 Diese Fälle belegen exemplarisch, wie Mütter nichtehelicher Kinder im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert mit dem Makel der außerehelichen Geburt umgehen und so den auf ihnen lastenden sozialen Druck reduzieren konnten. Die Eheschließung führte zu einer nachträglichen „Refamilierung des unehelichen Kindes“66 und blieb bis über die 1910er Jahre ein weitverbreitetes Phänomen.67 Die Diskrepanz zwischen Ideal und Praxis offenbart sich ebenfalls bei der innerfamilialen Rollenverteilung. Das bürgerliche Ideal geht von einer „Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘“68 aus und differenziert zwischen dem aktiven, rationalen und berufsorientierten Mann sowie der passiven, emotionalen und mütterlichen Frau. Demnach sei der Mann als Ernährer für den öffentlichen Raum und die Frau als Ehefrau und Mutter für den Binnenraum der Familie zuständig.69 Sie solle sich nach dem vorherrschenden patriarchalisch-autoritären Rollenverständnis um Haushaltsführung und Kindererziehung kümmern. Neben den Hausarbeiten wie Wäschewaschen und Putzen der Wohnung sowie

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Vgl. DTA 979/I; Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 32f. Vgl. Frank, Familienverhältnisse, 32, 36; Niemeyer, Struktur, 68f.; Hubbard (Hg.), Familiengeschichte, 109; Hagemann, Frauenalltag, 181f. Wildenhayn, Auflösung, 39. Vgl. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 32f.; Wildenhayn, Auflösung, 38f.; Wulff, Schicksal, 18; Hubbard (Hg.), Familiengeschichte, 112. Hausen, Polarisierung. Siehe auch dies., Polarisierung (1988). Für eine Verortung des Textes nach 30 Jahren vgl. dies., Aufsatz. Vgl. Rosenbaum, Formen, 380; Hausen, Polarisierung; Gestrich, Neuzeit, 531–534; ders., Geschichte (2010), 6, 29; Sieder, Sozialgeschichte, 134f.; Heinemann, Familie, 117. Für eine Zusammenfassung der wissenschaftlichen Kritik an Hausens Forschungskonzept vgl. u. a. Gestrich, Geschichte (2010), 101–105; Opitz, Um-Ordnungen, 104ff.

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der Kindererziehung mussten die Frauen noch ihre Familie mit Nahrung versorgen. Sie schulterten folglich drei zeitintensive Tätigkeiten. Im Zuge dessen diskutierten Vertreterinnen der Frauenbewegung wie die Frauenrechtlerin Käthe Schirmacher ab 1905, inwiefern Hausarbeit als Berufsarbeit zu gelten habe. Die Aufgabenverteilung selbst hinterfragten die Frauen aber genauso wenig wie ihre Ehemänner.70 Selbst führende Sozialdemokratinnen wie die Vertreterin des radikalen Flügels der proletarischen Frauenbewegung Clara Zetkin lebten nach diesem Ideal und erzogen ihre Kinder selbst.71 In der sozialen Praxis hingegen adaptierten die Frauen das Rollenideal meist an die Realität, da sie vielfach zum Familieneinkommen beitragen mussten. Selbst wenn Heirat und Ehe stets als Lebensaufgabe der Frau galten und sich daran die Rollen als Ehefrau und später als Mutter anschlossen, agierten die Frauen immer auch außerhalb ihres „natürlich“ zugeschriebenen Bewegungsraums – den drei „K“ Kinder, Küche, Kirche.72 Obschon also die Trennung der Geschlechterrollen eine hohe schichtübergreifende Prägekraft entfaltete, die durchaus auch bis weit in die Arbeiterschaft reichte, lag deren Familienalltag hierzu meist quer. Erst mit dem steigenden Lebensstandard zum Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich das bürgerliche Ideal zunächst bei den besserverdienenden gelernten Arbeitern allmählich durch.73 Diese Geschlechterrollen wie auch das Ideal der christlich-bürgerlichen Familien kodifizierte schließlich das BGB, als es im Jahr 1900 in Kraft trat. Treffend beschreibt diesen Zustand ein Zitat aus Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften: „Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger.“74 Dieser Passus beleuchtet die Differenz zwischen dem rechtlichen Status eines Staatsbürgers und der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe des Bürgertums in der kaiserlich-königlichen Habsburgermonarchie ÖsterreichUngarns. Musil spielt damit auf die „Doppeldeutigkeit“75 des Begriffs Bürger an, den auch die historische Bürgertumsforschung immer wieder betont hat. Im Deutschen wird im Gegensatz zum Französischen nicht unterschieden zwischen bourgeois und citoyen bzw. citoyenne.76 Während die Menschen den Status eines Staatsbürgers bei der Geburt erhielten, mussten die mit der Sozialformation 70 71

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Vgl. Ullrich, Großmacht, 321; Gestrich, Geschichte (2010), 29; Hagemann, Frauenalltag, 90; Nave-Herz, Geschichte, 43. Vgl. Fischer, Familie, 536; Hagemann, Frauenalltag, 107. Zur Biographie Clara Zetkins vgl. Gerhard, Unerhört, 188. Zur Auseinandersetzung zwischen Clara Zetkin und Edmund Fischer vgl. u. a. Nave-Herz, Geschichte, 46; Hagemann, Frauenalltag, 108, 307f. Vgl. Budde, Weg, 173; Frevert, Frauen-Geschichte, 47, 112; Gestrich, Geschichte (2010), 3. Vgl. Hagemann, Frauenalltag, 157. Musil, Mann, 33. Schäfer, Geschichte, 9. Vgl. ebenda, 9f.; Hettling, Bürgerlichkeit, 12. Zum Begriff des „Bürgers“ vgl. ebenfalls Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit, 23–33.

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Bürgertum assoziierten Ideale und Praktiken durch Erziehung und Bildung erst im Laufe der Kindheit und der Adoleszenz erworben werden.77 Insofern dienten die rechtlichen Regelungen des BGB als allgemeines Ordnungssystem, dessen individuelle Umsetzung sich jedoch im Alltag oftmals lediglich daran orientierte. Gleichwohl geben die gesetzlichen Bestimmungen einen Einblick in die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen. Der familienrechtliche Teil des BGB basierte nicht auf den bürgerlichen Grundsätzen von Individualismus, Vertragsfreiheit und Gleichheit der Rechtsgenossen, sondern fixierte vielmehr die christlich-bürgerlichen patriarchalischen Familienkonzeptionen. Das neue Familienrecht schützte zwar einerseits die Kernfamilie als gesellschaftliche Institution, untersagte aber andererseits jeden Eingriff in den Privatraum der Familie. Zudem engte es den Handlungsspielraum der Frau erheblich ein und schrieb ihr die Haushaltsführung vor; gleichzeitig festigte es die Vorrangstellung des Ehemannes bzw. des Vaters.78 Unumstritten war dieser Orientierungsrahmen jedoch nie, wie die Aushandlungsprozesse während der 1890er Jahre belegen. Die mit der Ausarbeitung der Entwürfe des BGB betraute Juristenkommission argumentierte, dass die Ehe eine Verwaltungsgemeinschaft sei, in der der Ehemann Vorrechte genieße. Während die bürgerliche Frauenbewegung und später auch die Sozialdemokraten diese Sprachregelung kritisierten, votierten schließlich auch die Liberalen für das konservativ-patriarchalische Familienrecht des BGB, das aus den Vorlagen des Redaktors Gottlieb Planck und der eingesetzten Kommissionen hervorgegangen war.79 Im Detail hatten sie die hervorgehobene Position des Ehemannes insbesondere im Sorge- und Ehescheidungsrecht rechtlich fixiert. Das BGB sprach zwar explizit von der elterlichen Gewalt,80 meinte damit aber de facto die väterliche Gewalt, zumal Ehefrauen ihre Kinder nicht juristisch vertreten konnten. Überdies besaß der Mann bei Meinungsverschiedenheiten die letzte Entscheidungsgewalt (Stichentscheid).81 Vertreterinnen der Frauenbewegung wie Anna Plothow monierten immer wieder, dass das Gesetzbuch die Ehefrau genauso benachteilige wie unverheiratete Mütter und deren Kinder. Ihre Kritik ähnelt, wie im Folgenden gezeigt wird, damit den Einwänden gegenüber der 77 78 79 80

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Vgl. Budde, Weg, 11f., 15. Zur Aneignung der bürgerlichen Werte vgl. Hahn/Hein, Werte, 12. Vgl. Schwab, Entwicklungen, 296f.; ders., Gleichberechtigung, 792f.; Berg, Familie, 92; Gestrich, Geschichte (2010), 28f.; Heinemann, Familie, 115f.; Wienfort, Geschichte, 39, 93f. Vgl. ebenda, 138f.; Humphrey, Weimarer Reformdiskussion, 73, 75f.; Riedel, Recht, 133–139, 206–213. Gewalt meinte im 19. Jahrhundert die elterlichen Rechte und Pflichten. Erst während der 1960er und 1970er Jahre wandelte sich die Haltung zum Begriff „Gewalt“, da er zusehends mit Gewalttätigkeit und Missbrauch assoziiert wurde. Infolgedessen kam es 1979 zur Rechtsreform und der Terminus der „elterlichen Sorge“ wurde stattdessen eingeführt. Vgl. Brunner, Editorial, 12ff. Vgl. ebenda, 12f.

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innerfamilialen Rollenverteilung in der bürgerlichen Familie, wie sie August Bebel, Karl Marx und Friedrich Engels bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert angesprochen hatten.82 Am deutlichsten übernahm die Kommission die christlichen Normen hinsichtlich des Ehe- und Familienlebens beim Scheidungsrecht. Auf dem Konzil von Trient (1545 bis 1563) hatte die katholische Kirche festgelegt, dass die Ehe ein Sakrament sei und nicht geschieden werden könne. Dieser Grundsatz sollte ihrer Ansicht nach auch im BGB verwirklicht werden. Allerdings gelang es letztlich nicht, diese weitreichenden Forderungen umzusetzen. Zum Beispiel hatte Gottlieb Planck in seinen allgemeinen Ausführungen von der rechtlichen „Doppelnatur der Ehe als einer sittlichen Ordnung und als eines Rechtsverhältnisses“83 gesprochen, das die familialen Praktiken wie die Ehescheidung berücksichtigen müsse. Er erläuterte ebenfalls, dass das Eherecht nicht die individuellen Wünsche der Ehepartner als Bemessungsmaßstab verwenden könne. Insofern dürfe das Recht auf Ehescheidung nicht grundsätzlich negiert, gleichwohl aber eingeschränkt werden. Aufgrund dieser Vorgaben orientierte sich das BGB an den protestantischen Idealen und erkannte absolute84 Scheidungsgründe wie Ehebruch, „Lebensnachstellung“ und „bösliche Verlassung“ sowie relative Gründe85 wie schwere Verletzung der ehelichen Pflichten an. Die Ehe konnte aus diesen Gründen geschieden werden, wenn sich ein Ehepartner schuldhaft verhalten hatte. Diese im Vergleich zum Katholizismus liberalere Haltung zur Ehescheidung war auch darauf zurückzuführen, dass im protestantischen Glauben die Ehe kein Sakrament war. Lediglich der Scheidungstatbestand der Geisteskrankheit war vom Verschuldensprinzip ausgenommen. Gleichzeitig deutet sich hier sprachlich die Nähe zum christlichen Glauben an, denn der Begriff „Verschulden“ wurde wie auch „Schuld“, „Sühne“ und „Buße“ primär im religiösen Sprachgebrauch verwendet.86 Die Debatte über die Regelung der Ehescheidung endete jedoch nicht, als das BGB verabschiedet wurde. Immer wieder diskutierten Zeitgenossen über das Thema wie 1911 der evangelische Theologe und Publizist Heinrich Lhotzky in seinem Buch der Ehe. Er argumentierte, dass zwar einerseits Ehen nicht geschieden werden sollten. Jedoch dürften Ehepaare auch nicht gezwungen 82 83 84 85

86

Vgl. BArch Berlin R 8034II/7958, Anna Plothow, Zur Reform der Ehe, in: Berliner Tageblatt, 9. September 1909, Bl. 1. Gottlieb Planck zit. n.: Blasius, Ehescheidung, 130. Von einem absoluten Scheidungsgrund wurde gesprochen, wenn das schuldhafte Verhalten an sich die Scheidung rechtfertigte. Vgl. Humphrey, Weimarer Reformdiskussion, 75. Von einem relativen Scheidungsgrund wurde gesprochen, wenn das schuldhafte Verhalten zu einer schweren Zerrüttung der Ehe führte und daher die Ehe geschieden werden konnte. Vgl. ebenda. Vgl. Blasius, Ehescheidung, 130f., 149; Rölli-Alkemper, Familie, 35–39; Humphrey, Weimarer Reformdiskussion, 16–21; Gestrich, Neuzeit, 367–371; Schipporeit, Scheidungsrecht, 11.

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werden zusammenzuleben, wenn ihre Beziehung zerrüttet war. Infolgedessen seien die strengen Ehescheidungsbestimmungen des BGB „unerträglich“.87 Ungeachtet solcher Kritik wirkte das konservativ ausgestaltete Familienrecht als retardierendes Moment in einer Zeit des Wandels. Die Historikerin Monika Wienfort geht sogar noch einen Schritt weiter. Sie argumentiert, dass das BGB eine „Rechristianisierung der Ehe“88 intendiert habe. Die Besinnung auf die christlich-bürgerliche Kernfamilie und die Verrechtlichung dieser Familienform im BGB resultierte aus den zeitgenössisch wahrgenommenen wachsenden Unsicherheiten, die die mit der Industrialisierung einhergehenden Veränderungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit sich gebracht hatten.89 Das Ideal der Kernfamilie erfüllte damit eine doppelte Funktion: Für den individuellen Lebensverlauf wirkte es orientierungsstiftend und handlungsleitend. Gesamtgesellschaftlich schrieben ihm die Vertreter des Bürgertums und der Kirchen eine stabilisierende Wirkung zu. Es handelte sich damit auch um einen Versuch, die vor sich gehenden Veränderungen einzuhegen und so einen neuen Orientierungsrahmen zu etablieren. Das gelang jedoch nur bedingt. Während weite Teile der Gesellschaft die Ehe als Teil einer Familie akzeptierten, stieß die Regelung der innerfamilialen Rollenverteilung wie auch der Ehescheidung sowohl innerhalb der Sozialdemokratie als auch der Frauenbewegung auf Kritik. Darüber hinaus diskutierten die zeitgenössischen Beobachter wie Riehl, Marx und Engels sowie Bebel noch ein weiteres Thema, das auch bis ins 20. Jahrhundert immer wieder aufgegriffen wurde: die vermutete „Krise der Familie“. Allerdings divergierten die Ansichten der vier Autoren hinsichtlich der Ausgangslage der „Krise“ und deren Bedeutung für die zukünftige Gesellschaftsordnung. Bei Marx und Engels nahm auch in diesem Punkt das Arbeitsverhältnis die zentrale Rolle ein. Sie hielten fest, dass in Arbeiterfamilien Frauen und Kinder oft aus wirtschaftlicher Not einer Berufstätigkeit nachgehen mussten. Ambivalent fiel ihr Urteil über die Folgen aus. Positiv beurteilten sie die größere wirtschaftliche Unabhängigkeit von werktätigen Frauen und Kindern. Zugleich konnten in bestimmten Konstellationen, wenn zum Beispiel der Ehemann seinen Beruf verloren hatte, Frauen die Ernährerrolle übernehmen. Marx und Engels waren sich der weitreichenden sozialen Konsequenzen dieses Rollentausches bewusst. Sie werteten ihn als Möglichkeit, individuelle familiäre Notlagen zu überwinden. Erst wenn die Erwerbstätigkeit dazu führte, dass der Haushalt verwahrloste, die Kindersterblichkeit anstieg und es zur „Desorganisation der Familie“90 kam, dann könne ihrer Ansicht nach von einer Krise gesprochen werden. Bebel teilte 87 88 89 90

Vgl. Lhotzky, Buch, 130f.; Ruhbach, Lhotzky, Heinrich. Wienfort, Geschichte, 248. Ähnlich bei Blasius, Ehescheidung, 56. Vgl. Herbert, Geschichte, 44, 46f., 51. Schwägler, Soziologie, 31.

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diese Einschätzung und sprach von der drohenden Zerrüttung von Arbeiterehen. Die „Krise der Familie“ folgte bei Arbeiterfamilien somit aus den individuellen Notlagen und den gescheiterten Versuchen, diese zu bewältigen. Den Zustand der bürgerlichen Familien bewerteten Marx und Engels demgegenüber durchweg als krisenhaft, da sich hier eine eklatante Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit des Familienlebens offenbare.91 Gleichzeitig handle es sich in den Augen von Marx und Engels bei beiden Familientypen lediglich um einen notwendigen Zwischenschritt hin zur sozialistischen Gesellschaft, der in einer Überwindung der Notlage, einer höheren Form der Familie und neuen Geschlechterbeziehungen münden werde.92 Riehls Krisendiagnose unterschied sich hiervon grundlegend. Er prangerte gerade „das massenhafte Aufsteigen weiblicher Berühmtheiten und ihr Hervordrängen in die Oeffentlichkeit“ an, schließlich sei dies „allemal das Wahrzeichen einer krankhaften Nervenstimmung des Zeitalters“.93 In der Summe umfasste seine Verfallsdiagnose bereits alle Elemente der Krisendiagnosen des 20. Jahrhunderts – die Auflockerung des familialen Beziehungsnetzes, die Hinwendung zur Individualisierung, die Übernahme von Erziehungsaufgaben durch den Staat sowie die Zerrüttung der Familie durch die Emanzipationsbestrebungen von Frauen und Kindern.94 Lediglich die Familie als unveränderliche natürliche Ordnung mit ihren patriarchalisch-hierarchisch strukturierten Geschlechterrollen könne diesen Entwicklungen entgegenwirken und stabilisierend auf die Gesellschaft einwirken, urteilte Riehl weiter. Er bezeichnete diesen – in seinen Augen notwendigen – Prozess als Emanzipation der Familie, die als Antipode zur Emanzipation der Frau konzipiert war.95 Damit implizierte er auch, dass ausschließlich sein Familienideal als Ordnungsmodell firmieren und die Gesellschaft stabilisieren könne.96 Riehl auf der einen sowie Bebel, Marx und Engels auf der anderen Seite konzipierten ihre konträren Familienleitbilder als Antworten auf die wahrgenommenen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse. Sie entwickelten jeweils unterschiedliche Deutungen, mit welchen Ordnungsmodellen auf die Veränderungen reagiert werden könne. Das christlich-bürgerliche Familienmodell verstand unter der Institution Familie ein lebenslang verheiratetes Elternpaar mit gemeinsamen Kindern. Der Vater nehme die Rolle des Familienoberhaupts und 91 92 93 94 95 96

Vgl. Herzer, Möglichkeiten, 71–75; Schwägler, Soziologie, 30f.; Marx/Engels, Manifest, 29; Engels, Ursprung, 74f.; Bebel, Frau, 157f. Vgl. Herzer, Möglichkeiten, 75f. Riehl, Familie, 60. Vgl. Wirsching, Geschichte, 64ff. „Die Familie muß politisch emanzipiert werden, dann sind die Frauen emanzipiert.“ Riehl, Familie, 100. Vgl. Herzer, Möglichkeiten, 61; Schwägler, Soziologie, 36ff.; Nave-Herz, Wilhelm Heinrich Riehl, 25.

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Ernährers ein. Die Ehefrau kümmere sich um Haushalt und Kindererziehung. In seiner katholischen Variante wies die Familie insbesondere noch zwei weitere Merkmale auf. Die Institutionen Ehe und Familie seien von Gott gestiftet und unveränderlich. Zudem galten sie als „Keimzelle“ des Staates und seien diesem damit vorgeordnet, wie das auch Papst Leo III. in der Enzyklika Rerum novarum 1891 darlegte. Darin wurde auch die „väterliche Gewalt“ als von Gott gegebene Aufgabe bezeichnet, wenngleich die Kindererziehung laut der Schrift das Recht und die Pflicht der Eltern sei.97

2.2 Dramatisierung, Polarisierung und Biologisierung der Diskurse um die Jahrhundertwende Ende des 19. Jahrhunderts, als das BGB den rechtlichen Rahmen auf das bürgerliche Familienideal verengte, setzte eine Dramatisierung und Polarisierung der öffentlichen Kontroversen um die Familie und die Geschlechterrollen ein. Die Konflikte waren eingebettet in die allgemein wahrgenommene Veränderung zum fin de siècle. Die an den Aushandlungsprozessen bezüglich des BGB beteiligten Politiker, Juristen und Kirchenvertreter bedienten sich vor allem eines rhetorischen Elements von Riehl, Bebel, Marx und Engels: Sie entwickelten ein Bedrohungs- oder Krisenszenario hinsichtlich des Zustands oder der Zukunft der Familie, das sie auf zwei Gründe zurückführten. Einerseits empfanden sie die vor sich gehenden Veränderungen der Lebenslagen als so gravierend, dass es aus ihrer individuellen Perspektive einer Notlage gleichkomme. Andererseits wollten sie mit einer bewussten Überzeichnung der Risiken, d. h. einer „Dramatisierung“,98 Aufmerksamkeit erzeugen und Adressaten wachrütteln. Rhetorische Strategien der Aufmerksamkeitssteigerung sollten somit die Familienideale und die familialen Praktiken beeinflussen, d. h. die Ansichten, was unter einer Familie zu verstehen und wie das Familienleben auszugestalten sei. Gleichzeitig führte diese Art der Kommunikation aber auch dazu, dass im öffentlichen Diskurs zwei diametral entgegengesetzte Familienideale aufeinandertrafen: das katholische bzw. christlich-bürgerliche und das sozialdemokratische Familienideal. Diese Polarisierung prägte die öffentliche Verhandlung von „Familie“ bis in die Weimarer Republik.99 97 98 99

Vgl. Schneider, Familie und private Lebensführung, 14f.; Heinemann, Familie, 112–117; Rölli-Alkemper, Familie, 47ff. Lüscher/Wehrspaun/Lange, Begriff, 70. Vgl. ebenda, 74f. Ähnlich bei Thomas Großbölting in Bezug auf die Debatten in der Bundesrepublik, vgl. Großbölting, Himmel, 35; ders., Familie, 228. Zur Epochenzäsur um das Jahr 1900 vgl. Nolte, 1900.

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Es ging in diesen Auseinandersetzungen ebenfalls um die gesellschaftliche Bedeutung der Familie, die innerfamiliale Rollenverteilung und das Verhältnis von Gesellschaft, Gemeinschaft und Individuum. Die Vertreter des christlich geprägten Bürgertums warfen zum Beispiel der Sozialdemokratie pauschal vor, dass sie die Familie zerstöre, da sie den einzelnen Familienmitgliedern zu große Handlungsspielräume zugestehe. Der Zentrumsabgeordnete Josef Racke mahnte in diesem Zusammenhang schon 1887, dass dem allgemeinen Phänomen der „unseligen Pläsir- und Vergnügungssucht, die wie eine Pest die ganze moderne Gesellschaft ergriffen“100 habe, begegnet werden müsse. Dies könne mit einer „Restauration der christlichen Familie“101 erreicht werden, die er als Gegenpol zur Arbeiterfamilie verstand. Im Gegenzug kamen Sozialdemokraten nicht umhin, diesen Anschuldigungen zu widersprechen.102 August Bebel und Clara Zetkin teilten zwar die konservative bzw. vom christlichen Glauben geprägte Sichtweise auf die Familie nicht. Aber auch sie attestierten der Institution Familie eine Ordnungsfunktion, die geschwächt worden sei. Sie beabsichtigten mit ihren Reformbestrebungen, diesen Zustand zu überwinden und die Familie zu stärken.103 Bereits hier zeigte sich in der öffentlichen Kontroverse um die Familie, dass Sozialdemokraten die Familie als Institution an sich nicht infrage stellten. Vielmehr wollten sie die gesellschaftlich akzeptierten Familienideale nach ihren Vorstellungen gestalten. Ein zweiter zentraler Konflikt drehte sich um die Rolle der Ehefrau und die Ausgestaltung des Familienlebens. Dabei trat neben die naturrechtlich und religiös begründete Differenzierung zwischen den Geschlechtern eine Unterscheidung nach medizinisch-naturwissenschaftlichen Standards. Der Neurologe und Psychiater Paul Julius Möbius sowie der Philosoph Otto Weininger waren zwei wichtige Agitatoren gegen die Frauenemanzipation. Ihre Pamphlete wurden im zeitgenössischen Diskurs vielfach rezipiert – positiv wie negativ. In seinem Essay Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (1900) begründete Möbius die Geschlechterunterschiede zwischen Mann und Frau auf der Basis vermeintlich naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Möbius hatte Gehirne vermessen und aufgrund der unterschiedlichen Physiologie geschlussfolgert, dass die kleineren Gehirne der Frauen nicht zu intellektuellen Berufen befähigen würden. Vielmehr liege ihr „natürlicher“ Beruf in Mutterschaft und Kindererziehung.104 Bebel setzte sich mit solchen, vielfach artikulierten Thesen 100 101 102 103 104

Josef Racke zit. n.: Lokal-Komitee zu Trier (Hg.), Verhandlungen, 250. Ebenda. Vgl. Keßler, Familie, 1. Vgl. ebenda, 32; Evans, Sozialdemokratie, 242ff.; ders., Politics, 269–274; Frevert, FrauenGeschichte, 143; Stoehr, Mütterlichkeit, 225. Vgl. Planert, Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation, 79–84; dies., Antifeminismus im Kaiserreich: Indikator, 101; Blom, Kontinent, 282; Bickel, Schwachsinn; Möbius, Schwachsinn.

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auseinander. Nachdem er zahlreiche unterschiedliche Befunde ausgewertet hatte, kam er jedoch zu einem konträren Urteil: „Es steht also fest, daß sowenig wie die Körpergröße einen Schluß auf die Körperkraft zuläßt, ebensowenig gestattet das Gewicht der Gehirnmasse einen Schluß auf die geistigen Fähigkeiten.“105 Bebels Sichtweise konnte die öffentliche Debatte aber nicht prägen und Möbius’ These wurde bis in die 1910er Jahre immer wieder aufgegriffen.106 Auf ähnliche Resonanz stieß Weiningers 1903 erschienenes Traktat Geschlecht und Charakter. Darin kontrastierte er den seiner Ansicht nach überlegenen germanisch-deutschen Mann mit den „minderwertigen“ Juden und Frauen, die beide Männlichkeit und Individualität bedrohen würden.107 Diese zunehmende Biologisierung der Argumentation deutet darauf hin, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts die unterschiedlichen Geschlechterrollen verstärkt über naturwissenschaftliche Argumente begründet wurden. Auch Kirchenvertreter wie der lutherische Theologe Johannes Müller rekurrierten darauf und kombinierten sie mit theologischen Ansichten: „Sobald das Weib zur Reife kommt, tritt sein Körper auf Jahrzehnte hin in einen Lebensprozeß ein, der lediglich seinem Mutterberufe dient.“108 In dieser Lebensphase finde die Frau ihre Bestimmung in dem „Kreislauf von Schwangerschaft, Geburt, Säugen und Pflegen des Kindes“.109 Wenngleich Müller weniger aggressiv argumentierte als Möbius und Weininger, war seine Ansicht zur Frau ebenso klar festgelegt. Er sah ihre Bestimmung in der Rolle als Ehefrau und Mutter. Berufstätigkeit von Frauen lehnte er ebenfalls vehement ab. Zudem kam es in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zu der von Ute Planert beschriebenen „Biologisierung sozialer und politischer Verhältnisse“.110 Naturgesetze sollten anstelle von Glaubensgrundsätzen Gewissheiten liefern und als Orientierungspunkte wirken.111 Die Verfechter hierarchischer Geschlechterrollen begründeten ihre Position auch deswegen verstärkt mit vermeintlich biologisch-naturwissenschaftlichen Argumenten, weil evangelische Frauenrechtlerinnen begannen, ihre Forderung nach Gleichberechtigung mit Verweisen auf die Bibel zu untermauern.112

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Bebel, Frau, 287. Vgl. Spilker, Geschlecht, 257. Vgl. Planert, Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation, 41; dies., Kulturkritik, 41, 194f.; Blom, Kontinent, 282f.; Weininger, Geschlecht; Greven-Aschoff, Frauenbewegung, 77. Müller, Beruf, 16. Ebenda. Planert, Antifeminismus im Kaiserreich: Indikator, 103. Zur „Biologisierung“ der Politik vgl. dies., Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation, 83–92. Vgl. ebenda, 79f.; Herbert, Geschichte, 45. Vgl. Planert, Antifeminismus im Kaiserreich: Indikator, 103. Für die Bedeutung naturwissenschaftlicher Argumente in der Frauenbewegung vgl. u. a. Wobbe, Gleichheit.

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Es finden sich noch zahlreiche weitere Quellen, deren Verfasser weibliche Berufstätigkeit mit dem Verweis auf biologistische Gegebenheiten missbilligten. 1913 sprach sich der Staatswissenschaftler Friedrich Zahn gegen weibliche Berufstätigkeit aus – „vom hygienischen, ethischen und kulturellen Standpunkt“.113 Da der Körper der Frauen empfindlicher und weniger belastbar als der männliche sei, erklärte Zahn, werde der weibliche Körper durch die Ausübung eines Berufs nachhaltig geschädigt. Die Folgen seien verheerend. Es drohten „Frühund Fehlgeburten, Kinderlosigkeit, dauernde Erkrankung“.114 Zahn begründete damit die Geschlechterrollen mit einer dezidiert naturwissenschaftlich-medizinischen Sicht, die er aber zudem mit einer sittlich-moralischen Begründung verknüpfte. Dass die Erwerbstätigkeit für schwangere Frauen und Mütter junger Kinder durchaus Gesundheitsrisiken berge, bestritten Sozialdemokraten wie Bebel und Frauenrechtlerinnen wie die dem revisionistischen Flügel der SPD angehörende Lily Braun nicht. Sie trat prinzipiell dafür ein, dass die Strukturen geändert werden müssten, um Berufsarbeit und Haushaltsführung miteinander vereinbar zu machen. Gleichzeitig verwies Braun aber auch auf die Statistiken zur Kindersterblichkeit, die ein eindeutiges Bild vermittelten. Im ersten Lebensjahr würden von 1.000 Kindern lediglich sieben Kinder sterben, wenn sie mit Muttermilch ernährt würden; hingegen fänden 125 Kinder den Tod, wenn ihre Mütter auf künstliche Nahrung zurückgriffen. Eine Unterscheidung nach sozialer Schichtzugehörigkeit untermauerte Brauns Argument. Die Kindersterblichkeit lag während des ersten Lebensjahres im Bürgertum bei acht Prozent und in der Arbeiterschaft bei 30 Prozent. Da gerade Arbeiterfrauen berufstätig waren, führte Braun die Unterschiede bei der Kindersterblichkeit auf den unterschiedlichen Erwerbsgrad der Frauen zurück. Die Art der Tätigkeit beeinflusste selbstverständlich ebenfalls die Mortalität. Insbesondere in Industriezentren wie Berlin war die Kindersterblichkeit stark angestiegen. Besonders betroffen waren Arbeiterinnen in der Textil- und der Papierwarenindustrie. Am riskantesten sei jedoch, betonte Braun, der Beruf der Tabakarbeiterin, da hier die meisten Fehlgeburten und die höchste Säuglingssterblichkeit verzeichnet würden.115 Besonders problematisch war, „dass die Lebenden [Kinder; C. N.] sich häufig den Tod aus den Brüsten der Mutter trinken, deren Milch mit Nikotin durch113 114 115

BArch Berlin R 8034II/7964, Friedrich Zahn, Die Frau im Erwerbsleben, in: Münchner Neueste Nachrichten, 3. Oktober 1913, Bl. 90. Ebenda. Für einen Einblick in die „Biologisierung der Mutterschaft“ aus der Perspektive der Genealogie vgl. Zwilling, Mutterstämme. Zusammengefasst bei Brunner, Editorial, 15ff. Vgl. Braun, Mutterschaftsversicherung, 265ff.; Bebel, Frau, 161; Spilker, Geschlecht, 270; Allen, Feminismus, 233f. Zur Person Lily Braun vgl. Heimpel, Braun, Lily; Hagemann, Frauenalltag, 107. Zur Biographie Lily Brauns vgl. Gerhard, Unerhört, 197ff. Zur Kindersterblichkeit und Demographie allgemein vgl. u. a. Spree, Entwicklung; ders., Rückzug; Ehmer, Bevölkerungsgeschichte; Birg, Zeitenwende.

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setzt ist“.116 Insofern konnte auch zum Schutz der Mütter und Kinder gegen weibliche Berufstätigkeit und für einen reformierten Mutterschutz argumentiert werden.117 Die biologistisch-religiös aufgeladene Argumentation richtete sich jedoch nicht nur gegen die Berufstätigkeit von Frauen. Sie sollte stets auch die Geschlechterunterschiede begründen. Der Theologe Müller leitete aus der physiologischen Konstitution der Ehefrau als Mutter die Vorrangstellung des Ehemannes ab. Die Frau stehe in einem natürlichen Abhängigkeitsverhältnis zum Mann und wolle, „wenn sie liebt, beherrscht sein“.118 Da jedoch immer mehr Frauen dieses Geschlechterverhältnis infrage stellen und eine „wachsende Abneigung gegen den Mutterberuf “119 zeigen würden, verliere die Ehe an Ansehen. Dabei sei durchaus die Frage geäußert worden, ob die Ehe zukünftig überhaupt noch Bestand haben werde. Damit leitete Müller vom Leitbild der Frau als Mutter über zum Topos von einer drohenden Krise der Familie.120 Für die vehementen Gegner der Frauenbewegung wie Möbius und Müller war Emanzipation letztlich eine Chiffre für die Bedrohung der Zukunft von Ehe und Familie. Sie wollten ein weiteres Vordringen der Frauen in Bereiche des öffentlichen Lebens wie Universitäten und den Arbeitsmarkt aufhalten. Weibliche Berufstätigkeit musste demnach reduziert, der Zugang zu Universitäten untersagt und die Frauen auf ihre „natürliche“ Rolle als Hausfrau und Mutter verwiesen werden.121 Dadurch sollte auch die Familie im traditionellen Sinne bewahrt und so die Gesellschaft insgesamt stabilisiert werden. Die Gegenposition findet sich in den Arbeiten von Frauenrechtlerinnen und Schriftstellerinnen wie Gräfin Fanny zu Reventlow und Rosa Mayreder. Sie hinterfragten das traditionelle Geschlechterverhältnis. Im 1913 erschienenen Roman Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil karikiert die Schriftstellerin zu Reventlow die männlichen Defizite

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Braun, Mutterschaftsversicherung, 266. Vgl. ebenda, 268; Bebel, Frau, 161. Die Bedeutung des Stillens wurde auch in den 1920er Jahren als „stärkste Waffe der Mutter gegen den Tod des Säuglings“ propagiert. Oekinghaus, Stellung, 59. Auch die Risiken der Berufstätigkeit von Müttern für den Säugling wurden diskutiert. Vgl. Christian, Erwerbs- und Berufsarbeit, 332. Für Clara Zetkins Position zum Frauenarbeitsschutz vgl. Gerhard, Unerhört, 189. Zur generellen Debatte um Mutterschutz vgl. Hausen, Arbeiterinnenschutz, 727f. Müller, Beruf, 39. Ebenda, 53. Vgl. ebenda, 15f., 38f., 50–53; Schneider, Müller, Johannes. Vgl. Philipp Hammer zit. n.: Lokal-Komitee zu Trier (Hg.), Verhandlungen, 123–134; Josef Racke zit. n.: Lokal-Komitee zu Trier (Hg.), Verhandlungen, 250; Evans, Sozialdemokratie, 236; ders., Politics, 258; Sieder, Sozialgeschichte, 144. Zum Antifeminismus im Kaiserreich vgl. Planert, Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation; dies., Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation; dies., Mannweiber.

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in einer sich wandelnden Welt.122 Die österreichische Autorin und Frauenrechtlerin Rosa Mayreder hatte bereits 1905 in ihrer Schrift Zur Kritik der Weiblichkeit die sexuellen Identitäten angezweifelt und so die männliche Dominanz zur Disposition gestellt.123 Aufgrund der allgemeinen Tendenzen ist dem Urteil der Historikerin Ute Planert beizupflichten, dass aus zeitgenössischer Perspektive eine „fortschreitende Entmännlichung“124 die entscheidende Veränderung ihrer Zeit zu sein schien. Die männliche Identität geriet in eine Krise, da Frauen zusehends „männlich“ konnotierte Räume wie höhere Schulen, Universitäten und Fabriken besetzten. Zugleich verloren Männer innerhalb der Familien in der Alltagspraxis einen Teil ihrer Vormachtstellung, zum Beispiel als sich Frauen effektiv um die Geburtenkontrolle zu kümmern begannen. Die von Beobachtern wie Möbius auf der einen oder Mayreder auf der anderen Seite wahrgenommene und beschriebene Bedrohung der Männlichkeit zeigt die Veränderung der Geschlechterrollen und der Familienideale.125 Aus ihrer Sicht vollzog sich um die Jahrhundertwende ein Epochenbruch. Ihre Kritik richtete sich dabei stets gegen den gesellschaftlichen Ist-Zustand wie in dem von Racke entworfenen Bedrohungsszenario für die Familie oder den persiflierenden Beschreibungen der Vertreterinnen der Frauenbewegung. Während Letztere ihre Kritik an der Gegenwart mit einem utopischen, in die Zukunft weisenden Gesellschaftsentwurf verknüpften, verwiesen die Vertreter des christlich-bürgerlichen Ideals mit ihren Familienkonzeptionen auf ein Ideal, das in der Vergangenheit bereits realisiert gewesen sei, mittlerweile jedoch zusehends bedroht werde. In gewisser Weise erfanden sie hier eine Tradition, da das Ideal der christlich-bürgerlichen Familie erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert etabliert und mit dem BGB 1900 rechtlich kodifiziert worden war.126

2.3 Potenzielle Handlungsspielräume und weitreichende Gedankenspiele Gleichzeitig loteten Vertreterinnen der Frauenbewegung potenzielle Handlungsspielräume aus und diskutierten, wie die tradierten Familienideale und Geschlechterrollen verändert werden könnten. Die erste im Kaiserreich promovierte Juristin und Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung Anita Augspurg ging 122 123 124 125 126

Vgl. Blom, Kontinent, 12f.; Köhnen, Reventlow, Franziska; Planert, Kulturkritik, 196; Reventlow, Herrn Dames Aufzeichnungen. Vgl. Blom, Kontinent, 278ff.; Mayreder, Kritik. Planert, Kulturkritik, 199. Gestrich, Geschichte (2010), 56. Vgl. Hobsbawm, Introduction.

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2. Versuchte Einhegung gesellschaftlicher Veränderungen

in ihren weitreichenden Gedankenspielen sogar so weit, die äußere Struktur der Institution der Ehe aufzubrechen. Sie favorisierte die „freie Ehe“, einen freien Bund zwischen zwei Partnern, gegenüber dem tradierten Modell der Ehe. Diese Art der Verbindung käme ihrer Ansicht nach einem „Ehestreik“ gleich, wodurch wiederum der Gesetzgeber gezwungen würde, die rechtlichen Regelungen daran anzugleichen. Während Vertreterinnen des Verbandes Fortschrittlicher Frauenvereine sich dieser Sichtweise anschlossen, plädierte die Berliner Frauenrechtlerin Anna Plothow für ein anderes Vorgehen. Da ein Gesetz immer lediglich vorangegangene Veränderungen abbilde und keinen Zukunftsentwurf liefere, müssten sich vorher die sozialen Praktiken und diskursiv verhandelten Familien- und Geschlechterideale wandeln. „Der Wandel der Anschauungen“ müsse demnach „immer der Gesetzesänderung vorangehen“,127 betonte Plothow. Dieser könne erreicht werden, wenn zunächst der bereits bestehende Handlungsspielraum ausgenutzt werde. In den Augen Plothows sei es also zuerst notwendig, Frauen zu emanzipierten Individuen zu erziehen. Erst anschließend könnten die gesetzlichen Bestimmungen angeglichen werden. Das verbessere zugleich, so Plothow, die Machtposition der Frauen innerhalb der Familie.128 Reformanliegen konnten somit auf zwei Arten umgesetzt werden. Es mussten sich entweder erst die sozialen Praktiken wandeln und die rechtlichen Rahmenbedingungen nachträglich daran angepasst werden, oder es mussten durch Rechtsreformen neue Wertsetzungen erfolgen, an die sich in der Folge die sozialen Praktiken angleichen würden. Letzteres zielte darauf, Veränderungen bewusst zu initiieren, wohingegen beim ersteren Ansatz die Veränderungen aus den Familien hervorgingen. Allen Reformanliegen waren dabei deutliche Grenzen gesetzt. Plothow plädierte zwar dafür, die Machtverteilung innerhalb der Ehe zu reformieren. Die Rollenverteilung ließ sie hingegen genauso unangetastet wie die äußere Struktur der Familie. Kindererziehung blieb Mutteraufgabe. Ehe blieb das Lebensziel.129 Diese Sichtweise teilten zahlreiche Vertreterinnen sowohl aus der proletarischen wie auch der bürgerlichen Frauenbewegung. Zur Letzteren wird die Juristin und Frauenrechtlerin Marianne Weber gerechnet, die in ihren 1906 und 1907 erschienenen Schriften Beruf und Ehe sowie Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung ähnlich argumentierte.130 Frauen würden durch Er127

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BArch Berlin R 8034II/7958, Anna Plothow, Zur Reform der Ehe, in: Berliner Tageblatt, 9. September 1909, Bl. 1. Zur Biographie Anita Augspurgs vgl. Gerhard, Unerhört, 227f. Zur Geschichte des Verbandes Fortschrittlicher Frauenvereine vgl. ebenda, 244–248. Vgl. BArch Berlin R 8034II/7958, Anna Plothow, Zur Reform der Ehe, in: Berliner Tageblatt, 9. September 1909, Bl. 1. Vgl. ebenda. Vgl. Weber, Beruf, 138–141, 147f.; dies., Ehefrau, 443; Beuys, Frauen, 201. Für die allgemeine Perspektive der bürgerlichen Frauenbewegung hierzu vgl. Greven-Aschoff, Frauenbewegung, 62–66.

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2.3 Potenzielle Handlungsspielräume und weitreichende Gedankenspiele

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werbsarbeit „ihre Selbständigkeit in der Ehe sichern, und für eine wahre Kameradschaft mit dem Gatten ist es vielleicht das wichtigste, daß sie es lernt, vor der Ehe ‚ökonomisch selbständig‘ zu werden“,131 betonte Weber. Die Verfechterinnen dieser Position erkannten Erwerbsarbeit also als zentralen Teil des weiblichen Lebensverlaufes durchaus an, schließlich hätte die dadurch erlernte Unabhängigkeit einen positiven Effekt auf das spätere Verhältnis zwischen den Ehepartnern. Jedoch sollten Frauen mit der Eheschließung wieder aus dem Berufsleben ausscheiden. Die Berufsarbeit als Ideal für Ehefrauen und Mütter lehnten Weber und andere Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung demnach ab. Radikalere Vertreterinnen der Frauenbewegung, die sich im Verband Fortschrittlicher Frauenvereine zusammengeschlossen hatten, kämpften demgegenüber für eine wesentlich weitreichendere Reform. Sie stuften auf ihrer Jahrestagung Problem Beruf und Familie im September 1913 weibliche Berufstätigkeit grundsätzlich als positiven „Kulturfortschritt“132 ein. Indem Frauen einen Beruf ausübten, linderten sie die wirtschaftliche Not der Familien. Darüber hinaus würden Frauen selbst wirtschaftlich unabhängiger und steigerten zudem ihren „Persönlichkeitswert“. Ähnlich hatte bereits 1911 Henriette Fürth als Repräsentantin der proletarischen Frauenbewegung argumentiert und die Berufstätigkeit von Müttern befürwortet.133 Frauen, die sich ausschließlich auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter konzentrierten und keinem Beruf nachgingen, bezeichnete sie als „Nur-Hausfrau“.134 In dieser Gruppe subsumierte sie alle verheirateten, verwitweten oder geschiedenen Frauen, die sich um einen Familienhaushalt kümmerten und keiner ganztägigen Berufsarbeit nachgingen.135 Mitglieder der Frauenbewegung verwendeten damit schon zwischen 1900 und 1930 einen Begriff, der gut fünfzig Jahre später in der jungen Bundesrepublik Eingang in den öffentlichen Sprachgebrauch finden sollte, als über die Einführung der Teilzeitarbeit diskutiert wurde.136 Der wertende Begriff „Nur-Hausfrau“ war auch während der Jahrestagung des Verbandes Fortschrittlicher Frauenvereine 1913 gefallen. Damals hatte die Mehrheit der Teilnehmerinnen „die erwerbstätige Frau und Mutter [gegenüber] der Nur-Hausfrau“137 klar favorisiert. Gleichwohl sprachen einige Referentinnen wie die Frauenrechtlerin und Politikerin Gertrud Bäumer auch Probleme an, die 131 132 133 134 135 136 137

Weber, Beruf, 147. BArch Berlin R 8034II/7964, Anna Plothow, Beruf, Ehe und Mutterschaft, in: Berliner Tageblatt, 3. Oktober 1913, Bl. 89. Fürth, Ehe, 12ff. Zur Biographie Henriette Fürths vgl. Gerhard, Unerhört, 196. Fürth, Hausfrau, 15. Vgl. Hagemann, Frauenalltag, 25. Vgl. u. a. Oertzen, Teilzeitarbeit, 114. BArch Berlin R 8034II/7964, Anna Plothow, Beruf, Ehe und Mutterschaft, in: Berliner Tageblatt, 3. Oktober 1913, Bl. 89.

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die Berufstätigkeit von Müttern mit sich brachte. Sie lehnte Kindergärten und Kinderhorte und die darin praktizierte „Massenerziehung“138 ab. Lediglich in der Familie werde den Kindern eine gute Erziehung zuteil. Mütter profitierten nach dieser Lesart jeweils individuell von einer Berufstätigkeit. Das Familienleben hingegen stelle ihre Erwerbsarbeit auf eine Belastungsprobe, da geklärt werden müsse, wie Haushaltsführung und Kindererziehung auch zukünftig gewährleistet werden könnten.139 Trotz der vielfach geführten Reformdebatten zeigt sich, wie nach dem zeitgenössischen Verständnis die Kindererziehung weiterhin als Aufgabe der Mutter galt. Diese Probleme der Berufstätigkeit von Müttern thematisierten somit auch die Verfechterinnen einer gemäßigteren Position innerhalb der Frauenbewegung. Sie erkannten sehr wohl, dass faktisch nicht berufstätige Ehefrauen – gerade im Arbeitermilieu – eher die Ausnahme waren. Noch immer mussten zahlreiche Ehefrauen aufgrund des geringen Einkommens ihrer Männer zuverdienen. Laut der Berufszählung 1907 waren 8,5 Millionen Frauen hauptberuflich erwerbstätig, wobei hierunter die Statistik des Deutschen Reichs auch „mithelfende Familienangehörige“ subsumierte. Insgesamt war damit gut ein Drittel aller Frauen berufstätig, wobei von den Ehefrauen aber nur gut ein Viertel einem Hauptberuf nachging. Obschon somit anteilig mehr ledige und verwitwete bzw. geschiedene Frauen berufstätig waren, stellte sich wegen der vergleichsweise großen Gruppe der berufstätigen Ehefrauen für Zeitgenossen dennoch zwangsläufig die Frage, wie mit der Berufstätigkeit von Müttern und der Kinderbetreuung umgegangen werden sollte. Das Thema blieb eines der zentralen ungelösten und akuten Probleme, zu dem Zeitgenossen unterschiedliche Lösungsvorschläge diskutierten. Auf der Tagung des Verbandes Fortschrittlicher Frauenvereine 1913 griff die Schriftstellerin Clara Ratzka-Ernst Halbtagsarbeit als mögliche Lösung auf, ein Vorschlag, den zuvor bereits Alice Salomon, Else Lüders und Marie Baum als Option ins Spiel gebracht hatten. Als weitere Option stand der Ausbau der Kinderbetreuung im Raum.140 Die Diskussionen orientierten sich damit sowohl an wahrgenommenen Veränderungen als auch an Alltagsproblemen und damit konkreten sozialen Praktiken. Die Familie als Institution stand dabei nicht zur Disposition.

138 139

140

Ebenda. Vgl. BArch Berlin R 8034II/7964, Heinz Potthoff, Beruf und Ehe, in: Berliner Tageblatt, 26. September 1913, Bl. 84; Anna Plothow, Beruf, Ehe und Mutterschaft, in: Berliner Tageblatt, 3. Oktober 1913, Bl. 89; Fürth, Ehe, 12; dies., Hausfrau, 15; Oertzen, Teilzeitarbeit, 114. Zur Biographie Gertrud Bäumers vgl. Gerhard, Unerhört, 294f. Vgl. Weber, Beruf, 143f.; BArch Berlin R 8034II/7964, Elisabeth Thielemann, Soll die Frau in der Ehe mitverdienen?, in: Vossische Zeitung, 3. August 1913, Bl. 53; BArch Berlin R 8034II/7964, Anna Plothow, Beruf, Ehe und Mutterschaft, in: Berliner Tageblatt, 3. Oktober 1913, Bl. 89; Niemeyer, Struktur, 108f., 113.

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Eben hier setzte der Gesellschaftsentwurf des Psychologen und Soziologen Franz Müller-Lyer an, den er 1911 in seinem Werk Die Familie vorstellte, das mehrere wichtige Aspekte vereint. Zunächst ist die Arbeit insofern von besonderer Bedeutung, da sie ein weiterer wichtiger zeitgenössischer Versuch ist, die von Industrialisierung, Urbanisierung und Emanzipation hervorgerufenen Veränderungen gedanklich zu bewältigen. Sie fungiert damit als Gradmesser für die gesellschaftlich-kulturelle Veränderung im späten Kaiserreich. Zudem orientierte sich Müller-Lyer an den Arbeiten von Riehl, Marx und Engels, grenzte sich gleichzeitig jedoch deutlich von seinen Vordenkern ab. Er sah wie Marx den Sozialismus als Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung, der aber nicht durch Revolutionen, sondern durch Evolution erreicht werden könne.141 Nach diesem biologisch-evolutionistischen Gesellschaftsmodell sei die Auflösung der Familie nicht wie bei Riehl Ausdruck einer Krise der Familie, sondern vielmehr eine notwendige Stufe des kulturellen Fortschritts.142 Müller-Lyers Gesellschaftsmodell erschließt sich erst, wenn sein persönlicher Werdegang berücksichtigt wird. Er arbeitete zunächst als Psychologe, begann sich zum Ende der 1880er Jahre mit der Soziologie zu beschäftigen und entwickelte eine evolutionistische Kulturlehre, die biologische und soziologische Elemente miteinander verknüpfte. Sein Ansatz ist als Phasenlehre konzipiert, welche die Zeitlinie in drei Abschnitte des kulturellen Fortschritts untergliedert.143 Müller-Lyer sah demnach die Familie als historisch gewachsene, sich wandelnde Größe an, deren Entwicklung sich in drei Phasen aufteilte: die verwandtschaftliche, familiale und personale Epoche mit jeweils einem dominierenden sozialen Gebilde – Sippe, Familie und Individuum.144 Nach dieser Interpretation der gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung löste sich die Familie am Übergang zur personalen Epoche auf. Der Prozess hatte nach Ansicht Müller-Lyers mit der Verbreitung des Kapitalismus eingesetzt und schritt in der um 1910 gegenwärtigen „spätfamilialen“ bzw. „frühindividualen“ Phase weiter voran, die durch drei parallel ablaufende Prozesse gekennzeichnet sei145 : Erstens übernehme der Staat immer mehr familiale Funktionen wie die Kindererziehung, gerade weil die Familien die gestiegenen Anforderungen nicht bewältigen könnten. Zweitens sei die Familie zur Kleinfamilie geschrumpft und die Kinderzahl – zunächst in den höheren Schichten – rückläufig gewesen, doch mittlerweile breite sich das „Zweikindersystem“146 in allen gesellschaftlichen

141 142 143 144 145 146

Vgl. Esser, Müller-Lyer, Franz. Vgl. Müller-Lyer, Familie, 232–237. Vgl. Esser, Müller-Lyer, Franz. Vgl. Müller-Lyer, Familie, 4f., 210. Vgl. ebenda, 5, 387f.; Heinemann, Familie, 210. Müller-Lyer, Familie, 237.

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Klassen aus. Diese Entwicklungen interpretierte Müller-Lyer als Bedeutungsverlust und Zeichen für die Auflösung der Familie. Die vermutlich wichtigste Veränderung betraf nach Ansicht Müller-Lyers jedoch die Stellung der Ehefrau und der Kinder. Er bezeichnete die „Emanzipation der Frau“147 als Signum der Epoche und als notwendigen Schritt in der evolutionistischen Entwicklung. So könnten sich Frauen scheiden lassen, um der „Tyrannei des Mannes“148 zu entkommen.149 Auch beim Eltern-KindVerhältnis habe im „Jahrhundert des Kindes“150 – ein Begriff, den die schwedische Reformpädagogin Ellen Key um 1900 geprägt hatte – ein tiefgreifender Wandel stattgefunden.151 Den Wandel machte Müller-Lyer beim Sorgerecht fest, denn früher sei von den Rechten der Eltern und den Pflichten der Kinder gesprochen worden, inzwischen jedoch von den elterlichen Pflichten gegenüber ihren Kindern.152 Sicherlich zeichnete Müller-Lyer gerade beim innerfamilialen Handlungsspielraum von Ehefrauen und Kindern ein stark idealisiertes Bild der gesellschaftlichen Realität. Die Ehefrau war dem Mann keinesfalls rechtlich gleichgestellt worden und es existierte weiterhin ein Autoritätsverhältnis zwischen Vater und Kindern. Gerade der familienrechtliche Teil des BGB brachte dies zum Ausdruck.153 Gleichwohl stellte das veränderte innerfamiliale Beziehungsgefüge aus seiner Sicht ein zentrales Merkmal der spätfamilialen Phase dar. Die Individuen seien gleichberechtigte Partner, die sich aufgrund gegenseitiger Zuneigung verbunden fühlten. Müller-Lyer verortet damit den Ursprung einer gesellschaftlich-kulturellen Veränderung ebenfalls innerhalb der Familie: Die gewandelten innerfamilialen Praktiken würden in einem zweiten Schritt die Modifikation der äußeren Struktur der Familie nach sich ziehen. Müller-Lyer selbst sprach von einem Prozess, im Zuge dessen die „unauflösliche patriarchalische Zwangsmonogamie“ durch eine „freie Ehe“ abgelöst werde, die „eine individuelle Angelegenheit zweier freier und gleichberechtigter Persönlichkeiten“154 sei. Diesen Wandel belegten aus Müller-Lyers Perspektive mehrere Indikatoren, die sich im Vergleich zum 19. Jahrhundert verändert hätten. Insbesondere führte er den Anstieg der Scheidungen, des außerehelichen Geschlechtsverkehrs und der Geschlechtskrankheiten sowie der Kriminalitätsrate und den parallel erfolgten Bedeutungsverlust der

147 148 149 150 151 152 153 154

Ebenda, 246. Ebenda, 248. Vgl. ebenda, 245–249. Ebenda, 250. Vgl. Key, Jahrhundert. Zur Bedeutung eugenischer Argumente in den Arbeiten Keys vgl. Heinemann, Wert, 121f. Vgl. Müller-Lyer, Familie, 249f. Vgl. Gestrich, Geschichte (2010), 33f.; Blasius, Ehescheidung, 52, 56. Müller-Lyer, Familie, 388 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.].

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Religion an. Darüber hinaus schrieb er dem Geburtenrückgang eine wichtige Rolle für die „Verfallserscheinungen“ der Familie zu.155 Als Müller-Lyer sich diesem Thema zuwandte, hatte sich der Fertilitätsrückgang zu einem zentralen politischen Thema entwickelt; und mit dem Ersten Weltkrieg intensivierte er sich noch weiter. Insbesondere nationalkonservative und völkische Bevölkerungswissenschaftler, Kirchenvertreter und Teile des religiösen und konservativen Bürgertums bewerteten den Geburtenrückgang schon um die Jahrhundertwende als Bedrohung, da er in ihren Augen die „Wehrfähigkeit“156 der Nation, den Nationalstaat an sich gefährde. Die Ursache dieser Entwicklung verorteten sie in den Familien, da sie ihre zentrale Funktion der Zeugung von Nachwuchs nicht mehr hinreichend erfüllen würden. Der Fertilitätsrückgang resultierte jedoch nicht ausschließlich aus einem veränderten sozialen Verhalten, sondern auch aus neuen Idealen, die bestimmte gesellschaftliche Gruppen vertraten. Religiös geprägte und konservative Bevölkerungsteile benannten insbesondere die Sozialdemokratie – neben den Verfechtern des Neomalthusianismus, den Anhängern von Individualismus und Materialismus sowie den Frauen aus der Ober- und Mittelschicht. Sie warfen diesen Gruppierungen vor, Empfängnisverhütung sowohl zu unterstützen als auch zu praktizieren. Aus dieser Perspektive blieb unberücksichtigt, dass die Sozialdemokraten am Anfang des 20. Jahrhunderts eine ambivalente Position in der Frage der Geburtenregelung einnahmen, wie später anhand der „Gebärstreikdebatte“ herausgearbeitet wird.157 Ungeachtet solcher öffentlich verhandelter Kontroversen akzeptierte 1914 bereits die Mehrzahl der Deutschen eine willentliche Empfängnisverhütung, argumentiert die Historikerin Christiane Dienel. Sie schlussfolgert aus diesem Befund, dass Geburtenkontrolle lediglich in der diskursiven Verhandlung, nicht aber in der sozialen Praxis als problematisch angesehen worden sei – zumal insbesondere das Bürgertum gegen Geburtenregelung agitierte, zumindest Teile des Bürgertums diese jedoch gleichzeitig praktizierte.158 Dieses Verhalten kann auf mehrere Gründe zurückgeführt werden. Die mit Modernisierung und

155

156 157

158

Vgl. ebenda, 251–308. Als Ursachen für die zunehmende „Ehelosigkeit“ identifizierte Müller-Lyer folgende Faktoren: fehlendes Einkommen zur Ernährung einer Familie, weibliche Berufstätigkeit, die lange und teure Phase der Kindererziehung, die lange Lehr- und Ausbildungszeit des Mannes, individuelles Vergnügen, wachsendes Verantwortungsbewusstsein und Unsicherheiten über die Zukunft der eigenen Familie, geltendes Eherecht und gewachsene Ansprüche der Individuen an den Partner. Vgl. ebenda, 255–260. Gestrich, Neuzeit, 521. Vgl. ebenda, 520f.; Bajohr, Bengels, 99; Neumann, Geburtenkontrolle, 187, 190; Hagemann, Frauenalltag, 268; Bergmann, Frauen, 94; Ruhl, Ideologie, 375; Heinemann, Familie, 275f. Zum Neomalthusianismus vgl. exemplarisch Reulecke, Bevölkerungswissenschaft, 19ff.; Usborne, Frauenkörper, 24, 26ff.; König, Geburtenkontrolle, 131ff. Vgl. Dienel, Kinderzahl, 234.

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Industrialisierung einhergehenden Veränderungen erfassten alle Bereiche des Lebens, selbst der intime Privatraum der Familie blieb nicht unberührt. Dies bestärkte in Teilen der Gesellschaft das Gefühl, in einer unsicheren Zeit zu leben. Die Rückbesinnung auf Tradition und damit die diskursive Ablehnung von Empfängnisverhütung sollte dieser Wahrnehmung entgegentreten und orientierungsstiftend wirken. Zudem handelte es sich aber auch um eine Strategie, die Veränderungsprozesse entweder abzuwehren oder zumindest abzuschwächen, indem die Risiken rhetorisch überzeichnet wurden. Mit dieser Dramatisierung sollten die Gegner der Geburtenkontrolle mobilisiert werden. Gleichzeitig entfernten sich dadurch aber auch Diskurs und Praxis voneinander, denn im Alltag erreichte die Empfängnisverhütung nie das Ausmaß, vor dem ihre Gegner rhetorisch warnten. Die soziale Praxis der Geburtenkontrolle erscheint folglich als moderat – verglichen mit den öffentlich verhandelten radikalen Verhaltensweisen –, weshalb der alarmistische Diskurs auch keine großen Mobilisierungseffekte erzielen konnnte. Die Zeitgenossen konnten so über einen langfristigen, nichtlinear verlaufenden Anpassungsprozess die Neuerungen und Veränderungen in Einzelschritten dosiert übernehmen.159 Hierbei handelt es sich aber um eine rückblickende Einordnung der Veränderungen. Müller-Lyer selbst erschloss sich diese Perspektive nicht. Er erfasste die zentralen sozialen und statistischen Indikatoren, mittels derer sich der Wandel des Familienlebens und der Familienideale beschreiben ließ. Zudem finden sich in seinem Modell bereits Elemente eines individualisierten und partnerschaftlichen Eheverständnisses, das im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wirkmächtiger werden sollte. Große Attraktivität entfaltete sein Gesellschaftsentwurf erstmals in den 1920er Jahren, als sich insbesondere sozialdemokratische und marxistische Vordenker darauf bezogen. Zum Beispiel rezipierte der Sexualreformer und Freidenker Paul Krische Müller-Lyers Drei-Phasen-Modell bei seiner Darstellung der Entwicklungsstufen der Ehe: auf die primitive Ehe folge zunächst die funktionelle Ehe, die auf Zeugung von Nachkommenschaft ziele, und später die „freie Ehe“.160 Selbst im Nachkriegsdeutschland diente Müller-Lyer als Gewährsmann, wenngleich jetzt sein innerfamiliales Geschlechterrollenmodell im Vordergrund stand. Eine Abschaffung der Familie stand hingegen nicht im Raum.161 Müller-Lyers personalisiertes Eheverständnis war somit ein weiteres Familienmodell, das die Konflikte um die Familie vom späten Kaiserreich bis in die Bundesrepublik maßgeblich prägte. 159

160 161

Vgl. ebenda; Nipperdey, Geschichte (1866–1918), 190f.; Herbert, Geschichte, 66f. Zur Entwicklung der Geburtenkontrolle im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. König, Geburtenkontrolle. Vgl. Heinemann, Familie, 175; Krische, Soziologie, 64f. Vgl. Heinemann, Familie, 209f.; Krische, Soziologie, 8–11; Rühle, Liebe, 4–16; Familie [Brockhaus 1953], 764; Familie [Brockhaus 1968], 49. Zu Müller-Lyers Thesen siehe MüllerLyer, Formen; ders., Ehe; ders., Familie.

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2.4 Vermeintlich eindeutige Trends und Radikalisierung der Standpunkte

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Auch katholische Kirchenvertreter wie der Moraltheologe Joseph Mausbach setzten sich nach 1916 mit den individualistischen Sichtweisen auf Ehe und Familie auseinander und diskutierten, inwiefern diese auf der Liebe zweier Partner aufbauten und wie sich dazu der primäre Ehezweck, die Zeugung von Nachwuchs, verhalte. Die offizielle Lehrmeinung der Kirche hielt aber zunächst an ihrer institutionellen Sichtweise auf Ehe und Familie und fest, bis sich zum Ende der 1920er Jahre ein neues Verständnis der Bedeutung von Ehe und Familie durchsetzte, wie später gezeigt wird.162

2.4 Vermeintlich eindeutige Trends und Radikalisierung der Standpunkte während des Ersten Weltkriegs Während Müller-Lyer das Ende der christlich-bürgerlichen Kernfamilie prognostizierte, nahmen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die quantitative Verbreitung der Kernfamilie und damit auch ihre gesellschaftliche Bedeutung weiter zu. Diese Entwicklung zeigen jedoch die statistischen Erhebungen erst rückblickend auf. Nach den Erhebungen des Statistischen Reichsamtes stellten von 1910 bis 1933 die Verheirateten mit mehr als 50 Prozent aller Erwachsenen die jeweils größte soziale Gruppe, und ihr Anteil stieg bis in die 1960er Jahre sogar noch einmal an. Ehe und Kernfamilie blieben damit nicht nur die favorisierten Formen des Zusammenlebens, sie verbreiteten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und über die Krisenerfahrung der beiden Weltkriege hinweg sogar noch erheblich und erreichten ihren Zenit in den 1960er Jahren.163 Darüber hinaus stieg der Anteil der Geschiedenen von 1871 bis 1910 bei beiden Geschlechtern lediglich geringfügig an. Allerdings muss der Anstieg in Relation gesetzt werden. Andernfalls ließe sich nicht erklären, warum Zeitgenossen die Veränderung als dramatisch empfanden. „Erstaunt und ratlos sieht die Gesellschaft die Lockerung der Ehebande“,164 schrieb 1918 der Sozialdemokrat und spätere Kommunist Felix Milkert aus Spandau über die Entwicklung der Scheidungszahlen.165 Sein Urteil stützte sich auf zwei Beobachtungen. Laut dem 162

163

164 165

Vgl. Mausbach, Ehe (1916), 15–21; ders., Ehe (1919), 15–22; ders., Ehe (1925), 25–35; Heinemann, Familie, 160, 166ff.; Rölli-Alkemper, Familie, 40f.; Mieth, Geburtenregelung – bis „Humanae vitae“, 28ff. Vgl. Hubbard (Hg.), Familiengeschichte, 72; Bundesminister für Familie und Jugend, Erster Familienbericht, 23; Gestrich, Geschichte (2010), 29f.; Nipperdey, Geschichte (1866– 1918), 64. Milkert, Ehe-Probleme, 5. Milkert gehörte zunächst der SPD an, ab 1917 der USPD und wechselte dann zum Jahreswechsel 1918/19 in die KPD. Vgl. Milkert, Felix, in: http://www.bundesstiftungaufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html?ID=4788 (letzter Zugriff am: 04.01.2019).

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2. Versuchte Einhegung gesellschaftlicher Veränderungen

Tabelle 1: Familienstand der männlichen und weiblichen Bevölkerung in Prozent, 1871–1970 Von hundert Prozent der männlichen oder weiblichen Bevölkerung waren: 1871 1890 1910 1933 1950 1970 männliche Bevölkerung ledig verheiratet verwitwet geschieden

42,2 52,4 5,2 0,2

40,9 53,9 5,0 0,2

42,6 53,0 4,2 0,2

34,8 60,3 4,1 0,8

29,3 64,8 4,5 1,4

24,3 70,4 3,5 1,8

weibliche Bevölkerung ledig verheiratet verwitwet geschieden

38,0 49,7 12,0 0,3

35,9 50,8 13,0 0,3

34,6 53,2 11,8 0,4

31,7 55,4 11,7 1,2

26,9 55,5 15,5 2,1

18,8 60,4 17,8 3,0

38,4 52,3 9,1 0,2

37,2 54,4 8,1 0,3

33,1 57,8 8,1 1,0

27,9 59,7 10,6 1,8

21,4 65,0 11,2 2,4

zusammen ledig verheiratet verwitwet geschieden

40,1 51,0 8,7 0,2

Quelle: Hubbard (Hg.) Familiengeschichte, 72.

Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich 1914/15 nahm zwischen 1907/11 und 1913 die Zahl der Ehescheidungen deutlich zu. Im Deutschen Reich bzw. in Preußen seien von 1907 bis 1911 im Durchschnitt 14.177 bzw. 8.889 Ehen geschieden worden. Bis 1913 sei ihre Zahl auf 17.835 bzw. 11.162 Scheidungen gesprungen. Etwas abgemildert wird Milkerts dramatisierender Befund, wenn die Zahl der Ehescheidungen in Relation zu den Eheschließungen gestellt wird. Aber auch hier zeigt sich in Preußen und im Deutschen Reich eine Zunahme der Ehescheidungen pro 1.000 Eheschließungen von 1901 bis 1915.166 Eine zweite wahrgenommene Veränderung verstärkte Milkerts Urteil: die Schuldsprüche in den Ehescheidungsklagen. In Preußen entfielen um das Jahr 1913 47,5 Prozent der Scheidungsurteile auf § 1565 und 41,8 Prozent auf § 1568 des BGB. Die große Mehrzahl der Urteile wurde infolgedessen aufgrund von „Ehebruch“, „Doppelehe“ und „Unzucht“ bzw. „schwerer Verletzung der ehelichen Pflichten“ ausgesprochen. Für Milkert galten diese Scheidungsgründe, im Unterschied zu „Lebensnachstellung“, „böslicher Verlassung“ und „Geisteskrankheit“ der §§ 1566, 1567 und 1569, als Zeichen für die geringe Wertschätzung

166

Vgl. Milkert, Ehe-Probleme, 24. Auch in den USA diskutierten zeitgenössische Beobachter zwischen 1890 und 1920, welche Folgen Ehescheidungen für die Familie hätten. Vgl. Heinemann, Wert, 39–99.

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2.4 Vermeintlich eindeutige Trends und Radikalisierung der Standpunkte

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Tabelle 2: Ehescheidungen im Deutschen Kaiserreich und Preußen pro 1.000 Eheschließungen, 1901–1915 Jahre

Deutsches Reich

Preußen

1901/05 1906/10 1911/15

21 27 35

20 27 35

Quelle: Hubbard (Hg.) Familiengeschichte, 87.

der Ehe als Institution.167 Die Verteilung der Ehescheidungsgründe, so sein Urteil, zeige „mit aller Deutlichkeit den Zersetzungspunkt der alten Ehe“.168 Beide Entwicklungen festigten in der zeitgenössischen Wahrnehmung der unmittelbaren Nachkriegszeit den Eindruck vom Niedergang der Ehe und damit zwangsläufig auch der Kernfamilie, wie dies bereits Müller-Lyer um 1910 konstatiert hatte. Diese Wahrnehmung verstärkten insbesondere vier weitere Veränderungen, die kurzfristig die zeitgenössische Wahrnehmung in den Kriegsjahren und der unmittelbaren Nachkriegszeit erheblich prägten, wenngleich sie sich zum Teil kaum langfristig in den statistischen Erhebungen niederschlugen: der Anstieg des Heiratsalters und der weiblichen Berufstätigkeit sowie der Rückgang der Heiratsneigung und der Geburtenrate. Insofern markiert der Erste Weltkrieg eine entscheidende Zäsur, zumal die gegen Kriegsende geführten Kontroversen um die Bedeutung und Funktion der Familie bis weit in die 1920er Jahre nachwirkten.169 Zwischen 1914 und 1918 stieg zunächst die Zahl der berufstätigen Frauen an,170 aber noch wichtiger war für die zeitgenössische Wahrnehmung, dass sich die Art der weiblichen Erwerbstätigkeit verschob: Landarbeiterinnen und Verkäuferinnen gaben ihre traditionelle Tätigkeit auf und gingen in Fabriken; Beschäftigte in kriegsfernen Betrieben wechselten in die Rüstungsindustrie.171 Als der Krieg Frauen die Perspektive eröffnete, in Männerberufen tätig zu werden, äußerten sich zahlreiche Zeitgenossen besorgt über diese Veränderung. Sie befürchteten negative Folgen für die gesellschaftliche Position des männlichen 167 168 169 170

171

Vgl. Milkert, Ehe-Probleme, 24. Milkert hat die Zahlen den Statistischen Jahrbüchern für den Preußischen Staat 1914 entnommen. Vgl. ebenda. Ebenda. Ähnlich bei Herbert, Geschichte, 173. Zu den unterschiedlichen Interpretationen, inwiefern der Erste Weltkrieg als Zäsur gesehen werden muss, vgl. ebenda, 170–174. 1907 waren 30,5 Prozent der Frauen (8,5 Mio.) erwerbstätig und 1925 35,6 Prozent (11,5 Mio.); die Erwerbsquote der Männer lag bei 61,4 Prozent (1907) bzw. 68 Prozent. Vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, 259. Vgl. Kundrus, Kriegerfrauen, 13; Planert, Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation, 179f.

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2. Versuchte Einhegung gesellschaftlicher Veränderungen

Ernährers wie auch die Stabilität des Familienlebens.172 Ute Daniel argumentiert, dass der Erste Weltkrieg trotz dieser Veränderungen die Emanzipation der Frau vielmehr gebremst und nicht gefördert habe. Darüber hinaus ließe sich aber auch zeigen, dass sich aus der unmittelbaren Perspektive der Zeitgenossen die traditionellen Geschlechterrollen aufzulösen schienen. Diese wahrgenommene Veränderung verstärkte letztlich die Debatte um die Zukunft der Familie.173 Im Familienleben offenbarten sich die Kriegsfolgen ebenfalls deutlich. Die Familie verlor nach Darstellung Daniels ihre traditionelle Reproduktions- sowie Erziehungsfunktion und entwickelte sich zusehends zu einer Produktionsund Konsumtionsgemeinschaft. Diese kurzfristigen Auswirkungen des Kriegs arbeitet Daniel anhand mehrerer Indikatoren heraus. Zunächst ging die Zahl der Eheschließungen zwischen 1914 und 1918 deutlich zurück, nahm jedoch unmittelbar nach Kriegsende wieder zu und schwenkte damit erneut auf die langfristige Trendlinie ein.174 Auch beim Heiratsalter und den ehelichen Geburten registrierten die statistischen Erhebungen deutliche Verschiebungen. Zwischen 1901 und 1913 hatte sich das Heiratsalter kaum verändert. Bei Männern lag es bei ca. 29, bei Frauen bei 26 Jahren. Im Laufe des Kriegs stieg es aber deutlich an. Bei Männern belief sich die Zunahme auf 2,2 und bei Frauen auf 1,4 Jahre. Das bedeutet überdies, dass sich der Altersunterschied zwischen den Ehepartnern von 3,3 Jahren auf 4,1 Jahre vergrößerte.175 Die Prognosen über Krisenszenarien der Familie aus der Vorkriegszeit schienen sich damit aus zeitgenössischer Perspektive während des Kriegs nicht nur zu bewahrheiten, sondern sogar noch zu verschärfen.176 Die Geburtenentwicklung war eines der zentralen politischen Konfliktfelder, wie sich dies exemplarisch an der viel beachteten „Gebärstreikdebatte“ des Jahres 1913 darlegen lässt. Die beiden sozialdemokratischen Ärzte Alfred Bernstein und Julius Moses riefen in Berlin zum „Gebärstreik“ auf. Sie glaubten so, den Kapitalismus besiegen zu können, da infolge eines Geburtenrückgangs der Nachschub an Arbeitskräften und Soldaten versiegen würde. Während die 172 173 174 175

176

Vgl. ebenda. Daniel, Arbeiterfrauen, 259–273. Für diese Argumentation vgl. auch Beuys, Frauen, 335– 356. Vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, 126f., 129f., 265. Vgl. ebenda, 132. Beim Heiratsalter fällt eine Abweichung zwischen Ute Daniels Zahlen und den Statistiken des Ersten Familienberichts auf. Daniel stützt sich vermutlich auf die zeitgenössischen Erhebungen der Statistik des Deutschen Reichs. Demgegenüber dienten dem Ersten Familienbericht die „Unterlagen des Statistischen Bundesamtes“ als Berechnungsgrundlage. Die Abweichungen resultieren mit hoher Wahrscheinlichkeit aus divergierenden Datengrundlagen, Erhebungs- und Berechnungsmethoden. Sicherlich zeigt dies, wie problematisch eine direkte Vergleichbarkeit des Zahlenmaterials gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist. Dessen ungeachtet können die Statistiken herangezogen werden, um allgemeine Trends zu identifizieren. Vgl. exemplarisch Müller-Lyer, Formen, 245–248, 351.

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sozialdemokratischen Parteimitglieder, wie die SPD-Frauensektion, aber auch männliche Genossen, den Streik mehrheitlich positiv aufnahmen, lehnte ihn hingegen die Parteiführung ab. Da sich die Mitglieder von der Parteispitze – selbst als sich die bekannten Sozialdemokratinnen Clara Zetkin, Luise Zietz und Rosa Luxemburg in mehreren öffentlichen Verlautbarungen gegen den „Gebärstreik“ aussprachen – nicht beeinflussen ließen, blieb die ambivalente Haltung zur Empfängnisverhütung innerhalb der Sozialdemokratie bestehen. Erst gegen Ende des Ersten Weltkriegs modifizierte die Parteiführung ihren Standpunkt und akzeptierte Geburtenkontrolle. Die Debatte innerhalb der Partei kann, so die Lesart historischer Studien, auch als Abwehrhaltung der Männer gegen den wachsenden Einfluss von Frauen verstanden werden, denn schließlich praktizierten Letztere Empfängnisverhütung. Gleichzeitig verweist die Kontroverse auf die gesellschaftliche Verhandlung des Themas Sexualität.177 Die Debatte zeigt, dass aus der zeitgenössischen Perspektive die Familie nach wie vor eine Institution war, die für die Gesellschaft zentrale Funktionen übernahm, wie die Zeugung und Erziehung von Kindern. Familie war aber mehr. Es war auch ein Raum, in dem die Familienmitglieder ihr soziales Beziehungsgefüge und die Geschlechterrollen immer wieder aufs Neue verhandeln mussten. Weibliche Berufstätigkeit, Ehescheidung und die Einstellung zu Kindern waren eben die Themen, über die die Aushandlung erfolgte. Den dramatischsten Eindruck hinterließ in der damaligen Wahrnehmung der Geburtenrückgang. Die Zahl der ehelichen Geburten sackte von 28,3 Geburten je 1.000 Einwohner im Jahr 1913 auf 14,4 bzw. 14,7 Geburten in den letzten beiden Kriegsjahren ab. Daniel beziffert den „statistischen Ausfall“178 von Geburten in den vier Kriegsjahren auf 2,2 Millionen. Sie bezieht sich hier auf den Bevölkerungswissenschaftler Peter Marschalck, der diese Zahlen nachträglich ermittelt hat. Die Statistik des Deutschen Reichs und die Berechnungen des Statistikers Friedrich Burgdörfer aus den 1920er Jahren bezifferten den Geburtenausfall auf 3,3 Millionen bzw. 3,2 bis 3,5 Millionen.179 Während die rückblickende Analyse also den Einfluss des Ersten Weltkriegs auf die Bevölkerungsentwicklung aufgrund differenzierterer Berechnungsmethoden etwas geringer einschätzte, waren die Folgen des Ersten Weltkriegs dennoch enorm. Zeitgenössische Beobachter wie Burgdörfer oder nationalkonservativen Politiker sahen den unmittelbaren Geburtenausfall sowie den allgemeinen Rückgang der Geburtenziffern als In177

178 179

Vgl. Usborne, Frauenkörper, 28f.; Bergmann, Empfängnis; Bergmann, Frauen, 95–100, 104f.; Hagemann, Frauenalltag, 268–276; Heinemann, Familie, 276; König, Geburtenkontrolle, 135. Zur Biographie Luise Zietz’ vgl. Gerhard, Unerhört, 319. Zur Biographie Rosa Luxemburgs vgl. exemplarisch ebenda, 320. Daniel, Arbeiterfrauen, 133. Vgl. ebenda, 129, 133, 318; Marschalck, Bevölkerungsgeschichte, 148; Burgdörfer, Statistik, 99. Für die demographische Entwicklung im Ersten Weltkrieg allgemein vgl. Leonhard, Büchse, 767–784; Castell-Rüdenhausen, Konsequenzen, 117ff.

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dikatoren dafür, dass die Familie die an sie herangetragenen Aufgaben nicht mehr bewältigen könne und dass folglich reagiert werden müsse. Zum Beispiel versuchte man dem Geburtenrückgang mit einer geburtenfördernden Politik entgegenzuwirken.180 Es entstand zu dieser Zeit auch der Begriff „Familienpolitik“, verstanden als Bevölkerungspolitik. Erst in den 1930er Jahren erweiterte sich das Verständnis von Familienpolitik, als die Frauenrechtlerin Bäumer ihre gleichnamige wegweisende Arbeit vorlegte. Sie sprach von einer „Volkspolitik“, die nicht nur quantitativ die Geburtenzahlen steigern, sondern auch qualitativ auf die Erziehung einwirken müsse.181 Aber schon in den 1920er Jahren waren quantitative und qualitative Aspekte der Bevölkerungsentwicklung miteinander verwoben gewesen. Infolge der wahrgenommenen veränderten Rollenverteilung, dem statistisch gemessenen Rückgang der Heirats- und Geburtenziffern sowie dem Anstieg des Heiratsalters und der Scheidungszahlen intensivierte sich der Konflikt um die Bedeutung von Ehe und Familie für Gesellschaft und Staat wie auch ihre Zukunft um das Jahr 1918. Aus dieser Perspektive schien es, als würde die Kernfamilie ihre Orientierungsfunktion verlieren und damit das Zusammenleben nicht mehr ordnen können. Diesen Topos griffen Vertreter aus unterschiedlichen soziokulturellen Milieus auf. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen Positionen lassen sich exemplarisch anhand von vier Akteuren bestimmen, die in der damaligen Kontroverse prominent in Erscheinung traten: der Bevölkerungswissenschaftler Friedrich Zahn, der evangelische Theologe Gerhard Füllkrug, der Schweizer Pfarrer und sozialdemokratische Politiker Paul Pflüger und das Mitglied der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) sowie später der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) Felix Milkert.182 Die Institutionen Ehe und Familie erfuhren in allen Darstellungen durchweg eine sehr hohe Wertschätzung. Sie definierten die Familie als verheiratetes Elternpaar mit gemeinsamen Kindern und orientierten sich damit am Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie. Im Unterschied zur Debatte des 19. Jahrhunderts betonten sie aber, dass die Familie im Dienst von Staat und „Volk“ stehe. Die Stabilität der Gesellschaft könne nach den Kriegswirren mittels der Kernfa180 181

182

Vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, 126. Vgl. Bäumer, Familienpolitik; Ruhl, Ideologie, 374; Gestrich, Geschichte (2010), 47ff.; Usborne, Frauenkörper, 12. Für die zeitgenössische Verwendung des Begriffs „Familienpolitik“ vgl. u. a. Burgdörfer, Bevölkerungsproblem; Zahn, Familie und Familienpolitik; Bäumer, Familienpolitik. Vgl. Heinemann, Familie, 53; Zahn, Familie und Familienpolitik; Brocke, Bevölkerungswissenschaft, 443; Markus Bürgi, Pflüger, Paul, in: http://www.hls-dhs-dss. ch/textes/d/D3675.php (letzter Zugriff am: 04.01.2019); Pflüger, Ehe; Milkert, Felix, in: http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B1424.html?ID=4788 (letzter Zugriff am: 04.01.2019); Milkert, Ehe-Probleme; Wagner, Füllkrug, Gerhard; Füllkrug, Familien.

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milie, so Pflüger und Füllkrug, wiederhergestellt werden. Sie attestierten damit der Institution Familie eine Ordnungs- und Stabilisierungsfunktion.183 Zahn teilte diese Einschätzung in seinem 1918 publizierten Vortrag über Familie und Familienpolitik, schlug allerdings einen diametral entgegengesetzten Weg ein. Zunächst griff er mehrere Topoi zur Familie auf, die bereits im 19. Jahrhundert die Debatte geprägt hatten. Zahn vertrat jedoch zugleich wesentlich radikalere Standpunkte als die Verfechter des bürgerlichen Familienideals um die Jahrhundertwende. Er betonte weitaus stärker die völkisch-nationalistische Bedeutung der Familie. Zahn erklärte, die Familie sei „Urzelle, Keimzelle des Staates, der ordentliche Weg zu immerwährender Erneuerung und fortschreitender Veredelung des Volkskörpers“.184 Er verstand unter „Volk“ eine auf biologistischen und „rassischen“ Abstammungsmerkmalen basierende soziale Gruppe, eine „naturgegebene, ‚organische‘ Kategorie“.185 Wie in einem lebenden Organismus treibe die Familie als „das eigentliche Herz der Volkspersönlichkeit“186 die gesellschaftliche Entwicklung voran. Zahn bezog sich als Bevölkerungswissenschaftler damit primär auf die Zeugung und Erziehung von Kindern. Die Institution Familie stand nach seinem Verständnis im Dienst von Nation und „Volk“. Überdies deuten seine Worte an, dass die Familie in Vergangenheit und Gegenwart die ihr zugedachten Funktionen erfüllt habe, gegenwärtig aber kaum noch in der Lage sei, dies zu leisten.187 Die Ursache hierfür liege in den Folgen des Ersten Weltkriegs, schlussfolgerte Zahn. Der Krieg habe seiner Ansicht nach einen doppelten Effekt gehabt: Er habe neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen und zugleich als ein Brandbeschleuniger gewirkt. Zudem seien durch ihn die bis ins späte 19. Jahrhundert zurückreichenden Prozesse von Industrialisierung, Emanzipation der Frauen und Urbanisierung beschleunigt worden. Früher sei die Familie eine geschlossene Gemeinschaft gewesen, die zentrale gesellschaftliche Funktionen wie die Kindererziehung übernommen habe. Seit der Jahrhundertwende habe die Familie aber immer mehr dieser Funktionen abgegeben. Infolge der Einführung der allgemeinen Schulpflicht sei zum Beispiel die Erziehungs- und Bildungsfunktion weitgehend an die Schule übergegangen. Ferner verstärke die außerhäusliche Berufstätigkeit beider Eltern den Trend, da sie sich nicht mehr hinreichend um die Kindererziehung kümmern könnten.188 Zahns Vortrag bündelt an dieser Stelle die zentralen Topoi des zeitgenössischen Diskurses über den Niedergang der Familie, ihren vermeintlichen Bedeutungs- und Funktionsverlust. 183 184 185 186 187 188

Vgl. Pflüger, Ehe, 4; Füllkrug, Familien, 7. Zahn, Familie und Familienpolitik, 5. Ähnlich bei Pflüger, Ehe, 4. Herbert, Geschichte, 60. Zum Wandel des Verständnisses von „Volk“ im ausgehenden 19. Jahrhundert vgl. ebenda, 60f. Zahn, Familie und Familienpolitik, 8. Vgl. ebenda; Pflüger, Ehe, 12f. Vgl. Zahn, Familie und Familienpolitik, 12.

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Zahn thematisierte zudem mit der demographischen Verschiebung die offensichtlichste, vom Krieg hervorgerufene Veränderung und verknüpfte sie mit der Industrialisierung und der Verstädterung: den Rückgang der Kinderzahlen und der kinderreichen Familien. Auch in dieser Hinsicht habe der Erste Weltkrieg nach dieser Lesart als Beschleuniger gewirkt.189 Während in der patriarchalischen Familie Kinder „als der größte Reichtum, die beste Arbeitskraft und Hilfe der Eltern“ gegolten hätten, würden sie in den Arbeiterfamilien und der Stadt hingegen als „Last“190 gesehen. Die Großstadtfamilien und die proletarischen Familien symbolisierten somit aus Zahns Perspektive ähnlich wie bei Riehl den kulturellen Niedergang.191 Diese Wahrnehmung verstärkte ein zweiter, parallel ablaufender Prozess. Zwischen 1900 und 1910 stieg der Anteil der Bevölkerungsgruppe der unter Dreißigjährigen an, die sich zudem in den städtischen Regionen massierte, weshalb der Historiker Klaus Tenfelde von einer „kumulative[n] Großstadtverjüngung“192 spricht.193 Infolgedessen entwickelten sich städtische Regionen zu Ballungsräumen des Wandels, in denen sich die gesellschaftlichen Veränderungen bündelten.194 Viele Zeitgenossen dachten ähnlich wie Zahn und nahmen die dort ablaufenden Verschiebungen als bedrohlich wahr. Mit der Veränderung ging auch ein Verlust an Orientierung einher, den nach dieser Lesart die christlich-bürgerliche Familie geliefert habe, nicht aber die städtischen und proletarischen Formen des Zusammenlebens. Der Krieg änderte das Familienleben nachhaltig, da die Ehemänner und Väter als Soldaten an die Front mussten. Viele kehrten nach langer Abwesenheit gesund oder verwundet zurück, andere verstarben und hinterließen Witwen und Waisen. Für beide letztere Gruppen war Vaterlosigkeit „eine Erfahrung, die zwar individuell gemacht, aber kollektiv gesammelt wurde“.195 Die Einberufung des Vaters bzw. Ehemannes oder sein Tod stellten aus der individuellen Perspektive einen gravierenden Einschnitt dar. Aber auch für die Vertreter eines institutionellen Eheverständnisses wie Zahn waren die Folgen weitreichend. Schließlich verloren die Familien nach dem patriarchalischen Eheverständnis „ihr Haupt und ihren

189 190 191 192 193

194 195

Auch Rüdiger Graf argumentiert, dass der Krieg wie ein Katalysator gewirkt habe. Vgl. Graf, Zukunft, 58–63. Zahn, Familie und Familienpolitik, 14. Allgemein zur Bedeutung der Urbanisierung für den gesellschaftlich-kulturellen Wandel vgl. Herbert, Geschichte, 42. Tenfelde, Aspekte, 26. Ähnlich bei ders., Großstadtjugend, 197, 207. Vgl. Tenfelde, Aspekte, 18, 21; ders., Großstadtjugend, 197–209; Marschalck, Bevölkerungsgeschichte, 53–71; Ullmann, Kaiserreich, 124; Peukert, Weimarer Republik, 20; Nolte, 1900, 288. Für einen Forschungsüberblick zur Jugend in Europa aus nationaler und transnationaler Perspektive vgl. Levsen, Jugend. Vgl. Herbert, Geschichte, 42, 44. Seegers, Vati, 9.

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Ernährer“.196 Zudem fehle den Familien der Vater als Autoritätsperson. Dies wog umso schwerer, da väterliche Autorität, für Zahn verstanden als vorbehaltlose Unterordnung, den Eckpfeiler der Erziehung darstellte. Nun drohe „eine gewisse Verwilderung der Jugend“,197 warnte Zahn, und auch der Zusammenhalt von „Volk“ und Nation könne sich auflösen. Ohne diesen alarmistischen Grundton argumentierte der Pfarrer Pflüger in seiner Arbeit zu Ehe und Familie, aber für ihn steckte väterliche Autorität den Orientierungsrahmen ab, der es Kindern ermögliche, zu Persönlichkeiten zu reifen.198 Der protestantische Theologe Gerhard Füllkrug diagnostizierte angesichts der Trennung der Ehepartner und der Berufstätigkeit der Mutter eine akute Notsituation für die Familie, da sie ihre Erziehungsfunktion nicht mehr erfüllen könne. Die Veränderung hatte aus seiner Perspektive ebenfalls einen negativen Effekt für die Kinder. Sie seien oftmals sich selbst oder den Großmüttern überlassen gewesen, wodurch den Kindern keine angemessene Erziehung zuteilgeworden sei. Wie Zahn interpretierte Füllkrug die Verwahrlosung der Kinder und Jugendlichen als soziales Problem. Beide verwiesen aber zudem auch auf eine erhebliche Verschiebung des Autoritätsverhältnisses zwischen Eltern und Kindern, die sie negativ bewerteten. Die Kinder seien unabhängiger geworden und deswegen hätten die Eltern „Autorität und Achtung“199 bei den Kindern verloren. Folglich seien viele „Kinder ihre eigenen Wege“ gegangen, die „doch sehr oft ins Dunkle und in die Irre“200 – in die Kriminalität – geführt hätten. Füllkrug belegte dies mit dem Anstieg der Jugendkriminalität von 54.155 auf 99.493 rechtskräftig verurteilte Straftäter zwischen 1911 und 1918. Für ihn wie auch Zahn war diese Entwicklung eine direkte Folge der vermeintlichen Defizite in den Familien, die weder ihre Erziehungs- noch Kontrollfunktion über Kinder erfüllen könnten.201 Zahn und Füllkrug beschrieben somit mehrere direkte und indirekte Folgen des Ersten Weltkriegs, die sowohl die innerfamilialen Beziehungen wie auch die Zusammensetzung der Familien grundlegend verändert hatten. Aus ihrer Sicht waren die Folgen evident. Die Institution Familie könne ihre Funktionen für die Gesellschaft bzw. das „Volk“ nicht mehr übernehmen und zudem habe sich das Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum zugunsten des Letzteren verschoben. Füllkrug fasste diesen Trend unter den Begriff „Individualismus“.202 196 197 198

199 200 201 202

Zahn, Familie und Familienpolitik, 16. Ebenda, 17. Für diese Argumentation siehe auch Walter, Wiedergeburt, 2. Vgl. Zahn, Familie und Familienpolitik, 8, 17, 19. Zur Familienunterstützung als Form der staatlichen Fürsorge bei Wegfall des männlichen Ernährers vgl. exemplarisch Heinemann, Familie, 48; Kundrus, Kriegerfrauen, 40ff., 68ff. Füllkrug, Familien, 14. Ebenda, 15. Vgl. ebenda, 12–15; Heinemann, Familie, 38f.; Daniel, Arbeiterfrauen, 158. Füllkrug, Familien, 21.

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Ein wesentlich radikaleres Urteil fällte Zahn: „Überspannter Intellektualismus, krasser Materialismus, zügelloser Individualismus“203 hätten sich verbreitet, erklärte er und belegte diese Behauptung mit dem Hinweis, dass die „monogame Dauerehe“ vom Ideal „der ‚freien Liebe‘“204 abgelöst worden sei. Obwohl diese Debatte bis ins 19. Jahrhundert zurückreichte, hatte sie sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit radikalisiert und einen Konflikt um die Deutungshoheit über die Familienideale initiiert. Es prallten – wie schon bei den Familienidealen – zwei entgegengesetzte Deutungen aufeinander. Neben Bevölkerungswissenschaftlern wie Zahn sprachen auch Katholiken über den Funktionsverlust der Familie. Sozialdemokraten bewerteten demgegenüber im Unterschied zu nationalistischvölkischen und katholischen Personengruppen die Veränderung als Chance, ihre Familienvorstellungen durchzusetzen. Diese Sichtweise lehnte Zahn jedoch ab. Er sah in den Veränderungen eine Bedrohung für Familie und „Volk“. Er warnte vor „einer Lockerung der Familie, einer Abbröckelung des Familiengedankens und einer Beeinträchtigung des Familiensinns“.205 Am gravierendsten sei jedoch der Bedeutungsverlust des Ideals der kinderreichen Familie, d. h. von Familien mit durchschnittlich vier und fünf Kindern. Lediglich dieser Familientyp könne den „Fortbestand der Familie und des Volkes“ sichern.206 Großstädtischen und proletarischen Familien mit ihrer niedrigen durchschnittlichen Kinderzahl warf Zahn demgegenüber vor, dass sie „Familienselbstmord“, „Rassen-“ und „Volksselbstmord“ betreiben würden.207 Der Geburteneinbruch war somit Dreh- und Angelpunkt für Zahns Interpretament vom Niedergang der Familie.208 Dieser Bedrohung wollte Zahn mit seinen pronatalistischen Argumenten entgegenwirken und helfen, die Phase der „familien- und kinderscheuen Zeit“209 zu überwinden. Aus seiner Sicht könne die Familie lediglich mit einem erheblichen Anstieg der Geburtenzahlen ihrer Bedeutung für Staat und „Volk“ gerecht werden und den „Fortbestand des Volkes“ sicherstellen.210 Erneut wird hier deutlich, wie sehr die Institutionen Ehe und Familie aus dieser Perspektive im Dienst von „Volk“ und Nation stünden und stabilisierend wirkten.

203

204 205 206 207 208 209 210

Zahn, Familie und Familienpolitik, 9. 1930 reproduzierte Zahn diese Aussage in seinem Vortrag Wie die Familie – so das Volk, den er am 6. April 1930 auf einer Kundgebung des Landesverbandes Bayern der Kinderreichen Deutschlands hielt. Vgl. Zahn, Wie die Familie. Zahn, Familie und Familienpolitik, 9. Ebenda, 13. Ebenda, 15. Vgl. ebenda, 14ff. Vgl. ebenda, 9; Füllkrug, Familien, 20f. Zahn, Familie und Familienpolitik, 19. Vgl. ebenda, 8, 17, 19. Zur Folge der Vaterlosigkeit nach beiden Weltkriegen vgl. Seegers, Vati.

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Der Kommunist Milkert vertrat eine grundsätzlich andere Position und hinterfragte die Bedeutung des tradierten Familienideals für die Gesellschaft. Wie Müller-Lyer prognostizierte auch er einen Ablösungsprozess: „Die alte Ehe geht ihrer Auflösung entgegen“,211 sie habe sogar erst den Geburtenrückgang verursacht, urteilte Milkert weiter.212 Während also Zahn die traditionelle Ehe als Lösungsmodell für die gesellschaftlichen Probleme ansah, lag für Milkert genau hierin deren Ursache. Damit stellte er sich in die Tradition von Bebel, Marx und Engels, die ebenfalls für eine Reform der Ehe- und Familienideale plädiert hatten. Gleichzeitig ging er aber einen wesentlichen Schritt weiter, da er nicht nur die innerfamiliale Rollenverteilung, sondern auch die äußere Zusammensetzung der Familie reformieren wollte. Dies könne über vier Stellschrauben erreicht werden: den „gesellschaftlichen, moralischen, ökonomischen und juristischen Formen der Ehe“.213 Konkret setzte sich Milkert für die Emanzipation der Frau ein, denn die „Ehe- und Moralmisere“214 sei durch das wirtschaftliche, soziale und rechtliche Abhängigkeitsverhältnis der Frauen vom Ehemann verstärkt worden. Folglich könne dieser Zustand überwunden werden, wenn die rechtliche Gleichberechtigung der Frauen umgesetzt und das Scheidungsrecht gelockert werde. Dieser Schritt sei ohnehin notwendig geworden, so Milkert weiter, da viele Frauen durch Erwerbsarbeit bereits die wirtschaftlichen Fesseln abgelegt hätten.215 Zudem setzte sich Milkert dafür ein, dass die „alte Ehe“ durch eine „neue Form des Gemeinschaftslebens“,216 die sogenannte „neue Ehe“, abgelöst werde. Dieses Ehemodell verband Milkert mit drei äußeren Merkmalen: Anstieg der Ehescheidungen, der unehelichen Geburten und der Ehelosigkeit.217 Diese Indikatoren dienten anderen Zeitgenossen wie Zahn als Gradmesser für ihren antizipierten Verfall; Milkert hingegen favorisierte andere, lockere Formen des Zusammenlebens jenseits der Ehe. Damit handelte es sich um einen radikalen Gegenentwurf zum Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie. Trotz der unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung und Bedeutung der Familie erfassten die vier zeitgenössischen Beschreibungen alle vom Krieg hervorgerufenen Veränderungen wie den Rückgang der Heiratsneigung und der Geburten, den Anstieg des Heiratsalters und – in der Nachkriegszeit – der Scheidungszahlen sowie die sich wandelnden Geschlechterrollen. Diese kurzfristigen Verschiebungen blieben den eingangs angeführten

211 212 213 214 215 216 217

Milkert, Ehe-Probleme, 10. Vgl. ebenda. Ebenda, 7. Ebenda, 10. Vgl. ebenda, 7–17. Ebenda, 27. Vgl. ebenda, 28.

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2. Versuchte Einhegung gesellschaftlicher Veränderungen

langfristigen statistischen Erhebungen verborgen, zumal dort die Kriegsjahre ausgeklammert wurden. Während also die langen Linien das Bild einer vom Kaiserreich bis zur frühen Bundesrepublik reichenden Kontinuität vermitteln, fördert der punktuelle Blick auf die Kriegsjahre einen deutlichen Bruch zutage. Darüber hinaus radikalisierten sich in diesem Zeitraum die Positionen im linken und rechten politischen Spektrum. Während Erstere eine umfassende Reform einforderten, plädierten Letztere dafür, die Institution Familie vor einer akuten Bedrohung zu bewahren und nicht zu verändern. Aufgrund dieser polaren Frontstellung verstärkte sich die zeitgenössische Wahrnehmung, in einer Umbruchphase zu leben. Der Krieg hatte zudem für Zeitgenossen unmittelbare weitreichende Folgen. So änderte sich das Familienleben für Witwen massiv. Auch die Heirats-, Geburten- und Scheidungszahlen wurden vom Krieg beeinflusst. Allerdings schwenkten diese drei Trendindikatoren in den 1920er Jahren wieder zurück in die langfristigen Entwicklungslinien. Insofern markierte der Erste Weltkrieg aus der individuellen Perspektive vielfach einen signifikanten Einschnitt. Im Hinblick auf die soziostrukturellen Veränderungen stellte er jedoch keine langfristig messbare Zäsur dar. Gleichwohl prägten die kurzfristigen und unmittelbaren Veränderungen die zeitgenössische Wahrnehmung bis in die 1920er Jahre maßgeblich. Insofern lag der Ursprung der Debatten um die „Krise der Familie“, die die Auseinandersetzungen um Ehe und Familie in der Weimarer Republik dominierten, in den Jahren zwischen 1918 und 1920. Diese soziokulturellen Folgen des Kriegs wirkten damit wesentlich länger nach, als es die langfristigen quantitativen Erhebungen aufzuzeigen vermögen. Die Historikerin Ute Daniel bewertet die emanzipatorischen Folgen des Ersten Weltkriegs ambivalent: Während die Geburtenplanung auch nach dem Krieg noch einen positiven Effekt auf die materielle Situation der Familien gehabt habe, seien die Folgen für Ehe und Familie weniger eindeutig. Lediglich eine kleine Zahl von Frauen hinterfragte Ehe und Familie als „Leitlinie weiblicher Biographie“218 und wählte andere Formen des Zusammenlebens. Die Mehrheit der Frauen hingegen urteilte kritisch über den Gewinn an Wahlmöglichkeiten, zumal sie ihn oftmals als Zwang und weniger als Chance auf Emanzipation empfanden. Für viele Frauen bedeutete die Veränderung, dass sie ihren gewünschten Lebensentwurf – Heiraten und Kinder bekommen – nicht realisieren konnten.219 Damit ging die Veränderung für Frauen und Vertreter eines traditionellen Familienideals mit einem Verlust an Sicherheit einher. Die Veränderung ließ diese Gruppe gegen Kriegsende von einem Niedergang der Familie sprechen. Eine Entwicklung außerhalb Deutschlands verstärkte um das Jahr 1918 diesen Eindruck noch zusätzlich: die Reform des Familienrechts in Russland. Dort braute sich in den Augen der Verfechter der christlich-bürgerlichen Familie 218 219

Daniel, Arbeiterfrauen, 270. Vgl. ebenda, 269f.; Heinemann, Familie, 33f.

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2.5 Zwischenfazit

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eine massive Bedrohung zusammen, die auch Juristen in zahlreichen rechtswissenschaftlichen Publikationen ansprachen. In Russland wurde im Dezember 1917 zunächst die Ehescheidungsfreiheit und die obligatorische Zivilehe eingeführt sowie die konfessionelle Ehe abgeschafft. Die Ehe wurde nun vor dem Standesamt geschlossen und konnte dort auch jederzeit auf Wunsch wieder geschieden werden. Der radikale Bruch mit den christlichen Idealen von Ehe und Familie verunsicherte insbesondere die Vertreter des christlich-bürgerlichen Familienideals wie das katholische Zentrum. Sie befürchteten, dass das sowjetische Familienideal auch in Deutschland etabliert werden könnte. Das wollten sie unter allen Umständen verhindern und polemisierten vehement gegen „das Schreckgespenst der russischen Verhältnisse“220 – ein Topos, der im Laufe der 1920er Jahre immer wieder bedient wurde. Die Entwicklung in Russland empfanden nicht nur Katholiken, sondern auch Protestanten wie der evangelische Theologe Georg Merz oder die Religionspädagogin und Politikerin Magdalene von Tiling als Bedrohung.221 1930 erklärte der Medizinalrat Robert Engelsmann auf der Jahrestagung des Reichsbundes der Kinderreichen, dass von Russland die „Zerstörung der Familie“222 ausgehe. Sicherlich dramatisierten Engelsmann wie auch andere Zeitgenossen die Gefahr. Gleichwohl rezipierten insbesondere Kommunisten wie Milkert die Veränderungen in Russland und diskutierten ähnlich radikale Familienvorstellungen. Diese Verflechtung legt nicht zuletzt offen, dass der Konflikt um die Familienideale und familialen Praktiken zwar in Deutschland ausgetragen wurde, aber Themen und Debatten die nationalstaatlichen Grenzen problemlos überwinden konnten.223

2.5 Zwischenfazit In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreiteten sich zwei als „modern“ kodierte Familienformen – die proletarische und die bürgerliche Kernfamilie –, als im Zuge der Industrialisierung Wohnraum und Arbeitsstätte auseinandertraten. Insofern initiierten soziale Praktiken den Veränderungsprozess. 220 221 222 223

Blasius, Ehescheidung, 167. Vgl. Merz, Krisis, 339; Schneider, Merz, Georg; Tilling, Wiederaufbau, 1. Reichsbund der Kinderreichen, Familien, 99. Vgl. Heinemann, Familie, 99, 144–149; Usborne, Frauenkörper, 122; König, Entwicklungstendenzen, 151, 166f.; Blasius, Ehescheidung, 167f.; Milkert, Ehe-Probleme, 36f. Für transnationale historische Zugriffe vgl. exemplarisch Paulmann, Vergleich; Osterhammel, Gesellschaftsgeschichte; Patel, Überlegungen; Budde/Conrad/Janz (Hg.), Geschichte; Rodgers, Atlantiküberquerungen; Conrad, Globalisierung; Gassert, Geschichte. Für Bezugnahme auf die Entwicklungen in Russland bei den Verhandlungen zur Weimarer Reichsverfassung vgl. Schwab, Geschichte, 897f.

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2. Versuchte Einhegung gesellschaftlicher Veränderungen

Gleichzeitig trugen aber auch die Diskurse den Wandel weiter voran, da parallel ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess einsetzte, in dem normative Leitbilder verhandelt wurden. Während sich im Hinblick auf die Geschlechterrollen deutliche Unterschiede zwischen den Verfechtern patriarchalischer und emanzipatorischer Modelle zeigten, stand die Familie als Sozialformation eines verheirateten Ehepaares mit gemeinsamen Kindern nicht zur Disposition. Alle davon abweichenden familialen Lebensformen wie alleinerziehende Mütter mit Kindern galten nach dem zeitgenössischen Verständnis nicht als eine Familie, obschon sie in der sozialen Praxis insbesondere im städtischen Umfeld durchaus vorkamen. Folglich existierten stets vom Ideal deviante Familientypen, selbst nachdem 1875 die Heiratsbeschränkungen weggefallen waren und die Heiratsquote zugenommen hatte. Der leichten Pluralität in der sozialen Praxis standen die sich auf das Leitbild der christlich-bürgerlichen Kernfamilie verengenden Diskurse gegenüber. Dieses Ideal entfaltete eine hohe normative Verbindlichkeit und erfasste dabei auch die Arbeiterschaft. Zudem wurde es mit dem BGB 1900 rechtlich kodifiziert. Über dieses Familienmodell verhandelten zeitgenössische Beobachter nicht nur Gesellschaftsentwürfe als Ganzes. Vielmehr wollten sie die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse ebenso einhegen. Die sozialen Praktiken wichen aber auch weiterhin von jenem Modell ab. So lebten gerade ärmere Arbeiterfamilien nicht als Kernfamilie in einer eigenen Wohnung, da sie zum Beispiel Schlafgänger aufnahmen. Auch die vom Ideal geforderte klare Trennung der Geschlechterrollen entsprach nicht der gängigen sozialen Praxis, denn in der Mehrzahl der Familien mussten die Ehefrauen aufgrund des niedrigen Verdienstes ihres Ehemannes zum Familieneinkommen beitragen. Die Dreifachbelastung aus Berufsarbeit, Haushaltsführung und Kindererziehung stellte für viele Mütter eine enorme psychische und physische Belastung dar, weshalb zeitgenössische Beobachter insbesondere aus dem sozialdemokratischen Milieu und dem Umfeld der Frauenbewegung Lösungsmodelle diskutierten. Hierzu zählten insbesondere Halbtagsarbeit und die Forderung, dass ein Teil der Kindererziehung an Kinderhorte und -gärten übertragen werden solle. Da dies jedoch mit dem Leitbild der christlich-bürgerlichen Kernfamilie nicht vereinbar war, löste es unter konservativen Politikern, Kirchenvertretern und gläubigen Laien heftige polemische Abwehrreaktionen aus. Die diskutierten Lösungsmodelle wie auch der ab den 1890er Jahren statistisch gemessene Fertilitätsrückgang galten in ihren Augen als Beleg für einen Niedergang „der“ Familie und damit auch der Nation. Zudem verbreitete sich mit den Debatten polarisierte Verständnisse von Familie: Das Leitbild der christlich-bürgerlichen Kernfamilie stand den sogenannten Reformmodellen gegenüber. Da sich das christliche Familienmodell alleine mit dem Naturrecht nicht mehr begründen ließ, zogen selbst Theologen verstärkt naturwissenschaftliche Argumente heran, um ihrer

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2.5 Zwischenfazit

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Position Plausibilität zu verleihen. Diese Dramatisierung, Polarisierung und Biologisierung zeigte sich ab 1900, verstärkte sich mit der Oktoberrevolution 1917 und deren Rezeption in Deutschland sowie der aus der Kriegsniederlage hervorgehenden Krisenwahrnehmung. Insofern markiert der Erste Weltkrieg eine entscheidende Zäsur, selbst wenn er weder die Emanzipation der Frau im Alltag hervorbrachte noch die Ehe als Lebensmodell hinterfragt wurde. Die radikale Polarisierung zwischen christlich-bürgerlichen und verschiedenen emanzipatorischen Familienmodellen jedoch prägte die Kontroversen um die Familie über die gesamten 1920er Jahre.

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3. Projektionsfläche für Wunschvorstellungen und Realität im Alltag: die Familie in der Weimarer Republik 3.1 Polarisierte Familienideale und multiple Praktiken im Familienalltag Im Zuge der wahrgenommenen Veränderungen und der Radikalisierung der Ansichten zur Familie entflammten die Konflikte vor allem zwischen den Idealen des katholischen und denen des sozialdemokratischen Milieus. Es setzten sich in den 1920er Jahren folglich die zuvor geschilderten Debatten um eine vermutete akute „Krise der Familie“ fort.1 Dieser Befund deckt sich mit Detlev Peukerts viel zitierter Interpretation der Weimarer Republik als „Krisenzeit der klassischen Moderne“.2 Die Geschichtswissenschaft hat den Topos nicht nur rezipiert, sondern sich auch theoretisch-methodisch mit der Analysekategorie der Krise auseinandergesetzt. Obwohl keine allgemeingültige Definition gegeben werden kann, weist eine Krise stets mehrere eindeutige Merkmale auf. Zunächst sind Krisen „Wahrnehmungsphänomene“.3 Demnach gelten soziokulturelle Veränderungen nicht an sich schon als krisenhaft, sondern werden erst durch Narrative wie zum Beispiel die mediale Berichterstattung zu Krisen. Zweitens beschreibt Krise ein Übergangsstadium, eine kurze Verweildauer, auf dem Weg zu einer anderen Gesellschaftsordnung. Der Krisenzustand sowie die damit einhergehende und manchmal schneller, manchmal langsamer ablaufende Veränderung werden umrahmt von stabil empfundenen Phasen. Das suggeriert den Zeitgenossen, dass sie in einer intakten sozialen Ordnung lebten, die lediglich kurzzeitig außer Kraft gesetzt werde.4 In diesem Zusammenhang muss auf den Doppelcharakter der Familie hingewiesen werden. Einerseits ist sie ein dynamisches Beziehungsgeflecht, das einer ständigen Veränderung unterliegt. Andererseits handelt es sich bei Familie aber auch um eine statische gesellschaftliche Institution, die somit Stabilität suggerieren kann. Drittens verbindet der Krisenbegriff Diagnose und Prognose. Es werden ablaufende Veränderungen in der Gegenwart festgestellt und zugleich vorhergesagt, ob eine als positiv oder 1 2 3 4

Vgl. Heinemann, Familie, 11, 127, 153; Flemming/Saul/Witt, Einleitung [Familie im Wandel], 7. Peukert, Weimarer Republik, 11 [Hervorhebung im Original; C. N.]. Mergel, Krisen, 13. Siehe auch Föllmer/Graf/Leo, Einleitung, 12; Graf, Zukunft, 359–378; Schulze, Krisen, 38; Graf, Krise, 149f. Vgl. Föllmer/Graf/Leo, Einleitung, 12; Mergel, Krisen, 10–15. Die historische Forschung bezieht sich auf Reinhart Kosellecks Arbeiten zur Krise vgl. u. a. Koselleck, Kritik.

https://doi.org/10.1515/9783110651010-003

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negativ bewertete Entwicklung eintritt. Die pessimistische Perspektive verweist auf einen Bedrohungscharakter für überlieferte Elemente; zugleich eröffnen Krisen die Möglichkeit für Veränderung und verlangen zudem Entscheidungen über eine grundsätzliche Richtung.5 3.1.1 Vermutete „Krise der Familie“ und Suche nach Stabilität

Diese Elemente einer Krise finden sich in den Debatten über die Familienvorstellungen des katholischen und des sozialdemokratischen Milieus, die gewissermaßen die beiden zentralen konträren Pole der öffentlichen Diskussion um die Familienvorstellungen bildeten. Viele Katholiken zeigten sich stark verunsichert über die statistisch gemessenen Veränderungen. Sie sahen nicht die steigende Zahl der Ehen, sondern den Anstieg der Ehescheidungszahlen. Die Veränderungen interpretierten sie als Zeichen für eine Krise ihres Ideals der christlichbürgerlichen Kernfamilie und damit sogar ihrer Zukunft. Diese Bedrohung, so Katholiken, könne jedoch mit einer Rückbesinnung auf ebendieses Familienideal abgewendet werden. Ihr Fluchtpunkt war ein vermeintlich in der Vergangenheit des 19. Jahrhunderts realisiertes Familienmodell, an das in den 1920er Jahren erneut angeknüpft werden sollte. Demgegenüber bewerteten Sozialdemokraten die Veränderungen mehr als Chance, die tradierte patriarchalisch-autoritäre Familie durch ein emanzipatorischeres Familienmodell abzulösen. Ihr Fluchtpunkt lag in der Zukunft und orientierte sich an einem utopischen, erst noch zu realisierenden Ideal. Die Krisendiskussion fängt somit die zeitgenössischen Bewertungen der Chancen und Risiken gesellschaftlicher Veränderung ein.6 Wie zuvor geschildert, reichte der Topos von der „Krise der Familie“ ins späte 19. Jahrhundert zurück.7 Die Debatte intensivierte sich aber in den 1920er Jahren erheblich. Die Soziologin Rosemarie Nave-Herz identifiziert rückblickend drei Phasen. Studien der 1920er und späten 1940er Jahre würden den Verfall der Familie voraussagen, da sie oftmals ein naturrechtliches Verständnis von Familie besessen und deswegen ein bestimmtes Familienmodell idealisiert hätten. Studien aus den 1960er und 1970er Jahren würden hingegen das repressive Potenzial der Familie gegenüber dem Individuum betonen. Aus diesem Grund hätten sie für die Abschaffung der Familie und die Hinwendung zu neuen Formen des Zusammenlebens plädiert. In den späten 1970er Jahren habe sich die Vorstellung verbreitet, dass alternative Lebensformen in Konkurrenz zur Familie getreten seien. Hierbei handelte es sich um eine neue Spielart der These vom Nieder5 6 7

Vgl. Föllmer/Graf/Leo, Einleitung, 14. Ähnlich bei Meyer/Patzel-Mattern/Schenk, Krisengeschichten, 12. Vgl. Heinemann, Familie, 294; Usborne, Frauenkörper, 111. Vgl. Wirsching, Geschichte, 51; Miller-Kipp, Familie, 103; Mergel, Krisen, 14.

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gang der Familie. Nave-Herz bilanziert zu Recht, dass die drei Krisendebatten diskursive Phänomene bzw. Wahrnehmungsphänomene seien, die sich nicht sozialstrukturell belegen ließen.8 Demgegenüber ist die klare Verortung der jeweiligen Debatten in bestimmten Zeitabschnitten insofern fraglich, als gezeigt werden kann, dass bereits in den 1920er Jahren alle drei diskursiven Stränge existierten. Einige Zeitgenossen praktizierten, wie später gezeigt wird, bereits zu diesem Zeitpunkt alternative Formen des Zusammenlebens jenseits der traditionellen Ehe. Engels und Bebel hatten wiederum das Machtgefüge in der patriarchalischen Kernfamilie schon im ausgehenden 19. Jahrhundert kritisiert. In der Nachkriegszeit und den frühen Jahren der Weimarer Republik prägten jedoch zunächst andere Themen die Kontroversen über die Krise der Familie. Hierzu zählten vor allem der Geburtenrückgang sowie der Anstieg der Scheidungen und der unehelichen Geburten. Zudem argumentierten deutschnationale oder christlich geprägte Beobachter, dass die Berufstätigkeit von Ehefrauen und Müttern genauso zum Verfall der Familie beitragen würde wie die städtische Lebensform in beengten und überbelegten Wohnungen. Diese Topoi waren zwar schon im ausgehenden 19. Jahrhundert diskutiert worden, doch gegen Ende des Ersten Weltkriegs verschärfte sich der Ton massiv und die Debatten setzten sich in der Weimarer Republik fort. Parallel traten noch weitere, vom Krieg hervorgerufene Notlagen hinzu. Hierzu zählte eine allgemeine Wohnungsnot, denn nach dem Ersten Weltkrieg fehlten in Deutschland ungefähr eine halbe Million Wohnungen. Erschwerend kamen eine Nahrungsmittelknappheit und mangelhafte hygienische Zustände hinzu. Diese Faktoren wirkten sich alle negativ auf das Familienleben wie auch den Gesundheitszustand der Kinder aus.9 Welche Folgen hingegen die statistisch gemessenen sozialen Veränderungen für die Familie als Institution aufwiesen, blieb demgegenüber umstritten. Eine negative Bewertung hing vom politischen Standpunkt der Betrachter ab.10 Für Zentrumspolitiker, Vertreter der Deutschen Volkspartei (DVP) und der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) stand um das Jahr 1920 fest, dass der Anstieg unehelicher Geburten, gemessen am Anteil aller Geburten, von 9,7 Prozent 1913 auf 13,1 Prozent 1918 Ausdruck einer „Krise der Familie“ sei. Sie beschrieben mit diesem Interpretament die wahrgenommene allgegenwärti8 9

10

Vgl. Nave-Herz, These, 286, 290f., 306. Vgl. Frevert, Frauen-Geschichte, 181; Planert, Kulturkritik, 206ff.; Heinemann, Familie, 24, 29, 45; Hagemann, Frauenalltag, 157; Mouton, Nurturing, 197, 232f.; Niehuss, Lebensweise, 255–259; Wall, Families, 53f.; Peukert, Weimarer Republik, 32–61; Schulz, Mietskaserne, 45f. Für die zeitgenössische Perspektive vgl. u. a. Zahn, Familie und Familienpolitik, 3. Neben Ute Frevert führt auch Ute Planert noch eine Reihe weiterer Gründe an, etwa das Modell der „partnerschaftlichen Kameradschaftsehe“, das jedoch erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre verstärkt diskutiert wurde. Vgl. Planert, Kulturkritik, 206. Zur Relativierung der zeitgenössischen Bewertung des Anstiegs der unehelichen Geburten während des Ersten Weltkriegs vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, 133f.

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ge Orientierungslosigkeit, die durch die veränderten familialen Praktiken wie auch der Kriegsniederlage hervorgerufen worden sei. Diese Wahrnehmung übernahmen in der Nachkriegszeit auch Sozialdemokraten. Trotz aller politischer Unterschiede einte die Beobachter zumindest rhetorisch die Suche nach einem Ankerpunkt, der die Stabilität und so das Gefühl von Sicherheit, aber auch Geborgenheit wiederherstellte. In ihren Augen konnte lediglich „die“ Familie diese Funktionen erfüllen, weshalb sie besondere Wertschätzung erfuhr – wenngleich die Ansichten über die Ausgestaltung „der“ Familie deutlich divergierten.11 Gleichzeitig muss berücksichtigt werden, dass sich die Zeitgenossen bewusst des Topos der Orientierungslosigkeit bedienten, um ein Vakuum zu konstruieren, das sie hofften, mit ihrem Familienmodell füllen zu können. Das zeigt sich insofern, als sowohl Katholiken wie auch Sozialdemokraten sehr klare Vorstellungen darüber besaßen, wie ihre ideale Familie auszusehen habe und wie diese in der Nachkriegsgesellschaft orientierungsstiftend wirken sollte. Hier kann rückblickend eine Parallele zu den späten 1940er und frühen 1950er Jahren herausgearbeitet werden, als vor allem konservative Politiker, Kirchenvertreter und Wissenschaftler wie der Soziologe Helmut Schelsky von Krise und Orientierungslosigkeit sprachen. Auch sie wollten über die Institution Familie sowohl eine stabile Gesellschaftsordnung als auch eine sichere individuelle Lebenssituation etablieren. Die Familie fungierte somit sowohl nach dem Ersten als auch nach dem Zweiten Weltkrieg als Orientierungsmarke und vermittelte ein Gefühl von Sicherheit. In den 1950er Jahren sah Schelsky selbst diesen Zusammenhang jedoch noch nicht. Er unterschied klar zwischen den 1920er Jahren und den 1950er Jahren. Seiner Ansicht nach sei die Familie im Anschluss an den Ersten Weltkrieg destabilisiert gewesen und habe daher ihre Orientierungsfunktion nicht erfüllen können. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg habe die Institution Familie wieder stabilisierend auf die Gesellschaft einwirken können.12 Indem Schelsky die Rolle der Familie nach dem Ersten Weltkrieg relativierte und ihr Auflösungserscheinungen attestierte, nahm er eine normative Beschreibung vor, mit der er die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg von der Konstellation um 1920 dezidiert abgrenzte. So konnte er die Stabilität der Institution Familie nach 1945 wie auch ihre besondere Funktion für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft akzentuieren. Damit verkennt seine Darstellung jedoch die hervorgehobene Position, die schon Zeitgenossen der 1920er Jahre der Familie zugeschrieben hatten. Bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg galt die Familie als stabilisierend wirkende Institution. Zudem verkörperte die Familie für ihre Mitglieder bereits in der Notsituation nach dem Ersten Weltkrieg ein soziales Beziehungsgefüge, das wie ein Schutzraum vor externen Bedrohungen Zuflucht bot. 11 12

Vgl. Heinemann, Familie, 11, 21, 293; Mouton, Nurturing, 6; Hagemann, Frauenalltag, 25. Vgl. Schelsky, Wandlungen, 75f.

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In den frühen Jahren der Weimarer Republik gelang es der Familie demnach durchaus, auf der individuellen Beziehungsebene ordnungsstiftend zu wirken und das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln.13 Aus staatlicher Perspektive erfüllte demgegenüber die Institution Familie ihre Orientierungs- und Stabilisierungsfunktion nicht. Unterschiedlichste Weltsichten über die vergangene, gegenwärtige und zukünftige Bedeutung der Familie prallten aufeinander.14 Diese Konflikte um die Familie reihten sich ein in die gesamtgesellschaftliche Kontroverse über die zukünftige, neue Gesellschaftsordnung, um die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs insbesondere Politiker, Juristen und Kirchenvertreter in Deutschland rangen.15 Die Debatten über die Weimarer Reichsverfassung waren ein wichtiger Austragungsort des Konfliktes, an dessen Ende Ehe, Familie und Mutterschaft sowie die nichtehelichen Kinder in den Artikeln 119 bis 121 unter den Schutz der Verfassung gestellt wurden. Sie verkündete im Wortlaut: Art. 119 Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Sie beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter. Die Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie ist Aufgabe des Staats und der Gemeinden. Kinderreiche Familien haben Anspruch auf ausgleichende Fürsorge. Die Mutterschaft hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staats. Art. 120 Die Erziehung des Nachwuchses zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit ist oberste Pflicht und natürliches Recht der Eltern, über deren Betätigung die staatliche Gemeinschaft wacht. Art. 121 Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche, seelische und gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen wie den ehelichen Kindern.16

Die Historikerin Rebecca Heinemann betont, dass die wahrgenommenen Veränderungen und die daraus abgeleiteten Untergangsszenarien für die Familie dazu beigetragen hätten, die Passagen zur Familie in die Verfassung aufzunehmen.17 Sicherlich identifiziert sie damit einen zentralen Grund. Dagegen ließe sich aber auch argumentieren, dass ein anderer Faktor in seiner Bedeutung stärker gewichtet werden muss: die Orientierungsfunktion, welche Sozialdemokraten wie Zentrumspolitiker oder Vertreter der katholischen Kirche der Familie seit dem 19. Jahrhundert zuschrieben. Konsens herrschte also hinsichtlich der gesellschaftlichen Bedeutung der Familie. Divergenz prägte hingegen die Ansichten über die Familienideale wie 13 14 15 16 17

Vgl. Salomon, Nachwort, 375. Vgl. Flemming/Saul/Witt (Hg.), Familienleben, 6. Vgl. Reulecke, Männerbund, 199; ders., Männerbünde, 69. Anschütz, Verfassung, XXXV. Für eine historische Verortung der juristischen Debatte vgl. Löhnig, Evolution, 9f. Vgl. Heinemann, Familie, 69ff.; Hagemann, Frauenalltag, 159.

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auch die Geschlechterrollen. Bei der Ausarbeitung der Verfassung brachen die Konfliktlinien zwischen den Verfechtern der christlich-bürgerlichen Familienideale und den Befürwortern einer Reform des gesellschaftlichen Verständnisses von Familie auf.18 Im Unterausschuss für die Grundrechte setzte sich das Zentrum, vor allem vertreten durch den Rechtshistoriker Konrad Beyerle und den Moraltheologen Joseph Mausbach, dafür ein, dass die Familie durch die Verfassung geschützt werde. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der endgültige Entwurf des Unterausschusses die Kindererziehung naturrechtlich begründete. Ursprünglich war die Kindererziehung als „oberste Pflicht und unveräußerliches Recht der Eltern“ bezeichnet worden. Infolge der Verhandlungen kam es zur Modifikation des Textes. Jetzt war nicht mehr die Rede vom „unveräußerlichen“, sondern vom „natürlichen“ Recht der Eltern. Dieser Verfassungstext ermöglichte es dem Zentrum, während der 1920er Jahre immer wieder darauf zu rekurrieren, dass die Kindererziehung natürliches Elternrecht sei und ihnen nicht durch einen staatlichen Zugriff entzogen werden könne.19 In den anschließenden Verhandlungen wie den Lesungen im Verfassungsausschuss und den Plenarberatungen in der Nationalversammlung folgten weitere wichtige Modifikationen. Ein zentraler Konfliktherd war die Frage nach dem Stellenwert der Ehe. Während sich das Zentrum für den Schutz der traditionellen Ehe aussprach, lehnte die SPD um den Juristen Hugo Sinzheimer diese Position ab, da es sich bei der Ehe nicht um einen Rechtsgrundsatz handele. Darüber hinaus wäre dadurch eine spätere Reform des Eherechts im BGB wie zum Beispiel des Scheidungsrechts ausgeschlossen. In den Sitzungen offenbarte sich aber auch, wie ambivalent die Position der SPD zur Ehe war. Während ein Teil der Partei die zentrale Bedeutung der Ehe betonte, argumentierte insbesondere der linke Flügel dagegen. So warf der linke SPD-Politiker und Journalist Max Quarck die Frage auf, ob es neben der Ehe noch andere legitime Formen des Zusammenlebens gebe, die außen vor bleiben würden, wenn ausschließlich die Ehe geschützt würde. Erstmals stand damit die Ehe sowohl als Lebensmodell wie auch als notwendige Voraussetzung für Familie zur Disposition, wenngleich dies in den 1920er Jahren noch keine direkten politischen Folgen hatte und eine Minderheitenmeinung blieb.20 Zwei weitere wichtige Modifikationen erfolgten während der Beratungen im Plenum der Nationalversammlung. Zunächst entschieden sich die Dele18

19 20

Vgl. Heinemann, Familie, 67–71, 293ff.; Mouton, Nurturing, 6–10; Schwab, Geschichte, 893. Rebecca Heinemann resümiert hierzu: „In Anknüpfung an die Renaissance der Familienidee war der Familie bei dem Gedanken an den ‚Wiederaufbau‘ in der Nachkriegszeit die zentrale Rolle zugedacht.“ Heinemann, Familie, 293. Zu den unterschiedlichen Interpretationen der Weimarer Reichsverfassung vgl. Schwab, Geschichte. Vgl. Heinemann, Familie, 73–81; Schwab, Geschichte, 895; Bärmann, Beyerle, Konrad; Gründel, Mausbach, Joseph. Vgl. Heinemann, Familie, 81–88; Blanke, Sinzheimer, Hugo; Ratz, Quarck, Max.

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gierten, den Passus vom Prinzip der „Gleichberechtigung der Geschlechter“ aufzunehmen. Darüber hinaus betonten sie die zentrale Bedeutung der „Mutterschaft“. Zudem sprachen sich insbesondere die Frauen der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD), der SPD, des Zentrums und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) dafür aus, dass auch das nichtehelich geborene Kind unter den Schutz der Verfassung gestellt werde. Diesem Anliegen entsprachen die Delegierten letztlich ebenfalls.21 Die Verhandlungen über die Weimarer Reichsverfassung vollzogen sich in drei unterschiedlichen Arenen mit jeweils spezifischer Schwerpunktsetzung. Die Verhandlungen im Plenum führten dazu, dass die Delegierten die ursprünglich stark konservative Prägung der Entwürfe des Unterausschusses und des Verfassungsausschusses in Teilen modifizierten. Die vorgeordnete Stellung der Ehe vor Familie und Mutterschaft brachte dessen ungeachtet die Dreiteilung des Art. 119 zum Ausdruck. Die Ehe war eine notwendige Voraussetzung für Familie und Mutterschaft. Insofern fixierte der Art. 119 das Ideal der christlichbürgerlichen Kernfamilie, deutete dabei aber zumindest mit der Aufnahme des Begriffs der „Mutterschaft“ einen möglichen Spielraum für eine Modifikation der Familienideale an. Darüber hinaus schützte Art. 121 die nichtehelichen Kinder. Auch das verwies zumindest theoretisch auf eine Möglichkeit, vom traditionellen Familienideal abzurücken.22 Eine konkrete Etablierung eines modifizierten Familienverständnisses war freilich erst einmal gescheitert. Ähnlich ambivalent muss der Art. 109 bewertet werden. Er garantierte den Frauen zwar politisch die formale Gleichberechtigung. Allerdings blieben gerade für verheiratete Frauen rechtliche Barrieren aufgrund der Bestimmungen des BGB und soziale Schranken in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik bestehen, weshalb nicht von einer Gleichberechtigung ausgegangen werden kann, wie die Historikerin Karen Hagemann darlegt. Der Verfassungsartikel selbst deutet die Vorbehalte gegenüber Frauen bereits an, schließlich sprach er davon, dass „Männer und Frauen [. . . ] grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“ hätten.23 Wenn die jeweiligen Positionen in den Auseinandersetzungen auf ihre Kernaussagen reduziert werden, dann zeigt sich, dass insbesondere Vertreter der katholischen und protestantischen Kirche wie Priester und Theologen sowie konservative Politiker aus DVP und DNVP ein institutionelles Verständnis von Familie vertraten und sich am Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie orientierten. Allen anderen familialen Lebensformen wie alleinerziehenden Müttern mit Kindern sprachen sie demgegenüber den Status einer Familie ab. Folglich gab 21 22 23

Vgl. Heinemann, Familie, 88–97. Vgl. ebenda, 97–108. Vgl. Anschütz, Verfassung, XXXIII; Hagemann, Frauenalltag, 11. Ähnlich bei Schwab, Gleichberechtigung, 798f.

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es aus ihrer Perspektive lediglich eine legitime Familienform. Sozialdemokraten changierten demgegenüber zwischen zwei Perspektiven auf die Familie: Familie als Institution und Familie als Lebensgemeinschaft von Individuen. Zugleich dachten sie auch über alternative Familienformen nach.24 Diese Polarisierung ist jedoch aus drei Gründen zu einseitig. Schließlich werden erstens die jeweiligen Positionen nicht hinreichend differenziert. Innerhalb der SPD existierten unterschiedliche Ansichten über die Bedeutung der Ehe für die Familie. Das Zentrum wiederum wollte einerseits die Institution Ehe schützen, andererseits jedoch uneheliche Kinder nicht zu den Leidtragenden dieses Konfliktes machen.25 Zweitens besteht die Gefahr, dass die zeitgenössische Argumentation aus dem politischen Diskurs, der die Unterschiede überzeichnete und die Gemeinsamkeiten ausblendete, Eingang in die historische Analyse findet. Abschließend müssen drittens die langen Entwicklungslinien berücksichtigt werden. Sie legen dar, dass das Ideal der bürgerlichen Kernfamilie schon im Kaiserreich hinterfragt und diskutiert worden war. Insofern kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Leitbild der bürgerlichen Familie erst in der Weimarer Republik seine „uneingeschränkte Gültigkeit“26 verloren habe, wie Heinemann argumentiert. In den 1920er Jahren griffen die Zeitgenossen hingegen alte Topoi auf und intensivierten die Auseinandersetzungen erheblich, die schließlich in einem Konflikt um die Familienideale mündeten. Die Weimarer Reichsverfassung war somit kein Endpunkt der Debatte um die Bedeutung der Familie und ihrer gesellschaftlichen Funktion. Sie war zunächst ein Zwischenschritt, ein Kompromiss zwischen divergierenden Familienidealen. Gleichzeitig war sie ein Ausgangspunkt, von dem aus sich unterschiedliche Vorstellungen von Familie und Geschlechterrollen entwickeln konnten. 3.1.2 Entgegen der Krisendiagnose: Hohe Wertschätzung der Institution Familie

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert war der Lebensstandard angestiegen, was es immer mehr Arbeiterfamilien ermöglichte, sich an die bürgerlichen Lebensweisen anzugleichen. In den 1920er Jahren zogen verstärkt bessergestellte Facharbeiterfamilien oder Familien aus dem sozialdemokratischen Milieu aus den innerstädtischen Arbeiterquartieren in die Neubausiedlungen an den Stadtrand, wie die Hufeisensiedlung in Berlin oder die Römerstadt in Frankfurt. Sie näherten sich damit auch räumlich den bürgerlichen Familien von Angestellten und Beamten. Der Aufbau ihrer Wohnungen ähnelte sich ebenfalls – mit einer 24 25 26

Für eine knappe Zusammenfassung vgl. Heinemann, Familie, 17. Vgl. ebenda, 85, 92f. Ebenda, 17.

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abgeschlossenen Diele, einem eigenen Bad und Klosett sowie fließendem Warmund Kaltwasser, bisweilen sogar einer Zentralheizung.27 Während einerseits immer mehr Kernfamilien in einem abgeschlossenen Wohnraum bürgerliche Lebensstile praktizieren konnten, blieb andererseits für viele Familien der Wohnraum beengt, obwohl der staatlich geförderte soziale Wohnungsbau in den 1920er Jahren massiv zunahm. Es entstanden um die 2,5 Millionen Neubauwohnungen für gut neun Millionen Personen, die zudem zu 80 bis 90 Prozent aus öffentlichen Mitteln gefördert wurden. Dies ließ in Berlin die Belegungsdichte der Wohnungen von 3,6 Personen 1910 auf zunächst 3,4 Personen 1925 und schließlich 3,0 Personen 1930 zurückgehen. Allerdings reichten diese Anstrengungen nicht aus, um den Wohnungsbedarf gerade in urbanen Räumen zu decken, da während des Ersten Weltkriegs der Wohnungsbau brachgelegen hatte, zahlreiche Geflüchtete aus den verlorenen Gebieten nach Deutschland geströmt waren und nun die geburtenstarken Jahrgänge heirateten.28 Im Vergleich zu 1910 stieg bis 1925 die Zahl der Haushaltungen dreimal so stark wie die Einwohnerzahl.29 Nach der Volkszählung 1925 gab es in Deutschland lediglich eine Million Einzelhaushalte, denen 14 Millionen Familienhaushalte gegenüberstanden. Bis 1930 stieg ihre Zahl sogar auf 17 Millionen an.30 Zudem befanden sich vor allem Familien mit schlechtem Einkommen, wie zahlreiche Arbeiterfamilien, in einer Notlage. Sie zählten oft zu den drei Prozent der Haushalte ohne eigene Wohnung. Neben dieser auf 480.000 Haushalte geschätzten Gruppe existierten noch Familien mit höchstens einem Kind, die als Untermieter in Wohnungen lebten. Ihre Zahl lag doppelt so hoch. Da drei Viertel dieser Familien in einer Mittel- und Großwohnung lebten, wiesen sie die Statistiken aber nicht in der Kategorie überfüllte Wohnungen aus. Rein quantitativ hatte sich damit die Wohnsituation im Vergleich zum Kaiserreich entspannt, zumal zusätzlich die durchschnittliche Familiengröße von 4,6 Personen 1910 auf 4,2 Personen 1925 zurückgegangen war.31 Der ohnehin knappe Wohnraum wurde darüber hinaus weiterhin untervermietet. In Hamburg lebten um 1927 gut ein Viertel der Haushalte mit einem Untermieter. Andere Statistiken gaben an, dass im Deutschen Reich in sechs Prozent der Arbeiterfamilien Untermieter lebten. In Großstädten belief sich ihr Anteil auf bis zu 18 Prozent. 1927 wohnte ein Achtel der Großstädter zur Untermiete, was ungefähr zwei Millionen Personen entsprach. Mehr als die Hälfte 27 28 29 30 31

Vgl. Saldern, Häuserleben, 133f.; Wienfort, Geschichte, 150; Nipperdey, Geschichte (1866– 1918), 148. Vgl. Hagemann, Frauenalltag, 51ff., 60, 64, 157; Saldern, Häuserleben, 121f., 150, 156; Witt, Inflation, 400–403; Schulz, Mietskaserne, 75. Vgl. Saldern, Häuserleben, 128; Hagemann, Frauenalltag, 60. Vgl. Fürst, Familien, 455f. Vgl. ebenda, 455; Saldern, Häuserleben, 127f.

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von ihnen war bei Verwandten untergekommen. Selbst wenn im Vergleich zum Kaiserreich die Zahl der Schlafgänger in der Weimarer Republik rückläufig war, blieben kleine Arbeiterwohnungen weiterhin überfüllt, da die Kinder bis zur Eheschließung und oft darüber hinaus mit den Eltern in einem Haushalt lebten. Dies war gerade dann der Fall, wenn sich Familien Kleinstwohnungen mit einem Raum und einer Größe von weniger als 45 qm teilten.32 Ob in proletarischen oder bürgerlichen Familien – oder in einer dritten Kategorie, den bäuerlichen Familien vor allem in ländlichen Regionen –, es fällt auf, dass die Familie durchgehend hohe Wertschätzung erfuhr. Insbesondere die Strahlkraft des christlich-bürgerlichen Familienmodells war in den 1920er Jahren ungebrochen. Während im Kaiserreich noch vor allem die gelernten Arbeiter dieses Ideal angestrebt hatten, rückte es in den 1920er Jahren auch für un- und angelernte Arbeiter, meist aus der jüngeren Generation in erreichbare Nähe.33 Dieses sich nach 1900 verbreitende soziale Phänomen firmiert in der historischen Forschung unter dem Begriff der „respektablen Arbeiterfamilie“.34 Insofern stehen sowohl die statistisch gemessenen Entwicklungen als auch die individuellen Wertschätzungen für die Familien den immer wieder artikulierten Krisendiagnosen entgegen. Sicherlich waren im Ersten Weltkrieg die Heiratszahlen zurückgegangen, doch bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit schnellten sie zunächst nach oben – vermutlich, weil die in den Kriegsjahren ausgesetzten Eheschließungen nachgeholt wurden. Sie gingen von 1921 bis 1924 leicht zurück und pendelten sich ab dem Jahr 1924/25 in etwa auf dem Vorkriegsniveau ein. Zwischen 1927 und 1929 stiegen die Heiratszahlen dann abermals leicht an. Zudem näherte sich das Durchschnittsalter bei der Eheschließung von Männern und Frauen an. Während 1913 der Altersunterschied bei ledig Heiratenden im Mittelwert noch 2,8 Jahre betragen, sich im Laufe des Ersten Weltkriegs sogar kurzzeitig auf 4,1 Jahre vergrößert hatte, lag er 1927 nur noch bei 2,1 Jahren. Diese Angleichung resultierte primär aus dem gestiegenen Erstheiratsalter der Frauen. Zwischen 1906 und 1914 hatten ledige Männer und Frauen noch mit 27,4 bzw. 24,7 Jahren geheiratet. Im Anschluss an den Ersten Weltkrieg stieg das durchschnittliche Heiratsalter 1919 auf 29,0 bzw. 26,1 Jahre an. In den 1920er Jahren ging es aber wieder zurück. 1927 lag das Durchschnittsalter bei der Erstheirat für Männer schließlich bei 27,4 und für Frauen bei 25,3 Jahren.

32 33 34

Vgl. Hagemann, Frauenalltag, 74; Saldern, Häuserleben, 128, 133; Sieder, Sozialgeschichte, 216; Heinemann, Familie, 26f.; Niemeyer, Struktur, 130ff. Vgl. Hagemann, Frauenalltag, 157. Vgl. Rosenbaum, Typen, 260; Ehmer, Gesellen, 130–137; Hagemann, Frauenalltag, 157, 333f., 337ff., 348f.; Heinemann, Familie, 136ff.

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Tabelle 1: Standesamtliche Eheschließungen im Deutschen Reich pro 1.000 Einwohner, 1882–1929 Jahr

Eheschließungen

Jahr

Eheschließungen

1882 1895 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913

7,7 8,0 8,5 8,5 8,2 7,9 7,9 8,0 8,1 8,2 8,1 8,0 7,8 7,7 7,8 7,9 7,7

1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929

6,8 4,1 4,1 4,7 5,4 13,4 14,5 11,8 11,1 9,4 7,1 7,7 7,7 8,5 9,2 9,2

Quelle: Niemeyer, Struktur, 37.

Die Ehe blieb damit der zentrale Orientierungspunkt im Lebensverlauf der Menschen und bildete einen Zwischenschritt zur Familie.35 Dass die Institutionen Ehe und Familie weiterhin eine enorme Wertschätzung erfuhren, belegen noch weitere statistische Erhebungen. So stieg zwischen 1913 und 1924 zwar der Anteil der Witwen und Witwer wie auch der Geschiedenen gemessen an allen heiratenden Personen weit überproportional an. Selbst wenn aber wie in diesen Fällen Ehen gescheitert waren und geschieden oder mit dem Tod eines Partners beendet worden waren, strebten die davon Betroffenen eine Wiederheirat an. Allerdings offenbaren die Statistiken auch einen wichtigen Geschlechterunterschied: Verwitwete und geschiedene Männer entschlossen sich weitaus häufiger zu einer erneuten Heirat als ihre weiblichen Pendants.36 Es nahm während der 1920er Jahre aber auch der Anteil der verheirateten Personen an der Gesamtbevölkerung zu. Deren Zahl ließ sich allerdings nicht genau bestimmen, da keine Heiratstafeln vorlagen. Hierbei handelt es sich um eine äußerst zuverlässige, aber methodisch aufwendige Berechnungsmethode. Die letzten Heiratstafeln waren vor dem Ersten Weltkrieg von Statistikern anhand der Volkszählung 1910 und der Sterblichkeits- und Heiratsverhältnisse der Jahre 35 36

Vgl. Niemeyer, Struktur, 36f., 46; Burgdörfer, Statistik, 70; Bäumer, Frau (1931), 515f.; Daniel, Arbeiterfrauen, 132. Vgl. Niemeyer, Struktur, 44.

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1910 und 1911 erstellt worden. Zu dieser Zeit lag der Anteil der mindestens einmal im Leben heiratenden Männer und Frauen bei mehr als 85 Prozent.37 Für die 1920er Jahre zogen Statistiker andere Erhebungen heran wie die Volkszählungen 1910 und 1925. Diese ergaben, dass der Anteil der verheirateten Männer und Frauen an der Gesamtbevölkerung von 36,6 bzw. 35,6 Prozent im Jahr 1910 auf 42,2 bzw. 39,4 Prozent im Jahr 1925 angestiegen war. Die Zunahme resultierte allerdings aus einem Kompositionseffekt, da sich die Altersstruktur verschoben hatte. In Deutschland lebten nach dem Ersten Weltkrieg im Vergleich zur Vorkriegszeit mehr Erwachsene und weniger Jugendliche und Kinder.38 Ungeachtet dieser Einschränkung dienten die erhobenen Zahlen ebenfalls als Beleg für die anhaltend hohe Wertschätzung der Institution Ehe. Sie blieb ein wichtiger Zwischenschritt zur Familiengründung.39 Ehe und Familie galten damit nicht nur als die wünschenswerte Form des Zusammenlebens, sondern bildeten auch den Fixpunkt für die individuelle Lebensgestaltung. Allerdings bezweifelten zahlreiche Zeitgenossen wie der Bevölkerungswissenschaftler, Mitarbeiter im Statistischen Reichsamt und Schüler Zahns, Friedrich Burgdörfer, diese Annahme. Schließlich belege der Anstieg der Scheidungszahlen, dass sich die Struktur der Institutionen Ehe und Familie auflöse.40 Die konfliktbehafteten Diskurse um die Familie wurden in den 1920er Jahren folglich stets mit empirischen Befunden bzw. Deutungen angereichert, um daraus politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Dieses Phänomen ist umso bemerkenswerter, da kaum tragfähige Informationen zur Bedeutung der Institutionen Ehe und Familie für Staat, Gesellschaft und Individuum vorlagen. Die Sozialreformerin Alice Salomon griff dieses Problem 1930 auf und kritisierte, dass die Debatten über die Familie bisher auf der Basis von „Meinungen, Auffassungen, Behauptungen, Werturteile[n]“,41 nicht aber auf Basis fundierter Sachkenntnisse geführt worden seien. Sie wollte dieses Defizit überwinden und initiierte zusammen mit Gertrud Bäumer die Forschungsreihe Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart, die an der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit entstand – einer u. a. von Alice Salomon, Gertrud Bäumer, Eduard Spranger und Marie Baum gegründeten Bil37

38 39 40 41

Vgl. ebenda, 40; Burgdörfer, Statistik, 73. Zur Berechnung von Heiratstafeln vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 35f.; Niemeyer, Struktur, 40. Burgdörfer vermerkte auch, dass für die Nachkriegszeit noch in keinem Land Heiratstafeln vorliegen würden. Vgl. Burgdörfer, Statistik, 73. Vgl. Niemeyer, Struktur, 24, 27, 31, 162. Für eine weitergehende Unterscheidung nach Alter und Familienstand vgl. ebenda, 32ff. Vgl. ebenda, 39. Vgl. Burgdörfer, Statistik, 83. Salomon, Einführung, 7. Siehe auch bei Alice Salomon, Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart, in: Die Frau 37 (1930), 577–584, in: Flemming/Saul/Witt (Hg.), Familienleben, 12.

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dungsreinrichtung zur beruflichen Qualifikation von Frauen.42 Der Reihentitel verdeutlicht dabei Salomons zwei zentrale Anliegen. Zunächst ging es um eine Bestandsaufnahme und anschließend sollte diskutiert werden, inwiefern sich die vielfach konstatierte Auflösung der Familie im Familienalltag wiederfand. Es sollte also empirisch fundiert geklärt werden, ob die vorhandenen Formen des Gemeinschaftslebens nur überkommene Reste früherer sozialer Verfassungen sind, die mit Wahrscheinlichkeit schwinden werden, oder ob ein Umbildungsprozeß des Gemeinschaftslebens vorhanden ist, der die Familie auf Grund anderer Momente als in früherer Zeit erhält und sie auf neue Weise festigen kann.43

Salomon fragte nicht nur nach dem gesellschaftlichen Stellenwert der Familie, sondern auch wie das Zusammenleben künftig ausgestaltet sein werde. Insbesondere ging es Salomon darum, den „Festigkeitsgrad“, also die Stabilität der Familien zu bestimmen. Sie leitete dies aus der inneren Verbundenheit der Ehepartner oder den Eltern-Kind-Beziehungen ab. Salomon blieb damit allerdings dem tradierten Familienideal eines verheirateten Elternpaares verhaftet, wenngleich einige empirische Studien zu alleinerziehenden Müttern diese Sicht durchbrachen. Die Arbeiten aus Salomons Reihe verstanden die Familie nicht ausschließlich als eine soziale Institution, die Funktionen für die Gesellschaft übernahm. Für sie waren Familien auch soziale Beziehungsgefüge, die einer inneren Dynamik unterlagen.44 Die empirischen Untersuchungen bauten dabei auf drei unterschiedlichen methodischen Zugriffen auf. Erstens lieferten sogenannte Familienmonographien einen detaillierten Einblick über den gesamten Alltag einzelner Familien und ihrer Sozialbeziehungen. Andere Beschreibungen des Familienlebens fokussierten sich zweitens auf Teilbereiche des Alltags und fragten, inwiefern zum Beispiel die Familien mit berufstätigen Müttern oder Alleinerziehende ihre Erziehungsfunktion noch erfüllen konnten.45 Beide Zugriffe lieferten jeweils eine umfassende Beschreibung eng umgrenzter sozialer Praktiken oder sie gaben einen vertieften Einblick in den jeweiligen Alltag einer kleinen sozialen Gruppe, da die Schilderungen des Familienlebens oftmals in Form von langen Zitaten Eingang in den Studien fanden.46 Die Familienmonographien 42 43 44

45

46

Vgl. Salomon, Einführung, 7ff., 17f.; Andresen, Gefährdungen, 213, 214ff. Salomon, Einführung, 11. Vgl. ebenda, 13–17; Frank, Familienverhältnisse. Sibylle Buske kritisierte die ihrer Ansicht nach sehr einseitige Fokussierung von Autorinnen wie Alice Salomon, Gertrud Bäumer, Marianne Weber und Helene Lange auf die Ehe als einzig legitime Familienform. Vgl. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 71. Vgl. Salomon/Baum (Hg.), Familienleben; Niemeyer, Struktur; Corte, Familienverhältnisse; Krolzig, Jugendliche; Baum/Westerkamp, Rhythmus; Martens-Edelmann, Zusammensetzung; Barth/Niemeyer, Hilfeleistung; Meuter, Heimlosigkeit; Schaidnagl, Männer; Frank, Familienverhältnisse; Lüdy, Mütter; Hansen-Blancke, Mutterschaftsleistung. Vgl. Salomon, Einführung, 10.

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waren somit in den 1920er Jahren ein sozialwissenschaftlicher Zugriff, um eine Mikrostudie des Familienalltags zu erhalten.47 Allerdings sind diese Beschreibungen methodisch durchaus problematisch. Die Monographien fertigten zunächst verschiedene Personengruppen an. Entweder waren dies die Familienmitglieder selbst oder nicht der Familie zugehörige Beobachter wie Lehrkräfte, Sozialbeamte sowie Mitarbeiter des Jugendamtes. Sie setzten dabei unterschiedliche Schwerpunkte, sodass sich die Monographien sowohl in Aufbau als auch in Inhalt und Umfang erheblich unterscheiden konnten.48 Dementsprechend lassen sich die Monographien nur bedingt miteinander vergleichen. Darüber hinaus umfassen sie immer nur eine relativ eng umgrenzte Gruppe. Zum Beispiel lagen der Studie zum Familienleben in der Gegenwart von Alice Salomon und Marie Baum 182 Monographien zugrunde; die Arbeit über die Familienverhältnisse geschiedener und eheverlassener Frauen von Elisabeth Frank wiederum basierte auf der Schilderung des Alltags aus 42 Familienmonographien.49 Generalisierbare Aussagen auf das Familienleben in Deutschland ließen die Alltagsschilderungen damit nicht zu. Daher wurden sie durch einen dritten methodischen Ansatz ergänzt. Über die amtlichen Statistiken des Deutschen Reichs konnten soziale Phänomene quantitativ benannt und dabei vereinfacht abgebildet werden. Hier kann somit der Umfang der sozialen Entwicklungen benannt werden, aber die feinen Schattierungen des Alltags gehen verloren. Gleichwohl können auch diese quantitativen Erhebungen in qualitative Aussagen über den Zustand des Familienlebens überführt werden.50 Als Ausgangshypothese benannte Salomon mehrere Indikatoren für den familiären Zusammenhalt bzw. „Zusammenhang“. Die Familie sollte im Idealfall eine Erwerbsgemeinschaft mit einer geschlechtertypischen Rollenverteilung bilden. In einer gelockerten Familie übernehme demnach die Frau männlich konnotierte Tätigkeiten, bisweilen sogar die Rolle der alleinigen Ernährerin. Diese Mehrfachbelastung führe dazu, dass sich die Mutter nicht mehr um die Familie kümmern könne. Infolgedessen gehe der familiäre Zusammenhalt zurück. Die von Salomon initiierte Reihe diskutierte damit eine der zentralen zeitgenössisch verhandelten Fragen, auf die später vertieft eingegangen wird: Welche Folgen hatte die Berufstätigkeit von Müttern für die Familie? Ferner nahm Salomon an, dass für gefestigte Familien eine enge „innere Verbundenheit“ typisch sei. Zudem würden beide Ehepartner intensiv erzieherisch auf die Kinder einwirken. Fehle

47 48 49 50

Vgl. Salomon, 70 monographische Darstellungen, 25, 43, 81,132; dies., 23 monographische Darstellungen, 155; Baum, Darstellung, 219f.; Krolzig, Jugendliche, 9. Zu den Richtlinien für das Abfassen der Familienmonographien vgl. Salomon/Baum (Hg.), Familienleben, 377–384. Vgl. ebenda; Frank, Familienverhältnisse. Vgl. Salomon, Einführung, 10; Niemeyer, Struktur, 13–22.

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die emotionale Verbindung zwischen den Eheleuten, dann würden sie nicht mehr miteinander, sondern nebeneinanderher leben. Das wiederum wirke sich negativ auf die Kindererziehung aus. Kinder würden nicht lernen, die elterliche Autorität anzuerkennen und ihren Eltern zu gehorchen. Auch würden ihnen mehrere wichtige Fähigkeiten wie Selbständigkeit, Tüchtigkeit, Eigeninitiative, Tatkraft und Verantwortungsbewusstsein nicht beigebracht. Zudem seien sie nicht in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen, und blieben sich selbst überlassen. Bisweilen komme es sogar vor, dass Eltern und Kinder gegeneinander agierten, gerade in zerrütteten Ehen sei dies häufig der Fall.51 Dass die sozialen Praktiken dabei nicht mit den verhandelten Familienidealen – egal welcher weltanschaulicher Couleur – korrespondierten, belegten die Studien der Salomon-Reihe immer wieder. Die Bandbreite des abgedeckten Spektrums von Familienkonstellationen, zeigt sich zum Beispiel in einer Untersuchungsgruppe von 63 Berliner Familien mit minderjährigen Kindern.52 In 41 Fällen handelte es sich um Paare in erster Ehe. Vier Frauen und drei Männer waren zum zweiten Mal verheiratet. Sieben Frauen und vier Männer waren verwitwet. Die Beziehung zweier Paare bezeichnete Alice Salomon als eheähnliches Verhältnis. Zwei ledige Mütter wohnten alleine mit ihren Kindern in einer Haushaltsgemeinschaft. In diesen fünf Typen familialer Lebensformen lebten insgesamt 163 Kinder, die sich wie folgt verteilten: Es gab 16 kinderreiche Familien mit vier und mehr Kindern sowie zwölf Familien mit nur einem Kind. Mehr als die Hälfte der Familien hatte zwei oder drei Kinder.53 Die relativ überschaubare Gruppe von 63 Familien legt dar, wie unterschiedlich die individuellen Familienkonstellationen aussehen konnten. Zum Beispiel wichen mehrere Familien wie die Alleinerziehenden, die nichtehelichen Lebensgemeinschaften oder aber die Wiederverheirateten vom Ideal der tradierten christlich-bürgerlichen Kernfamilie ab. Das trifft auch auf die Familien zu, deren Kinder nicht in der elterlichen Wohnung lebten. Im Unterschied zu den öffentlich verhandelten Familienidealen, die insbesondere auf die Allgegenwärtigkeit der christlich-bürgerlichen Kernfamilie abstellten, hatte sich somit bereits in den 1920er „die Familie“ in verschiedene Typen ausdifferenziert. Insofern kann bereits in den 1920er Jahren von einer vorsichtigen Pluralisierung der Familienformen gesprochen werden. Von einer generellen Destabilisierung der Familie in den 1920er Jahren kann jedoch nicht die Rede sein, wie die Arbeiten aus Alice Salomons Reihe empirisch belegten.54 Die Erhebungen ergaben mehrheitlich, dass die Familie gesellschafts51 52 53 54

Vgl. Salomon, Einführung, 18ff. Hierbei handelte es sich um Kinder, die das 20. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. Vgl. Salomon, 70 monographische Darstellungen, 147. Vgl. ebenda, 147f. Vgl. ebenda, 151f.

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übergreifend als Institution und soziales Beziehungsgeflecht hohe Wertschätzung erfuhr, was exemplarisch der Bericht eines Schneiders aufzeigt: Die Familie bedeutet für mich mein Leben. Zur Familie gehören der Vater, die Mutter und die Kinder. Die Hauptpunkte in dieser kleinen Gemeinschaft sind Vater und Mutter. Sie sind die jenigen [sic!] welche sich täglich Sorge um den Kampf des Daseins machen müssen. [. . . ] Ich kann mit Stolß [sic!] sagen, das [sic!] ich mich in meinem Elternhause sehr wohl fühle.55

Jedoch entsprach diese Familie in einem entscheidenden Punkt nicht dem tradierten bürgerlichen Familienmodell. Da der Vater die Rolle als Ernährer aufgrund seines niedrigen Verdienstes nicht ausfüllen konnte, musste die Frau einer Lohnarbeit nachgehen. Auch das verweist darauf, dass die Familienmitglieder in Notlagen vielfach füreinander einstanden und sich gegenseitig halfen, was die emotionale Bindung erhöhte und so den familiären Zusammenhalt stärkte. Die Familie als soziale Institution und als Beziehungsgefüge konnte gefestigt werden, sofern es gelang, schwierige Situationen zu meisten. Dieser Befund stand im diametralen Gegensatz zur zeitgenössisch immer wieder behaupteten „Krise der Familie“. Zudem zeigte sich, dass die von Salomon formulierten Arbeitshypothesen, wonach unter anderem die Berufsarbeit der Mutter mit einer Destabilisierung der Familie und der Familienbeziehung einhergehe, sich in der sozialen Praxis nicht bestätigten.56 Ferner hatte die Familie auch Bestand, wenn Männer und Söhne den Feierabend im Wirtshaus oder Parteilokal verbrachten und wenn sich Mütter und Töchter um den Haushalt kümmerten. Dieses Rollenverhalten wurde zeitgenössisch kaum hinterfragt. Wichtig sei jedoch, dass die Familien am Wochenende gemeinsame Aktivitäten, wie Ausflüge, Arbeiten im Schrebergarten oder Kinobesuche, unternähmen. Auch das stärke den familiären Zusammenhalt.57 Gerade dass die Familienmitglieder ihre individuellen Wünsche in der Familiengemeinschaft verfolgen könnten, sorge für stabile Familienverhältnisse und -beziehungen.58 Gemeinschafts- und Individualinteressen waren demnach keine Antipoden, sondern verhielten sich komplementär zueinander. 3.1.3 Innerfamiliale Konfliktfelder: Berufstätigkeit von Müttern, Haushaltsführung und Kindererziehung

Während in der öffentlichen Diskussion selbst die Mehrzahl der Mitglieder der bürgerlichen und proletarischen Frauenbewegung die Ehe als zentrales Element einer Familie und auch die patriarchalisch-autoritäre Rollenverteilung innerhalb 55 56 57 58

Krolzig, Jugendliche, 157. Vgl. ebenda, 155–158. Vgl. Hagemann, Frauenalltag, 335ff., 343ff.; Saldern, Häuserleben, 124. Vgl. Salomon, Nachwort, 375; dies., Einführung, 21.

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der Familie nicht hinterfragten, blieb die Berufstätigkeit von Ehefrauen und Müttern in den 1920er Jahren umstritten. Gerade in der Arbeiterschaft war die Familie eine Arbeits-, Wirtschafts- und Wohngemeinschaft, deren Mitglieder – und damit auch die Mutter – zum Auskommen beitragen mussten. Zugleich musste die Ehefrau mit einem „Sparsamkeitsregiment“59 die knappen finanziellen Ressourcen beim Einkauf möglichst effizient einsetzen. Zudem entlastete sie die Haushaltskasse, indem sie Kleidung selber nähte oder flickte.60 Die Frau – und nicht der Ehemann – war folglich in vielen Familien ein zentraler Faktor, der die wirtschaftliche Lage der Familie bestimmte. Die soziale Praxis des Familienalltags warf damit die Frage auf, in welchem Verhältnis die Berufsarbeit von Frauen und die Familie standen. So stimmten die von der mehrheitssozialdemokratischen Frauenbewegung und dem gemäßigten Teil der bürgerlichen Frauenbewegung vertretenen Ideale zunächst weitgehend überein. Beide favorisierten die tradierten Geschlechterrollenmodelle des bürgerlichen Familienideals. Clara Zetkin und andere Kritiker dieses Ideals hatten die Partei hingegen verlassen. Erst nachdem sich MSPD und USPD zusammengeschlossen hatten, brach die konsensuale Position innerhalb der Sozialdemokratie auf und Kritik am tradierten Geschlechterbild wurde laut.61 So sprach sich 1922 die Sozialdemokratin und Juristin Sophie Schöfer, die zudem eine wichtige Funktionärin der SPD-Frauenorganisation war, in ihrer Schrift Das Eheproblem nicht nur für eine Reform des Ehe- und Familienrechts aus. Sie betonte überdies, wie sehr sich die Rolle der Frau gewandelt habe. Sie sei „viel selbständiger, viel freier geworden“, schrieb Schöfer und ergänzte, dass „sie ganz andere Ansprüche an das Leben [. . . ], ganz andere Ansprüche auch an den Mann und an die Ehe mit ihm“62 stelle. Die weibliche Berufstätigkeit stufte Schöfer dabei als das entscheidende Element ein. Sie sei sowohl Auslöser als auch Motor der Emanzipation der Frauen und über Arbeit konstituiere sich weibliche Individualität.63 Innerhalb der Sozialdemokratie blieb über die 1920er Jahre hinweg gleichwohl die Bewertung der weiblichen Berufstätigkeit umstritten und die Mehrheit innerhalb der sozialdemokratischen Frauenbewegung sprach sich gegen die Berufstätigkeit von Müttern aus. Ein Berufsverbot lehnten sie aber ab.64 Immer wieder diskutierten Genossinnen, welchen Effekt Erwerbstätigkeit auf die 59 60 61 62 63

64

Hagemann, Frauenalltag, 44. Vgl. Salomon, 70 monographische Darstellungen, 48, 149; Hagemann, Frauenalltag, 54, 162–165, 337. Vgl. ebenda, 307ff. Schöfer, Eheproblem, 4. Vgl. ebenda, 3f., 11, 13, 99; Hagemann, Frauenalltag, 326. Bereits August Bebel hatte betont, dass Berufstätigkeit eine Voraussetzung für die Emanzipation der Frau sei. Vgl. Bebel, Frau, 171–179. Vgl. Hagemann, Frauenalltag, 328.

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Emanzipation der Frau und die Gleichberechtigung in der ehelichen Lebensgemeinschaft habe. Schöfer wog ebenfalls die Argumente für und gegen die Berufstätigkeit von Frauen ab. Für sie blieb die „Vereinigung von Beruf, Ehe und Mutterschaft“65 das zu erreichende Ideal. Die Ehefrau durfte demnach nicht auf die Rolle der „Nur-Hausfrau“ reduziert werden. Sie sollte die drei Rollen Mutter, Hausfrau und Berufstätige in sich vereinen. Diese Vereinigung von drei zeitintensiven Aufgaben stellte eine erhebliche Belastung für Mütter dar, wie ein Blick auf den Familienalltag Ende der 1920er Jahre zeigt. Zunächst lag dies daran, dass die Ehefrauen und Mütter das Gros der Aufgaben im Haushalt schulterten, das sich von Hausarbeiten über Einkäufe bis zu Gartenarbeiten und manchmal auch zu handwerklichen Tätigkeiten erstreckte. Allerdings gingen ihnen dabei die Kinder – und in einigen wenigen Familien auch die Großmütter – zur Hand. Die Kinder mussten – insbesondere in kinderreichen Familien und in Arbeiterfamilien – meistens ab dem sechsten Lebensjahr im Haushalt einspringen, zwischen dem achten und dem zehnten Lebensjahr nahmen ihre Pflichten stark zu. Die Kinder mussten ihre jüngeren Geschwister beaufsichtigen, das Geschirr abtrocknen, die Wohnung putzen und die Wäsche waschen. Während die Eltern die Aufgaben zunächst nicht geschlechterspezifisch verteilten, änderte sich dies mit zunehmendem Alter der Kinder. Die Mütter tendierten dazu, ältere Jungen immer weniger für Hausarbeiten heranzuziehen, wohingegen ihnen ältere Mädchen im Haushalt immer mehr zur Hand gehen mussten. Neben der Anzahl der Geschwister und des Milieus hatte die Erwerbstätigkeit der Mutter maßgeblichen Einfluss auf die von den Kindern eingeforderte Unterstützung: Mädchen mit zahlreichen Geschwistern oder Kinder aus Arbeiterfamilien gaben an, durch ihre Unterstützung die Mutter entlasten zu wollen. Wahrscheinlich ist jedoch, dass die Mütter auf die Mithilfe ihrer älteren Töchter angewiesen waren.66 Denn in vielen Familien garantierte die Unterstützung der Kinder erst, dass der Haushalt ordentlich geführt werden konnte.67 Die „Hilfe des Hausherrn“, so die Sozialwissenschaftlerin, Sozialpolitikerin und Verfasserin der Studie zum Familienleben aus Salomons Reihe, Marie Baum, halte sich demgegenüber „in der Regel in bescheidenen Grenzen“.68 Er übernahm lediglich einen Teil der anfallenden Handwerks- und Gartenarbeiten, besohlte in manchen Familien die Schuhe oder holte die Kohlen aus dem Keller. Vereinzelt erledigte der Ehemann auch Einkäufe. Demgegenüber versagte er seine Mithilfe bei weiblich konnotierten Tätigkeiten wie Wäschewaschen, Putzen 65 66 67 68

Schöfer, Eheproblem, 84. Vgl. Barth/Niemeyer, Einleitung, 9; Barth, I. Teil. Untersuchungen, 13ff.; Niemeyer, Ergebnisse, 26f., 34f.; Hagemann, Frauenalltag, 96f. Vgl. Baum, Familie, 94f. Ebenda, 95.

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und Kochen, da sie in seinen Augen wenig prestigesträchtig waren. Mit dieser deutlichen quantitativen wie qualitativen Begrenzung ihrer Mitarbeit brachten die Ehemänner ihre Vormachtstellung innerhalb der Familie zum Ausdruck.69 Die Ehemänner übernahmen nur in geringem Umfang Hausarbeiten und es lag eine stark geschlechterspezifische Arbeitsteilung vor. Exemplarisch kann die Verteilung der Arbeitslast anhand der Zeitbudgets dreier Familien dargelegt werden, die Marie Baum und Alix Westerkamp in der Studie Rhythmus des Familienlebens aus Alice Salomons Forschungsreihe ermittelten. In einer Beamtenfamilie akkumulierten sich in einer Beobachtungswoche 146 Arbeitsstunden. Davon übernahm die Hausfrau 67 Stunden, die Hausgehilfin 75 Stunden und der Ehemann vier Stunden. In einer Angestelltenfamilie aus einer Gartenvorstadtsiedlung schlug sich die wöchentliche Arbeitslast mit 95 Stunden nieder. Davon entfielen 72 Stunden auf die Frau, was mehr als zehn Stunden pro Tag entsprach. 13 Stunden halfen die Kinder und zehn Stunden der Ehemann im Haushalt mit. Die Familienmitglieder einer Arbeiterfamilie aus einer süddeutschen Großstadt leisteten in einer Berichtswoche 107,5 Arbeitsstunden. Die erwerbstätige Mutter arbeitete 37,5 Stunden im Haushalt, die beiden Kinder zusammen 51,5 Stunden und der Ehemann 18,5 Stunden. Während die Arbeitslast in Familien durchaus verschieden aufgeteilt war, lässt die Verteilung dennoch generalisierende Aussagen zu. Mittelstandsfamilien wandten pro Woche mehr Arbeitsstunden für die Haushaltsführung auf. Meistens unterstützten Haushaltsgehilfinnen die Ehefrau und ermöglichten so überhaupt erst eine Arbeitsleistung zwischen 70 und 150 Wochenstunden. Demgegenüber lag der Aufwand in Arbeiterfamilien mehrheitlich zwischen 60 und 90 Stunden. Da die berufstätigen Mütter die Hausarbeiten oft alleine erledigten – lediglich vereinzelt halfen Kinder und Ehemann – war eine höhere Belastung kaum möglich. Schließlich bedeuteten 65 bis 89 Wochenarbeitsstunden, dass pro Tag neun bis zwölf Stunden für den Haushalt aufgewendet werden mussten.70 Die Mithilfe der Familienmitglieder war aber stets ein elementarer Bestandteil des Familienlebens. Dessen waren sich die Kinder und der Ehemann durchaus bewusst, weshalb sie der Mutter nicht „aus einer wirklichen Hilfsbereitschaft heraus, sondern oft genug mit innerem Widerstreben“71 halfen – selbst nach einem langen Arbeitstag. Insofern ging es bei ihrer Mitarbeit im Haushalt primär darum, den Familienalltag und den Haushalt am Laufen zu halten.72 Die Haupt-

69 70

71 72

Vgl. ebenda; Rosenbaum, Proletarische Familien, 214–227. Vgl. Baum, Familie, 23f., 37–85, 87ff.; Westerkamp, Familie, 111–178. Zu methodischen Problemen bei Zeitbudget-Studien, die von der jüngeren soziologischen Literatur reflektiert werden vgl. exemplarisch Lee/Waite, Husbands’; Haberkern, Zeitverwendung; Klaus/Steinbach, Determinanten; Hill/Kopp, Familiensoziologie, 200f. Westerkamp, Familie, 185. Vgl. ebenda, 185f.

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last der anfallenden Tätigkeiten trug aber weiterhin die Ehefrau und Mutter und ihre Hausarbeitszeit überstieg oft die Marke von zehn Stunden pro Tag.73 Auch Schöfer wollte die enorme zeitliche, physische und psychische Belastung für die Mütter reduzieren. Sie forderte, dass die innerfamiliale Rollenverteilung reformiert werden müsse. Schließlich sei es möglich, die Arbeitsbelastung der Ehefrauen im Haushalt und bei der Kindererziehung zu reduzieren, wenn Männer sich an der Hausarbeit beteiligten und die ineffizienten kleinen Haushalte zu rationaleren „Großhaushalt[en]“74 zusammengeschlossen würden.75 Letzteres schloss an die Rationalisierungsdebatten der 1920er Jahren an, die von der industriellen Produktion auf den Haushalt übertragen worden waren.76 Ersteres rüttelte zugleich an den traditionellen Geschlechterrollen, allerdings war gerade hier aufgrund der geltenden Normen der Handlungsspielraum gering.77 Insbesondere zwei Gruppen widersetzten sich einer Reform der innerfamilialen Aufgabenverteilung, argumentierten die Juristin Schöfer und die sozialdemokratische und politisch engagierte Kindergartenpädagogin Henny Schumacher: Ehemänner und „Hausfrauen alten Stils“,78 d. h. traditionell geprägte Frauen. Schöfer warf den Männern vor, dass sie an ihrer Vormachtstellung festhalten wollten, um ihre Machtposition zu sichern.79 Hier manifestiere sich ein „Kampf der Geschlechter“,80 erklärte Schöfer. Zugleich handele es sich aber auch um einen Kampf innerhalb des weiblichen Geschlechts, denn die Verfechterinnen der traditionellen Hausfrauenrolle würden sich ebenfalls gegen eine Veränderung sperren. In dieser doppelten Auseinandersetzung rang Schöfer in der zeitgenössischen Debatte um die Frage, wie die familialen Praktiken und Geschlechterrollen auszugestalten seien. Allerdings sperrte sich die Mehrheit der Sozialdemokraten wie auch die Gesellschaft insgesamt gegen die von Schöfer geforderte Reform der weiblichen Rollenmuster.81 Die Kombination aus Hausarbeit und Berufsarbeit blieb in den 1920er Jahren aber ein zentrales soziales Problem, denn die Zahl der berufstätigen Frauen war durchaus beträchtlich, wie die Berufszählung 1925 offenlegte. Die Anteile berufstätiger Frauen verteilten sich wie folgt: 39,4 Prozent waren verheiratet, 51,3 Prozent ledig, 8,7 Prozent verwitwet und 0,2 Prozent geschieden. Eine Unterscheidung nach Familienstand ergab, dass 6,8 Millionen der 17 Millionen ledigen 73 74 75 76 77 78 79 80 81

Vgl. Baum, Familie, 94. Schöfer, Eheproblem, 93. Vgl. ebenda, 91–96. Zur Mehrfachbelastung der Frau vgl. ebenfalls Bormann, Gleichstellung, 1038; Schumacher, Frau, 15f. Vgl. v. a. Heßler, Woman; Hagemann, Frauenalltag, 99. Vgl. ebenda, 639, 651. Schöfer, Eheproblem, 94. Vgl. ebenda, 25, 71; Schumacher, Frau, 47ff. Schöfer, Eheproblem, 58. Vgl. ebenda, 94.

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Tabelle 2: Verteilung der weiblichen Personen nach ihrer wirtschaftlichen Einordnung (1925) Gesamtzahl

hauptberuflich Erwerbstätige

beruflich selbständig

Angehörige ohne Beruf

0,5 (3,1 %) 0,17 (1,4 %) 1,5 (48,8 %) 2,1

9,1 (55,7 %) 8,8 (69,9 %) 0,5 (16,7 %) 18,4

Zahlenangaben in Millionen Ledige (einschl. der Kinder) 17 (100 %) 6,8 (41,2 %) Verheiratete 12,7 (100 %) 3,6 (28,7 %) Verwitwete und Geschiedene 3 (100 %) 1,0 (34,5 %) Summe 32,7 11,4 Quelle: Baum, Wandel, 179.

Frauen berufstätig waren. Das entsprach einem Anteil von 41 Prozent. Von den Ehefrauen arbeiteten demgegenüber 3,6 Millionen (29 Prozent) hauptberuflich; 700.000 als Arbeiterinnen und 2,5 Millionen als mithelfende Familienangehörige wie Bäuerinnen und Handwerkerehefrauen. Damit waren fast 70 Prozent aller erwerbstätigen Ehefrauen mithelfende Familienangehörige und knapp 20 Prozent Fabrikarbeiterinnen.82 Diese Verteilung beschäftigte auch Zeitgenossen wie Marie Baum 1931. Sie betonte, dass gerade die Gruppe der mithelfenden Angehörigen „ihre hauptberufliche Erwerbstätigkeit aus dem Zentrum der Familienarbeit heraus gestalten“83 würden. Da zudem die Arbeiterinnen neben ihrem Beruf auch noch für Haushaltsführung und Kindererziehung zuständig seien, sei dies ein Beleg dafür, wie stark innerhalb der Familien weiterhin tradierte Geschlechterrollen vorherrschen würden – ein Befund, der sich mit dem der empirischen Studien zum Zeitbudget von Familien deckt und zugleich die Belastung für Mütter offenlegt.84 Die Hausarbeit der Mütter sicherte dabei den familiären Zusammenhalt. Ihre Berufsarbeit garantierte wiederum das finanzielle Überleben einkommensschwacher Familien, gerade wenn ihre Ehemänner nur gelegentlich in Lohn und Brot standen oder schlicht zu wenig verdienten.85 Gerade der Verlust des Arbeitsplatzes hatte für den Mann weitreichende Folgen. Er ging mit einem Macht- und 82

83 84

85

Vgl. Fürst, Familien, 462; Baum, Wandel, 178ff.; Geyer, Bedeutung, 609; Niemeyer, Struktur, 108f., 118; Bäumer, Frau (1931), 514. Gertrud Bäumer wies in ihren Ausführungen auf ein methodisches Problem hin. Die Befragungen hätten „sehr rohe Zahlen“ geliefert, da unklar sei, wie viele Familien auf die Frauen entfielen, die als Ehefrauen, Witwen oder Geschiedene aufgelistet würden. Zum Beispiel würden Witwen mit hoher Wahrscheinlichkeit alleine leben. Klarheit hierüber könne eine Familienzählung geben, die es jedoch in Deutschland nicht gebe. Vgl. ebenda. Für eine ausführliche Betrachtung der Ergebnisse vgl. ebenfalls Martens-Edelmann, Zusammensetzung, 13–20. Baum, Wandel, 180. Vgl. ebenda, 178ff. Marie Baum im Wortlaut: „Zahlenmäßig beansprucht also der Haushalt in erheblich größerem Umfang Frauenarbeit als es die außerhäusliche, ganz überwiegend vom Ledigen durchgeführte hauptberufliche Erwerbstätigkeit tut.“ Ebenda, 180. Vgl. Salomon, 70 monographische Darstellungen, 26, 29, 35, 85, 116.

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Prestigeverlust einher und zwar sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Familie. Das konnte familiäre Konflikte heraufbeschwören – gerade wenn Männer versuchten, ihren Prestigeverlust zu kompensieren. Sie würden dann, oft unter Alkoholeinfluss, gewalttätig gegen ihre Ehefrauen, berichteten zeitgenössische Beobachter.86 Wirtschaftliche Notlagen konnten innerhalb einer Familie also erhebliche soziale Spannungen zutage fördern. Sie zwangen zudem zahlreiche Frauen dazu, einen Erwerb aufzunehmen – das galt für ledige, verwitwete bzw. geschiedene Frauen genauso wie für Frauen, die in einer ehelichen oder eheähnlichen Beziehung mit einem Mann lebten. Aufgrund der schlechtbezahlten Tätigkeiten als Näherin, Tagelöhnerin oder Heimarbeiterin würden diese Frauen, so argumentierte Salomon, Berufstätigkeit meistens als vorübergehende Phase ansehen. Eigentlich würden es Ehefrauen bevorzugen, nicht zu arbeiten.87 Allerdings griff diese Interpretation zu kurz, wie Erna Cortes Umfragen zu den Familienverhältnissen von Kindern in Krippen, Kindergärten, Horten und Tagesheimen darlegten. Corte fragte in ihrer Erhebung auch die Gründe für die Berufsarbeit ab. Eine vorgegebene mögliche Antwort lautete „Wunsch nach eigenem Taschengeld“. Gerade wenn Frauen aus wirtschaftlicher Not arbeiten gingen, konnte es vorkommen, dass sie sich über diese Antwortoption erbost zeigten. Sicherlich stützt diese Reaktion der befragten Frauen Salomons Urteil. Doch eine zweite Gruppe von Frauen benannte ebendiesen Grund als ausschlaggebenden Faktor für ihre Berufsarbeit. Insofern muss Salomons Befund etwas relativiert werden.88 Gleichwohl divergierten bei der Berufstätigkeit von Ehefrauen Wunsch und Wirklichkeit besonders deutlich. In den Auseinandersetzungen um die Berufsarbeit von Frauen nahm zudem der Typus der „neuen Frau“ eine Schlüsselrolle ein. Diese jungen ledigen Frauen mit Bubikopf-Frisur und Röcken hoben sich im städtischen Umfeld von der Masse der Menschen ab. Auch in ihrem Verhalten unterschieden sie sich. Sie arbeiteten meist als Angestellte und besuchten abends Lokale und Clubs. Zudem stand die „neue Frau“ im Ruf, ihre sexuellen Wünsche auszuleben. Jedoch weist die historische Forschung zu Recht darauf hin, dass es sich bei diesem Frauentypus um „Realität und Kunstprodukt in einem“89 gehandelt habe, wenngleich die „neue Frau“ wohl eher eine Projektionsfläche männlicher Wünsche und Ängste 86 87

88 89

Vgl. Geyer, Bedeutung, 609ff.; Westerkamp, Familie, 181; Hagemann, Frauenalltag, 334, 456f. Vgl. Salomon, 70 monographische Darstellungen, 149. Für eine Zusammenfassung dieser Argumentation vgl. u. a. Frevert, Weiblichkeit, 510, 514; dies., Klavier; Ramsbrock, Körper, 163; Hagemann, Frauenalltag, 377; Flemming/Saul/Witt (Hg.), Familienleben, 125; Bridenthal, Kinder; Bridenthal, Something Old. Ähnlich verhielt es sich mit den Kindern. 35 der 119 Kinder über 14 Jahren arbeiteten und steuerten einen wichtigen Teil zum Familieneinkommen bei. Vgl. Salomon, 70 monographische Darstellungen, 149f. Vgl. Corte, Familienverhältnisse, 31ff., 63. Flemming/Saul/Witt (Hg.), Familienleben, 123.

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bzw. ein omnipräsentes mediales Phänomen gewesen sei.90 Obwohl somit anhand der „neuen Frau“ weibliche Berufsarbeit gesellschaftlich verhandelt wurde, sah die soziale Realität der großen Mehrzahl arbeitender Frauen anders aus. Sie mussten ihre Arbeitszeit und -kraft zwischen Haushaltsführung und Familie sowie Berufsarbeit aufteilen. Auch die Vertreterinnen der katholischen Frauenbewegung negierten nicht, dass zahlreiche Familien auf den Zuverdienst der Ehefrauen angewiesen seien, und diskutierten diese Situation, wie beispielsweise Maria Schmitz 1925 auf dem 64. Katholikentag in Stuttgart.91 Gleichwohl lehnte der Katholizismus die Berufstätigkeit von Ehefrauen weiterhin ab. Der katholische Nationalökonom Heinrich Lechtape sprach sich 1930 grundsätzlich gegen die Berufstätigkeit von Ehefrauen aus, da sie einen negativen Effekt auf die Funktionen der Familien habe.92 Er sah darin die Ursache der „Krise der Familie“. Damit schloss er direkt an die Sichtweise katholischer wie evangelischer Theologen der Zeit an.93 Daneben agitierten Eugeniker und zahlreiche Mediziner gegen die Berufstätigkeit von Ehefrauen. Sie identifizierten deren Arbeitsbelastung ebenfalls als soziales Problem, zogen in ihren Ausführungen jedoch stärker medizinische Argumente gegen die Berufsarbeit der Ehefrau heran. Sie führe zu einer „Schwächung der allgemeinen Konstitution“ und „Übermüdung“,94 die sich dann in gesundheitlichen Problemen niederschlügen. Die Überlastung der Frau lasse sich durch das Ausscheiden aus dem Berufsleben beseitigen, lautete ihr Credo. Eugeniker und viele Mediziner erklärten zudem, dass die Berufstätigkeit von Ehefrauen nicht nur einen negativen Effekt auf die Familie, sondern auch auf „die Gesellschaft und die Rasse“95 habe. Die Individualinteressen berufstätiger Frauen stünden im Widerspruch zur Gemeinschaft von Familie und „Volk“. Sie würden sogar einen wirtschaftlichen, sittlichen und biologischen Niedergang verursachen.96 Während also Sozialdemokraten die Belastungen für die berufstätigen Mütter reduzieren wollten – mittels Reform der innerfamilialen Rollenverteilung oder alternativer Formen des Zusammenlebens –, unterschied sich der Ansatz konservativer Politiker, Kirchenvertreter und Eugeniker hiervon grundlegend. Sie forderten, dass die Mutter aus dem Berufsleben ausscheiden müsse. Um 90 91 92 93 94 95 96

Vgl. ebenda; Frevert, Frauen-Geschichte, 174; Harvey, Culture, 281f.; Mouton, Nurturing, 37; Usborne, New Woman, 137f.; Eitz/Engelhardt, Diskursgeschichte (Bd. 1), 418–428. Vgl. Schmitz, Liebe, 142; Hillen/Weiß, Schmitz, Maria Johanna. Vgl. Lechtape, Krise, 343ff., 346f.; Hermanns, Berufung, 51. In Auszügen abgedruckt in: Flemming/Saul/Witt (Hg.), Familienleben, 14ff. Vgl. Lechtape, Krise, 343ff., 346f.; Hermanns, Berufung, 51; Flemming/Saul/Witt (Hg.), Familienleben, 14ff. Christian, Erwerbs- und Berufsarbeit, 329. Ebenda. Vgl. ebenda; Schöfer, Eheproblem, 91–96.

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ihrem Argument Nachdruck zu verleihen, verwiesen sie zudem auf die negativen Folgen der Berufsarbeit der Mütter für die Kindererziehung. Es müsse unzweifelhaft davon ausgegangen werden, dass das Kind insbesondere in den ersten Lebensjahren unter der Berufstätigkeit seiner Mutter leide, lautete eine immer wieder vorgebrachte Begründung. In diesen Familien gehe der Zusammenhalt verloren, was bei den Kindern neben gesundheitlichen Problemen eine sittlich-moralische Verwahrlosung verursache. Zudem seien Berufstätigkeit und Geburtenkontrolle miteinander verknüpft, was sich bereits im differentiellen Geburtenrückgang niederschlage. Gerade in sozial höheren Schichten sei diese „rassische Auslese“97 typisch und werde bald auch andere Schichten erfassen. Infolgedessen gehe von der weiblichen Berufstätigkeit generell „eine Verschärfung der Gefahr für unsere Rasse aus“.98 Damit prägten auch hier eugenische Argumente die Diskussion. Daraus leite sich wiederum ab, dass die Berufstätigkeit von Ehefrauen den Gemeinschaftsinteressen des „Volkes“ zuwiderlaufe und demnach abzulehnen sei.99 Demgegenüber nahmen Sozialdemokratinnen und Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung eine abwägende Haltung ein. Gerade Mütter junger Kinder sollten nicht arbeiten, erklärten Gertrud Bäumer und andere Vertreterinnen des Bundes Deutscher Frauenvereine Anfang der 1930er Jahre.100 Sie diskutierten zudem verschiedene weitere Möglichkeiten, wie sich die Mehrfachbelastung der Mütter reduzieren lasse. Sie erwogen unter anderem die Einführung einer 40- oder 36-Stunden-Woche und einer Fünf-Tage-Woche. Aber auch die Reduzierung der täglichen Arbeitszeit auf sechs Stunden stand zur Diskussion. Auf der II. Internationalen Konferenz für soziale Arbeit, die vom 11. bis 14. Juli 1932 in Frankfurt am Main stattfand, griffen die Tagungsteilnehmer Halbtagsarbeit als Lösungsvorschlag auf, denn schließlich bekämen so die Mütter mehr Zeit für die Familie.101 Ein Vorschlag der, wie gezeigt, bereits gut 20 Jahre zuvor immer wieder diskutiert worden war. Das Mitglied des linken Flügels der Sozialdemokratie Anna Geyer fragte 1930 in der Arbeiterwohlfahrt nach den Folgen der Berufstätigkeit von Ehefrauen für die Familie und fasste dabei die zwei unterschiedlichen verhandelten Positionen zusammen. Einerseits erhöhe die wirtschaftliche Unabhängigkeit das von der Frau ausgehende Scheidungsrisiko. Andererseits sichere ihr Zusatzverdienst oft97 98 99 100 101

Christian, Erwerbs- und Berufsarbeit, 334. Ebenda, 335. Vgl. ebenda, 333–336. Vgl. Bäumer, Frau (1931), 519f.; Hagemann, Frauenalltag, 328f. Vgl. Bäumer, Frau (1931), 519f.; Friedländer, Kommission II, 503f.; Delagrange, Service Social. Ähnlich argumentierte Dorothea Hassmüller, wenngleich sie die Rolle der Frau in der Trias von „Gattin, Mutter und Hausfrau“ sah. Vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4878, Dorothea Hassmüller, Nicht Entwürdigung, sondern Aufwertung der Ehe!, in: Kölnische Zeitung, 3. März 1930, Bl. 10.

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mals erst das wirtschaftliche Überleben der Familie. Trotz dieses ambivalenten Effekts fällte Geyer ein eindeutiges Werturteil zu den Folgen: „Viel mehr Familienleben wird aller Wahrscheinlichkeit nach durch das Einkommen der Frau zusammengehalten als durch ihre Erwerbsarbeit zerstört.“102 Die Berufstätigkeit der Ehefrau übernehme somit eine entscheidende Stabilisierungsfunktion für die Familien. Auch hier deckt sich Geyers Interpretation mit Salomons empirischen Untersuchungen. Allerdings lag diese Lesart konträr zur Argumentation der katholischen Kirche.103 Die unterschiedlichen Positionen zur Berufsarbeit von Müttern über die gesamten 1920er Jahre hinweg verdeutlichen, wie die empirischen Erhebungen und normativen Vorannahmen aufeinander bezogen waren. Anhand des Themas Berufsarbeit verhandelten damit Zeitgenossen das Verhältnis von Individualund Gemeinschaftsinteressen, wenngleich im Lebensalltag die Entscheidung für eine Erwerbsarbeit der Ehefrau meistens aus einer wirtschaftlichen Notlage geboren war. Damit war auch der individuelle Handlungsspielraum als eng gekennzeichnet. Zudem zeigte sich, dass die Frauen mit ihrer Berufsarbeit entgegen der vielfach behaupteten Vermutung das wirtschaftliche Überleben ihrer Familien sicherten und so den familiären Zusammenhalt stärkten. Eine weitere Stellschraube, mit der sich die Arbeitsbelastung von Müttern hätte reduzieren lassen, war die Regelung der Kindererziehung. Sophie Schöfer griff diese Frage ebenfalls auf.104 Ihr Ideal überschnitt sich mit der kommunistischen Sichtweise, wie sie zum Beispiel Felix Milkert vertrat. Allerdings war letztere Position schon allein wegen ihrer radikalen Forderung nicht konsensfähig. Milkert setzte sich dafür ein, dass die Kindererziehung komplett an gesellschaftliche Institutionen übertragen werden solle. Nach seinen Plänen blieben Mutter und Kind lediglich in den ersten sechs bis acht Wochen nach der Geburt zusammen. Danach gliederte sich die Mutter wieder ins Berufsleben ein und das Kind käme bis zum fünften Lebensjahr in ein Säuglingsheim und dann bis zum 14. Lebensjahr in ein Kinderheim mit angegliederter Schule.105 Schöfers oder auch Marie Juchacz’ Reformpläne forderten demgegenüber, dass die Funktion der Kindererziehung in Teilen an gesellschaftliche Institutionen wie Schulen, Kindergärten und Kinderhorte übergehen solle. Sie fielen also weitaus moderater aus als Milkerts, schlossen an die Positionen der Frauenbewegung aus der Vorkriegszeit an und orientierten sich dabei ebenfalls an der bereits gängigen sozialen Praxis. Schöfer begründete ihre Forderung damit, dass gerade proletarischen Familien neben den sozialen Kompetenzen auch die notwendigen finanziellen Mittel feh102 103

104 105

Geyer, Bedeutung, 613. Vgl. ebenda, 610–614; Hagemann, Frauenalltag, 419. Zur Person Anna Geyers vgl. Geyer, Anna, in: http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363% 3b-1424.html?ID=4345 (letzter Zugriff am: 04.01.2019). Vgl. Schöfer, Eheproblem, 99. Vgl. Milkert, Ehe-Probleme, 38–46; Heinemann, Familie, 69, 76.

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len würden, um die Kindererziehung adäquat auszufüllen. Diese Sichtweise teilte unter anderem die Pädagogin Henny Schumacher. Sie begründete überdies die Notwendigkeit von Kindergärten mit der gestiegenen Zahl berufstätiger Mütter. Kindererziehung in gesellschaftlichen Institutionen sei schon allein deswegen sinnvoll, weil die Kinder von berufstätigen Müttern andernfalls entweder sich selbst überlassen wären oder sich die älteren Geschwister um die jüngeren kümmerten. Die Sozialdemokratin Anna Geyer führte 1930 in der Arbeiterwohlfahrt ähnliche Argumente ins Feld.106 Dieser Interpretation stand weiterhin die diametrale Haltung der Katholiken und der Kirchenvertreter entgegen. Sie verorteten Kindererziehung innerhalb der Institution Familie, dabei falle sie in den Aufgabenbereich der Mutter. „Gott hat das Weib vor allem zur Mutterschaft berufen und Körper und Seele für diese heilige Aufgabe vorgeschaffen“,107 erklärte Hanna Schaumberg 1923 auf dem 62. Katholikentag in München. Katholiken konnten sich hier nicht nur auf die Verfassung, sondern überdies auf die Enzyklika Rerum novarum von 1891 berufen. Kindererziehung blieb damit aufgrund der konträren Ansichten in der ersten Hälfte der 1920er Jahre ein zentraler Konfliktherd. Er verdeutlicht in Kombination mit den unterschiedlichen Rollenidealen der Ehefrau die dahinterstehenden Ordnungsentwürfe und auch, wie Familie und Gesellschaft aufeinander bezogen waren. Die Historikerin Rebecca Heinemann arbeitet an der Frage, wie Kindererziehung zu regeln sei, einen Unterschied zwischen der katholischen und der sozialdemokratischen Sicht heraus. Während Katholiken insbesondere ein Idealbild der Familie konstruieren würden, hätten sich Sozialdemokraten stärker an den Notlagen der Arbeiterfamilien orientiert und versucht, diese zu lösen.108 Hier ließe sich zunächst ergänzen, dass auch Katholiken unterschiedliche Ansichten zur Kindererziehung und den Rollen zumindest ansprachen und dabei die soziale Praxis im Blick hatten – auch wenn es keinen nennenswerten Effekt auf die Einstellung des Katholizismus insgesamt hatte. Sozialdemokraten entwarfen mit ihren Rollenidealen aber ebenfalls einen erst noch zu realisierenden Gesellschaftsentwurf. Zumal über die gesamten 1920er Jahre wie auch im 20. Jahrhundert insgesamt nicht annähernd ausreichend Plätze in Kindergärten und -krippen existierten. Schumacher kritisierte 1929, dass neun der 20 Bezirke Berlins keine Krippen hätten. Darunter seien auch die Arbeiterviertel Weißensee und Reinickendorf. Einige Viertel wie Köpenick und Reinickendorf hätten überdies nur einige kirchliche Kindergärten. In Friedrichshain und Kreuzberg 106

107 108

Vgl. Schöfer, Eheproblem, 17f.; Schumacher, Frau, 5f.; 19–23, 47, 50f. Geyer, Bedeutung; Hirschberg, Stellung; Stolten, Erziehungsarbeit, 25. Zur Übernahme von Erziehungsaufgaben durch den Kindergarten vgl. Castell-Rüdenhausen, Familie, 80; Mouton, Nurturing, 164; Allen, Feminismus. Schaumberg, Frau, 155. Vgl. Heinemann, Familie, 140.

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gebe es wiederum keine Tagesheime, lautete ein weiteres Monitum. Aufgrund der ihrer Meinung nach desolaten Lage ging Schumacher davon aus, dass lediglich zehn Prozent der Berliner Kleinkinder einen Kindergarten oder eine Kinderkrippe besuchten. Als weiteren limitierenden Faktor identifizierte Schumacher die Arbeiterfrauen. Sie wollten entweder die Kindererziehung lieber selber übernehmen oder seien schlicht zu nachlässig, um sich um die Erziehung ihrer Kinder zu kümmern.109 Demnach verhinderten aus Schumachers Perspektive vor allem zwei Faktoren sowohl die Emanzipation der Frauen als auch der Kinder. Zunächst existierten nicht genügend Einrichtungen, um die Mehrheit der Kleinkinder betreuen zu können. Außerdem orientiere sich die Mehrzahl der Frauen an tradierten Geschlechterrollen und sehe die Kindererziehung als ihre Aufgabe an. Daher blieb die Kindererziehung in den 1920er Jahren weitgehend traditionell geregelt. Es dominierten patriarchalisch-autoritäre Eltern-Kind-Beziehungen, die sich aber untereinander durchaus unterschieden. Während einige Eltern eine unbedingte Unterordnung einforderten, legten andere zwar Wert auf Gehorsam, wenngleich mit weniger umfassendem Anspruch. Ungeachtet dieser Unterschiede herrschte auch in den patriarchalischen Familien aus Alice Salmonos Sample von 70 Berliner Familien innere Verbundenheit und familiäres Zusammengehörigkeitsgefühl – entweder gerade wegen oder sogar trotz der strengen Erziehung, da alle Familienmitglieder die Autoritätsverhältnisse und die ihnen zugewiesenen Rollen akzeptierten.110 Darüber hinaus erfüllte auch dieser Familientyp für seine Mitlieder eine Ordnungsfunktion, indem er mit seinen rigiden Regeln einen engen Orientierungsrahmen lieferte. Anders sah die familiäre Situation jedoch in den Schilderungen des Familienalltags von Berliner Jugendlichen aus, die Günter Krolzig im Auftrag des Deutschen Archivs für Jugendwohlfahrt für Alice Salomons Buchreihe zusammenstellte. Die Jugendlichen lehnten den patriarchalisch-autoritären Erziehungsstil der Eltern ab, was auch vom altersspezifischen Verhalten Heranwachsender herrühren kann. Während die Jugendlichen ihre Mütter mehrheitlich als integrativen „Mittelpunkt der Familie“111 bezeichneten, urteilten sie kritisch über ihre Väter und deren Verhalten. Unterschiedliche Ansichten hinsichtlich der Gestaltung ihres Lebens und ihrer Zukunft würde zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Vätern und Söhnen führen. Im Bürgertum war dieser Streitgrund allerdings weitaus häufiger anzutreffen als in Arbeiterfamilien. Dort resultierten die Auseinandersetzungen hauptsächlich aus der Ablehnung des Vaters als Autoritätsperson. In einigen Fällen mündeten die innerfamiliären Spannungen 109 110 111

Vgl. Schumacher, Frau, 47ff. Vgl. Salomon, 70 monographische Darstellungen, 37, 86, 89, 150. Krolzig, Jugendliche, 82. 225 Jungen und 79 Mädchen äußerten sich positiv über ihre Mütter und lediglich 30 Jungen und 18 Mädchen negativ. Vgl. ebenda, 82.

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zwischen Vater und Kindern in einem regelrechten Machtkampf. Die Konflikte verschärften sich oft auch gerade deswegen, weil es sich für die Väter um „eine[n] Kampf um die Behauptung dieser Stellung“,112 d. h. ihrer Vormachtstellung,113 handelte. Die Konflikte zwischen Vätern und ihren heranwachsenden Kindern enthielten noch eine zweite Komponente jenseits des Generationenkonfliktes und des damit einhergehenden Machtkampfes innerhalb der Familie. Die Auseinandersetzungen resultierten zum großen Teil aus den fehlenden erzieherischen Fähigkeiten des Vaters, der, vom Arbeitsalltag ermüdet, sich oft nicht mehr mit den Kindern auseinandersetzen wollte. Vielfach beschrieben die Jugendlichen ihren Vater als einen „launenhaften Tyrannen“.114 Einigen Vätern fehlte schlicht die Fähigkeit, sich auf die Ansichten und Wünsche der Kinder einzulassen.115 Gerade bei heftigen Auseinandersetzungen gehörte Gewalt zum Familienalltag. Väter zeigten dabei Gemütsschwankungen, die von Wohlwollen in Abneigung umschlagen konnten: „Mein Vater ist mir gegenüber sehr nachgiebig, aber wenn ihn der Zorn erfaßt, so kennt er keine Gnade“,116 berichtete ein Jugendlicher. „Von meinem Vater bekomme ich öfters mal eine Backpfeife, wo es angebracht ist. Manchmal bekomme ich wofür ich garnichts weiß eine Backpfeife das schad aber nichts [sic!]“,117 schilderte ein 16-jähriger Friseur sein Familienleben. Insofern waren die Vater-Kind-Beziehungen in den untersuchten Familien vielfach geprägt von fehlendem Einfühlungsvermögen, Unberechenbarkeit und Gewalt.118 Demgegenüber basierten die Mutter-Kind-Beziehungen meist nicht auf einer rigiden Machtbeziehung. Vielmehr vertrauten sich beide Seiten und kamen einander durchaus entgegen. Dadurch standen die Mütter ihren Kindern wesentlich näher als ihre Väter und konnten so stärker erzieherisch auf sie einwirken. Überdies strukturierten die Mütter den Familienalltag und stärkten durch ihre Integrationskraft den Familienzusammenhalt.119 Patriarchalisch-autoritäre Eltern-Kind-Beziehungen finden sich während der 1920er Jahre übergreifend in den drei Familientypen – der bäuerlichen, proletarischen und bürgerlichen Familie –, wenngleich sie spezifische Eigenarten aufwiesen. In bäuerlichen Familien existierten eine strenge Hierarchie und ein autoritäres Eltern-Kind-Verhältnis. Die Erziehung sollte darauf zielen, das wirtschaftliche Überleben des Hofes zu sichern. Die Kinder lernten, sich diesem 112 113 114 115 116 117 118 119

Ebenda, 76. Vgl. ebenda, 76–79. Ebenda, 79. Vgl. ebenda, 77. Ebenda, 78. Ebenda, 132. Vgl. ebenda, 73, 76–79, 132ff. 48 Jungen und 17 Mädchen äußerten sich positiv, 75 Jungen und 39 Mädchen hingegen negativ über ihren Vater. Vgl. ebenda, 73. Vgl. ebenda, 9, 88–91, 159.

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übergeordneten Ziel unterzuordnen. Gleichzeitig konnten die Mütter die ihnen angedachte Erziehungsfunktion nur partiell ausfüllen. Primär waren sie als Arbeitskraft in den Betrieb des Bauernhofes eingebunden. Kindererziehung verrichteten die Mütter meistens nebenher. Altbäuerinnen bzw. Altbauern oder aber Familienmitglieder, die nicht voll mitarbeiten konnten, sprangen daher oftmals bei der Kindererziehung ein.120 In der Arbeiterschaft wie auch im Bürgertum übernahmen die Eltern hingegen in stärkerem Umfang die Erziehungsaufgaben und erzogen ihre Kinder hierarchisch-autoritär. Hinsichtlich der Erziehungsmethoden lag damit eine deutliche Überschneidung vor. Elterliches Strafen war Teil der Kindererziehung. Allerdings handhabten die Eltern die Art der Bestrafung abhängig von der jeweiligen Situation durchaus unterschiedlich. Maßregeln und „Backpfeifen“ waren weitaus verbreiteter als drastischere Erziehungsmethoden. Zum Beispiel veränderte sich in den 1920er Jahren innerhalb der sozialdemokratisch geprägten Arbeiterschaft die Einstellung zur Prügelstrafe als Erziehungsmethode. Vor dem Ersten Weltkrieg akzeptierten sie die Väter als Erziehungsmittel, in den 1920er Jahren ging diese Neigung merklich zurück. Allerdings gab es familiäre Konfliktsituationen, in denen die Eltern ihre Kinder schlugen, obwohl sie diese Erziehungsmethode eigentlich ablehnten. Zudem verhandelten Sozialdemokraten wie auch andere Parteien familiäre Gewalt noch nicht als soziales Problem.121 Auch im Bürgertum waren „pädagogische“ Strafen wie „In-die-Ecke-Stellen“, Einsperren, Wegschließen von Spielsachen oder Prügel ein elementarer Teil der Kindererziehung.122 Dass Eltern körperliche Strafen anwandten, erinnerte auch Thea L. in ihren Memoiren: Es gibt Dinge im Leben, die man nie und nimmer vergisst und an die man mit gemischten Gefühlen denkt. So geht es mir immer, wenn ich an meine Strafen denke, da wird mir flau im Magen. Aber ich habe sie wohl verdient, heute würden sie humaner ausfallen, aber zu der damaligen Zeit waren sie noch human.123

Damit verweist sie auch darauf, dass sich der Bewertungsmaßstab für das Bestrafen im 20. Jahrhundert verschoben hat und körperliches Strafen seit dem letzten Drittel des Jahrhunderts als Gewalt verstanden wird, wie später gezeigt wird. Strafen war aber nie ein männliches Prärogativ. Beide Elternteile konnten sie aussprechen. Damit hing die Art der Strafe von der Situation, der Persönlichkeit der Eltern und den Familienbeziehungen ab.124 Den Gegenpol zu diesem autoritären Eltern-Kind-Verhältnis bildete die als „modern“ eingestufte kameradschaftliche Erziehung, die in mehreren zeitgenös120 121 122 123 124

Vgl. Albers, Hof, 169f. Vgl. Hagemann, Frauenalltag, 334. Vgl. Castell-Rüdenhausen, Familie, 82f. Lutz, Omas Erzählungen, 39. Vgl. ebenda, 39ff.

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sischen Berichten125 in Salomons Sample zur Sprache kam, aber im Vergleich zu den traditionell autoritär strukturierten Familien die Minderheit bildete. Während manche Eltern diese Art der Erziehung bereits praktizierten, lagen in anderen Familien erst Tendenzen eines kameradschaftlichen Verhältnisses vor. Zu ersterer Kategorie zählte die Familie eines Lokomotivführers. Das Elternpaar hatte die Tochter bis zum Tod der Mutter gemeinsam nach diesem Modell erzogen: „Zwischen den Eltern und der Tochter bestand immer ein vollkommen kameradschaftliches Verhältnis. Es bestand überhaupt ein Familienleben, wie man es nur selten kennen lernt. Jetzt ist der Vater der wahre Freund der Tochter.“126 Also blieb das Vertrauensverhältnis auch nach dem Tod der Mutter zwischen dem Vater und seiner mittlerweile 19-jährigen Tochter bestehen.127 Kindererziehung war damit keine Aufgabe, die ausschließlich Mütter übernahmen. Gerade in „kameradschaftlichen“ Familien waren die Väter neben den Müttern ebenfalls eine integrative Kraft, welche den familiären Zusammenhalt stärkte. Diesen Befund bestätigt auch die Studie zu Arbeiterfamilien im späten Kaiserreich und der Weimarer Republik der Soziologin Heidi Rosenbaum, wenngleich ihre Befunde methodisch kritisch beurteilt werden müssen. Rosenbaum interviewte 1985/86 zwischen 1893 und 1921 geborene Personen, um einen kleinen Einblick in das Familienleben von Arbeitern zu bekommen.128 Die Befunde wurden also rückwirkend erhoben und sind damit geprägt von den in den 1980er Jahren gültigen Normen. Zu diesem Zeitpunkt war Gewalt in der Familie ein zentrales gesellschaftlich verhandeltes Thema, wie noch gezeigt wird. Zu fragen wäre dabei, inwiefern diese Rahmung die Antworten beeinflusst hat. Zudem müsste diskutiert werden, inwiefern Rosenbaums Analysebegriffe die mit den jeweiligen Milieus in den 1980er Jahren assoziierten Werthaltungen rückblickend auf die 1920er Jahre übertrug. Rosenbaum differenziert ihre Gruppe von 29 untersuchten Vätern analytisch in drei „Typen“: acht traditionelle, 16 sozialdemokratische und fünf kleinbürgerlich-individualistische Väter.129 Letztere beiden Vater-Typen hätten sich aktiv um die Kinder gekümmert und den Müttern in gewissem Umfang bei der Erziehung geholfen. Die Väter hätten zum Beispiel Schulaufgaben korrigiert oder mit den Kindern gebastelt. Einige wenige Väter hätten sogar auf „eine bewußte und absichtsvoll libera125 126 127 128 129

Die genaue Anzahl lässt sich nicht exakt ermitteln, da die „Familienmonographien“ in diesem Punkt nicht einheitlich verfasst worden sind. Salomon, 70 monographische Darstellungen, 93. Vgl. ebenda, 92f. Vgl. Rosenbaum, Proletarische Familien, 19, 23. Vgl. ebenda, 216, 231–236, 240; dies., Typen. Rosenbaum leitete diese Typen ab vom Verhalten der Väter und den drei Faktoren soziale Herkunft, Beruf und vertretene Ideologie. Vgl. dies., Proletarische Familien, 240. Zur Kritik an Rosenbaums Typologie vgl. exemplarisch Tenfelde, Arbeiterfamilien, 201f.; Ritter/Tenfelde, Arbeiter, 637.

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le Erziehung“130 zurückgegriffen, hält Rosenbaum als wichtiges Ergebnis fest. Als weitere entscheidende und prägende sozialstrukturelle Faktoren identifiziert Rosenbaum insbesondere Protestantismus, städtische Herkunft und eine absolvierte Lehre.131 Allerdings ist das sozialdemokratische Milieu insgesamt nicht zwangsläufig mit diesen Merkmalen gleichzusetzen. Schließlich verdichtet Rosenbaum die Merkmale idealtypisch. Zudem haben die zeitgenössischen Befragungen in Salomons Forschungsreihe oder Karen Hagemanns Studie zu Arbeiterfrauen ein ausgewogeneres Bild über den Familienalltag in diesem Milieu ergeben.132 In Arbeiterfamilien kam es durchaus häufiger zu heftigen Konflikten zwischen Vätern und Söhnen, als Rosenbaum annimmt.133 Gerade eine rigide, autoritäre Haltung der Väter und deren Ablehnung durch die Söhne im städtischen Umfeld beschworen Auseinandersetzungen herauf. Ein junger Schriftsetzer warf seinem Vater vor, dass er „ein verknöcherter, konservativer Sozialdemokrat“ gewesen sei, und wollte mit ihm brechen.134 Sicherlich handelt es sich hier um ein extremes Beispiel, das aber erneut die mögliche Spannbreite sozialer Beziehungen innerhalb des sozialdemokratischen Milieus offenlegt. In Familien mit einer intakten kameradschaftlichen Eltern-Kind-Beziehung waren hingegen die sozialen Beziehungen grundsätzlich anders ausgestaltet. Hier zeigten die Eltern Verständnis und versuchten, ihren Kindern Selbständigkeit, Pflichtgefühl und Hilfsbereitschaft zu vermitteln.135 Bei den Erziehungszielen rangierte – ganz wie bei den patriarchalisch-autoritär strukturierten Arbeiterfamilien – Gehorsam an erster Stelle, gefolgt von Pünktlichkeit, Ordentlichkeit und Sauberkeit, Fleiß, Anständigkeit, Ehrlichkeit und Selbständigkeit. Sie sollten den Zusammenhalt der Arbeiterfamilie als „Solidargemeinschaft“ gewährleisten.136 Hier erfüllte somit die kameradschaftliche Eltern-Kind-Beziehung – genauso wie die autoritäre Beziehung – eine wichtige Ordnungsfunktion. Sie strukturierte den Alltag. 130 131 132

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Rosenbaum, Proletarische Familien, 252. Vgl. ebenda, 200ff., 241–246, 249–275; dies., Typen, 249–260. Vgl. Rosenbaum, Proletarische Familien, 200ff., 241–246, 249–275; dies., Typen, 249–260; Salomon, 70 monographische Darstellungen; Krolzig, Jugendliche; Hagemann, Frauenalltag. Während sich Väter wesentlich stärker in die Erziehung ihrer Söhne einbrachten, zeigten sie vergleichsweise wenig Interesse an den Töchtern. Wenn sie in Erscheinung traten, dann primär als autoritäre, strafende Person. Wie einige Söhne konnten auch die Töchter sich gegen die väterliche Autorität auflehnen. Vgl. Lisbeth Franzen-Hellersberg, Die jugendliche Arbeiterin. Ihre Arbeitsweise und Lebensform, Tübingen 1932, 62, in: Flemming/Saul/Witt (Hg.), Familienleben, 193. Vgl. Krolzig, Jugendliche, 36f.; Georg Bayer, Die jungen Arbeiter, in: Kulturwille 7 (1930), 172, in: Flemming/Saul/Witt (Hg.), Familienleben, 22. Vgl. Salomon, 70 monographische Darstellungen, 91ff., 106f., 111, 150. Vgl. Hagemann, Frauenalltag, 334.

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Die Unterschiede bei der Kinderziehung zwischen beiden Familientypen lagen damit nicht bei den Erziehungszielen, sondern vielmehr bei den Erziehungsmethoden. Kameradschaft als Erziehungsmodell unterschied sich von traditionellen Erziehungsmethoden dahingehend, dass es „eine Anerkennung des Eigenlebens und Eigenwertes des Jugendlichen, eine gewisse Koordination, eine gegenseitige Offenheit der Sprache und ein persönliches Vertrauensverhältnis“137 umfasste. Gerade das ausgesprochene Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kindern nahm eine hervorgehobene Position ein. Diese Familien stellten überdies Wertegemeinschaften dar, in der Eltern und Kinder die zentralen Ansichten teilten. Allerdings konnte sowohl in patriarchalisch-autoritär wie auch kameradschaftlich-partnerschaftlich organisierten Familien ein Vertrauensverhältnis herrschen. Somit wirkten beide Familientypen für ihre Mitglieder als Schutzraum, der Stabilität, Sicherheit und Geborgenheit vermittelte.138 3.1.4 Devianz vom Ideal: Ein-Eltern-Familien

Alleinerziehende Mütter, zu denen Witwen, Geschiedene und ledige Mütter zählten, wichen doppelt vom Ideal der christich-bürgerlichen Kernfamilie ab: Sie lebten nicht in einer Ehe und sie waren oft außerhäuslich berufstätig. Letzteres war für sie vielfach notwendig, schließlich mussten sie sich ihren Lebensunterhalt und den ihres Kindes – gerade viele ledige Mütter hatten lediglich ein Kind – bzw. ihrer Kinder selbst verdienen. Die Kombination von Berufsarbeit und Kindererziehung brachte gerade bei dieser Gruppe von Müttern eine erhebliche körperliche Belastung mit sich. Wenn alleinerziehende Mütter aber durch Dritte wie Erzieherinnen, Großeltern oder ältere Kinder eine Unterstützung erhielten, dann gelang es ihnen jedoch meist, Berufsarbeit und Familie zu kombinieren.139 Zum Beispiel unterstützten mitunter die Großeltern ihre alleinerziehenden Töchter finanziell. Die Großmütter übernahmen zudem Hausarbeiten, sodass ihre Töchter Zeit hatten, zu arbeiten oder sich um die Kinder zu kümmern. Auch „von der wertvollen moralischen Hilfe“,140 so das Werturteil einer Verfasserin aus Alice Salomons Buchreihe, profitiere diese Gruppe von Alleinerziehenden in erheblichem Umfang, gerade wenn Großväter die Rolle des Vaters ausfüllten. Implizit wird damit angedeutet, dass ein Vater stets Teil einer Familie sein sollte. In einem Fall aus Salomons-Buchreihe führte eine 49-jährige Witwe und Mutter zweier Töchter und eines geistig behinderten Sohnes, die zum Erhe137 138

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Krolzig, Jugendliche, 114. Vgl. Salomon, 70 monographische Darstellungen, 91ff., 106f., 111, 150; Krolzig, Jugendliche, 114f., 117f.; Baum, Familie, 45f. Für eine kameradschaftliche Eltern-Kind-Beziehung in Familien aus einer Vorstadtsiedlung vgl. dies., Darstellung, 308f., 311f., 316f., 320f., 334. Vgl. Lüdy, Mütter, 9–13, 19, 23; Andresen, Gefährdungen, 217. Lüdy, Mütter, 45.

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bungszeitunkt 20 und 24 Jahren alt waren, alleine eine kleine Buchhandlung. Zusätzliche Einnahmen erzielte die Witwe, indem sie in ihrer Wohnung Zimmer vermietete und einen Mittagstisch anbot. Um dies mit ihrem Geschäft vereinbaren zu können, beschäftigte sie eine Angestellte, die die Haushaltsführung erledigte. Um den Sohn hatte sich zunächst eine Erzieherin gekümmert und später wurde er in einer Erziehungsanstalt untergebracht. Auch die Erziehung der Töchter hatte die Mutter aufgrund ihrer Berufsarbeit in den ersten Jahren nicht selbst übernommen. Bis zum fünften Lebensjahr der jüngsten Tochter hatte sich eine „Kinderfrau“ im Haus um die Erziehung gekümmert. Anschließend, bis zum achten Lebensjahr der Jüngsten, hatte ein „Kinderfräulein“ die Töchter nachmittags beaufsichtigt. Seitdem erzog die Mutter ihre beiden Töchter jedoch alleine, woraus eine fürsorgliche Beziehung und ein enger familiärer Zusammenhalt erwuchsen.141 Obwohl sich die Familien alleinerziehender Mütter in einer wesentlich schwierigeren Ausgangslage als die Familien verheirateter Paare befanden, konnte auch in diesen Fällen eine enge, intensive und harmonische Familienbeziehung existieren und zugleich war das wirtschaftliche Überleben der Familie gesichert. Zeitgenössische Beobachter wie der Sozialhygieniker Hans Harmsen urteilten anders über alleinerziehende Mütter und deren Kinder. Er lehnte sie als Lebensform vehement ab und begründete das mit medizinischen und sozialen Argumenten. Zunächst sei die Säuglingssterblichkeit unehelicher Kinder doppelt so hoch wie die ehelich geborener. An dieser Stelle berücksichtigte Harmsen freilich nicht, dass von 1913 bis 1928 die Säuglingssterblichkeit unehelich geborener Kinder wesentlich stärker zurückgegangen war als die ehelich geborener. Harmsen blendete ebenfalls die genauen Gründe für die Unterschiede bei der Sterblichkeit aus. Die Staatswissenschaftlerin Annemarie Niemeyer berichtete, dass die höhere Mortalitätsrate der nichtehelich geborenen Kinder nicht aus deren „konstitutionelle[r]r Minderwertigkeit“ resultiere. Vielmehr beruhe sie auf „ungünstigen Einflüssen der Umwelt“. Hierzu zählte unter anderem die kürzere Stillzeit der Mütter.142 Die höhere Mortalitätsrate machte sich Harmsen letztlich in seiner Argumentation genauso zunutze wie die Erziehungsprobleme unehelicher Kinder. Generell gestalte sich ihre Erziehung, so Harmsen, wesentlich schwieriger, da uneheliche Kinder nicht unter dem Schutz der Gemeinschaft der Familie stünden, die soziale und wirtschaftliche Risiken abfedere. Diese Argumentation bezog sich sowohl auf die finanziellen Ressourcen der alleinerziehenden Mütter als auch auf die Zusammensetzung der Familie. Die Mehrheit der unehelichen Kinder müsse in Heimen ohne Mutterliebe und ohne die autoritäre Obhut des Vaters aufwachsen, schrieb Harmsen. Demnach könne lediglich eine Familie – bestehend aus 141 142

Vgl. Salomon, 70 monographische Darstellungen, 130ff., 145, 149. Vgl. Harmsen, Bevölkerungspolitik, 29f.; Niemeyer, Struktur, 102, 104.

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beiden Elternteilen und mit hierarchisch strukturierter Rollenverteilung – den Kindern die angemessene Erziehung zuteilwerden lassen. Aus diesem Grund plädierte Harmsen auch zum Wohle des Kindes gegen eine rechtliche Gleichstellung der unehelichen mit ehelichen Kindern, da dies auch zur Destabilisierung bzw. Auflösung der Familie führen würde.143 Diese zeitgenössischen Zuschreibungen wurden jedoch nicht durch empirische Erhebungen wie die Studien aus Alice Salomons Reihe bestätigt. Von einer generellen Destabilisierung sozialer Beziehungen durch Ein-Eltern-Familien konnte daher entgegen vielfacher zeitgenössischer Mutmaßungen nicht die Rede sein.144 Der Alltag die Mehrzahl der Ein-Eltern-Familien war gleichwohl geprägt von wirtschaftlichen Notlagen, gesundheitlichen Problemen und sozialer Ächtung, sofern es sich um ledige und geschiedene Mütter handelte. Da das Einkommen zahlreicher alleinerziehender Mütter nicht ausreichte, um ihre Familie zu ernähren, wurden viele Kinder zumindest temporär in einem Heim untergebracht. Je länger dieser Aufenthalt dauerte, desto schwieriger war jedoch die Rückkehr der Kinder in den mütterlichen Haushalt.145 Aber auch wenn die Kinder mit ihrer Mutter in einer gemeinsamen Wohnung lebten, traten immer wieder soziale Problemen auf. Wenn Mütter jüngere Kinder als Gesprächspartner ansahen und ihre Alltagsprobleme mit ihnen besprachen, dann überforderte dies die Kinder oft. Wenn die Kinder familiäre Konflikte und die Ehescheidung miterlebt hatten, kam auch diese Erfahrung erschwerend hinzu. Diese Erinnerung blieb in ihrem Gedächtnis präsent. Folglich litten besonders die Kinder unter den zerrütteten Familienverhältnissen.146 Die Folgen einer Ehescheidung für die Familienbeziehungen waren aber durchaus ambivalent. Selbst wenn eine Scheidung ein emotional aufwühlendes Erlebnis war und sich die wirtschaftliche Lage im Anschluss für Mutter und Kind deutlich verschlechterte, so entspannten sich in zahlreichen Konstellationen die familiären Spannungen.147 Insofern stabilisierten sich gerade in diesen Fällen die Familienbeziehungen. Mittelfristig kamen jedoch weitere Probleme hinzu, die sich insbesondere in massiven gesundheitlichen Problemen der Mütter und der Kinder äußerten. Das Verlaufsmuster des Krankheitsbildes der Mütter sah oft ähnlich aus: Ihre enorme Arbeitsbelastung führte zunächst zur Ermüdung. Es folgte eine langsame oder plötzliche Erkrankung – gerade wenn die Mütter ganztägig arbeiteten. In diesen Fällen mussten die Mütter das Putzen, Kochen oder Kindererziehen entweder vor der Arbeit in den frühen Morgenstunden oder nach der Arbeit in den späten Abendstunden erledigen. Berufsarbeit struk143 144 145 146 147

Vgl. Harmsen, Bevölkerungspolitik, 29f. Zur Frage der Unterstützung lediger Mütter vgl. ders., Notwendigkeit. Zur Kritik an Alleinerziehenden vgl. exemplarisch ebenda. Vgl. Frank, Familienverhältnisse, 26. Vgl. ebenda, 27f. Vgl. ebenda, 27.

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turierte damit ihren Tagesablauf. Eine 40-jährige Mutter konnte sich lediglich in ihrer kurzen Nachtruhe von Mitternacht bis fünf Uhr morgens ausruhen. Gerade solche Konstellationen führten dazu, dass viele alleinerziehende Mütter ihre Kinder zwar noch ernähren konnten, ihnen aber die Kraft fehlte, ihre Erziehungsfunktion auszufüllen, wie das eindrückliche Beispiel einer 36-jährigen Witwe mit ihren beiden Kindern Christel und Günther aufzeigt. Der sehr ordentliche Haushalt wird von der Mutter nach der Arbeitszeit, Sonnabend nachmittags und Sonntags besorgt. Abends kocht sie das Essen vor, das sich die Kinder dann am nächsten Mittag wärmen. Die Mutter hat höchstens sechs Stunden Nachtruhe und ist körperlich zart und elend. Die Kinder, vor allem Christel, sind durch die dauernde wirtschaftliche Not abgestumpft, so daß die innere Kraft zur Gestaltung eines Familienlebens fehlt, und der Familienzusammenhang trotz aller Aufopferung der Mutter gelockert ist.148

Zeitgenössische Beobachter stuften diese Situation als besonders kritisch ein, da trotz des hohen Einsatzes der Mutter der Familienzusammenhalt gefährdet war und sich auch dieses strukturelle Problem kaum lindern ließ. Um ihre Arbeitsbelastung zu senken, entschieden sich einige Frauen, von einer Vollanstellung in einen Halbtagsberuf zu wechseln. Dadurch ließ sich das Problem der Überlastung zumindest eingrenzen, brachte aber gleichzeitig finanzielle Engpässe für die Familie mit sich und erhöhte somit die wirtschaftliche Notlage.149 Gesundheitliche Probleme gehörten zum Alltag zahlreicher alleinerziehender Mütter. Immer wieder berichteten die Schilderungen des Familienalltags von ernsten „Lungenleiden“ oder beschrieben die Mütter als „völlig verbraucht, nervös, erschöpft und zermürbt“.150 Der Gesundheitszustand der Kinder war nicht minder desolat. Die Berichtete schilderten zahlreichen Fälle von geschwüllstartigen Hauterkrankungen („Skrofulose“), Tuberkulose und Nervosität. Auch emotional mussten die Kinder Entbehrungen hinnehmen, da die Mütter abends überarbeitet und ermüdet nach Hause kamen und sich dann nicht mehr um deren Erziehung kümmern konnten. Infolgedessen blieben zahlreiche Kinder in ihrer Entwicklung zurück oder zeigten Verhaltensauffälligkeiten, wie der in einem Bericht als zart und nervös beschriebene Heinz. Tagsüber war er in einem Heim untergebracht, abends kümmerte sich die fast erblindete Großmutter um ihren Neffen, war ihm jedoch körperlich ausgeliefert. Heinz nutzte seine Machtposition aus, die sich in einem „zügellosen“ Verhalten äußerte, so die Familienmonographie.151 In diesem Fall war damit der familiäre Zusammenhalt nicht mehr gegeben. Aber noch von einer dritten Seite her gerieten die alleinerziehenden Mütter und ihre Kinder unter Druck. Nach dem zeitgenössischen Verständnis galten sie 148 149 150 151

Lüdy, Mütter, 43. Für eine ähnliche Schilderung vgl. ebenda, 79. Vgl. ebenda, 41–45. Ebenda, 55f. Vgl. ebenda, 65–71.

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nicht als eine Familie, weshalb immer wieder verhandelt wurde, ob diese rechtliche Bestimmung reformiert und die Ein-Eltern-Familien mit der Kernfamilie rechtlich gleichgestellt werden sollten. Mehrheitlich setzte sich diese Sichtweise in den 1920er Jahren aber nicht durch, wenngleich immer wieder Tendenzen eines Umdenkens zu erkennen waren. Die Studie Erwerbstätige Mütter in vaterlosen Familien aus Alice Salomons Buchreihe deutete das mit ihrem Titel an. Dieser impliziert, dass die Autorin Elisabeth Ludy ein modifiziertes Familienverständnis vertrat, das neben der Kernfamilie auch alleinerziehende Mütter und ihre Kinder umfasste.152 Die soziale Ächtung alleinerziehender Mütter blieb hiervon jedoch unberührt. Sie erfuhren noch immer die soziale Missachtung durch zahlreiche Zeitgenossen. Ledigen Müttern wurde deswegen oft kein Zimmer bzw. keine Wohnung vermietet oder ihnen blieb eine Anstellung in einem Betrieb verwehrt. Die Notlage der geschiedenen Mütter und ihrer Kinder verschlimmerte sich somit in der Wechselwirkung zwischen finanziellen Engpässen und der noch immer gängigen Praxis der sozialen Ächtung.153 Nicht nur aufgrund der Dreifachbelastung durch Erwerbstätigkeit, Haushaltsführung und Kindererziehung, sondern auch aufgrund ihrer vielfach akuten wirtschaftlichen Not, massiver gesundheitlicher Probleme und sozialer Ächtung waren die Rahmenbedingungen für alleinerziehende Mütter und ihre Kinder denkbar schlecht. Während insbesondere Kommunisten, Sozialdemokraten und die Vertreter der DDP die rechtliche Gleichstellung nichtehelicher Kinder mit ehelichen Kindern forderten, lehnte das Zentrum diese Forderung ab. Darüber hinaus kritisierten Mitglieder von Wohlfahrtsverbänden wie der Vorsitzende des Archivs Deutscher Berufsvormünder, Christian Jasper Klumker, dass sich die Entwürfe zur Reform des Nichtehelichenrechts wenig an der Lebenspraxis orientieren würden. Letztlich waren zwar die weltanschaulichen Divergenzen zwischen Zentrum und Sozialdemokratie hinsichtlich des Nichtehelichenrechts weniger gravierend als bei anderen Konfliktfeldern wie dem im Anschluss diskutierten Scheidungsrecht. Gleichwohl scheiterte die Rechtsreform in den 1920er Jahren an der fehlenden Bereitschaft der Parteien, einen Kompromiss einzugehen. Die konkrete Lebenspraxis der Mutter-Kind-Familien blieb von diesen politischen Kontroversen weitgehend unberührt und war einer anderen Logik unterworfen: Das materielle Überleben musste durch Berufsarbeit gesichert werden. Das hatte zur Folge, dass alleinerziehende Mütter die vonseiten des Bürgertums und der Kirchen propagierten Ideale der „Nur-Hausfrau“ und der Kernfamilie nicht erfüllten und infolgedessen gesellschaftlich diskriminiert wurden.154 152 153 154

Vgl. ebenda, 9ff. Vgl. Frank, Familienverhältnisse, 27–30. Vgl. Schöfer, Eheproblem, 27; Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 103f., 121–145; Schubert, Entwicklung, 47f.; Heinemann, Familie, 181–205.

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3.1.5 Fluchtpunkte: Familie als Institution oder als Lebensgemeinschaft

Während sich diese Kontroverse primär mit der innerfamilialen Rollenverteilung und der Bedeutung einer Ehe für die Familie auseinandersetzte, verhandelte ein weiteres Konfliktfeld das Verhältnis zwischen der Familie als Institution bzw. als Teil der „Volksgemeinschaft“ und dem Verständnis von Familie als einem individuell ausgestalteten Beziehungsgefüge. Die Diskussionsstränge waren jedoch durchaus aufeinander bezogen, denn mit einem sich wandelnden Rollenverständnis ging zwangsläufig auch ein veränderter Familienalltag einher: Das Beziehungsgefüge der Ehepartner zueinander wandelte sich. Mit den Veränderungen habe sich, argumentierte Schöfer in ihrer Schrift Das Eheproblem, ein Übergang von der Familie als Institution zur Familie als individuell ausgestaltete Lebensgemeinschaft gleichberechtigter Partner vollzogen.155 Schöfer wollte die Familienideale an den Familienalltag annähern, indem sie neue gesellschaftliche Wertvorstellungen zur Diskussion stellte. Sie verortete dabei erneut die treibende Kraft für Veränderung innerhalb der Familie. Wie Schöfer den Ablauf des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses beschrieb, deckt sich mit den Argumentationsmustern vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Ihre Neuinterpretation der Geschlechterrollen hingegen galt aus der zeitgenössischen Perspektive der 1920er Jahre zweifellos als ein radikales Modell, da es mit tradierten Vorstellungen brach. Entscheidender ist aber die mit ihrem Eheideal einhergehende Perspektivverschiebung. Schöfer sprach vom Ideal der Ehe als „Lebensgemeinschaft“156 und verwies damit auf eine Reorganisation der elterlichen Paarbeziehung. Die Familie war demnach nicht ausschließlich eine gesellschaftliche Institution, sondern zugleich ein individuell ausgestaltbares Beziehungsgefüge. Die Forschung wertet diese Position als eine Hinwendung zum partnerschaftlichen Ehe- und Familienmodell.157 Karen Hagemann bezeichnet „die grundlegende Umgestaltung der Ehe zu einer Lebensgemeinschaft freier und gleicher Partner“158 als Kern von Schöfers Reformplänen. Allerdings lässt sich auch zeigen, dass stärker zwischen dem zeitgenössischen Verständnis von Familie sowie den damit einhergehenden Geschlechterrollen und der Bewertung aus der Retrospektive unterschieden werden muss. Letztere ist stark beeinflusst vom Ideal der partnerschaftlichen Familie, das sich – wie noch untersucht werden wird – in den 1960er Jahren allmählich herausgebildet hat. Zudem hat sich in dieser Dekade sukzessive die semantische Bedeutung von Partnerschaft gewandelt. 155 156 157 158

Vgl. Schöfer, Eheproblem, 98–110. Zusammengefasst bei Hagemann, Frauenalltag, 328. Schöfer, Eheproblem, 12, 23, 57. Vgl. Hagemann, Frauenalltag, 50, 326, 331f., 341f.; Heinemann, Familie, 295. Hagemann, Frauenalltag, 326.

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In den 1920er Jahren hatte sich das Ideal der gleichberechtigten Partnerschaft in der Familie jedoch noch nicht durchsetzen können. Demgegenüber versuchten die Vertreter des christlich-bürgerlichen Ideals, durch eine Rückbesinnung auf ihre Vorstellungen von einer traditionellen Familie weiterhin den Zeitgenossen einen Fixpunkt zu liefern, der Orientierung und Sicherheit versprach. Zudem lehnten sie es ab, Familie als individuell gestaltbares Beziehungsgefüge zu sehen. Denn infolgedessen bekämen Individualinteressen Vorrang vor der Gemeinschaft. Zugleich würden sich infolge der Veränderungen „Tendenzen zur Rationalisierung und Mechanisierung der Familienbeziehungen“159 zeigen. Da Familie jedoch ein „konservatives Institut“160 sei und somit den Gegenpol zur „rationalistischen Moderne“ bilde, lehnte der katholische Nationalökonom Lechtape diese Prozesse ab.161 Aus dieser Perspektive entwickelten sich Familie und Gemeinschaft zu einem symbiotischen Begriffspaar, das ausschließlich aufeinander bezogen war. Dies belegen unter anderem die Ausführungen des evangelischen Frauenarztes Fritz Kirstein auf dem 41. Kongress für die Innere Mission 1925 in Dresden. „Die heutige Ehenot“162 erfasse eine wachsende Zahl von Familien, lautete seine eindrückliche Eingangsdiagnose. Als Ursache für diese Entwicklung identifizierte Kirstein die Verbreitung unterschiedlicher, miteinander konkurrierender Familienvorstellungen und den Vorrang von Individualinteressen gegenüber Gemeinschaftsinteressen. „Schaffen Sie uns die Autoritäten wieder! Wir Deutsche sind ohne den Führergedanken in Kirche und Staat eine hirtenlose Herde“,163 forderte er unmissverständlich. Ohne Führung, so seine Befürchtung, münde die Orientierungslosigkeit im moralischen Verfall der Institutionen Ehe und Familie.164 Kirstein favorisierte aufgrund seines institutionellen Verständnisses von Ehe und Familie das Ideal der Gemeinschaft. Zudem wertete er die wahrgenommene Individualisierung als Gefahr für die Familie, da infolgedessen die Familie ihren Gemeinschaftssinn verliere. Seine Familienvorstellungen unterschieden sich noch in einem weiteren entscheidenden Punkt von denen der Sozialdemokraten. Während Schöfer auf das Binnenverhältnis der Paare abzielte und die beiden Individuen stärken wollte, lehnten Kirchenvertreter und christlich geprägte Politiker diese Haltung ab. Aus ihrer Perspektive mussten sich die Familienmitglieder den Funktionen unterordnen, die die Familie als Institution für die Gesellschaft übernahm. In den Ausführungen vom Anfang der 1920er Jahre findet sich noch eine weitere wichtige Veränderung. Repräsentanten der katholischen und protestanti159 160 161 162 163 164

Lechtape, Krise, 346. Ebenda. Vgl. ebenda, 343ff., 346f.; Hermanns, Berufung, 51. Kirstein, Ehenot, 3. Für dieses Schlagwort vgl. ebenfalls u. a. Weber, Frau, 97. Kirstein, Ehenot, 12. Vgl. ebenda, 3, 11f.

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schen Kirchen wie auch konservative Politiker verknüpften die Begriffe Familie, Gemeinschaft und „Volk“ miteinander, wie dies unter anderem in den Ausführungen der beiden Repräsentanten des Volksvereins für das katholische Deutschland, Anton Heinen und August Pieper, deutlich wird. Ihr Leitbild der „Volksfamilie“, verstanden als „Urgemeinschaft menschlichen Zusammenlebens“,165 lehnte sich an Ferdinand Tönnies’ Differenzierung zwischen den Antipoden Gemeinschaft und Gesellschaft an. Tönnies definierte 1887 Gemeinschaft als eine Sozialform, die Menschen aufgrund persönlicher Beziehungen eint. Gemeinschaft weise demnach zwei zentrale Merkmale auf: Gemeinsame Interessen standen im Mittelpunkt und individuelle Wünsche spielten eine untergeordnete Rolle. Zugleich sollte Gemeinschaft die von Industrialisierung und Urbanisierung hervorgerufene Entfremdung überwinden. Die Sozialformation Familie, verstanden als „organische“ Gemeinschaft, vereinte nach der zeitgenössischen Lesart der 1920er Jahre alle diese Merkmale in sich. Den Gegenpol bildete demnach die defizitäre „mechanische“ Gesellschaft, in der egoistische Individuen nebeneinanderher leben und individuelle Interessen verfolgen würden. Letztere lehnten Pieper und Heinen gerade wegen ihrer rationalistischen und individualistischen Prägung ab. Sie verwendeten allerdings nicht nur Tönnies’ Begriffspaar, sondern versahen es auch mit einer eigenen Wertung. Pieper und Heinen sprachen von einer „organischen Gemeinschaft“ der Familie.166 Zudem war mit dem Terminus „Volksgemeinschaft“ während des Ersten Weltkriegs ein neues Schlagwort hinzugetreten. Der Begriff wurde während der 1920er Jahre von linken wie rechten Liberalen, Mitgliedern der katholischen Zentrumspartei und selbst Sozialdemokraten verwendet, entwickelte sich aber gerade für völkisch-nationalistische Kreise zu einer zentralen Kategorie. Bereits um die Jahrhundertwende hatten diese in der öffentlichen Debatte zusehends den Begriff „Volk“ gegenüber dem Ausdruck „Nation“ favorisiert. Die semantische Bedeutung von „Volk“ war flexibler. So konnte hieran zum Beispiel der völkisch-biologistische Determinismus genauso wie der Sozialdarwinismus anknüpfen. Zugleich eröffnete die Kategorie der „Volksgemeinschaft“ aber auch einen Interpretationsspielraum, sodass jede politische Strömung den Begriff spezifisch konnotieren konnte. Für linke Liberale war „Volksgemeinschaft“ stets mit ihrem Demokratieverständnis verknüpft. Das katholische Zentrum setzte sich dezidiert für die „Volksgemeinschaft“ ein, grenzte sich aber zugleich von den nationalistisch-völkischen und antichristlichen Interpretationen der Rechten ab.

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Langner, Sozialethik, 283. Vgl. Heinemann, Familie, 128ff.; Gebhardt, Gemeinschaft; Kaesler/Koenig, Gesellschaft, 152f.; Kershaw, Volksgemeinschaft (2014), 32; ders., Volksgemeinschaft (2011), 5; Wildt, Volksgemeinschaft, Version 1.0; Tönnies, Gemeinschaft, 3, 8ff., 247; ders., Gemeinschaft [Handwörterbuch]; Baumgartner, Sehnsucht, 86–117; Klein, Volksverein, 139–148; Grothmann, Verein, 171; Nolte, Ordnung, 168.

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Die hohe Attraktivität der „Volksgemeinschaft“ resultierte letztlich aus dem Potenzial, die Binnendifferenzierungen innerhalb des „Volks“ abzuschleifen und die gewünschte Einheit begrifflich zu fassen. „Volksgemeinschaft“ wirkte demnach aus bürgerlicher und sozialdemokratischer Perspektive inkludierend, indem es alle Bevölkerungsteile ansprach und sie zu einer Einheit zusammenfasste. Demgegenüber leitete sich die hohe Attraktivität des Begriffs „Volksgemeinschaft“ bei der politischen Rechten von seiner exkludierenden und abgrenzenden Wirkung ab. Hier zielten die Homogenisierungsbestrebungen auf die Ausschaltung kultureller, sozialer und politischer Diversität, auf die Ausrichtung nach rassenbiologischen Kategorien, die durchaus auch mit Gewalt erreicht werden sollte.167 Den Begriff „Volksgemeinschaft“ verwendete etwa die Landtagsabgeordnete der Bayerischen Volkspartei (BVP) Marie von Gebsattel in ihrer Rede auf dem Katholikentag 1921 in Frankfurt am Main. Sie sah in der Familie „eine Art von Vorstufe und Voraussetzung für die größere Volksgemeinschaft“.168 Schließlich lerne das Individuum in der Familie erst das Einordnen in die Gemeinschaft der Familie und dann jenes in die „Volksgemeinschaft“.169 Rückblickend resümierte Pieper 1932 zwar kritisch, dass die Idee der „Volksgemeinschaft“ im katholischen Milieu auf keine große Resonanz gestoßen sei. Gleichwohl waren die Begriffe „Volk“, „Volkskörper“ und „Volksgemeinschaft“ im katholischen Diskurs allgegenwärtig.170 Auch Politikerinnen aus DVP und DNVP diskutierten über die Bedeutung der Familie für die „Volksgemeinschaft“.171 In den Auseinandersetzungen zeigt sich deutlich, dass beide Parteien der „Volksgemeinschaft“ eine zentrale Funktion zuschrieben, in Detailfragen aber unterschiedliche Positionen vertraten. Während die DVP etwas liberaler in den strittigen Fragen der Ehescheidung und der Abtreibung war, vertraten die Mitglieder der DNVP eine radikalere Position und lehnten beides ab.172 Darüber hinaus belegen die Debatten, dass Mitglieder von DVP und DNVP ein grundlegend anderes Familienideal als Schöfer vertraten. In ihren Augen waren Ehe und Familie zentrale Institutionen, die bestimmte Funktionen erfüllten. Inwiefern die Familie auch eine Lebensgemeinschaft sein könnte, die aus den Individualbeziehungen ihrer Mitglieder resultierte, diskutierten sie hingegen nicht. 167

168 169 170 171 172

Vgl. Wildt, Volksgemeinschaft. Eine Antwort, 2f.; ders., Volksgemeinschaft: A Modern Perspective, 44–48. Zum Begriff „Volksgemeinschaft“ allgemein vgl. u. a. Kershaw, Volksgemeinschaft (2011); Wildt, Volksgemeinschaft; ders., Volksgemeinschaft, Version 1.0; ders., Volksgemeinschaft. Eine Antwort; Steber/Gotto (Hg.), Visions; Keller, Volksgemeinschaft, 11–14. Gebsattel, Familie, 136. Vgl. ebenda. Vgl. Heinemann, Familie, 132f. Vgl. Scheck, Mothers, 85f., 99. Vgl. ebenda.

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3.1 Polarisierte Familienideale und multiple Praktiken im Familienalltag

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Nationalistisch-völkische Kreise strichen bei ihrem funktionalistisch-institutionellen Verständnis von Ehe und Familie überdies – im Unterschied zu den Debatten vor dem Ersten Weltkrieg – die hervorgehobene Rolle der Familie bei der Zeugung und Erziehung der Kinder im Dienste des „Volkes“ und der „Volksgemeinschaft“ heraus. Demnach war „Volk“ vor allem in den Vorstellungen der radikalen Rechten eine zentrale Kategorie, die auf „Abstammung, Geschichte und Kultur“173 beruhte. Es vereinten sich somit die beiden national-kulturellen Kategorien von Geschichte und Kultur mit dem biologischen Indikator der Abstammung, der sich sukzessive immer stärker an rassenbiologischen Vorstellungen orientierte. Der Bestand des „Volkes“ war nach dieser Lesart von zwei Entwicklungen bedroht. Zunächst stellten die Entwicklungen im Inneren eine Gefahr dar. Dazu zählten die hohe Kriminalitätsrate in Städten und „asoziales“ Verhalten, das individuelle Interessen über die Gemeinschaft stelle. Zum Beispiel konnte die Weigerung, Kinder zu bekommen, genauso als „asozial“ gewertet werden wie der Wunsch, eine Ehe zu scheiden. Die zweite Bedrohung komme hingegen von außen: die Durchdringung des deutschen „Volkskörpers“ mit anderen „Völkern“ und „Rassen“.174 In den Begriffen „Volksgemeinschaft“ und Familie, verstanden als christlich-bürgerliche Kernfamilie, bündelten sich folglich sowohl inkludierende wie auch exkludierende Elemente. Einerseits schloss er Bürger ein, die sich dem Ideal der Familie verpflichtet sahen; andererseits waren Familien ausgenommen, die den eugenischen Anforderungen an den „Volkskörper“ nicht entsprachen. Diese Ausgangskonstellation lieferte einen fruchtbaren Nährboden, auf dem sich eugenisches Denken unter Bevölkerungswissenschaftlern während der 1920er Jahre rasant verbreiten konnte.175 Darüber hinaus brachte der Begriff „Volksgemeinschaft“ in den späten 1920er Jahren die Ablehnung einer pluralen, demokratischen Industriegesellschaft zum Ausdruck, die geprägt war von Gegensätzen und Konflikten.176 Beide Aspekte – die Kritik an der „Moderne“ wie auch die Hinwendung zur Eugenik – finden sich in den Äußerungen der Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirche zur Entwicklung der Familie in den 1920er Jahren. 1927 griff der evangelische Theologe Georg Merz den Begriff „Entartung“177 in seiner Rede vor der bayerischen Hauptversammlung des deutsch-evangelischen Frauenbundes auf und führte ihn auf die voranschreitende Individualisierung zurück. Merz argumentierte in diesem Zusammenhang insbesondere, dass sich 173 174 175 176 177

Herbert, Best, 58. Vgl. ebenda, 58ff.; Herbert, Geschichte, 273f. Vgl. Scheck, Mothers, 85f., 99; Heinemann, Familie, 41f.; Herbert, Geschichte, 275f. Vgl. Herbert, Echoes, 60; ders., Geschichte, 306. Merz, Krisis, 337. Dieser Topos von der „Entartung“ prägte die 1920er und 1930er Jahre. So sprach 1932 die Evangelische Frauenbewegung von einer „volklichen Entartung“. Flemming/Saul/Witt, Einleitung [Familie im Wandel], 7.

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3. Projektionsfläche für Wunschvorstellungen und Realität im Alltag

eine wachsende Zahl von Menschen aufgrund ihrer individuellen Interessen – hervorgebracht vom um sich greifenden „Egoismus“,178 vom „moderne[n] Individualismus“179 – bewusst gegen die Familie und auch gegen die Gemeinschaft entschieden. Er baute in seiner Rede somit zwei Gegenpole auf: Der Ehe als Ausdruck „einer Ordnung der göttlichen Schöpfung“ stand die Auffassung von der Ehe als „ein Vertrag der Menschen“180 gegenüber. Ersteres implizierte Ehe und Familie als Institutionen, die im Dienst der Gesellschaft – i.e. der „Volksgemeinschaft“ – standen; Letzteres bezog sich auf die Ehe als Lebensgemeinschaft, die jederzeit wieder gelöst werden konnte. Merz sah sich dabei gerade der letzteren Perspektive verpflichtet. Individualität und Familie symbolisierten nach diesem Verständnis die Antipoden Gesellschaft und Gemeinschaft. Diese Argumentation war in hohem Maße anschlussfähig an die Positionen Zahns und Füllkrugs aus den Jahren 1918 und 1920 oder der Eugeniker und des Reichsbundes der Kinderreichen während der 1920er Jahre. Auch in der Frage, welche Familienform diese drohende „Entartung“, diese „Krisis der modernen Familie“181 aufhalten könne, herrschte Einigkeit: Die traditionelle, auf christlichen Glaubensgrundsätzen basierende Familie garantiere den Fortbestand des „Volkes“.182 Merz vertrat somit ebenfalls ein „organisch-biologisches“ Verständnis von „Volk“, das über die Hinwendung zur christlichen Familie gestärkt werden könne. Lediglich „ein starker Organismus vermag Gifte auszuscheiden“183 und sich so selbst zu heilen, erklärte Merz weiter.184 Nach diesem Verständnis erzeugte die Familie nicht nur Nachwuchs, sie lehrte auch die als erstrebenswert eingestuften Werte wie „Tüchtigkeit und sittliche[s] Wollen“.185 Allerdings werde die Familie diese Funktion zukünftig nicht mehr erfüllen können, befürchtete der katholische Priester Heinen. Er äußerte sich wie auch zahlreiche weitere Gläubige beider christlicher Konfessionen besorgt über die Zukunft der Familie. Schließlich glaubten sie zu beobachten, wie in der öffentlichen Wahrnehmung den Individuen und der Familie als Lebensgemeinschaft immer mehr Bedeutung eingeräumt und dagegen die Institution Familie immer mehr benachteiligt werde.186 Nationalisten, Protestanten und Katholiken identifizierten dabei vor allem zwei Entwicklungen als eine Gefahr 178 179 180 181 182 183 184 185 186

Merz, Krisis, 336. Ebenda, 337. Ebenda. Ebenda, 335. Vgl. Stemmler, Ehe, 110–115; Merz, Krisis, 335–338; Schneider, Merz, Georg. Zur Geschichte des deutsch-evangelischen Frauenbundes vgl. Gerhard, Unerhört, 203ff. Merz, Krisis, 342. Vgl. ebenda. Heinen, Familie, 13. Vgl. ebenda; Heinemann, Familie, 129; Henningsen, Heinen, Anton; Hong, Welfare, 56; Rölli-Alkemper, Familie, 50.

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3.2 Demographie im Spannungsfeld

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für die Zukunft der christlich-bürgerlichen Kernfamilie: den Fertilitätsrückgang und den daraus abgeleiteten sittlich-moralischen Verfall der Familienideale bzw. den wirtschaftlichen Niedergang des Nationalstaats.187

3.2 Demographie im Spannungsfeld konträrer Familienideale, eugenischen Denkens und externer Bedrohungsszenarien 3.2.1 Geburtenrückgang als Symbol eines befürchteten demographischen, sittlich-moralischen und kulturellen Niedergangs

Unter dem Eindruck des Geburtenausfalls während des Ersten Weltkriegs verschärften sich in den 1920er Jahren die Debatten über den demographischen Wandel. Zudem sank die durchschnittliche Personenzahl pro Familienhaushalt zwischen 1910 und 1925 von 4,5 auf 4.188 Diese Entwicklung wurde diskutiert und mit den „unsittlichen“ Praktiken der Geburtenkontrolle und der Abtreibung in Verbindung gebracht, wie vom Frauenarzt Fritz Kirstein 1925 in einem Vortrag. Er machte diese Praktiken für die „Ehenot im engeren Sinne“189 verantwortlich, da sie einen besorgniserregenden Geburtenrückgang verursacht hätten. Als verheerend wertete er, dass die durchschnittliche Kinderzahl mittlerweile unter die „Volkssterbegrenze“190 gefallen sei, die er bei statistischen 3,6 Kindern pro Familie ansetzte. In Preußen hätten sich nach seinen Berechnungen 1913 lediglich katholische Familien mit durchschnittlich 4,7 Kindern dem Trend widersetzt, wohingegen in evangelischen Ehen die Kinderzahl von 4,2 (1891–1895) auf 2,9 Kinder (1913) gefallen sei. Sie würden damit nach Kirsteins Argumentation genauso wie die jüdischen Familien mit durchschnittlich 2,2 Kindern zum prognostizierten demographischen Niedergang beitragen. Die Bedrohung der „Volksgemeinschaft“ kam nach dieser Lesart von innen, aus dem „Volk“ selbst. Verstärkend wirkte in den Augen Kirsteins noch eine zweite Entwicklung. „Bevor die Kulturvölker aussterben, verpöbeln sie“,191 behauptete er. Der Geburtenrückgang habe zunächst in höheren Schichten eingesetzt und danach auf

187

188 189 190 191

Vgl. Hagemann, Frauenalltag, 220. Ähnlich bei Castell-Rüdenhausen, Familie, 65; Heinemann, Familie, 240. Zur Verbindung von „Sittlichkeit“ und Sexualität vgl. Steinbacher, Sex, 23f. Vgl. Saldern, Häuserleben, 127. Kirstein, Ehenot, 4. Ebenda, 17. Ebenda.

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alle sozialen Gruppen übergegriffen. Dieses Phänomen identifizierte Kirstein als Kernproblem für die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung. Die sogenannte „differentielle Geburtenrate“, worunter Eugeniker die niedrigere „Fruchtbarkeit“ in den höheren sozialen Schichten und einen parallelen Anstieg der Geburten in den ärmeren Schichten verstanden, entwickelte sich in den 1920er Jahren zum zentralen Bewertungskriterium der demographischen Entwicklung. Eugeniker stuften die unterschiedlichen Geburtenziffern der jeweiligen sozialen Schichten als das entscheidende zukünftige Problem ein und weniger den allgemeinen Geburtenrückgang. Schließlich führe er dazu, dass es zu viele „unerwünschte“ und zu wenig „erwünschte“ Kinder gebe.192 Diesen Trend wollten Eugeniker aufhalten. Andernfalls drohe ein quantitativer und qualitativer „Niedergang“, im schlimmsten Fall befürchteten sie aufgrund einer voranschreitenden „Degeneration“ einen „rassischen“ Verfall.193 Eugeniker hatten demnach sowohl die quantitative wie auch die qualitative Bevölkerungsentwicklung im Blick, aber lediglich aus letzterer Perspektive leiteten sie ihre rassenhygienische Argumentation ab. Der Eugeniker Alfred Grotjahn, der 1919 in die SPD eintrat, kann hierfür exemplarisch angeführt werden. Er betonte bereits um das Jahr 1914, dass der drohende kulturelle Verfall nur durch zwei Maßnahmen aufgehalten werden könne. Da die als tüchtiger eingestuften höheren sozialen Schichten weniger Kinder gebärten als die niedrigen, müsse die Geburt qualitativ „hochwertiger“ Kinder gefördert und gleichzeitig die Zeugung „minderwertiger“ Kinder unterbunden werden.194 Kirstein rezipierte folglich Themen, die zwar schon vor dem Ersten Weltkrieg von Zeitgenossen unterschiedlichster Schichten als Kernproblem des gesellschaftlichen Wandels identifiziert worden waren. Aber erst in den 1920er Jahren intensivierten sich die Kontroversen erheblich, da Zeitgenossen die Situation nun als akute Krise empfanden. Kirstein bot seinen Zuhörern mehrere Lösungsvorschläge für das Problem an. Er forderte zunächst eine konsequente Rückbesinnung auf den christlichen Glauben. Darüber hinaus müsse die „unsittliche“ Geburtenregelung konsequent abgelehnt werden.195 Als Vorsitzender einer Ortsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene plädierte er 192

193

194

195

Vgl. Ferdinand, Geburtenrückgangstheorien, 78, 87; Brocke, Bevölkerungswissenschaft, 90; Weingart/Kroll/Bayertz, Rasse, 134–137. Auch in den USA spielte Eugenik in den Debatten um die Familie eine zentrale Rolle. Im Unterschied zu Deutschland blieben eugenische Leitlinien hier auch nach 1945 erhalten. Vgl. Heinemann, Wert, 100–161. Die Soziologin Ursula Ferdinand fasst dies wie folgt zusammen: Es drohten „die quantitative wie qualitative Implosion als Folge des Geburtenrückgangs und rassischer Untergang als Folge von Degeneration und Überfremdung“. Ferdinand, Geburtenrückgangstheorien, 87. Vgl. Weingart/Kroll/Bayertz, Rasse, 133f., 150, 192; Brocke, Bevölkerungswissenschaft, 58ff., 421f.; Harms, Grotjahn, Alfred. Zum Verhältnis der Sozialdemokratie zur Eugenik vgl. Schwartz, Eugenik. Vgl. Kirstein, Ehenot, 3f., 16ff.; Etzemüller, Untergang, 7–16.

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zudem „aus rassehygienischen und eugenischen Gründen“196 für Kinderreichtum. Nur so gelinge die „Gesunderhaltung des Keimplasmas“.197 1930 wählte Zahn dieselben Worte, als er die eugenische Bedeutung der Familie für das Volk herausarbeitete.198 Ähnlich hatte aber bereits 1923 der katholische Priester Heinen in seiner Arbeit über den Verfall der deutschen Familie argumentiert.199 Er sprach in Bezug auf die Familie von der „Keimzelle der Nation“, der „Trägerin des nationalen Plasmas“.200 Heinen, Kirstein und Zahn entlehnten diesen Begriff vermutlich August Weismanns Keimplasmatheorie. In der 1892 veröffentlichten Studie Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung hatte der Zoologe Weismann herausgearbeitet, dass erworbene Eigenschaften nicht vererbt werden könnten und lediglich die natürliche Selektion eine Evolution ermögliche. Die Verbreitung sogenannter harter Vererbungstheorien wie Weismanns Plasmatheorie und nach 1900 auch die Wiederentdeckung und Rezeption der Mendel’schen Vererbungslehre bereiteten den Weg für die hohe Akzeptanz eugenischen Denkens während der 1920er Jahre, das auch katholische Bevölkerungskreise aufgriffen. Allerdings distanzierten sich die Vertreter des Katholizismus mehrheitlich vom „völkisch-rassenhygienischen“ Denken.201 In der Argumentation von Heinen, Kirstein und Zahn hingen qualitative und quantitative Geburtenförderung zusammen. Die Familie wirke sowohl als Verstärker wie auch als Inhibitor des Geburtenrückgangs, wobei sich aber zwei unterschiedliche Familienideale hinter diesen Wirkmechanismen verbargen. Als Verstärker galten alle Ideale, die Familie vorrangig als Lebensgemeinschaft verstanden und den Individualinteressen gegenüber den Gemeinschaftsinteressen Vorrang einräumten. Demgegenüber attestierten Eugeniker der Institution Kernfamilie, insbesondere der kinderreichen Familie, eine Stabilisierungsfunktion. Sie garantierte nach dieser Lesart nicht nur die Zeugung und Erziehung von Kindern, sondern wirkte auch als „Bollwerk“ gegen einen kulturellen Niedergang. Dieser drohe aufgrund der „differentiellen Fruchtbarkeit“, da arme Bevölke196 197 198 199

200

201

Kirstein, Ehenot, 19. Ebenda. Vgl. Zahn, Wie die Familie, 12. Vgl. Heinemann, Familie, 128ff.; Gebhardt, Gemeinschaft; Kaesler/Koenig, Gesellschaft, 152f.; Tönnies, Gemeinschaft, 3, 8ff., 247; ders., Gemeinschaft [Handwörterbuch]; Baumgartner, Sehnsucht, 86–117; Klein, Volksverein, 139–148; Grothmann, Verein, 171. Heinen, Familie, 13. Der Volksverein, so resümiert Albrecht Langner, wollte durch seine Aktivitäten eine „Verlebendigung des nationalen Gedankens“ erreichen. Vgl. Langner, Sozialethik, 282. Vgl. Weingart/Kroll/Bayertz, Rasse, 81–85, 321–324; Stöckel, Säuglingsfürsorge, 21; Heinemann, Familie, 253–272; Spilker, Geschlecht, 108ff.; Rölli-Alkemper, Familie, 51f. Zu beachten ist bei Weismanns Arbeiten, dass sie methodisch umstritten blieben. Zum Beispiel entsprachen sie nicht den ab 1900 geltenden Standards der genetisch-zytologischen Methodologie. Auch fehlten mathematische und statistische Berechnungen, welche die Annahmen bestätigten. Vgl. Weingart/Kroll/Bayertz, Rasse, 322.

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rungsgruppen mit den ihnen unterstellten unsicheren Familienverhältnissen nicht nur mehr, sondern auch qualitativ „weniger wertvolle“ Kinder bekämen. Den höheren sozialen Schichten müsste demgegenüber ein Ordnungsrahmen zur Verfügung gestellt werden, damit sie mehr ihrer vermeintlich „wertvolleren“ Kinder bekommen könnten. Die Institution Familie war damit Teil einer „qualitativen Bevölkerungspolitik“, die zudem die Gesellschaft ordnete. Erneut zeigt sich in dieser Argumentation, wie sehr religiöse und organischbiologische, aber mittlerweile auch eugenische Argumentationsmuster in den 1920er Jahren ineinanderflossen. Im Unterschied zu den vorangegangenen Jahrzehnten verwissenschaftlichten sich soziale Entscheidungsprozesse und überdies auch noch religiöse Argumente.202 Darüber hinaus wird deutlich, dass bereits Zeitgenossen die wesentlichen demographischen Veränderungen diskutierten. Rückblickend lassen sich für die Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik mehrere miteinander verknüpfte Faktoren bestimmen: Zunächst ging ab den 1880er Jahren die Kindersterblichkeit zurück, wodurch es bei gleichbleibenden Geburtenziffern zu einem Bevölkerungswachstum kam. Anschließend setzte in den 1890er Jahren ein Fertilitätsrückgang ein, wodurch sich der Geburtenüberschuss reduzierte. Diese Veränderung wurde auch von der Empfängnisverhütung beeinflusst, die sich in höheren Schichten ansatzweise durchsetzte. Binnen weniger Jahre übernahmen arme städtische wie auch ländliche Bevölkerungsgruppen diese Methoden. Diese Veränderungen führten dazu, dass die durchschnittliche Kinderzahl an der Wende zum 20. Jahrhundert zunächst allmählich von vier und mehr Kindern auf drei, später auf zwei Kinder bzw. ein Kind sank. Während der 1920er Jahre entwickelte sich die Zwei-Kind-Familie zur dominanten Familienform, vereinzelt bei den Angestellten sogar die Ein-Kind-Familie. Die weitreichende Veränderung, die später als demographischer Übergang bezeichnet wurde, vermittelte Zeitgenossen den Eindruck, dass die „Reproduktion“ der Bevölkerung zukünftig nicht mehr gewährleistet sei. In diese Ausgangslage waren die Debatten um den antizipierten demographischen und sittlich-moralischen Niedergang eingebettet, in denen sich vor allem Bevölkerungswissenschaftler, Eugeniker und Politiker zu Wort meldeten.203 202 203

Zur Verwissenschaftlichung im 20. Jahrhundert allgemein vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung; Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft; Raphael, Embedding. Vgl. Peukert, Weimarer Republik, 20; Niehuss, Lebensweise, 239ff.; dies., Familie in der Bundesrepublik Deutschland, 212, 218; dies., Frauen, 287; Bajohr, Bengels, 93ff.; Neumann, Geburtenkontrolle; Knodel, Decline; Woycke, Birth Control; Spree, Geburtenrückgang; Frevert, Frauen-Geschichte, 181; Castell-Rüdenhausen, Unterschichten, 374ff.; Spree, Entwicklung; Castell-Rüdenhausen, Familie, 76; Heinemann, Familie, 214. Für einen allgemeinen Zugriff auf das Thema Geburtenentwicklung vgl. u. a. Marschalck, Bevölkerungsgeschichte; Birg, Zeitenwende; Ehmer, Bevölkerungsgeschichte; Etzemüller, Untergang. Für einen Überblick zur Geschichte der Bevölkerungswissenschaft vgl. v. a. Brocke, Bevölkerungswissenschaft; Mackensen (Hg.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik vor 1933; ders. (Hg.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im „Dritten

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Tabelle 3: Zahl der Lebendgeburten auf 1.000 Einwohner, 1913–1927204 Reichsgebiet vor 1918

Reichsgebiet nach 1918

1913 1914 1915 1916 1917 1918

1913 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927

27,5 26,8 20,4 15,2 13,9 14,3

26,9 19,7 25,8 25,1 23,0 21,1 20,5 20,7 19,5 18,4

Quelle: Niehuss Lebensweise, 239.

3.2.2 Symbiose zwischen Kinderreichtum und Eugenik

Die Fertilitätsrate blieb somit über die gesamten 1920er Jahre hinweg ein zentrales Politikum. Im zeitgenössischen öffentlichen, wissenschaftlichen und politischen Diskurs standen zwei Positionen zur Diskussion, die mit den gegenläufigen Entwicklungen der Verjüngung der Bevölkerung einerseits und des befürchteten Untergangs andererseits korrespondierten. Die Verfechter der ersteren Position begrüßten den Geburtenrückgang, da mit einer weiter voranschreitenden „Übervölkerung“ wirtschaftliche und soziale Risiken einhergehen würden. Die Vertreter der These vom Untergang hingegen interpretierten den Rückgang als Ausdruck einer nationalen Krise. In der Öffentlichkeit gelang es den Vertretern dieser Position, den Eindruck vom bevorstehenden „Volkstod“205 in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre und den frühen 1930er Jahren zu perpetuieren. In dieser Debatte stach insbesondere der Bevölkerungswissenschaftler Friedrich Burgdörfer hervor, der anhand statistischer Berechnungen den Niedergang plastisch herausstellte.206 Der Sozialhygieniker und Bevölkerungswissenschaften Hans

204

205 206

Reich“; Ehmer, Bevölkerungsgeschichte; Ehmer/Ferdinand/Reulecke (Hg.), Herausforderung. Für einen Überblick zur Geschichte der Eugenik, Rassenhygiene und Sozialhygiene vgl. Weingart/Kroll/Bayertz, Rasse; Weindling, Health; Reulecke, Rassenhygiene; ders., Bevölkerungswissenschaft; Schwartz, Eugenik; Schwartz, Milieus; Schmuhl, Rassenhygiene. Die Unterschiede bei den Geburtenzahlen des Jahres 1913 resultieren aus den unterschiedlichen geographischen Ausdehnungen des Deutschen Reichs. Burgdörfer, Geburtenrückgang und seine Bekämpfung, 103 [Hervorhebung im Original; C. N.]. Vgl. Reinecke, Krisenkalkulationen, 213, 218ff., 223, 229, 235; Heinemann, Familie, 224; Matz, Bewertung, 71f. Für den öffentlichen Diskurs vgl. exemplarisch Brüggemann, Um die Zukunft des deutschen Volkes, in: Reichsbund der Kinderreichen, Grundlagen, 59. Für eine Zusammenfassung der jeweiligen Positionen vgl. Reinecke, Krisenkalkulationen, 213–225.

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Harmsen, der bei Grotjahn studiert hatte und auch in Kontakt mit Burgdörfer stand, ist ein weiterer wichtiger Akteur, der in seinem wissenschaftlichen Œuvre und seinen Tätigkeiten Bevölkerungsstatistik mit Bevölkerungspolitik und Rassenhygiene verknüpfte.207 Burgdörfers Kalkulationen wiederum zog der Reichsbund der Kinderreichen heran, um seinen zwei zentralen politischen Zielen Nachdruck zu verleihen: dem „Schutz der deutschen Familie“208 im Allgemeinen und der finanziellen Unterstützung für kinderreiche Familien im Speziellen, d. h. Familien mit vier und mehr Kindern bzw. Witwen mit mindestens drei Kindern. Nachdem die Vereinigung 1919 gegründet worden war, erfolgte zunächst 1923 die Umbenennung in Reichsbund der Kinderreichen Deutschlands zum Schutze der Familie und im April 1940 eine erneute Namensänderung in Reichsbund Deutsche Familie, Kampfbund für erbtüchtigen Kinderreichtum. Schon im September 1922 gehörten dem Reichsbund ca. 42.000 Familien mit durchschnittlich 6,6 Kindern an. Bis 1930 entwickelte er sich zu einer weitverzweigten Organisation mit ca. 1.200 angeschlossenen Ortsgruppen und mehr als 100.000 Mitgliedern. Trotz der zahlreichen Anhänger und der Präsenz in der öffentlichen Debatte blieb der politische Einfluss des Reichsbundes jedoch gering. Erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten bekam die überparteiliche und überkonfessionelle Interessensvertretung die volle politische Unterstützung.209 Dessen ungeachtet erreichte der Reichsbund mit seinen Tagungen, Vortragsreihen und Publikationen wie dem Bundesblatt, in dem auch bekannte Bevölkerungswissenschaftler ihre Thesen präsentierten, eine breite Öffentlichkeit. Im Folgenden werden einige der Veranstaltungen exemplarisch diskutiert, um einerseits einen Überblick über die Aktivitäten zu vermitteln. Andererseits wird herausgearbeitet, wie sich die Argumentation des Reichsbundes gegen Ende der 1920er Jahre veränderte. Im Dezember 1928 fand eine Vortragsreise mit dem Titel Ernte des Todes – Saat des Lebens statt. Auf 16 Veranstaltungen in Ost- und Westpreußen informierten die Referenten durchschnittlich 80 bis 100 Zuhörer über das Verhältnis von Familie und „Volk“, stellten dabei aber insbesondere

207

208 209

Christiane Reinecke verweist darauf, dass der Geburtenrückgang als Thema während der ersten Hälfte der 1920er Jahre allmählich aus den Parlamentsdebatten verschwand, gegen Mitte des Jahrzehnts kehrte es jedoch zurück und entwickelte sich bis um das Jahr 1930 zu einem zentralen Thema. Vgl. ebenda, 231. Vgl. Castell-Rüdenhausen, Familie, 69; Brocke, Bevölkerungswissenschaft, 61f., 87, 94–98; Schleiermacher, Sozialethik, 64f. Zur Rolle Hans Harmsens, Friedrich Burgdörfers und anderer Bevölkerungswissenschaftler in der Bundesrepublik vgl. exemplarisch Kuller, Demographen, 157f.; dies., Familienpolitik, 101f. Reichsbund der Kinderreichen, Grundlagen, 19. Vgl. Heinemann, Familie, 232f.; Stephenson, Reichsbund, 353, 362; Castell-Rüdenhausen, Familie, 69; Hausen, Mütter zwischen Geschäftsinteresse, 268; Matz, Bewertung, 64f.; Weingart/Kroll/Bayertz, Rasse, 233f.

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„Auflösung und Verfall der Familie“ als zentrales gesellschaftliches Problem in den Mittelpunkt der Beiträge. Als Ursachen identifizierten die Redner neben den finanziellen Engpässen zahlreicher Familien insbesondere den um sich greifenden „Individualismus und Materialismus“, aber auch die „Rationalisierung des Geschlechtslebens“,210 d. h. die Geburtenkontrolle. Sprachlich knüpften sie an den Terminus „Rationalisierung der Fortpflanzung“ an, den bereits vor dem Ersten Weltkrieg der Sozialhygieniker Alfred Grotjahn und der Nationalökonom Julius Wolf geprägt hatten.211 Die Zukunft der Familie war nach dieser Darstellung sowohl von materiellen wie immateriellen Faktoren, aber auch von einer voranschreitenden Rationalisierung in der „mechanischen“ Gesellschaft bedroht, die beide in einem deutlichen Geburtenrückgang münden würden. Die fünfte Jahrestagung des Reichsbundes 1929 in Nürnberg knüpfte mit dem Motto Sittliche und wirtschaftliche Grundlagen der Familie an diese Diskussion an. Zudem offenbarte der Titel die doppelte Zielrichtung der Anliegen des Reichsbundes. Über eine Rückbesinnung auf traditionelle, sittliche Ideale und durch finanzielle Unterstützung sollte die Zukunft der Familie gesichert werden. Der Vorsitzende des Reichsbundes, Hans Konrad, betonte in seinen einführenden Worten, dass über wirtschaftliche Förderung ein entscheidender Beitrag zum „Wiederaufbau unserer Volksgemeinschaft“212 geleistet werden könne. Konkret forderte der Reichsbund die finanzielle Unterstützung durch einen Familienlastenausgleich, Kinderzulagen, gestaffelte Wohnungsgeldzuschüsse und bevorzugte Zuweisung von Wohnungen, Lernmittelfreiheit, Steuervergünstigungen und Fahrpreisermäßigungen. Diese Ausführungen belegen, dass die finanzielle Unterstützung ein Hauptanliegen war. Erst wenn die Familien wirtschaftlich ein Auskommen hätten, könne der Geburtenrückgang und damit einhergehend der antizipierte qualitative „Niedergang“ aufgehalten werden.213 Nach dieser Lesart determinierte die Geburtenrate die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung und die kinderreiche Familie halte den „Niedergang“ auf. Der Reichsbund rezipierte hier ein Argument, das sich im wissenschaftlichen Werk Burgdörfers wiederfindet. Burgdörfer stand zunächst in der Tradition seines akademischen Ziehvaters Friedrich Zahn, Honorarprofessor für Statistik und Sozialpolitik an der Universität München und Leiter des Statistischen Landesamtes in Bayern. Dieser hatte in seinen Arbeiten auf eine potenzielle Bedrohung der Entwicklung von „Volk“ und Familie hingewiesen. Burgdörfer rückte im Laufe der 1920er Jahre zusehends von dieser Position ab und kam zu einer weitaus dramatischeren und düsteren Prognose über die Zukunft von 210 211 212 213

BArch Berlin R 901/32855, [Hans] Konrad, Vortragsreise in Ost- und Westpreußen im Dezember 1928 (Bericht zu den Akten), Berlin, 20. Dezember 1928, Bl. 98. Vgl. Hagemann, Frauenalltag, 220. Hans Konrad in: Reichsbund der Kinderreichen, Grundlagen, 5. Vgl. ebenda, 22.

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„Volk“ und Familie. Das offenbarte nicht zuletzt der Titel seines 1932 veröffentlichten Hauptwerks: Volk ohne Jugend. Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers. Ein Problem der Volkswirtschaft, der Sozialpolitik, der nationalen Zukunft.214 Die Arbeit diente sowohl der „Konservativen Revolution“ wie auch später der NS-Propaganda als Grundlage für ihre bevölkerungspolitischen Argumente.215 Während sich die Bewertung Burgdörfers im Laufe der 1920er und frühen 1930 Jahre radikalisierte, durchzog ein anderes Argument – die These vom „Volkstod“ – seine wissenschaftlichen Arbeiten wie ein roter Faden. Sie findet sich bereits in seiner 1917 publizierten Dissertation Das Bevölkerungsproblem. Seine Erfassung durch Familienstatistik und Familienpolitik mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Reformpläne und der französischen Leistung.216 In der Studie Familie und Volk, die Burgdörfer 1930 für den Reichsbund der Kinderreichen herausgab, griff er sie ebenfalls auf und sprach von einem erheblichen Geburtenrückgang. Während die amtlichen Statistiken 1901/05 noch jährlich ca. zwei Millionen Lebendgeburten verzeichnet hätten, belaufe sich die Zahl der Geburten 1929 auf weniger als 1,15 Millionen. Diesen Rückgang um jährlich 850.000 Geburten binnen zweier Jahrzehnte bewertete Burgdörfer als bedrohlich. Zumal die Geburtenziffern pro 1.000 Ehefrauen im Fertilitätsalter (15 bis 45 Jahre) den Trend ebenfalls bestätigen würden. Im Deutschen Reich fiel nach Burgdörfers Kalkulationen auf der Basis der Erhebungen des Statistischen Reichsamtes die Zahl der ehelichen Lebendgeburten von 307 Geburten im Jahr 1880/81 auf 227 Geburten 1910/11 und schließlich auf 122 im Jahr 1929. In Berlin kam es nach Darstellung Burgdörfers von 1880/81 bis 1925 zu einem noch drastischeren Einbruch. Die Zahl der Geburten pro 1.000 Frauen sei von 254 auf 65 abgesackt. Im Deutschen Reich lagen 1925 die Geburten mit 146 hingegen mehr als doppelt so hoch. Als sich Anfang der 1930er Jahre der Fertilitätsrückgang fortsetzte und das Statistische Reichsamt 1932 ca. 978.000 geborene Kinder registrierte, warnte Burgdörfer in Volk ohne Jugend erneut eindrücklich vor den drohenden Folgen.217 Darüber hinaus wertete Burg-

214 215

216 217

Vgl. Burgdörfer, Volk. Vgl. Brocke, Bevölkerungswissenschaft, 88; Heinemann, Familie, 224ff.; Burgdörfer, Volk; Graf, Zukunft, 317–321. Für eine Zusammenfassung der „Konservativen Revolution“ in Europa vgl. Dietz, Neo-Tories, 11–16. Vgl. u. a. Burgdörfer, Bevölkerungsproblem; ders., Geburtenrückgang und die Zukunft; ders., Geburtenrückgang und seine Bekämpfung; ders., Leben; ders., Voll-Familie. Vgl. Burgdörfer, Familie, 5, 8; ders., Volk, 15ff.; Brocke, Bevölkerungswissenschaft, 88f. In dieser Frage gleichen sich die unterschiedlichen Berechnungen Burgdörfers. So gab er 1929 für das Jahr 1900 ca. zwei Millionen Geburten an; bis 1927 sei die Zahl um ca. 800.000 auf 1,16 Millionen Geburten gesunken. Gleichzeitig betonte er, dass 1927 im von 56 Millionen auf 63 Millionen Bürger gewachsenen Staat weniger Kinder geboren worden seien. Vgl. Burgdörfer, Leben, 6.

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dörfer die differentielle Geburtenrate als eigentliche Gefahr für das deutsche „Volk“.218 Anders gewendet implizierte diese Darstellung, dass die Bedrohung der Zukunft Deutschlands von der Familie selbst ausgehe. Burgdörfer benannte für dieses Argument zwei spezifische Familientypen: Erstens die Kernfamilie mit höchstens zwei Kindern und zweitens eheliche Paarbeziehungen, die primär ihre individuellen Wünsche verfolgten, also Paare, die ihre Individualinteressen über die Gemeinschaftsinteressen stellten, waren in seinen Augen ein Gefahrenherd für die „Volksgemeinschaft“. Burgdörfer deutete damit überdies an, dass die Gefahr mit der Hinwendung zu einem alternativen Familienideal überwunden werden könne: Die kinderreiche Familie, d. h. eine Familie mit mehr als drei Kindern, firmierte damit in seinen Schriften implizit als Problemlöser. Um seinem Argument Nachdruck zu verleihen, arbeitete Burgdörfer 1930 die Folgen des qualitativen und quantitativen Geburtenrückgangs heraus. Er argumentierte, dass die „Erschlaffung des Fortpflanzungswillens zur Überalterung, zur ‚Vergreisung‘ und schließlich zum Schwund des Volkskörpers“219 führe. Das habe wiederum verheerende Konsequenzen für die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands. Noch sah er aber Chancen, den Trend aufzuhalten. Die aus Burgdörfers Perspektive zu niedrigen „Gebärleistungen der deutschen Frauen“220 resultierten schließlich, so Burgdörfer, aus der gewollten Geburtenregelung. Anschließend leitete er zu seinem paradigmatischen Lösungsvorschlag über: Der prognostizierte Niedergang lasse sich mit einem generellen Einstellungswandel lösen, der das Ideal der kinderreichen Familie zum Leitbild erhöbe. Lediglich „durch Rettung und Erhaltung der erbgesunden und kinderreichen Familien“221 könne der drohende Verfall aufgehalten werden. Es kam damit zu einer Symbiose zwischen Eugenik und Kinderreichtum, auf die später noch näher eingegangen wird. Als Zielvorgabe errechnete Burgdörfer Ende der 1920er Jahre unter Berücksichtigung der Kindersterblichkeit und des Anteils der unfruchtbaren Ehefrauen sowie der über ihr gesamtes Leben hinweg unverheirateten Frauen statistische 3,4 Geburten pro Ehefrau – bei Berücksichtigung der unehelichen Geburten belaufe sich die nötige Kinderzahl auf 3,1. Daran, dass sich Ende der 1920er Jahre jedoch bereits in weiten Gesellschaftsteilen die ZweiKind-Familie – das „Zweikindersystem“,222 wie es im öffentlichen Diskurs der 1920er Jahre hieß – durchgesetzt hatte, zeigt sich, wie weit Burgdörfers Vorgabe von den realen Zahlen entfernt war.223 218 219 220 221 222 223

Vgl. Brocke, Bevölkerungswissenschaft, 90; Burgdörfer, Geburtenrückgang und seine Bekämpfung. Burgdörfer, Familie, 10. Ebenda, 6. Ebenda, 7. In dieser Frage deckte sich Burgdörfers Forderung mit den Ansichten des katholischen Eugenikers Hermann Muckermann. Vgl. Heinemann, Familie, 266f. Burgdörfer, Familie, 35. Vgl. ebenda, 6–10, 22, 32ff.

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Gleichwohl dienten Burgdörfers Argumente den Vertretern der Krisenrhetorik als Munition. Der Journalist Brüggemann berief sich auf Burgdörfer, als er 1929 auf der Tagung des Reichsbundes in seinem Beitrag Um die Zukunft des deutschen Volkes referierte. Seine Prognose fiel dabei nicht minder düster aus, als er auf der Basis von Burgdörfers Berechnungen erklärte, „daß wir trotz des jährlichen Überschusses von 400.000 Geburten ein sterbendes Volk seien“.224 Wie sehr er mit diesem Urteil den Nerv der Mitglieder des Reichsbundes der Kinderreichen traf, belegt nicht zuletzt der Beifall der Delegierten.225 Darüber hinaus griffen weitere Referenten wie der Vater von sieben Kindern und Reichstagsabgeordnete des Zentrums, Josef Joos, das Thema auf. Er sprach ebenfalls von einer drohenden Überalterung.226 Aber auch Hans Konrad, der Vorsitzende des Bundes, stellte seine Eröffnungsrede unter dieses Leitbild: Politiker, Bevölkerungswissenschaftler, Erzieher und Priester meinten zu erkennen, dass „das deutsche Volk ein sterbendes Volk“227 sei. Als Ursache identifizierte er eine tief reichende „Erkrankung“,228 die sich aber durch eine Rückbesinnung auf die Familie wie auch die finanzielle Förderung von kinderreichen Familien beheben lasse. Konrad fasste damit nicht nur die beiden zentralen politischen Anliegen des Reichsbundes zusammen, sondern begründete so auch ihre Relevanz. Noch in einem weiteren Punkt findet sich eine Analogie zu Burgdörfer, denn in Konrads Rede flossen die Vorstellungen von einem quantitativen und einem qualitativen „Verfall“ ineinander.229 Erst bezifferte Konrad den Rückgang der Geburten und leitete dann zum qualitativen „Niedergang“ über. Schließlich ziehe der Trend zum Einzelkind eine genetische Verschlechterung des „Volkes“ nach sich, da der Fertilitätsrückgang „sich besonders in der begabten und gebildeten Führerschicht geltend macht“.230 Es gebe demnach zu wenig „wünschenswerte“ Kinder, womit er den „qualitativen Verfall“ als zentrales gesellschaftliches Problem einstufte; der quantitative Geburtenrückgang nahm lediglich eine nach224 225 226

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Brüggemann, Um die Zukunft des deutschen Volkes, in: Reichsbund der Kinderreichen, Grundlagen, 66. Vgl. ebenda, 60, 72. Vgl. Josef Joos in: Reichsbund der Kinderreichen, Grundlagen, 73; Verhandlungen des Reichstags. IV. Wahlperiode 1928. Bd. 424. Stenographische Berichte, Berlin 1929, 53. Sitzung am 28. Februar 1928, 1335, in: http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_w4_ bsb00000108_00318.html (letzter Zugriff am: 04.01.2019); Giers, Joos, Josef. Hans Konrad in: Reichsbund der Kinderreichen, Grundlagen, 87. Konrad im Wortlaut: „Ehe und Familie sind bis ins Mark erkrankt und werden in ihrer tiefen, in die Urgründe des Seins hinabreichenden Bedeutung nicht mehr verstanden.“ Hans Konrad in: Reichsbund der Kinderreichen, Grundlagen, 87. Konrad im Wortlaut: „Wenn wir auf die großen Gefahren des quantitativen Verfalls unseres Volkes hinweisen, so deshalb, weil der quantitative Verfall den qualitativen, das heißt den geistigen und sittlichen Verfall der Familie unweigerlich nach sich zieht.“ Hans Konrad in: Reichsbund der Kinderreichen, Grundlagen, 104. Ebenda, 94.

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rangige Rolle ein. Beide Probleme könnten allerdings nach Konrads Lesart mit dem Ideal der kinderreichen Familie überwunden werden. Auch hier deckte sich Konrads Argumentation mit der Sichtweise Burgdörfers.231 Konrad und die Delegierten wie die Reichstagsabgeordnete der DNVP Annegrete Lehmann sprachen in diesem Zusammenhang sogar von der „Schicksalsfrage des deutschen Volkes“,232 die sich am Ideal der kinderreichen Familie entscheide. Schließlich gewährleiste nur sie die Zeugung und Erziehung des Nachwuchses im Dienste der „Volksgemeinschaft“. Diese unmissverständliche Vorgabe bildete die auf der Versammlung verabschiedete Entschließung des Reichsbundes ab. Zugleich reicherte der Reichsbund das institutionelle Verständnis von Ehe und Familie zusehends mit völkischnationalistischen Idealen an. Er bezeichnete die Ehe als „Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation“,233 auf ihrer Basis könne die Zukunft des „Volkes“ gesichert werden. Die primäre Aufgabe der „Volksgemeinschaft“ müsse es daher sein, Ehe und Familie, insbesondere die kinderreiche Familie, zu schützen. Darüber hinaus sprach der Reichsbund vom „drohenden quantitative[n] und qualitative[n] Zerfall des Volkes“.234 Der Reichsbund griff damit erneut auf das Sprachrepertoire von Bevölkerungswissenschaftlern und Eugenikern zurück. Darüber hinaus überzeichnete der Bund die Gefahr für die Zukunft des „Volkes“ mit mahnenden Worten. Schließlich seien mit dem Geburtenrückgang der 1920er Jahre zugleich ein „Verfall der Sitten“ und eine „Zunahme der Minderwertigen“ einhergegangen.235 Diese Themen und die negativen Zukunftsprognosen griffen die Tageszeitungen in ihrer Berichterstattung über die Veranstaltung des Reichsbundes der Kinderreichen auf und machten sie einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Die Augsburger Postzeitung berichtete am 13. Juni 1929, dass die kinderreichen Familien besonders gefährdet seien und die Familie als Basis der „Volksgemeinschaft“ generell geschützt werden müsse.236 Ähnliche Zusammenfassungen finden sich noch in weiteren Zeitungen wie der Bayerischen Rundschau, der Berliner BörsenZeitung und der Hildesheimer Zeitung.237 Der Generalanzeiger für Bonn sprach in seinem Beitrag sogar vom „Kampf um die Erhaltung der Familie“.238 Dieser 231

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Vgl. Hans Konrad in: Reichsbund der Kinderreichen, Grundlagen, 92–104. Konrad sprach vom „geistigen und sittlichen Verfall der Familie“ bzw. der „Volksgemeinschaft“. Hans Konrad in: Reichsbund der Kinderreichen, Grundlagen, 96, 104. Hans Konrad in: Reichsbund der Kinderreichen, Grundlagen, 106. Ebenda, 122. Ebenda. Vgl. ebenda, 122f. Vgl. Augsburger Postzeitung zit. n.: Reichsbund der Kinderreichen, Grundlagen, 133. Für die vom Reichsbund ausgewählte Presseschau vgl. Reichsbund der Kinderreichen, Grundlagen, 133–167. Generalanzeiger für Bonn zit. n: Reichsbund der Kinderreichen, Grundlagen, 154.

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Pauschalisierung zufolge standen sich zwei unversöhnliche Lager gegenüber. Die Verfechter der kinderreichen Familie wie der Reichsbund auf der einen und die vermeintlichen Gegner der Familie wie die Sozialdemokratie auf der anderen Seite. In seiner Berichterstattung warf der Generalanzeiger Letzteren vor, sie würden das Ideal der Institution Familie hinterfragen und zudem Individualinteressen stärker gewichten als Gemeinschaftsinteressen. Dem stellte die Zeitung das institutionelle Eheverständnis des Reichsbundes gegenüber, wonach Ehe und Familie als gesellschaftliche Institutionen im Dienste der „Volksgemeinschaft“ stünden.239 Diese Sicht auf die Familie war in hohem Maße an die Position Hans Harmsens anschlussfähig, der seine Familienideale Anfang der 1930er Jahre herausarbeitete. Er definierte die Familie als die „Keimzelle der Zukunft unseres Volkes“.240 Im Mittelpunkt stand demnach vor allem die Zeugung und Erziehung von Nachwuchs. Harmsen vertrat somit ebenfalls ein institutionelles Ehe- und Familienverständnis, wonach Ehe und Familie spezifische Funktionen für das „Volk“ erfüllten. Zugleich war sein Familienideal mit einer rassenbiologischen Komponente unterlegt, wie aus Harmsens Unterscheidung zwischen „erwünschten“ und „unerwünschten“ Lebensformen bzw. „erbgesunden Familien“ abgeleitet werden kann. Diese Elemente finden sich auch in Burgdörfers Familienkonzeption. Zum Ende der 1920er Jahre radikalisierte sich auch die Position des Reichsbundes der Kinderreichen zusehends. Die Jahresversammlung im Oktober 1930 in Dresden verdeutlichte mit ihrem Titel – Die Kinderreichen Familien in der Not der Zeit! – die Abwehrhaltung der Kinderreichen.241 In dieser Phase näherte sich der Reichsbund der Kinderreichen weiter den Eugenikern an. Zum Beispiel referierte der Jesuitenpater und Eugeniker Hermann Muckermann im April 1930 auf einer Tagung des Landesverbandes Bayern der Kinderreichen über Die kinderreiche Familie im Lichte der Eugenik. Muckermann hatte neben Theologie auch Zoologie studiert, weshalb er in seinen Schriften religiöse und naturwissenschaftliche Argumente verknüpfte. Allerdings hatte er sich bis zum Ersten Weltkrieg kritisch von der Eugenik distanziert und erst in den 1920er Jahren seine Position an das eugenische Denken angeglichen. Weitere Veranstaltungen wie die Jahrestagung 1931 in Köln stellten ebenfalls die Eugenik in den Mittelpunkt: Allein das Motto der Veranstaltung – Erhaltung und Pflege erbgesunder kinderreicher Familien – verdeutlicht, wie sehr sich der Fokus des Reichsbundes im Zuge der – mit der Finanzkrise 1929 einhergehenden – härter werdenden Verteilungskämpfe um begrenzte finanzielle Mittel verengt hatte. Jetzt verstand sich der Reichsbund als Interessenvertretung der „erbgesunden kinderreichen

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Ebenda. Harmsen, Bevölkerungspolitik, 29. Vgl. Reichsbund der Kinderreichen, Familien.

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Familie“.242 Schon auf der Tagung 1930 hatte der Vorsitzende Konrad dafür plädiert, „die Gesunden vor den Minderwertigen und Asozialen“243 zu protegieren, schließlich werde andernfalls der „Lebensraum der Volkstüchtigen“244 beschränkt. Das eugenische Denken war damit seit Anfang der 1930er Jahre fest mit den Zielen des Reichsbundes der Kinderreichen verknüpft. Kinderreiche Familien erfüllten überdies noch eine wichtige Erziehungsfunktion in der Gesellschaft, wie Harmsen darlegte. Obwohl die „Familie“ seiner Ansicht nach die Gemeinschaft eines verheirateten Elternpaares mit gemeinsamen Kindern umfasste, führte er eine noch weitergehende Binnendifferenzierung bei den Familien ein. Lediglich die kinderreiche Familie sei wünschenswert, da sie die Aufgaben für „Volk“ und Nation erfüllen könne. „Jedes Kind hat ein Anrecht auf Geschwister“,245 betonte Harmsen. Mit dieser Aussage machte er deutlich, dass Familien mit lediglich ein oder zwei Kindern dieser Aufgabe nicht gerecht würden und daher abzulehnen seien. Er ging in seiner Argumentation sogar noch einen Schritt weiter, als er Einzelkindern zuschrieb, sie seien sowohl krankheitsanfällig246 als auch „unselbständig“ und „egoistisch“.247 Harmsen attestierte somit Einzelkindern und Geschwisterpaaren sowie deren Eltern, dass sie Charaktereigenschaften herausbilden würden, die den Interessen der „Volksgemeinschaft“ entgegenstünden. Kinder mit mehreren Geschwistern würden demgegenüber lernen, Gemeinschaftsaufgaben zu erfüllen. Erst in diesen Familien rangierten demnach die Interessen der „Volksgemeinschaft“ vor den individuellen Wünschen. Das habe überdies, so Harmsen weiter, einen positiven Effekt auf die Eltern. Sie würden von ihren zahlreichen Kindern zu „Fleiß“, „Ausdauer“ und „Seßhaftigkeit“ erzogen. Im Wechselspiel disziplinierten sich Eltern und Kinder in der Gemeinschaft der kinderreichen Familie gegenseitig. Harmsen schlussfolgerte, dass lediglich in der kinderreichen Familie sowohl die biologischen als auch die sozialen Voraussetzungen für eine positive Zukunft der „Volksgemeinschaft“ lägen.248 Damit deckt sich seine Sichtweise auch in diesen Punkten mit den Argumenten Burgdörfers und des Reichsbundes der Kinderrei-

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Vgl. Weingart/Kroll/Bayertz, Rasse, 234ff.; Muckermann, Familie; Reichsbund der Kinderreichen, Erhaltung; Heinemann, Familie, 256–259; Graf, Zukunft, 189f., 195. Zur „katholischen Eugenik“ und zu Muckermann vgl. v. a. Richter, Katholizismus, 67–73; Schwartz, Milieus, 420–428. Reichsbund der Kinderreichen, Familien, 120. Ebenda. Harmsen, Bevölkerungspolitik, 30. Ähnlich auch Burgdörfer: „Das Kind hat ein natürliches Recht auf Geschwister.“ Burgdörfer, Voll-Familie, 5. Harmsen listete die Krankheitssymptome „Eßunlust“, „Nervosität“ und „Überempfindlichkeit“ auf. Vgl. Harmsen, Bevölkerungspolitik, 30. Ebenda. Vgl. ebenda. Ähnliche Argumente führte der Statistiker Zahn an. In Familien würden Kinder zu „Pflichtgefühl, Arbeitslust, Charakter“ erzogen. Zahn, Wie die Familie, 11.

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chen.249 Nach dieser Lesart konnte sich lediglich in der kinderreichen Familie ein Gefühl des gemeinschaftlichen Zusammenhaltes herausbilden. Der Diskurs unter Eugenikern und im Reichsbund hatte sich vom symbiotischen Begriffspaar Familie und Gemeinschaft Anfang der 1920er Jahre zum Ende des Jahrzehnts erst auf die kinderreiche Familie, später auf die „erbgesunde“ kinderreiche Familie und Gemeinschaft verengt. Aus dieser Bewertung leiteten sowohl Harmsen als auch Burgdörfer ein eindeutiges bevölkerungspolitisches Ziel ab: Der Geburtenrückgang müsse aufgehalten und die kinderreiche Familie geschützt und gefördert werden, da nur so der diagnostizierte quantitative und qualitativ-kulturelle Verfall des deutschen „Volkes“ aufgehalten werden könne. Als Zielvorstellung gab Harmsen das „Drei-Kinder-Minimal-System“250 vor und wählte damit einen Begriff, den sein akademischer Lehrer Alfred Grotjahn schon 1912 geprägt hatte. Gleichzeitig verwies Harmsen aber auf die doppelte Perspektive der Bevölkerungspolitik. Neben der quantitativen Geburtensteigerung sollten qualitative Aspekte nie außer Acht gelassen werden. Aus diesem Grund sprach er sich offen für Sozialhygiene – in diesem Fall verstanden als „Fortpflanzungshygiene“, die quantitative und qualitative Aspekte der Bevölkerungsentwicklung berücksichtigte – und Eugenik bzw. Rassenhygiene aus, denn lediglich eine Vielzahl an „erbgesunden und tüchtigen Familie[n]“251 würde die Zukunft der „Volksgemeinschaft“ sicherstellen.252 Erneut glichen sich Harmsens und Burgdörfers Argumentationsmuster. Diese Sichtweise teilten neben Harmsen und Burgdörfer zahlreiche andere Vertreter der völkischen Bewegung, etwa der evangelische Theologe und Prälat Helmuth Schreiner. Denn „die zunehmende Entartung unseres Volkstumes“, so Schreiner, sei „eine unmittelbare Folge des sterbenden Kinderreichtums in der wirtschaftlichen Mittelschicht unseres Volkes“.253 Schreiner versuchte mit diesen Ausführungen, seine Argumente aus der evangelischen Theologie mit den stärker naturwissenschaftlich geprägten Positionen aus der Rassenhygiene zusammenzuführen.254 Obwohl Katholiken wie Joseph Mausbach eine kritische Haltung zur Rassenhygiene einnahmen, zeigten sich andere Kirchenvertreter durchaus offen für eugenisches Denken. Insbesondere der Theologe und Eugeni249 250 251 252

253 254

Vgl. Burgdörfer, Familie, 38f.; Hans Konrad in: Reichsbund der Kinderreichen, Grundlagen, 93. Harmsen, Bevölkerungspolitik, 31. Ebenda, 78. Vgl. Burgdörfer, Familie, 7; Harmsen, Bevölkerungspolitik, 31f.; Kuller, Familienpolitik, 99. Zur Unterscheidung von „Sozialhygiene“ und „Rassenhygiene“ sowie deren Merkmale vgl. Reulecke, Rassenhygiene; Eckert, Sozialhygiene. „Sozialhygiene“ wurde dabei ursprünglich definiert als „öffentliche Gesundheitsfürsorge und Gesundheitsprävention“, die „vorbeugend und heilend wirken will“. Vgl. ebenda, 1344f. Schreiner, Neugestaltung, 11. Vgl. ebenda, 6, 11f.; Fix, Schreiner, Helmuth Moritz.

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ker Hermann Muckermann votierte auf dem Katholikentag 1932 in Essen für eine besondere Unterstützung der „erbgesunden“ Familie.255 Der Geburtenrückgang war neben der später zu behandelnden Debatte um Ehescheidung eines der zentralen Themen, an denen Wissenschaftler, Interessenvertretungen, Politiker und Kirchenvertreter die Definition von Familie und ihre Bedeutung diskutierten. Dabei ging es primär um die Frage, ob die Familie als Institution oder als individuell ausgestaltetes Beziehungsgefüge zu verstehen sei. Das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum stand ebenfalls im Mittelpunkt der Kontroversen. Die an diesem Diskurs beteiligten Eugeniker, Bevölkerungswissenschaftler und Kirchenvertreter vertraten zu beiden Punkten eine eindeutige Position. So übernehme die Institution Familie mit der Zeugung und Erziehung von Kindern eine zentrale Funktion für den Staat und das „Volk“. Zudem sollten ausschließlich Gemeinschaftsinteressen berücksichtigt werden. Diese Funktion erfüllte in ihren Augen insbesondere das Ideal der kinderreichen Familie. Gleichzeitig glaubten sie aber auch, in einer Zeit der Veränderung zu leben. Auch diese Wahrnehmung befeuerte Ende der 1920er Jahre den Konflikt um die Familie, im Zuge dessen sich die bevölkerungspolitischen Kontroversen zusehends auf die „erbgesunde“, kinderreiche Familie verengten. 3.2.3 Bedrohungen: Pandämonium Großstadt, die demokratische „Moderne“ der USA und das bolschewistische Russland

Mit diesen Aushandlungsprozessen war ein zweiter diskursiver Strang verknüpft. Ungeklärt war in den 1920er Jahren die Frage, warum das Ideal der kinderreichen Familie innerhalb der Bevölkerung auf so wenig Resonanz stieß bzw., präziser, warum sich ihm insbesondere höhere soziale Schichten verschlossen. Bevölkerungswissenschaftler, Mediziner und Eugeniker identifizierten drei miteinander verwobene Ursachen: die voranschreitende Urbanisierung sowie den Einfluss von Veränderungen in Russland und in den Vereinigten Staaten von Amerika. 1927 hielt der Kieler Arzt Robert Engelsmann auf dem Jahrestag des Bundes deutscher Bodenreformer seine Rede Die Katastrophe der deutschen Familie. Die Vereinigung wurde in der Weimarer Republik von der SPD, dem Zentrum und der DDP unterstützt und ihre Mitglieder aus der Mittelschicht und dem Bildungsbürgertum setzten sich seit der Gründung des Bundes 1898 für eine Reform des Bodenbesitzrechts und der -besteuerung aus. So sollte der Wertzuwachs von Grundstücken besteuert werden. Engelsmann thematisierte in seiner Rede ebenfalls die Nutzung von Boden und sprach dabei die Urbanisierung als zentrales Problemfeld an. Besonders problematisch sei, dass in Städten die 255

Vgl. Muckermann, Ehe- und Familienleben, 122; Heinemann, Familie, 244, 254ff., 267.

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Familien in „Mietskasernen“ gepfercht würden. Im Unterschied zu ländlichen Regionen könnten die Eltern dort ihre Kinder nicht erziehen. Ähnliche Argumente führte der Psychologe, Nervenarzt und DDP-Politiker Willy Hellpach an.256 „Das Kindergewimmel der großstädtischen Mietskaserne aber ist heute die stärkste sittliche Zerrüttungsgefahr einer Nation“,257 lautete sein eindeutiges Urteil. Daraus erwachse schließlich die Gefahr, dass sich die „biologisch zerrüttete, biologisch demoralisierte Familie“258 zusehends verbreite. Der beengte Wohnraum in städtischen Gebieten galt nach dieser Darstellung als eine der Hauptursachen für den qualitativen „Niedergang“. Implizit deuteten Engelsmann und Hellpach damit an, dass ländliche Regionen einen sicheren Gegenpol zur Bedrohung der Großstadt bildeten und dort die Kinder in intakten Familien erzogen würden. In Großstädten verorteten Engelsmann und Hellpach aber noch weitaus mehr Risiken für die Zukunft der Familie. Sie schlossen damit an Wilhelm Heinrich Riehl an, der schon Mitte des 19. Jahrhunderts in den städtischen Lebensformen, insbesondere der Arbeiterschaft, eine Bedrohung gesehen hatte. Engelsmann und Hellpach argumentierten, dass der quantitative Niedergang insbesondere in einem großstädtischen Umfeld initiiert werde, schließlich seien dort soziale Praktiken wie Geburtenkontrolle, Abtreibung und Ehescheidung weitaus häufiger anzutreffen. Als verheerend werteten sie zudem den Umstand, dass gerade höhere soziale Schichten hierauf zurückgriffen und infolgedessen ihre Geburtenziffern deutlich unter denen von ärmeren Familien aus den „Mietskasernen“ lagen.259 Nach dieser Lesart ging von Großstädten eine doppelte Bedrohung aus. Sie seien der Ursprung sowohl des Geburteneinbruchs als auch des prognostizierten qualitativen „Niedergangs“. Großstädte verursachten damit in den Augen Engelmanns und Hellpachs die demographische und sittlich-moralische Krise der Familie. Zweitens gingen ihrer Ansicht nach der Geburtenrückgang, aber auch der vermutete Verfall der Familienideale, von Veränderungen im Ausland aus. Engelsmann sprach im Hinblick auf den kommunistischen Osten und den demokra256

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Vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4516, R[obert] Engelsmann, Die Katastrophe der deutschen Familie. Vortrag gehalten auf dem 31. Bundestag des Bundes deutscher Bodenreformer vom 18. bis 20. April 1927 in Schwerin, in: Sonderabdruck aus dem Bundesblatt für den Reichsbund der Kinderreichen Deutschlands zum Schutze der Familie e. V., ohne Ort, ohne Datum, Bl. 105; Witte, Hellpach, Willy; Graf, Zukunft, 155f. BArch Berlin NS 5/VI/4516, Willy Hellpach, Familie und Volk, in: Bevölkerungspolitik, ohne Datum, Bl. 11. Ebenda; Engelsmann sprach sogar von einer „Katastrophe des deutschen Volkes“. BArch Berlin NS 5/VI/4516, R[obert] Engelsmann, Die Katastrophe der deutschen Familie. Vortrag gehalten auf dem 31. Bundestag des Bundes deutscher Bodenreformer vom 18. bis 20. April 1927 in Schwerin, in: Sonderabdruck aus dem Bundesblatt für den Reichsbund der Kinderreichen Deutschlands zum Schutze der Familie e. V., ohne Ort, ohne Datum, Bl. 105. Vgl. ebenda; Tenfelde, Welt, 244f. Ähnlich bei Das Problem der kinderreichen Familie, 7.

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tischen Westen von einem Risiko für die Zukunft der deutschen Familie. England und die USA stünden in der Tradition des Ökonomen und Sozialphilosophen Thomas Robert Malthus, weshalb dort das Ideal der Zwei-Kind-Familie propagiert werde. Russland hingegen favorisiere seit der Revolution die Abtreibung als Möglichkeit der Geburtenregulierung. Beide Varianten der Geburtenkontrolle lehnte Engelsmann ab, da sie seinem Ideal der kinderreichen Familie zuwiderliefen.260 Die Topoi von der Bedrohung der deutschen Familie aus dem Ausland finden sich auch in zahlreichen anderen Darstellungen von Verfechtern nationaler bzw. völkischer Ansichten. Unter anderem vertrat der Bevölkerungswissenschaftler Harmsen diese Ideen vehement. 1929 wies er auf den negativen Einfluss der Entwicklungen in den USA und Russland auf die deutsche Familie hin. Er sprach sogar von einer „gegenwärtigen Umwertung aller dieser Werte, die wir übrigens ja auch in Deutschland erleben“.261 Damit meinte er die Veränderungen in Russland und den Vereinigten Staaten von Amerika sowie deren direkte Folgen für Deutschland: Die Familie als Basis des deutschen „Volkes“ werde infolge dieses Spannungsverhältnisses zwischen dem „modernen Industrialismus und Materialismus“ der USA und der „liberalistischen atomisierenden Weltanschauung“262 Russlands erst destabilisiert und dann aufgelöst.263 Auch christliche Theologen und Laien griffen diese Bedrohungsszenarien auf. Der evangelische Theologe Füllkrug sprach in diesem Zusammenhang von einem von Russland und „dem Westen“ ausgehenden „Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ehe“.264 Die österreichische Politikerin Fanny Starhemberg rekurrierte ebenfalls auf dieses Thema in ihrer Rede auf dem Katholikentag 1926 in Breslau. Sie argumentierte aber, dass von den Entwicklungen in Russland die größere Gefährdung ausgehe.265 Den in den USA und Russland verbreiteten Familientypen sprachen die Verfechter dieser Topoi mehrere negative Eigenschaften zu, die durchweg im Widerspruch zu ihren betont deutschen Familienidealen stünden. Dort werde unter Familie primär eine jeweils individuell gestaltete Lebensgemeinschaft verstanden; der institutionelle Charakter von Familie hingegen bleibe unberücksichtigt. Ferner würden ausschließlich Individualinteressen 260

261 262 263 264 265

Vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4516, R[obert] Engelsmann, Die Katastrophe der deutschen Familie. Vortrag gehalten auf dem 31. Bundestag des Bundes deutscher Bodenreformer vom 18. bis 20. April 1927 in Schwerin, in: Sonderabdruck aus dem Bundesblatt für den Reichsbund der Kinderreichen Deutschlands zum Schutze der Familie e. V., ohne Ort, ohne Datum, Bl. 105. Harmsen, Ehe-, Familien- und Geburtenpolitik, 3f. Ebenda, 7. Vgl. ebenda, 3–7; Castell-Rüdenhausen, Familie, 69; Brocke, Bevölkerungswissenschaft, 61f.; Schleiermacher, Sicherung, 141. Siehe auch Harmsen, Befreiung. Füllkrug, Ehe, 86. Sie sprach vom „Bolschewismus der Zeit“. Starhemberg, Christus, 38.

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berücksichtigt; Gemeinschaft stelle kein schützenswertes Ideal dar. Die Familien in Russland wie auch in den USA symbolisierten nach dieser zeitgenössischen Lesart eine sich verbreitende Individualisierung – eine Sichtweise, der sich auch der Reichsbund der Kinderreichen um das Jahr 1930 anschloss.266 Auf der Jahrestagung des Reichsbundes im Oktober 1930 griff der Vorsitzende Hans Konrad den Topos vom „Kampf “ um die Familie auf. Er erklärte, die Familie werde gegenwärtig von drei Entwicklungen bedroht. Dieser Kampf bedroht die Familie besonders schwer, da sich zu der wirtschaftlichen Not noch die ungeheuer schwere geistige Not gesellt, welche im Kampfe um Ehe und Familie sich offenbart (Bolschewisierung des Ehe- und des Sexuallebens vom Osten her, Neomalthusianismus vom Westen her).267

Der Medizinalrat Engelsmann sprach auf der Veranstaltung ebenfalls von einem „schweren Abwehrkampf “268 und verwies abermals auf die wahrgenommene Bedrohung aus Ost und West. Sollte diese Auseinandersetzung verloren gehen, dann drohe sogar, dass sich die „Infektion“,269 i.e. das bolschewistische Familienideal bzw. die „kinderarme“ Familie in Deutschland ausbreite.270 Lautstark applaudierten die Mitglieder des Reichsbundes diesen Worten.271 Demnach war die kinderreiche Familie neben einer allgemeinen ökonomischen Notlage, hervorgerufen von der Weltwirtschaftskrise, auf die anschließend näher eingegangen wird, auch von Veränderungen im Ausland bedroht. Diese Entwicklungen drohten, so die zeitgenössische Wahrnehmung von Vertretern konservativer und völkisch-nationalistischer Ideale, nun von russischen und amerikanischen Familien auf die deutsche Familie überzugreifen. Dadurch werde die Institution Familie als zentrale Integrationskraft der „Volksgemeinschaft“ infrage gestellt. Allerdings muss unterschieden werden zwischen den Bedrohungsszenarien aus dem Osten und aus dem Westen. Während Russland und Bolschewismus als durchweg negativ konnotierte Symbole eines kulturellen Niedergangs galten, blieb die Haltung zu den USA ambivalent. Einerseits standen die Vereinigten Staaten für die bewunderte, fortschrittliche kulturelle „Moderne“. Zugleich vereinten sie aber auch Ängste und Sorgen auf sich, die mit den Veränderungen der „Moderne“ einhergingen, wie eine wahrgenommene wachsende Unsicherheit.272 Aus dieser Perspektive drohte ein Orientierungsver266

267 268 269 270 271 272

Vgl. Hans Konrad in: Reichsbund der Kinderreichen, Familien, 5. Für das Verhältnis von Individualität bzw. Individualisierung und Moderne allgemein vgl. u. a. Föllmer, Frauen; ders., Individuality; Beck/Beck-Gernsheim, Individualisierung; Beck-Gernsheim, Dasein; Berger/Hitzler (Hg.), Individualisierungen; Junge, Individualisierung. Hans Konrad in: Reichsbund der Kinderreichen, Familien, 5. Robert Engelsmann in: Reichsbund der Kinderreichen, Familien, 98. Ebenda, 100. Vgl. ebenda, 98ff. Vgl. Kölner Lokal-Anzeiger zit. n.: Reichsbund der Kinderreichen, Familien, 160. Vgl. Lüdtke/Marßolek/Saldern, Einleitung Amerikanisierung, 9–14; Gassert, Amerika-

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lust, den zum Beispiel die Vertreter der „Konservativen Revolution“ mit ihrer vehementen Modernekritik zum Ausdruck brachten. Sie stellten den positiv behafteten Symbolen Gemeinschaft, Kultur und „deutsche Tiefe“ die negativen Formeln Gesellschaft, Zivilisation und „westliche Flachheit“ gegenüber. Damit lehnten sie die Ideen von Liberalismus, Kapitalismus und Individualismus ab. Die Gemeinschaft der – deutschen, nicht aber der US-amerikanischen – Familie bildete für sie den positiven Gegenpol.273 Während sich die vermutete Bedrohung der deutschen Familie durch Entwicklungen in Russland und den USA nicht genau bestimmen ließ, schlug sich die voranschreitende Urbanisierung direkt in statistischen Erhebungen nieder. Sie belegen eine eindeutige Bevölkerungsmobilität in Richtung der Großstädte. Zum Ende der 1920er Jahre wohnte lediglich noch ein Drittel der Deutschen in Dörfern und ländlichen Gemeinden. Ein Viertel der Bevölkerung ballte sich in Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern, jeder Fünfte lebte sogar in einer Großstadt mit mehr als 500.000 Einwohnern. Die Zahl dieser Städte stieg zudem von sieben im Jahr 1910 auf elf 1939 an. Berlin nahm dabei eine hervorgehobene Stellung ein. Durch mehrere Eingemeindungen Anfang der 1920er Jahre wurde Berlin auch im internationalen Vergleich zur Großstadt. Weltweit erstreckte sich lediglich Los Angeles über eine größere Fläche. Hinsichtlich der Einwohnerzahlen übertrafen nur London und New York die deutsche Hauptstadt. Berlin war aber mehr als ein Ballungsraum. Dort prallten „Tradition“ und „Moderne“ aufeinander, weshalb Zeitgenossen meinten, bei Berlin handele es sich um „eine Art von sozialem Großexperiment“.274 In Deutschland manifestierte sich „Amerikanisierung“ somit primär in Berlin.275 Dort zeigten sich die von konservativen und völkischen Personengruppen als unerwünscht wahrgenommenen Veränderungen zuerst. Berlin war für sie ein „Pandämonium“276 mit Menschengewirr, Kriminalität und losen Moralvorstellungen, das vielleicht Alfred Döblin 1929 in seinem Roman Berlin Alexanderplatz am schillerndsten einfing. Dass gerade von solchen städtischen Räumen gesellschaftlich-kulturelle Veränderungen ausgingen, machte sie in den Augen konservativer und völkischer Politiker, Wissenschaftler und Kirchenvertreter so bedrohlich.277

273 274 275

276 277

nisierung, 786, 790f.; Becker, Amerikabild, 20–23; Graf, Zukunft, 250–268; Herbert, Geschichte, 245f. Zum Verhältnis Deutschlands und der USA in der „Moderne“ vgl. Mauch/Patel (Hg.), Wettlauf. Für den allgemeinen Zugriff auf diese Gegenüberstellung vgl. Herbert, Geschichte, 252. Ebenda, 245. Vgl. ebenda, 244f.; Joll, Großstadt, 28–31. Für die Position der Konservativen zur Urbanisierung vgl. u. a. Bussche, Konservatismus, 253–268. Für die voranschreitende Urbanisierung nach dem Ersten Weltkrieg siehe auch Reulecke, Aspekte, 92f. B.B.-KLL, Berlin Alexanderplatz [Kindlers Neues Literatur Lexikon], 742. Vgl. Döblin, Berlin; B.B.-KLL, Berlin Alexanderplatz [Kindlers Neues Literatur Lexikon]. Für die ambivalente Perspektive auf die Stadt vgl. u. a. Reulecke, Aspekte, 94f.

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Dem von Städten ausgehenden Bedrohungspotenzial stellten sie zwei positiv konnotierte Fluchtpunkte gegenüber: ländliche Regionen und das Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie bzw. die entsprechende Variante der kinderreichen Familie. Beide hätten in der Vergangenheit die Stabilität der Gesellschaft gewährleistet, könnten diese Funktion, so eine weitere Annahme, in den 1920er Jahren jedoch immer weniger erfüllen. Um ihrer Argumentation Nachdruck zu verleihen, listeten einige Statistiker wie Burgdörfer und Harmsen die Entwicklungen nicht nur auf. Vielmehr versahen sie ihre Berechnungen mit einer Wertung, die betonte, welch negativen Effekt Städte oder der Anteil der nichtehelich geborenen Kinder für die demographische Entwicklung hätten. Andere zeitgenössische Beobachter wie Alice Salomons Assistentin Annemarie Niemeyer sahen hingegen von solchen Wertungen ab. Ihre Erhebungen ergaben, dass die Unehelichenquote im Deutschen Reich zwischen 1920 und 1926 zwischen knapp über zehn und ca. 12,5 Prozent schwankte. Sicherlich bedeutete dies eine deutliche Zunahme gegenüber den 1880er Jahren, als der Anteil der nichtehelich geborenen Kinder noch bei um die neun Prozent gelegen hatte. In Großstädten lag sie wesentlich höher als auf dem Land, wie andere Erhebungen zeigten. Zum Beispiel lag die Nichtehelichenquote in Berlin in den Jahren 1909 und 1924 bei 19,7 und 16,5 Prozent.278 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich die Zahl der alleinerziehenden Mütter und unehelichen Kinder insgesamt erhöht. Verstärkt waren sie aber in Städten anzutreffen. Neben den individuellen wirtschaftlichen Notlagen dieser Ein-Eltern-Familien kam erschwerend hinzu, dass Katholiken und Protestanten wie auch Eugeniker sie als soziales Problem und als Bedrohung für die „Volksgemeinschaft“ ansahen. Burgdörfer prognostizierte 1930 einen deutlichen, von Großstädten ausgehenden Rückgang der durchschnittlichen Kinderzahl, denn in den Ballungsräumen lebten nach seinen Berechnungen schon damals wesentlich weniger kinderreiche Familien als auf dem Land – nur noch 6,5 Prozent. In Berlin lag der Anteil mit 3,1 Prozent sogar noch wesentlich niedriger. In Deutschland insgesamt belief sich der Anteil der kinderreichen Familien demgegenüber auf zehn bis zwölf Prozent. Da aber auch in mittelgroßen Städten und in ländlichen Regionen die Zahl der kinderreichen Familien rückläufig war, fiel Burgdörfers Prognose verheerend aus: Aufgrund der voranschreitenden Urbanisierung und der Ausbreitung städtischer Familienideale würden Überalterung und schließlich ein demographischer Untergang drohen.279

278 279

Vgl. Burgdörfer, Familie, 29–33; Harmsen, Bevölkerungspolitik, 29f.; Wulff, Schicksal, 9; Niemeyer, Struktur, 68f. Vgl. Burgdörfer, Familie, 40f. Siehe u. a. auch ders., Geburtenrückgang und die Zukunft, 10f.; ders., Geburtenrückgang und seine Bekämpfung, 46–63; ders., Leben, 4f., 12–15; ders., Volk, 32–45. Ähnlich wurde 1930 die Lage in München eingeschätzt, vgl. Das Problem der kinderreichen Familie, 7.

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Um dieser düsteren Vorhersage entgegenzuwirken, hatte Engelsmann schon 1927 die Abwendung von der Stadt und die Hinwendung zum Land gefordert: „Unsere Zukunft liegt auf dem Lande!“280 Diese Forderungen entlehnte er Wilhelm Heinrich Riehls Die Familie, dessen Ideale er als wegweisend für die Zukunft des deutschen „Volkes“ einstufte.281 Engelsmann konstruierte damit einen StadtLand-Konflikt, der für die Debatten um die Familie in der Weimarer Republik typisch war. In der natürlichen ländlichen Region könne sich die Familie mit ihren zahlreichen Kindern entfalten; in Städten dagegen lebten Familien dicht zusammengedrängt und der sittlich-moralische Verfall wie auch der dramatische Geburtenrückgang seien unausweichlich.282 Engelsmann und Burgdörfer sahen in den Großstädten folglich eine akute Bedrohung für die Zukunft ihres Ideals der kinderreichen Familie. Burgdörfer warf in diesem Zusammenhang den Großstädten vor, dass sie dem gesunden Umland die „Lebenskraft“283 entzögen.284 Auch der Reichsbund teilte diese Sicht und bezeichnete Großstädte als „Verzehrer und Zerstörer unserer Volkskraft“.285 Ihnen standen nach dieser Lesart ländliche Regionen als positiver Gegenpol gegenüber, da hier die Basis für die kinderreichen Familien gegeben sei.286 Natürlich ist diese Deutung von Engelsmann und Burgdörfer übertrieben dramatisiert. Während sich in Berlin ein rasanter, für jedermann beobachtbarer Wandel vollzog, wirkten ländlich geprägte Regionen als retardierendes Moment. Selbst andere Großstädte wie Hamburg, Köln, München oder Leipzig entfalteten nicht denselben Sog wie Berlin. Dort verliefen die Veränderungen wesentlich langsamer, bisweilen setzten sie auch überhaupt nicht ein. Gleichwohl nahmen die Familien die Verschiebungen in ihrer Umwelt zumindest wahr. Das führte wiederum dazu, dass sie die eigene Situation oft als unsicher einstuften, wie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Aber auch kinderreiche Familien nahmen die Situation aus ihrer individuellen Perspektive als beklemmend wahr, da sie oft an finanziellen Engpässe litten. Dann empfanden Zeitgenossen die Veränderungen eben nicht als Chance, sondern primär als Bedrohung.287 280

281 282

283 284 285 286 287

BArch Berlin NS 5/VI/4516, R[obert] Engelsmann, Die Katastrophe der deutschen Familie. Vortrag gehalten auf dem 31. Bundestag des Bundes deutscher Bodenreformer vom 18. bis 20. April 1927 in Schwerin, in: Sonderabdruck aus dem Bundesblatt für den Reichsbund der Kinderreichen Deutschlands zum Schutze der Familie e. V., ohne Ort, ohne Datum, Bl. 106. Vgl. ebenda, Bl. 105. Für die Stadt als moderner Lebensraum vgl. exemplarisch Peukert, Weimarer Republik, 181–185; Schott, Stadt. Zur Stadt-Land-Differenzierung generell vgl. Tenfelde, Welt; Dietz, Countryside; Lenger, Metropolen, 57ff., 75–83. Burgdörfer, Geburtenrückgang und seine Bekämpfung, 52. Vgl. ebenda, 52f.; ders., Leben, 14f.; ders., Volk, 38. Für den Stadt-Land-Gegensatz vgl. auch Reinecke, Krisenkalkulationen, 224. Reichsbund der Kinderreichen, Erhaltung, 13. Vgl. ebenda, 13f., 26, 105. Für eine generelle Perspektive auf diesen Sachverhalt vgl. Herbert, Geschichte, 251f.

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3.3 Konträre Perspektiven auf die Ehescheidung 3.3.1 Praktiken der Ehescheidung: Bedeutung von Städten, Rechtsprechung und soziale Folgen

Ein weiterer zeitgenössisch immer wieder herangezogener Indikator für den Zustand der Familie war die Scheidungsrate. Für katholische und nationalkonservative Politiker des Zentrums, der DVP und der DNVP war der Zusammenhang dabei eindeutig: Je höher die Scheidungsquote ausfiel, so ihre Interpretation, desto deutlicher seien die Zeichen eines immanenten Verfalls der Institutionen Ehe und Familie.288 Der Zusammenhang von Ehescheidung und Wertschätzung der Familie wie auch der Ehe war jedoch nicht so monokausal und linear, wie diese Annahme suggeriert. Historische und soziologische Arbeiten haben herausgestellt, dass aufgrund der Höhe der Scheidungszahlen zunächst keine Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen Moralvorstellungen möglich sind. Bereits Verschiebungen der Sozialstruktur wie das Bevölkerungswachstum im ausgehenden 19. Jahrhundert könnten ein Ansteigen der Scheidungszahlen bewirkt haben.289 Zudem liefern Statistiken lediglich Aufschluss über die quantitative Verteilungshäufigkeit eines Phänomens, zu qualitativen Verschiebungen geben sie allenfalls mittelbar Hinweise.290 Eine niedrige Scheidungsrate ist somit kein Beleg für eine große Anzahl an harmonischen und stabilen Ehen. Allerdings kann aus der Zahl der Ehescheidungen zumindest abgeleitet werden, wie stabil oder instabil Ehen sind und wie rechtliche Bestimmungen die Scheidungsneigung beeinflussen.291 Darüber hinaus hat die Ehescheidung für Paarbeziehungen auch indirekt eine wichtige Funktion, da das Ideal der Liebesehe in sich schon die Möglichkeit des Scheiterns impliziert.292 In diesem Fall wirkt die Möglichkeit der Ehescheidung wie ein „Sicherheitsventil“293 oder „Fluchtweg“.294 Die „Ventilinstitution“295 Scheidung garantiert aus dieser Sicht das Funktionieren des Beziehungsgefüges Familie. Über das Thema Ehescheidung können auch Rückschlüsse auf gesellschaftlich akzeptierte wie auch verhandelte Familienleitbilder geschlossen 288 289

290 291 292 293 294 295

Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 301. Vgl. Blasius, Ehescheidung, 155; Schneider, Grundlagen, 20f. Heinemann hat auch darauf hingewiesen, dass über die gesamten 1920er Jahre die Heiratsziffern konstant hoch blieben bzw. sogar zunahmen. Dies könnte ebenfalls als Beleg für die weiterhin zentrale Bedeutung der Ehe herangezogen werden. Vgl. Heinemann, Familie, 155f. Vgl. Niemeyer, Struktur, 14. Vgl. ebenda, 53; Gestrich, Sozialgeschichte, 89; ders., Geschichte (2010), 33. Sieder, Sozialgeschichte, 261. Goode, Struktur, 93. Goode, Soziologie, 170. Nave-Herz, Ehe- und Familiensoziologie, 167.

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werden. Die Kontroversen drehten sich während der 1920er Jahre auch hier insbesondere um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und damit auch um die Frage, inwiefern die Familie eine Institution oder eine Lebensgemeinschaft von Individuen sei. Zugleich geben sie einen Einblick in den Ablauf gesellschaftlich-kultureller Veränderungsprozesse. Es ging in den Kontroversen aber auch um die Deutungshoheit im Konflikt um die Familienideale. Eine differenzierte Sichtweise auf die Ehescheidung als soziales Phänomen vertrat während der 1920er Jahre unter anderem der Jurist und Hamburger Oberlandesgerichtsrat Paul Vogt. Seiner Ansicht nach könne ein Anstieg der Scheidungsziffer nicht als „Zunahme der Sittenlosigkeit“296 gewertet werden. Vertreter der Zentrumspartei, der DVP sowie der DNVP und der katholischen Kirche nahmen eine konträre Position ein. Sie deuteten den Anstieg der Scheidungszahlen Anfang der 1920er Jahre als Niedergang von Sitte und Moral, machten die vermeintlich um sich greifende Promiskuität, den Anstieg der unehelichen und den parallelen Einbruch der ehelichen Geburten für diese Entwicklung verantwortlich. Diese Interpretation basierte auf ihrem Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie, das Ehescheidung als soziale Praktik nicht vorsah. Sozialdemokraten oder liberale Juristen gelangten damals wiederum zu konträren Schlussfolgerungen. Sie schlossen Ehescheidung nicht grundsätzlich aus und argumentierten sogar, dass mit einer sich liberalisierenden sozialen Praxis der Ehescheidung auch das Scheidungsrecht reformiert werden müsse. Über das Vehikel Scheidungsrechtsreform versuchten damit sowohl die Gegner als auch die Befürworter einer Liberalisierung, die rechtlichen Rahmenbedingungen nach ihren Idealen umzugestalten.297 Diese Bestrebungen verstärkten sich, als sich die Schere zwischen ansteigenden Scheidungszahlen und restriktiven rechtlichen Bestimmungen Anfang der 1920er Jahre öffnete. Die Praxis der sogenannten Konventionalscheidung war ein weiterer wichtiger Motor, der aus der Perspektive liberaler Juristen, der DDP und der SPD eine Reform notwendig erscheinen ließ. Ehepaare konstruierten Scheidungstatbestände wie Ehebruch, um nach dem geltenden Schuldprinzip geschieden werden zu können. Sie unterliefen damit die rechtlichen Bestimmungen, da solche Absprachen scheidungswilliger Paare nicht vorgesehen waren. Allerdings divergieren in der Forschung die Ansichten darüber, inwiefern diese Art der Scheidung während der 1920er Jahre als gängige Scheidungspraxis angesehen werden muss. Der Historiker Dirk Blasius bezweifelt, dass es sich bei Konventionalscheidungen um den üblichen Weg der Ehescheidung gehandelt habe. Da 296

297

BArch Berlin R 3001/1399, Paul Vogt, Zur Umbildung des Ehescheidungsrechts (unter Berücksichtigung der ausländischen Gesetzgebung), in: Sonderabdruck aus den Beiträgen zu Erläuterungen des Deutschen Rechts, Neue Folge, 2. Jg, H. 8, ohne Datum, 679. Vgl. Bessel, Germany, 222, 231; Frevert, Frauen-Geschichte, 181; Usborne, Frauenkörper, 111.

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Schuldspruch und Unterhaltszahlungen direkt aufeinander bezogen worden seien und dies vor allem für Frauen gravierende soziale Folgen gehabt habe, hätten Paare heftig um die Schuldfeststellung gekämpft. Lediglich in höheren sozialen Schichten sei die Scheidungsabsprache häufiger anzutreffen gewesen, schlussfolgert Blasius.298 Er relativiert damit die Bedeutung der Konventionalscheidung für die soziale Praxis. Dagegen ließe sich einwenden, dass die Konventionalscheidung als soziales Phänomen in den Debatten um eine Scheidungsrechtsreform während der gesamten 1920er Jahre eine hervorgehobene Stellung einnahm. Stets rechtfertigten die Befürworter einer Reform ihre Bestrebungen mit einem Verweis auf die um sich greifende Praxis der Konventionalscheidung. Dass Zeitgenossen die Inszenierung von Ehescheidungsgründen diskutierten, trug in Kombination mit dem deutlichen Anstieg der Scheidungsziffern Anfang der 1920er Jahre erheblich dazu bei, einen Aushandlungsprozess über das zukünftige Scheidungsrecht und damit implizit der Familienideale zu entfachen.299 Für den Zeitraum von 1914 bis 1929 zeigt die preußische Ehescheidungsquote, berechnet pro 10.000 bestehender Ehen, einen kriegsbedingten Einbruch von 14,7 Ehescheidungen 1914 auf 8,6 Scheidungen im Jahr 1916. Insbesondere in den Jahren 1918 und 1919 kam es dann zu einem rapiden Anstieg der Scheidungsquote, die sich gegenüber 1916 mehr als verdoppelte und sich schließlich 1919 auf 19,5 Scheidungen belief. Die Rate stieg im folgenden Jahr erneut deutlich auf 32,6 Scheidungen an und erreichte schließlich 1921 mit 35,5 Ehescheidungen ihren höchsten Stand. Bis zum Jahr 1929 pendelte sie sich in Preußen auf einem Niveau zwischen 30 und 35 Scheidungen pro 10.000 bestehende Ehen ein.300 Ähnlich verlief die Scheidungskurve im gesamten Deutschen Reich. Die Scheidungshäufigkeit berechnet pro 10.000 bestehender Ehen lag 1913 bei 15,2 und verdoppelte sich bis 1930 nahezu auf 29,5 Ehescheidungen.301 Damit lagen die Scheidungszahlen über die gesamten 1920er Jahre deutlich über dem Vorkriegsniveau. Ehescheidung galt damit sowohl aus der Perspektive der Befürworter wie auch der Gegner einer Scheidungsrechtsreform als eines der auffälligsten

298 299

300

301

Vgl. Blasius, Ehescheidung, 11, 151f. Ähnlich bei Schipporeit, Scheidungsrecht, 74; Heinemann, Familie, 177f.; Röwekamp, Grenzen, 14f. Vgl. Blasius, Ehescheidung, 127, 135, 155; Schipporeit, Scheidungsrecht, 92; BArch Berlin R 43II/1521, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Ehescheidung [März/April 1929], Bl. 34. Für Details zur Ausgestaltung des Scheidungsrechts im BGB vgl. Blasius, Ehescheidung, 128–146. Vgl. ebenda, 157f.; Gestrich, Geschichte (2010), 34; Mouton, Nurturing, 71. Für eine ähnliche Entwicklung der Scheidungsneigung berechnet pro 100.000 Einwohner vgl. Bessel, Germany, 231. Für weitere statistische Erhebungen vgl. Niemeyer, Struktur, 53–64. Es muss dabei auch berücksichtigt werden, dass weitaus mehr Ehen durch Tod eines Partners gelöst wurden als durch Ehescheidung. Vgl. ebenda, 61f., 163. Vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4880, Die Ehescheidung im Deutschen Reich im Jahre 1931, in: Wirtschaft und Statistik, Nr. 21, 1932, Bl. 2; Burgdörfer, Statistik, 80.

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3.3 Konträre Perspektiven auf die Ehescheidung

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Tabelle 4: Ehescheidungen pro 10.000 bestehende Ehen in Preußen, 1914–1929 Jahr

Preußen

1914 1916 1919 1920 1921 1922 1924 1929

14,7 8,6 19,5 32,6 35,5 32,3 30,4 30,6

Quelle: Blasius, Ehescheidung, 157f.

sozialen Phänomene, das eingehegt werden müsse, selbst wenn der Anteil der Geschiedenen an der Gesamtbevölkerung niedrig blieb und sich bei Männern und Frauen 1925 auf 0,3 bzw. 0,6 Prozent belief.302 Obwohl für die 1920er Jahre keine Zahlen zur Scheidungshäufigkeit nach Konfession vorliegen, können zumindest Annahmen aus den vorliegenden Erhebungen von vor 1914 abgeleitet werden. Zwischen 1905 und 1913 wurden von je 1.000 bestehenden Ehen 0,5 rein katholische, 1,5 evangelische und 1,8 jüdische geschieden. Demgegenüber lag die Scheidungsneigung bei interkonfessionellen Ehen – zeitgenössisch als „Mischehen“ bezeichnet – wesentlich höher. Sie belief sich für evangelisch-katholische auf 3,4, für evangelisch-jüdische auf 9,7 und katholisch-jüdische auf 11,7. Demnach war die Scheidungswahrscheinlichkeit in evangelisch-katholischen „Mischehen“ mehr als doppelt so hoch wie bei rein evangelischen und fast siebenmal höher als bei katholischen Ehen. Die vom konfessionellen Milieu abhängige Scheidungsrate wie auch die größere Instabilität der konfessionell gemischten Ehen beförderte in der Weimarer Republik ebenfalls die Auseinandersetzung um die Regelung des Scheidungsrechts.303 Zudem vermittelte sie insbesondere dem katholischen Zentrum, dass eine wachsende Bevölkerungsgruppe – gerade bei geringer religiöser Bindung – die Familie als Institution infrage stelle. Die Scheidungsneigung hing darüber hinaus noch vom sozialen Umfeld ab. Insbesondere in Ballungsräumen entwickelte sich Ehescheidung zu einem alltäglichen Phänomen; auf dem Land war es in den 1920er Jahren demgegenüber noch eher eine Ausnahme. Bereits im späten Kaiserreich lebten über 50 Prozent der Geschiedenen in Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern und lediglich 20 Prozent in ländlichen Regionen. Diese Konzentration der Ehescheidung auf Städte und vor allem auf Großstädte nahm in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg deutlich zu. Bis zum Jahr 1913 entfielen gut 80 Prozent aller 302 303

Vgl. Niemeyer, Struktur, 24; Wildenhayn, Auflösung, 29f. Vgl. Blasius, Ehescheidung, 158f.

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Ehescheidungen auf Städte. In den Nachkriegsjahren lebten bereits 85 Prozent der geschiedenen Ehepaare in Städten. Noch deutlicher wird die Verteilungshäufigkeit, wenn lediglich Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern betrachtet werden. 1913 entfielen auf Großstädte 55 Prozent aller Ehescheidungsurteile und nach dem Ersten Weltkrieg waren es sogar 60 Prozent.304 Bis in die zweite Hälfte der 1920er Jahre änderte sich nichts an dieser ungleichen Verteilung zwischen Stadt und Land. Noch immer wiesen Großstädte wie Berlin, Hamburg, Bremen und Lübeck eine wesentlich höhere Scheidungsrate auf als ländlich geprägte Regionen wie Ostpreußen, Niedersachsen, Bayern, Baden und Hessen.305 In urbanisierten Räumen entwickelte sich Ehescheidung somit bereits in den 1920er Jahren zu einem Massenphänomen und insbesondere Berlin symbolisierte diesen Wandel. Die Vertreter der katholischen Kirche oder Politiker des Zentrums, der DVP und der DNVP werteten neben dem allgemeinen Anstieg der Scheidungszahlen, der konfessionellen Unterschiede bei der Scheidungsneigung und der Ballung von Ehescheidungen in Städten noch zwei weitere Veränderungen als Bedrohung für die Institution Familie: die Scheidung nach nur wenigen Ehejahren und die Scheidungsgründe. Ehepaare, die sich schon zu Kriegszeiten auseinandergelebt, die Scheidung jedoch zunächst aufgeschoben hatten und dies nun Anfang der 1920er Jahre nachholten, initiierten den Scheidungsanstieg nach Kriegsende. Zweitens trugen zwischen 1920 und 1924 solche Paare erheblich zum Anstieg der Scheidungszahlen bei, die während des Kriegs oder in der unmittelbaren Nachkriegszeit „übereilt“ geheiratet hatten und sich nun scheiden ließen. In diese Kategorie fiel gerade die Altersgruppe der unter 22-jährigen Männer. Ihre Heiratshäufigkeit verfünffachte sich von 1913 bis 1920; selbst 1923 entsprach die Neigung noch dem drei bis dreieinhalbfachen Wert von 1913. Charakteristisch war für diese Gruppe eine relativ kurze Ehedauer von weniger als fünf Jahren. Das Phänomen der Ehescheidung nach relativ wenigen Ehejahren findet sich auch noch zum Ende der 1920er Jahre. Statistische Erhebungen zeigen für die Jahre 1929 bis 1931, dass die Scheidungsneigung im dritten und vierten Ehejahr deutlich anstieg und den Höhepunkt schließlich zwischen dem fünften und sechsten Jahr erreichte.306 304 305

306

Vgl. ebenda, 158; Gestrich, Geschichte (2010), 34; Heinemann, Familie, 153f. Vgl. BArch NS 5/VI/4878, Dr. Mayer, 36.499 geschiedene Ehen im Jahr 1927. Wozu noch Erleichterung?, in: Germania, 14. Januar 1930, Bl. 15; Niemeyer, Struktur, 55f. Für detaillierte Ehescheidungszahlen in Berlin Anfang der 1930er Jahre vgl. Frank, Familienverhältnisse. Vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4880, Die Ehescheidung im Deutschen Reich im Jahre 1931, in: Wirtschaft und Statistik, Nr. 21, 1932, Bl. 2; BArch Berlin R 3001/1399, Paul Vogt, Zur Umbildung des Ehescheidungsrechts (unter Berücksichtigung der ausländischen Gesetzgebung), in: Sonderabdruck aus den Beiträgen zur Erläuterung des Deutschen Rechts, Neue Folge, 2. Jg, H. 8, ohne Datum, 679; Füllkrug, Familien, 15; Burgdörfer, Statistik, 75f.; Bessel, Germany, 232; Mouton, Nurturing, 71.

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Eine dritte Gruppe von Paaren tendierte dazu, sich nach einer relativ langen Ehedauer von mehr als 20 Jahren scheiden zu lassen, meistens nachdem die Kinder aus dem Familienhaushalt ausgeschieden waren. Mitte der 1920er Jahre hatte sich die Scheidungsneigung nach 20 bis 25 Ehejahren im Vergleich zu 1913 verdoppelt. Bei einer Dauer von mehr als 25 Jahren verdreifachte sie sich sogar beinahe. Friedrich Burgdörfer identifizierte diesen Trend als weiteres „ernstes Symptom der neuzeitlichen Ehekrisis“.307 Burgdörfers Urteil bezog sich dabei auf die Zuwachsraten der absoluten Ehescheidungszahlen und weniger auf deren relatives Gewicht. 1924 entfielen lediglich 6,5 und 5,2 Prozent aller Ehescheidungen auf diese beiden Gruppen. 33,7 Prozent der Ehen wurden demgegenüber nach einer Dauer von ein bis fünf Jahren und 25,6 Prozent nach fünf bis zehn Jahren geschieden. Gleichzeitig konnte aus den Erhebungen geschlussfolgert werden, dass Kinder ein wichtiger Faktor waren, die Scheidungswahrscheinlichkeit zu beeinflussen. Viele der scheidungswilligen Paare ließen sich scheiden, entweder bevor sie das erste Kind bekamen oder nachdem das letztgeborene Kind den elterlichen Haushalt verlassen hatte. 1924 hatten 46 Prozent der geschiedenen Ehen in Preußen keine gemeinsamen Kinder. 1913 waren es lediglich 38,9 Prozent gewesen. Da zudem im Mittel ca. ein Zehntel bis ein Achtel aller Paare kinderlos blieb, bei den geschiedenen Ehepaaren jedoch zwei Fünftel, diagnostizierte Burgdörfer eine überproportionale Scheidungsneigung bei Paaren ohne gemeinsame Kinder.308 Burgdörfer und der Reichsbund der Kinderreichen identifizierten damit kinderlose Paare noch aus einem zweiten Grund als Risikogruppe: Sie würden nicht nur den „Volkstod“ verursachen, sondern mit ihrer höheren Scheidungsneigung auch die Institutionen Ehe und Familie unterminieren. Das BGB kannte fünf Scheidungsgründe – aufgelistet nach ihrer Häufigkeit in den frühen 1920er Jahren: § 1565: Ehebruch, § 1568: tiefe Zerrüttung, ausgelöst durch „grobe Mißhandlung“, § 1567: bösliche Verlassung, § 1569: Geisteskrankheit und § 1566: Lebensnachstellung.309 Auffällig ist zunächst die prozentuale Zunahme der Ehescheidungen aufgrund von Ehebruch nach dem Inkrafttreten des BGB. Bis 1900 entfielen in Preußen 20 bis 30 Prozent aller Scheidungsurteile auf Ehebruch, wohingegen die entsprechende Zahl für den Zeitraum von 1900 bis 1914 mit ungefähr 60 Prozent angegeben wird. Diese Verschiebung resultierte vermutlich aus dem Wegfall der im Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten geregelten einvernehmlichen Scheidungsgründe.310 Als zweithäufigster Scheidungsgrund kristallisierte sich die Scheidung aufgrund tiefer Zerrüttung 307 308 309 310

Burgdörfer, Statistik, 87. Vgl. ebenda, 86ff.; Niemeyer, Struktur, 60f. Für eine detaillierte Auflistung der Scheidung nach Ehedauer von 1913 bis 1927 vgl. ebenda, 58. Mouton, Nurturing, 75; Heinemann, Familie, 154; Blasius, Ehescheidung, 149f. Vgl. Schipporeit, Scheidungsrecht, 72.

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3. Projektionsfläche für Wunschvorstellungen und Realität im Alltag

Tabelle 5: Verteilung der Ehescheidungshäufigkeit in Preußen nach §§ 1565 und 1568, 1905–1922 Jahr

Ehebruch (§ 1565)

Ehezerrüttung (§ 1568)

1905–1913 1914–1918 1919–1922

47,8 % 52,8 % 61,5 %

39,9 % 38,0 % 34,4 %

Quelle: Blasius, Ehescheidung, 159; Schipporeit, Scheidungsrecht, 72.

heraus. Alle anderen Scheidungstatbestände nahmen demgegenüber eine marginale Rolle ein. Insbesondere diese Konzentration der Ehescheidungsklagen auf die §§ 1565 und 1568 diskutierten zeitgenössische Beobachter und stuften sie als Beleg für den Verfall des tradierten Eheverständnisses ein. Insofern exemplifizierte für Zeitgenossen gerade diese Massierung der gerichtlichen Urteile auf diese beiden Gründe, dass die Ehe als Institution zusehends infrage gestellt werde.311 Eine differenzierte Betrachtung der Verteilungshäufigkeit beider Scheidungsgründe in Preußen zwischen 1905 und 1922 offenbart zunächst von der Jahrhundertwende bis Anfang der 1920er Jahre einen kontinuierlichen prozentualen Anstieg der Scheidungen aufgrund von Ehebruch (§ 1565) und einen Rückgang bei Scheidungen wegen Zerrüttung (§ 1568). In der ersten Hälfte der 1920er Jahre kehrte sich der Trend jedoch um und Ehezerrüttung entwickelte sich zum häufigsten Scheidungsgrund, wie statistische Erhebungen für die Jahre 1927 bis 1931 belegen. Zum Beispiel entfielen 1927 mehr als 60 Prozent aller Scheidungsurteile auf eine „Verletzung der ehelichen Pflichten“ und demgegenüber lediglich gut 52 Prozent auf Ehebruch (z. T. jeweils in Kombination mit anderen Ehescheidungsgründen). Bis 1931 verstärkte sich diese Tendenz noch weiter. In 76 Prozent der Fälle benannten die Paare als Scheidungsgrund eine tiefe Zerrüttung ihrer Ehe bzw. eine „Verletzung der ehelichen Pflichten und ehrloses Verhalten“, Ehebruch hingegen nur in 43 Prozent. Als Grund für diese Verschiebung gaben zeitgenössische Beobachter die Spruchpraxis der Gerichte an, denn die Schuld im Hinblick auf eine Verletzung der ehelichen Pflichten sei leichter nachzuweisen als ein Ehebruch.312 Diese Verlagerung allein erklärt jedoch noch nicht, warum in den 1920er Jahren Politiker, Juristen und Kirchenvertreter heftig um die Ehescheidungsfrage rangen. Die Möglichkeit der Scheidung aufgrund tiefer Zerrüttung war in der Weimarer Republik äußerst umstritten. Nach diesem Paragraphen ließen sich ins311 312

Vgl. Milkert, Ehe-Probleme, 24. Vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4878, Mayer, 36.499 geschiedene Ehen im Jahr 1927. Wozu noch Erleichterung?, in: Germania, 14. Januar 1930, Bl. 15; BArch Berlin NS 5/VI/4880, Die Ehescheidung im Deutschen Reich im Jahre 1931, in: Wirtschaft und Statistik, Nr. 21, 1932, Bl. 2; Niemeyer, Struktur, 60.

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3.3 Konträre Perspektiven auf die Ehescheidung

Tabelle 6: Verteilung der Ehescheidungsgründe im Deutschen Reich (Mehrfachnennung möglich), 1913 sowie 1928–1931 Jahr

1913 1928 1929 1930 1931

Ehescheidungen überhaupt

16 413 35 814 38 206 39 385 38 745

Die Ehescheidungen erfolgten auf Grund von § 1565: Ehebruch, Doppelehe, widernatürliche Unzucht

§ 1566: Lebensnachstellung

§ 1567: bösliches Verlassen

§ 1568: Verletzung der ehelichen Pflichten, ehrloses Verhalten

§ 1569: Geisteskrankheit

9 030 17 256 17 499 17 389 16 510

42 22 20 16 31

1 698 1 428 1 266 1 196 1 090

7 680 23 639 26 675 28 722 29 471

373 461 530 642 621

Quelle: BArch Berlin NS 5/VI/4880, Die Ehescheidung im Deutschen Reich im Jahre 1931, in: Wirtschaft und Statistik, Nr. 21, 1932, Bl. 2.

besondere Paare scheiden, die aufgrund fehlender Zuneigung auseinandergehen wollten oder weil sie bei diesem Scheidungsgrund im Unterschied zum Ehebruch vor Gericht weniger über das Eheleben preisgeben mussten. Nach der Rechtslage galt jedoch weiterhin das Schuldprinzip. Folglich musste auch bei einer Scheidung aufgrund einer Zerrüttung (§ 1568) eine richterliche Schuldfeststellung erfolgen. Gleichwohl hatten scheidungswillige Paare einen Weg gefunden, die gesetzlichen Bestimmungen zu unterlaufen.313 Hinter den juristischen Paragraphen verbergen sich wiederkehrende soziale Muster, die Elisabeth Frank 1932 in ihrer Studie aus Alice Salomons Buchreihe zu den Lebensverhältnissen von 42 geschiedenen bzw. getrenntlebenden Frauen einer Berliner Fürsorgestelle zusammenfasste. Frank erfasste in 39 Fällen die Scheidungs- bzw. Trennungsgründe. Lediglich in einem Fall hatte sich ein Ehepaar auf eine Konventionalscheidung geeinigt und das Gericht benannte den Ehemann als schuldigen Teil. 20 Trennungen gingen von Frauen aus, wobei sie am häufigsten, in zwölf Fällen, „Trunksucht“ als Grund angaben. Stets führten sie hier auch „Misshandlung“ als weiteres Fehlverhalten ihres Mannes an, was sie in der Trennungsabsicht noch bestärkte. Als weitere Gründe benannten die Frauen eine Geschlechtskrankheit des Mannes, Untreue und Kriminalität. In sieben Fällen wiederum reichten die Ehefrauen die Scheidungsklage ein, um Klarheit über die ehelichen Verhältnisse wie auch die Unterhaltszahlungen zu bekommen. Da hier jedoch die „innere Initiative“ für die Trennung ursprünglich vom Mann ausgegangen sei, zählte Frank sie zu den 18 von den Männern beendeten Beziehungen. Insgesamt hatten sich 14 Paare, oftmals aufgrund der langen Trennung während des Kriegs, voneinander entfremdet und insbesondere die 313

Vgl. Blasius, Ehescheidung, 156, 159f.; Schipporeit, Scheidungsrecht, 72f.

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Männer weigerten sich in diesen Fällen, die Ehen fortzuführen. Drei Männer kehrten nach dem Krieg schlicht nicht zu ihren Familien zurück. Vier Ehemänner verliebten sich in eine andere Frau und verließen deswegen ihre Ehefrau. In sieben Fällen stuften die Männer das Eheleben als „unerträglich“ ein und strebten deswegen eine Trennung an. Vier Ehemänner klagten wegen „tatsächlicher Untreue“314 auf Scheidung, d. h. hier hatten die Frauen mit einem anderen Mann ein Kind gezeugt. Somit lagen durchaus gewichtige Unterschiede bei den Trennungsgründen vor, schließlich war Trunksucht ein primär männliches Problem, andere hingegen wie Untreue betrafen beide Geschlechter. Juristisch wurden die Gründe wahrscheinlich mehrheitlich unter die beiden Paragraphen 1568 und 1565 subsumiert – also genau unter die besonders umstrittenen Scheidungsgründe.315 Zudem muss analysiert werden, welcher Ehepartner die Scheidungsklage einreichte und welchen Partner die Gerichte als schuldigen Teil benannten. Untersuchungen zur Stadt Kiel haben gezeigt, dass vor dem Ersten Weltkrieg in drei Fünftel der Fälle die Klagen von der Frau eingereicht worden waren; 1919 traten hingegen die Ehemänner in zwei Drittel der Verfahren als Kläger auf. Gleichzeitig stieg nach Kriegsende der Anteil der schuldig geschiedenen Ehefrauen signifikant an, was sich direkt auf ihre Unterhaltsansprüche auswirkte. Das Verhältnis schuldig geschiedener Ehefrauen zu Männern lag in Preußen von 1905 bis 1913 bei 100 zu 174, zwischen 1914 und 1922 hingegen bei 100 zu 115. Die Geschichtswissenschaft hat sich intensiv mit dieser Entwicklung auseinandergesetzt. Historikerinnen und Historiker identifizierten das Verhalten der Richter als eine entscheidende Ursache. Sie hätten eher der DNVP und der DVP nahegestanden und als konservative Kraft gewirkt, indem sie ihren Handlungsspielraum bei der Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen ausnutzten. Sie hätten mit der Rechtsprechung die gesellschaftlichen Veränderungen abschwächen wollen, d. h. die traditionelle christlich-bürgerliche Kernfamilie stärken und die Gesellschaft an sich stabilisieren. Die Forschung hat insbesondere drei Gründe für ihr Verhalten identifiziert: Zunächst tendierten sie dazu, Frauen schuldig zu sprechen, um die Ablehnung der Frauenemanzipation zu kommunizieren. Gleichzeitig stärkten sie so traditionelle Rollenmodelle, argumentiert der Historiker Dirk Blasius. Michelle Mouton ergänzt diese Interpretation um zwei weitere wichtige Gründe: Die Richter hätten oft Männer angesichts der im Krieg erlittenen Qualen gegenüber Frauen bevorzugt. Sie

314 315

Frank, Familienverhältnisse, 14. Vgl. ebenda, 13ff., 41. Diesbezüglich muss angemerkt werden, dass Frank selbst die Scheidungsurteile nicht analysiert hat. Die Schlussfolgerung basiert auf der juristischen Einordnung der Gründe und der während der 1920er Jahren allgemein üblichen Rechtsprechung. Vgl. ebenda, 13.

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hätten mit der Rechtsprechung überdies ihre ablehnende Haltung gegenüber den Reformbestrebungen der 1920er Jahre zum Ausdruck gebracht.316 Gleichwohl wäre es verkürzt, die Veränderung bezüglich der Verteilung der Schuldsprüche allein auf die Weimarer Republik zu beziehen. Schließlich hatte es schon um das Jahr 1913 Regionen gegeben wie die Städte Köln, Düsseldorf, Hannover, Essen, Duisburg, Kiel, Altona, Danzig und Gelsenkirchen, in denen der Schuldanteil bei der Ehescheidung nach § 1565 beinahe paritätisch zwischen Frauen und Männern aufgeteilt gewesen war. Allerdings lag der Anteil der allein schuldig geschiedenen Männer bis zum Ende der 1920er Jahre insgesamt gesehen weit über dem der Frauen. Gleichwohl war die deutliche Zunahme bei den schuldig geschiedenen Ehefrauen von entscheidender Bedeutung, da sie dadurch ihre Unterhaltsansprüche verloren. Dieser Trend lieferte sowohl den Befürwortern als auch den Gegnern der Reform Munition für ihre Argumente, wie im Folgenden gezeigt wird.317 An die Schuldfrage waren also stets die Unterhaltszahlungen geknüpft. Folglich hatte ein Schuldspruch für Frauen im Regelfall weitaus gravierendere Konsequenzen als für Männer. Frank legte 1932 zudem offen, dass infolge der Wirtschaftskrise zahlreiche Frauen selbst von einem schuldig geschiedenen Ehemann keine Unterhaltszahlungen bekamen. Generell muss daher die wirtschaftliche Lage geschiedener Frauen als schlecht beurteilt werden. Trotz der düsteren ökonomischen Aussichten ging die Initiative für die Ehescheidung bei Franks Untersuchungssample in ungefähr der Hälfte der Fälle von der Ehefrau aus. Dies ist umso bemerkenswerter, als das Alter der Ehefrauen bei der Ehescheidung in 31 Fällen zwischen 30 und 45 Jahren und in zwei Fällen über 45 Jahren lag.318 Insgesamt fielen damit gut 80 Prozent der Frauen aus Franks Sample in diese Alterskategorien, in denen „es für eine Frau nicht leicht ist, einen neuen Aufbau ihrer wirtschaftlichen Existenz herbeizuführen“.319 Meist mussten diese Frauen überdies nach einer Scheidung Kinderbeaufsichtigung und Erwerbsarbeit miteinander verknüpfen. Das schränkte die Berufsmöglichkeiten zusätzlich ein. Entweder konnten sie zwischen schlecht entlohnten Berufen – als Heimarbeiterin oder Teilzeitangestellte, z. B. für Schreibmaschinenarbeiten – oder ganztätiger Fabrikarbeit wählen. Männer hingegen standen

316

317 318

319

Vgl. Mouton, Nurturing, 78–82; Blasius, Ehescheidung, 159f., 162; Heinemann, Familie, 154; Hagemann, Frauenalltag, 326. Für diese Entwicklung in Bayern vgl. Burgdörfer, Statistik, 84. Vgl. Heinemann, Familie, 154; Blasius, Ehescheidung, 159f.; Milkert, Ehe-Probleme, 24f. Frank thematisierte auch, dass die Ehedauer bis zur Scheidung überdurchschnittlich hoch war. Die Besonderheit resultiere aus dem Umstand, dass es sich bei dem Untersuchungssample um hilfsbedürftige Frauen handele, die im Regelfall älter seien. Vgl. Frank, Familienverhältnisse, 16. Ebenda, 16.

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nicht vor diesem Problem, da die Kinder im Regelfall bei der Frau verblieben.320 Wie zuvor gezeigt, ging die Berufsarbeit bei Ein-Eltern-Familien oft mit enormen physischen Belastungen und daraus resultierenden Erkrankungen einher.321 Ehescheidung war für Frauen damit nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein gesundheitliches und soziales Risiko. Aus diesem Grund diskutierten Juristen, Politiker und Vertreterinnen der Frauenbewegung, wie im reformierten Scheidungsrecht die Unterhaltsleistungen geregelt werden müssten, um solche Härtefälle aufzufangen. Darüber hinaus stand stets zur Diskussion, inwiefern Ehescheidung als soziale Praxis angesichts des christlich-bürgerlichen Familienideals überhaupt erlaubt sein dürfe. 3.3.2 Anhaltende Kontroversen, keine Einigung: die Debatten um die Reform des Scheidungsrechts

Der rapide Anstieg der Ehescheidungszahlen in den frühen 1920er Jahren, die Massierung der Scheidungen in Großstädten, die Verschiebung der Scheidungsgründe in Richtung des Zerrüttungsparagraphen und die Zunahme des Anteils der schuldig geschiedenen Ehefrauen initiierte bereits im Jahr 1921 eine öffentliche und politische Kontroverse über die zukünftige Regelung der Ehescheidungen. Ihren Unmut über die gesetzlichen Bestimmungen brachten nach Darstellungen des Reichsjustizministers und Sozialdemokraten Gustav Radbruch vom November 1921 Bürgerinnen und Bürger in zahlreichen Beschwerden zum Ausdruck. Sie hätten insbesondere den Wunsch geäußert, zukünftig sollten zerrüttete Ehen ohne schuldhaftes Verhalten eines Partners geschieden werden können. Nach Darstellung Radbruchs hatten sich die sozialen Praktiken gewandelt und nun müssten nachträglich die rechtlichen Bestimmungen daran angepasst werden. Damit rezipierte ein weiterer Zeitgenosse die These, dass die soziale Praxis der Motor für gesellschaftlich-kulturellen Wandel sei. Da die Praxis der Ehescheidung zudem diskursiv verhandelt wurde, wirkte es als Beschleuniger und machte die sozialen Praktiken kleiner Gruppen der breiten Öffentlichkeit bewusst.322 In etwa zur gleichen Zeit stellte die Abgeordnete der DDP Marie-Elisabeth Lüders im Reichstag einen Antrag auf Änderung des Ehescheidungsrechts. Gegen Mitte Januar 1922 reagierte das Justizministerium und übermittelte einen ersten

320 321 322

Vgl. ebenda, 18. Vgl. ebenda, 15–23; Lüdy, Mütter, 72–75. Vgl. BArch R 43/I/1219, [Gustav] Radbruch, Antwort auf Anfrage Nr. 1167, Berlin, 21. November 1921, in: Nr. 3067 [Drucksachen des Reichstags 1920/1921], Bl. 62.

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Gesetzesentwurf zur Änderung des § 1568 BGB323 an die Länder.324 Bereits unmittelbar nach diesem Startschuss zeigte sich, wie konträr die Ansichten der Parteien in der Frage der Ehescheidungsrechtsreform lagen. Zur Allianz der Gegner zählten das Zentrum, die DNVP und die BVP. Die DVP nahm ebenfalls eine ablehnende Haltung ein, doch im Verlauf der Debatte unterstützten einige ihrer Mitglieder durchaus die Reformbestrebungen. Dem harten Kern der Gegner standen die SPD, die USPD, die DDP und die Kommunisten wie auch der DVP-Abgeordnete Wilhelm Kahl gegenüber. Sie wollten das Scheidungsrecht auf unterschiedliche Art und Weise modifizieren. Kahl nahm in diesen Aushandlungsprozessen insofern eine prominente Rolle ein, als er nicht nur ein Abweichler von der Mehrheitsmeinung seiner Partei, sondern auch ein ausgewiesener Rechtsexperte war. Von 1921 bis 1928 stand er dem Deutschen Juristentag als Präsident vor und war zudem Vorsitzender des Rechtsausschusses im Reichstag sowie Mitglied des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses. Im Folgenden werden nun stärker – als bei der bisherigen Zusammenfassung – die Austauschbeziehungen zwischen Familienleitbildern und sozialen Praktiken wie auch die konfessionell geprägten Sichtweisen auf Scheidung in den Blick genommen.325 Die katholischen Familienvorstellungen und die damit einhergehenden politischen Ziele der Zentrumspartei fasste der Reichstagsabgeordnete und spätere Justizminister Johannes Bell bereits zu Beginn der Debatte in einem Zeitungsartikel zusammen. Das Ehescheidungsrecht sei untrennbar mit der Trias von „religiösen, sittlichen und nationalpolitischen Erwägungen“326 verknüpft. Bell 323

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Im Wortlaut war vermerkt: „Ein Ehegatte kann auf Scheidung klagen, wenn eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses eingetreten ist, daß ihm die Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet werden kann.“ Vorläufig unverbindliche Grundlinie eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs über die Ehescheidung, abgedruckt in: Schubert (Hg.), Projekte, 455f. Vgl. Schreiben des Justizministers Radbruch vom 12. Januar 1922 an sämtliche Länder, abgedruckt in: Schubert (Hg.), Projekte, 455; Röwekamp, Grenzen, 15; AddF, NL-P-11, 2M05, 113. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 9. Dezember 1926, 2; Schubert (Hg.), Projekte, 83f.; Humphrey, Weimarer Reformdiskussion, 109. Vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4877, Ehescheidungsreform, in: Frankfurter Zeitung, 30. März 1928, Bl. 1; Schriftführer-Amt der ständigen Deputation (Hg.), Verhandlungen, 1f.; RölliAlkemper, Familie, 38; Mouton, Nurturing, 75f.; Blasius, Ehescheidung, 172; Heinemann, Familie, 177ff.; Schubert, Entwicklung, 86ff.; Achenbach, Kahl, Wilhelm; Humphrey, Weimarer Reformdiskussion, 127. Die juristischen und politischen Kontroversen zur Ehescheidung wurden bereits vielfach von der Forschung analysiert. Vgl. v. a. Blasius, Ehescheidung, 164–187; Mouton, Nurturing, 71–86; Heinemann, Familie, 176–181; Humphrey, Weimarer Reformdiskussion, 105–179. BArch R 43/I/1219, [Johannes] Bell, Zur „Reform“ des Ehescheidungsrechts, in: [Germania] 15. März [ca. 1922], Bl. 45. Diese Position vertrat auch der Bischof von Meißen Christian Karl August Schreiber. Vgl. BArch Berlin R 8034II/6086, Christentum und Eherechtsreform, ohne Ort, ohne Datum, Bl. 10; Weitlauff, Schreiber.

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lehnte Ehescheidung aufgrund seines kanonischen Rechtsverständnisses und des sakramentalen Charakters der Ehe ab. Zugleich betonte er, dass eine „Erweiterung der gesetzlichen Ehescheidungsgründe“, d. h. Ehescheidung aufgrund von Zerrüttung und ohne Schuldfeststellung, zwangsläufig einen Niedergang der Moral nach sich ziehen werde. Menschen würden dadurch verleitet, wesentlich leichtfertiger eine Ehe einzugehen, da sie jederzeit wieder gelöst werden könne. Zentrumsabgeordnete wie Bell oder Hedwig Dransfeld äußerten daher die Befürchtung, in der Gesellschaft könnten sich „Versuchsehe und Zeitehe“327 verbreiten. Aus dieser Perspektive gefährdete die Rechtsreform die Institution Familie und damit die Zukunft von „Volk“ und Nation. Da bereits der Erste Weltkrieg die Familie als „Keimzelle des Staats“328 erschüttert habe, müsse nun eine weitere Erosion der Institution Familie verhindert werden, mahnte Bell. Die Reform des Scheidungsrechts drohte also nach der Ansicht wertkonservativer Kräfte, das Fundament der Gesellschaft zu unterspülen, auf dem die religiösen, sittlichen und nationalpolitischen Ideale fußten – die christlich-bürgerliche Kernfamilie.329 Im Januar 1922 schaltete sich der Fürsterzbischof von Breslau und Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz, Adolf Kardinal Bertram, in die Debatte ein und untermauerte den Standpunkt der katholischen Kirche in einem Schreiben an den Reichsjustizminister, den Vorsitzenden der Zentrumsfraktion und die Mitglieder Reichstages. Er warnte, dass mit einer Rechtsreform eine „sukzessive Polygamie“330 drohe. Er radikalisierte mit dieser Aussage die These von einer Verbreitung der „Zeitehe“. Von den Reformplänen ging nach dieser Darstellung eine erhebliche Gefahr für die Familie als „heilige Keimzelle des Volkslebens und der Volkskraft“331 aus. Bertrams eindrückliche Warnungen rezipierten die Tageszeitungen. Zum Beispiel zog die dem Zentrum nahestehende Zeitung Germania Bertram im Winter 1922 als Gewährsmann heran, als sie abermals über 327 328 329

330 331

BArch R 3001/1407, [Hedwig] Dransfeld, Die Gesetzesentwürfe zur Ehescheidungsreform, in: Kölnische Volkszeitung, 18. Dezember 1922. BArch R 43/I/1219, [Johannes] Bell, Zur „Reform“ des Ehescheidungsrechts, in: [Germania] 15. März [ca. 1922], Bl. 45. Vgl. ebenda; AddF, NL-P-11, 2M05, 113. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 9. Dezember 1926, 3, AddF, NL-P-11, 2M04, 125. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 10. Februar 1927, 3. Für diese Argumentation vgl. ebenfalls BArch Berlin NS 5/VI/4878, [Fritz] Bockius, Der Standpunkt des Zentrums. Zum Zentrumsprotest gegen die Erleichterung der Ehescheidung, in: Kölnische Volkszeitung, 9. November 1929, Bl. 24; BArch Berlin NS 5/VI/4878, [Wilhelm] Marx, Erleichterung der Ehescheidung?, in: Kölnische Volkszeitung, 2. Dezember 1929, Bl. 17; BArch Berlin NS 5/VI/4878, [Wilhelm] Marx, Erleichterung der Ehescheidung?, in: Germania, 17. November 1929, Bl. 21. BArch R 43/I/1219, Der Episkopat gegen Erleichterung der Ehescheidung, in: Germania, 23. November 1922, Bl. 59. Auch zitiert bei Blasius, Ehescheidung, 170. Ebenda.

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die bereits im Sommer von DDP, SPD und USPD eingereichten Anträge auf Änderung des Scheidungsrechts berichtete. Die Zeitung informierte so gerade gläubige Katholiken über die ablehnende Haltung der Amtskirche zur Reform des Scheidungsrechts.332 Der Verweis auf religiöse Glaubensgrundsätze sprach primär die katholisch geprägten Bevölkerungsteile sowie das Zentrum und die Bayerische Volkspartei an; die Argumentation auf der Basis sittlicher Moralvorstellungen und unter Verweis auf die Zukunft von „Volk“ und Nation hingegen stieß auch unter den Nationalliberalen und Nationalkonservativen auf Resonanz. Alle Reformgegner griffen dieses Argument in der Debatte auf. So bezeichneten der DNVP-Abgeordnete Georg Barth und die Zentrumsabgeordnete Helene Weber im Rechtsausschuss des Reichstages 1926 und 1927 oder der Zentrumsabgeordnete Wilhelm Marx 1929 in einem Zeitungsartikel die von ihnen wahrgenommene Veränderung als ein Bedrohungsszenario für Staat und „Volk“. Bisweilen stilisierten Politiker von Zentrum und DNVP sie sogar zur „Lebensfrage unseres Volkes“.333 Aus ihrer Perspektive gingen damit von einem Anstieg der Ehescheidung ähnlich verheerende Folgen für die Nation aus wie vom Geburtenrückgang. Aufgrund des scheinbar enormen Bedrohungspotenzials sowohl für die Institutionen Ehe und Familie als auch das deutsche „Volk“ votierten die Vertreter der konservativen Parteien schon im Jahr 1922 grundsätzlich gegen eine Reform des Scheidungsrechts. Aus ihrer Perspektive überwogen demnach klar nationale Interessen die individuellen Rechte und Wünsche der Ehepaare. Indem der Erzbischof Bertram und der Zentrumspolitiker Marx nicht nur auf die religiöse Signifikanz der Scheidungsfrage verwiesen, sondern auch Sammlungsbegriffe wie „Volk, Volksleben, Volkskraft“334 verwendeten, etablierten die Amtskirche und die Zentrumspartei, zumindest in der Scheidungsfrage, semantisch eine Allianz mit den rechten Parteien.335 An dieser Stelle muss festgehalten werden, dass – selbst wenn sowohl das Zentrum als auch die DNVP vom „Volk“ sprachen – sie den Begriff jeweils unterschiedlich konnotierten.336 Während für die Mitglieder des Zentrums mit ihrem abendländisch-ontologischen Verständnis der Staat weiterhin die entscheidende Kategorie blieb und sie ihn nicht infrage stellten, sahen demgegenüber die Ver332

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Vgl. Blasius, Ehescheidung, 168ff.; Mouton, Nurturing, 75f.; Schubert, Entwicklung, 86; BArch R 43/I/1219, Der Episkopat gegen Erleichterung der Ehescheidung, in: Germania, 23. November 1922, Bl. 59. BArch R 43/I/1219, Die Ehescheidung, in: [Germania ca. 1922], Bl. 55–56, hier Bl. 56. Blasius, Ehescheidung, 169. Vgl. ebenda, 168ff.; Mouton, Nurturing, 75f.; BArch R 43/I/1219, Der Episkopat gegen Erleichterung der Ehescheidung, in: Germania, 23. November 1922, Bl. 59. Freilich muss hier angemerkt werden, dass das Zentrum im Unterschied zu den rechten Parteien keine republikfeindlichen Tendenzen aufwies. Vgl. Blasius, Ehescheidung, 170. Vgl. exemplarisch Tiling, Staat, 96f.

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treter der DNVP das „Volk“ als Basis staatlicher Herrschaft. Zugleich war nach Ansicht radikaler Nationalisten und Nationalistinnen das „Volk“ ein biologischer Organismus, der sich wie ein Lebewesen entwickle. Damit gehörten das Aufleben und Sterben genauso zum normalen Lebenszyklus wie Erkrankung und Genesung. Die Zukunft von Staat und „Volk“ sollte nach der völkischen Ideologie über die „gesunde“ Familie und die aus ihr hervorgehenden Kinder sichergestellt werden. Insofern stand die Institution der bürgerlichen Kernfamilie im Dienste von Staat und „Volk“. Demgegenüber war gemäß der katholischen Soziallehre die Familie dem Staat und der Gesellschaft als naturrechtliche Institution vorgeordnet. Sie galt als „Keimzelle“ der Gesellschaft. Nach dem Verständnis der Katholiken war folglich die zentrale Funktion der christlichen Familie die Zeugung von Kindern. Sie sollten in der Familie nach christlichen Werten aufgezogen werden, ohne dass der Staat hierauf Einfluss nehmen dürfte.337 Im Unterschied zur katholischen Position existierte in der evangelischen Kirche keine einheitliche und starre Lehrmeinung über die Ehe. Vielmehr changierten die Positionen zwischen einer rigorosen Ablehnung und einer milden Haltung zur Ehescheidung. Der evangelische Jurist Wilhelm Kahl trat als ein äußerst prominenter Fürsprecher für eine moderate Reform des Scheidungsrechts ein. Durchsetzen konnte er sich damit allerdings weder in den politischen noch in den innerkirchlichen Debatten.338 Einflussreiche evangelische Theologen wie der spätere Bischof in Berlin, Otto Dibelius, fürchteten ebenfalls einen sittlich-moralischen und nationalen Verfall, weshalb Dibelius innerhalb der evangelischen Kirche gegen Kahls Reformvorschläge votierte.339 Dibelius warnte zudem vor einer weiteren Entwicklung, die mit einem reformierten Ehescheidungsrecht einhergehe. Die „Ehe auf Zeit“340 könne sich als neues Lebensmodell etablieren. Hier knüpfte Dibelius sprachlich wie inhaltlich an die Position der katholischen Kirche an. Um eine weitere Erosion der sittlich-moralischen Ideale aufzuhalten, plädierte er letztlich sogar für ein noch restriktiveres Scheidungsrecht.341 Nur so war in seinen Augen gewährleistet,

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Vgl. Ruhl, Ideologie, 376f.; Rölli-Alkemper, Familie, 49; Heinemann, Familie, 112–120; Gestrich, Neuzeit, 385; Streubel, Nationalistinnen, 49, 327. Für eine kurze Zusammenfassung zu „Volk und völkisch“ vgl. Herbert, Best, 57–63. Vgl. exemplarisch BArch Berlin NS 5/VI/4877, Prof. Kahl über die Ehescheidungsreform, in: Der Deutsche, 27. Januar 1927, Bl. 116. Vgl. BArch Berlin R 8034II/6086, Christentum und Eherechtsreform, ohne Ort, ohne Datum, Bl. 10. Ebenda. Vgl. ADW, CA Gf/St 236, [Gerhard] Füllkrug, Gedanken zur Besprechung der heutigen Ehenot, ohne Ort, [1925], 1; ADW, CA Gf/St 236, Grundsätzliches zur Reform des Eherechts, ohne Ort, ohne Datum; BArch Berlin R 8034II/6086, Christentum und Eherechtsreform, ohne Ort, ohne Datum, Bl. 10; Humphrey, Weimarer Reformdiskussion, 134f.

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dass das Ideal der christlichen Familie auch zukünftig als Leitbild firmieren und seiner Stabilisierungsfunktion für die Gesellschaft nachkommen könne. Trotz der Unterschiede kann resümierend festgehalten werden, dass sich die Vertreter der evangelischen wie der katholischen Kirche und des Zentrums als Bewahrer der christlichen Ideale verstanden. Sie sprachen von einer akuten Bedrohung der christlichen Glaubensgrundsätze, die aufgehalten werden müsse. Darüber hinaus verwiesen sie auf einen drohenden sittlich-moralischen Verfall, den sie genauso wie den nationalen Untergang abwenden wollten. Gerade in diesem Punkt war die Position der Kirchenvertreter und der kirchennahen Parteimitglieder in hohem Maße anschlussfähig an die Argumente der Nationalliberalen und Nationalkonservativen – wenngleich dezidierte Unterschiede zwischen den Positionen bestehen blieben. Damit transformierten sich, insbesondere aus der Perspektive des Zentrums und der Nationalkonservativen, die Kontroversen um Ehescheidung in einen Abwehrkampf gegen Entwicklungen, die sich in als kulturell unterlegen wahrgenommenen Ländern wie Russland oder den USA zuerst verbreitet hatten und nun drohten, Deutschland zu erreichen. Um die Gefahren für die Zukunft Deutschlands zu verdeutlichen, bauten Kirchenvertreter, Zentrumspolitiker und DNVPMitglieder in der öffentlichen und politischen Debatte wie beim Geburtenrückgang ein doppeltes Bedrohungsszenario auf. Zunächst gefährde die Entwicklung in den USA die deutsche Familie von außen, da dort in einigen Bundesstaaten mittlerweile mehr Scheidungen als Hochzeiten registriert würden. Obwohl die Ehescheidungszahlen in Deutschland noch hinter den US-amerikanischen zurückblieben, so die Berichterstattung in konservativen und katholisch-geprägten Tageszeitungen, drohe auch hier eine ähnliche Entwicklung, sollten die Reformpläne der Sozialdemokraten und Demokraten erfolgreich sein. Die zweite Bedrohung kam nach dieser Lesart aus Deutschland selbst und stand konträr zum christlichen Familienideal.342 Ähnlich wie in den Kontroversen um die demographische Entwicklung wurde auch hier eine Gefahr für das Ideal der christlich-bürgerlichen Familie aufgrund von Entwicklungen im In- und Ausland gesehen. Die Kontroverse belegt ebenfalls, dass ein Verweis allein auf christliche Glaubensgrundsätze nicht ausreichte, um die Reformpläne zu diskreditieren. Ähnlich wie um die Jahrhundertwende verknüpften Theologen, Zentrumspolitiker, Nationalliberale und Nationalkonservative in den Kontroversen der 1920er Jahre religiöse und biologistische Argumente miteinander. Sie untermauerten ihre 342

Vgl. BArch Berlin R 43I/1219, Die Ehescheidung, in: [Germania, ca. 1922], Bl. 55; BArch Berlin R 3001/1407, Rogge, Anfang und Gipfel. Zur Ehescheidungsreform, in: Deutsche Tageszeitung, Nr. 510, 13. November 1922. Ähnlich bei ADW CA Gf/St 249, Die Ehe und die Ehescheidungen, in: Fränkisches Volksblatt, 8. Februar 1926; Wildenhayn, Auflösung, 31; Burgdörfer, Statistik, 82.

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ablehnende Haltung mit einem Verweis auf die biologische Abhängigkeit des Kindes von seinen Eltern. Schließlich benötige jedes Kind in den ersten zehn bis 15 Lebensjahren die Unterstützung und Erziehung seiner Mutter. Zugleich bewerteten Theologen, Zentrumspolitiker und nationalkonservative Abgeordnete Ehescheidung als „unnatürlich“: Denn „ernste moderne Biologen [. . . ] werden bestätigen, daß die durch eine willkürliche Ehescheidung herbeigeführten Zustände naturwidrig sind“.343 Diese Argumente sollten aufzeigen, dass eine bewusst herbeigeführte Ehescheidung ein Verstoß gegen das Naturrecht sei. Sie dienten aber auch dazu, das Ideal der christlich-bürgerlichen Familie als unverrückbar und biologisch-naturwissenschaftlich determiniert darzustellen. Dies war eine weitere Möglichkeit, die Reformdebatten abzublocken.344 Anders gewendet bedeutet dies, dass sich Zentrumspolitiker und Abgeordnete von DVP und DNVP mit Verweis auf den Schutz des Kindes gegen eine Reform des Ehescheidungsrechts aussprachen. Aber auch die Ehefrau werde dadurch geschützt, lautete ein weiteres Argument. Im Detail argumentierten die Gegner wie die Reichstagsabgeordneten Joseph Pfleger (Bayerische Volkspartei) und Axel von Freytagh-Loringhoven (DNVP), dass ein restriktives Schuldprinzip dem Wohl der Ehefrau diene. Schließlich werde dadurch verhindert, dass der Ehemann seine „alternde“ Ehefrau für eine jüngere Frau verlasse.345 Die Historikerin Michelle Mouton arbeitet noch ein weiteres Argument heraus: Die Reformgegner äußerten vielfach die Befürchtung, dass bei Männern das Verantwortungsbewusstsein für ihre Familie verblasse und dem Staat die Versorgung für die alleingelassenen Ehefrauen und Kinder aufgebürdet werde, sobald man die Ehescheidung erleichtere. Geschiedene Ehepaare seien demnach eine erhebliche finanzielle Belastung für den Staat.346 Diese Argumente griffen auch die Befürworter der Reform auf, um ihre Gültigkeit zu hinterfragen. Kahl erkannte zwar die geäußerten Bedenken durchaus an, relativierte allerdings ihre Relevanz. Schließlich gebe es lediglich vereinzelt Fälle, in denen der Ehemann seine Frau und Kinder für eine jüngere Frau verließ. Die Sozialdemokratinnen Marie Juchacz und Anna Margarete Stegmann 343 344 345

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BArch Berlin R 43I/1219, Die Ehescheidung, in: [Germania, ca. 1922], Bl. 55. Vgl. ebenda. Vgl. BArch Berlin R 43I/1219, Deutscher Rechtsbund an den Deutschen Reichstag u. a., Dresden, 18. März 1922, Bl. 47f.; AddF, NL-P-11, 2M04, 124. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 8. Februar 1927, 2, 4f.; AddF, NL-P-11, 2M04, 158. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 28. Februar 1928, 3. Vgl. Mouton, Nurturing, 70, 75f. Auch Marianne Weber kommunizierte, dass die „Erleichterung der Ehescheidung [. . . ] vor allem dem erotischen Abwechslungstrieb der Männer zugute kommen“ werde. Infolgedessen müsse bei der Reform vorsichtig verfahren werden. Vgl. Weber, Idee, 68. Katholiken argumentierten auch Anfang der 1930er Jahre noch unter Verweis auf den Schutz der Ehefrau gegen eine Scheidungsrechtsreform. Vgl. u. a. Murawski, Katholische oder Kameradschaftsehe, 23.

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gingen in ihrer Argumentation weiter. Juchacz sprach von einer „Tragödie der alternden Frau“,347 die von den Gegnern der Reform konstruiert worden sei. Damit machte sie klar, dass sie das Argument genauso wenig wie Stegmann anerkannte. Beide begründeten ihre Position auch mit dem Verweis auf die wirtschaftliche Unabhängigkeit zahlreicher Ehefrauen. Für diese Frauen sei es sogar besser, wenn sie die unglückliche Ehe verließen und ihren eigenen Lebensunterhalt verdienten.348 Die Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung und Juristin Marie Munk schloss sich dieser Sichtweise an und plädierte zudem für eine Reform des Unterhaltsrechts, da so die Benachteiligung von Frauen zusätzlich reduziert werden könne.349 Auch Marie-Elisabeth Lüders forderte Scheidungserleichterungen. Sie setzte sich ebenfalls für ein reformiertes Unterhaltsrecht ein, da andernfalls „zahllose Frauen gegen ihren Willen an den Mann gefesselt blieben“,350 weil sie die wirtschaftlichen Konsequenzen einer Scheidung fürchteten. Die Reformbefürworter beriefen sich also ebenfalls darauf, mit ihren Reformen den Schutz der Frauen und Kinder zu gewährleisten. Allerdings lag ein wichtiger Unterschied zu ihren politischen Gegenspielern vor. Letztere wollten die Institution Familie stabilisieren und so die Familienmitglieder besser schützen. Die Reformer hingegen beabsichtigten, den Familienmitgliedern mehr Individualrechte zukommen zu lassen. Sie nahmen an, dass Frauen und Kinder dadurch ihre Interessen besser durchsetzen könnten und infolgedessen sich ihre Lebenslagen verbessern würden. Indirekt würde so zudem die Familie als Institution gestärkt, so die Reformbefürworter, da lediglich Ehen bestand hätten, die ihre Schutzfunktion für die Familienmitglieder erfüllten. Die Zentrumspolitiker, Vertreter der katholischen Kirche wie Kardinal Bertram und deutschnational-konservative Abgeordnete wie Freytagh-Loringhoven bewerteten dabei die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen als eine „erleichterte Ehescheidung“. Hier zeigt sich exemplarisch, wie stark sich die Debatte im Laufe der 1920er Jahre normativ auflud. Zu Beginn der Auseinandersetzung in 347 348

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AddF, NL-P-11, 2M04, 124. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 8. Februar 1927, 5. Vgl. BArch Berlin R 43I/1219, Deutscher Rechtsbund an den Deutschen Reichstag u. a., Dresden, 18. März 1922, Bl. 47f.; AddF, NL-P-11, 2M04, 124. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 8. Februar 1927, 2, 4f.; AddF, NL-P-11, 2M04, 158. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 28. Februar 1928, 3. Vgl. Munk, Vorschläge, 6f. Munk im Wortlaut: „[. . . ] so verkennen wir nicht, daß dadurch manche Ehe aus einem gewissen Hang nach Abwechslung geschieden werden kann, weil z. B. dem Mann die alternde und durch ihre Gattungsaufgaben vorzeitig verbrauchte Frau allmählich gleichgültig geworden ist, und er den Wunsch hat, mit einer hübscheren und jüngeren eine Ehe einzugehen.“ Ebenda, 7. AddF, NL-P-11, 2M04, 159. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 6. März 1928, 4.

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den Jahren 1922 und 1923 verwendeten sowohl Befürworter wie die Juristin und Mitbegründerin des Deutschen Juristinnenvereins Marie Munk als auch einige Gegner um Innenminister Bell zunächst primär einen neutraleren juristischen Terminus und sprachen von einer „Erweiterung der gesetzlichen Ehescheidungsgründe“.351 In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre orientierten sich die Reformgegner hingegen durchweg an dem unter anderem von Kardinal Bertram und Freytagh-Loringhoven verwendeten Terminus „Erleichterung“ der Ehescheidung. Sie drückten damit ihre vehemente Abwehrhaltung aus. Zugleich polemisierten sie grundsätzlich gegen die Reformvorschläge. Dass sich in diesem Punkt erneut mehr als nur eine sprachliche Allianz zwischen Katholiken und Nationalkonservativen bildete, zeigt sich spätestens mit Freytagh-Loringhovens viel zitiertem Artikel „Ehebolschewismus“, den er im März 1928 in der Schlesischen Tagespost publizierte. Darin warf er den Liberalen und Sozialdemokraten vor, dass sie „seit jeher auf eine Erleichterung der Scheidung hingearbeitet“352 hätten. Gerade konservative Zeitungen wie die Kreuz-Zeitung übernahmen diese normativ aufgeladene Sprache in ihrer Berichterstattung.353 Obwohl Sozialdemokraten wie Antonie Pfülf oder Kurt Rosenfeld in den Sitzungen des Rechtsausschusses durchaus immer wieder explizit von einer „Erleichterung der Ehescheidung“ oder einer „erleichterten Ehescheidung“354 sprachen, meinten sie damit nicht, wie der Vorwurf der Gegner insinuierte, dass die Zahl der Ehescheidungen ansteigen solle. Vielmehr wollten sie mit einer Reform genauso wie Lüders oder Kahl, Paaren die Möglichkeit eröffnen, sich bei unüberbrückbaren Differenzen leichter trennen zu können, was unter dem Scheidungsgrund der „objektiven“, unverschuldeten Zerrüttung firmieren sollte. Damit hätte die Reform zwar indirekt die Individualrechte der Ehepartner gestärkt. Aber es ging Kahl nicht darum, einer „individualistischen Auffassung der Ehe“,355 wie sie Kommunisten vertraten, einen rechtlichen Rahmen zu geben.

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BArch R 43/I/1219, [Johannes] Bell, Zur „Reform“ des Ehescheidungsrechts, in: [Germania] 15. März [ca. 1922], Bl. 45. Marie Munk verkürzte die Aussage auf: „Erweiterung der Ehescheidungsgründe“. Munk, Vorschläge, 7. Zur Person Marie Munks vgl. Scheffen, Munk, Marie; Röwekamp, Marie Munk; Cordes, Marie Munk. BArch Berlin NS 5/VI/4877, [Axel] Freiherr von Freytagh-Loringhoven, Ehebolschewismus, in: Schlesische Tagespost, 7. März 1928, erneut abgedruckt in: Der Anzeiger, 11. März 1928, Bl. 6. Vgl. BArch Berlin R 43I/1219, Die Ehescheidungsreform vor dem Reichstagsausschuß, in: Kreuz-Zeitung, Nr. 65, 9. Februar 1927, Bl. 275. Vgl. AddF, NL-P-11, 2M05, 113. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 9. Dezember 1926, 1; AddF, NL-P-11, 2M04, 124. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 8. Februar 1927, 3. BArch Berlin R 43II/1521, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Ehescheidung [März/April 1929], Bl. 30.

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Obwohl somit die Befürworter der Reform die Familie durchaus auch als ein jeweils individuell ausgestaltetes soziales Beziehungsgefüge zwischen Individuen ansahen, wollten sie über die Reform die Institutionen Ehe und Familie stabilisieren.356 Prominente Befürworter einer Rechtsreform wie die Mitglieder des liberalen Deutschen Rechtsbundes und des Bundes Deutscher Frauen benannten noch weitere Argumente. Am 16. Februar 1922 legte zum Beispiel der Reichsgerichtsrat Riedner in den Leipziger Neuesten Nachrichten seine Position dar. Er verwies auf eine große Anzahl unglücklich zusammenlebender Ehepaare, die sich auseinandergelebt hätten, ohne dass sich ein Partner schuldhaft verhalten habe. Zudem hatte in der zeitgenössischen Wahrnehmung der Erste Weltkrieg dieses Problem noch erheblich verschärft, wie Kahl 1927 im Rechtsausschuss des Reichstages darlegte. In den Kriegsjahren sei die Zahl der übereilt geschlossenen Ehen deutlich angestiegen. In diesen sogenannten „Zufalls- oder reinen Gelegenheitsehen“357 blieben Ehepaare nicht aufgrund gegenseitiger Verbundenheit zusammen, sondern die gesetzlichen Bestimmungen zwängen sie hierzu.358 Diese „Scheinehen“359 hätten insbesondere für Kinder negative Folgen, da sie falsche Vorstellungen vom Eheleben vermittelt bekämen. Dieser Missstand müsse zum Schutz der Kinder überwunden werden, wie Riedner und Kahl erklärten. Das Argument griffen zahlreiche weitere Reformbefürworter in der Debatte immer wieder auf, etwa im Winter 1926/27 die Sozialdemokratinnen Pfülf und Juchacz.360

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Vgl. exemplarisch AddF, NL-P-11, 2M05, 113. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 9. Dezember 1926, 3; AddF, NL-P-11, 2M04, 159. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 6. März 1928, 4; Pfülf, Reform; ADW CA Gf/St 236, Der Stand der Verhandlungen über die Ehescheidungsreform. Die für die Ehescheidungsreform wichtigen §§ des BGB, ohne Ort, [1928], 17; BArch Berlin R 43II/1521, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Ehescheidung [März/April 1929], Bl. 29f.; Heinemann, Familie, 179. BArch Berlin NS 5/VI/4877, Ein neuer Ehescheidungsgrund, in: Leipziger Neueste Nachrichten, 5. Februar 1927, Bl. 112. Vgl. ebenda; AddF, NL-P-11, 2M04, 124. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 8. Februar 1927, 2. BArch Berlin R 43I/1219, Deutscher Rechtsbund an den Deutschen Reichstag u. a., Dresden, 18. März 1922, Bl. 47. Vgl. ebenda; AddF, NL-P-11, 2M05, 113. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 9. Dezember 1926, 1; AddF, NL-P-11, 2M04, 124. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 8. Februar 1927, 4. Pfülf hierzu im Wortlaut: „Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß derartige Aenderungen [. . . ] die Geschlechts- und Gesinnungsgemeinschaft der Ehe auf eine reinere Höhe zu führen in der Lage sind und das Schicksal der Kinder, die aus Ehen stammen, die eine Irrung gewesen sind, ihren größten Härten entkleiden.“ Pfülf, Reform, 9.

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Diese Erkenntnis rückte ebenfalls die Doppelperspektive auf Ehe und Familie in den Mittelpunkt. Wenn das Scheidungsrecht einen Partner zwang, an einer innerlich zerrütteten Ehe festzuhalten, dann gefährde das Scheidungsrecht sowohl das individuelle Glück der Partner als auch die Ehe als Institution.361 Selbstverständlich wog letzteres Argument in den Aushandlungsprozessen schwerer, da die funktionsfähige Institution Familie als das tragfähige Fundament der Gesellschaft galt. Kahl wollte mit seinen Reformbestrebungen genau diesen institutionellen Charakter von Ehe und Familie stärken.362 Ein weiteres Kernargument, das Politiker wie Kahl, Lüders und Pfülf sowie Juristen wie Richter Riedner heranzogen, stützte sich auf das geänderte soziale Verhalten, das eine nachträgliche Angleichung der Rechtslage notwendig mache. Als paradigmatisches Beispiel hierfür benannten Juristen und Politiker die Konventionalscheidungen, wenn also scheidungswillige Ehepaare vor Gericht die „Komödie der böslichen Verlassung aufführen oder einen Ehebruch vortäuschen“363 würden, um so ein schuldhaftes Verhalten zu konstruieren, damit sie vom Richter geschieden werden könnten. Dass sie damit die rechtlichen Bestimmungen unterliefen, stuften gerade Juristen wie Kahl und Riedner als zentrales gesellschaftliches Problem ein. Dadurch nehme die Institution der Familie genauso wie das Ansehen des Rechts erheblichen Schaden. Über die Reform des Scheidungsrechts wollten Kahl und Riedner damit die sittlich-moralischen wie rechtlichen Ordnungsvorstellungen wahren bzw. wiederherstellen – eine Sicht, die auch Pfülf teilte.364 Die Reformer reklamierten damit, mit den Gesetzesänderungen einen stabilisierenden Effekt auf die Gesellschaft auszuüben. Wie schon beim Argument des Schutzes von Ehefrau und Kindern deckten sich die Intentionen der Gegner und der Befürworter einer Reform. Auch argumentierten beide Seiten primär auf Basis eines institutionellen Ehe- und Familienverständnisses. Das anvisierte Ziel lag jedoch erneut in der jeweils diametral entgegengesetzten Richtung 361 362 363

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Vgl. BArch NS 5/VI/4877, Ein neuer Ehescheidungsgrund, in: Leipziger Neueste Nachrichten, 5. Februar 1927, Bl. 112. Vgl. ebenda. BArch Berlin R 43I/1219, Deutscher Rechtsbund an den Deutschen Reichstag u. a., Dresden, 18. März 1922, Bl. 47. Siehe auch bei Pfülf, Reform, 5; BArch Berlin R 43I/1219, Eherechtsrevolution, Bl. 58. Vgl. BArch Berlin R 43I/1219, Deutscher Rechtsbund an den Deutschen Reichstag u. a., Dresden, 18. März 1922, Bl. 47f.; AddF, NL-P-11, 2M04, 158. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 28. Februar 1928, 5; Pfülf, Reform, 5; AddF, NLP-11, 2M05, 113. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 9. Dezember 1926, 1. Die Gegenposition argumentierte, dass sich durch ein liberaleres Scheidungsrecht die Praxis der Konventionalscheidung nicht unterbinden lasse. Vg. AddF, NL-P-11, 2M04, 124. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 8. Februar 1927, 2; AddF, NL-P-11, 2M04, 125. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 10. Februar 1927, 1.

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und die Positionen näherten sich selbst nach intensiven Debatten nicht an. Die unüberbrückbaren Differenzen resultierten nicht zuletzt aus dem Umstand, dass sich die Parteien in der Weimarer Republik in der Frage der Regelung der Ehescheidung vorrangig als Repräsentanten ihrer Mitglieder und Wählerklientel verstanden. Infolgedessen waren sie nicht bereit, Kompromisse einzugehen.365 Indem sich ihre statischen Verhandlungspositionen unversöhnlich gegenüberstanden und alle Reformversuche scheiterten, liefert die Auseinandersetzung einen vertieften Einblick in den Konflikt um die Ideale während der Weimarer Republik. Bis in die zweite Hälfte der 1920er Jahre wollten Reformbefürworter das gesellschaftliche Ansehen der Institution Familie wie auch des BGB stabilisieren und stärken.366 Kahl ergänzte noch weitere Gründe. Er schilderte die Sichtweisen sowie Erfahrungen von Richtern, Rechtsanwälten und Rechtsprofessoren, die aufgrund der Praxis der Konventionalscheidung eine Reform für notwendig erachteten, da sie nicht in Einklang mit der Rechtslage stehe. Überdies zog Kahl – wie auch Lüders und der Sozialdemokrat Rosenfeld – in den Sitzungen des Rechtsausschusses zwischen Dezember 1926 und Februar 1927 juristische Expertise für einen Rechtsvergleich heran. Sie verwiesen auf die Schweiz, wo bereits 1907 Zerrüttung als Scheidungsgrund eingeführt worden sei. Zwischen 1918 und 1922 hätten zudem die Regierungen in Norwegen, der Tschechoslowakei, Schweden und Dänemark das Scheidungsrecht reformiert. Deutschland sei damit im internationalen Vergleich zurückgeblieben und müsse dies nun mit einer Scheidungsrechtsreform korrigieren.367 Im Unterschied zum Zentrum und 365

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Vgl. Blasius, Ehescheidung, 164f., 171, 174ff.; Wirsching, Weimarer Republik, 17; Kolb, Weimarer Republik, 76f.; Heinemann, Familie, 177; Mouton, Nurturing, 70; Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 143. Vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4877, Ehescheidungsreform, in: Frankfurter Zeitung, 30. März 1928, Bl. 1; BArch Berlin NS 5/VI/4877, Prof. Kahl über die Ehescheidungsreform, in: Der Deutsche, 27. Januar 1927, Bl. 116; BArch Berlin NS 5/VI/4877, Wenn Ehen zerrüttet sind, in: Vossische Zeitung, 26. Januar 1927, Bl. 117; ADW CA Gf/St 236, Der Stand der Verhandlungen über die Ehescheidungsreform. Die für die Ehescheidungsreform wichtigen §§ des BGB, ohne Ort, [1928], 16f.; BArch Berlin R 43I/1219, Niederschrift über die Sitzung des Rechtsausschusses des Reichstags am 25. Januar 1927, Berlin, 26. Januar 1927, Bl. 267–269; AddF, NL-P-11, 2M04, 125. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 10. Februar 1927, 5. Vgl. AddF, NL-P-11, 2M05, 113. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 9. Dezember 1926, 2; AddF, NL-P-11, 2M04, 124. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 8. Februar 1927, 2; AddF, NL-P-11, 2M04, 125. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 10. Februar 1927, 5; BArch Berlin NS 5/VI/4877, Ehescheidungsreform, in: Frankfurter Zeitung, 30. März 1928, Bl. 1; Prof. Kahl über die Ehescheidungsreform, in: Der Deutsche, 27. Januar 1927, Bl. 116; ADW CA Gf/St 236, Der Stand der Verhandlungen über die Ehescheidungsreform. Die für die Ehescheidungsreform wichtigen §§ des BGB, ohne Ort, [1928], 16. Ein Rechtsvergleich findet sich auch bei Munk. Vgl. Munk, Vorschläge, 20ff.

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der DNVP, welche die vom Ausland ausgehenden Veränderungen primär als Bedrohung einstuften, werteten sie die Abgeordneten Kahl, Lüders und Rosenfeld vorrangig als Chance für einen kulturellen Fortschritt. Wenn ihre Argumente auf die Kernaussagen reduziert werden, dann lassen sich drei immer wiederkehrende Muster bei den Befürwortern bestimmen. Sie rechtfertigten ihre Bemühungen mit einem Verweis auf die sozialen Praktiken. Außerdem begründeten sie die Reform mit wissenschaftlicher Expertise. Abschließend wollten sie die gesellschaftliche Bedeutung der Institutionen Ehe und Familie stärken, damit sie weiterhin orientierungsstiftend wirken könnten. Ein zentraler Unterschied betraf aber die Reichweite der Reform. Insbesondere Kahl steckte in den Debatten im Rechtsausschuss deutliche Grenzen ab und plädierte für eine „maßvolle Reform“. Damit blieben, so Kahl, die religiösen Ideale gewahrt. Auch könnten Ehe und Familie ihre Funktionen für die Gesellschaft erfüllen.368 Die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Lagern im Konflikt um die Reform des Ehescheidungsrechts traten wiederum an einem anderen Streitpunkt offen zutage. Während Kahl, Lüders und Pfülf das geänderte Verhalten der Ehepaare als Rechtfertigungsgrund anführten, negierten Weber und andere Katholiken dessen Gültigkeit in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Die Praktiken, so der Vorwurf des Zentrums, seien lediglich aus den Erfahrungen in Großstädten und deren „problematischen“ Verhältnissen abgeleitet worden. Das habe jedoch nichts mit der gesamtgesellschaftlichen Situation gemein. Insofern seien die Reformbestrebungen das Produkt einer verzerrten Wahrnehmung, hervorgerufen von der „Psychose der Grossstadtverhältnisse“,369 das jedoch nicht der sozialen Realität entspreche.370 Damit drehte Weber 1927 mit einem Verweis auf die sozialen Praktiken das Argument ins Gegenteil und argumentierte so gegen eine Reform des Scheidungsrechts. Die Befürworter und Gegner der Reform leiteten somit ihre Position jeweils vom sozialen Verhalten ab, bewerteten es aber erneut grundsätzlich anders. Zugleich hatte sich ihre Haltung im Vergleich zu den frühen 1920er Jahren deutlich radikalisiert, da entweder extreme Beispiele gewählt oder die jeweiligen Gegner rhetorisch scharf angegriffen wurden. Dies belegt unter anderem eine Stellungnahme des Deutschen Rechtsbundes vom Oktober 1928: Da das restriktive Scheidungsrecht die Scheidung zerrütteter Ehen verhindere, habe es „Tausende in Elend und Verzweiflung gestürzt, Tausende zum Selbstmord getrie-

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Vgl. BArch Berlin R 43I/1219, Niederschrift über die Sitzung des Rechtsausschusses des Reichstags am 25. Januar 1927, Berlin 26. Januar 1927, Bl. 269. Ebenda, Bl. 268. Vgl. ebenda. Zur Rezeption der Debatte in den Printmedien vgl. u. a. BArch Berlin NS 5/VI/4877, Prof. Kahl über die Ehescheidungsreform, in: Der Deutsche, 27. Januar 1927, Bl. 116.

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ben, Tausende zu Verbrechern gemacht“,371 lauteten die dramatisierenden Worte. Markante Worte wählte am Höhepunkt des Konfliktes um die Familie auch die Gegenseite. Insbesondere der einflussreiche DNVP-Abgeordnete von FreytaghLoringhoven stach mit seinem Artikel „Ehebolschewismus“ hervor. Bereits im Titel verwies von Freytagh-Loringhoven auf eine vermutete Bedrohung für die deutsche Familie aus dem Osten, insbesondere aus Russland. Zugleich blendete er die Unterschiede zwischen den Reformvorschlägen aus und warf Kommunisten, Sozialdemokraten, Demokraten und DVP, obwohl sich ausschließlich der DVP-Abgeordnete Kahl in dieser Frage zu Wort gemeldet hatte, pauschalisierend vor, sie wollten sowjetische Familienideale in Deutschland etablieren. Dadurch würden sie „die Grundlage unserer völkischen und staatlichen Existenz“372 erodieren und „die Ehe zu einem gesetzlich anerkannten Konkubinat herabwürdigen“.373 Während von Freytagh-Loringhoven hier nicht weiter darlegte, was er darunter im Detail verstand, lieferten Ausführungen seiner Parteikolleginnen Erna von Birckhahn und Magdalene von Tiling Klarheit. Letztere war zugleich eine bekannte evangelische Theologin. Für sie symbolisierte der Bolschewismus die radikalste Form der Individualisierung, die „Auflösung aller Bindungen des Menschen“.374 Damit bildete der Bolschewismus den Gegenpol zur von ihnen favorisierten Gemeinschaft, die gerade in der christlich-bürgerlichen Kernfamilie verwirklicht sei.375 „Individualismus“376 oder der „Egoismus als Volkskrankheit“377 firmierten in von Tilings und von Birckhahns Augen als Bedrohung für die Institutionen Ehe und Familie. Auch moderatere evangelische Theologen wie Otto Dibelius lehnten die Individualisierung als „die Idee des ‚eigenen Ich‘“378 371 372

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BArch Berlin R 3001/1402, Deutscher Rechtsbund, Betr.: Dringlichkeit der Reform des Ehescheidungsrechts, Dresden, 1. Oktober 1928. BArch Berlin NS 5/VI/4877, [Axel] Freiherr von Freytagh-Loringhoven, Ehebolschewismus, in: Schlesische Tagespost, 7. März 1928, erneut abgedruckt in: Der Anzeiger, 11. März 1928, Bl. 6. Ebenda. ADW CA Gf/St 238, D. Magdalene von Tiling, [Erna] von Birckhahn, Denkschrift des Reichsfrauenausschusses der Deutschnationalen Volkspartei zur Reform des Eherechts, ohne Ort, 3. März 1929, 2. Vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4877, [Axel] Freiherr von Freytagh-Loringhoven, Ehebolschewismus, in: Schlesische Tagespost, 7. März 1928, erneut abgedruckt in: Der Anzeiger, 11. März 1928, Bl. 6; Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode 1924. Bd. 395. Stenographische Berichte, Berlin 1928, 413. Sitzung am 29. März 1928, 13924A, in: http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_w3_bsb00000079_00000.html (letzter Zugriff am: 04.01.2019). Zu den Sprachbildern in Bezug auf den Kommunismus vgl. Mergel, Unknown, 246f. ADW CA Gf/St 236, D. Magd[alene] von Tiling, Ehe und Eherechtsreform, ohne Ort, ohne Datum, 11. Tiling, Staat, 105. BArch Berlin R 8034II/6086, Christentum und Eherechtsreform, ohne Ort, ohne Datum, Bl. 10.

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und die aus ihr hervorgehende Ehescheidung ab, da sie den deutschen Staat bedrohten. Ähnlich positionierten sich auch Katholiken wie der Nationalökonom Heinrich Lechtape.379 Erneut offenbarten sich damit dezidierte Unterschiede einerseits zwischen Kirchenvertretern und Nationalisten, andererseits aber auch innerhalb der evangelischen Kirche. Zugleich machten von Tiling und von Birckhahn deutlich, dass sie die Familie genauso wie das „Volk“ als Organismus verstanden: Sie sei eine „in sich geschlossene, selbständige organische Lebensform“,380 die als Institution im Dienste der „Volksgemeinschaft“ stehe. Aus der völkisch-nationalistischen Sicht der DNVP-Abgeordneten firmierte ebendieses Familienideal als Basis für die zukünftige Entwicklung der Nation. Ein reformiertes Scheidungsrecht würde demnach nicht nur den Zusammenhalt der Familie, sondern die Gemeinschaft der Nation bedrohen. Ihm müsse folglich mit aller Macht entgegengetreten werden: „Wenn die Ehe bolschewisiert und zum Konkubinat herabgewürdigt, die Familie zerstört wird, dann ist ein Wiederaufstieg Deutschlands unmöglich, dann gehen wir rettungslos zugrunde.“381 Damit definierten die DNVP-Mitglieder Familie ausschließlich als gesellschaftliche Institution, die Funktionen für die Gesellschaft übernahm. Individualinteressen der Familienmitglieder und emotionale Beziehungen innerhalb einer Lebensgemeinschaft Familie blieben demgegenüber unberücksichtigt. Auch Katholiken griffen in der Kontroverse um die Ehescheidungsreform auf ähnliche Sprachbilder zurück wie zum Beispiel Wilhelm Marx, der Anfang Dezember 1929 die Reformpläne als untragbar abkanzelte: Am Ende all dieser liberalen und liberalistischen Ideen steht eben zwangsläufig der Bolschewismus, stehen die russischen Zustände, wo die Ehe, die nichts anderes ist, als ein gewöhnlicher Vertrag, durch einfache Erklärung vor dem zuständigen Beamten gelöst werden kann!382

Marx setzte damit die in Deutschland diskutierten Vorschläge zur Liberalisierung des Scheidungsrechts mit den in Russland geltenden Bestimmungen gleich, wonach die Ehe jederzeit auf Wunsch eines Partners beendet werden konnte. 379

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Vgl. ADW CA Gf/St 238, D. Magdalene von Tiling, [Erna] von Birckhahn, Denkschrift des Reichsfrauenausschusses der Deutschnationalen Volkspartei zur Reform des Eherechts, ohne Ort, 3. März 1929, 1, 8; ADW CA Gf/St 236, D. Magd[alene] von Tiling, Ehe und Eherechtsreform, ohne Ort, ohne Datum, 11; BArch Berlin R 8034II/6086, Christentum und Eherechtsreform, ohne Ort, ohne Datum, Bl. 10; Lechtape, Krise, 343, 345. ADW CA Gf/St 238, D. Magdalene von Tiling, [Erna] von Birckhahn, Denkschrift des Reichsfrauenausschusses der Deutschnationalen Volkspartei zur Reform des Eherechts, ohne Ort, 3. März 1929, 8. BArch Berlin NS 5/VI/4877, [Axel] Freiherr von Freytagh-Loringhoven, Ehebolschewismus, in: Schlesische Tagespost, 7. März 1928, erneut abgedruckt in: Der Anzeiger, 11. März 1928, Bl. 6. BArch NS 5/VI/4878, [Wilhelm] Marx, Erleichterung der Ehescheidung?, in: Kölnische Volkszeitung, 2. Dezember 1929, Bl. 17.

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Dadurch verdeutlichte er, dass die Reformpläne in diametralem Gegensatz zum katholischen Eheverständnis standen.383 Zugleich schloss sich mit diesen Ausführungen der Argumentationszirkel der Katholiken. Bereits 1922 hatten gerade katholische Bevölkerungskreise die Befürchtung ausgesprochen, dass durch die Reform „die einseitige Lösung des Ehebandes ähnlich wie bei einem „Mietsund Heuerverhältnis“384 alltägliche Realität und die auf Lebenszeit angelegte Ehe zur „Zeitehe“385 reduziert würde. Damit galt weiterhin, dass das Sakrament der Ehe in den Augen gläubiger Katholiken nicht geschieden werden durfte. In diesem grundsätzlichen Punkt machten die Zentrumsabgeordneten keine Zugeständnisse und opponierten in den Jahren 1928 und 1929 immer wieder gegen die Reformbestrebungen. Sie versuchten zwischen Februar 1928 und April 1929 im Rechtsausschuss mehrmals, die Scheidungsrechtsreform von der Tagesordnung zu nehmen.386 Zunächst scheiterten sie mit ihrem Anliegen, doch am 5. November 1929 kam es in einer Sitzung des Rechtsausschusses schließlich zum Eklat. Die Zentrumsabgeordneten Johannes Bell, Helene Weber, Rudolf Schetter und Carl Diez betraten mit einer dreiviertelstündigen Verspätung den Sitzungssaal und gaben zu Protokoll: Die Zentrumsfraktion sei bei der Reichsregierung wegen der Behandlung der Ehescheidungsreform durch den Rechtsausschuss vorstellig geworden, habe aber bis jetzt noch keine Antwort erhalten. So lange das Zentrum nicht im Besitz einer Antwort sei, könne es nicht an den Beratungen des Rechtsausschusses teilnehmen.387

Im Anschluss an die Stellungnahme verließen die Zentrumsabgeordneten geschlossen den Sitzungssaal und infolgedessen entschied der Rechtsausschuss, die Scheidungsrechtsreform an einen Unterausschuss zu verweisen.388 Die Tageszeitungen berichteten ausgiebig über diese „Kampfansage“.389 Die Berliner 383

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Vgl. Heinemann, Familie, 146. Die Bedrohung der Familie in Deutschland durch das in der Sowjetunion etablierte Scheidungsrecht rezipierten Katholiken immer wieder. Vgl. u. a. Murawski, Katholische oder Kameradschaftsehe, 50. Bei der „Sowjet-Ehe“ handelte es sich um eine in den 1920er Jahren in der Sowjetunion etablierte, formlos geschlossene, bei den Behörden registrierte Ehe, die mit einer Erklärung eines der beiden Ehepartner wieder gelöst werden konnte. Vgl. BArch Koblenz B 141/36547, Vermerk, Betr.: Diskussion mit dem „Frauenparlament der Bild-Zeitung“ [25.3.1966], 1. BArch R 43/I/1219, Eherechtsrevolution [1922], Bl. 57. BArch R 3001/1407, [Hedwig] Dransfeld, Die Gesetzesentwürfe zur Ehescheidungsreform, in: Kölnische Volkszeitung, 18. Dezember 1922. Vgl. AddF, NL-P-11, 2M04, 158. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 28. Februar 1928, 1; AddF, NL-P-11, 2M04, 159. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege), III. Wahlperiode, Berlin, 6. März 1928, 1f. BArch Berlin R 43II/1521, Vermerk, Betrifft: Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege) am Dienstag, den 5. November 1929 vormittags 10 ¾ Uhr im Reichstag, Berlin, 5. November 1929, Bl. 81. Vgl. ebenda. BArch Berlin R 3001/1407, Um die Ehescheidung. Die Zentrumsmitglieder verlassen die Ausschusssitzung, ohne Ort, 5. November 1929.

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Volkszeitung nannte es eine „wirkungsvolle Theaterszene“.390 Mit ihrer Aktion führten die Zentrumsmitglieder den medialen Beobachtern wie auch den Ausschussmitgliedern eindrücklich vor Augen, dass das Zentrum gewillt sei, eine Reform des Scheidungsrechts mit allen Mitteln zu verhindern, wie dies Bell in einer Sitzung der Fraktionsführer am Tag nach dem Auszug selbst erklärte.391 Noch klarer brachte es der Fraktionsführer der BVP, Prälat Johann Leicht, auf den Punkt. „In grundsätzlichen Dingen gibt es keine Kompromisse“,392 erklärte er vor einer Versammlung der katholischen Arbeitervereine der Erzdiözese Bamberg. Vehement stemmten sich demnach die Vertreter des Zentrums, aber auch der BVP noch immer aus religiösen, sittlich-moralischen und nationalpolitischen Überlegungen gegen die Reform.393 Diese Position setzte sich schließlich innerhalb der Reichsregierung Anfang November 1929 mehrheitlich durch. Damit war die Scheidungsrechtsreform gescheitert.394

3.4 Öffentliche Diskussion alternativer Ehekonzepte 3.4.1 Das Modell der „Kameradschaftsehe“ und seine Adaption

In den Debatten um alternative Ehekonzepte diskutierten die zeitgenössischen Beobachter ebenfalls, inwiefern es sich bei der Familie um eine gesellschaftliche Institution oder um ein individuell ausgestaltbares soziales Beziehungsgefüge handele. Es ging damit erneut um das Verhältnis zwischen Gesellschaft und 390

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BArch Berlin R 3001/1407, Jetzt keine Krise! Ehescheidungs-Reform soll vertagt werden, in: Berliner Volkszeitung, 6. November 1929. Die Vossische Zeitung sprach von einem „sensationellen Vorgang“. BArch Berlin R 3001/1407, Konflikt um die Ehescheidung. Die katholischen Parteien opponieren, in: Vossische Zeitung, 5. November 1929. Vgl. BArch R 43/II/1521, Auszug aus der Niederschrift einer Fraktionsführerbesprechung am 6. November 1929, Bl. 88–89, hier Bl. 88. BArch NS 5/VI/4878, Die Ehescheidung als Sprengpulver. Zentrum und Bayerische Volkspartei arbeiten nicht mehr mit, in: Hamburgischer Correspondent, 5. November 1929, Bl. 28. Vgl. BArch NS 5/VI/4877, Prof. Kahl über die Ehescheidungsreform, in: Der Deutsche, 27. Januar 1927, Bl. 116; BArch NS 5/VI/4878, [Fritz] Bockius, Der Standpunkt des Zentrums. Zum Zentrumsprotest gegen die Erleichterung der Ehescheidung, in: Kölnische Volkszeitung, 9. November 1929, Bl. 24 (v.); BArch NS 5/VI/4878, [Wilhelm] Marx, Erleichterung der Ehescheidung?, in: Germania, 17. November 1929, Bl. 2; BArch R 43/I/1219, Niederschrift über die Sitzung des Rechtsausschusses des Reichstags am 25. Januar 1927, Bl. 267–269, hier Bl. 268. Vgl. BArch Berlin R 43II/1521, Niederschrift über die Parteiführerbesprechung beim Herrn Reichskanzler am Freitag, den 8. November 1929, nachm. 5 Uhr im Reichstagsgebäude, Bl. 91f. Siehe auch Niederschrift über die Parteiführerbesprechung beim Herrn Reichskanzler am 8. November 1929, abgedruckt in: Schubert (Hg.), Projekte, 643, 645.

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Individuum. Die Verfechter alternativer Ehekonzepte räumten den Individualinteressen der Familienmitglieder Vorrang gegenüber Staat und Nation ein. Diese Perspektive vertrat unter anderem die Juristin und Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung Marie Munk. Sie bezeichnete „die Ehe als die innigste geistige, seelische und körperliche Lebensgemeinschaft von Mann und Frau“, die auf „Gleichberechtigung“ und „Kameradschaftlichkeit“395 aufbaue. Gerade dem Begriff Kameradschaft und der daraus abgeleiteten „Kameradschaftsehe“ kommt für die 1920er Jahre eine besondere Bedeutung zu. Der nach dem Ersten Weltkrieg neu auftauchende Begriff „Kameradschaftsehe“ stand für ein neues Modell des Zusammenlebens erwachsener Menschen und entfaltete in den 1920er Jahren von allen alternativen Ehekonzepten die größte Reichweite. Der Erfolg dieses Modells resultierte vermutlich aus dem Umstand, dass unterschiedlichste Personengruppen „Kameradschaftsehe“ an die jeweiligen eigenen Familienideale anpassen konnten. Die „Kameradschaftsehe“ wirkte damit wie ein Sammelbegriff, der unterschiedlichste Familienvorstellungen zusammenführte. Diese Besonderheit arbeitete die Schriftstellerin Rosa Mayreder 1929 heraus.396 Welche unterschiedlichen Vorstellungen von „Kameradschaftsehe“ in den 1920er Jahren diskutiert wurden, lässt sich exemplarisch anhand zweier Denkrichtungen bestimmen. Zunächst ist das linke sozialdemokratische und sozialistische Milieu zu benennen, das sich wiederum aufspaltete in zwei Strömungen. Die beiden prominentesten Vertreter dieser Richtungen waren die Sozialdemokratin Sophie Schöfer auf der einen und der bekannte Sexualreformer bzw. das Mitglied der proletarischen Freidenker-Bewegung Paul Krische auf der anderen Seite. Die zweite Denkrichtung baute auf den Ansichten des USamerikanischen Jugendrichters und Sozialreformers Ben B. Lindsey auf. Er ging von einer liberalen sexuellen Einstellung der amerikanischen Jugendlichen aus, der nun mit einer sogenannten „Kameradschaftsehe“ ein rechtlicher Rahmen gegeben werden müsse. 1927 publizierte Lindsey zusammen mit Wainwright Evans seine theoretischen Überlegungen in der Monographie The Companionate Marriage, die zwei Jahre später unter dem Titel Die Kameradschaftsehe in der deutschen Übersetzung erschien. Sie prägte wie keine andere Publikation die Kontroversen um das Modell der „Kameradschaftsehe“, zumal sie an prominenter Stelle bei der Deutschen Verlags-Anstalt erschien und eine Auflage von 35.000 Exemplaren erreichte.397 Schon 1928 initiierte das Buch eine massive öffentliche Debatte, in der Zeitgenossen um die Frage rangen, wie Ehe und Familie ausgestaltet werden sollten. 395 396 397

Munk, Vorschläge, 5. Vgl. Mayreder, Krise, 62. Für eine Zusammenfassung der zeitgenössischen Debatte vgl. Eitz/Engelhardt, Diskursgeschichte (Bd. 2), 182–193. Vgl. Hagemann, Frauenalltag, 329; Heinemann, Familie, 143, 173f.; Lindsey, Revolution; ders./Evans, Kameradschaftsehe.

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Diese Kontroverse verstärkte sich mit der Übersetzung des Buchs im folgenden Jahr noch weiter. „Kameradschaft“ löste zunächst zu Beginn des 20. Jahrhunderts den vom englischen companion abgeleiteten Begriff des Gefährten ab, bevor er selbst nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Terminus „Partner“ ersetzt wurde. In den 1920er und frühen 1930er Jahren war Kameradschaft abhängig vom soziokulturellen Milieu unterschiedlich konnotiert und darin lag vermutlich einer der Gründe für die heftige Kontroverse um das Modell der „Kameradschaftsehe“. Für Nationalsozialisten stand die Kameradin ihrem Mann als Mutter an der Seite und erzog die ehelich gezeugten Kinder im Sinne der „Volksgemeinschaft“. Sie „opferte“ sich nach dieser Vorstellung für die Gemeinschaft. Zugleich verwies diese Vorstellung von Kameradschaft sowohl auf eine Unterordnung des Individuums gegenüber dem Staat als auch auf einen Zugriff in den Binnenraum der Familie. Demgegenüber standen andere Vorstellungen von Kameradschaft dafür, die Individualrechte der Familienmitglieder und ihren Handlungsspielraum zu erweitern.398 Insbesondere die Reformmodelle Schöfers und Krisches zielten auf eine gleichberechtigte Rollenverteilung. Allerdings ging Krische in seiner Forderung wesentlich weiter als Schöfer. Sie sprach sich für eine Gleichberechtigung der Frau in der Ehe aus, argumentierte dabei aber zugleich, dass sich die Ehepartner „kameradschaftlich“-partnerschaftlich ergänzen müssten. Krische hingegen plädierte dafür, dass sowohl Männer als auch Frauen einer Berufstätigkeit nachgehen und sich gemeinsam um Hausarbeit und Kindererziehung kümmern sollten. Kameradschaft definierte Krische dabei als „die Freundschaft zusammenlebender (camera = Stube, Stubengenosse).“399 Kameradschaft entsprang nach diesem Verständnis erst aus einer gleichberechtigt-partnerschaftlichen, also einer egalitären, und aus einer auf gegenseitiger Liebe basierenden Beziehung. Infolgedessen könne Kameradschaft auch nicht in einer christlich-bürgerlichen Ehe realisiert werden, da diese auf einem hierarchischen Geschlechterverhältnis aufbaue.400 Die zeitgenössischen Begrifflichkeiten wurden auch in der historischen Forschung diskutiert. Zum Beispiel spricht Ute Planert von der „neuen Vorstellung einer partnerschaftlichen Kameradschaftsehe“,401 die sich in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre verbreitet habe. Sibylle Steinbacher arbeitet heraus, dass damals die „Idee von der Kameradschaft der Geschlechter“ diskutiert worden und die „Kameradschaftsehe“ ein Produkt von „pragmatischen Erwägungen und 398 399 400 401

Vgl. Kühne, Kameradschaft, 92f., 95f.; Reese, Kameraden, 59. Krische, Soziologie, 55f. Vgl. Hagemann, Frauenalltag, 326, 330; Heinemann, Familie, 174f.; Kühne, Kameradschaft, 92; Schöfer, Eheproblem, 57; Krische, Frau; ders., Soziologie, 14, 55–59. Planert, Kulturkritik, 206. Ähnlich u. a. bei Heinemann, Familie, 173f., 295; Flemming/ Saul/Witt (Hg.), Familienleben, 8; Castell-Rüdenhausen, Familie, 65, 76.

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der Überzeugung von der Gleichberechtigung der Partner“402 gewesen sei. Im sozialdemokratischen Milieu „wurde die Familie als ‚partnerschaftliche Lebensgemeinschaft‘“403 angestrebt, resümiert Karen Hagemann mit einem Verweis auf Sophie Schöfer. Kameradschaftliches Verhalten fand sich vereinzelt im Alltag sozialdemokratisch geprägter Familien, wie Hagemann am Beispiel von Hamburg herausgearbeitet hat. Sie unterscheidet zwischen einer älteren, vor der Jahrhundertwende geborenen, und einer jüngeren Generation. Sicherlich versuchten vereinzelt Ehepaare aus der älteren Generation, meistens auf Initiative der Frau, die Familienbeziehungen stärker kameradschaftlich auszugestalten. Mehrheitlich sei hingegen der Lebensalltag sowohl von ungelernten Arbeitern als auch finanziell wohlhabenderen gelernten Arbeitern patriarchalisch-autoritär strukturiert gewesen.404 Auch in der jüngeren Generation sei dieses Verhalten konserviert worden. Allerdings orientierten sich nach Darstellung Hagemanns einzelne Ehepaare, insbesondere wenn sie einen Hintergrund in der Arbeiterjugendbewegung bzw. der sozialdemokratischen Frauenbewegung hatten, am Ideal einer gleichberechtigten Beziehung. Dass es sich hierbei lediglich um wenige Familien gehandelt habe, habe partiell an den Frauen, stärker jedoch an den Männern gelegen, die sich einer Veränderung verwehrten. Trotz dieser Einschränkung sei eine kameradschaftliche Beziehung zwischen den Ehepartnern in der jüngeren Generation durchaus zu finden gewesen. Meist habe es sich um Familien gehandelt, die dem sozialdemokratischen Milieu entstammten, mittlerweile aber zu Facharbeiter-, Angestellten- oder Beamtenfamilien sozial aufgestiegen waren. Dabei falle allerdings auf, dass sich diese Paare zwar mündlich zur Kameradschaft bekannten, dies aber nicht notwendigerweise im Alltag umsetzten.405 Die Historikerin Helene Albers greift diesen Topos in ihrer Studie zu Bäuerinnen in der Region Westfalen-Lippe zwischen den 1920er und 1960er Jahren ebenfalls auf. Sie arbeitet zunächst die in der Forschung übliche Dichotomie zwischen der „modernen, ‚partnerschaftlichen‘ Familie“ und der patriarchalischen bäuerlichen Familie heraus, die stärker auf einer sachlich-funktionalen denn auf einer emotional-individualisierten Beziehung basiere. Erst für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sei auch auf Bauernhöfen ein Trend zur partnerschaftlichen Beziehung festzustellen. Der Lebensalltag bäuerlicher Familien sei somit bis zur Jahrhundertmitte hinter diesem Ideal zurückgeblieben – die Ehefrau habe weder eine gleichberechtigte noch eine gleichwertige Position neben ihrem Ehemann 402 403 404 405

Steinbacher, Sex, 243. Auch Helene Albers spricht von einer „partnerschaftlichen ‚Kameradschaftsehe‘“. Albers, Hof, 192. Hagemann, Frauenalltag, 331f. Für dieses sozialdemokratische Ideal vgl. v. a. Schöfer, Eheproblem. Vgl. Rosenbaum, Typen, 260; Ehmer, Gesellen, 130–137; Hagemann, Frauenalltag, 157, 333f., 337ff., 348f.; Heinemann, Familie, 136ff. Vgl. Hagemann, Frauenalltag, 50, 157, 343–348f.

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eingenommen.406 Diese Darstellungen interpretieren die diskutierten Eheideale vor allem als Reform der Geschlechterbeziehungen. Indem Hagemann, Planert, Steinbacher und Albers „Kameradschaft“ mit „gleichberechtigter Partnerschaft“ gleichsetzen, akzentuieren sie allerdings lediglich einen Strang des zeitgenössischen Diskurses. Obwohl sich Kameradschaftlichkeit auf die innerfamiliale Rollenverteilung und damit auf die Frage der Gleichberechtigung bezog, meinte Kameradschaft im zeitgenössischen Verständnis weitaus mehr. Zum einen firmierten hierunter unterschiedlichste Vorstellungen von Ehe und Familie und eine partnerschaftliche Aufgabenverteilung in der innerfamilialen Praxis war nicht immer Teil des neuen Arrangements. Zweitens handelte es sich bei den alternativen Ehemodellen um revolutionäre Konzepte, da sie die Struktur der Ehe aufbrachen. Sie enthielten jedoch auch ein konservatives Element. So zielten sie nicht durchweg auf die Ablösung der Kernfamilie. Vielmehr sollten sie die Institutionen Ehe und Familie stärken. Da sie ihren Blickwinkel zudem einseitig auf die Ehe fokussierten, blieben davon abweichende familiale Lebensformen wie Alleinerziehende ausgespart. Insofern nahmen die alternativen Ehekonzepte eine ambivalente Rolle ein. Es handelte sich zwar um weitreichende Entwürfe für das gesellschaftliche Zusammenleben. Sie blieben dabei jedoch in Teilen tradierten Idealen verhaftet, da die Ehe den normativen Bezugspunkt bildete. Zugleich schlugen sich die von ihnen propagierten Praktiken lediglich vereinzelt im Lebensalltag nieder. Trotz dieser Einschränkungen trugen die alternativen Ehekonzepte in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre maßgeblich dazu bei, die gesellschaftlich verhandelten Familienideale zu beeinflussen. Schließlich waren sie im Diskurs unterschiedlichster Teilöffentlichkeiten allgegenwärtig. Lindseys Modell einer Kameradschaftsehe war im Unterschied zum sozialdemokratischen stärker eingebettet in die zeitgenössischen Auseinandersetzungen um die Folgen des Geburtenrückgangs, des Lebens in einem städtischen Umfeld, des Anstiegs der Ehescheidungen und des Einflusses der Entwicklungen in den USA und der Sowjetunion auf die Familie. Mit diesen Entwicklungen setzten sich noch andere Schriften auseinander, wie das Biologische Ehebuch des Sexualwissenschaftlers und Mediziners Max Marcuse, das Ehe-Buch des Philosophen Hermann Keyserling oder Die vollkommene Ehe des niederländischen Gynäkologen Theodor Hendrik van de Velde.407 Gerade Letzterer betonte in seinen äußerst populären Schriften die Bedeutung der Sexualität für das Funktionieren der ehelichen Beziehung und war in hohem Maße anschlussfähig an Lindsey.408 Beide beabsichtigten mit ihren Schriften, das Geschlechtsleben zu reformieren. 406 407 408

Vgl. Albers, Hof, 158f., 178. Vgl. Marcuse (Hg.), Ehe; Keyserling (Hg.), Ehe-Buch; Velde, Ehe; Frevert, Frauen-Geschichte, 185f.; Wienfort, Geschichte, 158. Vgl. Velde, Ehe; ders., Abneigung; ders., Fruchtbarkeit; ders., Erotik.

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Lindseys Hauptanliegen zielte gleichwohl vor allem darauf, die Institutionen Ehe und Familie zu stärken. Das sollte nach seinen Vorstellungen über ein intaktes Familienleben erreicht werden. Insbesondere jüngeren Paaren solle das Recht auf Korrektur ihrer Partnerwahl eingeräumt werden. Sollte ihr Zusammenleben scheitern, dann müsse gewährleistet sein, dass sich die Paare, sofern noch keine Kinder geboren wären, mit gegenseitigem Einverständnis jederzeit und ohne Unterhaltszahlungen scheiden lassen könnten. Kinderlosigkeit war damit ein zentraler Teil dieses Arrangements und ließ sich mit den Praktiken Empfängnisverhütung und Abtreibung verwirklichen.409 Lindsey beabsichtigte mit seinem Modell somit primär, die äußere Struktur von Ehe und Familie zu modifizieren. Gleichzeitig wollte er jedoch auch innerhalb der ehelichen Gemeinschaft Empfängnisverhütung als gängige Praxis etablieren. Er grenzte seine „Kameradschaftsehe“ aber auch von anderen Modellen wie der „Probeehe“ oder der „freien Liebe“ ab. Obwohl es durchaus Übereinstimmungen gebe wie die praktizierte Empfängnisverhütung, lägen dennoch gravierende Unterschiede hinsichtlich der persönlichen Einstellung zur Ehe vor, betonte Lindsey. Schließlich sei die Probeehe oft von Beginn an als „eine vorübergehende Episode“410 konzipiert. Sein Modell verstehe die Ehe hingegen prinzipiell als eine lebenslange Verbindung, die jedoch in einer „Kameradschaftsehe“ über ein paar Jahre auf ihren Zusammenhalt getestet werden müsse.411 Zugleich widersprach er dem Vorwurf, er begehe mit seinem Ehemodell „Rassenselbstmord“.412 Schließlich gewährleiste die Geburtenkontrolle, dass Kinder lediglich in gefestigten Ehen geboren würden. Sobald sich also die „Kameradschaftsehe“ bewährt hätte, sollte sie in eine „Familienehe“413 überführt werden. Dadurch sei auch, so Lindsey weiter, die „Qualität“414 des Nachwuchses, d. h. „erbgesunde“ Kinder, gewährleistet. Seine Argumentation schloss sich in diesem Punkt an die Sichtweise der Eugeniker während der 1920er Jahre an.415 Obwohl sich Lindsey bewusst von anderen Ehekonzepten abgrenzte, unterschieden sich die Modelle letztlich stärker durch den gewählten Präfix als durch die konzeptionelle Ausgestaltung. Zum Beispiel gehörten eine problemlose Scheidung und eine kostenlose Verfügbarkeit von Kontrazeptiva auch zum Modell der „Probeehe“, wie es der sozialistische Berliner Stadtschularzt Max Hodann konzipiert

409

410 411 412 413 414 415

Vgl. Lindsey/Evans, Kameradschaftsehe, 9, 170; Heinemann, Familie, 173f.; Hagemann, Frauenalltag, 329f. Auf Deutsch erschien Lindseys Arbeit 1929. Vgl. Lindsey/Evans, Kameradschaftsehe. Ebenda, 169. Vgl. ebenda, 11, 169f., 282. Ebenda, 280. Ebenda, 282. Ebenda, 280. Vgl. ebenda, 280–283.

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hatte.416 Auch die vom britischen Philosophen Bertrand Russell vorgeschlagene Trial Marriage verfolgte diese Intention.417 Dass die von Lindsey gewählten Distinktionsmerkmale seines Ehemodells verschwammen, lag an den unterschiedlichen seit der Jahrhundertwende diskursiv verhandelten Vorstellungen von Kameradschaft. Auch die sozialdemokratische Frauenbewegung konnte so Kameradschaft als Ideal einerseits rezipieren und andererseits parallel an die eigenen Wunschvorstellungen adaptieren. Für sie verwies Kameradschaft auf eine grundlegend anders geregelte innerfamiliale Rollenverteilung. Zentrale Elemente waren insbesondere Liebe und gegenseitiges Vertrauen wie auch die Vorstellung, dass es sich bei der Familie um ein gleichberechtigt kameradschaftlich ausgestaltetes Beziehungsgefüge zwischen Mann und Frau handele. Demgegenüber, so die Schriftstellerin Mayreder in ihrem Urteil über die „Kameradschaftsehe“, war dies nicht das Primärinteresse Lindseys gewesen. Er wolle Nachwuchs solange verhindern, bis sich die Ehe bewährt hätte. Infolgedessen argumentierte Mayreder, dass eher von einer „Präventivehe“418 als einer „Kameradschaftsehe“ gesprochen werden solle.419 Diese Unterscheidung rezipierten Sozialdemokratinnen jedoch nicht. Vielmehr rangen sie im Zusammenhang mit Kameradschaft um die Geschlechterrollen. Lediglich eine Minderheit argumentierte, dass die Frau dadurch gleichberechtigt neben den Mann trete, dass sie berufstätig sei. Erst dann könne von einer „Kameradschaftsehe“ im eigentlichen Sinn gesprochen werden. Die Mehrheit hingegen sah die Rollen der Frau in der Haushaltsführung und Kindererziehung. Gleichberechtigung konnte aus dieser Perspektive durch eine soziale Aufwertung der Hausarbeiten erreicht werden. Folglich blieb der Bezugspunkt für Sozialdemokraten in den 1920er Jahren mehrheitlich das Ideal der bürgerlichen Familie, bestehend aus einem verheirateten Ehepaar mit gemeinsamen Kindern und mit einer arbeitsteiligen Haushaltsführung. Zugleich weichten manche Sozialdemokraten, meist bessergebildete mit höherem Einkommen, diese starre Rollenverteilung durchaus auf.420 Sie setzten damit im Unterschied zu Lindsey die Veränderung primär innerhalb der Familie an. Die beteiligten Sozialdemokraten, meist Sozialdemokratinnen, tendierten 416 417 418 419

420

Vgl. Heinemann, Familie, 173f. Vgl. Russell, Marriage, 125, 129ff. Mayreder, Krise, 63. Vgl. Judith Grünfeld, Mütter und Töchter, in: Frauenwelt 6 (1929), 249, in: Flemming/ Saul/Witt (Hg.), Familienleben, 49; Margarete Kaiser, Kameradschaftsehe?, in: Die Neue Erziehung 11 (1929), 354f., in: Flemming/Saul/Witt (Hg.), Familienleben, 50f.; Mayreder, Krise, 60–63; Hagemann, Frauenalltag, 113, 117–132, 157, 162, 165, 307, 329ff.; Heinemann, Familie, 173f.; Castell-Rüdenhausen, Familie, 79. Vgl. Judith Grünfeld, Mütter und Töchter, in: Frauenwelt 6 (1929), 249, in: Flemming/ Saul/Witt (Hg.), Familienleben, 49; Hagemann, Frauenalltag, 113, 117–132, 157, 162, 165, 307, 328–331; Heinemann, Familie, 173f.

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dazu, die Familie als ein Beziehungsgefüge zwischen interagierenden Personen zu verstehen. Kameradschaft bezog sich hier vorrangig auf die innerfamiliale Rollenverteilung. Mit diesem Rollenmodell setzten sich in den 1920er Jahren auch Wissenschaftler wie der an der University of Chicago lehrende Soziologe Ernest W. Burgess auseinander. Erstmals vertiefte er 1926 in einem Aufsatz diesen Zugriff. Die Familie war demnach „a living, changing, growing thing“421 – ein Organismus, in dem jedes Mitglied eine spezifische Rolle übernehme. Das organische Beziehungsgeflecht Familie stehe zudem in Kontakt mit der Umwelt und ihrem soziokulturellen Kontext. Durch den doppelten Austausch – zwischen den Familienmitgliedern untereinander und mit der sozialen Umgebung – verändere sich die Familie ständig, schlussfolgerte Burgess. Infolgedessen wandelten sich auch die Rollen der Familienmitglieder. Diesen Grundgedanken entwickelte Burgess 1945 in seinem Buch The Family. From Institution to Companionship weiter: Es habe demnach in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit dem Übergang von einer agrarisch geprägten zu einer urbanen Gesellschaft, ein Wandel der Familie stattgefunden. Die Familie habe sich von einer Institution zu einem kameradschaftlichen Beziehungsgeflecht zwischen Personen entwickelt. Kameradschaft beziehe sich stärker auf gegenseitige Zuneigung, Sympathie, Verständnis und gemeinsame Interessen. Daraus erwachse Zusammenhalt, eine innerfamiliale Solidarität, die jeden die ihm zugewiesenen Rollen erfüllen lasse. Obwohl Burgess von „democratic relationships between husband and wife and parents and children“422 sprach, ging es bei diesem Familientyp weniger um eine egalitäre Rollenverteilung. Vielmehr solle jedes Familienmitglied die ihm zugedachten Geschlechterrollen erfüllen und dem jeweils anderen Wertschätzung entgegenbringen.423 Erneut zeigt sich hier der Interpretationsspielraum, welchen der Begriff Kameradschaft den Zeitgenossen in der Zwischenkriegszeit zur Verfügung stellte. Burgess’ Verständnis ähnelte mehr dem sozialdemokratischen Modell und weniger Lindseys Ansatz. Gleichwohl wies in den 1950er Jahren der Soziologe Gerhard Baumert auf ein Defizit in Burgess’ Ansatz hin. Er fokussiere ausschließlich auf die Familie als individuell ausgestaltbare Paarbeziehung. Jedoch weise die Familie einen Doppelcharakter auf, wonach sie sowohl ein Beziehungsgefüge sei, das auf emotionaler Verbundenheit basiere, als auch eine gesellschaftliche Institution.424 Unter Vertretern der katholischen Kirche wie Theologen, Pfarrern und kirchlichen Organisationen wie der Akademischen Bonifatius-Einigung stießen alle 421 422 423 424

Burgess, Family, 5. Ähnlich bei ders./Locke, Family, 335. Ebenda, 333. Vgl. Burgess, Family; ders./Locke, Family, VII, 333, 335, 350, 356. Zu den Ansätzen von Ernest W. Burgess vgl. Wagner, Ernest Watson Burgess. Vgl. Baumert, Familien, 138.

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diese Konzepte von „Kameradschaftsehe“ auf vehemente Ablehnung, da sie christlichen Familienidealen entgegenstanden.425 Die Kirchenvertreter widersprachen der Ansicht, dass Mann und Frau in der Familie gleichberechtigt seien. Gott habe die Frau als „Gehilfin“ und nicht als „Kameradin“426 des Ehemannes bezeichnet.427 Auch Anton Heinen lehnte ein kameradschaftliches Verhältnis zwischen den Ehepartnern wie auch zwischen Eltern und Kindern als unverträglich mit den katholischen Glaubensgrundsätzen ab.428 Die von Lindsey unterstützten Praktiken Empfängnisverhütung und Ehescheidung waren ebenfalls unvereinbar mit dem katholischen Eheverständnis. Das befeuerte die Abwehrhaltung zusätzlich. In diesem Zusammenhang sprachen Theologen beider großer Konfessionen erneut von einer „Krise der Familie“. Mit der Verbreitung der „Kameradschaftsehe“ als Lebensmodell würden „Verhältnisse“ oder „Konkubinate“ legitimiert, wodurch die tradierte christliche Familie als „Keimzelle“ von Staat und „Volk“ ihre Bedeutung verliere.429 Lindseys Thesen waren keinesfalls unumstritten – weder in Deutschland noch in den USA.430 Sie konnten also nie uneingeschränkte Gültigkeit beanspruchen. Gerade deswegen initiierten sie in beiden Ländern in den späten 1920er Jahren einen mehrjährigen Aushandlungsprozess, in dem sich Zeitgenossen unterschiedlichster Milieus kritisch mit ihnen auseinandersetzten. Lindsey traf mit seiner „Kameradschaftsehe“ auch noch aus einem anderen Grund den Nerv der Zeit. Die vom Krieg verursachten Unsicherheiten, die statistisch gemessenen Veränderungen wie der Geburtenrückgang oder der Anstieg der Ehescheidungen hatten in mehreren Arenen eine konfliktbehaftete Diskussion initiiert. Im Reichstag rangen vornehmlich Sozialdemokraten und Zentrumspolitiker um die 425

426 427 428 429

430

Vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4878, Könn, „Die Kameradschaftsehe“, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 61, 25. Januar 1929, Bl. 60; ders., „Die Kameradschaftsehe“, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 62, 25. Januar 1929, Bl. 61; BArch Berlin NS 5/VI/4878, Das Problem der christlichen Ehe. Dritter Verbandstag der akademischen Bonifatius-Vereinigung, in: Germania, 3. August 1929, Bl. 36. Meyer, Kameradschafts-Ehe, 29. Vgl. ebenda, 29f. Vgl. Heinen, Autorität, 52f. Für diese Argumentation vgl. u. a. BArch Berlin NS 5/VI/4878, [Fritz] Bockius, Der Standpunkt des Zentrums. Zum Zentrumsprotest gegen die Erleichterung der Ehescheidung, in: Kölnische Volkszeitung, 9. November 1929, Bl. 24; BArch Berlin NS 5/VI/4877, [Axel] Freiherr von Freytagh-Loringhoven, Ehebolschewismus, in: Schlesische Tagespost, 7. März 1928, erneut abgedruckt in: Der Anzeiger, 11. März 1928, Bl. 6; Hans Konrad in: Reichsbund der Kinderreichen, Grundlagen, 91; Harmsen, Bevölkerungspolitik, 29; ADW CA Gf/St 238, D. Magdalene von Tiling, [Erna] von Birckhahn, Denkschrift des Reichsfrauenausschusses der Deutschnationalen Volkspartei zur Reform des Eherechts, ohne Ort, 3. März 1929, 1; Helene Weber, Die Ehescheidungs-„Reform“ im Reichstag. Eine politische Auseinandersetzung, in: Die Christliche Frau 28 (1930), 6f., in: Flemming/Saul/Witt (Hg.), Familienleben, 27; Füllkrug, Ehe, 89; Stahl, Sorge, 76f. Vgl. Schlipköter/Böhme, Einführung, 6–9.

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Fragen, wie Ehe und Familie im Hinblick auf ihre äußere Struktur und die innerfamilialen Rollen auszugestalten seien und wie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft geregelt werden müsse. In der allgemeinen öffentlichen Debatte diskutierten diese Themen wiederum vor allem Vertreterinnen der Frauenbewegung und Vertreter der katholischen Kirche. In diesen Kontext war Lindseys Konzept eingebettet. Dabei ging es auch um die Relevanz seines Modells für den Lebensalltag. Als Jugendrichter hatte Lindsey Erfahrung mit den von jungen Erwachsenen praktizierten Formen des Zusammenlebens gesammelt, woraus er die Notwendigkeit einer Reform in den USA ableitete: Die Kameradschaftsehe ist bei uns bereits eine im gesellschaftlichen Leben festbegründete Tatsache. Sie wird von der Gesellschaft anerkannt. Genügend aufgeklärte Leute führen überall kinderlose Ehen oder beschränken die Zahl der Geburten, ohne sich öffentlichen Tadel zuzuziehen; sie setzen auch, wenn beide Teile einverstanden sind, jederzeit eine Scheidung durch unter Umgehung des Gesetzes.431

Folglich beabsichtigte Lindsey mit seinem Modell, die gesetzlichen Bestimmungen nachträglich an das soziale Verhalten, insbesondere an das von Akademikern und Kaufmännern der Mittelschicht, anzupassen. Demnach initiierte eine kleine soziale Gruppe die emanzipatorischen sozialen Veränderungsprozesse, die nun allen Bürgerinnen und Bürgern zugänglich gemacht werden sollten.432 Obwohl zeitgenössische Beobachter glaubten, dass Lindseys Modell eher in die USA passe als nach Deutschland, verschlossen sie sich seinen Überlegungen nicht. Die Sozialarbeiterin Hedwig Schwarz433 vertrat die Ansicht, dass Lindseys „Kameradschaftsehe“ durchaus auf den gesellschaftlichen Alltag in Deutschland übertragen werden könne. Dieses Modell sei schließlich an „jugendliche, wirtschaftlich noch abhängige oder charakterlich noch unreife Menschen“434 adressiert – gerade in deutschen Städten handele es sich hier um eine große soziale Gruppe. Ihnen ermögliche das Modell der „Kameradschaftsehe“, das bereits praktizierte unverheiratete und kinderlose Zusammenleben zu legalisieren. Einen negativen Effekt auf die allgemeine Geburtenentwicklung prognostizierte Schwarz dabei nicht. Lediglich im Lebensabschnitt von 20 bis 30 Jahren würden sich Paare gegen Kinder entscheiden, anschließend jedoch Familien gründen.435 Mit der „Kameradschaftsehe“ könnten sich sogar Paare in diesem Lebensabschnitt zu 431 432 433

434 435

Lindsey/Evans, Kameradschaftsehe, 9. Vgl. ebenda, 9, 180. Schwarz im Wortlaut: „Das ganze Buch ist echt amerikanisch unsystematisch, lebensnah, praktisch und optimistisch.“ ADW CA Gf/St 241, Hedwig Schwarz, Die Kameradschaftsehe, ohne Ort, ohne Datum. Ebenda. Ähnlich bei BArch Berlin NS 5/VI/4878, Dorothea Hassmüller, Nicht Entwürdigung, sondern Aufwertung der Ehe!, in: Kölnische Zeitung, 3. März 1930, Bl. 9. Vgl. ADW CA Gf/St 241, Hedwig Schwarz, Die Kameradschaftsehe, ohne Ort, ohne Datum; Schönwiese, Hedwig, in: http://www.deutsche-biographie.de/sfz115533.html (letzter Zugriff am: 04.01.2019).

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einer früheren Heirat entschließen, mutmaßte die Schriftstellerin Mayreder. Schließlich entkoppele dieses Modell das Tandem Heirat und Zeugung von Nachwuchs.436 Diesen positiven Effekt der „Kameradschaftsehe“ auf die Jugend negierten demgegenüber Kirchenvertreter. Katholische Theologen betonten, dass Lindseys Reformmodell auf die Bedürfnisse protestantischer Jugendlicher in den USA, nicht aber auf die Wünsche junger deutscher Katholiken zugeschnitten sei.437 Die deutschen Protestanten argumentierten demgegenüber anders. Sie lehnten die „Kameradschaftsehe“ grundsätzlich als „etwas absolut Undeutsches“438 ab. Trotz dieser Unterschiede bauten beide Gruppierungen erneut den Topos von der Bedrohung der deutschen Familie durch Entwicklungen im Ausland auf.439 Es würden sowohl die von den USA ausgehenden „rationalistischaufklärerisch[en]“ Tendenzen als auch die in Russland praktizierte subjektive „individualistische“ Orientierung das Ideal der Gemeinschaft gefährden, wie es der deutschen Familie zugrunde liege.440 Der populäre christliche Natur- und Kulturphilosoph Eberhard Dennert schloss sich dieser negativen Sicht an und interpretierte die ablaufenden Prozesse als eine nietzscheanische „Umwertung bisheriger moralischer Werte“,441 an deren Ende die biologische, völkische und religiös-ethische Basis erodiert sein werde. Damit verdichteten sich in den Debatten um die „Kameradschaftsehe“ die Kontroversen um das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum. Umso schwerer wog die wahrgenommene Bedrohung für zahlreiche Katholiken und Protestanten, als sie beobachteten, dass seit dem Ersten Weltkrieg immer mehr Paare unverheiratet zusammenlebten. Gegen Ende der 1920er Jahre habe sich aus ihrer Perspektive die Situation sogar noch wesentlich verschlimmert. Dass „ehedem die Dinge sich mehr im Verborgenen, in der Heimlichkeit abspielten, während heute die Sünde frech auftritt, ja sogar gesetzliche Anerkennung fordert“,442 stellten sie 1929 fest. Katholiken und Protestanten kritisierten damit gerade die gewandelte Praxis, die Lindseys Modell rechtlich einzuhegen ver-

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440 441

442

Vgl. Mayreder, Krise, 60ff. Vgl. Murawski, Katholische oder Kameradschaftsehe, 51. Füllkrug, Ehe, 91. Vgl. ADW CA Gf/St 241, Protokoll über die Versammlung über die „Kameradschaftsehe“ am 29. Oktober 1928 in Berlin, 6ff.; BArch Berlin NS 5/VI/4878, Könn, „Die Kameradschaftsehe“, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 62, 25. Januar 1929, Bl. 61; Schreiner, Neugestaltung, 17; Fix, Schreiner, Helmuth Moritz; Meyer, Kameradschafts-Ehe, 16. Vgl. Schnippenkötter, Familie, 206–212; Fresenius, Ehe, 30f. Dennert, Lindseys Kameradschaftsehe, 5. Ähnliche Worte wählte Mayreder. Sie sprach von einem „Zusammenbruch aller überlieferten Werte“. Wenngleich berücksichtigt werden muss, dass sich ihre Interpretation grundlegend von Dennerts unterschied. Mayreder, Krise, 1. Meyer, Kameradschafts-Ehe, 4.

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suchte.443 Gleichwohl war das unverheiratete Zusammenleben lediglich für eine kleine soziale Gruppe typisch. „Kameradschaftsehe“ als Lebensmodell wurde jedoch gesamtgesellschaftlich verhandelt und entfaltete so eine große Reichweite. Beobachter aus den verschiedensten Milieus diskutierten über die Reformkonzepte nicht nur das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, sondern auch die Frage, ob die Modelle die Chance auf Veränderung in sich bargen oder eine Gefahr für die Gesellschaft darstellten. Wie eng die wahrgenommenen gesellschaftlichen Veränderungen und die alternativen Ehekonzepte aufeinander bezogen waren, zeigt eine Tagung des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform am 17. Oktober 1928 in Berlin. Die Teilnehmer diskutierten intensiv über Lindseys Modell und schlugen den Bogen zum wahrgenommenen „Eheproblem“,444 wie es schon Sophie Schöfer 1922 angesprochen hatte. Der Arzt und Sexualreformer Felix A. Theilhaber und die Schriftstellerin Lola Landau urteilten aus zwei Gründen positiv über Lindseys Ideal. So könnten Paarbeziehungen durchaus scheitern, weshalb eine Ehescheidung in dieser Situation eine wichtige Funktion erfüllen würde. Gleichzeitig gehe damit eine Reform der innerfamilialen Rollenverteilung einher. Lindseys Ehemodell sollte mehr Paare dazu bringen, ein „kameradschaftliches Zusammenleben“445 zu praktizieren. Gerade deswegen sei dieses Ehemodell für Studentinnen und Studenten so attraktiv.446 Auf einer weiteren öffentlichen Veranstaltung zur „Kameradschaftsehe“ im „zweiten Rathaus“ in Berlin am 29. Oktober 1928 benannte der Kommunist Adolph Hoffmann mit der Arbeiterschaft eine weitere Gruppe, zu deren individuellen Lebensentwürfen die „Kameradschaftsehe“ passe. Auch sie würden mittlerweile um das 30. Lebensjahr heiraten und erst anschließend Kinder bekommen. Diesen Paaren eröffnete nach Ansicht Hoffmanns das Konzept der „Kameradschaftsehe“ somit die Möglichkeit, ihre Beziehung zu legalisieren, ohne dass sich daran eine Familiengründung anschließen musste.447 Hoffmann, Theilhaber und Landau favorisierten die „Kameradschaftsehe“, weil dieses Modell – in seinen unterschiedlichen Varianten – für den Lebensalltag gerade von Studierenden und der Arbeiterschaft im Alter von 20 bis 30 Jahren praktikabel schien. Für sie eröffneten die Ehemodelle eine Chance auf Veränderung. 443 444 445 446

447

Vgl. ebenda, 3ff., 8, 12f., 18, 24, 28. ADW CA Gf/St 241, Felix A. Theilhaber, Kameradschaftsehe, in: Sexual-Hygiene, Jg. 1, Nr. 2 (1928); Schöfer, Eheproblem. ADW CA Gf/St 241, Lola Landau, Kameradschaftsehe, in: Sexual-Hygiene, Jg. 1, Nr. 2 (1928), 11–13, hier 11. Vgl. ADW CA Gf/St 241, Felix A. Theilhaber, Kameradschaftsehe, in: Sexual-Hygiene, Jg. 1, Nr. 2 (1928); ADW CA Gf/St 241, Lola Landau, Kameradschaftsehe, in: Sexual-Hygiene, Jg. 1, Nr. 2 (1928), 11–13. Vgl. ADW CA Gf/St 241, Protokoll über die Versammlung über die „Kameradschaftsehe“ am 29. Oktober 1928 in Berlin, 5f.

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Für die Vertreter des Ideals der christlich-bürgerlichen Kernfamilie hingegen ging hiervon eine Bedrohung aus, wie es der evangelische Prälat Helmuth Schreiner448 auf der Veranstaltung im Berliner Rathaus darlegte. Er lehnte die „Kameradschaftsehe“ als Lebensmodell ab, da sie die Krise der Familie nicht lösen, sondern sogar noch verschärfen werde. Die Geburtenkontrolle sei ein „Betrug der Natur und Verrat gegenüber den vielen, deren Berufung zur Mütterlichkeit dabei unterschlagen wird“.449 Diese Ansicht teilte der Kulturphilosoph Dennert und verknüpfte die religiöse Position zur Empfängnisverhütung in seinem Œuvre mit biologischen und ethischen Argumenten.450 Er klassifizierte dabei Enthaltsamkeit als ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal des Menschen vom Tier. Dennert warf Lindsey vor, dass er den animalischen Trieb der Brunst überbetone und so die Grenze zwischen Mensch und Tier verwische. Zudem sah er die Berufung der Ehefrau aufgrund ihrer biologischen Disposition in der Mutterschaft. Implizit bedeutete dies, dass sie sich dem Mann unterordnen musste.451 In diesem Punkt deckten sich die Positionen Schreiners und Dennerts zur „Kameradschaftsehe“: Die familialen Praktiken der Kameradschaftsehe seien mit christlichen Familienidealen unvereinbar. Helene Weber warf in diesem Zusammenhang den Verfechtern der „Kameradschaftsehe“ vor, dass sie letztlich zur Erosion des „Familiengedanken[s]“452 beitrügen. Dass sich die Familie für beide Kirchen erst über Ehe und Elternschaft konstituiere, machte auch der Psychologe Willy Hellpach auf einer Tagung des evangelischen Reichselternbundes klar. Er zielte in seinen Ausführungen jedoch noch auf einen weiteren Aspekt ab und fragte, welche Folgen die Geburt eines Kindes für eine Paarbeziehung habe. Selbst stabile Beziehungen würden nach der Erstgeburt auf eine enorme Belastungsprobe gestellt. Das lasse sich jedoch in einer kinderlosen „Kameradschaftsehe“ keinesfalls erproben.453 Obwohl Lindsey reklamiere, sich mit seinem Modell an der Lebenswirklichkeit zu orientieren, bleibe es gerade in diesem entscheidenden Punkt hinter dem lebensweltlichen Alltag zurück. Gleichzeitig verdeutlichen Hellpachs Ausführungen, wie stark die tradierte christlich-bürgerliche Kernfamilie als Referenzpunkt zur Bewertung alternativer Ehekonzepte diente. Schon allein deswegen blieb eine Annäherung an die „Kameradschaftsehe“ als Lebensmodell ausgeschlossen. 448 449 450 451 452

453

Vgl. Fix, Schreiner, Helmuth Moritz. ADW CA Gf/St 241, Protokoll über die Versammlung über die „Kameradschaftsehe“ am 29. Oktober 1928 in Berlin, 7. Dennert bezeichnete die Geburtenkontrolle als „biologisch durchaus unnatürlich“ und ein „Verbrechen an der Natur“. Dennert, Lindseys Kameradschaftsehe, 16. Ebenda, 16ff. Helene Weber, Die Ehescheidungs-„Reform“ im Reichstag. Eine politische Auseinandersetzung, in: Die Christliche Frau 28 (1930), 6f., in: Flemming/Saul/Witt (Hg.), Familienleben, 27. Vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4516, Willy Hellpach, Familie und Volk, in: Bevölkerungspolitik, ohne Datum, Bl. 11; Witte, Hellpach, Willy.

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3.4.2 Reformanstrengungen bürgerlicher Familienvorstellungen Ende der 1920er Jahre

Als im Anschluss an Lindseys „Kameradschaftsehe“ die interessierte Öffentlichkeit und die Medien weitere revolutionäre Ehekonzepte verhandelten, erhöhte sich zunächst auf Seiten der Kirchenvertreter der Widerstand.454 Besondere Aufmerksamkeit erhielt in der Kontroverse die Arbeit Ehe auf Zeit von der Autorin Charlotte Buchow-Homeyer aus dem Jahr 1928. Ihr Ehemodell war als „Lebensgemeinschaft von Mann und Weib für eine gesetzlich zu bestimmende begrenzte Zeitspanne“455 konzipiert. Buchow-Homeyers Ideal wies damit zwei zentrale Wesensmerkmale auf. Zunächst definierte es Ehe primär über die individuelle Beziehung des Paares und nicht über die institutionelle Verbindung eines Ehebandes. Außerdem sollte die Dauer der Ehe fest fixiert und die Möglichkeit einer vorzeitigen Trennung ausgeschlossen werden – hier unterschied es sich von Lindseys „Kameradschaftsehe“. Lediglich in besonderen Fällen wie Alkoholismus, Geschlechts- und Geisteskrankheit konnte die Ehe vorzeitig geschieden werden. Buchow-Homeyer schlug eine Richtmarke von fünf Jahren vor, die sich aber bei Geburt eines Kindes automatisch um jeweils acht Jahre verlängerte. Sie arbeitete noch einen weiteren Punkt heraus. Ähnlich wie bei Lindsey sollte zudem die Möglichkeit bestehen, die „Zeitehe“ in eine „Dauerehe“456 umzuwandeln; umgekehrt dürfe dies jedoch nicht geschehen. Demnach handelte es sich bei einer „Zeitehe“ ebenfalls um eine Vorform der traditionellen Ehe.457 Die katholische Kirche stimmten solche Bekenntnisse zum Ideal der tradierten Ehe in ihrem Urteil nicht milde. Wie schon bei der Reform des Scheidungsrechts lehnten sie zum Schutz der Frau auch dieses Reformkonzept ab. Ein Ehemann müsse schließlich lediglich die vorgegebenen zeitlichen Fristen verstreichen lassen, dann würde er seine Frau „‚automatisch‘ los.“458 Der vielleicht radikalste Teil von Buchow-Homeyers Reformvorstellungen betraf die gleichberechtigte innerfamiliale Rollenverteilung. Die Autorin forderte ausdrücklich, dass zwei „freie, völlig gleichberechtigte und gleichverpflichtete Menschen“459 eine Beziehung eingingen, die jedoch nicht zwangsläufig auch in einer „Hausgemeinschaft“460 leben müssten.461 Dieses Ansinnen war in einem entscheidenden Punkt radikaler als zahlreiche andere Reformmodelle: Buchow454 455 456 457 458 459 460 461

Vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4878, Maria Alte v. Rhoeden, Ehe-Reform?, in: Der Jungdeutsche, 19. Januar 1929, Bl. 64; Krische, Jugendehe; Dehmel, Revolution, 35f. Buchow-Homeyer, Zeitehe, 97. Ebenda. Vgl. ebenda, 96ff., 123f. Schreiner, Neugestaltung, 16. Buchow-Homeyer, Zeitehe, 124 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Ebenda. Vgl. ebenda, 96ff., 123f.

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Homeyers Vorschlag intendierte, sowohl die innerfamilialen Rollenmodelle als auch die äußere Struktur der Lebensgemeinschaft Ehe aufzubrechen. Ähnlich radikal argumentierte der französische Kommunist George Anquetil in seinem Werk Ehen zu dritt, in dem er das „Recht auf die Geliebte“ einforderte. In Deutschland berichteten Medien, dass dieses Buch eine Auflage von mehr als 700.000 Exemplaren erreicht hatte und Anquetil darin für „die offizielle Einführung der Polygamie Propaganda macht“.462 In seinen Ausführungen orientierte sich Anquetil am sowjetischen Eheideal, das 1917 etabliert worden war. Erneut rezipierten damit auch deutsche Medien, wie Zeitgenossen in anderen Ländern über die Ausgestaltung von Ehe und Familie rangen. Auch der radikale US-amerikanische Reformer Victor Francis Calverton favorisierte in seiner Arbeit Bankrott der Ehe das sowjetische Eheideal. Allerdings stießen beide Positionen unter deutschen Beobachtern jenseits der kommunistischen Partei auf scharfe Kritik, da sie letztlich zur „Auflösung der Ehe überhaupt“463 führen würden.464 Diesen Debatten über alternative Ehekonzepte, die sich zum Ende der 1920er Jahre deutlich radikalisierten, verschlossen sich auch einige Katholiken nicht. Erstmals setzte im katholischen Milieu ein vorsichtiger Wandel ein. Der allgemeine Bezugsrahmen – die christlichen Familienideale – blieben jedoch gewahrt. Der Artikel Revolutionierung der Ehe des Theologen und Publizisten Matthias Laros, der 1930 in der Zeitschrift Hochland erschien, nahm in der Debatte eine Schlüsselrolle ein. Indem er eine Krise der Ehe konstatierte und daraus eine „Lebenskrisis des deutschen Volkes“465 ableitete, schloss er mit seinem Artikel an bereits zuvor immer wieder artikulierte Positionen der katholischen Kirche an. Aber die Krise vermochte in den Augen Laros’ auch Veränderungsprozesse zu initiieren. Er plädierte dafür, sich kritisch damit auseinanderzusetzen. Dass dabei enge Grenzen gewahrt werden müssten, machte Laros 1936 in einem weiteren Aufsatz klar. Er lehnte darin Reformkonzepte wie „Kameradschaftsehe“ und „Ehe auf Probe“ ab, sprach in diesem Zusammenhang sogar – in Anlehnung an Oswald Spengler – vom „Untergang des Abendlandes“.466 462 463 464

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BArch Berlin NS 5/VI/4878, Könn, „Die Kameradschaftsehe“, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 62, 25. Januar 1929, Bl. 61. BArch Berlin NS 5/VI/4878, Dorothea Hassmüller, Nicht Entwürdigung, sondern Aufwertung der Ehe!, in: Kölnische Zeitung, 3. März 1930, Bl. 10. Vgl. ebenda; Anquetil, Ehen, 7; BArch Berlin NS 5/VI/4878, Könn, „Die Kameradschaftsehe“, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 62, 25. Januar 1929, Bl. 61; Calverton, Bankrott; Harmsen, Kampf, 125; Calverton, V[ictor] F[rancis]. Papers, 1923–1941, hg. v. Michael Nash/Valerie Wingfield, New York 1991, in: http://archives.nypl.org/uploads/collection/ pdf_finding_aid/calvertonvf.pdf (letzter Zugriff am: 04.01.2019). Laros, Revolutionierung, 193. Laros, Beziehung, 14. Zu Oswald Spenglers Deutung vgl. Graf, Zukunft, 83–86, 104–111.

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Da die Ehe als Lebensmodell nach katholischem Verständnis nicht zur Diskussion stand, erfolgte die Annäherung der katholischen Kirche an den zeitgenössischen Diskurs auf einer anderen Ebene: Katholiken diskutierten, wie das Eheleben anders ausgestaltet werden könne. Veränderung setzte damit abermals innerhalb der Familie ein. Die Haltung der katholischen Kirche zu diesen neuen Positionen blieb gleichwohl zurückhaltend, wenngleich Einzelpersonen wie der Theologe Laros sich hier anders positionierten. Schon im Anschluss an den Ersten Weltkrieg war es innerhalb der katholischen Kirche zu einer Auseinandersetzung gekommen, inwiefern die Zeugung von Nachwuchs das primäre Ziel einer Ehe sei und wie sich hierzu die Liebe der Ehepartner zueinander verhalte. Die personale Sichtweise auf die Ehe griffen unter anderem der Moraltheologe Mausbach und vor allem der katholische Philosoph Dietrich von Hildebrand auf. Auf dem Freiburger Katholikentag 1929, der unter dem Motto Rettung der christlichen Familie stand, wurde die Bedeutung der Ehe intensiv öffentlich diskutiert. Während der renommierte katholische Theologe Karl Adam ausführte, dass der Zweck der Ehe in der Zeugung von Kindern liege, vertrat hingegen die Zentrumsabgeordnete Maria Heßberger die Ansicht, es handele sich vorrangig um die Lebensgemeinschaft von Mann und Frau. Erst danach gehe es bei der Ehe um die Zeugung von Nachwuchs. Diese Ansicht teilte die Mehrheit der Tagungsteilnehmer. Laros vertrat ebenfalls diese Position und betonte, dass die Liebe der Ehepartner zueinander neben der Kinderzeugung von zentraler Bedeutung für die Ehe sei: „Liebe ist das Konstitutiv der Ehe.“467 Gleichzeitig deutete Laros damit eine Doppelperspektive auf Ehe und Familie an: Es handele sich hierbei nicht nur um eine gesellschaftliche Institution, sondern auch um ein Beziehungsgefüge, das subjektiv – über Liebe – mit Sinn versehen werde.468 Diese Verschiebung innerhalb der Kirchen rezipierte Marianne Weber. Sie beobachtete, dass mittlerweile sogar „christliche Kreise [. . . ] die überlieferte Ethik“469 zur Diskussion stellen würden, d. h. die ausschließlich auf die Zeugung von Nachwuchs reduzierte Funktion von Sexualität. Zwar sei dieses Ideal in der sozialen Praxis stets nur von Teilen der Gesellschaft berücksichtigt worden, ergänzte Weber. Gleichwohl hätten es dennoch alle Gesellschaftsteile als normative Vorgabe für die individuellen Handlungsmaximen anerkannt. Eben das sei mittlerweile

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Laros, Revolutionierung, 200. Vgl. ebenda; Rauch, Revolutionierung; Adam, Weihe, 155; Heinemann, Familie, 166–169; Rölli-Alkemper, Familie, 40f.; Kleindienst, Partnerschaft, 49–54; Gruber, Christliche Ehe, 108–118; Lüdecke, Eheschließung, 132–136; Mieth, Geburtenregelung – bis „Humanae vitae“, 28ff. Zur Position Laros’ und von Hildebrands vgl. Lüdecke, Eheschließung, 130; Kleindienst, Partnerschaft, 49; Gruber, Christliche Ehe, 109; Mieth, Geburtenregelung – bis „Humanae vitae“, 29; Lüdecke, Eheschließung, 132–137. Weber, Ideale, 51.

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nun aber nicht mehr der Fall. Selbst innerhalb der katholischen Kirche habe ein – wenn auch im Vergleich zu den Protestanten vorsichtigeres – Umdenken eingesetzt.470 Am 31. Dezember 1930 reagierte schließlich Papst Pius XI. auf die Veränderungen und erließ mit der Enzyklika Casti connubii die katholischen Leitsätze zu Ehe und Familie, die insbesondere die an diese Institutionen gebundenen Rechte und Pflichten diskutierte. Dazu zählte neben der gegenseitigen Treue der Partner und damit der Einhaltung des Ehevertrags die Zeugung und Erziehung von Kindern. Laros’ kontroverser Artikel war einer von drei wichtigen Faktoren, der maßgeblich die Amtskirche zu diesem Schritt veranlasst hatte. Zweitens hatte die Lambeth-Konferenz der anglikanischen Kirche im Jahr 1930 die katholische Kirche beeinflusst, da die englischen Bischöfe Empfängnisverhütung in bestimmten Fällen als geboten bezeichneten und darüber hinaus die Bedeutung einer gleichberechtigteren Partnerschaft herausstellten. Der Freiburger Katholikentag muss ebenfalls berücksichtigt werden, da dort katholische Laien im Unterschied zu Adam erstmals die Bedeutung der Liebe für die eheliche Verbindung betont hatten.471 Die Enzyklika definierte die Ehe als eine von Gott gegebene und damit unauflösliche Institution, die der Familie vorgelagert sei. Erst bei Geburt eines Kindes ging die Lebensgemeinschaft eines verheirateten Ehepaares in eine Familie über. In diesen Punkten vertrat die Kirche weiterhin die schon im 19. Jahrhundert fixierten Positionen. In anderer Hinsicht modifizierte sie ihre Haltung, da sie Liebe als Element einer Ehe anerkannte. Zugleich verstärkte die Kirche jedoch auch ihre Abwehrhaltung gegen die gesellschaftlichen Veränderungen, da sie mit dem Schreiben Empfängnisverhütung kategorisch ausschloss. Insofern ging von der Enzyklika ein ambivalentes Signal aus. Aber indem die katholische Kirche Liebe als Teil einer Ehe bejahte, hatte sie sich somit in einem Punkt den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen geöffnet. In einem anderen entscheidenden Aspekt sprachen sich die Kirchenvertreter gegen eine Veränderung aus: Die christlichen Ideale von Ehe und Familie standen nicht zur Disposition.472

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Vgl. ebenda, 51–57. Weber referierte auch auf dem Juristentag 1931 über ihr Eheideal. Vgl. Schwab, Gleichberechtigung, 800. Vgl. Heinemann, Familie, 169; Rölli-Alkemper, Familie, 37, 41; Mieth, Geburtenregelung – bis „Humanae vitae“, 30; Pfürtner, Kirche und Sexualität, 109ff.; The Lambeth Conference. Resolutions Archive from 1930, in: www.anglicancommunion.org/media/127734/1930. pdf (letzter Zugriff am: 03.04.2019). Vgl. Rölli-Alkemper, Familie, 37f., 41–46, 50f.; BArch Berlin NS 5/VI/4879, Die EheEnzyklika Pius’ XI., in: Kölnische Volkszeitung, 19. Januar 1931, Bl. 25. Diese Position wurde auch auf dem Katholikentag 1929 in Freiburg vertreten. Vgl. Dritter Teil (Katholikentag 1929): Ethisch-religiöse Aufgaben, 76. Auch die Mischehe wurde in der Enzyklika abgelehnt und diese Haltung vonseiten der Theologen unterstützt. Vgl. Murawski, Katholische oder Kameradschaftsehe, 64; Rölli-Alkemper, Familie, 44.

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Dieser Sichtweise schlossen sich katholische Priester und Theologen an, wie 1931 Friedrich Murawski, ein Priester und späteres Mitglied der NSDAP, der SA und des SD. Er sei sogar erleichtert, dass er als Katholik „Irrwege“473 wie die „Kameradschaftsehe“ nicht mitgehen müsse. Da sich mit der Enzyklika die Haltung der katholischen Kirche in der Frage der Empfängnisverhütung sogar noch verschärft hatte, konnte Murawski gegen die „Kameradschaftsehe“ agitieren. Er warf infolgedessen den Verfechtern der „Kameradschaftsehe“ und der darin praktizierten Geburtenkontrolle vor, dass sie in den „Kampf gegen das Kind in der Ehe“474 eingetreten seien.475 Zeitgenossen wie Murawski bedienten sich damit des „Kampf “-Begriffes nun auch noch in einer weiteren Arena, neben dem vermeintlichen Abwehrkampf gegen die von Russland und den USA ausgehenden Bedrohungen.476 Parallel vollzogen sich in den späten 1920er Jahren noch zwei weitere wichtige Verschiebungen. Die veränderten Vorstellungen von Ehe und Familie fanden Eingang in Lexika, wie der Brockhaus-Artikel zur Familie von 1930 exemplarisch offenlegt. Der Brockhaus definierte die Familie als „Lebensgemeinschaft von Mann und Frau mit ihrer Nachkommenschaft“.477 Anschließend geht er darauf ein, wie sich ihre Zusammensetzung in den letzten 100 Jahren verändert habe. Erst habe ein Übergang von der patriarchalischen Groß- zur patriarchalischen Kleinfamilie stattgefunden, im Zuge dessen zahlreiche Funktionen der Familie an den Staat und kirchliche Einrichtungen übergegangen seien. Seit der Jahrhundertwende hätten die Familien immer mehr Funktionen abgegeben. Der Brockhaus rezipierte hier eine zeitgenössische These, die sich in einer Vielzahl von Darstellungen findet wie 1931 in Marie Baums Aufsatz über den Wandel in den Funktionen der Familie. Mit den Funktionen habe sich aber auch das Familienleben gewandelt. So seien die Familienmitglieder unabhängiger geworden, etwa infolge der Berufstätigkeit von Frauen. Auch habe der Ehemann einen Teil seiner Autorität als Familienoberhaupt verloren. Zudem sei der innere Zusammenhalt der Familien schwächer geworden. Im Kern rezipierte der Brockhaus hier die von Friedrich Engels und Franz Müller-Lyer im ausgehenden 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert entwickelten Familienmodelle. Somit hatte in den 1920er Jahren Riehls christlich-bürgerliches Familienideal zumindest temporär seine Gültigkeit verloren.478 Während diese Kontroversen die Familien direkt betrafen, verschärfte die Weltwirtschaftskrise als exogener Faktor zweitens die Rahmenbedingungen für

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Murawski, Katholische oder Kameradschaftsehe, 9. Ebenda, 21. Vgl. ebenda, 9, 21; Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, 83. Vgl. Hans Konrad in: Reichsbund der Kinderreichen, Familien, 5. Familie [Brockhaus 1930], 50. Vgl. ebenda; Baum, Wandel.

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die Familien. Von 1929 bis 1933 stieg die Zahl der Arbeitslosen von 1,9 Millionen auf sechs Millionen an, wobei die Altersgruppe der unter 30-Jährigen von diesem Anstieg überproportional betroffen war.479 Die psychologischen Folgen dieser Entwicklung waren enorm und mündeten in der Wahrnehmung einer wirtschaftlichen Bedrohung zahlreicher Familien.480 Diese neue Lage verschlechterte die Situation für die Familien insgesamt – auf einer materiellen wie auch ideellen Basis. Zahlreiche Beobachter, insbesondere aus dem religiös geprägtem oder nationalkonservativ eingestelltem Milieu, nahmen diese Entwicklungen als Bedrohung der christlich-bürgerlichen Kernfamilie wahr.481 Je schneller die Veränderungen abzulaufen schienen, desto größer wurde in ihren Augen die Gefahr. Das bestärkte sie in ihrer Abwehrhaltung und ließ sie immer kompromissloser argumentierten. Der Reichsbund der Kinderreichen oder der evangelische Theologe Wilhelm Fresenius riefen um das Jahr 1930 zum „Kampf “ um die Familie auf.482 Evangelische Kirchenvertreter wie Gustav Schlipköter und der Theologe Alfred Böhme hatten schon ein Jahr früher auf diesen Topos rekurriert und von einem „Kampf um die Ehe“483 gesprochen. Sie hatten ihren Blickwinkel damit auf die Institution der Ehe verengt, da gerade sie infolge der diskutierten alternativen Konzepte zur Diskussion stand. Auch Hans Harmsen identifizierte die Ehe als Scharnier, an dem die Veränderungsprozesse zusammenliefen.484 In dieser Auseinandersetzung rangen die Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirche, Eugeniker und Nationalkonservative auf der einen sowie die Mitglieder der Frauenbewegung, Sozialdemokraten und liberale Vordenker auf der anderen Seite um die Deutungshoheit in der Frage, wie die Familienideale zukünftig ausgestaltet werden sollten.485 Dies schien umso dringlicher für die Verfechter der wertkonservativen christlich-bürgerlichen Kernfamilie, als sie sich infolge der massiven Debatte um „Kameradschaftsehe“, „Probeehe“ und „Ehe zu dritt“ in die Defensive gedrängt fühlten.486 Parallel modifizierten einige Kirchenvertreter wie Laros jedoch ihre Familienideale und orientierten sich zumindest partiell an den Veränderungen. Damit liefen in dem Aushandlungsprozess über die unterschiedlichsten Eheformen gegenläufige Ansichten zusammen und beeinflussten sich wechselseitig. Auch Kirchenvertreter und Gläubige erkannten den individuellen Wert einer Liebesbeziehung als Grundlage einer ehelichen Lebensgemeinschaft an.

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Vgl. Herbert, Geschichte, 264. Vgl. ebenda, 262f., 266; Peukert, Weimarer Republik, 249; Heinemann, Familie, 289. Vgl. ebenda, 153. Vgl. Hans Konrad in: Reichsbund der Kinderreichen, Familien, 5; Fresenius, Ehe. Schlipköter/Böhme (Hg.), Kampf. Vgl. Harmsen, Kampf, 122. Vgl. Schlipköter/Böhme, Einführung, 5. Vgl. ebenda, 9f.

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3.5 Zwischenfazit

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Damit bekam Ehe für sich eine Bedeutung. Ehe sowie die bei der Geburt von Kindern aus ihr hervorgehende Familie war somit beides – ein individuelles Beziehungsgeflecht und eine gesellschaftliche Institution.

3.5 Zwischenfazit Die polarisierten Familienideale zeigten sich in den 1920er Jahren zunächst in den öffentlichen Debatten um die vermutete „Krise“ der Familie. Während sich die Vertreter des Ideals der christlich-bürgerlichen Kernfamilie eine Rückkehr zu den vermeintlich im 19. Jahrhundert gelebten Familienmodellen wünschten, betonten gerade Vertreterinnen aus Sozialdemokratie und Frauenbewegung die Chancen auf Veränderung. Sie hinterfragten insbesondere das innerfamiliale Rollenmodell, da sie eine „kameradschaftlich“-partnerschaftliche Unterstützung der Mutter durch Ehemann und Kinder einforderten – vereinzelt sogar eine gleichberechtigte Rollenverteilung. Trotz dieser deutlichen Unterschiede finden sich aber zwei zentrale Gemeinsamkeiten. Die Ehe als Lebensmodell blieb selbst bei den Reformmodellen wie der „Kameradschaftsehe“ der normative Bezugspunkt. Ferner einte die Vertreter der unterschiedlichen Familienideale die Vorstellung, dass die Familie wichtig für das Funktionieren der Gesellschaft sei, da sie Sicherheit, Orientierung und Stabilität liefere. Ihre Ansichten darüber, wie „die“ Familie auszusehen habe und welche Funktionen sie übernehmen solle, divergierten hingegen deutlich. Gerade die große Kluft in diesen entscheidenden Fragen erklärt, warum die Debatten in den 1920er Jahren so vehement geführt wurden. Verstärkend kam hinzu, dass die katholische und die protestantische Kirche sowie die ihnen nahestehenden Politiker und die Vertreter von konservativen und nationalkonservativen Parteien vier wahrgenommene Veränderungen als „krisenhaft“ interpretierten: den Geburtenrückgang, den Anstieg der Ehescheidungen, die Berufstätigkeit von Müttern und die unehelichen Geburten. Sie deuteten diese Indikatoren als Gradmesser für den quantitativen und qualitativen „Niedergang“ Deutschlands. Diese Entwicklung wollten Kirchenvertreter sowie insbesondere die Vertreter von Zentrum, DVP und DNVP abwehren, indem sie unter anderem mit religiösen, sittlich-moralischen und nationalpolitischen Argumenten gegen eine Reform des Ehescheidungsrechts eintraten. Eine Liberalisierung der Scheidungsgründe würde die Institutionen Ehe und Familie schwächen, warnten sie dabei. Diese Deutung korrespondierte mit ihrem Familienideal, das eine Ehescheidung – insbesondere im katholischen Milieu aufgrund des Ehesakraments – nicht vorsah. Die Gegenseite aus dem sozialdemokratischen und liberalen Milieu argumentierte demgegenüber, die Rechtsreform würde die ohnehin übliche Praxis der Ehescheidung lediglich einhegen und so die Familie als Institution

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3. Projektionsfläche für Wunschvorstellungen und Realität im Alltag

stärken. Beide Positionen brachten damit den Idealen Ehe und Familie eine hohe Wertschätzung entgegen, wollten die Begriffe jedoch unterschiedlich inhaltlich füllen. Charakteristisch für die 1920er Jahre ist dabei, dass sich in den Debatten um die Familie vor allem die Vertreter des christlich-bürgerlichen Familienideals und der sozialdemokratischen bzw. liberalen Familienmodelle gegenüberstanden und sie sich nicht annäherten. Vielmehr verhärteten sich die Kontroversen insbesondere in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Im Zuge der Debatten um den Fertilitätsrückgang radikalisierten sich die Positionen: Das Ideal der kinderreichen Familie wurde mit einer eugenischen Komponente unterlegt und auf das Ideal der „erbgesunden“ kinderreichen Familie verengt. Zudem kam der Vorwurf auf, dass städtische Wohnformen wie die „Mietskasernen“ und die negativen Einflüsse aus den USA und der Sowjetunion nicht nur kleinere Familien und höhere Ehescheidungsraten, sondern auch den Individualismus fördern würden. Dadurch komme es zur Erosion des Gemeinschaftsgedankens in der „deutschen“ Familie, die fortan die ihr zugeschriebene Stabilisierungsfunktion nicht mehr erfüllen könne. Zeitgenossen verhandelten insofern anhand der Familie das Verhältnis zwischen Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft, wobei sich hier eine weitere Polarisierung zeigte. Einerseits galt die Familie als soziale Institution, die die ihr zugeschriebenen Aufgaben für die Nation bzw. die „Volksgemeinschaft“ erfülle. Zusehends argumentierten aber Vertreter des sozialdemokratischen und kommunistischen Milieus, dass es sich bei Ehe und Familie um Lebensgemeinschaften von Individuen handele, die ihr soziales Beziehungsgefüge individuell ausgestalteten. Ehe und Familie wurde so ein Eigenwert zugeschrieben, der aus der gegenseitigen Zuneigung der Partner erwachse. Dass sich selbst die katholische Kirche dieser Sichtweise nicht grundsätzlich verschloss, zeigte sich bereits Anfang der 1920er Jahre, verstärkt jedoch zum Ende des Jahrzehnts, als katholische Laien und Theologen den Sinn einer Ehe nicht nur in der Zeugung von Nachwuchs, sondern auch in der Liebe der Partner zueinander sahen. Keine Öffnung zeigte sich hingegen bei der innerfamilialen Rollenverteilung, obschon auch Katholiken immer wieder die Berufstätigkeit von Müttern als soziales Phänomen diskutierten. Gleichwohl lehnten sie diese Praxis ab, da sie nicht ihrem patriarchalischen Geschlechterrollenmodell entsprach. Daneben diskutierten einige Vertreterinnen der sozialdemokratischen Frauenbewegung sowie Personen aus dem kommunistischen Milieu alternative Rollenmodelle. Die Forderung einer egalitär-gleichberechtigten Aufgabenverteilung blieb jedoch die Ausnahme. Vielmehr favorisierte zum Beispiel die Juristin Sophie Schöfer eine „kameradschaftlich“-partnerschaftlich Aufgabenverteilung, wonach sich die Partner gegenseitig ergänzten und unterstützten. Zudem sollten Institutionen wie Kindergärten oder Schulen einen Teil der Erziehungsfunktion übernehmen. Gerade diese Modelle galten als „modern“, da sie die Mehrfachbelastung der Mütter durch Berufsarbeit, Haushaltsführung und Kindererziehung reduzierten.

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3.5 Zwischenfazit

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In der sozialen Praxis blieb jedoch eine veränderte familiale Aufgabenverteilung auf eine kleine Gruppe von Familien beschränkt. Die Mehrzahl der Kinder und vor allem der Ehemänner half vielmehr nur dann im Haushalt mit, wenn andernfalls der Familienalltag nicht hätte aufrechterhalten werden können. Obwohl die partnerschaftliche Aufgabenverteilung somit nur ein soziales Randphänomen darstellte, wurde sie aber zumindest gesamtgesellschaftlich verhandelt, wodurch von ihr Impulse für Veränderungen ausgingen. Die sozialen Praktiken waren pluraler und vielschichtiger als die politischen und juristischen Kontroversen, in denen sich primär das christlich-bürgerliche und das sozialdemokratische, vereinzelt auch das kommunistische, Familienmodell gegenüberstanden. Insofern zeigte sich in den Praktiken eine vorsichtige Pluralisierung: Die Familien regelten den Alltag unterschiedlich und die innerfamilialen Rollen wurden an die konkreten Anforderungen immer ein Stück weit adaptiert. Neben der christlich-bürgerlichen Kernfamilie existierten zudem stets andere familiale Lebensformen wie geschiedene Elternteile mit Kindern, wiederverheiratete oder unverheiratete Paare mit Kindern und alleinerziehende Mütter. Selbst wenn sie im Vergleich zu den verheirateten Paaren kleinere Gruppen bildeten, konnten auch von ihren Praktiken Impulse für Veränderungen ausgehen.

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4. Rassenideologischer Opportunismus: die Familie im Nationalsozialismus 4.1 Politische Einflussnahme und versuchte Redefinition der Familienideale 4.1.1 Modifikation der Rahmenbedingungen, staatliche Intervention und Propaganda

Die „Familie“ nahm im nationalsozialistischen Denken einen zentralen Platz ein. Sie galt als Garant der völkischen Ordnung und als zentrales Mittel, um die rassenideologischen und bevölkerungspolitischen Ziele zu verwirklichen.1 Bereits 1931 zeigte sich die spezifische funktionalistische Perspektive des Nationalsozialismus auf die Institution Familie, wie sie der Münchner Anwalt bzw. das NSDAP-Mitglied Ferdinand Mößmer in seiner Denkschrift Eherecht darlegte. Mößmer blieb bis zum Kriegsbeginn 1939 ein entscheidender Akteur, der in familienrechtlichen Fragen immer wieder in Erscheinung trat. Er übernahm 1933 den Vorsitz im Familienrechtsausschuss der Akademie für Deutsches Recht und publizierte 1936 ein Memorandum zur Neugestaltung des deutschen Ehescheidungsrechtes.2 Im nationalsozialistischen Denken war die Familie die „Keimzelle der Volksgemeinschaft“3 und für die Zeugung von Nachwuchs verantwortlich. Emotionen wie Liebe als Elemente einer Familie blieben genauso unberücksichtigt wie das Ideal von der Familie als Lebensgemeinschaft. Die NS-Führung verstand überdies Familienpolitik als ein Mittel der Herrschaftssicherung.4 Das nationalsozialistische Familienverständnis war nicht nur dezidiert rassenideologisch ausgeprägt und funktionalistisch auf die kriegspolitischen Ziele des Regimes ausgerichtet, wie noch gezeigt wird. Ehe und Familie mussten sich 1

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Horst Becker arbeitete dies 1935 wie folgt heraus: „Wir fragen nicht mehr, was Ehe und Familie für den einzelnen leisten sollen, sondern was sie für das Volk bedeuten. Wir fragen, was die Aufgabe und das Recht der Familie im Volke ist, was Familie einstmals war, und was sie heute sein soll.“ Becker, Familie, 9. Vgl. Mößmer, Eherecht, 2; Schubert, Einleitung (Familienrechtsausschuß), 3, 48f.; Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 149; Mouton, Nurturing, 88. Für eine Zusammenfassung der Familienpolitik im Nationalsozialismus vgl. Pine, Nazi Family Policy; Mühlfeld/Schönweis, Familienpolitik; Mühlfeld, Rezeption. Mößmer, Eherecht, 3. Vgl. Pine, Nazi Family Policy, 8; Mühlfeld/Schönweis, Familienpolitik, 10, 59, 93; Mouton, Nurturing, 15, 48, 67; Czarnowski, Familienpolitik, 264; dies., Wert, 78f.; Klinksiek, Frau, 68f.

https://doi.org/10.1515/9783110651010-004

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4. Rassenideologischer Opportunismus: die Familie im Nationalsozialismus

überdies nach der NS-Ideologie den Anforderungen der „Volksgemeinschaft“ unterordnen. Aufgrund dieser spezifischen Sichtweise auf Familie unterschied sich das Familienverständnis der Nationalsozialisten von dem der katholischen und der evangelischen Kirche. Die Kirchenvertreter mit ihrem institutionellen Familienleitbild verwiesen zwar ebenfalls auf die Funktionen, welche die Familie für die Gesellschaft übernehme, sie rekurrierten dabei in der Regel jedoch nicht auf rassistische Wesensmerkmale, die es zu verwirklichen gelte. Zudem hatte in der katholischen Kirche auch ein Umdenken eingesetzt, wonach der Zweck der Ehe nicht nur in der Zeugung von Nachwuchs liege. Ehe basiere auch auf der personalen Beziehung zweier in Liebe verbundener Partner. Damit sei die Familie sowohl eine soziale Institution als auch ein individuell ausgestaltbares Beziehungsgefüge. Ähnlich positionierte sich in den 1920er Jahren auch die Sozialdemokratie, welche der Familie ebenfalls einen Eigenwert an sich zuerkannte.5 Im Nationalsozialismus verschwand im Unterschied zur Weimarer Republik ferner die offen geführte öffentliche Debatte um diese Familienmodelle. Stattdessen intervenierte das NS-Regime und unterband den freien Meinungsaustausch in der Öffentlichkeit. Die NS-Machthaber versuchten ebenfalls, den politischen und juristischen Diskurs um die Familien nach ihren normativen Vorstellungen zu beeinflussen.6 Aufgrund des rassenideologisch-funktionalistischen Familienverständnisses war es aus der Perspektive der Machthaber legitim, in den Privatraum der Familie zu intervenieren und ihn entsprechend umzuformen. „Destruktion, Indoktrination und Funktionalisierung“7 lauten die Schlagworte, mit denen die Historikerin Birthe Kundrus die Leitmotive der NS-Familienpolitik benennt, womit sie auf drei Zielrichtungen verweist. Das NS-Regime lehnte als „wertlos“ definierte Familien ab. Die Familienmitglieder sollten im Sinne der NS-Ideologie erzogen werden.8 Schließlich mussten Familien eine ausreichende Zahl an „erbgesunden“ Kindern hervorbringen, zumal nationalistisch-völkische Politiker und Wissenschaftler den Geburtenrückgang wie in den Jahrzehnten zuvor als Zeichen für den bevorstehenden Untergang werteten. Sie griffen während der 1930er Jahre auf die Ergebnisse der Volkszählung von 1933 zurück, welche die notwendigen quantitativen Rahmendaten für die Debatte lieferte, da darin erst-

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Für die Bevölkerungspolitik im NS vgl. exemplarisch Bock, Zwangssterilisation; Koonz, Mütter; Bock, Die Frauen und der Nationalsozialismus; Koonz, Erwiderung; Bock, Historikerinnenstreit; Saldern, Opfer. Für einen knappen Überblick zur Forschung vgl. Moeller, Unbenannt und allgegenwärtig, 318f.; Leck, Conservative Empowerment. Zur Problem der „Öffentlichkeit“ im Nationalsozialismus vgl. Saldern, Öffentlichkeiten, 443; Gieseke, Bevölkerungsstimmungen, 240f. Kundrus, Kriegerfrauen, 232. Vgl. ebenda, 232f.

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mals eine Familienstatistik enthalten war.9 Auf der Basis neuer empirischer Befunde perpetuierten Bevölkerungswissenschaftler wie Friedrich Burgdörfer ihr bereits in den späten 1920er Jahren entwickeltes Argument vom „Volkstod“. Allerdings markierte 1933 insofern eine Zäsur, als im Nationalsozialismus die Bevölkerungspolitik nicht nur eine grundlegend neue qualitative Ausrichtung bekam. Die politischen Ziele wurden überdies mit radikaler Konsequenz umgesetzt. Aber auch quantitativ erschien das Jahr der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten aus damaliger Perspektive als Wendepunkt. In diesem Jahr stiegen die Geburtenziffern merklich an, was Burgdörfer als Beleg für den Erfolg der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik wertete. Allerdings greift dieses Urteil zu kurz. Schließlich handelt es sich bei seiner Interpretation um ein Produkt nationalsozialistischer Propaganda, wie im Folgenden herausgearbeitet wird.10 Im Zeitraum von 1933 bis 1938 wiesen die vier statistischen Indikatoren Geburtenziffer, Geburten-, Fruchtbarkeits- und Nettoreproduktionsrate einen deutlichen Anstieg auf.11 Prozentual fand die größte Steigerung von 1933 auf 1934 statt. Zahlreiche Geburten entfielen also auf Paare, die schon vor 1933 geheiratet hatten. Die Geburtenzunahme resultierte damit nicht aus der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik. Sie ordnete sich vielmehr in einen allgemeinen Trend ein, der sich überdies ebenfalls in anderen westlichen Ländern vollzog. Auch in den USA, Großbritannien und Frankreich verlangsamte sich in dieser Zeit der Geburtenrückgang und kehrte sich vereinzelt durchaus zu einem geringfügigen Anstieg um. Zweitens diente das Jahr 1933 mit der niedrigsten Geburtenziffer als Referenz. Indem die nationalsozialistische Führung die Geburten dieses Ausnahmejahres als Messlatte heranzog, verzerrte sie jedoch die Bewertung der Geburtenentwicklung. Drittens blieb die Geburtenrate während der gesamten 1930er Jahre hinter den vom NS-Regime gesteckten Zielen zurück.

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Zur Volkszählung ohne die bevölkerungspolitischen Implikationen des Nationalsozialismus vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4566, Bruno Gleitze, Die Ergebnisse der neuen Familienstatistik, in: Soziale Praxis, 45. Jg., H. 2, 1936, Bl. 30f.; Die deutschen Familien nach Kinderzahl, sozialer Stellung und Bodenbesitz, in: Wirtschaft und Statistik, 15. Jg., Nr. 6, 1935, 198–200, hier 198. Vgl. Burgdörfer, Kinder, 10, 29–37; ders., Geburtenschwund, 63–74; Bock, Zwangssterilisation, 117, 142f.; Moeller, Mütter, 35; Frevert, Frauen-Geschichte, 224; Ruhl, Alltag, 61f. Für dieses Sprachbild vgl. exemplarisch BArch Berlin NS 5/VI/4909, Unerbittlicher Kampf dem Volkstod. Arbeitstagung des Reichsbundes der Kinderreichen in Wurzen, in: Der Freiheitskampf, 9. November 1936. Die Zahl der jährlichen Geburten stieg von 971.000 auf 1.349.00 an und umfasste ab 1935 auch das Saargebiet. Die Geburtenrate (Geburten pro 1.000 Einwohner) stieg von 14,7 auf 19,6, die Fruchtbarkeitsrate (Geburten pro 1.000 Frauen im gebärfähigen Alter) von 99 auf 129 und die Nettoreproduktionsrate (Verhältnis von gebärfähigen Frauen zu Töchtern, den Müttern der nächsten Generation) von 0,7 auf 0,9. Vgl. Bock, Zwangssterilisation, 143.

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Lediglich 1939/40 erreichte die Nettoreproduktionsrate den Wert von ungefähr eins, was eine Sicherung des Bevölkerungsbestands bedeutete.12 Verfechter der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik ließen eine solche abwägende Betrachtung außen vor und werteten den Geburtenanstieg in den Jahren nach 1933 als bevölkerungspolitischen Erfolg. So seien die Deutschen 1933 noch „ein sterbendes Volk“ gewesen. Im Zuge der nationalsozialistischen Politik hätten die Geburten jedoch soweit gesteigert werden können, dass mittlerweile „die Bestandserhaltung des deutschen Volkes einigermaßen“13 sichergestellt sei, rekapitulierte ein Memorandum Anfang der 1940er Jahre. Gleichzeitig legte der Bericht mit dieser Aussage dar, dass die Zahl der Geburten weiter erhöht werden müsse, um ein Bevölkerungswachstum zu erzielen.14 Implizit schwang in diesen Überlegungen stets mit, dass eine größere Zahl von Kindern ein größeres Heer an Soldaten forme. Diesen Zusammenhang sprachen Regierungsvertreter freilich nicht offen an. Vielmehr präsentierten sie sich als „Beschützer des Familienlebens“. Sie wollten, so behaupteten sie, der Familie wieder ihren „natürlichen“ zentralen Platz innerhalb der „Volksgemeinschaft“ zuweisen, den sie in der „unmoralischen“ Weimarer Republik verloren habe. Indem die Nationalsozialisten zudem die „Krise der Familie“ anprangerten, schufen sie die rhetorische Basis, mit der sich ihre familienpolitischen und juristischen Maßnahmen legitimieren ließen, die sich an den rassenideologischen Idealen und bevölkerungspolitischen Zielen des Regimes orientierten. Die konkreten politischen Maßnahmen setzten primär bei den Rollen der Ehefrau und Mutter an, wie später noch detailliert gezeigt wird. Zunächst zielten sie darauf, die individuellen Handlungsspielräume der Frauen zu verengen: Frauen sollten aus dem Erwerbsleben ausscheiden, Kinder bekommen und sich in ihrer Rolle als verheiratete Mutter um die Familie kümmern. Männer wurden demgegenüber als Beschützer und Ernährer stilisiert. Damit erhob die NS-Führung tradierte Geschlechterrollen zur Handlungsmaxime und etablierte eine patriarchalische Ordnung, wie es sie, so die damalige Darstellung, bereits vor der Industrialisierung gegeben habe. Der NS-Ideologe Alfred Rosenberg prägte hierfür den Begriff „Emanzipation der Frau von der Frauenemanzipation“.15 Er brachte so zum Ausdruck, dass die nationalsozialistische Ideologie nicht nur eine plurale demokratische Ordnung, sondern auch plurale und individualisierte Handlungsmuster ablehnte. Die Veränderung zeigte sich ebenfalls, als infolge des direkten Zugriffs des NS-Regimes die Familie nicht mehr in zweifacher Hinsicht als Institution und 12 13 14 15

Vgl. ebenda, 143ff.; Ruhl, Ideologie, 377, 381; Kundrus, Frauen, 497. BArch Berlin R 3001/10118, Bevölkerungspolitisches Programm nach dem Kriege, ohne Ort, ohne Datum, 1. Vgl. ebenda. Rosenberg, Mythus, 512.

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als soziales Beziehungsgefüge gedeutet wurde. Die deutliche Akzentverschiebung bildete 1937 die Beschreibung der Familie in Meyers Lexikon ab. Zunächst definierte der Lexikonartikel die Familie als „die dauernde eheliche Gemeinschaft von Mann und Frau mit ihren Kindern“.16 Während dieser Passus sich noch stark an tradierten Familienvorstellungen orientierte, verdeutlichen die daran anschließenden Zeilen die seit 1933 verfolgte rassenideologischen Ausrichtung der Familienideale. Die Familie sei „die Keimzelle des Volkes und als erste organische Erziehungsstätte der heranwachsenden Jugend die Grundlage des Staates.“17 Allerdings galt dies nur für eine stark eingeschränkte Gruppe von Familien: Der Bestand des Dt. Volkes wird nur durch die erbgesunde kinderreiche (mindestens 4 Kinder) F[amilie] gesichert. Diese achtet auch auf Reinerhaltung vor erbkrankem oder rassefremdem Blut (Erbmasse). Durch Selbstsucht, Verantwortungslosigkeit oder Geltungstrieb künstlich kinderlos oder kinderarm gestaltete Ehen erfüllen nicht ihre Aufgaben der dt. Volksgemeinschaft gegenüber.18

Die „erbgesunde kinderreiche Vollfamilie“ sollte als funktionale Einheit den Bestand der „Volksgemeinschaft“ garantieren. Sie stand sowohl für die Quantität als auch die Qualität des Nachwuchses und firmierte als neues Ideal. Der Nationalsozialismus, so das Lemma weiter, habe mit seiner Familienpolitik und den Gesetzesänderungen die Rahmenbedingungen für diesen Familientyp verbessert und den „Verfall“ der Familie aufgehalten. Dieser gewünschten Familienform stand dabei die negativ konnotierte „Großfamilie“ gegenüber. Unter diesem Sammelbegriff subsumierte die Bevölkerungspolitik und die Eugenik eine „erbkranke, asoziale oder Trinker-F[amilie] mit vielen Kindern“.19 Gemäß der politisch vorgegebenen Funktionalisierung und der rassenideologischen Ausrichtung müssten demnach die „erbgesunden“ kinderreichen Familien gefördert, „erbkranke“ und „asoziale“ – verstanden als Sammelbegriff für alle als auffällig identifizierte – Familien hingegen ausgeschlossen werden.20 Während diese Polarisierung in „wünschenswerte“ und „nicht-wünschenswerte“ Familienarten noch auf Familien aus Deutschland verwies, unterschied Meyers Lexikon überdies zwischen der „deutschen“ Familie und der „Familienauffassung“ in anderen Ländern wie in den USA oder der Sowjetunion. Für die Kleinfamilie in Deutschland sei es typisch, dass sie „oft unter patriarchal[ischer] Führung in Hausgemeinschaft“ lebe. Väterliche Autorität gelte demnach als Wesensmerkmal „der“ deutschen Familie. Insofern überzeichnete die nationalsozialistische Propaganda in diesem Punkt die Charakteristika 16 17 18 19 20

Familie [Meyers Lexikon 1937], 1286. Ebenda. Ebenda. Ebenda, 1287. Für die Diskussion des Begriffs vgl. Pine, Nazi Family Policy, 88. Vgl. Familie [Meyers Lexikon 1937], 1286f.

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der Familien in Deutschland, um einen rhetorischen Gegenpol zu Familien in anderen Ländern aufzubauen. Schließlich weise, so das Lexikon, zum Beispiel die „amerikanische“ Familie eine grundlegend andere innerfamiliale Struktur auf, da für sie die „Herrschaft des Kindes und der Frau“21 charakteristisch sei. Ebenfalls abzulehnen war nach dieser Lesart die „sowjetische“ Familie, die durch „marxistische Propaganda“22 auf eine willentliche Beschränkung der Geburten geeicht sei.23 Der Reichsbund der Kinderreichen warnte sogar, dass sich die „Weltpest des Bolschewismus“24 zu verbreiten drohe. Beide Familientypen symbolisierten in den Augen der Propaganda eine „materialistische[. . . ] und liberalistische[. . . ] Weltanschauung“,25 die den Genuss und nicht das Gemeinschaftsgefühl in den Mittelpunkt stelle. Mit diesen Äußerungen grenzte die nationalsozialistische Propaganda die „deutsche“ Familie von den Familienformen in anderen Ländern deutlich ab und unterschied innerhalb Deutschlands zwischen den „unerwünschten“ kinderlosen bzw. kinderarmen Familien sowie den „asozialen Großfamilien“ auf der einen und dem Wunschbild der „erbgesunden kinderreichen Familie“ auf der anderen Seite.26 Die Bedeutung der kinderreichen Familie für die Gesellschaft diskutierten auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf mehreren Veranstaltungen des Reichsbundes der Kinderreichen, wie im Oktober 1936 auf einer Großkundgebung im Münchner Hofbräuhaus, im November 1936 auf einer Arbeitstagung im sächsischen Wurzen sowie auf einer weiteren Kundgebung in Bremen. Im Kern wollte der Reichsbund mit den Veranstaltungen verdeutlichen, dass die „erbgesunde“ kinderreiche Familie „Lebenswille und Lebenskraft des Volkes“27 symbolisiere. Obwohl die Ausführungen sprachlich durchaus an die Debatten der 1920er Jahre anschließen, da damals völkisch-nationalistische Bevölkerungsteile ebenfalls die Familien in den USA und der Sowjetunion als Bedrohung wahrgenom21 22 23 24

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26 27

Ebenda, 1287. Ebenda, 1286. Vgl. ebenda, 1286f. BArch Berlin NS 5/VI/4909, Aus der Familie spricht der Lebenswille der Nation. Die Großkundgebung des Bundes der Kinderreichen im Festsaal des Hofbräuhauses, in: Völkischer Beobachter, 10. Oktober 1936. Ebenda. Ähnlich auf der Tagung in Bremen vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4909, Abendfeier der Kinderreichen. Großkundgebung des RdK. in Bremen – Pg. Dr. [Paul] Danzer, Berlin, über „Die deutsche Schicksalsfrage“, in: Bremer Zeitung, 26. November 1936. Vgl. Stephenson, Reichsbund, 352f.; König, Familie und Autorität, 221. BArch Berlin NS 5/VI/4909, Aus der Familie spricht der Lebenswille der Nation. Die Großkundgebung des Bundes der Kinderreichen im Festsaal des Hofbräuhauses, in: Völkischer Beobachter, 10. Oktober 1936. Ähnlich auf der Tagung in Bremen, vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4909, Abendfeier der Kinderreichen. Großkundgebung des RdK. in Bremen – Pg. Dr. [Paul] Danzer, Berlin, über „Die deutsche Schicksalsfrage“, in: Bremer Zeitung, 26. November 1936.

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men hatten, zeigte sich in den 1930er Jahren eine Wendung. Die Radikalisierung des Reichsbundes der Kinderreichen, die um das Jahr 1930 begonnen hatte, steigerte sich im Nationalsozialismus weiter. Zudem bekam die „deutsche“ Familie einen Ausschließlichkeitscharakter. Lediglich sie, in ihrer „arischen“ und kinderreichen Form, so das nationalsozialistische Verständnis, erkenne die „Volksgemeinschaft“ als höchstes Gut an. Allerdings sei es notwendig, die Rahmenbedingungen hierfür zu verbessern. Infolgedessen müsse der Staat in den Privatraum der Familie intervenieren, lautete der weitere Tenor. Damit propagierten die Vorträge, dass es sich bei „Eheschließung und Elternpflicht“ keinesfalls um eine „Privatsache“28 handele. Dieser immer wieder artikulierte Versuch eines direkten politischen Zugriffs auf die Familie stellt im Vergleich zu den 1920er Jahren ein Novum dar.29 Wie schon in den späten 1920er Jahren sahen also die Vertreter des Reichsbundes der Kinderreichen und auch der NSDAP den Kapitalismus der USA und den Sozialismus der Sowjetunion als Gefahr für die deutsche Familie an. Den dritten Grund für die wahrgenommene Bedrohung – das Pandämonium Großstadt – bedienten sie auf ihren Veranstaltungen ebenfalls. Da Städte die „Domäne der Kinderlosigkeit und des Ein- und Zweikindersystems“30 seien, würden sich von dort „kinderlose“ und „kinderarme“ Familien verbreiten. Implizit schwang noch ein viertes Gefahrenpotenzial in den Ausführungen mit, denn die „erbgesunde Vollfamilie“31 werde überdies von „asozialen“ und „volksfremden“ Familien bedroht.32 Die nationalsozialistische Propaganda präsentierte insgesamt vier Bedrohungen für die „erbgesunde deutsche“ Familie: die „materialistische“ nordamerikanische und die „individualistische“ sowjetische Familie galten als zwei ausländische Gefahrenherde. Die beiden anderen Risikofaktoren verortete die Propaganda in Deutschland: Einerseits handelte es sich um die „kinderlosen“ und „kinderarmen“ Familien, insbesondere aus einem städtischen Umfeld, und andererseits um „asoziale Großfamilien“. 28 29

30 31

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Ebenda. Vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4909, Aus der Familie spricht der Lebenswille der Nation. Die Großkundgebung des Bundes der Kinderreichen im Festsaal des Hofbräuhauses, in: Völkischer Beobachter, 10. Oktober 1936; BArch Berlin NS 5/VI/4909, Unerbittlicher Kampf dem Volkstod. Arbeitstagung des Reichsbundes der Kinderreichen in Wurzen, in: Der Freiheitskampf, 9. November 1936; BArch Berlin NS 5/VI/4909, Abendfeier der Kinderreichen. Großkundgebung des RdK. in Bremen – Pg. Dr. Danzer, Berlin, über „Die deutsche Schicksalsfrage“, in: Bremer Zeitung, 26. November 1936. BArch Berlin NS 5/VI/4908, Fast jede zweite Ehe kinderreich, in: Zeitungsdienst des Reichsnährbundes, 4. Juni 1936. BArch Berlin NS 5/VI/4908, Die Vollfamilie – der Lebensborn unseres Volkes. Zum Ehrentag der Kinderreichen in Köln am 6. und 7. Juni 1936, in: Völkischer Beobachter, 29. Mai 1936. Vgl. ebenda; BArch Berlin NS 5/VI/4908, Fast jede zweite Ehe kinderreich, in: Zeitungsdienst des Reichsnährbundes, 4. Juni 1936.

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Von Relevanz für individuelles und staatliches Handeln waren nach dieser Lesart ausschließlich die Belange und Interessen der „Volksgemeinschaft“, wie sie die NSDAP definiert hatte. „Volksgemeinschaft“ wirkte dabei sowohl inkludierend wie auch exkludierend. Eingeschlossen waren „Volksgenossen“; ausgeschlossen waren demgegenüber Juden, „asoziale“ sowie alle anderen als „nicht wertvoll“ definierten Personengruppen, die unter dem Sammelbegriff „Gemeinschaftsfremde“ firmierten. Sie sollten gemäß der nationalsozialistischen Rassenhygiene nicht nur verfolgt und unterdrückt, sondern aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen werden, indem sie unter anderem zunächst in Lager deportiert und dann meist ermordet wurden. Der nationalsozialistische Rassismus richtete sich demnach nicht ausschließlich nach „außen“, sondern auch nach „innen“ und erfasste dort all diejenigen, die den rassenideologischen Vorstellungen des Regimes nicht entsprachen. Insofern wurde auch bei Familien in Deutschland zwischen „gewünscht“ und „unerwünscht“ unterschieden, wobei die Institution Familie die Reproduktion der als „gewünscht“ klassifizierten Personen gewährleisten sollte.33 Im Nationalsozialismus wies damit der Konflikt um die Familie zwei Zielrichtungen auf: Die innerfamilialen Rollenmuster sollten auf die NS-Ideologie ausgerichtet werden, wobei insbesondere ein Anstieg der Geburtenrate als dahinterstehendes politisches Ziel firmierte. Zudem richtete sich der Konflikt um die Familien gegen „gemeinschaftsfremde“ Familien, die nach nationalsozialistischem Verständnis nicht zur „Volksgemeinschaft“ gehörten. Es ging also darum, die rassenideologischen Ziele des NS umzusetzen und den „erbgesunden“ Nachwuchs zu fördern, wodurch insbesondere jüdische Familien exkludiert wurden. Dabei griff der Nationalsozialismus nicht nur in den Binnenraum der Familie ein, sondern formte auch die äußere Struktur nach den Vorstellungen der NS-Ideologie um. Diese Perspektive auf die Familie dominierte innerhalb der NSDAP auch in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre. Der Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, Walter Groß, bekundete auf der Abschlusskundgebung zum „Ehrentag der deutschen Familie“ am 7. Juni 1936: „Immer wieder haben wir darauf hingewiesen, daß das stärkste Fundament unseres Volkes in den Kindern und in der Familie liegt.“34 Dieser Tenor findet sich auch in der Rundfunkansprache des Reichsministers des Innern, Wilhelm Frick, zum Muttertag im Mai 1938. Er erklärte, dass die Ehefrau und Mutter für die „Erhaltung der Art und den

33

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Vgl. Herbert, Traditionen, 474; ders., Arbeit, 12f.; ders., Geschichte, 334–341; Mühlfeld/ Schönweis, Familienpolitik, 8ff.; Castell-Rüdenhausen, Familie, 72f.; Mouton, Nurturing, 13f., 17; Klinksiek, Frau, 23, 70; Steinbacher, Frauen, 104f. BArch Berlin NS 5/VI/4908, Abschluss des Ehrentages der deutschen Familie, in: Völkischer Beobachter, 8. Juni 1936.

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ewigen Lebensquell der einzelnen Sippe und damit der Nation“35 verantwortlich sei. Obwohl führende Nationalsozialisten wie Frick die Rolle der Frau weiterhin primär in der Familie verorteten, hatte sich diese Position, wie später beleuchtet wird, in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zumindest aufgeweicht. Die Vertreter des NS-Regimes setzten an mehreren Stellschrauben an, um beide ideologisch motivierten Ziele zu erreichen. Sie versuchten, die Familie und das innerfamiliale Verhältnis durch mehrere Maßnahmen zu beeinflussen: Gesetzesänderungen, finanzielle Zuwendungen und die Gründung von Massenorganisationen wie die Hitlerjugend und der Bund Deutscher Mädel oder die im September 1940 veranlasste „Erweiterte Kinderlandverschickung“. Diese Eingriffe zielten auch darauf, die Bedeutung der Familien für die Kindererziehung zurückzudrängen. An deren Stelle sollten Organisationen der NSDAP treten und den Erziehungsauftrag im Sinne der NS-Ideologie übernehmen. Allerdings blieb die „Kinderlandverschickung“ unter der Leitung Baldur von Schirachs unpopulär, und auch wenn der Zugriff des Staates bzw. der Parteiorganisationen stärker wurde, konnten Familien zumindest partiell ihre Autonomie bewahren. Insofern gingen die Erziehungsaufgaben nicht komplett von der Familie auf den Staat über und dem Regime gelang es nur in Teilen – manchmal aber durchaus beträchtlich –, die Erziehungsziele zu beeinflussen.36 Dadurch, dass die Kinder einen Großteil ihrer Freizeit in Organisationen und nicht mehr in der Familie verbrachten, versuchten die Machthaber, die ElternKind-Beziehung zu lockern. Kinder sollten überdies dazu verleitet werden, ihre Eltern auszuspionieren und mögliche Verstöße an NS-Behörden weiterzuleiten. Gleichzeitig bekam der Staat direkten Zugriff auf die Erziehungsziele. Schließlich vermittelten die Betreuer den Kindern und Jugendlichen nationalsozialistische Ideale.37 Mit diesen Maßnahmen versuchten die Machthaber zu gewährleisten, dass sich in jeder Familie die sogenannte „wahre Familiengemeinschaft“38 einstellte, die auf den Idealen Anpassung, Unterordnung, Gemeinschaftssinn, Verzicht und Opferbereitschaft basiere.39 Auch die Erziehungsziele spiegelten somit die Vorstellung wider, dass die Institution Familie für die „Volksgemeinschaft“ wichtige Funktionen übernehme.

35 36 37

38 39

BArch Berlin NS 5/VI/7130, Reichsminister Dr. Frick zum Muttertag. „Hüterinnen deutschen Schicksals.“, in: Völkischer Beobachter, Nr. 136, 16. Mai 1938, Bl. 17. Vgl. Mouton, Nurturing, 120; Kock, Führer, 11–14, 61, 69, 75; Krause, Flucht, 47; Süß, Tod, 131. Vgl. Gestrich, Geschichte (2010), 8; Klinksiek, Frau, 35; Keim, Erziehung, Bd. II, 33. Da die Kindererziehung im Folgenden lediglich schlaglichtartig beleuchtet wird, bleibt u. a. die frühkindliche Sozialisation außen vor. Für einen Überblick hierüber während der NS-Zeit vgl. Gebhardt, Angst, 69–99; dies., Sozialisation. Klinksiek, Frau, 35. Vgl. ebenda.

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Diese Ausrichtung prägte auch die Erziehung im Kindergarten und die Lehrpläne an den Schulen, die ebenfalls an die NS-Ideologie angepasst wurden. Allerdings gestaltete sich die staatliche Einflussnahme in der Praxis durchaus schwierig, da sich Lehrerinnen und Lehrer wie auch Kindergärtnerinnen einen Handlungsspielraum bewahrten, der deviantes Verhalten ermöglichte. Die Historikerin Michelle Mouton arbeitet in ihrer Fallstudie zu Westfalen heraus, dass dort ein Großteil der Kindergärten auch nach 1933 entweder unter Aufsicht der protestantischen oder der katholischen Kirche stand. Daher konnte der Staat nur geringen Einfluss auf die Vermittlung der Erziehungsziele nehmen.40 Als erste entscheidende Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen ist zunächst das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ („Sterilisationsgesetz“) vom 14. Juli 1933 zu nennen, das die Zwangssterilisation bei Krankheiten wie „Schwachsinn“ oder Schizophrenie vorschrieb. Zweitens kommt den Nürnberger Gesetzen eine zentrale Funktion zu. Hierzu zählen vor allem das „Reichsbürgergesetz“ und das „Gesetz zum Schutze deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ (sog. „Blutschutzgesetz“) vom 15. September 1935, das sowohl die Heirat als auch den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen „Volljuden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“ untersagte. Ferner griff das „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des Deutschen Volkes“ („Ehegesundheitsgesetz“) vom 18. Oktober 1935 in das Binnenverhältnis von Paarbeziehungen ein, indem es ansteckende Krankheiten und „asoziales“ Verhalten als Ehehindernisse einführte. Das „Ehegesetz“ von 1938 stellt einen weiteren markanten juristischen Einschnitt dar, auf den später noch detailliert eingegangen wird.41 Alle Gesetzesänderungen brachen mit einem zentralen Grundsatz des Rechtsstaates, da sie die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz aufhoben und das Recht der nationalsozialistischen Rassenideologie unterwarfen. Zum Beispiel führten sie eugenisch und rassenideologisch motivierte Eheverbote ein. Das in den Gesetzestexten gewählte Differenzierungskriterium „deutsch“ bezog sich infolgedessen nicht auf die Staatsbürgerschaft im klassischen Sinn, sondern stand aufgrund des rassenbiologischen Denkens des Nationalsozialismus für „erbgesund“ und „arisch“. Letzterer Begriff setzte sich 1933 in behördlichen Anordnungen durch.42 Zugleich stellt sich die Frage nach der Reichweite der 40 41

42

Vgl. Kater, Elternschaft, 79; Mouton, Nurturing, 179f., 184f. Für eine ausführliche Betrachtung der Erziehung in der Schule vgl. exemplarisch Keim, Erziehung, Bd. II, 34–56. Vgl. Mühlfeld/Schönweis, Familienpolitik, 44f., 161–186; Niehuss, Familie und Geschlechterbeziehungen, 151; Gruchmann, Blutschutzgesetz, 432; Niehuss, Eheschließung, 863; Evans, Das Dritte Reich, 614f., 631, 659ff., 667f.; Bock, Zwangssterilisation, 80–93; Czarnowski, Ehe, 80f.; Klinksiek, Frau, 72–76; Longerich, Politik, 102–111; Weingart/Kroll/Bayertz, Rasse, 513f. Vgl. Gruchmann, Blutschutzgesetz, 434; Kundrus, Frauen, 497; Czarnowski, Ehe, 252; Herbert, Geschichte, 327.

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gesetzlichen Bestimmungen. Während Behörden auf lokaler und regionaler Ebene umfassende und durchgreifende Anordnungen verkündeten, relativierten zentrale Regierungsbehörden diese, indem sie Richtigstellungen erließen. Vielfach distanzierten sie sich auch. Anschließend folgten jedoch zentrale Erlasse, welche die lokalen Praktiken auf eine legale Basis stellten. Das „Wechselspiel zwischen Radikalisierung an der Basis, anschließender Mäßigung durch Parteiund Regierungsstellen und nachfolgender Legalisierung“43 stellte ein Signum der nationalsozialistischen Judenpolitik dar. Zudem führten diese Politik dazu, dass aufgrund des nach „innen“ gewandten Rassismus „nicht-arische“, gerade jüdische Bürger von den Bestimmungen wesentlich stärker betroffen waren als als „arisch“ klassifizierte Personen. Die Gesetzesänderungen hoben dabei für alle Personengruppen die Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre auf. Aus der Perspektive nationalsozialistischer Juristen war auch das Private wie die Familie politisch. Die NS-Gesetze etablierten damit nicht nur die NS-Rassenideologie, sondern zogen auch eine „Entprivatisierung von Ehe und Familie“ nach sich.44 Aus mikrohistorischer Perspektive relativiert sich allerdings diese Interpretation. Bei der Überführung der gesetzlichen Vorgaben in die Alltagspraxis zeigte sich, dass nicht alle Teilbereiche erfasst wurden. Sicherlich hoben das „Ehegesundheitsgesetz“ und seine erste Durchführungsverordnung explizit darauf ab, dass Verlobte vor der Eheschließung jeweils ein (amts-)ärztliches „Ehetauglichkeitszeugnis“ vorlegen sollten. Andererseits konnte sich diese Bestimmung in der Praxis nicht durchsetzen, da es den Ärzten auf lokaler Ebene kaum gelang, den dadurch entstehenden Arbeitsaufwand zu bewältigen. Bis Kriegsbeginn 1939 galt aufgrund solcher Schwierigkeiten eine „Übergangsregelung“, wonach das Zeugnis lediglich vorgelegt werden musste, sollte der Standesbeamte Zweifel an der „Ehegesundheit“ hegen.45 Die Historikerin Hester Vaizey argumentiert zudem, „the Aryan family unit lost neither its sense of belonging together nor its emotional intimacy“.46 Wenngleich Vaizeys These lediglich auf einen Teil der Familien in Deutschland zutraf, so erfasste sie dennoch ein zentrales Wesensmerkmal. Zumindest die „arischen“ Familien konstituierten weiterhin – zumindest in Teilen – einen geschützten Privatraum und eine emotionale Einheit. Obwohl der Gesetzgeber die neuen rechtlichen Bestimmungen mit einem allumfassenden Geltungsanspruch versehen hatte, blieb also auf der individuel43 44 45

46

Ebenda. Vgl. ebenda; Herbert, Traditionen, 474; ders., Arbeit, 12f.; Klinksiek, Frau, 72; Saldern, Victims, 146. Vgl. BArch Berlin R 3001/20461, [Franz] Maßkeller, Das Ehegesundheitsgesetz und die erste Durchführungsverordnung hierzu, in: Deutsche Justiz, Nr. 51/52, 20. Dezember 1935, Bl. 96; Weingart/Kroll/Bayertz, Rasse, 514; Evans, Das Dritte Reich, 631; Mouton, Nurturing, 51f.; Czarnowski, Paar, 64. Vaizey, Surviving, 33.

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len Ebene ein Handlungsspielraum gewahrt – wenngleich die Familienmitglieder selbst entschieden, ob sie diesen nutzten. Insofern muss die Reichweite der gesetzlichen Vorgaben für das Familienleben und den konkreten Alltag relativiert werden. Stets muss dabei aber auch unterschieden werden zwischen „arischen“ und „nicht-arischen“ Familien, denn gerade Letztere erfasste die Gewaltpolitik des Nationalsozialismus früh und umfassend.47 Darüber hinaus sagen die jeweiligen Gesetzeserlasse zunächst nichts darüber aus, inwiefern sie auf positive Resonanz stießen. Dass zahlreiche Familien die familienpolitischen Unterstützungen des NS-Regimes annahmen, könnte vielfach auf einem sogenannten Mitnahmeeffekt beruht haben.48 Ebenso verhält es sich mit der Partizipation in NS-Massenorganisationen. Auch hier ist ein mikrohistorischer Zugriff erhellend. Vaizey fasst unter anderem die Gründe zusammen, warum Jugendliche begeistert an den Aktivitäten der Hitlerjugend teilnahmen. Lediglich ein Teil von ihnen habe sich zur NS-Ideologie bekannt, wohingegen ein anderer die Outdoor-Aktivitäten wie das Zelten geschätzt habe, also Unternehmungen, die schon vor 1933 beliebt gewesen seien. Familien insbesondere aus dem kommunistischen bzw. sozialdemokratischen oder katholischen Milieu wiederum einte nach Darstellung Vaizeys vielfach der private Widerstand gegen das Regime. Da die Ehefrauen und Mütter meist für die Gestaltung des Familienlebens verantwortlich gewesen seien, hätten sie in diesem Prozess eine Schlüsselrolle eingenommen. Damit habe die Familie trotz der staatlichen Intervention ein privater Rückzugsort bleiben können, sofern dies die Familienmitglieder gewünscht hätten. Andererseits habe dieser passive Rückzug ins Private sicherlich auch zur Herrschaftskonsolidierung des NS beigetragen.49 Ungeachtet dieser notwendigen Differenzierung in der Alltagspraxis zeigen die vom NS-Regime eingeführten Zuwendungen, welche Familienvorstellungen die Machthaber vertraten und welche Familien sie als „erwünscht“ deklarierten. Ein wichtiger Indikator waren vor allem die sogenannten Ehestandsdarlehen, die als Teil des „Gesetzes zur Verminderung der Arbeitslosigkeit“ vom Juni 1933 erlassen worden waren. Eine Durchführungsverordnung vom 20. Juni 1933 legte dabei fest, dass Paare einen zinslosen Darlehensbetrag zwischen 600 und 1.000 Reichsmark beantragen durften. Hierbei handelte es sich jedoch nicht um eine Bargeldzahlung. Vielmehr erhielten die Paare Gutscheine, die sie zum Kauf von Bettwäsche, Möbeln und Haushaltsgeräten verwenden konnten. Um die Geburtenziffern zu erhöhen, legte die Verordnung überdies fest, dass bei der Geburt eines Kindes der zurückzuzahlende Betrag jeweils um ein Viertel gekürzt 47 48 49

Vgl. Mouton, Nurturing, 48; Vaizey, Surviving, 22–29, 33ff.; Heineman, Difference, 73. Vgl. Mühlfeld/Schönweis, Familienpolitik, 12f. Ähnlich bei Robert G. Moeller in Bezug auf die Akzeptanz der NS-Ideologie unter Frauen vgl. Moeller, Mütter, 33. Vgl. Vaizey, Surviving, 25ff.

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werde. Umgangssprachlich bürgerte sich hierfür der Terminus „abkindern“ ein. Es folgten später noch weitere familienpolitische Vergünstigungen. Zum Beispiel kam es ab Oktober 1935 zu einmaligen Kindergeldzahlungen für kinderreiche Familien, die 1936 in eine laufende Kinderbeihilfe überführt wurden. Die Steuerpolitik war ein weiteres politisches Mittel, um die Geburten zu fördern. Ab 1934 erhielten kinderreiche Familien bei der Einkommenssteuer einen Vorteil gegenüber Ledigen sowie „kinderlosen“ und „kinderarmen“ Familien, den allerdings – wenn überhaupt – nur wenige „kinderreiche“ Familien mit einem höheren Einkommen ausschöpfen konnten. Nach der Steuerreform vom Herbst 1934 ergab sich bei einem Jahreseinkommen von 1.500 Reichsmark (RM) eine gestaffelte Einkommenssteuer von 125 RM für Ledige, 62 RM für kinderlose Ehepaare, 34 RM bzw. 10 RM für Familien mit einem Kind bzw. zwei Kindern. Ab dem dritten Kind entfiel die Steuer. Von diesen Vergünstigungen profitierten aber nur wenige Familie, da 1936 62 Prozent der Steuerzahler weniger als 1.500 RM verdienten. 21 Prozent der Steuerpflichtigen verdienten zwischen 1.500 und 2.400 RM, wobei in diesem Fall dann ab dem vierten Kind keine Einkommenssteuer mehr anfiel. Alle diese sozialpolitischen Zuwendungen standen jedoch lediglich „arischen“ Familien zu. Weitere Einschränkungen galten gerade für die Ehestandsdarlehen. Die Ehefrauen mussten laut Verordnung mit der Eheschließung ihren Arbeitsplatz aufgeben. Zudem konnte ab August 1933 das Darlehen beantragt werden, wenn eine arbeitslose Ehefrau zwischen 1928 und 1933 mindestens sechs Monate in einem Arbeitsverhältnis gestanden hatten. Darüber hinaus mussten die Frauen den nationalsozialistischen rassenideologischen bzw. erbgesundheitlichen und bevölkerungspolitischen Anforderungen entsprechen, die von Ärzten überprüft werden sollten. Ungefähr 20 Prozent der antragstellenden Paare wurden abgelehnt. Die Ärzte begründeten dies jedoch nicht ausschließlich mit gesundheitlichen Bedenken. Vielmehr führten sie oft auch „asoziales“ oder „unsittliches“ Verhalten an.50 Auf lokaler Ebene bedeuteten solche medizinischen Untersuchungen eine enorme zeitliche und finanzielle Belastung für die Ärzte. In Westfalen berichteten Kreisärzte, dass sie die Kosten für die Untersuchungen selbst zu tragen hätten. Zudem nähmen die Untersuchungen viel Arbeitszeit in Anspruch. Das belegt schon allein der quantitative Umfang, denn in Westfalen wurden zwischen 1933 und 1937 ungefähr 94.000 Ehestandsdarlehen gewährt. Die Zahl der insgesamt untersuchten Frauen muss wesentlich höher gelegen haben. Dieser Befund trifft auch für das Reichsgebiet insgesamt zu. Der Vorstand der So50

Vgl. Bock, Frauen und ihre Arbeit, 117f.; Bock, Zwangssterilisation, 146ff.; Bock, Antinatalism, 123ff.; Klinksiek, Frau, 87–90; Czarnowski, Paar, 103f.; Niehuss, Eheschließung, 855ff.; Mühlfeld/Schönweis, Familienpolitik, 203–207; Einkommenssteuergesetz vom 16. Oktober 1934, in: Reichsgesetzblatt Teil 1, Nr. 119, 24. Oktober 1934, 1005–1030; Tooze, Ökonomie, 174.

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zialdemokratischen Partei im Exil (Sopade) berichtete, dass nach Darstellung von Presseberichten im ganzen Reichsgebiet zwischen August 1933 und März 1938 900.000 Ehestandsdarlehen über 600 Millionen Reichsmark ausgezahlt worden seien. Die Ärzte standen aber noch vor einem weiteren Problem. Sie mussten den Gesundheitszustand der Paare feststellen. Da jedoch die medizinischen Unterlagen oft unvollständig waren und die Paare selbst hierüber meist keine verlässlichen Angaben machten, manchmal durchaus bewusst, fällten die Ärzte ihr Urteil auf der Basis der ihnen vorliegenden Informationen und ihrer persönlichen Einschätzung. Mehrere Faktoren beeinflussten somit die medizinischen Befunde. Zunächst sind die nationalsozialistischen Vorgaben zu benennen. Darüber hinaus waren die medizinischen Rahmenbedingungen entscheidend, wie das lokale Netzwerk von Ärzten, Krankenhäusern, Gesundheitsämtern und Beratungsstellen. Drittens gab die persönliche Einstellung der Ärzte Ausschlag darüber, wie sie über die Anträge urteilten.51 Auch die Gründe, warum Familien das Darlehen in Anspruch nahmen, variierten erheblich. Einige Paare sicherten sich so die notwendige finanzielle Basis, um eine Familie zu gründen. Für andere wiederum stand die Möglichkeit im Vordergrund, sich staatliche Zuwendungen aus persönlichen Gründen zu sichern. Wieder andere Paare lehnten die Darlehen ab, da es sich aus ihrer Sicht um Sozialhilfe handelte.52 Insofern korrelierten in synchroner Perspektive mehrere Faktoren miteinander und determinierten, ob Ehestandsdarlehen erteilt bzw. beantragt wurden. In diachroner Perspektive wiederum verschob sich die Position des NS-Regimes und beeinflusste so den Umfang der Darlehen. So wurde um 1937 die Vergabepraxis für die Ehestandsdarlehen geändert. Da mittlerweile ein Arbeitskräftemangel herrschte, mussten Frauen ab dem Winter 1937 nicht mehr aus dem Beruf ausscheiden, um ein Ehestandsdarlehen in Anspruch nehmen zu können. Diese Entscheidung traf zwar innerhalb der Bevölkerung durchaus auf positive Resonanz. Allerdings wurde zwischen ungefähr 1937 und 1939 nur knapp über 40 Prozent der neu verheirateten Paare das Darlehen zugesprochen. Die NSBehörden verwehrten weiterhin vielen Paaren ein Darlehen, andere Ehepaare beantragten es noch immer nicht. Sie waren schlicht zu träge, um den damit einhergehenden Aufwand auf sich zu nehmen. Eine weitere Gruppe von Paaren fürchtete die medizinische Untersuchung, da Ärzte eine Sterilisation empfehlen konnten, sollten die Paare nicht den gewünschten rassenideologischen Vorgaben entsprechen. Ihnen drohte folglich, dass staatliche Behörden und Ärzte bei ihnen auf antinatalistische Maßnahmen drängten. Es gab aber auch Fälle, in denen

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Vgl. Mouton, Nurturing, 56ff.; Czarnowski, Paar, 111–121; Die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik in: Sopade, 643. Vgl. Mouton, Nurturing, 60f.

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die Ärzte oder Funktionäre ihre Position nutzten, um Frauen und Männer vor dem staatlichen Zugriff zu schützen.53 Insofern existierte eine große Bandbreite an sozialen Praktiken, die zumindest in Teilen den gesetzlichen Vorgaben zuwiderlief. Neben der Sterilisation als Mittel der „negativen“ Eugenik muss an dieser Stelle die „positive“ Eugenik als weitere familienpolitische Maßnahme angesprochen werden. Hierzu zählte das Hilfswerk Mutter und Kind, das 1934 gegründet worden war. Es sollte für Mütter und ihre Kinder sorgen und „wertvolle“ Familien finanziell unterstützen. Obwohl die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) zwischen ledigen Müttern und verheirateten Müttern unterschied und sich gegen deren Gleichstellung aussprach, sollten alleinerziehende Mütter mit „erbgesunden“ Kindern wie verheiratete Mütter Unterstützungsleistungen erhalten, wenngleich in geringerem Umfang. Auch sie seien ein wichtiger Teil der „Volksgemeinschaft“, erklärten Mitarbeiter der NSV.54 Die Regierung griff mit diesen Maßnahmen in den Privatraum der Familie ein und beabsichtigte, ihn nach ihren Vorstellungen zu formen. „Erbgesunder“ Kinderreichtum firmierte somit im Nationalsozialismus als Ideal. Das bekräftigte der Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, Walter Groß, 1935. Aus seiner Perspektive war „kinderreich“ „ein Begriff völkischer Ehre, ein Pflichtbegriff für den einzelnen, eine Lebensfrage für ein Volk“.55 Eugeniker und Bevölkerungspolitiker betonten in den 1930er Jahren stets, dass die Zukunft des deutschen „Volkes“ von der Zahl der Familien mit vier und mehr Kindern abhänge.56 Der mittlerweile dem Rassenpolitischen Amt der NSDAP untergeordnete Reichsbund der Kinderreichen stimmte in diesen Tenor ein und propagierte Kinderreichtum als bevölkerungspolitisches Ziel. Gleichzeitig sah sich der Reichsbund selbst als Speerspitze der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik.57 Grundlegend neu und spezifisch nationalsozialistisch war diese ideologische Ausrichtung des Reichsbundes hingegen nicht. Sie hatte sich bereits in den Jahrestagungen 1930 und 1931 auf die Themen „Erbgesundheit“ und Kinderreichtum verengt. Darüber hinaus setzte sich der Reichsbund

53

54 55 56

57

Vgl. Czarnowski, Paar, 105; Mouton, Nurturing, 57, 61f., 139–149; Die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik in: Sopade, 642. Ausführlich zur Sterilisierung bei Bock, Antinatalism; Bock, Zwangssterilisation. Vgl. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 166f.; Czarnowski, Paar, 173–186; Mouton, Nurturing, 169. BArch Berlin NS 5/VI/4907, Kinderreich, ein Begriff völkischer Ehre, in: Völkischer Beobachter, Nr. 347, 13. Dezember 1935 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Vgl. ebenda; BArch Berlin NS 5/VI/4907, Die gesunde Vollfamilie, in: Berliner Tageblatt, 12. Dezember 1935; BArch Berlin NS 5/VI/4908, Der Wille zum Kind, in: National-Zeitung, 19. April 1936; BArch Berlin NS 5/VI/4909, Unser Volk darf nicht sterben! Bekenntnis der Kinderreichen, in: National-Zeitung, 30. September 1936. Vgl. Marschalck, Bevölkerungsgeschichte, 76f.; Pine, Nazi Family Policy, 91.

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für die finanzielle Unterstützung kinderreicher Familien ein, wie durch Wohnungsbaumaßnahmen.58 Vor allem von 1933 bis 1935 dominierte der Bau von Kleinhäusern mit ein bis vier Wohnungen, die dann ausgewählten Arbeiterfamilien auf der Basis rassenideologischer Kriterien zugewiesen wurden. Überdies orientierte sich die Gestaltung des Wohnraums mit vier Zimmern und einer Größe von 75 qm an dem von Nationalsozialisten angestrebten Ziel der VierKinder-Familie. Gleichwohl blieb, trotz dieser Anstrengungen und auch weil die Aufrüstung Priorität genoss, der Wohnungsmangel bestehen. Die Zahl der fehlenden Wohnungen stieg sogar von ca. einer Million 1933 auf 1,5 Millionen 1939 an.59 4.1.2 Ambivalente mütterliche Rollenmodelle 4.1.2.1 Die Mutter als Garant der Ordnung oder Hort der Gefahr?

Eine Bedrohung kam für die nationalsozialistischen Machthaber aus den Familien selbst. Denn wie die Familienmitglieder ihren Alltag regelten, entzog sich vielfach staatlicher Kontrolle. Um diesem Problem entgegenzutreten, wurde zwar ein Teil der Kindererziehung Organisationen übertragen. Gerade die frühkindliche Sozialisation fiel jedoch weiterhin in den Aufgabenbereich der Mutter. Aber auch hier versuchten die nationalsozialistischen Entscheidungsträger, die mütterliche Erziehung nach ihren Vorstellungen anzuleiten. Eine reichhaltige Literatur gab die Leitlinien vor, in der insbesondere die Publikationen der Entwicklungspsychologin Hildegard Hetzer und der Lungenfachärztin Johanna Haarer hervorstachen. Beide Expertinnen setzten funktionalisierte und verwissenschaftlichte Erziehungsmethoden ein, um die Frauen auf ihre Rolle als Mutter und Erzieherin vorzubereiten. Zum Beispiel präsentierten sie rationale und systematische Prinzipien, die modernen Produktionsmethoden entlehnt waren. Auch wenn es sich hierbei nicht um eine spezifisch deutsche Entwicklung der 1930er Jahre handelte, wurde diese Art der Kindererziehung im nationalsozialistischen Deutschland besonders rigoros umgesetzt. So orientierte sich Johanna Haarers Ratgeber Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind an einem Erziehungsmodell, das Müttern einen distanziert rationalisierten Umgang mit ihren Kindern nahelegte. Auch dadurch entstand eine versachlichte Mutter-Kind-Beziehung.60 58 59 60

Vgl. ebenda, 92f., 95. Vgl. Saldern, Häuserleben, 194f., 206, 211f.; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 130f. Vgl. Haarer, Mutter; Gebhardt, Angst, 74, 81ff., 85–91; Brockhaus, Muttermacht; ders., Lockung. Dorothee Klinksiek urteilt hierzu: „Es ist außerordentlich bezeichnend für die Methode der Nationalsozialisten, daß die Wichtigkeit der Familienerziehung zwar ständig hervorgehoben wurde, daß gleichzeitig aber unverhohlenes Mißtrauen vor dem, was sich da unkontrolliert in der Familie abspielte, existierte.“ Klinksiek, Frau, 36.

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Hildegard Hetzers Ansatz betonte demgegenüber stärker die Defizite mütterlicher Erziehungsfähigkeiten und wollte diese mit ihren Ratschlägen reduzieren. Hetzer implizierte damit, dass Frauen ihre Aufgaben früher nicht adäquat erfüllt hätten. Diese Kritik hatten bereits Zeitgenossen während der 1920er Jahre immer wieder artikuliert und die mangelnde Befähigung zur Kindererziehung vieler Frauen für soziale Probleme wie die Jugendkriminalität, den Geburtenrückgang oder die vermutete Krise der Familie verantwortlich gemacht. Ebendiese Defizite sollten durch eine „richtige“ frühkindliche Sozialisation beseitigt werden.61 Ihre Position verdeutlichte Hetzer unter anderem 1938 in dem Aufsatz Mütterliche Grundhaltungen. Darin betonte sie zunächst, dass das Schicksal des Kindes von der „Persönlichkeit der Mutter“62 determiniert werde, die sich in vier Typen untergliedern lasse: die „geordnete“ Mutter; die „ungeordnete“ Mutter; die „Mutter ohne Abstand zum Leben“; die „triebhafte Mutter“. Lediglich die „geordnete“ Mutter meistere die Kindererziehung. Demgegenüber würden „ungeordnete“ Mütter stärker ichbezogen agieren; sie seien insbesondere in EinKind-Familien anzutreffen. Sie „überschütteten“ ihr Einzelkind mit „Liebe und Sorgfalt“, lautete ein weiteres Monitum Hetzers. Zugleich sähen sie das Kind als „Besitztum“ an, das sich nach ihren Wünschen richten müsse. Wenn das Kind jedoch diesen mütterlichen Vorgaben nicht nachkomme, dann schlage die ihm entgegengebrachte Liebe in Ablehnung um. Insofern stufte Hetzer diese Gruppe von Müttern aus zwei Gründen als problematisch ein. Sie würden deutliche Defizite bei der Kindererziehung zeigen, da sie ihr Kind verwöhnten. Überdies rangierten die mütterlichen Wünsche vor denen des Kindes und, wenn diese nicht erfüllt würden, verkehre sich die Zuneigung ins Gegenteil. Hetzer mahnte sogar, dass sich diese Mütter im schlimmsten Fall zu „triebhaften“ Müttern entwickeln könnten.63 Die „Mutter ohne Abstand zum Leben“ wiederum sei der „geordneten“ Mutter in ihrer Grundhaltung ähnlich, da auch sie ihre Familie sowie ihre Kinder als höchstes Gut ansehe und sich für sie aufopfere. Sie erziehe die Kinder damit ebenfalls „für ihre Aufgaben für andere im Leben“.64 Sobald jedoch etwas Unvorhergesehenes den Lebensentwurf störe, wie das für Großstädte typisch sei, dann führe dies allerdings zu schwerwiegenden Erziehungsproblemen. Schließlich fehle diesem Muttertyp die persönliche Fähigkeit, soziale Probleme einzuhegen. Da Hetzer diese Art von Mutter als große soziale Gruppe identifizierte, sollten staatliche Hilfsmaßnahmen für Mütter wie Säuglingsfürsorgestellen vor allem auf diesen Typ abzielen. Demgegenüber seien solche Unterstützungen 61 62 63 64

Vgl. Gebhardt, Angst, 74f., 79. BArch Berlin NS 5/VI/7130, Hildegard Hetzer, Mütterliche Grundhaltungen, Januar 1938, Bl. 32. Vgl. ebenda. Für die folgenden Zitate vgl. ebenda.

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bei der „ungeordneten“ Mutter wenig erfolgversprechend, zumal sie in vielen Verhaltensmustern dem vierten Typ, der „triebhaften“ Mutter, ähnele und es sich hierbei um „den Uebergang zu den pathologischen Abartungen des Muttertums“ handele. Hetzer stufte das aus zwei Gründen als besonders problematisch ein. In diesen Familien hätten staatliche Hilfen nicht nur meist keinen Erfolg. Es handele sich zudem bei diesem Typ vielfach um „kinderreiche“ Mütter. Sie hätten damit die für den Erhalt der „Volksgemeinschaft“ notwendige Kinderzahl. Jedoch würden diese Kinder nicht im Dienste der „Volksgemeinschaft“ erzogen. Sie verwahrlosten oft sogar, mahnte Hetzer an. Um dieses soziale Problem abzufedern, plädierte sie dafür, dass sich sowohl die Haltung der „Gemeinschaft“ zur Mutter wie auch die Erziehung der Mädchen zur Mutter ändern müsse. Denn eine liberalistisch-individualistische Haltung einer Gemeinschaft begünstigt fraglos das Auftreten der ungeordneten und der triebhaften Mutter, die hemmungslos ihren [sic!] Neigungen leben kann (Abtreibung, Häufigkeit der Ehescheidung, Leichtigkeit, anderen die Verantwortung für das Kind zuzuschieben), während eine von der Verantwortung für die Gemeinschaft des Volkes getragene Auffassung, wie der Nationalsozialismus sie fordert,

lediglich die Gruppe der „geordneten Mütter“ und der „Mütter ohne Abstand zum Leben“ aufweise.65 In diesen Ausführungen standen sich zwei ambivalente Positionen gegenüber: Zunächst handelte es sich bei der „erbgesunden“ kinderreichen Familie um das anvisierte Ideal. Laut der Volkszählung 1933 hatten 25 Prozent der Paare vier und mehr Kinder. Demgegenüber galten 62 Prozent der Familien als „kinderlos“ oder „kinderarm“.66 Gleichzeitig identifizierten die NS-Behörden jedoch kinderreiche Familien oft als sozialen Problemfall, die sie dann sprachlich unter dem negativ konnotierten Terminus „Großfamilie“ zusammenfassten. Ferner verwies die nationalsozialistische Propaganda die Frau auf den Binnenraum der Familie und damit auf die Aufgaben Kindererziehung und Haushaltsführung. Parallel erklärten jedoch Erziehungsratgeber, die Mütter erfüllten ihre traditionelle Rolle nicht hinreichend und würden den geforderten Erziehungsaufgaben oft nicht gerecht. Damit stand der Vorwurf im Raum, dass die Frauen ihre Kinder nicht im Interesse der „Volksgemeinschaft“ erziehen würden.67 Dieser Befund rechtfertigte eine weitere Intervention vonseiten der NSBehörden. Sie wollten Frauen auf ihre Rolle als Mutter vorbereiten und sie zugleich im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie anleiten, wie dies in Eheberatungsstellen geschah. Zudem ergriffen die Machthaber weitere Schritte, um die nachwachsende Generation von Frauen und Männern entsprechend der 65 66 67

Vgl. ebenda. Vgl. Die deutschen Familien nach Kinderzahl, sozialer Stellung und Bodenbesitz, in: Wirtschaft und Statistik, 15. Jg., Nr. 6, 1935, 198–200, hier 198f. Vgl. Mouton, Nurturing, 150.

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gewollten Geschlechterrollen zu sozialisieren. Diese Maßnahmen erstreckten sich über die gesamte Kindheit und umfassten damit auch die an die frühkindliche Sozialisation anschließenden Lebensabschnitte. Exemplarisch hat die Pädagogin Gisela Miller-Kipp die Einflussnahme am Beispiel der Fibeln – dem Lesebuch der ersten und zweiten Klasse – des „Dritten Reichs“ herausgearbeitet. Die Text- und Bildgestaltung der Schulbücher suggerierte das Ideal einer „guten“ Familie, die „mutterzentriert, (klein)bürgerlich situiert und geschlechtsstereotyp“68 sei. Insofern spricht Miller-Kipp von einem „matriarchalischen Familienidyll“, wonach die Frau „Dreh- und Angelpunkt“69 des Familienlebens sei. Damit deckt sich die Art der Darstellung mit den nationalsozialistischen Familienvorstellungen. Darüber hinaus ergeben sich gerade im Hinblick auf die Geschlechterstereotype Anknüpfungspunkte zu den Fibeln des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Sie stellten den Vater ebenfalls als Ernährer dar, der tagsüber außer Haus tätig war und lediglich abends am Familienleben partizipierte. Zugleich bildeten sie geschlechtsstereotype Erziehungsmodelle ab: Jungen besaßen technische Spielsachen wie Spielzeug-Bauklötze, Mädchen spielten die Puppenmütter – ein Verweis auf ihre späteren Rollen als berufstätiger Ehemann sowie als Hausfrau und Mutter. Diese Art der Darstellung verwies jedoch nicht nur auf tradierte Geschlechterrollen. Sie implizierte überdies, dass sich die Kinder den gesellschaftlichen Vorgaben unterordnen mussten. Ein individueller Handlungsspielraum wurde damit negiert. Die Ambivalenzen des Familienalltags blieben hingegen in allen Darstellungen bewusst unberücksichtigt.70 4.1.2.2 Hausfrau oder berufstätige Mutter?

Auch die Vielschichtigkeit des Alltags der Frau in ihren Rollen als Mutter, Ehefrau, Hausfrau und Berufstätige blieb in der staatlichen Propaganda unberücksichtigt. Stattdessen reduzierte die nationalsozialistische Propaganda in Berichten des Völkischen Beobachters und Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung die Frauen zunächst stets auf zwei Rollen: Hausfrau und Mutter. Gerade die Inszenierung des Muttertags verdeutlicht dies besonders eindrücklich. Er war nach dem Vorbild der USA zwar bereits nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt worden und äußerst populär gewesen, jedoch erfuhr der Muttertag im Nationalsozialismus eine zusätzliche Aufwertung, als ihn die Nationalsozialisten bereits kurz nach der „Machtübertragung“ zum Nationalfeiertag erklärten. Darüber hinaus instrumentalisierten sie den Mut68 69 70

Miller-Kipp, Familie, 93. Ebenda, 97. Vgl. ebenda, 92–102; Gestrich, Geschichte (2010), 8; Budde, Women’s Finest Hour, 44; Klinksiek, Frau, 35.

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tertag für ihre bevölkerungspolitischen Ziele und NS-Massenorganisationen setzten ihn dementsprechend in Szene.71 Zum Beispiel gründeten die NS-Frauenschaft, das Deutsche Frauenwerk und die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt am Muttertag 1934 gemeinsam den Reichsmütterdienst, der die Akzeptanz der Rollen von Ehefrau und Mutter erhöhen sollte. Um dieses Ziel zu erreichen, organisierte der Reichsmütterdienst unter anderem Mütterkurse und -schulen sowie Erholungsfahrten für Mütter und ihre Kinder. Die Historikerin Ute Frevert argumentiert in diesem Zusammenhang, dass die Maßnahmen Mutterschaft und Hausarbeit „‚professionalisiert‘ und in ihrer Bedeutung für die ‚Volksgemeinschaft‘ sozial aufgewertet“72 hätten. Gleichzeitig muss aber auch, wie zuvor vorgestellt, die kritische Haltung der Ratgeberliteratur zu den mütterlichen Erziehungskompetenzen berücksichtigt werden. Sie bildete gewissermaßen einen Gegenpol zu dieser Lesart. Vermutlich beabsichtigten die Regierungsvertreter und Behörden mit dieser ambivalenten Haltung und dem ständigen Wechselspiel von loben und fördern auf der einen sowie mahnen und anleiten auf der anderen Seite sicherzustellen, dass die Mütter die NS-Bevölkerungsideologie in der Alltagspraxis weitgehend umsetzten. Diese Maßnahmen bezogen sich lediglich auf Mütter, die der rassenideologischen Ausrichtung der NS-Bevölkerungspolitik entsprachen und von denen die nationalsozialistische Führung „erbgesunde“ Kinder erwartete. Alle anderen Mütter erfuhren demgegenüber im Konflikt um die Familie den repressiven Charakter der NS-Bevölkerungspolitik.73 Die Pluralität der individuellen Lebenssituationen fand folglich weder Eingang in die Propaganda noch in die Schulbücher. Parallel zu den offiziellen Diskursebenen blieben also deviante Ansichten und verschiedene soziale Praktiken erhalten. Diese Widersprüchlichkeiten bündelten sich gerade in der Person der Ehefrau und Mutter. Nach der Machtübernahme zielten die politischen Maßnahmen darauf, die Frauen aus ihrem Beruf in die Familien zu drängen. In der sozialen Realität scheiterte dieses Unterfangen allerdings früh. Es gab innerhalb der NS-Führung auch Stimmen, die sich dafür einsetzten, dass Frauen weiterhin ihren Beruf ausüben sollten. Am 8. November 1933 unterzeichneten Rudolf Heß und Martin Bormann eine Verfügung, wonach Frauen nicht zur Aufgabe ihres Berufes gedrängt werden durften, sofern sie mit ihrem Verdienst Verwandte – vor allem Kinder – ernährten. Überdies sollten auch nur dann Männer die Arbeit von Frauen übernehmen dürfen, wenn sie selbst eine Fami71 72 73

Vgl. Frevert, Frauen-Geschichte, 191; Mouton, Nurturing, 116–122; Weyrather, Muttertag, 18–39. Frevert, Frauen-Geschichte, 226. Siehe auch Kramer, Haushalt, 43. Vgl. Frevert, Frauen-Geschichte, 226f.; Ruhl, Alltag, 60f.; Kundrus, Frauen, 496. Für einen allgemeinen Überblick über die Geschichte des Muttertags vgl. Hausen, Mother’s Day; Hausen, Mütter, Söhne; Weyrather, Muttertag, 18–39. Zur Frauenarbeit im Nationalsozialismus vgl. Kramer, Haushalt.

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lie zu ernähren hatten.74 Damit erkannte die NS-Führung zumindest an, dass zahlreiche Frauen, insbesondere aus der Mittelschicht, aufgrund der finanziellen Engpässe ihrer Familien einer Berufsarbeit nachgingen. Das lag freilich quer zu den propagandistischen Bestrebungen. Zudem wandelte sich innerhalb des nationalsozialistischen Regimes die Einstellung zu den Rollen der Frauen grundlegend. Zunächst wurden die Ehefrauen aus dem Berufsleben gedrängt, sodass ihr Anteil an den Erwerbstätigen von 35 Prozent 1931 auf 31 Prozent 1936 sank. Doch als gegen Mitte der 1930er Jahre ein wirtschaftlicher Aufschwung einsetzte und sich um 1936 ein Arbeitskräftemangel abzeichnete, passte das NS-Regime seine Familienideale an die geänderten Rahmenbedingungen an. Jetzt sollten und mussten Frauen und Mütter zum Wohle der „Volksgemeinschaft“ in Fabriken arbeiten, um das Defizit von gut einer halben Million Arbeitskräfte 1937 auszugleichen. Dieser Richtungswechsel ließ den Anteil der weiblichen Berufstätigen im Jahr 1939 auf 37 Prozent ansteigen. Mit dem Kriegsbeginn 1939 und der Einberufung der Männer in die Armee wuchs der Bedarf an weiblichen Arbeitskräften weiter und nach der Niederlage in Stalingrad 1943 intensivierte sich die Anwerbung von Arbeiterinnen abermals.75 Die nationalsozialistische Führung forderte in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre somit nicht nur die weibliche Arbeitskraft im Dienste der „Volksgemeinschaft“ ein. Sie wünschte sich von ihren „Volksgenossinnen“ weiterhin, dass sie eine größere Zahl „erbgesunder“ Kinder auf die Welt brächten. Um diesem rassenideologischen und bevölkerungspolitischen Anliegen Nachdruck zu verleihen, instrumentalisierte die NS-Führung 1939 den Muttertag und führte das „Ehrenkreuz der deutschen Mutter“ („Mutterkreuz“) als Zeichen der Anerkennung für „kinderreiche“ Mütter ein. Der Reichsbund der Kinderreichen unterstützte diese Maßnahme, wonach ausgewählte Mütter mit vier und fünf Kindern ein bronzenes, Mütter mit sechs und sieben Kindern ein silbernes sowie Mütter mit acht und mehr Kindern ein goldenes Kreuz verliehen wurde. Allerdings reichte die Kinderzahl allein nicht aus, damit Müttern die Anerkennung zuteilwurde. Beide Eltern mussten ferner nachweislich als „deutschblütig und erbtüchtig“ eingestuft worden sein. Zudem war es notwendig, die Mütter vorab für „würdig“ zu befinden. Demgegenüber sollten Mütter aus „erbkranken und asozialen Familien“76 nicht vorgeschlagen werden. Überdies hieß es in 74 75

76

Vgl. BArch Berlin NS 6/215, NSDAP – Reichsleitung. Der Stellvertreter des Führers, Verfügung, München, 8. November 1933, Bl. 50; Weyrather, Muttertag, 35; Schulz, Sicherung, 124. Vgl. Gestrich, Geschichte (2010), 49; Sieder, Sozialgeschichte, 232–235; Bock, Zwangssterilisation, 148; Stephenson, Women, 50–55; Moeller, Mütter, 37f., 41ff.; Budde, Women’s Finest Hour, 44; Klinksiek, Frau, 100–111; Schulz, Sicherung, 124f. BArch Berlin NS 6/232, Merkblatt für die Auslese der Mütter, die für die Verleihung des Ehrenkreuzes der deutschen Mutter vorgeschlagen werden sollen (Anlage zur Anordnung Nr. 37/39), [Obersalzberg, 15. Februar 1939], Bl. 34.

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den Vorgaben, dass Mütter aus „asozialen Großfamilien“77 grundsätzlich ausgeschlossen werden sollten. Gleichzeitig gab es deutliche regionale Unterschiede in der Frage, wen staatliche Stellen für ein Mutterkreuz nominierten. Während die Bestimmungen vorsahen, dass die Mütter von Vertretern der Regierung oder der NSDAP benannt werden sollten, lag die Praxis hierzu meist quer. Viele Frauen fanden auf lokaler Ebene Fürsprecher, die sich für ihre Nominierung einsetzten, obwohl die nötigen Informationen über ihre „arische“ Abstammung fehlten. In der sozialen Praxis setzten somit die Behörden die staatlichen Vorgaben unterschiedlich um. Insgesamt wurde ungefähr fünf Millionen Frauen ein „Mutterkreuz“ verliehen, einen merklichen Einfluss auf die Geburtenentwicklung hatte dies jedoch nicht. Allerdings symbolisiert das „Mutterkreuz“ als weitere politische Maßnahme, wie im Konflikt um die Familie die pronatalistischen Tendenzen und die rassenideologische Ausrichtung der Bevölkerungspolitik des Nationalsozialismus zusammenliefen.78 Immer wieder zeigte sich in den 1930er Jahren wie auch während des Zweiten Weltkriegs, wie ambivalent sich der Nationalsozialismus gegenüber der Rolle der Frau positionierte. Wenngleich die Propaganda die tradierten weiblichen Rollen von Hausfrau und Mutter pries, inszenierte sie aus opportunistischen Überlegungen die Mutter zugleich als Berufstätige. Gerade diese Sichtweise teilten weder NSDAP-Vertreter noch Behörden uneingeschränkt. Ein Memorandum über das Bevölkerungspolitische Programm nach dem Kriege betonte, dass die Frauen nach dem Kriegsende wieder aus dem Erwerbsleben ausscheiden sollten. Dabei distanzierte sich der Verfasser der Denkschrift an diesem Punkt explizit von Friedrich Burgdörfer, der Halbtagsarbeit als „Notlösung“79 vorgeschlagen hatte, und plädierte für eine kompromisslose Haltung. Schließlich sei es notwendig, die Ehefrauen zu entlasten, da sie unter einer Überarbeitung leiden würden.80 Die Denkschrift rezipierte somit eine wichtige vom Krieg hervorgerufene Veränderung: Die Versorgungslage mit Essen verschlechterte sich sukzessive. Die Frauen kümmerten sich unter erschwerten Bedingungen alleine um Haushaltsführung, Kindererziehung und Berufsarbeit.81 Der Historiker Reinhard Sieder argumentiert, dass der Nationalsozialismus „eine systematische Erziehung der Frauen zur Doppelbelastung“82 verfolgt habe, da sie in den Augen der Propaganda ab Mitte der 1930er Jahre sowohl Mutter als auch Berufstätige sein sollten. Allerdings waren Frauen schon in der Zwischenkriegszeit oft aus wirtschaftlichen Gründen 77 78 79 80 81 82

Ebenda. Vgl. Mouton, Nurturing, 124–129; Kundrus, Frauen, 496f.; Weyrather, Muttertag, 57–84. Zur Rolle der Volksgenossinnen an der Heimatfront vgl. Kramer, Volksgenossinnen. BArch Berlin R 3001/10118, Bevölkerungspolitisches Programm nach dem Kriege, ohne Ort, ohne Datum, 16. Vgl. ebenda. Vgl. Vaizey, Surviving, 124–131; Moeller, Mütter, 42. Sieder, Sozialgeschichte, 235.

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4.1 Politische Einflussnahme und versuchte Redefinition der Familienideale

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berufstätig und darüber hinaus noch für die Haushaltsführung und Kindererziehung verantwortlich gewesen. Der Kriegsbeginn markierte gleichwohl insofern eine Zäsur, als nun verheiratete Frauen diese Aufgaben unter schwierigeren Rahmenbedingungen und ohne ihre Männer schultern mussten. 4.1.2.3 Alleinerziehende als Arbeitskraft und Mutter

Alleinerziehende Mütter mussten diese Aufgaben demgegenüber stets alleine übernehmen. Sie stellen eine weitere Gruppe von Frauen dar, bei denen sich die Ambivalenzen der NS-Familienpolitik zeigten. Dabei steckten das „Sterilisationsgesetz“, das „Blutschutzgesetz“ und das „Ehegesundheitsgesetz“ die rechtlichen Rahmenbedingungen ab, in denen eine Reform des Nichtehelichenrechts diskutiert, aber bis zum Kriegsende nicht umgesetzt wurde. Gleichwohl sind die juristischen Auseinandersetzungen aus mehreren Gründen erhellend. Die Akademie für Deutsches Recht und das Justizministerium knüpften zwar an die gescheiterten Reformbestrebungen der 1920er Jahre an, entfernten sich jedoch in zwei Positionen deutlich von den Debatten der Weimarer Republik: bezüglich der Gründe für die Reform und der konkreten Ausgestaltung des Nichtehelichenrechts. Zunächst zielte dieses Reformgesetz ebenfalls darauf, die Zahl der „erbgesunden“ Kinder zu erhöhen. Jedem Kind sollte darüber hinaus die Chance eröffnet werden, Teil der „Volksgemeinschaft“ zu sein.83 Gegenüber den 1920er Jahren erfolgte noch eine weitere wichtige Akzentverschiebung im Konflikt um die Familie. Die Trennscheide während der 1930er Jahre verlief nicht entlang der ursprünglichen Unterscheidung zwischen „ehelich“ und „unehelich“, sondern vielmehr entlang des Kriteriums „wertvoll“ und „wertlos“.84 Der Entwurf des „Zweiten Familienrechts-Änderungsgesetzes“ setzte diese Maßgabe insofern um, als er unehelich geborene Kinder nach ihren „rassischen“ Merkmalen unterschied. Es gab demnach zwei Kategorien von Kindern: „erbgesunde“ und „wertlose“. Da letztere nicht die von Nationalsozialisten gewünschten Anforderungen an die Mitglieder der „Volksgemeinschaft“ erfüllten, bekamen sie keine Unterstützungsleistungen und wurden benachteiligt.85 83

84 85

Vgl. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 148, 192f.; Frevert, Frauen-Geschichte, 231; Mouton, Nurturing, 197; BArch Berlin NS 5/VI/7136, Der alte Makel – unehelich! Auch uneheliche Kinder sind Glieder der Gemeinschaft – Die Frage des Unehelichenrechts, in: N. S. K., 12. Mai 1937, Bl. 34. Siehe auch BArch Berlin NS 5/VI/7136, Das Recht der unehelichen Kinder. Die Ansicht des Reichsrechtsamtes in der Reichsleitung der NSDAP. Wie steht es mit den Unterhaltsansprüchen, in: Der SA-Mann, 2. Oktober 1937, Bl. 24. Vgl. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 151f. Vgl. BArch Berlin R 43II/1524b, Begründung zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung familien- und erbrechtlicher Vorschriften (Zweites Familienrechts-Änderungsgesetz – ZwFamRÄndG.), ohne Ort, [Mai 1940], Bl. 15; Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 159; Kundrus, Kriegerfrauen, 358. Für die juristischen Details der zeitgenössischen Debatte vgl. Schubert (Hg.), Familien- und Erbrecht, 509–713.

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Der Gesetzesentwurf beabsichtigte darüber hinaus, die nichtehelich geborenen Kinder und ihre Mütter, soweit sie die rassenideologischen Kriterien der „Erbgesundheit“ erfüllten, vom „Makel der Minderwertigkeit zu befreien“.86 Um diese Vorgabe auch sprachlich umzusetzen, verzichtete der Entwurf auf den Begriff „uneheliches Kind“ und sprach stattdessen vom „natürlichen Kind“.87 Eine völlige Gleichstellung mit den ehelich geborenen Kindern erfolgte dabei jedoch nicht. Vielmehr orientierte sich der Gesetzesentwurf in diesem Punkt stark an den Vorarbeiten der Akademie für Deutsches Recht. Da der Gesetzgeber „Ehe und Familie für die Volksgemeinschaft“ eine besondere Bedeutung zuschrieb, betonte er, dass das ehelich geborene Kind weiterhin eine höhere Wertschätzung erfahren müsse. Es ging somit letztlich darum, dass die Nachteile für nichteheliche Kinder „herabgemindert“ wurden, damit sie sich „zu wertvollen Gliedern der Volksgemeinschaft entwickeln“ könnten. Demnach waren nichteheliche „erbgesunde“ Kinder aus bevölkerungspolitischen Gründen „wünschenswert“. Umgesetzt wurde dieser Entwurf jedoch nie. Adolf Hitler wandte dagegen vor allem ein, dass die Rechte der nicht verheirateten Mutter nicht hinreichend berücksichtigt worden seien. Darüber hinaus riefen die Reformbestrebungen vielfach Protest hervor. Neben der evangelischen und der katholischen Kirche distanzierten sich auch die Mitglieder von NS-Organisationen wie dem Reichsmütterdienst und dem Reichsarbeitsdienst sowie die Wehrmacht von den Plänen. Letztlich verhinderte jedoch insbesondere der Widerstand Hitlers die Ratifizierung des Gesetzesentwurfs. Später genoss die Reform aufgrund des Kriegsverlaufs keine Priorität mehr. Da jedoch parallel zahlreiche Erlasse verkündet wurden, konnten die NS-Behörden die rassenideologischen Vorgaben des Regimes dennoch umsetzen. Zum Beispiel war es bis zum Winter 1937 möglich, einer berufstätigen Frau zu kündigen, wenn sie unehelich schwanger geworden war. Das änderte sich im folgenden Jahr: Uneheliche Schwangerschaft stellte somit keinen Kündigungsgrund mehr dar. Zudem entlastete das reformierte Steuergesetz 1938 die unverheirateten Mütter „erbgesunder“ Kinder, indem es sie in die Steuerklasse von geschiedenen bzw. verwitweten Müttern einordnete. Ferner entfiel 1940 in den Arbeitspapieren der Vermerk für das unehelich geborene Kind, was einen positiven Effekt bei der Arbeitssuche hatte. Wie bei der verheirateten Mutter zielten die politischen Maßnahmen primär darauf, das Arbeitskräftereservoir der Frauen abzuschöpfen. Eine rechtliche Besserstellung spielte dabei keine vorrangige Rolle.88

86

87 88

BArch Berlin R 43II/1524b, Begründung zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung familien- und erbrechtlicher Vorschriften (Zweites Familienrechts-Änderungsgesetz – ZwFamRÄndG.), ohne Ort, [Mai 1940], Bl. 17. Für die folgenden Zitate vgl. ebenda. Vgl. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 154–162, 192f.; Mouton, Nurturing, 213f.; Heineman, Difference, 35.

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4.2 Rassen- und bevölkerungspolitische Ausrichtung des Familienrechts

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4.2 Rassen- und bevölkerungspolitische Ausrichtung des Familienrechts: das Großdeutsche Ehegesetz 1938 4.2.1 Zielkonflikt zwischen Familienidealen, Rassenideologie und Bevölkerungspolitik

Die Debatten um die Reform des Familienrechts wiesen demgegenüber eine andere Schwerpunktsetzung auf. Das Thema weibliche Berufsarbeit blieb in diesen Aushandlungsprozessen ausgespart. Vielmehr zirkulierten die Kontroversen um die rassenideologischen und bevölkerungspolitischen Rahmenbedingungen, die das Recht zukünftig abstecken sollte. Das Großdeutsche Ehegesetz 1938 setzte diese Vorgaben um und markierte insofern eine bedeutende juristische Zäsur. An den vorgelagerten Debatten zeigt sich besonders deutlich, vor allem bei der Frage nach der Ausgestaltung des Scheidungsrechts, wie zunächst ein Zielkonflikt zwischen der NS-Familienideologie und der rassen- und bevölkerungspolitischen Ausrichtung des Rechts bestand. Ferdinand Mößmer hatte in seiner Denkschrift 1931 eine Ehescheidungsrechtsreform abgelehnt. Schließlich zielten seiner Ansicht nach diese „jüngsten Bestrebungen, ausgehend von den Marxisten und dem hinter ihnen stehenden Judentum, auf Beseitigung des Verschuldensprinzips und damit auf eine mögliche Erleichterung der Ehescheidung“.89 Nach diesem Verständnis war Scheidung als Lebensmodell abzulehnen, da sie die Familien destabilisieren sowie deren Fortbestand verhindern würde. Infolgedessen stehe sie im Widerspruch zu den nationalsozialistischen Familienidealen. Demnach drohe mit einer Scheidungsrechtsreform, dass ein noch „geschlossene[r] Volkskörper“90 aufbreche. Aus Mößmers Perspektive am Anfang der 1930er Jahre hatte demnach Ehescheidung einen destabilisierenden Effekt auf die Institutionen Ehe und Familie. In diesem Punkt deckt sich seine Argumentation mit der Position des Zentrums während der 1920er Jahre, wenngleich dessen Position nicht mit einer dezidiert rassenideologischen Perspektive begründet worden war.91 Noch klarer äußerte sich in dieser Frage 1934 Walter Buch, der Mitglied der Akademie für Deutsches Recht und des Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik des Reichsinnenministeriums sowie Oberster Parteirichter der NSDAP war. Er votierte dezidiert für eine Erschwerung der Ehescheidung. Nur so könne sichergestellt werden, dass das gesellschaftliche Ansehen der Frau auch zukünftig gewährleistet sei. Buch sprach sich anscheinend zum Schutz der Frau gegen eine Reform des Scheidungsrechts aus. Doch damit wollte er nicht die privatrechtliche Position der Ehefrau stärken. Vielmehr 89 90 91

Mößmer, Eherecht, 11. Ebenda. Vgl. ebenda; Schubert, Einleitung (Familienrechtsausschuß), 6ff.

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standen für ihn bevölkerungspolitische Überlegungen im Vordergrund. Das Recht bringe so zum Ausdruck, dass Mann und Frau für die „Erhaltung der Volkskraft“ gleichen Stellenwert genießen würden. Buch führte noch weitere Argumente gegen eine Reform an, die sein organisches Verständnis von Familie offenbaren. Er mahnte, die Familie könne ihre Funktion als „Urzelle des Volkes“92 momentan nicht hinreichend erfüllen, da sie „erkrankt“ sei – was nach seiner Lesart eine direkte Folge der Kriegsniederlage 1918 und der Demokratie der 1920er Jahre war. Mit einem restriktiven Scheidungsrecht schaffe der Gesetzgeber den rechtlichen Rahmen, damit die Familie als „Organismus“ genese, erklärte Buch weiter.93 Darüber hinaus waren aber aus seiner Perspektive noch weitere Reformen notwendig. So dürften zukünftig ausschließlich „erbgesunde“ Paare heiraten. Zudem sollten sie ihre individuellen Wünsche hinter das Interesse der „Volksgemeinschaft“ zurückstellen: die Zeugung zahlreicher „erbgesunder“ Kinder. Aus dieser funktionalistischen Perspektive auf Familie war Ehescheidung aus mehreren Gründen kontraproduktiv. Sie destabilisiere die Familie als Basis der „Volksgemeinschaft“. Sie habe aber auch einen negativen Effekt auf die Bevölkerungsentwicklung. Zudem könnten getrenntlebende Eltern die Erziehung ihrer Kinder nicht gewährleisten. Auch der Völkische Beobachter teilte zunächst diese Sicht und sprach sich ebenfalls gegen eine Ehescheidungsreform aus. Gleichzeitig vertraten andere Vertreter des Nationalsozialismus eine gegenteilige Position. Sie argumentierten, dass Ehen leichter geschieden werden können sollten. Allerdings betraf dies lediglich Familien, die ihre Aufgaben für die „Volksgemeinschaft“ nicht erfüllen würden.94 Bereits unmittelbar nachdem sich der Familienrechtsausschuss der Akademie für Deutsches Recht konstituiert hatte, diskutierten seine Mitglieder diese Fragen intensiv. Friedrich Carl von Savignys Zusammenfassung der ersten Ausschusssitzungen vom 6. und 7. März 1934 belegt, dass eine erleichterte Ehescheidung durchaus vehementen Zuspruch fand: „Trotz Betonung der Notwendigkeit der Heilighaltung der Ehe, sehr scharf ausgesprochene Tendenz, die Scheidung zu erleichtern; dies insbesondere durch Aufgabe des Verschuldensprinzips, das im geltenden Recht nur die Ausnahme der Geisteskrankheit kennt.“95 Eine exponierte Rolle nahm in diesem Aushandlungsprozess Ferdinand Mößmer ein, zumal er sich zwischen 1931 und 1935 zusehends von seiner ursprüngli92 93 94 95

Gutachten von Walter Buch, abgedruckt in: Schubert (Hg.), Familienrechtsausschuß, 63. Für diese Argumentation vgl. auch Buch, Niedergang. Vgl. Schubert, Einleitung (Familienrechtsausschuß), 8f.; Klee, Personenlexikon, 79f.; Gutachten von Walter Buch, abgedruckt in: Schubert (Hg.), Familienrechtsausschuß, 63f. Vgl. Schubert, Einleitung (Familienrechtsausschuß), 8f.; Gutachten von Walter Buch, abgedruckt in: Schubert (Hg.), Familienrechtsausschuß, 63f. Vermerk von v. Savigny (Ministerium v. Papen) über die Sitzung des Familienrechtsausschusses am 6. und 7. März 1934, abgedruckt in: Schubert (Hg.), Familienrechtsausschuß, 57.

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chen ablehnenden Haltung gegenüber einer Scheidungsrechtsreform distanzierte. In seiner Bewertung rangierte nun die Bedeutung der Ehe für die „Volksgemeinschaft“ vor der Frage, ob die Ehe eine auf Lebenszeit geschlossene Verbindung sei. Er betonte 1935 in der Zeitschrift Deutsches Recht, dass die Scheidung kinderloser Ehen erleichtert werden müsse. Aber auch Ehen mit Kindern sollten gelöst werden, falls sie innerlich zerrüttet wären. Mößmer forderte weiter, dass im „Interesse des Kindes die Lösung einer die Kinderseele vernichtenden Ehe“96 gewährleistet sein müsse. Mößmers Reformpläne orientierten sich dabei am „Gemeinschaftsgedanken“.97 Die Sicht auf Ehe und Familie war somit von ihren Funktionen geprägt. Ehescheidung galt eben dann als legitim, wenn Juristen und NS-Behörden dadurch einen Nutzen für die „Volksgemeinschaft“ antizipierten.98 Andere Kommissionsmitglieder wie die Richter Friedrich Günther und Georg Neithardt sowie der Rechtswissenschaftler Wilhelm Hedemann verschlossen sich in diesen Auseinandersetzungen zwar einer Reform des Ehescheidungsrechts nicht grundsätzlich. Gleichwohl wollten sie im Gesetz Regelungen verankert wissen, die Ehescheidungen nur in bestimmten Konstellationen zuließen.99 Obwohl die Mitglieder des Familienrechtsausschusses unterschiedliche Ansichten zum Scheidungsrecht vertraten und diskutierten, deutete sich schon im März 1934 an, wie stark sich die geplante Reform an rassen- und bevölkerungspolitischen Erwägungen orientieren sollte. In diesem Zusammenhang artikulierten die Ausschussmitglieder darüber hinaus, dass sie unter der Familie kein individuell ausgestaltbares privatrechtliches Verhältnis verstanden. Vielmehr handele es sich um eine Institution, die rassen- und bevölkerungspolitische Funktionen erfülle. Die Aufgaben mussten auch rechtlich fixiert werden. Aufgrund dieses funktionalistischen Verständnisses von Familie war es damit aus der Perspektive der Vertreter des NS-Regimes wie schon bei den familienpolitischen Überlegungen und Rassegesetzen legitim, in den Privatraum Familie zu intervenieren.100 96 97 98

99

100

BArch Berlin R 8034II/6086, Zerrüttete Ehen. „Hundert gute Ehen können den Schaden einer schlechten Ehe nicht ausgleichen“, in: Berliner Tageblatt, 25. Februar 1935, Bl. 59. Ebenda. Vgl. BArch Berlin R 8034II/6086, Ludwig Nockher, Zur Neugestaltung des deutschen Ehescheidungsrechtes. Die Vorschläge des Familienrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht, in: Völkischer Beobachter, ohne Datum, Bl. 102; BArch Berlin R 8034II/ 6086, Zerrüttete Ehen. „Hundert gute Ehen können den Schaden einer schlechten Ehe nicht ausgleichen“, in: Berliner Tageblatt, 25. Februar 1935, Bl. 59; Schubert, Einleitung (Familienrechtsausschuß), 9f., 48f. Vgl. ebenda, 10f., 44ff., 49. Für ihre Gutachten vgl. Gutachten von Friedrich Günther, abgedruckt in: Schubert (Hg.), Familienrechtsausschuß; Gutachten von Justus Wilhelm Hedemann, abgedruckt in: Schubert (Hg.), Familienrechtsausschuß; Gutachten von Georg Neithardt, abgedruckt in: Schubert (Hg.), Familienrechtsausschuß. Vgl. Schwab, Entwicklungen, 300ff.; Frevert, Frauen-Geschichte, 229; Kundrus, Kriegerfrauen, 232.

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Neben der rassenideologischen Ausrichtung des Scheidungsrechts stand zur Disposition, wie die Rechtslage an die gewandelten sozialen Praktiken angeglichen werden könne. Diese Frage stellte sich gegenüber den 1920er Jahren noch dringlicher, denn die Ehescheidungsziffer (berechnet pro 10.000 bestehender Ehen) war von 29,7 im Jahr 1933 auf 37,0 im Jahr 1934 angestiegen. Obwohl in den folgenden Jahren die Scheidungsneigung etwas zurückging – 1935: 33,0, 1936: 32,6 und 1937: 29,8 –, blieb sie stets über dem Wert von 1933. Die Zunahme resultierte vermutlich zumindest in Teilen aus den erlassenen Rassegesetzen. Sie war also u. a. eine direkte Folge der nationalsozialistischen Diskriminierungspolitik. In den Debatten um die Reform des Famlienrechts wurden zudem die Vorstellungen der NS-Rassenideologie eng mit den sozialen Praktiken verknüpft.101 Nachdem der Familienrechtsausschuss seine Detailberatungen zur Regelung der Ehescheidung abgeschlossen hatte, fasste Mößmer die Positionen Anfang 1936 in dem Memorandum Neugestaltung des deutschen Ehescheidungsrechtes zusammen.102 Schon Ende Dezember 1935 hatte Hans Frank in seiner Funktion als Präsident der Akademie für Deutsches Recht die grundsätzlichen Ansichten zur Bedeutung der Institutionen Ehe und Familie publiziert: Die Familie sei „die Urzelle völkischen Lebens und der Grundpfeiler deutsch-völkischer Kultur“.103 Mößmer definierte die Institution Ehe als die von der Volksgemeinschaft anerkannte auf gegenseitiger Treue, Liebe und Achtung beruhende dauernde Lebensgemeinschaft zweier rassegleicher, erbgesunder Personen verschiedenen Geschlechts zum Zweck der Wahrung und Förderung des Gemeinwohls durch einträchtige Zusammenarbeit und zum Zweck der Erzeugung rassegleicher, erbgesunder Kinder und ihrer Erziehung zu tüchtigen Volksgenossen.104

Sollten Ehe und Familie diese Merkmale nicht erfüllen, dann müsse die Ehescheidung erleichtert werden. Mößmer und Frank traten insofern für ein rassenideologisch funktionalisiertes Scheidungsrecht ein. Sie sparten dabei die Individualrechte von Familienmitgliedern aus. Das war ein spezifisches Merkmal des nationalsozialistischen Konfliktes um die Familie, welches diesen deutlich von der Debatte der 1920er Jahre unterschied.105 Die im Entwurf benannten Scheidungsgründe bildeten dieses Eheverständnis ab. So konnte auf Ehescheidung geklagt werden, wenn ein Partner Ehebruch 101 102 103 104

105

Vgl. Blasius, Ehescheidung, 190f.; Klinksiek, Frau, 158. Vgl. Schubert, Einleitung (Familienrechtsausschuß), 11. BArch Berlin R 8034II/6086, Hans Frank, Die Neugestaltung des deutschen Ehescheidungsrechtes, in: Völkischer Beobachter, 28. Dezember 1935, Bl. 84. Mößmer, Neugestaltung, 11f. Mößmers Definition u. a. zitiert in: BArch Berlin R 8034II/ 6086, Hans Frank, Die Neugestaltung des deutschen Ehescheidungsrechtes, in: Völkischer Beobachter, 28. Dezember 1935, Bl. 84. Eine ähnliche Sicht auf die Ehe vertrat das „Kampfblatt“ der SS, Das Schwarze Korps, im November 1936. Vgl. BArch Berlin NS 5/VI/7130, Ein Wort zur Ehescheidung, in: Das Schwarze Korps, 12. November 1936, Bl. 55. Vgl. BArch Berlin R 8034II/6086, Hans Frank, Die Neugestaltung des deutschen Ehescheidungsrechtes, in: Völkischer Beobachter, 28. Dezember 1935, Bl. 84.

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begangen hatte oder sich „eines Verbrechens gegen die Sittlichkeit im Sinn des Strafgesetzbuches“106 hatte zu Schulden kommen lassen. Dieser Passus bezog sich explizit auf die §§ 171 und 175 des StGB, d. h. Doppelehe und Homosexualität, die bisher in dem Scheidungstatbestand Ehebruch enthalten gewesen waren. Mößmer benannte zwei zusätzliche zentrale Scheidungsgründe. So müsse eine Ehe gelöst werden können, „wenn der andere Ehegatte ohne triftigen Grund die Erzeugung oder Empfängnis ehelicher Kinder verweigert“. Zudem sei eine Ehescheidung angezeigt, „wenn durch ein sonstiges schuldhaftes Verhalten des anderen Ehegatten“ oder „wenn aus einem sonstigen Grund das eheliche Verhältnis so tief zerrüttet ist, daß die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft nicht mehr erwartet werden kann“.107 Hier handelte es sich um die Ehescheidungsgründe der schuldhaften und der unverschuldeten Ehezerrüttung, die sich an den bevölkerungspolitischen Zielen des Nationalsozialismus orientierten. Zudem räumte Mößmer zum Beispiel den Richtern die Möglichkeit ein, Ehen zu lösen, wenn der Staatsanwalt die Scheidung beantragt hatte, weil „die Ehegatten gemeinsam ein verbrecherisches oder unsittliches Leben führen“108 und infolgedessen ihre Aufgaben für die „Volksgemeinschaft“ nicht mehr erfüllen würden. Darunter fielen unter anderem Prostitution oder die Beteiligung an kommunistischer Propaganda. Eine solch hervorgehobene Position des Richters war im Vergleich zu den Reformplänen der 1920er Jahre ein Novum.109 Im Laufe des Jahres 1936 nahmen verschiedene gesellschaftliche Institutionen zu Mößmers Plänen ausführlich Stellung. Unter anderem äußerten sich der Reichskirchenausschuss der Evangelischen Kirche Deutschlands und der Deutsch-Evangelische Frauenbund. Obwohl sie die Reformpläne grundsätzlich unterstützten, meldeten sie zu mehreren Detailfragen Bedenken an. Der Reichskirchenausschuss begrüßte zunächst die von Mößmer angesprochene „überindividuelle Bedeutung der Ehe und zwar vor allem ihre völkische Bedeutung“.110 Dieser Sichtweise schloss sich der Frauenbund an.111 Jedoch betonten 106 107 108 109 110

111

Mößmer, Neugestaltung, 65f. Ebenda, 66. Ebenda, 62. Vgl. ebenda, 62, 65ff.; Schubert, Einleitung (Familienrechtsausschuß), 11f.; Gruchmann, Ehegesetz, 64. ADW CA Gf/St 237, Stellungnahme des Reichskirchenausschusses zu dem Entwurf des Vorsitzenden des Familienrechtsausschusses der Akademie für deutsches Recht, Rechtsanwalt Dr. Mössmer, über die Neuregelung des Ehescheidungsrechts, ohne Ort, ohne Datum, 1. Siehe auch BArch Berlin R 3001/20472, Stellungnahme des Reichskirchenausschusses zu dem Entwurf des Vorsitzenden des Familienrechtsausschusses der Akademie für deutsches Recht, Rechtsanwalt Dr. Mössmer, über die Neugestaltung des Ehescheidungsrechts, ohne Ort, ohne Datum, Bl. 24. Vgl. ADW CA Gf/St 237, Deutsch-Evangelischer Frauenbund, Gutachten zur Reform des Ehescheidungsrechts, Hannover, 2. Juli 1936, 1.

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beide Organisationen, dass sie die nationalsozialistische Auffassung vom „Wesen der Ehe“ nicht teilten. Selbst Ehen, deren Partner nicht „erbgesund“ oder „rassegleich“ seien oder in denen ein Partner erkrankt war, müssten von ihrem „Wesen als Ehe“112 betrachtet werden. Überdies erschöpfe sich die Funktion einer Ehe nicht ausschließlich in der „Erzeugung und Erziehung rassegleicher und erbgesunder Kinder“. Vielmehr handele es sich bei einer Ehe auch um eine Solidaritätsgemeinschaft. Diese Aspekte müssten, so die Forderung des Reichskirchenausschusses, bei der Reform des Familienrechts ebenfalls berücksichtigt werden.113 Darüber hinaus gingen die Reformbestrebungen beiden evangelischen Organisationen zu weit. Sie kritisierten, dass der „absolute“ Scheidungsgrund des Ehebruchs zu einem „relativen“ Scheidungsgrund degradiert werde. Mößmers Entwurf sprach zwar an einer Stelle durchaus davon, dass auf Scheidung geklagt werden könne, „wenn sich der andere Ehegatte des Ehebruchs oder eines Verbrechens gegen die Sittlichkeit im Sinn des Strafgesetzbuches schuldig gemacht hat“.114 Er schränkte dies im Nachgang jedoch mit dem Hinweis ein, dass eine Ehescheidung ausbleiben müsse, „wenn sich aus bestimmten Tatsachen, insbesondere aus dem Verhalten des Antragstellers selbst ergibt, daß durch die Verfehlung eine Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses [. . . ] nicht eingetreten ist“.115 Die Vertreter der evangelischen Kirche kritisierten gerade diese Sprachregelung, da demnach Ehebruch lediglich zur Scheidung der Ehe führe, wenn dadurch das eheliche Verhältnis zerrüttet werde.116 Dass neben der „schuldhaften Zerrüttung“ zudem die „objektive Zerrüttung“ als weiterer Scheidungsgrund im Gesetz verankert wurde, unterstützte der Reichskirchenausschuss in einem Entwurf seiner Stellungnahme zunächst „grundsätzlich“. Der Deutsch-Evangelische Frauenbund vertrat ebenfalls diese Position. In der endgültigen Fassung wählte der Kirchenausschuss hingegen eine wesentlich vorsichtigere Formulierung und betonte stärker die Gefahr, die seiner Ansicht nach von dem vorgeschlagenen Zerrüttungsprinzip für die Institution der Ehe ausgehe. Insbesondere erleichtere Mößmers Entwurf die Ehescheidung, 112

113 114 115 116

BArch Berlin R 3001/20472, Stellungnahme des Reichskirchenausschusses zu dem Entwurf des Vorsitzenden des Familienrechtsausschusses der Akademie für deutsches Recht, Rechtsanwalt Dr. Mössmer, über die Neugestaltung des Ehescheidungsrechts, ohne Ort, ohne Datum, Bl. 24. Vgl. ebenda, Bl. 24ff.; ADW CA Gf/St 237, Deutsch-Evangelischer Frauenbund, Gutachten zur Reform des Ehescheidungsrechts, Hannover, 2. Juli 1936, 6–11. Mößmer, Neugestaltung, 65f. Ebenda, 66. Vgl. BArch Berlin R 3001/20472, Stellungnahme des Reichskirchenausschusses zu dem Entwurf des Vorsitzenden des Familienrechtsausschusses der Akademie für deutsches Recht, Rechtsanwalt Dr. Mössmer, über die Neugestaltung des Ehescheidungsrechts, ohne Ort, ohne Datum, Bl. 24ff.; ADW CA Gf/St 237, Deutsch-Evangelischer Frauenbund, Gutachten zur Reform des Ehescheidungsrechts, Hannover, 2. Juli 1936, 6–11.

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da die Ehen „auf Wunsch eines Teils“117 – vor allem des allein oder mehrheitlich schuldigen Partners – geschieden werden könnten. Argumentativ knüpfte der Reichskirchenausschuss hier an die 1920er Jahre an. Damals hatten die Gegner der Scheidungsrechtsreform ebenfalls argumentiert, dass eine solche Regelung gerade Männern die Möglichkeit eröffne, ihre Ehefrauen für eine jüngere Frau zu verlassen. Diese soziale Praxis jedoch lehnte die evangelische Kirche ab: Ein Bedürfnis für die Einführung der Zerrüttung aus „sonstigem Grund“, vor allem der unverschuldeten Zerrüttung als neuer Scheidungsgrund kann nicht anerkannt werden. Im Interesse des Gemeinwohls und der Sittlichkeit muss von den Ehegatten verlangt werden, dass sie [es] auch in einer schwierigen Ehe und in kritischen Zeiten ihrer Ehe miteinander aushalten.118

Demnach durfte nach Ansicht der evangelischen Kirche nicht grundsätzlich jede zerrüttete Ehe geschieden werden. Andernfalls drohe, dass die Ehe als Verbindung auf Lebenszeit Schaden nehme. In den Stellungnahmen wies die evangelische Kirche auch noch auf einen für die Scheidungspraxis wichtigen Sachverhalt hin. Nach dem Entwurf könne die Ehescheidung durchaus verweigert werden, wenn der „ausschließlich“ an der Zerrüttung schuldige Partner auf Scheidung klage. Allerdings trete dieser Fall nur selten ein. In der Praxis habe nämlich oft der beklagte Partner zumindest eine Teilschuld an der Zerrüttung. Mit der geplanten Regelung könne damit der „Hauptschuldige“ auf Ehescheidung klagen, wodurch der „unschuldige“ Partner, implizit bezog sich diese Formulierung auf die Ehefrau, nicht hinreichend geschützt werde. Da dies die Ehescheidung maßgeblich erleichtere, sei eine solche Regelung, so der Reichskirchenausschuss, aber weder im Interesse der „Volksgemeinschaft“ noch der Frau, da sie besonders benachteiligt werde. Als Schutzmaßnahme müsse daher im Gesetz verankert werden, dass der „vorwiegend“ schuldige Teil keine Scheidung beantragen könne. Die evangelischen Kirchenorganisationen traten somit dafür ein, dass das reformierte Scheidungsrecht dem „Schutz des schuldlosen Ehegatten“119 Rechnung trage. Die Position der evangelischen Kirche unterschied sich also insofern von der Sichtweise des Familienrechtsausschusses, als sie für eine restriktivere Auslegung der Scheidungsgründe votierte.120 117

118 119 120

BArch Berlin R 3001/20472, Stellungnahme des Reichskirchenausschusses zu dem Entwurf des Vorsitzenden des Familienrechtsausschusses der Akademie für deutsches Recht, Rechtsanwalt Dr. Mössmer, über die Neugestaltung des Ehescheidungsrechts, ohne Ort, ohne Datum, Bl. 25. Ebenda, Bl. 26. Ebenda. Vgl. ebenda, Bl. 24ff.; ADW CA Gf/St 237, Deutsch-Evangelischer Frauenbund, Gutachten zur Reform des Ehescheidungsrechts, Hannover, 2. Juli 1936, 6–11; ADW CA Gf/St 237, Entwurf zu einer Stellungnahme des Reichskirchenausschusses zu dem vom Familienrechtsausschuss der Akademie für deutsches Rechts ausgearbeiteten Vorschlag zur Neugestaltung des deutschen Ehescheidungsrechts, ohne Ort, ohne Datum, 2.

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Mößmers Denkschrift initiierte einen politischen Aushandlungsprozess und setzte auch das Reichsjustizministerium unter Druck. Im November 1936 reagierte Justizminister Franz Gürtner und lud Ministeriumsvertreter sowie Mößmer und andere Mitglieder des Familienrechtsausschusses zu einem Austausch ein. Gürtner setzte sich in den Verhandlungen insbesondere dafür ein, dass Ehebruch ein „absoluter“ Scheidungsgrund bleiben solle. Das Reichsinnenministerium, vertreten durch den Ministerialdirektor und Leiter der Abteilung für Volksgesundheit Arthur Gütt, favorisierte demgegenüber Mößmers Vorschlag. Schließlich versprach er sich davon einen positiven Effekt auf die Geburtenentwicklung. Zugleich eröffne der Scheidungsgrund der „objektiven Zerrüttung“ dem nationalsozialistischen Staat die Möglichkeit, die gesetzlichen Bestimmungen an die NS-Ideologie anzupassen. Insofern verweist Gütts Argumentation auf die Intention des Reichsinnenministeriums, die rechtlichen Rahmenbedingungen im Sinne der NS-Ordnungspolitik zu definieren und Ehescheidung aus rassischen Gründen zu ermöglichen.121 Diese Überlegungen griff jedoch das Reichsjustizministerium unter Leitung Gürtners nicht auf und erarbeitete einen eigenen Entwurf, der im Kern am Schuldprinzip festhielt und lediglich in einzelnen Punkten Zugeständnisse machte. In einem ersten Entwurf vom 17. November 1936 hatte die Zerrüttungsklausel noch eine Trennungsfrist von zehn Jahren vorgesehen, bevor eine Ehe geschieden werden konnte. Nachdem sich in einer Besprechung am 12. Februar 1937 die Mehrheit der beteiligten Vertreter der Ministerien wie auch des Familienrechtsausschusses für eine Verkürzung der Frist auf fünf Jahre ausgesprochen hatten, kam Gürtner diesem Wunsch nach. Diesen Entwurf leitete das Justizministerium an die Ministerien weiter.122 Im Mai 1937 nahm der Nationalsozialistische Rechtswahrerbund (NSRB) zum Entwurf des Ministeriums kritisch Stellung, wobei er sich in den eigenen Ausführungen im Wesentlichen an Mößmers Entwurf orientierte. Wenn von einer Ehe „keine Ordnungskraft und keine Ordnungsaufgabe“ ausgehe, müsse sie als „nutzloses, meist schädliches [. . . ] Glied aus dem Volkskörper“123 entfernt werden. Aus dieser Grundposition leitete der Rechtswahrerbund ab, dass solche „erkrankten“ Ehen, d. h. Ehen, die die rassenideologischen und bevölkerungspolitischen Ziele des Regimes nicht erfüllten, zukünftig weitaus leichter geschieden werden können müssten. Das realisiere, so der NSRB, der Scheidungsgrund der „objektiven Zerrüttung“. Damit lasse sich festlegen, wann Ehen „ihren Sinn und ihre Aufgabe im Volke nicht mehr erfüllen“124 würden. Mit einer weiteren Forde121 122 123 124

Vgl. Gruchmann, Ehegesetz, 65; Blasius, Ehescheidung, 199ff. Vgl. Schubert, Einleitung (Familienrechtsausschuß), 17; Gruchmann, Ehegesetz, 65; Blasius, Ehescheidung, 201; Humphrey, Weimarer Reformdiskussion, 286. BArch Berlin R 3001/20472, Stellungnahme des NS.-Rechtswahrerbundes zu dem Entwurf des Reichsjustizministeriums für ein neues Scheidungsrecht, Bl. 158. Ebenda, Bl. 163.

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rung ging der Rechtswahrerbund über Mößmers Vorschlag hinaus. Er plädierte für eine „Zerrüttungs-Generalklausel [. . . ], deren weise, vorsichtige und gerechte Handhabung im Einzelfall es [das Scheidungsrecht; C. N.] dem nationalsozialistischen Richter überlassen kann“.125 Nach Darstellung des Rechtswahrerbundes sollte das zukünftige Scheidungsrecht ausschließlich auf dem Zerrüttungsprinzip basieren, das dann Richter entsprechend der NS-Ideologie anwenden sollten.126 Das Hauptamt für Volksgesundheit der NSDAP wählte demgegenüber in seiner Stellungnahme einen anderen Schwerpunkt. Es ging insbesondere auf die zeitlichen Trennungsfristen ein, nach denen eine Ehe als zerrüttet galt. Die angesetzten fünf Jahre stufte das Hauptamt schon allein aus „bevölkerungspolitischen Gründen“127 als zu lang ein und plädierte stattdessen für eine Frist von zwei bis drei Jahren. Obwohl somit die Repliken auf den Entwurf des Justizministeriums durchaus unterschiedlich ausfielen, glichen sich beide Stellungnahmen in einem wichtigen Punkt: Das zukünftige Familienrecht müsse gewährleisten, dass die Institutionen Ehe und Familie ihre Funktion der Zeugung von „erbgesunden“ Kindern wahrnehmen könnten.128 Im Sommer 1937 erstellte ein erweiterter Arbeitskreis für Familienrecht der Akademie für Deutsches Recht, an dem auch Vertreter des Justizministeriums, des NSRB und anderer NS-Organisationen beteiligt waren, einen Kompromissvorschlag. Im Herbst 1937 legte das Justizministerium dem „Stellvertreter des Führers“ Rudolf Heß die endgültige Fassung des überarbeiteten Entwurfs vor, der im Januar Stellung nahm und dabei den Entwurf im Kern absegnete. Im März 1938 zog schließlich auch das Reichsinnenministerium seine immer wieder artikulierten Bedenken gegenüber den Vorschlägen zur Scheidungsrechtsreform zurück. Die vorgelagerten Diskussionen – wie auch die im Folgenden dargestellten Kontroversen während der Kriegsjahre – zeigen dessen ungeachtet auf, dass das Innenministerium innerhalb des NS-Regimes in der Frage der Ehescheidung eine eigenständige Position einnahm, die es aber nicht durchsetzen konnte.129 4.2.2 Eheschließung und Ehescheidung unter rassenideologischen und bevölkerungspolitischen Prämissen

Im März 1938 änderten sich mit der Annexion Österreichs die außenpolitischen Rahmenbedingungen, denen auch innenpolitisch Rechnung getragen werden 125 126 127 128 129

Ebenda. Vgl. ebenda, Bl. 158, 163–166; Gruchmann, Ehegesetz, 65; Blasius, Ehescheidung, 201. BArch Berlin R 3001/20472, Stellungnahme des Hauptamtes für Volksgesundheit der NSDAP zur Ehescheidungsreform, München, 29. Mai 1937, Bl. 249. Vgl. ebenda, Bl. 249f.; Blasius, Ehescheidung, 201f. Vgl. Gruchmann, Ehegesetz, 65f.; Blasius, Ehescheidung, 202f.; Schwab, Entwicklungen, 305.

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musste. Nun galten innerhalb des „Deutschen Reichs“ unterschiedliche familienrechtliche Bestimmungen. In Deutschland behielt das BGB seine Gültigkeit; in Österreich war das Recht auf Eheschließung und -scheidung konfessionell unterschiedlich geregelt. Die gesetzlichen Bestimmungen legten fest, dass für die mehrheitlich katholische Bevölkerung zwar eine Scheidung „von Tisch und Bett“ möglich, aber eine Trennung der rechtlichen Verbindung als Ehepartner nicht vorgesehen sei. Eine Wiederheirat war damit de facto ausgeschlossen. In der Praxis hatten sich daher die sogenannten Dispensehen eingebürgert. Hierbei handelte es sich um Ehen, die aufgrund der Scheidung „von Tisch und Bett“ und des damit bestehenden Ehehindernisses vor einer Verwaltungsbehörde geschlossen worden waren. Die unterschiedlichen gesetzlichen Bestimmungen sollten nun vereinheitlicht werden. Das erhöhte den innenpolitischen Handlungsdruck auf die Regierung. Gürtner nutzte diese Konstellation, um neben dem Ehescheidungs- auch das Eheschließungsrecht umzugestalten.130 Am 28. Mai 1938 schlug er vor, den Entwurf für das Eheschließungsrecht mit dem von Rudolf Heß im Prinzip bereits abgesegneten Entwurf eines Ehescheidungsrechts zu verknüpfen. Das Güterrecht wiederum sollte ausgeklammert werden.131 Reichsinnenminister Wilhelm Frick, der ohnehin der Scheidungsrechtsreform nur unter Bedenken seine Zustimmung gegeben hatte, widersetzte sich zunächst dem Plan, beide Reformen miteinander zu verbinden. Dieser Schritt nehme die später geplante Gesamtreform des Rechts in Teilen vorweg, wodurch diese weniger dringlich erscheinen und somit vermutlich erst verspätet umgesetzt werden würde, lautete sein vehement vorgebrachter Einwand.132 Im Unterschied zur Regelung der Eheschließung war die Scheidungsrechtsreform im Frühsommer 1938 weit gediehen und bedurfte nur noch in einigen Details der Abstimmung mit Rudolf Heß und Adolf Hitler. Im Entwurf für das Ehescheidungsrecht von 1937 hatte die NS-Ideologie insbesondere in dem neu aufgenommenen Grund „Verweigerung der Fortpflanzung“ Eingang gefunden. Im 1938 verabschiedeten Gesetz legte § 48 zwei Verhaltensweisen dar, bei denen dieser Tatbestand angewendet werden könne, angesichts derer also aus bevölkerungspolitischen Gründen eine Ehe geschieden werden könne. Eine Scheidung sei demnach zulässig, „wenn der andere [Ehepartner; C. N.] sich ohne triftigen Grund beharrlich weigert, Nachkommenschaft zu erzeugen oder zu empfangen“, oder „wenn er rechtswidrig Mittel zur Verhinderung der Geburt anwendet oder 130

131 132

Vgl. Gruchmann, Ehegesetz, 68f.; Blasius, Ehescheidung, 203f., 210f.; Schwab, Entwicklungen, 305. In der Debatte wurde auf eine Zahl von 50.000 Dispensehen rekurriert, ohne aber diese Zahlen in Relation zu allen Eheschließungen und Ehen zu stellen. Vgl. u. a. BArch Berlin R 3001/20463, [Erich] Volkmar, Das neue Eheschließungs- und Ehescheidungsrecht, in: Deutsche Justiz, 13. Juli 1938, Bl. 346. Vgl. BArch Berlin R 43II/1523a, Vermerk zur KR 11340 B, Betrifft: Eherecht, Berlin, 2. Juni 1938, Bl. 59; Gruchmann, Ehegesetz, 70f.; Blasius, Ehescheidung, 202. Vgl. Gruchmann, Ehegesetz, 69f.; Blasius, Ehescheidung, 203f.

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anwenden läßt“.133 In diesem Fall würde eine Ehe aufgrund des schuldhaften Verhaltens eines Partners geschieden. Auch beim Scheidungsgrund „ehrloses oder unsittliches Verhalten“ (§ 49) wurde das Recht auf die rassenideologischen und bevölkerungspolitischen Ziele des NS-Regimes ausgerichtet. Im Unterschied zum BGB ging es nicht mehr um die Frage, ob dem betroffenen nichtschuldigen Partner eine Fortsetzung der Ehe zugemutet werden könne. Vielmehr stand im Mittelpunkt, ob ein Partner „die Ehe schuldhaft so tief zerrüttet hat, daß die Wiederherstellung einer ihrem Wesen entsprechenden Lebensgemeinschaft nicht erwartet werden kann“.134 Mit der sogenannten Generalklausel vom „Wesen der Ehe“ bekam der Staat Zugriff auf den Privatraum Familie, da Richter festlegen konnten, wie dieser Passus inhaltlich zu füllen sei. Die Reform des Scheidungsrechts weitete somit die Entscheidungsgewalt der Richter gegenüber dem BGB deutlich aus, wie das zuvor von Mößmer vorgeschlagen worden war.135 Eine zweite Gruppe von Scheidungsgründen kann als eugenische oder rassenideologische Gründe klassifiziert werden. Sie umfassten „Hysterie“ (§ 50), „Geisteskrankheit“ (§ 51), „ansteckende oder ekelerregende Krankheit“ (§ 52) und „vorzeitige Unfruchtbarkeit“ (§ 53) und waren wirksam, wenn nicht bereits ein erbgesundes Kind in der Ehe geboren worden war. Um bei diesen unverschuldeten Gründen einem Missbrauch vorzubeugen, durfte die Scheidung nicht erfolgen, sofern sie „sittlich nicht gerechtfertigt“ sei. Das traf zum Beispiel zu, wenn der Mann im Krieg verwundet oder die Frau infolge einer Fehlgeburt unfruchtbar geworden sei. Das Gesetz bestimmte damit, dass die Ehe nicht gelöst werden dürfe, wenn die Trennung „den anderen Ehegatten außergewöhnlich hart treffen würde“.136 Ob ein solcher Fall vorlag, musste dann jeweils individuell geprüft werden. Faktisch war damit eine Härtefallregelung in das Gesetz aufgenommen worden. Die allgemeinen Bewertungsmaßstäbe für diese Regelung sollten sich zwar an den nationalsozialistischen Bevölkerungszielen orientieren. Gleichwohl wurden dabei Einzelfälle betrachtet, sodass jeweils die Situation der betroffenen Paare und deren Individualinteressen maßgeblich berücksichtigt wurden und in die richterliche Entscheidung einflossen.137 Besondere Aufmerksamkeit verdient § 55 des Ehegesetzes mit seiner Generalklausel. Er gilt als „Schlüsselparagraph“138 des reformierten Scheidungsrechts. 133

134 135 136 137

138

Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und der Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen Reichsgebiet vom 6. Juli 1938, in: Reichsgesetzblatt, Teil 1, Nr. 106, 8. Juli 1938, 807–822, hier 812. Ebenda. Vgl. ebenda. Ebenda, 813. Vgl. Gruchmann, Ehegesetz, 66; Blasius, Ehescheidung, 207f.; Löhnig, Familienbild, 188; Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und der Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen Reichsgebiet vom 6. Juli 1938, in: Reichsgesetzblatt, Teil 1, Nr. 106, 8. Juli 1938, 807–822, hier 812f. Blasius, Ehescheidung, 208.

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Nach § 55 war eine Ehescheidung an zwei Bedingungen gekoppelt. Die „Auflösung der häuslichen Gemeinschaft“ musste drei Jahre bestanden haben. Die Trennungsfrist war somit gegenüber den Entwürfen von fünf auf drei Jahre verkürzt worden. Ferner durfte „infolge einer tiefgreifenden unheilbaren Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden ehelichen Lebensgemeinschaft nicht zu erwarten [sein], so kann jeder Ehegatte die Scheidung begehren“.139 Diese Sprachregelungen ähnelten einem bereits 1927 von Wilhelm Kahl vorgebrachten Reformvorschlag. Überdies enthielt das Gesetz ein Widerspruchsrecht. Das konnte angewendet werden, wenn derjenige Ehepartner auf Scheidung klagte, der die Zerrüttung verursacht hatte. Dadurch sollte vermieden werden, dass Ehemänner ihre Frauen nach einer dreijährigen Trennung für eine andere Frau „verstießen“. Allerdings schränkte der Gesetzgeber dieses Recht deutlich ein, insofern hier das Interesse der „Volksgemeinschaft“ betroffen sein musste.140 Das Widerspruchsrecht sollte demnach nicht greifen, wenn eine Scheidung aus bevölkerungspolitischen Gründen opportun schien. Aufgrund dieser Regelungen, die deutlich in den Privatraum Familie intervenierten und die rechtlichen Rahmenbedingungen an den rassenideologischen sowie bevölkerungspolitischen Zielen ausrichteten, interpretiert die Forschung das Ehegesetz von 1938 als Schritt in Richtung einer „‚Verstaatlichung‘ der Ehe“.141 Das Scheidungsrecht von 1938 stellte somit ein weiteres zentrales Gesetz dar, das versuchte, sowohl die nationalsozialistische Rassenideologie rechtlich zu kodifizieren als auch die Zahl der Geburten im Sinne der NS-Ideologie zu steigern. Gleichzeitig knüpfte das Gesetz jedoch an die Reformbestrebungen der 1920er Jahre an und stand zumindest in Teilen in der deutschen Rechtstradition. Auch das Einwirken des Justizministers führte dazu, dass die traditionellen Ehevorstellungen weitgehend unberührt blieben. Allerdings gilt dies nicht für die Scheidung aufgrund der verweigerten Zeugung von Nachkommen und für die rassenideologisch fundierte Scheidung zerrütteter Ehen nach § 55. Hier war es zu einem klaren Bruch der Rechtstradition gekommen.142 Der zweite strittige Punkt in der Debatte um die Reform des Eherechts betraf die zukünftigen gesetzlichen Bestimmungen für die Eheschließung. Gerade in diesem Punkt wollte Gürtner mit seinem Vorgehen im Frühsommer 1938 Fakten schaffen, ehe sich der Familienrechtsausschuss der Akademie für Deutsches

139

140 141 142

Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und der Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen Reichsgebiet vom 6. Juli 1938, in: Reichsgesetzblatt, Teil 1, Nr. 106, 8. Juli 1938, 807–822, hier 813. Vgl. Gruchmann, Ehegesetz, 66f.; Blasius, Ehescheidung, 208; Humphrey, Weimarer Reformdiskussion, 276f. Czarnowski, Wert, 84. Vgl. Gruchmann, Ehegesetz, 79; Blasius, Ehescheidung, 207; Schwab, Entwicklungen, 306f.

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Recht dem Eheschließungsrecht annehmen konnte.143 In einer Sitzung des Familienrechtausschusses der Akademie für Deutsches Recht am 27. Oktober 1937 waren die strittigen Themen zumindest angesprochen worden, jedoch ohne ein abschließendes Ergebnis zu erzielen. Insbesondere folgende Punkte standen zur Diskussion: Es ging zunächst um die Frage, wie das Heiratsalter mit Geburtenziffer und Scheidungsrisiko korrespondierte und ob das Ehemündigkeitsalter von Männern und Frauen angehoben werden sollte. Zweitens mussten Regelungen für Eheschließungen bei Paaren mit einem großen Altersunterschied gefunden werden. Das Protokoll zur Sitzung des Familienrechtsausschusses legt dar, dass der Vorsitzende Mößmer die Eheschließung erschweren wollte. Bereits 1931 hatte sich Mößmer dafür ausgesprochen, das Ehemündigkeitsalter für Männer von 21 auf 23 Jahre sowie für Frauen von 16 auf 20 Jahre anzuheben. Erst dann sei der Mann „körperlich, geistig und wirtschaftlich fähig“,144 eine Familie zu gründen. Auch bei Frauen wollte Mößmer mit dieser Maßnahme verhindern, dass sie zu früh Kinder gebären. Erst mit der nötigen geistigen und körperlichen Reife könne die Frau „gesunde, kräftige“ Kinder zeugen und erziehen. In der Summe zielten die von Mößmer vorgeschlagenen Maßnahmen darauf, die Zahl der „gesunden, wertvollen Nachkommenschaft“145 zu erhöhen.146 Auch andere Ausschussmitglieder diskutierten, ob das Ehemündigkeitsalter angehoben werden solle. Denn gerade das Scheidungsrisiko von Paaren, die in jungen Jahren geheiratet hatten, lag wesentlich über dem anderer Altersgruppen. Richter Günther berichtete, dass in den rheinisch-westfälischen Industriegebieten eine wachsende Zahl der sogenannten „Frühehen“147 geschieden werde. Der Präsident der Staatsakademie des öffentlichen Gesundheitsdienstes in München, Walter Schultze, führte diese Entwicklung auf eine „Charakterschwäche des jungen Menschen von heute“ zurück. „Mit dem Menschenmaterial unserer Tage kann das Ideal der Frühehe nicht verwirklicht werden“,148 schlussfolgerte er weiter. Schon allein daraus ergab sich für ihn die Notwendigkeit, das Ehemündigkeitsalter anzuheben. Zugleich implizierte diese Haltung innerhalb des Ausschusses, dass das Familienrecht erzieherisch auf die nachfolgende Generation einwirken solle, um aktuelle Missstände zu überwinden.149 143 144 145 146 147

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149

Vgl. Gruchmann, Ehegesetz, 71. Mößmer, Eherecht, 7. Ebenda, 5. Vgl. ebenda, 3–8; Schubert, Einleitung (Familienrechtsausschuß), 6f. Während sich Soziologen nach 1945 damit beschäftigten, wie der Begriff der „Frühehe“ exakt zu definieren sei, bezog sich der Begriff davor im Regelfall implizit auf alle Paare, die in jungen Jahren geheiratet hatten. Vgl. Tschoepe, Frühehe, 346–349. BArch Berlin R 3001/20463, Protokoll der Sitzung des Familienrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht am 27. Oktober 1937, Tagesordnung: Neugestaltung des Eheschliessungsrechts, Bl. 7. Vgl. ebenda, Bl. 6f.; Schubert, Einleitung (Familienrechtsausschuß), 51.

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Das Dilemma der Ausschussmitglieder brachte der emeritierte Rechtswissenschaftler Fritz van Calker auf den Punkt. Von „Frühehen“ gehe ein positiver Effekt auf die demographische Entwicklung aus, da Männer und Frauen bei einer Eheschließung in jungen Jahren wesentlich mehr Kinder gebären als Paare, die erst in einem mittleren Alter heirateten. Die Volkszählung hatte aufgezeigt, dass das Alter der Frau bei der Heirat ein entscheidender Indikator für die endgültige Kinderzahl war. Fast die Hälfte der Frauen, die um das Jahr 1920 geheiratet hatten und dabei älter als 30 Jahre gewesen waren, hatten laut der Volkszählung zum Erhebungszeitpunkt Anfang der 1930er Jahre noch keine Kinder geboren. Aufgrund ihres biologischen Alters würden sie, nach der Bewertung zeitgenössischer Beobachter, auch zukünftig mit hoher Wahrscheinlichkeit kinderlos bleiben. Demgegenüber hatten Frauen, die zum Zeitpunkt ihrer Heirat jünger als 20 Jahre gewesen waren, nach höchstens fünf Ehejahren in mehr als 90 Prozent der Fälle mindestens ein Kind bekommen.150 Die Volkszählung offenbarte somit einen Zusammenhang zwischen Heiratsalter und Geburtenzahl, der in einem Konflikt mit der diskutierten Anhebung des Ehemündigkeitsalters stand. Da sich die nationalsozialistische Führung bereits Mitte der 1930er Jahre das Ziel gesetzt hatte, die Geburtenziffern zu steigern – nicht zuletzt, weil sich der Topos vom „Volkstod“ zum geflügelten Wort entwickelt hatte –, galten Frühehen als das „wünschenswerte Ideal“.151 Generell liege das optimale Alter „für die Zuchtwahl“,152 so Mößmer, zwischen 22 und 40 Jahren, wenngleich die Präferenz wegen der bevölkerungspolitischen Vorgaben zu einer früheren Eheschließung tendiere. Aufgrund ihres erhöhten Scheidungsrisikos seien Frühehen aber abzulehnen, urteilte der Rechtsausschuss der Akademie für Deutsches Recht.153 Um diesen Zielkonflikt zwischen Erhöhung der Geburtenziffern und Senkung des Scheidungsrisikos abzuschwächen, sprach sich Mößmer dafür aus, „Sicherungen“ in das Gesetz zu integrieren. Zum Beispiel sollten Männer erst im Anschluss an ihren Wehr- und Arbeitsdienst heiraten dürfen. Eine Änderung des Ehemündigkeitsalters bei Männern hingegen lehnte er ab und distanzierte sich somit von seiner 1931 vertretenen Position. Als ehemündig galten volljährige Männer bzw. als volljährig erklärte Männer, die geschäftstüchtig waren.154 Im Unterschied zu seiner Haltung beim Ehemann setzte sich Mößmer bei Frauen für eine Anhebung der Ehemündigkeit von 16 auf 18 Jahre ein. In diesem Punkt modifizierte

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Vgl. BArch Berlin NS 5/VI/4566, Bruno Gleitze, Die Ergebnisse der neuen Familienstatistik, in: Soziale Praxis, 45. Jg., H. 2, 1936, Bl. 30f. Vgl. Burgdörfer, Geburtenrückgang und seine Bekämpfung, 103. BArch Berlin R 3001/20463, Protokoll der Sitzung des Familienrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht am 27. Oktober 1937, Tagesordnung: Neugestaltung des Eheschliessungsrechts, Bl. 8. Ebenda, Bl. 7. Vgl. ebenda, Bl. 7ff.; Schubert, Einleitung (Familienrechtsausschuß), 40.

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er somit abermals seinen ursprünglichen Standpunkt. Mößmer konnte sich im Ausschuss mit dieser Position allerdings nicht durchsetzen.155 Obwohl damit die Ausschussmitglieder in den Detailfragen unterschiedliche Ansichten vertraten, einte sie die generelle Sicht auf die bevölkerungspolitischen und rassenideologischen Vorgaben, an denen sich das zukünftige Eheschließungsrecht zu orientieren habe. Mit dieser Maßgabe ließ sich zugleich eine staatliche Intervention rechtfertigen, wie Mößmer darlegte. Denn die Gemeinschaft und der Staat [haben] ein Recht darauf, im Interesse der Aufzucht einer gesunden Geschlechterfolge weitere Voraussetzungen für die Eheschliessung zu verlangen. Solche Voraussetzungen sind vor allem die Erbgesundheit und die rassische Zugehörigkeit.156

Die Ausschussmitglieder maßen folglich der Zeugung „erbgesunder“ Kinder und damit einem funktionalistischen Eheverständnis Priorität bei. Allerdings teilten die Ausschussmitglieder diese Sicht nicht uneingeschränkt. Der Jurist Kurt Schmidt-Klevenow betonte: Betrachten wir die Ehe nur als eine Anstalt zur Erzeugung von Kindern, dann müssen wir Ehen, die wegen Alters kinderlos bleiben, verbieten. Aber diesen extremen Standpunkt werden wir nicht teilen können, denn schließlich ist die Ehe auch noch etwas anderes als eine Kindererzeugungsanstalt.157

Neben Mößmer stimmten andere Ausschussmitglieder dieser Position ebenfalls zu.158 Beim nächsten diskutierten Problem allerdings – dem Altersunterschied der Ehepartner – vertraten die Ausschussmitglieder eine wesentlich funktionalere Sicht auf die Ehe, und sie argumentierten aus dezidiert männlicher Perspektive. Mößmer stufte es als problematisch ein, „wenn ein noch junger, zeugungsfähiger Mann eine vollkommen überalterte Frau heiratet“.159 Meist seien in diesen Fällen wirtschaftliche Überlegungen für die Heirat ausschlaggebend. Es gebe Fälle, in denen junge Männer die Witwe eines Handwerkers geheiratet hätten. Um solche Eheschließungen zu unterbinden, aus denen mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Kinder hervorgehen würden, setzte sich Mößmer dafür ein, gesetzliche Vorgaben für eine Heirat bei zu großem Altersunterschied zu erlassen. Ein starres Höchstalter sei jedoch nicht praktikabel, führte Mößmer weiter aus. Vielmehr müsse eine Kombination von Altersspanne und Höchstalter angesetzt werden. Jedoch stellte sich in der Diskussion heraus, wie schwierig es war, eindeutige Regeln zu definieren. Schließlich lasse sich, so waren sich die Mitglieder des 155

156 157 158 159

Vgl. BArch Berlin R 3001/20463, Protokoll der Sitzung des Familienrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht am 27. Oktober 1937, Tagesordnung: Neugestaltung des Eheschliessungsrechts, Bl. 8, 11, 20ff. Ebenda, Bl. 11. Ebenda, Bl. 22. Vgl. ebenda, Bl. 22f. Ebenda, Bl. 23.

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Familienrechtsausschusses mehrheitlich einig, das „zeugungsfähige“ Alter bei Männern nicht bestimmen. Selbst bei Frauen konnte nur ein ungefähres Alter benannt werden, was der Ausschuss ebenfalls als nicht praktikabel einstufte.160 Um dieses Dilemma aufzulösen, brachte Mößmer folgenden Lösungsvorschlag ins Spiel: „Hat der Mann das 60., die Frau das 50. Lebensjahr überschritten, dann kann der Familienrichter die Eheschliessung ablehnen, wenn besondere Gründe gegen die Eheschliessung sprechen [. . . ].“161 Während der Rechtswissenschaftler Karl Haff diesen Vorschlag unterstützte, lehnte ihn der Mitarbeiter des Reichsjustizministeriums Ernst Brandis ab. Denn es sei „peinlich“, wenn das Gesetz einer Frau im Alter von 50 Jahren den „Stempel der Unfruchtbarkeit“162 aufdrückte. Er schlug stattdessen einen Altersunterschied von mehr als 30 Jahren als Ehehindernis vor, legte dabei aber keine starren Altersgrenzen fest. Brandis vermied so eine offene Diskriminierung. Gleichzeitig brachte er aber sehr deutlich zum Ausdruck, dass das NS-Regime den Zweck einer Ehe in der biologischen Reproduktion sah. In der Praxis waren solche Vorgaben, wie später noch herausgearbeitet wird, jedoch kaum umsetzbar.163 In Teilen griff das Ehegesetz von 1938 in seinem ersten Abschnitt die vom Familienrechtsausschuss verhandelten Punkte auf. Das Gesetz legte das Ehemündigkeitsalter wie bisher beim Mann bei 21 und bei der Frau bei 16 Jahren fest. Zusätzliche Bestimmungen wie ein vorab geleisteter Wehrdienst oder ein Heiratshöchstalter wie auch eine maximale Altersdifferenz blieben unberücksichtigt. Den Mitarbeitern des Justizministeriums schienen all diese Vorgaben für die Praxis zu kompliziert und nicht durchführbar zu sein. Dennoch berücksichtigte der Gesetzgeber die rassenpolitischen Vorgaben im Eheschließungsrecht. Zum Beispiel ließ das NS-Recht die Eheschließung mit einer Volljährigkeitserklärung nicht zu, mit der nach dem BGB die vorzeitige Ehemündigkeit des Mannes unter 21 Jahren bescheinigt werden konnte. Stattdessen verlangte das NS-Eheschließungsrecht eine besondere Erklärung, welche die „Belange der Volksgemeinschaft“164 wie die sittliche Reife berücksichtigte. Angesichts all dieser Details sind die ursprünglichen Forderungen etwas abgemildert worden. Aus diesem Grund argumentieren Historiker, dass das Justizministerium im Unterschied zu anderen Organisationen wie dem Familienrechtsausschuss in dieser Frage keine radikale Position vertreten habe. Eben diese Ambivalenz brachte das Eheschließungs- und Ehescheidungsrecht zum Ausdruck, da es sich nicht konsequent an nationalsozialistischen Idealen orientierte.165 160 161 162 163 164 165

Vgl. ebenda, Bl. 23ff. Ebenda, Bl. 25. Ebenda. Vgl. ebenda, Bl. 23–26; Schubert, Einleitung (Familienrechtsausschuß), 38, 44f., 51. Gruchmann, Ehegesetz, 74. Vgl. Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und der Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen Reichsgebiet vom 6. Juli 1938, in: Reichsgesetzblatt,

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4.2 Rassen- und bevölkerungspolitische Ausrichtung des Familienrechts

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Als das Innenministerium im Juni 1938 seinen Widerstand gegenüber den Reformplänen des Reichsjustizministeriums aufgab, änderten sich zugleich die Argumentationsmuster. Während zuvor der Entwurf gerade vonseiten des Reichsinnenministeriums mit dem Hinweis kritisiert worden war, dass es sich hierbei lediglich um eine „Teilreform“ handele, die einer späteren gesamten Revision des Eherechts vorgreife, blieb dies nun unberücksichtigt. Noch einen weiteren Punkt sparten die Debatten aus: den Vorwurf, dass der Entwurf nicht konsequent an der NS-Ideologie ausgerichtet worden sei. Zum Beispiel hatte sich die SS 1938 für einen „nebenehelichen“ Weg ausgesprochen, wonach der Ehebruch des Ehemannes – im Unterschied zur Ehefrau – kein Scheidungsgrund sein sollte, schließlich gehe der Mann bloß seinem „Zeugungstrieb“ nach.166 Solche unterschiedlichen Sichtweisen auf die Ehescheidung verschwanden nun auf Regierungsebene. Die Machthaber legitimierten ihr Vorgehen mit dem Hinweis, dass die Bevölkerung selbst eine Reform des Ehescheidungsrechts gewünscht habe. Der Ministerialdirektor des Justizministeriums, Erich Volkmar, betonte diesbezüglich im Juli 1938, dass innerhalb der Bevölkerung zwei Lager existieren würden. Die einen – meist Männer – hätten eine Erleichterung der Ehescheidung favorisiert, wohingegen die Gegenposition – meistens Frauen – diese Entwicklung mit Sorge beobachtet habe. Die Rechtslage habe somit in Spannung zur sozialen Praxis gestanden. Allein dieser Zustand hatte laut Volkmar eine Reform des Scheidungsrechts unbedingt notwendig gemacht. Mit dem „Anschluss“ Österreichs habe sich die Dringlichkeit der Rechtsreform umso mehr gestellt, erklärte er weiter.167 Dieser Sichtweise hatten sich auch Heß und Hitler nicht verschlossen, die beide Mitte Juni Gürtners geplante Rechtsreform prinzipiell unterstützten.168 Am 29. Juni 1938 verabschiedete schließlich das Kabinett das Gesetz, am 6. Juli wurde das „Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechtes der Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen Reichsgebiet“ ausgefertigt, und es trat zum 1. August 1938 in Kraft.169 Noch am 6. Juli 1938 veröffentlichte die NS-Führung eine Pressemitteilung, welche dem Gesetz aus zwei Gründen eine besondere Bedeutung zuschrieb. Das Gesetz beende die „schweren Mißstände“ in Österreich, da dort bisher

166 167

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Teil 1, Nr. 106, 8. Juli 1938, 807–822, hier 807; Gruchmann, Ehegesetz, 74f.; Blasius, Ehescheidung, 198f., 207. Vgl. Gruchmann, Ehegesetz, 68; Essner/Conte, Fernehe, 203ff. Vgl. BArch Berlin R 3001/20463, [Erich] Volkmar, Das neue Eheschließungs- und Ehescheidungsrecht, in: Deutsche Justiz, 13. Juli 1938, Bl. 346; Schubert, Einleitung (Familienrechtsausschuß), 52. Vgl. BArch Berlin R 3001/20463, Der Reichs- und Preußische Minister des Innern, Betr.: Vereinheitlichung des Eherechts in Österreich und im übrigen Reichsgebiet, Berlin, 13. Juni 1938, Bl. 191f.; Gruchmann, Ehegesetz, 73f.; Blasius, Ehescheidung, 202. Vgl. Gruchmann, Ehegesetz, 72ff.; Blasius, Ehescheidung, 204f.

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katholische Ehen nicht hatten geschieden werden können und sich deshalb dort das Modell der Dispensehe verbreitet habe. Dadurch sei jedoch sowohl das Familienleben wie auch das öffentliche Leben insgesamt „vergiftet“ worden. Gleichzeitig beseitige das Ehegesetz die „Mängel“170 des BGB und bilde damit die Basis für ein späteres NS-Ehe- und Familienrecht. Das Gesetz bringe zum Ausdruck, dass es sich bei der Ehe nicht um einen „privatrechtlichen Vertrag der Ehegatten“171 handele. Vielmehr müsse sie genauso wie die Ehescheidung von einem „völkischen Standpunkt“172 betrachtet und bewertet werden. Aus diesem Grund integriere das Ehegesetz die in den Jahren zuvor erlassenen Eheverbote der Rassengesetze.173 Insofern führe das neue Familienrecht die nationalsozialistische Rassenideologie und die bevölkerungspolitischen Ziele wie auch die funktionalistischen Familienideale in einem Gesetz zusammen. Als Maßgabe firmierte dabei das Ziel, dass unter diesen neuen rechtlichen Rahmenbedingungen möglichst viele „erbgesunde“ Kinder gezeugt würden. Im Kern übernahm damit das NS-Familienrecht aus der Perspektive der NSDAP-Parteiführung eine Ordnungsfunktion. Schließlich verankerte es die NS-Familienideale erst in den rechtlichen Rahmenbedingungen, um sie später in soziale Praktiken zu überführen.174

4.3 Konflikte zwischen gesetzten Idealen und sozialen Praktiken: die Beispiele Ehescheidung und nichteheliche Geburt 4.3.1 Interpretationsspielräume und Einflussnahme bei Scheidungsklagen

In Deutschland verhandelten die Gerichte im Jahr 1938 49.497 Ehescheidungsklagen, wovon 30 Prozent nach dem 1. August eingereicht worden waren. Das entsprach 14.551 Scheidungen, von denen 2.005 auf den § 55 entfielen. Da das neue Scheidungsrecht erst nach der Jahresmitte rechtskräftig geworden war, beeinflusste es in Deutschland 1938 die Scheidungsneigung noch nicht merklich. 170 171 172 173 174

BArch Berlin R 3001/20463, Presseverlautbarung. Neues großdeutsches Eherecht, ohne Ort, [6. Juli 1938], Bl. 277. Ebenda, Bl. 278. Ebenda. Vgl. ebenda, Bl. 277f.; Presseverlautbarung (für Österreich). Neues großdeutsches Eherecht, ohne Ort, [6. Juli 1938], Bl. 287–291. Vgl. BArch Berlin R 3001/20463, Presseverlautbarung. Neues großdeutsches Eherecht, ohne Ort, [6. Juli 1938], Bl. 280. Siehe auch BArch Berlin R 3001/20463, Presseverlautbarung (für Österreich). Neues großdeutsches Eherecht, ohne Ort, [6. Juli 1938], Bl. 289.

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Das belegt auch die Entwicklung der pro 10.000 bestehende Ehen berechneten Scheidungsquote. In den Jahren 1937 und 1938 belief sich die Ziffer auf 29,8 bzw. 31,1. Sie stieg erst 1939 auf 38,3 an – bei 8,3 Scheidungen pro 10.000 bestehende Ehen wurde Ehezerrüttung als Grund angegeben und nach § 55 geschieden. In Österreich lag die Rate demgegenüber 1938 mit 55,5 Scheidungen wesentlich höher – 23,9 davon nach § 55. Allerdings kann daraus nicht auf eine grundlegend andere Einstellung zur Ehescheidung geschlossen werden. Vielmehr resultierte der höhere Wert schlicht aus dem Umstand, dass die Gerichte die zuvor aufgelaufenen Scheidungen „von Tisch und Bett“ sukzessive in rechtskräftige Ehescheidungen umwandelten. Zwischen dem 1. August und dem 31. Dezember 1938 belief sich ihre Zahl auf 36.716. Bis 1940 stieg sie auf insgesamt 48.970. Zudem erklärten die Gerichte lediglich 59 Dispensehen für ungültig; 11.870 dieser Ehen erkannten sie demgegenüber rechtlich an. Das neue Ehegesetz hatte folglich insbesondere in den Jahren 1938 und 1939 einen quantitativen Effekt auf die Entwicklung der Scheidungszahlen im ehemaligen Österreich.175 Der Historiker Dirk Blasius stuft den Anstieg in Deutschland nach der Einführung des Zerrüttungsparagraphen (§ 55) nicht als außergewöhnlich hoch ein, da es nur kurzzeitig zu einem überproportionalen Anstieg der Ehescheidungen kam. Allerdings sind keine verlässlichen Aussagen über die Scheidungsneigung in den Jahren nach 1939 möglich, da der Krieg sicherlich die Zahl der Ehescheidungsklagen zurückgehen ließ. 1940 lag die Scheidungsneigung bei 30 Scheidungen pro 10.000 bestehende Ehen und war damit fast auf den Wert von 1937 gefallen. Da die Gerichte 1940 lediglich 4,6 Ehen (pro 10.000 bestehende Ehen) nach dem Zerrüttungsparagraphen 55 schieden, enthielt die Mehrzahl der Urteile einen Schuldspruch, der sich auf die Unterhaltszahlungen für die Ehefrau auswirkte. Bei alleiniger oder überwiegender Schuld war der Mann angehalten, der Frau einen „angemessenen“ Unterhalt zu bezahlen. In 45 Prozent der Fälle benannten die Gerichte den Mann als Alleinschuldigen, in 18 Prozent die Frau und in 37 Prozent beide Partner.176 Allerdings bedeutete das nicht, dass die Unterhaltszahlungen für die geschiedenen Ehefrauen mehrheitlich sichergestellt waren. Schon 1933 und 1934 hatte sich gut ein Viertel der klagenden Frauen zur Ehescheidung entschlossen, weil der Ehemann sie nicht ausreichend versorgen konnte oder wollte. In diesen Fällen fürchteten die Richter, dass die Versorgung dieser Frauen im Anschluss an die Scheidung dem Staat aufgebürdet werden könnte.177 Gleichzeitig markierte das Ehegesetz 1938 auch insofern eine Zäsur, als dass das Unterhaltsrecht die geschiedenen Ehefrauen zur wirtschaftlichen Selbständigkeit anhielt. Denn von 175 176 177

Vgl. Blasius, 210f. Vgl. ebenda, 211; Birndorfer, Prozessalltag, 91f. Vgl. Mouton, Nurturing, 98f.

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geschiedenen Ehefrauen erwartete der Staat, dass sie arbeiten gingen und senkte infolgedessen die Unterhaltszahlungen – es sei denn sie mussten Kleinkinder oder die Eltern versorgen. Michelle Mouton betont aus diesen Gründen, dass das Scheidungsrecht Männer gegenüber Frauen privilegierte und zugleich geschiedene Frauen gezwungen habe, eine Berufsarbeit auszuüben. Auch über das Unterhaltsrecht versuchte das NS-Regime also, das Reservoir an weiblichen Arbeitskräften abzuschöpfen. Zudem führte diese Konstellation dazu, dass die Richter in ihrer Urteilsfindung zwischen der finanziellen Lage der Ehe, dem Erfolg für eine Aussöhnung der Ehepartner und dem potenziellen Nutzen der Ehe für den Staat abwogen.178 Die im Gesetz enthaltenen Generalklauseln und die mehrdeutige Formulierung vom „Wesen der Ehe“ eröffneten den Richtern einen erheblichen Ermessensspielraum, den sie – selbst auf der Ebene der Oberlandesgerichte – unterschiedlich nutzten. Im November 1938 kritisierte Hitler, dass die Richter dem Widerspruchsrecht des beklagten Partners zu große Beachtung beimessen würden. Der Widerspruch dürfe lediglich berücksichtigt werden, wenn „besondere Gründe“ vorlägen. Dies traf bei Fällen zu, in denen die Ehescheidung für die Frau eine existenzielle Notlage nach sich ziehe. Diese Einflussnahme betraf das Scheidungsverfahren Hermann Essers, ein „alter Mitkämpfer“ Hitlers aus den frühen Münchener Jahren. Blasius argumentiert in diesem Zusammenhang, dass das NS-Regime mit der Auslegung des Rechts „selbstsüchtig und opportunistisch“ umgegangen sei und dabei aufgrund persönlicher Interessen „Rechtsgrundsätze [. . . ] bedenkenlos zur Disposition gestellt“179 worden seien. Insofern dokumentiert der Fall Esser ein Musterbeispiel der staatlichen Intervention.180 Darüber hinaus zeigte sich aber auch, dass, wenn dies in Einzelfällen opportun schien, die Individualinteressen das Primat gegenüber den rassenideologischen und bevölkerungspolitischen Idealen des NS-Regimes genießen konnten. Esser hatte 1923 geheiratet. In der Ehe wurden 1924 und 1926 zwei Söhne geboren. Schon in dieser Zeit beging Esser mehrfach Ehebruch. In den 1930er Jahren lebte er schließlich mit einer Frau in „wilder Ehe“, aus der drei weitere Kinder hervorgegangen waren. Esser wollte nun diese Beziehung in eine Ehe überführen und hatte daher bereits 1933 und 1935 Scheidungsklagen vor dem Landgericht München eingereicht. Allerdings waren beide Gesuche abgewiesen worden. Nach der Scheidungsrechtsreform 1938 klagte er vor dem Landgericht Berlin abermals auf Ehescheidung und berief sich dabei auf § 55, da die eheliche Gemeinschaft seit 1934 nicht mehr bestanden habe. Allerdings widersprach 178 179 180

Vgl. ebenda, 102, 104. Blasius, Ehescheidung, 215. Vgl. Gruchmann, Ehegesetz, 80f.; Blasius, Ehescheidung, 214f.; Birndorfer, Prozessalltag, 66f.

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seine Ehefrau dem Scheidungsbegehren und führte zwei Gründe an. Ihr Mann habe die alleinige Schuld an der zerrütteten Ehe. Zudem handele es sich um eine „wertvolle“ Ehe, schließlich hatten sie zwei Kinder gezeugt. Nachdem Esser Hitler kontaktiert hatte, versuchte dieser, das Verfahren über den Chef der Reichskanzlei Hans Heinrich Lammers zu beeinflussen. Lammers reagierte und bat Justizminister Gürtner im Oktober 1938 um einen ausführlichen Bericht zu dem laufenden Prozess. Als die Stellungnahme des Ministers äußerst zurückhaltend ausfiel, sprach sich Hitler im Gespräch mit Lammers vehement dafür aus, den Widerspruch der Ehefrau nicht zu beachten. Im Fall Esser schied das Landgericht Berlin nach der Einflussnahme der Regierung die Ehe im Dezember 1938 und das Kammergericht lehnte im März 1939 eine Revision ab. Ob sich die von Hitler vorgegebene Linie auf alle Scheidungsklagen nach § 55 auswirkte, blieb zwar unklar. Gleichwohl belegt dieser Einzelfall, wie stark die staatliche Intervention ausfallen konnte und wie Individualinteressen Einzelfallentscheidungen erheblich beeinflussen konnten.181 Darüber hinaus gab es aber noch weitere Einfallstore staatlicher Intervention. Zum Beispiel versuchte die Wochenzeitschrift der SS, Das Schwarze Korps, die Spruchpraxis der Gerichte zu beeinflussen, indem sie gegen Gerichtsurteile polemisierte. In der zweiten Ausgabe 1939 griff die Zeitschrift zwei Urteilssprüche der 15. und der 90. Zivilkammer des Landgerichts Berlin auf und kritisierte, dass dem Widerspruch der Ehefrau gegen die Klage ihres Mannes stattgegeben worden sei. In der Berichterstattung führte der Beitrag die Richter namentlich an und stellte sie damit öffentlich bloß. Zudem warf der Artikel den Richtern vor, dass sie die Wünsche und Anforderungen des nationalsozialistischen Staates unterminieren würden. Die Richter wiederum reagierten, indem sie sich an den Präsidenten des Berliner Landgerichts wandten. Dabei äußerten sie den Wunsch, dass dieser sich beim Justizminister für ihren „Ehrenschutz“ einsetzen solle. Auch der Kammergerichtspräsident selbst kritisierte die namentliche Nennung der Richter im Schwarzen Korps. Diese Kontroverse zeigt auch, dass Gerichte in den unteren Instanzen in ihrer Urteilsfindung durchaus von der vom Reichsgericht gewünschten Auslegung des neuen Scheidungsrechts abwichen. Der Kammergerichtspräsident betonte, dass § 55 neue rechtliche Rahmenbedingungen etabliert habe und „sich eine feste Rechtsprechung erst herausbilden muß“,182 zumal der Ermessensspielraum der Richter erheblich ausgeweitet worden war.183 Neben dem politischen Druck war die unterschiedliche Spruchpraxis der Gerichte folglich ein weiterer wichtiger Faktor, der einen Austausch auf einer Fachtagung der Oberlandesgerichtspräsidenten im Januar 1939 notwendig mach181 182 183

Vgl. Blasius, Ehescheidung, 215ff.; Birndorfer, Prozessalltag, 66f. BArch Berlin R 3001/20473, Der Kammergerichtspräsident, Betr.: Angriffe gegen Richter im „Schwarzen Korps“, Berlin, 18. Januar 1939, Bl. 67. Vgl. ebenda; Blasius, Ehescheidung, 212f.; Birndorfer, Prozessalltag, 41f.

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te. Reichsjustizminister Gürtner stellte in seinem Vortrag die unterschiedlichen Spruchpraktiken der Gerichte einander gegenüber. Während in drei Oberlandesgerichtsbezirken keine Ehe aufgrund einer dreijährigen Trennung geschieden worden sei, würden die Kammern des Landgerichts Berlin mit unterschiedlichen Lösungsmodellen ringen. Daran anschließend stellte Gürtner klar, dass dieses Problem nicht per Gesetzesänderung oder Dienstanweisung einzuhegen sei. Vielmehr müsse es durch die Rechtsprechung selbst gelöst werden.184 Damit wurde dem Reichsgericht eine federführende Rolle zugeschrieben. Es sollte klare und unmissverständliche Leitsätze festlegen. Obwohl die Spruchpraxis des Reichsgerichts für die niederen Instanzen zwar rechtlich nicht unmittelbar bindend war, steckten die Urteile dennoch den allgemeinen Rahmen für die Rechtsprechung ab.185 Gleichwohl kann aus der Spruchpraxis des Reichsgerichts nicht geschlussfolgert werden, dass sich die niederen Instanzen dieser Sichtweise durchweg angeschlossen hätten. Es sei zu keiner „generellen Domestizierung“186 der Rechtsprechung gekommen, argumentiert der Historiker Dirk Blasius.187 Denn noch im ersten Quartal 1939 legten gerade die Landgerichte den § 55 sehr restriktiv aus. Am 3. Februar 1939 berichtete die Frankfurter Zeitung, dass sich die Scheidungsurteile widersprechen würden und damit für die Paare die Chancen auf eine erfolgreiche Ehescheidung nicht abzusehen seien. Dieser Zustand müsse mit einer „richtigen“ Spruchpraxis der Gerichte überwunden werden, forderte die Frankfurter Zeitung im Sinne der NS-Propaganda vehement ein.188 Insbesondere der IV. Zivilsenat des Reichsgerichts nahm hierbei eine zentrale Rolle ein, zumal er in seinen Revisionsurteilen das Scheidungsrecht nach den Wünschen der Parteiführung auslegte. Im Januar 1939 lehnte das Gericht die Scheidungsklage eines 60-jährigen Mannes, der eine jüngere Frau heiraten wollte, mit dem Hinweis ab, dass der Klage aus bevölkerungspolitischen Erwägungen nicht stattgegeben werden könne. Das Reichsgericht gab ebenfalls vor, dass der Widerspruch der Ehefrau bei einer Scheidung nicht berücksichtigt werden dürfe, wenn ihr Anliegen den „sittlichen Belange[n] des gesamten Volks“,189 d. h. den bevölkerungspolitischen Zielen des NS, entgegenstehe. Gerade wenn von einer Ehescheidung ein positiver bevölkerungspolitischer Effekt erhofft wurde, 184 185 186 187 188

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Vgl. Gruchmann, Ehegesetz, 81. Vgl. Birndorfer, Prozessalltag, 65. Blasius, Ehescheidung, 217. Vgl. ebenda, 210, 217. Ähnlich bei Mouton, Nurturing, 97. Vgl. BArch Berlin R 43II/1523a, „Unheilbar zerrüttet“, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 32–33, 18. Januar 1939, Bl. 258; BArch Berlin R 43II/1523a, Zerrüttete Ehen, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 62–63, 3. Februar 1939, Bl. 259. BArch Berlin R 8034II/6087, Scheidung der „unheilbar zerrütteten“ Ehe. Eine Entscheidung des Reichsgerichts – Die Belange des Gesamtvolks, in: Berliner Börsen-Zeitung, 25. März 1939, Bl 1.

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waren die Richter demgegenüber angehalten, schnell ein Urteil zu sprechen. Die Gerichte schieden Ehen vor allem dann, wenn der Mann mit einer anderen Frau bereits Kinder gezeugt hatte. Diese Kinder bekamen so den Status ehelicher Kinder zugesprochen. Die obersten Richter gaben einer Scheidungsklage nach § 55 aber auch statt, wenn sie sich erhofften, dass die klagenden Ehemänner im Anschluss an die Scheidung eine neue „völkisch wertvolle“190 Familie gründeten. Diese Auslegungen des Scheidungsrechts führten in zahlreichen Fällen zu einer offensichtlichen Benachteiligung der Frauen. Dass auch „Mischehen“ zwischen „Ariern“ und Juden bzw. jüdischen „Mischlingen“ geschieden wurden, stand dabei außer Frage.191 Insofern brachten sowohl die nationalsozialistische Rechtssetzung als auch die Rechtsprechung die bevölkerungs- und rassenideologischen Ziele klar zum Ausdruck. Die Propaganda führte aber noch einen weiteren Vorzug des neuen Scheidungsrechts an. Die Richter trügen mit ihrer Rechtsprechung maßgeblich dazu bei, den herausragenden Stellenwert der Institution Ehe innerhalb der Gesellschaft zu stärken. Eben das würden auch die amtlichen Scheidungsstatistiken widerspiegeln, schließlich sei es nach der Reform nicht zu der von Gegnern befürchteten „Inflation in Ehescheidungen“192 gekommen.193 Im Reichsgebiet belief sich der Anteil der Ehescheidungen auf der Basis des Zerrüttungsparagraphen auf ungefähr 14 bis 20 Prozent.194 Jedoch lag bei Klagen nach § 55 eine deutliche Geschlechterdiskrepanz vor: Von beinahe 30.000 Scheidungsklagen hatten in 21.300 Fällen der Mann, in 6.650 Fällen die Frau und lediglich in 1.500 Fällen beide Ehepartner die Klage eingereicht. Damit entfielen auf die Männer 72 Prozent, auf die Frauen 23 Prozent und auf beide Ehepartner fünf Prozent der Klagen. Insofern war die Ehescheidung auf der Basis des Zerrüttungsparagraphen ein eher männliches Phänomen. Auch die Landgerichte in Freiberg in Sachsen, Düsseldorf, Celle und Karlsruhe berichteten, dass gerade Ehefrauen den § 55 ablehnen würden. Das Ungleichgewicht der Geschlechter verdeutlicht auch die Sprachregelung. So sprach der Vorsitzende der Ehekammer des Landgerichts Freiberg in diesem Zusammenhang stets von „der Beklagten“.195 190 191

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Czarnowski, Wert, 86. Vgl. Gruchmann, Ehegesetz, 81f.; Blasius, Ehescheidung, 210, 214; Czarnowski, Wert, 86; BArch Berlin R 8034II/6087, Scheidung der „unheilbar zerrütteten“ Ehe. Eine Entscheidung des Reichsgerichts – Die Belange des Gesamtvolks, in: Berliner Börsen-Zeitung, 25. März 1939, Bl 1. BArch Berlin R 8034II/6087, Lebensnahes Urteil nach dem neuen Eherecht, ohne Datum, ohne Ort, Bl. 36. Vgl. ebenda. Vgl. BArch Berlin R 3001/20473, Landgerichtsdirektor Dreßler, Halbjährige Erfahrungen mit § 55 des Ehegesetzes, in: Deutsche Justiz, Nr. 9, 1939, Bl. 148; Blasius, Ehescheidung, 211; Czarnowski, Wert, 87; Birndorfer, Prozessalltag, 93. Vgl. BArch Berlin R 3001/20473, Landgerichtsdirektor Dreßler, Halbjährige Erfahrungen mit § 55 des Ehegesetzes, in: Deutsche Justiz, Nr. 9, 1939, Bl. 148; Czarnowski, Wert, 88.

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In der Praxis versprach eine Ehescheidungsklage nach § 55 großen Erfolg, wie ein punktueller Blick auf die Landgerichte Freiberg und Amberg zeigt. In Freiberg war bis Anfang Februar 1939 über 41 Scheidungsklagen nach § 55 entschieden worden. In 37 Fällen war der Ehescheidung stattgegeben worden, vier Mal war es zu einer Klageabweisung gekommen. Das Landgericht Amberg ließ zwischen 1938 und 1944 stets mehr als 85 Prozent der Scheidungsklagen zu. Es handelte sich bei den hier verhandelten Fällen auch um Konstellationen, die nach dem alten Scheidungsrecht nicht hätten geschieden werden können. Bei einer Scheidung nach § 55 überprüften die Richter lediglich, ob die Paare die Trennungsfrist von drei Jahren eingehalten hatten. Anschließend wurde der Scheidungsklage stattgegeben, ohne den Alltag des Ehelebens offenzulegen. Gerade deswegen konnten die Richter diese Klagen schnell abarbeiten.196 Die Propaganda setzte sich ebenfalls mit § 55 auseinander, klammerte dabei kritische Themen freilich aus. Stattdessen stellte sie wie im Völkischen Beobachter eine bestimmte Zielrichtung des Gesetzes besonders heraus. Das neue Scheidungsrecht orientiere sich ausschließlich am „Wohle der Gemeinschaft“,197 lautete der Tenor des Beitrags Ein abschließendes Wort über den § 55. Die Entstehungsgeschichte des Artikels illustriert demgegenüber, wie konträr die Ansichten zum Zerrüttungsparagraphen waren. Die ursprüngliche Variante war vom Justizministerium verfasst worden und im Völkischen Beobachter Ende März 1939 erschienen. Jedoch hatten Mitarbeiter des Reichspressechefs Otto Dietrich den Text in Überschrift und Text an die NS-Ideologie angepasst und in der Nationalsozialistischen Parteikorrespondenz veröffentlicht. Schon die Überschrift machte nun die ideologische Intention des Paragraphen deutlich: Der Wille des Gesetzgebers. Der Sinn des neuen Ehescheidungsrechtes – Die Trennung zerrütteter Ehen. Volksschädigenden Auffassungen ein Ende gesetzt, lautete nun der unmissverständliche Titel. Während die erste Variante darauf hinwies, dass die unterschiedliche Rechtsprechung beendet sei, strich die zweite Version die von der Parteiführung intendierte Wirkung hervor: Wenn von zerrütteten Ehen ein Schaden für die „Volksgemeinschaft“ ausgehe, dann müssten sie geschieden werden. Über diese weitreichende Modifikation beschwerte sich der Justizminister bei Dietrich, der

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Vgl. BArch Berlin R 3001/20473, Landgerichtsdirektor Dreßler, Halbjährige Erfahrungen mit § 55 des Ehegesetzes, in: Deutsche Justiz, Nr. 9, 1939, Bl. 148; Birndorfer, Prozessalltag, 95f., 107–113; Blasius, Ehescheidung, 214. Für eine weitere Auswertung der Ehescheidungen am Landgericht Amberg zwischen 1944 und 1946 vgl. Löhnig, Scheidungsalltag. BArch Berlin R 3001/20473, Ein abschließendes Wort. Der Sinn des § 55 der neuen Ehegesetzgebung, in: Völkischer Beobachter, 29. März 1939, Bl. 203; BArch Berlin R 8034II/6087, Der Wille des Gesetzgebers. Der Sinn des neuen Ehescheidungsrechtes – Die Trennung zerrütteter Ehen. Volksschädigenden Auffassungen ein Ende gesetzt, in: Nationalsozialistische Partei-Korrespondenz, Folge 75, Bl. 1, 29. März 1939, Bl. 2.

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jedoch die Kritik zurückwies und verlauten ließ, dass seine Art der Darstellung die unterschiedlichen Ansichten über die Auslegung des § 55 beende.198 Auch die Propaganda versuchte somit, die Rechtsprechung bei einer Ehescheidung nach dem Zerrüttungsparagraphen – in ihrem Sinne – zu vereinheitlichen. Dabei akzentuierten die Mitarbeiter des Reichspressechefs insbesondere, dass das neue Familienrecht – im Unterschied zum BGB und dem österreichischen Scheidungsrecht – die Belange der „Volksgemeinschaft“ berücksichtige. Früher seien „hunderttausende deutsche Männer und Frauen zur Ehelosigkeit gezwungen“199 worden, da ihre zerrütteten Ehen nicht geschieden werden konnten. Vielfach hätte „persönliche Rachsucht oder kleiner Egoismus“200 die beklagten Ehepartner dazu angehalten, Widerspruch gegen die Scheidung einzureichen. Das nationalsozialistische Scheidungsrecht unterbinde nun ebendieses Vorgehen.201 Bei dieser Darstellung der Propaganda bleibt allerdings ausgespart, dass die Scheidungsgründe nicht ausgeweitet worden waren, um die individuellen Wünsche der Ehepaare stärker zu berücksichtigen. Vielmehr war die Rechtsreform aus bevölkerungspolitischen und rassenideologischen Erwägungen erfolgt. Insbesondere diese Vorgaben sollte die Rechtsprechung umsetzen. „Das Gesetz richtig anzuwenden, ist Aufgabe der Gerichte“,202 mahnte die NS-Propaganda. Die Richter diskutierten in diesem Zusammenhang die Frage, wann die häusliche Gemeinschaft eines Ehepaares als aufgelöst galt. Bereits am 12. Januar 1939 hatte

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Vgl. BArch Berlin R 3001/20473, Ein abschließendes Wort. Der Sinn des § 55 der neuen Ehegesetzgebung, in: Völkischer Beobachter, 29. März 1939, Bl. 203; BArch Berlin R 8034II/6087, Der Wille des Gesetzgebers. Der Sinn des neuen Ehescheidungsrechtes – Die Trennung zerrütteter Ehen. Volksschädigenden Auffassungen ein Ende gesetzt, in: Nationalsozialistische Partei-Korrespondenz, Folge 75, Bl. 1, 29. März 1939, Bl. 2; Blasius, Ehescheidung, 217ff. BArch Berlin R 3001/20473, Ein abschließendes Wort. Der Sinn des § 55 der neuen Ehegesetzgebung, in: Völkischer Beobachter, 29. März 1939, Bl. 203. Dieser Topos kursierte in unterschiedlichen Varianten in den Medien, stets brachte dabei die Berichterstattung zum Ausdruck, wie dringlich die Reform des Scheidungsrechts gewesen sei. Die Frankfurter Zeitung berichtete Anfang Februar 1939, dass sich vom § 55 „tausende“ die Lösung ihrer zerrütteten Ehe erhofften. Vgl. BArch Berlin R 43II/1523a, Zerrüttete Ehen, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 62–63, 3. Februar 1939, Bl. 259. BArch Berlin R 3001/20473, Ein abschließendes Wort. Der Sinn des § 55 der neuen Ehegesetzgebung, in: Völkischer Beobachter, 29. März 1939, Bl. 203. Siehe auch BArch Berlin R 8034II/6087, Der Wille des Gesetzgebers. Der Sinn des neuen Ehescheidungsrechtes – Die Trennung zerrütteter Ehen. Volksschädigenden Auffassungen ein Ende gesetzt, in: Nationalsozialistische Partei-Korrespondenz, Folge 75, Bl. 1, 29. März 1939, Bl. 2. Vgl. BArch Berlin R 3001/20473, Ein abschließendes Wort. Der Sinn des § 55 der neuen Ehegesetzgebung, in: Völkischer Beobachter, 29. März 1939, Bl. 203. BArch Berlin R 8034II/6087, Der Wille des Gesetzgebers. Der Sinn des neuen Ehescheidungsrechtes – Die Trennung zerrütteter Ehen. Volksschädigenden Auffassungen ein Ende gesetzt, in: Nationalsozialistische Partei-Korrespondenz, Folge 75, Bl. 1, 29. März 1939, Bl. 2.

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das Reichsgericht diesbezüglich ein richtungsweisendes Urteil erlassen. Demnach gelte die häusliche Gemeinschaft als aufgehoben, sofern „eine vollkommene Trennung der Ehegatten innerhalb der Wohnung“203 vorliege.204 Während des Zweiten Weltkriegs musste abermals geklärt werden, auf welchen Zeitpunkt die Trennung datiert werden sollte. Das Reichsgericht legte in diesem Zusammenhang fest, dass eine Trennung aufgrund von „geschäftlichen, beruflichen oder gesundheitlichen Gründen“205 wie die Einberufung des Ehemannes in die Wehrmacht nicht herangezogen werden dürfe. Vielmehr gebe das Verhalten der Ehepartner Aufschluss darüber, ob eine eheliche Gemeinschaft aufgelöst sei. Zum Beispiel sei dies der Fall, wenn Soldaten während ihres Heimaturlaubs nicht zu ihrer Familie zurückkehrten oder ihre Trennungsabsichten in Briefen schriftlich bekundeten. Wenn infolge einer Kriegsheirat nie ein gemeinsamer Haushalt bestanden hatte, dann galt die Ehegemeinschaft auch als aufgelöst, sobald ein Partner sich weigerte, mit dem anderen zusammenzuziehen. In diesen Fällen lösten die Gerichte eine Ehe nach einer mindestens dreijährigen Trennungszeit, ohne dabei weitere Beweise für die Ehezerrüttung heranzuziehen.206 4.3.2 Unehelichkeit zwischen sozialem Stigma und Anerkennung aus bevölkerungspolitischen Überlegungen

Die Konflikte zwischen den gesetzten Idealen und den sozialen Praktiken zeigten sich gegen Ende der 1930er Jahre jedoch nicht nur bei der Auslegung des Zerrüttungsparagraphen. Auch der Umgang mit alleinerziehenden Müttern und nichtehelich geborenen Kindern war geprägt von Ambivalenzen. Die Zahl Letzterer belief sich im Deutschen Reich zwischen 1931 und 1939 auf ungefähr ein Zehntel der Geburten. Während das unehelich geborene Kind, sofern es als „erbgesund“ eingestuft worden war, aus bevölkerungs- oder wehrpolitischer Perspektive durchaus eine Wertschätzung erfuhr, blieb die Haltung zur Mutter weitaus widersprüchlicher. Einerseits erfüllten die Frauen die ihnen angedachte Funktion als Mutter – wenngleich außerhalb des staatlich präferierten institutionellen Rahmens einer Ehe. Vermutlich aus dieser Motivation heraus erklärte Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß an Weihnachten 1939 in einem offenen Brief an eine ledige Mutter, dass er die Patenschaft für das Kind des im Angriffskrieg 203

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BArch Berlin R 8034II/6087, Aus der Praxis des neuen Eherechts. Wann ist die häusliche Gemeinschaft aufgehoben?, [in: Nationalsozialistische Partei-Korrespondenz], 23. März 1939, Bl. 1. Vgl. ebenda. BArch Berlin R 8034II/6087, Neue Bestimmungen des Ehegesetzes. Scheidung wegen Auflösung der häuslichen Gemeinschaft, in: Leipziger Neueste Nachrichten, Nr. 283, 19. Oktober 1944, Bl. 41. Vgl. ebenda.

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gegen Polen gefallenen Vaters übernehme. Das im Völkischen Beobachter und im Westdeutschen Beobachter veröffentlichte Schreiben legte dar, dass die Förderung der Familie weiterhin ein zentrales Anliegen der Nationalsozialisten sei. Gleichwohl müsse auch der Kriegslage Rechnung getragen werden. Insofern seien nun bevölkerungspolitische Erwägungen höher anzusetzen als ein starrer Schutz der Familie als Institution. Aus dieser Akzentverschiebung kann aber sicherlich nicht geschlussfolgert werden, dass alleinerziehende Mütter und ihre Kinder vonseiten des Staates den sozialen Status einer Familie zugewiesen bekommen hätten. Vielmehr blieb ihnen dieser Schritt der sozialen Anerkennung weiterhin verwehrt.207 In einem anderen Bereich versuchten hingegen wissenschaftliche Untersuchungen, die Vorurteile gegenüber unehelichen Kindern zu hinterfragen und damit die Stigmatisierung aufzuheben. Stets hatten nichtehelich geborene Kinder als verhaltensauffällig, potenziell kriminell und „minderwertig“ gegolten. In der öffentlichen Wahrnehmung haftete ihnen damit oft der Makel eines sozialen Problemfalls an. Eine Studie des Gesundheitsamtes Kiel an 400 zwischen Mai 1935 und Oktober 1936 nichtehelich geborenen Kindern widerlegte diese Behauptungen zumindest in Teilen, indem sie die „erbbiologischen“ Aspekte und weniger die bis dahin primär gesellschaftlich bzw. juristisch verhandelten Punkte in den Blick nahm. Laut der Untersuchung sind nichteheliche Kinder „nicht ohne weiteres als minderwertig zu betrachten“,208 da bei immerhin zwei Drittel der Kinder keine „Belastungen“ festgestellt werden könnten. Allerdings würden überdurchschnittlich viele Kinder „aus erbbiologisch nicht einwandfreien Familien“ stammen und bedürften daher besonderer Beobachtung. Zudem schnitten die Kinder in der Untersuchung besser ab, wenn sie binnen zwei Jahren nach ihrer Geburt „legitimiert“ wurden, d. h. die Mutter den Vater oder einen anderen Mann heiratete.209 Mit dieser Interpretation der Forschungsergebnisse lagen die Wissenschaftler auf der offiziell propagierten Linie: Aus bevölkerungspolitischen Erwägungen erfuhr auch das nichtehelich geborene Kind eine Wertschätzung, aber die Institutionen Ehe und Familie, d. h. die „Vollfamilie“,210 markierten nichtsdestotrotz die gesellschaftlich akzeptierten Rahmen. 207

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Vgl. BArch Berlin NS 5/VI/7137, Rudolf Heß an eine unverheiratete Mutter. „Was hülfe es, wenn ein Volk siegte, durch die Opfer für den Sieg aber den Volkstod stürbe?“, in: Westdeutscher Beobachter, Nr. 651, 24. Dezember 1939, Bl. 46; Heineman, Difference, 31; Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 172; Stephenson, Women, 42f.; Kundrus, Kriegerfrauen, 357; Essner/Conte, Fernehe, 206f.; Kramer, Volksgenossinnen, 239f.; Hubbard (Hg.), Familiengeschichte, 109. Für die folgenden Zitate vgl. BArch Berlin NS 5/VI/7137, Das uneheliche Kind. Erbbiologische Untersuchungen eines Gesundheitsamtes, in: Ärzteblatt, Heft 19, 12. Oktober 1940, Bl. 17. Vgl. ebenda. Ebenda.

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Die Studie enthielt darüber hinaus noch eine bemerkenswerte Geschlechterdifferenz, die Männer positiver als Frauen darstellte. Demnach stuften die Wissenschaftler die Väter „erbbiologisch“ besser als die Mütter ein, da bei Letzteren und ihren Angehörigen „Minderwertigkeiten“ wesentlich häufiger auftreten würden. Dieses Urteil konnte freilich herangezogen werden, um ein Vorgehen gegen die Mütter nichtehelicher Kinder zu rechtfertigen. Diese Frauen rückten oft aufgrund ihres außerehelichen Geschlechtsverkehrs in die Nähe von „asozialem“ und „degenerativem“ Verhalten. Gerade wenn die Frauen Kinder von unterschiedlichen Männern bekamen, lehnte die NS-Propaganda ihr Verhalten ab.211 Die NS-Parteiführung beurteilte somit nicht jede Mutter positiv, initiierte jedoch weitere Förderungsmaßnahmen, wie den am 12. Dezember 1935 gegründeten Lebensborn e. V., der „rassisch wertvolle“ Kinder unterstützen sollte. Der Verein bewertete Mütter somit auf der Basis der nationalsozialistischen Rassenhygiene und der daraus abgeleiteten „erbbiologischen“ Merkmale und nicht nach deren Familienstand. Seine Unterstützung richtete sich auch an ledige Mütter, denen der Lebensborn Plätze in Heimen zur Verfügung stellte, wo sie ihre Kinder geheim zur Welt bringen konnten. Anschließend wurden die Kinder dort versorgt. Während im Regelfall die Mütter und die Kinder von Medizinern auf ihre „Rassenmerkmale“ untersucht wurden, nahm der Lebensborn Frauen und Verlobte von SS-Männern und Polizisten ohne eine solche Prüfung auf, da sie im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie als „arisch“ galten. Zwischen 1936 und 1945 kamen in den Heimen ungefähr 12.000 Kinder – die Hälfte davon unehelich – zur Welt. Demgegenüber verzeichneten die Statistiken von 1939 bis 1946 insgesamt 8,7 Millionen Geburten. In Relation zu dieser Summe hatte der Lebensborn folglich keinen nennenswerten quantitativen Effekt auf die Geburtenentwicklung, aber die Praktiken des Vereins belegen die rassenideologischen und bevölkerungspolitischen Intentionen des NS-Regimes.212 Wie sehr sich die Position zum nichtehelich geborenen Kind infolge des Kriegs verschob, verdeutlicht ein Beitrag im Schwarzen Korps vom August 1944, der die tradierten Moralvorstellungen infrage stellte und die außereheliche Geburt positiv beurteilte. Ganz neu war dieses Ansinnen freilich nicht, hatte doch Heinrich Himmler schon 1939 SS und Polizei angewiesen, so viele Nachkommen wie möglich zu zeugen – notfalls auch außerhalb einer Ehe. Aus bevölkerungspolitischen

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Vgl. ebenda; Heineman, Difference, 31; Kundrus, Kriegerfrauen, 357. Für das Vorgehen gegen „minderwertige“ Mütter und Kinder vgl. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 179–192. Vgl. Klinksiek, Frau, 97; Heineman, Difference, 31f.; Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 164ff.; Marschalck, Bevölkerungsgeschichte, 149. Sibylle Buske urteilt hierzu, dass die Bedeutung des Lebensborns überbewertet werde, zumal ob seiner Prominenz. Vgl. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 164.

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Überlegungen schrieben manche Verfechter radikaler Ansichten wie Himmler oder das SS-Blatt Das Schwarze Korps der nichtehelichen Mutter eine zentrale Bedeutung für die demographische Entwicklung zu. Mit der gewandelten Einstellung zum nichtehelichen Kind gehe auch eine neue Gesellschaftsordnung einher. Während es in der bürgerlichen Gesellschaft als „große Sünde“213 gegolten habe, sei dies nun nicht mehr der Fall. Nun gelte der Wille zum Kind als höchstes Gut. Infolgedessen erführen auch außerhalb einer Ehe geborene Kinder eine besondere Wertschätzung.214 Wird diese radikale Position mit der Haltung Heß’ verglichen, wie sie in seinem offenen Brief zum Ausdruck kam, dann zeigt sich ein deutlicher Unterschied. Himmler beabsichtigte mit seiner Richtlinie, die Reproduktion einer rassischen Elite zu initiieren. Dabei nahm er in Kauf, mit tradierten Normen zu brechen. Diese Sichtweise wurde besonders kontrovers innerhalb der Parteiführung diskutiert. Heß hingegen bewegte sich mit seinen Vorschlägen im Rahmen schon vorher angesprochener Reformpläne: Die soziale Lage unehelich geborener Kinder und ihrer Mütter sollte verbessert werden.215

4.4 Schrumpfender Handlungsspielraum im Krieg 4.4.1 Ehetauglichkeit, Eheschließung, Ehescheidung: Anpassung der Rechtslage an den Kriegsalltag

Was die alltägliche Umsetzung der politisch gesetzten Ideale anbelangt, kann für den Beginn des Kriegs ein deutlicher Pragmatismus konstatiert werden. Doch im Laufe des Kriegs verschwand dieser wieder, als sich die Konflikte zwischen den einzelnen NS-Behörden und Ministerien verschärften. Infolgedessen schrumpfte der Handlungsspielraum zusehends und am Ende wurden alle Reformen auf die Zeit nach dem Kriegsende verschoben. Die Entwicklung hinsichtlich der ärztlichen Untersuchung der Ehetauglich mag dies illustrieren. Diese Vorgabe überführten die NS-Behörden ohnehin nie konsequent in die Praxis und ein Erlass vom 30. August 1939 schwächte die Vorgaben weiter ab. Jetzt reichte eine eidesstattliche Erklärung des Paares aus, um ihre „deutschblütige“ und „ehegesunde“ Abstammung zu bezeugen. Soldaten mussten ab September 1939 kein Ehetauglichkeitszeugnis mehr, sondern nur noch eine Ehegenehmigung des Truppenarztes vorlegen. Durch diese erleichterte Eheschließung bei solchen sogenannten „Kriegstrauungen“ beabsichtigte die Reichsregierung, die Heiratsziffern 213 214 215

BArch Berlin NS 5/VI/7137, Moral – kritisch betrachtet. Zeit- und artgebunden, in: Das Schwarze Korps, 31. August 1944, Bl. 1. Vgl. ebenda, Bl. 1f.; Heineman, Difference, 31; Klinksiek, Frau, 98. Vgl. Heineman, Difference, 32.

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zu erhöhen.216 1941 setzte gleichwohl eine erneute Radikalisierung ein, da nun ab Dezember beim Gesundheitsamt eine „Eheunbedenklichkeitsbescheinigung“ eingeholt werden musste, die dann bei der Heirat dem Standesbeamten vorzulegen war.217 Insofern gab es durchaus widersprüchliche Tendenzen während der Kriegsjahre, die bisweilen einer erleichterten Heirat durchaus entgegenstanden. Mehrheitlich tendierten die politischen Vorgaben jedoch dazu, die Hindernisse für eine Heirat zu senken. Damit verbunden war vor allem die Hoffnung, dass dies die Geburtenziffern erhöhte. Die sogenannte Ferntrauung und die postmortale Eheschließung waren zwei weitere Maßnahmen, die in diese Richtung zielten. Mit ihnen änderte sich auch die Art der Eheschließung, da mit der Personenstandsverordnung vom 4. November 1939 nicht mehr beide Partner gleichzeitig vor dem Standesbeamten erscheinen mussten.218 Diese Bestimmung richtete sich an werdende Mütter, da sie – aber insbesondere auch ihr Kind – vom „Makel der Unehelichkeit“219 befreit werden sollten. Schließlich konnten zahlreiche schwangere Frauen ihre Männer nicht heiraten, weil diese an der Front kämpften und keinen Heimaturlaub bekamen.220 Da viele Männer im Krieg fielen, bevor sie ihre Heiratsabsichten bekunden konnten, setzte sich die SS 1940 dafür ein, das Verfahren noch weiter zu vereinfachen.221 In diese Richtung zielte auch der Führererlass vom 6. November 1941, der eine postmortale Eheschließung ermöglichte, die umgangssprachlich als „Leichentrauung“ bezeichnet wurde. Hatte der gefallene Soldat die Heiratsabsicht in Briefen oder sonstigen Äußerungen bekundet, dann konnte die Ehe auch nach seinem Tod geschlossen werden. Ungefähr 18.000 Frauen, viele davon Mütter, wählten diese Art der Eheschließung. Dadurch galten nicht nur ihre Kinder als legitim, den Frauen selbst stand die finanzielle Unterstützung einer Kriegswitwe zu. Allerdings zielte nach Darstellung des Reichsjustizministeriums diese Regelung nicht darauf, den sozialen Status der werdenden Mutter zu verbessern. Vielmehr sollte das soziale Ansehen und die rechtliche Lage des nichtehelich geborenen Kindes aufgewertet werden.222 Auch hier gaben bevölkerungspolitische Erwägungen somit den Ausschlag, die Regularien zur Eheschließung an die Kriegslage anzupassen. 216 217 218 219 220 221 222

Vgl. Kundrus, Kriegerfrauen, 233; Essner/Conte, Fernehe, 208. Vgl. Kundrus, Kriegerfrauen, 233; Czarnowski, Paar, 178f. Vgl. Kundrus, Kriegerfrauen, 361; Heineman, Difference, 46; Essner/Conte, Fernehe, 209f. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 174. Vgl. Kundrus, Kriegerfrauen, 361f.; Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 173f. Vgl. ebenda, 174. Vgl. BArch Berlin R 3001/20479, Niederschrift über die Erste Arbeitstagung für Ehescheidungsrichter. Erster Tag. 3. Juli 1944, ohne Ort, ohne Datum, Bl. 25; Essner/Conte, Fernehe, 202, 211ff.; Kundrus, Kriegerfrauen, 362f.; Heineman, Difference, 474; Mouton, Nurturing, 65. Für die juristischen Details der zeitgenössischen Debatte über die nachträgliche Eheschließung und eine geplante Reform der gesetzlichen Bestimmungen vgl. Schubert (Hg.), Familien- und Erbrecht, 914–959.

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Ein weiterer Diskussionsstrang zirkulierte um die Frage, welchen rechtlichen Status Witwen bekommen sollten, deren laufendes Ehescheidungsverfahren aufgrund des Todes ihres Mannes nicht abgeschlossen werden konnte. Im Mai 1942 informierte das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) den Justizminister, dass zahlreiche Witwen Hinterbliebenenfürsorge bezögen, obwohl sie sich ehewidrig verhalten hätten. In diesen Fällen habe der Mann bereits eine Scheidungsklage eingereicht, gleichwohl sei vor seinem Tod kein Urteilsspruch erfolgt. Um diesen Witwen rechtmäßig die Fürsorge entziehen zu können, bat das OKW darum, eine entsprechende Rechtsänderung zu veranlassen.223 In den Auseinandersetzungen wurde noch ein weiterer Kritikpunkt angesprochen. Es sei problematisch, dass diese Witwen nicht nur die Hinterbliebenenbezüge erhielten, sondern darüber hinaus den Namen ihres verstorbenen Mannes behalten durften. Das sei jedoch „in höchstem Maße unbillig“,224 gerade wenn die Frau die Ehe gebrochen habe, urteilte die NS-Propaganda einhellig. Sollte sich somit die Frau eines verstorbenen Soldaten in besonders schwerem Maße schuldig verhalten haben, dann müsse, so die zentrale Forderung, auch noch nach seinem Tod die Ehe geschieden werden. Einen solchen Fall verhandelte in der zweiten Jahreshälfte 1943 das Landgericht Graudenz in Westpommern. Eine Witwe hatte ein paar Monate nach dem Tod ihres Mannes ein unehelich gezeugtes Kind auf die Welt gebracht. Die Frau argumentierte im Verfahren, ihr Mann hätte ihr den Ehebruch sicherlich verziehen. Allerdings erkannte das Gericht diese Begründung nicht an und schied die Ehe nachträglich. Den rechtlichen Rahmen für diese postmortale Ehescheidung hatte zuvor die Fünfte Durchführungsverordnung zum Ehegesetz vom 18. März 1943 geliefert.225 Diese Verordnung spiegelt darüber hinaus die Doppelmoral wider. Während der männliche Ehebruch vonseiten der Soldaten mit Prostituierten oder Frauen in den besetzten Gebieten gesellschaftlich toleriert wurde, galten für die Ehefrauen andere Standards. Es ging dabei nicht ausschließlich um ein als sittlichmoralisch integer eingestuftes Verhalten, es ging ebenfalls um „erbgesunden“ Nachwuchs. Sicherlich handelte es sich beim Ehebruch der Frau um ein Tabuthema. Noch kritischer beurteilten jedoch zeitgenössische Beobachter sexuelle 223 224 225

Vgl. Berlin R 3001/20458, Oberkommando der Wehrmacht, Betr.: Ehescheidung gefallener Soldaten, Berlin, 11. Mai 1942, Bl. 116. BArch Berlin R 8034II/6087, Wichtige Aenderung des Ehegesetzes. Lösung noch nach dem Tode vom unwürdigen Ehepartner, ohne Ort, 6. April 1943, Bl. 36. Vgl. ebenda; BArch Berlin R 3001/20458, Pressenotiz. Gerichtliche Feststellung über das Scheidungsrecht eines verstorbenen Ehegatten, ohne Ort, ohne Datum, Bl. 7; BArch Berlin R 8034II/6087, Ehescheidung nach dem Tode. Die erste Anwendung der neuen Bestimmungen, ohne Ort, 17. November 1943, Bl. 38; BArch Berlin R 3001/20458, Ehescheidung nach dem Tode, in: Berliner Nachtausgabe, 17. November 1943, Bl. 198; Heineman, Difference, 56; Mouton, Nurturing, 90f.; Essner/Conte, Fernehe, 216f.; Schubert, Einleitung (Familien- und Erbrecht), XXXVII.

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Beziehungen von Frauen zu Kriegsgefangenen und „Fremdarbeitern“, die sie kategorisch ablehnten. Sie argumentierten, dieses Verhalten stelle einen Verstoß gegen die Nürnberger Gesetze dar. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal betraf den Familienstand der Frauen. Ehefrauen mussten weitaus strengere Regeln als unverheiratete Frauen befolgen. Deren sexuelle Beziehungen, zumindest zu „deutschen“, d. h. „arischen“ Männern, stießen nämlich nicht grundsätzlich auf Missbilligung. Hierfür waren ebenfalls rassenideologische und bevölkerungspolitische Überlegungen ausschlaggebend.226 4.4.2 Wiederaufleben und Scheitern alter Topoi: Eheverbot wegen Altersunterschied und Erleichterung der Ehescheidungsgründe

Die Debatten um die Regelung des Eheschließungsrechts waren während des Kriegs von den bevölkerungspolitischen Zielen geprägt. Nachdem Standesbeamte unter anderem in Aachen, Dessau und München Eheschließungen wegen einer zu großen Altersdifferenz untersagt hatten, kehrte dieser alte Topos während der Kriegsjahre 1941 bis 1944 zurück in die politische Diskussion. Erneut stand die Perspektive des Mannes im Fokus. In einem Fall handelte es sich um eine 44-jährige Frau und einen 23-jährigen Mann. Die Beamten begründeten ihre Entscheidung mit dem Hinweis, dass diese Ehen nicht den nationalsozialistischen Idealen entsprächen, da aus ihnen keine Kinder hervorgehen würden. Schließlich lebe ein „zeugungsfähiger“ Mann mit einer „zeugungsunfähigen“ Frau zusammen. Der Bericht des Reichsführers-SS und Chefs der Deutschen Polizei betonte an dieser Stelle explizit, dass die Entscheidungen der Standesbeamten innerhalb der Bevölkerung auf „lebhafte Zustimmung“227 gestoßen seien. Eine Rechtsgrundlage hingegen hatte es für das Verhalten der Standesbeamten nicht gegeben, weshalb die betroffenen Paare gegen die Entscheidungen klagten. Die Gerichte entschieden allerdings nicht einheitlich und konnten die Klage entweder ablehnen oder zulassen.228 Am 24. Januar 1941 nahm sich das von Joseph Goebbels geleitete Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda dieses Themas an und bat das Justizministerium, ein gesetzliches Eheverbot bei zu großem Altersunterschied vorzubereiten. Alternativ regte das Propagandaministerium an, „die Rechtsprechung eine – selbstverständlich gesteuerte – neue Bahn begehen zu 226 227 228

Vgl. Mouton, Nurturing, 63. BArch Berlin R 3001/20456, Auszugsweise Abschrift aus dem Bericht des Reichsführers SS und Chef der Deutschen Polizei Nr. 152 vom 9. Januar 1941, Bl. 84. Vgl. ebenda, Bl. 84; BArch Berlin R 43II/1524, Darf die Braut 13 Jahre älter sein? Ein Rechtsstreit um Ehehindernisse – Das Oberlandesgericht sagt: „Ja!“, in: Berliner BörsenZeitung, Nr. 227, 17. Mai 1941, Bl. 45.

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lassen“.229 Insofern war bei der Eheschließung wie bei der Scheidung eine direkte Beeinflussung der Rechtsprechung eine zweite Möglichkeit, um die bevölkerungspolitischen Ziele des NS-Regimes zu verwirklichen.230 Ursprünglich sollte die Vierte Durchführungsverordnung zum Ehegesetz eine Regelung für das Eheverbot wegen Altersunterschieds enthalten. Der Justizminister reagierte damit auf das Ansinnen des Propagandaministeriums. Allerdings kritisierte Rudolf Heß, dass die darin enthaltenen starren zeitlichen Fristen der „Vielgestaltigkeit des Lebens nicht gerecht“231 würden.232 Letztlich konnten sich Partei-Kanzlei und Justizministerium in dieser Frage nicht annähern. Aufgrund des anhaltenden Konfliktes teilte schließlich der Chef der Reichskanzlei Lammers am 7. Juni 1941 mit, dass das Eheverbot in der gegenwärtigen Kriegslage Adolf Hitler nicht vorgelegt werden könne. Auch sei es „unbedenklich“, wenn diese Regelung erst nach dem Kriegsende verabschiedet werde. Demgemäß wurde die Vierte Durchführungsverordnung ohne das Eheverbot erlassen.233 Auch als das Thema 1943 und 1944 erneut auf die Tagesordnung kam, blieben die Einwände bestehen, weshalb keine Rechtsreform erfolgte.234 Die anhaltenden Kontroversen und Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Ministerien führten entgegen der allgemeinen Annahme der Polykratie-These nicht zu einer Radikalisierung. Vielmehr ließen diese Richtungskämpfe den jeweiligen Handlungsspielraum der politischen Akteure sukzessive schrumpfen, bis schließlich die Entscheidungen auf die Zeit nach dem Ende des Kriegs vertagt wurden.235 229 230 231 232

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BArch Berlin R 3001/20456, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Betrifft: Ehehindernis des Altersunterschiedes, Berlin, 24. Januar 1941, Bl. 83. Vgl. ebenda; BArch Berlin R 43II/1524, Verwaltung und Recht. Nochmals zur Frage eines Ehehindernisses wegen zu grossen Altersunterschiedes, ohne Ort, ohne Datum, Bl. 51f. BArch Berlin R 43II/1524, Der Stellvertreter des Führers, Betrifft: Vierte Durchführungsverordnung zum Ehegesetz, München, 27. April 1941, Bl. 42. Vgl. BArch Berlin R 43II/1524, Vermerk zu RK. 6591 B, Betrifft: Eheverbot wegen Altersunterschiedes, Berlin, 5. Mai 1941, Bl. 44; BArch Berlin R 43II/1524, Der Stellvertreter des Führers, Betrifft: Vierte Durchführungsverordnung zum Ehegesetz, München, 27. April 1941, Bl. 42. Für die juristischen Details der zeitgenössischen Debatte vgl. Schubert (Hg.), Familien- und Erbrecht, 731–756. Vgl. BArch Berlin R 43II/1524, Der Reichsminister und Chef der Reichskanzlei, Betrifft: Vierte Durchführungsverordnung zum Ehegesetz, Führerhauptquartier, 7. Juni 1941, Bl. 50; Schubert, Einleitung (Familien- und Erbrecht), XXXVI. Vgl. BArch Berlin R 3001/10118, Reichsminister des Innern, Ministerialdirigent [Herbert] Linden, Berlin, 12. März 1943; BArch Berlin R 43II/1525a, Vermerk zu RK. 9812 E, Betrifft: Ehen mit erheblichem Altersunterschied. Scheidungsgrund der Kinderlosigkeit, Führerhauptquartier, 19. September 1943, Bl. 175; BArch Berlin R 43II/1525a, Der Leiter der Partei-Kanzlei, Betrifft: Ehen mit erheblichem Altersunterschied. Ihr Schreiben vom 3. Juli 1943, Führerhauptquartier, 17. August 1943, Bl. 168; BArch Berlin R 43II/1525a, Partei-Kanzlei, Betrifft: Verhinderung von Ehen, die voraussichtlich unfruchtbar sein werden, und erleichterte Scheidung kinderloser Ehen, München, 7. Oktober 1944, Bl. 182. Vgl. Herbert, Geschichte, 319ff.; Hildebrand, Reich, 221–233; Bracher, Stufen, 42; Hildebrand, Monokratie, 73–79; Ruck, Führerabsolutismus, 39f., 48f.

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4. Rassenideologischer Opportunismus: die Familie im Nationalsozialismus

Parallel verhandelten die Regierungsvertreter, ob Kinderlosigkeit ein Scheidungsgrund sei. Den Ausgangspunkt bildeten auch hier die bevölkerungspolitischen Implikationen, wie sie unter anderem die vom Reichsführer-SS und seinen Mitarbeitern gestartete Initiative betonte. „Eine Ehe ohne Kinder hat ihren tieferen Sinn verfehlt“,236 erklärten sie 1942 gegenüber dem Justizministerium. Während nach dieser Argumentation die SS-Führung von einer erleichterten Ehescheidung bei Kinderlosigkeit einen positiven Effekt für die Geburtenentwicklung erwartete, teilte unter anderem das Justizministerium diese Sichtweise nicht. Schließlich mahnte das Ministerium am 14. April 1943, dass der § 55 schon in seiner gegenwärtigen Form einen Geburtenanstieg verhindere, da er die Frauen verunsichert habe. Mehr Erfolg verspreche demgegenüber, so das Justizministerium, ein Ansatz, der erleichterte und erschwerte Ehescheidung miteinander kombiniere: Die Scheidung kinderloser Ehen solle erleichtert werden. Zudem sei es von entscheidender Bedeutung, gleichzeitig die Lösung einer kinderreichen Ehe zu erschweren.237 Insbesondere der Innenminister votierte gegen die Reformpläne und legte seine Position in einem dem Protokoll beigefügten Schreiben offen. Er ging dabei auf mögliche Folgen für die Stimmung in der Bevölkerung ein, was einen negativen Effekt auf den Kriegsverlauf haben könne. Zudem resultiere die Kinderlosigkeit oft aus der vom Krieg hervorgerufenen Trennung oder dem herrschenden Wohnungsmangel – weniger aus der willentlichen Kinderlosigkeit. Auch sei es unwahrscheinlich, dass kinderlos geschiedene Personen in Kriegszeiten schnell erneut heiraten würden. Insofern ginge, so das Resümee des Innenministers, von der geplanten Gesetzesreform kein positiver Effekt auf die Bevölkerungsentwicklung aus. Sie sei daher abzulehnen.238 Der Reichsführer-SS argumentierte ebenfalls, dass eine Reform des Ehegesetzes während des Kriegs unterbleiben müsse, da sich die Frauen hiervon angegriffen fühlen könnten.239 Diese Position untermauerte eine vertrauliche Umfrage des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD bei untergeordneten Dienststellen, bei der als zuverlässig eingestufte, insbesondere weibliche Mitarbeiter und Juristen ihre Einschätzung des Entwurfs über die geplante Änderung des 236 237

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BArch Berlin R 3001/10118, Der Reichsführer-SS – I3, Betr.: Scheidungsbegehren des SS-Obersturmbannführers Hiller, Berlin, 16. Dezember 1942, 1. Vgl. BArch Berlin R 43II/1525a, Der Reichsminister der Justiz, Betrifft: Entwurf einer Verordnung zur Ergänzung des Ehescheidungsrechtes, Berlin, 14. April 1943, Bl. 143; BArch Berlin R 43II/1525a, Der Reichsminister der Justiz, Betrifft: Eheverbot wegen Alters und wegen Altersunterschiedes, Berlin, 29. April 1943, Bl. 147. Vgl. BArch Berlin R 43II/1525a, Niederschrift einer Besprechung im Reichsjustizministerium am 26. Mai 1943, Betrifft: Entwürfe einer Verordnung zur Änderung des Ehegesetzes (Änderungen des Ehescheidungsrechts, Eheverbote wegen Alters und Altersunterschieds), Bl. 166. Vgl. ebenda, Bl. 161.

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4.4 Schrumpfender Handlungsspielraum im Krieg

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Scheidungsrechts abgeben konnten. Die Ergebnisse wurden dann den mit dem Entwurf beauftragten Behörden zur Verfügung gestellt, damit diese auf die Kritik reagieren und die Verordnung entsprechend anpassen könnten. Die Juristen stuften die Verordnung mehrheitlich als „unnötig“ ein, da das Recht bereits die Ehescheidung bei Kinderlosigkeit ermögliche. Zudem äußerten sich insbesondere Frauen bei der Erhebung zurückhaltend bis ablehnend über den Entwurf, da sie einen Missbrauch durch ihre Männer fürchteten. Der SS-Bericht betonte an dieser Stelle implizit, dass der Gesetzesentwurf sogar die nationalsozialistischen Ideale konterkariere. Schließlich eröffne er die Möglichkeit, dass sich scheidungswillige Partner aufgrund „eigensüchtige[r] Motive“ zu einer Ehescheidung entschlossen.240 Die an der Auswertung beteiligten SSAngehörigen schlussfolgerten aus den Stellungnahmen, dass eine Ausweitung der Scheidungsgründe letztlich zu einer „Entwertung der Ehe“ und damit zu einer „Lockerung einer der Grundlagen unseres Volkes“241 führen würde, ohne einen nennenswerten Effekt auf die Bevölkerungspolitik zu haben.242 Die befragten SS-Angehörigen monierten ebenfalls, dass eine Ehe keine „Fabrik“243 sei. Es handele sich vielmehr um eine Lebensgemeinschaft mit einem „sittlichen Wert“ für die „Volksgemeinschaft“, der auch kinderlosen Ehen zuteilwerde – wenngleich in geringerem Umfang als Ehen mit Kindern.244 In der Summe zeigten die Antworten, dass die SS-Männer die Reform als Schwächung der Institution Ehe einschätzten und schon allein aus diesem Grund ablehnten. Während die Historikerin Dagmar Herzog dezidiert von einer freizügigen Sexualpolitik spricht, weisen diese Aussagen in die entgegengesetzte Richtung: Ehe und Familie bildeten weiterhin den Rahmen, in dem Kinder geboren und erzogen werden sollten. Insofern behielten auch im Nationalsozialismus traditionelle moralische Standards ihre Gültigkeit.245 Die Umfrage zeigt darüber hinaus auf, dass die Befragten angesichts der Reformpläne eine ungleiche Behandlung der Geschlechter befürchteten. Formal betraf das Gesetz beide Ehepartner im selben Umfang. Im Alltag würde es hingegen „als ein Ausnahmegesetz gegen die Frau“246 firmieren. Sollte sich dieser Eindruck in der Öffentlichkeit verbreiten, so sei dies höchst problematisch, resümierte der Bericht der SS. Die „Stimmung der Frau, die ohnehin im Kriege arbeits- und nervenmässig schon ungewöhnlich belastet sei“, würde dadurch 240 241 242 243 244 245 246

Vgl. BArch Berlin R 3001/10118, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Betr.: Entwurf einer Verordnung zur Ergänzung des Ehescheidungsrechts, Berlin, 18. Juni 1943, 4. Ebenda, 2. Vgl. ebenda, 1–5. Ebenda, 6. Vgl. ebenda, 5f. Vgl. Herzog, Politisierung, 11, 66f. Für die Debatte vgl. Levsen/Torp, Bundesrepublik, 11. BArch Berlin R 3001/10118, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Betr.: Entwurf einer Verordnung zur Ergänzung des Ehescheidungsrechts, Berlin, 18. Juni 1943, 6.

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noch zusätzlich gedrückt.247 In diesem Punkt deckte sich die Einschätzung der befragten Personen mit dem Urteil des Innenministeriums. Zugleich erklärt diese Sichtweise, warum insbesondere Frauen die geplante Reform ablehnten. Indem das NS-Regime somit auf die Stimmungsschwankungen innerhalb der Bevölkerung reagierte und daran seine politischen Entscheidungen ausrichtete, ist neben dem Kompetenzgerangel zwischen den Ministerien ein zweiter Faktor benannt, der den Handlungsspielraum der Parteiführung einengte.248 Zur Ruhe kam die Auseinandersetzung jedoch nicht.249 Infolge des anhaltenden Widerstands gelang es der Partei-Kanzlei und dem Innenministerium nicht, sich auf einen Kompromiss zu einigen. Die Partei-Kanzlei konnte infolgedessen die Scheidungspraxis nicht mit einer Rechtsänderung beeinflussen. Sie beabsichtigte daher seit Herbst 1943 erneut, auf die Spruchpraxis der Gerichte einzuwirken. Das Reichsgericht sollte hier die Lenkungsfunktion übernehmen.250 Zuvor mussten jedoch die niederen Instanzen mehr Revisionsklagen zulassen. Auf einer Arbeitstagung der Ehescheidungsrichter im Juli 1944 thematisierte der Jurist und Ministerialdirektor des Reichsjustizministeriums, Josef Altstötter, dieses Problem und wies die Oberlandesgerichte an, zukünftig mehr Klagen ans Reichsgericht zu überstellen.251 Auf der Tagung diskutierten die Richter auch ihre Vorstellungen darüber, welche bevölkerungspolitischen Intentionen das NS-Regime verfolgen sollte. So hielten die Richter fest, dass gerade „kinderreiche“ Mütter bei Scheidungsklagen nach § 55 geschützt werden müssten. Ihrem Widerspruch sei daher stets stattzugeben. Zudem müsse das NS-Familienrecht den Eindruck stärken, dass Ehen und Familien stabil und dauerhaft seien. Auch so lasse sich Kinderreichtum fördern, waren sich die Richter sicher. Schließlich wurden Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre 90 Prozent der Kinder ehelich – und lediglich zehn Prozent unehelich – geboren.252 Sie gaben damit selbst die Richtung vor, wie sie 247 248 249

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Vgl. ebenda. Vgl. Aly, Hitlers Volksstaat, 49–90. Vgl. BArch Berlin R 43II/1525a, Der Leiter der Partei-Kanzlei, Betrifft: Ehen mit erheblichem Altersunterschied. Ihr Schreiben vom 3. Juli 1943, Führerhauptquartier, 17. August 1943, Bl. 169f., 172; BArch Berlin R 43II/1525a, Der Reichsminister des Innern, Betrifft: Eheschließungen, die wegen voraussichtlicher Unfruchtbarkeit dem gesunden Volksempfinden widersprechen, Berlin, 11. Mai 1944, Bl. 184. Vgl. BArch Berlin R 43II/1525a, Vermerk zu RK. 9812 E, Betrifft: Ehen mit erheblichem Altersunterschied. Scheidungsgrund der Kinderlosigkeit, Führerhauptquartier, 19. September 1943, Bl. 175. BArch Berlin R 3001/20479, Niederschrift über die Erste Arbeitstagung für Ehescheidungsrichter. Erster Tag. 3. Juli 1944, ohne Ort, ohne Datum, Bl. 24; Klee, Personenlexikon, 14. Vgl. BArch Berlin R 3001/20479, Erfahrungsbericht [der ersten und zweiten Arbeitstagung für Ehescheidungsrichter], ohne Ort, [Juli/August 1944], Bl. 11f.; BArch Berlin R 3001/ 10118, Bevölkerungspolitisches Programm nach dem Kriege, ohne Ort, ohne Datum, 2; Blasius, Ehescheidung, 221f.

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zukünftig das Scheidungsrecht auslegen wollten. Die Reichsregierung und das Reichsgericht bestimmten zwischen 1943 und 1944, wann die Richter das geltende Recht restriktiv bzw. freihändig auszulegen hätten. Damit wurde zugleich der Handlungsspielraum der Richter auf der lokalen Ebene eingeengt.253 Diese Bestrebungen liefen darauf hinaus, die Familie als institutionellen Rahmen zu stärken, um die bevölkerungspolitischen Ziele zu erreichen.254

4.5 Familienleben zwischen Kriegsalltag und Nachkriegszeit 4.5.1 Die Frau als Kameradin für Vater, Familie und „Volksgemeinschaft“

Die politischen Maßnahmen ordneten die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Heirat und damit die finanzielle und soziale Lage der betroffenen Personen neu.255 Dabei blieb den Familienmitgliedern meist weiterhin selbst überlassen, wie sie die Beziehungen ausgestalteten und inwiefern die Familie ihre Mitglieder vor physischen und psychischen Belastungen schützen wollte und konnte. Diese Funktionen blieben den Familien auch während der letzten Kriegsmonate und in der unmittelbaren Nachkriegszeit überlasen, kriegsbedingt kamen aber weitere hinzu256 : Sie galt als Zufluchtsort vor externen Bedrohungen, als Hort emotionaler Geborgenheit und als eine funktionell ausgestaltete, aufs Überleben getrimmte Einheit.257 Die Familie als soziale Einheit wurde jedoch in zahlreichen Fällen mit der Einberufung der Männer aufgebrochen – beginnend 1938, verstärkt dann in den ersten beiden Kriegsjahren 1939 und 1940. Die Ehemänner und Väter schieden zu diesem Zeitpunkt aus dem Familienalltag aus. Das stellte für das Familienleben meist einen harten Einschnitt dar, da sich nicht nur die Familienzusammensetzungen, sondern auch die Rollenanforderungen für die Ehefrauen umfassend

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Vgl. BArch Berlin R 43II/1525a, Partei-Kanzlei, Betrifft: Verhinderung von Ehen, die voraussichtlich unfruchtbar sein werden, und erleichterte Scheidung kinderloser Ehen, München, 7. Oktober 1944, Bl. 180; BArch Berlin R 43II/1525a, Vermerk zu RK. 9367 E, Betrifft: Eheverbot bei Altersunterschied; Scheidungsgrund der Kinderlosigkeit, Berlin 3. November 1944, Bl. 186f. BArch Berlin R 3001/10118, Bevölkerungspolitisches Programm nach dem Kriege, ohne Ort, ohne Datum, 4f.; Czarnowski, Wert, 90. Vgl. Heineman, Difference, 48. Vgl. Vaizey, Surviving, 77f. Vgl. ebenda, 150f.; Merkel, Leitbilder, 364.

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änderten.258 Da sie die Geschicke der Familien alleine lenkten und die Kinder erzogen, bekamen sie mehr Entscheidungsfreiräume. Andererseits festigte diese Situation auch das tradierte Rollenverhalten, da nun die Männer noch weniger am Familienleben teilhaben konnten und Familienaufgaben stets Frauenaufgaben waren.259 „Der Haushalt war meine Aufgabe und wie dann das Kind kam, hab ich es auch ganz alleine versorgt. Das lief alles genauso weiter wie er weg war“,260 berichtete die Frau eines angestellten Versicherungskaufmannes. Es gab somit auch Familien, in denen die Einberufung der Männer keinen Einfluss auf die Rollenverteilung innerhalb der Familie hatte. Im Hinblick auf die Beziehung der Familien zu ihrer Umwelt fiel der Ausfall der Männer hingegen stets ins Gewicht, da die Frauen nun die Verantwortung für die Familien eigenständig schultern mussten. Es zeigte sich bei zahlreichen Frauen in diachroner Perspektive ein Lernprozess, der sich auf ihr Verhalten auswirkte. Während die Ehefrauen zunächst, unmittelbar nach der Einberufung ihres Mannes, die Veränderung als belastend empfanden, änderte sich ihre Einstellung, sobald sie mehr Erfahrung mit dieser neuen Konstellation gesammelt hatten. Die Frau jenes Versicherungsangestellten erzählte, dass sie sich – gerade bei schwierigen Entscheidungen – zunächst überfordert und hilflos gefühlt habe. Sie führte dies darauf zurück, dass sie keine Praxis mehr gehabt habe, Entscheidungen alleine zu treffen. Die anfängliche „emotionale Verunsicherung“261 sei für die Mehrzahl der Interviewpartnerinnen typisch gewesen, resümieren die Soziologinnen Sibylle Meyer und Eva Schulze in ihrer Studie über die Folgen des Zweiten Weltkriegs für den Alltag der Frauen. Sie haben zwischen 1983 und 1985 mit 50 Probandinnen der Jahrgänge 1898 bis 1928 autobiographische Interviews durchgeführt. Meyer und Schulze rekonstruieren so anhand der persönlichen Erinnerung der befragten Frauen, wie diese ihre lebensgeschichtliche Erfahrung des Familienlebens und des Alltags wie auch die soziale Stellung der Frauen während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit verarbeitet haben.262 Zahlreiche Ehefrauen arrangierten sich sukzessive mit den neuen Rahmenbedingungen, die ihnen mehr Verantwortung übertrugen, und trafen die Entscheidungen über Anschaffungen und Wohnort oder Erziehungsfragen eigenständig. Die wachsende Selbständigkeit der Ehefrauen wie auch die Trennung der Ehepaare entwickelten sich so zusehends zur „Normalität“ für die Familien.263 258 259 260 261 262 263

Vgl. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 203; dies., Als wir wieder zusammen waren, 306f.; dies., Krieg, 185. Vgl. Budde, Women’s Finest Hour, 48. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 205. Ebenda, 208. Vgl. ebenda, 1ff., 207f.; Meyer/Schulze, Liebe, 23; Vaizey, Surviving, 3; Thompson, Problem, 371; Geppert, Forschungstechnik, 313–316. Vgl. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 210.

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Die Lernerfahrungen bilden auch Briefwechsel zwischen den Ehepartnern von 1939 bis 1945 ab. Der Inhalt der Briefe verändert sich mit andauernder Trennung. Anfangs hielten die Frauen in kritischen Fragen Rücksprache mit ihren Männern, später thematisierten sie die Probleme immer weniger, bis sie in zahlreichen Briefwechseln schließlich ganz verschwanden. Nun schilderten die Frauen nur noch ihren Alltag.264 Die Briefe vermitteln dabei primär ein idyllisches Bild und keine detailgenauen Beschreibungen. Die Ehefrauen versuchten, ein „normales“ Familienleben zu suggerieren, welches ein Gegenbild zur Trennung, zu den individuellen Sorgen und Nöten im Krieg formte. Wie Hester Vaizey in ihrer Studie zum Familienleben darlegt, sparten auch die Männer in ihren Feldpostbriefen den Kriegsalltag aus. Die Zensur hielt sicherlich die Soldaten an der Front und Ehefrauen zuhause hierzu an, resümiert Vaizey. Die Männer sollten nicht über den Kriegsverlauf oder ihren brutalen Alltag berichten; Frauen sollten die Soldaten nicht mit Schilderungen der Notlagen an der „Heimatfront“ wie der knappen Versorgung mit Lebensmitteln belasten. Obwohl somit die Zensur den Inhalt der Briefe sicherlich beeinflusste, legten die Ehepartner fest, was sie dem jeweils anderen erzählten. Indem die Ehefrauen den Familienalltag beschrieben und die Männer sich über die Entwicklung der Kinder erkundigten sowie väterliche Erziehungsratschläge gaben, so Vaizey, hatten sie auf distanzierte Art teil am Familienleben.265 Briefwechsel waren letztlich neben den seltenen Heimaturlauben die einzige Möglichkeit, den gegenseitigen Kontakt aufrechtzuerhalten. Allerdings wurde der Briefverkehr im Kriegsverlauf zusehends eingeschränkt.266 Mit der Trennung stieg die Arbeitsbelastung für die Ehefrauen und Mütter merklich an. Das betraf insbesondere Familien von Handwerkern oder Selbständigen, da die Frauen im Betrieb mithalfen oder diesen alleine führten, wie im Fall der Berliner Familie Köhler. Nach der Einberufung des Mannes bekam Frau Köhler 1941 ihr viertes Kind. Parallel musste sie sich um die familieneigene Kohlenhandlung kümmern. Diesen enormen Arbeitsaufwand konnte Frau Köhler jedoch nicht auf Dauer bewältigen, weshalb sie nach Rücksprache mit ihrem Mann das Geschäft schließlich aufgab. Ähnlich erging es einer Blumenbinderin, die gemeinsam mit ihrem Mann ein kleines Geschäft betrieben und sechs Kinder versorgt hatte. Auch sie musste ihr Geschäft 1941 – ein Jahr nach der Einberufung ihres Mannes – schließen.267 Als sich zudem die Versorgungslage im Kriegsverlauf, insbesondere ab 1942/43, merklich verschlechterte,

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Vgl. ebenda, 209. Vgl. Budde, Women’s Finest Hour, 48; Vaizey, Surviving, 36–40, 43–46, 131–139; Meyer/ Schulze, Auswirkungen, 209. Vgl. Vaizey, Surviving, 36–40. Vgl. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 204ff. Zur Familiengeschichte von Elsa und Rudi Köhler vgl. dies., Liebe, 18–37.

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wuchs der Arbeitsaufwand für die Mütter weiter an. Die Dreifachbelastung aus Haushaltsführung, Kindererziehung und Berufsarbeit ging dann oft auch zu Lasten der psychischen und physischen Konstitution. Die Trennung von Ehemann und Ehefrau sowie Vater und Kindern hatte somit weitreichende Folgen, die sich bei der Kindererziehung, der Arbeitslast der Ehefrauen und dem sich verändernden Entscheidungsverhalten der Frauen besonders deutlich zeigten. Wenngleich die Frauen während des Kriegs zusehends unabhängiger von ihren Männern agierten, kann dies nicht zwangsläufig als Indikator für ein gewandeltes Rollenverständnis interpretiert werden. Schließlich übernahmen die Frauen die Aufgaben vielfach aus Not und sahen diesen Zustand lediglich als Übergangsstadium an, wenngleich sich zahlreiche Frauen im Laufe der Zeit an diese neue Konstellation gewöhnten und die gestiegene Unabhängigkeit schätzten.268 Insgesamt ergibt sich ein ambivalentes Bild hinsichtlich der Frage, wie die Frauen ihre Rollen ausfüllten. Ähnlich disparat verteilt waren auch die Folgen der Trennung für die Paarbeziehungen. In vielen Fällen nahmen die Eheprobleme zwar zu, in anderen stieg hingegen die gegenseitige Wertschätzung der Partner füreinander sogar an.269 Häufig kam es auch vor, dass sich die Partner aufgrund der langen Trennung voneinander entfremdeten und emotionale Zuneigung bei anderen Personen suchten. Das traf für Soldaten an der Front genauso wie für Ehefrauen im Heimatort zu. Solche Affären führten dann in vielen Fällen zu einer Ehescheidung.270 Einen weiteren Einschnitt stellt die „Erweiterte Kinderlandverschickung“ und die Evakuierung der Großstädte dar. Die „Kinderlandverschickung“ wurde bereits im September 1940 veranlasst. Sie war zwar auch als Schutz der Kinder vor den nächtlichen Angriffen der alliierten Bomber gedacht, selbst wenn sie offiziell nicht so benannt werden durfte – aus Furcht vor einer Beunruhigung der Bevölkerung. Doch im Vordergrund stand das Ziel, den Einfluss der Eltern auf die Erziehung der Kinder zurückzudrängen. Bereits im Oktober 1940 setzte die Verschickung in den Großstädten Berlin und Hamburg ein und betraf zu diesem Zeitpunkt 3.000 Kinder. Im Anschluss wurde die „Kinderlandverschickung“ auf das Ruhrgebiet, später auch auf andere Städte ausgeweitet. Ab Ende 1942 bzw. Anfang 1943 wurden auch verstärkt nicht-berufstätige Mütter gemeinsam mit ihren Kindern unter drei Jahren und später unter sechs Jahren evakuiert. Insgesamt gehen Schätzungen davon aus, dass bis zum Kriegsende etwas mehr als zwei Millionen Kinder und Jugendliche umquartiert wurden. Ungefähr 850.000 Kinder zwischen zehn und 14 Jahren wurden in Lagern und eine ähnlich hohe

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Vgl. Vaizey, Surviving, 102; Meyer/Schulze, Auswirkungen, 210. Vgl. Vaizey, Surviving, 78; dies., Husbands, 391. Vgl. DTA 1849,1; Vaizey, Husbands, 392; dies., Surviving, 42.

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Zahl von Sechs- bis Zehnjährigen bei Pflegefamilien untergebracht. Eine weitere gute halbe Million Kinder unter sechs Jahren wurde gemeinsam mit ihren Müttern „verschickt“.271 Ab 1942 weigerten sich die Eltern verstärkt, an der Kinderlandverschickung teilzunehmen. Jedoch gaben vereinzelt die Mütter ihre Kinder sogar freiwillig in die Obhut der NSDAP. Wenn sie sich alleine um den Nachwuchs kümmerten und die Luftschutzkeller weiter von der Wohnung entfernt waren, brachte dies eine deutliche Erleichterung des Alltags mit sich. Es gab aber noch einen weiteren Grund. So fürchteten die Mütter, dass ihre Kinder in den schlecht belüfteten Kellern aufgrund der feuchten Luft erkranken könnten. Die Evakuierungen belasteten den Familienalltag erheblich, da sie den Familienhaushalt vielfach aufhoben und die Familienmitglieder räumlich verstreute. Dies trifft selbst dann zu, wenn nicht schulpflichtige Kinder gemeinsam mit ihren Müttern evakuiert wurden, wie dies in Berlin ab August 1943 der Fall war.272 Während einerseits also die Belastungen für die Familien deutlich zunahmen, veränderten die Evakuierungsmaßnahmen den Alltag der Ehefrauen und Mütter noch auf eine andere Art. Nach Ansicht der Soziologinnen Meyer und Schulze steigerte die Erfahrung der Evakuierung und die damit einhergehende Mobilität und Trennung der Familienmitglieder bei den Frauen deren Selbständigkeit wie auch ihr Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen.273 Diese Interpretation legt nahe, dass die Frauen die gestiegenen Anforderungen meisterten. Allerdings verlangte dies von den Frauen bisweilen größte Anstrengungen ab, die bei den Müttern vereinzelt auch den Wunsch nach weniger Verantwortung aufkommen ließen. Die Lage verschärfte sich nochmals zwischen Spätherbst 1944 und Kriegsende im Mai 1945. Nun erfolgten im Osten zahlreiche Evakuierungen und gleichzeitig rückte der Frontverlauf immer näher an das Reichsgebiet heran, bis die Alliierten schließlich Deutschland eroberten. Aus der Perspektive der betroffenen Frauen erschienen diese Erlebnisse nicht mehr als eine Evakuierung, sondern vielmehr als eine Flucht vor feindlichen Kampfverbänden, die sie alleine bewerkstelligen mussten. Wenn zudem die Evakuierung aus dem Heimatort mit der Nachricht vom Tod des Ehemannes oder eines Sohnes zeitlich eng zusammenfiel, berichten die Quellen überdies von mehreren Selbstmordversuchen von Müttern.274 Gerade jetzt sehnten sich viele Frauen nach ihren Ehemännern. Sie hofften, dass

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Vgl. Krause, Flucht, 45–49; Kock, Führer, 74f., 82, 134, 136–140, 143. Vgl. Vaizey, Surviving, 103, 107, 124; dies., Empowerment, 67f., 71, 74; Meyer/Schulze, Auswirkungen, 202f., 210–213; dies., Als wir wieder zusammen waren, 310; Kock, Führer, 107, 136–140, 142; Kramer, Volksgenossinnen, 247, 270–275. Zur Familienunterstützung und der problematischen Versorgungslage im Krieg vgl. exemplarisch Kundrus, Kriegerfrauen, 234–246, 312ff. Zur Erfahrung des Luftkriegs vgl. Süß, Tod, 341–357. Vgl. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 219. Vgl. ebenda, 219f.; Kramer, Volksgenossinnen, 230.

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die Männer mit der Rückkehr wieder ihre Rolle als Ernährer übernehmen und so die individuelle Notlage der Familie wie auch der Mutter lindern würden. Das wiederum versprach Entspannung und Stabilität sowohl für die emotionalen Bedürfnisse der Familienmitglieder als auch für die materielle und finanzielle Versorgung der Familie. Mit den Männern, so die vielfach von Frauen artikulierte Annahme, werde sich die Lage insgesamt bessern. Demzufolge waren aus ihrer Perspektive die Männer unentbehrlich für ein intaktes Familienleben. „Normalität“ bedeutete für diese Frauen somit eine Rückkehr zu den Vorkriegsrollen und dem traditionellen Modell der Kernfamilie.275 Noch bevor sich die Lage dramatisch verschlechterte und sich zahlreiche Familienmitglieder nach einer Rückkehr zu tradierten Idealen sehnten, versuchte die NS-Propaganda solche „Normalitätsvorstellungen“ aufrechtzuerhalten, wie 1942 in der Zeitung der Berliner NSDAP Der Angriff : „Es ist die Aufgabe der Frau, für das Auskommen[,] und die des Mannes[,] für das Einkommen der Familie zu sorgen, und beides ist gleich wichtig.“276 Die Lebensqualität der Familie hänge, so die weiteren Ausführungen, von den Fähigkeiten der Ehefrau ab. Zum Beispiel müsse sie auf eine „rechte Zeiteinteilung“ achten. Damit hielt die Propaganda die Frauen dazu an, einkaufen zu gehen, bevor sich lange Warteschlangen vor den Geschäften gebildet hätten. Dabei warf der Bericht anderen Frauen wiederum vor, dass sie ihre Einkäufe genau zu den Stoßzeiten erledigten, sich dabei noch mit Bekannten träfen und sich lange mit ihnen unterhalten würden. Dieses Verhalten lehnte die Propaganda jedoch ab, da es kontraproduktiv sei. Es gebe in der Tat zahlreiche Personen, „die weder ein Arbeitsethos noch ein Arbeitstempo kennen“, kritisierte der Artikel. Gerade in Kriegszeiten sei es äußerst wichtig, den Haushalt rational zu führen. „Ordnungssinn“ sei dabei der Schlüssel zum Erfolg, da so die anfallenden Tätigkeiten effizient und schnell erledigt werden könnten. Haushaltsführung müsse überdies als eine „große und dankbare Aufgabe“ betrachtet werden, da es sich hierbei um „das Wertvollste unseres Gemeinschaftslebens“ handele. Die NS-Propaganda versuchte einerseits, die desolate Versorgungslage mit Nahrungsmitteln zu kaschieren, und machte zugleich das vermeintlich schlechte Organisationsgeschick der Frauen für die logistischen Probleme verantwortlich. Andererseits adaptierte die Propaganda in solchen Berichten tradierte Geschlechterrollen an die Kriegslage. Zugleich formulierte sie aber auch neue Ideale, die die Frauen weiterhin auf ihre Rolle als Hausfrau bzw. Mutter verwiesen und sie gleichzeitig zu einer effizienten Arbeitsweise anhielten. Als Fixpunkte für die Familienwerte firmierten somit eine imaginierte Traditionalisierung sowie Rationalisierung. Die Hausfrau und Mut-

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Vgl. Vaizey, Surviving, 107–113; dies., Empowerment, 57. Für die folgenden Zitate vgl. BArch Berlin NS 5/VI/7131, Die Hausfrau erleichtert sich die Arbeit, in: Der Angriff, Nr. 260, 27. Oktober 1942, Bl. 6.

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ter galt nach dieser Darstellung als die „‚Betriebsführerin‘ im kleinen“,277 die ihre Aufgaben als Kameradin treu für Ehemann, Familie und „Volksgemeinschaft“ erledigte.278 Diese Ausführungen verdeutlichen, dass die NS-Propaganda versuchte, über den Begriff der Kameradschaftlichkeit eine Vorstellung von Harmonie zu etablieren, die nicht nur an der Front, sondern auch in der Familie zu gelten habe. Zudem wies der Begriff im Nationalsozialismus eine spezifische Bedeutung auf, die sich von anderen Kontexten unterschied. Während Kameradschaft im sozialdemokratischen Milieu für eine gegenseitige Unterstützung von Individuen stand, brachte er im Nationalsozialismus außerdem die Unterordnung des Individuums gegenüber dem Staat zum Ausdruck. Konflikte sollten somit ausgeblendet werden und nicht Teil des Alltags sein. Gleichzeitig diente dieses patriarchalische Modell von Kameradschaft dazu, die tradierten Geschlechterrollen zu perpetuieren und auch zu festigen. Kameradschaft stand für Leidensfähigkeit, Entbehrung und Meisterung der im Krieg zusehends wachsenden Überbelastung.279 Gerade der Kriegswinter 1941/42 und das daran anschließende Jahr stellten eine Zäsur dar, da sich die Versorgung mit Nahrung verschlechterte, als die Alliierten verstärkt Luftangriffe auf deutsche Städte flogen. Das Jahr 1942 markierte somit einen wichtigen Einschnitt für den Alltag zahlreicher Familien. Darüber hinaus erwartete das NS-Regime von der Mutter, dass sie sich nicht nur um die Familie kümmerte, sondern auch einer Berufsarbeit nachging. Trotz dieser Veränderungen sah die Propaganda die Frau weiterhin primär als Mutter in der Familie verortet, wie dies der stellvertretende Gauwalter der Deutschen Arbeitsfront in Essen, Rudolf Kasper, vor den Mitarbeiterinnen des Frauenamtes am 1. Juli 1942 in einer Rede darlegte: Das eigentliche Wirken der Frau aber liegt in der Familie, in der Erziehung, in der Erhaltung wirklicher Werte der Rasse und der Kultur, in der Sicherung der Ewigkeit unseres Volkes. Die Frau ist in erster Linie Hüterin der Familie und ihrer inneren Werte. Dabei hat die deutsche Frau aber auch die Lebens-, Arbeits- und Kampfgefährtin ihres Mannes zu sein.280

Mutterschaft bedeutete, dass die Frauen nicht ihre individuellen Interessen verwirklichen durften. Ihre Pflicht war es, sich für ihre Familie und Kinder aufzuopfern.281 Gleichzeitig enthielten alle diese propagandistischen Ausfüh-

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BArch Berlin NS 5/VI/7131, M. W., Der beste Kamerad der Familie. Hausfrau und Mutter als „Betriebsführerin“ im kleinen – Von morgens bis abends auf den Beinen – Pflichten und Arbeit für Familie und Volksgemeinschaft, in: Die Innere Front, Nr. 234, 6. Oktober 1942, Bl. 8. Vgl. ebenda. Vgl. Kühne, Kameradschaft, 82ff., 91–96, 94, 98f. BArch Berlin NS 5/VI/7131, Die Mutter und Kampfgefährtin. Von stellvertretendem Gauobmann Rudolf Kasper, in: Der Ruhrarbeiter, Nr. 25, 4. Juni 1942, Bl. 12. Vgl. ebenda.

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rungen auch stets ein Stück Pragmatismus. Dieses Rollenmodell weichten die NS-Behörden in der Praxis deutlich auf, da gerade während des Kriegs der Bedarf an weiblichen Arbeitskräften hoch war, wie dies auch „Reichsfrauenführerin“ Gertrud Scholtz-Klink betonte. Frauen mussten damit neben der Haushaltsführung und Kindererziehung eine dritte Rolle übernehmen: Sie sollten als „Mitkämpferin in der Rüstungsarbeit“282 agieren. Die Dreifachbelastung – Berufsarbeit, Haushaltsführung und Kindererziehung – gehörte somit zum Alltag der „Volksgenossinnen“. Diese Mehrfachbelastung war Teil der vonseiten der NSDAP gesetzten Ideale wie auch der Alltagspraxis. Allerdings stieg insbesondere mit der Einberufung des Ehemannes und ab dem Jahr 1942 sowie erneut ab 1944 mit der schlechter werdenden Versorgungslage und den Evakuierungen die Arbeitslast für die Frauen deutlich an. Ebendiese Entwicklung versuchte die Propaganda zumindest rhetorisch zu kaschieren. 4.5.2 Familienalltag im Nachkriegschaos: Überlastung und Konflikte, Zusammenhalt und Wertschätzung 4.5.2.1 Familie als Integrationspunkt zwischen erfüllten und enttäuschten Hoffnungen

Während die propagandistischen Darstellungen den Familienalltag harmonisch porträtierten, beobachteten Fürsorgestellen im Zweiten Weltkrieg, dass sich Ehepartner aufgrund der langen Trennung voneinander entfremdeten. Gerade wenn die Ehemänner im Fronturlaub nach Hause kamen, setzten häufig Konflikte ein. Jetzt sahen die Männer, wie ihre Frauen den Alltag unabhängig und eigenständig, ohne männliche Hilfe, meisterten. Demgegenüber orientierten sich die Männer weiterhin mehrheitlich an tradierten Geschlechterrollen. Darüber hinaus beförderte auch die Propaganda die Kontroversen. Sie forderte von den Frauen zwar Verständnis für die Ehemänner ein, wohingegen dies umgekehrt nicht galt. Insofern konnten die Männer auf den von ihnen vertretenen tradierten Idealen beharren. Frauen sollten sich demgegenüber an diese Vorstellungen anpassen. Das vergrößerte in vielen Fällen die gefühlte Distanz zwischen den Ehepartnern über die Frage, wie das Familienleben auszugestalten sei.283 Erschwerend kam in der Nachkriegszeit hinzu, dass die Ehepartner sowie Eltern und Kinder oft über einen sehr langen Zeitraum getrennt gewesen waren. Die Ehemänner kehrten, sofern sie nicht gefallen waren, erst nach dem Kriegsende von der Front oder Jahre später aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Die „Erweiterte Kinderlandverschickung“ hatte ebenfalls Familien zerrissen und die Familienmitglieder 282 283

BArch Berlin NS 5/VI/7131, Gertrud Scholtz-Klink, Deutsche Mütter im Kriege. Zum Muttertag 1942, in: Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 229, 17. Mai 1942, Bl. 15. Vgl. Kundrus, Kriegerfrauen, 369ff.; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 106f.

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voneinander entfremdet. Das bedeutete jedoch nicht, dass Zeitgenossen die Familie als Institution infrage stellten. Vielfach galt die Familie im unmittelbaren Nachkriegschaos als Schutzraum vor Umwelteinflüssen. Angesichts der äußerst angespannten Ernährungslage, den ca. zwölf Millionen Geflüchteten, der hohen Kriminalitätsrate und des Wohnraummangels bildete der institutionelle Rahmen der Familie einen orientierungsstiftenden Gegenpol.284 Gleichwohl erschwerte es gerade die desolate Wohnungssituation vielen Familien, diese Funktion zu erfüllen. So war insgesamt gut ein Viertel und in Städten die Hälfte der Wohnungen zerstört worden. 1946 standen 14 Millionen Haushaltungen ungefähr acht Millionen Wohnungen gegenüber. Privater Wohnraum war nicht nur eine wichtige Voraussetzung für ein Familienleben. Zudem dauerte es in vielen Fällen mehrere Jahre, bis Familien eine eigene Wohnung bekamen. Zunächst lebten sie oft mit Verwandten oder Untermietern beengt auf kleinstem Raum und zum Teil in zerstörten Wohnungen.285 Für die individuelle Situation der Familien markierte das Kriegsende am 8. Mai 1945 keine Zäsur, obwohl die Familien nun in ein grundlegend anderes politisches und juristisches Setting eingebettet wurden. Vielmehr setzte sich die alltägliche Suche nach Nahrung und Schutz sowie die Sorge um die Familienangehörigen fort. Tatsächlich nahmen die Familien und ihre Mitglieder die unmittelbaren Monate nach der Befreiung als die Zeit der größten Bedrohung und Angst wahr. Das prägte den Lebensalltag der Familien.286 Aus der individuellen Perspektive handelte es sich bei der Familie, wie der Historiker Lutz Niethammer argumentiert, um eine Projektionsfläche für die Sehnsucht nach Geborgenheit, Hilfe und Schutz. Obwohl Niethammer wie auch die zeitgenössische Beobachtung des Soziologen Helmut Schelsky diesen Zustand als ein Signum der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg werteten, gleicht die Konstellation den Ausgangsbedingungen nach 1919. In beiden Zeitabschnitten wirkte die Familie als Orientierungsmarke und vermittelte so ein Gefühl von Ordnung und Sicherheit. Zugleich handelte es sich bei zahlreichen Familien auch um „Notgemeinschaften“, die fest zusammenhielten. Sie hofften so, die Krisensituation gemeinsam zu überwinden. Dabei konnte es durchaus vorkommen, dass gerade tradierte Rollenmodelle eine besondere Wertschätzung erfuhren. Schließlich assoziierten die Familienmitglieder damit Sicherheit, Geborgenheit und Harmo-

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Vgl. Vaizey, Surviving, 69–77, 151; Vogel, Familie, 35ff.; Willenbacher, Zerrüttung, 597f.; Meyer/Schulze, Liebe, 9f.; Kuller, Familienpolitik, 40; Krause, Flucht, 228f. Für die allgemeinen Bevölkerungsbewegungen zwischen 1939 und 1950 und die Wohnungsnot in der Nachkriegszeit vgl. Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 27–60. Vgl. Kleßmann, Staatsgründung, 52; Schulz, Wiederaufbau, 33; Saldern, Häuserleben, 257; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 43; Sieder, Sozialgeschichte, 239; Frevert, Frauen-Geschichte, 244f. Vgl. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 224f.; Moeller, Mütter, 27; Gebhardt, Soldaten, 17–38.

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nie, wie sie vermeintlich vor Kriegsbeginn geherrscht hätten.287 „Orientierung“ und „Stabilisierung“ entwickelten sich zu Leitvokabeln der Nachkriegszeit, die die Institution Familie ausfüllen sollten.288 Aber schon allein aufgrund des enormen Überschusses von 7,4 Millionen Frauen blieb es vielen von ihnen verwehrt, eine eigene Familie zu gründen. Gleichzeitig kam aber den Frauen nicht nur für die Familien eine besondere Bedeutung zu, sondern auch in der öffentlichen Debatte. In der zeitgenössischen Wahrnehmung waren sie im öffentlichen Raum präsent – wenngleich nicht als „Trümmerfrauen“, die lediglich in Berlin und der Sowjetischen Besatzungszone in größerer Zahl anzutreffen waren, wie die Historikerinnen Nicole Kramer, Leonie Treber und Marita Kraus in ihren Studien herausarbeiten. Im Privaten agierten Alleinerziehende, Witwen und Ehefrauen. Die unterschiedlichen Aktionsräume der Frauen wurden gesellschaftlich verhandelt, wenngleich sich kurzfristig kein radikaler Wandel der Geschlechterrollen einstellte und mittelfristig sich sogar wieder tradierte Rollenmodelle durchsetzten. Insofern handelte es sich bei der größeren Unabhängigkeit und Berufstätigkeit der Frauen, zumindest wenn die 1950er Jahre als Referenz dienen, um temporäre Erscheinungen.289 Zudem muss zwischen der öffentlichen Wahrnehmung und der sozialen Realität unterschieden werden. Während das Bild der unabhängig agierenden verheirateten Ehefrau bzw. Alleinerziehenden den Eindruck vermittelt, Frauen seien gestärkt und sozial aufgewertet aus dem Krieg hervorgegangen, vernachlässigt es gleichsam, dass sie genauso wie die Männer von den Anstrengungen ausgezehrt waren. Zudem wurden in den letzten Kriegsmonaten und ersten Nachkriegsjahren zahlreiche Frauen vergewaltigt, was zu psychischen Verletzungen führte und ihnen auch als soziales Stigma anhaftete, worunter sie emotional massiv litten.290 Obwohl sich mit der Rückkehr der Kriegsgefangenen die Geschlechterrelation verschob, blieb ein deutlicher Männermangel bestehen, wie die Volkszählung 1950 mit einer Relation von 100 zu 81 belegt. Zudem entsprachen die heimkeh287 288

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Vgl. Niethammer, Privat-Wirtschaft, 48; Schelsky, Wandlungen, 75f.; Vogel, Familie, 38; Vaizey, Surviving, 78f.; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 29. Vgl. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 195. Ähnlich bei dies., Fräulein Mutter vor dem Richterstuhl, 50; dies., Debatte, 335. Zum Werk Schelskys vgl. Klein, Helmut Schelsky. Zur Tradition nationalsozialistischen Denkens in der „Deutschen Akademie für Bevölkerungswissenschaft“, zu der neben Hans Harmsen auch Helmut Schelsky, Elisabeth Pfeil, Gerhard Wurzbacher und Hermann Schubnell gehörten, vgl. Kuller, Familienpolitik, 101f.; Nolte, Ordnung, 317. Vgl. Sieder, Sozialgeschichte, 236; Vaizey, Surviving, 103; Kramer, Ikone; dies., Volksgenossinnen, 320–335; Krauss, Trümmerfrauen; Treber, Mythos Trümmerfrauen, 275f.; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 34. Vgl. Vaizey, Surviving, 93, 103, 113ff.; Heineman, Difference, 75–78, 81, 106f.; dies., Hour (1996); dies., Hour (2001), 22. Für Details zur Vergewaltigung nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. Gebhardt, Soldaten.

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renden Ehemänner und Söhne oft nicht dem Ideal des „starken Mannes“. Sie kamen nach sechs Kriegsjahren und vielfach nach langer Kriegsgefangenschaft physisch und psychisch am Boden zerstört zurück. Das Ausmaß der Kriegsfolgen war mitunter beträchtlich. Denn als Amtsärzte Kriegsheimkehrer untersuchten, schrieben sie zwar weniger als fünf Prozent von ihnen arbeitsunfähig. Jedoch lag der Anteil bei den Rückkehrern aus Russland mit 93 Prozent wesentlich höher, wie eine Untersuchung zum Jahresende 1947 an 10.000 Männern in Auffanglagern aufzeigte. Insbesondere diese Männer konnten zumindest anfangs nicht die Rolle des Ernährers ausfüllen, was insbesondere dann schwer wog, wenn die Ehefrauen sich genau dies erhofft hatten. Hielten demgegenüber Frauen an ihrer im Vergleich zur Vorkriegszeit unabhängigeren Position fest, dann stellte die relativ schwache Position des Mannes sicherlich ein geringes Konfliktpotenzial dar. Ungeachtet dieser unterschiedlichen Erwartungshaltungen führte die Rückkehr der Männer oft zu Problemen im Familienalltag, wenn sie aufgrund ihrer Kriegserfahrungen nicht am Familienleben partizipieren wollten oder konnten, wie anschließend diskutiert wird.291 4.5.2.2 Väterliche Rollenmodelle: weder Patriarch noch Partner

Es gab eine Reihe von Faktoren, die die väterlichen Rollenmodelle beeinflussten. Bereits zeitgenössische Beobachter wie Max Horkheimer wiesen dem Ehemann und Vater eine besondere Bedeutung zu. Horkheimer hatte 1936 im Sammelband Studien über Autorität und Familie argumentiert, dass die hervorgehobene Position des autoritären Vaters in Deutschland den Aufstieg des Nationalsozialismus begünstigt habe. Allerdings fanden nachfolgende Arbeiten der Soziologen Helmut Schelsky, René König und Gerhard Baumert aus den frühen 1950er Jahren hierfür keinen Beleg. Ungeachtet dieser empirischen Einwände prägten Horkheimers Thesen die zeitgenössische Debatte über die Rolle der Väter zwischen den späten 1940er und frühen 1950er Jahren.292 Wie widersprüchlich die wissenschaftlichen Befunde der Nachkriegszeit ausfielen, zeigte sich schon 1948, als der Psychiater Bertram Schaffner und der Anthropologe David Rodnick ihre Studien zur Rolle des Vaters und ihrer Bedeutung im Nationalsozialismus publizierten. Schaffner hatte 1946 die empirischen Erhebungen für seine Studie im Auftrag des Screening Centers durchgeführt, das Teil der Information Control Division der US-Militärverwaltung war. Er hatte den Probanden unvollständige Sätze vorgelegt, die diese dann ergänzen 291

292

Vgl. Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 108f.; Vaizey, Empowerment, 59, 75ff.; Goltermann, Gesellschaft, 99, 129; Kuller, Familienpolitik, 36; Castell-Rüdenhausen, Konsequenzen, 121. Vgl. Willenbacher, Zerrüttung, 609; Nave-Herz, Familie heute, 55; Imbusch, Max Horkheimer, 134ff.; Horkheimer (Hg.), Studien; König, Familie und Autorität, 221; ders., Soziologie der Familie, 85; Schelsky, Wandlungen; Baumert, Familien.

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sollten. Insgesamt stieß Schaffners Methode gerade bei den Soziologen Gerhard Baumert und Gerhard Wurzbacher auf heftige Kritik. Sie monierten, dass Vorurteile sein Erkenntnisinteresse geleitet hätten. Belegten zum Beispiel die Erhebungen die These vom autoritären Vater, dann ziehe sie Schaffner als Beweis für seine Annahme heran. Demgegenüber würden deviante Verhaltensmuster unberücksichtigt bleiben, betonten die Soziologen mehrfach. Problematisch seien ferner Schaffners Verallgemeinerungen. Er sprach von „der deutschen Familie“, die eine autoritäre Herrschaftsstruktur aufweise. „Der deutsche Vater“ und „die deutsche Mutter“ würden sich strikt an diesem Rollenmodell orientieren. Schaffner argumentierte, dass seine Schilderungen des Familienalltags repräsentativ für die Familie in Deutschland seien. Dieser Einschätzung widersprachen Wurzbacher und Baumert vehement. Sie kritisierten weiter, dass Schaffners Methode die Bandbreite des sozialen Verhaltens auf lediglich ein mögliches Verhaltensmuster verenge und somit kein Abbild der sozialen Praktiken liefere.293 Exemplarisch lässt sich die stereotypisierende Verengung am Beispiel von Schaffners Beschreibung des deutschen Vaters aufzeigen: Family life revolves around the figure of the father. He is omnipotent, omniscient, and omnipresent, as far as this is possible for a human being. He is the source of all the authority, all the security, and all the wisdom that his children expect to receive. Every other member of the family has lower status and lesser rights than his.294

Da nun der Vater als Vorbild für die Kinder firmiere, würden sie seinem Lebensmodell nachfolgen, schlussfolgerte Schaffner. Den Kinder würden die Ideale Disziplin und Fleiß, Autoritätshörigkeit und Besessenheit, Passivität und Aggressivität, Ordnungsliebe und Unnachgiebigkeit, Sauberkeit, Männlichkeit und Militarismus, Familienstolz und Nationalismus indoktriniert. Das wiederum perpetuiere autoritäres Verhalten, gerade weil sich die Mutter dem Vater unterordne, und wirke so auf die Gesellschaft zurück.295 Aus dieser Feststellung, in der hypothetische Vorannahmen und wissenschaftlicher Befund miteinander verschwammen, leitete Schaffner vier Gründe für den Erfolg des Nationalsozialismus ab: Erstens sei die NSDAP erfolgreich gewesen, weil sie auf traditionelle Rollenmuster rekurriert habe. Zweitens hätten die Nationalsozialisten den Deutschen das Versprechen gegeben, einen autoritären Staat zu etablieren, der nach denselben Prinzipien funktioniere wie die autoritäre Familie. Drittens sei in diesem autoritären System dann die „Reinigung“ des Landes von „‚dirty‘ elements in the population“ möglich geworden. Viertens

293 294 295

Vgl. Schaffner, Father Land, 6, 12ff.; Baumert, Familien, 120f.; ders., Observations, 162; Wurzbacher, Leitbilder, 23–30; Schmidt, Ortsbestimmungen, 19. Schaffner, Father Land, 15. Vgl. ebenda, 15–33, 41–66.

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habe die Attraktivität des Nationalsozialismus auf der Person Hitlers gefußt, der mit seinem Verhalten die Wünsche nach Männlichkeit personifiziert habe.296 Nach Ansicht Schaffners resultierte somit die nationalsozialistische Herrschaft aus dem autoritären Rollenverhältnis, wie es der deutschen Familie zu Eigen gewesen sei. Eine Varianz im sozialen Handeln negierte er mit diesem Befund. Dass empirische Befunde auch ins andere Extrem des Pendelschlags zeigen konnten, macht Rodnicks ebenfalls für die Information Control Division durchgeführte Untersuchung klar. So erkannte er „a good deal of comradeship between husbands and wives“297 in den von ihm zwischen Dezember 1945 und Juni 1946 untersuchten hessischen Familien. Die autoritäre Familie gebe es demgegenüber nicht mehr, resümierte Rodnick: „Any patriarchal pattern that may have existed in German Protestant families has become obsolete; we found no traces of it. The trend is toward greater equality and the sharing of ideals by husbands and wives.“298 In den untersuchten Familien liege vielmehr ein ausgeprägter Gemeinschaftssinn der Familienmitglieder vor, da sie zusammen den Alltag bewältigten. Dieser gegensätzliche Befund geht in Teilen auf die verwendeten Methoden und Fragestellungen zurück. Schaffner baute seine Studie auf Interviews mit einem festen Fragenkatalog, Meinungsumfragen und psychologische Tests auf, die von Vorannahmen geprägt und geleitet wurde, was sich wiederum auf die Befunde auswirkte. Rodnick wiederum führte Feldstudien in Hessen durch und griff dabei auf zwei Methoden der Befragung zurück. Entweder konnten die Personen in einem Gespräch detailliert und ausführlich über ihren Alltag berichten oder repräsentativ ausgewählte Interviewpartner mussten auf vorgegebene Fragen antworten. Die unterschiedlichen Befunde verdeutlichen aber ebenso, wie unterschiedlich der Familienalltag ausgestaltet sein und wahrgenommen werden konnte. Letzteres zeigte sich insbesondere bei offenen Gesprächen, da dort die deutschen Interviewpartner stärker ihre Sicht einfließen lassen konnten.299 4.5.2.3 Die Ambivalenzen des Familienlebens in der Nachkriegszeit

Eine weitere wichtige Studie legte Hilde Thurnwald 1948 vor, nachdem sie zwischen Februar 1946 und Sommer 1947 die Gegenwartsprobleme Berliner Familien untersucht hatte. Methodisch griff sie wie Alice Salomon auf Familienmonographien zurück, die Schilderungen des Familienalltags lieferten. Ihr Sample umfasste insgesamt 498 Familien, unterteilt in mehrere Gruppen. Die Befunde 296 297 298 299

Vgl. ebenda, 72–76. Rodnick, Postwar Germans, 122. Ebenda, 123. Vgl. Hughes, Reviewed Works; Rodnick, Postwar Germans, IX–XI, 122f., 125; Baumert, Familien, 120; Schaffner, Father Land; Wurzbacher, Leitbilder, 27–30; Baumert, Familien, 119ff.

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für ihre „Kerngruppe“ von 200 Familien stellte Thurnwald besonders heraus, da von ihnen ausführliche Berichte über das Familienleben vorlagen.300 Zudem unterschied sie zwei Typen von Familien: Ungefähr 70 Prozent der von ihr untersuchten Familien waren sogenannte „Vollfamilien“, die aus einem verheirateten Ehepaar und gemeinsamen Kindern bestanden. Ihnen standen ca. 30 Prozent „Restfamilien“ gegenüber, in denen der Vater verstorben, gefangen oder vermisst bzw. nach Kriegsende bewusst nicht zur Familie zurückgekehrt war. Insofern setzte sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit fast ein Drittel der Familien ihres Samples entweder temporär oder permanent aus nur einem Elternteil und Kindern zusammen und lag somit quer zum tradierten Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie.301 In der Nachkriegszeit waren die Familien überdies darauf angewiesen, die Existenzsicherung mithilfe eines gemeinsamen Netzwerks von Verwandten und Bekannten zu organisieren. Dazu zählten alleinstehende Frauen und ihre Kinder sowie Eltern, Großeltern, Schwiegereltern, Schwestern, Tanten und Cousinen, aber auch Nachbarinnen und Freundinnen. Die Mehrzahl dieser erweiterten Haushalte wies folglich einen klaren Überhang an Frauen auf und umfasste oft drei Generationen. Die funktionelle Aufgabe dieser Haushaltsgemeinschaften lag in der Alltagsbewältigung, die meist auf eine Überlebenssicherung hinauslief. Die Mütter benötigten die Unterstützung ihrer Eltern, da sie nur einer Berufsarbeit nachgehen konnten, wenn die Großeltern die Kindererziehung übernahmen. Es kam infolgedessen zu einer generationsspezifischen Aufgabenteilung. Während sich die jüngeren Frauen um „Lohnarbeit, Schwarzhandel und Hamsterfahrten“302 kümmerten, erledigten ihre Eltern – meist die Mutter – die anfallenden Hausarbeiten. Andere Tätigkeiten wie größere Reparaturen in der Wohnung oder das Sammeln von Kohlen, Holz und anderen Heizmaterialien stellten Gemeinschaftsaufgaben dar, die nebenbei den Zusammenhalt stärkten.303 4.5.2.4 Überarbeitete Hausfrauen und berufstätige Mütter

Bei allen Unterschieden der jeweils individuellen familiären Situationen der Ehefrauen und Mütter einte sie die Tatsache, dass sie arbeiten gehen mussten, um das Überleben ihrer Familie sicherzustellen. Den „Zwangscharakter“ der Berufsarbeit machte Thurnwald auch sprachlich klar. Sie sprach in diesem Zusammenhang von einer „Nötigung“.304 Nur so konnten die Mütter das wirtschaft300

301 302 303 304

Vgl. Thurnwald, Gegenwartsprobleme, 5–9, 182; Meyer/Schulze, Auswirkungen, 73f.; Kuller, Familienpolitik, 42. Thurnwalds Sample setzte sich vor allem aus sozial schwachen Berliner Familien zusammen. Vgl. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 78f. Vgl. Thurnwald, Gegenwartsprobleme, 10. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 234. Vgl. ebenda, 228–234. Thurnwald, Gegenwartsprobleme, 27.

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liche Überleben ihrer Familien sicherstellen. Zum Beispiel waren die Familien auf den Verdienst der Frauen angewiesen, damit dringende Anschaffungen im zerstörten Haushalt getätigt oder Nahrungsmittel gekauft werden konnten. Eine kleine Gruppe von Frauen äußerte auch den „Wunsch nach Selbständigkeit und wirtschaftlicher Unabhängigkeit vom Manne“ als Grund für ihre Berufstätigkeit. Allerdings handelte es sich hier um eine kleine Gruppe von Frauen, weshalb dies laut Thurnwald kein primärer Grund für weibliche Berufsarbeit gewesen sei. Ungeachtet dieser verschiedenen Motive war es stets schwierig, Haushaltsführung, Kindererziehung und Arbeit miteinander zu vereinbaren – gerade wenn der Ehemann im Krieg gefallen oder noch nicht zurückgekehrt war.305 Die Witwen mussten die Trauer über ihren Verlust verarbeiten und die wartenden Ehefrauen und Mütter lebten in der ständigen Sorge über ihre Ehemänner und Söhne. Sie fürchteten stets, dass sie nicht nach Hause kommen könnten. Beides sollte für zahlreiche Frauen zu einem prägenden Element ihres Lebens werden.306 Erschwerend kam hinzu, dass die Frauen vielfach entweder außerhalb ihres Heimatortes, etwa auf dem Land, untergebracht waren oder in zerbombten Städten lebten. Dies stellte in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Mehrzahl der Berliner Frauen – aber auch in anderen deutschen Großstädten – vor massive Probleme, da sie unter ungünstigen äußeren Umständen und in einer hoch emotional aufgeladenen Situation eine enorme Arbeitsbelastung bewältigen mussten. Einigen Müttern fehlte zwischen 1945 und 1947 schlicht die Zeit und die Kraft, um arbeiten zu gehen: Heute ist es so, daß die wirtschaftliche Lage der Familien mit heranwachsenden Kindern eine zunehmende Zahl von Ehefrauen zur Erwerbsarbeit nötigen müßte. Doch ist eine solche zusätzliche Arbeit für viele bereits überlastete und entkräftete Frauen nicht tragbar. Auch unter den jüngeren Frauen, die erwerbstätig waren, und es sein wollen, mußten manche, weil sie erschöpft oder fortdauernd krank waren, ihre Arbeit aufgeben [. . . ].307

Viele Ehefrauen und Mütter waren damit physisch wie psychisch gezeichnet von der Überlastung, die auch Erhebungen zu den Zeitbudgets belegen. Von 200 befragten Frauen erklärten 103, dass sie an einer „ständigen Übermüdung“ litten. Bei 71 Frauen belief sich Arbeitszeit auf „den ganzen Tag“, d. h. zwölf bis 15 Stunden, und bei 44 Frauen auf zwölf bis 18 Stunden. Allerdings waren darin auch 38 berufstätige Frauen enthalten, die nicht klar zwischen Berufsund Hausarbeit unterschieden. Selbst die 72 in dieser Gruppe enthaltenen „NurHausfrauen“308 gaben an, dass sie den ganzen Tag damit beschäftigt seien, sich um die Familie zu kümmern. Obwohl zahlreiche der 200 befragten Ehefrauen und Mütter von ihren Angehörigen – in 75 Fällen halfen vor allem die Kinder, 305 306 307 308

Vgl. ebenda. Vgl. Kramer, Volksgenossinnen, 230ff. Thurnwald, Gegenwartsprobleme, 32. Ebenda, 36.

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in 29 Verwandte, in 20 bezahlte Hilfskräfte und lediglich in 19 Familien die Ehemänner bei der Hausarbeit – unterstützt wurden, klagten sie, dass sie infolge der mangelnden Ernährung schnell ermüdeten und daher ihre Aufgaben kaum erfüllen konnten.309 Dass die Frauen es schafften, die Aufgaben zu erledigen, liege zwar an ihrer körperlichen Verfassung genauso wie ihren individuellen Fähigkeiten, resümierte Thurnwald. Doch selbst „die aktivste und umsichtigste Hausfrau“310 schaffe es kaum, die ihr angetragenen Aufgaben adäquat zu erfüllen. Gleichwohl sei bemerkenswert, wie die Ehefrauen und Mütter unter der gegenwärtigen Notlage litten und sich dennoch für ihre Familien und die Kinder aufopferten, betonte Thurnwald.311 Darüber hinaus verschärften sich im harten Winter 1946/47 die Probleme, da es an Heizmaterial genauso wie an warmer Kleidung und Nahrung mangelte. Zudem mussten die Mütter den nochmals gestiegenen Arbeitsaufwand weiterhin meist alleine bewältigen. Entweder war der Ehemann verstorben bzw. noch nicht aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt oder er weigerte sich, sich an der Erziehung und Haushaltsführung zu beteiligen. Infolgedessen fehlte es den Müttern an der Unterstützung, die sie benötigt hätten. Schließlich waren sie mit den Aufgaben Erziehung, Haushalt und Arbeit schon allein zeitlich überlastet – langfristig litt darunter meist auch ihre Gesundheit. Aber auch der Familienzusammenhalt konnte Schaden nehmen.312 4.5.2.5 Der Ehemann und Vater als potenzieller Störfaktor für das Familienleben

Selbst wenn der Ehemann und Vater wieder am Familienleben teilnahm, führte das zunächst nicht zwangsläufig zu einer Erleichterung. Sicherlich gelang es einigen Vätern rasch, ihre Rolle als männlicher Ernährer wieder auszufüllen. Selbst Väter, die sich nicht an der Kindererziehung beteiligten, konnten so die Lebensumstände ihrer Familien merklich verbessern. Andere Männer litten hingegen unter ihren Erinnerungen an Krieg und Kriegsgefangenschaft. Sie schafften es oft nicht, diese zu verarbeiten. Das belastete nicht nur die Paarbeziehung, sondern auch die Vater-Kind-Beziehung.313 Aus dieser Perspektive handelte es sich beim Ehemann und Vater primär um einen Störfaktor für den Familienalltag. Die Historikerin Svenja Goltermann spricht in Anlehnung an Vera Neumann in diesem Zusammenhang von einer „Privatisierung der Kriegsfolgen“,314 der 309 310 311 312 313 314

Vgl. ebenda, 36f. Ebenda, 37. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda, 96–100. Vgl. ebenda, 97. Zur Rückkehr der Ehemänner und den damit einhergehenden Konflikten vgl. Mailänder, Whining, 488–496. Goltermann, Gesellschaft, 129–162. Für den Terminus vgl. Neumann, Rede.

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den Familien eine enorme Last aufbürdete. Damit benennt Goltermann ein zentrales Problem der Nachkriegszeit: Die Rückkehr der Männer stellte eine weitere Belastungsprobe für die Familienbeziehungen dar. So kam es zu zahlreichen Konflikten zwischen Vätern und Kindern. Manche Kinder kannten ihren Vater nicht, gerade wenn sie während des Kriegs geboren worden waren. Andere wiederum lehnten sich gegen den Vater als Erzieher auf und akzeptierten ihn nicht als Autoritätsperson.315 Erschwerend kam hinzu, dass die Väter oft versuchten, die Rolle als Erziehungsperson durch Strenge zu erlangen. Dadurch entfremdeten sich gerade Väter und Söhne voneinander. Dies mündete in heftigen, bisweilen anhaltenden Streitigkeiten, die den Familienalltag merklich belasteten. Zudem nahmen die Kinder ihre Väter in vielen Fällen als „Eindringling“316 wahr, der die bis dahin enge Beziehung zur Mutter störte.317 Mit der Rückkehr der Männer zwischen 1945 und 1948 war somit zwar die äußere Struktur dieser Familien wieder intakt. Jedoch hatte sie auch häufig deutliche Konflikte in den Familien zur Folge. Zahlreiche Ehepaare hatten sich auch auseinandergelebt, da sie den Krieg aus völlig konträren Perspektiven wahrgenommen hatten. Die Ehemänner verloren nicht nur den Krieg, sondern auch ihre dominante Position innerhalb der Familie. Insofern stellte sich für die Männer die Zeit nach 1945 in ihrer Biographie meist als negativ konnotierte Zäsur dar. Nach Darstellung der Soziologinnen Meyer und Schulze war die Grundhaltung älterer Männer geprägt von „Pessimismus, Verzweiflung oder Ziellosigkeit“.318 Ihnen sei es auch außerordentlich schwergefallen, sich wieder in das Familienleben zu integrieren. Solche Probleme seien demgegenüber bei jüngeren Männern in weitaus geringerem Umfang vorgefunden worden. Insgesamt trugen in Meyers und Schulzes Untersuchung mehrere Faktoren zur „Orientierungsschwierigkeit“319 der Männer bei. Sie benannten vor allem die geringe Kenntnis des Alltags im Berlin der Nachkriegsjahre wie die Verteilung der Nahrungsmittelrationen. Zweitens komme ein Bruch in der Berufsbiographie hinzu, da es den Männern oft nicht gelungen sei, ihren erlernten Beruf wiederaufzunehmen. Drittens habe das Ende des NS-Regimes für vormalige NS-Funktionsträger zur Folge gehabt, dass sie von ihrem ehemaligen Beruf ausgeschlossen wurden. Viertens hätten sich zahlreiche Männer in einem desolaten Gesundheitszustand befunden.320 Diese Männer waren somit aufgrund ihrer physischen wie psychischen Konstitution nicht in der Lage, die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen. Während sich die Frauen von den zurückkehrenden Männern eine Entlastung für ihren

315 316 317 318 319 320

Vgl. Vaizey, Surviving, 139–146; Schelsky, Wandlungen, 299. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 273. Vgl. ebenda, 273f.; Meyer/Schulze, Krieg, 189f.; Thurnwald, Gegenwartsprobleme, 191, 217. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 258. Ebenda, 259. Vgl. ebenda, 257–260. Siehe auch Baumert, Familien, 131–135.

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Alltag erhofft hatten, brachten sie meistens zusätzliche Belastungen mit sich. Das war gerade dann der Fall, wenn sich die Frau intensiv um ihren Mann kümmern musste, da seine Gesundheit extrem angegriffen war oder er sich apathisch verhielt und mit den familiären Lebensbedingungen nicht zurechtkam. Viele Interviewpartnerinnen aus Meyers und Schulzes Sample fühlten sich infolgedessen im Stich gelassen und zeigten sich enttäuscht. Diese Konstellation führte zu zahlreichen familiären Spannungen und Konflikten, die auch in aggressives Verhalten umschlagen konnten. In der Befragung von Meyer und Schulze erinnerte sich eine Frau Wagner, Mutter eines 1944 geborenen Kindes, an die Rückkehr ihres Mannes 1948. Er habe die ohnehin angespannte Versorgungslage mit Nahrungsmitteln und die beengte Wohnsituation zusätzlich verschlimmert, berichtete sie. Jetzt hätten drei – anstelle von zwei – Personen von der selben Menge Lebensmittel und im selben Wohnraum leben müssen. Zugleich sei es verstärkt zu Streitigkeiten gekommen. „Es wurde so schlimm zwischen uns, weil er auch nichts tun wollte oder konnte. Er hat sich nicht rausgetraut, ist nicht Hamstern gefahren und nichts“,321 warf Frau Wagner ihrem Mann rückblickend im Interview vor. Da er auch später seinen Pflichten wie dem Holzholen nicht nachgekommen sei und sich die Konflikte im Familienleben nicht entspannt hätten, habe Frau Wagner – nach zehn Ehejahren – 1953 die Scheidung eingereicht.322 Frau Wagner hatte sich wie zahlreiche andere Frauen mit der Heimkehr ihres Ehemannes eine Rückkehr zu tradierten Geschlechterrollen erhofft. Vielfach forderten die Frauen überdies ein, dass ihre Männer im Haushalt mithalfen. Einerseits vertraten sie somit tradierte Geschlechterrollen, andererseits brachen sie unter dem Eindruck der Überlastung zumindest in Teilen mit ihnen. Diese durchaus selbstbewusste Forderung stieß zumeist auf Ablehnung bei Männern. Die Folge waren auch hier deutliche Konflikte um die Frage, wie die familialen Arbeitslasten zu verteilen seien.323 Zudem traten Spannungen insbesondere dann offen zutage, wenn Entscheidungen für die Familie getroffen werden mussten. Die Männer wollten meistens die Entscheidungen alleine treffen, resümieren Meyer und Schulze. Die Frauen nahmen das demgegenüber nicht wortlos hin, wie sie es vielfach noch vor dem Krieg getan hatten. „Aber nach dem Krieg, als mein Mann wieder da war, fiel es mir schwer, mich unterzuordnen unter seine Ideen“,324 schilderte Frau Köhler ihren Fall. Dass sie nicht mehr in ihre alte Rolle zurückkehren wolle, habe sie ihrem Mann unmissverständlich klargemacht: „Da hab ich ihm offen gesagt, daß

321 322 323 324

Meyer/Schulze, Auswirkungen, 265. Vgl. ebenda, 262f., 265; Vogel, Familie, 38; Meyer/Schulze, Krieg, 188f.; Thurnwald, Gegenwartsprobleme, 191, 235. Vgl. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 263, 266f.; dies., Krieg, 188f.; Thurnwald, Gegenwartsprobleme, 197. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 268.

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er eigentlich nicht mehr derjenige ist, der mir zu sagen hat, wo’s langgeht.“325 Insofern löste die Rückkehr der Männer einen Prozess der Aushandlung der Rollenmodelle aus, der nicht konfliktfrei ablief. Aus der Perspektive des Mannes kam in manchen Fällen erschwerend hinzu, dass die Frau die Rolle des Ernährers übernommen hatte und er arbeitslos war. Die Männer empfanden diese Situation nicht nur als einen Bedeutungs- und Machtverlust. Es änderte sich überdies ihre Wahrnehmung der Familie. Familie war für sie kein Hort der Sicherheit mehr, sondern der Ursprung einer allgemeinen Verunsicherung über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie auch das ungewohnte Verhalten ihrer Frauen und Kinder.326 Gerade wenn sich die heimkehrenden Männer gewünscht hatten, dass sie dieselbe Frau vorfinden würden, die sie verlassen hatten, zog dieser Rollenwandel gravierende Probleme nach sich, wie dies Hilde Thurnwald 1948 herausarbeitete. Gleichwohl gab es in Thurnwalds Sample auch anders gelagerte Fälle. Manche Männer sahen die Veränderungen weitaus weniger dramatisch, gerade wenn sie sich die Situation vor ihrer Rückkehr wesentlich schlimmer vorgestellt hatten, resümierte sie.327 Trotz dieser deutlichen Unterschiede zeigte sich bei den Männern fast durchweg „ein ihnen selbst nicht recht bewußtes Minderwertigkeitsgefühl“.328 Die Frauen seien sich dabei der relativen Schwäche der Männer durchaus bewusst gewesen. In dieser Konstellation sei eine „Schrumpfung der männlichen Führung und Autorität“329 eingetreten. Es fand demnach, so Thurnwald, keine Rückkehr zur patriarchalischen Familie der Vorkriegszeit statt. Auch Thurnwald widerlegte somit Schaffners These von der autoritären deutschen Familie.330 Jedoch darf dieser Befund nicht darüber hinwegtäuschen, dass zahlreiche Ehemänner auch auf ihre alten Prärogativen pochten. Sie bestanden darauf, die größten Essensportionen zu bekommen. Sie wollten so nicht nur die vor 1939 existierenden Familienverhältnisse wiederherstellen. Sie versuchten über die familiale Autorität auch, ihren Machtverlust in der Öffentlichkeit aufzuwiegen.331 Andere Männer wiederum resignierten und reagierten auf die Auseinandersetzungen mit „Schweigen oder Ratlosigkeit“.332 Somit gehörten offene Auseinandersetzungen oder unterschwellige Konflikte zum Familienalltag.333 Insofern bedeutete die Einstellung der Kampfhandlungen zum 8. Mai 1945 nicht 325 326 327 328 329 330 331 332 333

Ebenda. Vgl. DTA B Dürr 1; Meyer/Schulze, Liebe, 216. Vgl. Thurnwald, Gegenwartsprobleme, 197f. Ebenda, 198. Ebenda, 199. Vgl. ebenda, 198f. Ähnlich bei Schelsky, vgl. Schelsky, Wandlungen, 294–300. Vgl. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 270; Thurnwald, Gegenwartsprobleme, 194. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 272. Vgl. ebenda, 270.

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zugleich eine Befriedung der Konflikte in den Familien. Ganz im Gegenteil kamen Auseinandersetzungen und Streitigkeiten erst nach 1945, mit der Rückkehr der Männer, verstärkt auf.334 Vielfach mündeten die Konflikte in einer Ehescheidung, was ein Grund für den Anstieg der Scheidungsquote pro 10.000 Einwohner zwischen 1946 und 1948 von ungefähr 11 auf fast 19 Ehescheidungen war. Bis ungefähr 1950 ging die Rate leicht auf ca. 17 zurück, ehe sie bis 1957 auf 8,6 Scheidungen absackte und erst wieder gegen Mitte der 1960er Jahre langsam zunahm. Der temporäre Anstieg der Scheidungszahlen in der Nachkriegszeit resultierte aber aus mehreren Faktoren. Zunächst handelte es sich um einen verwaltungstechnischen Vorgang, da die Scheidungsgerichte ihre Tätigkeit 1943 weitgehend eingestellt hatten, diese 1946 wiederaufnahmen und nun die angestauten Scheidungsklagen abarbeiteten. Außerdem ließen sich verstärkt Paare scheiden, die in den Kriegsjahren 1939 bis 1945 geheiratet hatten. In der Nachkriegszeit stellten zahlreiche dieser Ehepaare fest, dass sie entweder nicht zueinander passten oder dass sie sich aufgrund einer langen Trennungszeit voneinander entfremdet hatten.335 Gerade für Frauen ging die Ehescheidung einher mit einer sozialen Ächtung. Es existierte noch eine weitere Gruppe Gebrandmarkter: Frauen die entweder im Nationalsozialismus sexuelle Beziehungen zu Kriegsgefangenen oder „Zwangsarbeitern“ oder in der Nachkriegszeit zu Besatzungssoldaten eingegangen waren. Ihnen warf man in der Öffentlichkeit vielfach eine „Fraternisierung“ vor, was in der öffentlichen Debatte der Nachkriegszeit auch für den Vorwurf der Prostitution stand.336 4.5.2.6 Restabilisierung der Institution Familie als Interessensgemeinschaft

Wenn sich in Familien Lockerungs- bzw. Auflösungstendenzen zeigten, resultierten sie nach Darstellung Hilde Thurnwalds entweder aus der mangelnden Fähigkeit der Familienmitglieder, sich mit der Notlage zu arrangieren, oder sie entsprangen der egoistischen Grundhaltung einiger oder aller Familienmitglieder, die Zigaretten und Alkohol anstelle von Nahrungsmitteln besorgten, oder aus innerfamilialen Konflikten um die Aufgabenverteilung.337 An dieser Stelle baute Thurnwald implizit das Individuum als negativen Gegenpol zur positiv konnotierten Gemeinschaft der Familie auf. Zudem notierte sie, „daß Erschüt334 335 336

337

Vgl. Budde, Women’s Finest Hour, 49ff. Vgl. Höhn, Einflüsse, 337f.; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 99–102; Kuller, Familienpolitik, 41f., 49f.; Niehuss, Kontinuität, 323; Heineman, Difference, 122f. Zu diesem Thema vgl. v. a. Kundrus, Kriegerfrauen, 374–393; Heineman, Difference, 59, 98ff.; Gebhardt, Soldaten, 169–246; Höhn, GIs; Fehrenbach, German Mothers; Fehrenbach, Ami-Liebchen; Fehrenbach, Race. Vgl. Thurnwald, Gegenwartsprobleme, 190ff., 209.

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terungen aller Grade das gegenwärtige Familienleben in allen Schichten der Bevölkerung mehr oder weniger gefährden“.338 Dies weise auf eine „Familienkrise“339 hin. Gleichwohl hielt Thurnwald ebenfalls fest, dass bereits 1946 und 1947 in einer Reihe von Familien nicht nur die äußere Struktur, sondern auch das alltägliche Familienleben intakt gewesen sei. Als Merkmale dieser Familien identifizierte Thurnwald eine „liebevolle Fürsorge“ der Eltern bzw. der alleinerziehenden Mutter für die Kinder sowie Rücksichtnahme und Verständnis für die Probleme der anderen Familienmitglieder. Neben Empathie und gegenseitiger Wertschätzung benannte Thurnwald auch die Fähigkeit, sich an die neuen Rahmenbedingungen anzupassen, als weiteres wichtiges Kriterium, das den familiären Zusammenhalt stärkte. Darüber hinaus waren Konflikte in Familien weitaus seltener anzutreffen, wenn ihre Mitglieder mit den knappen finanziellen Ressourcen vernünftig wirtschafteten.340 Demnach handelte es sich bei den beobachteten Auflösungserscheinungen lediglich um ein temporäres Phänomen. Mittelfristig erfolgte eine Stabilisierung der Familie, wodurch sie erneut an Bedeutung gewann – insbesondere in ihrer Ausprägung als christlich-bürgerlicher Kernfamilie. Diese Sichtweise teilte der Soziologe Helmut Schelsky, der das nationalsozialistische Regime unterstützt hatte und ab 1948 an der Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft unterrichtete. Er wertete in seiner 1953 erstmals publizierten Studie Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart 167 Familienmonographien aus, also von zeitgenössischen Beobachtern verfasste Berichte über das Familienleben.341 Auf der Basis seiner empirischen Untersuchungen argumentierte Schelsky, dass es den Familien innerhalb kürzester Zeit gelungen sei, die instabile Phase der Nachkriegszeit zu überwinden, weshalb sie nun als Stabilitätsgarant firmierten: Persönliche Spannungen, die vorher die Ehe gefährdeten, oder die Gleichgültigkeit des Nebeneinanders von Ehegatten oder Kindern und Eltern sind einem erhöhten und wiedergewonnenen Zusammengehörigkeitsgefühl gewichen. Die Ehe und Familie wurden im Zusammenbruch der staatlichen und wirtschaftlichen Ordnung und in der unmittelbaren Gefährdung, der jeder einzelne ausgesetzt war, als der natürliche Halt und Schutz empfunden und ihr Bestand als letzte menschliche Sicherheit erlebt.342

In ihrer Not hätten die Familien nicht nur zusammengefunden, ihr Zusammenhalt und Zusammengehörigkeitsgefühl sei sogar zusätzlich gestärkt worden. Diesen Befund würden nahezu alle untersuchten Familien belegen, betonte 338 339 340 341

342

Ebenda, 211. Ebenda. Vgl. ebenda, 185–189. Vgl. Nolte, Ordnung, 224, 237f., 247; Vaizey, Surviving, 13f.; Schelsky, Wandlungen, 43ff. Schelskys Erhebung basierte dabei primär auf den Schilderungen sozial abgestiegener Familien, vor allem aus dem Raum Hamburg und Niedersachsen. Vgl. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 69, 78f. Schelsky, Wandlungen, 63.

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Schelsky. Eine geflohene Familie schilderte, wie 1946 jedes Familienmitglied seinen Beitrag zum gemeinsamen Überleben gesichert habe. Überdies würden in diesen Fällen die Gemeinschaftsinteressen der Familie vor den Individualinteressen ihrer Mitglieder rangieren. In diesem Punkt deckte sich somit Schelskys Interpretation mit der Position Thurnwalds.343 „Dort, wo der Kampf gegen Hunger und Kälte die Familien fester und bewußter zusammengeschlossen hat, zeigt die Not der Zeit neben ihren Schrecken eine positive Seite“,344 hatte Thurnwald 1948 festgehalten. Dadurch sei ein bis dahin nicht dagewesener Zusammenhalt entstanden, der die Familie als Institution festige, erkannten Schelsky und Thurnwald. Thurnwald beschränkte ihren Befund nicht auf die Paarbeziehung in einer traditionellen Kernfamilie. Sie schloss Eltern-Kind-Beziehungen genauso wie den Zusammenhalt zwischen alleinerziehenden Müttern und ihren Kindern ein.345 Dass es sich bei Ein-Eltern-Familien in der Nachkriegszeit um eine große und äußerst wichtige soziale Gruppe gehandelt hat, belegt auch Lu Seegers’ Studie zur Vaterlosigkeit. Schließlich waren im Zweiten Weltkrieg ungefähr 4,71 Millionen deutsche Soldaten gefallen, die ca. 1,7 Millionen Witwen und beinahe 2,5 Millionen Halb- und um die 100.000 Vollwaisen hinterlassen hatten. Somit betraf die „kriegsbedingte Vaterlosigkeit“346 gut ein Viertel der Kinder und Jugendlichen.347 Für Witwen und Waisen war die tradierte bürgerliche Kernfamilie ein „Phantom“348 und keine soziale Realität. Gleichwohl gelang es nach Darstellung Thurnwalds diesen „unvollständigen“ Familien durchaus, die gesellschaftliche Funktion einer Familie zu übernehmen. Gemeinsam hatten die Ergebnisse Thurnwalds und Schelskys, dass die Institution Familie die ihr angedachte Orientierungsfunktion erfüllt und stabilisierend auf die Gesellschaft eingewirkt habe. Im Kern schlussfolgerten Schelsky und Thurnwald, dass infolge der Kriegserlebnisse und der Notlage nach dem Zweiten Weltkrieg die Familie gesellschaftlich an Bedeutung gewonnen habe.349 Schelsky verband diesen Befund jedoch stärker mit seinem Interpretament, dass Familie auf die Gesellschaft stabilisierend einwirke. Es handele sich hierbei um die logische Konsequenz, da nach dem Zusammenbruch der äußeren Ordnung wie auch der äußeren Familienstruktur 343 344 345 346 347

348 349

Vgl. ebenda, 63f.; Thurnwald, Gegenwartsprobleme, 211. Ebenda, 189. Vgl. ebenda. Seegers, Vati, 10. Vgl. ebenda, 10, 88; Willenbacher, Zerrüttung, 602; Kramer, Volksgenossinnen, 181f.; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 38, 42. Zur Kriegerwitwe als soziale Gruppe vgl. v. a. Schnädelbach, Kriegerwitwen, 63–87; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 116–122. Niethammer, Privat-Wirtschaft, 54. Vgl. Schelsky, Wandlungen, 73.

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die Familien eine „Binnenkonsolidierung“350 erfahren hätten und sie so ihren Mitgliedern Halt und Orientierung hätten bieten können. Der familiäre Zusammenhalt gehe demnach von innen, von der Familie selbst aus, also ihren Mitgliedern.351 Schelskys zeitgenössischer Interpretation steht damit Goltermanns Deutung entgegen, die auf die familiären Spannungen hingewiesen hat, die die nach 1945 heimkehrenden kriegsversehrten Männer mitgebracht hätten. Beide Befunde bilden allerdings die Extrempole der Erfahrungen in der Nachkriegszeit ab.352 Während aus der einen Perspektive die Familie durch die Not- und Mangelerfahrung stabilisiert worden sei; so habe sich aus der anderen der familiäre Zusammenhalt aufgelöst. Sicherlich gab es zahlreiche Familien, für die diese Schilderungen zutreffen. Werden demgegenüber die bei Schelsky abgedruckten zeitgenössischen Berichte des Familienlebens neu gelesen, dann zeigt sich ein weitaus differenzierteres Bild des Alltags, das zudem gerade Schelskys Deutungen die Plausibilität entzieht. Obwohl Schelsky den familialen Zusammenhalt betonte, finden sich in den von ihm untersuchten Berichten selbst Schilderungen von Dissonanzen innerhalb der Familien. In einem Fall gab es Streitigkeiten, weil der Ehemann unregelmäßig nach Hause kam und die Frau ihm deswegen „kleine Eifersuchtsszenen“353 machte. Wie sehr der Verfasser den tradierten Familienvorstellungen verhaftet war, legt folgende Aussage offen: Das Verhalten der Frau sei unbegründet gewesen, schließlich habe sich der Ehemann lediglich mit „Geschäftsfreunden“ getroffen, was zum Teil mit kleineren Trinkereien verbunden war. Erst als ihm durch die sich wiederholenden Szenen der Frau die Häuslichkeit verleidet wurde, traf er sich bald regelmäßig mit Zechfreunden und kehrte erst in den Morgenstunden heim, um sich dann nach kurzer Ruhe ins Geschäft zu begeben.354

Obwohl das Verhalten des Mannes den familiären Zusammenhalt lockerte und sich die Ehepartner nur noch selten sahen, blieb die äußere Struktur der Familie intakt – des Kindes wegen. Gleichzeitig habe der Mann stets seine Rolle als Ernährer erfüllt, da seine berufliche Karriere trotz seiner nächtlichen Treffen nicht in Mitleidenschaft gezogen worden sei. Aufgrund dieser Begebenheiten schlussfolgerte der Bericht, dass „sich die beiden Eheleute in der materiellen Not kameradschaftlich“355 zu einer „Interessensgemeinschaft“356 zusammengeschlossen hätten. Dieser kleinste gemeinsame Nenner war nach der zeitgenössischen Interpretation Schelskys ausreichend, um von einem festen 350 351 352 353 354 355 356

Ebenda, 74. Vgl. ebenda, 74f.; Thurnwald, Gegenwartsprobleme, 189. Vgl. Goltermann, Gesellschaft, 129. Schelsky, Wandlungen, 64. Ebenda. Ebenda, 65. Vgl. ebenda, 64f.

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4. Rassenideologischer Opportunismus: die Familie im Nationalsozialismus

Zusammenhalt der Familien sprechen zu können. Damit zeigt sich aber auch, dass er ein primär institutionell-funktionelles Verständnis von Familie hatte, welches auch die Debatte um die Familie der 1950er Jahre prägte. Dass eine Familie auch ein individuell ausgestaltbares Beziehungsgefüge ist, das durch emotionale Zuneigung zusammengehalten wird, berücksichtigte er hingegen nicht.

4.6 Zwischenfazit Im Nationalsozialismus galt die Familie als ein zentrales Mittel der Herrschaftssicherung. Es erfolgte eine Politisierung des Privaten insofern, als das Regime in die Familien intervenierte und auch die Bestimmungen für Eheschließung und -scheidung unter das Primat der rassenideologischen Bevölkerungspolitik stellte. Zwischen 1933 und 1938 folgten zahlreiche Bestimmungen und Gesetzesänderungen, die sich an diesen Vorgaben orientierten. Doch mit dem Kriegsbeginn 1939 änderte sich dies. Zunächst gelang es, die rechtlichen Rahmenbedingungen an den Kriegsalltag zu adaptieren, gerade weil ein deutlicher Pragmatismus bei der Parteiführung handlungsleitend wirkte. Aber schon ab 1941/42 verschärften sich die Konflikte zwischen den NS-Behörden und Ministerien, was deren Handlungsspielraum einengte, bis schließlich keine weiteren zentralen familienrechtlichen Änderungen umgesetzt wurden. Die Vertreter des NS-Regimes diskutierten über die gesamten 1930er Jahre zwar durchaus unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie die bevölkerungsund rassenideologischen Ziele umzusetzen zu seien, doch öffentlich verhandelt wurden sie nicht. Zudem stand das übergeordnete Ziel – die Erhöhung der Zahl der „erbgesunden“ Kinder – nie zur Disposition. Vielmehr orientierten sich daran die Ausführungen der Juristen und nationalsozialistischen Politiker, die entsprechende familienrechtliche Bestimmungen entwarfen. So wurden Ideale gesetzt, die dann für die Praktiken in der Bevölkerung handlungsleitend wirken sollten. Zudem sollten finanzielle Anreize dafür sorgen, dass mehr Kinder geboren wurden. Das Familienrecht wurde außerdem dahingehend modifiziert, dass Eheschließungen untersagt oder Ehen gelöst werden konnten, wenn es aus bevölkerungspolitischen oder rassenideologischen Gründen opportun erschien. Hier zeigte sich der „nach Innen“ gerichtete Rassismus des NS-Regimes insofern, als von den Regelungen „Volksfremde“ besonders stark betroffen waren. Auch die Debatten um die nichtehelich geborenen Kinder verdeutlichen die Funktionalisierung der Familie. Diese Kinder sollten ihr soziales Stigma verlieren, wenn sie im Sinne des NS als „wertvoll“ galten. Schließlich würden sie dann dazu beitragen, die rassenideologischen und bevölkerungspolitischen Ziele zu erreichen. Dem ehelich geborenen Kind wurden nichteheliche Kinder jedoch weder rechtlich noch sozial gleichgestellt. Gleichzeitig erhoben die

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Gesetzesänderungen stets die „wünschenswerte“, „erbgesunde“ kinderreiche Familie mit einem Ehepaar zum normativen Leitbild. Sicherlich blieb der Spielraum für die als „arisch“ und „erbgesund“ eingestuften Familien größer als für die als „wertlos“ definierten. Gleichwohl intervenierte auch hier das NS-Regime, indem die Kinder in Organisationen wie die HJ übergeben oder zwecks Kinderlandverschickung aus den Familiengemeinschaften herausgerissen wurden. Dadurch erhoffte sich die Parteiführung, die Erziehung im Sinne der NS-Ideologie stärker kontrollieren zu können. Stets wurde die Familie als eine Institution verstanden, die spezifische Dienste für die NS„Volksgemeinschaft“ erfüllte. Ehe und Familie verloren somit ihren Eigenwert. Es existierte ein ausschließlich funktionalistisches Familienverständnis, das aber im Unterschied zu den 1920er Jahren eine dezidiert rassenideologische Ausprägung besaß. Gleichzeitig brachen die Vertreter des Regimes mit den Vorgaben, wenn es ihren eigenen Interessen oder denen ihrer Vertrauten – in der Regel Männer – entgegenstand. In Einzelfällen galt somit das Primat der Individualinteressen, das gleichwohl mit rassenideologischen und bevölkerungspolitischen Argumenten gerechtfertigt wurde. Generell zeigt sich eine deutliche Ambivalenz im Hinblick auf die Rolle der Frau. Erst sollten sie aus dem Erwerbsleben ausscheiden und Kinder gebären, damit die bevölkerungspolitischen Ziele des NS erreicht würden. Mit dem ab 1936/37 einsetzenden Arbeitskräftemangel modifizierte die NS-Parteiführung ihre Haltung. Aus kriegswirtschaftlichen Überlegungen sollten die Ehefrauen und Mütter nun einer Berufsarbeit nachgehen. Darüber hinaus oblag ihnen aber weiterhin die Haushaltsführung. Auch die bevölkerungspolitischen Ziele wurden nicht modifiziert. Damit erhöhte sich der Druck auf die Mütter. Mit der Einberufung der Männer und mit der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage im Krieg nahm die Arbeitsbelastung weiter zu. Die Propaganda hielt die Frauen insbesondere dazu an, ihre Aufgabe als „Kameradin“ im Dienst für Ehemann, Familie und „Volksgemeinschaft“ zu erfüllen. Auch hier präferierte das NS-Regime die männlichen Interessen über denen der Ehefrauen und Mütter. Gleichzeitig kam es auf der individuellen Ebene zu einem Lernprozess, indem die Ehefrauen und Mütter Hausarbeit und Kindererziehung alleine übernahmen und parallel auch noch für das finanzielle und leibliche Auskommen der Familie sorgten. Sicherlich fühlten sich auch einige Mütter – gerade in den letzten Kriegsjahren und der Nachkriegszeit – hiervon überfordert und wünschten, dass die Ehemänner zurückkämen und ihnen beistünden. Bis in die unmittelbare Nachkriegszeit jedoch blieb die Mehrzahl der Mütter auf sich alleine gestellt oder sie wurden durch Großeltern und Verwandte unterstützt. Die Familie war damit in der sozialen Praxis über die eigentliche Kernfamilie hinaus erweitert worden, auch weil sich die Individuen von der Familiengemeinschaft einen Schutzraum erhofften, der Stabilität, Ordnung und Sicherheit nicht nur symbolisierte, sondern vielfach auch lieferte.

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4. Rassenideologischer Opportunismus: die Familie im Nationalsozialismus

Nahrungsmittelknappheit und Wohnungsnot waren dabei die dringlichsten Probleme, die es zu lösen galt. Doch in den Familien, deren Väter zurückkehrten, traten neue Probleme hinzu. Väter destabilisierten vielfach sogar die Familien, da es zu Konflikten zwischen den Ehepartnern oder zwischen Vätern und Kindern kam. Beide Seiten hatten sich infolge der langen räumlichen Trennung voneinander entfremdet, zum Beispiel, weil die Männer mit der Selbständigkeit ihrer Frauen nicht zurechtkamen. Oder die Väter waren vom Krieg physisch und psychisch gezeichnet heimgekehrt und konnten die ihnen zugeschriebene Rolle als Ernährer nicht erfüllen. Beides vergrößerte die gefühlte Distanz zwischen den Partnern, was zu zahlreichen besonders heftigen Konflikten führte, die nicht selten mit einer Scheidung endeten. Während in der sozialen Praxis zunächst vielfach Konflikte den Familienalltag prägten, Familien aufgrund individueller Interessen zusammenblieben und eine Zweckgemeinschaft bildeten, setzten die wissenschaftlichen und politischen Diskurse einen grundlegend anderen Akzent. Sie identifizierten die Familie als Hort der Gemeinschaft, der stabilisierend auf die Gesellschaft einwirke. Gerade dieser Topos entfaltete in den 1950er Jahren seine Wirkmächtigkeit, wie im Folgenden diskutiert wird.

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5. Familien als Ankerpunkte in beiden Teilen Deutschlands während der Aufbauphase der 1950er Jahre 5.1 Abgrenzung, Orientierung und Kontinuität: Familienpolitik und Alltag Der sich abzeichnende Kalte Krieg steckte den außenpolitischen Rahmen für das geteilte Deutschland ab, hatte zugleich aber weitreichende innenpolitische Folgen. Es ging dabei einerseits um die Neuordnung der Gesellschaft nach entweder einem sozialistischen oder einem demokratischen Modell. Andererseits wollten sich beide Teile Deutschlands so dezidiert voneinander abgrenzen.1 In Westdeutschland zielte die „politische Rekonstruktion der Familie“,2 so die Argumentation des Historikers Robert G. Moeller, darauf, die Gesellschaft vor dem Kommunismus zu schützen und zugleich vom Nationalsozialismus zu distanzieren. Den Referenzpunkt für dieses politische Ziel lieferte das Familienleitbild des 19. Jahrhunderts: das Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie mit einem vor dem staatlichen Zugriff geschützten Binnenraum. Damit unterschied sich die Funktion der Familie in Westdeutschland grundlegend von der des Nationalsozialismus, der in die Familien interveniert und die Reproduktion „erbgesunden“ Nachwuchses zur politischen Maxime erhoben hatte. Außerdem war Berufstätigkeit von Müttern nicht Teil dieses neuen politischen Arrangements. Auch hier bildete der Nationalsozialismus den negativen Referenzrahmen, wenngleich dieses Unterscheidungsmerkmal stärker auf eine Abgrenzung von der DDR zielte. Insofern definierte sich das in Westdeutschland verhandelte Familienund Geschlechterrollenmodell ex negativo anhand der politischen Systeme des Nationalsozialismus und der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. später der DDR.3 Demgegenüber ließe sich aber ebenfalls argumentieren, dass neben der Abgrenzungsdiskussion die Orientierungsfunktion ein weiterer wichtiger Grund für die hervorgehobene Position der Institution Familie in den zeitgenössischen Diskussionen darstellte. Die Kernfamilie übernahm im Selbstverständnis der Bundesrepublik auf zwei Ebenen eine zentrale Stabilisierungs- und Ordnungsfunktion: auf der subjektiv-individuellen und der politisch-gesellschaftlichen. 1 2 3

Vgl. Moeller, Mütter, 12; Sachse, Hausarbeitstag, 16. Juliet Mitchell zit. n. Moeller, Mütter, 12. Vgl. ebenda, 16, 19; Budde, Alles bleibt anders, 76; Goltermann, Gesellschaft, 127ff.; Budde, Pièce, 6.

https://doi.org/10.1515/9783110651010-005

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Letzteres vertrat besonders prominent der Soziologe Helmut Schelsky. Er argumentierte, dass die Institution Familie die Individuen in die Gesellschaft reintegriere, da sie ihnen einen Orientierungsrahmen zur Verfügung stelle. Dadurch wirke die Familie wie ein „Stabilitätsrest in unserer Gesellschaftskrise“4 , so Schelskys einprägsame Formulierung in seiner Studie zur Familie. Er bezog diese Funktion ausschließlich auf die christlich-bürgerliche Kernfamilie. Schelsky prägte damit ein Bonmot, das konservative Politiker, Kirchenvertreter und Medien heranzogen, wenn sie betonen wollten, dass die Institution Familie auf die Gesellschaft insgesamt stabilisierend wirke und das Zusammenleben überhaupt erst ermögliche.5 Bemerkenswert ist, dass in der öffentlichen und politischen Debatte die methodischen Defizite von Schelskys Studie nicht zur Sprache kamen. Fachintern diskutierten Soziologen wie René König und Gerhard Baumert diese bereits in den 1950er Jahren. Auch Soziologen der nachfolgenden Generation wie Sibylle Meyer und Eva Schulze weisen darauf hin, wie wenig repräsentativ die empirischen Ergebnisse Schelskys seien. Schelskys Befund basiere auf der Beobachtung des Alltags von 167 „Flüchtlingsfamilien“ aus den Regionen Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen sowie partiell aus anderen Teilen Westdeutschlands wie Hessen zwischen 1949 und 1950. Diesen habe er auf die „normale Familie“ der Nachkriegszeit bzw. frühen Bundesrepublik übertragen. König und Baumert betonten, dass diese Herangehensweise nicht zulässig sei. Überdies berücksichtige Schelsky die innerfamiliären Konflikte zwischen Männern und Frauen nicht, die aufgebrochen seien, nachdem die Männer aus dem Krieg heimgekehrt waren. Die Folgen der physischen und psychischen Belastungen durch den Krieg blende Schelsky ebenfalls aus, warfen König und Baumert ihm weiter vor. „Aus heutiger Sicht drängt sich der Verdacht einer einseitigen an vorgelagerten theoretischen Überlegungen ausgerichteten Interpretationen der Ergebnisse auf “,6 urteilen Meyer und Schulze 1989 rückblickend. Sie halten Schelsky somit vor, dass das Ergebnis der Studie aufgrund seiner methodischen Vorannahmen schon weitgehend vorab festgestanden habe.7 Weitaus weniger Aufmerksamkeit in der zeitgenössischen politischen Debatte der 1950er Jahre, aber auch in der Geschichtswissenschaft, zog demgegenüber eine weitere zentrale soziologische Studie zum Alltag westdeutscher Familie auf

4 5

6 7

Schelsky, Wandlungen, 13 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Vgl. ebenda, 11–14; Thurnwald, Gegenwartsprobleme, 196, 200ff.; Meyer/Schulze, Auswirkungen, 97, 101; Kopp/Richter, Wandlungen, 158; Rölli-Alkemper, Familie, 86; Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 202; Goltermann, Gesellschaft, 128f.; Nolte, Ordnung, 230f. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 104. Vgl. Schelsky, Wandlungen, 45, 53; Baumert, Familien, 184f.; König, Familie und Autorität, 222f.; Meyer/Schulze, Auswirkungen, 103f.; Klein, Helmut Schelsky, 163; Kopp/Richter, Wandlungen, 160.

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sich: Gerhard Baumerts 1954 publizierte Arbeit Deutsche Familien nach dem Kriege. Baumert analysierte im Zeitraum von 1949 bis 1951 fast 1.000 Familien in Darmstadt und der angrenzenden Region und vertrat ein grundlegend anderes Familienverständnis als Schelsky. Familie war für Baumert nicht ausschließlich eine soziale Institution, die gesellschaftliche Funktionen übernahm. Familie war auch ein soziales Beziehungsgefüge zwischen den Ehepartnern bzw. den Eltern und Kindern.8 Im Unterschied zu Schelskys Studie gilt Baumerts Sample zudem als repräsentativ für Familien aus einem großstädtischen Umfeld und das an die Stadt angrenzende Umland. Im Vergleich zur Zwischenkriegszeit hatte sich 1950 der Altersunterschied bei Ehepaaren im Mittel von fünf bis zehn Jahren auf drei bis fünf Jahre reduziert. Dadurch habe sich zwar nicht die Aufgabenverteilung in der Familie verändert, aber durchaus die Paarbeziehung. Baumert stellte eine „sehr beträchtliche Auflockerung ehemals starrer Vorstellungen und Leitbilder“9 fest. Diese würden einerseits aus langfristigen Wandlungsprozessen, andererseits aus den kurzfristigen Folgen des Zweiten Weltkriegs resultieren. Darüber hinaus hätten sich die Stadt-Land-Unterschiede abgeschliffen, da die Landbevölkerung nur noch geringfügig konservativer eingestellt sei als die Stadtbewohner. Auch seien kaum bzw. lediglich geringfügige Unterschiede in den Einstellungen von Männern und Frauen sowie Protestanten und Katholiken festzustellen gewesen, führte Baumert weiter aus.10 Insofern zeigte Baumerts Studie auf, dass die traditionellen sozialstrukturellen Unterscheidungsmerkmale in der Nachkriegszeit deutlich an Bedeutung verloren hätten. Wenngleich keinesfalls von einer Homogenisierung ausgegangen werden kann, so traten somit die Differenzen bei Wohnort und Konfession bei weitem nicht mehr so markant zutage wie noch in der Zwischenkriegszeit. Andere Unterscheidungsmerkmale wie Beruf und Bildung verloren dabei keinesfalls an Gewicht. Baumert ging in seiner Analyse jedoch nicht nur weit über Schelsky hinaus. Er widersprach auch dessen Kernthese vom „Stabilitätsrest“. Er teilte folglich nicht die Ansicht, dass der familiale Zusammenhalt während der Krisen der Nachkriegszeit deutlich zugenommen habe. Vielmehr hätten sich die Menschen in ihre Familien als „letzte Notgemeinschaft und Zuflucht“11 zurückgezogen, um so ihr Überleben zu sichern. Vielfach umfasste die Familie dabei nicht nur die Kernfamilie, sondern auch einen erweiterten Familienverband, zu dem Großeltern oder auch Verwandte zählen konnten. Baumert lehnte zudem die Restaurations-These ab, da diese die Wiederherstellung einer Gesellschaftsordnung und 8 9 10 11

Vgl. Baumert, Familien, XIf., 2, 27ff. Für diese Einschätzung vgl. ebenfalls Fröhner/Stackelberg/Eser, Familie, 60. Baumert, Familien, 177. Vgl. ebenda, 177f. Ebenda, 184.

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Familienverhältnisse impliziere, die es aber schon in der Zwischenkriegszeit nicht gegeben habe. Sie orientiere sich demnach an einem fiktiven Ideal.12 Ungeachtet solcher wissenschaftlichen Einschränkungen entwickelte sich die christlich-bürgerliche Kernfamilie mit einem verheirateten Elternpaar und gemeinsamen Kindern zum gesellschaftlichen Leitbild. Schelskys These von der Familie als Stabilisierungsgarant für die westdeutsche Gesellschaft prägte die politischen und öffentlichen Konflikte um die Familie. Dieses institutionelle Verständnis von Familie war auch in der politischen Debatte allgegenwärtig. Der erste Bundesfamilienminister Franz-Josef Wuermeling (1953–1962) sprach von der Familie als dem „unentbehrlichen Ordnungsfaktor“13 und „‚wichtigsten Erziehungsträger‘ der Gesellschaft“.14 Jenseits dieses Grundkonsenses brachen aber immer wieder Konflikte darüber auf, wie eine Familie aussehen sollte und welche Rollen die Familienmitglieder zu übernehmen hätten.15 Bereits als sich im Herbst 1948 die 65 Vertreter des Parlamentarischen Rats trafen, darunter die vier Frauen Friederike Nadig (SPD), Elisabeth Selbert (SDP), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum), um das Grundgesetz auszuarbeiten, standen diese Punkte zur Debatte. Es ging um die Rechte der Frau an sich, also deren Gleichberechtigung, wie auch ihre Aufgaben als Ehefrau und Mutter. Auf der einen Seite setzten sich die SPD und die Frauenverbände für die Gleichberechtigung ein; auf der anderen äußerten CDU und CSU sowie FDP Bedenken. Die Unionsparteien erklärten, dass es zwischen den Geschlechtern „natürliche“ Unterschiede gebe, die nicht vernachlässigt werden dürften, ohne sich dabei festzulegen, was hierunter genau zu verstehen sei. Schließlich entschloss sich der Rat auf Druck der öffentlichen Meinung, die von der SPD favorisierte wesentlich weitergehende Formulierung, „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ (Art. 3), in das Grundgesetz aufzunehmen. Gleichwohl belegen die Verhandlungen einen über die Parteigrenzen hinwegreichenden Grundkonsens der Mitglieder des Parlamentarischen Rats dergestalt, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht beseitigt werden dürften und daher eine „Andersartigkeit“ bei voller Gleichberechtigung gesetzlich anerkannt sein müsse. Später trug das Bundesverfassungsgericht (BVG) den „biologischen“ und „funk12 13 14 15

Vgl. ebenda, 184f. 189; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 17. Wuermeling, Familie – Gabe und Aufgabe, 86 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Ebenda, 85 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Vgl. ADL A 6-16, Entwürfe des Frauenreferats zur Familienpolitik, ohne Ort, [November 1964], Bl. 108–111, hier Bl. 110; AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 3. WP 140, Bund der Kinderreichen Deutschlands, Das familienpolitische Gespräch. Grundsatzprogramm Bund der Kinderreichen Deutschlands, Kleine Schriftenreihe des BKD e. V. Nr. 1, ohne Datum, 3; AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 3. WP 140, Gerhard Erdmann, „Die Familie hat sich als stärkstes Bollwerk . . . “ Auftakt zur Sammlung des Deutschen Mütter-Genesungswerk. Mit Bundesvereinigung und Gewerkschaften, in: PDA Pressedienst der deutschen Arbeitgeberverbände Köln, 27/60, 25. April 1960, 1f.

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tionalen“ Unterschieden der Ehepartner in mehreren Entscheidungen während der 1950er und 1960er Jahre Rechnung.16 Es betonte dabei stets die Vorstellung von einer „‚Andersartigkeit‘ auf der Basis der Gleichwertigkeit“.17 Als der Parlamentarische Rat erörterte, wie die Familie im Grundgesetz geschützt und mit welchen Rechten und Aufgaben sie versehen werden sollte, intervenierten kirchennahe Vereinigungen und Interessensvertretungen in der öffentlichen Debatte und prägten so die politischen Entscheidungen mit. Gerade die Vertreter der katholischen Kirche wollten einen eng umrissenen Familienbegriff im Grundgesetz festschreiben. Zudem votierten sie dafür, dass das Erziehungsrecht bei den Eltern liege und dass der Staat den Schutz der Familien gewährleisten müsse. Die Verbindungen zwischen Kirche und Politik reichten noch weiter. Die Zentrumspolitikerin Helene Wessel und Unionspolitiker wie Adolf Süsterhenn und Helene Weber vertraten die Position des Kardinals Josef Frings. Sie standen zudem in Kontakt mit Frings’ Vertreter in Bonn, dem späteren Leiter des Katholischen Büros Bonn, Prälat Wilhelm Böhler. Die katholischen Politiker wie die Amtskirche argumentierten, dass die Familie die Basis der Gesellschaft sei und als dem Staat vorgeordnete Institution vor Eingriffen geschützt werden müsse. Diese Position hatte die Union im Prinzip schon in den Kölner Leitsätzen vom Juni 1945 dargelegt18 : „Die Familie ist die Grundlage der sozialen Lebensordnung. Ihr Lebensraum ist heilig. Von Natur aus hat sie ihre eigenen Rechte, die unter dem besonderen Schutz des Staates stehen.“19 Die Unionspolitiker knüpften damit in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rats an Argumentationsmuster an, die sie bereits unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs abgesteckt hatten. Zudem zeigen diese Ausführungen, dass Unionspolitiker und Kirchenvertreter das aus der katholischen Soziallehre abgeleitete Subsidiaritätsprinzip vertraten, wonach der Staat erst in die vorstaatliche Institution Familie intervenieren dürfe, wenn diese ihre Probleme nicht selbst lösen könne.20 Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte die katholische Kirche allerdings ihre Position an einer entscheidenden Stelle und setzte damit neue Schwerpunkte. Sie entwickelte das Ideal von der Familie als der „Kirche im Kleinen“. Damit einher gingen zwei Veränderungen im Familienverständnis. Die katholische Kirche konnte so das Ehesakrament als zentrales Wesensmerkmal einer Familie 16 17 18 19

20

Vgl. Moeller, Mütter, 69, 71ff., 79, 81f., 88–91, 94ff., 105; Degener, Streit, 871f., 882. Ebenda, 882. Zur Rolle der Sozialdemokratinnen in den Debatten vgl. Pitzschke, Trend (2010); Pitzschke, Trend (2012). Vgl. Moeller, Mütter, 106f., 109ff., 181. Kölner Leitsätze. Vorläufiger Entwurf zu einem Programm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. Vorgelegt von den Christlichen Demokraten Kölns im Juni 1945, in: http://www.kas.de/upload/ACDP/CDU/Programme_Beschluesse/1945_KoelnerLeitsaetze.pdf (letzter Zugriff am: 04.01.2019), Bl. 3. Vgl. Kuller, Familienpolitik, 13ff.; Rölli-Alkemper, Familie, 71–78.

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noch energischer öffentlich vertreten. Außerdem stärkte dieses Familienideal die patriarchalische Vormachtstellung des Ehemannes und Vaters in der Familie. In diesem Punkt gab es eine wichtige Überschneidung mit der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD). Sie vertrat ebenfalls ein hierarchisch-patriarchalisches Rollenverständnis, wenngleich die EKD im Unterschied zur katholischen Kirche keine einheitliche und umfassende Lehre von Ehe und Familie kannte.21 Die Eherechtskommission der EKD erklärte im September 1954, Gott habe die Institution Ehe gestiftet, weshalb die individuellen Wünsche ihrer Mitglieder gegenüber den Interessen der Ehegemeinschaft nachrangig zu behandeln seien. Die Familie als Synonym für Gemeinschaft bildete zudem wie schon in der Zwischenkriegszeit einen Gegenpol zum Individuum. Mit dieser Position ließ sich ebenfalls die geschlechtsspezifische Rollenverteilung rechtfertigen und die Berufsarbeit von Müttern einschränken.22 Im Hinblick auf die Zusammensetzung „der“ Familie deckte sich die Haltung der katholischen Politiker ebenfalls mit denen der Kirche. Sie verstanden unter einer „Normalfamilie“ bzw. „vollständigen Familie“ ein verheiratetes Ehepaar und dessen Kinder. Eine rechtliche Gleichstellung von ehelich und nichtehelich geborenen Kindern war aus ihrer Perspektive folglich nicht möglich. Die SPD-Politikerin Nadig wandte gegen diese Haltung ein, dass dies nicht der Lebenswirklichkeit in der Nachkriegszeit entspreche. Gleichwohl war diese Position nicht mehrheitsfähig, weshalb weiterhin Ein-Eltern-Familien vom zeitgenössisch akzeptierten Familienbegriff exkludiert wurden. Alleinerziehende Mütter und ihre Kinder firmierten daher unter der Rubrik „unvollständige“ Familie, „Halbfamilie“ oder „Mutterfamilie“. Dieses Familienideal bestätigte das Bundesverfassungsgericht in den 1950er Jahren mit mehreren Urteilen.23 So bezeichnete es 1957 die Ehe als „rechtmäßige Form der dauernden Lebensgemeinschaft von Mann und Frau“.24 In der DDR war die Debatte in einen anderen politischen Kontext eingebettet. In demokratisch verfassten Gesellschaften übernimmt die Öffentlichkeit eine wichtige Steuerungsfunktion zwischen Teilbereichen wie Wirtschaft, Recht, Politik sowie der Familie und der Austausch vollzieht sich meist im Rahmen von einem Aufeinandertreffen im kleinen Raum, auf Veranstaltungen oder in den Massenmedien. Diese plurale, unabhängige und ausdifferenzierte Form von Öf21 22

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Vgl. ebenda, 79f. 94f.; Großbölting, Himmel, 36; Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 222. Vgl. EZA 2/4351, Beschluß der Eherechtskommission der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 24./25. September 1954, ohne Ort, ohne Datum, 1; ACDP 01-221-017, Franz-Josef Wuermeling, Notwendigkeit und Grundzüge der Familienpolitik, 5. Vgl. Moeller, Mütter, 112f., 116, 118f., 130, 181; Gestrich, Geschichte (2010), 50; Buske, Fräulein Mutter vor dem Richterstuhl, 50, 203–207; Schneider, Familie und private Lebensführung, 14f.; Kleßmann, Arbeiter, 739; AGG BII 1/4385, Vermerk Zeller, Deutscher Bundestag, wissenschaftliche Dienste, Fachbereich II, Verfassung und Verwaltung, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 6 GG, ohne Ort, 15. Juli 1988, 3. Ebenda, 2.

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fentlichkeit und öffentlicher Meinung war demgegenüber im Staatssozialismus nicht zugelassen. Vielmehr existierte eine „politisch inszenierte Öffentlichkeit“,25 der unter Umständen eine „Encounter-Öffentlichkeit“ mit kleiner Reichweite gegenüberstand, die ihre abweichende Meinung mit Ironie und Doppeldeutigkeit zum Ausdruck bringen konnte. Der politische Zugriff war zwar nicht so umfassend wie im Nationalsozialismus, gleichwohl kam es auch hier zu einer politischen Lenkung der Debatten, im Zuge derer die Diskussion um die Rolle der Frau eine andere Wendung nahm.26 Bei der Ausarbeitung der ersten DDR-Verfassung wurde nicht über die Familie als soziale Institution diskutiert. Dies folgte erst mit den Debatten um die Reform des Familiengesetzes in den 1950er Jahren, auf die später eingegangen wird. Außerdem stand die Gleichberechtigung der Frau nicht zur Debatte und in der politischen Diskussion der 1950er Jahre wurde stets Gleichberechtigung und Berufsarbeit synonym gedacht. Zunächst existierte in der DDR keine kohärente sozialistische Familienpolitik, aber die Frauenarbeits-, Sozial-, Erziehungsund Bildungspolitik beinhaltete immer auch familienpolitische Entscheidungen. Das „Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau“ vom 27. September 1950 steckte die Rahmenbedingungen ab und sollte die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Alltagspraxis rechtlich fixieren. Das Gesetz verankerte vor allem die Berufstätigkeit von Müttern und den Ausbau von Kinderkrippen und -horten im ersten Fünfjahresplan als neue Direktive. Zudem sollten auch alleinstehende erwerbstätige Mütter staatliche Unterstützungen erhalten, zum Beispiel indem sie bei der Verteilung von Krippenplätzen bevorzugt würden. Während das sozialistische Ideal der Emanzipation zwar den allgemeinen Rahmen absteckte, waren für die realpolitischen Entscheidungen zwei andere Faktoren entscheidend. Die SED-Regierung wollte zunächst die Geburtenrate erhöhen. Es sollte aber ebenfalls über weibliche Berufsarbeit der Mangel an Arbeitskräften kompensiert werden. Gerade Letzteres galt als das vorrangige politische Ziel. Infolgedessen zielten die politischen Maßnahmen darauf, die Partizipation der Frauen am Berufsleben zu erhöhen, wobei die SED um das Jahr 1957/58 allmählich von einer vorrangig quantitativen zu einer qualitativen Frauenarbeitspolitik umschwenkte, die nun stärker als zuvor auf die Weiterqualifizierung weiblicher Arbeitskräfte zielte und bis 1965 andauerte.27 25 26 27

Gieseke, Bevölkerungsstimmungen, 240. Zur Öffentlichkeit in der DDR vgl. ebenda, 239ff.; Harsch, Society, 54ff. Vgl. BArch Berlin DQ 1/5331, Drucksache Nr. 142, Antrag der Provisorischen Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau, Berlin, 21. September 1950, 1–6; Obertreis, Familienpolitik, 2–6, 140–151; Schwartz, Emanzipation, 51, 59–65; Trappe, Emanzipation, 37–39; Diemer, Patriarchalismus, 109; Budde, Frauen, 309f.; Harsch, Revenge, 133; Moeller, Unbenannt und allgegenwärtig, 325. Für ähnliche Argumentationslinien vgl. Moeller, Reconstructing; Heineman, Motherhood.

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Innerhalb dieses Zeitraums markieren das Kommuniqué Die Frau – der Frieden und der Sozialismus, das sogenannte „Frauenkommuniqué“ der SED, vom 23. Dezember 1961 und der im April 1962 folgende Ministerratsbeschluss zur Durchführung des Kommuniqués die entscheidende Zäsur. Sie rückten endgültig die Qualifizierung der weiblichen Berufsarbeit in den Mittelpunkt. Die SED-Parteiführung erhoffte sich letztlich einen dreifachen positiven Effekt. Erstens sollte es die Zustimmungsbereitschaft innerhalb der Bevölkerung für ihre Politik erhöhen und zweitens Arbeitskräfte mobilisieren. Drittens sollte die Qualifizierung weiblicher Arbeitskräfte an das Niveau ihrer männlichen Kollegen herangeführt werden, gleichzeitig aber auch den Aufgaben der Frauen in den Familien Rechnung tragen. Diese Maßnahme erfüllte damit eine doppelte Funktion. Einerseits schien sie im Sinne der ideologisch postulierten Gleichberechtigung sinnvoll. Andererseits ermöglichte es dieser Schritt, das Reservoir der billigen weiblichen Arbeitskräfte auszuschöpfen. Zudem waren auch viele Familien auf den doppelten Verdienst beider Ehepartner angewiesen, um wirtschaftlich zu überleben.28 „Das Frauenkommuniqué hatte das Diskursfeld geöffnet, auf dem die ‚Frauenfrage‘ differenzierter und kritischer beleuchtet wurde“,29 resümiert die Historikerin Gunilla Budde. Sie spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an die Historikerin Ina Merkel von einer „geschenkten“ bzw. „erzwungenen“ Emanzipation – innerhalb der Sozialwissenschaften fungiert der Begriff einer paternalistisch-autoritären „Emanzipation von oben“ als Synonym –, was unter Frauen die Erwartung geweckt habe, dass sich der Staat um ihre Belange kümmere, ohne selbst aktiv werden zu müssen.30 Damit reihte sich das Kommuniqué in die ambivalente politische Kultur einer „Fürsorgediktatur“31 ein, die einerseits emanzipatorische Elemente förderte, andererseits aber ihre Bürgerinnen und Bürger mit rechtlichen Bestimmungen bevormundete.32 Zudem änderten sich im Zuge des Kommuniqués auch die emanzipatorischen Ansätze der SED-Regierung. Während im traditionellen marxistischen Verständnis die Partizipation der Frauen am Berufsleben die Basis für deren Emanzipation gebildet hatte, korrelierten nun Emanzipation und Qualifizierungsgrad: Gleichberechtigung könne demnach erst erreicht werden, wenn die Frauen nicht nur lebenslang werktätig seien, sondern sich dabei stets weiterqualifizierten.33 In der sozialen Praxis dagegen blieb die geschlechtsspezifische Hierarchie und Ar28 29 30 31 32 33

Vgl. Diemer, Patriarchalismus, 46; Merkel, Leitbilder, 369; Budde, Frauen, 56–59; Obertreis, Familienpolitik, 168f. Budde, Frauen, 64. Vgl. ebenda, 65, 405; Merkel, Leitbilder, 376f.; Geißler, Sozialstruktur (2002), 365; ders., Sozialstruktur (2014), 373f. Jarausch, Fürsorgediktatur. Für eine Zusammenfassung vgl. ebenda. Vgl. Obertreis, Familienpolitik, 171f.

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beitsteilung sowohl innerhalb der Familie als auch im Berufsleben bestehen. Die Mutter musste sich – selbst bei voller Berufstätigkeit – wie im Westen weiterhin um den Haushalt und die Kindererziehung kümmern. Diesbezüglich ähnelte sich das soziale Verhalten in beiden deutschen Staaten durchaus.34 Die Debatten waren aber in unterschiedliche Settings eingebettet. In der rhetorischen Abgrenzung zur DDR priesen westdeutsche Politiker die Tugenden der Hausfrau an, die im Dienste ihrer Familie stehe und nicht arbeiten gehen müsse, wohingegen im Osten die Frauen zum Arbeiten gezwungen würden. Ostdeutsche hingegen mokierten sich darüber, dass das westdeutsche System die Frauen zu den „unbezahlten ‚Dienstmägden‘“35 ihrer Männer degradiere.36 Rhetorisch schloss dies durchaus an Friedrich Engels an, der im 19. Jahrhundert, etwas schärfer formuliert, von der „Haussklaverei der Frau“37 gesprochen hatte. Trotz deutlicher inhaltlicher Differenzen stellte dabei keines der beiden politischen Systeme die soziale Institution Familie zur Disposition. Dies ist gerade für die DDR umso bemerkenswerter, als dort aus ideologischen Gründen eigentlich ein radikaler Bruch mit dem bürgerlichen Familienmodell hätte erfolgen müssen. Schließlich galt die Familie für die SED aus drei Gründen als problematisch. Es handele sich um eine Institution der „bürgerlichen Gesellschaft“, die nach zeitgenössischem Verständnis überdies im Nationalsozialismus korrumpiert worden sei. Zudem herrsche innerhalb der Familie eine strikte Trennung der Geschlechterrollen, die es nach kommunistischen Idealen aufzubrechen gelte. Die Familie bildete überdies einen Rückzugsort ins Private, der sich staatlicher Kontrolle entzog. Die Fixierung auf die Familie als Institution erfolgte vermutlich in Ostdeutschland aus denselben pragmatischen Erwägungen, politischen Zielen und persönlichen Einstellungen wie im Westen: Über die Familie als Institution sollte ein neues gesellschaftliches Ordnungssystem etabliert und stabilisiert werden.38 Der hohen Wertschätzung der Familie stand in Westdeutschland von der Nachkriegszeit bis in die frühen 1950er Jahre die ihr zugeschriebene Krise entgegen. Die katholischen Bischöfe warnten in ihrem zweiten Hirtenbrief vom 34

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Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/17/30, Anlage Nr. 7 aus Protokoll Nr. 84 vom 18. April 1950, Entwurf für das Gesetz zur Förderung der Frau, Bl. 48; BArch Berlin DQ 1/5331, Drucksache Nr. 142, Antrag der Provisorischen Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau, Berlin, 21. September 1950, 5; Schneider, Hausväteridylle, 93f.; Budde, Alles bleibt anders, 77; Harsch, Revenge, 62f.; Obertreis, Familienpolitik, 32ff., 47, 66, 113–116; Münch, Familien-, Jugend- und Altenpolitik (1949–1957), 515; Helwig, Familienpolitik (1949–1961), 515f.; Diemer, Patriarchalismus, 46; Dölling, Bewußtsein, 28. Moeller, Unbenannt und allgegenwärtig, 325. Vgl. ebenda. Engels, Ursprung, 75. Vgl. Obertreis, Familienpolitik, 134; Budde, Alles bleibt anders, 70ff., 80; Helwig, Rechte, 198; dies., Familie, 13f.; Harsch, Revenge, 199.

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August 1946, dass die Heirats- und Geburtenziffern zurückgehen und parallel die Zahl der Ehescheidungen wie auch der nichtehelichen Geburten deutlich ansteigen würden. Der Journalist Walther von Hollander ergänzte diesen Topos 1948 in der Zeitschrift Constanze um eine weitere Beobachtung. Er sprach von einer „Krise der Männlichkeit“. Seiner Ansicht nach hätten die Männer ihre dominante Position innerhalb der Gesellschaft mit der Kriegsniederlage verloren, wohingegen Frauen während des Kriegs unabhängiger geworden seien. Nach seiner Lesart resultierte diese „Krise“ aus den gewandelten Geschlechterrollen und den unterschiedlichen Kriegserfahrungen.39 Der Krisendiskurs ließ sich aber durch Kirchenvertreter oder kirchennahe Politiker auch instrumentalisieren. Denn mit der Warnung vor der Krise verknüpften sie stets das Plädoyer, sich auf tradierte Ideale zu besinnen. Diese Deutung belegt eine 1954 festgehaltene Beobachtung des Soziologen Gerhard Baumert: In dem Eifer, mit dem die These vertreten wird, und in der Irrationalität der verwendeten Argumente äußert sich das Festklammern an einer Institution, die für viele als letztes Bollwerk „natürlicher“ oder „göttlicher Ordnung“ in einer sich auflösenden Welt erscheint.40

Baumert relativierte also schon in den frühen 1950er Jahren die These von der „Krise der Familie“ deutlich. Eine Umfrage des Allensbacher Instituts aus den frühen 1950er Jahren untermauerte diese Position. 89 Prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger stuften die Ehe und damit implizit die Familie als eine zentrale gesellschaftliche Institution ein. Ehe und Familie erfüllten aus der jeweils subjektiven Perspektive eine Orientierungsfunktion und wirkten als sicherheitsspendender Schutzraum. Weder die Institutionen Ehe und Familie noch die damit verknüpfte geschlechtstypische Aufgabenverteilung standen somit in den frühen 1950er Jahren zur Disposition. Die Historikerin Sibylle Steinbacher argumentiert, dass dieses Ergebnis die von konservativer Seite vertretene Ansicht bestätigt habe, wonach die Ehe als Basis für die Familie eine stabilisierende Kraft auf die Gesellschaft ausübe.41 Demgegenüber ließe sich aber auch zeigen, dass sich die Bewertung des Allensbacher Instituts in die allgemeine zeitgenössische Lesart der 1950er Jahre einreihte, an den Rändern jedoch stets abweichende Positionen zumindest verhandelt wurden. Die Umfragen des Soziologen Baumert 39

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Für die Zusammenfassung dieser Argumentation vgl. v. a. Moeller, Mütter, 20; ders., Heimkehr; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 98–106; Kuller, Familienpolitik, 46–55; Rölli-Alkemper, Familie, 60f., 63; Schneider, Einigkeit, 210ff.; Vogel, Familie, 38–42; Herzog, Normality, 187f.; dies., Politisierung, 107–110; Walther von Hollander, Vor den Toren der Wirklichkeit. Deutschland 1946–47 im Spiegel der Nordwestdeutschen Hefte. Ausgewählt und eingeleitet von Charles Schüddekopf, Berlin, Bonn 1980, in: Ruhl (Hg.), Frauen, 35. Baumert, Familien, 171f. Vgl. ebenda; Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 222; Rölli-Alkemper, Familie, 86; Steinbacher, Sex, 161–164; Hilpert, Wohlfahrtsstaat, 197; Baumert, Familien, 176f.

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in Darmstadt und der angrenzenden Region enthüllten ebenfalls den enormen Stellenwert der Ehe. 92 Prozent der Stadtbewohner bzw. 93 Prozent der Landbevölkerung sahen sie als die einzig legitime Form des Zusammenlebens an. Immerhin gaben drei bzw. zwei Prozent an, sie würden neben der traditionellen Ehe auch alternative Formen des Zusammenlebens akzeptieren, wie eine „Kameradschaftsehe“ oder eine „Ehe auf Zeit“ bzw. ein „freies Zusammenleben“.42 Die Mehrheitsmeinung innerhalb der westdeutschen Gesellschaft dachte dessen ungeachtet in den 1950er Jahren Familie und Ehe stets zusammen und verwendete sie im Sprachgebrauch durchaus synonym.43 Zudem waren Ehe und Familie als Modelle der individuellen Lebensgestaltung aus der subjektiven Perspektive ungebrochen attraktiv, wie eine EMNID-Umfrage Mitte der 1950er Jahre zeigte. Die befragten Personen gaben an, dass sie sich von einer ehelichen Gemeinschaft individuelles Glück erhofften, das auf gegenseitigem Vertrauen, Verständnis füreinander, Liebe und Zuneigung sowie Treue aufbaute. Auch der Wunsch nach eigenen Kindern und Kindererziehung bedingte die besondere Bedeutung von Ehe und Familie. Schließlich sollten Kinder in einer Familie geboren und erzogen werden. Diese Antworten verdeutlichen, dass Ehe und Familie subjektiv mit Sinn versehen wurden. Religiöse Motive waren demgegenüber nicht für eine Eheschließung entscheidend.44 Auf der Ebene der familialen Praktiken ging somit der Einfluss von Religion stetig zurück, weshalb der Historiker Thomas Großbölting im Hinblick auf die „Rechristianisierung“ in der Bundesrepublik von einem diskursiv verhandelten Ideal spricht.45 Unter der Oberfläche der allgegenwärtigen Debatte um das Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie erodierten somit die christlichen Familienideale bereits in den 1950er Jahren.46 Lukas Rölli-Alkemper interpretiert diese „Entkirchlichung zentraler Bereiche des Ehe- und Familienlebens“ als Folge einer „allgemeinen Individualisierungstendenz der Nachkriegsgesellschaft“.47 Diese Deutung ist jedoch insofern fraglich, als Ehepartner die Familie als Lebensgemeinschaft wertschätzten. Für sie standen damit Zuneigung, Vertrauen, Verständnis und Liebe im Vordergrund. Auch die gemeinsame Sorge um die Kinder galt als elementarer Bestandteil einer Familie. Sicherlich stellten sich diese Emotionen jeweils in der individuell-subjektiven Perspektive der Familienmitglieder ein. Sie wollten diese Gefühle aber in einer Familiengemeinschaft und zusammen mit dem Partner und den Kindern erleben.48 Eine Verwirklichung der Indivi-

42 43 44 45 46 47 48

Vgl. ebenda, 180ff. Fröhner/Stackelberg/Eser, Familie, 13, 36f. Vgl. ebenda, 30. Vgl. ebenda, 13, 34, 36f., 384, 396. Vgl. Großbölting, Himmel, 93. Vgl. Rölli-Alkemper, Familie, 235ff.; Großbölting, Himmel, 37. Vgl. Rölli-Alkemper, Familie, 237. Vgl. Fröhner/Stackelberg/Eser, Familie, 34, 384, 396.

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dualinteressen zu Lasten anderer Familienmitglieder war damit sicherlich nicht zwangsläufig ausgeschlossen. Auf die Breite der Gesellschaft gesehen handelte es sich hierbei jedoch nicht um ein dominantes Motiv. Vielmehr ließen sich in Familien individuelles Glück und Gemeinschaftsinteressen parallel verwirklichen. Das hat sicherlich zu ihrer anhaltend hohen Wertschätzung maßgeblich beigetragen. Gleichzeitig blieb für die politischen Entscheidungen das Modell der christlich-bürgerlichen Kernfamilie mit einer geschlechterspezifischen Aufgabenverteilung der normative Bezugsrahmen. In der Bundesrepublik der frühen 1950er Jahre setzten sich für diese Sichtweise auf die Familie die politischen Interessensvertretungen ein, wie vor allem der Deutsche Familienverband, der Familienbund der Deutschen Katholiken und die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen – die sich Mitte der 1950er zur Arbeitsgemeinschaft deutscher Familienorganisationen zusammenschlossen – sowie der Bund der Kinderreichen Deutschlands.49 1953 wurde schließlich das Familienministerium neu gegründet. Konrad Adenauer rechtfertigte diese Entscheidung mit einem Verweis auf die demographische Entwicklung. Er warnte vor einer „Vergreisung“ der Deutschen. Trotz des vielfach konstatierten Untergangs der westdeutschen Gesellschaft handelte es sich bei diesem Argument um eine vorgeschobene Begründung. Nachdem Adenauer im Wahlkampf von der katholischen Kirche unterstützt worden war, kam der Bundeskanzler der Amtskirche nun entgegen. Schließlich sah gerade die katholische Kirche die Familie als ihr genuines Aufgabenfeld an. Darüber hinaus besetzte Adenauer das Ministerium mit Franz-Josef Wuermeling, einem gläubigen Katholiken, Ehemann und Vater von fünf Kindern. Die Familienideale galt es nun, sowohl nach Ansicht der Kirche wie auch Wuermelings nach den christlichen Glaubensgrundsätzen zu formen.50 In seiner Funktion als Familienminister legte Wuermeling selbst in mehr als 900 Referaten und Vorträgen bzw. Artikeln öffentlichkeitswirksam die Position der Bundesregierung dar. Er grenzte dabei die westdeutsche Familie von ihren Pendants im Nationalsozialismus wie im Kommunismus ab und orien-

49

50

Vgl. Kuller, Familienpolitik, 125–131; Ruhl (Hg.), Frauen, 108. Zur Geschichte des Begriffs „Familienpolitik“ und für einen Überblick über die Ausgestaltung der Familienpolitik in der Bundesrepublik vgl. Kuller, Familienpolitik, 13–19. Vgl. Moeller, Mütter, 203; Ruhl, Unterordnung, 147–153; Kuller, Familienpolitik, 84–88; Münch, Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 230f.; dies., Familien-, Jugendund Altenpolitik (1949–1957), 602–608; Joosten, Frau, 34f. Später griff auch Franz-Josef Wuermeling das Thema „Überalterung“ auf. Vgl. exemplarisch ACDP 01-221-017, FranzJosef Wuermeling, Notwendigkeit und Grundzüge der Familienpolitik, 1; BArch Koblenz B 153/1, „Lebensbaum darf keine Totenurne werden“. Erklärungen Wuermelings auf einer Kundgebung des Familienbundes, in: Tages-Anzeiger, 8. Februar 1955, Bl. 225; Franz-Josef Wuermeling, Familienpolitik um der Gerechtigkeit willen, in: Deutsches Pfarrerblatt, Nr. 20, 1958. Sonderdruck, BA/Bestand B 191/109, in: Ruhl (Hg.), Frauen, 135.

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tierte sich stets an der katholischen Soziallehre, die zwischen einem inneren und einem äußeren Bereich der Familie unterschied. Für den inneren Bereich seien demnach Seelsorge und Fürsorge verantwortlich, wie ihn Kirchen und Familienverbände bereitstellten; der äußere Bereich falle hingegen in den Aufgabenbereich des Familienministeriums. Hierzu zählten ein familiengerechter Wohnungsbau und finanzielle Zuwendungen, wie das 1954 eingeführte Kindergeld ab dem dritten Kind, sowie der sogenannte „Wuermeling-Pass“, eine Ermäßigung bei Bahnfahrten für kinderreiche Familien. Letzteres verdeutlicht überdies, dass nach katholischem Verständnis die kinderreiche Familie, d. h. Familien mit mindestens drei Kindern, als die Idealform einer Familie galt. Die konkreten familienpolitischen Maßnahmen zielten in den 1950er Jahren darauf – ohne in den Binnenraum der Familie zu intervenieren –, die Reproduktionsfunktion wie auch die Erziehungs- und Sozialisationsfunktion der Familie zu erhalten und auszubauen. Überdies setzten sie staatliche Anreize zu heiraten. Damit verweisen sie auf das Leitbild der traditionellen christlich-bürgerlichen Kernfamilie.51 In beiden Teilen Deutschlands herrschte Anfang der 1950er Jahre weiterhin ein Wohnraummangel, wenngleich Westdeutschland stärker als die DDR betroffen war, wo der staatlich geförderte Wohnungsbau in den ersten zwei Jahrzehnten ebenfalls kaum gefördert wurde. Demgegenüber kam ihm im Westen eine zentrale sozial- und wirtschaftspolitische Funktion zu. So fehlten 1950 laut Statistik 6,3 Millionen Wohnungen. Zudem standen den 14,6 Millionen „Normalwohnungen“ mit mindestens 30 qm 627.000 Haushaltungen in „Notwohnungen“ gegenüber, zu denen unter anderem Bretterbuden, Wohnwagen oder Kellerwohnungen zählten. 762.000 Haushaltungen befanden sich überdies in Lagern, Fremdenheimen und Gasthäusern.52 Das 1950 vom Bundestag verabschiedete Erste Wohnungsbaugesetz betraf den staatlich subventionierten Sozialwohnungsbau, wobei die Wohnungsgröße mit 45 qm zwar knapp bemessen war, sich jedoch am Ideal der vierköpfigen Familie orientierte. Insgesamt wurden zwischen 1949 und 1960 fünf Millionen Wohnungen gebaut, die Hälfte davon

51

52

Vgl. ACDP 01-221-017, Franz-Josef Wuermeling, Notwendigkeit und Grundzüge der Familienpolitik, 5; Ruhl, Unterordnung, 153ff.; Münch, Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 208–211; Kuller, Familienpolitik, 88ff.; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 172–178, 181, 205; Moeller, Mütter, 146, 221, 226; Rölli-Alkemper, Familie, 84. In der Bundesrepublik galt eine Familie mit mindestens drei Kindern als „kinderreich“, da nun aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung diese Zahl für die Erhaltung des „Volksbestandes“ benötigt wurde. Vgl. BArch Koblenz B 153/829, a) Die Förderung der Familie. Vorschläge des Bundes der Kinderreichen Deutschlands (BKD) an die Parteien, ohne Ort, ohne Datum, Bl. 86. Vgl. Schildt, Sozialgeschichte, 10, 14f.; Niehuss, Kontinuität, 321; Kleßmann, Staatsgründung, 52; Reinecke, Wohnungsnot, 267; Saldern, Häuserleben, 323–326. Zur Wohnungsbaupolitik vgl. Schulz, Eigenheimpolitik; Krummacher, Wohnungsbau.

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mit staatlicher Unterstützung. 1956 folgte das Zweite Wohnungsbaugesetz („Familieneigenheimgesetz“), welches den Eigenheimbau besonders förderte. Diese Anstrengungen linderten den Wohnungsmangel, der sich Ende der 1950er Jahre noch immer auf ungefähr 1,56 Millionen Wohnungen belief, wovon Geflüchtete und ärmere Arbeiterfamilien überproportional betroffen waren. Allein dieser Befund verdeutlicht, dass sich die von Helmut Schelsky postulierte „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ in der sozialen Praxis nicht wiederfand.53 In den 1950er Jahren verbesserte die Bundesregierung durch weitere Reformen die sozialpolitischen Leistungen, wie bei der Arbeitslosenversicherung, der Krankenversicherung sowie der Unfall- und Invaliditätsversicherung. Insbesondere ist aber die Rentenreform 1957 zu benennen. Während diese Änderungen die soziale Ungleichheit zwischen den Generationen abschliffen, perpetuierten sie hingegen eine deutliche soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Der westdeutsche Sozialstaat basierte auf dem männlichen Ernährer-Modell,54 wodurch Frauen strukturell benachteiligt wurden, wenn sie temporär ihren Beruf aufgaben, in Teilzeit arbeiteten oder sich ausschließlich in ihrer Rolle als Mutter um die Familie kümmerten. Schließlich zahlten Frauen infolgedessen weniger in die Rentenversicherung ein und erwarben somit geringere finanzielle Ansprüche. Das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen verstärkte die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern noch zusätzlich. Insofern kam es im westdeutschen Wohlfahrtsstaat neben einer rechtlichen und sozialen auch zu einer finanziellen Benachteiligung der Frauen.55 Zudem unterstützte die Steuerpolitik die geschlechterspezifische Rollenaufteilung. So bevorzugte das 1958 eingeführte Ehegattensplitting das Ernährer-Hausfrau-Modell, da die steuerlichen Vergünstigungen mit der Größe der Einkommensdifferenz zunahmen. Erneut zeigt sich damit bei der Setzung der rechtlichen Rahmenbedingungen das dahinterstehende politische Leitbild.56 Während bisherige Forschungsarbeiten vor allem die „Refamilialisierung“57 oder „Restauration der traditionellen Kernfamilie“58 als Signatur der westdeut53

54 55 56 57 58

Vgl. ebenda, 211–314, 324; Schildt, Sozialgeschichte, 15; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 128–145; Saldern, Häuserleben, 265ff., 301; Braun, Helmut Schelskys Konzept, 203–219; Schelsky, Wandlungen, 218f. Zur zeitgenössischen Kritik an Schelskys These vgl. exemplarisch Dahrendorf, Klassen, 105–112. Alternativ auch „Ernährer-Hausfrau/Zuverdienerin-Modell“ vgl. Kuller, Familienpolitik, 78. Vgl. Moeller, Mütter, 209–214; Kuller, Sicherung, 201–207; Kuller, Ungleichheit, 65–70; Süß, Sicherheit, 160, 176. Zu diesem Modell vgl. Lewis, Decline; Ostner, Familie, 225f. Vgl. Oertzen, Teilzeitarbeit, 187–209; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 190–203; Dienel, Familienpolitik, 86ff.; Kuller, Familienpolitik, 173f.; Jakob, Gesellschaftsbilder, 293ff. Für diese Sichtweise vgl. v. a. Moeller, Unbenannt und allgegenwärtig, 322; Moeller, Mütter; Heineman, Difference; Rölli-Alkemper, Familie. Niehuss, Kontinuität, 334. Ähnlich bei Frevert, Frauen-Geschichte, 254; Conze, Suche, 187f.; Delille/Grohn, Blick, 41. Zur zeitgenössischen Diskussion der Restaurationsthese vgl. Baumert, Familien, 182f.

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schen Politik beschreiben, ließe sich ausgehend von den Befunden argumentieren, dass es sich hierbei um ein gesamtdeutsches Phänomen handelte.59 Auch in der DDR übernahmen Ehe und Familie sowohl in individueller als auch staatlicher Perspektive eine zentrale Funktion. Die Verfassung der DDR bezeichnete Ehe und Familie als „die Grundlage des Gemeinschaftslebens“.60 Der Sozialhygieniker Rudolf Neubert publizierte 1957 Das neue Ehebuch, welches bis 1972 in 20 Auflagen erschien. Er informierte darin eine große Leserschaft über die zentrale Bedeutung der Ehe für eine intakte Paarbeziehung.61 Auch die staatliche Propaganda stellte die hervorgehobene Bedeutung der Ehe für die „sozialistische Moral“62 heraus, wie 1958 im Neuen Deutschland. In der Ehe seien sich die Partner nicht nur in gegenseitiger Liebe verbunden, sondern würden auch die Kinder nach den sozialistischen Werten erziehen. Insofern gingen nach dieser Lesart Individualwünsche und Interessen des Staates Hand in Hand, wenngleich Letztere die übergeordneten waren.63 Diese Position vertrat auch Neubert, der unter der Ehe primär eine „gesellschaftliche, wirtschaftliche Institution und erst dann eine biologische, ‚natürliche‘“64 verstand. Bei dieser inhaltlichen Füllung des Familienbegriffs zeigen sich freilich deutliche Unterschiede zwischen Bundesrepublik und DDR. Zum Beispiel war nach westdeutschem Verständnis eine weitreichende staatliche Intervention in die Familie ausgeschlossen. Die Gemeinsamkeit zwischen beiden deutschen Staaten lag somit in der Betonung der zentralen gesellschaftlichen Bedeutung der Familie durch Politiker, Wissenschaftler und Familienmitglieder. Bundesrepublik und DDR unterschieden sich folglich nicht im Hinblick auf die Bedeutung der Familie in der Gesellschaft. Vielmehr lagen die Differenzen in der Frage, welche Funktion die Familie in der Gesellschaft erfüllen sollte. Darüber hinaus unterschieden sich beide politischen Systeme hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Bedeutung von Religiosität in den Debatten um die Familie. Gerade in Westdeutschland nahmen die beiden Kirchen eine prominente Position ein, wenngleich eingeschränkt werden muss, dass auch an den politischen und juristischen Debatten der DDR die Evangelische Kirche gerade während der frühen 1950er Jahre durchaus partizipierte, wie später gezeigt wird.

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Ähnlich bei Budde, Alles bleibt anders, 92. Dorothee Wierling spricht in Bezug auf die DDR der 1950er Jahre von einer „Phase der Konsolidierung“. Wierling, Jahr, 59. Neubert, Ehebuch (1957), 29. Ebenda, 9. Siehe auch Neubert, Ehebuch (1972), 11. BArch Berlin DP 1/8711, Helmut Ostmann, Moral und Recht in Ehe und Familie, in: Neues Deutschland, Nr. 198, 20. August 1958, 4. Vgl. ebenda. Neubert, Ehebuch (1957), 21. Siehe auch ders., Ehebuch (1972), 25.

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5.2 Devianzen vom Ideal der Kernfamilie im „Golden Age of Marriage“ Die 1950er Jahre gelten sowohl in der soziologischen als auch historischen Forschung als das „Golden Age of Marriage“,65 da die Heirats- sowie Geburtenziffern merklich anstiegen und die Scheidungszahlen nach einem kurzzeitigen Anstieg in der Nachkriegszeit in den 1950er Jahren auf ein niedriges Niveau fielen, das gleichwohl noch immer über der Scheidungsquote der 1920er und 1930er Jahre lag. Wie in keinem anderen Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts prägten somit Ehe und bürgerliche Kernfamilie das zeitgenössische Familienverständnis.66 Daneben existierten mehrere deviante Familienformen, wie die „unvollständigen“ Familien, worunter sowohl verwitwete Mütter und ihre Kinder als auch ledige und geschiedene Mütter mit Kindern fielen. Sie genossen nach zeitgenössischem Verständnis nicht den sozialen Status einer Familie. Primär in Westdeutschland wurde in öffentlichen Konflikten um die soziale Stellung dieser abweichenden Lebensformen gerungen.67 In wissenschaftlichen Arbeiten wie Baumerts Studie zu den Familien im Raum Darmstadt wurde auf eine Familiendefinition rekurriert, die über das zeitgenössische Verständnis hinausging. Baumert untersuchte „Angehörige von Familien, die sich aus zumindest einem Ehepaar oder einem Elternteil und einem Kind zusammensetzten“.68 Folglich zählte er auch alleinerziehende Mütter und ihre Kinder zur sozialen Gruppe der „Familien“. Indem Baumert die Familie über die Eltern-Kind-Beziehung definierte, griff er einer Familiendefinition vor, die sich in Westdeutschland erst gegen Ende der 1960er Jahre durchzusetzen begann. Gleichwohl war auch Baumert seiner zeitgenössischen Perspektive unterworfen und merkte an: „Wir bezeichnen deshalb die mit ihrem unehelichen Kind 65 66 67

68

Peuckert, Familienformen (2012), 11. Siehe auch Sieder, Sozialgeschichte, 243; Trotha, Wandel, 453. Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 37f., 165f.; Höhn, Einflüsse, 337f.; Rödder, 21.0, 187. In der Familiensoziologie verwendete René König einen übergeordneten Analysebegriff. Er sprach von „desorganisierten Familien“. Darunter verstand er Familien, deren „Gruppencharakter durch „Ausfallserscheinungen im personalen Inventar“ der sozialen Gruppe geprägt war. Seiner Ansicht nach galt eine Familie als „desorganisiert“, wenn es zu einer „Störung ihrer emotionalen Struktur“ gekommen sei. Damit ließ sich Königs Analysebegriff auch auf „vollständige“ Familien anwenden, wenngleich hier eine andere Art der „Desorganisation“ vorlag. Vgl. König, Soziologie der Familie, 131. Baumert, Familien, XII. Siehe auch ders., Methoden, 15. Eine andere Studie wählte einen wesentlich engeren Familienbegriff und schloss lediglich die christlich-bürgerliche Kernfamilie ein. Familie sei eine „Wohngemeinschaft verheirateter Personen mit oder ohne Kinder bzw. verheiratet Gewesener, die mit mindestens einem eigenen Kinde zusammenwohnen“. Fröhner/Stackelberg/Eser, Familie, 12. Auch König definierte Familie 1945 ähnlich, betonte aber zugleich, dass gesellschaftlich unterschiedliche Vorstellungen von Familie diskutiert würden. Vgl. König, Notwendigkeit, 33.

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zusammenlebende Mutter als unvollständige Familie, ohne die allein durch die Illegitimität aufgeworfene Fragwürdigkeit zu beachten.“69 Seinen normativen Bezugspunkt bildete somit die Kernfamilie mit einem verheirateten Ehepaar. Welchem sozialen Druck sich die ledigen Mütter ausgesetzt sahen, belegten zudem Baumerts empirische Befunde. Während sich der Anteil der nichtehelichen Geburten in Darmstadt auf 15 Prozent belaufe, würden bei der Einschulung lediglich noch drei Prozent der Kinder als „unehelich“ geführt. Zahlreiche Frauen heirateten folglich wie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert entweder den Kindsvater oder einen anderen Mann und „legitimierten“ damit die uneheliche Geburt nachträglich.70 Während aus der Perspektive des frühen 21. Jahrhunderts der Terminus „unvollständig“ eine normative Werthaltung transportiert, traf dies bis in die 1970er Jahre nicht zu. Vielmehr entschied sich der Familiensoziologe René König bewusst für diesen Begriff und gegen den zuvor aus dem Amerikanischen übernommenen Terminus des broken home. Zwei Gründe führte er für diese Entscheidung an. So sei „unvollständige“ Familie der „neutralere“ Begriff. Zudem sei er zutreffender, da er auf ein entscheidendes „Gruppenproblem“ des Familientyps der Alleinerziehenden verweise: ihre Unvollständigkeit. Demgegenüber entstamme der Begriff broken home der „Sozialarbeit“.71 Die Bewertung der alleinerziehenden Mütter unterlag dabei in den 1950er Jahren einem deutlichen Wandel. In der großangelegten Studie des Soziologen Baumert hatten weniger als fünf Prozent der Befragten diese Familienform abgelehnt. Ein Drittel meinte, dass die Mütter unehelicher Kinder nachsichtig behandelt werden müssten. Baumert relativierte jedoch diese auf den ersten Blick tolerante Einstellung. Die Befragten ergänzten ihre Antworten mit verschiedenen Kommentaren, wie „Kein Mensch ist ohne Fehler“, „Es kommt immer ganz auf die Umstände an“ oder „Durch Verurteilen wird es auch nicht besser“. Insofern blieben deutliche Vorbehalte gegen alleinerziehende Mütter und ihre nichtehelich geborenen Kinder bestehen.72 Die ablehnende Haltung verstärkte sich im Laufe der 1950er Jahre, als die bürgerliche Kernfamilie zum alleinigen normativen Leitbild erhoben wurde. Alleinerziehende und alleinstehende Mütter fristeten zusehends ein „Randgruppendasein“.73 Eine weitere Gruppe von Familien bestand aus verwitweten Frauen und Kindern, die unverheiratet mit einem neuen Partner zusammenlebten. Die 69 70 71

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Baumert, Familien, 47. Vgl. ebenda, 49. Vgl. König, Soziologie der Familie, 130ff.; ders., Grundbegriffe, 71–79; Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 201. Für eine ähnlich zeitgenössische Interpretation siehe auch Neidhardt, Familie, 55. Für einen Überblick über das Werk Königs vgl. Feldhaus, René König. Vgl. Baumert, Familien, 172, 174. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 309.

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zeitgenössische Debatte sprach hier von sogenannten „Rentenkonkubinaten“ und „Onkelehen“, da die Kinder der Witwe den neuen Mann als „Onkel“ bezeichneten. Vereinzelt war auch die Rede von einer „Josefsehe“ oder „wilden Ehe“. Die Frauen wählten diese Form des Zusammenlebens, damit sie ihre Renten-, Pensions- und Unterstützungsleistungen aus erster Ehe nicht verloren. Dadurch begaben sie sich auch nicht in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Partner. In anderen Fällen waren die Frauen auf die finanzielle staatliche Unterstützung angewiesen, da ihr neuer Partner entweder Rentner oder Kriegsversehrter war und deswegen nicht die Rolle des Ernährers übernehmen konnte.74 Wie viele „Onkelehen“ es in der Bundesrepublik gab, ließ sich in den 1950er Jahren nicht exakt bestimmen. Die Schätzungen des Familienministeriums gingen 1955 von 100.000 bis 150.000 solcher Ehen aus. Vereinzelt war auch die Rede von 50.000 bis 300.000 „Onkelehen“.75 Welcher Schätzwert auch angesetzt wird, ihre Zahl war im Verhältnis zur Masse der Bevölkerung relativ gering. Insofern betonte bereits Baumert, dass ihre statistische Bedeutung für die Bundesrepublik wesentlich geringer sei, als die öffentliche Debatte über dieses Thema vermuten lasse. Die Kontroversen über die „Onkelehen“ setzten ungefähr 1951 ein und hielten bis 1959 an, wobei Zeitungen und Zeitschriften, Vereine und Verbände sowie Parteien und Regierungsvertreter in den Jahren 1954 und 1955 die Auseinandersetzung besonders vehement führten. Die Brisanz des Themas ebbte schließlich ab, als 1960 eine Änderung des Bundesversorgungsgesetzes erfolgte. Jetzt standen Frauen die Versorgungsleistungen ihrer ersten Ehe wieder zu, wenn entweder ihr zweiter Ehemann verstarb oder sie schuldlos geschieden wurden. 1974 erfolgte eine abermalige Änderung. Nun waren alle Witwen nach einer Scheidung der zweiten Ehe anspruchsberechtigt.76 Öffentliche Aufmerksamkeit erregten die „Onkelehen“ nicht wegen ihrer quantitativen Verbreitung, sondern weil sie dem gesellschaftlich verhandelten Ideal der bürgerlichen Kernfamilie entgegenstanden. Zum Beispiel warfen zahlreiche Politiker unterschiedlichster Parteien wie Franz-Josef Wuermeling (CDU) und Marie-Elisabeth Lüders (FDP) die Frage auf, ob diese Form des Zusammenlebens moralisch integer sei. Immerhin gab in Baumerts Umfrage 1950 ein Viertel der Befragten an, sie würden in bestimmten Konstellationen unverheiratetes Zusammenleben tolerieren. Auch in einer Allensbacher Umfrage 1955 äußerten 43 Prozent Verständnis für diese Lebensform. Gleichzeitig lehnten sie jedoch auch 46 Prozent der Befragten explizit ab. Dass die 74 75 76

Vgl. Schnädelbach, Kriegerwitwen, 168f., 175; Heineman, Difference, 168; Seegers, Halbwaisen, 58f. Vgl. Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 120; Schnädelbach, Kriegerwitwen, 168, 176. Vgl. Baumert, Familien, 65; Schnädelbach, Kriegerwitwen, 173, 175. Zur Regelung des Bundesversorgungsgesetzes von 1950 vgl. Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 117.

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„Onkelehen“ in den 1950er Jahren so stark polarisierten, kann neben ihrer Abweichung vom Familienideal noch auf ein weiteres moralisches Argument zurückgeführt werden. Es ging stets auch um die Frage, ob es legitim sei, dass sich diese Beziehung über die in erster Ehe erworbenen Unterhaltsansprüche finanzierte.77 Der Soziologie Gerhard Wurzbacher führte noch ein zusätzliches normativ aufgeladenes Argument an. Er bezeichnete Frauen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften als psychisch labil.78 Dieses Argument bezog sich nicht nur auf „Onkelehen“, sondern auch auf ledige und geschiedene Mütter. In diesen drei Familienformen ging demnach in den Augen Wurzbachers und anderer Beobachter ein negativer Effekt auf die Kinder aus. Sie würden psychologisch, gesellschaftlich und rechtlich gegenüber Kindern aus einer Familie mit zwei Elternteilen benachteiligt.79 Dieses soziale Argument vom benachteiligten Kind umfasste nach zeitgenössischem Verständnis aber noch einen anderen Fall: Familien mit berufstätigen Müttern galten in Westdeutschland ebenfalls als deviantes Lebensmodell. Schließlich entsprachen sie nicht dem gesellschaftlich akzeptierten Familienideal. Während die Ein-Eltern-Familien die äußere Struktur der christlich-bürgerlichen Kernfamilie aufgebrochen und dadurch andere familiale Praktiken hervorgebracht hatten, veränderten berufstätige verheiratete Mütter die Geschlechterrollen aus den Familien heraus. Hier setzte demnach der Veränderungsprozess innerhalb der Familien ein. Den Anstieg weiblicher Berufstätigkeit stuften konservative Politiker wie Franz-Josef Wuermeling und der spätere Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger oder die katholische Kirche generell als Gefahr für die Zukunft der Familie in Deutschland ein. Sie seien für einen Rückgang der Kinderzahlen verantwortlich und damit die entscheidende Ursache dafür, dass die Deutschen „ein aussterbendes Volk“80 seien, warnte Wuermeling. Dieses Urteil muss zum Bewertungsmaßstab der Katholiken in Relation gesetzt werden. Aus ihrer Perspektive galt erst eine kinderreiche Familie als ideal. Laut einer EMNID-Umfrage 1954 teilten 30 Prozent der Westdeutschen diese Ansicht. Die Mehrheitsmeinung tendierte jedoch klar zum Modell der Ein- oder Zwei-Kind-Familie, das zehn bzw. 49 Prozent favorisierten. In der sozialen Praxis neigten die Ehepaare sogar noch stärker zu entweder einem Kind oder zwei Kindern. Insofern erklärt sich der westdeutsche Krisendiskurs aus der Diskrepanz zwischen dem katholischen Ideal und der gewünschten bzw. der realen Kinderzahl westdeutscher Famili77 78 79 80

Vgl. Baumert, Familien, 172; Schnädelbach, Kriegerwitwen, 170, 185f., 191ff., 215, 245. Vgl. Wurzbacher, Leitbilder, 156ff.; Schnädelbach, Kriegerwitwen, 202. Vgl. ebenda, 201. ACDP 01-221-017, Franz-Josef Wuermeling, Für den Schutz der Familie, in: Neuwieder Zeitung, 2. November 1953.

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en. Zweitens würden berufstätige Mütter die Kernfamilie als soziale Institution destabilisieren, erklärten Wuermeling und die katholische Kirche.81 Sozialdemokraten vertraten zwar ebenfalls die Ansicht, dass Mütter eigentlich keiner Berufsarbeit nachgehen sollten, prangerten allerdings die Berufsarbeit von Müttern nicht als Menetekel an. Die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung urteilte radikaler. In einer Umfrage 1958 sprachen sich 59 Prozent für ein Berufsverbot von Müttern aus. Dieser Befund entstand zu einem Zeitpunkt, als der negativ konnotierte Begriff vom „Schlüsselkind“ in der zeitgenössischen Debatte allgegenwärtig war. In der öffentlichen Auseinandersetzung stand das „Schlüsselkind“ als Synonym für kränkliche und verwahrloste Kinder, die streunend, von der Mutter allein gelassen, durch die Straßen liefen, Stehlen zu ihrem Hobby machten und mit dem ihnen um den Hals gehängten Schlüssel irgendwann die heimische Wohnung aufschlossen und dort unbeaufsichtigt Groschenliteratur lasen.82 1961 publizierte die Soziologin Elisabeth Pfeil ihre Studie Die Berufstätigkeit von Müttern, in der sie deren Arbeitsmotive und die gesellschaftlichen Folgen weiblicher Erwerbsarbeit für die „Normalfamilie“ diskutierte. In ihrer Analyse ging Pfeil auch auf die Kinderbetreuung ein und resümierte dabei, dass der Begriff „Schlüsselkind“ „symbolkräftig und gefühlsbeladen“83 sei und sich daher kaum für eine wissenschaftliche Analyse eigne. Zudem könne er unterschiedlich ausgedeutet werden und erfasse die soziale Lage der betroffenen Kinder letztlich nicht hinreichend.84 Um den Untersuchungsgegenstand überhaupt eingrenzen zu können, schlug Pfeil daher folgende Definition vor. Als „Schlüsselkind“ bezeichnete sie „das Kind, das während der Abwesenheit der Eltern ohne jegliche andere Betreuung oder Aufsicht bleibt, gewissermaßen also sein eigener Herr ist – was symbolisiert wird durch die Verfügungsgewalt über den Haustürschlüssel zur elterlichen Wohnung“.85 81

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BArch Koblenz B 153/1, „Lebensbaum darf keine Totenurne werden“. Erklärungen Wuermelings auf einer Kundgebung des Familienbundes, in: Tages-Anzeiger, 8. Februar 1955, Bl. 225; Fröhner/Stackelberg/Eser, Familie, 51, 55–58; Pfeil, Berufstätigkeit, 30ff.; Joosten, Frau, 44; Rölli-Alkemper, Familie, 118–122; SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/13/200, Material zu einigen Fragen der Familie in der DDR, ohne Ort, 4. Februar 1965, Bl. 69. Für eine ähnliche Argumentation vgl. Franz-Josef Wuermeling, Familienpolitik um der Gerechtigkeit willen, in: Deutsches Pfarrerblatt, Nr. 20, 1958. Sonderdruck, BA/Bestand B 191/109, in: Ruhl (Hg.), Frauen, 135. Vgl. Pfeil, Berufstätigkeit, 35f.; Löhr/Meyhöfer, Wandel, 601; Budde, Alles bleibt anders, 79; Kolbe, Elternschaft, 144; Schmidt, Problem, 171, 175; Oertzen, Teilzeitarbeit, 72f. Für diesen zeitgenössischen Topos vom „Schlüsselkind“ vgl. Speck, Kinder, 56. Pfeil, Berufstätigkeit, 326. Vgl. ebenda, VII, 326; Oertzen, Teilzeitarbeit, 78f.; Sommerkorn/Liebsch, Mütter, 106f. Zur Unterstützung des Nationalsozialismus durch Elisabeth Pfeil vgl. Schnitzler, Fallbeispiel, 328–331; Kuller, Familienpolitik, 102. Pfeil, Berufstätigkeit, 326.

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Entgegen der öffentlichen Debatte um die Kinder berufstätiger Mütter schloss Pfeils Eingrenzung somit jene Kinder aus, die während der Berufsarbeit der Mutter in Betreuungseinrichtungen wie Kindergärten untergebracht waren.86 Das reduzierte die Zahl der „Schlüsselkinder“ gegenüber der öffentlichen Debatte deutlich. Dort wurde eine Zahl von ungefähr drei Millionen „Schlüsselkindern“ kolportiert, die auf den Kinderarzt Theodor Hellbrügge zurückging und deren Validität stets angezweifelt worden war.87 Pfeil ging hingegen in ihrem Sample von 872 Familien von einem Anteil von 15 Prozent „Schlüsselkindern“ im weiteren und neun Prozent im engeren Sinn aus. Ihre Untersuchung zeigte darüber hinaus deutliche Unterschiede beim Alter der Kinder auf. In ihrem Sample gab es unter den Kleinkindern kein einziges „Schlüsselkind“. In der Altersstufe bis 10 Jahren waren fünf Prozent „Schlüsselkinder“. Erst bei den zehn- bis 15-Jährigen erreichten sie mit 31 Prozent einen nennenswerten Anteil. Es fällt noch eine schichtenspezifische Unterscheidung auf, da sie in den Haushalten ungelernter Arbeiterinnen überproportional vertreten waren.88 Generell stellte sich für berufstätige Mütter die Frage, wie sie die Kinder während ihrer Abwesenheit versorgen sollten. Die Plätze in Kinderkrippen und Kindergärten reichten bei weitem nicht aus. 1958 gab es in Westdeutschland 2,5 Millionen berufstätige Mütter mit mindestens einem Kind, denen lediglich 818.668 Plätze in Kindergärten und -krippen gegenüberstanden. Entweder waren folglich die Kindergärten und -horte überfüllt oder weit vom Wohnort der Familie entfernt. Die Mütter griffen daher in zahlreichen Fällen auf die Hilfe der Großmütter zurück, die tagsüber die Kindererziehung übernahmen. Damit fand sich in vielen Familien ein Arrangement, das die Kinder tagsüber nicht sich selbst überließ.89 In der DDR stellte sich eine solche Frage sogar noch dringender, schließlich galt dort die berufstätige Mutter als Ideal. Doch wie im Westen existierte ein eklatanter Mangel an Kindergärten und Kinderkrippen. 1950 gab es in der DDR lediglich 194 Kinderkrippen, 130 unter staatlicher bzw. kommunaler und 61 86 87

88 89

Vgl. ebenda. Vgl. Kuller, Familienpolitik, 68–71; Moeller, Mütter, 223; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 256–259; Schmidt, Problem, 173; Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft [1966], 18f. Gegen Mitte der 1960er Jahre schätzte das Familienministerium die Zahl der „Schlüsselkinder“ auf ca. 185.000. Vgl. BArch Koblenz B 136/4539, Entwurf eines Beitrages des Bundesministeriums für Familie und Jugend zu einem Schlußwort des Herrn Bundeskanzlers auf dem Kongreß berufstätiger Frauen der CDU über das Thema „Frauen und Arbeitswelt morgen“ am 4. Dezember 1964. Vgl. Pfeil, Berufstätigkeit, 327, 339–343. Vgl. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 3. WP 141, Richtlinien zur Familienpolitik (Unterlagen zur Pressekonferenz 11. April 1961), in: Pressemitteilungen und Informationen der SPD, Nr. 100/61, 11. April 1961, 1–2, hier 2; Baumert, Familien, 70; Pfeil, Berufstätigkeit, 332–339; Oertzen, Teilzeitarbeit, 323; Ruhl, Unterordnung, 128–145, 176–182; Schmidt, Problem, 178.

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unter betrieblicher bzw. drei unter kirchlicher Aufsicht. Auf 1.000 Kinder kamen 6,3 Krippenplätze. Bis 1960 stieg die Zahl der Krippen auf 2.517 an, davon waren 84 Prozent in öffentlicher und der Rest in betrieblicher Hand. Somit standen nun 1.000 Kindern ca. 128 Krippenplätze gegenüber. Dagegen existierten weitaus mehr Kindergartenplätze. Für die Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren standen 1950 immerhin schon 209.101 Plätze in 4.194 öffentlichen Kindergärten zur Verfügung. Damit konnte ungefähr ein Viertel der Kinder eine Tagesstätte besuchen. Bis 1955 erhöhte sich der Anteil auf ein Drittel. Im Jahr 1960 belief er sich auf 46 Prozent. Darüber hinaus gab es 1949 etwa 300 kirchliche Kindergärten, deren Anzahl aber aufgrund staatlicher Regulierung nicht erhöht wurde. Ferner erhielten sie keine staatliche Förderung.90 Insgesamt standen in Ostdeutschland während der 1950er Jahre nicht genügend Plätze in Kinderbetreuungseinrichtungen zur Verfügung. Es zirkulierten in den Medien zudem Berichte über den desolaten Zustand der Einrichtungen. So sei das Essen „sehr schlecht zubereitet“ und „zu wenig“ oder es gebe vereinzelt überhaupt keine Nahrung. Infolgedessen entschieden sich vermutlich zahlreiche Mütter, ihre Kinder nicht in die Obhut der Tagesstätten zu geben. Vielmehr wollten sie ihre Kinder selbst aufziehen. Auch wenn vereinzelt nicht berufstätige Familienangehörige einsprangen, so blieb Kindererziehung in der sozialen Praxis in Ostdeutschland ebenfalls die Aufgabe der Mutter. Die staatlich gelenkte Diskussion hingegen favorisierte die Erziehung der Kinder in Kindergärten oder anderen Einrichtungen, da sie damit die Hoffnung verband, die Erwerbsquote der Mütter maßgeblich zu steigern. Zudem ließen sich so die Erziehungsziele staatlich kontrollieren.91 In der westdeutschen „Schlüsselkind“-Debatte stand hingegen zur Diskussion, wie die Berufstätigkeit der Mutter zu Lasten der Kinder gehe. Parallel debattierten aber in der Bundesrepublik Politiker, Wissenschaftler und Kirchen noch über ein zweites Thema: die Folgen für die Mutter, wenn sie neben Beruf noch Haushalt und Kindererziehung zu übernehmen hatte. Generell lässt sich festhalten, dass berufstätige ledige wie verheiratete Mütter aufgrund langer Arbeits- und Pendelzeiten einer erheblichen Belastung ausgesetzt waren. Außerdem hatten sie kaum Freizeit, und oft waren auch ihre Schlafenszeiten nur kurz, da sie vor und nach der Arbeit die anfallenden Hausarbeiten erledigen mussten. Die Folgen der Arbeitslast bzw. der Überlastung zeigten sich insbesondere gesundheitlich, wie dies auch schon in der Zwischenkriegszeit der Fall

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91

Vgl. BArch Berlin DQ 1/2245, Verordnung über die Einrichtung der vorschulischen Erziehung und der Horte vom 18. September 1952, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Nr. 134, Berlin, 24. September 1952, 888–889; Wierling, Jahr, 73; Helwig, Familienpolitik (1949–1961), 510f.; Kaminsky, Frauen, 100f. Vgl. Wierling, Jahr, 74f.; Grossmann, Sex, 193ff.; Helwig, Familienpolitik (1949–1961), 511; Budde, Frauen, 51; Obertreis, Familienpolitik, 141; Schwartz, Emanzipation, 61.

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gewesen war.92 Dieser Befund wurde zudem von zeitgenössischen Beobachtern in ein normatives Argument umgedeutet. Aufgrund der Mehrfachbelastung gehe für die Mutter mit einer Berufsarbeit kein Gewinn an Freiheit und Unabhängigkeit einher. Vielmehr stelle sich das Gefühl der „Arbeitsüberlastung“93 ein. Nach Schelskys Interpretation lief Berufsarbeit sogar der Emanzipation entgegen.94 Die Ehefrauen und Mütter müssten schließlich Berufstätigkeit mit Haushaltsführung und Kindererziehung kombinieren, was zwangsläufig zu einer „Funktionsüberlastung“95 führe. Inhaltlich schloss Schelsky damit an die Argumentation Hilde Thurnwalds an, die 1948 bereits die Arbeitsüberlastung der Mütter angeprangert hatte.96 Aus dieser Perspektive konnte somit wie schon in der Zwischenkriegszeit argumentiert werden, dass die Berufstätigkeit zum Schutz sowohl von Kindern als auch von Müttern abzulehnen sei. Schelsky ging aber noch weiter und sprach sich generell gegen die Berufstätigkeit von Frauen aus. Darin zeige sich „die menschliche Unergiebigkeit und Familienfeindlichkeit dieses durch die Not erzwungenen Emanzipationserfolges immer mehr“.97 Die Berufstätigkeit von Frauen sei nicht die Folge einer freien Willensentscheidung, sondern das Produkt wirtschaftlicher Not.98 Dieses Argument war in den 1920er Jahren bereits bekannt gewesen, jedoch nicht in Schelskys Radikalität. Damit lieferte Schelsky gleichsam denjenigen argumentative Munition, die sich in Westdeutschland mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber weiblicher Berufsarbeit von der DDR abgrenzten. Weniger polemisch, doch nicht minder analytisch scharf argumentierte in etwa zeitgleich der Soziologe Baumert. Er stufte die zunehmende Berufsarbeit von Frauen als ein sich verbreitendes soziales Phänomen ein, das sich gerade in Familien aus einkommensschwachen Schichten wiederfinde. Zudem hielt Baumert fest, dass dem Umfang weiblicher Berufsarbeit aufgrund ihrer Pflichten als Hausfrau und Mutter Grenzen gesetzt seien. Damit stellte er ebenfalls die traditionellen Geschlechterrollen nicht infrage. Im Unterschied zu Schelsky und Politikern wie Wuermeling bewertete er aber diese Entwicklung nicht als eine Ursache der „Krise für die Familie“. Vereinzelt verbanden die Frauen mit dem Wunsch, arbeiten zu gehen, durchaus die Vorstellung, sich von den Rollen als Hausfrau und Mutter zu emanzipieren. In der großen Mehrzahl der Fälle war es aber schlicht eine wirtschaftliche Notwendigkeit. In Arbeiterfamilien reichte viel92 93 94 95 96 97 98

Vgl. Gerhardt, Frauenrolle, 47; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 243–256, 286; Hinze, Lage. Schelsky, Wandlungen, 308. Vgl. ebenda, 308f.; Schütze, Erwerbstätigkeit, 118. Schelsky, Wandlungen, 338. Vgl. Thurnwald, Gegenwartsprobleme, 27. Schelsky, Wandlungen, 312. Zur Rezeption des Arguments von der „‚Emanzipation aus Not“ vgl. Moeller, Mütter, 189f.; Budde, Pièce, 7.

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fach das Einkommen des Ehemannes nicht aus, um die Familie zu ernähren. In der unteren Mittelschicht fand sich dieses Argument ebenfalls. Darüber hinaus wollten die Mütter mit ihrem Einkommen dazu beitragen, den Lebensstandard zu erhöhen. Mit ihrem Verdienst sollten also gerade Konsumgüter angeschafft werden. Vielfach ging es den Familien auch darum, den sozialen Status aus der Vorkriegszeit wiederzuerlangen. Das Hauptmotiv für die Berufsarbeit der Ehefrauen war es folglich, das soziale Ansehen der Familie zu erhöhen. Baumert identifizierte damit ähnliche Gründe wie Schelsky für die Berufsarbeit von Ehefrauen und Müttern, versah diese jedoch nicht mit einer stark normativen Bewertung.99 Gleichzeitig belegt dieser Befund aber auch, dass die berufstätigen Mütter ihre Individualinteressen nicht über die Gemeinschaftsinteressen der Familie stellten, wie dies unter anderem Wuermeling immer wieder anprangerte.100 Vielmehr waren die Interessen der Familiengemeinschaft der handlungsleitende Faktor. Die Mütter wollten das finanzielle Überleben der Familie genauso wie ihren sozialen Status innerhalb der Gesellschaft sicherstellen. Laut einer Erhebung vom Sommer 1959 trugen 72 Prozent der berufstätigen Mütter immerhin zwischen 25 und 50 Prozent zum Familieneinkommen bei und 23 Prozent sogar zwischen 50 und 75 Prozent. Sie leisteten damit einen erheblichen Anteil am wirtschaftlichen Überleben ihrer Familie bzw. für den Erwerb von Konsumgütern.101 Allerdings verschob sich in den 1950er Jahren die Gewichtung der Gründe für die weibliche Berufsarbeit, wie die Soziologin Elisabeth Pfeil 1961 betonte. Die meisten Mütter gaben zwar weiterhin an, dass ihr Mann nicht genug verdiene. Doch in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ging es weniger um das finanzielle Überleben der Familie. Vielmehr wollten die Mütter mit ihrem Einkommen dazu beitragen, dass sich die Familie ein Haus oder eine Wohnung mit entsprechender Einrichtung leisten könne. Pfeil thematisierte neben diesen Hauptmotiven für Berufsarbeit auch eher psychologische Gründe wie „Berufsbindung“, d. h. die „Liebe zum Beruf “, und „Unabhängigkeit“ vom Ehemann. Sie fanden sich in elf bis 13 Prozent der Fälle, wobei finanziell besser gestellte Familien weit überdurchschnittlich vertreten waren. In Familien von höheren Beamten und Akademikern gaben diesen Grund sogar 47 Prozent der Befragten an. Zudem unterschied Pfeil zwischen zwei sekundären Motiven. So blieben diese eher emotionalen Gründe 99

100 101

Vgl. Baumert, Familien, 52ff., 69f. Für dieses Argument siehe auch Meyer/Schulze, Auswirkungen, 291–296. Die Forschung hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die Berufsarbeit von Ehefrauen und Müttern als Indikator für eine wirtschaftliche Notlage der Familie herangezogen werden kann. Vgl. Budde, Women’s Finest Hour, 54; Löhr/Meyhöfer, Wandel, 602. Vgl. Joosten, Frau, 44; Cornelissen, Rollenmuster, 53. Vgl. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 3. WP 141, Richtlinien zur Familienpolitik (Unterlagen zur Pressekonferenz 11. April 1961), in: Pressemitteilungen und Informationen der SPD, Nr. 100/61, 11. April 1961, 1–2, hier 1.

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für Berufsarbeit stets mit wirtschaftlichen Überlegungen verknüpft, sodass sich kein Ablösungsprozess vollzog. Stattdessen verzahnten sich wirtschaftliche und psychologische Gründe für die Berufsarbeit von Müttern in den 1950er Jahren immer stärker.102 Die Zahl der erwerbstätigen westdeutschen Mütter stieg darüber hinaus zwischen 1950 und 1971 deutlich von 1,5 Millionen auf 2,7 Millionen an. Auch der prozentuale Anteil der berufstätigen Mütter nahm zu. 1950 waren erst 24,3 Prozent berufstätig gewesen und 1961 bereits 34,7 Prozent. 1970 belief sich ihr Anteil auf 35,7 Prozent und 1980 sogar auf 42,3 Prozent. Dass in den 1950er Jahren prozentual die stärkste Zunahme erfolgte, erklärt auch, warum gerade in diesem Zeitraum die Debatte mit solcher Vehemenz geführt wurde. Die außerhäusliche Berufsarbeit von Müttern stand nicht nur dem Ideal der bürgerlichen Kernfamilie entgegen, sie nahm als soziales Phänomen insgesamt zu. Die Historikerin Christine von Oertzen betont in diesem Zusammenhang, dass sich die gesellschaftliche Einstellung zur Frauenarbeitszeit zwischen 1955 und 1965/67 grundlegend verschoben habe. Zum Beispiel verbreitete sich das Modell der Teilzeitarbeit, welches es Frauen ermöglichte, Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren. Während 1957 erst 18 Prozent aller berufstätigen Frauen in Teilzeit arbeiteten, d. h. weniger als 40 Stunden, waren es 1965 bereits fast ein Viertel. Zwischen 1961 und 1965 unterstützten gerade die EKD und die evangelischen Frauenverbände dieses Arbeitszeitmodell, was dessen gesellschaftliche Akzeptanz erhöhte.103 Die Kinderzahl beeinflusste stets die Neigung der Mütter, einer Berufsarbeit nachzugehen. Während sich der Anteil der berufstätigen Mütter mit einem Kind unter 15 Jahren von 22,5 Prozent im Jahr 1950 auf 46,2 Prozent 1982 erhöhte, stieg der Anteil von Müttern mit zwei Kindern zwar noch von 21,8 Prozent auf 36,7 Prozent, von Müttern mit drei Kindern demgegenüber nur geringfügig von 26 Prozent auf 30 Prozent.104 Die Modelle der Halbtags- oder Teilzeitarbeit erleichterten es den Frauen, Beruf und Familie miteinander zu kombinieren. Da sie aber weiterhin neben der Berufsarbeit auch für Haushaltsführung und Kindererziehung zuständig waren, blieb eine Dreifachbelastung bestehen. Gerade in Familien mit mehreren Kindern war die häusliche Arbeitslast erheblich, weshalb in diesen Fällen zahlreiche Mütter trotz finanzieller Sorgen nicht arbeiten gingen.105 Selbst wenn die Mütter mit der Geburt ihrer Kinder aus dem Erwerbsleben ausschieden, änderte dies vielfach nichts an den drei Aufgaben.

102 103

104 105

Vgl. Pfeil, Berufstätigkeit, 76–88, 117–123. Vgl. Oertzen, Teilzeitarbeit, 12f., 112; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 245; Kuller, Familienpolitik, 60f.; Sommerkorn/Liebsch, Mütter, 101, 123. Ähnlich bei Oertzen/Rietzschel, Kuckucksei; Oertzen, Abschied. Vgl. Pfeil, Berufstätigkeit, 15ff.; Sommerkorn, Mutter, 117. Vgl. Ruhl (Hg.), Frauen, 205f.

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Zahlreiche Frauen verdienten sich oft mit Heimarbeit ein kleines Zubrot, wie Lebenserinnerungen an die zweite Hälfte der 1950er Jahre aufzeigen.106 Das Spannungsverhältnis zwischen den unterschiedlichen Rollen der Frau nahmen die schwedische Sozialwissenschaftlerin Alva Myrdal und die englische Soziologin Viola Klein 1956 in ihrem Buch Women’s Two Roles in den Blick, das mit dem Titel Die Doppelrolle der Frau in Familie und Beruf ins Deutsche übersetzt wurde. Die Autorinnen plädierten dafür, dass Frauen sowohl ein Recht auf Familie als auch auf Berufsarbeit hätten. Da sich gerade Letztere in westlichen Industrienationen wie eine „stille Revolution“107 verbreitet habe, sei die Berufsarbeit von Frauen mittlerweile ein Charakteristikum moderner Gesellschaften, lautete eine ihrer Kernaussagen. Als eine zentrale Ursache für diese Veränderung identifizierten Myrdal und Klein eine Verschiebung im weiblichen Lebenslauf. Im Unterschied zum frühen 20. Jahrhundert handele es sich bei der Ehe und der Kindererziehung nicht mehr um einen „Lebensberuf der Frau“.108 Vielmehr setze sich in industrialisierten Nationen der Normallebenslauf einer Frau aus drei Phasen zusammen: Zunächst arbeiteten Frauen bis zur Heirat, schieden mit der Familiengründung aus dem Beruf aus, kehrten dann aber wieder ins Erwerbsleben zurück, sobald das jüngste Kind ein Alter von neun Jahren erreicht habe. Myrdals und Kleins idealtypischer Entwurf des weiblichen Lebenslaufs entsprach insofern tradierten Geschlechterrollen, als darin Frauen mit der Geburt der Kinder temporär ihren Beruf aufgaben. Damit ließen sich Beruf und Familie zwar sequenziell, aber nicht parallel realisieren.109 Der Lebensabschnitt als Mutter, die Phase „aktiver Mutterschaft“,110 verweise die Frauen damit auf die tradierten Geschlechterrollen und umfasse nach Myrdals und Kleins Berechnungen höchstens 15 Jahre. Sie gingen von drei Grundannahmen aus. Erstens habe die durchschnittliche Familie zukünftig drei Kinder. Zweitens werde das erste Kind zwei Jahre nach der Eheschließung geboren. Drittens betrage das Intervall zwischen den Geburten jeweils zwei Jahre. Somit werde das dritte Kind nach sechs Ehejahren geboren und müsse bis zu seinem neunten Lebensjahr von der Mutter beaufsichtigt werden. Für die Frauen bedeute dies bei einem durchschnittlichen Heiratsalter von 25 Jahren, dass sie im Alter von 40 Jahren wieder in das Berufsleben einstiegen.111 Myrdals und Kleins Überlegungen orientierten sich an statistischen Mittelwerten, der Familienalltag der Mehrzahl der Familien wich hiervon jedoch ab. Von einem Drei-Phasen-Modell konnte schon allein deswegen nicht gesprochen werden, 106 107 108 109 110 111

Vgl. DTA 23; Oertzen, Teilzeitarbeit, 12. Myrdal/Klein, Doppelrolle, 134. Ebenda, 56. Vgl. ebenda, 19, 54ff.; Oertzen, Teilzeitarbeit, 95–98; Kuller, Familienpolitik, 67f.; Etzemüller, Romantik, 262–268; Kuller, Ungleichheit, 72f.; Schulz, Sicherung, 130. Myrdal/Klein, Doppelrolle, 72. Vgl. ebenda, 54ff.

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weil in den 1950er Jahren zahlreiche Frauen ihren Beruf auch nach einer Heirat nicht aufgaben und infolgedessen der Anteil der erwerbstätigen Mütter mit Kindern stetig anstieg.112 Mutterschaft stellte trotz aller Veränderungen in den 1950er und frühen 1960er Jahren weiterhin den Kern des westdeutschen weiblichen Lebenslaufs dar. Auch Elisabeth Pfeil vertrat diese Position in ihrer 1961 erschienenen Studie, da das Ideal der nicht-berufstätigen Mutter den normativen Bezugspunkt für ihre Analyse bildete.113 Auch für die meisten der befragten Mütter blieb dieser Orientierungsrahmen bestehen. Immerhin sprachen sie aber vereinzelt den Zusammenhang von Berufsarbeit und Gleichberechtigung bzw. die wirtschaftliche und soziale Unabhängigkeit vom Ehemann an. Pfeil ging sogar davon aus, dass die Mütter untereinander diesen Punkt wesentlich häufiger thematisierten als in der Befragung. Einen umfassenden Wandel der Geschlechterrollen lehnten die Frauen jedoch explizit ab, da sie einen negativen Effekt für das Familienleben und für die Kinder fürchteten. Sie reproduzierten hier somit indirekt Argumente, die in der medialen und politischen Debatte immer wieder zur Sprache kamen.114 Auch die Ehemänner positionierten sich dezidiert gegen die Berufsarbeit ihrer Frauen, was allein Pfeils Kapitelüberschrift „Das verletzte Rollenbewußtsein“115 zum Ausdruck brachte. Zahlreiche Männer hatten Angst um ihren sozialen Status, so die dahinterstehende implizite Annahme Pfeils. Einige Männer brachten ihre Abneigung durchaus zum Ausdruck. Im Interview gab eine 31-jährige Friseurin mit einem zehnjährigen Kind an, ihr Mann sei „eigentlich nicht“ gegen ihre Berufsarbeit. „Ich bin dagegen“,116 warf der anwesende Ehemann sogleich ein und widersprach damit seiner Frau. Wenn die Frauen in den Befragungen angaben, ihr Mann „dulde“ ihre Berufstätigkeit oder habe sich „damit abgefunden“,117 schlussfolgerte Pfeil, dass sich hierunter im Grunde eine ablehnende Haltung verberge. Die Antworten der Befragten unterschieden sich auch je nach sozialem Status. Während Akademiker und Selbständige weitaus eher mit der Berufsarbeit ihrer Frauen einverstanden waren, duldeten Angestellte ihr Verhalten meist und Arbeiter äußerten sich mehrheitlich negativ. Über die sozialen Grenzen hinweg lag aber eine wichtige Gemeinsamkeit vor: Wenn der Ehemann die Berufstätigkeit seiner Frau positiv beurteilte, gelang es den Frauen wesentlich besser, die doppelte Belastung von Beruf und Familie zu schultern. Eine Mithilfe bei den 112 113 114 115 116 117

Vgl. Sommerkorn, Mutter, 117; Sommerkorn/Liebsch, Mütter, 101; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 226ff. Ähnlich bei Born, Ei. Vgl. Pfeil, Berufstätigkeit, 55f.; Sommerkorn, Mutter, 123, 128; Liebsch, Elisabeth Pfeil, 209, 211; Oertzen, Teilzeitarbeit, 344f. Vgl. Pfeil, Berufstätigkeit, 163–168, 185–191. Ebenda, 234. Ebenda. Ebenda, 237.

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Hausarbeiten wünschten sich diese Frauen nicht. Schon eine Anteilnahme an ihrer Aufgabenlast helfe ihnen, gaben die berufstätigen Mütter selbst an. Damit hatte die Einstellung des Ehemannes nicht nur zentralen Einfluss darauf, wie sich für Frauen Beruf und Familie vereinbaren ließen. Zudem beeinflusste sein Verhalten maßgeblichen, wie zufrieden die Ehefrauen mit ihrer Paarbeziehung waren.118

5.3 Ambivalente Interpretationen der Geschlechterrollen 5.3.1 Abgeschwächte Hierarchie, klare Aufgabentrennung und keine Gleichberechtigung

Bei der Aufgabenverteilung innerhalb der Familie zeigten sich wenige Abweichungen vom Ideal der Kernfamilie mit einem verheirateten Ehepaar. In der DDR lag in diesem Punkt vielmehr eine Devianz vom sozialistischen Ideal der Gleichberechtigung vor, sofern man darunter eine egalitäre Aufgabenverteilung verstand. Letztere entsprach allerdings in den 1950er Jahren nicht den gesellschaftlich akzeptierten Vorstellungen, wie dies auch der ostdeutsche Sozialhygieniker Neubert 1957 in seinem Ehebuch darlegte. „Gemeinsamkeit, Gleichberechtigung heißt auf keinen Fall, daß jeder Ehepartner dasselbe Maß an Arbeit verrichten oder in gleicher Weise auf etwas verzichten muß“,119 erklärte er und negierte damit faktisch eine völlige Gleichberechtigung. Neubert orientierte sich damit an der Vorstellung, dass Mann und Frau zwar gleichwertig, aber nicht gleichartig seien.120 Neubert ging aber noch auf einen weiteren wichtigen Punkt ein, als er betonte, dass mit einer rechtlichen Gleichberechtigung keinesfalls eine Gleichberechtigung in der sozialen Praxis einhergehe. Denn eine Gesetzesänderung bringe nicht zwangsläufig ein anderes Verhalten mit sich.121 Folglich hatte die staatlich propagierte Gleichberechtigung in der DDR für den Familienalltag zunächst wenig direkte Folgen. Weitaus stärker wirkten sich die Veränderungen hingegen auf das Leben der Frauen aus. Schließlich entwickelte sich zunächst für ledige Frauen, dann im Laufe der 1950er Jahre auch für geschiedene und verheiratete Frauen das „Recht auf Arbeit“ zur „Pflicht zur Arbeit“.122 Dadurch erhöhte sich nicht nur 118 119 120 121 122

Vgl. ebenda, 234–241, 369–375; Hinze, Lage, 17. Neubert, Ehebuch (1957), 257; ders., Ehebuch (1972), 256. Vgl. Neubert, Ehebuch (1957), 262; ders., Ehebuch (1972), 259. Vgl. Neubert, Geschlechterfrage, 7. Obertreis, Familienpolitik, 73, 119, 155.

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die Zahl der potenziellen Arbeitskräfte. Der Staat bekam auch verstärkt die Möglichkeit, Frauen zu beeinflussen, da sie sich nicht mehr in den Privatraum Familie zurückziehen konnten. Aus der individuellen Perspektive der Frauen bedeutete die Veränderung, dass sie Beruf und Familie miteinander vereinbaren mussten, wohingegen die SED-Führung dies von Männern nicht einforderte. Deren primäre Zuständigkeit lag auch weiterhin in der Rolle des Ernährers. Ihre Beteiligung an der Hausarbeit beschränkte sich dabei in der Regel auf eine gelegentliche Unterstützung.123 Im Unterschied zur DDR verwiesen westdeutsche Politiker, Kirchenvertreter und Sozialwissenschaftler wie Helmut Schelsky die Frauen auf den Binnenraum der Familie. Ihr sozialer Status leitete sich sogar daraus ab. Wenn der Verdienst des Mannes ausreichte, um die Familie zu ernähren, dann genossen die Frauen wie auch ihre Familie wesentlich mehr soziales Prestige als Familien mit berufstätigen Müttern. Die „Nur-Hausfrau“ galt somit als soziales Distinktionsmerkmal und anzustrebendes gesellschaftliches Ideal.124 In Westdeutschland erhob Wuermeling den „Mutterberuf “ sogar zum „Hauptberuf “125 der Frau. Zudem war das Schieben eines Kinderwagens in den 1950er Jahren nicht mit den gesellschaftlich akzeptierten Vorstellungen von Männlichkeit vereinbar. Kindererziehung fiel demnach neben der Haushaltsführung in beiden Teilen Deutschlands wie schon zur Zwischenkriegszeit weiterhin in den Zuständigkeitsbereich der Ehefrau und Mutter. In diesem Punkt veränderten sich somit weder die Debatten über die Ideale noch der Familienalltag.126 Während die Mehrheit der Frauen die Rollen als Hausfrau und Mutter nicht hinterfragte, befürworteten aber in den 1950er Jahren selbst katholische Frauen nicht mehr eine vorbehaltlose Unterordnung gegenüber ihrem Ehemann. Auf der Tagung des Katholischen Akademikerverbandes 1951 sprachen renommierte Theologen und Rechtswissenschaftler über die zukünftige Ausgestaltung des Familienrechts. Dabei setzte sich der Jurist Friedrich Wilhelm Bosch für ein patriarchalisches Geschlechterrollenmodell ein. Diese Position lehnten die katholischen Akademikerinnen ab. Einige von ihnen blieben in diesem Jahr 123 124 125

126

Vgl. ebenda; Budde, Women’s Finest Hour, 54, 77f.; Peuckert, Familienformen (2012), 410; Gysi/Meyer, Leitbild, 141; Helwig, Familienpolitik (1961–1971), 498. Vgl. Steinbacher, Sex, 182f.; Vogel, Familie, 54; Budde, Alles bleibt anders, 78f.; Baumert, Familien, 70; Pfeil, Berufstätigkeit, 76–88. ACDP 01-221-017, Die Familie von heute und ihre Erziehungskraft. Der Bundesminister für Familien- und Jugendfragen vor der Westfälischen Direktorenkonferenz, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 127, 13. Juli 1961, 1238. Siehe auch ACDP 01-221-017, Franz-Josef Wuermeling, Die Familie von heute und ihre Erziehungskraft. Neben tiefgreifenden Gefahren viele neue Chancen – Erziehung und Bildung in Elternhaus und Schule müssen einander ergänzen, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 238, 21. Dezember 1961, 2241–2243, hier 2241f. Vgl. Löhr/Meyhöfer, Wandel, 608; Rölli-Alkemper, Familie, 97–100; Joosten, Frau, 41.

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sogar der Tagung des Katholischen Akademikerverbandes fern. Innerhalb des Katholizismus gab es somit deutliche Konfliktlinien hinsichtlich der Rollen der Frauen, wobei gerade Akademikerinnen eine andere Ansicht vertraten als die Vertreter der Amtskirche und führende katholische Rechtswissenschaftler. Die Frauenverbände, so die zeitgenössische Beobachtung, befanden sich sogar „in einer gewissen Kampfsituation“.127 Aus der Perspektive der evangelischen Kirche, die unter anderem mit dem Pfarrer Walter Becker und dem Kirchenrechtler Hans Dombois zwei Beobachter zum Kongress entsandt hatte, schien Boschs Position nicht so radikal, wie die Vertreterinnen der Frauenverbände erklärt hatten. Bosch sei „im übrigen keineswegs so konservativ, wie man meinen könnte“,128 resümierte Becker. Bosch habe sich weitgehend an den Vorschlägen des Juristentages orientiert, der sich bereits 1950 mit der Frage auseinandergesetzt hatte, welche rechtliche Position Frauen in der westdeutschen Gesellschaft einnehmen sollten. Lediglich „für den letzten Konfliktfall“ favorisiere er den Stichentscheid des Mannes – d. h. sein Recht auf das letzte Wort. Becker begründete die ablehnende Haltung der Frauen dabei nicht mit sachlichen Einwänden. Vielmehr sage Boschs Art der Präsentation den Katholikinnen wenig zu. Sie stünden ihm folglich nicht aufgrund rationaler Argumente, sondern vielmehr auf der Basis ihrer subjektiven Einschätzung negativ gegenüber. „Er [. . . ] trägt seine Meinung in einer streng sachlichen, wissenschaftlichen Diktion vor, die bekanntermaßen Frauen so wenig liegt und ihren Widerspruch hervorruft“, stellte Becker klar und ging sogar noch einen Schritt weiter: „In Wirklichkeit sind Boschs Vorschläge so, daß sie viele Wünsche der Frauenbewegung berücksichtigen.“129 Damit stellte sich Becker nicht nur auf die Seite Friedrich W. Boschs. Er erklärte darüber hinaus, dass der Widerspruch der Frauen weder rational noch sachlich zu begründen sei. Becker lehnte ebenfalls den lautstarken Applaus der Teilnehmerinnen ab, der auf der Tagung immer wieder zu hören gewesen sei, sobald ihre Position in einer Verlautbarung vertreten worden sei. Generell müsse die Frage der Gleichberechtigung, so Becker, sachlich-rational, d. h. von Männern, und nicht emotional, d. h. von Frauen, verhandelt werden. Trotz der formalen Gleichberechtigung war es seiner Ansicht nach wichtig, die Geschlechterunterschiede zu berücksichtigen. In dieser Position überschnitt sich somit die Einschätzung der beiden Kirchen wie auch katholischer und evangelischer Juristen. Sie teilten nicht nur die geschlechtertypische Aufgabenverteilung, sondern auch die Vorrangstellung des Ehemannes gegenüber der Ehefrau.130 127

128 129 130

ADW CAW 399, Aktenvermerk, Betr.: Tagung über Fragen des Familienrechts des Katholischen Akademikerverbandes im Kollegium Leonium zu Bonn vom 10.–12. März 1951, Bethel/Bielefeld, 14. März 1951, 1. Ebenda, 1f. Ebenda, 2. Vgl. Rölli-Alkemper, Familie, 95ff., 540f.; Moeller, Mütter, 136ff., 154f.; Schwab, Gleichberechtigung, 807f., 896f.; Keil, Veränderungen, 201f.; ders., 50 Jahre, 143f.; ADW CAW 399,

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Allerdings lagen innerhalb der evangelischen Kirche durchaus Differenzen vor, die in den Debatten um den Stichentscheid Konflikte hervorriefen. Der Rat der EKD erklärte sich höchstens bereit, das Entscheidungsrecht des Mannes in der Ehe zu streichen. Bei der Kindererziehung sollte es hingegen erhalten bleiben. Die Evangelische Frauenarbeit wie auch die evangelische Kirche im Rheinland teilten diesen Standpunkt jedoch nicht. In der Stellungnahme der Synode gegenüber dem Justizminister kamen diese Differenzen zur Sprache, sodass die EKD letztlich keine einheitliche Position vertrat. Die EKD votierte somit lediglich dafür, den Stichentscheid bei der Kindererziehung nicht zu streichen. Immerhin rang sich die Kirche zumindest dazu durch, Schutzmaßnahmen zu fordern, damit der Vater seine Vorrangstellung nicht zu Lasten der Frau durchsetzen könne. Die Kirchen assoziierten während der 1950er Jahre mit dem männlichen Vorrecht gegenüber der Frau auch einen zentralen Aspekt von Vaterschaft: Autorität galt als elementarer Bestandteil der Vaterrolle. Im katholischen Verständnis konnte sie auch als versinnbildlichte göttliche Autorität verstanden werden, schließlich handelte es sich bei der Familie um die „Kirche im Kleinen“.131 Während insofern eine patriarchalische Geschlechterhierarchie nicht auf ungeteilten Zuspruch stieß, akzeptierten die Vertreterinnen der katholischen Frauenorganisationen nach einer Einflussnahme Prälat Böhlers und nach Diskussionen mit den Juristen Friedrich W. Bosch, Gustav Ermecke und Hermann Conrad die unterschiedlichen Aufgabensphären von Mann und Frau. Auf einer gemeinsamen Tagung des Bundesministeriums des Innern mit Frauenorganisationen 1952 traten die Repräsentantinnen der katholischen Frauenorganisationen, wie der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands und des Katholischen Deutschen Frauenbundes, öffentlich für die unterschiedlichen Geschlechterrollen ein. Infolge der „Verschiedenartigkeit der Geschlechter“ müssten Ehemann und -frau auch „verschiedenartige Aufgaben und Funktionen“ übernehmen, erklärten sie. Aufgrund der „natürlichen Ordnung“ obliege dabei dem Ehemann schließlich die „Führungsfunktion“,132 lautete ihr Tenor. Insofern sprachen sich bei weitem nicht alle Katholikinnen für eine Gleichberechtigung aus. Anders positionierten sich die Vertreterinnen anderer Frauenorganisationen auf der Tagung. Sie betonten, dass in einer Ehe gemeinsam entschieden werden

131

132

Aktenvermerk, Betr.: Tagung über Fragen des Familienrechts des Katholischen Akademikerverbandes im Kollegium Leonium zu Bonn vom 10.–12. März 1951, Bethel/Bielefeld, 14. März 1951, 1f. Vgl. ADW CAW 1114, Mitteilung der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland, Nr. 46, Frankfurt am Main, 20. Mai 1952, 3; ADW Allg. Slg. 1170, Hansjürg Ranke, Evangelische Stellungnahme zum Ehe- und Familienrecht, in: Wörterbuch der Politik. Heft VII. Ehe und Familie (1). Sonderdruck (Freiburg 1956), 74–82, hier 77; Keil, Veränderungen, 201f.; ders., 50 Jahre, 143f.; Rölli-Alkemper, Familie, 80, 103f. ADW CAW 1114, Niederschrift des Bundesministeriums des Innern über die Tagung mit den zentralen Frauenorganisationen am 10. und 11. Juni 1952, Anlage zu 1640 A 313/52, 4.

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müsse, da dies Ausdruck von Gleichberechtigung sei. Auch müssten, so eine weitere Forderung, Frauen und Männern die gleichen Rechte und Pflichten zugesprochen werden.133 Diese Konflikte verweisen auf den männlichen „Stichentscheid“, wonach der Ehemann in strittigen Fragen seine Frau überstimmen konnte. Gerade in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre stellten katholische und evangelische Laien die patriarchalische Geschlechterordnung aber zusehends infrage.134 Auch das „Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet der bürgerlichen Ehe“ vom Juni 1957, das sogenannte Gleichberechtigungsgesetz bzw. Familienanpassungsgesetz, verfolgte diese Linie. Das Gesetz stärkte geringfügig die Rechte der Frau, realisierte aber keinesfalls ihre Gleichberechtigung. Das Gesetz festigte in der Bundesrepublik das Modell der „Hausfrauenehe“, da es die tradierten Geschlechterrollen festschrieb. Schließlich war die Frau weiterhin für die Haushaltsführung zuständig und durfte zudem nur arbeiten gehen, wenn dies mit ihren Aufgaben und Pflichten als Hausfrau vereinbar war. Der Name des Mannes blieb der Familienname, auch wenn die Frau ihren „Mädchennamen“ hinzufügen durfte. Das Sorgerecht war zwar insofern reformiert worden, als beide Partner nun erziehungsberechtigt waren. Aber der Vater blieb weiterhin der alleinige gesetzliche Vormund und konnte bei Meinungsverschiedenheit seine Position mit dem „Stichentscheid“ durchsetzen.135 Das Bundesverfassungsgericht entschied im Juli 1959 über diese Regelung. Mit seinem Urteil bestätigte das BVG zwar die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Familie, die Vormachtstellung im Hinblick auf die Erziehung der Kinder hingegen wertete das Gericht als verfassungswidrig. Innerhalb der unionsgeführten Bundesregierung machte sich im Anschluss an diese Entscheidung Unmut breit. Der konservative Rheinische Merkur betonte, dass diese Entscheidung dem christlichen Familienideal entgegenstehe und daher abzulehnen sei. Allerdings urteilte die Mehrheit der westdeutschen Medien anders und begrüßte das Urteil. Selbst katholische Familienrechtsexperten und Laien hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits von der Lehrmeinung ihrer Kirche distanziert. Damit lag die Entscheidung des BVG auf der Linie mit der Mehrheitsmeinung in der westdeutschen Gesellschaft. Der Historiker Till van Rahden argumentiert in diesem Zusammenhang, dass sich anhand dieses Urteils aufzeigen lasse, wie sich in Westdeutschland das Verhältnis von Autorität und Demokratie bereits in den 1950er Jahren zu verschieben begonnen hatte. Noch zu Beginn des Jahrzehnts hatte Autorität auf einem Machtverhältnis basiert, gegen Mitte der 1950er Jah133 134 135

Vgl. ebenda, 4–7; Illemann, Frauenbewegung, 163–178; Rölli-Alkemper, Familie, 541–556. Vgl. Rahden, Religion, 439f. Vgl. Schwab, Gleichberechtigung, 810f.; Joosten, Frau, 62ff.; Frevert, Umbruch, 643f.; Ruhl, Unterordnung, 155f.; Rahden, Demokratie, 2; Moeller, Mütter, 294–299; Schulz, Sicherung, 130.

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re rückte das gegenseitige Vertrauensverhältnis zweier Partner stärker in den Mittelpunkt, aus dem sich wiederum ein Autoritätsverhältnis entwickeln könne. Diese Art von Autorität korrespondierte nach zeitgenössischem Verständnis mit einem demokratischen Gesellschaftmodell, das auch zwischen den Ehepartnern sowie in der Eltern-Kind-Beziehung ein demokratisches Rollenverständnis erforderlich machte.136 5.3.2 Partnerschaft als wissenschaftliches Wunschbild

Soziologen hatten die Verbindung zwischen der Familie und dem Gesellschaftsmodell schon in den 1940er Jahren diskutiert. René König betonte 1946, dass tradierte patriarchalisch-autoritäre Strukturen, wie sie gerade in bäuerlichen Familien anzutreffen seien, nicht zu einer „modernen“ Gesellschaft passen würden. Eine „moderne“ Familie baue demgegenüber auf einer stärker gleichberechtigten Rollenverteilung zwischen den Ehepartnern auf.137 Den empirischen Beleg für eine gleichberechtigte Aufgabenverteilung legten in den frühen 1950er Jahren die Soziologen Helmut Schelsky und Gerhard Wurzbacher vor. Diesen als revolutionär eingestuften Befund rezipierten zahlreiche historische Studien und attestierten ihm eine generelle Gültigkeit. In soziologischen Studien sei „übereinstimmend eine Tendenz von der patriarchalischen zur partnerschaftlichen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau“138 auszumachen, resümierte der Historiker Lukas Rölli-Alkemper. Die Historikerinnen Brigitte Löhr und Rita Meyhöfer sprachen von einer Ablösung eines patriarchalischen Modells durch ein sogenanntes „Gefährten- oder Partnerschaftsideal“.139 Sie wiesen im Unterschied zu Rölli-Alkemper durchaus auf die Grenzen der zeitgenössischen Vorstellungen von Partnerschaft hin. Lediglich die jeweils spezifischen „männlich“ und „weiblich“ konnotierten Aufgaben gälten als „gleichwertig“. An den Geschlechterrollen an sich werde jedoch nicht gerüttelt. Schelsky verwies die Ehefrau und Mutter explizit auf die Familie, da sie lediglich dort ihre „natürliche“ Autorität im Hinblick auf die „Erziehungs- und Fürsorgeleistung für die Familie“140 besitze.141 136 137 138 139

140 141

Vgl. Moeller, Mütter, 325f.; Schwab, Gleichberechtigung, 811; ders., Demokratie, 1–5; ders., Religion, 437, 440f.; ders., Vati (2010), 123. Vgl. König, Grundbegriffe, 56f. Rölli-Alkemper, Familie, 91f. Löhr/Meyhöfer, Wandel, 601. Lukas Rölli-Alkemper weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass innerhalb des Katholizismus der Begriff „Gefährtenschaft“ präferiert werde, da sich die Kirche so sprachlich vom sozialistischen Familienideal abgrenzen könne. Vgl. Rölli-Alkemper, Familie, 152; Kleindienst, Partnerschaft, 24–38. Schelsky, Wandlungen, 294. Vgl. Fröhner/Stackelberg/Eser, Familie, 25; Löhr/Meyhöfer, Wandel, 601; Rölli-Alkemper, Familie, 91f.; Paulus, Familienrollen, 114f.; Schelsky, Wandlungen, 294.

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Nach dem zeitgenössischen Verständnis war eine egalitäre Aufgabenverteilung jedoch auch nicht Teil des innerfamilialen Arrangements, das die synonym verwendeten Begriffe Partnerschaft, Kameradschaft oder Gefährtenschaft zum Ausdruck brachten. Es ging lediglich um den relativen Einfluss, den Frauen bei Entscheidungen gewonnen hatten. Darin zeige sich schließlich, dass sich die Autorität des Ehemannes auf dem Rückzug befinde. Hier lag nach Darstellung Schelskys ein zentraler Unterschied zur Zwischenkriegszeit vor. Wie weit sich die gesellschaftlichen Ideale innerhalb relativ kurzer Zeit gewandelt hätten, wertete er als das eigentlich überraschende Moment der Veränderung. Denn „auffällig [. . . ] ist nur das hohe Ausmaß, in dem sich in Deutschland schon die partnerschaftlich verfaßte Familie durchgesetzt hat und die patriarchalisch-autoritäre Beziehung der Ehegatten oder der Eltern zu den Kindern geschwunden sind“,142 betonte Schelsky und berief sich dabei auf die Forschungsergebnisse seines Assistenten Gerhard Wurzbacher.143 In der Öffentlichkeit erfuhr dieser bemerkenswerte Befund ebenfalls große Aufmerksamkeit. Im Jahr 1953 stand eine Tagung der Evangelischen Akademie Rheinland im „Haus der Begegnung“ in Bonn-Bad Godesberg unter dem Motto „Patriarchat ist praktisch überwunden“ und berief sich dabei auf wissenschaftliche Studien, die eine Verbreitung der „Partnerschaft von Mann und Frau“ als zentrale Entwicklung der Nachkriegszeit festgehalten hatten. Darüber hinaus betonten die Teilnehmer, dass diese partnerschaftlichen Beziehungen nicht nur „widerstandsfähiger und elastischer“ seien, sondern sich auch die individuelle Persönlichkeit innerhalb der Familiengemeinschaft entfalten könne. Ohne es direkt zu benennen, rezipierte die Tagung die Interpretationen Schelskys und Wurzbachers.144 Wurzbachers Arbeit Leitbilder des gegenwärtigen deutschen Familienlebens erschien erstmals 1950 und beleuchtete die Kriegs- und Nachkriegssituation westdeutscher Familien. Die empirische Basis für seine Arbeit lieferten 164 Familienmonographien, die vor allem Studierende der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg, aber auch eine Jugendleiterinnenklasse des Fröbelseminars in Hamburg sowie einige Privatpersonen zwischen Mitte 1949 und Mitte 1950 angefertigt hatten. Er zog somit dieselbe Quellenbasis wie Schelsky heran.145 Die methodische Kritik an seiner Untersuchungsmethode rezipierte Wurzbacher in 142 143 144

145

Ebenda, 290. Vgl. ebenda; Klein, Helmut Schelsky, 160f.; Schmidt/Krieger, Gerhard Wurzbacher, 174f., 182; Vogel, Familie, 49. Vgl. ADW CAW 1114, Patriarchat ist praktisch überwunden. Gespräch über neues Eherecht im „Haus der Begegnung“, in: Evangelischer Pressedienst. Landesdienst Rheinland, Nr. 84, 17. Dezember 1953. Vermutlich bezieht sich dieser Befund auf die Thesen Gerhard Wurzbachers und Helmut Schelskys. Vgl. Wurzbacher, Leitbilder; Schelsky, Wandlungen. Vgl. Wurzbacher, Leitbilder, 33ff.; Schelsky, Wandlungen, 45. Zum wissenschaftlichen Werk Wurzbachers vgl. Schmidt/Krieger, Gerhard Wurzbacher. Der Soziologe Hartmann Tyrell

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den Wiederauflagen seiner Studie nicht und er hielt bis zur vierten Auflage 1969 an seiner ursprünglichen Interpretation fest. Ein Vergleich zwischen dem Alltag der Familien von 1950 und dem von 1968 habe gezeigt, so Wurzbacher, dass der Trend zu „sich verstärkenden partnerschaftlichen Elemente[n]“ anhalte und es sich hierbei um einen langfristigen gesellschaftlich-kulturellen Wandlungsprozess handele. Der Alltag in diesen Familien sei geprägt von einem „Rückgang an formaler Autorität und Distanz“ und einer „zunehmende[n] Betonung und Intimisierung der Kernfamilie aus Eltern und minderjährigen Kindern“.146 Insofern hatte sich nach Darstellung Wurzbachers in diesen Familien der Alltag grundlegend gewandelt und basierte auf einem emotionalen Zusammengehörigkeitsgefühl. 1969 ging Wurzbacher sogar so weit zu proklamieren, daß bei den heutigen westdeutschen Ehen eine partnerschaftliche Tendenz insofern vorherrscht und weiter zunimmt, als alle Lebensanforderungen in möglichst weitgehender Gemeinsamkeit, in gegenseitiger Beratung und Ergänzung bewältigt werden.147

Partnerschaftlichkeit war damit nicht nur das allgemein akzeptierte gesellschaftliche Leitbild, es handelte sich in den Augen Wurzbachers auch in der sozialen Praxis um das am weitesten verbreitete Rollenmodell. Auch mit diesem Interpretament ließ sich rhetorisch ein Gegenpol zu den Familien der Zwischenkriegszeit und mehr noch des Nationalsozialismus aufbauen. Diese Deutung leitete Wurzbacher aus den 150 „vollständigen“ Familien148 seines Samples ab und unterschied hierbei vier Idealtypen von Paarbeziehungen. In 21 Fällen nehme der Mann eine hervorgehobene Stellung ein, die die Frau anerkenne. In 17 Familien dominiere zwar ebenfalls der Mann, doch akzeptiere die Ehefrau seine Vorrangstellung allenfalls noch in Teilen und nach außen hin; im Familienalltag selbst hingegen sei sie bereits aufgehoben. In drei Familien wiederum gelte die Ehefrau als prägende Kraft des Familienlebens. Die größte Gruppe mit insgesamt 109 Familien praktiziere eine „Gleichrangigkeit der Partner“,149 wobei Wurzbacher hier noch eine Binnendifferenzierung vornahm. In 39 Fällen existierte ein „Übergewicht des Mannes“150 und in 22 Familien ein „Übergewicht der Frau“. Der Alltag von 48 Familien hingegen war geprägt von einer grundsätzlichen Gleichberechtigung der Partner.151 Entscheidend war für zeitgenössische Beobachter die quantitative Verteilung von 109 „partnerschaftlichen“ Familien gegenüber 21 patriarchalischen. Sie schlussfolgerten,

146 147 148 149 150 151

arbeitete heraus, dass Familienmonographien einen guten Einblick in den Familienalltag vermitteln würden. Vgl. Tyrell, Helmut Schelskys Familiensoziologie, 47. Wurzbacher, Leitbilder, Vorwort zur vierten Auflage. Ebenda. In 14 Familien des Samples galt die Paarbeziehung aufgrund von Tod, Scheidung oder Trennung als aufgelöst bzw. hatte eine Beziehung nie bestanden. Vgl. ebenda, 85, 88. Ebenda, 88. Ebenda. Vgl. ebenda, 87ff.

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dass dieses Verhältnis von ungefähr fünf zu eins auf eine Dominanz eines partnerschaftlichen Rollenmodells in den westdeutschen Familien verweise. Die methodische Kritik an den Erhebungen Wurzbachers hingegen rezipierten sie nicht. 5.3.3 „Gleichrangigkeit“ der Partner: Widerspruch zwischen wissenschaftlicher Interpretation und sozialer Praxis

Schelskys und Wurzbachers Interpretation beinhaltete jedoch noch mehr. Sie attestierten insbesondere der Frau eine stabilisierende Wirkung für die Familienbeziehungen, wenn sie ihre Rolle innerhalb der Familie sähen und hier dem Mann zur Seite stünden, wie in den 109 Familien, die zur „Gleichrangigkeit der Partner tendierten“.152 Gleichrangigkeit meinte nach Wurzbachers Verständnis, dass jeder Partner in seiner „natürlichen“ Sphäre tätig sei und sich damit beide Eheleute partnerschaftlich ergänzten. Der Mann agiere somit als „Ernährer“, die Frau übernehme als „Heimbewahrerin und Heimgestalterin“ sowie als „Haupterzieherin“153 in den Familien eine zentrale Funktion.154 Obwohl Wurzbacher von einer „grundsätzlichen Gleichrangigkeit“ zwischen Partnerin und Partner sprach, besaß der Mann in 39 Familien eine hervorgehobene Position. Die Hälfte dieser Familien gehörte zur mittleren Bildungsschicht, aber auch die Oberschicht war überdurchschnittlich stark vertreten. Abhängig von der individuellen Einstellung der Partner konnte die Dominanz des Mannes recht ausgeprägt sein, wie der Verfasser eines Berichts betonte: [. . . ] in allen wichtigen Dingen lag die Entscheidung bei dem Ehemann, wobei Züge eines patriarchalischen Verhältnisses unverkennbar hervortraten. Trotzdem war praktisch der Bereich der Ehefrau sehr weit [. . . ], so daß sich eine große Freiheit und Selbständigkeit der Partner entwickelte.155

Insofern vertrat Wurzbacher analytisch ein sehr weit gefasstes Verständnis von „Gleichrangigkeit“. Als „gleichrangig“ galten Paarbeziehungen bereits, wenn die Ehefrauen im Haushalt selbständig agieren konnte. Partnerschaft und Patriarchat schlossen sich somit in Wurzbachers Analyse keinesfalls aus. Vielmehr ließ sich Partnerschaft auch in einem Patriarchat verwirklichen, wenn die Frauen ihre Rollen als Mutter und Hausfrau selbständig ausfüllten. In dieser Gruppe von „grundsätzlich gleichrangigen“ Paarbeziehungen lagen hinsichtlich des Familienalltags deutliche Überschneidungen mit den patriarchalischen Familien vor, wie Wurzbacher selbst eingestand, wobei er dieses 152 153 154 155

Ebenda, 114. Ebenda, 115. Vgl. ebenda, 114ff. Ebenda, 116f.

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Ergebnis sogleich aber deutlich relativierte. Diese Einschätzung sei lediglich den ausgewählten Zitaten geschuldet. In den Berichten des Familienalltags würden sich demgegenüber zahlreiche Indizien für eine „Gleichrangigkeit“ zeigen, argumentierte Wurzbacher. Infolgedessen befinde sich diese Gruppe von Familien nach seiner Einschätzung am Übergang von einer patriarchalischen zu einer partnerschaftlichen Familienbeziehung.156 Die größte Gruppe waren die 48 Ehen mit einer „grundsätzlichen Gleichrangigkeit ohne erkennbares Übergewicht der Persönlichkeit eines Partners“. In gut der Hälfte dieser Familien würden die Ehemänner zur höheren Bildungsschicht gehören. Dazu zählten Lehrer, höhere Beamte, leitende Angestellte, freie akademische Berufe, Studenten und Großkaufleute. Überdies seien die Ehepartner jünger als in den anderen Gruppen. Gut zwei Drittel der Frauen habe das 40. Lebensjahr noch nicht erreicht. In 36 von 48 Familien stuften die Ehepartner die „gegenseitige Bindung“ als Wesensmerkmal ihrer Beziehung ein. Die emotionale Zuneigung gelte damit aus ihrer subjektiven Perspektive als „hoher, teilweise höchster sozialer Wert“.157 Dies treffe zum Beispiel auf ein Akademikerehepaar zu: Beide Partner studierten zur gleichen Zeit. Hier fand Frau Q auch die Überzeugung, daß Mann und Frau nur harmonisch zusammenarbeiten können, wenn die Frau unbedingt gleichberechtigt in allen Dingen neben dem Manne steht, was sie auch in der Ehe für zweckmäßig hält.158

Da nun ihr Mann diese Ansicht teile, erfüllten sie die Voraussetzungen für eine partnerschaftliche Familie und ihre Ehe besitze einen Eigenwert.159 Die Stabilität dieser Familien resultiere somit nicht primär aus äußeren Faktoren wie der Heirat oder den gesellschaftlichen Normen, sondern aus dem „individuellen Zusammenwirken der Partner“. Die Familienmitglieder selbst würden beständig am Gelingen der Beziehung arbeiten, schlussfolgerte Wurzbacher. Allerdings akzeptierten diese Paare eine Scheidung, falls sich die enge emotionale Beziehung auflöste. Damit verbänden sie zugleich die Hoffnung, dass die nächste Ehe die individuellen Wünsche an eine Beziehung erfüllen möge. Solange aber das emotionale Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Partnern bestehe, wiesen die Beziehungen eine enorme „Elastizität, Wandlungsfähigkeit“ auf und seien geprägt vom „Streben nach personaler Gleichwertigkeit der Partner“.160 In den Augen Wurzbachers galt gerade diese Art der „gleichrangigen Gefährtenschaft“ als zeitgemäße und „moderne“ Familienform.161 156 157 158 159 160 161

Vgl. ebenda, 118–125. Ebenda, 131. Ebenda, 139. Vgl. ebenda, 131–139. Ebenda, 135. Vgl. ebenda, 131–138, 154f.

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Die dritte Gruppe von 22 Familien sei geprägt von einem „Übergewicht der Persönlichkeit der Frau“. In manchen Fällen handele es sich allerdings lediglich um ein temporäres Phänomen, bis der Mann nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Fuß gefasst habe, notierte Wurzbacher. In mehreren Fällen jedoch sei dies ein Dauerzustand – meist wenn die Männer aus der Schicht der gelernten und ungelernten Arbeiter bzw. der unteren Angestellten kamen. Entgegen des bürgerlichen Rollenmodells würden meist die Frauen die aktive Rolle als Ernährer und Versorger der Familie übernehmen, wie ein zeitgenössischer Bericht über das Familienleben eindrücklich schilderte: Herr S. ist seit langem ohne berufliche Tätigkeit, er verrichtet mehr schlecht als recht die anfallenden Hausarbeiten, zu denen er wenig Neigung und Befähigung zeigt. [. . . ] Die Folge [. . . ] ist ein Autoritätswechsel in der Familie. Jahrelang hatte Frau S. allein das Schicksal der Familie zu lenken, und auch nach der Rückkehr des Ehemannes aus der Gefangenschaft hat sich durch seine wirtschaftliche Abhängigkeit an dieser Umkehrung des Autoritätsverhältnisses nichts geändert. Sie faßt Entschlüsse, trifft Entscheidungen und knüpft Verbindungen an, um ihren Mann wieder in Arbeit zu bringen. Da sie klug und geschickt vorgeht, beugt er sich ihrem Willen ohne Bitterkeit und ohne das Gefühl des Unterlegenseins.162

Wurzbacher legte mit seiner Studie somit eine ausführliche und differenzierte Schilderung des Familienalltags westdeutscher Familien vor, aus denen sich zahlreiche Zusammenhänge zwischen Sozialstruktur, Alter und Familienbeziehungen schließen lassen. Wurzbachers Analyse ist jedoch aufgrund seiner methodischen Vorannahmen problematisch, wie im Folgenden untersucht wird. Die drei oben zitierten Schilderungen aus dem Familienalltag weisen zunächst deutliche Unterschiede auf. In der ersten Familie agierte der Mann zwar als Patriarch, doch immerhin genoss hier die Ehefrau Freiräume und konnte selbständig handeln. Im zweiten Fall des Akademikerpaares vertraten beide Partner das Ideal der Gleichberechtigung und lebten auch danach. In der dritten Familie fällte die Ehefrau die wichtigen Entscheidungen und kümmerte sich um die Familie. Ihr Ehemann akzeptierte dieses Rollenarrangement. Trotz dieser erheblichen Differenzen kategorisiert Wurzbacher alle drei Typen als Familien, in denen „grundsätzliche Gleichrangigkeit“, also eine partnerschaftliche Aufgabenverteilung herrsche. Da nun diese soziale Gruppe mit 109 Familien die größte innerhalb seines Samples von 150 Familien bildete, leitete Wurzbacher daraus einen generellen Trend zur Gleichberechtigung in westdeutschen Familien ab.163 In diesem Punkt vertrat jedoch bereits der Soziologe Gerhard Baumert 1954 eine diametral entgegengesetzte Sichtweise. Er erkannte in seiner Gruppe von mehreren hundert Familien zwar durchaus eine „Tendenz zur Gleichrangigkeit“,164 sprach ihr jedoch die dominante Position in westdeutschen Familien während der frühen 1950er Jahre ab. Baumert arbeitete ebenfalls heraus, dass 162 163 164

Ebenda, 143f. Vgl. ebenda, 116f., 139, 143f. Baumert, Familien, 135.

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dieser Typus sehr disparat sei und kaum klar ausgeprägte Wesensmerkmale aufweise.165 Baumert kam nicht umhin klarzustellen, dass in der sozialen Praxis hingegen eine „tatsächlich festausgebildete Gleichrangigkeit“ noch nicht klar konturiert sei. Stattdessen würden sich zunächst erst „Zeichen einer Gleichrangigkeit als noch ungewisse Symptome in einer langfristigen Entwicklung“166 zeigen. Von Partnerschaftlichkeit als Leitmotiv für Paarbeziehungen konnte somit in den frühen 1950er Jahren keinesfalls die Rede sein. Gerade in diesem Punkt legte Baumert eine wesentlich realitätsnähere Schilderung des Familienalltags als Wurzbacher vor, auf große Resonanz in der öffentlichen Diskussion stieß er damit jedoch nicht. Immerhin vermutete Baumert aber, dass die zunehmende Gleichberechtigung innerhalb von Ehe und Familie ein langfristig ablaufender gesellschaftlicher Wandlungsprozess sei. Da Baumert unter Familie primär eine Wirtschaftsgemeinschaft verstand, ermittelte er, wer die Ausgaben kontrollierte. Daraus wiederum leitete er Rückschlüsse auf die innerfamilialen Beziehungen ab. In den 387 „vollständigen“ Familien seines Samples bestimmte in 79 Fällen der Mann und in 116 die Frau über das Einkommen. In 191 Familien waren es beide Ehepartner. Gleichwohl betonte Baumert, dass bei Letzteren nicht auf partnerschaftliche Geschlechterrollen geschlossen werden dürfe. Wenn das Einkommen des Mannes lediglich zum Überleben ausreiche, dann hänge es vom Geschick der Frau ab, wie effektiv die knappen Ressourcen eingesetzt würden. Folglich nahm seiner Ansicht nach die Ehefrau in diesen Familien, meist in Arbeiterhaushalten, eine dominante Position ein. „Je mehr aber das Einkommen den notwendigen Betrag zur Haushaltsführung übersteigt, desto stärker wird die Stellung des Vaters und desto größer damit auch die Möglichkeit seiner Autoritätsausübung“,167 stellte Baumert weiter klar. Insofern erkannte Baumert gerade in sozial besser gestellten Familien deutliche Tendenzen zu autoritären Geschlechterbeziehungen und einer exponierten Machtposition des Ehemannes.168 Noch eindeutiger trat die geschlechterspezifische Aufgabenverteilung bei der Hausarbeit zutage. Sie war weiterhin Frauenarbeit. In 32 Prozent der Familien halfen die Ehemänner zumindest zum Teil mit, bei 18 Prozent traf dies noch eingeschränkt zu. Aber in 48 Prozent der Familien versagten die Männer ihre Mithilfe. Diese ablehnende Haltung korrelierte mit dem Familieneinkommen. Wenn das Einkommen unter 200 DM pro Monat lag, dann war die Mithilfe am größten; bei einem Einkommen von mehr als 400 DM war die Unterstützung durch die Männer am geringsten. Einen noch klareren Befund lieferte die Frage, ob der Mann im Haushalt helfen solle. 27 Prozent der Befragten beantworteten 165 166 167 168

Vgl. ebenda, 135ff. Ebenda, 137. Ebenda, 150. Vgl. ebenda, 146–150.

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sie mit ja. 21 Prozent stimmten mit deutlichen Einschränkungen zu. 50 Prozent wiederum verneinten die Frage. Gerade in Familien mit höherem Einkommen, vor allem wenn die Frauen selbst berufstätig waren oder im Familienunternehmen mitarbeiteten, äußerten die Befragten aber verstärkt den Wunsch, dass der Mann bei der Haushaltsführung mithelfen solle. Da die Mutter in diesen Konstellationen eine enorme Arbeitslast schulterte, erhoffte sie sich von der Unterstützung durch ihren Ehemann eine erhebliche Entlastung.169 Die Mehrheit von 68 Prozent der Frauen sprach sich jedoch explizit gegen eine solche Mithilfe aus. Sie übertrafen somit ihre Männer deutlich, die diese Ansicht lediglich in 41 Prozent der Fälle vertraten. Vor allem drei Gründe benannten die Ehefrauen für ihre ablehnende Haltung: 1) „Das gehört sich nicht für einen Mann.“ 2) „Frauenarbeit kann man einem Mann nicht zumuten.“ 3) „Das ist Sache der Frau, der Mann hat Wichtigeres zu tun.“170 Baumert urteilte über diese Aussagen, dass sie nicht nur die konservative Haltung der Frauen offenlegten. Sie zeigten überdies auf, wie sehr tradierte Geschlechterrollen auch weiterhin aufrechterhalten würden, wobei dies für ältere Frauen in weitaus stärkerem Maße zutreffe als für jüngere. Damit wirkte Anfang der 1950er Jahre die Mehrzahl der Frauen selbst als Transmissionsriemen für traditionelle Geschlechterrollen.171 Bei den Kategorisierungen und Interpretationen der Ergebnisse unterschieden sich Baumert und Wurzbacher deutlich. Baumerts Befund verwies auf eine Konstanz der Geschlechterrollen, wohingegen Wurzbacher einen radikalen Wandel vermutete. Auch bei der Verteilungshäufigkeit der Familien differierten beide Arbeiten signifikant. Baumert kam auf 104 Familien mit einer Dominanz des Mannes und auf 99 Familien mit einer „Tendenz zur Gleichrangigkeit der Ehepartner“. In 184 Fällen stufte Baumert jedoch keines der Merkmale als dominant ein. Von partnerschaftlichen Familienbeziehungen könne laut seiner Unterscheidungskriterien nicht die Rede sein. Baumert brachte noch einen methodischen Einwand gegen Wurzbacher vor. Sein Sample umfasse nur eine kleine und nicht repräsentative Gruppe, sodass hieraus kaum plausible Annahmen abgeleitet werden könnten. Zudem stieß Baumerts Untersuchung nach eigenem Bekunden lediglich „in relativ geringer Häufigkeit“172 auf Familien mit einer „grundsätzlichen Gleichrangigkeit“. Daher handele es sich bei diesem Typus um eine „idealtypische Konstruktion“ und nicht um eine Beschreibung gesellschaftlicher Praktiken, schlussfolgerte Baumert. Damit widersprach er der Kernthese Wurzbachers von einer „grundsätzlichen Gleichrangigkeit“ zwischen Partnerin und Partner in der Mehrzahl der westdeutschen Familien.173 169 170 171 172 173

Vgl. ebenda, 151. Siehe auch Fröhner/Stackelberg/Eser, Familie, 171ff. Baumert, Familien, 152. Vgl. ebenda, 152f. Ebenda, 168. Vgl. ebenda, 161–167; Baumert, Observations, 162; Baumert, Methoden, 24. Zur Kritik

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An diese methodische Kritik knüpften Ende der 1980er Jahre die Soziologinnen Sibylle Meyer und Eva Schulze an, erweiterten sie aber, indem sie auf wichtige begriffsgeschichtliche Verschiebungen zwischen den 1950er und 1980er Jahren eingingen. In dieser Zeit hätten sich die Konnotationen von Patriarchat und Partnerschaft grundlegend gewandelt, lautet eines ihrer zentralen Argumente. In den 1940er und 1950er Jahren habe sich das patriarchalische Familienmodell noch auf Riehls Ideal des „Ganzen Hauses“ bezogen, wonach der Mann innerhalb der Familie eine Vorrangstellung einnehme und sie zugleich nach außen vertrete. Erst wenn sowohl Ehemann als auch Ehefrau diese klare Rollenverteilung anerkennen und in der sozialen Praxis umsetzen, spreche Wurzbacher von einem patriarchalischen Modell, betonen Meyer und Schulze. Insofern müssten zahlreiche Vorbedingungen erfüllt sein, ehe Wurzbacher eine Familie als dezidiert patriarchalisch klassifiziere.174 Wurzbachers harte Voraussetzungen warfen aber noch ein weiteres Problem auf. Es konnten dadurch feinkonturierte Unterscheidungen wie bei Baumert nicht herausgearbeitet werden. Er klassifizierte sogar zahlreiche Familien als „partnerschaftlich“, obwohl der Ehemann innerhalb der Familie eindeutig eine dominante Position einnahm. Generell stufen daher Meyer und Schulze Wurzbachers Differenzierungen als „sehr fragwürdig“175 ein. Ihr Argument belegen Meyer und Schulze, indem sie Wurzbachers Sample neu kategorisieren. Als patriarchalisch gelten nun alle Familien, in denen der Mann eine ausgeprägte oder leichte Vorrangstellung einnahm. Schon allein dadurch verschob sich die Verteilungshäufigkeit von patriarchalisch zu partnerschaftlich von 21 zu 109 auf 77 zu 70. Ohne also die inhaltliche Bewertung von Wurzbachers Auswahlkriterien zu hinterfragen, lieferte allein die Verschiebung der Kategorien ein grundlegend anderes Resultat. Damit relativieren Meyer und Schulze Wurzbachers in der zeitgenössischen Wahrnehmung als beachtlich eingestuftes Ergebnis erheblich. Sie verliehen Baumerts Befund mehr Plausibilität, der in einem größeren Sample eine ähnliche Relation festgestellt hatte.176 Allerdings basierte auch Baumerts Analysebegriff „Partnerschaft“ auf damaligen Vorstellungen, wie Meyer und Schulze weiter ausführen. Baumerts Verständnis von Partnerschaft beinhaltete keine egalitäre Aufgabenverteilung. Vielmehr verstand er hierunter ein kameradschaftliches Verhältnis, wonach die Rollen in den Familien auf der Basis der individuellen Fähigkeiten aufgeteilt würden. Nach damaligem Verständnis lag die Kompetenz der Ehefrau fast zwangsläufig bei der Haushaltsführung und der Kindererziehung. Baumert stell-

174 175 176

an Wurzbachers Methode und der Repräsentativität von Baumerts Sample vgl. König, Familie und Autorität, 223. Vgl. Meyer/Schulze, Auswirkungen, 83f. Ebenda, 89. Vgl. ebenda, 86–92.

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te ebenfalls die Aufgabenverteilung in den Familien nicht infrage. Ein egalitäres Rollenmodell verbreitete sich damit in den 1950er Jahren nicht.177 In den 1950er Jahren verschoben sich zudem die gesellschaftlichen Bewertungsmaßstäbe. Zunächst waren in der Nachkriegszeit die jeweiligen geschlechtertypischen Rollenmuster durchlässig gewesen, als sich Frauen verstärkt um das materielle Wohl ihrer Familie gekümmert hatten. Dieses Phänomen verschwand jedoch allmählich in den 1950er Jahren und schwenkte zurück auf eine traditionelle Aufgabenverteilung. Insofern bogen die Geschlechterrollen wieder in die gewohnten Bahnen ein. Wie dies Zeitgenossinnen sahen, zeigt die Schilderung einer Frau aus Brandenburg auf, die 1936 einen Töpfermeister geheiratet und vier Kinder bekommen hatte: Er sieht heute noch nicht, daß ne [sic!] Hausfrau mit vier Kindern viel mehr arbeiten muß als ein Mann. Er hatte nie ein Gefühl dafür, daß ein Haushalt Arbeit macht. Mein Mann hat mir auch nie geholfen. Er hatte einfach kein Gefühl dafür, was da alles dranhängt.178

Der Ehemann dieser Frau lehnte die Mitarbeit im Haushalt ab und reihte sich damit in die Grundhaltung zahlreicher westdeutscher Männer ein. Drei Gründe lassen sich für ihr Verhalten identifizieren. Sie schätzten Hausarbeit wie schon in der Zwischenkriegs- und Nachkriegszeit weiterhin als sozial niedrige Tätigkeit ein. Die Männer benannten die Belastung durch die eigene Berufsarbeit als weiteren Grund. Darüber hinaus stuften sie die Berufstätigkeit von Frauen als „Zuverdienst“179 ein. Dadurch war sie aus ihrer Perspektive lediglich von nachrangiger Bedeutung gegenüber dem eigenen Beruf. So ließ sich auch die Anspruchshaltung, nicht mithelfen zu wollen, subjektiv begründen – selbst wenn die Frauen berufstätig waren und sich darüber hinaus noch um die Kindererziehung und Haushaltsführung kümmern mussten.180 Die Rollenverteilung in den Familien unterschied sich während der 1950er Jahre kaum von der in der Zwischenkriegszeit. Aber die Frauen hatten zumindest in den familiären Macht- und Entscheidungsprozessen mehr Gewicht als noch vor 1945. Ihr Einfluss reichte über die Verwaltung des Einkommens, die Verwendung des Budgets und die Anschaffung von Konsumgütern bis hin zur Kindererziehung. Zudem ging eine wachsende Zahl von Frauen arbeiten. Diese Veränderungen führten dazu, dass sich die Möglichkeiten der Einflussnahme deutlich erhöhten. Mit einem egalitär-partnerschaftlichen Rollenmodell war dies hingegen nicht deckungsgleich.181

177 178 179 180 181

Vgl. ebenda, 92f. Ebenda, 285. Ebenda, 286. Vgl. ebenda, 284ff. Vgl. ebenda, 287–291.

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5.4 Zwischenfazit

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5.4 Zwischenfazit In der Nachkriegszeit kam es zur politischen Neuordnung des geteilten Deutschlands in einen demokratischen Westen und einen sozialistischen Osten. Rhetorisch grenzten sich die Vertreter der beiden politischen Systeme nicht nur vom Nationalsozialismus, sondern auch voneinander ab. Während die Ansichten zur Familie in der Bundesrepublik öffentlich verhandelt wurden, fand die Debatte im Osten in einer „politisch inszenierten Öffentlichkeit“ statt, auf die die SED lenkend einwirkte. Trotz der Unterschiede galt in beiden Teilen Deutschlands die Familie als eine zentrale Institution. Insbesondere wirke sie stabilisierend auf die Gesellschaft. Zudem integriere sie die Individuen in den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext, lauteten zwei der ihr zugeschriebenen Eigenschaften. Die Familie übernehme damit eine wichtige Stabilisierungsfunktion. Aber nicht nur auf der staatlichen Ebene erfuhr die Familie eine hohe Wertschätzung. Auch die Bürgerinnen und Bürger stuften sie als das bevorzugte Modell für das Zusammenleben mit anderen Personen ein. Familie sei eine Lebensgemeinschaft, in der man mit anderen Personen in Liebe verbunden sei. Gleichzeitig bildeten aus der individuell-subjektiven Perspektive Familiengemeinschaft und Individuum keine Gegenpole. Vielmehr ließen sich Individualinteressen auch in einer Familiengemeinschaft realisieren. Während sich in den Familien diese doppelte Perspektive auf die Familie deutlich zeigte, fokussierte demgegenüber der politische Diskurs auf die gesellschaftliche Bedeutung der Institution Familie. Gleichzeitig entfaltete erneut das Leitbild der Kernfamilie mit einem verheirateten Ehepaar in beiden Teilen Deutschlands eine hohe normative Verbindlichkeit. Lediglich diese familiale Lebensform wurde zeitgenössisch als Familie verstanden. Die soziale Praxis war hingegen pluraler, selbst als die Heiratsquote in den 1950er Jahren ihren höchsten Wert im 20. Jahrhundert erreichte: Alleinerziehende Mütter und ihre Kinder gehörten genauso wie die „Onkelehen“ zum Alltag. Die Familienideale in der Bundesrepublik und in der DDR unterschieden sich in den 1950er Jahren hinsichtlich der Rollen der Ehefrau. Der ostdeutschen berufstätigen Mutter stand die westdeutsche „Nur-Hausfrau“ gegenüber. Auch hier wichen die Praktiken vom Ideal ab. So gingen im Westen zahlreiche Ehefrauen und Mütter aus wirtschaftlichen Gründen arbeiten. Damit zeigte sich besonders markant, dass Mütter eine Berufsarbeit vielfach nicht aufgrund von Individualinteressen aufnahmen. Stattdessen wollten sie ihre Familien finanziell unterstützen. Gleichzeitig stellte sich aufgrund der Berufsarbeit von Müttern die Frage, wie die Kindererziehung zu regeln sei. Die Betreuung in Kinderhorten und -gärten galt als ein Lösungsmodell, wenngleich in den 1950er Jahren nicht genügend Plätze zur Verfügung standen. In Ostdeutschland wog dies ungleich schwerer, schließlich wurden dort die Mütter von staatlicher Seite zur Berufsarbeit ange-

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halten. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern, versprach noch ein weiteres Modell: Halbtagsarbeit. Das verbreitete sich in Westdeutschland bereits Anfang der 1960er Jahre, aber auch ostdeutsche Mütter reduzierten ihre Arbeitszeit, wie noch gezeigt wird. Im Unterschied zur Zwischenkriegszeit schliffen sich in den 1950er Jahren einige sozialstrukturelle Unterscheidungskriterien wie der Stadt-Land-Unterschied oder die Bedeutung der Konfession ab. In der DDR verlor zum Beispiel die EKD entscheidend an Einfluss, wohingegen in der Bundesrepublik eine enge Verbindung zwischen katholischer Kirche und insbesondere den Unionsparteien bestehen blieb, was sich gerade bei der Familienpolitik zeigte. Auf der Ebene des Familienalltags hingegen verloren katholische Glaubensgrundsätze demgegenüber an Relevanz, wie westdeutsche Umfragen zutage förderten. Von einer Homogenisierung kann jedoch nicht gesprochen werden, da die Unterscheidungsmerkmale lediglich an Signifikanz verloren hatten. Auch Helmut Schelskys postulierte „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ findet sich nicht in der sozialen Praxis wieder. In der zeitgenössischen Debatte hingegen wurde dieser Topos vielfach rezipiert. Ebenso verhielt es sich mit der von Helmut Schelsky und Gerhard Wurzbacher vorgestellten Leitinterpretation, wonach die Familie in Westdeutschland eine stabilisierend wirkende Institution sei und in der Mehrzahl der Familien das Modell einer „gleichrangigen Partnerschaft“ praktiziert werde. Selbst als wissenschaftliche Studien die Validität dieses Befundes anzweifelten, brach die Rezeption dieser Thesen nicht ab. Das lag vermutlich auch daran, dass Partnerschaft und Gleichrangigkeit als Lebensmodell mit einer „modernen“ demokratischen Gesellschaft korrespondierten und man sich so dezidiert vom autoritären patriarchalischen Familienmodell des Nationalsozialismus abgrenzen konnte. Dass sich in der sozialen Praxis dieses Modell kaum nachweisen ließ, tat seiner Popularität allerdings keinen Abbruch. In den 1950er Jahren wurde unter gleichrangiger Partnerschaft noch nicht ein egalitäres Rollenmodell verstanden. Vielmehr erinnert die familiale Praxis der 1950er Jahre an die „kameradschaftlich“-partnerschaftliche Unterstützung beider Partner füreinander, wie sie in der Zwischenkriegszeit postuliert worden war.

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6. Familienideale und familiale Praktiken im Zeichen statistischer Indikatoren, 1960–2000 6.1 Relativierung des Zäsurcharakters der 1960er und 1970er Jahre Historische Studien haben jüngst die „klassische“ Interpretation von den 1950er Jahren als konservatives Jahrzehnt und den 1960er Jahren als Umbruchphase relativiert. Im Hinblick auf das Familienleben, die Sexualmoral und der Bedeutung christlicher Glaubensgrundsätze für die Alltagspraxis zeichnete sich bereits während der 1950er Jahre ein Wandel ab, lautet ihr Tenor.1 Die Veränderungen ließen sich weder anhand klar konturierter Zäsuren bestimmen noch liefen sie linear ab. Jedoch verweisen sie auf Momente gesellschaftlichen Wandels im Stillen, die schließlich in den 1960er Jahren ihre Dynamiken entfalteten und dann anhaltende, bis in die frühen 1980er Jahre dauernde öffentliche Konflikte und bisweilen durchaus auch Konflikte um die Familie initiierten. Die Veränderungen erfassten auch die Leitbilder, an denen sich die westdeutsche Familienpolitik orientierte. In den 1960er Jahren verloren christliche Familienideale an Bedeutung und die Familie wurde nicht mehr als eine vorstaatliche Institution verstanden. Vielmehr erschien sie nun als Teil gesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Zudem zeichnete sich eine deutliche Tendenz zur Verwissenschaftlichung der Familienanalyse ab, als die Bundesregierung und das Familienministerium unter Bruno Heck (1962–1968) und seiner Nachfolgerin Aenne Brauksiepe (1968–1969) eine wachsende Anzahl an Studien erstellen ließ. Der Erste Familienbericht 1968 reihte sich in eine Linie vergleichbarer Publikationen ein, wie des Ersten Jugendberichts 1965 oder des Berichts über die Situationen der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft (Frauenenquete) 1966. Die Familienpolitik wollte nun auf der Basis objektiv-rationaler wissenschaftlicher Daten steuernd eingreifen und Familienstrukturen gemäß den politischen Wünschen formen. Dieser Glaube an die Planbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen zerbrach jedoch in den 1970er Jahren wieder. In diesem Jahrzehnt wandelte sich zudem das Leitbild der Familienpolitik abermals. Nun sollten erstens, so der Anspruch, die Familienbeziehungen auf einem partnerschaftlichen Rollenmodell basieren. Zweitens galt die Ehe nicht mehr grundsätzlich als eine auf Lebenszeit 1

Vgl. Rölli-Alkemper, Familie, 23; Kuller, Familienpolitik, 78; Steinbacher, Sex, 347. Zur Bedeutung der „Pille“ für die Geschichte der Sexualität vgl. v. a. Silies, Liebe; dies., Revolution; dies., Erfahrungen; Leo/König, Wunschkindpille; Niethammer/Satjukow (Hg.), Chemie.

https://doi.org/10.1515/9783110651010-006

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6. Familienideale und familiale Praktiken im Zeichen statistischer Indikatoren

geschlossene Verbindung. Drittens stärkten Politiker und Juristen die Rechte der Kinder, was sich vor allem an der Ablösung des Begriffs „elterliche Gewalt“ durch „elterliche Sorge“ abzeichnete.2 Somit hatten die veränderten Einstellungen zu den Geschlechterrollen oder der Ehe bzw. der Familie zwar nicht ihren Ausgangspunkt in den 1960er Jahren, aber sie beschleunigten sich während dieser Dekade erheblich, traten offen zutage und beeinflussten die Familienideale im nachfolgenden Jahrzehnt. Die 1960er Jahre lassen sich folglich als „Scharnierjahrzehnt“3 beschreiben. In der zeitgenössischen Debatte dienten vor allem die Verschiebungen bei drei statistischen Indikatoren als Beleg für den umfassenden Charakter der Wandlungsprozesse: der Rückgang der Heiratsneigung und der Geburtenzahlen sowie der Anstieg der Ehescheidungsziffern. Erneut flammte mit diesen empirisch gemessenen Veränderungen – wie schon in der Nachkriegszeit – eine Debatte über die „Krise der Familie“ auf. Vor allem zwei Faktoren initiierten diese Kontroverse. Zunächst hatten die in den 1950er Jahren relativ geringe Scheidungsneigung und die parallel relativ hohe Heiratsquote dazu geführt, dass die Mehrzahl der Menschen in einer Kernfamilie lebte. Zudem existierte in den 1950er und frühen 1960er Jahren eine einseitige Fixierung auf das Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie. Alle anderen Familienformen galten demgegenüber nach dem damaligen Verständnis nicht als „eine Familie“. Die hohe gesellschaftliche Verbreitung und die normative Verbindlichkeit der bürgerlichen Kernfamilie ließen aus zeitgenössischer Perspektive jede vermeintlich abweichende Entwicklung als ein vermutetes Indiz des bevorstehenden Untergangs der „Normalfamilie“, also der bürgerlichen Kernfamilie, erscheinen.4 Werden die während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland statistisch gemessenen Veränderungen zusammenfassend untersucht, fällt zunächst auf, dass in den 1960er Jahren die Heiratsneigung und die Geburtenziffern in Ost- und Westdeutschland deutlich zurückgingen und beinahe parallel die Scheidungshäufigkeit massiv anstieg. Im Unterschied zu Westdeutschland stieg in der DDR entgegen des allgemeinen Trends während der zweiten Hälfte der 1970er Jahre aufgrund sozialpolitischer Maßnahmen die Geburtenrate kurzzeitig an. Schließlich folgte in den 1980er Jahren in Ost und West eine Phase der relativen Stabilität. Nach der Wiedervereinigung 1990 erfolgte vor allem in den neuen

2

3 4

Vgl. Kuller, Familienpolitik, 16–19, 113–125; Schneider, Familie und private Lebensführung, 14f., 113–125; Jakob, Gesellschaftsbilder, 293, 296ff., 300, 308f.; ders., Familienbilder, 126– 192. Für die Berichte vgl. Bericht der Bundesregierung über die Lage der Jugend (1965); Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft [1966]; Bundesminister für Familie und Jugend, Erster Familienbericht. Schildt/Siegfried/Lammers, Einleitung, 13. Vgl. Kaufmann, Familie und Modernität, 393. Für diese Diskussion vgl. Neumaier, Niedergang.

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6.2 Statistiken als Indikatoren für Veränderung

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Bundesländern ein weiterer Veränderungsschub, als Heirats- und Geburtenziffern signifikant abfielen und die Zahl der Ehescheidungen sprunghaft zunahm.5 Im Folgenden werden die Gründe für diese Entwicklungen genauso erläutert wie die methodischen Probleme der jeweiligen statistischen Indikatoren.

6.2 Statistiken als Indikatoren für Veränderung 6.2.1 Rapider Einbruch der Heiratsquote

Die Statistiken wiesen ungefähr ab Mitte der 1960er Jahre einen Einbruch bei der Heiratsquote aus, der sich in den 1970er Jahren erheblich verstärkte. Hinter den aggregierten Daten verbergen sich Veränderungen in der Altersstruktur der Bevölkerung und ein sich wandelndes Heiratsverhalten der jeweiligen Geburtsjahrgänge. In den 1960er Jahren fielen diese zwei Faktoren zusammen. Es kamen zusehends geburtenschwache Jahrgänge ins Heiratsalter, die zudem die Heirat aufschoben oder sich vereinzelt sogar dagegen entschieden. Welche individuellen Motive hinter diesem Verhalten standen, lassen sich jedoch mit den statistisch gemessenen Heiratszahlen nicht ermitteln. Bei den Heiratsziffern selbst wiederum muss zwischen absoluten und relativen Zahlen unterschieden werden. Die absoluten Heiratszahlen geben keinen Aufschluss darüber, wie sich die Heiratshäufigkeit in historisch-diachroner Perspektive verändert. Hierfür müssen die aus statistischen Berechnungsmethoden abgeleiteten relativen Heiratszahlen herangezogen werden. Über die zusammengefasste Erstheiratsziffer lassen sich die Heiratsäufigkeit bzw. -neigung bestimmen, wobei aus methodischen Gründen ein jeweiliger Wert jeweils nur mit dem des Vorjahres in Beziehung gesetzt werden kann. Darüber hinaus enthält diese Berechnungsmethode eine Fehlerquote, die dazu führt, die tatsächliche Heiratsneigung entweder zu über- oder zu unterschätzen. Ersteres trat in den frühen 1960er Jahren auf. So führten „kriegsbedingte Nachholeffekte“ dazu, dass die amtlichen Statistiken einen Wert über 100 Prozent auswiesen. Trotz ihrer Fehlerquote kann die zusammengefasste Erstheiratsziffer gleichwohl für Trendaussagen herangezogen werden. Es lässt sich daraus ableiten, dass in beiden Teilen Deutschlands um das Jahr 1960 eine sehr hohe Heiratsäufigkeit vorgelegen habe und diese dann in den nachfolgenden Jahrzehnten sukzessive zurückgegangen sei. Die Gründe für den

5

Vgl. Konietzka/Kreyenfeld, Mutterschaft, 122f., 126f., 129, 261; Huinink/Konietzka, Familiensoziologie, 88–97; Schneider, Grundlagen, 15; Peuckert, Familienformen (2012), 11, 166f., 175ff., 305; Neumaier/Ludwig, Individualisierung, 266ff.

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6. Familienideale und familiale Praktiken im Zeichen statistischer Indikatoren

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BRD/alte Bundesländer DDR/neue Bundesländer

100 90 80 70 60 50 40 30

1960

1964

1968

1972

1976

1980

1984

1988

1992

1996

2000

Abbildung 1: Zusammengefasste Erstheiratsziffer der Frauen in der Bundesrepublik und der DDR, 1960–2000 Quelle: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.

massiven Einbruch der zusammengefassten Erstheiratsziffer in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung werden im folgenden Kapitel kurz diskutiert.6 Wie hoch der Anteil der jemals im Leben heiratenden Personen hingegen ist, lässt sich wiederum mit sogenannten Heiratstafeln bestimmen. Als Berechnungsgrundlage werden Eheschließungen, Bevölkerungsbestand und Sterbefälle jeweils nach Familienstand herangezogen. Allerdings werden die Berechnungen ungenauer, je weiter die letzte Volkszählung zurückliegt, da es dann nicht mehr möglich ist, die Bevölkerungsentwicklung genau zu bestimmen. Bei den Heiratstafeln fallen neben dem Rückgang der Heiratshäufigkeit seit den 1970er Jahren die Geschlechterunterschiede auf. Sie resultierten schlicht aus

6

Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 31f., 35; Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Bevölkerung, 27, 89. Die Berechnungsmethode der zusammengefassten Heiratsziffer erklärt der Soziologe Rüdiger Peuckert wie folgt: „Für jedes Altersjahr zwischen 15 und 50 Jahren werden für ein Kalenderjahr altersspezifische Eheschließungsziffern errechnet, wobei die ledigen eheschließenden Frauen und Männer im jeweiligen Alter auf die gesamte Personenzahl der entsprechenden Altersgruppe bezogen werden. Diese altersspezifischen Eheschließungsziffern werden zur zusammengefassten Erstheiratsziffer addiert.“ Peuckert, Familienformen (2012), 31. Zur Geschichte des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung vgl. Kuller, Demographen.

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6.2 Statistiken als Indikatoren für Veränderung

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Tabelle 1: Heiratshäufigkeit von Frauen und Männern in Westdeutschland nach Heiratstafeln (in Prozent), 1971–2000 Jahr

1971 1980 1985 1990 1995 2000

Heiratshäufigkeit Lediger Frauen

Männer

93 84 80 82 73 77

87 76 73 75 64 67

Quelle: Peuckert, Familienformen (2012), 36.

dem Umstand, dass geschiedene Männer mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit ledige Frauen heirateten als umgekehrt.7 Beide Berechnungsmethoden zeigen somit einen eindeutigen Trend auf: Die Heiratsneigung ging genauso zurück wie der Anteil der jemals im Leben heiratenden Männer und Frauen. Dies äußerte sich seit den 1960er Jahren in einem deutlichen Einbruch bei den Eheschließungen, der aus zeitgenössischer Perspektive wie das Ende des Golden Age of Marriage der 1950er Jahre erschien. Ausgangspunkt für diese Beobachtung war der in den 1950er Jahren – in Relation zum gesamten 20. Jahrhundert gesehen – ungewöhnlich hohe Anteil der heiratenden Personen. Insofern stellt die Heiratsneigung der 1950er Jahre zwar eine Ausnahmesituation dar.8 Sie diente dennoch den westdeutschen Beobachtern der 1960er Jahre als Referenzwert. Die Frauenenquete der Bundesregierung ging 1966 aber noch auf weitere Entwicklungen ein, die ebenfalls auf eine große Bedeutung der Ehe verwiesen. Das durchschnittliche Heiratsalter war parallel deutlich abgefallen, von 27,4 bzw. 24,8 Jahren für Männer bzw. Frauen im Jahr 1911 auf 25,9 bzw. 23,7 Jahre 1964. Bis in die 1960er Jahre hielt der Rückgang des Heiratsalters an, kehrte sich dann aber wieder um. 1970 heirateten in Westdeutschland Männer und Frauen im Alter von 26 bzw. 23 Jahren. 2010 lag das durchschnittliche Heiratsalter bei 32 bzw. 29 Jahren. In Ostdeutschland kam es im selben Zeitraum zu einem ähnlichen Anstieg von 24 auf 33 Jahre bei Männern und 21 auf 30 Jahre bei Frauen.9 Im Juni 1961 stellten darüber hinaus verheiratete Paare mit ledigen Kindern 44,4 Prozent aller Lebensformen und bildeten damit die größte soziale Gruppe, 7 8 9

Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 31, 35ff. Vgl. ebenda, 37f. Vgl. Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft [1966], 1f.; Bundesminister für Familie und Jugend, Erster Familienbericht, 24; Peuckert, Familienformen (2012), 38. Für die Entwicklung der Heiratspraxis in den 1950er Jahren vgl. Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 337–351.

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gefolgt von Ehepaaren ohne Kinder mit 23,3 Prozent und verwitweten Personen ohne Kinder mit 16,6 Prozent. Der Anteil der verwitweten Personen – meist Frauen – mit ledigen Kindern (und/oder Enkeln) lag hingegen bei 7,2 Prozent. Geschiedene Personen mit ledigen Kindern stellten 1,5 Prozent. Selbst wenn die Personen zum Erhebungszeitpunkt alleine lebten, so waren sie zumindest einmal in ihrem Leben verheiratet gewesen. Die Ehe nahm auch in ihrem Leben eine zentrale Rolle ein. Selbst bei den ledigen Frauen mit Kindern, die einen Anteil von 0,9 Prozent erreichten, war nicht ausgeschlossen, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt einmal heirateten. Insgesamt blieb somit die Ehe und damit einhergehend die bürgerliche Kernfamilie bis in die 1960er Jahre und darüber hinaus, vielleicht nicht lebenslang, aber zumindest temporär der Fixpunkt für die individuelle Lebensgestaltung.10 Dieses Ideal entsprach einem gesellschaftlichen Grundkonsens. Unter anderem betonten Sozialdemokraten 1961 in ihren Richtlinien sozialdemokratischer Familienpolitik, dass die Ehe ihnen „als Kern der Familie“11 gelte. Bis 1970 änderte sich die Zusammensetzung der Bevölkerung kaum. Zu diesem Zeitpunkt lebten noch immer 43,8 Prozent als verheiratetes Ehepaar mit gemeinsamen ledigen Kindern in einem Haushalt. Ein Viertel der Haushalte bestand aus verheirateten Paaren, die entweder (noch) keine Kinder hatten oder deren Kinder bereits ausgezogen waren. Der Anteil der verwitweten Frauen mit Kindern fiel von 6,4 Prozent auf 3,9 Prozent ab. Einen leichten Rückgang verzeichneten die Statistiken auch bei den geschiedenen bzw. ledigen Frauen mit Kindern von 1,4 auf 1,3 Prozent bzw. von 0,9 auf 0,6 Prozent.12 Während zwischen 1961 und 1970 die relativen Anteile keine signifikanten Veränderungen aufwiesen, gilt dies nicht für die absoluten Zahlen. Die Summe der Familien mit Kindern, wobei hierunter auch ledige Mütter, Witwen und Geschiedene subsumiert wurden, stieg von 10,6 auf 11,2 Millionen an. Das entspricht einer Zunahme von ca. sechs Prozent. Parallel verzeichnete die Zahl der Erwachsenen ohne Kinder jedoch ebenfalls einen Zuwachs von 8,1 auf 10,9 Millionen. Die Wachstumsrate betrug somit 34 Prozent.13 Es deutete sich damit schon um das Jahr 1970 ein Trend an, den die Familiensoziologie später als eine „Polarisierung der Lebensformen in einen Familien- und einen NichtFamilien-Sektor“14 bezeichnete.15 10 11

12 13 14 15

Vgl. Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft [1966], 1ff., 318. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 3. WP 141, Richtlinien Sozialdemokratischer Familienpolitik, in: Pressemitteilungen und Informationen der SPD, Nr. 103/61, 11. April 1961, 1. Vgl. Entwicklung der Familien nach Zahl und Struktur, 86f. Vgl. ebenda. Ähnlich bei Schweitzer, Entwicklungstendenzen, 42ff. Peuckert, Familienformen (2012), 155 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Vgl. ebenda; Huinink, Gegenstand, 29; Schneider, Pluralisierung, 85.

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Die Trias von Ehe, Familie und Kindern prägte somit bis in die frühen 1970er Jahre weite Teile der westdeutschen Bevölkerung. „Nahezu sämtliche erwachsenen Deutschen sind heute verheiratet oder mindestens verheiratet gewesen, nämlich 95 Prozent aller Frauen und 96 Prozent aller Männer“,16 berichtete das Handelsblatt im Oktober 1970. Ehe und Familie waren weiterhin untrennbar miteinander verknüpft und konnten synonym verwendet werden, obwohl die Heiratsziffern zumindest einen Einstellungswandel bei einem Teil der Ost- und Westdeutschen implizierten. Hierfür müssen die individuellen Heiratsgründe und -motive der Paare analysiert werden. Vielfach entschieden sich Partner zur Heirat, da sie sich entweder ein Kind wünschten oder die Frau bereits schwanger war – dies galt für Bundesrepublik und DDR zwischen den 1950ern und Mitte der 1970er Jahre gleichermaßen. 1963 waren nach einer statistischen Erhebung in der DDR immerhin 85 Prozent der erstgeborenen Kinder außerehelich gezeugt worden. Der Anteil der unehelichen Geburten belief sich demgegenüber insgesamt auf lediglich 9,3 Prozent. Gleichzeitig stieg in der DDR zwischen 1958 und 1963 die Zahl der Paare, die bei der Eheschließung unter 21 Jahre alt waren, wobei sicherlich die bevorzugte Zuweisung des knappen Wohnraums an Ehepaare hierzu beigetragen hat. Für die staatlichen Behörden in der DDR galt dies als bemerkenswert, da in der DDR im Unterschied zur Bundesrepublik die rechtliche Diskriminierung der außerehelichen Geburt beseitigt worden sei. Gleichwohl galt Unehelichkeit auch in der DDR weiterhin als persönlicher Makel, der Mutter und Kind anhaftete.17 Der normative Bezugsrahmen für das sozial wünschenswerte Verhalten blieb somit über die deutsch-deutsche Grenze hinweg die Ehe. Gesetzesänderungen hatten hierauf keinen nennenswerten Einfluss. Das Phänomen der frühen Eheschließung beobachteten in den 1960er Jahren auch westdeutsche Soziologen. Für Ehen, die aufgrund einer bestehenden Schwangerschaft einer jungen Frau geschlossen wurden, bürgerte sich der Begriff „Mussehe“ ein, für den mittlerweile auch „Shotgun Marriage“ gebräuchlich ist.18 Die „Mussehe“ war gerade unter jüngeren Paaren weit verbreitet. Bei 83 Prozent der Mütter unter 21 Jahren lag eine voreheliche Empfängnis vor, bei den unter 18-Jährigen erreichte der Anteil sogar 96 Prozent.19 Die Ehe blieb damit auch aus der individuellen Perspektive der ideelle Rahmen, um Kinder gemeinsam 16 17

18

19

Becker, Scheidungsrecht. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/13/200, Material zu einigen Fragen der Familie in der DDR, ohne Ort, 4. Februar 1965, Bl. 66f.; Schröter, Ehen, 46f.; Schneider, Familie und private Lebensführung, 98–102. Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 210. Für die Herleitung des Begriffs vgl. Bundesminister für Familie und Jugend, Erster Familienbericht, 27. Auch in den 1970er Jahren war der Ausdruck gebräuchlich oder war in abgewandelter Form als „Mußheiraten“ im Umlauf. Vgl. Bericht der Sachverständigenkommission, Zweiter Familienbericht, 24. Vgl. Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit (Hg.), Familienpolitik, 11f.

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aufzuziehen. Voreheliche Sexualität schloss dies jedoch zu keinem Zeitpunkt aus. Um das Jahr 1958 waren nach statistischen Erhebungen in Westdeutschland 40 Prozent der erstgeborenen Kinder vorehelich gezeugt worden.20 Dieser Wert liegt deutlich unter den in der DDR ermittelten Zahlen, wenngleich jeweils die Erhebungsmethoden nicht dargelegt worden sind, wodurch sich beide Befunde nicht miteinander vergleichen lassen. Zumindest für die Bundesrepublik zeigte eine repräsentative Erhebung 1963, dass die Quote auf 38,1 Prozent zurückgegangen war. Nach konservativer Schätzmethode fiel sie bis 1972 leicht auf 32,4 Prozent.21 Als weiteren Heiratsgrund gaben Paare eine gegenseitige emotionale Zuneigung an. Im September 1963 benannten 39 Prozent der Männer und 41 Prozent der Frauen „Liebe“ als Motiv sowie 30 Prozent bzw. 33 Prozent den „Charakter, seelische Gründe“.22 Bis in die 1980er Jahre gewannen die Heiratsgründe emotionale Zuneigung sowie der Wunsch nach einem gemeinsamen Kind an Bedeutung und verdrängten schließlich die Vorstellung von einer Ehe als Zweckgemeinschaft.23 In diesem Punkt ähnelten sich die Befunde zu Erhebungen in der DDR. Auch dort gaben 1982 junge verheiratete Frauen „Liebe“ neben „Tradition“ sowie der Zuteilung einer eigenen Wohnung als wichtigen Heiratsgrund an.24 Die zeitgenössischen Erhebungen zeigen somit deutlich auf, dass die individuellen Heiratsmotive dominierten. Das trug letztlich maßgeblich dazu bei, dass Partner Ehe und Familie unter personalen Gesichtspunkten sahen. Sie sehnten sich nach Liebe und Zuneigung, die in einer Ehe- und Familiengemeinschaft verwirklicht werden sollten. 6.2.2 „Dramatischer“ Geburtenrückgang

In den Nachkriegsjahren führten mehrere miteinander verwobene Faktoren zu einer Zunahme der Geburtenzahlen. Zunächst stabilisierten sich Wirtschaft 20

21 22 23 24

Vgl. Niehuss, Kontinuität, 331; Peuckert, Familienformen (2012), 41f.; Schneider, Pluralisierung, 85f.; Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft [1966], 4; EZA 2/4365, Materialien zur Situation der Familie und zum Familienrecht in der DDR, in: Grüner Dienst, Nr. 24/65, Bethel/Bielefeld, 31. Mai 1965, 3; EZA 102/396, Evangelische Kirche in Deutschland. Kirchenkanzlei für die Gliedkirchen in der Deutschen Demokratischen Republik, Betr.: Beobachtung der Familiengesetzgebung in der DDR, Berlin, 17. Februar 1965, 2; BArch Berlin DP 1/SE3791, Auszüge aus Leserzuschriften an die Nationalzeitung zum FGB-Entwurf, Berlin, 14. Mai 1964, 1. Vgl. Bundesminister für Familie und Jugend, Erster Familienbericht, 27; Bericht der Sachverständigenkommission, Zweiter Familienbericht, 24. Vgl. Bundesminister für Familie und Jugend, Erster Familienbericht, 19f.; Neidhardt, Familie, 33f. Vgl. Meyer/Schulze, Frauen, 170. Vgl. Gysi/Meyer, Leitbild, 144.

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und Gesellschaft in den frühen 1950er Jahren, weshalb sich mehr Paare entweder entschlossen, Kinder zu bekommen, oder den zuvor zurückgestellten Kinderwünschen nun nachgaben. Zweitens sank das Alter der Frauen bei der Erstgeburt. Dadurch stieg die Zahl der Lebendgeburten von 820.000 im Jahr 1955 auf 1,1 Millionen 1964. Allerdings kulminierte gegen Mitte der 1960er Jahre die Geburtenziffer und der Babyboom der frühen Bundesrepublik endete. Zu diesem Zeitpunkt entschieden sich die um 1939 geborenen Frauen gegen die Geburt eines dritten Kindes bzw. die Generation der 1946 geborenen Frauen gegen ein zweites Kind. Bis 1975 halbierte sich beinahe die absolute Zahl der jährlichen Geburten auf 600.000. Auch in der DDR ging die absolute Zahl der Geburten zurück. Sie fiel von 263.000 1960 auf 182.000 im Jahr 1975.25 In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre setzte somit in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, ein deutlicher Fertilitätsrückgang ein, der bis Mitte der 1970er Jahre anhielt. Diese Entwicklung wird in den Sozialwissenschaften unter Verweis auf den ersten Geburtenrückgang zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und dem Ende der 1920er Jahre als zweiter demographischer Übergang bezeichnet.26 Aus zeitgenössischer Perspektive galt diese Entwicklung als ein weiterer wichtiger Indikator für die „Krise der Familie“ und wurde vielfach noch dramatischer bewertet als der Rückgang der Heiratsneigung. Das Ausmaß des Geburtenrückgangs kann mittels unterschiedlicher statistischer Berechnungsmethoden beziffert werden. Im politischen Diskurs wurden meist die absoluten Geburtenzahlen herangezogen, da sie für Entscheidungen und Prognosen im Hinblick auf die Entwicklung der Renten oder den Bedarf an Kindergarten-, Schul- und Studienplätzen von ausschlaggebender Bedeutung sind.27 Sozialwissenschaftler griffen demgegenüber primär auf drei andere Daten zurück, um Aussagen über die Geburtenintensität und das Geburtenniveau machen zu können: die zusammengefasste Geburtenziffer, die tempobereinigte Geburtenziffer und die kohortenspezifische Geburtenziffer. Alle drei Indikatoren belegen für West- und Ostdeutschland gegen Mitte der 1960er Jahre einen signifikanten Einbruch beim Geburtenniveau und in den 1970er Jahren eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau, wenngleich in der DDR die Zahl der Geburten während der zweiten Hälfte der 1970er Jahre aufgrund einer pronatalistischen Bevölkerungspolitik erneut leicht anstieg. Nach der Wiedervereinigung 1990

25

26

27

Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 165f.; Korte, Bevölkerungsstruktur, 19; Niehuss, Familie in der Bundesrepublik Deutschland, 225; Münch, Familien-, Jugend- und Altenpolitik (1966–1974), 638f. Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 178ff., 185–189; Meyer, Wandel, 416f. Für einen knappen Überblick vgl. Birg, Zeitenwende, 42–52; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 351–372; Sieder, Sozialgeschichte, 255–259. Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 164f.; Paulus, Familienrollen, 109.

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3,00

BRD/alte Bundesländer

DDR/neue Bundesländer

2,50 2,00 1,50 1,00 0,50

1960

1964

1968

1972

1976

1980

1984

1988

1992

1996

2000

Abbildung 2: Zusammengefasste Geburtenziffer in Bundesrepublik und DDR, 1960–2000 Quelle: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.

verzeichneten die neuen Bundesländer abermals einen markanten Einbruch. Dieser Trend beruhte auf finanziellen Unwägbarkeiten für die private Lebensgestaltung, die mit dem Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft einhergingen. Ehepaare zögerten infolgedessen die Gründung einer Familie hinaus, was sich in einem temporären statistisch messbaren Rückgang niederschlug, den Zeitgenossen als „Geburtenschock“ oder „Geburtenkrise“ bezeichneten. Allerdings trugen noch weitere Veränderungen zu dem rapiden Einbruch bei. Insbesondere besser gebildete junge ostdeutsche Frauen zogen nach dem Mauerfall zum Arbeiten in die alten Bundesländer. Das führte neben dem Geburtenrückgang auch zu einem Einbruch bei den Heiratsziffern. Zudem legen sozialwissenschaftliche Studien nahe, dass in den neuen Bundesländern während der 1990er Jahre das Alter der Mutter bei der Erstgeburt deutlich angestiegen sei. Da diese sozialstrukturelle Verschiebung jedoch bei der Kalkulation der zusammengefassten Geburtenziffer nicht berücksichtigt wird, weisen die Statistiken diesen Trend als einen Fertilitätsrückgang aus.28 Die jeweils gewählte statistische Berechnungsmethode bildet somit unter Umständen die Geburtenentwicklung nicht hinreichend ab. Insbesondere die am weitesten verbreitete Methode, die zusammengefasste Geburtenziffer, weist meh28

Vgl. Kreyenfeld/Konietzka, Wandel, 122f., 126f., 129; Adler, Social Change, 40–44; Peuckert, Familienformen (2012), 166f., 169–172, 175ff.; Neumaier/Ludwig, Individualisierung, 266ff.

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rere Defizite auf. Die zusammengefasste Geburtenziffer gibt die durchschnittliche Kinderzahl an, die eine 15- bis 49-jährige Frau bekommen wird und basiert auf der Messung des durchschnittlichen Geburtenverhaltens der Frauen in einem jeweiligen Kalenderjahr sowie auf der Annahme, dass diese Rate während der Fruchtbarkeitsphase einer jeden Frau konstant wäre. Auf der Basis dieser Berechnungsmethode gebaren die Frauen in West- und Ostdeutschland im Schnitt folgende Anzahl an Kindern29 : Tabelle 2: Zusammengefasste Geburtenziffer in West- und Ostdeutschland, ausgewählte Jahre

1964 1975 1980 1985 1989

Westdeutschland

Ostdeutschland

2,54 1,45 1,44 1,28 1,39

2,51 1,54 1,94 1,73 1,56

Quelle: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.

Aufgrund der mathematischen Vorannahmen handelt es sich hierbei jedoch stets um einen Schätzwert hinsichtlich der Frage, wie viele Kinder die Frauen im Laufe ihres Lebens bekommen würden. Insofern ist die zusammengefasste Geburtenziffer ein höchst problematischer statistischer Indikator, zumal in der öffentlichen, bisweilen auch in der wissenschaftlichen Debatte, seine methodischen Defizite nicht hinreichend diskutiert werden. Zum Beispiel verliert die Geburtenziffer deutlich an Aussagekraft, wenn sich das Alter der Frauen bei der Geburt ihrer Kinder verschiebt, da dieses nicht in die Kalkulation einfließt. Dieser Fall trat in den 1970er und 1980er Jahren in Westdeutschland ein. Das Alter einer verheirateten Frau lag bei der Geburt ihres ersten Kindes 1970 bei 24,2 Jahren und stieg bis 1990 auf 27,0 Jahre an. Um solche Veränderungen berücksichtigten zu können, bietet sich als Alternative die sogenannte tempobereinigte Geburtenziffer an. Im Mittel lag der Wert der tempobereinigten Geburtenziffer in beiden Teilen Deutschlands zunächst unter dem der zusammengefassten Geburtenziffer. Dieser Unterschied resultierte vor allem aus dem gesunkenen Alter der Frauen bei der Erst- und Zweitgeburt in den frühen 1950er Jahren. Als in Westdeutschland das Alter der Mütter bei den Geburten signifikant anstieg, kehrte sich das Verhältnis um. Zwischen 1971 und 1987 lag der Wert der tempobereinigten Geburtenziffer im Durchschnitt um 0,18 Punkte über dem Wert der zusammengefassten Geburtenziffer. Demgegenüber blieb in der DDR das Geburtsalter weitgehend konstant, sodass sich die Ergebnisse beider Berechnungsmethoden nicht wesentlich unterschieden. Da nach 1990 in den alten 29

Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 170.

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und den neuen Bundesländern das Geburtsalter der Frauen anstieg, vergrößerte sich die Abweichung zwischen beiden Kalkulationsarten. Zwischen 1997 und 1999 übertraf die tempobereinigte Geburtenziffer die zusammengefasste Geburtenziffer um 0,37 bis 0,43 Punkte. Die zusammengefasste Geburtenziffer neigte damit seit den 1970er Jahren generell dazu, die durchschnittlichen Geburten der Frauen zu unterschätzen.30 Eine reale Entwicklung der Geburtenzahlen bildet keiner der beiden Schätzwerte ab. Hierfür wird die sogenannte Kohortenfertilität oder kohortenspezifische Geburtenziffer herangezogen. Sie gibt an, wie viele Kinder die Frauen eines bestimmten Jahrgangs durchschnittlich tatsächlich bekommen haben, und kann daher erst ermittelt werden, wenn die reproduktive Phase des jeweiligen Jahrgangs – zwischen 15 und 45 bzw. 49 Jahren – zu Ende gegangen ist. Diesen Indikator können zeitgenössische Beobachter damit nicht heranziehen und stützen sich folglich auf die zusammengefasste oder tempobereinigte Geburtenziffer.31 Die reale Kinderzahl lässt sich erst rückblickend bestimmen. Hier zeigt sich, dass auch die zusammengefasste Geburtenziffer einen deutlich niedrigeren Wert ausweist als die Kohortenfertilität. Während die Kohortenfertilität für Frauen der Geburtsjahrgänge 1964 bis 1968 in den alten Bundesländern bei 1,51 lag, erreichte die zusammengefasste Geburtenziffer einen Wert von nur 1,37. Der Vergleich beider Indikatoren deutet aber noch auf ein weiteres methodisches Problem hin. Während die zusammengefasste Geburtenziffer für Westdeutschland eine annähernd stabile Geburtenentwicklung auf niedrigem Niveau nahelegt, weist die Kohortenfertilität demgegenüber einen allmählichen und kontinuierlichen Rückgang der Geburten aus. Darüber hinaus berücksichtigen die Berechnungen nicht, dass die Kinderzahl von Müttern (der Geburtsjahrgänge 1933 bis 1973) in Deutschland relativ konstant geblieben ist und der Geburtenrückgang vielmehr vom Anstieg der Zahl der kinderlosen Frauen verursacht wurde.32 Während der erste demographische Übergang insbesondere auf einen Rückgang der Zahl der Familien mit vier und mehr Kindern Anfang des 20. Jahrhunderts zurückgeführt werden kann, änderte der zweite Geburtenrückgang nach Ansicht der Historikerin Merith Niehuss nicht nur die quantitative, sondern auch die qualitative Zusammensetzung der Familien.33 Einen Aufschluss über die individuellen Gründe, warum sich Paare für oder gegen Kinder entschieden, geben die aggregierten statistischen Erhebungen allerdings nicht. Mehrere Faktoren waren hier wie bei den Heiratsmotiven miteinander verwoben, deren 30

31 32 33

Vgl. ebenda, 172f.; Luy/Pötzsch, Schätzung, 594f.; Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, in: http://www.bib-demografie.de/DE/ZahlenundFakten/06/Abbildungen/a_ 06_18_durchschnittl_alter_muetter_geburt_1kind_best_ehe_d_w_o_ab1960.html?nn= 3073508 (letzter Zugriff am: 16.11.2015). Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 173. Vgl. ebenda, 173f.; Kreyenfeld/Konietzka, Wandel, 126. Vgl. Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 351ff., 377; dies., Einführung, 29.

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2,2 2,1 2,0

Endgültige Kinderzahl Ostdeutschland Endgültige Kinderzahl Westdeutschland

1,9 1,8 1,7 1,6 1,5

19 37 19 39 19 41 19 43 19 45 19 47 19 49 19 51 19 53 19 55 19 57 19 59 19 61 19 63 19 65 19 67 19 69

1,4

Abbildung 3: Endgültige Kinderzahl je Frau der Geburtsjahrgänge 1933 bis 1970 in West- und Ostdeutschland Quelle: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.

genauer Einfluss sich jedoch bisher nicht genau bestimmen ließ. Soziologische Studien benennen die elterlichen Erwartungen bezüglich potenzieller Kinder wie den materiellen, psychologischen oder sozialen Nutzen als drei Faktoren, welche den Kinderwunsch von Paaren prägen können. Darüber hinaus beeinflussen mehrere sozialstrukturelle Elemente die Kinderzahl wie das Alter der Partner, die Art der Paarbeziehung, die persönlichen Erfahrungen mit Kindern und die Berufsorientierung der Frau. Obwohl die Vielzahl der Faktoren keine Rückschlüsse auf eindeutige Kausalbeziehungen hinsichtlich des Kinderwunsches zulassen, argumentieren sozialwissenschaftliche Studien, dass der Fertilitätsrückgang auch von einem „Funktionswandel von Kindern“34 und einem geänderten Selbstverständnis der Eltern hervorgerufen worden sei.35 Gerade für die Ehefrauen brachte in den 1960er Jahren aber die Kombination aus rückläufigem Heiratsalter und damit dem Alter bei der Erstgeburt sowie der reduzierten endgültigen Geburtenzahl auf individueller Ebene eine weitreichende Veränderung mit sich. Dadurch begann der Lebensabschnitt, in dem sich 34 35

Nave-Herz, Familie heute, 33. Vgl. Kreyenfeld/Konietzka, Wandel, 126; Nave-Herz, Familie heute, 31ff.; Sieder, Sozialgeschichte, 257; Peuckert, Familienformen (2012), 223f.

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Frauen primär um Kindererziehung und Haushaltsführung kümmerten, früher und verkürzte sich in zahlreichen Fällen auf einen Zeitraum von gut zehn Jahren. So entstand eine lange nachelterliche Phase – die „‚empty-nest‘-Phase“36 – als neues Sozialphänomen, also der Zeitabschnitt, in dem keine Kinder mehr in der elterlichen Wohnung lebten. Das bedeutete auch, dass die Frauen im Alter zwischen Mitte 30 und Anfang 40 theoretisch wieder voll ins Berufsleben einsteigen oder anderweitig am öffentlichen Leben teilhaben konnten und auch wollten, wie der Zweite Familienbericht 1975 offenbarte.37 Gegen Mitte der 1970er Jahre setzte abermals eine Veränderung ein, die weitreichende Folgen für die Formen des Zusammenlebens hatte. Die Frauen begannen, die Erstgeburt immer weiter aufzuschieben. 1970 lag das Alter westdeutscher Frauen bei der ehelichen Erstgeburt bei 24,2 Jahren, 1975 bei 24,9 Jahren, 1980 bei 25,5 Jahren, 1985 bei 26,5 Jahren und 1990 bei 27,0 Jahren. Damit zeichnete sich ein Trend ab, der bis ins frühe 21. Jahrhundert anhielt. 2010 überschritt das Alter westdeutscher Frauen bei der Erstgeburt das 30. Lebensjahr. Einerseits bedeutet dies, dass Männer und Frauen über einen längeren Zeitraum die Möglichkeit hatten, unterschiedlichste Formen des Zusammenlebens wie Wohngemeinschaft, nichteheliche Lebensgemeinschaft oder das Leben als kinderloses Ehepaar auszuprobieren. Das Phänomen der verlängerten nachelterlichen Phase reduzierte dieser Trend jedoch nicht, da die Kinderzahl auf niedrigem Niveau stagnierte und die Lebenserwartung anstieg. Familie nahm demnach im Lebensverlauf einer Person lediglich noch einen kleinen Zeitraum ein. Diese Veränderung betraf beide Partner. Sie mussten immer mehr Aufgaben – Familiengründung, Geburt der Kinder und berufliche Karriere – in einem immer kleiner werdenden Zeitfenster, ungefähr zwischen dem 27. und 35. Lebensjahr, bewältigen. Dieses neue Phänomen, das sich bis in frühe 21. Jahrhundert verschärfte, fängt der Begriff „Rush-Hour des Lebens“38 ein.39 Während diese Veränderungen erst in den 1970er und 1980er Jahren ihre Wirkung entfalteten, offenbarte sich der Geburtenrückgang zeitgenössischen Beobachtern unmittelbar. Sie sprachen erneut vom Untergang der Deutschen. An diese Tradition knüpfte 1960 die Katholikin Helene Wessel an, als sie warnte, dass es in Deutschland immer weniger Kinder gebe und eine wachsende Grup36 37

38 39

Herlth/Kaufmann, Einführung, 6. Vgl. Bundesminister für Familie und Jugend, Erster Familienbericht, 25; Bericht der Sachverständigenkommission, Zweiter Familienbericht, 38, 65; Die Lage der Familien. Dritter Familienbericht (Zusammenfassender Bericht), 30f.; Die Lage der Familien. Dritter Familienbericht, 52–55. Peuckert, Familienformen (2012), 231. Vgl. Nave-Herz, Familie heute, 25–28; Peuckert, Familienformen (2012), 232–235; Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, in: http://www.bib-demografie.de/DE/ ZahlenundFakten/06/Abbildungen/a_06_18_durchschnittl_alter_muetter_geburt_ 1kind_best_ehe_d_w_o_ab1960.html?nn=3073508 (letzter Zugriff am: 15.12.2015).

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pe von Frauen aufgrund ihrer Berufsarbeit die Kinder vernachlässige.40 Das Frauenreferat der FDP wiederum sprach gegen Mitte der 1960er Jahre davon, dass die Deutschen im europäischen Vergleich die „niedrigsten Geburtenziffern“ hätten und daher „ein vergreisendes und sterbendes Volk“41 seien. Beide Beobachter griffen somit auf altbekannte rhetorische Argumentationsmuster zurück. Zugleich radikalisierte sich aber auch die Debatte während der 1970er Jahre, als die Geburtenzahlen weiter zurückgingen und sich gerade in den Augen von Unionspolitiker die „Krise der Familie“ zu verschlimmern drohte. Auch die Medien rezipierten die Entwicklung wie die ZDF-Fernsehsendung Politik und Zeitgeschehen 1971, die sich mit tagespolitischen Themen beschäftigte. Der Moderator Hans-Erich Koertgen warnte vor dem „Geburtenschwund“, da er eine „Gefahr für unsere soziale Sicherheit“42 darstelle. „Statistiker schlagen Alarm“,43 fügte der Kommunikationswissenschaftler Otto B. Roegele dem Statement Koertgens hinzu. Zudem registrierten die amtlichen Statistiken 1972 mehr Sterbefälle als Geburten. Der CDU-Politiker Albert Burger bezog ebenfalls Stellung und warf der Bundesregierung 1972 auf einer Tagung des Familienverbandes eine „kinderfeindliche“ Politik vor. Er zitierte den Psychotherapeuten und evangelischen Theologen Rudolf Affemann: „Die Mutter verhält sich kinderfeindlich, sie muß sich kinderfeindlich verhalten, weil die heutige Gesellschaft einkommensschwachen Müttern zumutet, berufstätig zu sein“,44 schlussfolgerte dieser.45 Nach dieser Lesart hätten vor allem eine steigende Erwerbsquote von Ehefrauen und Müttern sowie die damit verbundenen „Vorstellungen von persönlicher Freiheit, Selbstverwirklichung, erstrebtem Lebensstandard“46 einen negativen Effekt auf die Geburtenentwicklung. Allerdings wiesen bereits soziologische Studien in den 1970er und 1980er Jahren darauf hin, dass die Berufsarbeit von Frauen lediglich ein Faktor ist, der die Kinderzahl bestimmt. Zudem lässt sich aus einer weiblichen Berufstätigkeit die endgültige Kinderzahl 40

41 42 43 44 45 46

Vgl. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 3. WP 141, Helene Wessel, Kinder und Jugendliche in den Familien der Bundesrepublik, SPD-Pressedienst, 14. Juli 1960, 5–7, hier 5. Für diesen Topos vgl. Etzemüller, Untergang. ADL A 6-16, Entwürfe des Frauenreferats zur Familienpolitik, ohne Ort, [November 1964], Bl. 108–111, hier Bl. 109. ACDP 08-005-117/1, Sendeprotokoll Politik und Zeitgeschehen. Titel: Fragen zur Zeit – mit Professor Otto B. Roegele, Sendemitschnitt vom 28. August 1971, 1. Ebenda. ACDP 01-290-16/1, Albert Burger, Rede auf der Internationalen Tagung des Familienverbandes in Saarbrücken am 23. September 1972, 6. Vgl. ebenda. Für diesen Topos vgl. ebenfalls ACSP D 3/44, Unterlagen für Wahlreden. Landtagswahl ’82, ohne Ort, 1982, 189. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 7. WP 2/BTFG002561, Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Neufassung des Bad Sodener Papiers. Antw.: „Gesprächskreis Bevölkerungsfragen beim BMI. Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Folgen“.

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nicht ableiten.47 So erklärte der Bevölkerungswissenschaftler und kommissarische Leiter des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung Hermann Schubnell 1973, dass der Einbruch bei der Fertilität aus einem „Geflecht von vielfältigen Ursache-Wirkungsbeziehungen“48 resultiere, die abhängig von Bildung bzw. sozialem Status, Wohnort, Alter der Frau bei der Erstgeburt und der Rolle der Frau variierten. Von einem drohenden Aussterben der Deutschen könne dabei keinesfalls gesprochen werden, hob Schubnell hervor. Auch seien die Frauen nicht weniger „kinderlieb“.49 Lediglich zwei Prozent der Erwachsenen wünschten sich keine Kinder.50 Die öffentliche Debatte heizte sich aber in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre weiter auf. Erneut attackierte der Unionspolitiker Burger die Bundesregierung mit dem Vorwurf, sie betreibe eine „Politik

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Vgl. Hoffmann-Nowotny, Erwerbstätigkeit, 223, 227. Diese Position findet sich in zahlreichen zeitgenössischen Stellungnahmen. Vgl. Bericht der Bundesregierung über die Lage der Jugend (1965), 10; Schubnell, Geburtenrückgang, 23, 36, 47; AdsD, Protokolle der SPDBundestagsfraktion, 7. WP 2/BTFG002561, Ergebnisse aus den bisherigen Untersuchungen des BIB über das veränderte generative Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland, ohne Ort, ohne Datum, 2f.; AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 7. WP 2/BTFG002561, Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Neufassung des Bad Sodener Papiers. Antw.: „Gesprächskreis Bevölkerungsfragen beim BMI. Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Folgen“, 1; Die Lage der Familien. Dritter Familienbericht (Zusammenfassender Bericht), 43; BArch Koblenz B 189/14826, Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Rollmann, Frau Sommel, KrollSchlüter, Burger, Frau Schleicher, Orgaß, Sauer (Salzgitter), Braun und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU – Drucksache 7/2414, Betr.: Situation der Kinder in Deutschland, 10. März 1975, 1; AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 7. WP 2/BTFG002560, Peter Diehl-Thiele, „Pillenknick“ nicht ohne Folgen. Vom Jahr 2000 an muß eine schrumpfende Zahl von Erwerbstätigen für einen neuen „Rentenberg“ aufkommen, in: Süddeutsche Zeitung, 20. September 1976. Für den Konflikt zwischen Mutterschaft und Beruf vgl. BArch Koblenz B 189/3184, Expertise von Barbara Schmitt-Wenkebach, Überlegungen und Beantwortung der Fragen zum Themenbereich „Die Aufgabe der Frau für die Gesundheit in Familie und Gesellschaft“, [Berlin, 24. November 1971], Bl. 127–143, hier Bl. 134. Schubnell, Geburtenrückgang, 23. Vgl. Bolte, Typen. Zur Person Hermann Schubnells und der Frage der Kontinuität nationalsozialistischer Eliten im Statistischen Bundesamt vgl. Kuller, Demographen, 157f. Schubnell, Geburtenrückgang, 73. Laut dem Dritten Familienbericht ist ein Drittel des Geburtenrückgangs von demographischen Veränderungen hervorgerufen worden. Zu zwei Dritteln sei ein verändertes Verhalten verantwortlich. Zusammengefasst bei Jakob, Familienbilder, 56f. Vgl. Schubnell, Geburtenrückgang, 9, 73; BArch Koblenz B 189/14826, Rede des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, Antje Huber, auf dem familienpolitischen Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung am 27. April 1979 in Düsseldorf, in: Informationen des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, ohne Datum, 1, 3; AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 7. WP 2/BTFG002561, Ergebnisse aus den bisherigen Untersuchungen des BIB über das veränderte generative Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland, ohne Ort, ohne Datum, 3.

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der Mißachtung sittlicher Werte und des nationalen Selbstmordes auf Raten“.51 1977 titelte Der Spiegel „Baby-Baisse“.52 Selbst Schubnell partizipierte nun am normativ aufgeladenen Diskurs und sprach von einem sich nähernden „point of no return“,53 der ein politisches Gegensteuern unmöglich mache. 1978 wurde dann der vorläufige historische Tiefstand mit 576.468 Geburten erreicht.54 Ohne von diesen Kontroversen beeinflusst zu werden, zeigte sich beim Kinderwunsch innerhalb der westdeutschen Gesellschaft während der 1970er Jahre eine Homogenisierungstendenz. Die Mehrheit der Westdeutschen favorisierte in den 1970er Jahren endgültig das Ideal der Zwei-Kind-Familie, was die Soziologin Helge Pross als eine „kaum mehr zu überbietende Nivellierung der Idealvorstellungen“55 bezeichnete. In der sozialen Praxis determinierte wiederum der soziale Status die Kinderzahl. Familien aus der Mittelschicht tendierten verstärkt zu zwei „Wunschkindern“. Familien von Landwirten und einkommensstarken Bevölkerungsgruppen, aber auch die Familien von un- und angelernten Arbeitern wichen von diesem Ideal ab. Sie bekamen überdurchschnittlich viele Kinder. Helge Pross arbeitete in der Studie Die Wirklichkeit der Hausfrau heraus, dass in ihrem Sample jede zweite der Arbeiterfamilien mindestens drei Kinder habe, doch lediglich jede vierte sich so viele Kinder gewünscht hätte.56 Die einkommensschwachen Familien warfen noch ein weiteres Problem auf. Aus der Perspektive der Mutter ging gerade hier die große Kinderzahl mit einer überdurchschnittlichen Belastung einher. „Erschöpfung und Depression“57 lägen bei zahlreichen Müttern von drei und mehr Kindern vor, betonte Pross. Dieser Befund galt unabhängig davon, ob die Mütter berufstätig waren oder sich lediglich um den Haushalt kümmerten, wobei letztere Gruppe von Müttern vor allem ab dem vierten Kind Anzeichen einer Überlastung zeigten. Freiräume hatten die

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AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 7. WP 2/BTFG002560, Winfried Didzoleit, CDU lastet der Regierung „nationalen Selbstmord auf Raten“ an. Albert Burger: Statt positiver Familienpolitik die Möglichkeit zu Abtreibungen am Fließband, [Frankfurter Rundschau ca. 1976]. Baby-Baisse, 68. Siehe auch AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 7. WP 2/BTFG002560, Hans W. Jürgen, Wenn Kinder knapp werden. Anmerkungen zum Geburtenrückgang in der Bundesrepublik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. November 1976. Baby-Baisse, 70. Vgl. Die Lage der Familien. Dritter Familienbericht (Zusammenfassender Bericht), 42; Münch, Familienpolitik (1974–1982), 640. Zur Debatte um § 218 vgl. u. a. Herwig, Urteil; Gante, § 218; Böke, Leben; Jütte (Hg.), Geschichte; Schulz, Atem, 143–174. Pross, Wirklichkeit, 68. Vgl. ebenda, 65–68; Bundesminister für Familie und Jugend, Erster Familienbericht, 35ff.; BArch Koblenz ZSg. 132/1777, Institut für Demoskopie Allensbach, Familienpolitik. Materialzusammenstellung, Dezember 1968; FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Familie heute – dreimal anders, in: Für Sie (31. Juli 1980), 56–58, hier 56. Pross, Wirklichkeit, 241.

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Mütter in diesen Familien kaum. Darüber hinaus traten Spannungen und Konflikte wesentlich häufiger auf als in Familien mit weniger Kindern. Erschwerend kamen noch finanzielle Probleme der Familien hinzu, da das Einkommen der Ehemänner meist nicht ausreichte, um die Familien zu ernähren. Zudem lebten gerade in diesen Familien mehr Mitglieder als im bundesweiten Durchschnitt auf beengtem Wohnraum und profitierten damit nicht vom durchschnittlichen Anstieg des Wohnraums in der Bundesrepublik von 50 qm Anfang der 1950er Jahre auf 70 qm um 1960 und 86 qm 1970.58 Zahlreiche Paare korrigierten ihren ursprünglichen Kinderwunsch nach der Geburt ihres ersten Kindes, sodass sie schließlich weniger Kinder bekamen, als sie zunächst geplant hatten. Der Dritte Familienbericht befasste sich 1979 mit diesem sozialen Phänomen und verwies explizit auf Frauen mit niedriger Schulbildung. Diese Mütter, so die These des Berichts, seien aufgrund ihres geringen Einkommens und physischer Vorbelastungen den Herausforderungen einer Mutterschaft „offenbar weniger gewachsen“59 als Frauen mit einem höheren Bildungsabschluss. Unklar ist, warum diese Beobachtung der Korrektur der Familienplanung nach dem ersten Kind im zeitgenössischen Urteil auf die niedrigeren sozialen Schichten beschränkt blieb. Seit den 1970er Jahren argumentierten sozialwissenschaftliche Erhebungen, dass es sich hierbei um einen generellen Trend handele. Eltern aus allen sozialen Schichten tendierten dazu, sich nach der Erstgeburt weniger Kinder zu wünschen. Diese veränderte Einstellung zum Kind bezeichneten Wissenschaftler als den sogenannten „Erst-Kind-Schock“. Andere sprachen vom Ende des höchstens bis zu sechs Monate nach der Geburt anhaltenden baby honeymoon. Darunter verstanden sie die mit der Geburt einhergehende stressbedingte Veränderung der dyadischen Paarbeziehung hin zu einem triadischen Beziehungsgeflecht. Paare entschieden sich aber nicht nur aufgrund ökonomischer Belastungen und psychischer Herausforderungen für weniger Kinder. Sie maßen den Erziehungsaufgaben mehr Bedeutung bei und wollten diesen bei jedem Kind gerecht werden, was der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann als „verantwortete Elternschaft“60 bezeichnete. Auch hierfür erschien ihnen eine Kinderzahl zwischen ein und zwei Kindern ideal. Insofern sprachen aus der jeweils subjektiven Perspektive zahlreiche Gründe dafür, weniger Kinder zu bekommen. In der westdeutschen politischen Debatte jedoch blieben sie weitgehend ausgeblendet. Hier standen die Folgen für die Sozialstruktur der Bevölkerung, also ihre Überalterung, im Vordergrund.61 58 59 60 61

Vgl. ebenda, 241ff.; Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, 190. Die Lage der Familien. Dritter Familienbericht (Zusammenfassender Bericht), 44. Siehe u. a. bei Kaufmann, Familie und Modernität, 395; ders., Zukunft, 42f.; ders., Verfassung, 53ff. Für diese Position vgl. ebenfalls Schubnell, Geburtenrückgang, 9, 73. Vgl. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 7. WP 2/BTFG002561, Ergebnisse aus den bisherigen Untersuchungen des BIB über das veränderte generative Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland, ohne Ort, ohne Datum, 3f.; Die Lage der Familien. Dritter

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Diese Entwicklungen haben zahlreiche Soziologen in der Bundesrepublik untersucht. Für die DDR liegen keine vergleichbaren Daten vor. Dieser Unterschied resultierte aus der Struktur des ostdeutschen Wissenschaftssystems und den politischen Vorgaben, wie dies einleitend dargelegt worden ist. Ungeachtet dieser Unterschiede können singulär erhobenen Daten der DDR für die historiographische Analyse herangezogen werden. So zeigen zeitgenössische sozialwissenschaftliche Erhebungen aus der DDR auf, dass der Trend zur ZweiKind-Familie kein westdeutsches Phänomen darstellte und dass ebenfalls eine Abweichung zwischen idealer und realer Kinderzahl existierte. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 1970 wünschten sich in der DDR 76 Prozent der Frauen und 71 Prozent der Männer zwei Kinder. 14 bzw. 18 Prozent favorisierten ein Kind und lediglich sieben bzw. acht Prozent drei Kinder. Noch eindeutiger fiel das Votum 1978 aus. Nun gaben sogar 84 bzw. 80 Prozent der Frauen bzw. der Männer an, dass sie am liebsten zwei Kinder bekommen wollten. Bis zum Ende der DDR blieb das Ideal der Zwei-Kind-Familie bestehen, wie eine Umfrage aus dem Jahr 1987 belegt. Von politischer Seite wurde wiederum aus demographischen Gründen das Ideal der „Zwei-Drei-Kinder-Familie“62 angestrebt. Die realen Kinderzahlen wichen von beiden Idealen jedoch deutlich ab. 1978 gaben 27 Prozent der Frauen und 36 Prozent der Männer an, dass sie keine Kinder hätten, 37 Prozent der Frauen und 38 Prozent der Männer, dass sie ein Kind, 30 bzw. 22 Prozent, dass sie zwei Kinder und vier bzw. drei Prozent, dass sie drei Kinder hätten. Dieser Befund muss jedoch relativiert werden, da es sich hier nicht um die Kohortenfertilität handelt. Vielmehr hatte das Institut für Meinungsforschung beim ZK der SED lediglich die Altersgruppe der 18- bis 35-Jährigen befragt. Insofern hatten viele Paare schlicht noch nicht die Zeit gehabt, mehr oder überhaupt Kinder zu bekommen. Ungeachtet dieser Einschränkung tendierten aber die Mehrzahl der Familien in der DDR entweder zu einem Kind oder zwei Kindern.63

62 63

Familienbericht (Zusammenfassender Bericht), 44; Gloger-Tippelt, Übergang, 67, 75–78; Schneider, Elternschaft, 12, 16–19; Widmer/Bodenmann, Beziehungen, 172; Peuckert, Familienformen (2012), 244, 290f.; Schneider/Diabaté/Lück, Gegenwärtige Familienleitbilder, 22–24; Nave-Herz, Familie heute, 20f., 34f., 56; Kaufmann, Zukunft, 42ff. Zur Rezeption des Modells der „verantwortlichen Elternschaft“ durch die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen vgl. EZA 2/11677, Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen (Hg.), Aufgaben der Familienpolitik. Familienpolitisches Programm 1969 der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen. Peuckert, Familienformen (2012), 8. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/17/15, Ergebnisse der Umfrage zur Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft vom November 1970, 4; BArch Berlin DC 4/234, Zentralinstitut für Jugendforschung, Forschungsbericht Zu Fragen der sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung von Mädchen und jungen Frauen in der DDR (Frauenstudie), Leipzig, Juli 1975, 55; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/2.042/34, Abteilung Frauen, Einschätzung der Umfrage zur Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft – September 1975, Berlin, 19. November 1975, Bl. 69; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/2.042/34, Institut für Meinungsforschung beim ZK der SED, Bericht über eine Umfrage zu einigen Fragen von Kind und Familie in der

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Die Partner benannten hierfür um 1970 ähnliche Gründe wie die westdeutschen Paare, die aber anders verteilt waren. In einer Umfrage aus dem Jahr 1970 führten fast 40 Prozent der Frauen und Männer den Mangel an Krippenplätzen als Grund an. Am schwersten wogen jedoch die beengten Wohnverhältnisse, die 54 bzw. 60 Prozent der Frauen bzw. Männer benannten. Schließlich lag in der DDR die Größe einer „Normalwohnung“ konstant bei 58 qm, womit es anders als im Westen nicht zu einem Wohnraumzuwachs kam. Für 34 bzw. 42 Prozent waren wiederum ökonomische Faktoren ausschlaggebend. Sie kritisierten, dass Kinder zu viel kosten würden. Die Befragten zählten darüber hinaus auch individuelle Interessen auf. 29 Prozent der Frauen und 37 Prozent der Männer gaben an, dass man ohne bzw. mit einem Kind „angenehmer leben“ könne. Da Kinder eine zusätzliche Belastung darstellen würden, entschieden sich wiederum 21 Prozent der Frauen und 18 Prozent der Männer gegen mehrere Kinder. Jeweils zehn Prozent erklärten, dass sie sich auch gegen mehrere Kinder entschieden hätten, da sie die „berufliche Entwicklung“ der Frau gehemmt hätten.64 Vielfach beschränkten ostdeutsche Paare ihre Kinderzahl aufgrund ökonomischer und beruflicher Überlegungen, aber auch wegen der strukturellen Probleme mit der Kinderversorgung. Immer wieder äußerten sich die Befragten besorgt darüber, dass sie nicht wüssten, ob sie für ihre Kinder Plätze in Kinderkrippen, -gärten oder -horten bekommen würden. Mit der zunehmenden Berufstätigkeit der Frauen gewann dieser Grund aus der individuellen Perspektive der Paare zusätzlich an Signifikanz und wog wegen der höheren Erwerbsquote weitaus schwerer als in Westdeutschland. Zudem gaben die Befragten beengte Wohnverhältnisse, allgemeine Belastungen durch den Beruf und gestiegene Anforderungen an die Kindererziehung als weitere Motive an. Bereits hier zeichnete sich ab, dass – neben finanziellen Unterstützungen wie Geburtenbeihilfen, verbesserten Arbeitsbedingungen für Mütter und Zuweisung von Wohnraum – eine ausreichende Versorgung mit Kinderbetreuungsplätzen möglicherweise einen positiven Effekt auf die Geburtenentwicklung haben und damit eine zentrale bevölkerungspolitische Stellschraube darstellen könnte.65

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Gesellschaft, Berlin, 4. Juli 1978, Bl. 166f.; BArch Berlin DC 4/524, Zentralinstitut für Jugendforschung, Probleme der Vereinbarkeit beruflicher und familiärer Aufgaben bei jungen Werktätigen. Forschungsbericht zur Studie: Leistung und Lebensweise junger Frauen in der DDR, Leipzig, März 1987, 15. Siehe auch bei Huinink/Wagner, Partnerschaft, 159. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/17/15, Ergebnisse der Umfrage zur Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft vom November 1970, 4; Helwig, Familienpolitik (1971–1989), 480; Saldern, Häuserleben, 325. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/17/84, Staatliche Plankommission, Zur materiellen Lage der Familien mit Kindern und Vorschläge für weitere ökonomische Maßnahmen, Berlin, 16. Dezember 1963, 1f.; SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/17/83, Memorandum ohne Titel, Berlin, 27. Mai 1964, 4f.; BArch Berlin DP 1/SE3791, Auszüge aus Leserzuschriften an die Nationalzeitung zum FGB-Entwurf, Berlin, 14. Mai 1964, 6.

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6.2.3 Rascher Anstieg der Ehescheidungsquote

Als ein dritter wichtiger statistischer Indikator für gesellschaftlichen Wandel firmierte die Ehescheidungsziffer. Sobald sie anstieg, galt dies vielfach als Beleg für eine vermeintliche „Krise der Familie“, wie bereits die Debatten der 1920er Jahre und frühen 1950er Jahre gezeigt hatten.66 Diese symbiotische Verbindung von „Krise der Familie“ und „Ehescheidung“ resultierte nach Darstellung des Soziologen Gerhard Baumert aus der „Zentrierung der Familie auf das einzelne Gattenpaar“,67 womit jede „Erschütterung“ der Institution der Ehe zwangsläufig „Besorgnis“ um die Zukunft der Familie hervorrufe. Die Krisendiagnose entsprang hier ebenfalls der einseitigen Fixierung auf das Ideal der christlichbürgerlichen Kernfamilie.68 Aus dieser Perspektive wog der Anstieg der Ehescheidungszahlen gegen Mitte der 1960er Jahre folglich doppelt schwer, zumal die Bundesregierung im August 1961 das Scheidungsrecht verschärft hatte. Sie beseitigte damals den § 48 Abs. 2 des Ehegesetzes, den Zerrüttungsparagraphen, den der Alliierte Kontrollrat nach dem Zweiten Weltkrieg vom NS-Scheidungsrecht übernommen hatte. Infolgedessen konnten Ehen nur noch nach dem Schuldprinzip geschieden werden. Ferner hatte der „schuldlose“ Ehepartner das Recht, jederzeit dem Scheidungsbegehren zu widersprechen.69 Mit dieser Gesetzesänderung verfolgte die Bundesregierung primär ideologische Ziele, denn so rückte das Scheidungsrecht näher an die rigoros ablehnende Position der katholischen Kirche oder praktizierender Katholiken wie Franz-Josef Wuermeling heran. Ebenso hatten 1961 gerade die evangelische Eherechtskommission und ihre Vertreterin Elisabeth Schwarzhaupt einen entscheidenden Beitrag geleistet, diese Reform durchzusetzen. Die evangelische Kirche beabsichtigte mit dieser Maßnahme, die Institution der Ehe zu stabilisieren und die Ehefrau davor zu schützen, von ihrem Mann „verlassen“ zu werden. Dass 1960 in Westdeutschland lediglich 164 Scheidungen gegen den Widerspruch eines Partners erfolgt waren, wie die geschiedene FDP-Politikerin, Anwältin und Verfechterin eines liberalen Scheidungsrechts Emmy Diemer-Nicolaus betonte, blieb dabei unberücksichtigt. Zudem gingen zu diesem Zeitpunkt bereits 67 Prozent aller Scheidungsklagen auf die Ehefrauen zurück. Also genau die Personen66

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Vgl. exemplarisch Archiv des IfZ ED 900-219, Hans Heigert, Höchste Freude – tiefste Verzweiflung. Mutmaßungen über die Zukunft von Ehe und Familie, in: Süddeutsche Zeitung, Feuilleton-Beilage, 24.–26. Dezember 1986, Bl. 131. Baumert, Ehe, 324. Vgl. ebenda. Vgl. Mikat, Erwägungen (I. Teil); ders., Erwägungen (II. Teil); ders., Erwägungen (III. Teil); ders., Erwägungen (IV. Teil); Blasius, Ehescheidung, 13; Münch, Familien-, Jugendund Altenpolitik (1957–1966), 565ff.; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, 99f.; Kuller, Familienpolitik, 52; Schwab, Entwicklungen, 314; Löhnig, Re-Education, 138. Zur Rolle des § 48 in der Nachkriegszeit vgl. ders., Familienbild; ders., Zeiten.

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gruppe, welche durch das restriktive Recht geschützt werden sollte, klagte selbst mehrheitlich auf Scheidung. Dieses Verhalten ist umso bemerkenswerter, da eine geschiedene Ehefrau rechtlich kaum abgesichert war. Die Anwältin DiemerNicolaus riet ihren scheidungswilligen Klientinnen aufgrund der drohenden verheerenden finanziellen und rechtlichen Folgen sogar oft von einer Scheidung ab. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass die Zahl der Frauen, die sich von ihren Ehemännern trennen wollten, weitaus höher gelegen hat, als die realen Scheidungszahlen vermuten lassen.70 Die neuen restriktiven Scheidungsbestimmungen deckten sich zumindest in Teilen mit der öffentlichen Meinung in Westdeutschland. Schließlich gaben in Allensbacher Umfragen 1963 35 Prozent der Männer und 40 Prozent der Frauen an, sie befürworteten die verschärften Scheidungsregelungen. Darunter ist jenes Viertel der Bevölkerung, das sogar eine weitere Verschärfung wünschte. Hier fällt im Vergleich zu 1949 eine deutliche Verschiebung auf. Damals hatten sich erst 13 Prozent der Männer und 14 Prozent der Frauen für eine Erschwerung ausgesprochen. Folglich hat im Laufe der 1950er Jahre die konservative Haltung zur Ehescheidung im Vergleich zum Jahrzehnt davor – und dem danach – deutlich an Gewicht gewonnen. Eine weitere für Westdeutschland repräsentative Erhebung vom Januar 1955, die unter Leitung des Soziologen Gerhard Baumert stattgefunden hatte, lieferte ein ähnliches Ergebnis: 43 Prozent der Männer und 48 Prozent der Frauen sprachen sich dafür aus, die Ehescheidung zu erschweren. Trotz dieser Tendenzen lehnte die Mehrheit der Bundesbürger die Ehescheidung nicht prinzipiell ab, wie den Allensbacher Umfragen ebenfalls zu entnehmen ist. 1963 erklärten gut zwei Drittel der Männer und Frauen, dass Ehen geschieden werden können sollten, und lediglich jeweils 15 Prozent sprachen sich explizit dagegen aus.71 70

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Vgl. Meyer, Frauen, 183f.; Grossmann, Kirche, 437; Höhn, Einflüsse, 344; ACDP 01-221-017, Franz-Josef Wuermeling, Notwendigkeit und Grundzüge der Familienpolitik, 3f.; AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 3. WP 140, Werden in Deutschland die Ehen zu leicht geschieden? Praktiker äußern sich zu der Forderung des Bundesfamilienministers Wuermeling, das Ehegesetz zu ändern, ohne Ort, ohne Datum; ACDP 01-221-017, Manuskript eines Radiobeitrages von Franz-Josef Wuermeling, in: Bayerischer Rundfunk, 2. Juni 1954, 4; ACDP 01-221-022 C.III.4, Bedeutung und Sicherung der Familie. Revision des Scheidungsrechts erforderlich – Gefährdung der sozialen Sicherheit. Ernste Forderungen des Bundesministers für Familienfragen, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 10, 16. Januar 1954, 73–75; AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 3. WP 140, Unterausschuss „Familienrechtsänderungsgesetz“, in: DeutschlandUnion-Dienst, 4. Jg, Nr. 18, 3. März 1961; Das zerrüttete Prinzip, 16; EZA 87/776, Hans Dombois, Die Reform des § 48 Abs. 2 des Ehegesetzes; ACDP 01-221-022, C.III.4, Abteilung F4, Vermerk, Bonn, 9. Juni 1961; Jahn, CDU. Vgl. BArch Koblenz B 141/36547, Institut für Demoskopie Allensbach (Hg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958–1964, 589; Baumert, Untersuchungen zum Problem der Ehescheidung (Juli 1955), 1; Baumert, Untersuchungen zum Problem der Ehescheidung (Januar 1956), 6, Tab. 23.

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Neben den rechtskräftigen Scheidungsurteilen bieten sich verschiedene Indikatoren an, die Höhe der Scheidungsrate zu ermitteln. Bei der rohen Ehescheidungsziffer wird die Zahl der Scheidungen in Relation zu 1.000 oder 10.000 Einwohnern gesetzt, wohingegen bei der Scheidungsziffer der Ehen 10.000 bestehende Ehen als Referenz dienen. Letztere Berechnungsmethode ermöglicht es, die Scheidungsrate von Ländern oder Regionen zu vergleichen. Als dritter möglicher Indikator kann die zusammengefasste Ehescheidungsziffer herangezogen werden, die die Scheidungsneigung eines Kalenderjahres in Prozent aufzeigt. Sie wird berechnet, indem die in einem Jahr gelösten Ehen auf alle Ehen des entsprechenden Heiratsjahrganges bezogen und über einen Zeitraum von 25 Jahren addiert werden. Folglich legt die zusammengefasste Scheidungsziffer offen, wie viele Paare geschieden würden, wenn die Scheidungsneigung eines Kalenderjahres über einen Zeitraum von 25 Jahren konstant bliebe. Auch hier handelt es sich somit um einen Schätzwert, der nicht den realen Anteil der Geschiedenen in der Bevölkerung abbildet. Gleichwohl reagiert dieser Indikator schnell auf gesellschaftliche Veränderungen und zeigt Trendentwicklungen auf.72 Alle Indikatoren belegen für Mitte der 1960er Jahre einen deutlichen Anstieg der Ehescheidungen, wobei die Scheidungsneigung in der DDR höher war als in der Bundesrepublik. Allerdings lagen in der DDR deutliche regionale Unterschiede vor. 1968 übertraf die Scheidungsneigung in Großstädten und industriellen Ballungsräumen wie Ost-Berlin und Halle (Saale) mit 35 bzw. 29,5 Scheidungen pro 10.000 Einwohner die in ländlichen Regionen wie dem Bezirk Brandenburg mit einer Rate von 12,5. Bis 1976 stieg die Scheidungsneigung noch einmal deutlich an. 1976 erreichte sie in Berlin 49,6 Scheidungen auf 10.000 Einwohner. Selbst in den Regionen mit der niedrigsten Rate wie Suhl, Neubrandenburg und Erfurt wurden nun zwischen 23 und fast 27 Scheidungen pro 10.000 Einwohner ausgesprochen.73 In Westdeutschland wiederum kam es 1977/78 zu einem rapiden Einbruch bei den Scheidungszahlen. Hierbei handelt es sich um eine direkte Folge der Scheidungsrechtsreform, auf die später eingegangen wird. Die Einstellung zur Ehe72

73

Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 306ff.; Burkart, Familiensoziologie, 60; Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, in: http://www.bib-demografie.de/SharedDocs/ Glossareintraege/DE/S/scheidungsziffer_ehen.html?nn=3073800 (letzter Zugriff am: 16.11.2015); Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, in: http://www.bib-demografie.de/ SharedDocs/Glossareintraege/DE/R/rohe_ehescheidungsziffer.html?nn=3073800 (letzter Zugriff am: 16.11.2015). Es gibt noch einen weiteren Indikatoren: den Anteil der Ehescheidungen nach Heiratsjahrgängen. Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 307. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/13/202-1, 1. Zivilsenat, Vorlage für die Kollegiumssitzung am 3. August 1970. Entwurf. Analyse der Ursachen und Tendenzen der Ehescheidungen in der DDR, ohne Ort, [1970], Bl. 99; SAPMO-BArch DY 31/1068, Abt. Frau und Staat, Information über die Entwicklung der Ehescheidungen, Berlin, 12. September 1977, Bl. 89. Für eine detaillierte Auflistung siehe auch Schäffler, Paarbeziehungen, 154f.

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6. Familienideale und familiale Praktiken im Zeichen statistischer Indikatoren 45

Ehescheidungsziffer BRD/alte Bundesländer

130

40

Ehescheidungsziffer DDR/neue Bundesländer Zusammengefasste Ehescheidungsziffer BRD/alte Bundesländer

110

35

Zusammengefasste Ehescheidungsziffer DDR/ neue Bundesländern

90

30 25

70

20 15

50

10

30 10

5 1960

1964

1968

1972

1976

1980

1984

1988

1992

1996

2000

0

Abbildung 4: Scheidungsziffern der Ehen pro 10.000 bestehender Ehen (1960–2000) und zusammengefasste Scheidungsziffer in Bundesrepublik und DDR (1970–2000) Quelle: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.

scheidung hingegen änderte sich zu diesem Zeitpunkt nicht. Auch der Rückgang der Ehescheidungsziffern in den neuen Bundesländern Anfang der 1990er Jahre muss relativiert werden. Die Übernahme des BGB auf dem Gebiet der ehemaligen DDR verursachte den temporären Einbruch. Es lag somit kein kurzfristiger Einstellungswandel zur Ehe vor.74 Ungeachtet dieser Unterschiede entwickelte sich Ehescheidung in beiden Teilen Deutschlands zwischen Mitte 1960er und Ende der 1970er Jahre zu einem gesellschaftlichen „Massenphänomen“.75 Die aggregierten Daten geben allerdings keinen Aufschluss darüber, welche individuellen Gründe Ehepartner zur Scheidung veranlassten. Eine Umfrage Anfang der 2000er Jahre unter Paaren der beiden Alterskohorten von um 1940 und um 1950 geborenen Personen, die sich nach durchschnittlich 25 Ehejahren hatten scheiden lassen, gibt hierüber Aufschluss. Jeweils ein Viertel der Befragten gab dabei entweder einen „mehr oder weniger massiven und abrupten Konsensbruch“ bzw. das Ende „einer trügerischen Illusion eines Konsens“76 als Scheidungsgrund an. Gut die Hälfte erklärte demgegenüber, dass ein langjähriger „Dissens“ be74

75 76

Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 305–309; Mertens, Familiennorm, 34; ders., Problem, 20; Betts, Walls, 88; Neumaier/Ludwig, Individualisierung, 266ff.; Neumaier, Ringen, 202, 207. Trotha, Wandel, 456. Fooken, Einsichten, 294 [Hervorhebung im Original; C. N.].

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6.2 Statistiken als Indikatoren für Veränderung

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standen habe und die Ehescheidung entweder wegen der Kinder oder wegen eines fehlenden Durchsetzungsvermögens lange aufgeschoben worden sei.77 Neben diesen individuellen Scheidungsgründen beeinflussen auch sozialstrukturelle Faktoren die Scheidungswahrscheinlichkeit. Da sie in bestimmten Konstellationen einen verstärkenden Effekt haben können, wird hier auch von einer „Scheidungsspirale“ oder „Eigendynamik der Scheidungsentwicklung“78 gesprochen. Insbesondere fünf Mechanismen haben einen besonders großen Einfluss auf die Scheidungsneigung. Die Frauenerwerbstätigkeit ist ein erster zentraler Faktor. Zweitens führt ein allgemeines Ansteigen der Scheidungszahlen zu dem Gefühl, dass Scheidung eine self-fulfilling prophecy sei, also im individuellen Lebensverlauf höchstwahrscheinlich eintreten werde. In dieser Konstellation neigen Partner dazu, auf „ehespezifischen Investitionen“ wie Kinder oder eigenen Wohnraum zu verzichten, wodurch das Scheidungsrisiko weiter zunimmt. Drittens beeinflusst die Austauschbeziehung zwischen hoher Scheidungsrate und erhöhter Chance auf erneute Heirat die Scheidungswahrscheinlichkeit. Viertens stellt sich bei einer Vielzahl an Scheidungen die Vorstellung ein, dass es sich hierbei um etwas „Normales“ handele. Dadurch verliert die Ehescheidung ihr soziales Stigma und damit sinken die Barrieren, die eigene Ehe zu lösen. Fünftens überträgt sich das Scheidungsrisiko von den Eltern auf die Kinder, was als „intergenerationale Scheidungstradierung“ oder „Scheidungstransmission“ bezeichnet wird.79 Des Weiteren beeinflussen mehrere sozio-demographische Faktoren die Scheidungswahrscheinlichkeit. Hierzu zählen vor allem das Heiratsalter, die Konfessionszugehörigkeit, Wohnortgröße, Nationalität, Frauenerwerbstätigkeit, Einkommen, Bildungsniveau, innerfamiliale Rollenverteilung, Zahl und Alter der Kinder sowie Besitz bzw. Eigentum. Zum Beispiel erhöht ein niedriges Heiratsalter das Scheidungsrisiko, wie unter anderem das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1972 betonte.80 Aufgrund des offensichtlichen Zusammenhangs zwischen Heiratsalter und Scheidungsneigung stufte die Öffentlichkeit „Frühehen“ zwischen den 1950er und 1970er Jahren meist als problematisch ein. Es stand vor allem der Vorwurf im Raum, sie würden zum Anstieg der Scheidungsrate maßgeblich beitragen. Dass eine solche vereinfachte Kategorisierung von Ursache und Wirkung wenig zielführend war, arbeitete der Soziologe René König in den 1960er und 1970er Jahren heraus. Zunächst sei der Anteil der „Frühehen“ an allen Eheschließungen sehr gering, sodass sie überhaupt keinen zentralen Einfluss auf die Scheidungs77 78 79 80

Vgl. ebenda, 292–299; Peuckert, Familienformen (2012), 315. Ebenda, 316 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Vgl. ebenda, 316f.; Meyer, Lebensformen (2008), 339f.; Burkart, Familiensoziologie, 146f.; Schneider, Familie und private Lebensführung, 190. Vgl. Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit (Hg.), Familienpolitik, 11f.

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6. Familienideale und familiale Praktiken im Zeichen statistischer Indikatoren

quote haben könnten. Nach Darstellung des Ersten Jugendberichts waren 1962 lediglich 1,6 Prozent der heiratenden Männer jünger als 21 Jahre und 2,7 Prozent der Frauen jünger als 18 Jahre. Zudem wandte König ein, dass der Begriff nicht klar definiert sei. Schließlich gebe es in der Bundesrepublik geschlechtsspezifische Altersunterschiede, ab wann von einer „Frühehe“ gesprochen werde. Insofern existierten keine einheitlichen Standards für diese Form der Ehe, sodass ein internationaler Vergleich des Verhältnisses zwischen Scheidungsrate und „Frühehe“ kaum durchführbar sei.81 Trotz dieser Einschränkungen lassen sich mehrere allgemein gültige Aussagen zur Scheidungsneigung machen. Ein hohes Heiratsalter senkt die Scheidungswahrscheinlichkeit. Gleichzeitig steigt aber das Scheidungsrisiko, wenn die Frau älter ist als der Mann. Ehepaare mit zwei berufstätigen Partnern neigen eher dazu, sich scheiden zu lassen, als Paare, bei denen die Ehefrau sich ausschließlich um Haushalt und Kindererziehung kümmert. Darüber hinaus reduzieren eigenes Wohneigentum und Kinder das Scheidungsrisiko. Bereits diese exemplarische Zusammenschau unterschiedlichster Scheidungswahrscheinlichkeiten zeigt, dass aufgrund der Vielzahl der Faktoren keine genauen Prognosen darüber möglich sind, wie sich in bestimmten sozialen Konstellationen die Scheidungsneigung entwickelt. Allenfalls lassen sich unterschiedlichste Szenarien bestimmen, die individuellen Ehescheidungskonstellationen können sich hiervon aber deutlich unterscheiden.82 Generell kann aber davon ausgegangen werden, so die einhellige Ansicht von Familiensoziologen, dass „in der Idee der Liebesehe das Scheitern der Ehe schon angelegt ist, denn Liebe ist vergänglich“.83 Ehescheidung ist nach dieser Lesart kein Indikator für den Bedeutungsverlust von Ehe und Familie. Vielmehr verweist sie auf einen Perspektivwechsel. Ehe und Familie werden nun weniger als soziale Institution, sondern vielmehr als individuelles Beziehungsgefüge gesehen. Demnach stellen Individuen lediglich die eigene Beziehung infrage. Fühlen Paare sich in ihr nicht mehr wohl, reichen sie eine Scheidungsklage ein. Damit verbinden sie aber zugleich die Hoffnung, dass die nächste, daran anschließende Ehe die hohen subjektiven Erwartungen an eine Ehe erfüllen werde.84 81

82

83 84

Vgl. Bericht der Bundesregierung über die Lage der Jugend (1965), 10; Bundesminister für Familie und Jugend, Erster Familienbericht, 26f.; König, Problem der Frühehe, 245–249; ders., Soziologie der Familie, 118f. Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 318f.; Rupp/Blossfeld, Übergänge, 153–156; Schneider, Familie und private Lebensführung, 194ff.; Meyer, Wandel, 425; Nave-Herz, Ehe- und Familiensoziologie, 168. Aus historischer Perspektive vgl. Sieder, Sozialgeschichte, 260f. Peuckert, Familienformen (2012), 320. Siehe v. a. Burkart, Lebensphasen. Ähnlich bei Nave-Herz, Familie heute, 122f.; dies., Scheidungsgründe; Fröhner/Stackelberg/ Eser, Familie, 41; Neidhardt, Familie, 55f.; König, Soziologie der Familie, 160; Baumert, Ehe, 324; Peuckert, Familienformen (2012), 321.

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6.3 Zwischenfazit

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An diesem Punkt liegt die zentrale Überschneidung zwischen den drei unterschiedlichen statistischen Indikatoren vor. In der zeitgenössischen Debatte galten sie als Ausdruck einer „Krise der Familie“. Diese Interpretation resultierte jedoch aus dem Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie, das für die Gesellschaft Funktionen übernahm. Demzufolge sei Familie eine strukturelle Einheit von einem verheirateten Elternpaar und gemeinsamen Kindern. In der subjektiven Perspektive der Familienmitglieder vollzog sich ein Einstellungswandel, der bereits im Familienleben während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts angeklungen war, jedoch keinen signifikanten Einfluss auf die gesellschaftlich verhandelten Ideale entfalten konnte. Zwischen Mitte der 1960er Jahre und Ende der 1970er Jahre änderte sich dies, als die individuell-subjektive Bedeutung der Familie in den Vordergrund rückte. Parallel verloren institutionelle Erwägungen an Gewicht für die Entscheidungen über den Zeitpunkt und die Art der Familiengründung wie auch die Ausgestaltung des Familienlebens. Paare entschieden sich erst zu einer Heirat, wenn sie einen Partner gefunden hatten, dem sie in Liebe verbunden waren, und an eine gemeinsame Zukunft glaubten. Sie verknüpften damit vielfach die Vorstellung, dass sich das individuelle Glücksgefühl in einer Familiengemeinschaft einstellen werde. Sie schrieben einer engen emotionalen Eltern-Kind-Beziehung ebenfalls eine große Bedeutung zu. Die reduzierte Kinderzahl war damit kein Ausdruck einer Geringschätzung von Kindern und Familie. Vielmehr wollten die Eltern den gestiegenen Anforderungen an Elternschaft gerecht werden, indem sie sich möglichst intensiv um ihre wenigen Kinder kümmerten. Sollten sich diese individuellen Wünsche jedoch in einer Familiengemeinschaft nicht einstellen oder verschwanden sie im Laufe des Familienlebens, dann galt eine Scheidung als eine legitime Möglichkeit, eine Ehe zu beenden.

6.3 Zwischenfazit In den 1960er Jahren gingen in beiden Teilen Deutschlands die Zahl der Geburten und der Eheschließungen signifikant zurück. Parallel stieg die Ehescheidungsziffer deutlich an. Die Veränderungen bei den drei statistischen Indikatoren Heiratsneigung, Geburten und Scheidung verweisen auf einen beschleunigten gesellschaftlichen Wandel. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Prozesse bereits in den 1950er Jahre eingesetzt hatten, dass sie sich zu dem Zeitpunkt jedoch erst angedeutet oder noch im Stillen vollzogen hatten. Daher konnten sie mittels gesamtgesellschaftlich aggregierter Daten damals noch nicht sichtbar gemacht werden. Die 1960er Jahre markieren ein Schlüsseljahrzehnt, da die statistisch gemessenen Veränderungen einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess initiierten,

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6. Familienideale und familiale Praktiken im Zeichen statistischer Indikatoren

in dem Zeitgenossen über die Rolle der Familie in der Gesellschaft wie auch deren Zukunft diskutierten. Dabei griffen sie überdies auf weitere quantitative und qualitative Studien zu den familialen Alltagspraktiken zurück, die auch die Bedeutung der Familie für die Gesellschaft diskutierten. Insbesondere sollten die verwissenschaftlichten Analysemethoden und die wissenschaftlichen Expertisen einen Handlungsleitfaden bereitstellen, auf dessen Basis politische Entscheidungen gefällt werden könnten. Damit einhergehend verbreitete sich auch ein neues Leitbild: Die Familie sei nicht mehr als statische Größe naturgegeben und vorstaatlich. Vielmehr seien Staat, Gesellschaft und Familie aufeinander bezogen und beeinflussten sich wechselseitig. Bei den vorgestellten Statistiken handelt es sich um mathematische Berechnungsmethoden, die Fehlerquoten aufweisen und lediglich Schätzwerte zur Verfügung stellen. Ein Abbild der Realität liefern sie folglich nicht. Aber sie ermöglichen Trendaussagen, aus denen gesellschaftliche Veränderungen abgeleitet werden können. Die zusammengefasste Heiratsneigung ging zwar zurück, jedoch blieb die Ehe für die Mehrzahl der ost- und westdeutschen Bürgerinnen und Bürger ein Fixpunkt in ihrem Leben. Die zusammengefasste Geburtenziffer war rückläufig, doch bestand kein eindeutiger kausaler Zusammenhang, aus dem von weiblicher Berufstätigkeit auf die endgültige Kinderzahl geschlossen werden konnte. Zudem blieb der Kinderwunsch bei der großen Mehrheit der Paare bestehen, wenngleich sie im Unterschied zu den vorangegangenen Jahrzehnten verstärkt zu nur einem Kind oder zwei Kindern tendierten. Sicherlich entwickelte sich Ehescheidung zu einem gesellschaftlichen Massenphänomen. Aber eine „Krise der Familie“ oder eine Geringschätzung der Ehe kann daraus nicht abgeleitet werden. Im Gegenteil kann es auch auf eine besonders hohe Wertschätzung der Liebesehe verweisen. Denn in dem Augenblick, als die Ehescheidung ihr soziales Stigma verlor, war es für viele enttäuschte Paare möglich, im Anschluss an ihre Scheidung neue Ehen einzugehen und Liebe sowie emotionale Verbundenheit zu finden.

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7. Etablierung eines neuen institutionellen Settings in Ost- und Westdeutschland in den 1960er und 1970er Jahren Bei den familienrechtlichen Bestimmungen reichte die Kontinuitätslinie vom Inkrafttreten des BGB im Jahr 1900 über die politischen Einschnitte und die Verfassungen von 1919, 1933, 1945 und 1949 bis in die 1960er und 1970er Jahre, wenngleich mit dem Großdeutschen Ehegesetz 1938 die Rechtsgrundsätze von Eheschließung und -scheidung modifiziert worden waren.1 Der Bruch mit der Rechtstradition erfolgte zunächst in der DDR, als 1966 das Familiengesetzbuch in Kraft trat. Dieses Gesetz bringt darüber hinaus zum Ausdruck, wie stark die SED dem Recht eine Erziehungsfunktion zuschrieb. Das Gesetz war zudem eingebettet in eine allgemeine Schwerpunktverlagerung der politischen Debatten in der DDR von der berufstätigen Frau und Mutter hin zur Familie, wobei vor allem deren Funktionen für die Gesellschaft wie die Zeugung und Erziehung von Kindern im Vordergrund standen.2 Zeitlich etwas versetzt vollzog sich in der Bundesrepublik eine umgekehrte Akzentverschiebung in den politischen Kontroversen. Während vor allem in den 1950er Jahren die Funktionen der Institution Familie im Mittelpunkt gestanden hatten, rückten im Laufe der 1960er Jahre die Rechte der Familienmitglieder, vor allem der Ehefrauen und Kinder, ins Zentrum der juristischen und politischen Konflikte. Es können im deutsch-deutschen Vergleich noch weitere Unterschiede benannt werden. In dem Augenblick, als die Funktionen der Institution Familie für die Gesellschaft im Zentrum des Interesses der SED stand, ließ sich die politische Intervention in den Binnenraum der Familie rechtfertigen. Die Historikerin Ute Schneider spricht in diesem Zusammenhang von social engineering, da durch das Gesetz die Ideale der „sozialistischen Familie“ und der berufstätigen Mutter etabliert und so eine „gesellschaftspolitische Transformation“ erreicht werden sollten.3 Demgegenüber sollten in der demokratischen Bundesrepublik „gesetz-

1 2

3

Vgl. Niehuss, Familie und Geschlechterbeziehungen, 147–150. Vgl. Schneider, Hausväteridylle, 178, 181, 190f.; Schröter, Ehen, 69. Für die Bedeutung der Familie im Rechtssystem der DDR siehe auch Obertreis, Familienpolitik, 249f.; Helwig, Jugend, 5; dies., Familienpolitik (1961–1971), 499. Vgl. Schneider, Hausväteridylle, 348; dies., Familienrecht, 601f. Zum Begriff des social engineering vgl. Etzemüller, Social engineering; ders., Romantik, 17ff.; ders., Raum, 129–134. Thomas Etzemüller versteht unter social engineering „ein Ensemble von Elementen [. . . ], die aber in ihrer Kombination ein spezifisches Dispositiv bildeten, das wir vor 1880 und nach 1960 so nicht finden, und das eine eigentliche Form, Gesellschaft ordnen zu wollen, gezeigt hat“. Ders., Romantik, 18.

https://doi.org/10.1515/9783110651010-007

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liche Veränderungen den gesellschaftlichen Entwicklungen nicht vorauseilen, sondern vielmehr in einem gemessenen Abstand folgen“,4 wie die Historikerin Merith Niehuss resümiert. Insofern habe man im Westen bei den in den späten 1960er Jahren einsetzenden Rechtsreformen auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert. Folglich war das im Familiengesetzbuch festgehaltene Familienmodell auf die Zukunft gerichtet und bildete das im Sozialismus zu erreichende Familienideal ab, wohingegen das bürgerliche Recht auf gesellschaftliche Veränderungen zeitlich verzögert reagierte. Dieses vermeintlich klare Muster wurde jedoch sowohl in der Bundesrepublik wie auch in der DDR mehrfach durchbrochen. Später wird diskutiert, inwiefern bei den westdeutschen Reformgesetzen der 1970er Jahre der Gesetzgeber auf Veränderungen in der Gesellschaft reagierte und inwiefern er versuchte, gesellschaftsprägende Leitbilder zu etablieren. Sobald wiederum in Ostdeutschland der Blick von den gesetzlichen Bestimmungen zu den sozialen Praktiken wandert, zeigen sich von der SED nicht intendierte Interpretationsmöglichkeiten der Gesetze und individuelle Handlungsspielräume. Hier lief die Erziehungsfunktion des Rechts ins Leere. Die Debatten um die Reform des Familienrechts in der DDR wirken daher wie eine Lupe, welche die Stränge von Rechtstradition, Glaubensgrundsätzen, politischer Macht und sozialen Realitäten in der DDR klar konturiert heraustreten lässt.5 Nach Darstellung der Historikerin Schneider war nicht der Bruch mit der Rechtstradition das überraschende Moment. Vielmehr sei es „erstaunlich“, dass es 20 Jahre gedauert habe, ehe die SED-Regierung ihre sozialistischen Familienideale rechtlich kodifizierte. Die politische Führung der DDR hatte der Familie schließlich bereits in den 1950er Jahren eine gesellschaftsprägende Kraft zugestanden. Die Reformpläne reichen in die Anfangszeit der DDR zurück, wie Schneider selbst herausarbeitet. Mit dem Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau 1950, dem Entwurf des Familiengesetzbuchs (EFGB) 1954 und der Eheverordnung 1955 nahm überdies die Parteiführung Einfluss auf die juristische Position der Familie in der DDR.6

4 5 6

Niehuss, Familie und Geschlechterbeziehungen, 147. Für die Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen in der Rechtsprechung bei Ehescheidungsklagen in der DDR vgl. Schröter, Ehen. Vgl. Schneider, Hausväteridylle, 4, 94f. Zur Bedeutung der Familie für die DDR vgl. ebenfalls Betts, Walls, 90; Huinink/Wagner, Partnerschaft, 147.

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7.1 Der Bruch mit der Rechtstradition des BGB: das Familiengesetzbuch der DDR

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7.1 Der Bruch mit der Rechtstradition des BGB: das Familiengesetzbuch der DDR 7.1.1 Gescheiterte erste juristische Neubestimmung: der Entwurf des Familiengesetzbuchs 1954

Vor allem die Debatte um den ersten Entwurf eines Familiengesetzbuchs nimmt eine hervorgehobene Stellung ein. 1965 rekapitulierte die Justizministerin Hilde Benjamin in der Zeitschrift Neue Justiz die Diskussionen um den Entwurf des Familiengesetzbuchs im Jahr 1954. Damals sei die DDR-Gesellschaft noch nicht bereit für diesen Entwurf gewesen, urteilte sie und führte weiter aus: Erst die darauffolgenden zehn Jahre brachten den Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse und mit der Gestaltung der sozialistischen Wirklichkeiten die ersten Erkenntnisse über die objektiven Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich die neue Familie entwickeln wird.7

Dieses verklärte Urteil über die Konflikte und die daran anschließenden Veränderungen der Gesellschaft diente der politischen Führung der DDR als doppelte Rechtfertigung. So ließ sich mit dem Verweis auf die Durchsetzung sozialistischer Ideale Mitte der 1960er Jahre eine abermalige Reforminitiative begründen. Der gesellschaftliche Wandel müsse nun rechtlich kodifiziert und die sozialistische DDR auf Distanz zum Bürgerlichen Gesetzbuch gehen. Nach dieser Lesart prägte allerdings das Recht nicht den gesellschaftlichen Zukunftsentwurf. Vielmehr reagiere es auf gesellschaftliche Veränderungen.8 Ferner erschien das Scheitern der Reformpläne 1954 als zwangsläufige Folge der ungünstigen Rahmenbedingungen, wodurch das SED-Regime einer politischen Verantwortung für diesen Fehlschlag enthoben war. Dieser Bewertung aus der Innenperspektive des SED-Regimes steht das Urteil der Forschung gegenüber, wie es Gesine Obertreis formuliert: Das Scheitern des EFGB müsse als „Eingeständnis“9 gedeutet werden, dass die von der SED geplante enge Kopplung zwischen Staat und Familie noch nicht realisierbar gewesen sei. Staat und Familie seien folglich in den 1950er Jahren noch nicht aufeinander bezogen gewesen, wie dies der EFGB rechtlich festzuschreiben versucht hatte. Vielmehr habe es sich damals auch in der DDR bei der Familie um einen Privatraum gehandelt, der sich der staatlichen Kontrolle durchaus zu entziehen vermocht habe. Die Tradition des christlich-bürgerlichen Familienideals wirkte somit auch im sozialistischen Ostdeutschland nach. Um diese Kontinuitätslinie zu durchbrechen, entwarf die Justizministerin Benjamin in ihren Ausführungen zugleich eine eigene sozialistische Tradition, 7 8 9

Benjamin, Grundlagen, 228. Vgl. Helwig, Familienpolitik (1949–1961), 500. Obertreis, Familienpolitik, 130.

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die sie dezidiert von den westdeutschen bürgerlichen Idealen abgrenzte. Sie sprach von den Werken Karl Marx’, Friedrich Engels’ und Wladimir I. Lenins als Ausgangspunkt, die 1949 zunächst in der Verfassung gemündet hätten. Deren Ideale seien dann mit dem EFGB 1954, der Eheverordnung vom 25. November 1955 und dem FGB weiter an die sozialistischen Rahmenbedingungen der DDR adaptiert worden, fasste Benjamin die Entwicklungen zusammen. Sie betonte dabei, dass zwar noch kein in sich geschlossenes Familienrecht bestanden habe, doch das sozialistische Recht sei im EFGB und der Eheverordnung bereits in Teilen realisiert gewesen. Die Verordnung hob beim Scheidungsrecht das Schuldprinzip des BGB auf und führte das Zerrüttungsprinzip ein. Insofern konstruierte Benjamin eine Kontinuität der Rechtsentwicklung und blendete dabei die erlassenen Einzelgesetze und den Entwurf des Familiengesetzbuchs nicht komplett aus.10 Obwohl der EFGB scheiterte, gibt er Aufschluss über die politischen Intentionen der SED. Die Ausarbeitungen reichen zurück bis 1952. Die Regierung stellte den Entwurf jedoch erst vor, nachdem die DDR im März 1954 erweiterte Souveränitätsrechte erhalten hatte.11 Eine Broschüre des Nationalrats informierte schließlich im Juli 1954 die „Öffentlichkeit“ und sollte so die staatlich gelenkte Debatte um die Reform des Familienrechts einbetten.12 Zunächst erschien sie in einer Auflagenstärke von 400.000 Stück, im August erfolgte ein Nachdruck mit weiteren 150.000 Exemplaren. Eine parallele Medienkampagne in nationalen und lokalen Zeitungen und Zeitschriften sollte die Bürgerinnen und Bürger mit dem Entwurf vertraut machen. In dieser vom Justizministerium inszenierten Kampagne kam jedoch auch deutliche Kritik am Entwurf zur Sprache. Überdies gelang es der SED nicht, die öffentlich inszenierte Diskussion in die gewünschten Bahnen zu lenken. Schließlich verschwand das EFGB nach den Staatsratswahlen 1954 wieder von der politischen Agenda. Danach blockte das Ministerium eine erneute Aufnahme der Debatten ab. Dessen ungeachtet übermittelten zahlreiche Bürgerinnen und Bürger weiterhin Eingaben und Briefe. Das Justizministerium bündelte die Änderungsvorschläge. Sofern es sich um sprachliche Verbesse-

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Vgl. Benjamin, Grundlagen, 226ff.; Huinink/Wagner, Partnerschaft, 148, 151; Wagner, Scheidung, 157; Helwig, Familienpolitik (1949–1961), 518f.; Harsch, Revenge, 81, 200, 205ff.; Schneider, Hausväteridylle, 243f. Zum Beispiel war in Dresden schon im September 1945 ein Entwurf für die rechtliche Neugestaltung von Familienbeziehungen ausgearbeitet worden. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/13/106, Protokoll über die Beratung einer Kommission über Fragen des Familiengesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik am 25. Mai 1959, Bl. 7; Benjamin, Grundlagen, 225ff. Vgl. Schneider, Hausväteridylle, 110; vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/13/106, Protokoll über die Beratung einer Kommission über Fragen des Familiengesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik am 25. Mai 1959, Bl. 7f. Zur Problematik des Begriffs „Öffentlichkeit“ in der DDR vgl. Gieseke, Bevölkerungsstimmungen, 239–242; Sabrow, Skandal, 13.

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rungen handelte, nahm sie das Ministerium ins Gesetz auf. Vereinzelt fanden auch inhaltliche Vorschläge Berücksichtigung. Diese wurden schließlich 1955 in einem überarbeiteten Entwurf zusammengefasst, den die SED-Regierung aber nicht weiter vorantrieb.13 Gerade in der gesteuerten Debatte offenbarten sich der SED-Regierung Mitte der 1950er Jahre die Grenzen der staatlichen Interventionsmöglichkeiten. Obwohl das Ministerium wöchentlich die Debatte analysierte und kommentierte, blieb sein Einfluss gering.14 Immer wieder äußerten die Kirchen, aber auch die Bevölkerung selbst Kritik. Im August 1954 brachte der katholische Bischof von Berlin, Wilhelm Weskamm, in einem Schreiben an den Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl, seine ablehnende Haltung gegenüber dem EFGB zum Ausdruck. Schließlich breche der Entwurf mit den christlichen Glaubensgrundsätzen und den „naturrechtlichen“ Vorstellungen von Ehe und Familie. Auch die evangelische Kirche bezog deutlich Stellung gegen den EFGB. Die Kirchliche Ostkonferenz der Evangelischen Kirchen Deutschlands verwies zunächst darauf, dass das Ehe- und Familienrecht eine „gesamtdeutsche Aufgabe“15 sei und nicht in einer „Zone“ allein behandelt werden dürfe. Schließlich hätten viele Familien verwandtschaftliche Beziehung über die Grenzen hinweg. Die evangelische Kirche lehnte den Entwurf also ab, weil er mit der rechtlichen Einheit Deutschlands breche.16 Zudem stehe der EFGB in „wesentlichen Punkten“17 im Widerspruch zum evangelischen Glauben, argumentierte die Kirchliche Ostkonferenz. Dieser Sichtweise schlossen sich der Rat der EKD und die 17. Evangelisch-Lutherische Landessynode wie auch zahlreiche lokale Kirchengemeinden an. Die Ausführungen der evangelischen Kirche belegen dabei mehrere inhaltliche Überschneidungen mit der Position der katholischen Kirche. Bei der Ehe handele es sich um eine unveränderliche, vorstaatliche Institution, die im EFGB jedoch aufgegeben werde. Hier liege eine staatliche Definition der Ehe vor, die mit politischen Zielen verknüpft sei.18 Überdies erkannte die evangelische Kirche die im Gesetzesentwurf festgeschriebene Gleichberech-

13 14 15 16 17 18

Vgl. Schneider, Hausväteridylle, 110ff. Vgl. ebenda, 276. Stellungnahme der Kirchlichen Ostkonferenz zu dem Entwurf eines Familiengesetzbuches, 181. Vgl. ebenda. Ebenda, 182. Vgl. ebenda, 181; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Aufzeichnung, ohne Ort, 6. September 1954, Bl. 7; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Abschrift Bericht, Torgau, 16. September 1954, Bl. 51; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Bericht Betr.: Entwurf des Familiengesetzbuches, hier: Evangelischer Männerkreis Falkenstein, Karl-Marx-Stadt, [12. Oktober 1954], Bl. 100; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Bericht über die Versammlung der evangelischen Kirchengemeinde Bautzen am 8. November 1954, Bl. 107.

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tigung der Geschlechter nicht an. „Dabei darf aber die schöpfungsbedingte physische und psychische Verschiedenheit von Mann und Frau nicht übersehen werden“,19 betonte die Stellungnahme der Kirchlichen Ostkonferenz. Damit zielten die Kirchenvertreter auf die Unterscheidung zwischen „Gleichwertigkeit“ und „Gleichartigkeit“ ab. Männer und Frauen seien zwar „gleichwertig“, jedoch aufgrund ihrer Konstitution nicht „gleichartig“. An anderer Stelle ging die evangelische Kirche in ihrer Argumentation sogar noch weiter: „Eine schematische Gleichsetzung ist in unseren Augen eine Pervertierung des Satzes von der Gleichberechtigung von Mann und Frau.“20 Die katholische Kirche teilte diese Position, wie Weskamms Schreiben verdeutlicht: Die Frau ohne Rücksicht auf ihre körperliche, geistige und seelische Eigenart schematisch neben den Mann zu stellen, heißt nicht, ihre Gleichberechtigung [zu] verwirklichen, sondern etwas gleich machen [zu] wollen, das von Natur verschiedenartig ist.21

Den normativen Bezugspunkt für die Argumentation der beiden Kirchen bildete folglich weiterhin das Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie.22 Dies belegen noch weitere in den Stellungnahmen vorgebrachte Punkte. So forderten die Kirchen, dass der väterliche Stichentscheid noch in den Entwurf integriert werden müsse. Ferner dürfe die Berufstätigkeit der Frau nicht als „Normalzustand“23 dargestellt werden. Stattdessen handele es sich hierbei allenfalls um eine Ausnahmesituation, die nur in bestimmten Konstellationen akzeptabel sei. Die Berufsarbeit der Mutter kollidierte noch mit einer weiteren Position der Kirche. Die Kindererziehung sollte weiterhin primär in den Familien stattfinden und von den Müttern durchgeführt werden.24 In der Summe urteilte die evangelische 19 20 21

22 23 24

Stellungnahme der Kirchlichen Ostkonferenz zu dem Entwurf eines Familiengesetzbuches, 181. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Aufzeichnung, ohne Ort, 6. September 1954, Bl. 9. BArch Berlin DO 4/1555, W[ilhelm] Weskamm, Bischof von Berlin, Berlin-Zehlendorf, 28. August 1954, Bl. 89. Zur Bedeutung von Eingaben in der DDR vgl. u. a. Saldern, Öffentlichkeiten, 455. Vgl. BArch Berlin DO 4/1555, W[ilhelm] Weskamm, Bischof von Berlin, Berlin-Zehlendorf, 28. August 1954, Bl. 87–90. Stellungnahme der Kirchlichen Ostkonferenz zu dem Entwurf eines Familiengesetzbuches, 182. Vgl. ebenda, 181f.; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Aufzeichnung, ohne Ort, 6. September 1954, Bl. 8f., 11; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Abschrift Bericht 17. EvangelischLutherische Landessynode, 27.–28. Oktober 1954, Bl. 96; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Evangelische Frauenhilfe in der Kirchenprovinz Sachsen, Salzelmen, 14. Oktober 1954, Bl. 122; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Bericht über die Versammlung der evangelischen Kirchengemeinde Bautzen am 8. November 1954, Bl. 108f.; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Abschrift Kreisgericht Cottbus, Betr.: Bericht über eine kirchliche Veranstaltung, Cottbus, 11. November 1954, Bl. 168f.; BArch Berlin DP 1/243, Bericht Betr.: Die Gemeindeversammlung des Pfarramtes Gr. Glienicke, Potsdam, 19. Januar 1955, Bl. 37f. Ähnlich bei BArch Berlin DO 4/1555, W[ilhelm] Weskamm, Bischof von Berlin, Berlin-Zehlendorf, 28. August 1954, Bl. 89.

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Kirche, dass der EFGB langfristig „zu einer schweren Schädigung der Familie als der Grundlage des Volkes und der Gemeinschaft“25 führen würde. Sie verwehrte infolgedessen der SED-Regierung ihre Unterstützung. Der EFGB stieß somit sowohl bei der katholischen wie auch der evangelischen Kirche auf vehementen Widerspruch, gerade weil er mit dem Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie in zwei zentralen Punkten brach: Das betraf zunächst die Stellung der Familie in der Gesellschaft. Sie sollte nach dem EFGB nicht mehr dem Staat vorgelagert, sondern vielmehr in die staatlichen Rahmenbedingungen eingebettet sein, um so ihre Funktion für die sozialistische Gesellschaft zu erfüllen. Überdies stand die Gleichberechtigung nicht mit tradierten und religiös begründeten Geschlechterdifferenzen im Einklang. Auch zukünftig müsse der Mann innerhalb der Familie wie auch der Gesellschaft die dominante Rolle einnehmen, erklärten beide Kirchen. Selbst wenn die Stellungnahmen der evangelischen Kirche nach außen eine einheitliche Position vermuten lassen, so divergierte das Verhalten der Pfarrer auf lokaler Ebene deutlich. Ein resümierender Bericht der Volkspolizei unterschied hier zwei grundsätzliche Positionen. Während ein Teil der Pfarrer die Stellungnahme der Kirchlichen Ostkonferenz unkommentiert verlese, polemisiere ein anderer dagegen. „Die reaktionären Pfarrer jedoch gingen in provokatorische Weise darauf ein“,26 mahnte der Bericht an. Einige Pfarrer kritisierten in den öffentlichen Verlautbarungen sogar die Debatte um den EFGB insgesamt. Ein Oberkirchenrat aus Berlin-Weißensee argumentierte, dass die Diskussion um den EFGB inszeniert sei. Schließlich bekomme „man in der Deutschen Demokratischen Republik das fertige Gesetz vor die Nase gesetzt“,27 wohingegen in Westdeutschland offen Kritik an solchen Gesetzesvorhaben geäußert werden dürfe. Der Widerstand der evangelischen Kirche konnte damit in einzelnen Gemeinden durchaus heftig ausfallen. Neben den grundsätzlichen Fragen zur Rolle der Familie in der Gesellschaft und den Geschlechterrollen führten aber noch weitere inhaltliche Änderungspläne zu Kontroversen, wie die Themen Ehemündigkeit und Namensrecht. Der EFGB beabsichtigte, das Ehemündigkeitsalter auf 18 Jahre – das Alter der Volljährigkeit in der DDR – abzusenken, was zahlreiche Bürgerinnen und Bürger immer wieder kritisierten. Ein Bericht vom 8. November 1954 vermerkte, die „Zuhörer lächelten bemerkbar“, als in einer Kirchgemeindeversammlung die Frage aufgeworfen worden sei, ob ein 18-Jähriger „schon als ‚Mann‘ angesprochen werden“ könne. Dies sei, so der Berichterstatter, „ein offener Angriff auf 25 26 27

Stellungnahme der Kirchlichen Ostkonferenz zu dem Entwurf eines Familiengesetzbuches, 182. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Ministerium des Inneren, Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei, Berlin, 7. Dezember 1954, Bl. 171. Ebenda.

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das Volljährigkeitsalter von 18 Jahren“ gewesen.28 Noch weitaus strittiger war demgegenüber die Änderung des Namensrechts. Hier standen zwei Vorschläge zur Diskussion: Es musste geklärt werden, ob die Frau entweder den Namen ihres Mannes bzw. einen Doppelnamen annehmen müsse oder ob sie ihren Geburtsnamen behalten dürfe.29 Vertreter der Evangelischen Kirche wie auch Juristen äußerten im Sommer 1954 vor allem Bedenken gegen diese dritte Option. Schließlich würden dann die Kinder und ein Elternteil unterschiedliche Namen führen. Dadurch werde die Vorstellung von der „Einheit der Familie“30 durchbrochen. Nach einem Bericht der Volkspolizei polemisierten Pfarrer regelrecht gegen diese Regelung und warnten ihre Gemeinden davor. Dies würde „die Familie zerstören, da noch nicht einmal der Name gemeinsam sein sollte“,31 hätten Pfarrer mehrfach geäußert. In der Summe brachten somit Juristen wie Kirchenvertreter mit unterschiedlichen Worten eine Grundposition zum Ausdruck: Zwei unterschiedliche Familiennamen seien unzulässig.32 Immerhin zeigte sich die evangelische Kirche zu einem Kompromiss bereit, als sie den Frauen das Recht zugestand, einen Doppelnamen zu führen. Allerdings plädierte sie gleichzeitig dafür, den Namen des Ehemannes zum Familiennamen zu machen.33 Dieser Sichtweise schlossen sich allerdings zahlreiche Bürgerinnen und Bürger nicht vorbehaltlos an. Sicherlich lehnte die große Mehrheit die Möglichkeit ab, dass die Paare zwei unterschiedliche Familiennamen führen dürften. Doch auf weitaus weniger Widerstand stieß die Option, dass der Mann den Namen seiner Frau annähme. Von offizieller Seite ließ sich diese Einstellung auch positiv ausdeuten. Die Bevölkerung bringe damit zum Ausdruck, dass sie das alte BGB überwunden habe und im Namensrecht ein wichtiger Schritt hin zur Gleichberechtigung getan sei, hieß es 1954 in einem Bericht über die Diskussion des EFGB.34 Ungeachtet dieser wohlmeinenden Auslegung liefen die anhaltenden und langwierigen Diskussionen um den Familiennamen den 28

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33 34

Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Bericht über die Versammlung der evangelischen Kirchengemeinde Bautzen am 8. November 1954, Bl. 109; BArch Berlin DP 1/243, Bericht Betr.: Die Gemeindeversammlung des Pfarramtes Gr. Glienicke, Potsdam, 19. Januar 1955, Bl. 38. Vgl. Schneider, Hausväteridylle, 217f. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Abschrift eines Protokolls über eine Justizaussprache, [Reichenbach, 24. August 1954], Bl. 62. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Ministerium des Inneren, Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei, Berlin, 7. Dezember 1954, Bl. 173. Siehe auch SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Bericht Betr.: Entwurf des Familiengesetzbuches, hier: Evangelischer Männerkreis Falkenstein, Karl-Marx-Stadt, [12. Oktober 1954], Bl. 100. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Aufzeichnung, ohne Ort, 6. September 1954, Bl. 12. Vgl. BArch Berlin DP 2/819, Bericht über die Ergebnisse der Diskussion zum Entwurf des Familiengesetzbuches auf der Arbeitstagung im Ministerium der Justiz vom 19. Oktober 1954, 10.

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Vorstellungen des Justizministeriums zuwider. Infolgedessen wies das Ministerium selbst an, auf den Diskussionsveranstaltungen dürfe dieses Thema nicht den ganzen Abend ausfüllen.35 Während die Justizministerin Hilde Benjamin und ihre Mitarbeiter in diesem Punkt klare Anweisungen erließen, verhielten sie sich bei anderen Konfliktthemen ambivalent. Benjamin erwog im September 1954, auf die Stellungnahmen der evangelischen Kirche zu reagieren, verwarf dann jedoch diesen Plan, da sie dann auch auf die Schreiben der katholischen Kirche hätte eingehen müssen.36 Auch hier offenbarte sich eine Unsicherheit, wie mit der Kontroverse umgegangen werden sollte und mit welchen Maßnahmen sich die Kontrolle über die Debatten erlangen ließ. Eine Strategie der SED zielte darauf, die Differenzen zu beschwichtigen. Der EFGB sei grundsätzlich positiv aufgenommen worden, gleichwohl hätten Bürgerinnen und Bürger einzelne Verbesserungsvorschläge bei den Formulierungen vorgebracht, berichtete das Justizministerium. Kritik hätte demnach die sprachliche, nicht aber die inhaltliche Gestaltung des EFGB auf sich gezogen. Lediglich „in den seltensten Fällen“ sei dem Entwurf mit „ausgesprochener Gegnerschaft“, meist ausgelöst von „feindlicher Hetze“,37 begegnet worden, resümierte das Justizministerium weiter und negierte damit die anhaltenden grundsätzlichen Kontroversen um den EFGB. Das Ministerium identifizierte zwei Gründe für die Kritik. Zunächst seien hierfür schlicht „Missverständnisse“ und die „Unkenntnis des Entwurfs“ verantwortlich. Andere Gegner des Entwurfs seien noch hinter den Anforderungen des Sozialismus zurückgeblieben, da sie sich weiterhin an bürgerlichen Idealen orientieren würden. Sie hätten also die notwendige Entwicklung hin zur sozialistischen Gesellschaft noch nicht vollzogen. Um grundsätzliche Einwände gegen die Bestimmungen habe es sich somit nicht gehandelt.38 Diese Strategie erreichte jedoch nicht ihr Ziel, da sich die Debatte immer weiter hochschaukelte. Letztlich erschien aus der Perspektive des Zentralkomitees der SED ein abruptes, von oben gesteuertes Ende der inszenierten Debatte als einzig praktikabler Ausweg. Wie dies nun in die Wege geleitet werden sollte, diskutierte die SED-Regierung im November 1954. Um nicht „den Anschein eines 35

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Vgl. Schneider, Hausväteridylle, 219. Für dieses Argument vgl. u. a. BArch Berlin DP 2/819, Bericht über die Ergebnisse der Diskussion zum Entwurf des Familiengesetzbuches auf der Arbeitstagung im Ministerium der Justiz vom 19. Oktober 1954, 10. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Bundesjustizminister, Berlin 16. September 1954, Bl. 46; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Bundesjustizminister, Anlage Entwurf einer Antwort, Berlin 16. September 1954, Bl. 47. BArch Berlin DP 2/819, Bericht über die Ergebnisse der Diskussion zum Entwurf des Familiengesetzbuches auf der Arbeitstagung im Ministerium der Justiz vom 19. Oktober 1954, 3. Vgl. ebenda, 2ff.

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Zurückweichens zu erwecken“,39 suchte das Politbüro des Zentralkomitees der SED nach einer geeigneten Sprachregelung. Das Justizministerium sollte darauf hinweisen, dass die zahlreichen Änderungsvorschläge erst überprüft werden müssten, ehe ein überarbeiteter Vorschlag veröffentlicht werden könne. Hilde Benjamin wollte in einer Stellungnahme auf „einige hundert Vorschläge über Verbesserung und Veränderung des Entwurfs aus allen Schichten der Bevölkerung und Organisationen“40 hinweisen, ohne dabei explizit auf die Kirchen einzugehen. Das Politbüro des Zentralkomitees rüstete sich dabei auch für den Fall, dass sich die Kirche der Anordnung widersetzen würde. Sollte sie „ihre Hetze weiterbetreiben, werden die Versammlungen untersagt“,41 lautete die eindeutige Vorgabe. Nach dem faktischen Eingeständnis des Scheiterns der Debatte, hoffte das Politbüro mit diesen Maßnahmen, wieder die Kontrolle über die Diskussion zurückzuerlangen.42 Eine Gesamtreform des Familienrechts war damit zunächst vom Tisch und im Herbst 1955 distanzierte sich das Präsidium des Ministerrates auch davon. Jetzt sollte das Justizministerium bis zum 15. November eine Verordnung über Eheschließung und Eheauflösung erarbeiten. Diese trat zum 24. November 1955 in Kraft. Obwohl der EFGB insgesamt gescheitert war, wurden zumindest Teile

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SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Entwurf Schreiben Walter Ulbricht, Betr.: Weiterführung des Familiengesetzentwurfes, Berlin, 8. November 1954, Bl. 111. SAPMO-BArch DY 30/J/IV 2/2/392, Anlage Nr. 2 zum Protokoll Nr. 36/54 vom 24. November 1954, Maßnahmen zum Entwurf des Familiengesetzbuches, Bl. 4. Zu den Vorarbeiten vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, SED Hausmitteilung, Abt. Kirchenfragen, Betr.: Diskussion um Familiengesetzentwurf und die Tätigkeit der Kirche, ohne Ort, 18. November 1954, Bl. 131. SAPMO-BArch DY 30/J/IV 2/2/392, Anlage Nr. 2 zum Protokoll Nr. 36/54 vom 24. November 1954, Maßnahmen zum Entwurf des Familiengesetzbuches, Bl. 4. Für die Einschätzung zur Diskussion vonseiten des Staates vgl. ebenfalls SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Ministerium des Inneren, Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei, Berlin, 7. Dezember 1954, Bl. 170. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Entwurf Schreiben Walter Ulbricht, Betr.: Weiterführung des Familiengesetzentwurfes, Berlin, 8. November 1954, Bl. 111; SAPMO-BArch DY 30/J/IV 2/2/392, Anlage Nr. 2 zum Protokoll Nr. 36/54 vom 24. November 1954, Maßnahmen zum Entwurf des Familiengesetzbuches, Bl. 4. Zu den Vorarbeiten vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, SED Hausmitteilung, Abt. Kirchenfragen, Betr.: Diskussion um Familiengesetzentwurf und die Tätigkeit der Kirche, ohne Ort, 18. November 1954, Bl. 131; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, Über den Verlauf der Diskussion zum Entwurf des Familiengesetzbuches, ohne Ort, [Oktober 1954], Bl. 71. An anderer Stelle ist die Rede von mehr als 6.000 Veranstaltungen mit mehr als 300.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Vgl. BArch Berlin DP 2/819, Bericht über die Ergebnisse der Diskussion zum Entwurf des Familiengesetzbuches auf der Arbeitstagung im Ministerium der Justiz vom 19. Oktober 1954, 1; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14/35, SED Hausmitteilung, Abt. Kirchenfragen, Betr.: Diskussion um Familiengesetzentwurf und die Tätigkeit der Kirche, ohne Ort, 18. November 1954, Bl. 130.

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des Entwurfs mit der Verordnung in geltendes Recht überführt.43 So legte die Verordnung das Ehemündigkeitsalter auf 18 Jahre fest und glich es damit an das Alter der Volljährigkeit an. Eine Ausnahmeregelung war dabei nicht vorgesehen. Nach offizieller Darstellung begrüßte die Mehrheit der Bürger diesen Schritt. Doch gleichzeitig musste sich das Zentralkomitee der SED eingestehen, dass Bürger weiterhin Beschwerden gegen diese Regelung vorbrachten. Meistens stellten die heiratssuchenden Paare einen Antrag auf Ausnahmegenehmigung, weil die Frau entweder schwanger war oder bereits ein Kind geboren worden war.44 Die Paare wollten folglich, wie in Westdeutschland auch, ihre Kinder in einer ehelichen Familiengemeinschaft großziehen. Sie verliehen ihrer Forderung bisweilen Nachdruck, indem sie drohten, zum Heiraten nach West-Berlin oder Westdeutschland zu gehen. Sie zogen also in Erwägung, „republikflüchtig“45 zu werden, wie intern vermerkt wurde. Allerdings existieren keine verlässlichen Angaben darüber, ob es sich hierbei lediglich um Bekundungen handelte oder ob bzw. wie viele heiratswillige Paare die Drohung wahrmachten.46 Aufgrund der anhaltenden Kontroversen legte letztlich ein resümierender Bericht eine Gesetzesänderung nahe und plädierte für eine Ausnahmegenehmigung für Frauen ab 16 Jahren. Damit sollte auf einen rechtlichen Stand zurückgekehrt werden, der vor der Eheverordnung gegolten hatte.47 An diesem Beispiel zeigt sich die Grenze der staatlichen gelenkten Erziehung durch Gesetze auf. 7.1.2 Etablierung des sozialistischen Familienrechts 1965/66

Den Endpunkt der Aushandlungsprozesse um das Familienrecht stellte das im Dezember 1965 verabschiedete und zum April 1966 in Kraft getretene Familiengesetzbuch dar. Erstmals war der Entwurf des Familiengesetzbuchs am 14. April 1965 vorgestellt worden. Daran schloss sich eine inszenierte Debatte an mit fast 34.000 Veranstaltungen sowie mehr als 750.000 Teilnehmern, so die offiziel43 44

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46 47

Vgl. Helwig, Familienpolitik (1949–1961), 518; Schneider, Hausväteridylle, 112f.; Obertreis, Familienpolitik, 131ff. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/13/99, Vermerk für Genosse Sorgenicht, Betr.: Abänderung der Eheverordnung vom Nov. 1955 (§ 1 Ehemündigkeitsalter 18 Jahre, keine Ausnahmemöglichkeit), Berlin, 25. Januar 1957, Bl. 67f. Für eine Diskussion der eingereichten Anträge auf Ausnahmegenehmigung vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/13/99, [Karl] Maron, Betr.: Eheverordnung vom 24. November 1955, ohne Ort, 6. Februar 1957, Bl. 64–66; Schneider, Hausväteridylle, 203ff. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/13/99, Vermerk für Genosse Sorgenicht, Betr.: Abänderung der Eheverordnung vom Nov. 1955 (§ 1 Ehemündigkeitsalter 18 Jahre, keine Ausnahmemöglichkeit), Berlin, 25. Januar 1957, Bl. 67. Vgl. ebenda, Bl. 67f. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/13/99, Schlussfolgerungen, ohne Ort, ohne Datum, Bl. 69.

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len Angaben. Insgesamt seien beim Justizministerium nach eigenen Angaben 23.737 Änderungsvorschläge eingegangen, die in dem Gesetzgebungsprozess eine wichtige Funktion erfüllen würden. Die öffentlich inszenierten Debatten sollten den Bürgerinnen und Bürgern suggerieren, dass sie am Meinungsbildungsprozess partizipierten. Dadurch wirkten die Debatten wie ein Ventil, da die Menschen ihre abweichenden Meinungen artikulieren konnten. Dies verbanden sie stets mit der Hoffnung, ihre Vorschläge könnten Eingang in das Gesetz finden.48 Im Unterschied zu 1954 waren die gelenkten Diskussionen wesentlich stärker strukturiert und zentralisiert. Darüber hinaus wählte das Justizministerium andere Begrifflichkeiten und ersetzte „öffentliche Diskussion“ mit „Aussprachen“. Mit dieser Verschiebung verfolgte das Ministerium zwei Ziele. Es würden die Adressaten, also die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf den Veranstaltungen, stärker in den Mittelpunkt gerückt. Zugleich würden sie zur aktiven Partizipation an den diversen Veranstaltungsformen wie Podiumsdiskussionen bewegt werden. Jedoch verfolgte lediglich das Justizministerium diese Begriffsverschiebung konsequent. Andere Ministerien verwendeten stattdessen beide Termini synonym. Gleichwohl verweist die Begriffsverschiebung darauf, wie stark die SED versuchte, Einfluss auszuüben.49 Der staatliche Zugriff auf die Debatte zeigt sich ebenfalls bei der hierarchischstrukturierten Gliederung der Diskussionsprozesse. Zunächst diskutierten die Mitglieder des ZK und der Nationalen Front die Vorschläge und stellten die dahinterstehenden Argumentationsmuster vor, ehe sie den Entwurf den Bürgern präsentierten und die „öffentlichen Diskussionen“ einsetzten.50 Hier waren auch Medien wie Presse, Rundfunk und im Unterschied zur Debatte der 1950er Jahre auch das Fernsehen involviert. Zum Beispiel sendete die Aktuelle Kamera zum Beginn der Debatte am 14. April 1965 ein dreiminütiges Interview mit der Justizministerin Hilde Benjamin. Daneben diskutierten zahlreiche Printmedien wie die Neue Justiz und die Lehrer-Zeitung den Entwurf. Zusätzlich veröffentlichte der Ministerrat die Broschüre Ehe und Familie in der DDR, welche im Unterschied zu 1954 jedoch lediglich in einer Auflage von 40.000 Exemplaren erschien und nur einen eingeschränkten Leserkreis fand – eine Folge des allgemeinen Papiermangels in der DDR.51 Wie schon 1954 stellten das Namensrecht und das Ehemündigkeitsalter auch in der Diskussion 1965 zwei verbreitete Konfliktthemen dar. Im Sinne der Gleich48

49 50 51

Vgl. Vorbemerkungen, 5f.; Benjamin, Grundgesetz, 19; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/13/201, Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Ministerium der Justiz, Bericht über die Diskussion zum Entwurf des Familiengesetzbuches, Berlin, 20. August 1965, Bl. 268; Helwig, Familienpolitik (1961–1971), 500, 503f.; Gieseke, Bevölkerungsstimmungen, 242. Vgl. Schneider, Hausväteridylle, 274, 282. Vgl. ebenda, 295. Vgl. ebenda, 284ff.

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berechtigung eröffnete der Gesetzesentwurf zunächst beiden Partnern die Möglichkeit, ihren Namen zu behalten. Da jedoch abermals zahlreiche Eingaben und Schreiben dies mehrheitlich ablehnten, wurde dieser Passus letztlich aus dem Entwurf gestrichen. Stattdessen stellte nun das Justizministerium zur Diskussion, ob Ehepartner einen Doppelnamen führen dürfen sollten. Das Ministerium verwarf aber auch diesen Plan und schrieb stattdessen vor, dass die Familie einen Namen – entweder den des Mannes oder der Frau – wählen müsse. Darüber hinaus war es nach Darstellung Benjamins geplant, bei der Überarbeitung des Personenstandsgesetzes in bestimmten Fällen die Möglichkeit einzuräumen, dass beide Partner den je eigenen Namen behielten.52 Somit setzte sich in der DDR eine Regelung durch, die nicht mehr darauf bestand, dass der Name des Mannes zum Familienname werde. Die Partner durften entscheiden, welcher ihrer beiden Namen zum Familiennamen werde.53 Beim Ehemündigkeitsalter standen wie in den 1950er Jahren zwei Optionen im Raum. Ein Teil der Kommissionsmitglieder plädierte bei der Ausarbeitung des Gesetzes dafür, bei Männern das Ehemündigkeitsalter heraufzusetzen, wohingegen es bei den Frauen – gerade im Hinblick auf eine Schwangerschaft – abgesenkt werden sollte.54 Benjamin lehnte die Heraufsetzung bei den Männern ab. Schließlich seien Personen, die mit 18 Jahren ihren Militärdienst leisteten, so ihre Begründung, auch verantwortungsbewusst genug, um eine Familie gründen zu dürfen. Wenn das Alter der Frau wiederum herabgesetzt würde, dann könnte dies als Widerspruch zur Gleichberechtigung gewertet werden. Auch aufgrund dieser Einwände verblieb das Ehemündigkeitsalter weiterhin bei 18 Jahren, wohingegen in Westdeutschland der Mann mit 21 Jahren, in Ausnahmefällen mit 18 Jahren und die Frau mit 16 Jahren heiraten durften.55 Der zentrale Unterschied zum westdeutschen Familienrecht lag jedoch bei der Bedeutung und Funktion von Ehe und Familie für den Staat. Das FGB schützte und förderte zwar weiterhin die Familie, doch sollte all dies in einem „sozialistischen Sinn“56 52 53

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Vgl. Benjamin, Grundgesetz, 24; Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik, 121; Schneider, Hausväteridylle, 217–221; Helwig, Familienpolitik (1961–1971), 509. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/13/200, Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Ministerium der Justiz, Begründung des Entwurfs des Familiengesetzbuches, Berlin, 2. September 1964, Bl. 4. Vgl. SAPMO-BArch DY 31/1019, Elfriede Göldner, Berlin, 30. April 1965, Bl. 3. Vgl. Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik, 121; SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/13/200, Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Ministerium der Justiz, Begründung des Entwurfs des Familiengesetzbuches, Berlin, 2. September 1964, Bl. 4; SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/13/200, Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Ministerium der Justiz, Begründung des Entwurfs des Familiengesetzbuches, Berlin, 18. März 1965, Bl. 178; Benjamin, Grundgesetz, 23; Helwig, Familienpolitik (1961– 1971), 509; Schneider, Hausväteridylle, 203ff. EZA 2/4365, Materialien zur Situation der Familie und zum Familienrecht in der DDR, in: Grüner Dienst, Nr. 24/65, Bethel/Bielefeld, 31. Mai 1965, 1.

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erfolgen. Ehe, Familie und Kindererziehung waren auf den Staat bzw. den Sozialismus bezogen. Das FGB stellte somit eine Blaupause für einen gesellschaftlichen Zukunftsentwurf der sozialistischen Familie in einer sozialistischen Gesellschaft dar.57 Das Leitbild der „sozialistischen Familie“, die die „kleinste Zelle der Gesellschaft“58 darstelle und als Gegenentwurf zur bürgerlichen Familie konzipiert war, basiere auf vier Wesensmerkmalen: 1) der auf Lebenszeit geschlossenen Ehe; 2) der Deckungsgleichheit der Grundinteressen von Familie und Gesellschaft; 3) der formalen Gleichberechtigung von Mann und Frau; 4) der besonderen Qualität der Intimbeziehungen wie „Liebe, Achtung und gegenseitige[s] Vertrauen“59 der Familienmitglieder zueinander.60 Bei der „sozialistischen Familie“ handele es sich aber nicht wie bei der bürgerlichen Familie um eine soziale Kleingruppe, sondern vielmehr wurde sie als ein Kollektiv gesehen, das sich staatlichen Anforderungen unterordnete. Damit galt das Primat der staatlichen Interessen vor den Individualinteressen der Familienmitglieder.61 Das Familiengesetzbuch legte folglich mittels zahlreicher Einzelbestimmungen den Vorrang der staatlichen Interessen vor den Privatinteressen der Familienmitglieder fest. Das hatte weitreichende Folgen für die Institution Familie. Sie musste nun primär die staatlich definierten Funktionen übernehmen, wie die Zeugung von Kindern, die dann im sozialistischen Sinne erzogen werden sollten. Im Hinblick auf die Kindererziehung distanzierte sich das FGB zudem nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich vom BGB. In den Debatten um den Entwurf des FGB war zunächst davon gesprochen worden, den Begriff der „elterlichen Gewalt“ durch die „elterliche Sorge“ zu ersetzen. Das Justizministerium entschied sich dann aber für den Terminus „elterliche Erziehung“. Mit dieser Begriffsverschiebung brachte das Justizministerium der DDR seine ablehnende Haltung gegenüber dem im Gewalt-Begriff des BGB enthaltene Herrschaftsverhältnis zum Ausdruck. Zudem sollte so betont werden, dass die Kinder durch die Erziehung ihrer Eltern – das Erziehungsrecht übten beide Eltern aus –, aber auch durch staatliche Einrichtungen wie Schulen, zu den „sozialistischen“ Idealen, wie Achtung der Arbeit und sozialistischem Patriotismus, erzogen wurden. Wenngleich sich Paare dem staatlichen Kontrollapparat aber weiterhin zumin57 58

59 60 61

Vgl. ebenda; Helwig, Familienpolitik (1961–1971), 499, 503f.; Busch, Familie, 101; Schneider, Hausväteridylle, 346. Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik, 117. Zur Diskussion über diesen Ausdruck vgl. Schneider, Hausväteridylle, 184f.; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/13/106, Protokoll über die Beratung einer Kommission über Fragen des Familiengesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik am 25. Mai 1959, Bl. 14f. Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik, 117. Vgl. ebenda, 117–120; Schneider, Familie und private Lebensführung, 62. Vgl. Grandke, Entwicklung, 236; Busch, Familie, 104; Helwig, Familie, 9; Schneider, Hausväteridylle, 173, 182–196; Schröter, Ehen, 44.

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7.1 Der Bruch mit der Rechtstradition des BGB: das Familiengesetzbuch der DDR

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dest teilweise entziehen konnten.62 Eine weitere Möglichkeit, in die Familien zu intervenieren, wurde im Scheidungsrecht festgelegt. Bevor eine Ehescheidung erfolgen sollte, sollten die Gerichte die Möglichkeit einer Aussöhnung prüfen. In der Praxis senkte diese Vorgabe jedoch die Zahl der geschiedenen Paare kaum.63 Das Familiengesetzbuch zeigt mit diesen Ausführungen auch den damaligen Schwerpunkt der Familienpolitik auf, der auf der Sozialisationsfunktion der Familie lag. Erst ab 1971/72 rückten in der DDR unter dem neuen Generalsekretär des ZK der SED, Erich Honecker, die geburtenfördernden Maßnahmen stärker ins Zentrum des politischen Interesses.64 Finanzielle Anreize zur Geburtenförderung waren ein zentrales Element dieser neuen frauen- und familienpolitischen Richtung, die als sogenannte „Muttipolitik“ oder „Mütterpolitik“ bezeichnet wurde. Hierzu zählten vor allem ein auf 18 Wochen verlängerter Schwangerschafts- bzw. Wochenurlaub, die Erhöhung der Geburtenbeihilfe auf 1.000 Mark pro Kind, die 40-Stunden-Woche für vollbeschäftigte Mütter ab dem dritten Kind und ein auf 21 Tage verlängerter Mindesturlaub. Überdies konnten Alleinstehende ab Juli 1972, abhängig von der Kinderzahl, bei Krankheit des Kindes maximal 13 Wochen pro Jahr freigestellt werden und erhielten darüber hinaus Krankengeld. Diese Maßnahmen galten als erfolgversprechendes Mittel, das politisch gewünschte Ideal von drei Kindern pro Familie zu erreichen. Problematisch war dieses politische Ziel insofern, als es mit dem ideologischen und wirtschaftlich motivierten Ziel der vollen Erwerbstätigkeit der Frauen in Konflikt stand.65 Als sich abzeichnete, dass die Unterstützungsleistungen nicht ausreichten, um die Geburten auf das von der SED anvisierte Ziel zu steigern, folgten 1977 weitere familienpolitische Vergünstigungen. Vor allem der auf 26 Wochen verlängerte Schwangerschaftsurlaub, die 40-Stunden-Woche für vollbeschäftigte Mütter ab dem zweiten Kind und ein bezahltes Babyjahr ab dem zweiten ehelich geborenen Kind sind hier zu benennen. Alleinerziehende Mütter erhielten bereits ab dem ersten Kind ein bezahltes Babyjahr; ab 1986 wurde diese Förderung schließlich auch verheirateten Müttern bei der Erstgeburt zuteil. Gerade das Babyjahr trug in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre maßgeblich zum Geburtenanstieg bei. Die 62

63

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Vgl. Benjamin, Grundlagen, 228; Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik, 134f.; Schneider, Hausväteridylle, 60f., 187f., 194; Helwig, Familienpolitik (1961– 1971), 505f. Vgl. Schröter, Ehen, 67ff., 76ff.; Schäffler, Paarbeziehungen, 173. Hierzu § 24 des FGB: „Eine Ehe darf nur geschieden werden, wenn das Gericht festgestellt hat, [. . . ] daß diese Ehe ihren Sinn für die Ehegatten, die Kinder und damit auch die Gesellschaft verloren hat.“ Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik, 126. Vgl. Obertreis, Familienpolitik, 343; Schäffler, Paarbeziehungen, 111f. Zu diesem Ideal vgl. Grandke, Entwicklung, 230–233. Vgl. Helwig, Familienpolitik (1971–1989), 490ff.; Budde, Frauen, 315; Budde, Alles bleibt anders, 83f.; Schneider, Hausväteridylle, 23.

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familienpolitischen Zuwendungen unterschieden sich damit in beiden Teilen Deutschlands deutlich. Aber auch in der DDR setzte sich der Trend zur Ein- bzw. Zwei-Kind-Familie fort.66

7.2 Neubestimmung des familienpolitischen Standorts in der Bundesrepublik In der Bundesrepublik erfolgte in den späten 1960er und 1970er Jahren sowohl eine Neuausrichtung der Familienpolitik als auch des Familienrechts. Als die Familienministerin Aenne Brauksiepe 1968 Bruno Heck nachfolgte, setzte sie auf eine Familienpolitik, welche die sozialen Positionen von Frauen genauso wie die Aufstiegschancen von Kindern verbessern sollte. Insbesondere Letztere waren ein zentrales Anliegen Brauksiepes. Sie sprach immer wieder davon, die Familienpolitik stärker am Wohl des Kindes auszurichten. Allerdings konnte Brauksiepe aufgrund ihrer kurzen Amtszeit von gut einem Jahr keine Akzente setzen. Als unter der sozialliberalen Koalition die SPD-Politikerin Käte Strobel (1969–1972) ins Amt kam, erfolgte eine weitere Verschiebung der familienpolitischen Ziele, die sich unter ihrer Nachfolgerin Katharina Focke (1972– 1976) fortsetzte. Nach sozialdemokratischem Verständnis galt Familienpolitik als ein „integrierter Bestandteil einer umfassenden Gesellschaftspolitik“.67 So plädierte Strobel für eine „rationale Familienpolitik“,68 wonach alle Kinder gleichbehandelt werden müssten. Damit grenzte sie sich dezidiert von der politischen Ausrichtung ihrer Vorgänger ab, die sich insbesondere auf die Unterstützung kinderreicher Familien konzentriert hatten. Eine wichtige Zäsur stellte die Neufassung des Bundeskindergeldgesetzes zum 1. Januar 1975 dar. Diese Änderung des Familienlastenausgleichs schaffte die seit 1946 geltenden Steuerfreibeträge für Kinder ab und erhöhte das Kindergeld, das nun bereits ab dem ersten Kind ausbezahlt wurde. Es erhöhte sich nicht nur die finanzielle Zuwendung im Einzelfall, sondern erweiterte zudem den Empfängerkreis erheb66

67 68

Vgl. Helwig, Familienpolitik (1971–1989), 480ff., 491f., 494; Merkel, Leitbilder, 373; Huinink/Wagner, Partnerschaft, 150; Konietzka/Kreyenfeld, Mutterschaft, 33; Neumaier/Ludwig, Individualisierung, 279. Eilers, Einleitung, 3; Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Leitsätze, 5. Für eine rückblickende Zusammenfassung hierzu vgl. Wingen, Vorüberlegungen. Eine „rationale Familienpolitik“ basiere auf „rationalen Erkenntnissen, kritischen Einsichten und gesetzten Zielen“. Sie orientiere sich damit an der gesellschaftlichen „Realität“ und intendierte, „Defizite“ zu reduzieren. Darüber hinaus sollte diese Art der Familienpolitik auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Leitsätze, 5; BArch Koblenz B 189/14826, PSt-Rede vor der evangelischen Konferenz 1978, 6; BArch Koblenz B 189/15785, Vermerk M[ax] Wingen, Probleme sozialwissenschaftlicher Familienpolitikberatung. 12 Thesen, Bonn-Bad Godesberg, 18. Juni 1975, 1ff.

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lich. Um 1970 hatten gut ein Viertel aller Familien mit minderjährigen Kindern Kindergeldzahlungen erhalten. 1975 stieg ihr Anteil auf 84 Prozent.69 Darüber hinaus wollte die SPD-Familienpolitik die Machtbeziehungen in der Familie aufbrechen, die „Position der Herrschaft des Mannes und Vaters gegenüber Frau und Kindern“70 beenden und so die freie Entfaltung ihrer Mitglieder garantieren. Familienpolitische Maßnahmen – wie parallel die Reformen des Familienrechts – zielten folglich darauf, die sozial schwachen Familienmitglieder, vor allem das Kind, zu schützen. Partnerschaft firmierte dabei als neues familienpolitisches Leitbild. Der familienpolitische Ausschuss der SPD schlug 1975 folgende übergeordnete Prinzipien als Grundlage sozialdemokratischer Familienpolitik vor: ‚[d]as Recht des Kindes auf Erziehung, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Erziehungsrecht der Eltern, Schutz und Wertschätzung von Ehe und Familie“71 sollten als übergeordnete Prinzipien die Familienpolitik der SPD leiten. Damit einhergehend firmierten „Chancengleichheit“, „Gleichberechtigung“ und „Emanzipation“ als neue familienpolitische Leitbegriffe.72 Dies entsprach jedoch nicht der sozialen Realität in den meisten westdeutschen Familien, weshalb Sozialdemokraten die weiterhin vorherrschenden hierarchischen und autoritären Familienstrukturen anmahnten. „Weder stehen die Eheleute faktisch in einem partnerschaftlich ebenbürtigen Verhältnis zueinander, noch sind die Kinder als eigenständige Persönlichkeiten adäquat gewürdigt“,73 lautete ihr Befund. Dieses Phänomen erklärten Sozialdemokraten damit, dass 69

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Vgl. Kuller, Familienpolitik, 19, 158f., 195–222; Münch, Familien-, Jugend- und Altenpolitik (1966–1974), 640ff., 646, 658–661; Neumaier/Ludwig, Individualisierung, 272; Die Höhe des Kindergeldes belief sich auf 50 DM für das erste und 70 DM für das zweite Kind (zuvor 25 DM) sowie für jedes weitere Kind 120 DM (zuvor 60 DM, ab dem fünften 70 DM). Vgl. Kuller, Familienpolitik, 216; Dienel, Familienpolitik, 90. Für einen Überblick über den Familienlastenausgleich vgl. Jakob, Familienbilder, 101–123. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 5151, Entwurf alternativer Leit- und Grundsätze zur Familienpolitik, ohne Ort, [März 1974], 11. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Leitsätze, 5. Vgl. für die beiden vorangegangenen Absätze Schneider, Familie und private Lebensführung, 64; Jakob, Gesellschaftsbilder, 302; Münch, Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 230–237; dies., Familien-, Jugend- und Altenpolitik (1966–1974), 640f., 661, 666f.; Kuller, Familienpolitik, 16–19, 87, 90f.; BArch Koblenz B 189/3184, Chancengleichheit für die Frauen in der heutigen Gesellschaft. Rede von Bundesminister Arendt, in: Presseund Informationsamt der Bundesregierung Bulletin, Nr. 168, 16. November 1971, 1778– 1781, Bl. 122–124, hier Bl. 122; AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 5151, Rudolf Hauck, Was heißt kinderfreundliche Politik?, Evangelische Akademie Loccum, 20. November 1973, 1; AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 5151, Entwurf alternativer Leit- und Grundsätze zur Familienpolitik, ohne Ort, [März 1974], 11f.; Eilers, Einleitung, 3; AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 10407, Anni Jansen, ohne Titel, Bonn, 9. September 1975, 1; Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Grundsatzfragen, 3. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 5151, Entwurf alternativer Leit- und Grundsätze zur Familienpolitik, ohne Ort, [März 1974], 2f.

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die „Abhängigkeitsverhältnisse“ am Arbeitsplatz, gerade in den wirtschaftlich schwächeren sozialen Schichten, in die Familien transportiert würden. Sie rezipierten damit implizit Bebels Thesen vom ausgehenden 19. Jahrhundert, der die Ehefrau als „Sklavin“74 bezeichnet und damit ihr Abhängigkeitsverhältnis zum Ehemann angeprangert hatte. Familienpolitik sollte nach sozialdemokratischem Verständnis diese Defizite überwinden. So beabsichtigten Sozialdemokraten, ein umfangreiches Beratungsprogramm zu initiieren. Das reichte von Geburtenplanung über Erziehungsfragen und therapeutische Behandlung bis hin zur Haushaltsorganisation.75 Die Reformpläne stießen insbesondere bei Vertretern der katholischen Kirche und des Laienkatholizismus wie dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) auf vehemente Kritik. So eröffnete der Vorsitzende des ZdK und Unionspolitiker, Bernhard Vogel, im Februar 1974 den Kongress über aktuelle Fragen der Familie und Familienpolitik mit mahnenden Worten. Es würden gegenwärtig „Werte und Aufgaben der Familie wie selten zuvor bestritten und angegriffen“, warnte er die Tagungsteilnehmer. Die Reformvorschläge hinsichtlich Ehe und Familie beabsichtigten „in ihrer radikalsten Form die Zerschlagung der als bürgerliche Kleinfamilie abgewerteten Institution“,76 predigte Vogel weiter. Der Fortbestand der Institution Familie schien aus seiner Perspektive gefährdet. Anschließend stimmten der Münsteraner Bischof Heinrich Tenhumberg und der Moraltheologe Franz Böckle in diesen pessimistischen Tenor ein. Böckle räumte allerdings zugleich ein, dass es sich bei der im 20. Jahrhundert immer wieder konstatierten „Krise der Familie“ nicht um eine Beschreibung des realen Zustandes handele. Böckles Befund führte den Zuhörern darüber hinaus noch ein weiteres Merkmal von Familie vor Augen: Trotz der immer wieder festgestellten Krise sei es der Familie gelungen, sich an wandelnde gesellschaftliche Rahmenbedingungen anzupassen. Allerdings vertraten Vogel, Tenhumberg und Böckle weiterhin einen eng gefassten Familienbegriff. Dass sich die gesellschaftlich akzeptierten Vorstellungen darüber, was eine Familie sei, ebenfalls ändern könnten, verneinten sie.77 74 75

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Bebel, Frau, 35. Siehe auch ebenda, 28. Vgl. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 5151, Entwurf alternativer Leit- und Grundsätze zur Familienpolitik, ohne Ort, [März 1974], 2f.; Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Aufgaben, 10; BArch Koblenz B 189/14826, Vermerk Betr.: Podiumsdiskussion des 3. Programms des WDR am 29. November 1978 zum Thema „Ist die Familie am Ende“; hier: Beitrag Referat 231 zur Vorbereitung für Frau Minister, Bonn, 15. November 1978, 4. Zum breitgefächerten Beratungsangebot vgl. ebenfalls Wahl, Familienbildung. Vogel, Eröffnung, 9f. Für eine Zusammenfassung der Debatte unter Wissenschaftlern über den „Niedergang“ der Familie vgl. Neumaier, Niedergang, 220f. Vgl. Vogel, Eröffnung, 9f.; Tenhumberg, Grußwort, 15; Böckle, Unwandelbare, 65ff.; BArch Koblenz B 189/6784, Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen (Hg.), Aufgaben der Familienpolitik. Familienpolitisches Programm 1968 der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen, Bonn, [1968], Bl. 411; Neumaier, Niedergang, 219f., 225.

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Das erklärt auch ihre deutliche Kritik, als sich in den unionsinternen Aushandlungsprozessen während der 1970er Jahre zeigte, dass die mit der Ausarbeitung betraute Programmkommission durchaus zu Reformen bereit war. Das ZdK wertete den in den CDU-Leitsätzen vertretenen „‚offenen‘ Familienbegriff “ als eine Abkehr vom Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie.78 Die vom ZdK angeprangerte Tendenz, die Familienideale zu „liberalisieren“79 , setzte sich allerdings innerhalb der Union nicht durch. So entfiel der Passus, wonach es sich bei Alleinerziehenden auch um Familien handele.80 Darüber hinaus hatte der Entwurf die Ehe als eine „auf Dauer und Partnerschaft angelegt[e]“81 Verbindung definiert. In der verabschiedeten Variante des Ludwigshafener Grundsatzprogramms „Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit“ vom Oktober 1978 jedoch war „Dauer“ durch „Lebenszeit“ ersetzt worden.82 Die familienpolitische Position der Union überschnitt sich mit der Haltung der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen – vor allem der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen (EAF), des Familienbundes der Deutschen Katholiken und des Deutschen Familienverbandes. Sie betonten ebenfalls, dass die Ehe eine Verbindung auf „Lebenszeit“83 sei. Außerdem bezeichnete das Programm der Union Ehe und Familie als „Fundament unserer Gesellschaft und unseres Staates“.84 Dieser neue Passus erinnert sowohl 78

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Vgl. Archiv des ZdK 2202 Schachtel 8, Übersicht über einige zentrale Fragestellungen zu Aufgabe, Stellung, Bedeutung und Wert von Ehe und Familie, die für eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit nichtkatholischen Auffassungen beantwortet werden müssen, ohne Ort, [14. Februar 1977], 2; Bösch, Macht, 38; Entwurf CDU-Grundsatzprogramm (1977), 254; Gölter, Familie, 82. Archiv des ZdK 2202 Schachtel 8, Übersicht über einige zentrale Fragestellungen zu Aufgabe, Stellung, Bedeutung und Wert von Ehe und Familie, die für eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit nichtkatholischen Auffassungen beantwortet werden müssen, ohne Ort, [14. Februar 1977]. Vgl. Bösch, Macht, 38ff.; Entwurf CDU-Grundsatzprogramm (1977), 254; Gölter, Familie, 82; Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. Verabschiedet auf dem 26. Bundesparteitag, Ludwigshafen, 23.–25. Oktober 1978 (Ludwigshafener Programm), http://www.kas.de/upload/ACDP/CDU/Programme_Beschluesse/ 1978_Grundsatzprogramm_Ludwigshafen.pdf (letzter Zugriff am: 04.01.2019), 129. Entwurf CDU-Grundsatzprogramm (1977), 254. Vgl. Berliner Programm. In der Form der zweiten Fassung vom 18. Bundesparteitag, 25.–27.1.1971, Düsseldorf mit der Ergänzung vom 22. Bundesparteitag, 18.–20.11.1973, Hamburg, in: http://www.kas.de/upload/themen/programmatik_der_cdu/programme/ 1971_Berliner-Programm_Zweite-Fassung.pdf (letzter Zugriff am: 04.01.2019), 84. ADW HGSt 4734, Gemeinsame Verlautbarung der Deutschen Familienorganisationen, ohne Ort, 29. September 1975, 1. Für diese Position innerhalb der EAF vgl. ACDP 08005-117/1, Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen (Hg.), Aufgaben der Familienpolitik. Familienpolitisches Programm 1972 der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen, 1. Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. Verabschiedet auf dem 26. Bundesparteitag, Ludwigshafen, 23.–25. Oktober 1978 (Ludwigshafe-

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an die Position Wuermelings in den 1950er Jahren als auch der katholischen Kirche während der 1970er Jahre. Zum Beispiel hatte Joseph Kardinal Höffner 1974 Ehe und Familie als „den Ursprung und das Fundament, die Grund- und Lebenszelle der Gesellschaft“85 bezeichnet. Gleichzeitig formulierte die Union mit ihrer Vorstellung vom „Fundament der Gesellschaft“ aber auch ihre familienpolitische Position, die bis in die 1990er Jahre dominierte.86 Damit die Familie dieser Funktion jedoch gerecht werden könnte, musste in den Augen der Union die Institution Familie stabilisiert werden. Der Rückgang der Heiratsneigung und der Geburtenziffern sowie der Anstieg der Ehescheidungszahlen in den 1960er Jahren verweise schließlich auf einen Bedeutungsrückgang der Familie, argumentierte die Mehrheit der Unionsmitglieder während der 1970er Jahre. „Die Familie wird infrage gestellt“, lautete ihr Befund, zumal sich neue soziale Praktiken herausgebildet hätten. Immer mehr Menschen würden davor zurückschrecken, eine Bindung einzugehen. Zudem lebe gerade diese Gruppe „sexuelle Freiheiten“ aus und bevorzuge vermehrt „freie Partnerschaften und eheersetzende Lebensgemeinschaften“87 gegenüber der Familie. Insofern setzte sich innerhalb der Union der Diskurs um die „Krise der Familie“ bis Ende der 1970er Jahre fort.88 Gleichzeitig versuchte die Union neue familienpolitische Schwerpunkte zu setzen, wie die Debatte um das Erziehungsgeld aufzeigt. Beim Erziehungsgeld handelte es sich um ein finanzielles Anreizsystem, das sowohl die traditionelle Rollenverteilung stärken wie auch die Zahl der Geburten erhöhen sollte. Nach der Argumentation der Union führe das Erziehungsgeld dazu, dass mehr Frauen aus dem Beruf ausscheiden, Kinder gebären und anschließend die Kinder erziehen würden. Erstmals hatte die Unionsfraktion im Bundestag und mehrere unionsregierte Bundesländer dieses Modell im Juni 1974 eingehend diskutiert.89

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ner Programm), http://www.kas.de/upload/ACDP/CDU/Programme_Beschluesse/1978_ Grundsatzprogramm_Ludwigshafen.pdf (letzter Zugriff am: 04.01.2019), 129. Die Familie als „Fundament der Gesellschaft“ galt als die zentrale familienpolitische Leitlinie der CDU. Vgl. Schumann, Bauarbeiten, 1. Höffner kritisiert Eherechtsreform. Vgl. ACSP D 12/132 Argumente. Bericht der Kommission Familienlastenausgleich der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Familienpolitik im Wandel (Maßnahmen der Bundesregierung und Vorschläge der Kommission Familienlastenausgleich), ohne Ort, Stand 10. April 1985, 9. Der Begriff firmierte als Leitbild der Familienpolitik unter dem Parteivorsitzenden Helmut Kohl. Vgl. Schumann, Bauarbeiten. ACDP 07-001-G 8734, Gliederungsentwurf für Wahlkampf-Papier Familienpolitischer Teil, 1. Vgl. ACDP 07-001-G 8735, Kurzprotokoll der Sitzung der Arbeitsgruppe Familienpolitik am 21. September 1979 in der Parlamentarischen Gesellschaft, Bonn, 8. Oktober 1979, 2. ACDP 08-005-048/3, Arbeitskreis IV Sozial- und Gesellschaftspolitik der CDU/CSUFraktion im Deutschen Bundestag, Betr.: Programm zur Förderung der Familien und zum Schutz des ungeborenen Lebens, Bonn, 7. Februar 1974, 1; ACDP 04-003-070/2, CDU und CDU/CSU-Bundestagsfraktion Kommission „Frauen“, „Frau und Gesellschaft“. Grundsätze

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In den folgenden Jahren griffen es Unionspolitiker wie Albert Burger und Norbert Blüm in der öffentlichen Diskussion immer wieder auf. Sie betonten den vermuteten positiven Effekt auf die Bevölkerungsentwicklung. Blüm stufte es darüber hinaus als ein effektives Mittel ein, um die Arbeitslosenzahlen zu senken. Schließlich sei es „sehr viel sinnvoller [. . . ], daß die Mutter, die eine Arbeit hat, bei ihrem Kind ist, als daß ein Familienvater, der eine Familie ernähren muß, auf der Straße steht“.90 Dass sein Vorschlag im Hinblick auf die Gleichberechtigung durchaus problematisch war, sprach Blüm selbst an, negierte jedoch die Relevanz solcher Überlegungen: „Ich will jetzt das komplizierte Problem Mann/Frau/Gleichberechtigung nicht ins Spiel bringen, nur ich denke, wir haben zu wenig Phantasie entwickelt und gehen das Problem nur defensiv an.“91 Gleichzeitig muss berücksichtigt werden, dass innerhalb der Union durchaus unterschiedliche Positionen zum Erziehungsgeld existierten. Zu den Kritikern gehörte der Generalsekretär Heiner Geißler. Er fragte, ob dadurch nicht übergeordnete politische Ziele wie die Absenkung der Staatsquote konterkariert würden. Der Bundestagsabgeordnete Kurt Biedenkopf fand deutlichere Worte und wandte ein, dass dadurch „der Staat Arbeitgeber der Mutter wird“.92 Überdies lehnte 1980 der Vorsitzende der bayerischen Christlich Sozialen Union (CSU) und Kanzlerkandidat der Union, Franz-Josef Strauß, das Erziehungsgeld aus gesellschaftspolitischen und finanziellen Erwägungen ab, um sogleich jedoch wieder von dieser Position abzurücken.93 Auf deutlichen Widerstand stieß das Erziehungsgeld bei der westdeutschen Frauenbewegung. „Wieso soll ein Mensch mit Vagina eigentlich qualifizierter fürs Windelwaschen und Tellerspülen und Trösten sein als ein Mensch mit Penis“,94 fragte Alice Schwarzer 1977. Auch vonseiten der Wissenschaft kamen Einwände gegen das Konzept des Erziehungsgeldes. So zweifelte der Anthropologe und Leiter des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, Hans Wilhelm

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und Forderungen der CDU für Gleichberechtigung in einer sich wandelnden Welt. Vorlage für den Bundesvorstand am 24. Februar 1975 in Bonn, 26; AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 7689, Vermerk Die CDU und die Frauen! Zurück in die Küche!, ohne Ort, ohne Datum. Zur Vorgeschichte und Debatte um das Erziehungsgeld vgl. Kolbe, Elternschaft, 163–199; Kuller, Familienpolitik, 146f. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 7689, Vermerk Die CDU und die Frauen! Zurück in die Küche!, ohne Ort, ohne Datum. Ebenda. BArch Koblenz B 189/15748, „Familienbericht wird für parteipolitische Auseinandersetzungen missbraucht“, in: Informationen des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, 17/79, 5. Oktober 1979, 5. Vgl. Die Lage der Familien. Dritter Familienbericht (Zusammenfassender Bericht), 62f.; BArch Koblenz B 189/15748, „Familienbericht wird für parteipolitische Auseinandersetzungen missbraucht“, in: Informationen des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, 17/79, 5. Oktober 1979, 4f.; Stoiber – der Mann fürs Grobe, 69. Baby-Baisse, 76.

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Jürgens, einen positiven Effekt monetärer Anreize auf die Geburtenentwicklung generell an.95 Die Soziologin Helge Pross stufte das Erziehungsgeld ebenfalls als wenig erfolgversprechend ein. Pross und Jürgens plädierten stattdessen dafür, das Verhältnis von Familie und Berufsarbeit zu reformieren. Teilzeitarbeit könne ihrer Ansicht nach dazu beitragen, die gesellschaftliche Akzeptanz der Familie zu steigern.96 Aber auch Sozialdemokraten lehnten diesen Ansatz ab und sprachen sich 1979 in ihren Grundsatzfragen der Familienpolitik gegen das Erziehungsgeld aus. Vereinzelt warfen sie der Union vor, sie betreibe keine Familien-, sondern „Bevölkerungspolitik“.97 Dies kann durchaus als rhetorischer Gegenpol zum Vorwurf der „Familienfeindlichkeit“ verstanden werden, den die CDU in den 1970er Jahren gegen die Bundesregierung vorgebracht hatte.98 In den Äußerungen der Union schwang stets der Vorwurf mit, dass die sozialliberale Koalition mit ihrer Familienpolitik die „Auflösung“ der Familie betreibe, da sie sich für das Ideal der berufstätigen Frau einsetze. Diesen Bestrebungen versuchte die Union mit dem – unter ihrem Parteivorsitzenden Helmut Kohl erarbeiteten – Grundsatzprogramm 1978 entgegenzutreten, das wie zuvor geschildert wesentlich konservativer ausfiel als die reformfreudigen Entwürfe der Programmkommission. Im Kern behielt damit die Union ihr Familienideal der frühen Bundesrepublik bei, wenngleich die vorgelagerten Debatten doch auf ein deutliches Konfliktpotenzial verwiesen. „Die wirklich interessante Standortbestimmung lag damit häufig weniger im Grundsätzlichen, sondern in solchen 95

96 97

98

Vgl. ebenda. Zu Traditionen nationalsozialistischen Denkens in der „Deutschen Akademie für Bevölkerungswissenschaft“, zu der auch Jürgens gehörte, vgl. Kuller, Familienpolitik, 101f., 106; dies., Demographen, 174f. Vgl. Pross, Familie, 26. Für diesen Vorwurf und die Entgegnung der Union vgl. AdsD, Protokolle der SPDBundestagsfraktion, 7. WP 2/BTFG002562 Pressemitteilung Betr.: Familienpolitik, in: Informationen der Sozialdemokratischen Fraktion im Deutschen Bundestag, Ausgabe Tagesdienst 771, 19. August 1976; ACDP 08-001-1055/1, Fraktionsprotokoll der CDU/ CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Fraktionssitzung, 13. März 1979, 17, 20. Vgl. ACDP 08-005-048/3, Arbeitskreis IV Sozial- und Gesellschaftspolitik der CDU/CSUFraktion im Deutschen Bundestag, Betr.: Programm zur Förderung der Familien und zum Schutz des ungeborenen Lebens, Bonn, 7. Februar 1974, 1; ACDP 04-003-070/2, CDU und CDU/CSU-Bundestagsfraktion Kommission „Frauen“, „Frau und Gesellschaft“. Grundsätze und Forderungen der CDU für Gleichberechtigung in einer sich wandelnden Welt. Vorlage für den Bundesvorstand am 24. Februar 1975 in Bonn, 26; AdsD, SPDParteivorstand ASF 7689, Vermerk Die CDU und die Frauen! Zurück in die Küche!, ohne Ort, ohne Datum; Baby-Baisse, 76; Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Grundsatzfragen, 12f.; Münch, Familien-, Jugend- und Altenpolitik (1966–1974), 654. Siehe auch AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 10407, Wahlfreiheit sichern – Partnerschaft verwirklichen. Aktionsprogramm 78 der Frauenvereinigung der CDU. Verabschiedet am 15. April 1978 auf der Sitzung des Hauptausschusses der Frauenvereinigung der CDU, 3. Für eine Zusammenfassung zum Erziehungsgeld vgl. Schumann, Bauarbeiten, 49–59.

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Details, die freilich Grundsätzliches verbargen“,99 schlussfolgert daher der Historiker Frank Bösch. Selbst wenn die Mehrheit der Unionspolitiker somit ihre familienpolitischen Einstellungen und ihre Vorstellungen von Familie nicht revidierten, waren sie dennoch eingebettet in einen gesamtgesellschaftlichen Aushandlungsprozess um die Familie, der in den 1970er Jahren deutlich an Dynamik gewann. Sie reflektierten dabei die sukzessive Neuausrichtung der Familienpolitik unter der sozialliberalen Koalition, die sich grundlegend von den 1950er und 1960er Jahren unterschied. Die juristische Neubestimmung der Familie reichte demgegenüber weiter zurück.100

7.3 Reform des westdeutschen Ehe- und Familienrechts Zunächst kam in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre eine Reform des Nichtehelichenrechts auf die politische Agenda. Mitarbeiter des Familienministeriums betonten, dass sich das uneheliche Kind in einer sozial prekären Ausgangslage befinde, die mit einer Reform überwunden werden solle. Das Kind wachse schließlich nicht in der „Geborgenheit der Familie“101 auf. Zudem lasse die Gesellschaft sowohl die Mutter wie auch das Kind ihre sozial randständige Position „spüren“. Das nichteheliche Kind sei ferner meist kein „Wunschkind“, was ebenfalls seine Zukunftschancen negativ beeinflusse.102 Das Reformgesetz sollte nach dieser Lesart also die Lebenschancen unehelicher Kinder gegenüber denen ehelich geborener erhöhen, indem es deren soziale Diskriminierung beseitigte. Wie schon in den 1920er Jahren bestand weitgehender Konsens unter den Reformern darüber, dass die soziale wie rechtliche Benachteiligung des nichtehelichen Kindes überwunden gehöre. Allerdings konnte die Debatte um das Nichtehelichenrecht nicht losgelöst von der Familie geführt werden. Es ging somit zumindest indirekt darum zu klären, welche Formen des Zusammenlebens akzeptiert werden sollten. Gerade die Vertreter der Union und der katholischen Kirche äußerten weiterhin Vorbehalte. Ein Vermerk des Bundesfamilienministeriums fasste ihre Argumente zusammen und dabei zeigt sich, dass die Debatten der 1960er Jahre sprachlich und inhaltlich an die Argumente der 1920er Jahre an99 100 101

102

Bösch, Macht, 39. Vgl. Kuller, Familienpolitik, 16–19; Neumaier, Ringen, 210–224; ders./Ludwig, Individualisierung, 272. BArch Koblenz B 189/6783, Referat II 2-1027 – 3, Betr.: Entwurf eines Gesetzes über die rechtliche Stellung der unehelichen Kinder (Unehelichengesetz), Bad Godesberg, 20. Juli 1967, 2. Vgl. ebenda, 2f.; Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 246–253, 323–328; Münch, Familien-, Jugend- und Altenpolitik (1966–1974), 682.

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knüpften. Zunächst drohe „eine Abwertung des Instituts“,103 also der Institution Kernfamilie, wandten sie ein. Darüber hinaus bestehe aber auch die Gefahr, dass sich sogenannte „verfassungsrechtlich nicht zulässige[. . . ] ‚Nebenfamilien‘“104 bilden würden. Unionsabgeordnete und die katholische Kirche fürchteten, dass mit der rechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder der Verfassungsauftrag vom Schutz der Ehe und der Familie unterlaufen werde. Sie lehnten es daher ab, neben der christlich-bürgerlichen Kernfamilie anderen Lebensformen den rechtlichen und sozialen Status einer Familie zuzusprechen. Der Referentenentwurf des CDU-geführten Justizministeriums vom Mai 1966 ging im folgenden Jahr dem neuen sozialdemokratischen Justizminister Gustav Heinemann nicht weit genug, da er sich primär am nichtehelich geborenen Kind orientiere und die Belange der Eltern hingegen weitgehend ausspare. Infolgedessen ließ Heinemann von seinem Ministerium einen neuen Gesetzesentwurf ausarbeiten. Die Differenzen zwischen Union einerseits und SPD sowie FPD andererseits blieben auch im Anschluss an die erste Lesung der Regierungsvorlage im Bundestag am 17. Januar 1968 bestehen. Denn Sozialdemokraten, aber auch Liberale, wollten alleinerziehenden Müttern und ihren Kindern den rechtlichen Status einer Familie zusprechen, argumentiert die Historikerin Sibylle Buske. Sie begannen damit, die enge Familiendefinition zu erweitern, worauf dann bei der Reform des Familien- und Scheidungsrechts zurückgegriffen wurde.105 Am 19. August 1969 erfolgte die Reform des Nichtehelichenrechts, als der Bundestag das „Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder“ verabschiedete. Die Änderungen traten zum 1. Juli 1970 in Kraft und bedeuteten eine grundlegende Abkehr von den alten Bestimmungen des BGB. Das neue Gesetz sprach der unverheirateten Mutter das Sorgerecht für ihr Kind zu. Auch die gesetzlichen Bestimmungen für die Vaterschaft wurden neu formuliert. Sollte der Erzeuger die Vaterschaft nicht anerkennen, dann würde sie von einem Gericht ermittelt. Das Gesetz verankerte die Vaterschaft aber auch familienrechtlich, d. h. der Vater wurde als unterhaltspflichtig und das Kind als erbberechtigt erklärt. Diese Änderungen betrafen 1972 immerhin sechs Prozent der Kinder unter 15 Jahren.106

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BArch Koblenz B 189/6783, Referat II 2-1027 – 3, Betr.: Entwurf eines Gesetzes über die rechtliche Stellung der unehelichen Kinder (Unehelichengesetz), Bad Godesberg, 20. Juli 1967, 3 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Ebenda. Vgl. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 328f. Für einen Überblick über die politische Debatte vgl. ebenda, 328–343. Vgl. Bericht der Sachverständigenkommission, Zweiter Familienbericht, 23; Willenbacher, Paradigmen, 310–314; Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, 343ff.

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7.3.1 Katalysator für die Debatten um das Scheidungsrecht: die sozialen Praktiken

Die Änderung des Nichtehelichenrechts wie auch die zehn Jahre später erfolgte umfassende Modifikation des Sorgerechts sowie die Entkriminalisierung der Homosexualität 1969 (§ 175 StGB) und die Abschaffung des Kuppeleiparagraphen 1973 umrahmte jedoch eine andere juristische Neubestimmung des Standorts: Die Änderung des Ehe- und Familienrechts 1976 gilt als die Kernreform der 1970er Jahre. Die gesellschaftlich verhandelten Familienideale „Gleichberechtigung“ und „Partnerschaft“ bekamen damit eine rechtliche Entsprechung. Zudem stärkte das neue Familienrecht die Individualrechte der Familienmitglieder. Da beim Scheidungsrecht das Schuldprinzip durch das Zerrüttungsprinzip ersetzte wurde, brach das Reformgesetz noch in einem weiteren Punkt mit dem BGB. Ausgelöst hatte die Debatte um die Reform des Scheidungsrechts das geänderte Klageverhalten. Während 1950 die Frauen erst 52 Prozent der Scheidungsklagen eingereicht hatten, waren es 1955 schon fast 64 Prozent. Bis 1960 stieg ihr Anteil weiter an und belief sich über das Jahrzehnt hinweg auf 67 Prozent. In den beiden Jahren 1970 und 1975 reichten in jeweils mehr als 70 Prozent der Fälle die Ehefrauen die Klage ein. Mehr als zwei Drittel der Scheidungsklagen gingen somit ab den 1960er Jahren von den Ehefrauen aus. Während sich die juristischen Scheidungsgründe wie schon in der Zwischenkriegszeit auf Untreue, rücksichtsloses Verhalten und Meinungsverschiedenheiten bei der Verwendung des Familieneinkommens verteilten, hatte sich demgegenüber die Geschlechterrelation massiv verschoben. In diesem Punkt ähnelten sich beide Teile Deutschlands. Auch in der DDR reichten die Ehefrauen ab 1958 weitaus häufiger als ihre Männer die Scheidungsklage ein. Ende der 1950er Jahre gingen gut zwei Drittel der Klagen von den Frauen aus, was in etwa der westdeutschen Relation entsprach.107 Der Historiker Lothar Mertens argumentiert, dass in der DDR die Frauen verstärkt auf Ehescheidung geklagt hätten, da sich ein „spezifisches weibliches Selbstbewußtsein“108 herausgebildet habe und dies an die mit der Berufsarbeit einhergehende Unabhängigkeit gekoppelt gewesen sei. Darüber hinaus hätten alleinerziehenden Müttern verschiedene staatliche Unterstützungsleistungen offengestanden, was vermutlich ebenfalls die Scheidungsneigung erhöht habe. Zudem erklärt Mertens, dass sich in der DDR die bürgerlich-patriarchalische Familienstruktur aufgelöst habe. Infolgedessen hätte auch kein gesellschaftlicher 107

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Vgl. Baumert, Untersuchungen zum Problem der Ehescheidung (Januar 1956), Tab. 19; Scheidungsepidemie traf im Jahre 1952 im Bundesgebiet 55.000 Kinder; Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft [1966], 6; Höhn, Einflüsse, 344; Mertens, Familiennorm, 37ff.; Helwig, Familienpolitik (1971–1989), 499. Mertens, Familiennorm, 37.

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Zwang mehr bestanden, an zerrütteten Ehen festzuhalten.109 Diese Interpretation greift jedoch aus mehreren Gründen zu kurz. Zunächst lehnte die SED-Regierung den Anstieg der Scheidungszahlen ab, da sie befürchtete, damit gehe ein Geburtenrückgang einher. Insofern bestand auch in der DDR großes politisches Interesse, die äußere Struktur der Kernfamilie aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus hatte die Eheverordnung von 1955 das Schuldprinzip zwar beseitigt, wodurch eine zentrale juristische Hürde für eine Scheidungsklage weggefallen war. Diese Veränderung hat sicherlich zum Anstieg der Ehescheidungen beigetragen, wenngleich er sich daraus nicht allein erklären lässt. Schließlich nahm auch in Westdeutschland die Zahl der Ehescheidungen zu, obwohl dort weiterhin ein restriktives Schuldprinzip die Scheidungsregelungen diktierte. Erst 1977 wurde in Westdeutschland das Zerrüttungsprinzip eingeführt und das Unterhaltsrecht reformiert. Bis dahin hatte eine Scheidung gerade für die schuldig geschiedene Ehefrau weitreichende Konsequenzen, da sie keinen Unterhalt zugesprochen bekam. 1963 benannten die westdeutschen Gerichte in 56 Prozent der Scheidungsurteile die Ehemänner als den allein schuldigen Teil. In 16 Prozent der Fälle erklärten die Gerichte die Frau zum schuldigen Teil. In 23 Prozent waren beide Partner schuldig. In fünf Prozent der Fälle benannten die Gerichte keinen Schuldigen. Folglich hatte die Scheidung für 39 Prozent der geschiedenen Ehefrauen den Verlust ihrer finanziellen Sicherheit zur Folge.110 Auch eine wachsende Zahl von Kindern war von der Scheidung ihrer Eltern betroffen. 1961 schätzten die amtlichen Statistiken, dass es in Westdeutschland ungefähr 500.000 bis 750.000 sogenannte „Scheidungswaisen“ gebe. Darüber hinaus prognostizierten amtliche Erhebungen einen jährlichen Zuwachs von 50.000 Scheidungskindern. Der Handlungsdruck erhöhte sich im Laufe der 1960er Jahre weiter, da die Zahl der Scheidungskinder stärker anwuchs als die Ehescheidungszahlen. Ihre jährliche Zuwachsrate belief sich um 1970 bereits auf 80.000 Kinder und 1973 waren es 99.000. Infolge des überproportionalen Anstiegs der Scheidungskinder sank der Anteil der kinderlos geschiedenen Ehepaare zwischen 1961 und 1972 von 42,4 Prozent auf 37,2 Prozent. 1972 war in 33 Prozent der Fälle ein minderjähriges Kind, in 29,8 Prozent waren zwei und mehr Kinder von der Scheidung betroffen. Damit stellte sich umso

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Vgl. ebenda; BArch Berlin DP 1/7577, Studie Regierung der Deutschen Demokratischen Republik. Ministerium der Justiz, Hauptabteilung II, Statistische Informationen über die Entwicklung in Zivil- und Familienrechtssachen, Berlin, 13. April 1962, Bl. 11; BArch Berlin DP 1/3860, Eberhardt, Zum Problem der Ehescheidungen in der DDR (Vorbereitung auf das Gespräch mit dem Kandidaten des Politbüros und Sekretär des ZK Genn. Inge Lange), Berlin, 9. Januar 1977, Bl. 3. Vgl. Huinink/Wagner, Partnerschaft, 148; Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft [1966], 6; Neidhardt, Familie, 54f.

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dringlicher die Frage, wie der Lebensunterhalt der geschiedenen Ehefrauen und ihrer minderjährigen Kinder sichergestellt werden könnte.111 Noch ein weiterer spezifisch westdeutscher Faktor erhöhte den Handlungsdruck auf die Politiker: die Verschärfung des Scheidungsrechts von 1961. Obwohl das Zerrüttungsprinzip faktisch beseitigt worden war und dadurch Ehen wesentlich schwieriger gelöst werden konnten, stieg die Zahl der Ehescheidungen weiter an, beschleunigte sogar in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Zudem konstruierten immer mehr Paare einvernehmlich Scheidungsgründe, damit sie von einem Gericht überhaupt geschieden werden konnten. Die Gesetzesänderung hatte somit die Praxis der Konventionalscheidung nicht ausgehebelt. Nach Schätzungen belief sich der Anteil der fingierten Scheidungstatbestände um 1970 sogar auf 80 bis 90 Prozent. Die Lenkungs- oder Erziehungsfunktion eines rigorosen Scheidungsrechts, wie es Anfang der 1960er Jahre Elisabeth Schwarzhaupt und Franz-Josef Wuermeling betont hatten, lief somit ins Leere. Das hatte zwei weitreichende Folgen. Zunächst entwickelten sich im Laufe der zweiten Hälfte der 1960er Jahre das restriktive Scheidungsrecht und die liberale Scheidungspraxis sukzessive auseinander. Darüber hinaus unterliefen scheidungswillige Paare mit der Konventionalscheidung die gesetzlichen Bestimmungen.112 Dieses Defizit des Scheidungsrechts im BGB war in der DDR bereits bei der Diskussion des Entwurfs des Familiengesetzbuchs 1954 erstmals angesprochen worden und hatte nun mehr als zehn Jahre später auch in Westdeutschland Virulenz entfaltet.113 Die Bestimmungen des Scheidungsrechts waren im Hinblick auf ihre Bedeutung für Ehe und Familie im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg immer wieder diskutiert worden. Jedoch erst die sich verändernde Praxis der Ehescheidung wirkte wie ein Katalysator, der eine umfassende Reformdebatte auslöste. Gleich111

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Vgl. BArch Koblenz B 189/2804, Bd. I, Pressemitteilung Bundesministerium für Familie, Jugend und Gesundheit, 80.000 Kinder von Scheidungen betroffen, Bad Godesberg, 2. April 1971, Bl. 304; Seitensprung kaum Scheidungsgrund. Vgl. BArch Koblenz B 141/36547, Vermerk Betr.: Diskussion mit dem „Frauenparlament der Bild-Zeitung“, ohne Ort, 25. März [1966], 3; BArch Koblenz B 189/2804, Vermerk Referat F 4 – 8040, Betr.: Stellungnahme zum Diskussionsentwurf des Bundesministers der Justiz zum Recht der Ehescheidung und der Scheidungsfolgen, Bonn-Bad Godesberg, 16. Oktober 1970, Bl. 38–51, hier Bl. 39; Schueler, Eherecht; Wolf/Lüke/Hax, Scheidung, 54–68, 174–199, 377–380; Begründung des Diskussionsentwurfs, 32; Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Reform, 16; Eherechtskommission, Vorschläge zur Reform des Ehescheidungsrechts, 31; ADW Allg. Slg. 1208, Das neue Scheidungsrecht: Mehr Gerechtigkeit durch das neue Zerrüttungsprinzip, in: Das neue Ehe- und Familienrecht. Der Bundesminister der Justiz informiert [Bonn 1976], 14–25, hier 18; Leicht, Scheidungsrecht; Kuller, Familienpolitik, 52. Vgl. BArch Berlin DP 2/819, Bericht über die Ergebnisse der Diskussion zum Entwurf des Familiengesetzbuches auf der Arbeitstagung im Ministerium der Justiz vom 19. Oktober 1954, 17.

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zeitig war die Diskussion eingebettet in einen transnationalen Prozess – d. h. auch in anderen Ländern wurden Scheidungsrechtsreformen diskutiert –, der bei diesem Thema außerordentlich stark rezipiert wurde. Der Divorce Reform Act 1969 in England ließ ab dem Jahr 1971 als einzigen Scheidungsgrund nur noch Zerrüttung zu. Die skandinavischen Länder wiederum führten Ehezerrüttung neben den Verschuldenstatbeständen als weiteren Scheidungsgrund ein. In den Niederlanden schlug ein Gesetzesentwurf von 1969 die Ehescheidung wegen Zerrüttung sowie die einvernehmliche Scheidung vor. Auch in Kalifornien wurden 1969 die gesetzlichen Rahmenbedingungen revolutioniert, als der Gouverneur Ronald Reagan das Gesetz für die verschuldensunabhängige Ehescheidung (no-fault divorce) unterzeichnete – was anschließend andere US-Bundestaaten übernahmen. Osteuropäische Staaten wie die Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien führten wie die DDR ebenfalls das Zerrüttungsprinzip ein.114 7.3.2 Politisch und öffentlich verhandelte Konfliktfelder

Die Reform des Scheidungs- und Familienrechts war eine der umfassendsten und strittigsten Reformen der Bonner Republik. Die Heftigkeit, mit der Politiker, Kirchenvertreter, Juristen und Vertreterinnen der Zweiten Frauenbewegung in dieser Kontroverse ihre Positionen vertraten, resultierte aus dem Umstand, dass das Familienrecht aus der zeitgenössischen Perspektive eine „Leitbildfunktion für die Gesellschaft“115 erfüllte. Die Akteure meinten, mit der Rechtsreform gehe eine Revision der bisher geltenden gesellschaftlichen normativen Rahmenbedingungen einher. Es ist aber noch ein weiterer Grund zu benennen. Die omnipräsente Vorstellung von einem kausalen Zusammenhang zwischen Anstieg der Scheidungszahlen und Erosion der Institutionen Ehe und Familie als Basis der Gesellschaft verstärkte die Abwehrhaltung unter konservativen Politikern und Kirchenvertretern. Selbst nach der Reform ebbte dieser Konflikt um die Deutungshoheit über die Familie nicht ab. Der Jurist und Mitarbeiter des Katholischen Büros Bonn, Leopold Turowski, wertete 1981 die Gesetzesreform als den „Niedergang eines christlichen Rechtsinstituts“116 – des Ehesakraments. Er rezipierte damit Argumente, die bereits 1969 der konservative Familienrechtsexperte Friedrich Wilhelm Bosch dargelegt hatte. Dieser hatte vor zwei Gefahren gewarnt. Es drohe, dass mit einer Reform des Ehe- und Familienrechts „der 114

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Vgl. Begründung des Diskussionsentwurfs, 34f.; Eherechtskommission, Vorschläge zur Reform des Ehescheidungsrechts, 66–71; Heinemann, American Family Values, 275– 278; Heinemann, Wert, 352–356. Für eine Zusammenfassung der Entwicklungen im Scheidungsrecht während der 1970er Jahre aus internationaler Perspektive vgl. Jayme, Entwicklung. Lersch, Union. Turowski, Rechtsinstitut, 11.

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Gedanke der Ehe als einer Institution völlig verloren geht“. Überdies behalte nach Abschluss der Reform „nicht einmal ein Minimum natürlich-sittlicher Normen“117 die Gültigkeit. Aus Boschs Perspektive führte somit die Scheidungsrechtsreform sowohl zu einer Abwertung der Institutionen Ehe und Familie als auch zu einem sittlich-moralischen Verfall. Diese Mahnungen ähneln den Argumenten des Zentrums gegen eine Reform des Scheidungsrechts während der 1920er Jahre. Insofern standen die katholische Kirche, aber auch das ZdK und zahlreiche Unionsabgeordnete einer Reform des Scheidungsrechts ablehnend gegenüber, wie später noch gezeigt wird. Gerade wegen der anhaltenden und massiven Kritik an den Reformplänen zwischen den 1960er und 1980er Jahren lässt sich die Gesetzesänderung nicht einfach „als ‚nachträgliche Verrechtlichung‘ bereits gewandelter kultureller Überzeugungen“118 beschreiben. Die anhaltenden Konflikte blendete unter anderem der Jurist und Experte für das Familienrecht Dieter Schwab aus. Eine „überwältigende Mehrheit in Bundestag und Bundesrat, insbesondere auch bei der CDU“119 habe für das Reformgesetz votiert, resümierte er über das neue Scheidungsrecht. Sicherlich trifft diese Einschätzung für die Abstimmung im Deutschen Bundestag am 8. April 1976 zu.120 Doch hatte gerade in den vorgelagerten politischen Kontroversen unter anderem der Rechtsexperte der Union und akademische Lehrer Schwabs, Paul Mikat,121 deutliche Kritik an den Reformplänen geäußert. Und selbst nachdem das Reformgesetz verabschiedet worden war, setzten sich die Konflikte fort. Insofern firmieren Gesetzesreformen nicht notwendigerweise als „Indikatoren für die Richtung und das Ausmaß von sozialem Wandel in einer Gesellschaft“,122 wie unter anderem die Soziologin Rosemarie Nave-Herz argumentiert. Vielmehr ließe sich stattdessen fragen, inwiefern Gesetzesänderungen als Gradmesser für vorangegangene gesellschaftlich-kulturelle Veränderungsprozesse herangezogen werden können.123 Wie nun das zukünftige Scheidungsrecht konkret ausgestaltet sein sollte, diskutierte ab 1967 die vom Bundestag eingesetzte Eherechtskommission, die sich aus Politikern, Kirchenvertretern, Wissenschaftlern, Richtern und Anwälten zusammensetzte. Sozialdemokraten waren sich durchaus bewusst, dass eine Re117

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BArch Koblenz B 189/2807, Notiz F[riedrich] W[ilhelm] Bosch, Zum Entwurf einer Denkschrift der Evangelischen Eherechtskommission, 19. April 1969, Bl. 250–259, hier Bl. 259. Burkart, Familiensoziologie, 277. Schwab, Gleichberechtigung, 811. Vgl. Drucksache des Deutschen Bundestages 7/235 (8. April 1976), 16412D. Vgl. Schwab, Grundlagen, Vorwort; Klippel, Vorwort, V. Nave-Herz, Familie heute, 55. Ähnlich bei Niehuss, Familie und Geschlechterbeziehungen, 150. Vgl. Neumaier, Ringen, 213f.

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form des Scheidungsrechts „große weltanschauliche Kontroversen“124 zur Folge haben werde. Sie hofften aber, die aufkeimenden Differenzen mit einer Expertenkommission einzuhegen.125 Darüber hinaus kam es auch zu einer öffentlichen Diskussion, in der sich die Experten, die Bundesregierung und die Kirchen äußerten. Die Eherechtskommission beim Bundesjustizministerium veröffentliche 1970 ihre Denkschrift. Das Ministerium selbst stellte im Sommer desselben Jahres seinen Diskussionsentwurf eines Gesetzes über die Neuregelung des Rechts der Ehescheidung und der Scheidungsfolgen vor. Die EKD ließ von einer eigenen Familienrechtskommission den evangelischen Standpunkt in der Denkschrift Zur Reform des Ehescheidungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland erarbeiten, der sich an der Stellungnahme der anglikanischen Kirche, Putting Asunder. A Divorce Law for Contemporary Society, von 1966 orientierte. Das Kommissariat der deutschen Bischöfe publizierte 1970 die Druckschrift Erwägungen zur Reform des zivilen Scheidungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland.126 Bemerkenswert ist in der Debatte insbesondere die Haltung der katholischen Kirche, da sie zuvor kategorisch eine Reform des Ehescheidungsrechts abgelehnt hatte. 1970 verschloss sie sich einer Reform zumindest nicht prinzipiell. „Man wird katholischerseits nicht grundsätzlich jeder Entwicklung des Scheidungsrechts in Richtung auf das Zerrüttungsprinzip widersprechen können“,127 124

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AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 5. WP 192, Vermerk SPD-Bundestagsfraktion – Arbeitskreis Rechtswesen, Vorlage für den Fraktionsvorstand, Bonn, 2. März 1967, 2. Vgl. Eherechtskommission, Vorschläge zur Reform des Ehescheidungsrechts, 9–12; AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 5. WP 1560, Die Eherechtskommission beim Bundesminister der Justiz, Protokoll über die zweite Sitzung am 8. Juli 1968, 2, 4; AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 5. WP 1560, Die Eherechtskommission beim Bundesministerium der Justiz, Protokoll über die dritte Sitzung vom 31. Oktober bis 2. November 1968 im Kurhaus Baden-Baden, 5. Für Königs Position vgl. ebenfalls König, Soziologie der Familie, 159f. Vgl. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Reform; Kommissariat der deutschen Bischöfe in Bonn, Erwägungen; Bundesministerium der Justiz (Hg.), Diskussionsentwurf; Eherechtskommission, Vorschläge zur Reform des Ehescheidungsrechts; Eherechtskommission, Vorschläge zur Reform des Verfahrensrechts; EZA 2/11677, Erklärung Entwurf einer öffentlichen Erklärung des Präsidiums der EAF zum gegenwärtigen Stand der Reform des Ehe- und Familienrechts, Bonn, 12. Februar 1975; Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VII/415, Bd. B2, Dok. 39, Öffentliche Erklärung des Präsidiums der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen (EAF) zum gegenwärtigen Stand der Reform des Ehe- und Familienrechts vom 11. März 1975. Für eine historische Analyse der Debatte um die Scheidungsrechtsreform in England vgl. Itzen, Kirche, 159–210; Stone, Road, 401–422. Kommissariat der deutschen Bischöfe in Bonn, Erwägungen, 11. Für diese Position vgl. ebenfalls BArch Koblenz B 189/2807, Kommissariat der deutschen Bischöfe in Bonn (Hg.), Erwägungen zur Reform des zivilen Scheidungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, in: Katholische Nachrichten-Agentur, Nr. 15, Bonn, 10. März 1970, Bl. 57–65, hier Bl. 61; ACDP 01-176-001/2, Entwurf einer Stellungnahme des Arbeitskreises für Eherecht beim

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erklärte das Kommissariat der Deutschen Bischöfe. Vermutlich trug damit die katholische Kirche zumindest in Teilen der individuellen Einstellung seiner Gläubigen Rechnung. Eine Umfrage des Wiesbadener Ifak-Instituts für Marktforschung zeigte 1971 auf, dass eine sogenannte „schweigende Mehrheit“ der Katholiken von 65 Prozent die Ehescheidung bejahte.128 „Entscheidend bleibt, daß die Grenzen dieses Prinzips klar gesehen werden“,129 erklärte das Kommissariat weiter und schränkte somit gleichzeitig die Reichweite der Reform deutlich ein. Damit deuteten sich schon um das Jahr 1970 deutliche Konfliktlinien zwischen den Kirchen und der Opposition einerseits und der Regierungskoalition andererseits an. Die Mitglieder der Eherechtskommission beim Bundesjustizministerium vertraten ebenfalls unterschiedliche Ansichten über die Ausgestaltung des Scheidungsrechts, einigten sich jedoch im Juli 1969 in einer grundsätzlichen Frage. Sie sprachen sich dafür aus, dass das Scheidungsrecht generell vom Schuld- auf das Zerrüttungsprinzip umgestellt werden solle. In den Detailfragen blieben jedoch Differenzen bestehen. Die Kommission stimmte zwar mehrheitlich dafür, den Grundsatz von der Ehe auf Lebenszeit ins Gesetz aufzunehmen. Jedoch teilten nicht alle Kommissionsmitglieder diese Ansicht.130 Der Konflikt verschärfte sich, als die SPD lediglich implizit vom Grundsatz der Ehe auf Lebenszeit ausgehen wollte, diesen aber zunächst nicht explizit im Gesetzesentwurf verankern wollte.131 Der Jurist und CDU-Abgeordnete Anton Stark attackierte im November 1970 die Reformpläne der Regierung, da sie offensichtlich das Leitbild der „Ehe auf Zeit“132 vertrete. Selbst nach einer Richtigstellung durch Bundesjustizminister Gerhard Jahn verschwand der Kritikpunkt nicht aus der öffentlichen Debatte. Das ZdK zweifelte zwischen 1973 und 1975 immer wieder, ob die Regierung

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Kommissariat der deutschen Bischöfe in Bonn zur Reform des staatlichen Ehe- und Familienrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 4. März 1973; Katholische Stellungnahme zur Reform des Scheidungsrechts (1970), 175. Vgl. Schweigende Mehrheit für Möglichkeit der Scheidung. Kommissariat der deutschen Bischöfe in Bonn, Erwägungen, 11. Vgl. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 5. WP 1558, Thesen zum Ehescheidungsrecht nach dem Ergebnis der Abstimmungen in der Sitzung der Eherechtskommission in Bonn vom 17. bis 19. Juli 1969, 1. Für die Aushandlungsprozesse innerhalb der Eherechtskommission vgl. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 5. WP 1559, Protokoll Die Eherechtskommission beim Bundesministerium der Justiz, Protokoll über die sechste Sitzung vom 17. bis 19. Juli 1969 in Bonn. Vgl. ebenfalls ACDP 01-048-005/2 Thesen zum Ehescheidungsrecht. Nach dem Ergebnis der Abstimmung in der Sitzung der Eherechtskommission in München am 5. und 6. Dezember 1969, 1; Eherechtskommission, Vorschläge zur Reform des Ehescheidungsrechts, 17. Vgl. Münch, Familienpolitik (1974–1982), 649; Eherechtskommission, Vorschläge zur Reform des Ehescheidungsrechts, 9; Kommissariat der deutschen Bischöfe in Bonn (Hg.), Elemente. Stark, Gleichberechtigung, 1.

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tatsächlich vom Grundsatz der Ehe auf Lebenszeit ausgehe.133 Der Leiter des katholischen Büros Bonn, Prälat Wilhelm Wöste, forderte 1974, den Grundsatz von der Ehe auf Lebenszeit explizit im Gesetzestext zu verankern. Dieses Konfliktfeld begleitete die Debatte also von Anfang bis Mitte der 1970er Jahre.134 Ein zweites kontroverses Thema stellte die Härteklausel dar.135 Die Eherechtskommission beim Justizministerium sprach sich für eine auf fünf Jahre befristete Härteklausel aus, um einen Partner und die Kinder vor „schwerwiegende[n] wirtschaftliche[n] Härten“ zu schützen.136 Erst danach sollte eine Scheidung wirksam werden. Die Kommissionen der evangelischen und katholischen Kirche befassten sich in ihren Denkschriften ebenfalls mit der Frage, wie die Härteklausel auszugestalten sei. Die Druckschrift des Kommissariats der deutschen Bischöfe betonte explizit, dass die Härteklausel nicht zeitlich befristet werden dürfe. Das hätte bei einem Härtefall faktisch zu einem Scheidungsverbot geführt. Darüber hinaus machten sich beide Kirchen für weitere Einschränkungen stark, die auch die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen teilte. So müsse ein Widerspruchsrecht enthalten sein, da andernfalls dem „böswilligen Partner“, im Regelfall dem Ehemann – so die dahinterstehende implizite Annahme –, die Möglichkeit der „einseitigen Verstoßung“,137 meist der Frau, eröffnet werde.138 Die katholische Kirche wie auch die EKD 133

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Vgl. Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VII/415, Bd. B2, Dok. 63, Stellungnahme Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Stellungnahme zur Änderung des Ehe- und Ehescheidungsrechtes, 7. März 1975, 3. Vgl. Jahn gegen Ehe auf Zeit; Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Stellungnahme zur geplanten Änderung des Ehe- und Familienrechts (1973), 69f.; Wöste, Einführung, 66; Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VII/415, Bd. B2, Dok. 63, Stellungnahme Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Stellungnahme zur Änderung des Ehe- und Ehescheidungsrechtes, 7. März 1975, 3. Ähnlich positionierte sich auch die EKD. Vgl. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 9388, Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Ehe und Ehescheidung vom 16. September 1977, in: Familienpolitische Informationen, 16. Jg., Nr. 11, November 1977, 81f., hier 81; Neumaier, Ringen, 218f. Unter der Härteklausel wird ein „zeitlich begrenztes Hinausschieben der Scheidung“ verstanden. In der verabschiedeten Version des Gesetzes konnte diese auf fünf Jahre begrenzte „Ausnahmevorschrift“ in zwei Fällen angewendet werden: 1) wenn minderjährige Kinder die Leidtragenden der Scheidung wären; 2) wenn die Scheidung für einen Ehepartner eine „schwere Härte“ darstellte. Vgl. ADW Allg. Slg. 1208, Das neue Scheidungsrecht: Mehr Gerechtigkeit durch das neue Zerrüttungsprinzip, in: Das neue Ehe- und Familienrecht. Der Bundesminister der Justiz informiert [Bonn 1976], 14–25, hier 24f. Vgl. ACDP 01-048-005/2, Thesen zum Ehescheidungsrecht. Nach dem Ergebnis der Schlussabstimmung am 13. und 14. Februar 1970 in Hamburg, 3; Eherechtskommission, Vorschläge zur Reform des Ehescheidungsrechts, 18f. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Reform, 20. Vgl. ebenda, 20ff.; Kommissariat der deutschen Bischöfe in Bonn, Erwägungen, 11f.; Begründung des Diskussionsentwurfs, 61f.; Eherechtskommission, Vorschläge zur Reform des Ehescheidungsrechts, 47–57; Schubert, Einleitung (Reform des Ehescheidungsrechts

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vertraten somit eine wesentlich rigorosere Position als die Eherechtskommission beim Bundesjustizministerium, zumal die Härteklausel sowohl bei materiellen Notlagen – wie wirtschaftlichen und sozialen Härtefällen – als auch bei immateriellen Gründen – wie einer schweren Erkrankung eines Partners – greifen sollte.139 Innerhalb der SPD zeigten sich ebenfalls Differenzen. Der Bundestagabgeordnete Eugen Glombig plädierte sowohl für eine immaterielle Härteklausel als auch für eine auf fünf Jahre befristete materielle Härteklausel. In diesem Punkt stieß er jedoch in der SPD-Bundestagsfraktion auf vehementen Widerspruch. Bundesjustizminister Gerhard Jahn und der stellvertretende Fraktionsvorsitzende und spätere Bundesverfassungsrichter Martin Hirsch sprachen sich gegen eine materielle Härteklausel aus.140 Lediglich bei der immateriellen Härteklausel machte Hirsch aufgrund der klaren Forderung vonseiten der Opposition und der katholischen Kirche ein Zugeständnis.141 Hirsch hielt sie letztlich für „politisch notwendig, sachlich aber [für] unsinnig“.142 Die Debatte um die Härteklausel sollte sich als ein Spezifikum des deutschen Scheidungsrechts entpuppen. Auf einer Reise des Unterausschusses Familienund Eherechtsreform vom 27. Januar bis 2. Februar 1974 nach Stockholm und Den Haag erfuhren die Bundestagsabgeordneten, dass eine Härteklausel in Schweden und den Niederlanden „unbekannt“ war. Rückfragen zu einer solchen Regelung stießen zudem „auf völliges Unverständnis“.143 Aber noch bei einem weiteren Thema zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen der westdeutschen Position und der Haltung in anderen europäischen Ländern: den zeitlichen Trennungsfristen. Während die niederländischen Rechtsexperten eine Frist von drei Jahren als ausreichend, fünf Jahre jedoch als zu lang einstuften, bevorzugten die Schweden noch kürzere Trennungszeiten. Generell bemerkten

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von 1976), XII; EZA 2/11677, Erklärung Entwurf einer öffentlichen Erklärung des Präsidiums der EAF zum gegenwärtigen Stand der Reform des Ehe- und Familienrechts, Bonn, 12. Februar 1975, 1; Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VII/415, Bd. B2, Dok. 39, Öffentliche Erklärung des Präsidiums der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen (EAF) zum gegenwärtigen Stand der Reform des Ehe- und Familienrechts vom 11. März 1975, 1. Vgl. Schubert, Einleitung (Reform des Ehescheidungsrechts von 1976), XIII. Vgl. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 6. WP 1592, Protokoll der gemeinsamen Sitzung der Arbeitskreise Sozialpolitik und Rechtswesen der Fraktion der SPD im Bundestag am 3. November 1970, 9. November 1970, 2, 4f.; Jahn, Vorwort, 3–6; Begründung des Diskussionsentwurfs, 64–67. Vgl. ACDP 08-001-1027/1, Fraktionsprotokoll der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 12. Oktober 1971, 3. Für eine ähnliche Argumentation vgl. Neumaier, Ringen, 217. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 6. WP 1592, Protokoll der gemeinsamen Sitzung der Arbeitskreise Sozialpolitik und Rechtswesen der Fraktion der SPD im Bundestag am 3. November 1970, 9. November 1970, 5. Betr.: Unterausschuß Familien- und Eherechtsreform, 2.

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die westdeutschen Abgeordneten, dass in beiden Ländern selbst konservative und christliche Parteien sowie die großen Landeskirchen ein liberales Scheidungsrecht im Unterschied zu den Unionsparteien sowie der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland positiv bewerteten.144 In Westdeutschland standen wiederum mehrere unterschiedliche Konstellationen bei den Trennungsfristen zur Diskussion. Die Mitglieder der Eherechtskommission beim Justizministerium waren sich dahingehend einig, dass eine Ehe nach einjähriger Trennung geschieden werden sollte, wenn beide Ehepartner die Trennung wünschten. Allerdings vertraten die Mitglieder unterschiedliche Ansichten, welche Frist anzusetzen war, wenn ein Partner der Scheidung widersprach. Hier standen Fristen von drei oder fünf Jahren zur Diskussion. Die CDU-Politikerin Elisabeth Schwarzhaupt sprach sich für eine Frist von fünf Jahren aus. Sie begründete ihre Entscheidung mit einem Verweis auf das geltende Scheidungsrecht. Bisher wurde nach einer dreijährigen Trennung stets ein Beweis für die Zerrüttung der Ehe gefordert. Sollte nun dieser Beweis mit der Reform wegfallen und gälte damit eine Ehe nach einer dreijährigen Trennung unwiderlegbar als zerrüttet, dann „bedeute das eine demonstrative Erleichterung der Ehescheidung, die nicht gewollt sei“.145 Emmy Diemer-Nicolaus von der FDP erwiderte hingegen, dass schon nach einer dreijährigen Trennung das Eheleben stark zerrüttet sei und die Ehe nicht wiederhergestellt werden könne. In der abschließenden Abstimmung konnte sich diese Position jedoch nicht durchsetzen und die Kommission stimmte mehrheitlich für eine Frist von fünf Jahren.146 Der „Diskussionsentwurf “ des Bundesjustizministeriums orientierte sich in dieser Frage erneut nicht am Vorschlag der Eherechtskommission und verkürzte die Trennungsfrist auf drei Jahre.147 Während diese Frist innerhalb von Europa durchaus auf Zustimmung stieß, lief sie jedoch den Reformplänen der Union zuwider, zumal nach Ablauf der Frist eine Ehe unwiderlegbar als gescheitert gelten würde. Gerade diese starre Regelung der Fristen kritisierte der Vorsitzende des CDU-Arbeitskreises für Rechtsfragen sowie spätere Bundesverfassungsrichter, Ernst Benda, vehement: „Also gucke ich ins Gesetz, sehe: drei Jahre, ziehe

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Vgl. ebenda, 1f. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 5. WP 1559, Protokoll Die Eherechtskommission beim Bundesministerium der Justiz, Protokoll über die sechste Sitzung vom 17. bis 19. Juli 1969 in Bonn, 43f. Vgl. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 5. WP 1558, Thesen zum Ehescheidungsrecht nach dem Ergebnis der Abstimmungen in der Sitzung der Eherechtskommission in Bonn vom 17. bis 19. Juli 1969, 2; AdsD, Protokolle der SPDBundestagsfraktion, 5. WP 1559, Protokoll Die Eherechtskommission beim Bundesministerium der Justiz, Protokoll über die sechste Sitzung vom 17. bis 19. Juli 1969 in Bonn, 43f.; Eherechtskommission, Vorschläge zur Reform des Ehescheidungsrechts, 17f. Vgl. ebenda, 37, 41; Begründung des Diskussionsentwurfs, 58ff.

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aus und fange an zu zerrütten.“148 Benda polemisierte gegen die geplante Fristenregelung, da seiner Ansicht nach der auf Scheidung drängende Partner den anderen „verstoßen“ könnte. „Verstoßungsscheidung“149 , „Fristenautomatik“150 oder „Fristen- und Kalenderscheidung“151 lauteten die Schlagworte, mit denen die Bundestagsabgeordneten der Union genauso wie das Kommissariat der deutschen Bischöfe, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken oder der Rat der EKD diese Praxis belegten. Vereinzelt war auch die Rede davon, dass es nach der Reform zu einer „einseitigen Kündigung der Ehe“152 kommen könne und dadurch eine eheliche Verbindung zu einem „zeitlich begrenzten Vertrag“153 148

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Ernst Benda zit. n.: AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 6. WP 1591, Paul Lersch, Benda: Scheidung wird durch den Jahn-Entwurf zu leicht gemacht, in: Die Welt, 8. September 1970, 6. Für eine ähnliche Position Bendas zum zweiten Entwurf des Bundesjustizministeriums vgl. Benda, Vorschläge, 6f. ACDP 08-001-1027/1, Fraktionsprotokoll der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 12. Oktober 1971, 12; ACDP 08-001-1046/1, Fraktionsprotokoll der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Sondersitzung, 8. April 1976, 19; ACDP 01-176-010/1, Stellungnahme des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zur Reform des Ehescheidungsrechts, Bonn-Bad Godesberg, 30. Oktober 1970. Ähnlich bei Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Reform, 20; BArch Koblenz B 189/2807, Pressemitteilung Kommissariat der deutschen Bischöfe in Bonn (Hg.), Erwägungen zur Reform des zivilen Scheidungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, in: Katholische Nachrichten-Agentur, Nr. 15, Bonn, 10. März 1970, Bl. 57–65, hier Bl. 61; Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VII/415, Bd. B2, Dok. 63, Stellungnahme Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Stellungnahme zur Änderung des Ehe- und Ehescheidungsrechtes, 7. März 1975, 1f. ACDP 08-001-1027/1, Fraktionsprotokoll der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 12. Oktober 1971, 13; Stellungnahme zur Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Ehe und Ehescheidung, 1; Katholische Stellungnahme zur Scheidungsreform (1971), 64; Vogel, Erklärung, 15; Turowski, Rechtsinstitut, 74. Ähnlich bei EZA 2/18303, Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Ehe und Ehescheidung, ohne Ort, 16. September 1977, 3. Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VII/415, Bd. B2, Dok. 53, Erklärung des Arbeitskreises für Eherecht beim Kommissariat der deutschen Bischöfe in Bonn vom 6. März 1975 zum Stand der Reformarbeiten am Ehe- und Familienrecht. Zur Rezeption in den Medien vgl. exemplarisch Fristenscheidung perfekt. Ähnlich bei ACDP 08-001-1043/2, Fraktionsprotokoll der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, 25. November 1975, 17. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Reform, 12. Ähnlich bei ADW Allg. Slg. 1208, Evangelische Frauenarbeit in Deutschland – Rechtsausschuss, Stellungnahme zur sozialen Situation der Ehefrau bei Einführung des Zerrüttungsprinzips im Scheidungsrecht, Frankfurt am Main, 3. Dezember 1969, 1; Kommissariat der deutschen Bischöfe in Bonn, Erwägungen, 20; Verhülsdonk, Reform; Lenz, Stand, 80. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 9388, Druckschrift Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Ehe und Ehescheidung vom 16. September 1977, in: Familienpolitische Informationen, 16. Jg., Nr. 11, November 1977, 81–82, hier 81; ACDP 01-176-001/1, Stellungnahme Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Ehe und Ehescheidung vom 16. September 1977. Es war auch die Rede davon, dass eine Ehe leichter gelöst werden könne als ein „Mietvertrag“. Vgl. Lenz, Union.

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degradiert werde. Schon allein sprachlich brachten somit vor allem christlichkonservative Politiker und Interessensvertretungen sowie die beiden großen Kirchen ihre Ablehnung der Reformpläne zum Ausdruck. Aber auch innerhalb der SPD sorgte die im „Diskussionsentwurf “ benannte Frist von drei Jahren für Skepsis. Erneut sprach sich Glombig gegen diese Pläne aus. Er argumentierte, dass eine Dreijahresfrist vor allem Hausfrauen beunruhige. Schließlich würden sie eine strukturelle Benachteiligung gegenüber den Männern befürchten. Infolgedessen votierte Glombig aufgrund politischer Erwägungen wie auch aus persönlicher Überzeugung für eine Verlängerung des Zeitraums auf fünf Jahre. Das lehnten jedoch wiederum Hirsch und der Jurist Hermann Dürr vehement ab. Hirsch stufte die Idee sogar als bedenklich ein. Bei einer fünfjährigen Trennungsfrist laufe man Gefahr, dass ein Ehepartner Beweise für die tatsächliche Zerrüttung der Ehe vorbringe und so das Intimleben der Ehe vor Gericht bloßgestellt werde. Genau das sollte aber mit dem reformierten Scheidungsrecht vermieden werden.154 Daneben zogen die finanziellen Regelungen der Ehescheidung große Aufmerksamkeit auf sich. Das betraf vor allem das geplante Unterhaltsrecht. Justizminister Jahn stellte bei der Veröffentlichung des „Diskussionsentwurfs“ klar, dass der Unterhaltsanspruch „grundsätzlich nur auf Zeit“155 bestehe. Sobald der bedürftige Partner wieder im Berufsleben Fuß gefasst hätte, sollte der Unterhaltsanspruch nicht mehr gelten. „Hilfe zur Selbsthilfe“156 lautete das dahinterstehende Motto. Die Gerontologin Ursula Lehr und die ehemalige Verfassungsrichterin Erna Scheffler kritisierten diese Regelung insofern, als damit ältere Ehefrauen benachteiligt würden. Sie hatten oft keine Berufsausbildung genossen oder waren mit der Heirat aus dem Beruf ausgeschieden. Für diese Gruppe von Frauen war es somit unrealistisch, ein ausreichendes eigenes Einkommen zu verdienen. Damit benachteilige der „Diskussionsentwurf “, so Schefflers und Lehrs Argument, gerade den sozial schwächeren Partner, also genau die Personengruppe, welche das Reformgesetz schützen sollte. Auch innerhalb der SPD regte sich Widerstand gegen diese Regelung. So plädierte unter anderem der Landesausschuss Hamburg für eine bessere Absicherung der nicht berufstätigen Ehefrauen.157 154

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Vgl. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 6. WP 1592, Protokoll der gemeinsamen Sitzung der Arbeitskreise Sozialpolitik und Rechtswesen der Fraktion der SPD im Bundestag am 3. November 1970, 9. November 1970, 2, 5, 7; Wortlaut des Diskussionsentwurfs, 13. Jahn, Vorwort, 6 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Ebenda [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Vgl. ebenda; Wortlaut des Diskussionsentwurfs, 14f.; Begründung des Diskussionsentwurfs, 72–86; BArch Koblenz B 189/2804, Bd. I, Sozialdemokratische Partei Deutschlands – Landesorganisation Hamburg, Stellungnahme zur Reform des Rechts der Ehescheidung und der Scheidungsfolgen des Landesfrauenausschusses der SPD-Landesorganisation

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Innerhalb der SPD diskutierten die Parteimitglieder unterschiedliche Regelungen. Dies belegt erneut, dass die Änderung des Scheidungsrechts keinesfalls als allumfassende, linear ablaufende Anpassung verstanden werden kann. Vielmehr handelte es sich um einen komplexen, bisweilen durchaus widersprüchlichen Aushandlungsprozess. Es zeigt sich darüber hinaus, dass sich schon Anfang der 1970er Jahre die Positionen zwischen einigen Abgeordneten aus SPD und CDU durchaus überschnitten. Zunächst wurden diese Gemeinsamkeiten vom anhaltenden und heftigen Konflikt um die Scheidungsrechtsreform überlagert. 7.3.3 Diskussion gesellschaftlicher Grundsatzfragen

Dies lag daran, dass die Vertreter der Parteien, Interessensgruppen und Kirchen in der Debatte nicht nur um Detailfragen rangen. Vielmehr verhandelten sie anhand der Reform des Familien- und Scheidungsrechts gesellschaftliche Grundsatzfragen, die wiederum die unterschiedlichen Weltanschauungen zum Ausdruck brachten. Die gesellschaftspolitische Sprengkraft des Themas Ehescheidung lässt sich exemplarisch an der Rezeption des „Diskussionsentwurfs“ aufzeigen. Vor allem meldete sich die CSU im Herbst 1970 mit einem Flugblatt für den Landtagswahlkampf lautstark zu Wort, das nicht nur die oben angesprochenen Argumente gegen eine Reform bündelte.158 Darüber hinaus brachte die CSU das Bedrohungsszenario vom „Sozialismus durch die Hintertür“159 ins Spiel. So grenzte die CSU Westdeutschland dezidiert vom sozialistischen Osten und der DDR ab, wo ihrer Ansicht nach von Staats wegen grundlegend andere Ideale oktroyiert würden. Die CSU stellte dem Osten, wie die konservativen und katholischen Politiker in den 1920er Jahren zuvor, ihren Gesellschaftsentwurf der christlich-abendländischen „Moderne“ entgegen. In der Weimarer Republik war dies mit dem politischen Bild vom Bolschewismus erfolgt, in den frühen 1970er Jahren diente der CSU der Sozialismus bzw. die DDR als negativer Gegenpol zur Bundesrepublik Deutschland. Aber das Flugblatt sprach noch eine weitere Abgrenzung zwischen West und Ost an: Die CSU brandmarkte den „Diskussionsentwurf “ als „orientalisches Scheidungsrecht“160 und implizierte

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Hamburg, Hamburg, 10. Dezember 1970, Bl. 85f. Für diese Kritik siehe auch Stark, Gleichberechtigung. Zur generellen, bisweilen durchaus deutlichen Kritik am Diskussionsentwurf vgl. u. a. BArch Koblenz B 189/2804, Vermerk Referat F 4 – 8040, Betr.: Stellungnahme zum Diskussionsentwurf des Bundesministers der Justiz zum Recht der Ehescheidung und der Scheidungsfolgen, Bonn-Bad Godesberg, 16. Oktober 1970, Bl. 38–51, hier Bl. 38. Vgl. CSU-Landesleitung, Entrechtung. Zur Kritik vonseiten der CDU vgl. exemplarisch AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 6. WP 1591, Paul Lersch, Benda: Scheidung wird durch den Jahn-Entwurf zu leicht gemacht, in: Die Welt, 8. September 1970, 6. Ebenda. Ebenda. Für dieses Argument siehe auch: Wie im Orient, 70.

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damit einen signifikanten Unterschied zwischen den gesellschaftlich-kulturellen Werten im Orient einerseits und im Okzident andererseits.161 In den Augen der CSU würden mit dem neuen Scheidungsrecht die traditionellen Werte des christlichen Abendlandes ihre Gültigkeit verlieren und stattdessen den Bürgern andere, fremde Wertvorstellungen von der Politik vorgegeben. In ihren Argumentationsmustern bediente somit die CSU die Vorstellungen vom bedrohlichen Fremden aus dem Osten und von dessen vermeintlich rückständigen Werten. Damit drohe – so der angedeutete Vorwurf – ein Verfall der kulturellen Wertvorstellungen. Solch scharfe Argumente mögen dem bayerischen Wahlkampf geschuldet gewesen sein, gleichwohl fanden sie auch vereinzelt in westdeutsche Printmedien Eingang, wenn diese dem konservativen bzw. katholischen Milieu nahestanden. „Bis zur Legitimation von Kommunardengemeinschaften und der Anerkennung der Lebensgemeinschaft Homophiler als ‚Ehen‘ ist es kein großer Schritt mehr“,162 orakelte der Jurist und Politikwissenschaftlicher Friedrich Graf von Westphalen im September 1970 im Rheinischen Merkur. Die Argumente waren emotionsbeladen und spielten in diesem Fall mit den Ängsten der ländlich und katholisch geprägten bayerischen Bevölkerung oder richtete sich an die katholisch-konservative Leserschaft des Rheinischen Merkurs. Gleichwohl legt dieser Konflikt offen, wie heftig Politiker aus CSU und CDU sowie die Kirchenvertreter in den frühen 1970er Jahren um das Scheidungsrecht kämpften. Paul Mikat warf der Bundesregierung in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag am 13. Oktober 1971 vor, das reformierte Scheidungsrecht zu einem „Instrument zur Herbeiführung einer anderen Gesellschaftsordnung“163 zu machen. Dieses Argument kam innerhalb der Sitzungen der CDU/CSUBundestagsfraktion immer wieder zur Sprache.164 Die Kritik der Union richtete sich folglich insbesondere gegen die hinter dem Gesetz stehenden Leitbilder bezüglich Ehe und Familie sowie der Geschlechterrollen, aber auch gegen die Art, wie diese neuen Ideale gesetzt werden sollten. Die sozialliberale Koalition verzahnte ihre familienrechtlichen Reformpläne mit ihren (familien-)politischen Zielsetzungen und wählte unterschiedliche

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Für einen Überblick zum christlichen Abendland-Diskurs der 1950er Jahre vgl. exemplarisch Schildt, Abendland; ders., Ankunft, 149–180; ders./Siegfried, Kulturgeschichte, 143–146. Westphalen, Scheidungshelfer. Paul Mikat zit. n.: Münch, Familien-, Jugend- und Altenpolitik (1966–1974), 649. So warf der Unionsabgeordnete Friedrich Vogel dem SPD-Rechtsexperten Martin Hirsch vor, erklärt zu haben, „daß erstmals in dieser Legislaturperiode Rechtspolitik die Aufgabe habe, soziologische Verhaltensmuster für die Zukunft zu umschreiben, d. h., daß das, was rechtspolitisch gemacht wird in dieser Legislaturperiode auf eine künftige Ordnung hin angelegt ist und durchgesetzt werden soll“. Vgl. ACDP 08-001-1027/1, Fraktionsprotokoll der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, 12. Oktober 1971, 11. Ähnlich bei Lenz, Ehe, 4.

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Rechtfertigungsstrategien, die miteinander verschmolzen.165 So erklärte die Bundesregierung, dass sie das Leitbild der Hausfrau nicht durch das der berufstätigen Mutter ersetzen wolle. Vielmehr zielten die Reformen darauf, den Frauen die Wahlfreiheit zu eröffnen. Zukünftig sollte die Berufstätigkeit von Müttern selbst dann nicht unterbunden werden können, wenn sie mit ihren Pflichten im Haushalt und der Kindererziehung nicht vereinbar war. Stattdessen wollte das Familienrecht beiden Partnern den Rahmen zur Verfügung stellen, in dem die Pflichten Beruf, Hausarbeit und Kindererziehung gleichberechtigt untereinander aufgeteilt werden könnten.166 Die SPD versuchte, mit dem Reformgesetz ihren Wahlkampfslogan „Wir schaffen das moderne Deutschland“167 von 1969 in Rechtsform zu überführen. Dazu war es notwendig, als „modern“ eingestufte familienrechtliche Bestimmungen und Geschlechterrollen gesetzlich festzuschreiben, die unter den Schlagworten „Gleichberechtigung“ und „Partnerschaft“ firmierten. Der nordrhein-westfälische Justizminister, Josef Neuberger, hatte dieses politische Ziel bereits in einer Pressemitteilung vom 6. November 1970 angesprochen. „Vor dem Hintergrund der neuen gesellschaftlichen Entwicklung gewinnt ein modernes Verständnis von Ehe und Ehescheidung und anderer familienrechtlicher Normen eine besondere Bedeutung“,168 hatte Neuberger betont und damit den Rahmen für die Position der SPD abgesteckt. Zudem sei das Ehe- und Familienrecht „sehr mit dem Ballast hergebrachter, insbesondere aus dem religiösen Bereich der verschiedenen Konfessionen stammender Wertvorstellungen beladen“.169 Seine Kritik richtete sich in diesem Punkt vor allem gegen die christliche Tradition, die dazu geführt habe, dass hinsichtlich der Ehescheidung das sittlich-moralische Urteil über die Schuld eines Ehepartners ins Gesetz aufgenommen worden sei. Das hielt Neuberger für anachronistisch. Daher plädierte er dafür, dass ein „besonders radikaler Schnitt zu der gesetzgeberischen Vergangenheit gezogen werden“170 müsse. Nur so könne das reformierte Scheidungsrecht „der neuen Wirklichkeit einer pluralistischen Gesellschaft und der Forderung nach einer vollen Emanzipation des Menschen“171 gerecht werden.172 165 166

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Ähnlich bei Neumaier, Ringen, 212f. Vgl. BArch Koblenz B 189/3184, Chancengleichheit für die Frauen in der heutigen Gesellschaft. Rede von Bundesminister Arendt, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Bulletin, Nr. 168, 16. November 1971, 1778–1781, Bl. 122–124, hier Bl. 122; Münch, Familien-, Jugend- und Altenpolitik (1966–1974), 650. SPD-Wahlslogan zit. n.: Schildt, Ankunft, 177. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 6. WP 1592, Pressemitteilung Josef Neuberger, Maximum an Fairneß und Praktikabilität, in: SPD-Pressedienst, Jg. 25, Nr. 211, 6. November 1970, 1. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Vgl. Neumaier, Ringen, 215.

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Die Äußerungen der SPD stellten die Reform des Ehe- und Familienrechts als eine Anpassung an bereits stattgefundene gesellschaftlichen Veränderungen dar. Die Reform sollte insbesondere „das gewandelte Verständnis der Ehe als einer echten Partnerschaft von Mann und Frau“173 rechtlich kodifizieren. Dies brachte zum Beispiel das Namensrecht zum Ausdruck, da nun die heiratenden Paare selbst entscheiden konnten, ob sie den Geburtsnamen der Frau oder den des Mannes zum Familiennamen machten bzw. ob ein Partner einen Doppelnamen wählte.174 Vertreter der SPD und die Mitarbeiter im Justizund Familienministerium sprachen jedoch ebenso die gesellschaftsprägende Kraft der Gesetzesreform an. „Der Reformentwurf hat eine überragende gesellschaftspolitische Bedeutung“, hielt ein Vermerk des Familienministeriums fest, schließlich würden „die vorgeschlagenen Änderungen das bisherige Recht weitestgehend auf den Kopf stellen und die Einstellung der Bevölkerung zur Familie prägen“.175 Das bezog sich sowohl auf die rechtliche Festschreibung des partnerschaftlichen Ehemodells als auch der vollen Gleichberechtigung der Frau.176 Dem reformierten Familienrecht kam in den Augen der SPD somit die Rolle eines Leitmediums zu.177 Insbesondere der Begriff „Partnerschaftsprinzip“178 fing die Anliegen der Sozialdemokraten ein. Dahinter verbarg sich das Vorhaben, die im Gesetz schon im Begriff der ‚Hausfrauenehe‘ implizit verankerten vordefinierten Geschlechterrollen aufzuheben. Der Begriff enthielt aber auch noch eine stärker subjektiv173 174

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Jahn, Neugestaltung, 1189. Vgl. ADW Allg. Slg. 1208, Mehr Gleichberechtigung und mehr Partnerschaft, in: Das neue Ehe- und Familienrecht. Der Bundesminister der Justiz informiert [Bonn 1976], 7–10; ADW Allg. Slg. 1208, Jetzt bestimmen die Verlobten, in: Das neue Ehe- und Familienrecht. Der Bundesminister der Justiz informiert [Bonn 1976], 11–13. Für eine juristische Einordnung vgl. Löhnig, Evolution, 13. BArch Koblenz B 189/2804, Vermerk Referat F 5, Betr.: Stellungnahme des BMJFG zum Entwurf des BMJ vom 4. Dezember 1970 über die Reform des Eherechts, des Scheidungsrechts und des Scheidungsfolgenrechts, Bonn-Bad Godesberg, 19. Januar 1971, Bl. 198–199, hier Bl. 198. Für diese Argumentation vgl. ebenfalls Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VII/415, Bd. A2, Dok. 41, Kurzprotokoll 26. Sitzung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages, 21. Februar 1974, 26/14. Vgl. BArch Koblenz B 189/2804, Vermerk Referat F 5, Betr.: Stellungnahme zum Referentenentwurf des BMJ vom 4. Dezember 1970 zur „Reform des Rechts der Ehescheidung“, Bonn-Bad Godesberg, 14. Januar 1971, Bl. 192–194, hier Bl. 192; BArch Koblenz B 189/2804, Vermerk Referat F 5, Betr.: Stellungnahme des BMJFG zum Entwurf des BMJ vom 4. Dezember 1970 über die Reform des Eherechts, des Scheidungsrechts und des Scheidungsfolgenrechts, Bonn-Bad Godesberg, 19. Januar 1971, Bl. 198f. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 7. WP 2/BTFG003509, Jürgen Schmude an Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion, Betr.: Reform des Ehe- und Familienrechts, Bonn, 1. Oktober 1973, Anlage: Vermerk Ehe- und Familienrechtsreform in Frage und Antwort, 1.

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individuelle Sicht auf die Ehe. Nach der Vorstellung der SPD handelte es sich bei Ehe und Familie nicht nur um soziale Institutionen, sondern darüber hinaus auch um individuell ausgestaltbare Lebensgemeinschaften von Individuen. Daher beabsichtigten die Sozialdemokraten, die Individualrechte der Familienmitglieder gegenüber dem institutionellen Charakter von Ehe und Familie zu stärken.179 Diese Ziele legte Justizminister Gerhard Jahn im September 1973 vor dem Rechtsausschuss des Bundestages dar. Im Kern drehte sich dieses Anliegen um die Gleichberechtigung von Mann und Frau, wie weitere Sitzungen des Rechtausschusses im Laufe des Jahres 1974 aufzeigten. Zudem sollten aber auch die Familienmitglieder vor harten Scheidungsfolgen geschützt werden.180 In diese Debatte schaltete sich die SPD-Bundestagsabgeordnete Renate Lepsius ein, die auch dem Unterausschuss Ehe- und Familienrecht angehörte. Sie galt als eine der prominentesten Vorkämpferinnen für die Gleichberechtigung und die soziale Sicherung der Frauen. Der später verabschiedete Versorgungsausgleich trug maßgeblich ihre Handschrift. Die Vertreterinnen der Zweiten Frauenbewegung waren darüber hinaus in den 1970er Jahren eine weitere wichtige Gruppe, die sich für ein liberalisiertes Scheidungsrecht und eine Reform des Unterhaltsrechts aussprach.181 7.3.4 Politische Kompromissfindung durch Annäherung

Die Sozialdemokraten waren sich in den Kontroversen um die Scheidungsrechtsreform durchaus bewusst, dass sie ihre Reformziele ohne die Unterstützung der evangelischen und der katholischen Kirche oder der Opposition nur schwer würden realisieren können. Aus diesem Grund trafen sich Martin Hirsch und weitere Mitglieder des Arbeitskreises Rechtswesen der SPD-Bundestagsfraktion bereits im April 1971 mit Vertretern der katholischen Kirche. Hirsch lotete dabei den 179 180

181

Vgl. ebenda. Vgl. Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VII/415, Bd. A3, Dok. 61, Stenographisches Protokoll der 15. Sitzung des Rechtsausschusses, Bonn, 19. September 1973, 15/3; Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VII/415, Bd. A2, Dok. 41, Kurzprotokoll der 26. Sitzung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages, Bonn, 21. Februar 1974, 26/14f.; Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VII/415, Bd. A2, Dok. 44, Kurzprotokoll der 36. Sitzung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages, Bonn, 9. Oktober 1974, 36/16. Für diese Position siehe auch BArch Koblenz B 189/2805, Referat F 4 – 8040, Betr.: Diskussion es Herrn Parl. Staatssekretärs im 3. Fernsehen; hier: Eherechtsreform und Familienpolitik, Bonn-Bad Godesberg, 26. Februar 1973, Bl. 181; Münch, Familien-, Jugend- und Altenpolitik (1966–1974), 647f. Vgl. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 5275, Renate Lepsius, Aufgabe für die Zukunft, Bundestagung der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen, Baden-Baden, 18. März 1972, 5; Meyer, Frauen, 124–128; Lenz (Hg.), Frauenbewegung, 90; Gerhard, Frauenbewegung, 108.

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Handlungsspielraum aus, doch schnell zeigte sich, dass die klaren inhaltlichen Differenzen bestehen blieben. Ein Kompromiss ließ sich somit zunächst nicht finden, weshalb die Kontroversen bis ins Jahr 1975 anhielten. Unionspolitiker sowie die Vertreter der beiden großen Kirchen und des Laienkatholizismus brachten ihre ablehnende Haltung zur Reform des Scheidungsrechts immer wieder mit markanten Worten zum Ausdruck. Im März diskreditierte das ZdK das Zerrüttungsprinzip nicht nur als „radikal“, sondern auch als „ungerecht, unsozial und unliberal“.182 Die Begrifflichkeiten ungerecht, unsozial und unliberal bildeten die Antipoden zu den Kernanliegen der sozialliberalen Koalition und zu den politischen Programmen von SPD und FDP. Die Regierungsparteien hatten sich schließlich zum Ziel gesetzt, das neue Scheidungsrecht gerechter, sozialer und liberaler auszugestalten. Da dieser Vorwurf das Herz des Reformvorhabens und der politischen Ziele der Regierungskoalition attackierte, reagierten Vertreter der sozialliberalen Koalition wie der FDP-Abgeordnete Hans A. Engelhard und die Sozialdemokratin Renate Lepsius auf die Stellungnahme des ZdK mit harscher Kritik.183 Als am 11. Dezember 1975 im Bundestag über das Reformgesetzt diskutiert wurde, war zwar der Grundsatz von der Ehe auf Lebenszeit in das Gesetz integriert worden, doch die Opposition beschwichtigte diese Änderung nicht.184 Die Union benannte vielmehr noch ein weiteres Argument gegen die Reform: Das Reformgesetz spiegele nicht die Mehrheitsmeinung der Bundesbürgerinnen und -bürger wider. Sicherlich dürften einer pluralistischen Gesellschaft nicht die Ansichten einzelner Gruppierungen übergestülpt werden, doch „wäre es verfehlt“, führte Paul Mikat aus, „wollte man die Existenz eines in erster Linie durch Wertvorstellungen christlichen Ursprungs geprägten Ehebildes in unserem Lande schlechthin leugnen“.185 Sein Parteikollege Carl-Otto Lenz ging in seiner 182

183

184 185

Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VII/415, Bd. B2, Dok. 63, Stellungnahme Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Stellungnahme zur Änderung des Ehe- und Ehescheidungsrechtes, 7. März 1975, 1. Vgl. ebenfalls Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Stellungnahme der Vollversammlung zur Änderung des Ehe- und Ehescheidungsrechts (1975). Für die Stellungnahme des Geschäftsführenden Ausschusses vgl. Archiv des ZdK 2202 Schachtel 5A, Stellungnahme des Geschäftsführenden Ausschusses des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zum Beschluß des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages [24. Januar 1975], Bl. 12. Vgl. Engelhard, Antwort; AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 10438, Renate Lepsius, Emotionalisierung hilft nicht weiter. Zur Auseinandersetzung mit der Union über das neue Eheund Familienrecht, in: SPD-Pressedienst, Jg. 30, Nr. 74, 18. April 1975, 1. Für eine ähnliche Position vgl. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 7. WP 2/BTFG003542, Renate Lepsius, Ehe- und Familienrechtsreform, in: Informationen der Sozialdemokratischen Fraktion im Deutschen Bundestag, Ausgabe Tagesdienst 1071, 11. Dezember 1975, 2f. Vgl. ACDP 08-001-1043/2, Fraktionsprotokoll der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, 25. November 1975, 16ff.; Neumaier, Ringen, 220. Drucksache des Deutschen Bundestages 7/209 (11. Dezember 1975), 14410C.

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Rede vor dem Bundestag sogar noch weiter und diffamierte das Reformgesetz als „frauenfeindlich“, „männerfeindlich“, „familienfeindlich“ und „volksfeindlich“.186 Ungeachtet dieses deutlichen Vetos vonseiten der Opposition passierte das Reformgesetz die Abstimmung im Bundestag mit der Mehrheit der sozialliberalen Koalition.187 Als Ende Januar 1976 die unionsgeführten Länder das Gesetz im Bundesrat blockierten, nahm schließlich der Vermittlungsausschuss seine Arbeit auf und erarbeitete einen Kompromissvorschlag.188 Am 6. und 8. April 1976 diskutierte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Vorschlag und legte ihre Strategie für die Abstimmung im Bundestag am 8. April fest. Die Abgeordneten wogen ab, an welchen Punkten sie zu Kompromissen bereit wären und wo mit Zugeständnissen vonseiten der sozialliberalen Koalition zu rechnen wäre. Die Regierungskoalition kam der Opposition entgegen, indem sie neben einer immateriellen auch eine materielle Härteklausel ins Gesetz aufnahm und zugleich deren Gültigkeit von drei auf fünf Jahre ausdehnte.189 Bei den Trennungsfristen jedoch gelang es der Union nicht, ihre Wünsche durchzusetzen. Immerhin führte der Kompromiss zu drei unterschiedlichen Regelungen. Bei einer einvernehmlichen Scheidung erfolgte die Lösung der Ehe nach einer einjährigen Trennung. Die Entscheidung für die Dreijahresfrist bei der nicht einvernehmlichen Scheidung fiel letztlich, weil bereits im alten Scheidungsrecht dieser zeitliche Rahmen genannt worden war. Diesbezüglich deckte sich der Kompromissvorschlag weitestgehend mit den Wunschvorstellungen der sozialliberalen Koalition. Da in „außergewöhnlichen Einzelfällen“190 der Richter jedoch die Härteklausel anwenden und die Ehescheidung zeitlich befristet bis zu fünf Jahre untersagen konnte, wurde zumindest in Ausnahmefällen ein Anliegen der Union berücksichtigt.191 Mehrere Fraktionsmitglieder wie die CSU-Abgeordneten Carl-Dieter Spranger und Fritz Wittmann lehnten das Reformgesetz weiterhin ab, da es nicht ihren Familienidealen entsprach. Die CDU-Abgeordnete Roswitha Verhülsdonk rekurrierte erneut auf das alte Argument, dass die Ehefrau vor einer Scheidung geschützt werden müsse, zumal Frauen aus der Union und sogar der

186 187 188 189

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Ebd., 14436D. Dieses Zitat rezipierten zahlreiche Medien. Vgl. Vogel: Das Scheidungsrecht wird ehrlicher; Melder, Bundestag. Vgl. Drucksache des Deutschen Bundestages 7/209 (11. Dezember 1975), 14522B; Neumaier, Ringen, 220f. Vgl. Bundesrat blockiert neues Scheidungsrecht. Vgl. ACDP 08-001-1046/1, Fraktionsprotokoll der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Fraktionssitzung, 6. April 1976, 24; ACDP 08-001-1046/1, Fraktionsprotokoll der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Sondersitzung, 8. April 1976, 1. ADW Allg. Slg. 1208, Das neue Scheidungsrecht: Mehr Gerechtigkeit durch das neue Zerrüttungsprinzip, in: Das neue Ehe- und Familienrecht. Der Bundesminister der Justiz informiert [Bonn 1976], 14–25, hier 24. Vgl. ebenda, 22–25; Neumaier, Ringen, 221f.

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SPD diese Sichtweise teilen würden. Diese Argumentation konnte der CDUFraktionsvorsitzende Karl Carstens jedoch nicht nachvollziehen. Immer mehr Frauen würden auf Ehescheidung klagen, ihren Mann also bewusst verlassen, und nicht unter allen Umständen an einer Ehe festhalten, erklärte er. Die Scheidungsstatistik aus dem Jahr 1973 gab Carstens Recht: In gut 75 Prozent der Fälle klagten die Frauen auf Ehescheidung. Damit hatte die soziale Praxis ein traditionelles Argument gegen eine Reform des Scheidungsrechts seiner Gültigkeit beraubt. Vermutlich hat auch das innerhalb der Union ein Umdenken erleichtert.192 Mehrere Unionsabgeordnete machten sich in den Fraktionssitzungen für das Reformgesetz stark. Hierzu zählten unter anderem die prominenten Abgeordneten Roswitha Verhülsdonk, Karl Carstens sowie die Rechtsexperten Paul Mikat und Carl-Otto Lenz. Carstens betonte in diesem Zusammenhang, dass er für das Gesetz stimmen werde, wenngleich es sein Eheideal nicht abbilde. Der Jurist Lenz orientierte sich an realpolitischen Überlegungen. Er befürchtete, dass sich die Union um die Möglichkeit bringen könnte, auf das Gesetzgebungsverfahren Einfluss zu nehmen. Immerhin ist es der Union gelungen, Teile des Scheidungsrechts nach ihren Vorstellungen zu prägen. In der Fraktionssitzung stimmte letztlich eine knappe Mehrheit, insbesondere aus pragmatischen Überlegungen und bisweilen auch aus innerer Überzeugung, für den Kompromissvorschlag, der zum 1. Juli 1977 in Kraft trat.193 Damit endete ein beinahe zehnjähriger kontroverser Aushandlungsprozess, der weitreichende rechtliche Änderungen mit sich brachte. „Die Eherechtsreform des Jahres 1977 hat im Scheidungsrecht fast keinen Stein auf dem anderen gelassen“,194 rekapitulierte schon 1979 der Experte für Familienrecht Dieter Schwab. Die Gesetzesänderung hatte überdies kurzfristige Folgen für die Scheidungspraxis: Unmittelbar nach dem Inkrafttreten ereignete sich ein „verfahrenstechnisch bedingter“195 Einbruch der Scheidungszahlen, da die Verfahren nach der Reform mehr Zeit in Anspruch nahmen. Die Richter mussten jetzt nicht nur über die Scheidung selbst, sondern auch über die Scheidungsfolgen entscheiden. Noch vor dem Inkrafttreten war zudem eine Klagewelle über die Gerichte geschwappt. Denn zahlreiche Paare wollten sich noch nach dem alten Recht scheiden lassen, da sie sich unsicher waren, mit welchen zukünftigen Regelungen in der Praxis 192

193 194 195

Vgl. ACDP 08-001-1046/1, Fraktionsprotokoll der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Fraktionssitzung, 6. April 1976, 26, 28f.; ACDP 08-001-1046/1, Fraktionsprotokoll der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Sondersitzung, 8. April 1976, 3, 5f., 14f.; Seitensprung kaum Scheidungsgrund; Neumaier, Ringen, 222f. Für eine ähnliche Entwicklung der Scheidungsklagen vgl. Höhn, Einflüsse, 344f. Vgl. ACDP 08-001-1046/1, Fraktionsprotokoll der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Sondersitzung, 8. April 1976, 16, 22; Neumaier, Ringen, 223f. Schwab, Probleme, 14. Wieder Zunahme der Ehescheidungen.

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zu rechnen sei. Das ließ die Zahl der Scheidungen nach der Reform ebenfalls temporär zurückgehen. Von einem geänderten sozialen Verhalten, das mit der Reform einhergegangen sei, wie dies vereinzelt im zeitgenössischen Diskurs auftauchte, kann daher nicht die Rede sein.196 7.3.5 Kritik und Klagen zum reformierten Scheidungsrecht

Nachdem das reformierte Familien- und Scheidungsrecht im Bundestag angenommen worden war, ebbten die Konflikte nicht ab. Auch diese Entwicklung widerlegt die These von der nachträglichen Angleichung des Rechts an die gewandelten gesellschaftlichen Ideale, zumal die Gegner weiterhin dieselben Argumente ins Feld führten. „Das neue Recht treibt das Zerrüttungsprinzip so sehr auf die Spitze, daß darüber das Gerechtigkeitsempfinden im Einzelfall verletzt werden kann“,197 erklärte der Rat der EKD. Die evangelische Kirche brachte so zum Ausdruck, dass sie die im Gesetz verankerte vermeintliche „Fristenautomatik“198 ablehne.199 Anfang 1978 schaltete sich der CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß in die Debatte ein. Das neue Gesetz belohne die „schäbige Treulosigkeit“‘ sogar noch finanziell und sei daher „reiner Blödsinn“,200 erklärte Strauß. Seine Kritik richtete sich gegen das Unterhaltsrecht. Im Mittelpunkt stand dabei das Argument, dass das neue Scheidungsrecht den geschiedenen Mann gegenüber der Frau benachteilige.201 Bereits unmittelbar nachdem das Gesetz verabschiedet worden war, griffen die Medien dieses Thema auf. Der Kölner Stadt-Anzeiger berichtete, dass eine Ehescheidung zukünftig ein „finanzielles Fiasko“ für den Ehemann darstelle, er sich fortan in einer „Unterhaltsknechtschaft“202 befände. Anfang 1977 wandte sich die Bild-Zeitung dem Thema ebenfalls zu und fragte: „Drohen nicht den meisten Männern enorme Kosten, wenn sie nach dem 30. Juni geschieden werden?“203 Die Kritik an der vermeintlich ungerechten Behandlung des Mannes 196 197 198 199

200 201 202 203

Vgl. Dürr, Statistik; Nach Eherechtsreform rund 90 % weniger Scheidungen; Wieder Zunahme der Ehescheidungen; Höhn, Einflüsse, 369. Dahrmann, Ehe, 108. Ebenda. Vgl. EZA 2/18303, Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Ehe und Ehescheidung, ohne Ort, 16. September 1977, 3; AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 9388, Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Ehe und Ehescheidung vom 16. September 1977, in: Familienpolitische Informationen, 16. Jg., Nr. 11, November 1977, 81–82, hier 81f.; Dahrmann, Ehe, 108. Strauß: Neues Scheidungsrecht reiner Blödsinn. Vgl. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 10471, Schreiben Hans-Jochen Vogel an Egon Bahr, Bonn, 15. Februar 1978, 1. Quoirin, Tauziehen. Siehe auch Quoirin, Leben. Bild-Zeitung zit. n.: Dürr, Fall, 3.

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bezog sich auf die zu leistenden Unterhaltszahlungen. Dies sei einem gewissen Unternehmer Peter W., so die Schilderung der Bild-Zeitung, zum Verhängnis geworden. Obwohl er „seine Frau in flagranti erwischt“ habe, drohe Peter W., dass ihr die Hälfte seines Vermögens zustünde, mutmaßte die Bild.204 Die SPD wiederum teilte die Einschätzung der Bild-Zeitung nicht. Der SPD-Rechtsexperte Hermann Dürr kritisierte zunächst die einseitige Berichterstattung, ehe er klarstellte: Es handele sich um einen statistisch äußerst unwahrscheinlichen Fall. 1965 seien in Westdeutschland lediglich 0,6 Prozent der Scheidungen aufgrund von Ehebruch erfolgt. In absoluten Zahlen bedeute dies 641 Fälle, wovon 233 Mal der Ehemann die Scheidungsklage eingereicht habe. Und selbst wenn in diesen Fällen die Ehefrau ihren Mann betrogen habe, dann genieße sie nicht zwangsläufig einen Unterhaltsanspruch, so Dürr weiter. Das sei nur der Fall, wenn sie aufgrund der Erziehung von minderjährigen Kindern keine Berufsarbeit habe aufnehmen können. Aus der Perspektive der SPD waren somit im Scheidungsrecht genügend Schutzmechanismen eingebaut, um einem Missbrauch vorzubeugen.205 Die Kontroversen setzten sich dennoch fort. Im Juli 1979 legte die Juristin und Publizistin Eva Marie von Münch in ihrem Zeit-Artikel Lebenslange Rente für die Luxusfrau eine differenzierte Analyse vor. Während das alte Unterhaltsrecht „Unfair zu Muttchen“ gewesen sei, wie dies Sebastian Haffner 1970 geschrieben hatte, und daher der Unterhalt nach der Scheidung für den sozial schwächeren Partner gewährleistet sein müsse, so gingen die nun geltenden Bestimmungen in den Augen von Münchs zu weit. Von Münch kritisierte die im Gesetz festgehaltene „Lebensstandardgarantie“.206 Sie brachte hier das mutmaßliche Beispiel einer Röntgenassistentin ins Spiel, die einen Arzt geheiratet habe und nun Golf und Tennis spiele. Der Frau stehe dieser gehobene Lebensstandard selbst nach der Ehescheidung weiterhin zu – polemisch gewendet sprachen Zeitgenossen hier vom „Prinzip ‚Einmal Chefarztfrau, immer Chefarztfrau‘“207 oder der „Nerzklausel“.208 Selbst wenn die geschiedene Arztfrau wieder zu arbeiten beginne, könne sie sich einer „Zusatzrente“ von ihrem Mann sicher sein. Gerade hier stimme das „Muttchen-Bild“ nicht mehr, mahnte von Münch. Vielmehr würden solche Frauen gekonnt auf dem „Scheidungsklavier“209 spielen und so Schlupflöcher im Scheidungsrecht für sich ausnützen, warnte sie weiter.210 204 205

206 207 208 209 210

Zusammengefasst bei ebenda, 3ff. Vgl. ebenda, 3ff.; ADW Allg. Slg. 1208, Das neue Scheidungsrecht: Mehr Gerechtigkeit durch das neue Zerrüttungsprinzip, in: Das neue Ehe- und Familienrecht. Der Bundesminister der Justiz informiert [Bonn 1976], 14–25, hier 26–31. Münch, Rente. Münch, 19. Jahrhundert. Zur wissenschaftlichen Rezeption vgl. Vogel, Familie, 73. Westphalen, Prinzip. Münch, Rente. Vgl. ebenda.

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Eva Marie von Münch arbeitete heraus, wie das reformierte Scheidungsrecht insbesondere drei Gruppen von „Verlierern“ entstehen lasse: Es handele sich zunächst um die meist männlichen Besserverdienenden. Als zweite Gruppe benannte sie berufstätige Ehefrauen. Sie könnten nach der Trennung vom Richter zur Berufsarbeit angehalten werden. Damit waren sie vor allem gegenüber den nicht-berufstätigen Hausfrauen benachteiligt. Drittens würden die zweiten Ehefrauen strukturell schlechter gestellt, da ihre Unterhaltsansprüche gegenüber denen der ersten Frauen nachgeordnet seien. Zudem zeige sich, dass bei der Rechtsprechung die Schuldfrage auch weiterhin eine Rolle spielen könne, obschon sie aus dem Gesetz entfernt worden sei. Geschiedenen Ehefrauen drohe mitunter der Verlust ihres Unterhalts, wenn sie mit einem neuen Freund zusammenzögen, wie dies bei einer Mutter von sechs Kindern in der Stadt Pinneberg der Fall gewesen sei. Als sie ihren Mann für ihren Freund verlassen habe, seien noch drei Kinder minderjährig und damit unterhaltsberechtigt gewesen. Auch der geschiedenen Ehefrau habe Unterhalt zugestanden. Allerdings habe der Pinneberger Familienrichter dies abgelehnt. Seiner Ansicht nach sei der betrogene Ehemann von seiner Frau „erniedrigt“ worden. Damit sei die Entscheidung des Pinneberger Richters der im Scheidungsrecht festgeschriebenen Gleichberechtigung der Geschlechter zuwidergelaufen und habe tradierte Ideale der Geschlechterrollen aufrechterhalten.211 Eva Marie von Münchs Analyse spürte somit konkrete Fälle aus der Alltagspraxis auf,212 in denen sich die Defizite des neuen Scheidungsrechts zeigten. Es muss aber berücksichtigt werden, dass es sich hierbei um Einzelfälle und nicht die Masse der Scheidungsklagen handelte. Die Kritik am neuen Scheidungsrecht blieb zudem bis zum Ende der 1970er Jahre bestehen; sowohl die EKD als auch die katholische Kirche brachten sie immer wieder vor. In der evangelischen Kirche setzte sich gleichwohl allmählich eine abwägende Sicht auf das soziale Phänomen der Ehescheidung durch. Es sei „falsch, von den Scheidungsziffern ausschließlich auf einen Verfall der Ehe zu schließen, wie dies oft in unverantwortlicher Kurzschlüssigkeit geschieht“,213 betonte schließlich die von der EKD herausgegebene Denkschrift Die Frau in Familie, Kirche und Gesellschaft 1979. Parallel stand das Scheidungsrecht auf dem juristischen Prüfstand, bis das Bundesverfassungsgericht 1980 ein Urteil fällte. Es bestätigte die Kernpunkte der Reform: das Zerrüttungsprinzip und den Versorgungsausgleich. In einem weite211

212 213

Vgl. ebenda; Limbach, Rechtsprechung, 36–40, 44; Vogel, Familie, 73. Für die Rezeption der in der Öffentlichkeit diskutierten „typischen“ Fälle unter Politikern und Juristen Donnepp, Begrüßungsansprache, 11; Theisen, Probleme, 62. Zur Diskussion der Reform des Scheidungsfolgenrechts in den 1980er Jahren vgl. Schumann, Bauarbeiten, 131–134. Für die allmähliche Vereinheitlichung der Rechtsprechung vgl. Husmann, Eröffnungsansprache (1979), 2ff.; ders., Eröffnungsansprache (1981), 1. Kirchenkanzlei im Auftrage des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Frau, 92.

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ren Urteil vom November 1980 wertete das Gericht allerdings die auf fünf Jahre befristete Härteklausel als verfassungswidrig. Denn damit könne in bestimmten Konstellationen eine Ehe zur „Unzeit“214 aufrechterhalten werden.215 Zu diesem Zeitpunkt hatte die Ehescheidung in Westdeutschland ihr soziales Stigma bereits weitgehend verloren. Scheidung sei „kein Makel mehr“,216 resümierte 1981 die Soziologin Helge Pross.

7.4 Sorgerecht: von der „elterlichen Gewalt“ zur „elterlichen Sorge“ Die Reform des Sorgerechts 1980 stellte in Westdeutschland die dritte markante juristische Zäsur dar. Zunächst wurde der traditionelle Begriff „elterliche Gewalt“ durch „elterliche Sorge“ ersetzt. Damit einhergehend trug das Sorgerecht dem sich verändernden Eltern-Kind-Verhältnis Rechnung, indem es die Individualrechte der Kinder stärkte und Selbständigkeit sowie Gleichberechtigung zu zentralen Erziehungszielen erhob. An diesem Punkt zeigt sich eine deutliche Positionsverschiebung gegenüber den 1960er Jahren, die erst die gesellschaftlich verhandelten und später die sozial akzeptierten Rechte und Pflichten sowohl der Eltern als auch der Kinder erfasste. „Die Eltern sind nicht die Herren ihrer Kinder“,217 hatte die EAF in ihrem Familienpolitischen Programm bereits 1969 betont. Demnach besäßen die Eltern keine autoritäre Verfügungsgewalt mehr über ihre Kinder. Vielmehr sei die „elterliche Verantwortung“ das zentrale Elternrecht. Die Eltern sollten demnach primär die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder unterstützen und ihnen Chancen eröffnen, ihre individuellen Begabungen zu verwirklichen. Die EAF beabsichtigte so zudem, die Rechte der Kinder zu stärken.218 214 215

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Keine Ehescheidung zur „Unzeit“. Vgl. EZA 2/18307, Detlef Dahrmann, Einleitendes Votum der EKD vor dem Bundesverfassungsgericht anläßlich der mündlichen Verhandlung zum Ehescheidungsrecht und Versorgungsausgleich vom 27. bis 29. November 1979; EZA 2/18307, Erwin Wilkens, Stellungnahme in der mündlichen Verhandlung vor dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts zu Fragen des 1. EheRG am 27. November 1979; Münch, Ruhe; Neues Scheidungsrecht mit dem Grundgesetz vereinbar; Vogel, Bestätigung; Fromme, Forderungen; Scheidungsurteile des Bundesverfassungsgerichtes, 109, 116f.; Zur Unzeit, 46; Keine Ehescheidung zur „Unzeit“; Westphalen, Jahrhundertwerk; Husmann, Eröffnungsansprache (1981), 1f. Pross, Familie, 17. EZA 2/11677, Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen (Hg.), Aufgaben der Familienpolitik. Familienpolitisches Programm 1969 der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen. Vgl. ebenda; Keil, Veränderungen, 203.

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7.4 Sorgerecht: von der „elterlichen Gewalt“ zur „elterlichen Sorge“

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Im Laufe der 1970er Jahre verbreitete sich diese Forderung zusehends in der politischen Arena. Die SPD-Politikerin Renate Lepsius trat im November 1974 dafür ein, dass die Eltern-Kind-Beziehung an die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angepasst werde. Vor allem forderte Lepsius, „die Pflichten und Rechte der Eltern“ sowie „die Rechte der Kinder“219 neu zu bestimmen. Zugleich müsse der Staat „zum Wohle und zum Schutz von Kindern“220 intervenieren können, lautete ein weiteres zentrales Plädoyer. Das Gesetz sollte somit weitaus stärker als bisher das „Wohl des Kindes“221 berücksichtigen. Die geplante Reform verfolgte stets eine doppelte Zielrichtung. Sie sollte dem Staat einen verstärkten Zugriff auf den Binnenraum der Familie eröffnen, wenn dies zum Schutz einzelner Familienmitglieder notwendig wäre. Zugleich sollte sie die Individualrechte der Kinder gegenüber ihren Eltern stärken, sodass auch in diesem Bereich das Modell der patriarchalischen Familie durch ein auf Partnerschaft ausgerichtetes Ideal ersetzt würde. Um diese inhaltliche Verschiebung auch sprachlich kenntlich zu machen, plädierte Lepsius dafür, den bisher üblichen Begriff „elterliche Gewalt“ durch „elterliche Sorge“ zu ersetzen. Die Familie verliere so ihren Charakter als elterliches „Herrschaftsverhältnis“ über die Kinder. Zugleich würden die „elterlichen Pflichten“ und das Recht der Kinder auf Erziehung betont. Dieses Anliegen brachte nach Darstellung der Bundesregierung auch die Umkehrung des Begriffspaares von „Rechte und Pflichten“ in „Pflichten und Rechte“ zum Ausdruck.222 Die SPD-Politikerin Elfriede Eilers hob 1977 noch einen weiteren Vorteil der sprachlichen Veränderung hervor. Es werde nun die Pflicht der Eltern betont, die Kinder mit elterlicher Sorge vor „Fehlentwicklungen“223 zu bewahren. Aus dem Lager der Opposition kam jedoch schon 1974 deutliche Kritik an den Reformplänen, nachdem der erste Gesetzesentwurf die Vorstellung vom Kind als „Objekt elterlicher Fremdbestimmung“224 angeprangert habe. Die Unionspo219

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AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 7. WP 2/BTFG003566, Renate Lepsius, Neuregelung Recht der elterlichen Sorge, in: Informationen der Sozialdemokratischen Fraktion im Deutschen Bundestag, Ausgabe Tagesdienst 947, 8. November 1974, 1. Ebenda. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 8. WP 2/BTFH000144, Begründung, ohne Ort, ohne Datum, 1. Vgl. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 7. WP 2/BTFG003566, Renate Lepsius, Neuregelung Recht der elterlichen Sorge, in: Informationen der Sozialdemokratischen Fraktion im Deutschen Bundestag, Ausgabe Tagesdienst 947, 8. November 1974, 3; AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 8. WP 2/BTFH000144, Begründung, ohne Ort, ohne Datum, 1f.; Münch, Familienpolitik (1974–1982), 650f. Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VIII/176, Bd. A1, Dok. 12, Kurzprotokoll der 6. Sitzung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages, Bonn, 4. Mai 1977, 6/50. Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge, in: Drucksache des Deutschen Bundestages 7/2060, 2. Mai 1974, http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/07/ 020/0702060.pdf (letzter Zugriff am: 04.01.2019), 13.

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litikerin und praktizierende Katholikin Erna-Maria Geier warf der Regierung in einer Sitzung des Familienausschusses im Mai 1977 vor, dass sie „staats-dirigistisch in den Intimbereich der Familie eingreife“.225 Hinter dieser Aussage stand ein Vorwurf, den neben Geier auch die CDU-Bundestagsfraktion und das ZdK äußerten: Das Reformgesetz entziehe den Eltern das Erziehungsrecht und übertrage es auf den Staat.226 Der evangelische Theologe und SPD-Abgeordnete Udo Fiebig sprach hingegen diesem Vorwurf des „Staatsdirigismus“227 die Gültigkeit ab. Schließlich greife der Staat lediglich ein, wenn es in Familien zu Konflikten komme. Zudem biete das neue Sorgerecht den Eltern eine Hilfestellung an für den Fall, dass es ihnen nicht gelänge, ihrem Erziehungsauftrag gerecht zu werden. Der CDU-Politiker Albrecht Hasinger knüpfte in seiner Kritik an diesem Punkt an. Der Gesetzesentwurf lege zwar sowohl die Rechte der Eltern und Kinder dar, doch bei den Pflichten würden ausschließlich die Eltern angesprochen, wandte Hasinger ein. Er kritisierte also, dass die Pflichten der Kinder gegenüber ihren Eltern ausgespart blieben. Der Rat der EKD schloss sich dieser Sichtweise an, wie sein Vertreter in einer nichtöffentlichen Anhörung vor dem Familienausschuss des Bundestags im November 1977 klarmachte. Aufgrund der deutlichen Kritik hielt die EKD im Winter 1977 den Gesetzesentwurf „von der Gesamtanlage her für bedenklich und unausgewogen“228 und verwehrte ihm die Unterstützung.229 Allerdings existierten innerhalb der evangelischen Kirche durchaus unterschiedliche Ansichten zur Reform des Sorgerechts. Die EAF unterstützte die Pläne der sozialliberalen Koalition explizit und ging so dezidiert auf Distanz zur Linie der EKD.230 Im Familienpolitischen Programm 1976 bekannte 225

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Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VIII/176, Bd. A1, Dok. 12, Kurzprotokoll der 6. Sitzung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages, Bonn, 4. Mai 1977, 6/47. Ähnlich argumentierten die Mitglieder der Union auch in einer Fraktionssitzung. Vgl. ACDP 08-001-1049/1, Fraktionsprotokoll der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Fraktionssitzung, 3. Mai 1977, 23f. Vgl. Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge (1977), 8. Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VIII/176, Bd. A1, Dok. 12, Kurzprotokoll der 6. Sitzung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages, Bonn, 4. Mai 1977, 6/48. Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VIII/176, Bd. A1, Dok. 12, Beigabe 2, Nichtöffentliche Anhörungssitzung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages, Bonn, 21. November 1977, 2. Vgl. Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VIII/176, Bd. A1, Dok. 12, Kurzprotokoll der 6. Sitzung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages, Bonn, 4. Mai 1977, 6/48, Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VIII/176, Bd. A1, Dok. 12, Beigabe 2, Nichtöffentliche Anhörungssitzung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages, Bonn, 21. November 1977, 2f. ACDP 01-048-010/5, Familienrechtskommission der Evangelischen Kirche in Deutschland, Entwurf des Textes im Unterrichtungsschreiben an den Rat der EKD, ohne Ort, [1973], 1; Dahrmann, Elternrecht, 137–149; Keil, Veränderungen, 204. Für die von der EKD abweichende Position der EAF vgl. Keil, Recht; Neumann, EAF, 28f.

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sich die EAF abermals mit deutlichen Worten zur Reform des Sorgerechts. Vor allem plädierte sie nun ebenfalls dafür, von der „elterlichen Sorge“ zu sprechen. Es könne so zum Ausdruck gebracht werden, dass im Eltern-Kind-Verhältnis das Wohl des Kindes als wichtigster Grundsatz zu gelten habe.231 Die Einschätzung vonseiten der katholischen Kirche fiel dagegen einmütig negativ aus. Das Kommissariat der Deutschen Bischöfe, vertreten durch den Juristen Leopold Turowski vom Katholischen Büro Bonn, äußerte in der nicht öffentlichen Sitzung vehemente Kritik an den Reformplänen. Der Entwurf greife zu stark in den Binnenraum der Familien ein, bemängelte Turowski und griff somit ein immer wieder artikuliertes Argument auf. Allenfalls zu geringfügigen Modifikationen im Sorgerecht zeigte sich die katholische Kirche bereit, wie das bereits die Ablösung des Begriffs „elterliche Gewalt“ durch „elterliche Sorge“ zum Ausdruck bringe.232 Diese Änderung stellte bei der Reform letztlich den kleinsten gemeinsamen Nenner dar – zumal im August 1977 eine gemeinsame Erklärung des Kommissariats der Deutschen Bischöfe, des Generalsekretariats des ZdK, der Katholischen Frauengemeinschaften Deutschlands, des Familienbundes der deutschen Katholiken, des Deutschen Caritasverbandes und des Sozialdienstes katholischer Frauen diese sprachliche Veränderung unterstützt hatte.233 In den inhaltlichen Fragen blieben demgegenüber deutliche Differenzen bestehen. Die Kirche und ihre Verbände warnten regelrecht vor einer drohenden „Verrechtlichung der Eltern-Kind-Beziehungen“,234 vor einem staatlichen Interventionsrecht in den Binnenraum der Familie und vor einer Übertragung der Erziehungsaufgaben von den Eltern an staatliche Einrichtungen. Die Familie werde mit der Reform als gesellschaftliche Institution unterhöhlt, so ihre einhellige Meinung. Der Vorwurf lautete dabei indirekt, die Reform verstoße gegen das Grundgesetz. Die katholische Kirche äußerte darüber hinaus massive Vorbehalte gegenüber der Umkehrung des Begriffspaares „Rechte und Pflichten“. Wenn zukünftig von „Pflichten und Rechten“ gesprochen werde, dann bestehe die Gefahr, dass die Pflichten der Eltern stärker als deren Rechte gewichtet würden. Zudem erfolge eine bedenkliche Abwertung der Eltern. Die katholische Kirche warf sogar die Frage auf, ob zukünftig die Erziehungsaufgabe überhaupt noch primär bei den Eltern liegen werde. Aus der Perspektive der katholischen Kirche 231 232

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Vgl. Reichwein, Kinderarmut, 242. Vgl. Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VIII/176, Bd. A1, Dok. 12, Beigabe 2, Nichtöffentliche Anhörungssitzung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages, Bonn, 21. November 1977, 11ff. Vgl. Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VIII/176, Bd. A1, Dok. 12, Beigabe 4, Kommissariat der Deutschen Bischöfe Bonn zusammen mit dem Generalsekretariat des ZdK, den Katholischen Frauengemeinschaften Deutschlands, dem Familienbund der deutschen Katholiken, dem Deutschen Caritasverband und dem Sozialdienst katholischer Frauen, Erklärung zum Gesetzesentwurf der Fraktionen von SPD und FDP zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge vom 23. August 1977, 2. Lissek, Verrechtlichung, 171.

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bedrohte damit die Reform des Sorgerechts genauso wie die Reform des Scheidungsrechts zuvor im Kern die „Lebenskraft der Familie“.235 Diese Einschätzung erklärt, warum sich die katholische Kirche mit deutlichen Worten gegen eine Reform des Sorgerechts aussprach.236 Auch nachdem die Bundesregierung einen überarbeiteten Gesetzesentwurf vorgelegt hatte, gaben weder das ZdK noch die Amtskirche ihre ablehnende Haltung auf. Vielmehr bekräftigten sie sogar noch ihre Position. Vor allem bemängelte das ZdK, dass im Entwurf weiterhin die Individualrechte der Familienmitglieder im Vordergrund stehen würden. So werde innerhalb der Familie eine „Gegnerschaft zwischen Eltern und Kindern“ aufgebaut. Die Familienbeziehungen basierten folglich ausschließlich auf einer rechtlich fixierten Grundlage und nicht auf einem „von Liebe geprägte[n] Eltern-Kind-Verhältnis“.237 Zugleich eröffne diese Regelungen dem Staat die Möglichkeit, „in die Familien hineinzuregieren“,238 wandte das ZdK ein. Damit blieb der Entwurf für das neue Sorgerecht für die katholische Kirche ein rotes Tuch.239 Die Opposition bekräftigte ebenfalls ihre vehemente Ablehnung. „Dieser Gesetzentwurf ist aber geprägt von dem Mißtrauen gegenüber der Fähigkeit der Eltern, ihre Kinder zu erziehen“240 und müsse schon allein deswegen abgelehnt werden, erklärte wiederum der Jurist Carl-Otto Lenz. Dieser Sichtweise schloss sich die Unionsfraktion an und lehnte den Entwurf einstimmig ab.241 Anfang 1979 änderte der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages den Entwurf abermals und ging auf zuvor geäußerte Kritikpunkte ein. Das betraf die garantierte Vorrangstellung des Elternrechts und der Elternverantwortung gegenüber dem Staat. Zudem war die Wortstellung der Begriffe „Recht und Pflicht“ in die alte Reihenfolge zurückversetzt worden. Das ZdK befürwortete diese Entscheidung, da so die Elternverantwortung nicht länger als eine vom Staat an die Eltern übertragene Pflicht dargestellt werde. Dessen ungeachtet blieben „erhebli235

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Parlamentsarchiv Deutscher Bundestag VIII/176, Bd. A1, Dok. 12, Beigabe 4, Kommissariat der Deutschen Bischöfe Bonn zusammen mit dem Generalsekretariat des ZdK, den Katholischen Frauengemeinschaften Deutschlands, dem Familienbund der deutschen Katholiken, dem Deutschen Caritasverband und dem Sozialdienst katholischer Frauen, Erklärung zum Gesetzesentwurf der Fraktionen von SPD und FDP zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge vom 23. August 1977, 9. Vgl. ebenda, 2f., 6f. 9. Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Stellungnahme zur Neuregelung des elterlichen Sorgerechts (1978), 40. Ebenda. Vgl. ebenda, 37–40; Archiv des ZdK 2202 Schachtel 7, Entwurf einer Stellungnahme des Geschäftsführenden Ausschusses des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zur Neuregelung des elterlichen Sorgerechts, Bonn-Bad Godesberg, 30. November 1978, Bl. 506ff. ACDP 08-001-1055/1, Fraktionsprotokoll der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Fraktionssitzung, 13. März 1979, 36. Vgl. ebenda, 32, 34ff.

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che Einwände“242 gegenüber dem Gesetzesentwurf nicht nur vonseiten des ZdK, sondern auch des Kommissariats der Deutschen Bischöfe bestehen.243 Aufgrund des anhaltenden Widerstands der Union rief der Bundesrat schließlich im Juni 1979 den Vermittlungsausschuss an, der den Regierungsentwurf allerdings nur geringfügig abänderte. Der Bundesrat legte zwar Widerspruch ein, wurde jedoch vom Bundestag überstimmt. Das Gesetz konnte somit im Juli 1979 verabschiedet werden. Zum 1. Januar 1980 trat das reformierte Sorgerecht schließlich in Kraft. Damit kam die dritte entscheidende Gesetzesreform zwischen den späten 1960er und den 1970er Jahren zum Abschluss.244

7.5 „Entdeckung“ der Gewalt in der Familie in Westdeutschland Die Abkehr vom Gewalt-Begriff im Sorgerecht deutet darüber hinaus noch auf ein gewandeltes Problembewusstsein hin. In den 1960er, verstärkt dann in den 1970er Jahren, rückte Gewalt als Sozialphänomen zunächst in das Forschungsinteresse von Soziologen sowie Psychologen und schließlich auch in den Blickpunkt der Politik und der Öffentlichkeit. Diese Veränderung resultierte nicht aus einer erhöhten Gewaltbereitschaft der Familienmitglieder, sondern aus einer sich verändernden Einstellung zur Gewalt. Die Familie war bis in die 1960er Jahre ein privater Rückzugsraum gewesen, in dem andere rechtliche Regelungen galten als in der Öffentlichkeit. In den 1980er Jahren war dies nicht mehr der Fall. „Gewalt gegen Frauen ist die schwerste Form der Benachteiligung von Frauen in unserer Gesellschaft“,245 erklärte das Familienministerium 1989 und sprach ein zentrales soziales Problem an, das in den Jahrzehnten zuvor nicht benannt worden war.246 Als sich die Wahrnehmung von Gewalt allmählich veränderte, drängte sich Sozialwissenschaftlern die Frage auf, wie Gewalt zu definieren sei.

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Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Stellungnahme zur Neuregelung des elterlichen Sorgerechts nach den Beschlüssen des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags (1979), 3. Vgl. ebenda, 3ff.; BArch Koblenz B 195/74, Qualitative Änderung der Eltern-Kind-Beziehung wäre gegen die Verfassung. Erklärung des Kommissariats der Bischöfe zur Diskussion der Reform des elterlichen Sorgerechts, in: Stimme der Familie, 3/79. Vgl. Münch, Familienpolitik (1974–1982), 652. Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Hg.), Frauen, 69. Vgl. Kempe u. a., Battered Child; Simm, Gewalt, 11; Schneewind, Eltern, 38f.; Nave-Herz, Familie heute, 81; Schneewind, Familie, 134; DTA 584. Für eine andere Schilderung von Gewalt in Familien vgl. exemplarisch FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Helga Häsing, Familien sind anders. Berichte aus der Welt hinter den Wohnungstüren, ohne Erscheinungsort, 15. Januar 1981.

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Mit „Gewalt“ bezeichnet man jede aktive Handlung (oder auch Duldung bzw. Unterlassung), die an der Durchsetzung des eigenen Zieles bei einer anderen Person orientiert ist, ohne Rücksicht auf damit verbundene physische oder psychische Schäden bei dieser,247

grenzte die Familiensoziologin Rosemarie Nave-Herz den Gewaltbegriff ein. Diese allgemeingehaltene Definition weist auf zwei Probleme hin. Gewalt war keine statische Größe. Sie konnte sich vielmehr in historisch-diachroner Perspektive verändern. Sie konnte zugleich aus verschiedenen Perspektiven jeweils unterschiedlich beurteilt werden. Die Grenzen von illegitimer Gewalt und legitimer Gewalt veränderten sich überdies im Laufe des 20. Jahrhunderts und waren somit stets fließend. Dieses Ineinanderfließen der verschiedenen Ebenen zeigt sich auch bei den unterschiedlichen Arten von Gewalt: Die Forschungsliteratur differenziert zwischen physischer und psychischer Gewalt. Nave-Herz benennt zusätzlich noch sexuelle Gewalt als weiteren Typus. Es muss noch auf einen weiteren Aspekt des Gewaltbegriffs eingegangen werden, den Nave-Herz nicht mehr thematisiert. Die jeweiligen Fachdisziplinen grenzen Gewalt unterschiedlich ein. Während Soziologen den Zwangscharakter von Handlungen untersuchen, stellen Psychologen Demütigungen sowie physisch erlittene Verletzungen und Juristen den materiellen Schaden und körperliche Verletzungen in den Mittelpunkt ihrer Analyse.248 Unterschiedlichste Arten von Gewalt rückten damit, abhängig von der jeweiligen Fachdisziplin, in den Blickpunkt der Forscher. Im Folgenden wird vor allem analysiert, wie zeitgenössische Sozialwissenschaftler die physischen und psychischen Gewalthandlungen in Familien untersuchten und bewerteten. Neben den Gewaltakten können so vereinzelt auch die Motive bzw. Gründe für Gewalttätigkeiten aufgespürt werden. Als die Familie in der öffentlichen Debatte der 1970er Jahre zusehends als „Hort der Harmonie“249 hinterfragt wurde und die Medien über Gewalt gegen Kinder wie auch gegen Frauen – vereinzelt auch gegen Männer – berichteten, sprach der Soziologe und Anthropologe Dieter Claessens von der „Kampfgruppe Familie“,250 in der sich unterschiedlichste Gewaltformen zeigten. Die „Entdeckung“ der Gewalt gegen Frauen und gegen Kinder verlief jedoch nicht simultan. Zunächst rückte in den 1960er Jahren die Gewalt gegen Kinder ins Interesse von Wissenschaftlern und Politikern. 1966 stand die 64. Jahrestagung 247 248

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Nave-Herz, Familie heute, 83. Vgl. ebenda, 82ff.; Schneewind, Familie, 132f.; Klocke, Familienprobleme, 185; Sahner, Gewalt, 154; Hagemann-White et al., Hilfen, 23f.; Simm, Gewalt, 48f. Klaus Schneewind unterscheidet zudem noch zwischen struktureller und personaler Gewalt. Ersteres bezieht sich auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die soziale Ungleichheiten verursachten. Letzteres meint das „individuelle Ausagieren von Aggressionen“. Gerade diese Form von Gewalt ist u. a. in Familien anzutreffen. Vgl. Schneewind, Familie, 132f. Sie schlug mich, ohne mich anzusehen, 138. Dieter Claessens zit. n.: Sie schlug mich, ohne mich anzusehen, 137.

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der Gesellschaft für Kinderheilkunde unter dem Motto Kindesmisshandlung. Die Referenten berichteten von 90 pro Jahr zu Tode gefolterten Kindern, von tausenden von Kindern, die aufgrund ihrer durch Prügel erlittenen Verletzungen in Kliniken eingeliefert worden seien. Nach Erhebungen des Hamburger Volkskundlers Walter Hävernick sahen 85 Prozent der westdeutschen Eltern Schläge als legitimes Erziehungsmittel, als ihr Elternrecht an. Autoritäre Gewaltanwendung gehörte nach dieser Sichtweise zum Alltag vieler Familien. „Verschwiegene Verbrechen“ betitelte Der Spiegel seinen Bericht über die Fachtagung und versprachlichte damit, dass Gewalt in den Familien lange nicht öffentlich thematisiert worden sei. Zudem griff der Beitrag so einen generellen Einstellungswandel zur Gewalt in der Familie auf, die nun kriminalisiert wurde. Auf der Tagung setzten sich unter anderem Kinderärzte, Psychologen und Gerichtsmediziner dafür ein, stärker gegen Kindesmisshandlungen in Familien vorzugehen.251 Die sich wandelnde Bewertung der Gewalt gegen Kinder korrelierte mit sich wandelnden Erziehungsmethoden. Während zuvor Gewaltausbrüche, wie Prügelstrafen, gesellschaftlich akzeptiert gewesen und als „normal“ und „kulturell gutgeheißen“252 worden waren, traf dies in den 1960er Jahren allmählich nicht mehr zu. Jetzt galt elterliche Gewalt gegenüber den Kindern zusehends als „abnormes Verhalten“.253 Dass Gewalt in den Familien in den Jahrzehnten zuvor verschwiegen worden war, lag vermutlich auch an dem Widerspruch zwischen der sozialen Praxis und dem Familienideal: So kollidierten die regelmäßigen Prügelstrafen mit der Vorstellung von einem liebevollen Familienleben. Zudem passte die Gewalt gegen Kinder – aber auch gegen Ehefrauen – nicht zum Bild von der Familie als Schutzraum für ihre Mitglieder. Dem Ideal des idyllischharmonischen Familienlebens standen somit Gewalt, brutales Verhalten und Misshandlungen entgegen. Dieses Sozialverhalten gehörte in zahlreichen sogenannten „normalen“ Familien zum Alltag, berichteten Forscher der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung in einer im Auftrag des nordrheinwestfälischen Sozialministeriums erstellten Studie.254 In den 1970er Jahren rückte die Gewalt gegen Kinder noch stärker in den Fokus der öffentlichen Kritik. „Was die menschliche Phantasie nur an Grausamkeiten und Züchtigungen ersinnen kann, ist an Kindern schon ausprobiert worden“,255 erklärte 1973 der Mainzer Rechtsmediziner Horst Leithoff auf einer Tagung des rheinland-pfälzischen Sozialministeriums. Im Kern bestätigte er damit den Befund der Fachtagung von 1966. Sein Kollege, der Kinderarzt Ulrich 251 252 253 254

255

Vgl. Verschwiegene Verbrechen, 142, 144. Neubauer/Steinbrecher/Drescher-Aldendorffet, Gewalt, 29. Ebenda, 28. Vgl. ebenda, 28f.; dpa, Gesundheit. Gewalt (1); Untersuchung: Gewalt gibt es auch in „normalen“ Familien; Büttner u. a., Liebe; Nave-Herz, Familie heute, 81; Klocke, Familienprobleme, 185. Zum Problem des „Männerüberhangs“ bei häuslicher Gewalt vgl. ebenda. Horst Leithoff zit. n.: Barrey, Eltern.

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Köttgen vom Universitätsklinikum Mainz, sprach von geschätzten 6.000 misshandelten und verwahrlosten Kindern pro Jahr, bei einer wahrscheinlich 20 Mal größeren Dunkelziffer. Überdies würden, so Köttgen weiter, 600 Kinder – ebenfalls ein Schätzwert – in Folge der Misshandlung durch ihre Eltern pro Jahr sterben. 40 Prozent der misshandelten Kinder seien Säuglinge, 80 Prozent höchstens drei Jahre alt. Insofern seien gerade die jüngsten und wehrlosesten Kinder Opfer elterlicher Gewalt. Als Tatmotive benannten Polizisten und Wissenschaftler die unerwünschte Geburt eines Kindes, welches die Eltern als „Last“ einstuften. Sie ließen daher ihren Frust am Kind aus. Zudem resultiere die Misshandlung aus einer Ersatzhandlung für anderweitig erfahrene Unrechtmäßigkeiten. Dabei kompensiere das Herrschaftsverhältnis gegenüber dem Kind andere Minderwertigkeitskomplexe.256 Die unterschiedlichen Ausprägungen der elterlichen Gewalt unterteilte Leithoff in vier Verbrechensarten. Zunächst handele es sich um einmalige schwere Misshandlungen, die als Ausbruchsreaktionen auf ein bestimmtes Ereignis folgten und in einer unangemessenen Reaktion mündeten. Misshandlungen kämen darüber hinaus über Jahre hinweg vor und würden vonseiten der Eltern als legitime „Züchtigung“ dargestellt. Ferner identifizierte Leithoff den sexuellen Missbrauch der Eltern an ihren Kindern. Abschließend benannte er schwere Vernachlässigung und Verwahrlosung. Neben körperlichen Verletzungen wie Prellungen und gebrochenen Knochen erlitten die Kinder aber auch psychischen Schaden, wie der Psychohygieniker Gerd Biermann hervorhob. So werde die geistige und emotionale Entwicklung von Kindern infolge der elterlichen Gewalthandlungen gehemmt.257 Eine weitere zentrale auf der Tagung diskutierte Frage drehte sich um den Umgang mit Kindesmisshandlungen. Dass die Gewaltanwendungen nicht verfolgt würden, liege nach Ansicht Leithoffs an der „täterfreundliche[n] und opferfeindliche[n] Zeit“,258 die mehr auf eine Resozialisierung der Täter als auf deren Kriminalisierung ziele. Bei Gewalt gegen Kinder jedoch dürfe dies nicht gelten. Der Präsident des Kinderschutzbundes, Walter Becker, sprach sich ebenfalls gegen ein elterliches „Züchtigungsrecht“ aus. Diese Stellungnahmen verdeutlichen, dass Leithoff und Becker für eine stärkere staatliche Intervention in den Binnenraum der Familie votierten. Die Tagungsteilnehmer benannten Elternberatung über die Themen Familienplanung und Kindererziehung als weitere Möglichkeiten, die Gewalt gegen Kinder einzugrenzen. Ferner sollten „gefährdete“ Familien besonders betreut werden. Auch müsse an Schulen wie auch in Familien offen für gewaltfreie Erziehungsmethoden geworben werden.259 Prävention gegen 256 257 258 259

Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. Horst Leithoff zit. n.: Barrey, Eltern. Vgl. ebenda.

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Gewalt und Intervention bei Gewalt galten damit in den 1970er Jahren als die zwei Stellschrauben, die das soziale Problem einzuhegen vermöchten. Nach Schätzungen wie in einer Studie der Hessischen Stiftung für Friedensund Konfliktforschung blieb gleichwohl die Zahl der Kindesmisshandlungen bis in die frühen 1980er Jahren hoch. Gewalt gegen Kinder gehörte somit vielfach zum Familienalltag. Wie hoch jedoch die Zahl der Fälle lag, ließ sich kaum ermitteln. So beliefen sich die Schätzungen Anfang der 1980er Jahre auf gut 30.000 Fälle von Kindesmisshandlungen. Hierbei handele es sich jedoch allenfalls um die „Spitze des Eisbergs“,260 lautete eine kolportierte Vermutung. Denn andere Schätzungen gingen sogar von insgesamt 400.000 misshandelten und mehreren „zu Tode geprügelten“ Kindern pro Jahr aus.261 Trotz der sich wandelnden Erziehungsmethoden und der damit einhergehenden veränderten Bewertung von Gewalt gehörte in den frühen 1980er Jahren körperliche Züchtigung, die fließend in Misshandlung übergehen konnte, weiterhin zum Erziehungsalltag der westdeutschen Familien. Das änderte sich erst allmählich im Laufe des Jahrzehnts. So gaben Anfang der 1980er Jahre in einer Befragung von 570 Familien mit neun- bis 14-jährigen Kindern 75 Prozent der Mütter und 62 Prozent der Väter an, ihre Kinder zu ohrfeigen. Eine „Tracht Prügel“ sei bei 50 Prozent der Mütter und 36 Prozent der Väter mindestens einmal vorgekommen. Mit einem Gegenstand wie Stock oder Gürtel hätten zehn Prozent der Mütter bzw. acht Prozent der Väter ihre Kinder geschlagen. Eine Umfrage von 1985 bestätigte diesen Befund. Darin gaben 50 Prozent der Eltern an, dass sie ihr Kind geschlagen bzw. geohrfeigt hätten. 75 Prozent berichteten von einem Klaps bzw. leichtem Schütteln. Zwei Drittel der Befragten hielten dies für eine legitime Erziehungsmethode.262 Diese scheinbar mildere Art der körperlichen Bestrafung stieß somit unter den Befragten nicht uneingeschränkt auf Widerspruch. Anders sah es hingegen bei den harten Prügelstrafen wie das Schlagen mit Fäusten und Gegenständen aus, also bei exzessiven Gewaltanwendungen. Diese lehnte die Mehrzahl der befragten Eltern ab. Dieser Sichtweise schlossen sich auch die Wissenschaftler an. „Wir halten es nicht für gut, wenn Eltern ihre Kinder mit ‚harten Strafen‘ disziplinieren“,263 fasste der Psychologe Klaus A. Schneewind den Standpunkt seines Forscherteams zusammen, welches das familiäre Verhalten Anfang der 1980er Jahre untersuchte. Schneewinds Studie widerlegte zudem die Annahme vom Überhang der männlichen Gewalt bei der Kindererziehung. Denn die Mütter gaben häufiger als die Väter an, ihre Kinder zu schlagen. Dieser Unterschied resultierte ver260 261 262 263

dpa, Gesundheit. Gewalt (1). Vgl. ebenda; Untersuchung: Gewalt gibt es auch in „normalen“ Familien; Nicklas/Ostermann, Opfer, 13; Schneewind, Familie, 136f.; Nave-Herz, Familie heute, 83. Vgl. Schneewind, Eltern, 53f.; ders., Familie, 137f., 141; Wahl, Studien, 67–71, 149. Schneewind, Eltern, 10.

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mutlich aus dem Umstand, dass die Mütter primär für die Erziehung zuständig waren. Schneewind hielt noch einen weiteren wichtigen Befund fest: Aus den soziologischen Indikatoren wie Alter, Bildung und Wohnort ließen sich kaum Aussagen ableiten, mit welcher Wahrscheinlichkeit harte Strafen in den Familien vorkamen. Anders sah es hingegen mit den „psychologischen Variablen“ aus. Hierzu zählten Ehekonflikte, Unzufriedenheit mit dem Leben, konfliktgeladenes Familienklima, Persönlichkeitsmerkmale der Eltern und Erziehungsideale. Vor allem beeinflusste jedoch die individuelle Einschätzung des Kindes durch die Eltern die praktizierte Gewaltanwendung. Erlebten die Eltern ihr Kind als „schwierig“, griffen sie oft auf drastische Strafmaßnahmen zurück.264 In diesen „hoch-punitiven“ Familien reagierten die Kinder ihrerseits auf die Bestrafungen mit Aggressivität und antisozialem Verhalten. Da sie überdies glaubten, ihre Eltern würden sie ablehnen, bildeten die Kinder meist Minderwertigkeitsgefühle aus. Auf Herausforderungen wiederum reagierten sie vielfach mit einer „leistungsmindernden Emotionalität“, wie Wissenschaftler festhielten. Elterliche Gewalt zog somit nicht nur physische Verletzungen, sondern auch psychische Traumata nach sich. Diese begünstigten wiederum langfristig soziale Ungleichheit, da sie die sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen verschlechterten.265 Die Eingrenzung der Gewalt gegen Kinder hätte somit nicht nur einen unmittelbar positiven Effekt auf das Leben des Kindes. So ließe sich auch die Entstehung und Verbreitung sozialer Ungleichheit reduzieren. Auch diese Erkenntnis trug sicherlich dazu bei, stärker in den Privatraum Familie zu intervenieren. Die Gewalt gegen Frauen rückte in Westdeutschland im Laufe der 1970er Jahre durch die Frauen- wie auch die Frauenhausbewegung ins öffentliche Interesse. Insbesondere die Frauenhäuser spielten hierbei eine hervorgehobene Rolle, da nach der Gründung des ersten Frauenhauses als Pilotprojekt 1976 in Berlin sowie nach der zwischen 1978 und 1981 folgenden Gründungswelle die unterschiedlichen Gewaltformen gegen Frauen diskutiert wurden. Die Frauenhäuser selbst erfüllten zwei Funktionen. Sie fungierten als Schutzort vor Misshandlung und gaben den Frauen Hilfestellungen, um die Gewalterfahrung zu verarbeiten und zugleich ihr Selbstwertgefühl wiederzuerlangen.266 Da die Frauen meist über einen längeren Zeitraum misshandelt worden waren, kam beiden Funktionen eine besondere Bedeutung zu. Zwei Drittel der Frauen suchte erst nach mehr als einem Jahr ein Frauenhaus auf, nachdem sie in ihrem privaten und gesellschaftlichen Umfeld keine Hilfe und Unterstützung bekommen hatten. 264 265 266

Vgl. ebenda, 54, 67. Vgl. ebenda, 67. Vgl. Hagemann-White et al., Hilfen, 13; Bergdoll/Namgalies-Treichler, Frauenhaus, 13; Hille/Jaide, Situation, 47; Gerhard, Frauenbewegung, 115; Lenz, Frauen, 285f.; Zellmer, Töchter, 228f.

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Konkreter Auslöser für diesen Entschluss war oft die Erfahrung einer „akuten körperlichen oder seelischen Mißhandlung“.267 Eine weitere Studie der Soziologin Barbara Hille und des Soziologen Walter Jaide am Frauen- und Kinderschutzhaus Hannover zwischen Juni 1981 und Juni 1982 an 112 schutzsuchenden Frauen legte deren Sozialstruktur offen. Zwölf Frauen waren zwischen 16 und 20 Jahre und elf Frauen waren älter als 41 Jahre. Die Mehrzahl fiel damit in die Altersgruppe der 21- bis 40-Jährigen: 55 Frauen waren zwischen 21 und 30 Jahre bzw. 34 Frauen waren zwischen 31 und 40 Jahre alt. Gut ein Drittel bis die Hälfte von ihnen verweilte zwischen einer Nacht und einer Woche, die andere Hälfte bis zu drei Monaten im Frauenhaus. Ungefähr 30 Prozent der Frauen suchten zudem die Häuser mehrmals auf. 63 Prozent der Frauen versorgten entweder ein Kind oder zwei Kinder, von denen 80 Prozent jünger als zehn Jahre waren. Diese Verteilungsrate deckte sich mit dem bundesweiten Durchschnitt, soweit hierüber Informationen aus den Unterlagen von 17 weiteren Frauenhäusern vorlagen. Die Ehemänner waren in der Regel etwas älter als ihre Frauen. Beide stammten meist aus niedrigen sozialen Schichten. So hatten überdurchschnittlich viele Männer entweder die Schule mit einem Hauptschulabschluss beendet oder ihre Berufsausbildung abgebrochen. Gerade bei den Männern fiel überdies auf, dass viele, selbst bei abgeschlossener Berufsausbildung, eine ungelernte Tätigkeit ausübten. Auch der Anteil der Arbeitslosen bzw. Dauerarbeitslosen lag über dem Durchschnitt.268 Im Hinblick auf die Dauer der Gewalthandlungen gegen Frauen stimmen die Befunde der Hannover-Studie mit den Erhebungen zum Berliner Frauenhaus überein. Auch hier waren die Ehefrauen meist über einen langen Zeitraum mit häuslicher Gewalt konfrontiert worden. Die Gewaltformen reichten von Schlägen über das Verrenken oder Brechen von Gliedern bis hin zum Ziehen an den Haaren, Schubsen oder Treten. Bisweilen gehörte auch das Bedrohen mit „Tatwaffen“ zu den regelmäßigen Verhaltensmustern der gewalttätigen Ehemänner. Daneben berichteten die Frauen von psychischen Misshandlungen wie Beschimpfungen, bewusster Verknappung ihres Wirtschaftsgeldes oder Freiheitsberaubung. Dieses Ergebnis deckte sich mit den Erhebungen der Wissenschaftler der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, die im Auftrag des nordrheinwestfälischen Sozialministeriums ein Duisburger Frauenhaus untersuchten. Die Frauen benannten Schläge mit Fäusten, Fußtritte, Vergewaltigungen und Verletzungen mit Messern als regelmäßig vorkommende Arten der Misshandlung. In 55 Prozent der Fälle hätten die Frauen zudem einen Arzt aufsuchen müssen. 267 268

Vgl. Hagemann-White et al., Hilfen, 105. Vgl. Hille/Jaide, Situation, 14–17, 19, 54f. In einer Studie zu Frauenhäusern in ländlichen Regionen zeigte sich ein ähnliches Bild. 53 Prozent der Ehemänner waren zur Zeit der Befragung arbeitslos oder arbeiteten „prinzipiell“ nicht. Vgl. Bergdoll/Namgalies-Treichler, Frauenhaus, 36.

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Noch höher als die physische Gewalt lag der Grad der psychischen Gewalt. So klagten 97 Prozent der Frauen über „seelische Misshandlungen“. Die Frauen sahen sich somit stets mit einer Kombination aus physischer und psychischer Gewalt konfrontiert. Die Auslöser der Gewaltakte lagen laut den Berichten der Frauen bei der Alkoholsucht der Männer, beruflichen Problemen, Geldnot sowie Schulden und reichten bis hin zu allgemeinen Beziehungsproblemen.269 Hille und Jaide werteten noch einen weiteren Befund als auffällig. So wehrte sich eine große Zahl der misshandelten Frauen nicht gegen die Gewaltausbrüche, da sie glaubten, dass Protest generell zwecklos sei. Andere Frauen wiederum meinten, Widerstand ziehe noch schlimmere Misshandlungen nach sich. Gleichzeitig waren sich die meisten Frauen aber schon vor der Eheschließung über das Verhalten ihres Partners bewusst. Sie entschieden sich also bewusst für ihn, obwohl sie von Alkoholproblemen, Jähzornigkeit und Gewalttätigkeit wussten. In den Schilderungen sparten die Frauen, so Hille und Jaide, zudem ihr eigenes Verhalten aus. Beide Wissenschaftler betonten, dass sie diese Problematik in den Gesprächen mit den Frauen weitgehend nicht thematisiert hätten. Sie fürchteten dadurch einen negativen Effekt auf das Vertrauensverhältnis zu den Frauen. Infolgedessen ließ sich nicht nachvollziehen, ob und inwiefern das Verhalten der Frauen an den „Entstehungsgeschichten“ der Misshandlungen beteiligt gewesen war.270 Aus dem abwägenden Befund von Hille und Jaide lassen sich mehrere generelle Schlussfolgerungen über in Frauenhäusern schutzsuchende Frauen ableiten. Wie ihre Männer stammten die Frauen meist aus den niederen sozialen Schichten. In diesem Punkt unterschieden sie sich von der Masse der westdeutschen Familien. Im Hinblick auf Alter und Kinderzahl lagen demgegenüber keine Differenzen vor. Obwohl Frauen durchaus zur Entstehung der Gewalt oder deren Eskalation beigetragen haben könnten, waren die Männer die Träger der Gewalt. Vielfach sahen sie aus ihrer subjektiven Sicht Gewalt als „legitime“ Lösungsmöglichkeit für Familienstreitigkeiten an, ohne dabei Gewalt als Problem zu begreifen. Die Männer wendeten psychische wie auch physische Gewalt gleichermaßen an und nahmen durchaus schwere seelische und körperliche Verletzungen ihrer Ehefrauen in Kauf. Die Frauen wiederum wehrten sich vielfach nicht gegen die Gewaltakte. Gewalt gehörte in den betroffenen Familien zum Alltag. Dies hatte auch gravierende Folgen für die Mutter-Kind-Beziehung, wie Hille und Jaide ebenfalls aufzeigten. So fanden sich in ihrem Sample zwei polare Verhaltensweisen der Mütter. Ein Teil schenkte ihren Kindern schlicht keine Beachtung. Der andere hingegen behütete, überwachte die Kinder regelrecht. Es 269

270

Vgl. Hille/Jaide, Situation, 22, 68; dpa, Gesundheit. Gewalt (2); Untersuchung: Gewalt gibt es auch in „normalen“ Familien; Simm, Gewalt, 11, 43. Für einen ähnlichen Befund vgl. u. a. Metz-Göckel/Müller, Mann, 31f. Vgl. Hille/Jaide, Situation, 23.

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existierte somit eine starke Mutter-Kind-Beziehung, die zu zärtlichem und verwöhnendem Verhalten genauso führen konnte wie zu heftigen und aggressiven Ausbrüchen. Gerade dann gehörten Prügelstrafen zum Verhaltensrepertoire der Mütter. In zahlreichen Fällen behandelten die Mütter ihre Kinder darüber hinaus wie einen erwachsenen Gesprächspartner. Das wiederum überlastete die Kinder, da sie nicht wussten, wie sie mit den geschilderten Problemen ihrer Mutter umgehen sollten.271 Folglich zog die Gewalt gegen Frauen auch für die Kinder gravierende Folgen nach sich, wie auch Schneewinds Studie zutage gefördert hatte. Sie fühlten sich überfordert, konnten die Erfahrungen emotional kaum verarbeiten. Zugleich erfuhren sie Gewalt als etwas „Normales“. Damit erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie in ihrer späteren Beziehung zu einem Partner oder zu Kindern ebenfalls auf Gewalt als Lösungsmodell für Konflikte zurückgriffen. Wie hoch aber die Zahl der betroffenen Frauen und Kinder lag, galt in den späten 1970er Jahren als unbekannte Größe. Das Berliner Frauenhaus betreute zunächst 30 Frauen mit 25 bis 30 Kindern. Bis im Herbst 1978 nahm die Zahl der betreuten Frauen und Kinder massiv zu. Es wurden zu diesem Zeitpunkt im Berliner Frauenhaus 160 schutzsuchende Personen gezählt, womit es bereits als überfüllt galt. Dieses Problem löste die Gründung eines zweiten Frauenhauses im September 1979. Ende 1980 wohnten schließlich 40 bis 45 Frauen mit 35 bis 40 Kindern im ersten Frauenhaus. Über den Zeitraum vom 1. Oktober 1976 bis zum 31. Dezember 1979 fanden insgesamt 2.500 Frauen mit ebenso vielen Kindern Schutz im Berliner Modellprojekt Frauenhaus. Zu diesem Zeitpunkt existierten in Westdeutschland bereits 85 solcher Häuser mit ca. 2.500 hilfesuchenden Frauen. Bis Ende der 1980er Jahre stieg ihre Zahl weiter auf 200 Häuser mit geschätzten 25.000 betreuten Frauen an. Obwohl sich somit sicherlich nicht das quantitative Ausmaß der Gewaltakte gegen Frauen bestimmen lässt, belegt dieser Trend gleichwohl, dass eine wachsende Zahl von Frauen das Angebot an Schutz und Hilfe wahrnahm. Die reale Zahl der von Gewalt betroffenen Frauen muss aber selbst für Berlin wesentlich höher als die 2.500 Frauen angesetzt werden.272 Wie bei der Gewalt gegen Kinder ließ sich das Ausmaß der Gewalthandlungen gegen Frauen nicht exakt ermitteln. Die ermittelte Zahl sei lediglich die „Spitze des Eisbergs“,273 lautete auch hier die gängige Einschätzung. Zudem polarisierte 271 272

273

Vgl. ebenda, 26f. Vgl. Hagemann-White et al., Hilfen, 17, 197f.; Gerste, Augen, 79. Im Spiegel wurden sogar weitaus höhere Zahlen genannt. 1977 hätten dort schon 615 meist schwerverletzte Frauen mit 730 Kindern Schutz gesucht, berichtete ein Artikel 1978. Vermutlich zählte der Artikel alle über das Jahr hinweg betreute Frauen, wohingegen die Frauenhaus-Studie lediglich die zu einem bestimmten Zeitpunkt betreute Zahl benannte. Vgl. Sie schlug mich, ohne mich anzusehen, 141. Vgl. Hagemann-White et al., Hilfen, 17f.

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sich die Debatte um Gewalt gegen Frauen im Unterschied zur Debatte um Gewalt gegen Kinder. Während die Linke die Familie als den Hort „millionenfacher ‚systemimmanenter Gewalt‘ gegen Frauen“274 ansah, erwiderten die Konservativen, dass dieses Problem von den Medien lediglich „hochgespielt“ werde.275 Allerdings ist diese Sichtweise insofern fraglich, als mehrere andere Studien den Befund der Berliner Frauenhaus-Studie bestätigen. Schätzungen gingen gegen Mitte der 1980er Jahre sogar von 100.000 bis vier Millionen misshandelten Ehefrauen aus. Das entsprach nach letzterem Schätzwert gut einem Drittel aller Ehefrauen.276 Die Debatte um die Gewalt gegen Frauen änderte in den 1980er Jahren darüber hinaus ihre Blickrichtung. Nun rückte das Thema Vergewaltigung in der Ehe in den Mittelpunkt. In den 1960er Jahren hatte diesbezüglich in Westdeutschland noch kein Problembewusstsein existiert. Exemplarisch steht hierfür ein Urteil des Bundesgerichtshofs von 1966. Die Richter hatten erklärt, dass die Frau nicht nur eine regelmäßige „Pflicht zur Geschlechtsgemeinschaft“ habe. Sie dürfe überdies „die Beiwohnung“ nicht „teilnahmslos über sich ergehen lassen“.277 Schließlich müssten in einer ehelichen Gemeinschaft „Zuneigung und Opferbereitschaft“ gezeigt werden. „Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen“,278 sei demgegenüber unzulässig, lautete der Urteilsspruch. Als die Debatte um das Thema Vergewaltigung in der Ehe in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre hochkochte, erschien zeitgenössischen Beobachterinnen wie den Historikerinnen Brigitte Löhr und Rita Meyhöfer eine solche Urteilsbegründung aus der Zeit gefallen. Schließlich lasse sich so begründen, dass es in einer ehelichen Gemeinschaft überhaupt keine Vergewaltigung geben könne, kritisierten Löhr und Meyhöfer.279 In den Kontroversen um das Thema Vergewaltigung in der Ehe blieb sie dennoch präsent. „Sich mit Gewalt zu nehmen, was die Frauen ihnen nicht freiwillig geben möchten“,280 war jedoch nicht nur vonseiten des Bundesgerichtshofs rechtlich nicht bestraft worden. Noch 1977 äußerten gut zwei Drittel der Männer in einer Umfrage des Magazins Stern Verständnis für dieses Verhalten. Gleichzeitig regte sich bei immerhin 56 Prozent Unbehagen, wenngleich sie hierfür nicht moralische Bedenken als Grund angaben. Stattdessen berichteten sie, dass ihnen erzwungener Geschlechtsverkehr „keinen Spaß“281 mache. Gegen Mitte 274 275 276 277 278 279 280 281

Archiv des IfZ ED 898, Bd. 326 Bericht zur Situation der Frauenhäuser in Bayern, ohne Ort, [29. November 1984]. Vgl. ebenda. Vgl. Neubauer/Steinbrecher/Drescher-Aldendorffet, Gewalt, 13. BGH zit. n.: Die älteren Herren tun sich hart, 22. BGH Karlsruhe, AZ: IV ZR 239/65, 2. November 1966 zit. n.: Löhr/Meyhöfer, Wandel, 606. Vgl. Die älteren Herren tun sich hart, 22; Löhr/Meyhöfer, Wandel, 606. FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Ehe ’77. Für den Mann noch attraktiv?, in: Stern (1977). Ebenda.

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der 1980er Jahre begannen jedoch auch Männer umzudenken. In einer Umfrage sprach sich nun die große Mehrheit der Männer dagegen aus, dass Frauen zum Geschlechtsverkehr gezwungen werden sollten. Gleichzeitig sahen 34 Prozent den verweigerten Beischlaf weiterhin als potenziellen Auslöser für einen Gewaltausbruch an. Für diese Gruppe von Befragten galt folglich nicht die Vergewaltigung in der Ehe als problematisch, sondern vielmehr die Verweigerung des Beischlafs. Bei gut einem Drittel der Männer hatte demnach noch kein Umdenkprozess eingesetzt.282 Infolgedessen blieb Vergewaltigung in der Ehe über die Mitte der 1980er Jahre hinaus ein ungelöstes soziales Problem und eine rechtliche Blindstelle. Parallel begann sich, im Zuge der Frauenhaus-Debatte, öffentlicher Widerstand gegen diese Position zu regen, als immer mehr Details über Vergewaltigungen in der Ehe an die Öffentlichkeit drangen. In der Studie Frauenhaus im ländlichen Raum benannten 36 Prozent der Frauen „Eifersucht“ oder „Beischlafverweigerung“ als Gründe für die Misshandlung ihres Mannes. Hinter Alkoholmissbrauch waren diese damit die häufigsten Auslöser von häuslicher Gewalt.283 Zudem handelte es sich um ein weitverbreitetes und oft wiederkehrendes Phänomen, da 46 Prozent der meist verheirateten Frauen erklärten, sie seien mindestens einmal in der Ehe vergewaltigt worden. Wir vermuten, daß die tatsächliche Zahl der Vergewaltigungen bei den von uns befragten Frauen höher liegt, da viele Frauen erzwungenen ehelichen Beischlaf nicht unbedingt immer als Vergewaltigung sehen, sondern als ihre eheliche Pflicht ansehen,284

erklärten zudem die Verfasserinnen der Frauenhaus-Studie im ländlichen Raum, die Pädagoginnen Karin Bergdoll und Christel Namgalies-Treichler 1987. Bei Vergewaltigung müsse somit ebenfalls eine deutlich höhere Dunkelziffer zugrunde gelegt werden. Schätzungen gingen in Westdeutschland von insgesamt 2,5 Millionen vergewaltigten Ehefrauen aus. Andererseits verweist diese Einschätzung auch darauf, wie sehr die Frauen selbst einer Vorstellung verhaftet waren, wonach Beischlaf in der Ehe als „normale Pflicht“ der Frau angesehen wurde. Hier hatte sich somit unter den Betroffenen selbst kein Umdenkprozess vollzogen, wie Löhr und Meyhöfer reflektierten. Egal wie die Frauen aber die Vergewaltigung rückblickend beurteilten, während des Gewaltakts selbst empfanden sie denselben als maximale Erniedrigung und Demütigung. Vergewaltigung stellte somit die höchste Form der physischen und psychischen Misshandlung dar.285

282 283 284 285

Vgl. Metz-Göckel/Müller, Mann, 125f. Vgl. Bergdoll/Namgalies-Treichler, Frauenhaus, 90. Ähnlich bei Metz-Göckel/Müller, Mann, 125. Bergdoll/Namgalies-Treichler, Frauenhaus, 94. Vgl. ebenda, 94ff.

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Unter Strafe stand Vergewaltigung in der Ehe aber dennoch nicht. Vergewaltigung wurde in Westdeutschland zwar mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren geahndet, doch blieb die Vergewaltigung in der Ehe hiervon bis 1997 ausgenommen. Im juristischen Sprachgebrauch handelte es sich nicht um ein Verbrechen, sondern lediglich um ein Vergehen, das als Nötigung und mitunter auch als Körperverletzung gewertet werden konnte. Infolge dieser gesetzlichen Bestimmungen und der zeitgleich dokumentierten weitverbreiteten Gewalt gegen Ehefrauen entbrannte in den 1980er Jahre eine heftige politische Debatte um die Frage, wie dieses soziale Problem rechtlich eingehengt werden könne. 1983 forderte die Bundestagsabgeordnete der Grünen Waltraud Schoppe den gleichen rechtlichen Schutz für verheiratete und unverheiratete Frauen. Dieser Position widersprach in der Debatte der FDP-Abgeordnete Detlef Kleinert, was vornehmlich die männlichen Abgeordneten seiner Partei wie auch der Union wohlwollend aufnahmen. Selbst nachdem 1986 eine Anhörung im Rechtsausschuss den Umfang der Gewalttaten gegen Frauen offengelegt hatte – also im Kern die Ergebnisse der Frauenhaus-Studien und anderer Arbeiten zur häuslichen Gewalt bestätigt hatte –, änderten die männlichen Bundestagsabgeordneten von CDU, CSU und FDP ihre Position nicht.286 Innerhalb der Regierungskoalition zeigten sich jedoch 1987 und 1988 durchaus Risse. Neben der Familienministerin Rita Süssmuth und ihrem Vorgänger Heiner Geißler sprachen sich die CSU-Politikerin Ursula Männle sowie die FDPPolitikerin Irmgard Adam-Schwaetzer und der SPD-Abgeordnete Hans de With für ein strengeres Gesetz aus. Die große Mehrheit der Union, auch zahlreiche Frauen, lehnte es hingegen genauso ab wie die FDP um den Justizminister Hans Engelhard und die Abgeordneten Detlef Kleinert, Hildegard Hamm-Brücher und Burkhard Hirsch. Der Gesetzgeber solle „nicht in die Ehe reinfummeln“,287 erklärte Hirsch. Ähnlich argumentierte der Chef der Bayerischen Staatskanzlei Edmund Stoiber: „Das Thema ‚Vergewaltigung in der Ehe‘ ist künstlich hochgezogen worden. Es bedarf dafür eigentlich keines eigenen Straftatbestandes.“288 Da sich innerhalb der Regierungskoalition jedoch die unterschiedlichen Positionen nicht annäherten, erfolgte bis 1997 keine Rechtsänderung. Somit blieb in diesem Punkt die „schwerste Form der Benachteiligung von Frauen“,289 so die Studie des Familienministeriums zu den Frauen in der Bundesrepublik Deutschland 1989, weiterhin bestehen, wenngleich einige Politiker, aber auch zahlreiche Bürgerinnen und Bürger in diesem Punkt eine Änderung einforderten.290 286

287 288 289 290

Vgl. Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht. 10. Wahlperiode. 5. Sitzung, 5. Mai 1983, in: http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/10/10005.pdf (letzter Zugriff am: 12.01.2016), 249C, 251AB; Gerste, Augen; Schäffler, Paarbeziehungen, 103. Burkhard Hirsch zit. n.: Die älteren Herren tun sich hart, 23. Edmund Stoiber zit. n.: Thema künstlich hochgezogen. Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Hg.), Frauen, 69. Vgl. Die älteren Herren tun sich hart, 22f.; Thema künstlich hochgezogen; Gerste, Augen.

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7.6 Zwischenfazit Über die politischen Zäsuren 1919, 1933 und 1949 hinweg behielt das Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs – trotz des Großdeutschen Ehegesetzes 1938 – im Kern seine Gültigkeit. Der Bruch mit der Rechtstradition erfolgte zunächst in der DDR, als 1965 das Familiengesetzbuch eingeführt wurde. Darin wurde die „sozialistische Familie“ als ein Kollektiv gesehen, das sich den Anforderungen des Sozialismus unterordne. Familie, Gesellschaft und Staat wären damit aufeinander bezogen. Zum Beispiel sollte die Familie eine zentrale Funktion übernehmen und die Kinder zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ erziehen. Ab den frühen 1970er Jahren stand dann ihre Funktion der Zeugung von Nachkommen stärker im Vordergrund, was die pronatalistische Familienpolitik der 1970er Jahre zusätzlich förderte. Obwohl die „sozialistische Familie“ als Gegenpol zur bürgerlichen Familie konzipiert worden war, blieb in den ostdeutschen Familien die traditionelle geschlechtsspezifische Aufgabenverteilung bestehen, zumal das FGB dies auch rechtlich fixierte. Zudem galt weiterhin die auf Lebenszeit geschlossene Ehe als Markstein. Parallel diskutierten in Westdeutschland Politiker über Reformen bei den familienrechtlichen Bestimmungen. Diese mündeten in der Reform des Nichtehelichenrechts 1969, der Reform des Familien- und Scheidungsrechts 1976 und der Reform des Sorgerechts 1979. In den Debatten zeigte sich, dass Familie, Gesellschaft und Staat wie im Osten in einer Austauschbeziehung standen. Allerdings unterschieden sich beide Teile Deutschlands signifikant bei der Frage, wie dieses Verhältnis auszugestalten sei. So stärkten die westdeutschen Reformgesetze die Individualrechte der Familienmitglieder. Das verweist auf eine Schutzfunktion, die sich nicht nur beim Familienrecht, sondern auch beim Sorgerecht und den Debatten um die Gewalt in der Familie zeigte. Um diesen Schutz zu gewährleisten, war es durchaus legitim, in den Binnenraum der Familie zu intervenieren. Das darf jedoch nicht mit dem Interventionsrecht in Ostdeutschland gleichgesetzt werden, das wesentlich umfassender war und die Funktionalität der Familie für den Sozialismus gewährleisten sollte. Zudem firmierte in der Bundesrepublik Partnerschaft als übergeordnete Leitkategorie. Dieses Ideal prägte ebenfalls die familienpolitischen Entscheidungen der 1970er Jahre, die sich insbesondere den Zielen „Chancengleichheit“, „Gleichberechtigung“ und „Emanzipation“ verpflichtet sahen. Diesen Richtungswechsel symbolisierten unter anderem die Abschaffung der „Hausfrauenehe“ und die Einführung des Zerrüttungsprinzips bei der Ehescheidung. Während im Westen soziale Praktiken, wie nichteheliche Geburten und Scheidungen, die Debatten um Gesetzesreformen initiierten, wollte die SED mit dem FGB sozialistische Werte setzen, die die Ostdeutschen ohnehin teilen würden, so die Lesart des Regimes. Zugleich kam den Gesetzen eine Erziehungsfunktion zu,

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da das FGB die Bürgerinnen und Bürger auch dazu anhielt, sich an die gesetzten Ideale anzupassen. Allerdings lief diese Erziehungsfunktion ins Leere, da sich den ostdeutschen Bürgerinnen und Bürgern individuelle Handlungsspielräume eröffneten, wie das temporäre Ausscheiden der Mütter aus dem Berufsleben, auf das anschließend detailliert eingegangen wird. Aber auch im Westen wollte die sozialliberale Koalition mit den Reformgesetzen, insbesondere mit der Leitbildfunktion des Familien- und Sorgerechts, Werte setzen. Schließlich hatte stets immer nur ein Teil der Bevölkerung sein Verhalten gewandelt und praktizierte die „neuen“, „modernen“ Ideale im Alltag, wie eine partnerschaftliche Rollenverteilung. Der andere Teil der Gesellschaft – der durchaus auch einen Großteil der Bevölkerung ausmachen konnte – vertrat hingegen andere, durchaus auch vielfältige und unterschiedliche Ideale. Eine Wertepluralität war gerade in der Bundesrepublik Deutschland für die 1970er Jahre typisch – und in den Aushandlungsprozessen wurde auch darum gerungen, diesem Pluralismus gesetzlich gerecht zu werden. Die Gesetze firmierten damit durchaus als Gradmesser für einen gesellschaftlichen Wandel, bildeten zugleich aber auch die konfliktbehafteten, pluralen Aushandlungsprozesse Westdeutschlands ab. Insofern dürfen die Gesetze nicht als eine linear progressive nachträgliche Angleichung der Rechtslage an die sozialen Praktiken verstanden werden. In der DDR waren hingegen die öffentlichen Diskussionen staatlich gelenkt, wobei insbesondere während der 1950er Jahre in den Kontroversen um den Entwurf das Familiengesetzbuchs noch größere Handlungsspielräume bestanden hatten als Mitte der 1960er Jahre. Gemeinsam war wiederum, dass in beiden Teilen Deutschlands anhand des Familienrechts und der Familienpolitik gesellschaftliche Grundsatzfragen verhandelt wurden. Es ging also stets um eine normative Deutung des Zusammenlebens. Das erklärt auch, warum die Debatten in der DDR der 1950er und in der Bundesrepublik zwischen den 1950er und frühen 1980er Jahren mit einer solchen Vehemenz geführt wurden.

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8. Rekonfiguration der Ideale „Familie“ und „Partnerschaft“ zwischen den 1970er und 1980er Jahren 8.1 Von Ehe und Familie zu familialen Lebensformen Während der Debatten um die Gesetzesreformen brachten die Vertreter der katholischen und der protestantischen Kirche wie auch Unionspolitiker zahlreiche Einwände gegen die Gesetzesänderungen zur Sprache, polemisierten dabei oft gegen die Reformvorschläge, da sie quer zu ihren Idealen lagen. Gleichwohl wandelten sich ihre Positionen hinsichtlich Ehe und Familie zwischen den späten 1960er und 1980er Jahren durchaus, wenngleich dies in einem engen Rahmen geschah. Exemplarisch kann dies am Beispiel der katholischen Kirche bestimmt werden. Einige katholische Sozialethiker wie Joseph Höffner vertraten ein stärker personales Eheverständnis, wonach die Beziehung auf der Liebe beider Ehepartner zueinander basiere. Diese Sicht auf Ehe und Familie war bereits Ende der 1920er Jahre innerhalb des Katholizismus diskutiert worden, setzte sich innerhalb der Amtskirche aber endgültig erst im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil (11. Oktober 1962 bis 8. Dezember 1965) und die dabei erarbeitete Pastoralkonstitution Gaudium et spes durch. Insofern handele es sich bei dieser neuen Sichtweise auf Ehe und Familie innerhalb des Katholizismus nicht um eine Neuausrichtung. Vielmehr sei ein zuvor begonnener partieller Wandlungsprozess zum Abschluss gekommen, wie der Historiker Lukas RölliAlkemper argumentiert. Andererseits wurden die Geschlechterrollen und damit die Aufgabenverteilung innerhalb der Familie genauso wenig wie die prinzipielle Unauflöslichkeit der Ehe zur Disposition gestellt. An diesen zwei Grundpfeilern ihres Familienideals hielt die katholische Kirche fest.1 In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre entfernte sich jedoch die Mehrzahl der gläubigen Katholiken immer weiter von der Position der Amtskirche, wie die Debatten um das päpstliche Lehrschreiben Humanae Vitae vom 25. Juli 1968, die sogenannte „Pillenenzyklika“, offenlegten. Erstmals traten die Konflikte innerhalb des deutschen Katholizismus offen zutage, als sich die jüngeren Teilnehmer auf dem 82. Katholikentag in Essen 1968 kritisch mit Humanae Vitae auseinandersetzten und sich deutlich davon distanzierten. Sie vertraten nicht nur mehrheitlich ein personales Ehe- und Familienverständnis, das durchaus auch an die Lehrmeinung anschlussfähig war. Sie stuften überdies die von der Kurie 1

Vgl. Rölli-Alkemper, Familie, 157–170, 615f.; Gabriel, Aufbruch, 529; Großbölting, Himmel, 114, 150–159.

https://doi.org/10.1515/9783110651010-008

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im Lehrschreiben vertretene ablehnende Position zur Empfängnisverhütung als nicht zeitgemäß ein und brachten ihre Position auf dem „Protestkatholikentag“2 1968 in offenen Kontroversen zum Ausdruck.3 In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre gab es somit durchaus Anzeichen, dass das Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie selbst im Katholizismus einen Teil seiner Leitbildfunktion eingebüßt hatte.4 „Nicht zuletzt unter Katholiken verläuft die Diskussion über Ehe und Familie zum Teil kontrovers. Oftmals kann der Eindruck entstehen, daß auch sie mit den institutionellen Aspekten von Ehe und Familie nichts mehr anzufangen wissen“5 , rekapitulierte das ZdK über die sich wandelnden Einstellungen der Katholiken und reflektierte zugleich die veränderte Lehrmeinung in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Familie wurde verstärkt unter personalen Gesichtspunkten und als individuell ausgestaltbares Beziehungsgefüge gesehen. Den Öffnungsprozess des ZdK zeigt überdies seine Erklärung zu „Ehe und Familie im Spannungsfeld von personaler Partnerschaft und Institution“6 vom Mai 1979 auf. Das ZdK erkannte damit die doppelte Perspektive auf Familie – Familie als Institution und als soziales Beziehungsgefüge – zumindest rhetorisch an.7 Zudem waren die konservativen Beobachter der 1970er und 1980er Jahre verunsichert, da sie glaubten, in einer Zeit des radikalen Umbruchs zu leben. Parallel weitete die SPD zwischen den späten 1960er und den 1970er Jahren explizit ihr Familienverständnis aus und inkludierte verschiedene Familienformen, wie dies bereits der Entwurf alternativer Leit- und Grundsätze zur Familienpolitik Anfang der 1970er Jahre aufzeigte. Darin wurden auch Alleinerziehende und ihre Kinder als Familien verstanden.8 Die endgültige Festlegung erfolgte 1975 im zweiten Entwurf der Familienpolitik der SPD. Der familienpolitische Ausschuss der SPD definierte Familie als „auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften eines oder mehrerer Erwachsener mit einem oder mehreren Kindern“.9 Bereits zu die2 3 4 5

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Großbölting, Familie, 239. Vgl. Großbölting, Himmel, 110–113; Gabriel, Aufbruch, 529, 537f. Für die Bedeutung der Familie in den 1960er und 1970er Jahren vgl. Hodenberg, Achtundsechzig, 65ff. Archiv des ZdK 2202 Schachtel 8, Übersicht über einige zentrale Fragestellungen zu Aufgabe, Stellung, Bedeutung und Wert von Ehe und Familie, die für eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit nichtkatholischen Auffassungen beantwortet werden müssen, ohne Ort, [14. Februar 1977], 2. Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Ehe, 35. Vgl. ebenda, 35f. Vgl. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 5151, Entwurf alternativer Leit- und Grundsätze zur Familienpolitik, ohne Ort, [März 1974], 1. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Leitsätze, 5. Zur Rezeption durch die katholische Kirche vgl. AdsD, SPD-PV – ASF – 7689, Niederschrift stenographisch festgehaltener Stichwörter Heinz Rapp, Familienpolitisches Gespräch zwischen Vertretern der katholischen Kirche und der SPD am 22. Juni 1977 in Bonn, 1.

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sem Zeitpunkt war für die SPD, aber auch die FDP, die Eltern-Kind-Beziehung und nicht mehr die Ehe das konstitutive Merkmal einer Familie. Gleichwohl blieb die Ehe ein zentraler Bezugsrahmen. „Die SPD bejaht die Ehe und die Familie und sieht in ihnen erstrebenswerte Formen des Zusammenlebens“,10 legte der Entwurf Leitsätze und Grundsätze 1975 offen. Die Sozialdemokraten wollten mit diesen Äußerungen verdeutlichen, dass sie nicht die Institutionen Ehe und Familie abschaffen wollten. Vielmehr gehe es ihnen darum, die soziale Diskriminierung Alleinerziehender und ihrer Kinder mit einem erweiterten Familienbegriff abzubauen. Neben den Reformgesetzen diente also auch eine Verschiebung des Sagbaren dazu, soziale Barrieren zu beseitigen.11 Sozialwissenschaftler vertraten ebenfalls einen erweiterten Familienbegriff, wie die mit dem Zweiten Familienbericht von 1975 betraute Sachverständigenkommission. Die Kommission definierte die Familie ebenfalls über die Eltern-Kind-Beziehung und betonte explizit, dass sowohl „vollständige“ wie auch „unvollständige“ Familien dieses Kriterium erfüllten. Diese Unterscheidung zeigt zweierlei. Einerseits vertraten die Kommissionsmitglieder einen weitgefassten Familienbegriff. Anderseits blieben sie dem Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie insofern verhaftet, als sie auf die wertenden Begriffe „vollständig“ und „unvollständig“ zurückgriffen.12 Diese Erweiterung des Familienbegriffs kritisierten die katholische Kirche, katholische Laien und CDU-Politiker. „Es gibt die Tendenz, beliebige Formen des Zusammenlebens von Mann und Frau mit oder ohne Kinder als Familie zu bezeichnen“,13 vermerkte 1974 ein Memorandum des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Der Vorsitzende der Union, Helmut Kohl, prognostizierte im Oktober 1974 auf dem familienpolitischen Kongress seiner Partei, die Familie werde auch zukünftig Bestand haben, „wenn auch des öfteren verdeckt und ver10 11

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Ebenda, 5. Siehe auch Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Grundsatzfragen, 3. Vgl. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 5151, Entwurf alternativer Leit- und Grundsätze zur Familienpolitik, ohne Ort, [März 1974], 2; Eilers, Einleitung, 3; Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Leitsätze, 5; Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Die Situation des Kindes in der Familie, 8; ADL A 12-205, Stenographische Niederschrift der Sitzung des Bundeshauptausschusses der FDP, Kiel, 31. März 1979, Bl. 30. Vgl. Bericht der Sachverständigenkommission, Zweiter Familienbericht, 17. Für eine Zusammenfassung vgl. Jakob, Familienbilder, 285–294. Archiv des ZdK 3214 Schachtel 1, Paul Becher, Die Situation von Ehe und Familie in Gesellschaft, Politik und Recht. Analyse, Beurteilung und Folgerungen für die kirchliche Arbeit, Bonn, 24. Juli 1974, Bl. 91–114, hier Bl. 95. Das ZdK griff dieses Argument 1980 erneut auf. Vgl. Archiv des ZdK 2306 Schachtel 14, Josef Stingl, Bericht über den Familienpolitischen Kongreß 23.–25. Oktober 1980 für die Vollversammlung des ZdK am 14. November 1980, Bonn-Bad Godesberg, 14. November 1980, 3. Für Details zum Kongress 1980 vgl. Berichte und Dokumente des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Heft 42 (1980). Für Details zum Kongress 1974 vgl. Berichte und Dokumente des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Heft 22 (1974).

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steckt in nicht legalisierten Formen“.14 Beide Beobachtungen hielten nicht nur eine gesellschaftliche Veränderung fest. Vielmehr beinhalteten sie eine normative Wertung, womit eine ablehnende Haltung gegenüber einem weitgefassten Familienbegriff ausgedrückt wurde. Um zudem Klarheit über die Position der SPD zu bekommen, trafen sich Vertreter der katholischen Kirche im Sommer 1977 mit SPD-Politikern. Der Mitarbeiter des Katholischen Büros Bonn, Leopold Turowski, warf die Frage auf, ob die Familiendefinition der SPD nicht so weit gefasst sei, dass im „Extremfall“ auch homosexuelle Paare hierunter fallen würden.15 Ohne explizit auf den angesprochenen Fall einzugehen, strich die Vorsitzende des Ausschusses für Familienpolitik der SPD Elfriede Eilers heraus, dass die SPD primär alleinerziehende Mütter im Blick gehabt habe. Darüber hinaus würden unter diesen Familienbegriff allerdings auch „Wohngemeinschaften“ fallen. Die „‚nichteheliche‘ Institution“ sei jedoch, so der stellvertretende SPD-Vorsitzende Hans Koschnick, ein „Grenzfall“.16 Die SPD wählte somit zwar einen Familienbegriff, der neben der traditionellen christlich-bürgerlichen Kernfamilie auch Alleinerziehende und nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern umfasste. Doch im Mittelpunkt stand letztere Form des Zusammenlebens nicht.17 Diese feine Unterscheidung griff allerdings Turowski in dem Gespräch mit der SPD nicht auf. Vielmehr fragte er, ob die Unterstützungen für Alleinerziehende aus dem „Grund Familie heraus geschehen“18 müsse. Der Jurist Johannes Niemeyer und der ehemalige Leiter des Katholischen Büros Bonn, Bischof Wilhelm Wöste, pflichteten ihrem Kollegen Turowski bei. Mit der Gleichsetzung von Ehe mit der „Mutter-Kind-Beziehung“ gehe die im Grundgesetz angelegte „Privilegierung der Ehe“19 verloren, betonte Wöste. Diese Stellungnahme deckt sich mit Joseph Kardinal Höffners Ausführungen Anfang des Jahres 1974. Er hatte damals eindrücklich gewarnt: Wenn „jedes irgendwie geartete Zusammenleben zwischen Mann und Frau als ‚Ehe‘ bezeichnet werde, werde ein solcher Ehebegriff unsere Gesellschaftsordnung an einem sehr empfindlichen Punkt treffen“.20 Erneut zeigt sich in dieser Auseinandersetzung

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Kohl, Familie, 5. Vgl. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 7689, Niederschrift stenographisch festgehaltener Stichwörter des familienpolitischen Gesprächs zwischen Vertretern der katholischen Kirche und der SPD am 22. Juni 1977 in Bonn, 1. Ebenda, 9. Vgl. ebenda, 1ff., 8f.; Kuller, Familienpolitik, 319. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 7689, Niederschrift stenographisch festgehaltener Stichwörter des familienpolitischen Gesprächs zwischen Vertretern der katholischen Kirche und der SPD am 22. Juni 1977 in Bonn, 3. Ebenda, 11. Höffner kritisiert Eherechtsreform.

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die statische Position der katholischen Kirche. Aus ihrer Perspektive blieb das Sakrament der Ehe das Kernelement einer Familie.21 In diesem Punkt lag eine wichtige Überschneidung mit der Position der evangelischen Kirche vor. Im protestantischen Glauben fehlte zwar der sakramentale Charakter der Ehe. Doch auch hier galt die Ehe als integraler Teil der Rechtsordnung, weshalb die EKD Ehemodelle basierend auf einem „zeitlich begrenzten Vertrag“ genauso ablehnte wie die sogenannte „unverbindliche Lebensgemeinschaft“ als Alternative zur traditionellen Ehe.22 Dass solche Lebensformen innerhalb der Gesellschaft diskutiert wurden, erhöhte in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre den Handlungsdruck auf die evangelische genauso wie auf die katholische Kirche deutlich. Der Rat der EKD setzte den Ausschuss Die Frau in Familie, Kirche und Gesellschaft ein, um auf diesen wahrgenommenen Konflikt zwischen sozialer Praxis und christlichem Glauben zu reagieren. Im Unterschied zur katholischen Kirche argumentierte die EKD jedoch, dass die traditionelle christlich-bürgerliche Kernfamilie nicht notwendigerweise die „einzig normale Form des menschlichen Zusammenlebens“ sei. Damit erfuhren Alleinerziehende und ihre Kinder eine soziale Aufwertung, wenngleich sie weiterhin nicht als „Familie“ galten.23 Auch die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen (EAF) vertrat in ihrem Familienpolitischen Programm 1980 diese Position. Während zwar weiterhin die Ehe die „Grundlage der Familie“ darstellte, stand für die Aktionsgemeinschaft außer Frage, dass auch „andere Lebensgemeinschaften“24 mit Kindern unterstützt werden müssten. Die katholische Kirche hingegen rückte nicht von ihrer Position ab, wie eine Auseinandersetzung zwischen der FDP und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken 1980 belegt. „Als Familie gelten ein oder mehrere Sorgeberechtigte mit einem oder mehreren Kindern“,25 erklärte der Generalsekretär der FDP, Günter Verheugen, in einem Schreiben an das ZdK. Eine Ehe sei demnach „keine grundsätzliche Voraussetzung“ mehr für eine Familie, führte Verheugen weiter aus. Der Moraltheologe Franz Böckle warf der FDP in diesem Zusammenhang vor, sie stehe für „einen Ausfall von Wertbewußtsein“,26 der die Grundfeste der

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Vgl. ebenda; AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 6. WP 1593, Kardinal Joseph Höffner, „Lage der Kirche in Deutschland“, in: SPD-Pressedienst, Jg. 26, Nr. 9, 14. Januar 1971, 2. Vgl. ACDP 01-176-001/1, Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Ehe und Ehescheidung vom 16. September 1977, 1. Vgl. EZA 2/11499, Thesen für das Hearing des EKD-Ausschusses „Die Frau in Familie, Kirche und Gesellschaft“ am 21./22. Oktober 1977 in Stolberg/Aachen. Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen, Aufgaben, 4. Archiv des ZdK 2202 Schachtel 8, Günter Verheugen, Bonn 19. August 1980, 1. Archiv des ZdK 2306 Schachtel 14, Josef Stingl, Bericht über den Familienpolitischen Kongreß 23.–25. Oktober 1980 für die Vollversammlung, Bonn-Bad Godesberg, 14. November 1980, 3.

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Gesellschaft erschüttere. Ein erweitertes Verständnis von Familie stieß somit innerhalb des ZdK auf ebenso vehementen Widerspruch wie in der Bundestagsfraktion der Union. Beide betonten immer wieder, dass so die besondere Bedeutung der Ehe als soziale Institution verloren gehe. Insofern hatten sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre weder die Position der Laienkatholiken noch der Amtskirche verschoben,27 wohingegen für die sozialliberale Koalition die Eltern-Kind-Beziehung das konstitutive Merkmal einer Familie war.28 Alle beteiligten Politiker, Kirchenvertreter, Juristen und Sozialwissenschaftler verhandelten anhand der Familie gesellschaftliche Grundsatzfragen, die bisweilen stark mit normativen Argumentationsmustern aufgeladen waren. Es ging zwar vorrangig um die Fragen nach der Funktion, Bedeutung und Zukunft „der“ Familie. Gleichwohl stand dahinter die grundlegende Frage, wie sich zukünftig in Westdeutschland Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft zueinander verhalten sollten. Solche Glaubensfragen erfassten in den 1970er Jahren selbst die Wissenschaft, wobei einige ihrer Vertreter durchaus rationale Argumente zugunsten normativer Deutungen aufgaben. „Denn daß es mit der Familie nicht zum Besten steht, ist schon längst kein Geheimnis mehr“,29 erklärte die Soziologin Ute Leitner 1976. Im November 1978 veranstaltete der WDR eine Podiumsdiskussion zum Thema „Ist die Familie am Ende“, an der auch die Familienministerin Antje Huber teilnahm. Die Verfallsdiagnose hielt sich auch im folgenden Jahrzehnt. Der überzeugte Christ und „Senior Editor“ der Süddeutschen Zeitung, Hans Heigert, griff diesen Topos 1986 in der Weihnachtsausgabe der Zeitung auf. Ehe und Familien seien als gesellschaftliche Institutionen vor ungefähr 20 bis 30 Jahren in den westlichen Ländern infrage gestellt worden, lautete sein mahnender Befund. „Der Bruch mit einer jahrtausendealten Einrichtung und Übung in derart kurzer Zeit konnte nicht radikaler sein“,30 urteilte Heigert. Aus seiner dezidiert christlichen Perspektive

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Vgl. Archiv des ZdK 2202 Schachtel 8, Unterschiedliches Echo auf ZdK-Anfragen zur Familienpolitik. CDU und F.D.P. nehmen zu Äußerungen des Zentralkomitees Stellung, in: Mitteilungen des Zdk, Nr. 176, 9. September 1980, 1; Archiv des ZdK 2202 Schachtel 8, Helmut Kohl, Bonn, 4. September 1980, 1; Archiv des ZdK 2202 Schachtel 8, Hans Maier, Bonn-Bad Godesberg, 12. September 1980. Siehe auch Archiv des ZdK 2202 Schachtel 8, Friedrich Kronenberg, Bonn, 4. September 1980. Für die Kritik vgl. ebenfalls Böckle, Christen, 47f. Vgl. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Grundsatzfragen, 3. Siehe auch AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 10474, Grundsatzfragen der Familienpolitik. Beschluß des Parteivorstandes vom 5. November 1979, 4. Leitner, Problem, 22. Archiv des IfZ ED 900-219, Hans Heigert, Höchste Freude – tiefste Verzweiflung. Mutmaßungen über die Zukunft von Ehe und Familie, in: Süddeutsche Zeitung, Feuilleton-Beilage, 24.–26. Dezember 1986, Bl. 131.

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hatte sich ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel vollzogen, der zu einem vermeintlichen Ende der Familie geführt habe.31 Die Ergebnisse zahlreicher Meinungsumfragen zu den 1970er und 1980er Jahre lagen zu diesem Werturteil jedoch quer: Sie zeigten durchweg eine anhaltend hohe Wertschätzung der Familie auf. Was sich wiederum grundsätzlich wandelte, war die gesellschaftliche Bedeutung der Ehe. Gerade jüngere Personengruppen stellten sie als soziale Institution zusehends infrage, diagnostizierte eine Allensbacher Umfrage für das Magazin Stern im Mai 1973. Schließlich gaben 28 Prozent der Eheleute unter 30 Jahren und sogar 43 Prozent der Ledigen an, sie würden unverheiratetes Zusammenleben von Paaren unterstützen. „Ist damit nicht die Institution Ehe in Gefahr?“,32 fragte die Allensbacher Studie plakativ, um dann dieser Vermutung sogleich zu widersprechen. Die Befragten würden schließlich nicht die Ehe an sich ablehnen, sondern vielmehr das unverheiratete Zusammenleben als eine „Ehe auf Probe“, als eine Vorstufe zur Eheschließung ansehen.33 In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre revidierte das Allensbacher Institut diese ursprüngliche Einschätzung. Laut Befragungen zeige sich nun, wie die Bürgerinnen und Bürger „Zweifel“ an der Ehe als zentraler gesellschaftlicher Institution hegen würden. Schließlich hätten sich 1963 lediglich vier bis fünf Prozent der Frauen und Männer unentschieden über die Bedeutung der Ehe geäußert. Bis 1976 sei ihr Anteil dann „steil“ auf 19 Prozent angestiegen.34 Andere Umfragen aus den 1970er Jahren weisen in dieselbe Richtung. Der Soziologe Gerhard Schmidtchen sprach auf der Basis seiner Erhebungen von einem Funktionsverlust der Ehe für das individuelle Lebensglück des Ehemannes, wie der Stern 1977 berichtete.35 1978 verfolgte die Studie Moral ’78 des Allensbacher Instituts eine ähnliche Argumentationsstruktur, wenngleich sich die Wortwahl mittlerweile deutlich verschärft hatte. „Die Ehe befindet sich in einer Legitimi-

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Vgl. BArch Koblenz B 189/14826, Vermerk Betr.: Podiumsdiskussion des 3. Programms des WDR am 29. November 1978 zum Thema „Ist die Familie am Ende“; hier: Beitrag Referat 231 zur Vorbereitung für Frau Minister, Bonn, 15. November 1978, 4; Archiv des IfZ ED 900219, Hans Heigert, Höchste Freude – tiefste Verzweiflung. Mutmaßungen über die Zukunft von Ehe und Familie, in: Süddeutsche Zeitung, Feuilleton-Beilage, 24.–26. Dezember 1986, Bl. 131. BArch Koblenz ZSg. 132/1928, Zur Ehe und Familie in Deutschland. Eine Umfrage für den Stern, Allensbach am Bodensee, 14. Mai 1973, 16. Vgl. ebenda. Für die anhaltend hohe Wertschätzung der Familie in der Gesellschaft vgl. auch FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Vorwort. Familie heute, in: Deutscher Forschungsdienst, df-digest Sonderausgabe 5/1988, Bl. 127. Vgl. BArch Koblenz ZSg. 132/2254, Institut für Demoskopie Allensbach, Männer über Ehe, Sexualität, die Frau als Partnerin. Repräsentativumfrage für den Stern, Allensbach, 15. Dezember 1976, 2, Tab. 1. Für einen ähnlichen Befund vgl. Die Rolle des Mannes, 97. Vgl. FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Ehe ’77. Für den Mann noch attraktiv?, in: Stern (1977).

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tätskrise“,36 warnte Moral ’78. Diese dramatisierenden Worte sind vermutlich der politischen Nähe zum Umfeld der CDU geschuldet, der sich das Allensbacher Institut und ihre Leiterin Elisabeth Noelle-Neumann verbunden fühlten.37 Zudem werteten Katholiken, aber auch die Vertreter des Ideals der christlichbürgerlichen Kernfamilie, diese Entwicklung als grundstürzend. Mit Sorge sahen sie, wie die enge Kopplung der Begriffe Ehe und Familie aufbreche, die beide noch bis in die frühen 1960er Jahre eine symbiotische Beziehung gebildet hätten und in der gesellschaftlichen Debatte synonym gedacht worden seien. In den 1980er Jahren bestätigten Umfragen diese Entwicklung. Während die Familie – wenngleich nicht geklärt wurde, wie in den Umfragen „die“ Familie definiert wurde – stets mit höchster Wertschätzung belegt wurde, galt dies demgegenüber für die Ehe nicht mehr.38 „Nicht die Familie, wohl aber die Institution Ehe gilt heute als weniger wertvoll und weniger schutzbedürftig als noch in den fünfziger und sechziger Jahren“,39 lautete Renate Köchers eindrücklicher Befund in einer weiteren Allensbacher Studie aus dem Jahr 1985. Köcher selbst favorisierte die Ehe weiterhin, was der Suggestivcharakter ihrer Interpretation belegt. „Woher kommt die Skepsis, die Geringschätzung der Ehe in der öffentlichen Meinung“, fragte sie und reichte die Antwort sogleich nach: „Eine Gegenüberstellung der pessimistischen Bewertung und der eigenen Erfahrungen zeigt eine außerordentliche Diskrepanz zwischen verbreiteten Vorstellungen und dem eigenen Erleben und Verhalten.“40 Folglich sei die „Skepsis“, welche die Befragten der Ehe als Lebensmodell entgegenbrächten, so Köcher, nicht gerechtfertigt. Vielmehr bewähre sich die Ehe als Institution in der sozialen Praxis, womit ihre diskursive Abwertung nicht gerechtfertigt sei. In dieser Bewertung zeigt sich, wie

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Institut für Demoskopie Allensbach, Moral ’78, 3. Für die Verbindung des Allensbacher Instituts zur CDU vgl. exemplarisch Grube, Glückes Schmied, 114–119. Für die enge Verbindung von Ehe und Familie vgl. exemplarisch BArch Koblenz B 189/6784, Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen (Hg.), Aufgaben der Familienpolitik. Familienpolitisches Programm 1968 der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen, Bonn, [1968], Bl. 411; EZA 2/11677, Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen (Hg.), Aufgaben der Familienpolitik. Familienpolitisches Programm 1969 der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen. Vgl. Köcher, Einstellungen, 134; ACSP D 12/132 Argumente. Bericht der Kommission Familienlastenausgleich der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Familienpolitik im Wandel (Maßnahmen der Bundesregierung und Vorschläge der Kommission Familienlastenausgleich), ohne Ort, Stand 10. April 1985, 11. Köcher, Einstellungen, 134. Noch eine weitere Interpretation betont ebenfalls die hohen Scheidungszahlen einerseits und die parallel ungebrochen hohe Wertschätzung von Ehe und Familie als ein Charakteristikum für die 1970er Jahre. Vgl. Archiv des ZdK 3214 Schachtel 1, Paul Becher, Die Situation von Ehe und Familie in Gesellschaft, Politik und Recht. Analyse, Beurteilung und Folgerungen für die kirchliche Arbeit, Bonn, 24. Juli 1974, Bl. 91–114, hier Bl. 95. Köcher, Einstellungen, 139.

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stark Köcher selbst dem Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie verhaftet war und dass sie diese als einzig legitime Familienform ansah. Diese Verschiebungen im Reden über die Familie lassen sich für Westdeutschland exemplarisch anhand zweier Beispiele herausarbeiten: den Debatten in Wissenschaft und Politik sowie der Rezeption dieser Veränderungen in der Öffentlichkeit. Während sich innerhalb der sozialliberalen Bundesregierung ein inkludierender Familienbegriff hielt, rückte die mit der Ausarbeitung des Dritten Familienberichts betreute Sachverständigenkommission von der Position ihrer Vorgänger ab. Die Kommission um den Kieler Volkswirtschaftler Willi Albers, zu der neben Hermann Schubnell noch die Haushaltswissenschaftlerin Rosmarie von Schweitzer und die Erziehungswissenschaftlerin Rita Süssmuth gehörten, befasste sich eingehend mit der Frage, wie Familie zu definieren sei. Süssmuth argumentierte in der Debatte, dass eine Ausweitung des Familienbegriffs Unklarheiten nach sich ziehe. Es werde so nicht genau abgegrenzt, was unter einer Familie zu verstehen sei. Aus diesem Grund plädierte sie für eine eng gefasste Familiendefinition. Die Kommissionsmitglieder schlossen sich dieser Sichtweise an und entschieden sich für eine Engführung des Familienbegriffs, sodass im Vergleich dem Zweiten Familienbericht von 1975 die Ehe als Wesensmerkmal einer Familie stärker zum Ausdruck kam.41 Die Kommission thematisierte in ihren Sitzungen ebenfalls die in den unterschiedlichen Familienbegriffen enthaltenen Wertungen, was aufzeigt, dass deren normativer Charakter reflektiert wurde. So wies Schweitzer darauf hin, dass die von Schubnell vorgenommene Unterscheidung „vollständiger“ und „unvollständiger“ Familien sowie „Verwandtschaftsfamilien“ und „De-facto-Familien“, d. h. unverheiratete Paare mit Kindern, bereits „Wertungen“42 enthielten. Im Laufe der 1970er Jahre vollzog sich damit innerhalb der Familiensoziologie ein Umdenken, da zuvor diese Problematik nicht thematisiert worden war.43 Gegen Mitte der 1970er Jahre erreichte diese Erkenntnis über implizite begriffliche Wertungen auch die politische Arena. 1977 plädierte der stellvertretende Vorsitzende der familienpolitischen Kommission beim Parteivorstand der SPD, Arno Kosmale

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Vgl. BArch Koblenz B 189/15754 Protokoll der zweiten Sitzung der Sachverständigenkommission für den Dritten Familienbericht der Bundesregierung am 25. und 26. März 1976 in Heidelberg, Hotel Stiftsmühle, München, Mai 1976, 26–38; Sachverständigenkommission der Bundesregierung, Dritter Familienbericht, 13. BArch Koblenz B 189/15754, Protokoll der zweiten Sitzung der Sachverständigenkommission für den Dritten Familienbericht der Bundesregierung am 25. und 26. März 1976 in Heidelberg, Hotel Stiftsmühle, München, Mai 1976, 29. Vgl. König, Soziologie der Familie, 132; Neidhardt, Familie, 53; Mitterauer, Familie, 29; Peuckert, Familienformen (2012), 346. Rene König diskutierte in diesem Zusammenhang auch die „Desorganisation der Familie“, die primär aus zwei Entwicklungen resultiere: erstens „durch Ausfallerscheinungen im personalen Inventar“; zweitens bei „Störung ihrer emotionalen Struktur“. Vgl. König, Soziologie der Familie, 130f.; König, Grundbegriffe, 56f.

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dafür, dass die Begriffe „Halbfamilie“ und „unvollständige Familie“ zukünftig vermieden werden sollten, da dadurch Alleinerziehende sprachlich diskriminiert würden. Obwohl die normativ aufgeladenen Familienbegriffe in der Kritik standen, griff die Sachverständigenkommission 1979 im Dritten Familienbericht dennoch auf sie zurück. In den 1980er Jahren verschwanden die Begriffe zunächst ebenfalls nicht aus den sozialwissenschaftlichen Publikationen. Somit setzte sich der wertneutrale Begriff „Ein-Eltern-Familie“ in den frühen 1980er Jahren nicht konsequent durch. Insofern folgte hier die offizielle Sprachregelung nicht den gesellschaftlich verhandelten Idealen.44 Von einem radikalen Bruch der Ideale kann folglich nicht gesprochen werden, da sich in wissenschaftlichen Analysen genauso wie in den politischen Debatten traditionelle Vorstellungen hielten. Gleichwohl brach das enge Verständnis von Familie zwischen den späten 1960er und den 1970er Jahren auf. Familie wurde zusehends über die Eltern-Kind-Beziehung definiert. Das warf bei zeitgenössischen Beobachtern vor allem die Frage auf, wie diese unterschiedlichen Familienformen sprachlich eingehegt werden sollten. Insbesondere die Soziologie befasste sich mit dieser Problematik, zumal sie die gesellschaftlichen Entwicklungen als ihr genuines Arbeitsfeld verstand und Familie als ein zentrales Element einer „modernen“ Gesellschaft galt. 1982 beschrieben Alois Herlth und Franz-Xaver Kaufmann die gesellschaftlichen Prozesse als eine „Pluralisierung der normativ-institutionellen Basis familialer Lebensformen“.45 Zwei Jahre später referierte Kurt Lüscher auf dem Soziologentag in Dortmund über „Moderne familiale Lebensformen als Herausforderung für die Soziologie“.46 „Lebensform“ entwickelte sich in dieser Zeit zum neuen Sammelbegriff, der die unterschiedlichsten Formen des (Zusammen-)Lebens sprachlich einrahmte. Der Soziologe Stefan Hradil definierte sie als „die relativ beständigen Konstellationen [. . . ], in denen Menschen im Alltag mit den ihnen am nächsten stehenden Mitmenschen zusammen leben“.47 Dieser allgemeingehaltene Grundbegriff ließ sich wiederum weiter aufteilen in sogenannte familiale Lebensformen, wie die traditionelle Kernfamilie, Ein-Eltern-Familie und nichteheliche Lebensgemeinschaften mit

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45 46 47

Vgl. BArch Koblenz B 189/15754 Protokoll der zweiten Sitzung der Sachverständigenkommission für den Dritten Familienbericht der Bundesregierung am 25. und 26. März 1976 in Heidelberg, Hotel Stiftsmühle, München, Mai 1976, 26–38; Sachverständigenkommission der Bundesregierung, Dritter Familienbericht, 13. Für die Diskussion unterschiedlicher statistischer Familientypen vgl. Schubnell/Borries, Statistik, 329–334; AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 7689, Niederschrift stenographisch festgehaltener Stichwörter des familienpolitischen Gesprächs zwischen Vertretern der katholischen Kirche und der SPD am 22. Juni 1977 in Bonn, 2; Cramer, Lage, 76; Neumaier, Kernfamilie, 138; ders./Ludwig, Individualisierung, 269f. Herlth/Kaufmann, Einführung, 5 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Lüscher, Lebensformen, 110. Hradil, Sozialstruktur, 87.

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8.1 Von Ehe und Familie zu familialen Lebensformen

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Kindern, bzw. nicht-familiale Lebensformen, wie Singles, nichteheliche Lebensgemeinschaften ohne Kinder und verheiratete kinderlose Paare.48 Wie sich die öffentliche Debatte zwischen den 1950er und den 1990er Jahren wandelte, lässt sich exemplarisch anhand der im Lexikon Brockhaus verwendeten Familiendefinitionen herausarbeiten, zumal die aktuell diskutierten soziologischen Studien in den Lemmata als Belege genannt wurden. 1953 orientierte sich der Brockhaus insbesondere an Wilhelm Heinrich Riehl, Helmut Schelsky und Gerhard Wurzbacher und schrieb, die Familie sei „heute in der Regel das Elternpaar mit den unselbständigen Kindern als Einheit des Haushalts“.49 Da damals Familie und Ehe noch synonym gedacht worden waren, diskutierte der Brockhaus dies in der Definition nicht explizit, verwies jedoch anschließend darauf, dass Ehe eine Voraussetzung für Familie sei.50 Diese Sichtweise behielt im Kern bis 1968 ihre Gültigkeit, wandelte sich dann im folgenden Jahrzehnt aber deutlich.51 1978 stützte sich der Brockhaus im Unterschied zu den vorangegangenen Ausgaben unter anderem auf Friedrich Engels, René König und Ursula Lehr. Familie wurde definiert als „die Lebensgemeinschaft der Eltern (meist als Ehepartner) und ihrer unselbständigen Kinder“.52 Es zeigen sich drei Verschiebungen. Zunächst galt die Ehe nicht mehr als eine notwendige Voraussetzung für eine Familie, wenngleich es sich hierbei weiterhin um den Regelfall handele. Zudem subsumierte der Brockhaus auch alleinerziehende Mütter und ihre Kinder als „unvollständige Familien“ unter seiner Familiendefinition. Ferner war Familie nicht mehr ausschließlich eine soziale Institution, die spezifische Aufgaben für die Gesellschaft übernahm. Familie war zugleich ein individuell ausgestaltbares Beziehungsgefüge, was wiederum auf ein personalisiertes Familienverständnis verweist. Zehn Jahre später verwendete der Brockhaus eine noch weiter gefasste Familiendefinition, nach der bereits eine „Gemeinschaft“ – und nicht mehr ausschließlich eine „Lebensgemeinschaft“ zwischen Eltern und Kindern – eine Familie bilden könne.53 Zudem wurden wie 1978

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Vgl. Wagner, Entwicklung, 101; Neumaier/Ludwig, Individualisierung, 269f. Familie [Brockhaus 1953], 763. Vgl. ebenda, 763f. Die Verbindung zwischen Ehe und Familie machten wiederum das konservativere Herders Konversations-Lexikon und das Staatslexikon der Görres-Gesellschaft deutlich. Vgl. Familie [Herders Konversations-Lexikon 1957], 782; Hirschmann u. a., Familie [Staatslexikon Görres-Gesellschaft 1958], 972. Vgl. Familie [Brockhaus 1968], 48; Familie [Brockhaus 1978], 633. Für diese Definition von Familie vgl. ebenfalls Schumann/Ranke, Familie, 384. Familie [Brockhaus 1978], 633. In der kleinen Ausgabe des Brockhaus von 1984 wurde die Familiendefinition etwas zurückgenommen: „i. d. R. das Elternpaar mit den unselbständigen Kindern als Einheit des Haushalts“. Vgl. Familie [Brockhaus 1984], 120. Der Wortlaut im Brockhaus: „die (Lebens-)Gemeinschaft der Eltern (meist als Ehepartner) und ihrer unselbständigen Kinder“. Vgl. Familie [Brockhaus 1988], 92.

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soziale Gruppen aus einem Elternteil und Kind(ern) als Familie bezeichnet, wenngleich der Terminus „unvollständige Familie“54 weiterhin zum Ausdruck brachte, welche Familienform gesellschaftlich präferiert wurde. Der Zusatz „meist als Ehepartner“55 verschwand hingegen erst in der Brockhaus-Ausgabe von 2001.56 Sicherlich lassen sich mit diesem Zugriff die Veränderungen nicht in allen Nuancen erfassen, aber aus dieser Perspektive erscheint ebenfalls der ungefähre Zeitraum von Mitte der 1960er bis zu den 1980er Jahren als ein diskursiver Einschnitt. Von einem radikalen Bruch hingegen kann nicht gesprochen werden. Schließlich blieben die Familienmitglieder selbst meist tradierten Vorstellungen verhaftet. So assoziierte die Mehrzahl weiterhin mit einer Familie ein verheiratetes Ehepaar. Erst nachdem über eine Heirat eine Beziehung institutionalisiert worden sei, so die Einschätzung zahlreicher Partner in den 1970er Jahren, sei der Rahmen für das Zusammenleben abgesteckt und ein allgemeiner Orientierungsrahmen festgelegt. „Die Ehe bringt eine gewisse Ordnung in das Leben hinein“,57 berichtete ein Lagerdisponent aus Karlsruhe 1977. „Wissen, wo man hingehört. Wissen, an wen man sich wenden kann in Nöten und Sorgen“,58 waren weitere Argumente, die befragte Ehemänner als Gründe für ihre Eheschließung anführten. Selbst in Fällen, wo es in der Familie zu Spannungen und Konflikten, sogar zur Ehescheidung gekommen war, änderten die Befragten ihre Einstellung nicht. Ehe und vor allem Familie erfuhren weiterhin eine hohe Wertschätzung. Die betroffenen Personen sehnten sich nach einer neuen Ehepartnerin bzw. einem neuen Ehepartner, mit der bzw. dem sie zusammenleben und eine Familie gründen, einen neuen privaten und geschützten Rückzugsraum schaffen könnten. Gleichzeitig zeigten sich aber durchaus markante Veränderungen. Da Scheidung ihr soziales Stigma weitgehend verloren hatte, war es legitim, eine Ehe zu lösen. Damit verbunden war in der Regel die Hoffnung, dass man in der nächsten Beziehung dem neuen Partner bzw. der neuen Partnerin in Liebe verbunden wäre und erneut heiratete. Darüber hinaus hatte sich die akzeptierte Familiendefinition ausgeweitet, sodass nun neben der Kernfamilie auch andere familiale Lebensformen wie alleinerziehende Mütter und unverheiratete Paare mit Kindern den sozialen Status einer Familie genossen. So war es möglich, dass 54 55 56

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Vgl. ebenda, 93. Familie [Brockhaus 1978], 633; Familie [Brockhaus 1988], 92. Vgl. Familie [Brockhaus 2001], 95. 2001 definierte der Brockhaus Familie als „die (Lebens-) Gemeinschaft der Eltern und ihrer unselbständigen Kinder“. Ebenda, 95. Ein ähnlicher Wandel vollzog sich im Staatslexikon der Görres-Gesellschaft bis 1988 hingegen nicht. Dort wurden Ehe und Familie weiterhin zusammengedacht. Vgl. Auer/Kaufmann, Ehe [Staatslexikon Görres-Gesellschaft 1986], 102. FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Ursula Lebert, Nicht mehr Patriarch – noch nicht Partner, in: Brigitte H. 8, 1977, 141–148, hier 141. Ebenda, 142.

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unterschiedlichste Arten von Familie als eine „Schutzzone“,59 als ein Raum, der Schutz und Orientierung lieferte, firmieren konnten. Dieser Befund relativiert die zeitgenössische Verfallsdiagnose vom Ende der Familie erheblich. Zugleich verweist er ebenfalls darauf, dass es in den 1970er Jahren nicht zu einer radikalen Pluralisierung der familialen Lebensformen gekommen war. Vielmehr blieben Ehe und Familie in den meisten Fällen weiterhin aufeinander bezogen. In einem entscheidenden Punkt unterschieden sich die 1970er Jahre dennoch von den vorangegangenen Jahrzehnten. Erstmals trat der Doppelcharakter von Familie – als Institution und als emotionales Beziehungsgefüge – explizit hervor, wodurch Familie aus unterschiedlichen Perspektiven den präferierten Rahmen für das Zusammenleben bildete.60 Als Institution stellte sie den Rahmen für das Zusammenleben zur Verfügung. Als Lebensgemeinschaft bzw. individuell ausgestaltetes Beziehungsgefüge basierte die Familie auf Zusammengehörigkeitsgefühl und emotionaler Zuneigung, weshalb zeitgenössisch vom Topos der Partnerschaft gesprochen wurde

8.2 Konfliktfelder: Berufsarbeit von Müttern und Regelung der Kindererziehung 8.2.1 Ein spezifisches Problem von Müttern: die Vereinbarkeit von Beruf und Familie

Kindererziehung blieb bis in die 1960er Jahre die ureigene Aufgabe der Familie, die im Alltag der Mutter zufiel. Die Richtlinien zur Familienpolitik der SPD vom Anfang der 1960er Jahre legten dar, dass die Familie weiterhin befähigt werden müsse, „ihre vielseitigen erzieherischen Aufgaben zu erfüllen“.61 Um dies zu erreichen, plante die SPD, das Angebot an Ehe-, Mütter- und Erziehungsberatungsstellen auszubauen. Zudem sollten Stellen für Erwachsenenbildung geschaffen werden. Gleichzeitig beabsichtigten Sozialdemokraten, die Rolle von 59 60

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Ebenda. Vgl. FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Frauen heute: Mann und Kinder über alles, in: Vital (Mai 1980), 10–17, hier 12; FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Ursula Lebert, Nicht mehr Patriarch – noch nicht Partner, in: Brigitte H. 8, 1977, 141–148, hier 141f.; FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Die liebe, böse Familie, in: Brigitte, 53–106, hier 53; FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Helga Häsing, Familien sind anders. Berichte aus der Welt hinter den Wohnungstüren, ohne Erscheinungsort, 15. Januar 1981; Archiv des IfZ ED 900, Bd. 229, Familie noch immer zentraler Wert des Lebens. Untersuchung zeigt, daß Politiker ein falsches Verständnis von der „Keimzelle des Staats“ haben, ohne Ort, [28./29. Juni 1980]. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 3. WP 141, Richtlinien Sozialdemokratischer Familienpolitik, in: Pressemitteilungen und Informationen der SPD, Nr. 103/61, 11. April 1961, 5.

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Erziehungseinrichtungen wie Kindergärten zu stärken. Sie sollten die Erziehung in den Familien zwar „nicht ersetzen, wohl aber ergänzen“.62 Diese Position stieß in den frühen 1960er Jahren innerhalb von Teilen der westdeutschen Gesellschaft auf vehementen Widerstand. Die Gesellschaft für Sozialen Fortschritt argumentierte, dass die Berufstätigkeit von Müttern eingegrenzt werden solle, indem Kindergarten- und Kindertagesstättenplätze „künstlich knapp“ oder durch „‚kostengerechte Preise‘ verteuert“63 würden. Sicherlich erfolgte mit dieser Position eine dezidierte Abgrenzung von der Frauenpolitik der DDR. Aber viel wichtiger scheinen die dahinterstehenden ideologischen Gründe zu sein, die auf eine generelle Ablehnung der Berufsarbeit von Müttern verweisen. Diese Haltung hatte jedoch wenig gemein mit den sozialen Praktiken. Sozialdemokraten urteilten, dass diese Ideen „sogar geradezu weltfremd anmutet[en]“,64 schließlich müssten die meisten Mütter aufgrund finanzieller Engpässe ihrer Familien arbeiten. Gerade deswegen sei es notwendig, ihnen zumindest einen Teil der Kindererziehung abzunehmen. Schließlich lasse sich so die Dreifachbelastung von Arbeit, Haushalt und Kindererziehung reduzieren.65 Die Kontroverse verweist aber auch auf die grundsätzliche Frage, in welchem Rahmen Kindererziehung erfolgen sollte und wie sich hierzu die Rolle der Mutter verhalte. Während Sozialdemokraten wie schon in den 1920er Jahren ihre Lösungsansätze aus konkreten Problemen im Familienalltag ableiteten, orientierten sich Unionspolitiker zunächst vorrangig an christlichen Glaubensgrundsätzen. Daher verorteten sie Kinderziehung weiterhin in den Familien, begründeten ihre Sichtweise aber nicht nur mit einem Verweis auf das Naturrecht. Vielmehr griffen sie auch die Befunde wissenschaftlicher Studien auf. Zum Beispiel könne das für die Mutter-Kind-Beziehung typische „Urvertrauen“66 nicht entstehen, wenn die Kindererziehung in sozialen Einrichtungen erfolge, erklärte die Katholikin und CDU-Politikerin Elisabeth Pitz-Savelsberg 1966. Den Begriff „Urvertrauen“ prägte maßgeblich der britische Kinderarzt und Psychoanalytiker John Bowlby, der die „Mutterentbehrung“ (mütterliche Deprivation) und damit das Fehlen eines Vertrauensverhältnisses als Ursache für psychische Erkrankungen bei Kindern identifiziert hatte. Die Vorstellung vom natürlichen Vertrauen zwischen 62 63 64 65

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Ebenda. So auch die Frauenenquete vgl. Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft [1966], 28. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 3. WP 140, Die sozialpolitische Glosse: Kindergärten oder Bewahrungsanstalten?, ohne Ort, [2.5.1960], 5. Ebenda. Vgl. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 3. WP 141, Richtlinien Sozialdemokratischer Familienpolitik, in: Pressemitteilungen und Informationen der SPD, Nr. 103/61, 11. April 1961, 5. Pitz-Savelsberg, Frauenfragen, 11. Für dieses Zitat an anderer Stelle vgl. BArch Koblenz B 195/27, Protokoll eines Interviews von Alexander Rüstow im Südwestfunk, aufgenommen am 3. Dezember 1960, 1.

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Mutter und Kind traf innerhalb der westdeutschen Gesellschaft, wie auch beim Deutschen Familienverband, auf großen Zuspruch, auf dessen Basis gegen eine Berufsarbeit von Müttern argumentiert werden konnte.67 Weitaus radikaler positionierten sich in den frühen 1960er Jahren andere „Experten“ wie Hans Harmsen, der im Nationalsozialismus für die Sterilisierung in den Anstalten der Inneren Mission verantwortlich gewesen war und 1952 die „Deutsche Gesellschaft für Ehe und Familie“ mitgegründet hatte, die später in „Pro Familia“ umbenannt wurde. In einer Sitzung des wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen vom April 1961 sprach er sich für ein „Beschäftigungsverbot von Müttern mit Kleinkindern“68 aus. Er orientierte sich dabei an den rigorosen Positionen des Göttinger Frauenarztes Heinz Kirchhoff oder des Heidelberger Soziologen und Wirtschaftswissenschaftlers Alexander Rüstow, der intellektuell im „spezifischen Altliberalismus“ aus der Zeit des Vormärz verortet werden kann. Dass Harmsens Haltung gleichwohl in den frühen 1960er Jahren bei weitem nicht mehr konsensfähig war, zeigt sich schon allein darin, dass der Beirat seinen Vorschlag nicht weiter diskutierte.69 Das traf auch auf die Union zu. Selbst wenn Pitz-Savelsberg die Erziehungsaufgaben primär bei der Mutter verortete, erkannte sie durchaus das Recht der Frauen auf Berufsarbeit an. Wenngleich sie dies insofern einschränkte, als der Beruf nicht mit der „Mutterpflicht“70 kollidieren dürfe. Allerdings blieb die Berufsarbeit von Müttern innerhalb der Union strittig, wie sich im Dezember 1964 auf dem Kongress Frau und Arbeitswelt – morgen mit 500 Teilnehmern zeigte. Während die Unionspolitikerin Gabriele Strecker die Berufsarbeit von Frauen als eine gesellschaftliche Realität bezeichnete, teilte der Hauptgeschäftsführer der Sozialausschüsse der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) Hermann-Josef Russe diese Ansicht nicht. Er betonte demgegenüber, dass einem weiteren Anstieg der Erwerbsquote von Müttern entgegengewirkt werden müsse. Der geschäftsführende CDU-Vorsitzende, JosefHermann Dufhues, knüpfte an dieses Argument an und sah die Rollen der

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Vgl. ebenda, 11; ACDP 01-221-017, Die Familie von heute und ihre Erziehungskraft. Der Bundesminister für Familien- und Jugendfragen vor der Westfälischen Direktorenkonferenz, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 127, 13. Juli 1961, 1238; BArch Koblenz B 195/25, Begründung und Forderungen einer aktuellen Familienpolitik. Grundsatzerklärung des neugegründeten Deutschen Familienverbandes e. V., [Bonn], 26. August 1968, 2; Paulus, Familienrollen, 110f.; Gebhardt, Angst, 21, 177; Moisel, Geschichte, 63–72. Zur Kritik an den Thesen Bowlbys vgl. Schütze, Erwerbstätigkeit, 124f. BArch Koblenz B 195/27, Ergebnisprotokoll über die Sitzung des wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen am 27./28.4.1961 in Bonn, ohne Ort, 8. Mai 1961, 2. Vgl. ebenda; BArch Koblenz B 195/27, Protokoll eines Interviews von Alexander Rüstow im Südwestfunk, aufgenommen am 3. Dezember 1960, 1; Ruhl, Unterordnung, 178; Kuller, Familienpolitik, 67, 99, 237; Nolte, Ordnung, 292. Pitz-Savelsberg, Frauenfragen, 11.

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Frau primär bei Haushaltsführung und Mutterschaft. Dieser Standpunkt stieß wiederum bei den Tagungsteilnehmerinnen mehrheitlich auf Kritik.71 Insgesamt war gegen Mitte der 1960er Jahre die Berufsarbeit von Frauen im Unterschied zu den 1950er Jahren in weiten Gesellschaftsteilen akzeptiert. Die Historikerin Christine von Oertzen bezeichnet die Frauenenquete, die am 22. September 1966 vorgelegt wurde, als „beeindruckendes Dokument des Wandels in der westdeutschen Frauen- und Geschlechterpolitik“,72 da sie die gewandelte Relevanz von Berufsarbeit im Lebensverlauf von Frauen und Müttern eingehend thematisiere. Jedoch dürfe die Enquete nicht allein als Element einer neuen Frauenpolitik verstanden werden, da sie – wie schon zeitgenössische Beobachter anmerkten – auch tradierte Elemente in der Bewertung weiblicher Berufsarbeit beinhaltet habe. Zurückhaltender urteilen die Soziologinnen Ingrid Sommerkorn und Katharina Liebsch über die Enquete, die „noch eine primär ablehnende Einstellung zur berufstätigen Frau – und gar zur berufstätigen Mutter, die jedoch gebrochen ist“73 –, widerspiegele. Mit dieser Interpretation blenden Sommerkorn und Liebsch jedoch aus, wie stark sich die Bewertung der Rolle der Frau im Vergleich zu den 1950er Jahren gewandelt hatte. Es ließe sich argumentieren, dass die Enquete die Rolle der Frau nicht mehr als historisch unveränderlich kategorisierte. Stattdessen erschien sie – mit Verweis auf die Thesen Simone de Beauvoirs – als historisch gewachsen und damit auch prinzipiell wandelbar. Die Kindererziehung blieb jedoch hiervon ausgespart: Sie fiel weiterhin ausschließlich in den Aufgabenbereich der Frau. Insofern brachte die Frauenenquete 1966 zumindest einen vorsichtigen Wandel zum Ausdruck.74 Die politische Debatte in der Bundesrepublik veränderte sich somit während der 1960er Jahre. Berufstätigkeit und Mutterschaft galten zusehends nicht mehr als „natürliche“ Gegensätze, wenngleich sich die vom Journalisten Sebastian Haffner 1971 proklamierte „Doppelverdienerehe“75 nicht als neues Leitbild durchsetzte. Vielmehr rückte die Frage in den Mittelpunkt, wie sich Beruf und Familie miteinander vereinen ließen. Das schien auch aufgrund der ansteigenden Erwerbsquote von Müttern minderjähriger Kinder geboten. Allerdings gab es in dieser Gruppe von Frauen deutliche Unterschiede, wie der Mikrozensus aus dem Jahr 1962 und weitere Erhebungen des Statistischen Bundesamtes darlegten, auf die sich das Bundesjustizministerium in seiner Begründung für einen 71 72 73 74

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Vgl. AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 4. WP 248, Frau und Arbeitswelt – morgen, ohne Ort, 3. Dezember 1964, 4f.; Oertzen, Teilzeitarbeit, 108. Ebenda, 110. Sommerkorn/Liebsch, Mütter, 109. Vgl. Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft [1966], 9f.; IG Metall. Abteilung Frauen, Stellungnahme, 15; Deutscher Gewerkschaftsbund (Hg.), Stellungnahme, 7; Beauvoir, Geschlecht; Oertzen, Teilzeitarbeit, 110f.; Sommerkorn/Liebsch, Mütter, 109. Haffner, Ehe.

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Diskussionsentwurf zum Scheidungsrecht bezog. 1962 waren 35 Prozent der Mütter mit Kindern unter 14 Jahren berufstätig, wobei sich die Erwerbsquote je nach Familienstand deutlich unterschied. Aufschluss hierüber gibt eine Auflistung aus dem Jahr 1966. Am niedrigsten lag sie mit 33 Prozent bei den verheirateten Müttern und mit 40 Prozent bei den Witwen. Geschiedene Mütter gingen demgegenüber in 75 Prozent der Fälle einer Berufsarbeit nach und ledige Mütter sogar in 84 Prozent. Erhebungen Mitte der 1960er Jahre deuteten laut Bundesfamilienministerium zudem darauf hin, dass gut ein Drittel der verheirateten Mütter nach der Geburt eines Kindes den Beruf nicht aufgebe. Ein weiteres Drittel scheide zumindest temporär aus dem Berufsleben aus. Das letzte Drittel der verheirateten Mütter sei demgegenüber nie berufstätig gewesen. Zudem zeigten Statistiken auf, dass die Erwerbsquote von Müttern mit einem Kind zwischen 1957 und 1969 durchweg anstieg. Bei zwei und mehr Kindern unter sechs Jahren reduzierte sich demgegenüber die Erwerbsquote. Konstant blieb zudem die Quote von Müttern mit drei und mehr Kindern unter 15 Jahren. Trotz dieser Unterschiede zeigten die statistischen Erhebungen auf, dass zahlreiche Mütter minderjähriger Kinder Beruf und Familie bzw. Kindererziehung miteinander vereinbaren mussten. Wenngleich 1962 noch 60 Prozent der berufstätigen Mütter mit Kindern unter 14 Jahren 40 und mehr Stunden arbeiten gingen, entwickelte sich Teilzeitarbeit bis 1966 zu einer sozial akzeptierten Möglichkeit, Berufsarbeit und Kindererziehung miteinander zu vereinbaren. Nach Erhebungen gegen Mitte der 1960er Jahre waren von den gut 278.000 Kindern, deren Müttern halbtags arbeiteten, lediglich 3.000 tagsüber unbeaufsichtigt. Halbtagsarbeit ließ damit Mutterschaft und Berufsarbeit in Westdeutschland nicht mehr als Gegensätze erscheinen.76 Auch in der DDR wurde die Frau über ihre Rolle als Mutter definiert. Allerdings existierte daneben bereits seit den 1950er Jahren ein zweites Leitbild, das der Berufstätigen. Damit einhergehend waren faktisch die Aufgaben der Frau für die Gesellschaft ihren häuslichen Pflichten vorgeordnet. Die Rollenmuster verknüpften sich im politischen Diskurs schon in den frühen 1950er Jahren zum Ideal der berufstätigen Mutter, das bis 1990 seine Gültigkeit behielt. Eine 76

Vgl. Begründung des Diskussionsentwurfs, 73, 75f. Für weitere Angaben zur Berufsarbeit von Müttern vgl. ebenfalls ACDP 08-005-073/2, Waltrud Will-Feld, Die Rolle der Frau in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Situation und Perspektiven, Bonn, 7. November 1974, 5f.; Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit (Hg.), Familienpolitik, 12f.; Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft [1966], 18f.; Der Bundesminister für Jugend, Dritter Jugendbericht (1972), 12f.; Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft [1966], 18f. Für eine Zusammenfassung vgl. Oertzen, Teilzeitarbeit, 90, 99–112; Ruhl (Hg.), Frauen, 205f.; Jakob, Familienbilder, 74f. In den USA setzte sich das Modell der „dual earner family“ in den 1970er und 1980er Jahren durch. Vgl. Heinemann, Wert, 175.

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Pluralisierung der Debatte um die Rollen der Frau blieb folglich in der DDR aus.77 Die sozialen Praktiken hingegen differenzierten sich auch in der DDR aus. Ein Memorandum zur Analyse über die Lage der Familien mit Kindern hielt 1964 fest, dass eine wachsende Zahl von Frauen ihre Arbeitszeiten verkürze und sich nicht am Ideal der ganztägig berufstätigen Mutter orientiere. Den höchsten Anteil an arbeitenden Frauen verzeichneten die Mütter mit genau einem Kind. Sie erreichten eine Erwerbsquote von fast 70 Prozent. Von den Müttern mit zwei Kindern waren immerhin noch 64 Prozent berufstätig. Sie übertrafen damit sogar die Frauen ohne Kinder, die auf 61 Prozent kamen. Von den Müttern mit drei und mehr Kindern arbeiteten demgegenüber lediglich noch 56 Prozent. Als Grund für diese niedrigere Erwerbsquote gaben die Frauen die mit der wachsenden Kinderzahl einhergehenden Belastungen in den Familien an. Sie beklagten, dass nicht genügend staatliche Einrichtungen wie Kindergärten und -krippen existierten oder Organisationen fehlten, die ihnen Hausarbeiten abnahmen. Die höhere Erwerbsquote von Müttern mit einem Kind bzw. zwei Kindern deutet noch auf einen weiteren Sachverhalt hin. In diesen Fällen gingen die Mütter meist arbeiten, um so das finanzielle Auskommen ihrer Familie zu sichern. Sicherlich ging dies mit einer physischen wie psychischen Belastung einher. Doch im Unterschied zu den Müttern mit drei Kindern konnten sie die Dreifachbelastung noch bewerkstelligen.78 Die Geburt eines Kindes hatte in Ostdeutschland wie im Westen weitreichende Folgen für die Berufsarbeit der Mutter. Mitte der 1960er Jahre gaben 45 Prozent der ostdeutschen Mütter in Umfragen an, dass sie ihren Beruf wegen der Geburt der Kinder und deren Betreuung aufgegeben hätten.79 Dass die Frauen mit der Geburt eines Kindes zumindest zeitweise aus dem Erwerbsleben ausschieden, diskutierten in den 1960er Jahren der Dresdner Sozialhygieniker Rudolf Neubert und die evangelische Kirche. Neubert schlug 1962 vor, dass sich Frauen nach der Geburt eines Kindes drei Jahre lang ausschließlich um die Kindererziehung kümmern sollten. Die SED lehnte jedoch diesen Vorschlag mit aller Vehemenz ab und verwies darauf, dass lediglich die berufstätige Mutter ihre

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Vgl. Harsch, Revenge, 199; Helwig, Familienpolitik (1961–1971), 496; Schäffler, Paarbeziehungen, 58f. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/17/83, Analyse über die Lage der Familien mit Kindern, Berlin, 22. April 1964, 3f.; EZA 2/4365, Materialien zur Situation der Familie und zum Familienrecht in der DDR, in: Grüner Dienst, Nr. 24/65, Bethel/Bielefeld, 31. Mai 1965, 5; SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/13/200, Material zu einigen Fragen der Familie in der DDR, ohne Ort, 4. Februar 1965, Bl. 72f. Siehe auch Gysi/Meyer, Leitbild, 141f. Für die Bedeutung der Teilzeitarbeit in der ostdeutschen Industrie vgl. Rietzschel, Teilzeitarbeit. Vgl. EZA 2/4365, Materialien zur Situation der Familie und zum Familienrecht in der DDR, in: Grüner Dienst, Nr. 24/65, Bethel/Bielefeld, 31. Mai 1965, 5; SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/13/200, Material zu einigen Fragen der Familie in der DDR, ohne Ort, 4. Februar 1965, Bl. 71.

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Kinder im Sinne der sozialistischen Gesellschaft erziehen könne.80 1965 griff die evangelische Kirche dieses Thema abermals auf und präsentierte ein alternatives Modell eines idealen weiblichen Lebenslaufs. Die Pläne orientierten sich dabei – ohne es explizit zu thematisieren – an Myrdals und Kleins Dreiphasenmodell. So schließe sich an die erste Phase der Berufstätigkeit im Leben einer Frau ein Zeitabschnitt der Kindererziehung an. Dieser Lebensabschnitt ende mit der Einschulung, in Ausnahmesituationen auch mit dem dritten Lebensjahr. Nun könne die Mutter wieder ins Berufsleben einsteigen, wenngleich Halbtagsarbeit oder Teilzeitbeschäftigung hier das zu präferierende Beschäftigungsmodell sei.81 Selbst im ersten Kommentar zum FGB 1966 wurde Müttern noch das Recht eingeräumt, nach einer Geburt temporär aus dem Berufsleben auszuscheiden. In der zweiten Auflage des Kommentars 1967 entfiel dieser Passus, was auf eine Intervention vonseiten der SED verweist. Auf die Einstellungen der Bürger hatte dies jedoch keinen nennenswerten Effekt. Die Mehrheit der Ostdeutschen gestand den Müttern junger Kinder laut einer Umfrage vom November 1970 weiterhin das Recht zu, zeitlich befristet ihren Beruf aufzugeben oder die Arbeitszeit zu verkürzen. Jedoch vertraten Letzteres tendenziell eher die Frauen als die Männer: Fast 53 Prozent der Frauen gegenüber 46 Prozent der Männer gaben es als präferiertes Arbeitszeitmodell an. Damit lag die Haltung der Bevölkerung weiterhin konträr zum staatlich propagierten Ideal der voll-berufstätigen Ehefrau und Mutter. Noch deutlicher fiel das Votum der Befragten aus, wenn die Antwortkategorien „nur solange arbeiten, bis alles Notwendige angeschafft ist“, „überhaupt nicht berufstätig sein“ und „ohne Angaben“ addiert wurden. Dann vertrat gut ein Fünftel bis ein Viertel der Befragten diese Ansicht – in der Arbeiterschaft war es sogar mehr als ein Drittel.82 „Das ist ein ernstzunehmender Widerspruch“83 zum staatlich propagierten Ideal, vermerkte 1975 das Zentralinstitut für Jugendforschung in ihrem Forschungsbericht. Innerhalb der DDR fand zumindest partiell eine Diskussion darüber statt, wie Mütter Beruf und Kindererziehung miteinander in Einklang bringen konnten. Teilzeitarbeit war somit auch in der DDR gerade deswegen attraktiv, weil dies die Kinderer-

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83

Vgl. Helwig, Einleitung, 10f.; Obertreis, Familienpolitik, 158f. Vgl. EZA 2/4365, Materialien zur Situation der Familie und zum Familienrecht in der DDR, in: Grüner Dienst, Nr. 24/65, Bethel/Bielefeld, 31. Mai 1965, 12. Siehe auch EZA 102/396, Der Strukturwandel der Familie. Einige Hinweise und Hilfen, [Berlin], [Mai 1965], 3. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/17/15, Einschätzung der Umfrage über Probleme der Frau in unserer Gesellschaft, ohne Ort, [1970], 4; SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/17/15, Ergebnisse der Umfrage zur Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft vom November 1970, 1f.; Helwig, Familienpolitik (1961–1971), 505. BArch Berlin DC 4/234, Zentralinstitut für Jugendforschung, Forschungsbericht Zu Fragen der sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung von Mädchen und jungen Frauen in der DDR (Frauenstudie), Leipzig, Juli 1975, 53.

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ziehung maßgeblich erleichterte. Schließlich existierten seit den 1950er Jahren nicht genügend staatliche Kinderkrippen, Kindergärten und Horte. 8.2.2 Kindererziehung als Aufgabe der Mutter oder des Staates?

Gerade bei der Zahl der Kinderkippen- und Kindergartenplätze zeigte sich in Ostdeutschland trotz der Zuwächse im Vergleich zu den 1950er Jahren über die gesamten 1960er Jahre ein deutlicher Nachholbedarf. So war zwar der Anteil der in Kindergärten betreuten Kinder zwischen 1958 und 1963 von 42 auf 58 Prozent angewachsen. Doch dieser Wert blieb hinter den ambitionierten staatlichen Zielen zurück. Noch deutlicher fiel die Diskrepanz bei den Plätzen in Krippen und Tageseinrichtungen aus. Dort konnten 1958 lediglich elf bzw. neun Prozent der Kinder versorgt werden. Bis 1963 steigerte sich ihr Anteil lediglich geringfügig auf 15 bzw. 19 Prozent. „Im Vergleich zum Beschäftigungsgrad der Frauen ist die Versorgung mit Kindereinrichtungen trotz des absolut hohen Standes relativ gering“,84 urteilte das Memorandum über die Lage der Familien mit Kindern 1964. Erst im folgenden Jahrzehnt änderte sich dies, als nach offiziellen Darstellungen von 1977 der Betreuungsgrad in Kinderkrippen für Kinder bis zu einem Alter von drei Jahren einen Anteil von 60 Prozent erreichte. Sogar von Schulkindern der Klassen eins bis vier konnten knapp über 74 Prozent in einem Schulhort untergebracht werden. Bei den Kindern im Kindergartenalter von drei bis sechs Jahren lag der Betreuungsgrad mit 89 Prozent noch deutlich darüber. Gerade diesen Wert verbuchte das Zentralkomitee der SED in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre als politischen Erfolg, wohingegen es den geringeren Betreuungsgrad in den anderen Einrichtungen dezidiert aussparte.85 Aber selbst wenn die Kinder einen Platz zugewiesen bekamen, ließen die Eltern ihre Kinder oft zuhause. Weniger als die Hälfte der Fehlzeiten in Krippen entfiel Anfang der 1970er Jahre auf Krankheiten. Meistens gaben die Eltern andere Gründe an, die sie gerade dann anführten, wenn sie selbst Urlaub oder arbeitsfrei hatten. Das ermöglichte es den Eltern, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen.86 Bis Ende der 1970er Jahre änderten die Eltern ihr Verhalten nicht. Zahlreiche Mütter entschieden sich sogar weiterhin, ihre Kinder nicht in Krippen unterzubringen. Sie wollten sich von ihren Babys und Kleinstkindern 84 85

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SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/17/83, Analyse über die Lage der Familien mit Kinder, Berlin, 22. April 1964, 9. Vgl. ebenda; EZA 102/396, Evangelische Kirche in Deutschland. Kirchenkanzlei für die Gliedkirchen in der Deutschen Demokratischen Republik, Betr.: Beobachtung der Familiengesetzgebung in der DDR, Berlin, 27. April 1965, 3; Krecker/Niebsch/Günther, Kindereinrichtungen, 254, 282; Schneider, Familie und private Lebensführung, 163; Wierling, Jahr, 390; Budde, Frauen, 320; Neumaier/Ludwig, Individualisierung, 276. Vgl. Wierling, Jahr, 393; Budde, Frauen, 321ff.; Obertreis, Familienpolitik, 159.

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nicht trennen und sahen deren Erziehung als ihre Aufgabe an.87 Dies geschah vermutlich aufgrund einer inneren Überzeugung, denn zu diesem Zeitpunkt hatten die Krippen ihr schlechtes Image bereits abgelegt. In den Jahrzehnten zuvor hatten sich noch zahlreiche Mütter gegen eine Unterbringung in einer Erziehungseinrichtung entschieden, da der Gesundheitszustand von Krippenkindern wie auch ihre geistige und körperliche Entwicklung hinter den von in Familien betreuten Kindern zurückgeblieben war.88 In Westdeutschland betreuten demgegenüber bis in die 1960er Jahre meist Familienangehörige die noch nicht schulpflichtigen Kinder. Erst zum Ende des Jahrzehnts bzw. Anfang der 1970er Jahre setzte der Ausbau der Kindergärten ein, als ihnen ein bildungspolitischer Auftrag zugeschrieben wurde. Zwischen 1965 und 1974 stieg die Zahl der Kindergärten von gut 14.000 auf fast 22.000, was einem Zuwachs an Plätzen von 950.000 auf 1,5 Millionen entsprach. In Relation zu den Kindern bedeutete diese einschneidende Veränderung, dass 1965 jedes dritte Kind einen Kindergartenplatz hatte. 1974 war es demgegenüber jedes zweite. Als Träger der Kindergärten firmierten zu drei Vierteln die freie Jugendhilfe, Kirchen und die Arbeiterwohlfahrt. 20 Prozent befanden sich in öffentlicher Hand. Staatliche Zuwendungen standen jedoch allen Einrichtungen zu und beliefen sich 1970 auf 206 Millionen DM. Noch immer bekamen in den 1970er Jahren aber 40 Prozent der Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren keinen Platz zugewiesen. Überdies orientierten sich die Kindergärten nicht an den Bedürfnissen von berufstätigen Müttern, da ihre Öffnungszeiten oft kürzer als die Arbeitszeiten waren. Viele Kinder bekamen zudem nur einen Halbtagsplatz.89 Der Ost-West-Unterschied ist ebenfalls evident. Während 1970 65 Prozent der Kinder in der DDR einen Kindergarten besuchten, waren es in der Bundesrepublik erst 39 Prozent. In den Jahren 1980 und 1989 belief sich der Betreuungsgrad in Ostdeutschland sogar auf mehr als 90 Prozent, wohingegen er im Westen bei knapp unter 80 Prozent lag. Zudem spielten in Westdeutschland zwischen 1970 und 1989 weder Kinderkrippen noch Schulhorte mit einem Betreuungsgrad von unter fünf Prozent eine Rolle. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass westdeutsche Kindergärten in gut 88 Prozent der Fälle Halbtagsplätze anboten, wohingegen in der DDR Ganztagsplätze der Regelfall waren.90 Aber ungeachtet des im Vergleich zu Westdeutschland höheren Betreuungsgrades blieb Kindererziehung auch in Ostdeutschland ein integraler Bestandteil des Familienlebens. 87 88 89 90

Vgl. Krecker/Niebsch/Günther, Kindereinrichtungen, 255. Vgl. ebenda, 264, 269. Vgl. Kuller, Familienpolitik, 15, 70, 285; Reichardt, Authentizität, 722. Ähnlich bei Münch, Familien-, Jugend- und Altenpolitik (1966–1974), 639. Vgl. Schneider, Familie und private Lebensführung, 163f.; Neumaier/Ludwig, Individualisierung, 276; Kaminsky, Frauen, 104–107.

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Gleichwohl wurde der Kindergartenerziehung sowohl für die Entwicklung des Kindes wie auch der Gesellschaft ein zentraler Stellenwert zugeschrieben, wie exemplarisch am westdeutschen Fall diskutiert werden kann. Die Historikerin Christiane Kuller benennt fünf Entwicklungen, die diesen Bedeutungszuwachs auslösten. Zunächst wurde im Anschluss an den „Sputnikschock“ 1957 Bildung als staatliches Investitionsgut entdeckt. Es verbreiteten sich zweitens neue Erkenntnisse darüber, wie kindliche Intelligenz und Begabung durch das soziale Umfeld und die Sozialisationsmöglichkeiten beeinflusst würden. Überdies wurde die Erziehung in Kindergärten als Möglichkeit gesehen, die Entwicklungschancen von Kindern aus unteren sozialen Schichten zu erhöhen. Sie erhöhe demnach die Chancengleichheit und könne so dazu beitragen, die soziale Ungleichheit zu reduzieren. Aber auch innerhalb der Pädagogik erfolgte ein Richtungswechsel, indem sie ihre Methoden stärker hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Nutzens bewertete. Abschließend hinterfragten die Studentenbewegung und die aus ihr hervorgegangenen Kinderläden die traditionellen Erziehungsmodelle der Kindergärten, was wiederum Debatten über eine Reform der Kindergärten anstieß.91 Berlin und Frankfurt waren die Zentren der Kinderladenbewegung, doch 1968 gab es sie auch in anderen deutschen Großstädten wie Hamburg und München. Die Kinderläden setzten sich mit antiautoritären Ansätzen von den traditionellen Erziehungsmethoden ab, da diese auf Gehorsam und Unterordnung zurückgriffen, so der Vorwurf der Vertreterinnen und Vertreter der Kinderladenbewegung. Nach den Vorstellungen des linksalternativen Milieus sollten sich Kinder frei entfalten und ihre Entscheidungen selbst treffen können. Als weiterer Leitsatz der Kinderladenbewegung galt Toleranz. Darüber hinaus beinhaltete die antiautoritäre Erziehung noch eine Reihe weiterer Elemente. So wurde auf Verbote verzichtet. Überdies sollten die Eltern-Kind-Beziehung und geschlechtstypische Rollenmuster überwunden werden. Beides sollten die Kinder in einem Kollektiv von 20 Kindern erlernen und sich so selbst erziehen. Die Kinderläden blieben allerdings aufgrund ihrer geringen Verbreitung ein soziales Experiment. 1970 existierten 38 Kinderläden, davon 13 in Berlin, fünf in Hamburg sowie jeweils vier in München und Münster. 1973 waren es um die hundert Kinderläden, in denen gut 1.200 Kinder betreut wurden. Gleichwohl erschienen die Kinderläden als zeitgemäß, da sie, so der Historiker Sven Reichardt, mit den Leitmotiven „Bedürfnisentfaltung, Selbstverwirklichung und Hedonismus“92 zur postmateriellen Wertorientierung des linksalternativen Milieus der 1970er Jahre passten. Zudem wurden die in den Kinderläden praktizierten Erziehungsmethoden gesamtgesellschaftlich verhandelt.93 91 92 93

Vgl. Kuller, Familienpolitik, 294ff. Reichardt, Authentizität, 721. Vgl. Kuller, Familienpolitik, 296; Reichardt, Authentizität, 721–733.

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Als Sozial- und Erziehungswissenschaftler in den 1970er Jahren die generelle Bedeutung der Familie für die Sozialisation und den Ort der Kinder in der Gesellschaft diskutierten, stellte sich zusehends die Frage, wie Kindererziehung geregelt werden müsse: Sollten weiterhin die Eltern für die Kindererziehung zuständig sein oder zukünftig verstärkt staatliche Einrichtungen die Kindererziehung übernehmen? Die Bundesregierung verband in ihren bildungspolitischen Erwägungen mit dieser Frage die Annahme, dass im ersten Fall die Benachteiligung sozial schlechter gestellter Familien drohe, die im zweiten Fall aufgrund der Kindererziehung durch Pädagogen ausgeglichen werden könne. Während der 1970er Jahre dominierte lange die zweite Position. In den Sitzungen der Sachverständigenkommission für den Dritten Familienbericht im Mai 1976 bezeichnete Rita Süssmuth dies als eine „Vergesellschaftung von Erziehung“.94 Im Kern ging es in diesen Debatten um das „Verhältnis von Gesellschaft und Familie“,95 wie der Bevölkerungswissenschaftler Hermann Schubnell in der Sitzung ergänzte. Wie dieses Verhältnis auszugestalten sei, blieb über die gesamten 1970er Jahre höchst umstritten. Zu Beginn der 1970er Jahre rückten zunächst die Sozialisationsdefizite der Familie in den Mittelpunkt. Mancher Beobachter glaubte, dass die Familie auf ihrem ureigenen Terrain, der Kindererziehung, ihre Funktion nicht mehr erfülle. „Der ‚Patient Familie‘ erscheint als Wurzel vieler pathologischer Phänomene“,96 kommentierte 1977 der Sozialhistoriker Michael Mitterauer die vermeintlichen Defizite der Familie. Allerdings teilte Mitterauer wie auch zahlreiche andere zeitgenössische Wissenschaftler diese vorrangig negative Sicht auf Familie nicht.97 Die Soziologen Gerhard Wurzbacher und Gudrun Cyprian analysierten 1973 die Sozialisationsmängel der Kleinfamilie. Sie lehnten die Familie als Lebensmodell nicht grundsätzlich ab. Vielmehr benannten sie die Gründe für deren Defizite. Ihrer Ansicht nach resultierten sie vor allem aus der traditionellen Rollenverteilung. Schließlich erbringe der Vater eine „ungenügende Sozialisationsleistung“.98 In den öffentlichen und politischen Debatten bürgerte sich hierfür

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98

BArch Koblenz B 189/15754, Protokoll der zweiten Sitzung der Sachverständigenkommission für den Dritten Familienbericht der Bundesregierung am 25. und 26. März 1976 in Heidelberg, München, Mai 1976, 13. Ebenda. Mitterauer, Funktionsverlust, 92. Vgl. ebenda, 92f.; Süssmuth, Staat, 28. Für die Debatte der 1970er Jahre vgl. u. a. Koschorke, Formen, 535; Wurzbacher/Cyprian, Sozialisationsmängel; Wurzbacher (Hg.), Familie; Süssmuth, Staat, 26; BArch Koblenz B 189/14826, Vermerk Betr.: Podiumsdiskussion des 3. Programms des WDR am 29. November 1978 zum Thema „Ist die Familie am Ende“; hier: Beitrag Referat 231 zur Vorbereitung für Frau Minister, Bonn, 15. November 1978, 4. Zur Rezeption durch die EKD vgl. EZA 2/11499, Thesen für das Hearing des EKD-Ausschusses „Die Frau in Familie, Kirche und Gesellschaft“ am 21./22. Oktober 1977 in Stolberg/Aachen. Wurzbacher/Cyprian, Sozialisationsmängel, 18.

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der Ausdruck der „‚vaterlosen‘ Gesellschaft“99 ein, der auf den Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich zurückgeht.100 Infolge der strikten Aufgabenverteilung würden sich Kinder in den ersten Lebensjahren vor allem über die Mütter identifizieren. Wurzbacher und Cyprian schlossen daran eine lange Liste weiterer Sozialisationsdefizite der Familie an. Diese reichten von einer zu starken MutterKind-Bindung über eine Tradierung traditioneller Geschlechterrollen bis zur mangelnden Qualifikation für die Elternrolle. Aus diesen Befunden leiteten die beiden Wissenschaftler ab, dass die Familie der „kognitiven, sozialen und politischen Entwicklung des Kindes“101 nicht gerecht werde.102 Im Kern sei damit die Kleinfamilie eine defizitäre soziale Institution, welche die an sie herangetragene Funktion der Kindererziehung nicht mehr erfülle. Als Lösungsmodell für dieses Problem diskutierten Sozialwissenschaftler und Politiker den Ausbau von Kindergärten und Ganztagsschulen.103 Die Entscheidung, ob die Kinder solche Einrichtungen besuchten, so Wurzbacher und Cyprian, dürfe dabei keinesfalls den Eltern überlassen werden. So würden lediglich Eltern aus der „bildungswilligen Mittel- und Oberschicht“ auf dieses Angebot zurückgreifen, die Eltern aus der „Unterschicht“ es hingegen nicht wahrnehmen.104 An diesem Punkt zeigt sich besonders deutlich, dass die Familie in Westdeutschland während der 1970er Jahre kein Privatraum war, der sich der staatlichen Intervention entzogen hätte. Inwiefern Kindererziehung an staatliche Einrichtungen oder aber generell an Dritte übertragen werden dürfe, stellte somit die zentrale strittige Erziehungsfrage der 1970er Jahre dar. Die Konflikte lassen sich exemplarisch anhand zweier Debatten erfassen: denen um das Modell Tagesmütter und um den Zweiten Familienbericht. Bei Tagesmüttern handelte es sich um Frauen, die nach einer „Kurzausbildung“ neben ihrem eigenen Kind unter drei Jahren höchstens drei weitere Kinder im gleichen Alter aufnahmen und in der eigenen Wohnung betreuten. Die Zeitschrift Brigitte präsentierte in zwei Artikeln 1973 und 1974 dieses alternative Betreuungsmodell und verwies darauf, dass es bereits seit 1969 in Schweden erprobt werde. Auch Mitarbeiter des Bundesfamilienministeriums hatten schon 1972 erstmals ein solches Modellprojekt angeregt, das die Berufschancen von 700.000 erwerbstätigen Müttern mit gut 800.000 Kindern unter drei Jahren im Jahr 1973 merklich verbessern sollte. Die praktische Umsetzung des

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AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 5151, Entwurf alternativer Leit- und Grundsätze zur Familienpolitik, ohne Ort, [März 1974], 6. Vgl. Mitscherlich, Weg; Freimüller, Alexander Mitscherlich, 233–266. Wurzbacher/Cyprian, Sozialisationsmängel, 59. Vgl. ebenda, 18, 25–52, 59; Jakob, Gesellschaftsbilder, 304f. Vgl. Schmidt, Ortsbestimmungen, 22ff. Vgl. Wurzbacher/Cyprian, Sozialisationsmängel, 59f.; Kirchenkanzlei im Auftrage des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Frau, 52–54.

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theoretischen Vorschlags erfolgte zwischen 1974 und 1978 als „Modellprojekt ‚Tagesmütter‘“ in elf Städten mit 235 Tagesmüttern und 400 Kindern. Die wissenschaftliche Begleitung des Versuchs übernahm das Deutsche Jugendinstitut in München.105 Bereits in der Testphase kam in der öffentlichen Diskussion mehrfach der Vorwurf auf, dass das Familienministerium mit diesem Modell die Erziehungskompetenz der Familie infrage stelle. Selbst sozialdemokratische Landesregierungen verweigerten ihre Mitarbeit an der Projektidee und beriefen sich dabei u. a. auf den Verhaltensbiologen Bernhard Hassenstein, den Kinderarzt Theodor Hellbrügge sowie den Kinderarzt und Psychiater Johannes Pechstein. Nach deren Darstellung bestand die Gefahr, dass die Kinder verhaltensauffällig würden, wenn ihnen die Mütter „tageweise entzogen“106 würden. In der Kontroverse trat unter anderem der Verhaltensbiologe Hassenstein prominent hervor und veröffentlichte mehrere Forschungsergebnisse, die seine Thesen stützen sollten.107 Hassenstein orientierte sich an der Hospitalismus-Forschung des US-amerikanischen Kinderpsychiaters René Spitz. Dieser hatte in den 1940er Jahren an amerikanischen und französischen Säuglingen aus Kinderheimen aufgezeigt, dass bereits eine Trennung von der Mutter emotionale und soziale Störungen bei den Kindern hervorrufen könne. Zudem berief sich Hassenstein in einem Vortrag am Kölner Lindenthal-Institut im Sommer 1977 auf die Ergebnisse seines Assistenten Michael Morath. Dieser habe fünf akustische Signale identifiziert, mittels derer Säuglinge schon in den ersten Wochen ihre Wünsche an die Mütter signalisieren könnten. Es handele sich hierbei um einen „Kontaktruf zur Mutter“,108 der beim Erwachen artikuliert werde. Das zweite Signal weise die Mutter darauf hin, unangenehme Gegenstände zu entfernen wie zum Beispiel aus der Nase. Im Schlaf kommuniziere das Kind drittens alle zehn bis 20 Minuten, es gehe ihm gut. Viertens signalisiere das Kind beim Stillen einen optimalen Fluss der Milch. Die Nahrungsaufnahme beende das Kind schließlich mit einem fünften Zeichen, welches auf ein Sättigungsgefühl und Zufriedenheit hinweise. Mit diesen naturwissenschaftlichen Befunden verfolgte Hassenstein eine doppelte familienpolitische Zielrichtung. Er stellte insbesondere die Thesen des Zweiten Familienberichts infrage und plädierte für eine Primärsozialisation

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Vgl. ADL A 49-503, FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag, Arbeitskreis III, Vermerk für Herrn Spitzmüller, Betr.: Modellprojekt „Tagesmütter“ des BMJFG von 1974; hier: Pädiatrische Beurteilung, Bonn, 17. Februar 1976; Hassenstein, Projekt, 415f.; Günstiger Verlauf, 67; Pross, Wirklichkeit, 213ff.; Cramer, Lage, 138ff.; Münch, Familienpolitik (1974– 1982), 652f.; Modellprojekt Tagesmütter, in: http://www.dji.de/index.php?id=41224 (letzter Zugriff am: 04.01.2019). Kinderarzt Theodor Hellbrügge zit. n.: Münch, Familienpolitik (1974–1982), 654. Vgl. exemplarisch Hassenstein, Projekt. Vocke, Familie.

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der Kleinkinder in der Familie. Zudem kritisierte er so direkt das TagesmütterProjekt und die dahinterstehenden politischen Ziele.109 Gerade zu dem Zeitpunkt, als Hassenstein seine Thesen postulierte, verbreitete sich innerhalb der Wissenschaft eine konträre Sicht, die Ursula Lehr 1979 zusammenfasste. Lange seien die negativen Folgen der Berufsarbeit von Müttern unhinterfragt gültig gewesen, gerade weil der Psychoanalytiker René Spitz und der Kinderarzt und Psychiater John Bowlby das Hospitalismus-Syndrom oder Deprivations-Syndrom „so eindringlich geschildert und auf die mütterliche Vernachlässigung zurückgeführt haben, so überzeugt, daß man auch das nur stundenweise Fehlen der Mutter für die verschiedenartigsten Retardationserscheinungen verantwortlich macht“.110 Lehr teilte diese Deutung nicht und verwies auf einen zentralen methodischen Fehler. So basierten die Ergebnisse auf Heimkindern und deren Trennung von ihrer Familie und seien auf die Familien berufstätiger Mütter übertragen worden. Das sei jedoch nicht zulässig, zumal bei einer Berufsarbeit die Mütter und ihre Kinder immer nur temporär, nicht aber dauerhaft getrennt seien. Generell haben Studien zu den Folgen der Berufsarbeit von Müttern mit Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren keine negativen Folgen feststellen können. Damit seien nicht nur die Befunde Bowlbys und Spitz’ widerlegt. Vielmehr könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Kinder von berufstätigen Müttern mit einer höheren Wahrscheinlichkeit verhaltensauffällig wären oder Entwicklungsstörungen aufwiesen.111 Das Projekt „Tagesmütter“ zog gegen Mitte der 1970er Jahre aber noch weitere Kritik auf sich. So verwehrten die Vertreterinnen der Frauenbewegung dem Modellprojekt ihre Zustimmung, da es die Frau auf die Rolle der Kindererziehung fixiere und dadurch die traditionellen Geschlechterrollen bewahre. Ungeachtet dieser Kritik belegte das Projekt, dass die von Tagesmüttern betreuten Kleinstkinder im Vergleich zu von Müttern erzogenen Kindern keine negativen Entwicklungen zeigten. Der Abschlussbericht sprach sogar davon, dass diese Art der Betreuung einen besonders positiven Effekt auf die Sozialisation der Kinder haben könne. Zudem seien die Entwicklungschancen besonders günstig, wenn die Mütter sich nicht in den Familien isolieren würden und stattdessen einen Halbtagsberuf übernähmen.112 109

110 111 112

Vgl. Kinder in der Krippe, 109; Vocke, Familie; Gebhardt, Angst, 177. Für die Forschungsarbeiten René Spitz’ vgl. u. a. Spitz, Hospitalism; ders., Säugling; ders., Hospitalismus I; ders., Hospitalismus II. Für ähnliche Argumente vgl. Bowlby, Bindung. Lehr, Berufstätigkeit, 242. Für eine Zusammenfassung vgl. Kolbe, Elternschaft, 151–156. Vgl. Lehr, Berufstätigkeit, 245, 249f.; Nye/Perry/Ogles, Anxiety. Vgl. ADL A 49-503, FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag, Arbeitskreis III, Vermerk für Herrn Spitzmüller, Betr.: Modellprojekt „Tagesmütter“ des BMJFG von 1974; hier: Pädiatrische Beurteilung, Bonn, 17. Februar 1976; Schock und Ängste, 49; Günstiger Verlauf, 67; Das Modellprojekt Tagesmütter, 15, 17f.; Arbeitsgruppe Tagesmütter, Modellprojekt Tagesmütter; Lehr, Partnerschaft, 83; Münch, Familienpolitik (1974–1982), 652ff.;

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Ein Streitpunkt in der öffentlichen Kontroverse blieb gleichwohl die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Mutter-Kind-Beziehung ohne einen negativen Effekt gelöst werden könne. Eine Trennung nach einem Jahr, so ergab das TagesmütterProjekt, war besonders problematisch, da die Kinder zu diesem Zeitpunkt die Veränderung bewusst wahrnahmen. Insofern plädierten die Wissenschaftler dafür, die Trennung zu einem früheren Zeitpunkt durchzuführen, bevor also das Kind die entsprechenden kognitiven Fähigkeiten hierzu entwickelt hätte. Oder sie setzten sich dafür ein, mit der Trennung bis zum zweiten Lebensjahr zu warten, da dann ebenfalls weniger Schwierigkeiten auftreten würden.113 Die mit der Ausarbeitung des Zweiten Familienberichts betraute Sachverständigenkommission untersuchte die Familie vor allem im Hinblick auf ihre Sozialisationsfunktion. Der 1975 veröffentlichte Bericht reihte sich in den zeitgenössischen Diskurs um die Sozialisationsdefizite der Kernfamilie ein.114 Er benannte die „Leistungen und Leistungsgrenzen der Familie hinsichtlich des Erziehungs- und Bildungsprozesses der jungen Generation“ und zog daraus „Schlußfolgerungen für die praktische Familienpolitik“.115 Im Detail analysierte die Kommission den Einfluss der Familie auf den Sozialisationsprozess von Kindern. Es stand dabei die Frage im Mittelpunkt, wie sich im ersten Lebensjahrzehnt Selbstsicherheit, Gewissen, intellektuelle Fähigkeiten, Leistungsmotivation, Empathie und Solidarität sowie Konfliktbewältigung entwickelten.116 Wie Wurzbacher und Cyprian benannte die Expertenkommission mehrere Defizite der Familie im Hinblick auf ihre Sozialisationsfunktion. Besonders problematisch wertete die Kommission den Umstand, dass sich in der Praxis weiterhin primär die Mütter um die Kindererziehung kümmerten. Selbst wenn der Bericht von den „Eltern“ sprach, bezogen sich somit die Ausführungen der Kommission in erster Linie auf die Erziehungskompetenz der Mutter.117 Zudem benannte die Kommission eine Reihe von Defiziten, die sich vor allem in sozial schwachen Familien zeigten. Denn dort übertrage die Elterngeneration durch eine mangelhafte Erziehung die soziale Benachteiligung auf die Kinder. Kindergärten würden jedoch dieses Risiko reduzieren, da Kinder in Kontakt mit Altersgenossen und geschulten Erziehern kämen, so die These der Kommission. Argumentativ schloss der Bericht damit an die Positionen Wurzbachers und Cyprians an. Zudem ließ sich so begründen, dass Kindererziehung nicht ausschließlich in Familien geleistet werden sollte. Selbst Mütter unterstützten dieses

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Modellprojekt Tagesmütter, in: http://www.dji.de/index.php?id=41224 (letzter Zugriff am: 02.01.2016). Das Modellprojekt Tagesmütter, 18; Schweitzer, Entwicklungstendenzen, 60; Lehr, Rolle, 109ff.; dies., Berufstätigkeit, 242–245, 249; Abschied vom Mythos der Mutterbindung. Vgl. Münch, Familienpolitik (1974–1982), 641. Bericht der Sachverständigenkommission, Zweiter Familienbericht, 11. Vgl. ebenda, 11, 14. Vgl. ebenda, 26f., 31.

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Vorgehen, wie eine repräsentative Umfrage von 1973 offenlegte. 46 Prozent der Mütter befürworteten staatliches Eingreifen, wenn die elterliche Erziehung nicht „die bestmögliche Erziehung des Kindes gewährleiste[. . . ]“.118 Die Sozialisationsdefizite der Familie ließen sich nach dieser Lesart überwinden, wenn die Kindererziehung rationalisiert sowie optimiert würde und an staatliche Einrichtungen überginge.119 Nachdem der Familienbericht in einer Auflagenstärke von 50.000 Exemplaren gedruckt und an Schulen, Hochschulen, Verbände, politische Organisationen, Lehrer und Einrichtungen für die Erwachsenenbildung verteilt worden war, setzte eine mehrjährige öffentliche Kontroverse um den Bericht ein. Der CDUPolitiker Albert Burger sprach in diesem Zusammenhang sogar vom „Kampf um das Kind“,120 der sich an der Erziehungsfrage materialisiere. Bereits zu Beginn des Konfliktes geriet die Bundesregierung in die Defensive, da sie sich in ihrer Stellungnahme zum Bericht der Sachverständigenkommission nicht explizit von der Übertragung von Erziehungsaufgaben an staatliche Einrichtungen distanziert hatte. Die Regierung stellte jedoch später klar, dass ein Schweigen zu bestimmten Punkten nicht als eine grundsätzliche Zustimmung zum Befund der Kommission gewertet werden dürfe.121 Dessen ungeachtet gingen Unionspolitiker gegen den Bericht der Sachverständigenkommission wie auch die Bundesregierung heftig vor. Sie kritisierten sein „rein funktionalistisch-technokratisch[es]“ Verständnis von Familie, die zu einer „Dienstleistungsgruppe“122 degradiert werde.123 Ferner werde die „Normalfamilie“ primär über ihre Defizite bestimmt. Ihre „positiven Seiten“ blieben hingegen genauso ausgespart wie die Erziehungsleistung der Eltern, monierten Unionspolitiker weiter. Zum Beispiel werde der Kleinfamilie 118 119 120 121

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Ebenda, 28. Vgl. ebenda, 31, 43ff. Für eine kritische Diskussion der Arbeiten zur Sozialisation von Heimkindern vgl. u. a. Lehr, Rolle, 20–24, 71. ACDP 08-005-128/1, Albert Burger, Betr.: Weiterentwicklung des Familienlastenausgleichs, ohne Ort, ohne Datum. Für den Umgang der Bundesregierung mit der Kritik am Zweiten Familienbericht vgl. BArch Koblenz B 189/15746, Neuer Familienbericht der Regierung?, in: Die Allgemeine Sonntagszeitung, 23. Dezember 1978; BArch Koblenz B 189/15746, Bundesminister der Justiz, Betr.: Dritter Familienbericht, hier: Stellungnahme der Bundesregierung, Bonn, 1. März 1979, 2f. ACDP 08-001-420/1, Vermerk Herrn Parlamentarischen Geschäftsführer Dr. [Philipp] Jenninger, Betr.: Analyse des Zweiten Familienberichts der Bundesregierung, Bonn, 13. April 1976, 8. Für eine ähnliche Einschätzung vgl. ACDP 08-001-420/1, Frauenvereinigung des Landesverbandes Rheinland der CDU, Protokoll der Kommissionssitzung am 13. Mai 1976 in Köln, Köln, 21. Mai, 1976, 1f. Vgl. ACDP 08-001-420/1, Vermerk Herrn Parlamentarischen Geschäftsführer Dr. [Philipp] Jenninger, Betr.: Analyse des Zweiten Familienberichts der Bundesregierung, Bonn, 13. April 1976, 2–9; BArch Koblenz B 189/15744, Vermerk von Koch v. Stocki, Betr.: Druck des Dritten Familienberichtes und Nachdruck des Zweiten Familienberichtes, Bonn, 1. August 1979, 1f.

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eine sogenannte Tendenz zum „Familismus“ vorgeworfen. Dahinter verbarg sich die These, dass sich die Familie als soziale Gruppe zusehends auf sich selbst konzentriere und sich nicht am Gesellschaftsleben beteilige.124 Noch wesentlich weitreichendere Kritik zog aber ein anderes Statement der Kommission auf sich, das selbst noch in den 1980er Jahren bei Unionspolitikern wie Vertretern der katholischen Kirche nachhallte. „Erziehung der Kinder ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe besonderer Art und Bedeutung“, hielt der Bericht fest und führte weiter aus: „Die Wahrnehmung dieser Aufgabe überträgt unsere Gesellschaft Familien und außerfamilialen pädagogischen Erziehungseinrichtungen.“125 Hierzu zählten unter anderem Kindergärten, Schulen und Sonderschulen, aber auch Tageseinrichtungen wie Kinderkrippen, Kinderhorte und Ganztagsschulen. Insbesondere wenn Familien ihrer Erziehungsfunktion nicht nachkämen, sollten diese Einrichtungen ergänzend wirken.126 Die CDU, die Frauenvereinigung der Union, die Katholische Kirche und das ZdK bündelten ihre massive Kritik am Zweiten Familienbericht auf diese Formulierungen. Schließlich werde die Familie durch diese Art der „Arbeitsteilung“127 ihrer originären Erziehungsaufgabe beraubt. Es handele sich hierbei um nicht weniger als die Entmündigung der Eltern, warnte die Gruppe der Kritiker.128 Auf dem Neujahrsempfang des Diözesanrats im Januar 1976 reagierte Joseph Kardinal Höffner auf den Familienbericht und schaltete sich in die Debatte ein. Er warf der Bundesregierung vor, sie plane, „die Erziehung der Kinder den Familien wegzunehmen“.129 Er bezeichnete dies als „ungeheuerlich“. Mit diesem „Zerbröckeln der sittlichen Wertüberzeugungen“, so Höffner weiter, würden „Beliebigkeit und Ideologie“ triumphieren.130 Der parlamentarische Geschäftsführer der Union, Philipp Jenninger, intervenierte ebenfalls. Er lehnte es ab, dass der Bericht der demokratischen westdeutschen Gesellschaft das „Primat kollektivis124

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127 128 129 130

Vgl. ACDP 08-001-420/1, Vermerk Herrn Parlamentarischen Geschäftsführer Dr. [Philipp] Jenninger, Betr.: Analyse des Zweiten Familienberichts der Bundesregierung, Bonn, 13. April 1976, 10f.; ACDP 08-001-420/1, Frauenvereinigung des Landesverbandes Rheinland der CDU, Protokoll der Kommissionssitzung am 13. Mai 1976 in Köln, Köln, 21. Mai, 1976, 1f.; Bericht der Sachverständigenkommission, Zweiter Familienbericht, 62f.; Kramer, Bewegungen, 219. Verwiesen u. a. auf Wurzbacher/Cyprian, Sozialisationsmängel. Bericht der Sachverständigenkommission, Zweiter Familienbericht, 120. Vgl. ebenda, 120ff.; ACDP 08-001-420/1, Vermerk Herrn Parlamentarischen Geschäftsführer Dr. [Philipp] Jenninger, Betr.: Analyse des Zweiten Familienberichts der Bundesregierung, Bonn, 13. April 1976, 12ff.; Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Stellungnahme der Deutschen Katholiken zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation der Familie (1976), 72ff. Bericht der Sachverständigenkommission, Zweiter Familienbericht, 120. Vgl. Münch, Familienpolitik (1974–1982), 6. BArch Koblenz B 189/15744, Familienpolitik kritisiert. Kardinal Höffner: Bonn will Erziehung der Kinder wegnehmen, in: Rheinische Post, 19. Januar 1976. Vgl. ebenda.

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tischer Wertvorstellungen“131 überstülpe. Ohne es direkt zu benennen, deutete er damit an, dass diese Art der Kindererziehung besser in die sozialistische DDR als in die demokratische Bundesrepublik passe.132 Das ZdK warf dem Bericht sogar vor, er verstoße gegen das Grundgesetz. Andere kirchennahe Organisationen wie die EAF teilten jedoch diese Einschätzung nicht. Dies geht unter anderem aus einem Briefwechsel zwischen dem Präsidenten der EAF, Siegfried Keil, und dem Präsidenten des ZdK, Bernhard Vogel hervor. Dabei distanzierte sich Keil explizit von der Ansicht des ZdK.133 Den harten Positionen von Union, katholischer Kirche und ZdK standen somit durchaus auch abwägende Urteile wie von der EAF gegenüber. 1978 relativierte die EAF darüber hinaus einen zentralen Kritikpunkt am Zweiten Familienbericht. So sei der „Vorwurf familienzerstörender Tendenzen“134 nicht gerechtfertigt. Obwohl die EAF durchaus den Abschnitt mit der Kindererziehung als „gesamtgesellschaftliche Aufgabe besonderer Art“ kritisch einschätzte, entkräftete sie die massive Kritik. Nach Darstellung der EAF handelte es sich hierbei lediglich um ein Missverständnis, da die Kommission in ihrem Bericht sprachlich nicht hinreichend unterschieden habe zwischen den von der Familie zu übernehmenden Erziehungsaufgaben und den Fällen, in denen staatliche Einrichtungen wie Kindergärten die Familie bei der Erziehung ergänzen sollten.135 Allerdings glätteten solche relativierenden Einschätzungen die Wogen bis in die 1980er Jahre nicht. „Die familienfeindliche Ideologie wurde am deutlichsten im 2. Familienbericht von 1975“,136 rekapitulierten die Unionsparteien in einer Druckschrift zur Familienpolitik vom April 1985.

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ACDP 08-001-420/1, Vermerk Herrn Parlamentarischen Geschäftsführer Dr. [Philipp] Jenninger, Betr.: Analyse des Zweiten Familienberichts der Bundesregierung, Bonn, 13. April 1976, 15. Vgl. ebenda, 14f.; ACDP 08-001-420/1, Frauenvereinigung des Landesverbandes Rheinland der CDU, Protokoll der Kommissionssitzung am 13. Mai 1976 in Köln, Köln, 21. Mai, 1976, 1f.; BArch Koblenz B 189/15744, Eltern betonen „natürliches Erziehungsrecht“. Scharfe Kritik an Familienbericht der Bundesregierung, in: KNA, Nr. 43, 21. Februar 1976. Vgl. Archiv des ZdK 2306 Schachtel 10A, Siegfried Keil, Bonn, 8. Juni 1976, 1; Archiv des ZdK 2306 Schachtel 10A, Friedrich Kronenberg, Bonn-Bad Godesberg, 29. Juni 1976; Archiv des ZdK 2306 Schachtel 10A, Kurt Neumann, Bonn, 6. Juli 1976. Siegfried Keil studierte evangelische Theologie sowie Soziologie und promovierte in beiden Fächern. Anschließend habilitierte er sich im Fachgebiet Sozialethik. Vgl. Jakob, Familienbilder, 254f. BArch Koblenz B 189/15744, Zum Zweiten Familienbericht. Eine späte Stellungnahme der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen, in: Familienpolitische Informationen, 17. Jg, H. 1, Januar 1978, 3. Vgl. ebenda, 3f. ACSP D 12/132 Argumente. Bericht der Kommission Familienlastenausgleich der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion. Familienpolitik im Wandel (Maßnahmen der Bundesregierung und Vorschläge der Kommission Familienlastenausgleich), ohne Ort, Stand 10. April 1985, 14.

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Die Thesen zur Aufteilung der Kindererziehung zwischen Eltern und Kindergärten hatten sich zu diesem Zeitpunkt von den Extrempositionen der Mitte der 1970er Jahre entfernt, wie die Erziehungswissenschaftlerin Rita Süssmuth im Oktober 1980 auf dem vom ZdK veranstalteten Zweiten Kongress über aktuelle Fragen der Familie und der Familienpolitik betonte.137 Auch Sozialdemokraten hatten bereits gegen Mitte der 1970er Jahre die Vorzüge der Familie bei der Kindererziehung herausgestellt. So zeigten Forschungsarbeiten von Psychologen und Kleinkindpädagogen auf, daß die fundamentalen Fähigkeiten wie Nahrungsaufnahme, Hygiene, Entwicklung der Motorik [. . . ] am besten in einer Gruppe eingeübt werden können, deren personale Zusammensetzung sich nicht wesentlich ändert und in der ein Erwachsener – der nicht unbedingt die Mutter sein muß – die Rolle der Dauerperson übernimmt.138

Kindererziehung sollte somit primär in einer stabilen Personengruppe erfolgen. Sozialdemokraten hoben ebenfalls auf dieses wichtige Element der Kindererziehung ab, brachen an anderer Stelle aber mit tradierten Vorstellungen. Die Bezugsperson des Kindes musste ihrer Ansicht nach nicht notwendigerweise die Mutter sein. Sie sprachen daher geschlechtsneutral lediglich noch von einer „feste[n] Bezugsperson“,139 welche sich um die Kindererziehung zu kümmern habe.140 Damit konnte die Kindererziehung – zumindest in Teilen – an eine staatliche Einrichtung mit dafür ausgebildeten Pädagogen übertragen werden.141 Allerdings blieb in den Augen der Sozialdemokraten die Kindererziehung weiterhin die primäre Aufgabe der Eltern, die jedoch im Unterschied zu früher nun von beiden Elternteilen geleistet werden sollte.142 Sozialdemokraten sprachen der Familie folglich durchaus einen positiven Effekt auf die soziale Entwicklung der Kinder zu. Schließlich wirke Familie als sozialer Ordnungsrahmen „emotional stabilisierend“ auf die Familienmitglieder, da sie die von Gesellschaft und Beruf ausgelösten „Frustrationen und Aggressionen“ kompensiere. Deren Ursachen jedoch könne Familie nicht beseitigen. Insofern stünden Familie und Gesellschaft in einem engen Wechselverhältnis und beeinflussten sich gegenseitig. Die Aufgabe der Politik, so die SPD, sei es 137 138 139 140 141

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Vgl. Süssmuth, Staat, 27f. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 5151, Entwurf alternativer Leit- und Grundsätze zur Familienpolitik, ohne Ort, [März 1974], 8. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Grundsatzfragen, 10. Vgl. u. a. Lehr, Rolle, 113f., 135. Vgl. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 5151, Entwurf alternativer Leit- und Grundsätze zur Familienpolitik, ohne Ort, [März 1974], 8f.; Eilers, Einleitung, 3; Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Die Situation des Kindes in der Familie, 8f.; Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Grundsatzfragen, 3. Vgl. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Leitsätze, 5; ACDP 08-001-813/1, Ergebnisse aus dem Hearing zu „Arbeitszeit und Familie“ am 17. November 1981, Bonn, 24. November 1981, 1.

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nun, auf diese Veränderungen zu reagieren und die Familienpolitik an die neuen Rahmenbedingungen zu adaptieren. Diese Einschätzung erklärt sowohl das Umdenken in der Familienpolitik als auch die Verabschiedung der Reformgesetze in den 1970er Jahren.143 Parallel hatten Sozialdemokraten die Belastungen für die Mütter im Blick, die sich durch Kindergärten reduzieren ließen. Zudem eröffne die außerfamiliale Kinderbetreuung den Müttern die Möglichkeit, stärker am öffentlichen Leben zu partizipieren.144 Dieser Sichtweise verschloss sich jedoch in den 1970er Jahren die Union. Die Vorsitzende der Frauenvereinigung und stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union, Helga Wex, erklärte in den familienpolitischen Leitsätzen ihrer Partei zwar, dass die Rollen berufstätige Frau und Hausfrau gleichwertig seien. Implizit sah die Union jedoch die Rolle der Mutter weiterhin primär in der Familie und nicht im Erwerbsleben, zumal Kindererziehung als primäre Aufgabe der Eltern galt. Hatte die Union in den Leitlinien 1976 noch offengelassen, welches Elternteil für die Kindererziehung zuständig sei, so galt dies im Ludwigshafener Grundsatzprogramm 1978 nicht mehr. In den ersten Lebensjahren des Kindes sei dies die ausschließliche Aufgabe der Mutter, betonte nun die Union.145 Noch klarer zeigten sich die Frontlinien der familienpolitischen Debatten innerhalb der Union im Wahljahr 1980, als sich Norbert Blüm für die Gleichberechtigung von Hausfrau bzw. Mutter gegenüber der berufstätigen Frau einsetzte. Helga Wex fragte anschließend in ihrer Rede, inwiefern Gleichberechtigung ein Kernanliegen der Union sei. Damit zeichnete sich ein Konflikt ab, der sich im folgenden Jahr verschärfte, zumal Blüm argumentierte, dass durch einen freiwilligen Verzicht der Mütter auf Berufsarbeit die Arbeitslosenzahl gesenkt werden könne. Auf der Tagung der Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) im Oktober 1981 brachte der Berliner Bundessenator Blüm sein Grundsatzpapier Die sanfte Macht der Familie ein. In der Abstimmung setzte es sich gegen den Widerstand der Sozialpolitikerin und Vorsitzenden des Arbeitskreises „Familienpolitik“ der CDA Renate Hellwig und anderer Unionsfrauen durch. Damit schrieb

143 144 145

Vgl. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 5151, Entwurf alternativer Leit- und Grundsätze zur Familienpolitik, ohne Ort, [März 1974], 8–11. Vgl. ebenda, 6, 9. Vgl. ACDP 07-001-G 8716, Helga Wex, Leitsätze der Familien- und Jugendpolitik, Bonn, 9. November 1972; ACDP 07-001-G 8716, Familienpolitische Leitsätze der CDU, ohne Ort, [November 1972], 1f.; ACDP 07-004-569/1, Leitsätze zur Familienpolitik, ohne Ort, [April 1976], 1; ACDP 07-001-8724, Leitsätze zur Familienpolitik, Bonn, 11. Mai 1976, 8; Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. Verabschiedet auf dem 26. Bundesparteitag, Ludwigshafen, 23.–25. Oktober 1978 (Ludwigshafener Programm), http://www.kas.de/upload/ACDP/CDU/Programme_Beschluesse/1978_ Grundsatzprogramm_Ludwigshafen.pdf (letzter Zugriff am: 04.01.2019), 129f.; Münch, Familienpolitik (1974–1982), 644f.

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die CDA die Rolle der Frau auf die Kindererziehung fest und sprach ein deutliches Votum gegen staatliche Erziehungseinrichtungen wie Kindergärten aus.146 Die Debatte offenbart jedoch nicht nur deutliche Divergenzen innerhalb der Union. Sie legt zugleich offen, dass sich Anfang der 1980er Jahre in der Union wesentlich konservativere Positionen durchsetzten als noch in den 1970er Jahren. Für die Unionspolitikerin Renate Hellwig symbolisierte Blüms Papier einen „Rollback in eine Mutterkreuzideologie“.147 Er verkenne dabei die „Doppelbelastung“ genauso wie die Chancen eines auf „Partnerschaft“ ausgelegten Familienmodells, warf ihm Hellwig weiter vor. Zudem standen Blüms Leitsätze aus Hellwigs Sicht quer zum Alltag in der großen Mehrzahl der westdeutschen Familien. Diese Sichtweise teilte die katholische Frauengemeinschaft, der größte Frauenverband in Westdeutschland. Sie lehnte Blüms Thesen ebenfalls ab, da darin „ein nicht mehr vertretbares Rollendenken und Rollenverständnis“ vertreten und so eine „hierarchische Familienstruktur“148 aufrechterhalten werde. Stattdessen müssten zukünftig beide Elternteile für die Kindererziehung verantwortlich sein.149 Kritik gegen Blüms Papier brachte auch die SPD-Politikerin und spätere Familienministerin Anke Fuchs vor. Sie sprach nicht von der „sanften Macht“ der Familie, sondern von der „sanften Gewalt“. Schon damit deutete sie an, wie sehr sich die CDA an einem bürgerlichen Familienmodell orientierte. Generell würden die CDA-Sozialausschüsse ein „‚Heile-Welt‘-Familienbild“150 vertreten, das jedoch nicht den gesellschaftlichen Gegebenheiten entspreche.151 Die Vereinbarkeit von Familie und Berufsarbeit stellte in den 1980er Jahren letztlich ein gesellschaftliches Kernproblem dar, an dem sich die familienpolitischen Überlegungen der Union orientierten. Die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch und der Soziologe Norbert F. Schneider argumentieren, dass die Union lediglich vordergründig den Frauen eine reale Wahlfreiheit präsentiert habe. Die familienpolitischen Maßnahmen wie das Erziehungsgeld zielten 146

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Vgl. Vogel, Familie, 70f.; Münch, Familienpolitik (1974–1982), 645f.; Meyer, Frauen, 89f., 98, 102ff.; Schumann, Bauarbeiten, 206f. Diese Position hatte Blüm schon vorher innerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vertreten. Vgl. ACDP 08-001-1056/1, Fraktionsprotokoll der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Fraktionssitzung, 8. Mai 1979, 7. Renate Hellwig zit. n.: Sanfte Macht, 73. Für ähnliche Zitate Hellwigs vgl. Meyer, Frauen, 104. ACDP 08-001-813/1, Katholische Frauengemeinschaft, Düsseldorf, 23. September 1981, 1 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Vgl. ebenda, 1f.; ACDP 08-001-813/1, Renate Hellwig, „Die neue Zeit kommt im Gewand der Mütterlichkeit“. Sehnsucht nach der Frauenherrschaft?, Bonn, 7. Oktober 1981, 1f.; ACDP 08-001-813/1, [Renate Hellwig], Meine Interpretation zu den beiden Papieren, ohne Ort, ohne Datum, 1ff.; Peter, CDA; Sanfte Macht. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 10474, Anke Fuchs, Für Partnerschaft für Mann und Frau, ohne Ort, ohne Datum, 10. Vgl. ebenda, 1, 10f. Siehe auch Huber, Ware.

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schließlich darauf, dass die Frauen zumindest für eine bestimmte Zeit ihren Beruf für die Erziehung ihrer Kinder aufgäben.152 Besonders deutlich zeigten sich die unterschiedlichen Ansichten 1989 im Konflikt der Familienministerin Ursula Lehr mit den Bundestagsfraktionen von CDU und CSU, der Basis der Union und Helmut Kohl. Die Ministerin forderte, dass auch zweijährigen Kindern ein Platz im Kindergarten zur Verfügung gestellt werden sollte. Erneut machte sie mit dieser Haltung klar, dass es sich bei Mutterschaft nicht um eine Lebensaufgabe handele. Zudem favorisierte sie Ganztagsschulen und flexiblere Arbeitszeitmodelle und knüpfte hier durchaus an Positionen an, die sie schon in den 1970er Jahren vertreten hatte. Die Reaktionen der Union auf diese Position fielen heftig aus. Jetzt erschien die Bedrohung der Erziehungseinrichtung Familie aus ihrer Perspektive ungleich größer als noch in den 1970er Jahren. Während damals die Gefahr in der Vision „sozialutopischer Kollektivierer“ bestanden habe, handele es sich nun um „die Folge eines ungehemmten Selbstverwirklichungsdrangs von Müttern“,153 warnten die Gegner Lehrs. Die Bundestagsfraktion sah infolgedessen Lehrs Gedankenspiele mit großer Besorgnis und wertete ihr Anliegen als eine Diskriminierung der Hausfrauen und Mütter. Es folgten heftige Attacken gegen die Ministerin in den Fraktionssitzungen im Frühjahr 1989. Die bayerische Staatsregierung und ihr Sprachrohr der Bayernkurier revoltierten ebenfalls massiv gegen die Pläne. Schließlich legte Bundeskanzler Kohl der Ministerin Lehr nahe, sich von ihren Äußerungen zu distanzieren.154 Während innerhalb der Union die Pläne Lehrs somit auf heftigen Widerstand stießen, orientierten sie sich jedoch faktisch an der sozialen Realität gerade der besser ausgebildeten Frauen im Alter von 20 bis 40 Jahren.155 Diese Gruppe von Frauen suchte nach Lebensmodellen, die es erlaubten, Familie und Beruf miteinander zu verknüpfen, wie später am Beispiel der alternativen familialen Lebensformen diskutiert wird.

8.3 Partnerschaft als Integrationsmodell für Familienbeziehungen Partnerschaft firmierte als Leitbegriff der 1970er Jahre. Er prägte vor allem die Neuausrichtung der Familienpolitik wie auch des Familienrechts, welche die Individualrechte der Familienmitglieder stärkten und zugleich die Gleichberechtigung als politische Vorgabe umsetzten. Darüber hinaus bezog er sich auf 152 153 154 155

Vgl. Münch, Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 172–175; Münch, Familienpolitik (1982–1989), 522; Schneider, Familie und private Lebensführung, 64. Familienbilder, 104. Vgl. ebenda; Kenntemich, CDU; Wirsching, Abschied, 345ff. Vgl. ebenda, 347f.; Münch, Familienpolitik (1982–1989), 532.

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ein neues innerfamiliales Rollenarrangement. Im Unterschied zu den 1950er Jahren, als sich beide Ehepartner vermeintlich kameradschaftlich ergänzt hatten und folglich tradierte Geschlechterrollen aufrechterhalten worden waren, rückte in diesem Jahrzehnt eine egalitär-gleichberechtigte Aufgabenverteilung in den Mittelpunkt der Debatte. Die Sozialhistoriker Michael Mitterauer und Reinhard Sieder beschreiben diesen Entwicklungsprozess des 20. Jahrhunderts als einen Übergang Vom Patriarchat zur Partnerschaft. In diesem programmatischen Titel ihrer 1977 publizierten Studie fassten sie verkürzend die gesellschaftliche Veränderung von einem als antiquiert empfundenen zu einem als „modern“ eingestuften Familienmodell zusammen.156 Die Ablösung des patriarchalischen Familienideals durch ein partnerschaftliches Familienleitbild wurde auch medial verhandelt. Die größte Reichweite entfaltete dabei die Fernsehsendung Ein Herz und eine Seele um die Familie Tetzlaff aus den Jahren 1973 und 1974, die gesellschaftlich verhandelte Themen aufgriff und an die massenmediale Präsentation adaptierte. Die Serie parodierte die Spannungen zwischen den unterschiedlichen Geschlechterrollen wie auch den Generationenkonflikt der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Alfred Tetzlaff, der umgangssprachlich als Ekel Alfred tituliert wurde, verlangte Gehorsam von den anderen Familienmitgliedern und bestimmte als patriarchalisches Familienoberhaupt über die Finanzen sowie das Essen der Familie. Zudem kritisierte er seine Frau Else genauso wie die Tochter Rita und den Schwiegersohn Michael. Er sprach überdies abfällig über seine Ehefrau und weigerte sich, im Haushalt mitzuhelfen. Demgegenüber behandelte Michael Rita zuvorkommend und übernahm einen Teil der anfallenden Hausarbeiten wie das Tischdecken und den Abwasch. Damit liefen in der Serie die zwei unterschiedlichen Rollenmodelle zusammen, wobei die patriarchalische Vorrangstellung des Ehemannes als das überholte, die partnerschaftliche Aufgabenverteilung als das zeitgemäße Geschlechterrollenmodell galt. Indem die Sendung den Zuschauern die Rollenarrangements spiegelte, schuf sich gleichsam ein Bewusstsein für den gesellschaftlich-kulturellen Wandel. Gleichzeitig wurden Grundpfeiler der Sozialbeziehungen wie die Familie als Institution nicht hinterfragt, wodurch die Zuschauer die Veränderungen als moderat wahrnahmen, sich mit ihnen identifizieren und selbst zumindest partiell adaptieren konnten. Damit wirkte die Sendung wie ein „catalyst, accelerator and sanitiser“157 für den soziokulturellen Wandel der späten 1960er und 1970er Jahre.158 156

157 158

Vgl. u. a. Ehe [Brockhaus 1978], 327; Mitterauer/Sieder, Patriarchat; Mitterauer, Funktionsverlust, 115; Keil, Familie, 1; Kaufmann, Ehe, 468. Zur Diskussion des Titels vgl. Mitterauer/Sieder, Vorwort. Zur Diskussion des Konzepts von „Patriarchat“ vgl. Hausen, Patriarchat. Hodenberg, Television’s Moment, 2. Vgl. ebenda, 2, 26–29, 189–200, 210ff. Für diese Argumentation siehe ebenfalls Hodenberg, Fernsehrezeption; Hodenberg, Ekel Alfred.

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8. Rekonfiguration der Ideale „Familie“ und „Partnerschaft“

Der Wandel der Geschlechterrollen wurde in den 1970er Jahren auch in der politischen Arena verhandelt. „Wir brauchen die Unbefangenheit, uns von überholten Rollenvorstellungen zu lösen, ohne falsches Prestigedenken, ohne Sentimentalität, ohne Furcht vor der Verantwortung“,159 forderte die FDP-Politikerin und eine der wenigen weiblichen Bundestagsabgeordneten Liselotte Funcke 1970. Sie plädierte dafür, sich von starren Geschlechteridealen zu lösen, das individuelle Leben flexibel an die sich verändernden Aufgaben und Herausforderungen anzupassen. Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung firmierten als die zwei ungenannten Schlagworte hinter dieser Loslösung von tradierten Rollenmodellen. Flexibilität war damit ein Kernbestandteil dieses neuen Lebensentwurfs, den neben liberalen Politikern auch Sozialdemokraten verstärkt diskutierten.160 Diese Flexibilisierung und Auflösung der Rollenmodelle in der politischen und öffentlichen Debatte zwischen Mitte der 1960er und Anfang der 1970er Jahre bildete 1975 der Zweite Familienbericht vor allem im Hinblick auf die Kindererziehung ab. Er thematisierte den Ausbau von Elternbildung und -beratung genauso wie die Rechte des Kindes. Den Kern jedoch formten die miteinander verzahnten Schlagworte „Gleichberechtigung“ und „Partnerschaft“.161 8.3.1 Pluralisierte Vorstellung von Partnerschaft: ein diskursiver Trend

1894 bezog der Brockhaus Partnerschaft ausschließlich auf Wirtschaftsbeziehungen und meinte „das Verhältnis des Gewinnanteils an einem Unternehmen, besonders die Gewinnbeteiligung [. . . ] der Lohnarbeiter“.162 Auch Herders Konversations-Lexikon sah 1906 in Partner und Partnerschaft lediglich eine Wirtschaftsbeziehung. Demnach wurde Partner synonym verwendet für „Teilhaber, Genosse, Mitspieler“.163 Partnerschaft wiederum meinte „Teilhaberschaft, Handelsgesellschaft“ und leitete sich aus dem englischen Recht ab, wo es für eine „Handelsges[ellschaft] mit beschränkter Haftung“164 stand. Im angelsächsischen Recht handelte es sich folglich bei Partnerschaft um eine spezifische Gesellschafts159 160

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ADL NL Funcke N 73-45, Liselotte Funcke, Gedanken zum Strukturwandel im Leben der Frau, ohne Ort, 4. Februar 1970, Bl. 92–96, hier Bl. 96f. Vgl. ebenda; ADL NL Funcke N 73-45, Liselotte Funcke, Die Aufgabe der Frau in der Gesellschaft von morgen – welche Zielvorstellungen haben wir? – gekürzte Vortragsfassung, ohne Ort, 4. März 1970, Bl. 64–77, hier Bl. 76; ADL A 12-197, Das Kinderprogramm der F.D.P. (Diskussionsversion), 31. März 1979, Bl. 5; AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 10471, Referat des Bundesratsministers Inge Donnepp NRW im Bundesrat zur Ehe- und Familienrechtsreform. Entwurf (vorläufige Fassung), ohne Ort, ohne Datum, 3. Stellungnahme der Bundesregierung, Zweiter Familienbericht, VIII. Partnerschaft [Brockhaus 1894], 928. Partner [Herders Konversations-Lexikon 1906], 1270. Ebenda.

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8.3 Partnerschaft als Integrationsmodell für Familienbeziehungen

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form, wie es 1933 auch der Große Brockhaus betonte. Ab der Jahrhundertmitte bezeichnete Partnerschaft auch zusehends die sozialpartnerschaftliche Kooperation zwischen Unternehmen und dessen Mitarbeitern, die am Gewinn beteiligt werden sollten. Über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinaus blieb nach dieser Lesart Partnerschaft primär im Bereich von wirtschaftlichen Handelsbeziehungen und Interaktionsformen verortet.165 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts pluralisierte sich schließlich die Bedeutung von Partnerschaft, deren gesellschaftliche Signifikanz Soziologen, Theologen und Politiker reflektierten. Während das Katholische Soziallexikon 1964 weiterhin Partnerschaft im Hinblick auf die Wirtschaftsbeziehungen diskutierte, verwendete das Evangelische Soziallexikon bereits 1954 einen erweiterten Partnerschaftsbegriff, der zwar primär auf Wirtschaftsbeziehungen abzielte, aber zugleich die Beziehungen zwischen Individuen beinhaltete. So würden sich Partner verbinden, um „ein gemeinsames Ziel“166 zu erreichen. Allerdings käme „es zu einer echten P[artnerschaft] meist nur in kleinen Gruppen“, hieß es einschränkend weiter und meinte hierunter primär Ehepartner.167 Der Erste Familienbericht proklamierte 1968, dass sich in der Kriegs- und Nachkriegszeit ein partnerschaftliches Familienverständnis verbreitet und damit eine „Demokratisierung des Familienlebens“168 stattgefunden habe. Vermutlich war diese Deutung der Lesart Schelskys und Wurzbachers entlehnt, ohne dabei die methodische und empirische Kritik an ihrem Befund zu berücksichtigen. Diese hatte aufgezeigt, dass sich eine egalitäre Partnerschaft im westdeutschen Familienalltag der 1950er Jahre eben nicht hatte durchsetzen können. Gleichwohl wurde zumindest die damalige Vorstellung des partnerschaftlichen Familienmodells gesamtgesellschaftlich verhandelt, da dieser Familientypus zu einer demokratisch verfassten Gesellschaft zu passen schien. Parallel wandelte sich das zeitgenössische Verständnis von Autorität, sodass von nun an Partnerschaft und Autorität wechselseitig aufeinander bezogen wurden.169 Diese Veränderung griff die überarbeitete Fassung des Evangelischen Soziallexikons 1965 auf und versuchte, die gesellschaftlichen Veränderungen

165

166 167

168 169

Vgl. Partner [Brockhaus 1933], 207; Partner [Brockhaus 1955], 767; Partner [Herders Konversations-Lexikon 1955], 127; Nell-Breuning, Partnerschaft, 217–220; Kampschulte, Partnerschaft [Evangelisches Soziallexikon 1956], 804; Kohlmaier, Partnerschaft [Katholisches Soziallexikon], 816f.; Oberdorfer, Partnerschaft, 960. Kampschulte, Partnerschaft [Evangelisches Soziallexikon 1956], 804. Vgl. ebenda; Wendland, Partnerschaft [Evangelisches Soziallexikon 1965], 959; Kohlmaier, Partnerschaft [Katholisches Soziallexikon], 816; Oberdorfer, Partnerschaft, 960. Diese Erweiterung findet sich auch sukzessive im Brockhaus, vgl. u. a. Partnerschaft [Brockhaus 1972]; Partner [Brockhaus 1979]. Für eine Zusammenfassung der zeitgenössischen Diskussion des Autoritäts-Begriffs vgl. Rahden, Vati (2010), 129f. Bundesminister für Familie und Jugend, Erster Familienbericht, 47. Vgl. Rahden, Demokratie, 160–171; ders., Religion, 437, 440f.; ders., Vati (2010), 123, 129.

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einzufangen, wie der Historiker Till van Rahden herausarbeitet.170 Während „Macht“ ein rein äußerlich zu erkennender Tatbestand sei, besitze „Autorität“ eine „innerl[iche] Zuordnung“, worauf „das stabile Verhältnis der Überund Unterordnung“171 zwischen den beteiligten Personen basiere. Autorität stelle sich folglich erst im kritischen Nachdenken über das Verhalten anderer Personen ein und führe, sofern deren Verhalten positiv bewertet würde, auch zu einem Vertrauensverhältnis. Aufgrund dieses Abhängigkeitsverhältnisses schlossen sich „Autorität“ und „Partnerschaft“ nach evangelisch-theologischem Verständnis nicht aus. Vielmehr resultiere „Autorität“ erst aus einem partnerschaftlichen Vertrauensverhältnis, das wiederum auf drei Voraussetzungen basiere: 1) der Freiheit bzw. Autonomie von Individuen und Gruppen; 2) dem Respekt gegenüber dem Partner unter Ablehnung von „Individualismus bzw. Gruppen-Egoismus“;172 3) einem gleichberechtigten Beziehungsgefüge von emanzipierten Partnern.173 Auch in der DDR verbreitete sich während der 1970er Jahre die Vorstellung von Partnerschaft, vollzog dabei jedoch im Unterschied zu Westdeutschland keine semantische Wende. Partner konnte synonym für „Gefährte oder Mitbeteiligter“174 verwendet werden und hatte folglich dieselbe Bedeutung wie die Kameradin bzw. der Kamerad in den 1950er Jahren.175 In Westdeutschland bezog sich Partnerschaft auf die Familienmitglieder und deren individuelle Rechte und Wünsche, die in Einklang mit der Familiengemeinschaft gebracht werden sollten. Demgegenüber war Partnerschaft in der DDR stets auf die sozialistische Gemeinschaft bezogen. Die politisch verhandelte Vorstellung von Partnerschaft hatte somit primär das Verhältnis von Familie und Staat im Blick, wie dies auch das FGB festgeschrieben hatte.176 1973 rezipierte der Ratgeber Unsere Familie diesen Zusammenhang, den eine Autorengruppe um die Familienrechtsexpertin Anita Grandke herausgab. Grandke war 1959 zur Vorsitzenden des Frauenausschusses an der Humboldt-Universität zu Berlin und 1965 zur Leiterin der Forschergruppe „Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft“ ernannt worden. Sie agierte damit als Juristin und Funktionärin an der Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft. Sie benannte in den Arbeiten zur „Lage der Frau“ offen Defizite, ohne dabei nennenswerten Einfluss auf die politischen Entschei170 171 172 173

174 175 176

Vgl. Thadden-Trieglaff, Geleitwort; Rahden, Demokratie, 169ff.; Großbölting, Himmel, 96. Heyl, Autorität [Evangelisches Soziallexikon 1965], 130. Wendland, Partnerschaft [Evangelisches Soziallexikon 1965], 960. Vgl. Heyl, Autorität [Evangelisches Soziallexikon 1965], 130f.; Wendland, Partnerschaft [Evangelisches Soziallexikon 1965], 959f.; Partnerschaft [Brockhaus 1979], 566; Oberdorfer, Partnerschaft, 960. Grandke u. a., Familie, 51. Vgl. Mayntz, Familie, 50f.; Baumert, Familien, 143f., 161–165; Meyer/Schulze, Auswirkungen, 92f. Vgl. Grandke u. a., Familie, 52ff. Siehe auch dies., Familiengemeinschaft, 132ff.

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dungen zu entfalten. Vielmehr wurde Grandke nach Auseinandersetzungen mit der Leiterin der Abteilung Frauen im ZK, Irene Lange, sukzessive degradiert und schließlich 1968 durch ihre Stellvertreterin Herta Kuhrig abgelöst. Obwohl Grandke ihren politischen Einfluss schon Ende der 1960er Jahre verloren hatte, publizierte sie als Professorin für Familienrecht an der Humboldt-Universität weiter juristische Beiträge zur Rolle der Familie und der Frau im Sozialismus. So wies der Ratgeber darauf hin, dass die „Grundinteressen von Gesellschaft und Familie“ übereinstimmen würden. Zudem werde in den Familien ein partnerschaftlicher Umgang gepflegt und die Gleichberechtigung von Mann und Frau sei realisiert.177 Damit verbarg sich in Ostdeutschland hinter dem Ideal Partnerschaft ein Arrangement, das festlegte, welche Aufgaben die Familie für die Gesellschaft und den Staat zu erfüllen habe. Die Ehepartner sollten wiederum untereinander aushandeln, wie sie diese Funktionen erfüllen wollten. Gerade in Bezug auf die Gleichberechtigung und die Geschlechterrollen offenbarte das Familiengesetzbuch schon 1965 ambivalente Tendenzen. Einerseits postulierte das FGB Gleichberechtigung als Leitmotiv, indem beide Ehepartner für Erziehung und Haushaltsführung zuständig seien. Anderseits bestimmte es nicht, dass sich beide Partner die Arbeitslast teilen sollten. Vielmehr festigte das FGB sogar noch tradierte Geschlechterrollen178 : „Die Beziehungen der Ehegatten zueinander sind so zu gestalten, daß die Frau ihre berufliche und gesellschaftliche Tätigkeit mit der Mutterschaft vereinbaren kann.“179 Die Begründung des Gesetzesentwurfs durch den Ministerrat der DDR wies in dieselbe Richtung: Die Berufserfahrung, die Kenntnis des gesellschaftlichen Lebens und die Einsicht in die gesellschaftlichen Zusammenhänge befähigen die Frauen[,] ihren Aufgaben bei der Erziehung der Kinder zu sozialistischen Persönlichkeiten immer besser gerecht zu werden.180

Das FGB wie auch die Begründung durch den Ministerrat der DDR legen offen, dass die politischen Entscheidungsträger entgegen aller rhetorischen Bekun177

178

179 180

Vgl. Grandke u. a., Familie, 25–28; Budde, Frauen, 65–68; Schröter, Ehen, 22; Grandke, Anita, in: http://www2.gender.hu-berlin.de/ausstellung/Infocomputer/Biographien/N_ Grandke.html (letzter Zugriff am: 04.01.2019). Siehe auch Grandke/Hörz, Stellung, 25ff. Vgl. Helwig, Rechte, 198; Wierling, Jahr, 388. Zur Gleichberechtigung im politischen Diskurs vgl. exemplarisch SAPMO-BArch DY 30/IV 2/17/34, Empfehlung über zentrale Maßnahmen der Partei, Regierung und der zuständigen Massenorganisationen zur Durchführung des 10. Jahrestages der Annahme des Gesetzes über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau durch die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik am 27. September 1960, Bl. 72f.; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/17/43, Arbeitsgruppe Frauen, Entwurf. Vorbereitung und Durchführung des 10-jährigen Bestehens der Frauenausschüsse in Industrie und Landwirtschaft, Berlin, 29. Mai 1961, Bl. 1. Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik, 122. SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/13/200, Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Ministerium der Justiz, Begründung des Entwurfs des Familiengesetzbuches, Berlin, 2. September 1964, Bl. 2.

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dungen tradierten Geschlechterrollen verhaftet geblieben waren. Diese waren im FGB sogar rechtlich verankert worden, da es die Frauen auf Mutterschaft und Kindererziehung verwies. In diesem Punkt entfaltete das FGB somit keine Prägekraft für eine zukünftige Gesellschaftsordnung. Vielmehr festigte das FGB die traditionelle Aufgabenverteilung und orientierte sich dabei an der gängigen sozialen Praxis. Diese Grundhaltung blieb auch in den 1970er Jahren bestehen. Grandke befasste sich eingehend mit diesen Vorstellungen und argumentierte 1978, es sei schließlich von entscheidender Bedeutung, „daß die Familie bei der Verwirklichung der gleichen Rechte und Pflichten von Mann und Frau speziell die Aufgabe hat, ihr als Mutter Bedingungen zu schaffen, alle ihre Aufgaben miteinander zu vereinbaren“.181 Sie bestätigte damit die gängige Auslegung des FGB, wonach die Ehefrau für Haushaltsführung und Kindererziehung zuständig sei. In der sozialen Praxis brachte diese Art der Arbeitsteilung für die Ehefrauen – wie schon in den 1920er Jahren – eine enorme Arbeitsbelastung mit sich, zumindest wenn sie voll berufstätig waren.182 Um den Druck zu reduzieren, schlugen die Mütter selbst vor, von einem Vollbeschäftigungsverhältnis in einen Halbtagsberuf zu wechseln, was wiederum den politischen Zielen der SED entgegenstand, wie zuvor dargestellt worden ist.183 Von entscheidender Bedeutung war daher weiterhin die Frage, wie die Arbeitsbelastung der Frauen reduziert werden könnte. Im Memorandum zur Einschätzung der Umfrage über Probleme der Frau in unserer Gesellschaft wurde diskutiert, inwiefern Hausarbeiten durch Dienstleister übernommen werden könnten. Ob sich der Mann an Haushaltsführung und Kindererziehung beteiligen sollte, thematisierte das Memorandum durchaus auch. Es kam zu dem Schluss, dass hier vonseiten des Staates erzieherisch auf die Bevölkerung eingewirkt werden müsse.184 Es ging um die „Umerziehung des Mannes zur vollverantwortlichen Mitarbeit im Haushalt“,185 wie dies bereits in den Debatten um das FGB Mitte 181 182 183

184

185

Grandke, Entwicklung, 233f. Siehe auch dies./Hörz, Stellung, 28. Vgl. Grandke, Entwicklung, 233f.; Gysi/Meyer, Leitbild, 140; Harsch, Revenge, 199; Helwig, Familienpolitik (1961–1971), 496f.; dies., Rechte, 200f. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/17/15, Einschätzung der Umfrage über Probleme der Frau in unserer Gesellschaft, ohne Ort, [1970], 5; Budde, Frauen, 65–68. Als Hauptgrund für ihre ablehnende Haltung zur vollen Berufsarbeit von Frauen führten 1970 85,2 Prozent der Männer und 79,8 Prozent der Frauen die zu hohe Arbeitsbelastung durch Haushaltsführung und Kindererziehung an. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/17/15, Einschätzung der Umfrage über Probleme der Frau in unserer Gesellschaft, ohne Ort, [1970], 7–11. Siehe auch SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/13/200, Material zu einigen Fragen der Familie in der DDR, ohne Ort, 4. Februar 1965, Bl. 74; EZA 102/396, Evangelische Kirche in Deutschland. Kirchenkanzlei für die Gliedkirchen in der Deutschen Demokratischen Republik, Betr.: Beobachtung der Familiengesetzgebung in der DDR, Berlin, 27. April 1965, 3. Ebenda.

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der 1960er Jahre angesprochen worden war. Neben Juristen setzten sich auch Ökonomen während der zweiten Hälfte der 1960er und Anfang der 1970er Jahre mit dieser Frage auseinander. Ein Bericht des Instituts für Arbeitsökonomik in Dresden forderte, dass sich auch der Ehemann an den Hausarbeiten beteiligen müsse. Insofern stand zumindest zur Debatte, die traditionelle Aufgabenverteilung in den Familien aufzubrechen. In die soziale Praxis wurde dieses Modell jedoch nicht überführt, da sich vor allem Männer, aber auch zahlreiche Frauen gegen eine Veränderung sperrten. Sie sahen weiterhin die Haushaltsführung und Kindererziehung als ausschließliche Domäne der Ehefrau an und blockierten somit einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess.186 Insofern kam es während der 1960er Jahre nicht zu einer „Phase der ‚Geschlechterunordnung‘“,187 wie die Politologin Susanne Diemer argumentiert. Vielmehr hat das Familiengesetzbuch die tradierten Geschlechterrollen festgeschrieben, die auch die politische Diskussion prägten. In Westdeutschland fand Anfang der 1970er Jahre ebenfalls eine Diskussion darüber statt, wie in den Familien die Aufgaben verteilt werden sollten. Diese Debatte unterschied sich in einem zentralen Punkt von den ostdeutschen Aushandlungsprozessen: Das Ideal einer egalitär-gleichberechtigten Aufgabenverteilung entwickelte sich in der öffentlichen Debatte der späten 1960er und frühen 1970er Jahre zum Wesensmerkmal von Partnerschaft. Zudem zeigte sich, dass nach dem zeitgenössischen Verständnis eine demokratische Gesellschaft mit einem partnerschaftlichen Rollenverhalten korrespondierte. 1972 bezeichnete der Brockhaus Partnerschaft als „die Gemeinsamkeit und Zusammenarbeit zwischen gleichberechtigten Personen“,188 die vor allem die Paare der „jüngeren Generation“ praktizieren würden. Der Brockhaus schränkte damit die Verbreitung der partnerschaftlichen Familie deutlich ein.189 Als Lebensmodell wurde Partnerschaft jedoch gesamtgesellschaftlich diskutiert. Im Mittelpunkt der Kontroversen stand die Frage, wie die hierarchischen Autoritätsstrukturen in der Familie – aber auch in der Gesellschaft insgesamt – abgeschliffen und ein gleichberechtigt-partnerschaftlicher Umgang zwischen den Familienmitgliedern etabliert werden könnten. Die Aufgaben sollten bei Hausarbeiten und Kindererziehung partnerschaftlich geteilt und die „Vereinbarkeit von Beruf und 186

187 188 189

Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/17/15, Einschätzung der Umfrage über Probleme der Frau in unserer Gesellschaft, ohne Ort, [1970], 7–11; EZA 102/396, Evangelische Kirche in Deutschland. Kirchenkanzlei für die Gliedkirchen in der Deutschen Demokratischen Republik, Betr.: Beobachtung der Familiengesetzgebung in der DDR, Berlin, 27. April 1965, 3; SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/13/200, Material zu einigen Fragen der Familie in der DDR, ohne Ort, 4. Februar 1965, Bl. 74; Sachse, Hausarbeitstag, 114, 313. Diemer, Patriarchalismus, 110. Partnerschaft [Brockhaus 1972], 270. Vgl. ebenda, 270f. Für diese Einschätzung vgl. ebenfalls Kirchenkanzlei im Auftrage des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Frau, 93.

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Familie“ geregelt werden.190 Partnerschaft entwickelte sich in Westdeutschland während der späten 1960er und frühen 1970er Jahre nicht nur zum Ideal für die Beziehungen sowohl zwischen den Partnern als auch zwischen Eltern und Kindern. Vielmehr firmierte Partnerschaft überdies als Integrationsmodell, das die Familie zusammenhalte, sie sogar festige, wie zeitgenössische Beobachter schlussfolgerten.191 In der sozialen Praxis stärkte jedoch noch ein weiteres Phänomen den Familienzusammenhalt. Die hohe „Frustrationstoleranz von Müttern“ halte zahlreiche Familien zusammen, argumentierte der Zweite Familienbericht 1975 und klassifizierte dieses Muster als sogenannten „Familiensinn“.192 Damit brachte die mit der Ausarbeitung des Berichts betraute Sachverständigenkommission – zu der u. a. der Soziologe Friedhelm Neidhardt als Vorsitzender, die Gerontologin Ursula Lehr, die Pädagogen Kurt Mollenhauer und Franz Pöggeler sowie der Bevölkerungswissenschaftler Hermann Schubnell gehörten – zum Ausdruck, dass zahlreiche Mütter ihre individuellen Wünsche zugunsten der Familie, ihres Ehemannes und der Kinder zurückstellten. 52 Prozent der befragten Mütter teilten diese Ansicht, wenn sie Kleinkinder zu versorgen hatten. 22 Prozent akzeptierten diese Situation mit dem Hinweis, „eine Mutter sollte immer für die Familie da sein“. 19 Prozent der Ehefrauen waren sogar bereit, über einen längeren Zeitraum eine „Ehekrise“ zu tolerieren.193 Die Soziologin Helge Pross führte im Auftrag der Zeitschrift Brigitte Umfragen zum Alltag von westdeutschen Hausfrauen durch und kam zu einem ähnlichen Ergebnis. Die befragten Frauen, meist aus sozial schwachen Schichten und mit einem Alter von 40 bis 50 Jahren, sahen sich selbst in einer „Verzichtsrolle“,194 die sie negativ bewerteten. Diese Selbsteinschätzung resultierte aus einer spezifischen Eltern-KindSituation. Denn mit dem Übergang der Kinder ins Jugendlichenalter brach ein zentraler Teil der mütterlichen Lebenswelt weg – die Kindererziehung –, meist ohne dass ihnen Alternativen wie ein erneuter Einstieg ins Berufsleben offenstanden. „Das Erfolgserlebnis wird in der Familie im Laufe der Jahre immer geringer. [. . . ] Dann kommt der Punkt, unweigerlich kommt der Punkt, da man sagt: ich brauche noch etwas“,195 berichtete eine Hausfrau. „Was geschieht, wenn die Kinder groß sind, aus dem Hause gehen [. . . ]? Was passiert dann mit mir?“,196 fragte sich eine andere Hausfrau und Mutter. Aus dieser

190 191 192 193 194 195 196

Vgl. Partnerschaft [Brockhaus 1979], 566f.; Partnerschaft [Brockhaus 1991], 572; Partnerschaft [Brockhaus 2001], 611; Oberdorfer, Partnerschaft, 960. Vgl. Haensch u. a., Überlegungen, 81; Masshof-Fischer, Partnerschaft, 1400. Bericht der Sachverständigenkommission, Zweiter Familienbericht, 39. Vgl. ebenda, 39, 161. Zur Person Hermann Schubnells vgl. Kuller, Demographen, 158. Pross, Wirklichkeit, 174 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Ebenda, 169. Ebenda, 170.

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Perspektive war somit das Dasein als Hausfrau und Mutter ein temporäres Phänomen, ohne dass die Mütter selbst eine konkrete Vorstellung hätten, wie sie ihr Leben ausgestalten könnten, sobald die Kinder aus dem Haushalt ausgezogen wären. Insofern dominierte in diesem Lebensabschnitt der Ehefrauen vielfach eine kritische Sichtweise auf die Rolle der „Nur-Hausfrau“.197 Erschwerend kam in den 1970er Jahren hinzu, dass an dieser Stelle, so der Soziologe Kurt Lüscher, „gewissermaßen zwei ‚Emanzipationsbewegungen‘“198 zusammenliefen: die Emanzipation der Frau und die des Kindes. Aus diesem Grund klassifizierte er das „Rollenproblem“ der Frau als die zentrale gesellschaftliche Herausforderung der 1970er Jahre. In der Theorie versprach ein partnerschaftliches Rollenmodell, diese Spannungen zu reduzieren. Schließlich teilten sich hier beide Partner die anfallenden Hausarbeiten und die Kindererziehung. Zudem entfaltete die partnerschaftliche Familie als Ideal eine hohe Integrationskraft, da sie eine Projektionsfläche für Wünsche und Sehnsüchte bot. Nach diesem Ideal schieden die Mütter nie komplett aus dem Erwerbsleben aus. Vielmehr könnten sie während der Minderjährigkeit der Kinder berufstätig sein, sofern sie dies wünschten. Allerdings wurde das Ideal kaum in konkrete soziale Praktiken überführt.199 Folglich handelte es sich bei der partnerschaftlichen Familie in der ersten Hälfte der 1970er Jahre um ein gesamtgesellschaftlich verhandeltes diskursives Phänomen, das keine Entsprechung im Familienalltag der meisten westdeutschen Familien fand, wie später gezeigt wird. Partnerschaft als Modell für die Familienbeziehungen diskutierten zwischen Mitte der 1960er und Ende der 1970er Jahre zwar alle gesellschaftlichen Gruppierungen, interpretierten es jedoch durchaus unterschiedlich. Die katholische Kirche entdeckte Partnerschaft nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der Pastoralkonstitution Gaudium et spes für sich. Sie verstand unter Partnerschaft eine enge Kooperation zwischen Mann und Frau, wobei beide ihre spezifischen Rollen ausfüllten und diese jeweils einen Eigenwert besäßen. Die Kirche versuchte so, tradierte Geschlechterrollen positiv zu konnotieren. Das sollte deren Attraktivität erhöhen. Es ließe sich aber auch argumentieren, dass die katholische Kirche beabsichtigte, patriarchalische Familienstrukturen zu festigen und einem Wandel entgegenzuwirken.200 Eine ähnliche Vorstellung von Partnerschaft vertraten die Unionsparteien, die diese schon in den späten 1960er Jahren allmählich entwickelt hatten, aber

197 198 199 200

Vgl. ebenda, 174–185. Lüscher, Sozialisationsforschung, 287. Vgl. u. a. Pross, Männer; Die Rolle des Mannes; Metz-Göckel/Müller, Mann; Hartenstein u. a., Geschlechtsrollen. Vgl. Rölli-Alkemper, Familie, 115–166; Großbölting, Himmel, 42.

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erst Anfang der 1970er Jahre präzisierten. Sie sprachen ebenfalls explizit vom Leitbild der „partnerschaftlichen Familie“: Die Familie wird durch das partnerschaftliche Verhältnis zwischen Ehegatten sowie zwischen den Ehepartnern und den Kindern getragen. Wesentliche Voraussetzung dafür ist eine Absicherung der Rolle der Frau. Partnerschaft im Verständnis der CDU ist jedoch nicht dadurch gekennzeichnet, das Verhältnis zwischen den Ehepartnern „loser“ zu gestalten, sondern sie setzt eine verstärkte Verantwortung beider Partner für die Familie und die Erziehung der Kinder voraus.201

Partnerschaft als Leitmotiv zielte folglich darauf, die Stabilität der Familie als soziale Institution zu erhöhen. Dadurch sollte unter anderem der voranschreitenden „Auflösung“ der Familie, gemessen an den steigenden Scheidungszahlen, entgegengetreten werden. Darüber hinaus grenzte die Union ihre Vorstellung von Partnerschaft auch sprachlich von der der sozialliberalen Koalition ab. Sie wählte nicht „Emanzipation“, sondern die „verantwortete Partnerschaft von Mann und Frau“202 als Leitmotiv, wonach jedem Partner eine „verantwortete Wahlfreiheit“ bei der individuellen Lebensplanung zugesprochen werde. Diesem Modell waren Grenzen gesetzt. Nach Darstellung der Union waren Männer und Frauen zwar „gleichwertig“, aber nicht „gleichartig“.203 Auch die Mitglieder des ZdK sprachen von „Gleichheit und Unterschied“ der Geschlechter und ordneten somit Frauen und Männer unterschiedlichen Sphären zu.204 Insbesondere mit dem Verweis auf diesen feinen Unterschied legitimierten deren Vertreter traditionelle Rollenmuster. Die Position der Union wie auch des ZdK war überdies in hohem Maße anschlussfähig an die Haltung der EKD und der Deutschen Familienorganisationen. Bisweilen griff in den Auseinandersetzungen insbesondere die CSU auf ein weitaus martialischeres Vokabular zurück und lehnte in der Landtagswahl 1982 eine „ideologisch propagierte Gleichmacherei“205 vehement ab.

201 202

203

204 205

ACDP 07-001-G 8716, Familienpolitische Leitsätze der CDU, ohne Ort, [November 1972], 4. ACDP 07-004-569/2, Einleitende Zusammenfassung, ohne Ort, [1975], 2. Ähnlich bei ACDP 04-003-070/2, CDU und CDU/CSU-Bundestagsfraktion Kommission „Frauen“, „Frau und Gesellschaft“. Grundsätze und Forderungen der CDU für Gleichberechtigung in einer sich wandelnden Welt. Vorlage für den Bundesvorstand am 24. Februar 1975 in Bonn, 26. Vgl. ACDP 07-001-G 8716, Familienpolitische Leitsätze der CDU, ohne Ort, [November 1972], 1f., 4; ACDP 07-001-G 8716, Helga Wex, Leitsätze der Familien- und Jugendpolitik, Bonn, 9. November 1972; ACDP 07-004-569/2, Einleitende Zusammenfassung, ohne Ort, [1975], 2; ACDP 04-003-070/2, Frau und Gesellschaft, in: Beschlüsse des 23. Bundesparteitags in Mannheim 23.–25. Juni 1975, 79; ACDP 07-001-8724, Leitsätze zur Familienpolitik, Bonn, 11. Mai 1976, 6. Vgl. Arbeitskreis 3, Stellung, 108. ACSP D 3/44, Unterlagen für Wahlreden. Landtagswahl ’82, ohne Ort, 1982, 199.

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Allerdings verschloss sich die Union den gesellschaftlichen Veränderungen keinesfalls komplett. Heiner Geißler und Helga Wex diskutierten bei den Ausarbeitungen zu den Leitsätzen zur Familienpolitik durchaus, wie sich Partnerschaft als Ideal verbreitet habe und wie beide Partner zukünftig über die Aufteilung von Hausarbeit, Kindererziehung sowie Berufsarbeit frei entscheiden sollten.206 Die mit der Ausarbeitung des Grundsatzprogramms der Union betraute Kommission hielt 1977 fest, dass Ehemann und -frau „je ihre eigene Entfaltung und Erfüllung in der Familie und außerhalb der Familie suchen“207 könnten. Im August 1978 äußerte wiederum der Vorsitzende der Grundsatzkommission der Jungen Union und ehemalige RCDS-Vorsitzende Friedbert Pflüger Kritik. Im Entwurf des Grundsatzprogramms sei Partnerschaft zwar insofern berücksichtigt worden, als keine starren Geschlechterrollen vorgegeben seien. Gleichwohl zementiere das Programm indirekt tradierte Rollen. Lediglich „‚in besonderen Fällen‘ solle der Mann Hausfrauen- und Mutteraufgaben übernehmen“.208 Pflügers Position legt somit Differenzen innerhalb der Union im Hinblick auf die Geschlechterrollen offen, selbst wenn sich diese Sichtweise in den innerparteilichen Kontroversen nicht durchsetzen konnte.209 Die Frauenvereinigung der CDU, die spätere Frauen-Union, hatte sich schon gegen Mitte der 1970er Jahre dieser Problematik zugewandt und angemerkt, es müssten auch Ehemänner „die Lasten der häuslichen Arbeit partnerschaftlich“210 übernehmen und sich stärker in die Kindererziehung einbringen, gerade wenn die Ehefrauen berufstätig wären. Damit reagierte die Frauenvereinigung auf die seit den 1950er Jahren immer wieder thematisierte Mehrfachbelastung der berufstätigen Mütter und den damit einhergehenden Stress. Beides sollte reduziert werden. Allerdings legte die Union keine konkrete Aufgabenverteilung innerhalb der Familie fest. Zudem hielt sich innerhalb von CDU und CSU der Grundsatz,

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Vgl. ACDP 07-001-8724, Leitsätze zur Familienpolitik, Bonn, 11. Mai 1976, 6f.; ACDP 07-001-8725, Pressemitteilung „Leitsätze zur Familienpolitik“, Bonn, 13. Mai 1976, 1; ACDP 04-003-089/2, Helga Wex, Thesen zur Familienpolitik, ohne Ort, ohne Datum, 2, 4. Gölter, Familie, 83. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 10471, Junge Union kritisiert neuen Entwurf für CDU-Grundsatzprogramm, in: Parlamentarisch-Politischer Pressedienst, 29. Jg., Nr. 99, 30. August 1978, 4. Vgl. ebenda; Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. Verabschiedet auf dem 26. Bundesparteitag, Ludwigshafen, 23.–25. Oktober 1978 (Ludwigshafener Programm), http://www.kas.de/upload/ACDP/CDU/Programme_Beschluesse/ 1978_Grundsatzprogramm_Ludwigshafen.pdf (letzter Zugriff am: 04.01.2019), 130. ACDP 08-001-420/1, CDU Frauenvereinigung Landesvorstand, Diskussionsentwurf: Die Rolle der Frau, ohne Ort, [1973], 7. Ähnlich bei ACDP 04-003-070/2, CDU und CDU/ CSU-Bundestagsfraktion Kommission „Frauen“, „Frau und Gesellschaft“. Grundsätze und Forderungen der CDU für Gleichberechtigung in einer sich wandelnden Welt. Vorlage für den Bundesvorstand am 24. Februar 1975 in Bonn, 26.

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dass sich in den ersten Lebensjahren die Mutter um das Kind kümmern solle und deswegen zumindest temporär aus dem Berufsleben ausscheiden müsse.211 Die Frauenvereinigung wählte überdies weitaus feinere sprachliche Differenzierungskriterien als die anderen Parteigremien. Ihre Vertreterinnen argumentierten, dass Männer und Frauen jeweils eigene Persönlichkeitsmerkmale hätten. Folglich seien der „persönlichen Entfaltung und Selbstverwirklichung Grenzen gesetzt“.212 Damit meinte die Frauenvereinigung, wie die Bundestagsabgeordnete Waltraud Will-Feld 1974 klarstellte, dass die individuellen Besonderheiten der Menschen zu berücksichtigen seien. Jedem Partner gestand die Frauenvereinigung der Union wie ihre männlichen Kollegen das Recht zur „Selbstentfaltung“ durchaus zu. Allerdings dürfe dies nicht „auf Kosten der Selbstentfaltung des anderen geschehen“.213 Die Frauenvereinigung wie auch die Union betonten zudem, dass Mutterschaft und Kindererziehung ebenfalls der Selbstverwirklichung von Frauen dienen könne. Damit verwiesen sie die Frau auf den Binnenraum der Familie. Um die Attraktivität dieses Modells zu erhöhen, setzten sie sich ferner für eine finanzielle Entlastung der Frau ein. Die Union versuchte folglich mit einem Bündel an Maßnahmen, die traditionellen Geschlechterrollen zu stärken, und baute so einen Gegenpol zu einem egalitär-gleichberechtigten Rollenmodell auf.214 Wie stark sich die Union an den traditionellen Rollenvorstellungen orientierte, zeigt sich auch sprachlich. So wurde betont, dass Hausfrauen und berufstätige Frauen „gleichwertig“ seien.215 Sprachlich machte die Union diese Position 211

212 213 214

215

Vgl. ACDP 08-001-420/1, CDU Frauenvereinigung Landesvorstand, Diskussionsentwurf: Die Rolle der Frau, ohne Ort, [1973], 3, 7; ACDP 07-004-569/2, Einleitende Zusammenfassung, ohne Ort, [1975], 4; ACDP 04-003-070/2, CDU und CDU/CSU-Bundestagsfraktion Kommission „Frauen“, „Frau und Gesellschaft“. Grundsätze und Forderungen der CDU für Gleichberechtigung in einer sich wandelnden Welt. Vorlage für den Bundesvorstand am 24. Februar 1975 in Bonn, 26; ACDP 07-001-8724, Leitsätze zur Familienpolitik, Bonn, 11. Mai 1976, 6; ACSP D 4/26, CSU-Landesleitung (Ref. Frauenarbeit), Frauen, Frauen, Frauen, Frauen, München, [1975–1977]. ACDP 08-001-420/1, CDU Frauenvereinigung Landesvorstand, Diskussionsentwurf: Die Rolle der Frau, ohne Ort, [1973], 1. Gölter, Familie, 83. Vgl. ACDP 07-001-10162, [Josef-Hermann Dufhues], Gedanken zur Familienpolitik, Veranstaltung der Familienverbände Nordrhein-Westfalen am 25. Oktober 1968 in Düsseldorf, 3; ACDP 07-001-G 8716, Familienpolitische Leitsätze der CDU, ohne Ort, [November 1972], 1f.; Gölter, Familie, 83; ACDP 04-003-089/2, Helga Wex, Thesen zur Familienpolitik, ohne Ort, ohne Datum, 1; Arbeitskreis 3, Stellung, 108; ADW HGSt 4734, Gemeinsame Verlautbarung der Deutschen Familienorganisationen, ohne Ort, 29. September 1975, 2; ACDP 08-001-420/1, CDU Frauenvereinigung Landesvorstand, Diskussionsentwurf: Die Rolle der Frau, ohne Ort, [1973], 2. Vgl. ACDP 08-001-420/1, CDU Frauenvereinigung Landesvorstand, Diskussionsentwurf: Die Rolle der Frau, ohne Ort, [1973], 1; ACDP 08-005-073/2, Waltrud Will-Feld, Die Rolle der Frau in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Situation

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insofern deutlich, als sie vom „Hausfrauenberuf “ sprach und damit Haushaltsführung als Berufsarbeit klassifizierte.216 Die Union wertete also die Rolle der Hausfrau diskursiv auf, um deren gesellschaftliche Akzeptanz zu steigern. Ähnlich argumentierte die Evangelische Kirche Deutschlands 1977.217 Bereits hier zeigt sich, wie unterschiedlich zeitgenössische Beobachter Partnerschaft als Modell für die innerfamiliale Rollenverteilung ausdeuteten. Zwischen den Positionen der Union, der katholischen und der evangelischen Kirche sowie des ZdK lagen dabei zahlreiche Überschneidungen vor. Den Gegenpol bildeten Sozialdemokraten und Liberale. Für sie eröffnete Partnerschaft als Lebensmodell die Möglichkeit, die wahrgenommenen, rasant ablaufenden gesellschaftlich-kulturellen Veränderungsprozesse begrifflich einzufangen. „Unsere Gesellschaft wird durch schnellen gesellschaftlichen Wandel gefordert in einem Maße wie nie zuvor“, hielt der SPD-Parteivorstand in seinen Überlegungen zu den gesellschaftlichen Herausforderungen für die Familie in den späten 1970er Jahren fest. Diesen Anforderungen sei „die traditionelle, patriarchalische Familie nicht mehr gewachsen“, argumentierte das sozialdemokratische Positionspapier weiter. Erst „wenn neben die traditionellen Werte Liebe und Geborgenheit mehr progressive Werte wie Solidarität, Partnerschaft, Toleranz usw. treten“, könnten die gesellschaftlichen Probleme bewältigt werden. Damit war gleichsam das Leitmotiv für die gesellschaftliche Entwicklung vorgegeben. Schließlich könne lediglich das Modell der „gleichberechtigt/partnerschaftlichen Familie“218 dieser Aufgabe gerecht werden. Auch die SPD sah demnach in „Partnerschaft ein notwendiges und erstrebenswertes Prinzip des Zusammenlebens“.219 Die Sozialdemokraten hielten bereits

216

217

218 219

und Perspektiven, Bonn, 7. November 1974, 4; Gölter, Familie, 83; ACDP 07-001-G 8716, Familienpolitische Leitsätze der CDU, ohne Ort, [November 1972], 2; ACDP 07-004-569/2, Einleitende Zusammenfassung, ohne Ort, [1975], 3. Vgl. ACDP 04-003-089/2 Helga Wex, Thesen zur Familienpolitik, ohne Ort, ohne Datum, 4; AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 10407, Wahlfreiheit sichern – Partnerschaft verwirklichen. Aktionsprogramm 78 der Frauenvereinigung der CDU. Verabschiedet am 15. April 1978 auf der Sitzung des Hauptausschusses der Frauenvereinigung der CDU, 4. Zur Debatte „Lohn für Hausarbeit“ aus der Perspektive der Frauenbewegung vgl. Kramer, Bewegungen, 217f. Vgl. ACDP 07-001-8724, Leitsätze zur Familienpolitik, Bonn, 11. Mai 1976, 6f.; ACDP 07-001-8725, Pressemitteilung „Leitsätze zur Familienpolitik“, Bonn, 13. Mai 1976, 1; ACDP 04-003-089/2, Helga Wex, Thesen zur Familienpolitik, ohne Ort, ohne Datum, 2, 4; EZA 2/11499, Thesen für das Hearing des EKD-Ausschusses „Die Frau in Familie, Kirche und Gesellschaft“ am 21./22. Oktober 1977 in Stolberg/Aachen; Schumann, Bauarbeiten, 218–224. Zur Politisierung der Reproduktionsarbeit als neues Element der Zweiten Frauenbewegung vgl. exemplarisch Riedmüller, Neue, 33f. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 10471, Gedanken zur Kampagne „Familie – jeder für jeden“ (überarbeitete Fassung), ohne Ort, ohne Datum. AdsD, SPD-PV-AsF 5151 Entwurf alternativer Leit- und Grundsätze zur Familienpolitik [März 1974], 11f.

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gegen Mitte der 1970er Jahre mehrere aus ihrer Perspektive zentrale Wesensmerkmale von Partnerschaft fest. So sollten die Rechte anderer respektiert und zugleich die Verantwortung für die sozial Schwächeren wie die Kinder übernommen werden. Zugleich seien die Erwachsenen aber für ihre jeweils eigene materielle Sicherung verantwortlich, weshalb ihnen das „Recht auf Ausübung eines Berufes“ zustehe. Partnerschaft beinhalte zudem das „Recht und die Pflicht“, für „Hausarbeit und Erziehung“ Sorge zu tragen. Die sozialdemokratischen Vorstellungen von Partnerschaft regelten somit die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander neu und stuften deren „Bedürfnisse“ als „prinzipiell gleichwertig [ein], auch da, wo sie nicht gleichartig sind“.220 Das von der sozialliberalen Koalition vertretene Modell von Partnerschaft verfolgte eine doppelte Zielrichtung. Es sollte einerseits die „Persönlichkeitsrechte aller Familienmitglieder“221 garantieren. Andererseits mündete es in einer modifizierten Rollenverteilung, da die Partner Familienaufgaben untereinander aufteilen sollten, wie die FDP 1972 in ihrem Programm zur Gleichberechtigung und die SPD unter anderem 1976 auf ihrer Fachkonferenz zur Familie darlegten.222 Die Sozialdemokraten wollten folglich mit einer partnerschaftlichen Aufgabenverteilung die „Doppelbelastung der berufstätigen Mutter“223 reduzieren. Sie stuften dies zudem als vorrangiges politisches Ziel ein, da ein weiterer Anstieg der Zahl berufstätiger Mütter mit Kindern unter drei Jahren prognostiziert wurde. Darüber hinaus wollten sie Möglichkeiten schaffen, damit ein Elternteil temporär für drei Jahre aus dem Erwerbsleben ausscheiden könnte. Um den Wiedereinstieg in den Beruf zu erleichtern, planten Sozialdemokraten, die Zahl der Halbtagsarbeitsplätze zu erhöhen und gleitende Arbeitszeiten einzuführen. Im Kern sollte folglich mit dem partnerschaftlichen Familienmodell die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erhöht werden.224 Dabei sei es, so die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen Elfriede Eilers, von entscheidender Bedeutung, dass sich Ehemänner und Väter stärker an Hausarbeiten und Kindererziehung beteiligten und ihre einseitige Fokussierung auf die Berufsarbeit aufgäben. Insofern ging Partnerschaft

220 221 222

223 224

Vgl. ebenda, 12. Resolution der Fachkonferenz, 61. Vgl. Thesen und Grundsätze sozialdemokratischer Familienpolitik, 53; Resolution der Fachkonferenz, 61; ADL NL Funcke N 73-21, Liselotte Funcke, Eine neue Familienpolitik ist notwendig, in: fdk, Ausgabe 12, 30. Januar 1973, Bl. 123–126, hier Bl. 125; Münch, Familien-, Jugend- und Altenpolitik (1966–1974), 646f. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Die Situation der Frau in der Familie, 7. Vgl. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Aufgaben, 13ff.; Eilers, Eröffnung, 31; Thesen und Grundsätze sozialdemokratischer Familienpolitik, 56; Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Grundsatzfragen, 10. Ähnliche Arbeitszeitmodelle diskutierte auch die EKD. Vgl. EZA 2/11499, Thesen für das Hearing des EKD-Ausschusses „Die Frau in Familie, Kirche und Gesellschaft“ am 21./22. Oktober 1977 in Stolberg/Aachen.

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für Sozialdemokraten auch mit einer flexiblen und bedarfsgerechten Rollenverteilung einher, die an die jeweils herrschenden Rahmenbedingungen angepasst werden konnte.225 Dass dies durchaus Probleme aufwerfe, hob die SPD in ihrem Resümee ebenfalls hervor und notierte, „[d]ie allgemeine Zustimmung der Männer zur Gleichberechtigung und Partnerschaft verbindet sich zu leicht mit ihrer Abneigung, diese in die konkrete Praxis umzusetzen“.226 Dieses Problem erkannte auch die EKD und hielt es in seiner Publikation Die Frau in Familie, Kirche und Gesellschaft fest: „Auch Männer stehen vor der Herausforderung, umdenken zu müssen, damit Partnerschaft möglich wird.“227 Die Veränderungen dürften somit nicht ausschließlich von den Frauen initiiert werden. Sie müssten von beiden Partnern ausgehen.228 Daraus ergab sich ein zentrales Alltagsproblem: Wie konnten gesellschaftliche Ideale in konkrete soziale Praktiken übersetzt werden? Diese Frage betraf die Familien in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen. 8.3.2 Partnerschaft im Familienalltag oder die Unverwüstlichkeit der sozialen Praxis

Diese Frage bekam insofern eine zentrale Bedeutung, als eine partnerschaftliche Aufgabenverteilung nach zeitgenössischem Verständnis den familiären Zusammenhalt festigte. Partnerschaft war demnach ein integrierendes Element für Familiengemeinschaften. Im Unterschied zu 1972 war sich der Brockhaus 1978 für Westdeutschland sicher: Partnerschaft als Lebensmodell sei mittlerweile in der sozialen Praxis zahlreicher Ehen allgegenwärtig.229 Zehn Jahre später fiel der Befund noch eindeutiger aus. Nun habe sich, so der Brockhaus, Partnerschaft sowohl in den Paarbeziehungen wie auch den Eltern-Kind-Beziehungen westdeutscher Familien durchgesetzt.230 Ähnliche Entwicklungen hatten Union und ZdK bereits in den 1970er Jahren beobachtet. 1975 vertrat die Union bei der Ausarbeitung der Enquetekommission „Frau und Gesellschaft“ die Ansicht, dass die traditionellen Rollenmuster „durchlässiger“ geworden seien und Männer mehr im Haushalt und bei der Kindererziehung mithelfen

225 226 227 228

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Vgl. Eilers, Eröffnung, 31. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Die Situation des Mannes in der Familie, 8. Kirchenkanzlei im Auftrage des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Frau, 17. Vgl. EZA 2/11499, Thesen für das Hearing des EKD-Ausschusses „Die Frau in Familie, Kirche und Gesellschaft“ am 21./22. Oktober 1977 in Stolberg/Aachen; Kirchenkanzlei im Auftrage des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Frau, 17, 41. Vgl. Familie [Brockhaus 1978], 634. Vgl. Familie [Brockhaus 1988], 94.

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würden.231 1979 argumentierte das ZdK, dass Väter immer mehr Familienaufgaben übernehmen würden.232 Die Beobachtungen liegen jedoch quer zur Mehrzahl der zeitgenössischen Erhebungen der 1970er und 1980er Jahre. Dieser Befund gilt für den Familienalltag in Ost- und Westdeutschland.233 8.3.2.1 Träger und Inhibitoren des sozialen Wandels in Westdeutschland

Welche sozialen Gruppen als Träger des Wandels firmierten, zeigen vor allem zwei Gutachten der Sozialwissenschaftlerinnen Barbara Schmitt-Wenkebach und Ursula Lehr im Auftrag der Bundesregierung. Allerdings stützte sich SchmittWenkebach auf die Studie der Soziologin Elisabeth Pfeil aus dem Jahr 1961 und reflektierte kaum die Veränderungen der 1960er Jahre. Insbesondere würden sich, so Schmitt-Wenkebach, Selbständige und Akademiker für ein geändertes weibliches Rollenmodell einsetzen, auf Angestellte und Arbeiter treffe dies selten zu. Letztere unterstützten die Berufsarbeit ihrer Frauen nur dann, wenn sie sich mit den Aufgaben Kindererziehung und Haushaltsführung vereinbaren ließ. Gelernte Arbeiter sprachen sich sogar dezidiert gegen die Berufsarbeit ihrer Frauen aus. Aus ihrer Perspektive stellte ein ausreichender Verdienst des Ehemannes ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal gegenüber Hilfsarbeitern oder ungelernten Arbeitern dar, wie dies auch schon in den 1920er Jahren der Fall gewesen und von der Forschung mit dem Schlagwort der „respektablen Arbeiterfamilie“ beschrieben worden ist. Vielfach begründeten die Ehemänner ihre ablehnende Haltung gegenüber der Berufsarbeit ihrer Frauen mit dem Verweis darauf, dass diese so verstärkt in Konkurrenz zu ihrer Funktion als Ernährer treten würden.234 Gleichzeitig betonte Ursula Lehr, dass insbesondere Männer aus 231

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234

Vgl. ACDP 07-004-569/2, CDU und CDU/CSU-Bundestagsfraktion Kommission „Frauen“, „Frau und Gesellschaft“. Grundsätze und Forderungen der CDU für Gleichberechtigung in einer sich wandelnden Welt. Vorlage für den Bundesvorstand am 24. Februar 1975 in Bonn, 2. Die Enquete ging auf einen Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 8. November 1973 zurück und wurde am 19. Juni 1974 gebildet. Der Abschlussbericht lag im November 1976 vor. Vgl. Frau und Gesellschaft (II): Bericht der Kommission (1980), 11. Für die Berichte vgl. Deutscher Bundestag. Presse- und Informationszentrum (Hg.), Frau und Gesellschaft (I); Deutscher Bundestag. Presse- und Informationszentrum (Hg.), Frau und Gesellschaft (II). Vgl. Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Ehe, 72. Für die Aufgabenverteilung in der DDR vgl. u. a. SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/17/15, Ergebnisse der Umfrage zur Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft vom November 1970, 5. Vgl. BArch Koblenz B 189/3184, Expertise von Barbara Schmitt-Wenkebach, Überlegungen und Beantwortung der Fragen zum Themenbereich „Die Aufgabe der Frau für die Gesundheit in Familie und Gesellschaft“, [Berlin, 24. November 1971], Bl. 127–143, hier Bl. 132. Für das Schlagwort vgl. exemplarisch Rosenbaum, Typen, 260; Ehmer, Gesellen, 130.

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niedrigeren sozialen Schichten das Ideal der egalitär-gleichberechtigten Partnerschaft im Familienalltag ablehnten.235 Lehr beobachtete zudem in der ländlichen Bevölkerung eine stärkere Orientierung der weiblichen Rollen an den „3 ‚K‘s (Kinder, Küche, Kirche)“.236 Neben einer regionalen Unterscheidung war die Konfessionszugehörigkeit ein wichtiges Merkmal, da insbesondere katholische Mädchen stärker von einem traditionellen Rollenmodell geprägt seien. Folglich unterschieden sich die Familien zu Beginn der 1970er Jahre im Hinblick auf die Rollenverteilung entlang der Differenzierungskriterien Wohnort, soziales Milieu, Alter, Bildung und Konfession, insbesondere aber auch Geschlecht.237 Jedoch existierte beim letzten Unterscheidungsmerkmal keine klar definierte Trennlinie, wie schon Erhebungen aus den 1920er und 1950er Jahren aufgezeigt hatten. In der Brigitte-Umfrage von 1974 benannte die Soziologin Helge Pross die Hausfrauen als eine wichtige Trägergruppe traditioneller Geschlechterrollen. „Immer habe ich mir gewünscht: einen Mann, eine schöne Wohnung, Kinder. Das ist in Erfüllung gegangen“,238 erzählte eine Hausfrau. „Ich empfinde mich als Mittelpunkt der Familie, die [die Mutter; C. N.] immer da ist, zu der jeder kommen kann, die das Ihrige dazu beiträgt, daß ein gemeinschaftliches Leben eben möglich ist“, erklärte eine weitere Befragte. Die exemplarischen Stellungnahmen von Hausfrauen und Müttern legen offen, wie unterschiedlich Frauen auf der individuellen Ebene die Einstellung zur eigenen Rolle empfanden. Gleichwohl findet sich in ihren Schilderungen ein Leitmotiv. Die meisten Frauen hatten mit der Geburt ihrer Kinder die Berufsarbeit freiwillig aufgegeben und sie favorisierten eine geschlechtsspezifische Aufgabenverteilung.239 Der Zweite Familienbericht fasste 1975 die unterschiedlichen Forschungsergebnisse zur innerfamilialen Rollenverteilung zusammen und hielt fest, dass das partnerschaftliche Rollenmodel kaum verbreitet sei. Die Sachverständigenkommission sprach stattdessen von einer „Arbeitsteilung“ zwischen Ehemann und -frau.240 Auch würden Frauen, gerade aus der Unterschicht, dieses Rollenmodell aufrechterhalten, indem sie sich selbst als Ehefrau und Mutter verstünden. Da 235

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238 239 240

Vgl. BArch Koblenz B 189/3184, Expertise Ursula Lehr, Betr.: Gutachtliche Stellungnahme zu dem Arbeitspapier „Die Aufgabe der Frau für die Gesundheit in Familie und Gesellschaft – Überlegungen zu einer Kampagne der gesundheitlichen Aufklärung. Übersandt von der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung mit Schreiben vom 16. August 1971“, Bonn, 19. Oktober 1971, Bl. 214–245, hier Bl. 220. Ebenda, hier Bl. 219. Vgl. BArch Koblenz B 189/3184, Expertise Ursula Lehr, Betr.: Gutachtliche Stellungnahme zu dem Arbeitspapier „Die Aufgabe der Frau für die Gesundheit in Familie und Gesellschaft – Überlegungen zu einer Kampagne der gesundheitlichen Aufklärung. Übersandt von der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung mit Schreiben vom 16. August 1971“, Bonn, 19. Oktober 1971, Bl. 214–245, hier Bl. 219. Pross, Wirklichkeit, 169. Vgl. ebenda, 170–174, 203. Vgl. Bericht der Sachverständigenkommission, Zweiter Familienbericht, 34f.

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dieser Trend in den höheren Schichten weniger stark ausgeprägt sei, wertete die Kommission das als Zeichen „einer leichten Schichtabhängigkeit der innerfamilialen Rollendifferenzierung“.241 Studien zeigten in den 1970er Jahren auf, dass lediglich eine Minderheit von ungefähr 20 Prozent der Bevölkerung, meist jüngere Paare mit höheren Bildungsabschlüssen, sich zu einer partnerschaftlichen Beziehung mit einer gleichberechtigten Aufgabenverteilung bekannten.242 Insofern deutete sich zumindest in den wohlhabenderen sozialen Schichten ein partieller Einstellungswandel an. Akademiker und Selbständige agierten als Träger des sozialen Wandels, obwohl die von ihnen mehrheitlich gewählten Parteien – die CDU und die CSU – diesen ablehnten. Gleichzeitig praktizierten gerade Arbeiterfamilien die partnerschaftliche Aufgabenverteilung nicht, was sicherlich die von ihnen mehrheitlich gewählten Sozialdemokraten darin bestärkt hat, vermehrt Einrichtungen zur Eltern- und Familienberatung zu gründen. Aber auch auf die Kindererziehung sollte, wie zuvor gezeigt, unter anderem in Kindergärten eingewirkt werden, um die schichtenspezifische Prägung der Kinder zu überwinden.243 In den Augen der späteren CDU-Familienministerin Lehr handelte es sich bei dem von den Frauen ausgehenden retardierenden Momenten des sozialen Wandels lediglich um eine temporäre Erscheinung. Schließlich würden ihre eigenen Erhebungen einen allgemeinen Trend zur Emanzipation der Frauen aufzeigen, der sich zudem wohl keine gesellschaftliche Gruppe auf Dauer verschließen könne. Zudem prognostizierte Lehr weitreichende Folgen für die Familie. So werde das bisher vorherrschende patriarchalische Rollenmodell ersetzt durch ein „partnerschaftliche[s] Interaktionsgefüge, bei dem Mann und Frau in gleicher Weise Verantwortung übernehmen und sich Aufgaben, Pflichten und Rechte teilen“.244 Diese Verschiebung gehe zugleich mit geänderten Anforderungen an die Frau einher, die „Selbständigkeit und Entscheidungsfähigkeit“ unter Beweis stellen müsse. Noch sei dieses Rollenmodell jedoch „vorwiegend“ unter jungen Ehepaaren aus höheren sozialen Schichten und in einem städtischen Umfeld anzutreffen. Lehr hob somit auf die bereits zuvor festgehaltenen sozialen Unterscheidungskriterien ab, ergänzte sie aber um zwei weitere Punkte: Die Berufsarbeit der Ehefrau verstärke die Tendenz zur Gleichberechtigung noch zusätzlich. Zudem seien partnerschaftliche Familien resistenter gegen Krisen

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Ebenda, 35. Vgl. Die Rolle des Mannes, 41f., 44ff., 116. Vgl. Bericht der Sachverständigenkommission, Zweiter Familienbericht, 35, 67. BArch Koblenz B 189/3184, Expertise Ursula Lehr, Betr.: Gutachtliche Stellungnahme zu dem Arbeitspapier „Die Aufgabe der Frau für die Gesundheit in Familie und Gesellschaft – Überlegungen zu einer Kampagne der gesundheitlichen Aufklärung. Übersandt von der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung mit Schreiben vom 16. August 1971“, Bonn, 19. Oktober 1971, Bl. 214–245, hier Bl. 219.

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und würden folglich in Zeiten eines rapiden gesellschaftlichen Wandels Bestand haben. Ein partnerschaftliches Familienmodell korrespondierte nach dieser Lesart nicht nur mit einer demokratischen Gesellschaft, sondern auch mit den in den 1970er Jahren wahrgenommenen Umbrüchen.245 Darüber hinaus veränderte sich die Haltung von Partnern zum Rollenmodell auch im Laufe ihrer Beziehung. Insbesondere zwei retardierende Momente standen einem partnerschaftlichen Rollenarrangement entgegen und begünstigten eine „Traditionalisierung der Aufgabenverteilung“246 : die Eheschließung und die Geburt des ersten Kindes. Darüber hinaus besagt die „Honeymoon-Hypothese“, dass die innerfamiliale Aufgabenverteilung im Zeitverlauf einer Ehe immer traditionaler ausfalle. Gerade in Ehen blieben somit über die 1970er Jahre hinaus meist traditionelle Rollenmuster erhalten, schließlich ging eine Heirat im Regelfall mit einem deutlichen Machtgewinn des Mannes gegenüber der Frau einher. Zudem lehnten die Männer nach einer Heirat die Berufstätigkeit ihrer Frauen ab, da sie den damit einhergehenden Verlust ihrer eindeutigen Vorrangstellung verhindern wollten.247 Sozialwissenschaftliche Untersuchungen zeigten in den 1970er und 1980er Jahren ebenfalls auf, dass mit der Geburt des ersten Kindes die Unterstützung des Mannes merklich zurückging. Gerade in Familien mit drei und mehr Kindern unter sechs Jahren, also wenn eine enorme Belastung von den Frauen zu schultern war, tendierten die Männer dazu, ihre Mithilfe zu verweigern. Dies traf selbst auf Familien zu, die sich vor der Geburt der Kinder einer partnerschaftlich-gleichberechtigten Beziehung verschrieben hatten. So schilderte das Paar Monika und Julius Gebhart 1982 in der Zeitschrift Freundin, dass Julius seit der Geburt der beiden Töchter im Haushalt nur noch gelegentlich mithelfe.248 Zudem reduzierte sich die Mithilfe des Ehemannes ein zweites Mal, sobald die Kinder ein Alter von sechs Jahren erreichten. Dann konnten die Kinder ihrer Mutter bei den Hausarbeiten helfen und übernahmen somit die Aufgaben des Ehemannes. Gerade diese Befunde führten in der zeitgenössischen Debatte dazu, die Geburt eines Kindes negativ zu konnotieren. Dadurch werde dem Mann „eine Art ‚Faustpfand‘“249 gegenüber seiner Frau in die Hand gegeben und so eine Emanzipation verhindert, vermerkten sozialwissenschaftliche Studien.250

245 246 247 248

249 250

Vgl. ebenda, Bl. 219f. Peuckert, Familienformen (2012), 241. Vgl. Die Rolle des Mannes, 12f.; 25–28; Stellungnahme der Bundesregierung, Dritter Familienbericht, 6; Schulz/Blossfeld, Arbeitsteilung, 32. Vgl. Die Rolle des Mannes, 46–49, 93; Metz-Göckel/Müller, Mann, 48; dies., Männer, 160; Hartenstein u. a., Geschlechtsrollen, 48, 58; FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Zwei Familien – zwei unterschiedliche Lebensauffassung, in: Freundin (15. April 1982), 176–181. Hartenstein u. a., Geschlechtsrollen, 65. Vgl. ebenda, 62, 64; Metz-Göckel/Müller, Mann, 51, 53; dies., Männer, 160f.

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8.3.2.2 Wider dem Ideal: traditionelle Aufgabenverteilung als Konstante im Alltag ostdeutscher Frauen

Die Aufgabenverteilung blieb in Ostdeutschland traditionell geregelt. Daneben gab es jedoch ebenso zahlreiche Paare, so ihre Selbsteinschätzung, mit einer partnerschaftlichen Aufgabenverteilung bei der Kindererziehung. Allerdings muss auf eine geschlechterspezifisch unterschiedliche Wahrnehmung hingewiesen werden, die eine Studie des Bereichs Familienrecht an der Humboldt-Universität von 1972 aufzeigte. Während 63 Prozent der Männer angaben, sie würden sich zu gleichen Teilen an der Kindererziehung beteiligen, bestätigten dies lediglich 57 Prozent der Frauen. Diese unterschiedliche Einschätzung belegten noch weitere Fragen: 32 Prozent der Ehefrauen vertraten die Ansicht, dass sie sich bei der Kinderziehung stärker als ihre Männer einbringen würden. Immerhin teilten 28 Prozent der Männer diese Einschätzung. Obwohl Frauen weiterhin in deutlich stärkerem Umfang in die Kindererziehung involviert waren, betonte Grandke 1978 demgegenüber, „daß die gleiche Verantwortung von Vater und Mutter für die Erziehung der Kinder schon sehr weit anerkannt ist und auch schon häufig praktiziert wird“.251 Ein zentrales Ergebnis einer Studie des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig erklärte wiederum, dass bei „wichtigen Familienangelegenheiten und finanziellen Anschaffungen“252 die Gleichberechtigung bereits weitgehend umgesetzt sei. Beide Positionen argumentierten, dass sich die „sozialistische Familie“ in der ostdeutschen Gesellschaft schon im Jahrzehnt nach der Verabschiedung des FGB zumindest bei der Kindererziehung in der Alltagspraxis durchgesetzt habe.253 Dieses Interpretament erscheint fraglich, sobald es mit den Erhebungen zur Verteilung der Hausarbeiten konfrontiert wird. Insofern kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich in der sozialen Praxis das Ideal der partnerschaftlichen Familie durchgesetzt hätte. Vielmehr trugen – selbst bei einer Mithilfe der Ehemänner – die Frauen weiterhin die Hauptlast. Nach offiziellen Erhebungen einer Studie von Irene Lange schulterten 1970 die Ehefrauen sogar 80 Prozent der anfallenden Tätigkeiten.254 Dieser Befund deckt sich mit zahlreichen weiteren zeitgenössischen Stellungnahmen und Untersuchungen. 251 252

253 254

Grandke, Entwicklung, 235. BArch Berlin DC 4/2106, Zentralinstitut für Jugendforschung, Vergleichende Betrachtungen von jungen Ehen mit Mitgliedschaft in der SED und Nichtmitgliedern, Leipzig, Juni 1974, 14. Vgl. Grandke, Entwicklung, 235–238; Gysi/Meyer, Leitbild, 160. Vgl. Lange, Beziehungen, 12; SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/13/200, Material zu einigen Fragen der Familie in der DDR, ohne Ort, 4. Februar 1965, Bl. 74; EZA 102/396, Evangelische Kirche in Deutschland. Kirchenkanzlei für die Gliedkirchen in der Deutschen Demokratischen Republik, Betr.: Beobachtung der Familiengesetzgebung in der DDR, Berlin, 27. April 1965, 3; Obertreis, Familienpolitik, 308f. Die 1965 ermittelte Arbeitsbelastung bei den Hausarbeiten lag bei 47,5 Wochenstunden. Davon entfielen 37,7 auf die

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8.3 Partnerschaft als Integrationsmodell für Familienbeziehungen

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Mein Mann ist unbedingt fortschrittlich eingestellt, doch warum versagt er in der Familie. Ich bin ganztags berufstätig und hole zur Zeit meinen Facharbeiterbrief nach. Da ich zwei Kleinstkinder zu versorgen habe und es meinem Mann zu viel ist, mir im Haushalt zur Hand zu gehen, gibt es laufend Zank und Streit,255

schilderte 1964 eine verheiratete Mutter zweier Kinder ihren Familienalltag. Konflikte gehörten in dieser Familie zur Tagesordnung, Arbeitsüberlastung zum Alltag der Ehefrau. Das Zentralinstitut für Jugendforschung vermerkte, dass eine Umfrage zumindest ein partielles Umdenken bei den Männern aufgezeigt habe. So hätten SED-Parteimitglieder in diesem Punkt das sozialistische Ideal bereits internalisiert und würden ihren Partnerinnen weitaus stärker zur Hand gehen als andere Männer. Nach dieser offiziellen Darstellung handelte es sich somit bei den SED-Mitgliedern um die „wahren“ sozialistischen Bürger der DDR, welche die staatlich gesetzten Normen in alltagspraktisches Handeln übersetzten.256 Es drängt sich die Vermutung auf, dass diese Deutung politischen Vorgaben gefolgt ist. Schließlich legt eine weitere Umfrage des Zentralinstituts für Jugendforschung aus dem Jahr 1975 nahe, dass Gleichberechtigung in zahlreichen ostdeutschen Familien nicht der Realität entsprach. Die männlichen Studenten und Arbeiter erklärten mehrheitlich, dass die Hausarbeit in den Aufgabenbereich der Frau falle. Ein noch deutlicheres Ergebnis lieferte die Frage zur tatsächlichen Mithilfe des Mannes. 20 Prozent der Ehemänner halfen ihren Frauen selten bzw. nie. 41 Prozent beantworteten diese Frage zwar mit „oft“, jedoch war der genaue Umfang der Mithilfe nicht weiter eingegrenzt.257 Eine weitere Umfrage zur Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft aus dem Jahr 1975 belegt diesen Befund. Als ein zentrales Ergebnis hielt die Studie fest, „daß bei der Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau im täglichen Leben noch Probleme auftreten“.258 Immerhin stuften 1975 weitaus mehr Männer und Frauen die Hausarbeit als Pflicht beider Partner ein als noch zu Beginn des Jahrzehnts. Zudem bekannten sich 55 Prozent der Männer dazu, dass beide Partner für die Kindererziehung zuständig seien. Bei den Frauen hingegen gaben dies lediglich 39 Prozent an.

255 256

257

258

Frauen und lediglich 5,5 auf die Männer und 4,3 Wochenstunden auf die Kinder. 1970 war die Verteilung ähnlich geregelt. Von 47,1 Wochenarbeitsstunden schulterten die Frauen 37,1. Vgl. Lange, Beziehungen, 12. BArch Berlin DP 1/SE3791, Auszüge aus Leserzuschriften an die Nationalzeitung zum FGB-Entwurf, Berlin, 14. Mai 1964, 3f. Vgl. BArch Berlin DC 4/2106, Zentralinstitut für Jugendforschung, Vergleichende Betrachtungen von jungen Ehen mit Mitgliedschaft in der SED und Nichtmitgliedern, Leipzig, Juni 1974, 14f., 22. Vgl. BArch Berlin DC 4/234, Zentralinstitut für Jugendforschung, Forschungsbericht Zu Fragen der sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung von Mädchen und jungen Frauen in der DDR (Frauenstudie), Leipzig, Juli 1975, 49f., 53f. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/2.042/34, Abteilung Frauen, Einschätzung der Umfrage zur Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft – September 1975, Berlin, 19. November 1975, Bl. 60.

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8. Rekonfiguration der Ideale „Familie“ und „Partnerschaft“

Allerdings unterschieden sich die Antworten der Altersgruppen deutlich. Die verheirateten jüngeren Frauen und Männer gaben dies mit 50 und 60 Prozent weitaus häufiger an als die ältere Generation.259 Es lagen somit Unterschiede im Hinblick auf soziale Schicht, Alter und Geschlecht vor. Die Ehemänner in Arbeiterhaushalten engagierten sich im Unterschied zur Bundesrepublik stärker bei den Hausarbeiten als Ehemänner aus anderen sozialen Schichten. Das lag jedoch weniger am angestrebten Ideal der Gleichberechtigung. Vielmehr waren ihre Frauen weitaus häufiger voll berufstätig, sodass erst die gelegentliche Mithilfe der Ehemänner den Haushalt überhaupt am Laufen hielt, wie dies auch in der Zwischenkriegszeit der Fall gewesen war.260 Da allerdings das Familienleben wie auch der Berufsalltag hinter einem egalitären Rollenmodell zurückblieben, beurteilten gerade die Frauen ihre individuelle Lage zunehmend negativ – zumal sie sich bereits in den frühen 1970er Jahren verstärkt am Ideal der egalitär-gleichberechtigten Aufgabenverteilung orientiert hatten. Dieses Ergebnis „resultiert offensichtlich aus einem höheren Anspruch, den viele Frauen heute aus ihrer Gleichberechtigung ableiten“,261 schlussfolgerte der Bericht.262 Diese Konstellation verschärfte überdies die unterschiedliche Einschätzung von Männern und Frauen zum Beitrag der Ehemänner bei der Haushaltsführung und Kindererziehung. Während 43 Prozent der Männer angaben, sei würden die Hausarbeiten „überwiegend gemeinsam“ erledigen, teilten nur etwas mehr als ein Viertel der Frauen diese Einschätzung. Damit erschien aus der subjektiven Perspektive der Männer ein Umdenken bei der familialen Aufgabenverteilung tendenziell als nicht notwendig. Auch das verhinderte, dass sich das innerfamiliale Rollenverhalten veränderte. Gleichzeitig wünschten sich die Frauen aber, dass die Männer sich stärker einbrächten.263 Diese Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit erhöhte das Konfliktpotenzial in den Familien und bestand bis in die späten 1980er Jahre fort.264 259 260 261

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Vgl. ebenda, Bl. 67f. Der Anteil stieg bei den Frauen zwischen 1970 und 1975 von 38,1 auf 49,2 Prozent und bei den Männern von 49,9 auf 58,2 Prozent. Vgl. Merkel, Utopie, 350f.; Kleßmann, Arbeiter, 740. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/2.042/34, Abteilung Frauen, Einschätzung der Umfrage zur Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft – September 1975, Berlin, 19. November 1975, Bl. 62 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Vgl. ebenda, Bl. 60ff., 66f. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/17/15, Ergebnisse der Umfrage zur Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft vom November 1970, 5. Vgl. SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/13/200, Anita Grandke, Herta Kuhrig, Wolfgang Weise, Zur Situation und zur Entwicklung der Familie in der DDR, in: Neue Justiz, Jg. 19, Nr. 8, 1965, Bl. 115; SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/13/200, Material zu einigen Fragen der Familie in der DDR, ohne Ort, 4. Februar 1965, Bl. 74; BArch Berlin DC 4/531, Zentralinstitut für Jugendforschung, Zur Entwicklung junger Ehen zwischen dem ersten und siebenten Ehejahr, ohne Ort, [1983], 14; BArch Berlin DC 4/524 Zentralinstitut für Jugendforschung, Probleme der Vereinbarkeit beruflicher und familiärer Aufgaben bei jungen Werktätigen.

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8.3.2.3 Persistenz traditioneller Geschlechterrollen in den 1970er und 1980er Jahren

In einem Bereich verschwanden die Geschlechterbarrieren in den 1970er Jahren weitgehend, wie schon in der DDR beobachtet: dem der Verwendung des Familieneinkommens. In beinahe der Hälfte der Ehen entschieden die Paare gemeinsam, welche Anschaffungen getätigt werden sollten. Hier hatten die Ehefrauen somit einen direkten Zugriff auf das vom Mann verdiente Geld. Pross erklärte im Hinblick auf diesen Befund, dass dies „fast eine[r] Revolution“265 gleichkomme, die sich still und beinahe unbemerkt vollzogen habe,266 wenngleich sich diese Entwicklung bereits in den 1950er Jahren erstmals abgezeichnet hatte. In allen anderen Bereichen wurde in beiden Teilen Deutschlands der Familienalltag demgegenüber nicht egalitär-partnerschaftlich geregelt. Neben den Männern standen gerade die Frauen selbst – entweder aufgrund eigener Wünsche oder aufgrund ihrer Prägung und struktureller Zwänge – einem sozialen Wandel entgegen, wenngleich deutliche Unterschiede im Hinblick auf Alter, Bildung, Beruf, Konfession und Wohnort vorlagen. Detaillierte Erkenntnisse über die Gründe für das Verhalten von Partnern wie auch für die Ausgestaltung des Zusammenlebens in Westdeutschland lieferten in den 1970er Jahren eine Reihe von Forschungsarbeiten. Eine vom Bundesfamilienministerium beauftragte Studie zur Rolle des Mannes fragte, „was bei Männern und bei Frauen patriarchalische oder partnerschaftliche Einstellungen in den Beziehungen zwischen Mann und Frau bedingt“.267 In etwa zeitgleich führte die Soziologin Helge Pross weitere Befragungen in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Brigitte an Arbeitnehmerinnen und Männern durch, die ebenfalls die Rollenmuster von Männern und Frauen thematisierten. Beide Studien belegten den Befund über die geschlechtertypische Rollenverteilung, reicherten ihn jedoch mit zahlreichen empirischen Informationen an. In Pross’ Untersuchungssample erledigte mehr als die Hälfte der Arbeitnehmerinnen die Hausarbeiten allein. Diese Befunde werden auch bestätigt von Pross’ anderer Brigitte-Umfrage zu Hausfrauen: Ehefrauen kümmerten sich stets weitgehend alleine um den Haushalt – egal ob sie berufstätig waren oder nicht.268 Die Umfragen zeigten zudem auf, dass sich die Mehrzahl der Hausfrauen zufrieden über ihre Rolle äußerte. Die Gründe für diese Selbsteinschätzung

265 266 267 268

Forschungsbericht zur Studie: Leistung und Lebensweise junger Frauen in der DDR, Leipzig, März 1987, 13; Obertreis, Familienpolitik, 335. Für ähnliche Befunde vgl. Grandke, Entwicklung, 242–245; Meyer/Schulze, Familie, 42–45, 110f.; Nickel, Mitgestalterinnen, 245; Hempel, Funktionen, 157–162; Gysi/Meyer, Leitbild, 157ff. Pross, Wirklichkeit, 119 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Vgl. ebenda, 115–119. Die Rolle des Mannes, 1f. Vgl. Pross, Gleichberechtigung, 93f., 96, 228; Pross, Wirklichkeit, 170–174, 203. Zur Selbstwahrnehmung des Ehemannes als Ernährer vgl. Pross, Männer, 61.

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vermochten die empirischen Erhebungen nicht zu bestimmen, was in der zeitgenössischen Debatte Spekulationen auslöste. Auf der einen Seite betonte die Bild-Zeitung: „Unsere Hausfrauen sind zufrieden“.269 Sie wertete Pross’ Ergebnis als Beleg dafür, dass es keine Unterdrückung der Hausfrauen gebe und die Frauen tradierte Geschlechterrollen befürworten würden. Dieser Deutung widersprachen Vertreterinnen aus Gewerkschaften und Frauengruppen. Die „lautstarken Glücksbeteuerungen“ könnten auch als „psychologischer Selbstschutzmechanismus“, als ein „unbewußtes Sich-Hinwegtäuschen über Mißlichkeiten“270 verstanden werden, argumentierten sie. Dieser Sichtweise schlossen sich auch Sozialwissenschaftler an, die von einer „Folge resignativer Anpassung“271 sprachen. Demnach verberge sich hinter der „Schutzbehauptung“ eine tiefgreifende Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenslage. Gleichzeitig muss berücksichtigt werden, dass den Ehefrauen in den 1970er Jahren vielfach „keine reale Alternative zu ihrer jeweiligen Situation“272 offenstand, wie die vom Familienministerium in Auftrag gegebene Studie über die Rolle des Mannes 1976 offenlegte. Diese Deutung teilte Pross, schließlich werde die Frau auf „die Personalunion von biologischer Mutter, Betreuerin und Erzieherin des Kindes, Ehefrau und Hausfrau“273 festgelegt. Die geschlechtertypische Aufgabenverteilung und die deutliche Mehrbeanspruchung der Frau im Haushalt galten damit als Faktum. Auf Haushaltsführung und Kindererziehung entfielen bei einer vierköpfigen Familie im Schnitt pro Tag zehn Arbeitsstunden. Hausarbeit war somit eine Ganztagstätigkeit.274 Pross’ Untersuchung zum Selbstbild der westdeutschen Männer belegt, wie diese das Fortbestehen traditioneller Geschlechterrollen im Alltag praktizierten. Die Männer bezeichneten die Ehe als eine „Gefährtenschaft“275 und nicht als eine „gleichrangige Partnerschaft“,276 sie hatten damit das neue gesellschaftliche Leitbild noch nicht übernommen. Von einer „partnerschaftlichen Assistenz“277 konnte daher in den Augen Pross’ nicht die Rede sein. Vielmehr handele es sich um eine „Gelegenheitsarbeit“. Männer halfen ihren Ehefrauen somit nur selten bei den Hausarbeiten. In den Ausnahmesituationen beschränkte sich ihre Beteili-

269 270 271 272 273 274

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Bild-Zeitung zit. n.: Heile Welt, 123. Ebenda, 124. Die Rolle des Mannes, 89. Ebenda. Pross, Männer, 139. Vgl. Die Rolle des Mannes, 91f.; Pross, Wirklichkeit, 80, 98. Für einen ähnlichen Befund zur Haltung der Männer vgl. FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Ursula Lebert, Nicht mehr Patriarch – noch nicht Partner, in: Brigitte H. 8, 1977, 141–148; FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Ehe ’77. Für den Mann noch attraktiv?, in: Stern (1977). Pross, Männer, 88, 93. Ebenda, 94. Pross, Wirklichkeit, 143 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.].

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gung auf „männlich“ konnotierte Tätigkeiten wie Reparaturen und Autowaschen oder das Geschirrspülen und Einkaufen. Die „weiblich“ konnotierten und besonders zeitintensiven Arbeiten wie Kochen, Putzen und Waschen lehnten sie demgegenüber ab. Dieser Befund deckt sich mit dem Ergebnis der Studie des Familienministeriums zur Rolle des Mannes.278 Hausarbeit sei „langweilig und unproduktiv“279 und unvereinbar „mit der männlichen Würde“,280 lautete die Begründung zahlreicher Männer. „Man muß doch ehrlich sein, die Hausarbeit ist eine niedrige Arbeit, die einem nichts gibt“,281 gab einer der Befragten offen zu. In diesem Punkt hatte sich somit weder die Einstellung der Männer noch deren Engagement gewandelt. Während sich die Geschlechterrollen bei der Hausarbeit in den 1970er Jahren nicht wandelten, zeigte sich bei der Kindererziehung eine vorsichtige Verschiebung. Die in der öffentlichen Debatte eingeforderte partnerschaftliche Teilhabe des Mannes fand sich jedoch kaum, da die Väter die alltäglichen und zeitintensiven Aufgaben selten übernahmen. Sie brachten die Kinder in der Regel nicht in die Schule und versorgten auch die erkrankten Kinder nicht. Zudem kümmerten sie sich wenig um Kleinkinder. Füttern, Baden und Wickeln fielen damit weiterhin der Mutter zu. Die Männer begründeten das mit der „natürlichen“ und intensiven Mutter-Kind-Bindung, die sich zwischen Vätern und Kindern nicht einstelle. Sie rechtfertigten die Unterschiede bei den Geschlechterrollen auf der Basis vermeintlich biologischer und psychologischer Grundbedingungen. Folglich verstanden sich die Männer lediglich als „Teilzeit-Väter“ oder „Väter im Nebenberuf “,282 was nicht zuletzt die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf gut 44 Stunden für Arbeiter und Angestellte am Anfang der 1960er Jahre und die Einführung der Fünftagewoche ermöglichte.283 Vaterschaft blieb somit über die gesamten 1970er Jahre „ein Sonntagsberuf “,284 wie Helge Pross schlussfolgerte.285 In der Person des Ehemannes und Vaters kristallisierte sich ungeachtet des zaghaften väterlichen Engagements die immer größer werdende Abweichung zwischen dem öffentlich verhandelten Rollenideal und der im Familienalltag praktizierten Aufgabenverteilung, gerade weil sich die Debatte immer stärker in 278 279 280 281 282 283 284 285

Vgl. ebenda, 142f.; dies., Männer, 100f.; dies., Veränderungen, 388ff.; Die Rolle des Mannes, 32f., 46–50, 116. Pross, Männer, 95. Ebenda. Ebenda. Pross, Wirklichkeit, 238 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Vgl. Schildt, Sozialgeschichte, 24f., 40. Pross, Gleichberechtigung, 93. Vgl. Pross, Wirklichkeit, 236ff. Für einen ähnlichen Befund zur Aufgabenverteilung vgl. dies., Männer, 123–134; Die Rolle des Mannes, 57ff.; Hartenstein u. a., Geschlechtsrollen, 66ff.

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Richtung eines egalitär-gleichberechtigten Rollenmodells verschob. Die meisten Männer erfüllten dieses Ideal jedoch nicht, waren in der Regel aber auch keine Patriarchen. Sie blieben ein Hybrid, das nur bei einzelnen und vereinzelt anfallenden Aufgaben im Haushalt mithalf.286 Zugleich blieben zahlreiche Ehemänner traditionellen Idealen verhaftet, wie eine Stellungnahme in der Zeitschrift Brigitte aus dem Jahr 1977 untermauerte: „Ich habe nichts gegen Gleichberechtigung. [. . . ] Die letzten Entscheidungen, die muß dann doch ich treffen, das bleibt gar nicht aus“,287 erklärte ein Ehemann. Der Weg von der patriarchalischen Familie zur gleichberechtigt-partnerschaftlichen Familie sei „lang und krumm“,288 schlussfolgerte der Brigitte-Artikel aus dieser Stellungnahme. Zudem hatte sich der öffentliche Umgang mit dem Thema gewandelt. Spätestens seit den 1970er Jahren war es nicht mehr sozial akzeptiert, sich öffentlich gegen Gleichberechtigung und Partnerschaft zu positionieren. Die meisten Männer äußerten sich daher bei Befragungen liberal. Sie gaben zu verstehen, dass sie durchaus für Gleichberechtigung seien. Der Lackmustest fand freilich in der sozialen Praxis statt, also in dem Augenblick, da sich der diskursive liberale Anspruch praktisch bewähren oder aber tradierte Geschlechterrollen zum Vorschein kommen würden.289 Eine Änderung dieser geschlechtertypischen Aufgabenverteilung in der Zukunft galt überdies unter zeitgenössischen Sozialwissenschaftlern als unwahrscheinlich. Mitte der 1970er Jahre bekannten sich 70 Prozent der Frauen und Männer zu den traditionellen Geschlechterrollen. „Von dieser wirklich offenen partnerschaftlichen Gesellschaft sind wir noch zu weit entfernt“,290 hielt die Sachverständigenkommission 1979 im Dritten Familienbericht fest. Ähnlich positionierte sich Helge Pross schon 1976, als sie prognostizierte: „Auch in der absehbaren Zukunft werden die Geschlechter, was ihre Arbeit betrifft, weitgehend nebeneinander her leben.“291 Dieser Befund traf schichtübergreifend zu, obwohl in Familien aus der Mittelschicht, also Familien von mittleren bzw. höheren Angestellten und Beamten sowie von selbständigen Handwerkern und

286 287 288 289 290

291

Vgl. FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Ursula Lebert, Nicht mehr Patriarch – noch nicht Partner, in: Brigitte H. 8, 1977, 141–148; Pross, Männer, 179. FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Ursula Lebert, Nicht mehr Patriarch – noch nicht Partner, in: Brigitte H. 8, 1977, 141–148, hier 146. Ebenda. Für eine ähnliche Schlussfolgerung und unterschiedliche zeitgenössische Interpretationsmöglichkeiten zu „Partnerschaft“ vgl. Lehr, Partnerschaft, 33f. Vgl. Pross, Männer, 93–98; Die Rolle des Mannes, 116, 123. Die Lage der Familien. Dritter Familienbericht, 173. Ähnlich bereits 1976: „Die Gleichberechtigung der Geschlechter in Öffentlichkeit und Familie ist eine Norm, die heute wie früher auf ihre Realisierung wartet.“ Die Rolle des Mannes, 116. Pross, Wirklichkeit, 145 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Siehe v. a. ebenda, 55, 63ff., 107, 143, 145ff., 203; dies., Männer, 71–85, 179; Die Rolle des Mannes, 91f. Für die Zufriedenheit der Partner über die Aufgabenverteilung vgl. ebenda, 65–76.

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Einzelhändlern, „partnerschaftliche Beziehungen“292 überdurchschnittlich vertreten waren. Aber selbst in diesen Familien beschränkte sich die Mitarbeit der Ehemänner auf regelmäßige „Kavaliersdienste“.293 Pross verwies im Hinblick auf die Geschlechterrollen noch auf einen weiteren entscheidenden Sachverhalt. Die „Zustimmung“ für tradierte Rollenmodelle dürfe nicht mit einer „Zufriedenheit“ über die Aufgabenverteilung gleichgesetzt werden. Jedoch sei der Grad der Unzufriedenheit nicht ausreichend hoch, um einen Protest zu initiieren. Das liege auch daran, dass die bestehende Aufgabenverteilung und die faktische Überlegenheit des Mannes nicht in einer „Unterdrückung der Frau in der Ehe“294 münde. Stattdessen sähen sich Ehemann und -frau selbst als Partner – im Sinne von Kamerad bzw. Kameradin –, die sich insofern ergänzten, als jeder innerhalb des ihm obliegenden Bereichs seine Aufgaben erfüllte.295 Diese Veränderung korrespondierte für die zeitgenössischen Beobachter durchaus mit dem gesellschaftlichen Wandel. Mit der voranschreitenden „Demokratisierung“ in der Bundesrepublik sei eine „Demokratisierung“ der Familienbeziehungen einhergegangen, so ihr grundlegender Tenor.296 Diese Wertung bezog sich darüber hinaus auf die Frage, wie die Paare die Aufgabenverteilung regelten. Während zwar im Regelfall die rollenspezifische Aufgabenverteilung bestehen bleibe, dominiere „eine demokratische, partnerschaftliche Einstellung“,297 wonach sich beide Partner einvernehmlich auf die Rollenzuschreibung einigten.298 Während also in der öffentlichen Debatte partnerschaftlich mit egalitär-gleichberechtigt synonym gesetzt wurde, lag bei Partnerschaft im Hinblick auf den Familienalltag eine unterschiedliche Konnotation vor. Hier bedeutete partnerschaftlich, dass sich die Paare über die – meist geschlechtertypisch geregelte – Aufgabenverteilung verständigten. Die semantische Verschiebung des Partnerschaftsbegriffs hatten gegen Mitte der 1970er Jahre somit weder die Hausfrauen noch ihre Ehemänner vollzogen. Gerade in diesem Punkt zeigten weitere Studien in den 1980er Jahren eine bemerkenswerte Persistenz traditioneller Geschlechterrollen auf. Die Trennscheide verlief weiterhin zwischen traditionell „männlich“ und „weiblich“ konnotierten Tätigkeiten, wobei die Paare zumindest individuell verhandelten, wie die Aufgabenlast zu verteilen sei.299 292 293 294 295 296 297 298 299

Pross, Wirklichkeit, 162. Ebenda. Ähnlich bei dies., Männer, 95. Pross, Wirklichkeit, 149 [Hervorhebung des Originals beseitigt; C. N.]. Vgl. ebenda, 148f. Vgl. Pross, Männer, 119–122; Lupri, Differenzierung, 332. Die Rolle des Mannes, 54. Vgl. ebenda, 54, 61f. Vgl. Pross, Männer, 93f.; Die Rolle des Mannes, 119; Hartenstein u. a., Geschlechtsrollen, 9; Metz-Göckel/Müller, Mann, 16; dies., Männer, 158–162. Für eine Zusammenfassung vgl. u. a. Löhr/Meyhöfer, Wandel, 608f.

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8.3.2.4 „Neuer Vater“ als neues Sozialphänomen mit geringer Verbreitung

Bei aller Persistenz traditioneller Geschlechterrollen wurde auch das Ideal des „neuen Vaters“ geboren. Hierbei handelte es sich um eine Vaterfigur, die sich an der Haushaltsführung und Kindererziehung beteiligte.300 Dieses Vaterschaftsmodell wies laut wissenschaftlicher Studien einen zentralen Vorteil auf: Die Entwicklungschancen von Kindern aus Familien mit einer partnerschaftlichen Aufgabenverteilung seien besonders hoch, da beide Elternteile bei der Kindererziehung schon unmittelbar nach der Geburt zusammenarbeiteten, wie Studien des Instituts für Entwicklungs- und Sozialpsychologie der Universität Düsseldorf aufzeigten. Während die Mütter vorrangig „Schutz- und Pflegefunktionen“ übernahmen, kümmerten sich die Väter vor allem um das „Bindungsverhalten durch emotionale Zuwendung“.301 Nach Darstellung der Psychologen Horst Nickel und Ursula Ehlert konnten nun auch Väter eine emotionale Beziehung zu ihren Kindern aufbauen. Für die Entwicklung des Kindes war es ihrer Ansicht nach entscheidend, dass mindestens eine zentrale Bezugsperson zur Verfügung stehe.302 Das wachsende väterliche Engagement bei der Kindererziehung beschrieb der Stern Mitte der 1980er Jahre als eine „sanfte Revolution“ der Vaterschaft. In den westdeutschen Städten seien diese „neuen Väter“ allgegenwärtig. Sie würden ganz selbstverständlich an der Wickelkommode stehen, ihren Kindern Brei kochen und mit ihnen auf dem Spielplatz spielen. Die „neuen Väter“ übernahmen nach dieser Lesart freiwillig und mit großer Hingabe ein breites Spektrum an Tätigkeiten, das noch wenige Jahre zuvor als Domäne der Frau gegolten habe. 1988 berichtete auch die von der Adenauer-Stiftung herausgegebene Zeitschrift Die Frau in unserer Zeit über das soziale Phänomen der „neuen Väter“, die Kinderwagen schieben und Kleinstkinder im Tragesitz umhertragen würden. Immer mehr Väter entschieden sich dazu, an Geburtsvorbereitungskursen teilzunehmen, und seien auch während der Geburt ihrer Kinder im Kreißsaal anwesend.303 Dieser Vatertypus war keinesfalls auf „junge bärtige Männer“304 aus dem linksalternativen Milieu beschränkt, ihnen standen aber in den 1980er Jahren soziale Barrieren entgegen. Ein 35-jähriger Abteilungsleiter einer Versicherung und Vater der dreijährigen Susanne hätte gerne stärker am Leben seiner Tochter 300

301 302 303 304

Vgl. Hartenstein u. a., Geschlechtsrollen, 9; Metz-Göckel/Müller, Männer, 153. Zur Rolle der Väter in Westdeutschland während der späten 1970er und der 1980er Jahre vgl. Neumaier, Wertschätzung. Nickel/Ehlert, Väter, 3. Vgl. Lehr, Rolle, 113f., 135; Lehr, Partnerschaft, 55; Nickel/Ehlert, Väter, 3; Wenn die neuen Väter das alte Vaterbild über Bord werfen; Gebhardt, Angst, 177. Vgl. Behringer, Revolution; Nickel/Ehlert, Väter, 2. Behringer, Revolution.

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teilgenommen, berichtete der Stern. Allerdings fehle ihm hierfür die Zeit, da er in seinem Beruf zu stark eingespannt sei. Zudem klagte Susannes Vater, dass er seine Arbeitszeit nicht auf die Hälfte reduzieren könne, da dadurch sein Ansehen in der Firma Schaden nähme. „Die würden mich doch nicht mehr für voll nehmen im Büro. Es hieße sofort, dem ist sein Kind wichtiger als die Arbeit. Und das stimmt manchmal ja auch. Aber das darf ein Mann nicht sagen“,305 berichtete Susannes Vater. Dieser Befund deckt sich mit den Erfahrungen der Berliner „Initiative für aktive Vaterschaft“. „Von hundert Männern, die sich ernsthaft um eine Teilzeitarbeit bemühen, schafft es einer“,306 meist sei dieser im öffentlichen Dienst beschäftigt und könne dies mit dem Verweis auf das Beamtengesetz durchsetzen, berichtete der in der Initiative engagierte Klaus Anders. Allerdings wurden zumindest, nach langwierigen Diskussionen, die rechtlichen Schranken beseitigt. Zum Beispiel stand mit dem von der Union initiierten Bundeserziehungsgeldgesetz seit Januar 1986 prinzipiell sowohl Vätern als auch Müttern nach der Geburt ihres Kindes für zehn Monate ein monatliches Erziehungsgeld von 600 Mark sowie ein Erziehungsurlaub zu, wenngleich sich diese Regelung insbesondere an Mütter richtete. Sie konnten überdies ihre wöchentliche Arbeitszeit auf 19 Stunden reduzieren, ohne den Anspruch auf ihre Stelle zu verlieren. 1988 wurde schließlich Bezugszeitraum für Erziehungsgeld auf zwölf Monate verlängert.307 Die sozialen Barrieren blieben jedoch bis zum Ende der 1980er Jahre bestehen, wie 1989 der Abschlussbericht einer Studie der Forschungsstelle Sozialökonomik der Arbeit an der FU Berlin über die „Konsequenzen einer eingeschränkten Erwerbsarbeit von Männern für die betroffenen Familien“ offenlegte. Es habe sich als „mühsam“308 herausgestellt, im Bundesgebiet 234 teilzeitarbeitende Männer und 193 Hausmänner aufzuspüren. Im Schnitt waren die Väter um die 35 Jahre alt, hatten einen höheren Bildungsabschluss und lebten mit einer berufstätigen Partnerin mit einem ähnlichen Bildungsstand sowie ein bis zwei noch nicht schulpflichtigen Kindern in einer Haushaltsgemeinschaft.309 Die geringe Verbreitung des „neuen Vaters“ hielt sich auch bis ins 21. Jahrhundert, weshalb Soziologen von einer „‚sanften Revolution‘ im Vaterschaftskonzept“310 sprechen. Rückblickend ließe sich die Veränderung allerdings eher als eine graduelle Evolution deuten, da sich die Vaterschaftsmodelle nicht grundstürzend wandelten. Immerhin konnten auf der Basis der Studie an der FU generelle Aussagen zur kleinen Gruppe der „neuen Väter“ abgeleitet werden. „Den vielleicht stärks305 306 307 308 309 310

Ebenda. Ebenda. Vgl. ebenda; Wirsching, Abschied, 344; Münch, Familienpolitik (1982–1989), 527–532; Kramer, Bewegungen, 221. FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Renate I. Mreschar, Kommt ein neues Partnerschaftsmodell?, in: Deutscher Forschungsdienst, df-digest Sonderausgabe 5/1988, Bl. 140. Vgl. ebenda, Bl. 140–142; Strümpel u. a., Teilzeitarbeitende Männer, 5. Peuckert, Familienformen (2012), 508 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.].

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ten Einfluss auf die Entscheidung dieser späten Väter (und insbesondere der Berufsnahen), nur noch Teilzeit zu arbeiten oder (vorübergehend) Hausmann zu werden, übten ihre Partnerinnen aus“,311 lautete das zentrale Ergebnis eines Zwischenberichts 1985. Gerade dieser Befund stieß bei den Medien auf große Resonanz, da er den Frauen eine dominante Rolle in den Familienbeziehungen zuschrieb. Sie würden demnach mit tradierten Idealen brechen. Als zentrales Motiv der Frauen identifizierten die Wissenschaftler den Wunsch, trotz eines Kindes weiterhin berufstätig zu sein. Meist finde sich diese Konstellation bei besser gebildeten Paaren mit ähnlich guten bzw. schlechten Verdienstmöglichkeiten beider Partner. Zudem befürworteten beide Elternteile ein egalitäres und partnerschaftliches Beziehungsmodell, das auf eine Selbstverwirklichung sowohl in der Familie als auch im Beruf ziele. Dabei gehe es den Partnern meist jedoch nicht um einen „Rollentausch“. Vielmehr wollten sie die Last der Aufgaben stärker umverteilen. Allerdings sei dieses Verhaltensmuster „noch nicht sehr verbreitet“,312 wie der Zwischenbericht der Studie 1985 vermerkte.313 Ein differenzierteres Bild entwarf schließlich der Abschlussbericht 1989. Auch hier argumentierten die Wissenschaftler, dass die Initiative für das Aufbrechen traditioneller Rollenmodelle von den Frauen ausgehe. Dieser Wunsch führe dann in den meisten Familien zu einem konfliktbehafteten Aushandlungsprozess, im Zuge dessen sich beide Elternteile partnerschaftlich auf einen Kompromiss einigten. Die Neuausrichtung der Rollen resultiere somit keinesfalls ausschließlich aus dem Druck der Frauen. Auch zahlreiche Väter unterstützten dieses Modell aufgrund persönlicher Präferenzen. Allerdings setzten selbst diese Paare bei der Hausarbeit weder eine egalitäre Aufgabenverteilung noch einen Rollentausch um. Trotz des verstärkten Engagements der teilzeitarbeitenden Männer mussten die Ehefrauen weiterhin gerade die zeitintensiven Tätigkeiten wie Putzen, Kochen und Aufräumen erledigen. Gleichwohl hatten sich aber im Vergleich zur Aufgabenverteilung in der christlich-bürgerlichen Kernfamilie die Arbeitslasten deutlich verschoben.314 Noch wesentlich stärker brachten sich die Väter bei der Kindererziehung ein. Dass die Väter das Aufwachsen ihrer Kinder miterleben dürften, schilderten sie als den „Hauptgewinn“.315 Die Kindererziehung war im Unterschied zur Hausarbeit weder „geschlechtstypisch“ getrennt noch lag ein Ungleichgewicht bei der Aufgabenlast vor, wenn beide Partner in Teilzeit arbeiteten. Wenn der

311 312 313 314

315

Hoff/Scholz, Männer, 42. Ebenda. Vgl. ebenda; Behringer, Revolution. Vgl. FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Renate I. Mreschar, Kommt ein neues Partnerschaftsmodell?, in: Deutscher Forschungsdienst, df-digest Sonderausgabe 5/1988, Bl. 140–142; Strümpel u. a., Teilzeitarbeitende Männer, 5f., 8f., 95–152; Leube, Männer, 146. Strümpel u. a., Teilzeitarbeitende Männer, 9.

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8.3 Partnerschaft als Integrationsmodell für Familienbeziehungen

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Mann die Rolle des Hausmannes übernahm, dann verschob sich die Arbeitslast zudem in seine Richtung. Allerdings ging die Bereitwilligkeit der Männer, mehr Hausarbeit zu leisten als ihre Partnerinnen, mit der Zeit zurück. Protest rief dieses allmähliche Abweichen von der ursprünglichen Position bei den Partnerinnen jedoch nicht hervor. Entweder wollten die Frauen ebenfalls mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen oder sie vertraten durchaus auch traditionelle Ideale, wonach Kindererziehung in ihren Aufgabenbereich falle.316 Insofern lieferten auch in diesen Familien tradierte Rollenmodelle weiterhin den normativen Bezugsrahmen, an dem sich teilzeitarbeitende Männer oder Hausmänner genauso wie ihre Partnerinnen orientierten. Als besonders problematisch kristallisierte sich in diesem Zusammenhang die Rolle des Hausmannes heraus. Sobald sie längere Zeit aus dem Beruf ausgeschieden waren, gaben die Hausmänner an, sie würden den Kontakt zu den Kollegen vermissen. Sie beklagten ebenfalls die Eintönigkeit der Tätigkeiten, die sie nicht ausfüllen würden, und die „fehlende Bestätigung“317 als Hausmann. Sie stießen darüber hinaus auch innerhalb der Gesellschaft auf Widerstand und Kritik, da der Rollentausch sozial nicht akzeptiert war. Aufgrund dieser Widerstände verstand lediglich ein Viertel der Männer die Rolle des Hausmannes als eine Langzeitlösung. Die Mehrheit betrachtete sie hingegen als ein temporäres Projekt. Infolgedessen drängte sich die Vermutung auf, dass das Modell des teilzeitarbeitenden Vaters gegenüber dem des Hausmannes auf größere Akzeptanz stoßen und weniger familiäre Konflikte hervorrufen würde. Empirische Langzeitstudien widerlegten jedoch diese These. Nach 15 Monaten waren noch 70 Prozent der Männer in ihrer Rolle als Hausmann aktiv; bei den Teilzeitarbeitenden lag der Anteil demgegenüber bei 56 Prozent. Folglich ließ sich selbst ein nur temporäres völliges Ausscheiden aus dem Berufsleben nur schwer wieder revidieren. Die Teilzeitlösungen hingegen konnten offenbar leichter wieder in eine Vollzeitbeschäftigung münden. Die befragten Väter begründeten ihre revidierte Entscheidung mit dem Hinweis, die Phase der zeitintensiven Betreuung der Kinder sei vorbei. Daraus leitete die Wissenschaftlergruppe um den Direktor der Forschungsstelle Sozialökonomik der Arbeit an der FU Berlin, Burkhard Strümpel, die Annahme ab, dass Teilzeitarbeit – wie auch die Rolle als Hausmamm – stets als „befristet geplant“ gewesen sei.318 Selbst unter der kleinen Gruppe der „neuen Vätern“ stieß somit dieses gewandelte Rollenmodell nur für begrenzte Zeit auf Akzeptanz. Einen dauerhaften Rolltentausch lehnten die meisten der befragten Väter ab.

316

317 318

Vgl. FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Renate I. Mreschar, Kommt ein neues Partnerschaftsmodell?, in: Deutscher Forschungsdienst, df-digest Sonderausgabe 5/1988, Bl. 140–142, hier 142; Strümpel u. a., Teilzeitarbeitende Männer, 9, 12. Ebenda, 12. Vgl. ebenda, 12f.

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8.4 Begrenzte Pluralisierung der Familienformen 8.4.1 Statistiken und Verteilungshäufigkeit

Während in den öffentlichen und politischen Debatten von einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel die Rede war und sich die verhandelten Familiendefinitionen erweiterten, bildeten die aggregierten Statistiken die Veränderungen nicht in gleichem Maße ab. In den frühen 1970er Jahren erklärten daher Soziologen wie Gerhard Wurzbacher und Helge Pross, dass bisher lediglich ein „verschwindend geringer Anteil der Bevölkerung“319 in alternativen Familienformen lebe.320 Der Wandel der 1970er und 1980er Jahre lässt sich daher als eine „Pluralisierung in Grenzen“321 oder sanfte Pluralisierung interpretieren, da nicht jede Form des Zusammenlebens beliebig gewählt wurde. Weitgehend ausgenommen war hiervon allerdings die Altersgruppe der 20- bis 35-Jährigen, da sie verschiedene Lebensformen praktizierten und auch häufig wechselten. Zu einer markanten Pluralisierung und Individualisierung kam es folglich nur in einer relativ eng umrissenen Altersgruppe. Die Mehrheit – insbesondere bis zu einem Alter von 20 Jahren und ab 35 Jahren – lebte weiterhin in einer Familie traditionellen Zuschnitts. Selbst wenn die Personen im Lebensabschnitt von 20 bis 35 Jahren versuchten, ihre Wünsche und Bedürfnisse auf individueller Ebene zu realisieren, wählten sie im Alter zwischen 30 und 40 Jahren meist eine Familienform. Familiensoziologen wie Rüdiger Peuckert beschreiben dieses Phänomen als „Polarisierung der Lebensverläufe“,322 die sich ab den 1970er Jahren allmählich abzeichnete. Dieses Verhalten führte letztlich zu einer sequenziellen Reihung unterschiedlicher Lebensformen im Lebensverlauf, was sicherlich ein Signum der 1970er und 1980er Jahre darstellt.323 Die Grenzen der Pluralisierung legen die Statistiken selbst offen. So stieg etwa der Anteil der Singles an. Doch resultierte dieses Phänomen weniger aus einer Vereinzelung der jüngeren Generation als vielmehr aus einer zahlenmäßigen Zunahme älterer verwitweter Frauen. Zudem lebte über die 1970er Jahre hinaus weiterhin die Mehrzahl der Westdeutschen in einer traditionellen Kernfamilie, wenngleich ihr Anteil von 1972 bis 2004 von 43,3 Prozent auf 28,5 Prozent abfiel. 319 320

321 322 323

Wurzbacher/Cyprian, Sozialisationsmängel, 10. Vgl. Pross, Gleichberechtigung, 86; Wurzbacher/Cyprian, Sozialisationsmängel, 10; Cramer, Lage, 79; Peuckert, Familienformen (2012), 155; Huinink, Gegenstand, 29; Schneider, Pluralisierung, 85. Ebenda, 88. Peuckert, Familienformen (2012), 147 [Hervorhebung des Originals entfernt; C. N.]. Vgl. AGG BII 1/4385, Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN zur Aufhebung eheähnlicher Lebensgemeinschaften diskriminierender Vorschriften, ohne Ort, ohne Datum, 1; Schneider, Pluralisierung, 88; Peuckert, Familienformen (2012), 147; Neumaier/Ludwig, Individualisierung, 267f.

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Tabelle 1: Private Lebensformen der Bevölkerung im Alter von 18 und mehr Jahren in West- und Ostdeutschland 1972 und 2004 (Angaben in Prozent) Lebensformen

Westdeutschland

Ostdeutschland

1972

2004

2004

volljährige ledige Kinder bei Eltern(teil) alleinlebend, ledig alleinlebend, nicht ledig verheiratet zusammenlebend, ohne Kind verheiratet zusammenlebend, Kind(er) unverheiratet zusammenlebend, ohne Kind unverheiratet zusammenlebend, Kind(er) alleinerziehend sonstige Personen

9,9 4,4 9,2 25,5 43,3 0,5 0,1 3,3 3,9

8,8 9,5 11,4 29,2 28,5 4,9 1,8 3,6 2,3

9,9 8,6 11,9 30,4 23,6 4,7 4,5 4,5 1,9

Quelle: Peuckert, Familienformen (2008), 25.

Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass in der Kategorie „Ehepaare ohne Kinder“ alle Ehepaare mitgezählt wurden, bei denen zum Erhebungszeitpunkt keine (minderjährigen) Kinder im Haushalt lebten. D. h., bei dieser Gruppe konnten entweder noch keine Kinder in der Ehe geboren worden sein oder die Kinder hatten bereits die Volljährigkeit erreicht. Darüber hinaus befanden sich in dieser Kategorie auch die Ehepaare, die aus medizinischen Gründen keine Kinder bekommen konnten oder sich bewusst gegen Kinder entschieden hatten. Die statistischen Erhebungen liefern somit nur eine „Momentaufnahme“324 der Gesellschaftsstruktur und berücksichtigen nicht den Lebenszyklus einer Familie bzw. von Individuen. Wird dieser in der Kalkulation berücksichtigt, dann lebten selbst 2005 immer noch 53 Prozent der Westdeutschen in einer Kernfamilie mit Kindern.325 Es ließe sich sogar entgegen der Pluralisierungsthese argumentieren, dass sich lediglich die Verteilungshäufigkeit unterschiedlicher Formen des Zusammenlebens verändert hatte, wohingegen keine neuen Lebensformen entstanden waren. Denn nichteheliche Lebensgemeinschaften hatten vereinzelt bereits in den 1920er Jahren existiert. Der begrenzten Pluralisierung in der mittleren Lebensphase stand ferner ein homogenes Verhaltensmuster in jungen Jahren und beim Übergang zur Familiengründung gegenüber. Zudem kam es bei der Entwicklung der Kinderzahlen zu einer Homogenität: Die Mehrzahl der Familien entschied sich für ein Kind oder zwei Kinder, was mit dem zuvor diskutierten Kinderwunsch korrespondiert. 1965 lag der Anteil der Ein-Kind-Familien in

324 325

Burkart, Familiensoziologie, 29. Vgl. ebenda, 29f.; Peuckert, Familienformen (2012), 77, 80; Neumaier/Ludwig, Individualisierung, 268.

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Westdeutschland bei 40 Prozent und der Zwei-Kind-Familien bei 31 Prozent. Bis 1977 stiegen ihre Anteile auf 48 bzw. 34 Prozent an.326 Dieses Phänomen war dabei keineswegs auf Westdeutschland beschränkt, sondern fand sich auch in der DDR. Dort lag 1981 der Anteil der Ehepaare mit einem Kind bei 55 Prozent und 38 Prozent der Familien hatten zwei Kinder. Ostdeutschland unterschied sich aber vom Westen bei der Verteilungshäufigkeit der unterschiedlichen Familienformen, weshalb ostdeutsche Sozialwissenschaftler davon sprachen, dass sich in der DDR die „‚Spielarten‘ der tradierten Kleinfamilie“327 verbreitert hätten, es aber nicht zu einer Pluralisierung nicht-familialer Lebensformen gekommen sei.328 Immerhin bestanden 1981 82 Prozent aller Familien aus einem verheirateten Ehepaar. Überdies blieb die Ehe in der DDR weitaus stärker der Fixpunkt einer Familie als im Westen, da ihr selbst die jüngere Generation über die 1980er Jahre hinweg einen hohen Stellenwert zuwies. In einer Umfrage des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR aus dem Jahr 1988 gaben 70 Prozent der befragten Jugendlichen an, sie wollten später heiraten. Gleichwohl zeigte sich zu diesem Zeitpunkt wie auch in der Bundesrepublik die Tendenz, die Heirat etwas aufzuschieben. Selbst der hohe Anteil der unehelich geborenen Kinder, der sich 1989 auf 34 Prozent329 belief, oder der zahlenmäßige Anstieg der nichtehelichen Lebensgemeinschaften, änderten nichts an der anhaltend hohen Wertschätzung der Ehe als Lebensmodell. Während die außereheliche Erstgeburt von den werdenden Eltern toleriert bzw. aufgrund der zuvor diskutierten Unterstützungsleistungen durchaus bewusst gewählt wurde, sollte die Zweitgeburt im Rahmen einer ehelichen Gemeinschaft erfolgen, gaben 81 Prozent der Frauen in einer Umfrage des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik im Jahr 1987 an.330

326

327 328

329 330

Vgl. Schneider, Pluralisierung; Wagner, Entwicklung, 105–108, 110; Peuckert, Familienformen (2012), 20f., 147, 151, 155; Nave-Herz, Familie heute, 29; AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 7. WP 2/BTFG002560, Trend zur Kleinfamilie hält an, in: Frankfurter Rundschau, 8. Oktober 1976; AdsD, Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, 7. WP 2/BTFG002561, Ergebnisse aus den bisherigen Untersuchungen des BIB über das veränderte generative Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland, ohne Ort, ohne Datum, 1; Entwicklung der Familien nach Zahl und Struktur, 88; BArch Koblenz B 189/14826, Rede des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, Antje Huber, auf dem familienpolitischen Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung am 27. April 1979 in Düsseldorf, in: Informationen des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, ohne Datum, 3. Gysi/Meyer, Leitbild, 150. Vgl. Gysi, Familie, 40; Gysi/Meyer, Leitbild, 150; Schneider, Familie und private Lebensführung, 16; Obertreis, Familienpolitik, 286; Helwig, Familienpolitik (1961–1971), 502–519; dies., Familienpolitik (1971–1989), 497; Neumaier/Ludwig, Individualisierung, 271f. Schätzungen gehen davon aus, dass in der DDR im Jahr 1989 ca. 340.000 unverheiratete Mütter mit minderjährigen Kindern lebten. Vgl. Gysi/Meyer, Leitbild, 145. Vgl. Gysi, Familie, 40; dies./Meyer, Leitbild, 142–145; Helwig, Familienpolitik (1971–1989), 497; McLellan, Love, 80f.

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Lebensformen wie Ein-Eltern-Familien und nichteheliche Lebensgemeinschaften entwickelten sich somit während der 1970er und 1980er Jahre in beiden Teilen Deutschlands nicht zu einem Massenphänomen. Gleichwohl kam den verschiedenen Lebensformen in den 1970er Jahren eine besondere Rolle zu. Zunächst kollidierten in den betroffenen Familien, Verwandtschaftsgruppen oder Freundeskreisen verschiedene Familienideale. Zeitgenossen mussten sich somit regelmäßig mit von ihren Vorstellungen abweichenden Idealen auseinandersetzen. Es kann angenommen werden, dass sie ihre eigenen Einstellungen infolgedessen entweder modifizierten oder aber verstärkt daran festhielten. Zudem prägten die vom Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie abweichenden familialen Lebensformen den öffentlichen Diskurs und hatten damit trotz ihrer relativ geringen Verbreitung eine große Reichweite.331 8.4.2 Alleinerziehende Mütter mit Kindern als wachsende soziale Gruppe

Die Ein-Eltern-Familien stellten die größte Gruppe der alternativen Familienmodelle. Generell zeigt sich in der DDR von 1970 über 1981 bis 1990 eine deutliche Zunahme des Anteils der Alleinerziehenden von 13 Prozent auf 18 Prozent und schließlich auf 35 Prozent. Diese Entwicklung resultierte vor allem aus sozialpolitischen Mitnahmeeffekten wie dem Babyjahr, das 1976 ledige ostdeutsche Mütter erhielten, oder der Bevorzugung bei der Zuweisung von Wohnraum und Krippenplätzen.332 Die Volkszählung 1981 listete in der DDR 358.399 dieser Familien mit mindestens einem Kind unter 17 Jahren auf, die sich wie folgt unterschieden: Fast die Hälfte der alleinerziehenden Mütter war geschieden und beinahe ein Drittel ledig. Der Rest entfiel entweder auf verwitwete Frauen oder noch verheiratete, aber bereits getrenntlebende Frauen. Darüber hinaus lassen sich unter den Alleinerziehenden zwei Altersgruppen unterscheiden. Eine große Gruppe von Müttern war jünger, meist unter 25 Jahre alt und noch ledig; die andere älter und bereits geschieden.333 In Westdeutschland lebten 1979 ungefähr 721.000 alleinstehende Mütter und 128.400 alleinstehende Väter mit minderjährigen Kindern zusammen. Das entsprach einem Anteil von zehn Prozent an allen familialen Lebensformen; fast neun Prozent aller minderjährigen Kinder lebten in einer solchen Familie.334 331 332 333

334

Ähnlich bei Neumaier, Kernfamilie, 136f. Vgl. Huinink/Wagner, Partnerschaft, 168f.; Pötzsch, Geburtenfolge, 90; Peuckert, Familienformen (2012), 208–213; Süß, Sicherheit, 172; Schulz, Sicherung, 128f. Vgl. Gysi/Eichhorn, Familienformen, 268ff.; Gysi/Meyer, Leitbild, 146; BArch Berlin DC 4/521, Studie Zentralinstitut für Jugendforschung, Lebensgemeinschaften. Gedanken – Thesen – empirische Ergebnisse, Leipzig, Januar 1985, 3. Vgl. Frau und Gesellschaft (II): Bericht der Kommission (1980), 75.

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Die strukturelle Zusammensetzung der westdeutschen Ein-Eltern-Familien unterschied sich Mitte der 1980er Jahre grundlegend von der in den 1950er Jahren. Während damals noch die meisten dieser Familien aus Witwen bestanden hatten, zählte die Statistik Mitte der 1980er Jahre lediglich noch 184.000. Demgegenüber gab es 581.000 geschiedene oder getrenntlebende Frauen. Als dritte Gruppe führten die Statistiken 176.000 ledige Mütter.335 Zudem muss festgehalten werden, dass der relative Anteil der Alleinerziehenden von den 1970er bis zu den 1990er Jahren zunahm, dabei wurden aber geringere Zuwachsraten als in der DDR verzeichnet. 1976 stellten die Ein-Eltern-Familien erst 8,7 Prozent, 1985 bereits 12,8 Prozent und 1991 13,8 Prozent aller Familien.336 Nach der Wiedervereinigung erfolgte in beiden Teilen Deutschlands ein weiterer massiver Anstieg, wobei die Ost-West-Unterschiede bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts bestehen blieben. Der Anteil der außerehelich geborenen Kinder lag in den alten Bundesländern bei 27,0 Prozent und in den neuen bei 61,2 Prozent, woraus sich ein bundesweiter Durchschnitt von 33,3 Prozent ergab.337 In Westdeutschland standen gerade Ein-Eltern-Familien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor erheblichen sozialen und wirtschaftlichen Problemen, wie die Enquete-Kommission „Frau und Gesellschaft“ 1980 in ihrem Bericht festhielt. Weder konnten sie sich bei der Kindererziehung auf einen Partner verlassen noch existierten ausreichend Plätze in Kinderkrippen und -gärten. 14 Prozent der Alleinerziehenden mussten Mitte der 1980er Jahre sogar temporär ihre Berufsarbeit unterbrechen, weil andernfalls die Kinderbetreuung nicht gewährleistet gewesen wäre. Das verschärfte jedoch wiederum die wirtschaftliche Lage der Familien. Die berufstätigen Alleinerziehenden litten wesentlich stärker unter der Dreifachbelastung von Beruf, Haushalt und Kindererziehung als Mütter, die mit einem Partner zusammenlebten. Stress und Zeitnot gehörten wie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts damit zum Alltag der alleinerziehenden Mütter. Oft zog diese konstante Überanstrengung mittel- bis langfristig gesundheitliche Probleme nach sich, was wiederum die Notlage der Ein-Eltern-Familien zusätzlich verschärfte.338 Gleichzeitig muss aber auch berücksichtigt werden, dass in der DDR vor allem jüngere ledige Mütter nach der Erstgeburt in der Regel mit einem Partner in einer eheähnlichen Beziehung lebten, eine Heirat 335 336

337 338

Vgl. Meyer/Schulze, Balancen, 148. Vgl. FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Renate I. Mreschar, Alleinerziehende Väter und Mütter heute, in: Deutscher Forschungsdienst, df-digest Sonderausgabe 5/1988, Bl. 143–145, hier Bl. 143; Meyer/Schulze, Frauen, 174. Vgl. Pötzsch, Geburtenfolge, 90; Peuckert, Familienformen (2012), 208–213. Vgl. Frau und Gesellschaft (II): Bericht der Kommission (1980), 75; Cramer, Lage, 85; Grandke u. a., Familie, 89; FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Renate I. Mreschar, Alleinerziehende Väter und Mütter heute, in: Deutscher Forschungsdienst, df-digest Sonderausgabe 5/1988, Bl. 143–145, hier Bl. 143f.

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aber unter anderem wegen der bevorzugten sozialpolitischen Unterstützung der Alleinerziehenden noch aufschoben.339 Trotz dieser Einschränkung hielten sich die sozialen Problemlagen alleinerziehender Mütter, wenngleich ihre rechtliche Gleichstellung erfolgt war und ihre soziale Diskriminierung langsam zurückging. 8.4.3 Nichteheliche Lebensgemeinschaften: partielle soziale Akzeptanz und rechtliche Randständigkeit

Den nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit bzw. ohne Kinder blieb hingegen die rechtliche und auch die soziale Anerkennung zunächst verwehrt. Generell lässt sich eine nichteheliche Lebensgemeinschaft – gleichgeschlechtliche Paare sind hier nicht mit gemeint, da sie in der zeitgenössischen Debatte über Familie zwischen den 1960er und den 1980er Jahren nicht verhandelt wurden – definieren als soziale Gruppe von „zwei erwachsenen Personen unterschiedlichen Geschlechts mit oder ohne Kinder [. . . ], die auf längere Zeit als Mann und Frau – ohne weitere Personen – einen gemeinsamen Haushalt führen, ohne miteinander verwandt oder verheiratet zu sein“.340 Vor allem die katholische Kirche, Laienkatholiken und Unionspolitiker polemisierten gegen dieses unverheiratete Zusammenleben. Bereits 1977 positionierte sich die katholische Kirche in einem Gespräch mit der SPD dezidiert gegen nichteheliche Lebensgemeinschaften: „Kann man und darf man das Konkubinat ineinssetzen und gleichbehandeln wie die Familie? Man kann und man darf es nicht. Das ist die Sorge, die wir haben, hier haben wir Probleme mit den Aussagen der SPD“,341 erklärte Wilhelm Wöste. Eine nichteheliche Lebensgemeinschaft galt somit für die Kirchenvertreter dezidiert nicht als Familie. Sie lehnten sie als Lebensform grundsätzlich ab. Diese Einschätzung teilten Union und ZdK Anfang der 1980er Jahre, zumal sie die Ehe weiterhin zu einer notwendigen Voraussetzung für eine Familie erhoben. Das ZdK warnte sogar davor, dass die nichtehelichen Lebensgemeinschaften die Verbreitung „privater Beliebigkeit“342 fördern würden. Für die CDU-Politikerin Helga Wex symbolisierten die nichtehelichen Lebensgemein339

340 341

342

Vgl. BArch Berlin DC 4/521, Studie Zentralinstitut für Jugendforschung, Lebensgemeinschaften. Gedanken – Thesen – empirische Ergebnisse, Leipzig, Januar 1985, 3; Schäffler, Paarbeziehungen, 132. Peuckert, Familienformen (2012), 98. Zur Diskussion der verwendeten Termini wie nichteheliche Lebensgemeinschaft und Kohabitation vgl. Burkart, Kohabitation, 29f. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 7689, Niederschrift stenographisch festgehaltener Stichwörter des familienpolitischen Gesprächs zwischen Vertretern der katholischen Kirche und der SPD am 22. Juni 1977 in Bonn, 7. Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Manifest, 3.

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schaften wiederum einen „erschreckenden Wertneutralismus“.343 Nichteheliche Lebensgemeinschaften standen aus dieser Perspektive für eine Bindungs- und Verantwortungslosigkeit. Allerdings positionierten sich bereits in den frühen 1980er Jahren Sozialwissenschaftler gegen diese Deutung. Neben der Soziologin Helge Pross sprach sich unter anderem Rita Süssmuth gegen diese vielfach kolportierte Annahme aus. Die nichtehelichen Lebensgemeinschaften seien folglich nicht Ausdruck eines „Werte- und Normenverfall[s]“.344 Vielmehr würden auch diese Beziehungen wie die Ehen auf den Idealen Verständnis, Zuneigung, Verlässlichkeit, dauerhafter Bindung und gegenseitiger Treue basieren, argumentierte Süssmuth und zeigte auf, wie sehr sich in diesem Punkt eheliche und nichteheliche Lebensgemeinschaften ähnelten.345 Insofern existierten zwischen verheirateten und unverheirateten Paaren im Hinblick auf die individuellen Erwartungen an das Zusammenleben zahlreiche Überschneidungen. In der sozialen Praxis handelte es sich daher bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern faktisch um eine Familienform, wie die SPD bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre reflektierte. Der SPD-Politiker Hans Koschnik erklärte 1977, es „gibt in der Realität Gemeinschaften (nicht ‚Verhältnisse‘), die vieles von dem realisieren, was wir unter Ehe und unter Familie verstehen“.346 Damit brachte er einerseits zum Ausdruck, dass sich die SPD an realen Gegebenheiten orientierte. Andererseits schwang der implizite Vorwurf mit, die katholische Kirche und die Union vertrete ein starres Verständnis von Familie, das nicht auf gesellschaftliche Veränderungen reagiere.347 Die Position der Kirche, des ZdK und der Union stand Anfang der 1980er Jahre somit nicht nur im Widerspruch mit der sozialen Praxis, sondern lag auch diametral zur Haltung der Regierungskoalition. In einem Briefwechsel mit dem ZdK stellte der Generalsekretär der FDP Günter Verheugen im September 1980 unmissverständlich klar: „Als Familie gelten danach sowohl Alleinerziehende mit ihren Kindern als auch nichtverheiratete Paare mit ihren gemeinsamen Kindern.“348 Innerhalb der sozialliberalen Koalition verbreitete sich spätestens zum Ende der 1970er bzw. Anfang der 1980er Jahre ein plurales Verständnis von Fami-

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344 345 346

347 348

Archiv des IfZ ED 900-219 CDU/CSU gegen Gleichstellung eheähnlicher Gemeinschaften, ohne Ort, [4. September 1980]. Zum Argument des „Wertneutralismus“ siehe auch Archiv des IfZ ED 900-219, Rudolf Gerhardt, Ehen ohne Trauschein. Der gemeinsame Schritt zum Standesamt ist für viele nicht mehr attraktiv, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Februar 1981, Bl. 112. Süssmuth, Stellungnahme, 5. Vgl. ebenda. AdsD, SPD-Parteivorstand ASF 7689, Niederschrift stenographisch festgehaltener Stichwörter des familienpolitischen Gesprächs zwischen Vertretern der katholischen Kirche und der SPD am 22. Juni 1977 in Bonn, 7. Vgl. ebenda, 3f., 7. Archiv des ZdK 2202 Schachtel 8, Günter Verheugen, Bonn 17. September 1980, 1.

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lie, das drei Typen beinhaltete: die Kernfamilie mit einem verheirateten Ehepaar, die Ein-Eltern-Familie und die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern, wenngleich letztere familiale Lebensform weiterhin als Sonderfall galt.349 Nichteheliche Lebensgemeinschaften blieben aber in den 1970er und frühen 1980er Jahren die große Unbekannte, zumal sie in den amtlichen Statistiken nicht explizit auftauchten. Im Regelfall wurden sie unter der Rubrik der EinEltern-Familien geführt, da die Beziehung zwischen einem Elternteil und dem Kind bzw. den Kindern als hinreichendes Merkmal für eine Familie galt; der zweite Elternteil hingegen wurde lediglich als Teil der Haushaltsgemeinschaft gezählt. Der Bevölkerungswissenschaftler Hermann Schubnell erklärte daher 1976 in einer Sitzung der Sachverständigenkommission für den Dritten Familienbericht, dass deren Anteil an der Gesamtbevölkerung „unbekannt“350 sei.351 Wie groß die von Union und katholischer Kirche vermutete quantitative Bedrohung des qualitativen Lebensmodells der christlich-bürgerlichen Kernfamilie jedoch genau war, blieb daher bis in die 1980er Jahren offen: Wie viele solcher freien Verbindungen es gibt, weiß natürlich niemand genau. Denn es liegt ja gerade in ihrem Wesen, daß sie sich einer Statistik entziehen. Daß ihre Zahl aber ständig zunimmt, ist sicher: kaum jemand, der nicht in seinem Bekanntenkreis solche Beziehungen kennt,352

berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Februar 1981 und sprach damit ein zentrales Problem an: Die amtliche Statistik erfasste die nichtehelichen Lebensgemeinschaften nicht direkt. Allerdings konnte ihre zahlenmäßige Verbreitung im Bundesgebiet auf der Basis des Mikrozensus, eine seit 1957 vom Statistischen Bundesamt durchgeführte jährliche Repräsentativerhebung, näherungsweise geschätzt werden. Erst seit dem Mikrozensusgesetz von 1996 ist eine direkte Abfrage der nichtehelichen Lebensgemeinschaften zulässig.353 1972 lebten nach den amtlichen Schätzungen lediglich 0,6 Prozent der erwachsenen Bundesbürgerinnen und -bürger in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Bis 2004 stieg ihr Anteil auf 6,7 Prozent an. Nichteheliche Lebensgemeinschaften blieben somit relativ zur Masse der Gesellschaft bis ins frühe 21. Jahrhundert vergleichsweise wenig verbreitet. Zudem waren 349

350

351 352 353

Vgl. ebenda; Archiv des ZdK 2202 Schachtel 8, Helmut Kohl, Bonn, 4. September 1980, 1; Archiv des IfZ ED 900-219 CDU/CSU gegen Gleichstellung eheähnlicher Gemeinschaften, ohne Ort, [4. September 1980]. In Schweden liege der Anteil dieser Lebensform bei 20 bis 25 Prozent, vermutete die Kommission. BArch Koblenz B 189/15754, Protokoll der zweiten Sitzung der Sachverständigenkommission für den Dritten Familienbericht der Bundesregierung am 25. und 26. März 1976 in Heidelberg, Hotel Stiftsmühle, München, Mai 1976, 27. Vgl. ebenda; Die Lage der Familien. Dritter Familienbericht, 13f.; Cramer, Lage, 76ff. Rudolf Gerhardt, Ehen ohne Trauschein. Der gemeinsame Schritt zum Standesamt ist für viele nicht mehr attraktiv, in: FAZ, 28. Februar 1981. Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 98–101.

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diese Lebensgemeinschaften gerade Anfang der 1970er Jahre meist kinderlos, denn lediglich jedes sechste unverheiratete Paar hatte ein Kind. Allerdings verzeichneten die nichtehelichen Lebensgemeinschaften sowohl mit als auch ohne Kind einen enormen Zuwachs. Nach den Berechnungen der vom Bundesfamilienministerium beauftragten Studie Nichteheliche Lebensgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 1985 war ihre Zahl seit 1972 binnen zehn Jahren um 277 Prozent gestiegen – in der Altersgruppe der unter 24-Jährigen sogar um das Zehnfache. Die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften ohne Kinder vervierfachte sich nach den zeitgenössischen Berechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung fast von 222.800 (1972) auf 889.200 (1982). Spätere Zahlen weichen hiervon jedoch ab. So ergaben konservative Schätzungen des Volkswirts Frank Niemeyer in Wirtschaft und Statistik für die Jahre 1972 und 1982 eine Zahl von insgesamt 137.000 bzw. 516.000 nichtehelichen Lebensgemeinschaften; 1992 belief sich seine Schätzung auf 1.147.000 (alte Bundesländer). Davon seien wiederum 111.000 (1972), 445.000 (1982) und 925.000 (1992) kinderlos gewesen. Die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern lag demgegenüber in den Jahren 1972, 1982 bzw. 1992 bei 25.100, 70.900 bzw. 222.000, wobei es hier keine Abweichung zwischen den jeweiligen Studien gab. Diese Entwicklung verweist auf zwei Unterschiede zwischen nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit und ohne Kinder. Bei den nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern kam es in den 1970er Jahren zu einer Verdreifachung. Die Zuwachsraten lagen somit etwas unter denen der unverheirateten Paare ohne Kinder. Zudem unterschieden sich in diesem Punkt die beiden Teile Deutschlands. Während im Westen nur in jeder zehnten ehelosen Beziehung ein Kind geboren wurde, lebten im Osten in mehr als der Hälfte der Lebensgemeinschaften Kinder. Das überproportionale Wachstum bei den nichtehelichen Lebensgemeinschaften ohne Kinder setzte sich auch in den 1980er Jahren fort, wenngleich auch die absolute Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern deutlich zunahm.354 Generell zeigt dies, dass die besondere Bedeutung der nichtehelichen Lebensgemeinschaften nicht aus ihrer Verbreitung resultierte. Das entscheidende Bewertungskriterium ist vielmehr ihre massive Zunahme in den 1970er und 1980er Jahren. Auch in der DDR lag der Bedeutungsgewinn der nichtehelichen Lebensgemeinschaften nicht an ihrer absoluten Zahl. In der Volkszählung 1981 entfielen 354

Vgl. Einleitung: Nichteheliche Lebensgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, 8; Nichteheliche Lebensgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, 169; Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Teil III: Sonderauswertung, 149, 163f.; Niemeyer, Lebensgemeinschaften, 509; Schneider, Familie und private Lebensführung, 174; Peuckert, Familienformen (2008), 25. Zwischen 1990 und 1991 wurde die Schätzung der nichtehelichen Lebensgemeinschaften methodisch verfeinert, sodass ab diesem Zeitpunkt verlässlichere Zahlen zur Verfügung standen. Vgl. Niemeyer, Lebensgemeinschaften, 505.

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Tabelle 2: Nichteheliche Lebensgemeinschaften ohne und mit ledigen Kindern (ohne Altersbegrenzung) im Haushalt in der Bundesrepublik/alte Bundesländer, 1972–2010 Jahr

1972 1982 1990 1996 2002 2004 2005 2008 2010

Insgesamt

Ohne Kind

Mit Kind(ern)

1000

%

1000

%

1000

%

137 516 963 1382 1742 1882 1775 1851 1896

100 % 100 % 100 % 100 % 100 % 100 % 100 % 100 % 100 %

111 445 856 1099 1307 1395 1311 1367 1398

82 % 86 % 89 % 80 % 75 % 74 % 74 % 74 % 74 %

25 71 107 283 436 487 464 484 498

18 % 14 % 11 % 20 % 25 % 26 % 26 % 26 % 26 %

Quelle: Peuckert, Familienformen (2012), 101.

weniger als zehn Prozent der Unverheirateten in diese Kategorie. Das entsprach 153.713 nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Allerdings handelte es sich hier um eine vorsichtige Schätzung, denn mit hoher Wahrscheinlichkeit hatten sich lediglich Paare, die nur eine Wohnung besaßen, als nichteheliche Lebensgemeinschaft zu erkennen gegeben. Paare mit zwei Wohnungen verschleierten hingegen oft ihre Beziehung, da sie andernfalls befürchteten, ihre zweite Wohnung zu verlieren. In den 1980er Jahren nahm auch in der DDR die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften zu, wenngleich keine exakten Erhebungen vorliegen. 1987 lebten nach den Angaben einer Bevölkerungsbefragung 29 Prozent der 18bis 40-jährigen unverheirateten Frauen in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. 1991 belief sich ihr Anteil in Brandenburg laut einer Umfrage sogar auf 40 Prozent. 24 Prozent dieser unverheirateten Paare hatten gemeinsame Kinder. Insgesamt gesehen blieb ihr Anteil jedoch auch in Ostdeutschland gering. Nach Schätzungen erreichten die nichtehelichen Lebensgemeinschaften 1989, unmittelbar vor der Wiedervereinigung, in Ostdeutschland einen Anteil von 6,8 Prozent, der über dem westdeutschen Wert von 5,7 Prozent lag.355 Die relativ geringe Verbreitung der nichtehelichen Lebensgemeinschaften darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den 1980er Jahren nach Umfragen gut ein Viertel der Westdeutschen Erfahrung mit einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft gemacht hatte. Vor allem im Lebensabschnitt zwischen 20 und 35 Jahren lebten während der späten 1970er und 1980er Jahre immer mehr junge Paare zumindest temporär unverheiratet zusammen. Zeitgenössische Sozialwissenschaftler und Historiker benennen mehrere Trägergruppen oder Motoren 355

Vgl. Gysi/Eichhorn, Familienformen, 263ff.; Gysi/Meyer, Leitbild, 147ff.; Helwig, Familienpolitik (1971–1989), 486; Vaskovics/Rupp, Partnerschaftskarrieren, 13f.; Vaskovics/Rupp/Hofmann, Lebensverläufe, 19.

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dieser Veränderung: jüngere, besser gebildete berufstätige Frauen, auch aus dem Umfeld der Frauenbewegung, sowie Studierende, besonders aus der Studentenbewegung, und Vertreter des linksalternativen Milieus.356 Gerade die Vertreterinnen der westdeutschen „1968er“ nahmen eine entscheidende Funktion ein, da sie die bereits zuvor diskutierten neuen Geschlechterrollenmodelle wie die Berufstätigkeit von Ehefrauen und Müttern und partnerschaftliche Beziehungen in den Familien aufgriffen, ihnen im Privaten ein entscheidendes Gewicht verliehen, wodurch sie in den 1970er Jahren als Ideale in die gesellschaftliche Breite ausstrahlen konnten.357 Nichteheliche Lebensgemeinschaften verbreiteten sich überdies primär in Städten und unter konfessionslosen bzw. wenig religiös geprägten und meist (noch) kinderlosen Personen.358 In den zeitgenössischen Konflikten um nichteheliche Lebensgemeinschaften nahmen berufstätige Frauen, meist jünger als 25 Jahre, mit einem höheren Bildungsabschluss und aus einem großstädtischen Umfeld,359 eine besondere Rolle ein. Sie favorisierten unverheiratetes Zusammenleben gegenüber einer Ehe, da sie damit die Hoffnung verbanden, ihre individuellen Interessen verwirklichen zu können. Schließlich wären sie im Unterschied zu einer Ehe mit geringerer Wahrscheinlichkeit auf die Rollen als Hausfrau und Mutter beschränkt.360 Diese Einstellung machte die Frauen aber auch zum Kristallisationspunkt der öffentlichen Kritik an den nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Nach Darstellung der Zeitschrift Freundin vom Sommer 1978 sahen sich diese Frauen oft pauschal mit dem Vorwurf der „Ehefeindlichkeit“361 konfrontiert. Dass sich gegen Mitte 1970er Jahre aber auch eine wachsende Zahl von Männern skeptisch über die Ehe äußerte und nach alternativen Formen des Zusammenlebens suchte, blieb dabei weitgehend unberücksichtigt.362 Das ZdK bündelte Anfang der 1980er Jahre die Argumente gegen nichteheliche Lebensgemeinschaften. Sie würden nicht nur eine Gefahr für die Zukunft 356

357

358

359 360 361 362

Vgl. Meyer/Schulze, Balancen, 7, 9, 21; Wahl/Stich/Seidenspinner, Innenleben, 34; Wagner, Entwicklung, 100; Reichardt, Authentizität, 351–361; Neumaier/Ludwig, Individualisierung, 279ff. Vgl. Hodenberg, Achtundsechzig, 143ff., 148f. Für diese Veränderung aus soziologischer Perspektive vgl. Elisabeth Beck-Gernsheims These vom Übergang vom „Dasein für andere“ zu einem „Stück ‚eigenes Leben‘“. Vgl. Beck-Gernsheim, Dasein. Vgl. Meyer/Schulze, Lebensgemeinschaften (Alternativen), 747ff.; dies., Absage, 18; dies., Lebensgemeinschaften (Möglichkeit), 339; Peuckert, Familienformen (2012), 108f.; Vaskovics/Rupp/Hofmann, Lebensverläufe, 19; Neumaier/Ludwig, Individualisierung, 278f. Für die Erhebungsmethoden vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 98ff. 1985 lebten 60 Prozent der nichtehelichen Lebensgemeinschaften in Großstädten, 16 Prozent in einer Kleinstadt und 23 Prozent in einem Dorf. Vgl. Meyer/Schulze, Frauen, 176f. Vgl. Meyer/Schulze, Lebensgemeinschaften (Alternativen), 747ff.; dies., Absage, 12, 18; dies., Lebensgemeinschaften (Möglichkeit), 339; Vogel, Familie, 67. FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Ehe. Hat sie ausgedient? Oder wird sie jetzt erst richtig gut?, in: Freundin (31. August 1978). Vgl. FFBIZ A Rep. 400 BRD 5, Ehe ’77. Für den Mann noch attraktiv?, in: Stern (1977).

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von Ehe und Familie darstellen. Vielmehr ging das ZdK ebenfalls davon aus, dass jüngere Menschen das Ideal einer gleichberechtigten Partnerschaft als unvereinbar mit den Institutionen Ehe und Familie einschätzten und sich daher bewusst dagegen entschieden. Die Ehe verhindere aus der jeweils subjektiven Perspektive der unverheirateten Paare die Selbstverwirklichung der Familienmitglieder, da sie aufgrund ihres institutionellen Charakters einen starren Rahmen vorgebe.363 Dieses Argument richtete das ZdK insbesondere gegen Frauen. Deren Emanzipationsstreben habe einen negativen Effekt auf die Familie. Sie „seien zu sehr auf ihre Selbständigkeit bedacht, zu egozentrisch, zu wenig bereit, sich den Ansprüchen der Familie unterzuordnen“,364 rekapitulierte die Soziologin Helge Pross die kolportierten Behauptungen, ohne diese Position zu teilen. Dadurch würden die Frauen die Familie „schwächen“, sogar ihre Existenz gefährden, lautete der Vorwurf weiter. Zudem seien gerade die Kinder die Leidtragenden dieses Verhaltens und die Folgen verheerend. Sie würden den Anstieg der Scheidungszahlen und den Geburtenrückgang genauso wie die Zunahme von Verhaltensstörungen bei Kindern und der Jugendkriminalität begünstigen.365 Diese in den öffentlichen Debatten abgebildete Dichotomie verwischte gleichwohl, wenn der Familienalltag in den Blick genommen wurde. Sicherlich verbanden gerade jüngere und besser gebildete berufstätige Frauen Anfang der 1980er Jahre mit einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft die Vorstellung, tradierte Geschlechterrollen aufzubrechen und eine partnerschaftliche Aufgabenverteilung in der sozialen Praxis umzusetzen. Nichteheliche Lebensgemeinschaften stellten folglich ein Druckmittel dar, um die Partner in dieser nicht-institutionalisierten Form des Zusammenlebens zu einem nicht-institutionalisierten Rollenmuster zu bewegen. Die Männer sollten sich folglich an den anfallenden Hausarbeiten genauso beteiligen wie an der Kindererziehung. Zugleich behielten die Frauen in dieser Konstellation eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit als Ehefrauen.366 Allerdings blieb die Mehrzahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften traditionellen Rollenmustern verhaftet. Sicherlich übernahmen die Väter in den nichtehelichen Lebensgemeinschaften stärker als in Ehen alle bei der Kindererziehung anfallenden Aufgaben wie Wickeln, Füttern, Baden und Spielen. Sie zeigten 363

364 365

366

Vgl. Archiv des ZdK 2306 Schachtel 12A, Ehe und Familie als personale Partnerschaft und als Institution. Eine Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Entwurf der Kommission 4 „Ehe und Familie“, 19./20. Mai 1978, Bl. 746–760, hier Bl. 746. Pross, Familie, 7. Vgl. ebenda, 7f. Zur zeitgenössischen Kritik an der These, dass weibliche Berufsarbeit die Entwicklungschancen von Kindern schmälere, vgl. Lehr, Rolle, 71, 113f.; Neidhardt, Einleitung, 4; Lehr, Berufstätigkeit, 230f.; Rita Süssmuth zit. n.: Frau und Gesellschaft (II): Aus der öffentlichen Anhörung, 133. Vgl. Meyer/Schulze, Lebensgemeinschaften (Alternativen), 748f.; dies., Absage, 12; dies., Frauen, 166, 168, 175; Peuckert, Familienformen (2012), 109.

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somit Verhaltensweisen, wie sie Zeitgenossen als „neue Väterlichkeit“ diskutierten. Gleichwohl lag meist keine egalitär-gleichberechtigte Aufgabenverteilung vor. Die Hausarbeiten teilten die Paare weiterhin entlang der geschlechtertypischen Trennlinien partnerschaftlich auf. Im Alltag hatte sich daher oftmals eine Arbeitsteilung etabliert, in der sich beide Partner gut ergänzten. Wenn zum Beispiel die Frauen die Wäsche sortierten und die Waschmaschine starteten, hängten die Männer anschließend die Kleidungsstücke zum Trocknen auf. Doch bei den regelmäßigen Arbeiten wie Kochen oder auch vielen gelegentlich anfallenden Pflichten – die „Kernbereiche der Hausarbeit“367 – wie Bügeln und Putzen brachten sich die Frauen weitaus stärker ein als ihre Männer. Männer wendeten nach Zeitbudgetstudien in den 1980er Jahren nur etwa 15 bis 23 Prozent so viel Arbeitszeit für Hausarbeiten auf wie ihre Frauen. Da sich zahlreiche Frauen von einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft aber eine egalitäre Aufgabenverteilung erhofft hatten, klaffte eine enorme Lücke zwischen Wunschbild und sozialer Praxis.368 Gleichwohl urteilten die befragten Frauen positiv über das Engagement ihrer Partner, nicht nur weil es die Mithilfe verheirateter Männer übertraf. Da die Männer zumindest versuchten, die Arbeitslast ihrer Frauen zu reduzieren, so zeitgenössische Beobachter, kann im Hinblick auf eine egalitäre Aufgabenverteilung von einer Zielvereinbarung gesprochen werden, die manche Paare im Alltag ein Stück weit umsetzten. Die Männer kümmerten sich ebenfalls um die emotionalen Bedürfnisse und Wünsche ihrer Partnerinnen. Zudem verstanden sie die Berufsarbeit ihrer Partnerinnen nicht nur als „Zuverdienst“, sondern als einen zentralen Bestandteil der Beziehung. Auch das hatte einen positiven Effekt auf die Paarbeziehung.369 Dieser Befund zum Engagement der Männer gilt jedoch nur eingeschränkt: Mit steigendem Alter der unverheirateten Paare oder wenn sie heirateten oder vor allem nach der Geburt des ersten Kindes kam es zu einer Traditionalisierung der Verhaltensmuster, wie sozialwissenschaftliche Studien für die Zeit von 1985 bis 2007 herausarbeiten.370 In den 1980er Jahren zeichnete sich somit ab, dass nichteheliche Lebensgemeinschaften das Verständnis von Familie und vom Zusammenleben in einer 367 368

369 370

Meyer/Schulze, Balancen, 53. Vgl. Meyer/Schulze, Lebensgemeinschaften (Alternativen), 749; Emnid Institut/Psychologische Forschungsgruppe Schönhals, Teil I: Repräsentativerhebung, 16, 60f.; Stich, Heirat, 159f.; Meyer/Schulze, Lebensgemeinschaften (Möglichkeit), 347, 351; dies., Balancen, 24, 27, 46–53, 69f., 142. Zur Veränderung der Hausarbeit im Zuge der voranschreitenden Technisierung des Haushalts vgl. Wildt, Beginn, 126–131, 143–153; Lindner, Rationalisierungsdiskurse, 88–101. Vgl. Meyer/Schulze, Balancen, 53f. Vgl. Vaskovics/Rupp, Partnerschaftskarrieren, 197; Meyer/Schulze, Lebensgemeinschaften (Möglichkeit), 346, 348, 351, 354; Pross, Familie, 7f.; Jabsen/Rost/Rupp, Aufgabenteilung, 4, 24–28; Peuckert, Familienformen (2012), 241–244.

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Familie durchaus modifizierten, beides aber keinesfalls grundstürzend veränderten. Zahlreiche unverheiratete Paare orientierten sich überdies an der Ehe als Idealform einer Familie. Vor allem jüngere unverheiratete Paare unter 25 Jahren lehnten eine spätere Heirat meist nicht grundsätzlich ab. Sie wollten aber vorher das Zusammenleben ausprobieren. Gerade wenn sich diese Paare Kinder wünschten, tendierten sie im Regelfall weiterhin zu einer Eheschließung. Bei einer EMNID-Umfrage gaben 1985 33 Prozent an, dass sie die nichteheliche Lebensgemeinschaft als „Vorstufe zur Ehe“ einstuften. 38 Prozent wollten durch das unverheiratete Zusammenleben prüfen, ob die Beziehung tragfähig wäre. Auch in der DDR entschieden sich zahlreiche Paare für eine nichteheliche Lebensgemeinschaft als eine Vorform der Ehe, wenngleich hier andere Motive ausschlaggebend waren. Es ging weniger darum, das Zusammenleben auszuprobieren. Vielmehr wollten sie unter anderem von der bevorzugten Zuweisung eines Krippenplatzes profitieren – die Partnerinnen wurden schließlich von den amtlichen Behörden als Alleinerziehende geführt. Eine zweite Gruppe von nichtehelichen Lebensgemeinschaften bestand aus Paaren, die im Anschluss an eine gescheiterte Ehe unverheiratet mit einem neuen Partner zusammenlebten. Drittens gab es in West- und Ostdeutschland Paare, die sich bewusst für eine nichteheliche Lebensgemeinschaft entschieden hatten, da sie eine Ehe als Lebensmodell ablehnten. Ein wichtiges Unterscheidungskriterium zwischen den drei Gruppen bildete das Alter. Während die beiden letztgenannten Gruppen in den 1980er Jahren im Schnitt zu zwei Dritteln älter als 30 Jahre waren, fielen vier Fünftel der Paare mit Heiratsabsichten in die Alterskategorie unter 30 Jahre. Nach Darstellung von Sibylle Meyer und Eva Schulze existierten somit drei unterschiedliche Typen von nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Ein Teil sah im unverheirateten Zusammenleben eine „Vorphase zu Ehe und Familiengründung“, ein anderer eine „Alternative zur Ehe“ und eine dritte Gruppe die Anschlussphase an eine gescheiterte Ehe.371 Insofern dürfen nichteheliche Lebensgemeinschaften nicht grundsätzlich als eine Alternative zur Ehe verstanden werden. In der EMNID-Umfrage Mitte der 1980er Jahre bekannten sich immerhin 28 Prozent zur nichtehelichen Lebensgemeinschaft als Alternative zur Ehe. Davon lehnte aber nur gut ein Viertel die Ehe die Ehe explizit ab.372 Für diese Paare stellte eine nichteheliche Lebensgemeinschaft eine familiale Lebensform dar, sofern Kinder geboren wurden. „In unserem Bekanntenkreis leben viele 371

372

Vgl. Nichteheliche Lebensgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, 169–172; Meyer/Schulze, Lebensgemeinschaften (Alternativen), 735, 745; dies., Balancen, 13, 33ff.; dies., Absage, 13–18; dies., Frauen, 176; Vaskovics/Rupp, Partnerschaftskarrieren, 15, 17; Emnid Institut/Psychologische Forschungsgruppe Schönhals, Teil I: Repräsentativerhebung, 16; Stich, Heirat, 158; Schäffler, Paarbeziehungen, 132f. Vgl. Emnid Institut/Psychologische Forschungsgruppe Schönhals, Teil I: Repräsentativerhebung, 12ff., 29f., 32ff.

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unverheiratet zusammen. Manche lehnen die Ehe kategorisch ab“,373 berichtete eine 33-jährige selbständige Architektin, die mit ihrem Partner und zwei gemeinsamen Kindern in einem Haushalt lebte. „Für mich gibt es halt keinen Grund zu heiraten, weil ich beruflich ganz gut dastehe und wegen der Kinder würde ich nicht heiraten“, führte sie in dem Interview zunächst als Begründung für ihre Entscheidung an und ergänzte: „Ohne Schein fühl’ ich mich ungebundener, kann freier entscheiden.“374 Aus ihrer individuellen Perspektive gab es somit keine Notwendigkeit, den Partner zu heiraten. Vielmehr assoziierte die Architektin damit einen Verlust ihrer Individualität. Die Entscheidung, nicht zu heiraten, ging somit oft von den Frauen aus, wie sozialwissenschaftliche Erhebungen aufzeigten. Sie wollten sich damit überdies sowohl das alleinige Sorgerecht über die Kinder wie auch ihre Unabhängigkeit sichern. Gleichzeitig symbolisierte für sie eine nichteheliche Lebensgemeinschaft die Chance auf Gleichberechtigung und Partnerschaft in der Beziehung. Zahlreiche Frauen äußerten in Befragungen immer wieder ähnliche Argumente. Sie sahen in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft kein temporäres Projekt, sondern eine dauerhafte „Ehe ohne Trauschein“. Diese konnte jedoch gelöst werden, wenn die Beziehung die individuellen Wünsche nicht länger befriedigte.375 Aus der individuellen Perspektive dieser Paare stellte somit das unverheiratete Zusammenleben von Partnern mit Kindern eine legitime Familienform dar. Dies entsprach jedoch nicht der Mehrheitsmeinung innerhalb der westdeutschen Gesellschaft. Sozial akzeptiert waren nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern – im Gegensatz zu ihren Pendants ohne Kinder – in den 1980er Jahren keineswegs. Im März 1981 sprachen sich in einer Befragung zwar 70 Prozent für unverheiratetes Zusammenleben aus, wenn es sich hierbei um eine „Ehe auf Probe“ handelte. Eine dauerhafte Alternative zur Ehe sollte eine nichteheliche Lebensgemeinschaft jedoch nicht sein, erklärten 48 Prozent. Sobald Paare Kinder bekamen, erhöhte sich der Anteil der Gegner sogar auf 71 Prozent.376 Ungeachtet dieses sozialen Stigmas wuchs die kleine Gruppe der nichtehelichen Lebensgemeinschaften, welche sich bewusst gegen eine Eheschließung und damit gegen die christlich-bürgerliche Kernfamilie entschied, im Laufe der 1980er Jahre an. Ihr Anteil belief sich nach einer Repräsentativauswertung des EMNID-Instituts in der ersten Hälfte der 1980er Jahre auf neun Prozent. Die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern lag gleichwohl wesentlich höher. Ein gemeinsames Kind hatten vier Prozent der befragten unverheirate373 374 375 376

Meyer/Schulze, Balancen, 33. Ebenda. Vgl. Meyer/Schulze, Lebensgemeinschaften (Alternativen), 735; dies., Balancen, 33ff., 41, 44, 67–70; Nichteheliche Lebensgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, 170ff. Vgl. Meyer/Schulze, Lebensgemeinschaften (Alternativen), 745, 751; Einleitung: Nichteheliche Lebensgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, 7f.; Wingen, Nichteheliche Lebensgemeinschaften, 9f.

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ten Paare. 20 Prozent der untersuchten nichtehelichen Lebensgemeinschaften lebten mit Kindern in einem Haushalt, die aus einer vorangegangen Beziehung stammten.377 Diese Paare glichen von ihrer Wohnform her einer traditionellen Familie. Auch bezeichneten sie sich selbst als Familie.378 Den sozialen Status einer Familie genossen sie aber genauso wenig wie den rechtlichen. Sie blieben randständig. Nachdem die sozialliberale Koalition 1982 zerbrochen war und CDU sowie FDP unter Bundeskanzler Helmut Kohl die Regierungsgeschäfte übernommen hatten, stand wie schon unter der Kanzlerschaft Helmut Schmidts nicht zur Diskussion, nichteheliche Lebensgemeinschaften rechtlich als Familien anzuerkennen. Vielmehr wiederholte die Union ihre deutliche Ablehnung auf dem Essener CDU-Parteitag im März 1985: „Nichteheliche Lebensgemeinschaften können die Institution der Ehe nicht ersetzen.“379 Aus dieser Feststellung leitete die Union die Schlussfolgerung ab, dass auch zukünftig die Ehe eine notwendige „Voraussetzung für eine Familie“380 sei und folglich nichteheliche Lebensgemeinschaften nicht unter den Schutz des Grundgesetzes fallen würden.381 Im Laufe der 1980er Jahre rückte die SPD im Unterschied zur Union von ihrer ablehnenden Haltung ab. Sozialdemokraten diskutierten in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts verstärkt, wie und in welchen Bereichen die nichtehelichen Lebensgemeinschaften geschützt werden könnten. Eine Gleichstellung von verheirateten und unverheirateten Paaren schloss die SPD dabei allerdings weiterhin aus.382 Ausgelöst worden war die Debatte um die rechtliche Position unverheirateter Paare durch ihre ungleiche Behandlung. Während im Sozialrecht, namentlich im Arbeitsförderungsgesetz und im Bundessozialhilfegesetz, seit 1986 die „eheähnlichen Gemeinschaften“ anerkannt waren, galt dies für das Zivilrecht des BGB nicht. Während im Sozialrecht unverheiratete Paare wie verheiratete Paa377

378 379

380 381

382

Vgl. Nichteheliche Lebensgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, 169ff.; Emnid Institut/Psychologische Forschungsgruppe Schönhals, Teil I: Repräsentativerhebung, 78ff.; Meyer/Schulze, Balancen, 15f.; Vaskovics/Rupp/Hofmann, Lebensverläufe, 18. Für ähnliche Zahlen zu Kindern in nichtehelichen Lebensgemeinschaften vgl. Vaskovics/ Rupp, Partnerschaftskarrieren, 16. Vgl. Meyer/Schulze, Balancen, 67f. Christlich Demokratische Union Deutschlands, Geschäftststelle (Hg.), 33. Bundesparteitag der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. Niederschrift. Essen, 19.–22. März 1985, http://www.kas.de/upload/ACDP/CDU/Protokolle_Bundesparteitage/1985-03-2022_Protokoll_33.Bundesparteitag_Essen.pdf (letzter Zugriff am: 04.01.2019), 295. Vgl. ebenda. Vgl. ACSP D 12/132 Argumente. Bericht der Kommission Familienlastenausgleich der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Familienpolitik im Wandel (Maßnahmen der Bundesregierung und Vorschläge der Kommission Familienlastenausgleich), ohne Ort, Stand 10. April 1985, 9; Wirsching, Abschied, 49–55. Vgl. Häufig überfordert, 94, 97; Schwehn, SPD: Eheähnliche Gemeinschaft; SPD fordert Gesetzesänderung für „Ehen ohne Trauschein“; Schwehn, SPD: Ehe.

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re mit Unterhaltspflichten behandelt wurden, unterschied das Familienrecht weiterhin zwischen verheirateten und unverheirateten Paaren. Wenn sich unverheiratete Paare trennten, dann bestanden keine Unterhaltspflichten. Zudem hatte der Vater kein Sorgerecht für seine Kinder. Infolge dieser ungleichen Regelung entbrannte in der Politik eine hitzige Debatte um die Frage, inwiefern eine rechtliche Gleichstellung von verheirateten und unverheirateten Paaren zu erfolgen hätte. Anders positionierten sich hingegen Die Grünen, die 1983 in den Bundestag eingezogen waren. Sie stellten weitreichende Forderungen. So müsse die sogenannte „eingetragene PartnerInnenschaft“, als eine Form der „kleinen Ehe“, eingeführt und rechtlich anerkannt werden, erklärten sie.383 Die CDU-geführte Bundesregierung lehnte allerdings solche Reformpläne kategorisch ab, zumal sie nichteheliche Lebensgemeinschaften grundsätzlich nicht als Familie einstufte. In den Augen des CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler galten nichteheliche Lebensgemeinschaften schlicht als ein „superliberalistischer Schwachsinn“.384 Darüber hinaus trat der FDP-Politiker und Justizminister Hans Engelhard in der Debatte prominent in Erscheinung: „Wer Schutz will, soll heiraten“,385 erklärte er und sperrte sich gegen die Reformpläne.386 Allerdings stieß diese kategorische Abwehrhaltung nicht nur in der politischen Arena auf Widerstand. Auf dem Juristentag 1988 sprachen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dafür aus, den nichtehelichen Lebensgemeinschaften rechtlichen Schutz zukommen zu lassen. Der Deutsche Juristinnenbund unterstützte diese Forderung. Gleichwohl schränkten die Anwälte und Richter die Reichweite der möglichen Reform ein. Es müsse schließlich nicht notwendiger-

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Vgl. AGG BII 1/4385, Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN zur Aufhebung eheähnlicher Lebensgemeinschaften diskriminierender Vorschriften, ohne Ort, ohne Datum, 1f.; AGG BII 1/4385, Volker Beck, Den gesellschaftlichen Wandel gestalten. Ein Vorschlag für eine emanzipatorische Reformpolitik, ohne Ort, ohne Datum, 5; AGG BII 1/4331, Pressemitteilung der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Überlegungen der SPD zur Familie lassen Schlimmes befürchten, ohne Ort, 25. Januar 1989, 1; AGG BII 1/4331, Pressemitteilung der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Anschlag auf Ehe und Familie, ohne Ort, 25. Januar 1989; Wirsching, Abschied, 44f., 117–134. Heiner Geißler zit. n.: . . . wer dem Schein nicht, 55. Hans Engelhard zit. n.: Ein großes Maß an Heuchelei, 47. Vgl. AGG BII 1/4385, Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN zur Aufhebung eheähnlicher Lebensgemeinschaften diskriminierender Vorschriften, ohne Ort, ohne Datum, 1f.; AGG BII 1/4385, Volker Beck, Den gesellschaftlichen Wandel gestalten. Ein Vorschlag für eine emanzipatorische Reformpolitik, ohne Ort, ohne Datum, 5; AGG BII 1/4331, Pressemitteilung der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Überlegungen der SPD zur Familie lassen Schlimmes befürchten, ohne Ort, 25. Januar 1989, 1; AGG BII 1/4331, Pressemitteilung der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Anschlag auf Ehe und Familie, ohne Ort, 25. Januar 1989; Kein Gesetz für die Ehe ohne Trauschein; Der Gesetzgeber hat die „Ehen“ ohne Trauschein im Sozialrecht anerkannt; . . . wer dem Schein nicht, 53, 55.

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weise eine Gleichstellung mit verheirateten Paaren und eine Anerkennung im Sinne des Grundgesetzes einhergehen, erklärten sie.387 Diese Einschätzung teilten mehrere juristische Gutachten. Ihrer Ansicht nach fielen nichteheliche Lebensgemeinschaften nicht unter den Schutz des Grundgesetzes. „Aus diesem Grunde sind jegliche Maßnahmen, die nichteheliche und ähnliche Lebensgemeinschaften grundsätzlich gleichsetzen mit Ehe und Familie, unzulässig“,388 vermerkte ein Gutachten der wissenschaftlichen Dienste des Bundestages im Juli 1988. Nichteheliche Lebensgemeinschaften durften damit nicht genauso behandelt werden wie Ehe und Familie. Insofern war es nicht möglich, ihnen dieselben gesetzlichen Vergünstigungen wie den traditionellen Familien zukommen zu lassen. Immerhin waren sich Juristen in den 1980er Jahren aber einig, dass die alternativen Formen des Zusammenlebens nicht verboten werden könnten. Auch dieser Befund weist darauf hin, dass sich in den 1970er und 1980er Jahren kein radikaler Bruch der Familienideale vollzog. Vielmehr fand eine allmähliche und partielle Adaption an sich verändernde soziale Praktiken statt. Der normative Bezugspunkt blieb dabei jedoch stets die christlich-bürgerliche Kernfamilie.

8.5 Zwischenfazit In den 1970ern Jahren verdichteten sich die ideologischen Konflikte um die Familie, in denen Politiker, Kirchenvertreter, Juristen und Sozialwissenschaftler jeweils ihre Deutungen von „Familie“ diskutierten. Insbesondere die Vertreter der katholischen Kirche reflektierten verstärkt ein personales Verständnis von Ehe und Familie, das auf gegenseitiger Liebe zweier Partner aufbaute. Diese Sichtweise ergänzte die funktionelle Perspektive, wonach die Institution Familie Aufgaben für die Gesellschaft übernehme. Damit endete ein Wandlungsprozess, der innerhalb des Katholizismus im Anschluss an den Ersten Weltkrieg langsam eingesetzt hatte. An zwei Grundfesten der Familie wurde jedoch nicht gerüttelt: Die Ehe blieb eine notwendige Voraussetzung für eine Familie und die geschlechtsspezifischen Rollenmodelle bestanden fort. Gleichzeitig vertraten die Mitglieder der sozialliberalen Koalition und auch Sozialwissenschaftler verstärkt einen inkludierenden Familienbegriff, der sich

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Vgl. ebenda, 55; AGG BII 1/4385, Pressemitteilung Deutscher Juristinnenbund, ohne Titel, ohne Ort, 21. Juni 1988, 1; Heyde, Aspekte; Münch, Bund. AGG BII 1/4385, Vermerk Zeller, Deutscher Bundestag, wissenschaftliche Dienste, Fachbereich II, Verfassung und Verwaltung, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 6 GG, ohne Ort, 15. Juli 1988, 8. Zur Rechtsprechung siehe ebenfalls Löhnig, Eltern, 12f.

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über die Eltern-Kind-Beziehung definierte. Es brach somit die symbiotische Verbindung von Ehe und Familie auf. Damit bekamen neben der christlich-bürgerlichen Kernfamilie noch zwei weitere Familienformen – alleinerziehende Mütter sowie unverheiratete Paare mit ihren Kindern – den Status einer Familie zugesprochen, wenngleich Letzteren die rechtliche und weitgehend auch die soziale Akzeptanz bis über die 1980er Jahre hinaus verwehrt blieb. Darüber hinaus entwickelte sich eine partnerschaftliche, verstanden als egalitär-gleichberechtigte, innerfamiliale Aufgabenverteilung zum neuen, „modernen“ Beziehungs-Ideal in einer demokratischen Gesellschaft. Es stabilisiere nicht nur die Familienbeziehungen, sondern ermögliche auch flexiblere Reaktionen auf gesellschaftliche Veränderungen. Den weitgefassten Familienbegriff und die gewandelten Rollenmodelle lehnten neben den Vertretern der katholischen Kirche auch weitgehend die evangelische Kirche und Unionspolitiker ab, da sie mit den von ihnen vertretenen Idealen brachen. Sie reagierten, indem sie zum Beispiel ein eigenes Konzept von „Partnerschaft“ vertraten, das sich am kameradschaftlichen Modell der 1950er Jahre orientierte. Sie versuchten ebenfalls, den sozialen Status der Hausfrau diskursiv aufzuwerten. In Ostdeutschland wiederum bezog sich Partnerschaft auf die Aufgaben, welche die Familie für den Staat zu erfüllen habe, und nicht auf die innerfamilialen Beziehungen. Erneut zeigt sich hier ein deutlicher Ost-West-Unterschied. Während in der Bundesrepublik die Sicht auf die Familie als individuell ausgestaltbares soziales Beziehungsgefüge zusehends Einfluss auf die politischen und juristischen Entscheidungen bekam, stand in der DDR die Bedeutung der Institution Familie für die sozialistische Gesellschaft im Vordergrund. Trotz der Veränderungen kam es in den 1970er Jahren nicht zu einem radikalen Bruch. Denn die Eheschließung blieb für die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger in Ost- und Westdeutschland noch immer ein Fixpunkt in der individuellen Lebensplanung. Das zeigte sich auch daran, dass sich die unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens nicht multiplizierten. Die größte soziale Gruppe blieben weiterhin die verheirateten Paare mit und ohne Kinder. Zudem verlor die Familie nicht an Wertschätzung. Vielmehr pluralisierte sich die Vorstellung, was eine Familie sei. Um dieser Veränderung Rechnung zu tragen, verbreitete sich ausgehend von der Soziologie Anfang der 1980er Jahre der Terminus „familiale Lebensform“. Überdies problematisierten Wissenschaftler und Politiker die normative Aufladung von Begriffen wie „unvollständige Familie“ und präferierten zusehends wertneutralere Termini wie „Ein-Eltern-Familie“. Insofern markieren die 1970er und auch die frühen 1980er Jahre nicht nur wie zuvor dargestellt einen juristischen Bruch, sondern sie sind auch eine diskursive Zäsur. Die sozialen Praktiken wandelten sich demgegenüber weitaus weniger, was allein die sanfte Pluralisierung bei den unterschiedlichen familialen Lebensformen zeigt, obschon gerade die nichtehelichen Lebensgemeinschaften enorme Zuwachsraten verzeichneten. Aber nur ein kleiner Teil dieser Lebensgemein-

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schaften war letztlich eine auf Dauer ausgelegte Alternative zu Ehe und Familie. Die sozialen Phänomene nichteheliche Lebensgemeinschaft und alleinerziehende Mütter wurden gesamtgesellschaftlich verhandelt und im Bekanntenkreis war man damit zumindest in Berührung gekommen. Das konnte die Einstellung von Zeitgenossen beeinflussen, auch wenn sie diese „alternativen“ Lebensformen selbst nicht praktizierten. Zudem wurde anhand des Konzepts von Partnerschaft die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verhandelt. So würde die Mithilfe des Ehemannes bei Hausarbeiten und Kindererziehung helfen, die Arbeitslasten der Mutter zu reduzieren. Doch weder im Westen noch im Osten setzte sich eine egalitär-gleichberechtigte Aufgabenverteilung durch. Vielmehr änderte sich die Aufgabenverteilung gerade bei den zeitintensiven Tätigkeiten Waschen, Kochen und Putzen in den 1970er und 1980er Jahren kaum. Allenfalls bei der Kindererziehung brachten sich die Väter stärker ein, wenngleich auch hier nur in einem begrenzten Umfang. Insofern blieb in der sozialen Praxis für die Mütter weiterhin Halbtagsarbeit ein Modell, um Beruf und Familie miteinander vereinbaren zu können. Das galt auch für die DDR, obschon es dort dem politischen Ziel der vollberufstätigen Mutter entgegenstand. Indem zudem ein Teil der Kindererziehung von Kinderkrippen und -gärten übernommen wurde, ließ sich ebenfalls die Berufsarbeit mit einer Familie leichter verbinden. Dieses Modell setzte sich insbesondere in der DDR durch und es wurde auch ein wesentlich höherer Betreuungsgrad erzielt als im Westen. Dort lag der Fokus vielmehr darauf, dass die Kindergärten helfen sollten, die soziale Ungleichheit zu überwinden und die Sozialisationsdefizite der Familie auszugleichen. Da man die Defizite der Familie auf ihrem ureigenen Terrain, der Kindererziehung, identifiziert hatte, kam es in Westdeutschland während der 1970er Jahre immer wieder zu Kontroversen über die Frage, wie die Kindererziehung zu regeln sei. Letztlich setzte sich ein Modell durch, bei dem Kindergartenpädagoginnen die elterliche Erziehung ergänzten. In der Praxis würden damit die Mütter unterstützt oder ersetzt, lauteten die zeitgenössischen Befunde – abhängig davon, ob der Beobachter der sozialliberalen Koalition oder der Opposition nahestand. Der soziale Typus des „neuen Vaters“ blieb in den 1980er Jahren auf eine kleine Gruppe von Männern beschränkt. Auch hier zeigte sich die Persistenz der sozialen Praktiken. Als Trägergruppe des „modernen“ Ideals der partnerschaftlichen Familienbeziehungen firmierte letztlich eine kleine Gruppe von jüngeren Paaren mit höheren Bildungsabschlüssen. Zudem waren junge, besser gebildete und berufstätige Frauen wie auch die Vertreterinnen der Frauenbewegung weitere wichtige Akteurinnen, die sich für nichtehelichen Lebensgemeinschaften und eine partnerschaftliche Aufgabenverteilung einsetzten. Als Inhibitoren wirkten neben traditionell eingestellten Hausfrauen insbesondere auch die Männer, die sich gegen eine Veränderung sperrten. Eine Eheschließung und die Geburt eines

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Kindes zogen ebenfalls eine Traditionalisierung bei der Rollenverteilung nach sich. Insgesamt kam es damit in den 1970er und den 1980er Jahren gesamtgesellschaftlich nur zu zaghaften Veränderungen bei den sozialen Praktiken, weshalb von einer sanften Pluralisierung der Familienformen und einer vorsichtigen Reform der Geschlechterrollen gesprochen werden sollte.

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9. Zusammenfassung: Kontinuität, Konflikt und laute Evolution Die Arbeit diskutierte, wie zwischen dem späten 19. und dem späten 20. Jahrhundert um das Verständnis von „der“ Familie gerungen wurde, in welche rechtlichen und politischen Rahmen die Debatten eingebettet waren und wie sich die familialen Praktiken hierzu verhielten. Die Aushandlungsprozesse behandelten die Funktionen der Institution Familie für die Gesellschaft wie auch die Bedeutung einer Familiengemeinschaft auf dem individuellen Lebensweg. Damit verknüpft war die Vorstellung, dass „die“ Familie eine Ordnungsfunktion übernehme und als Schutzraum firmiere, der Sicherheit, Stabilität und Orientierung spende. Die Familie integriere so die Individuen in die jeweilige Gesellschaftsordnung, lautete ein Diktum. Allerdings divergierten die Ansichten darüber, was eine Familie sei, wie die Aufgabenverteilung in der Familie geregelt werden müsse und welche Funktionen eine Familie übernehme. Die Ansichten zu diesen Punkten veränderten sich nicht radikal und plötzlich, wie in einer stillen Revolution. Vielmehr verlief der Wandel graduell und war eingebettet in langfristige konfliktbehaftete Aushandlungsprozesse, weshalb er sich wie eine laute Evolution vollzog. Unter Bezugnahme auf die eingangs formulierten Thesen werden im Folgenden die Kontinuitäten genauso wie die zentralen Veränderungen der familialen Ideale und Praktiken benannt: 1) die Strahlkraft des Ideals der christlich-bürgerlichen Kernfamilie; 2) die Diskrepanz zwischen Ideal und Praxis; 3) der Übergang vom exkludierenden zum inkludierenden Familienverständnis Ende der 1960er Jahre; 4) die Ähnlichkeit von Familienidealen und familialen Praktiken in nichtehelichen Lebensgemeinschaften und Kernfamilien; 5) das Verhältnis von Diskurs und Praxis; 6) die Relativierung des Zäsurcharakters der 1960er und 1970er Jahre; 7) das Verhältnis von Individualität, Gemeinschaft und Gesellschaft; 8) Dramatisierung, Polarisierung und Biologisierung der Diskurse; 9) der „Doppelcharakter“ der Familie als Institution und Beziehungsgefüge; 10) die Austauschbeziehung zwischen Ideal und Praxis in Demokratien und Diktaturen; 11) die Relevanz des Politischen für den Privatraum Familie; 12) die sanfte Pluralisierung der Familie im 20. Jahrhundert. Als erstens im ausgehenden 19. Jahrhundert zwei als „modern“ kodierte Familienformen entstanden – die proletarische und die bürgerliche Familie –, setzte der gesellschaftliche Aushandlungsprozess um die Familie ein, bei dem es insbesondere darum ging, die Veränderungen einzuhegen und ihnen einen Rahmen zu geben. Das Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie entfaltete eine Strahlkraft, die alle Gesellschaftsteile erfasste. Charakteristisch war hierbei, dass Ehe und Familie eine symbiotische Verbindung eingingen. Zudem galten https://doi.org/10.1515/9783110651010-009

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nach dem zeitgenössischen Verständnis nur Ehen mit gemeinsam gezeugten Kindern als Familie. Die sozialen Praktiken wichen hiervon jedoch stets ab. Denn mit Alleinerziehenden und unverheirateten Paaren existierten immer soziale Gruppen, die faktisch als Familien lebten, aber nicht den sozialen Status von Familien genossen. Auch bei den Geschlechterrollen divergierten Familienalltag und Ideal. So waren die Mütter oft berufstätig, um zum finanziellen Überleben ihrer Familie beizutragen. Die beobachtete Diskrepanz zwischen Ideal und Praxis war zweitens für den gesamten Untersuchungszeitraum charakteristisch. Sie lässt sich insbesondere dadurch erklären, dass beim Reden über die Familie die Positionen klar benannt und konturscharf herausgearbeitet, bisweilen sogar überzeichnet wurden, um eindeutige Handlungsmaximen vorzugeben. Dadurch traten die Ideale dem Beobachter deutlich vor Augen. In der sozialen Praxis setzten die Familienmitglieder diese Ideale lediglich partiell um oder adaptierten sie an ihre individuellen Interessen und Rahmenbedingungen. Das hatte zum Beispiel in den 1950er Jahren zur Folge, dass – bei einem Bekenntnis zum Ideal der Ehe und der christlichbürgerlichen Familie – selbst die Möglichkeit einer Scheidung oder die Berufsarbeit von Müttern im Individualfall nicht ausgeschlossen wurde. In den 1970er Jahren konnte man sich umgekehrt diskursiv zum Ideal der egalitär-gleichberechtigten Partnerschaft bekennen, sich in der sozialen Praxis dann aber an einer traditionellen Aufgabenverteilung orientieren. Insgesamt lässt sich drittens beobachten, dass zwar immer wieder heftig um die Familie gerungen wurde, sich das gesamtgesellschaftlich akzeptierte Familienideal jedoch nur langsam wandelte. Nachdem das Modell der christlichbürgerlichen Familie mit dem BGB 1900 rechtlich kodifiziert worden war, brach dieses Leitbild erst in den 1960er Jahren allmählich auf. Diese Veränderung resultierte einerseits aus Gesetzesänderungen, wie dem Familiengesetzbuch der DDR 1965 und den westdeutschen Reformgesetzen zwischen den späten 1960er und den 1970er Jahren. Anderseits trugen die sozialen Praktiken den Wandel voran. Im Zuge dieser Verschiebungen verlor die Familie als Lebensmodell ihren exkludierenden Charakter, als die Symbiose von Ehe und Familie aufbrach und sich die Eltern-Kind-Beziehung am Übergang zu den 1970er Jahren zum konstitutiven Merkmal einer Familie entwickelte. Ein-Eltern-Familien, d. h. Alleinerziehende mit Kindern, genossen damit den rechtlichen und durchaus auch den sozialen Status einer Familie. Die sich ab den 1970er Jahren rasant verbreitenden nichtehelichen Lebensgemeinschaften in ihren beiden Varianten – mit und ohne Kinder – blieben viertens hingegen ein Sonderfall. Gerade den Lebensgemeinschaften mit Kindern wurde in beiden Teilen Deutschlands bis in die 1980er Jahre der soziale und rechtliche Status einer Familie verwehrt. Gleichzeitig zeigten aber Studien auf, dass – wenn in diesen Lebensformen Kinder lebten – sich ihr Alltag von dem der verheirateten Paare mit Kindern wenig unterschied. Entgegen des zeitgenössisch geäußerten

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Vorwurfs, diese Lebensformen würden für Bindungs-, Verantwortungs- und Treulosigkeit stehen, schätzten ihre Mitglieder genauso wie verheiratete Paare gegenseitige Zuneigung, Verlässlichkeit und Treue. Insofern unterschieden sich nichteheliche Paare und christlich-bürgerliche Kernfamilien zwar von ihrem sozialen wie rechtlichen Status. Im Hinblick auf die in den Paarbeziehungen wertgeschätzten Ideale divergierten beide Lebensformen genauso wenig wie bei den familialen Alltagspraktiken. Zudem muss berücksichtigt werden, dass es drei unterschiedliche Varianten von nichtehelichen Lebensgemeinschaften gab: das unverheiratete Zusammenleben als Testphase für eine spätere Eheschließung und Familiengründung; als dauerhafte Alternative zur traditionellen christlich-bürgerlichen Kernfamilie; als Lebensmodell im Anschluss an eine gescheiterte Ehe. Erstere Gruppe von Paaren wollte das kinderlose Zusammenleben ausprobieren und plante, später zu heiraten und Kinder zu bekommen. Die Geschiedenen lebten mit einer neuen Partnerin bzw. einem neuen Partner in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, wobei auch hier eine Heirat nicht zwangsläufig ausgeschlossen war. In diesen beiden Spielarten der nichtehelichen Lebensgemeinschaften dominierten wiederum traditionelle Geschlechterrollen, und beide Varianten stellten die Mehrzahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Folglich war nur ein kleiner Teil der nichtehelichen Lebensgemeinschaften als eine auf Dauer konzipierte Alternative zur Ehe angelegt. In diesen Lebensformen hofften insbesondere jüngere, besser gebildete und berufstätige Frauen in den 1970er und 1980er Jahren, ihre Partner in dieser nicht-institutionalisierten Form des Zusammenlebens zu einem alternativen Rollenverhalten bewegen zu können. Ab den 1970er Jahren kehrte sich fünftens das Verhältnis von Diskurs und Praxis um. Denn während des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis in die späten 1960er Jahre waren die Familienformen und die familialen Praktiken pluraler als die politischen und juristischen Diskurse. Die Debatten zirkulierten primär um das Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie auf der einen und das der proletarischen Familie und der sogenannten Reformmodelle wie auch der alternativen Geschlechterrollen auf der anderen Seite. Insbesondere mit dem sich verbreitenden inkludierenden Familienverständnis, das sich über die ElternKind-Beziehung definierte, endete in den späten 1960er Jahren die diskursive Polarisierung zwischen dem sozial akzeptierten Ideal der christlich-bürgerlichen Kernfamilie und den davon abweichenden praktizierten Familienformen bzw. den diskutierten Reformvorschlägen, wie der „Kameradschaftsehe“ der 1920er Jahre. In der Folge zeigten die diskutierten Ideale verstärkt die potenziellen gesellschaftlichen Veränderungsmöglichkeiten auf. Das betraf die nichtehelichen Lebensgemeinschaften als neues Lebensmodell genauso wie die egalitär-gleichberechtigte bzw. partnerschaftliche Aufgabenverteilung. Obwohl sich beides in der Praxis nur in einer kleinen sozialen Gruppe wiederfand und in der Mehrheit der Familien die Geschlechterrollen weiterhin traditionell geregelt waren, so

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wurde dennoch gesamtgesellschaftlich darüber diskutiert und mit dem Terminus der familialen Lebensform ein neuer Gattungsbegriff eingeführt, unter dem verschiedene Familientypen firmierten. Insofern trugen veränderte Praktiken gesellschaftlicher Teilgruppen und gesamtgesellschaftlich verhandelte soziale Phänomene den Wandel voran. Da sich die sozialen Praktiken jedoch wesentlich resilienter gegenüber sozialem Wandel zeigten und sich das Reden über Familie und die rechtlichen Rahmenbedingungen wesentlich umfassender verschoben, markieren die 1960er und 1970er Jahre primär eine rechtliche bzw. diskursive Zäsur. Der Zäsurcharakter beider Jahrzehnte muss folglich sechstens relativiert werden. Zwar weisen die Statistiken einen deutlichen Rückgang der Eheschließungen und Geburten sowie einen rapiden Anstieg der Ehescheidungen und der nichtehelichen Lebensgemeinschaften aus. Dennoch veränderten sich die sozialen Praktiken nicht grundstürzend, wie ein differenzierter Blick auf die statistisch gemessenen Veränderungen offenlegt. Zunächst interpretierten zeitgenössische Beobachter die Veränderungen als dramatisch, da sie das Golden Age of Marriage der 1950er Jahre als Referenz heranzogen. Auf das gesamte 20. Jahrhundert bezogen war jedoch diese Dekade mit ihrer überproportional hohen Heiratsquote eine historische Ausnahmekonstellation und nicht der Regelfall. Damit verfälschte dieser Referenzwert die Bewertung. Ferner fokussierten sich die zeitgenössischen Deutungen der 1960er und 1970er Jahre einseitig auf das Ideal der christlichbürgerlichen Kernfamilie und verkannten damit, dass von diesem Modell abweichende Familienformen wie Ein-Eltern-Familien – oder in den 1950er Jahren die sogenannten „Onkelehen“ – existierten. Das bedeutet auch, dass im Untersuchungszeitraum stets eine schwache Pluralität familialer Praktiken gelebt wurde. Seit den 1960er Jahren bilden die Statistiken den Wandel graphisch ab, der in den 1950er Jahren schon im Stillen eingesetzt hatte, damals aber mittels aggregierter Daten noch nicht gemessen werden konnte. Es muss ferner berücksichtigt werden, dass die statistischen Erhebungen lediglich Momentaufnahmen liefern, die Trendaussagen ermöglichen. Die Realität spiegeln sie nicht wider. Folglich können aus den Veränderungen keine linear kausalen Entwicklungen abgeleitet werden. So blieb die Ehe für viele Paare ein zentraler Fixpunkt in ihrem Leben – selbst nach einer Ehescheidung, was die Zahl der Wiederverheirateten belegt. Auch der Kinderwunsch verschwand nicht vollständig. Jedoch nahm die gesellschaftliche Akzeptanz für unterschiedliche Lebensformen zu. Zudem entwickelte sich die sequenzielle Reihung von Lebensformen im Lebensverlauf zu einem Charakteristikum – das Nacheinander von Singleleben, unverheiratetem Zusammenleben, Eheschließung, Geburt eines Kindes und Scheidung. In den Konflikten um Familienideale ging es siebtens stets um die Frage, wie Individuum, Familie, Staat und Nation aufeinander bezogen seien. Zeitgenossen rangen also anhand der Familie um das Verhältnis von Individualität,

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Gemeinschaft und Gesellschaft. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde dabei auch auf den Begriff des „Volkes“ rekurriert. In den Debatten stand in den unterschiedlichen Zeitabschnitten immer wieder der Vorwurf im Raum, dass die Familienmitglieder ihre Individualinteressen auf Kosten der Familiengemeinschaft bzw. der staatlichen Interessen durchsetzen würden, wobei dies zeitgenössisch anhand des Topos der berufstätigen Mutter verhandelt wurde. Sozialwissenschaftliche Studien zeigten allerdings schon in den 1920er Jahren auf, dass Mütter nicht erwerbstätig waren, um ihre individuellen Wünsche zu realisieren. Vielmehr sicherten sie mit ihrer Berufsarbeit bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts vielfach das wirtschaftliche Auskommen der Familien und garantierten so deren Zusammenhalt. Insofern traf der immer wieder artikulierte Vorwurf, berufstätige Mütter würden ihre Individualinteressen verfolgen und dadurch ihre Familie schädigen, nicht den Kern. Da zudem aus der subjektiven Perspektive ihrer Mitglieder die Familie eine Gemeinschaft war, in der man mit in Liebe verbundenen Personen zusammenlebte, bildeten Familie und Individuum aus der individuellen Sicht keine Gegenpole. Infolgedessen konnten im Alltag auch in einer Familiengemeinschaft Individualinteressen realisiert werden. In den Aushandlungsprozessen um die Familienideale traten vorrangig Kirchenvertreter, Politiker, Juristen, Sozialreformer, Sozialwissenschaftler, Bevölkerungswissenschaftler, Mediziner und zwischen 1900 und 1945 auch verstärkt Eugeniker in Erscheinung. Sie beabsichtigten, das Familienleitbild nach ihrem Ideal zu formen. Insbesondere ging es um die Fragen, wie viele Kinder in einer Familie geboren und wie die Rollenverteilung im Haushalt, die Berufsarbeit von Müttern sowie die Kindererziehung geregelt werden sollten. Zudem diskutierten sie die Bedeutung der Ehe für die Familie, die Folgen einer Ehescheidung und, welche politischen und juristischen Rahmenbedingungen zu gelten hätten. Dabei griffen die Akteure vielfach auf den Topos von der „Krise“ der Familie und dem aus ihr resultierenden quantitativen und qualitativen „Niedergang“ der Nation zurück, auch um so eine größere Aufmerksamkeit für ihre Belange zu erzielen. Insofern prägten achtens insbesondere eine Dramatisierung, Polarisierung und Biologisierung die Debatten um die Politiken und Familienideale, wenngleich die Biologisierung nach 1945 weitgehend aus den Aushandlungsprozessen verschwand. Zudem zeigte sich bereits gegen Ende des Ersten Weltkriegs und Anfang der 1920er Jahre, dass die Familie nicht ausschließlich eine soziale Institution war, die Funktionen für die Gesellschaft und die Nation übernehme, wie die Zeugung und Erziehung von Kindern. Sie besaß vielmehr einen Eigenwert, der sich aus der gegenseitigen Liebe der Partner ergab. Familie war damit neuntens auch ein individuell ausgestaltbares Beziehungsgefüge, das seine Mitglieder subjektiv mit Sinn versahen. Allerdings verschwand diese Sichtweise in den politischen und juristischen Debatten zwischen 1933 und 1945 wieder, als sich im Nationalsozialismus eine funktionalistische Perspektive auf die Familie durchsetzte. Die Familie galt als

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ein Mittel der Herrschaftssicherung und basierte auf dem Ideal des Primats einer rassenideologisch fundierten Bevölkerungspolitik. Gleichwohl existierte in Einzelfällen durchaus ein individueller Opportunismus, der sich an den Wünschen einiger Vertreter des Regimes oder ihnen nahestehender männlicher Personen orientierte, zum Beispiel wenn diese sich von ihren Ehefrauen scheiden und ihre neuen Partnerinnen heiraten wollten – obwohl dies der NS-Ideologie zuwiderlief. Dieses Vorgehen wurde mit einem Verweis auf die Rassenideologie und bevölkerungspolitischen Ziele kaschiert. Auch in der DDR stand die Funktion der Familie im Mittelpunkt, wenngleich der staatliche Zugriff nicht so umfassend und durchgreifend war wie im Nationalsozialismus. Die sozialistische Familie sollte die Gesellschaft ordnen, strukturieren und die Individuen in den Staat integrieren. In Westdeutschland wurde der Familie ebenfalls eine zentrale Ordnungsfunktion zugeschrieben. Ein enger rechtlicher Rahmen sorgte gerade in der frühen Bundesrepublik dafür, dass nur die christlich-bürgerliche Kernfamilie politisch gefördert werde. Zudem passe eine partnerschaftliche Rollenverteilung zur demokratischen Gesellschaftsordnung, lautete eine weitere wissenschaftliche und politische Diagnose. Allerdings divergierten die Ansichten darüber, wie dies im konkreten Fall auszusehen habe. Eine Intervention in den Binnenraum der Familie blieb in Westdeutschland zunächst aus. In den 1950er und 1960er Jahren stellte die staatliche Sozialpolitik vielmehr indirekt finanzielle Unterstützungsleistungen bereit wie durch die Förderung des Wohnungsbaus. Das änderte sich erst mit den Reformanstrengungen der 1960er und 1970er Jahre und ist unter anderem anhand der Beispiele Gewalt in der Familie, Sorgerecht, Kindererziehung und partnerschaftliche – verstanden als egalitär-gleichberechtigte – Aufgabenverteilung diskutiert worden. Allerdings kann diese Veränderung der Politiken nicht mit der DDR und insbesondere mit dem Nationalsozialismus verglichen werden. Der politische Zugriff war weder ähnlich umfassend noch wurde direkt interveniert. In den 1970er Jahren zielten die politischen Maßnahmen und Gesetzesreformen vielmehr darauf, die Individualrechte der Familienmitglieder zu stärken und zu schützen. Infolge dieser Veränderung wurde auch im politischen Diskurs verstärkt diskutiert, wie sich individuelle Wünsche in einer Familiengemeinschaft realisieren ließen. Zum Beispiel sollten sich in einer partnerschaftlichen Familie die Familienmitglieder die Aufgaben teilen, was es beiden Partner ermögliche – so die zeitgenössische Lesart –, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Die vermutete Frontstellung zwischen Individual- und Gemeinschaftsinteressen löste sich somit auf. Auch diese Veränderung trug zur anhaltend hohen Wertschätzung der Familie während der 1970er und 1980er Jahre bei. In allen politischen Systemen in Deutschland vom späten 19. bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert kam es folglich zu einer Politisierung des Privaten und zugleich war zehntens aber eine unterschiedlich ausgestaltete Austauschbeziehung zwischen Ideal und Praxis zu beobachten. Zudem erfolgte – was

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zu den in der Einleitung formulierten Thesen ergänzt werden muss – auch in Demokratien eine Wertsetzung über Gesetzesreformen. So schrieb die sozialliberale Koalition das Leitbild der partnerschaftlichen Familie mit der Reform des Familien- und Scheidungsrechts 1976 gesetzlich fest, was mit der Annahme verknüpft war, dass sich dieses Ideal in der sozialen Praxis durchsetzen würde. Gleichzeitig hat die Gesetzgebung in Demokratien die Funktion, den Wertepluralismus abzubilden, das heißt, die Gesetzeslage der sozialen Praxis anzupassen. Insofern waren Reformen ebenfalls Reaktionen auf sich wandelnde Praktiken gesellschaftlicher Teilgruppen, die zuvor gesamtgesellschaftlich verhandelt worden waren. Die Wertsetzung betraf damit vorrangig die Gruppierungen, welche ihre Praktiken noch nicht oder nur partiell gewandelt hatten. Insofern firmierten Gesetzesreformen in Demokratien als Gradmesser für gesellschaftlichen Wandel, wenngleich die sozialen Praktiken gesellschaftlicher Teilgruppen hinter den politischen und juristischen Vorgaben zurückblieben. Das zeigte sich unter anderem an der Differenz zwischen der rechtlichen Gleichstellung und der sozialen Gleichberechtigung der Frau. In Diktaturen hingegen zeigen die Gesetze und Erlasse den direkten staatlichen Zugriff auf, da über politische und juristische Entscheidungen für alle Individuen verbindlich geltende Werte gesetzt wurden. In der Praxis wurden diese Ideale aber nicht völlig übernommen, da immer ein gewisser Spielraum für „eigen-sinniges“ Verhalten bestehen blieb, wie in der Studie aufgezeigt worden ist. An dieser Stelle lag somit hinsichtlich der Wechselbeziehung zwischen Diskursen, Praktiken und Institutionen ein Unterschied zwischen den politischen Systemen Deutschlands vor. Denn während Diktaturen versuchten, sozialen Wandel von oben zu steuern, resultierte er in Demokratien vorrangig aus sich wandelnden Praktiken und deren gesellschaftlicher Verhandlung sowie – sofern sie erfolgten – über Gesetzesreformen. Das Politische war elftens für den Privatraum Familie insofern relevant, als es neben den gesetzlichen Bestimmungen die institutionellen Rahmenbedingungen absteckte. Darüber hinaus waren Kriege und wirtschaftliche Entwicklungen von entscheidender Bedeutung. So radikalisierten sich im Zuge des Ersten Weltkriegs die Debatten über die Familie, die dann in der Weimarer Republik fortgeführt wurden. Eine abermalige Verschärfung brachte die Weltwirtschaftskrise mit sich, als sich in der Folge zum Beispiel das Ideal der kinderreichen, „erbgesunden“ Familie verbreitete. Im Nationalsozialismus setzte sich schließlich das Primat der rassenideologischen Bevölkerungspolitik durch, die das Regime mittels gesetzlicher Vorgaben und staatlicher Verordnungen durchzusetzen versuchte. Sicherlich stellte auch der Zweite Weltkrieg eine Zäsur dar. Doch waren weniger die Kriegshandlungen selbst als vielmehr die Einberufung der Ehemänner und Väter ab 1938/39 und deren Heimkehr nach Kriegsende oder in der Nachkriegszeit der entscheidende Einschnitt. Denn mit dem Ausscheiden der Väter mussten sich die Mütter um Haushalt, Kindererziehung und das finanzielle Auskommen

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der Familie kümmern. Mit der Rückkehr der Väter setzten dann nach 1945 vielfach die innerfamilialen Konflikte ein. Aber auch der Kalte Krieg beeinflusste die Familie. Die Bundesrepublik und die DDR grenzten sich unter anderem über die Familie voneinander, aber auch vom Nationalsozialismus ab. Dies geschah insbesondere über die Fragen, wie eine Familie auszusehen und welche Rollen die Mutter zu übernehmen habe. Drittens ging es darum zu klären, wie die Kindererziehung geregelt werden solle. Zudem erfuhr „die“ Familie durchweg eine hohe Wertschätzung. Jedoch konnte ab den 1970er Jahren unterschiedlich ausgedeutet werden, was unter „der“ Familie zu verstehen sei. Dadurch war es möglich, das Ideal an die eigenen Vorstellungen von Familie oder das eigene Familienleben zu adaptieren. Das war ein weiterer Grund, warum der Familie in allen Gesellschaftsteilen so hohe Wertschätzung entgegengebracht wurde. Die 1970er Jahre dürfen dabei jedoch nicht als die Wasserscheide des 20. Jahrhunderts interpretiert werden, da es zu keiner radikalen Pluralisierung kam. So blieb in der Mehrzahl der Paarbeziehungen die Ehe der normative Bezugspunkt für eine Familie. Auch die Sozialstruktur und der Familienalltag wandelten sich nicht grundlegend. Obschon die nichtehelichen Lebensgemeinschaften ab den 1970er Jahren massive Zuwachsraten verzeichneten, blieben sie im Vergleich zu verheirateten Paaren mit und ohne Kinder eine kleine Gruppe. Überdies fand das Leitbild der egalitär-gleichberechtigten Partnerschaft – entgegen des diskursiven Bekenntnisses hierzu – in Relation zur Breite der Gesellschaft keine Entsprechung in der Praxis. Allerdings zeigte sich eine zaghafte Veränderung, meist bei jüngeren Paaren mit höheren Bildungsabschlüssen, bei besser gebildeten berufstätigen Frauen und den Vertreterinnen der Frauenbewegung sowie im linksalternativen Milieu. Vor allem bei den 20- bis 35-Jährigen pluralisierten sich die Formen des Zusammenlebens, da diese Altersgruppe die verschiedenen Formen des unverheirateten und verheirateten Zusammenlebens verstärkt ausprobierte. Somit multiplizierten sich vorrangig in dieser Alterskohorte die Handlungsoptionen, wohingegen die familialen Praktiken in den vor- und nachgelagerten Lebensabschnitten homogen blieben. Insofern kann zwölftens von einer sanften Pluralisierung der Familie im 20. Jahrhundert gesprochen werden, die für ein kleines soziales Milieu und eine bestimmte Altersgruppe charakteristisch war, sich aber bereits vorsichtig in den 1920er Jahren gezeigt hatte. Die hier skizzierten Veränderungen hatten weitreichende Folgen: Sie prägten das Verständnis von Familie in Deutschland während des frühen 21. Jahrhunderts maßgeblich. Nachdem sich die rechtlichen Rahmenbedingungen und auch das Sprechen über Familie umfassend geändert und zugleich die sozialen Praktiken zumindest partiell verschoben hatten, verbreitete sich in Deutschland seit den 1970er Jahren ein inkludierendes Familienverständnis. Familie wird infolgedessen im frühen 21. Jahrhundert mehrheitlich über die Eltern-Kind-Beziehung definiert. So gelten nach jüngsten Umfragen verheiratete und unverheiratete heterosexuelle Paare mit Kind(ern), alleinerziehende Mütter bzw. Väter mit

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Kind(ern), aber mittlerweile auch gleichgeschlechtliche Paare mit Kind(ern) als eine Familie.1 Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen familialen Lebensformen, dass sie wie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl eine soziale Institution als auch ein individuell ausgestaltetes Beziehungsgefüge darstellen, deren Bedeutung auf der gesellschaftlichen und individuellen Ebene stets neu verhandelt werden muss.

1

Vgl. exemplarisch Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (Hg.), Familienleitbilder, 10.

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Quellen- und Literaturverzeichnis 1 Ungedruckte Quellen Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP) CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag (08-001) CDU/CSU-Fraktion AK IV (08-005) CDU-Bundespartei (07-001) CDU-Bundesgeschäftsstelle (07-004) Frauenvereinigung und Europäische Frauen-Union (04-003) Nachlass Albert Burger (01-290) Nachlass Bruno Heck (01-022) Nachlass Elisabeth Schwarzhaupt (01-048) Nachlass Elisabeth Pitz-Savelsberg (01-176) Nachlass Franz-Josef Wuermeling (01-221) Zeitungsausschnittsammlung (0-002-I Eherecht; 0-060-8 Familienpolitik)

Archiv für Christlich-Soziale Politik (ACSP) Druckschriften – CSU-Programme, Wahlen (D 3) Druckschriften – Frauen Union (D 4) Druckschriften – Schriften der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (D 12)

Stiftung Archiv der Deutschen Frauenbewegung (AddF) Nachlass Elisabeth Selbert (NL-P-11)

Archiv des Liberalismus (ADL) Sozialpolitischer Bundesausschuss und Sozialpolitisches Referat (A 6) FDP-Bundeshauptausschuss (A 12) FDP-Bundestagsfraktion (A 49) Nachlass Liselotte Funke (N 73) https://doi.org/10.1515/9783110651010-010

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) Protokolle der SPD-Bundestagsfraktion, dritte bis achte Wahlperiode SPD-Parteivorstand, Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF) Zeitungsausschnittsammlung (ZASS-I; ZASS-II DW 2; ZASS-III 12 Familie)

Archiv des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung (ADW) Allgemeine Sammlung (Allg. Slg.) Central-Ausschuss für Westfalen (CAW) Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werkes (HGSt) Referat Straffälligenhilfe und Gefährdetenfürsorge (CA Gf/S)

Archiv Grünes Gedächtnis (AGG) Die Grünen im Bundestag 1983–1990 (BII)

Archiv des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) Mabry, Hannelore/Bayerisches Archiv der Frauenbewegung (ED 900) Verein für Fraueninteressen (ED 898)

Archiv des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) Geschäftsführender Ausschuss (2202) Kommission 4: Ehe und Familie (2306) Vollversammlungen (3214)

Bundesarchiv Dienststelle Berlin (BArch Berlin): DDR Amt für Jugendfragen (DC 4) Ministerium für Gesundheitswesen (DQ 1) Ministerium für Justiz (DP 1) Oberstes Gericht der DDR (DP 2) Staatssekretär für Kirchenfragen (DO 4)

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Ungedruckte Quellen

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Bundesarchiv Dienststelle Berlin (BArch Berlin): Deutsches Reich Auswärtiges Amt (R 901) Deutsche Arbeitsfront (NS 5) Partei-Kanzlei der NSDAP (NS 6) Reichsjustizministerium (R 3001) Reichskanzlei (R 43) Reichslandbund (R 8034 II)

Bundesarchiv Dienststelle Koblenz (BArch Koblenz) Bundeskanzleramt (B 136) Bundesministerium für Familie und Jugend (B 153) Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit (B 189) Bundesministerium für Justiz (B 141) Deutscher Familienverband (B 195) Institut für Demoskopie Allensbach (ZSg. 132)

Bundesarchiv – Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch) Demokratischer Frauenbund Deutschlands, Bundesvorstand (SAPMO-BArch DY 31) SED-Bestand, Abteilung Frauen des ZK 1945–1962 (SAPMO-BArch DY 30/IV 2/17) SED-Bestand, Abteilung Frauen des ZK 1963–1971 (SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/17) SED-Bestand, Abteilung für Staats- und Rechtsfragen des ZK (SAPMO-BArch DY 30/IV 2/13) SED-Bestand, Arbeitsgruppe Kirchenfragen des ZK (SAPMO-BArch DY 30/IV 2/14) SED-Bestand, Büro Ingeborg Lange im ZK (SAPMO-BArch DY 30/IV 2/2.042) SED-Bestand, Protokolle des Politbüros des ZK (SAPMO-BArch DY 30/J/IV 2/2)

Deutsches Tagebucharchiv (DTA) Bestand DTA

Evangelisches Zentralarchiv (EZA) Kirchenkanzlei der EKD (EZA 2) Bevollmächtigter des Rates der EKD am Sitz der Bundesrepublik Deutschland (EZA 87) Konferenz der Evangelischen Kirchenleitung. Geschäftsstelle (EZA 102)

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Frauenforschungs-, -bildungs- und Informationszentrum (FFBIZ) Ehe, Familie, Partnerschaft BRD, Graue Materialien, Zeitungsausschnittdokumentationen (A Rep. 400 BRD)

Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages 1. EheRG (VII/415) Reform des Gesetzes zur elterlichen Sorge (VIII/176)

2 Gedruckte Quellen und Literaturverzeichnis 2.1 Quelleneditionen F, Jens/Klaus Saul/Peter-Christian Witt (Hg.), Familienleben im Schatten der Krise. Dokumente und Analysen zur Sozialgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1988. H, William H. (Hg.), Familiengeschichte. Materialien zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, München 1983. L, Ilse (Hg.), Die neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung. 2., aktualisierte Aufl., Wiesbaden 2010. R, Klaus-Jörg (Hg.), Frauen in der Nachkriegszeit 1945–1963, München 1988. S, Werner (Hg.), Die Projekte der Weimarer Republik zur Reform des Nichtehelichen-, des Adoptions- und des Ehescheidungsrechts, Paderborn, München, Wien, Zürich 1986. S, Werner (Hg.), Familienrechtsausschuß. Unterausschuß für eheliches Güterrecht, Berlin, New York 1989. S, Werner (Hg.), Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus. Ausgewählte Quellen zu den wichtigsten Gesetzen und Projekten aus den Ministerialakten, Paderborn, München, Wien, Zürich 1993. S, Werner (Hg.), Die Reform des Ehescheidungsrechts von 1976. Quellen zum Ersten Gesetz vom 14.6.1976 zur Reform des Ehe- und Familienrechts (Parlamentarische Ausschussprotokolle – Anglikanische Denkschrift von 1966 zur Scheidungsrechtsreform – Schlussabstimmung 1969 in der Eherechtskommission des Bundesministeriums der Justiz), Frankfurt am Main 2007.

2.2 Gedruckte Quellen (anonym) . . . wer dem Schein nicht traut, in: Der Spiegel H. 42 (1988), 53–60. Abschied vom Mythos der Mutterbindung, in: Der Spiegel H. 11 (1980), 38–55. Baby-Baisse: Staat im Schlafzimmer. Bevölkerungspolitik soll die westdeutsche Geburtenrate wieder in die Höhe treiben, in: Der Spiegel H. 13 (1977), 68–78.

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Gedruckte Quellen und Literaturverzeichnis

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Begründung [des Diskussionsentwurfs], in: Bundesministerium der Justiz (Hg.), Diskussionsentwurf eines Gesetzes über die Neuregelung des Rechts der Ehescheidung und der Scheidungsfolgen, Bonn, August 1970, 27–187. Bericht der Bundesregierung über die Lage der Jugend und über die Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe gemäß § 25 Abs. 2 des Gesetzes für Jugendwohlfahrt vom 11. August 1961 (BGBl. I, S. 1206), Bonn 1965. Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft, Bonn 1966. Bericht der Sachverständigenkommission, in: Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit (Hg.), Zweiter Familienbericht. Familie und Sozialisation. Leistungen und Leistungsgrenzen der Familie hinsichtlich des Erziehungs- und Bildungsprozesses der jungen Generation. Erster Teil: Stellungnahme der Bundesregierung. Zweiter Teil: Bericht der Sachverständigenkommission, Bonn 1975, 9–185. Bericht der Sachverständigenkommission der Bundesregierung. Zusammenfassender Bericht, in: Die Lage der Familien in der Bundesrepublik Deutschland. Dritter Familienbericht. Bericht der Sachverständigenkommission der Bundesregierung. Zusammenfassender Bericht, Bonn 1979, 20–78. Betr.: Unterausschuß „Familien- und Eherechtsreform“, in: Informationen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion. 5. Februar 1974. Bundesrat blockiert neues Scheidungsrecht. Die CDU/CSU-Mehrheit der Ländervertretung will im Vermittlungsausschuß weitgehende Änderungen durchsetzen/Vogel wirft der Union Streben nach „Beibehaltung des Status quo im Regelfall“ vor, in: Süddeutsche Zeitung. 31. Januar 1976. Das Modellprojekt „Tagesmütter“ – Abschlußbericht der wissenschaftlichen Begleitung. I. Das Modellprojekt „Tagesmütter“ – Chance oder Risiko für die Entwicklung von Kleinkindern? II. Vergleichende Untersuchungen zum Modellprojekt „Tagesmütter“ – Tagesbetreuung für Kleinkinder in den Einrichtungen der Jugendhilfe, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1980. Das Problem der kinderreichen Familie – seine sozial-hygienische und bevölkerungspolitische Bedeutung. Entschließung des Ärztl. Bezirksvereins München-Stadt vom 3. April 1930, in: Landesverband Bayern im Reichsbund der Kinderreichen Deutschlands zum Schutze der Familie e. V. (Hg.), Wie die Familie – so das Volk. Die kinderreiche Familie im Lichte der Eugenik. Zwei Vorträge gehalten von den Herren Professor Dr. Friedrich Zahn-München, Präsident des Bayer. Statistischen Landesamtes, und Prof. Dr. Hermann Muckermann, Leiter der Abteilung Eugenik am Kaiser Wilhelm Institut in Berlin/Dahlem, auf der Großen Kundgebung des Landesverbandes Bayern der Kinderreichen Deutschlands zum Schutze der Familie am 6. April 1930 in München, München [1930], 7–8. Das zerrüttete Prinzip, in: Der Spiegel H. 27 (1961), 14–17. Der Gesetzgeber hat die „Ehen“ ohne Trauschein im Sozialrecht anerkannt. Bundessozialgericht vor einer schwierigen Entscheidung, in: Handelsblatt 17. März 1988. „Die älteren Herren tun sich hart“, in: Der Spiegel H. 27 (1987), 22–24. Die Lage der Familien in der Bundesrepublik Deutschland. Dritter Familienbericht. Bericht der Sachverständigenkommission der Bundesregierung, Bonn 1979. Die Lage der Familien in der Bundesrepublik Deutschland. Dritter Familienbericht. Bericht der Sachverständigenkommission der Bundesregierung. Zusammenfassender Bericht, Bonn 1979.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik, in: Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade). Fünfter Jahrgang, Nr. 6 1938, Frankfurt am Main 1980, 641–655. Die „Rolle des Mannes“ und ihr Einfluß auf die Wahlmöglichkeiten der Frau. Eine empirische Untersuchung des Instituts für angewandte Sozialwissenschaft (infas), Bonn-Bad Godesberg, bearbeitet von Wolfgang Burkhardt und Heiner Meulemann, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1976. Dritter Teil. Die Vertretertagung. Darin: Erste Gruppe: Ethisch-religiöse Aufgaben, in: Sekretariat des Lokalkomitees (Hg.), Die 68. Generalversammlung der Deutschen Katholiken zu Freiburg im Breisgau, 28. August bis 1. September 1929, Freiburg im Breisgau 1929, 76–86. Ehe, in: Der Grosse Brockhaus in zwölf Bänden. Achtzehnte, völlig neubearbeitete Aufl. Dritter Band DAN–FEH, Wiesbaden 1978, 327–329. „Ein großes Maß an Heuchelei“. Hanna-Renate Laurien (CDU) und Herta Däubler-Gmelin (SPD) über Ehen ohne Trauschein, in: Der Spiegel H. 21 (1988), 45–57. Einleitung, in: Nichteheliche Lebensgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart u. a. 1985, 6–8. Entwicklung der Familien nach Zahl und Struktur, in: Wirtschaft und Statistik 2 (1972), 86–92. Entwurf für ein Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, vorgelegt von der Grundsatzkommission der CDU, in: Richard von Weizsäcker (Hg.), CDUGrundsatzdiskussion. Beiträge aus Wissenschaft und Politik. Originalausgabe, Gütersloh 1977, 247–288. Familie, in: Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie. Dreizehnte, vollständig umgearbeitete Aufl. Mit Abbildungen und Karten. In sechzehn Bänden. Sechster Band. Elektricität–Forckenbeck, Leipzig 1883, 557–558. Familie, in: Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden. Fünfzehnte, völlig neubearbeitete Aufl. von Brockhaus’ Konversations-Lexikon. Sechster Band F–Gar, Leipzig 1930, 50–51. Familie, in: Der Grosse Brockhaus. Sechzehnte, völlig neubearbeitete Aufl. in zwölf Bänden. Dritter Band D–Faz, Wiesbaden 1953, 763–764. Familie, in: Brockhaus Enzyklopädie in zwanzig Bänden. Siebzehnte, völlig neubearbeitete Aufl. des Grossen Brockhaus. Sechster Band F–GEB, Wiesbaden 1968, 48–49. Familie, in: Der Grosse Brockhaus in zwölf Bänden. Achtzehnte, völlig neubearbeitete Aufl. Dritter Band DAN–FEH, Wiesbaden 1978, 633–634. Familie, in: Der Neue Brockhaus. Lexikon und Wörterbuch in fünf Bänden und einem Atlas. Siebente, völlig neubearbeitete Aufl. Bd. 2. El–I, Wiesbaden 1984, 120–121. Familie, in: Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden. Neunzehnte, völlig neu bearbeitete Aufl. Siebenter Band EX–FRT, Mannheim 1988, 92–95. Familie, in: Brockhaus. Die Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden. Studienausgabe. Zwanzigste, überarbeitete und aktualisierte Aufl. Siebter Band: EW–FRIS, Leipzig, Mannheim 2001, 95–99. Familie, in: Herders Konversations-Lexikon. Dritter Band: Elea bis Gyulay. Dritte Aufl., Freiburg im Breisgau 1904, 410.

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Gedruckte Quellen und Literaturverzeichnis

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Familie, in: Der Grosse Herder. Nachschlagewerk für Wissen und Leben. Dritter Band: Drehachse bis Geopolitik. Fünfte, neubearbeitete Aufl. von Herders Konversations-Lexikon, Freiburg 1957, 782–783. Familie, in: Meyers Lexikon. 8. Aufl. In völlig neuer Bearbeitung und Bebilderung. Dritter Band Deutsch Filehne–Fernspiel, Leipzig 1937, 1286–1288. Familienbilder. Familienministerin Lehr irritiert die Union mit Vorschlägen zur Betreuung von Kleinkindern, in: Herder Korrespondenz 43 (1989), 104–105. Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965, in: Kanzlei des Staatsrates der DDR (Hg.), Ein glückliches Familienleben – Anliegen des Familiengesetzbuches der DDR. Familiengesetzbuch der DDR und Einführungsgesetz zum Familiengesetzbuch der DDR sowie Auszüge aus der Begründung und der Diskussion zum Familiengesetzbuch in der 17. Sitzung der Volkskammer der DDR vom 20. Dezember 1965 und der 22. Sitzung des Staatsrates der DDR vom 26. November 1965, Berlin (Ost) 1965, 113–169. Frau und Gesellschaft (II), A. Bericht der Kommission vom 29.8.1980, in: Deutscher Bundestag. Presse- und Informationszentrum (Hg.), Frau und Gesellschaft (II). Bericht 1980 der Enquete-Kommission und Aussprache 1981 im Plenum des Deutschen Bundestages, Bonn 1981, 10–80. Frau und Gesellschaft (II), B. Aus der öffentlichen Anhörung vom 5. bis 7.9.1979, in: Deutscher Bundestag. Presse- und Informationszentrum (Hg.), Frau und Gesellschaft (II). Bericht 1980 der Enquete-Kommission und Aussprache 1981 im Plenum des Deutschen Bundestages, Bonn 1981, 81–218. „Fristenscheidung perfekt“. Arbeitskreis der deutschen Bischöfe verurteilt Eherechtsreform, in: Frankfurter Rundschau. 10. März 1975. Günstiger Verlauf, in: Der Spiegel H. 51 (1978), 67–70. Gutachten von Friedrich Günther, in: Werner Schubert (Hg.), Familienrechtsausschuß. Unterausschuß für eheliches Güterrecht, Berlin, New York 1989, 66–69. Gutachten von Georg Neithardt, in: Werner Schubert (Hg.), Familienrechtsausschuß. Unterausschuß für eheliches Güterrecht, Berlin, New York 1989, 83–104. Gutachten von Justus Wilhelm Hedemann, in: Werner Schubert (Hg.), Familienrechtsausschuß. Unterausschuß für eheliches Güterrecht, Berlin, New York 1989, 73–75. Gutachten von Walter Buch, in: Werner Schubert (Hg.), Familienrechtsausschuß. Unterausschuß für eheliches Güterrecht, Berlin, New York 1989, 63–66. Häufig überfordert, in: Der Spiegel H. 19 (1981), 94–97. Heile Welt, in: Der Spiegel H. 10 (1974), 122–124. Höffner kritisiert Eherechtsreform. Kölns Kardinal sieht die menschliche Gesellschaft bedroht, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung. 23. Januar 1974. Jahn gegen „Ehe auf Zeit“, in: Frankfurter Neue Presse. 9. November 1970. Katholische Stellungnahme zur Reform des Scheidungsrechts, in: Herder Korrespondenz 24 (1970), 173–177. Katholische Stellungnahme zur Scheidungsreform, in: Herder Korrespondenz 25 (1971), 63–65. Kein Gesetz für die „Ehe ohne Trauschein“. Bundesjustizminister Engelhard: Regelung würde zu eheähnlichem Zustand führen, in: Süddeutsche Zeitung. 26. April 1988.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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Ortsregister Aachen, 254 Altona, 159 Amberg, 246

Kiel, 158, 159, 249 Koblenz, 25 Köln, 140, 149, 159

Baden, 154 Bayern, 52, 135, 140, 154 Berlin, 25, 44, 51, 61, 64, 74, 94, 95, 101, 112, 113, 136, 139, 147–149, 154, 157, 164, 175, 181, 187, 188, 242–244, 261– 264, 268, 271, 273, 275, 351, 361, 363, 367, 414, 415, 417, 418, 444, 454, 460, 485, 487 Brandenburg, 326, 351, 497 Bremen, 154, 204 Breslau, 145, 162

Leipzig, 28, 149, 476 London, 147 Los Angeles, 147 Lübeck, 154

Celle, 245 Dänemark, 171 Danzig, 159 Darmstadt, 287, 295, 300, 301 Den Haag, 389 Dessau, 254 Duisburg, 159 Düsseldorf, 159, 245, 484 England, 145, 384 Erfurt, 351 Essen, 143, 159, 220, 265, 306, 423, 457 Frankfurt am Main, 44, 94, 110, 126, 444 Frankreich, 190, 201, 447 Freiberg in Sachsen, 245, 246 Freiburg im Breisgau, 191, 192 Gelsenkirchen, 159 Graudenz, Westpommern, 253 Großbritannien, 201 Halle (Saale), 351 Hamburg, 34, 44, 95, 149, 151, 154, 179, 262, 279, 286, 318, 392, 411, 444 Hannover, 159, 415 Hessen, 154, 271, 286

München, 112, 135, 149, 235, 242, 254, 444, 447 Münster, 48, 374, 444 Neubrandenburg, 351 New York, 147 Niederlande, 384, 389 Niedersachsen, 154, 286 Norwegen, 171 Nürnberg, 135, 208, 254 Österreich, 53, 232, 239, 241 Ostpreußen, 154 Pinneberg, 403 Polen, 249, 384 Preußen, 51, 72, 73, 129, 152, 153, 155, 156, 158 Ruhrgebiet, 45, 262 Russland, 82, 83, 143, 145–147, 165, 173, 174, 186, 190, 193, 204, 205, 269 Schweden, 171, 389, 446 Schweiz, 171 Sowjetunion, siehe Russland Stockholm, 389 Stuttgart, 109 Suhl, 351 Tschechoslowakei, 171, 384 USA, 143, 145–147, 165, 177, 180, 184–186, 190, 193, 196, 201, 203–205, 217, 447

Jugoslawien, 384

Vereinigte Staaten von Amerika, siehe USA

Kalifornien, 384 Karlsruhe, 245, 434

Westfalen, 35, 179, 208, 211 Wurzen, 204

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Personenregister Adam, Karl, 191, 192 Adam-Schwaetzer, Irmgard, 420 Adenauer, Konrad, 296 Albers, Helene, 179, 180 Albers, Willi, 431 Altstötter, Josef, 258 Anquetil, George, 190 Augspurg, Anita, 63 Barth, Georg, 163 Baum, Marie, 66, 98, 100, 104, 105, 107, 193 Bäumer, Gertrud, 27, 51, 65, 76, 98, 110 Baumert, Gerhard, 27, 183, 269, 270, 286, 287, 294, 300–302, 307, 308, 322–325, 349, 350 Bebel, August, 42, 43, 46, 49, 55–61, 81, 89, 374 Becker, Walter, 314, 412 Beck-Gernsheim, Elisabeth, 11 Bell, Daniel, 19 Bell, Johannes, 161, 162, 168, 175, 176 Benda, Ernst, 390, 391 Benjamin, Hilde, 359, 360, 365, 366, 368, 369 Bergdoll, Karin, 419 Bernstein, Alfred, 74 Bertram, Adolf, 162, 163, 167, 168 Beyerle, Konrad, 92 Birckhahn, Erna von, 173, 174 Blasius, Dirk, 33, 151, 152, 158, 241, 242, 244 Blüm, Norbert, 377, 454, 455 Böckle, Franz, 374, 427 Böhler, Wilhelm, 289, 315 Böhme, Alfred, 194 Bormann, Martin, 218 Bösch, Frank, 379 Bosch, Friedrich Wilhelm, 313–315, 384, 385 Bowlby, John, 436, 448 Brandis, Ernst, 238 Brauksiepe, Aenne, 329, 372 Braun, Lily, 61 Buch, Walter, 223, 224 Buchow-Homeyer, Charlotte, 189, 190 Budde, Gunilla, 38, 39, 43, 292

Burgdörfer, Friedrich, 75, 98, 133–142, 148, 149, 155, 201, 220 Burger, Albert, 343, 344, 377, 450 Burgess, Ernest W., 183 Buske, Sibylle, 17, 32, 380 Calker, Fritz van, 236 Calverton, Victor Francis, 190 Carstens, Karl, 400 Conrad, Hermann, 315 Corte, Erna, 108 Cyprian, Gudrun, 445, 446, 449 Daniel, Ute, 33, 74, 75, 82 Dennert, Eberhard, 186, 188 Dibelius, Otto, 164, 173 Diemer-Nicolaus, Emmy, 349, 350, 390 Dienel, Christiane, 69 Dietrich, Otto, 246 Diez, Carl, 175 Doering-Manteuffel, Anselm, 19 Dohm, Hedwig, 49 Dombois, Hans, 314 Dransfeld, Hedwig, 162 Dufhues, Josef-Hermann, 437 Dürr, Hermann, 392, 402 Ehlert, Ursula, 484 Eilers, Elfriede, 405, 426, 470 Engelhard, Hans A., 398, 420, 504 Engels, Friedrich, 42, 43, 49, 55–58, 67, 81, 89, 193, 293, 360, 433 Engelsmann, Robert, 83, 143–146, 149 Ermecke, Gustav, 315 Esser, Hermann, 242, 243 Etzioni, Amitai, 19 Evans, Wainwright, 177 Fiebig, Udo, 406 Focke, Katharina, 372 Frank, Elisabeth, 100, 157, 159 Frank, Hans, 226 Fresenius, Wilhelm, 194 Frevert, Ute, 218 Freytagh-Loringhoven, Axel von, 166–168, 173

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Personenregister Frick, Wilhelm, 206, 207, 232 Frings, Josef Kardinal, 289 Fuchs, Anke, 455 Füllkrug, Gerhard, 76, 77, 79, 128, 145 Funcke, Liselotte, 458 Fürth, Henriette, 65

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Hetzer, Hildegard, 214–216 Hildebrand, Dietrich von, 191 Hille, Barbara, 415, 416 Hilpert, Dagmar, 38 Hirsch, Burkhard, 420 Hirsch, Martin, 389, 392, 397 Hitler, Adolf, 222, 232, 239, 242, 243, 248, 255, 271 Hodann, Max, 181 Hoffmann, Adolph, 187 Höffner, Joseph Kardinal, 376, 423, 426, 451 Hollander, Walther von, 294 Honecker, Erich, 371 Horkheimer, Max, 269 Huber, Antje, 428

Gebsattel, Marie von, 126 Geier, Erna-Maria, 406 Geißler, Heiner, 377, 420, 467, 504 Gestrich, Andreas, 16, 30 Geyer, Anna, 110–112 Geyer, Martin H., 19 Glombig, Eugen, 389, 392 Goebbels, Joseph, 254 Goltermann, Svenja, 274, 275, 281 Grandke, Anita, 460–462, 476 Groß, Walter, 206, 213 Großbölting, Thomas, 295 Grotewohl, Otto, 361 Grotjahn, Alfred, 130, 134, 135, 142 Günther, Friedrich, 225, 235 Gürtner, Franz, 230, 232, 234, 243, 244 Gütt, Arthur, 230

Jahn, Gerhard, 387, 389, 392, 397 Jaide, Walter, 415, 416 Jenninger, Philipp, 451 Joos, Josef, 138 Juchacz, Marie, 111, 166, 169 Jürgens, Hans Wilhelm, 378

Haarer, Johanna, 214 Haff, Karl, 238 Haffner, Sebastian, 402, 438 Hagemann, Karen, 34, 93, 117, 123, 179, 180 Hamm-Brücher, Hildegard, 420 Harmsen, Hans, 119, 120, 134, 140–142, 145, 148, 194, 437 Harsch, Donna, 21, 38 Hasinger, Albrecht, 406 Hassenstein, Bernhard, 447, 448 Hävernick, Walter, 411 Heck, Bruno, 329, 372 Hedemann, Wilhelm, 225 Heigert, Hans, 428 Heineman, Elizabeth, 35, 36 Heinemann, Gustav, 380 Heinemann, Rebecca, 34, 91, 94, 112 Heinen, Anton, 125, 128, 131, 184 Hellbrügge, Theodor, 305, 447 Hellpach, Willy, 144, 188 Hellwig, Renate, 454, 455 Herlth, Alois, 432 Herzog, Dagmar, 257 Heß, Rudolf, 218, 231, 232, 239, 248, 251

Kahl, Wilhelm, 161, 164, 166, 168–173, 234 Kasper, Rudolf, 265 Kaufmann, Franz-Xaver, 346, 432 Keil, Siegfried, 452 Key, Ellen, 68 Keyserling, Hermann, 180 Kiesinger, Kurt Georg, 303 Kirchhoff, Heinz, 437 Kirstein, Fritz, 124, 129–131 Klages, Helmut, 19 Klein, Viola, 310, 441 Kleinert, Detlef, 420 Klumker, Christian Jasper, 122 Köcher, Renate, 430, 431 Koertgen, Hans-Erich, 343 Kohl, Helmut, 32, 378, 425, 456, 503 König, René, 28, 269, 286, 301, 317, 353, 354, 433 Konrad, Hans, 135, 138, 139, 141, 146 Koschnik, Hans, 494 Kosmale, Arno, 431 Köttgen, Ulrich, 412 Kramer, Nicole, 268 Kraus, Marita, 268 Krische, Paul, 70, 177, 178

Inglehart, Ronald, 12, 19

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Personenregister

Kuller, Christiane, 37, 444 Kundrus, Birthe, 33, 200 Lammers, Hans Heinrich, 243, 255 Landau, Lola, 187 Lange, Helene, 51 Lange, Irene, 461, 476 Laros, Matthias, 190–192, 194 Lehmann, Annegrete, 139 Lehr, Ursula, 392, 433, 448, 456, 464, 472– 474 Leicht, Johann, 176 Leithoff, Horst, 411, 412 Leitner, Ute, 428 Lenin, Wladimir I., 360 Lenz, Carl-Otto, 398, 400, 408 Leo III., Papst, 58 Lepsius, Renate, 397, 398, 405 Lhotzky, Heinrich, 55 Liebsch, Katharina, 438 Lindsey, Ben B., 177, 180–189 Löhr, Brigitte, 317, 418, 419 Lüders, Else, 66 Lüders, Marie-Elisabeth, 160, 167, 168, 170–172, 302 Lüscher, Kurt, 432, 465 Malthus, Thomas Robert, 145 Mann, Thomas, 43 Männle, Ursula, 420 Marcuse, Max, 180 Marx, Karl, 42, 43, 49, 55–58, 67, 81, 360 Marx, Wilhelm, 163, 174 Mausbach, Joseph, 48, 71, 92, 142, 191 Mayreder, Rosa, 49, 62, 63, 177, 182, 186 Merkel, Ina, 292 Mertens, Lothar, 381 Merz, Georg, 83, 127, 128 Metz-Göckel, Sigrid, 27 Meyer, Sibylle, 28, 260, 263, 275, 276, 286, 325, 501 Meyhöfer, Rita, 317, 418, 419 Mikat, Paul, 385, 394, 398, 400 Milkert, Felix, 71, 72, 76, 81, 83, 111 Miller-Kipp, Gisela, 217 Mitterauer, Michael, 18, 31, 445, 457 Möbius, Paul Julius, 59, 60, 62, 63 Moeller, Robert G., 17, 35–38, 285 Mollenhauer, Kurt, 464 Morath, Michael, 447

Moses, Julius, 74 Mößmer, Ferdinand, 199, 223–228, 230, 231, 233, 235–238 Mouton, Michelle, 35, 158, 166, 208, 242 Muckermann, Hermann, 140, 143 Müller, Johannes, 60, 62 Müller, Ursula, 27 Müller-Lyer, Franz, 67–71, 73, 81, 193 Münch, Eva Marie von, 402, 403 Munk, Marie, 167, 168, 177 Murawski, Friedrich, 193 Musil, Robert, 53 Myrdal, Alva, 310, 441 Nadig, Friederike, 288, 290 Namgalies-Treichler, Christel, 419 Nave-Herz, Rosemarie, 28, 88, 89, 385, 410 Neidhardt, Friedhelm, 18, 464 Neithardt, Georg, 225 Neuberger, Josef, 395 Neubert, Rudolf, 299, 312, 440 Neumann, Vera, 274 Nickel, Horst, 484 Niehuss, Merith, 35, 36, 340, 358 Niemeyer, Annemarie, 119, 148 Niemeyer, Frank, 496 Niemeyer, Johannes, 426 Niethammer, Lutz, 11, 267 Noelle-Neumann, Elisabeth, 430 Obertreis, Gesine, 359 Oertzen, Christine von, 33, 309, 438 Pechstein, Johannes, 447 Pfeil, Elisabeth, 27, 304, 305, 308, 311, 472 Pfleger, Joseph, 166 Pflüger, Friedbert, 467 Pflüger, Paul, 76, 77, 79 Pfülf, Antonie, 168–170, 172 Pieper, August, 125, 126 Pitz-Savelsberg, Elisabeth, 436, 437 Pius XI, Papst, 192 Planck, Gottlieb, 54, 55 Planert, Ute, 60, 63, 178, 180 Plothow, Anna, 54, 64 Pöggeler, Franz, 464 Pross, Helge, 27, 345, 378, 404, 464, 473, 479–483, 488, 494, 499 Quarck, Max, 92

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Personenregister Racke, Josef, 48, 59, 63 Radbruch, Gustav, 160 Rahden, Till van, 30, 31, 316, 460 Raphael, Lutz, 19 Ratzka-Ernst, Clara, 66 Reagan, Ronald, 384 Reventlow, Fanny zu, Gräfin, 62 Riehl, Wilhelm Heinrich, 42, 43, 46–49, 56–58, 67, 78, 144, 149, 193, 325, 433 Rodnick, David, 269, 271 Roegele, Otto B., 343 Rölli-Alkemper, Lukas, 37, 295, 317, 423 Rosa Luxemburg, 75 Rosenbaum, Heidi, 116, 117 Rosenberg, Alfred, 202 Rosenfeld, Kurt, 168, 171, 172 Ruhl, Klaus Jörg, 33 Russe, Hermann-Josef, 437 Russell, Bertrand, 182 Rüstow, Alexander, 437 Sachse, Carola, 33 Salomon, Alice, 27, 51, 66, 98–102, 104, 105, 108, 111, 113, 116–118, 120, 122, 148, 157, 271 Savigny, Friedrich Carl von, 224 Schaffner, Bertram, 269–271, 277 Schaumberg, Hanna, 112 Scheffler, Erna, 392 Schelsky, Helmut, 27, 90, 267, 269, 279–281, 286–288, 298, 307, 308, 313, 317, 318, 320, 328, 433, 459 Schetter, Rudolf, 175 Schirach, Baldur von, 207 Schirmacher, Käthe, 53 Schlipköter, Gustav, 194 Schmidtchen, Gerhard, 429 Schmidt-Klevenow, Kurt, 237 Schmitt-Wenkenbach, Barbara, 472 Schmitz, Maria, 109 Schneewind, Klaus A., 413, 414, 417 Schneider, Norbert F., 18, 455 Schneider, Ute, 38, 357, 358 Schöfer, Sophie, 11, 103, 104, 106, 111, 177, 179, 187, 196 Schoppe, Waltraud, 420 Schreiner, Helmuth, 142, 188 Schubnell, Hermann, 344, 345, 431, 445, 464, 495

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Schulze, Eva, 28, 260, 263, 275, 276, 286, 325, 501 Schumacher, Henny, 106, 112, 113 Schumann, David, 37 Schwab, Dieter, 385, 400 Schwarz, Hedwig, 185 Schwarzer, Alice, 377 Schwarzhaupt, Elisabeth, 349, 383, 390 Schweitzer, Rosemarie von, 431 Seegers, Lu, 280 Selbert, Elisabeth, 288 Sieder, Reinhard, 31, 220, 457 Sinzheimer, Hugo, 92 Sommerkorn, Ingrid, 438 Spengler, Oswald, 190 Spitz, René, 447, 448 Spranger, Carl-Dieter, 399 Starhemberg, Fanny, 145 Stark, Anton, 387 Stegmann, Anna Margarete, 166, 167 Steinbacher, Sibylle, 178, 180, 294 Stoiber, Edmund, 420 Strauß, Franz-Josef, 377, 401 Strobel, Käte, 372 Strümpel, Burkhard, 487 Süssmuth, Rita, 420, 431, 445, 453, 494 Süsterhenn, Adolf, 289 Suttner, Bertha von, 49 Tenfelde, Klaus, 78 Tenhumberg, Heinrich, 374 Tetzlaff, Alfred (Ekel Alfred), 457 Theilhaber, Felix A., 187 Thurnwald, Hilde, 271–274, 277–280, 307 Tiling, Magdalene von, 83, 173, 174 Tönnies, Ferdinand, 125 Treber, Leonie, 268 Turowski, Leopold, 384, 407, 426 Usborne, Cornelie, 34 Vaizey, Hester, 35, 36, 209, 210, 261 Velde, Theodor Hendrik van de, 180 Vogel, Angela, 32 Vogel, Bernhard, 374, 452 Vogt, Paul, 151 Volkmar, Erich, 239 Weber, Helene, 163, 172, 175, 188, 288, 289 Weber, Marianne, 51, 64, 65, 191

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Personenregister

Weininger, Otto, 59, 60 Weismann, August, 131 Weskamm, Wilhelm, 361, 362 Wessel, Helene, 288, 289, 342 Westphalen, Friedrich Graf von, 394 Wex, Helga, 454, 467, 493 Wienfort, Monika, 32, 56 Will-Feld, Waltraud, 468 Wirsching, Andreas, 19 With, Hans de, 420 Wittmann, Fritz, 399

Wolf, Julius, 135 Wöste, Wilhelm, 388, 426, 493 Wuermeling, Franz-Josef, 288, 296, 302– 304, 307, 308, 313, 349, 376, 383 Wurzbacher, Gerhard, 27, 270, 303, 317– 325, 328, 433, 445, 446, 449, 459, 488 Zahn, Friedrich, 11, 61, 76–81, 98, 128, 131, 135 Zetkin, Clara, 53, 59, 75, 103 Zietz, Luise, 75

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