328 60 18MB
German Pages XXIII, 561 [565] Year 2020
Poltrum · Rieken · Teischel Hrsg.
Lebensmüde, todestrunken Suizid, Freitod und Selbstmord in Film und Serie
Lebensmüde, todestrunken
Martin Poltrum Bernd Rieken Otto Teischel (Hrsg.)
Lebensmüde, todestrunken Suizid, Freitod und Selbstmord in Film und Serie
Martin Poltrum Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien Fakultät für Psychotherapiewissenschaft Wien, Österreich
Otto Teischel Psychotherapeutische Praxis Klagenfurt, Österreich
Bernd Rieken Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien Fakultät für Psychotherapiewissenschaft Wien, Österreich
ISBN 978-3-662-60521-9 ISBN 978-3-662-60522-6 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Umschlaggestaltung: deblik Berlin Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
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Vorwort Das Thema Suizid wird nicht nur im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie abgehandelt, sondern ebenso in der Weltliteratur, man denke an Shakespeare, in dessen Werk 13 Freitode vorkommen – oder an die Bibel, in der elf Selbsttötungen zu finden sind, und vor allem an den Spielfilm, der sich von jeher für den Topos der Lebensmüdigkeit und Todessehnsucht interessiert. So zählt z. B. das American Film Institute an die 1600 Spielfilme, in denen Suizidhandlungen vorkommen bzw. eine Rolle spielen. Was die wichtigsten Suizidmotive im Spielfilm anbelangt, zeigen Untersuchungen (Stack und Bowman 2011), dass es im Film weniger psychiatrische Erkrankungen sind, die zu einem Selbstmord motivieren, sondern eher soziale Schwierigkeiten und Konflikte wie zum Beispiel Beziehungsabbrüche, Trennungen, Eltern-Kind-Konflikte, Partnerschafts-Probleme, Geldnöte, Einsamkeit, Mobbing und zwischenmenschliche Schikanen, gesellschaftliche Vorurteile gegenüber Ethnien und sexueller Orientierung, Schuld und Scham, welche Film-Protagonisten dazu bringen, sich das Leben zu nehmen. Damit fordert der Film die gängige psychiatrische Lehrmeinung heraus, dass 90 % aller Suizidhandlungen auf dem Hintergrund einer psychischen Störung passieren. Zumindest was die Filmfiguren anbelangt, stimmt diese ungeprüfte und empirisch ja nicht zu belegende Behauptung keinesfalls, da nur ca. 20 % aller Film-Protagonisten sich aufgrund einer psychiatrischen Problematik das Leben nehmen. Neben sozialen Faktoren und Selbstmordhandlungen aufgrund einer psychischen Störung sind weitere Suizidmotive im Film der altruistische Suizid, der Schurken-Suizid, der Suizid in Form eines Selbstmordattentates und der Suizid aufgrund einer terminalen Diagnose oder schweren körperlichen Erkrankung. Die vorliegende Publikation ergänzt und vervollständigt bereits bestehende ältere Arbeiten zum Thema Suizid und Film (siehe die kleine Literaturauswahl unten) durch tiefenhermeneutische Analysen ausgewählter Filme und Serien. Wenn im Buch abwechselnd von Suizid, Selbstmord oder Freitod gesprochen wird, dann geschieht dies in vollem Wissen, dass diese Begriffe unterschiedliche Konnotationen haben – vom neutralen, in medizinischen Kontexten gebräuchlichen Begriff des Suizids, dem moralisierenden Terminus des Selbstmordes bis zum philosophisch verklären Gebrauch des Wortes Freitod. Damit spiegeln diese Begriffe unterschiedliche Zugänge und Ansichten zum Thema wider – Positionen, die im realen Leben und im Film von verschiedenen Akteuren und Protagonisten eingenommen werden. Hinsichtlich der Bewertung des Selbstmords gehen die fachlichen Meinungen weit auseinander. Auf der einen Seite stehen Äußerungen wie jene Erwin Ringels: „Es ist von entscheidender Bedeutung, dass der Selbstmord als das angesehen wird, was er wirklich ist: als eine Krankheit und nicht als eine Lösung oder gar als ein Ideal. Die Ansicht, man sollte jedem Menschen seinen Willen lassen, man sollte ihn also auch durch eigene Hand sterben lassen, wenn es sein Wille sei, ist medizinisch und ethisch gleich irrig.“ (1953, S. 231) Auf der anderen Seite finden sich Ansichten wie etwa die des 2012 verstorbenen Altmeisters der allgemeinen Psychopathologie, Christian Scharfetter (2010, S. 288), der meint: „In unserer Kultur herrscht die Tendenz, jede Suizidhandlung als pathologisch zu werten, sei es als Resultat einer pathologischen Entwicklung, sei es in seiner Assoziation zu psychiatrischen Krankheiten. Das ist falsch. Es gibt auch von Krankheiten, Altersgebrechen oder unheilbaren schmerzlichen Seelenleiden zum
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Vorwort
Freitod getriebene Menschen, die die heutigen Möglichkeiten der Suizidhilfe beanspruchen oder sich alleine töten.“ Zur Frage, worin die Gründe bestehen, warum Filmcharaktere Hand an sich legen und warum nahestehende Bezugspersonen von suizidalen Protagonisten in manchen Filmen Sterbehilfe leisten, möchte die vorliegende Untersuchung beitragen. Wenn da und dort ein Autor der Versuchung unterliegt, eine Filmfigur durch eine psychiatrische Diagnose zu fassen, dann geschieht das stets im Wissen um die Limitation solcher Bemühungen, denn die Minimalforderung an eine psychologisch-psychotherapeutische Diagnostik ist die, dass man mit der zu beurteilenden Person in Interaktion treten kann – was bei Filmfiguren schwer möglich ist. Dennoch sind manche Auffälligkeiten von Filmcharakteren so evident, dass man mit dem Wissen um diese Grenze – zur besseren Verstehbarkeit einer Figur und nicht zuletzt auch aus psychotherapiedidaktischen Gründen – auf diagnostische Etikettierungen zurückgreifen kann. Dass der hier zusammengestellte Sammelband nur eine kleine Auswahl des Topos Suizid in Film und Serie darstellt, ist uns sehr bewusst, zählt doch allein schon der Überblicksbeitrag zum Thema Suizid im frühen Kino 78 Titel im Zeitraum von 1899–1933. Wie viele Filme und Serien insgesamt das Thema Suizid, Selbstmord und Freitod behandeln, kann niemand so genau sagen, da dies niemand mehr überblicken kann. Mit der vorliegenden Publikation möchten wir zur wissenschaftlichen Rezeption unseres Topos beitragen und wünschen viel Freude bei der Lektüre. Martin Poltrum, Bernd Rieken, Otto Teischel Wien, Baden bei Wien und Klagenfurt im Jänner 2020
Literatur Piegler T (2010) Suizid im Film – Eine schwindelerregende Brücke. In: Piegler T (Hrsg) »Ich sehe was, was du nicht siehst«. Psychoanalytische Filminterpretationen. Psychosozial-Verlag, Gießen, S 15–41 Ringel E (1953) Der Selbstmord. Abschluss einer krankhaften psychischen Entwicklung. Eine Untersuchung an 745 geretteten Selbstmördern. Verlag Dietmar Klotz, Frankfurt am Main Scharfetter C (2010) Allgemeine Psychopathologie. Eine Einführung. Thieme, Stuttgart, New York Schmidt KW (2017) Sterbehilfe in (Spiel-)Filmen – Was wird (nicht) gezeigt? Bundesgesundheitsblatt 60:99–107. https://doi.org/10.1007/s00103-016-2474-9 Schwab JT (2008) Selbstmord im Film – Versuch einer dramaturgischen Typologie. In: Schmidt KW, Maio G, Wulff HJ (Hrsg) Schwierige Entscheidungen – Krankheit, Medizin und Ethik in Film. Haag + Herchen, Frankfurt am Main, S 183–198 Sevin B (2009) Suicide films about adolescents. In: Stack S, Lester D (Hrsg) Suicide and the creative arts. Psychology Research Progress Series. Nova Science Publishers, New York, S 79–92 Stack S, Bowman B (2009a) Pain and altruism: the suicides in John Wayne’s films. In: Stack S, Lester D (Hrsg) Suicide and the creative arts. Psychology research progress series, Bd. 2009. Nova Science Publishers, New York, S 93–110 Stack S, Bowman B (2009b) Artist suicide in the cinema. In: Stack S, Lester D (Hrsg) Suicide and the creative arts. Psychology research progress series. Nova Science Publishers, New York, S 213–228 Stack S, Bowman B (2009c) Suicide in movies: gender and choice of suicide method. In: Stack S, Lester D (Hrsg) Suicide and the creative arts. Psychology research progress series. Nova Science Publishers, New York, S 57–62 Stack S, Bowman B (2011) Suicide movies. Social patterns 1900–2009. Hogrefe, Cambridge Stack S, Bowman B (2017) Why men choose firearms more than women: gender and the portrayal of firearm suicide in film, 1900–2013. In: Niederkrotenthaler T, Stack S (Hrsg) Media and suicide. International perspectives on research, theory, and policy. Routledge, Taylor & Francis Group, London New York, S 87–132 Till B (2017) The impact of suicide portrayals in films on audiences: a qualitative study. In: Niederkrotenthaler T, Stack S (Hrsg) Media and suicide. International perspectives on research, theory, and policy. Routledge, Taylor & Francis Group, London, New York, S 762–813
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Inhaltsverzeichnis Vorwort Stummes Sterben – Suizid im frühen Kino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Suizid im frühen Kino (1899-1933) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Dennis Henkel
Selbstmordattentäter Der Missbrauch von „Gottes Wille“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Paradise Now (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Hans-Joachim Maaz
Ein Selbstmordattentat – oder doch Liebe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Alles für meinen Vater (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Jochen Kölsch
Assistierter Suizid, Tötung auf Verlangen, aktive und passive Sterbehilfe „Sie können mich nicht umbringen – ich bin schon seit Jahren tot“ . . . . . . . . . . . 45 Der englische Patient (1996) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Jutta Menschik-Bendele
Liebe und Tod im Meer vereint . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Das Meer in mir (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Jan Philipp Amadeus Aden
„Schöneres Sterben unter Freunden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Die Invasion der Barbaren (2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Dirk Arenz
Jenseits des Lustprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Liebe (2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Bodo Kirchner
Bis dass der Tod uns scheidet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Die Auslöschung (2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Jutta Fiegl
„Lassen Sie mich nicht so lange hier liegen, bis ich die Menschen nicht mehr jubeln höre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Million Dollar Baby (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Martin Poltrum
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Inhaltsverzeichnis
Todeswunsch nach Liebesverlust, Rettung und Heilung durch Liebe „Einsame Sonntage hab ich zu viel verbracht. Heut mach ich mich auf den Weg in die lange Nacht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Ein Lied von Liebe und Tod – Gloomy Sunday (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Julia Heimerdinger
Das leise Drama eines Unsichtbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 A Single Man (2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Gabriela Pap
Grün ist nicht das neue Schwarz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Veronika beschließt zu sterben (2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Nina Arbesser-Rastburg
Der Auftragsselbstmörder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Vertrag mit meinem Killer (1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Tobias Eichinger
Ode ans Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Wilbur Wants to Kill Himself (2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Brigitte Frizzoni
Eine verhängnisvolle Ménage à trois . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Was nützt die Liebe in Gedanken (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Friederike Blümelhuber
Altruistischer Suizid, Schurken-Selbstmord, Freitod des Königs Selbstmord als Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Gran Torino (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Reinhard Skolek
Der Tod kommt beim Filmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Augen der Angst (1960) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Bernd Rieken
„Schwäche, nichts als Schwäche“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Ludwig II. (2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Felix Sommer
Inhaltsverzeichnis
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Jugendliche Selbstmörder, Angehörige von Suizidenten, Freitod aus Schuld und Scham „Todeskampf im Klassenzimmer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Der Schüler Gerber (1981) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Susanne Rabenstein
„Carpe diem – und wenn ich dabei draufgehe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Der Club der toten Dichter (1989) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Hannah Poltrum
Eine Reise zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Der letzte Tango in Paris (1972) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Gerhard Buchinger
Ein außergewöhnlicher Sohn in einer „ganz normalen Familie“ . . . . . . . . . . . . . . 317 Eine ganz normale Familie (1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Sandra Monika Matissek
Die Schande des Unvermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Der Vorleser (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Brigitte Sindelar
Suizid als Folge einer psychischen Störung – Depression, Schizophrenie, Wahn, Bipolare Störung, Sucht und Trauma Drei Frauen, zwei Romane und ein Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit (2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Rainer Gross
Ebbe und Flut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Das weiße Rauschen (2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Herwig Oberlerchner
Das Ich und der Tod. Vom Selbst-Verlust zur Selbst-Werdung . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Der Mieter (1976) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Anna Jank
Die Hinterpforte des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Winterreise (2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Martina Heichinger
Durch die Hölle – Ich bin in Vietnam gestorben! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Die durch die Hölle gehen (1978) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Diana Aguado
Mit dem Mut der Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Das Fest (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Otto Teischel
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Inhaltsverzeichnis
Suizid als Folge sozialer Probleme – Geldsorgen, Einsamkeit, Krankheit und Bilanz eines verpfuschten Lebens Sometimes they don’t come back . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 The Wrestler – Ruhm, Liebe, Schmerz (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Heinz Laubreuter
„Die Hölle, das sind die anderen“ (Sartre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Das Irrlicht (1963) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Günther Wintersteller
Wirkliches Leben als eigenes Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Ist das Leben nicht schön? (1946) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Caroline von Korff
„Wenn Du denkst es geht nicht mehr” (Rilke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Arthur & Claire (2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Tanja Zwiener
Suizid, Selbstmord und Freitod in Serien „Der Mensch beginnt nicht erst beim Abitur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Tod eines Schülers (1981) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Astrid Kathrein
„Smells like teen spirit“? Die mediale Darstellung einer ohnmächtigen Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Tote Mädchen lügen nicht (2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Felicitas Auersperg
Die Gravitation des Selbstmords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 Gravity (2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Paolo Raile
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Über die Autorinnen und Autoren Univ.-Ass. Jan Aden, MSc.
Jan Aden ist Psychologe und seit 2019 Leiter des Instituts für Statistik der Fakultät für Psychologie an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien. Neben seiner Lehrtätigkeit im Bereich der quantitativen Methodenlehre und Differentiellen Psychologie stellt die methodische Beratung bei Forschungsprojekten einen seiner Arbeitsschwerpunkte dar.
Diana Aguado B.A.
Studium der Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien. Derzeit im Magisterstudium. Individualpsychologische Ausbildung nach Alfred Adler und derzeitige Tätigkeit an der Sigmund-Freud-Universitätsambulanz für Psychotherapie. 2017–2018 Betreuung von Kleinkindgruppen sowie von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung bei der Caritas Wien. Mag. Dr. Nina Arbesser-Rastburg
Studium der Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund-Freud-Privatuniversität. Lehrbeauftragte der Sigmund-Freud-Privatuniversität Linz. Als freiberufliche Psychotherapeutin (Individualpsychologie) tätig in der Universitätsambulanz für Kinder und Jugendliche Wieden sowie in eigener Praxis.
Dr. med. Dirk Arenz
Geboren in Bonn, dort nach dem Grundstudium Germanistik und Philosophie aus finanziellen Motiven Wechsel zur Medizin. Nach Lektüre von Kafka und den Expressionisten blieb nur die Psychiatrie als ernstzunehmende medizinische Fachrichtung. Nach erfolglosen Versuchen, an den verschiedenen Kiniken Bonn, Halle, Leverkusen, Köln und Andernach heimisch zu werden, erfolgte 2003 der Wechsel als Chefarzt an das Marien-Hospital Euskirchen. Spezielle Interessen liegen – neben psychiatrischen Aspekten im Film – in der Psychopathologie, Geschichte der Psychiatrie und in forensischen Fragestellungen. Felicitas Auersperg, MSc.
Felicitas Auersperg ist Mitarbeiterin der psychologischen Fakultät der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Psychologie, Experimentalpsychologie, Sozialpsychologie.
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Über die Autorinnen und Autoren
MMag. Dr. Friederike Blümelhuber BA
1967–1973 Studium Chemie und Physik an der Technischen Universität Wien, 1974–1992 AHS Lehrerin in Linz, 1996 Dissertation an der Johannes Kepler Universität Linz zum Thema forensische Suchtgiftanalyse. 1997–2000 Ausbildung zur Profilerin in den USA. 2005–2010 Studium der Psychotherapiewissenschaft, Fachbereich Psychoanalyse, an der SFU Wien. Gerichtsgutachterin im Bereich Kriminologie, Profiling und Psychotherapiewissenschaft. Psychoanalytische Tätigkeit in freier Praxis in Linz und Wien seit 2009. Tätigkeit als Gerichtsgutachterin in Österreich, Deutschland und Italien seit 1992. Dr. phil. Gerhard Buchinger
1960 in Graz geb., Studium der Psychologie und Soziologie in Graz, Klinischer und Gesundheitspsychologe, Psychotherapeut, Absolvent des Medienkundlichen Lehrganges der Universität Graz.
Dr. phil. Tobias Eichinger
Studium der Philosophie und Filmwissenschaft in Erlangen und Berlin (FU). Promotion in Freiburg zu philosophischen und ethischen Fragen der wunscherfüllenden Medizin. Seit 2014 Oberassistent und Lehrkoordinator am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Ziele und Identität der Medizin, ethische Fragen von Enhancement, wunscherfüllender Medizin und Medikalisierung, E-Learning und Einsatz von Videospielen (Serious Moral Games) im Medizinethik-Unterricht sowie die Darstellung von medizinethischen Themen im Film. Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Philosophie (DGPhil) und der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM), dort in den Arbeitsgruppen »ethik learning« und »Medizinethik im Film«. Univ.-Prof. Dr. Jutta Fiegl
Mitbegründerin und Vizerektorin der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien, Dekanin der Fakultät Psychotherapiewissenschaft, Psychotherapeutin (Systemische Familientherapie), Lehrtherapeutin, Klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin; Präsidentin der Vereinigung Österreichischer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten; Mitglied von interdisziplinären Arbeitsgruppen und ExpertInnenkommissionen des Gesundheitsministeriums und der Stadt Wien. Lehrtätigkeit seit 1988. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themen Psychosomatik, Psychoonkologie, Sterilität, Systemische Familientherapie und Ausbildungsforschung.
Über die Autorinnen und Autoren
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Dr. Brigitte Frizzoni
Geschäftsführerin und Dozentin am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich. Studium der Germanistik, Europäischen Volksliteratur und Filmwissenschaft. Publikationen: Action! Artefakt, Ereignis, Erlebnis. Würzburg 2017 (hrsgg. mit I. Tomkowiak, M. Trummer); Erschaffen, Erleben, Erinnern. Beiträge der Europäischen Ethnologie zur Fankulturforschung. Würzburg 2016 (hrsgg. mit M. Trummer); Macher – Medien – Publika. Beiträge der Europäischen Ethnologie zu Geschmack und Vergnügen. Würzburg 2014 (hrsgg. mit K. Maase, C. Bareither, M. Nast); Verhandlungen mit Mordsfrauen: Geschlechterpositionierungen im »Frauenkrimi«. Zürich 2009; Unterhaltung: Konzepte – Formen – Wirkungen. Zürich 2006 (hrsgg. mit I. Tomkowiak). Dr. med. Rainer Gross
Medizinstudium in Wien, Doktor med., Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker (WPV/IPA), 35 Jahre Tätigkeit in der Versorgungspsychiatrie (bis Ende 2015 Primarius/Chefarzt an der Sozialpsychiatrischen Abteilung in Hollabrunn). Aktuell tätig in freier Praxis in Wien (Psychotherapie/Psychoanalyse/Supervision). Publikationen: Der Psychotherapeut im Film (2012 Kohlhammer Verlag); Angst vor der Arbeit – Angst um die Arbeit. Psychische Belastungen im Berufsleben (2015 Verlag Hans Huber); Heimat. Gemischte Gefühle. Zur Dynamik innerer Bilder (2019 Vandenhoeck & Ruprecht) sowie zahlreiche Buchbeiträge. MMag.a Martina Heichinger
Studium der Veterinärmedizin an der Veterinärmedizinischen Universität Wien, Studium der Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien. Lehrbeauftragte der SigmundFreud-Privatuniversität Wien. Eingetragene Psychotherapeutin (Individualpsychologie), berufliche Tätigkeit in eigener Praxis sowie im öffentlichen Dienst der Stadt Wien. Dr. phil. Julia Heimerdinger
Studium der Musikwissenschaft an der Humboldt Universität, Theaterund Filmwissenschaft sowie Psychologie an der Freien Universität Berlin, Abschluss (M. A.) mit einer Arbeit zum Thema Neue Musik im Spielfilm (Saarbrücken 2007). Promotion 2013 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Tätigkeiten als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und am Staatlichen Institut für Musikforschung Berlin, als Dozentin an der TU Hamburg-Harburg und der Universität der Künste Berlin. Seit 2015 Universitätsassistentin (Postdoc) am Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, Filmmusik und Musikästhetik.
XIV
Über die Autorinnen und Autoren
Dr. med. Dennis Henkel
Studium der Medizin, Philosophie, Kunstgeschichte, Theater/Film- und Fernsehwissenschaften an der Universität zu Köln. Aktuell Stationsarzt am Vamed Klinkum in Hattingen, Abteilung für Neurolgie.
Univ.-Ass. Dr. Anna Jank
Studium der Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien. Universitäts-Assistentin und Lehrbeauftragte der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien und Linz und Mitarbeiterin des Instituts für psychoanalytisch-ethnologische Katastrophenforschung. Eingetragene Psychotherapeutin für Individualpsychologie in freier Praxis in Wien. Dr. Astrid Kathrein, BSc MSc
Ausbildung zur Radiologietechnologin in Innsbruck, zur Physiotherapeutin in Wien, Studium der Psychologie in Klagenfurt. War als Physiotherapeutin in verschiedenen Bereichen tätig (Innere Medizin, Orthopädie, Onkologie, Psychosomatik), derzeit Psychologin an der Psychosomatischen Fachklinik Simbach am Inn. Veröffentlichungen u. a.: »Der Körper als Bühne der Seele ‒ Psychosomatik in der Physiotherapie«, Hogrefe 2017. »Überwindung der Essstörung als Weg ins Gleichgewicht. Ein Modell zu persönlichen Entwicklungsprozessen aus Anorexie und Bulimie«, Springer 2019. Dr. univ. med. Bodo Kirchner
Studium der Medizin, Philosophie und Psychologie in Innsbruck. Facharzt für Innere Medizin, Arzt für Allgemeinmedizin, Altersmedizin und Psychosomatische Medizin in Salzburg. Lehranalytiker im Salzburger Arbeitskreis für Psychoanalyse, Leiter der Sektion Psychoanalytisch Orientierte Psychotherapie. Supervisor und BalintGruppen-Leiter. Lehraufträge für: Psychosomatik, Entwicklungspsychologie, Problemgeschichte der Tiefenpsychologischen Schulen, Das Unbewusste in Klinik und Kultur an der Paris-Lodron-Universität und der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg (A). Diverse Publikationen zu Kunst, Kultur, Humor, Psychosomatik und psychoanalytischer Behandlungstechnik; Lyrik: Leichtes Strandgut (poesie 21), Philosophie: Tao-te-King (Nachdichtung zu Lao-Tse bei gutenberg.de).
Über die Autorinnen und Autoren
XV
Prof. Jochen Kölsch
Studium der Kommunikationswissenschaft in München, langjährig Fernsehredakteur für ARD und ARTE. Hon.-Prof. an den Universitäten Regensburg und Tübingen für angewandte Literaturwissenschaft und Dramaturgie, Produzent und Regisseur von Dokumentationen und Spielfilmen. Beschäftigung mit dem Thema Selbstmordattentäter als Reporter für Tagesschau beim Terroranschlag München 1972, produzierte auch Dokumentationen über Terrorismus (u. a. »Die Fremden im Paradies«, ARTE) und Spielfilme (»Das Oktoberfestattentat«, »Die Saat des Terrors«, ARD), führte viele Fernsehgespräche u. a. mit Psychoanalytikern und Historikern. Mag. Caroline von Korff
Studium der Psychologie an der Universität Wien. Gesundheitsund Klinische Psychologin, Psychoanalytikerin in eigener Praxis. Langjährige Tätigkeit als Psychologin im Klinikum Klagenfurt mit den Arbeits- und Interessensschwerpunkten: Suizidalität in der Adoleszenz, Psychosenforschung, gender non konforme Lebensentwürfe bei Jugendlichen, Psychotherapie von schwer traumatisierten Jugendlichen. Seit 2017 Psychotherapeutin im EU-Projekt »Weiter auf dem Weg ...«, das junge Frauen und MigrantInnen der Zielgruppe NEETS im Mädchenzentrum Klagenfurt psychotherapeutisch begleitet. Seit Mai 2019 Therapeutische Leiterin im Psychotherapeutischen Forschungs- und Lehrzentrums der Universität Klagenfurt mit Arbeitsschwerpunkt: Psychotherapie bei Angst und Depression im höheren Alter. Mag. Dr. h. c. Heinz Laubreuter
Psychotherapeut, Gründungsmitglied und Kanzler der Sigmund-FreudPrivatuniversität Wien sowie Vorstand der Wiener Gesellschaft für Psychotherapeutische Versorgung.
Dr. med. Hans-Joachim Maaz
Maaz, Hans-Joachim, Dr. med. geb. 1943 Psychiater, Psychoanalytiker, Autor Vorsitzender des »Choriner Institutes für Tiefenpsychologie und psychosoziale Prävention« Vorstand der »Hans-Joachim Maaz – Stiftung Beziehungskultur« Wichtige Publikationen
»Der Lilith-Komplex« 2003 »Die narzisstische Gesellschaft« 2012 »Das falsche Leben« 2017
XVI
Über die Autorinnen und Autoren
Sandra Monika Matissek, M.A.
Studium der Anglistik und Rechtswissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz (Thema der Magisterarbeit »Identity in Wuthering Heights«). Von 2012 bis 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Büro der Mainzer Landtagsabgeordneten Dorothea Schäfer. Ab 2014 Studium der Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien, derzeit Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision im Fachspezifikum der individualpsychologisch-analytischen Ausbildung nach Alfred Adler. Prof. Dr. phil. Jutta Menschik-Bendele
Diplome in Psychologie und Politologie sowie Promotion als auch Habilitation im Fach Psychologie an der Freien Universität Berlin. Von 1984 bis zu ihrer Emeritierung 2012 o. Univ. Prof. für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse an der Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt/Österreich. Von 2010–2014 dort Vizerektorin für Forschung. Psychotherapeutische Praxis und Lehrbefugnis für Psychoanalyse, Systemische Therapie und Gruppenpsychoanalyse. Publikationen in den Bereichen Psychotherapie, Supervision, Jugend und Gender. Mag. Dr. Herwig Oberlerchner
Mag. phil, Dr. med. univ, MAS, geb. 1964 in Villach, Leiter der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Klagenfurt am Wörthersee. Psychotherapeut (Psychoanalyse), Lehranalytiker beim Salzburger Arbeitskreis für Psychoanalyse. Lehrbeauftragter der Universitäten Graz, Wien und Klagenfurt. Diverse Veröffentlichungen zu den Themen Psychiatrie im Nationalsozialismus, Schizophrenie und Trauma. Im Verlag Wissenschaft und Praxis sind bisher erschienen: Der Kaspar-Hauser-Mythos. Psychoanalytisch orientierte Assoziationen auf den Spuren des rätselhaften Findlings (1999), Propheten. Begegnung mit paranoid schizophrenen Menschen (3. Auflage. 2017) und Thomas Bernhard. Eine Psychographie (2017). Letzte Buchveröffentlichung als Herausgeber: Dem Menschen nah sein. Vom Umgang mit Leiden, Würde und Sterben. Styria: Wien, Graz, Klagenfurt 2014. Mag. Dr. Gabriela Pap MSc.
Studium der Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien, Promotion 2012. Studium der Psychotherapieforschung an der Medizinischen Universität Wien. Stv. Leitung des Fachspezifikums Individualpsychologie an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien, Leitung des ULG Säuglings-, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien. Forschungsschwerpunkte: Traumanalyse, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Aktualität der Individualpsychologie.
Über die Autorinnen und Autoren
XVII
Hannah Poltrum, B.Sc.
Bachelorstudium der Psychologie an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien (SFU). Seit Oktober 2019 Studentin des Masterschwerpunkts der klinischen Psychologie an der SFU.
Univ.-Prof. Mag. Dr. Martin Poltrum
Philosoph, Psychotherapeut, Lehrtherapeut. 2003 Promotion. 2014 Habilitation. Universitätsprofessor für Psychotherapiewissenschaft (PTW) an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien (SFU). Leiter des internationalen Doktoratsstudiums in PTW an der SFU. Lehrtherapeut für Existenzanalyse an der Donau-Universität Krems. Monographien: Philosophische Psychotherapie. Das Schöne als Therapeutikum, Berlin 2016; Musen und Sirenen. Ein Essay über das Leben als Spiel, Berlin 2013; Klinische Philosophie. Logos Ästhetikus und Philosophische Therapeutik, Berlin 2010; Schönheit und Sein bei Heidegger, Wien 2005. Federführender Herausgeber von: Rausch – Wiener Zeitschrift für Suchttherapie und Herausgeber von Sammelbänden. Zuletzt erschien bei Springer:
Poltrum, Rieken (Hg.) Seelenkenner, Psychoschurken. Psychotherapeuten und Psychiater in Film und Serie, Berlin/Heidelberg 2017. Poltrum, Rieken, Ballhausen (Hg.) Zocker, Drogenfreaks & Trunkenbolde. Rausch, Ekstase und Sucht in Film und Serie, Berlin/Heidelberg 2019. Mag. phil. Dr. pth. Susanne Rabenstein
Studium der Germanistik, Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien, Studium der Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien, Psychotherapieausbildung zur individualpsychologischen Analytikerin, Lehranalytikerin und Supervisorin für das Fachspezifikum Individualpsychologie an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien, Psychotherapeutin in freier Praxis. Paolo Raile, Ing. Mag., MSc
studierte Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund-Freud-PrivatUniversität Wien (SFU) und Soziale Arbeit an der Donau Universität Krems. Aktuell absolviert er ein Doktoratsstudium an der Universität Wien. Er ist Psychotherapeut, Sozialarbeiter, Lebens- und Sozialberater, Universitätsassistent an der SFU sowie Gründer und Leiter des Vereins Psychosocialis, der InContact GmbH und der ARGE Triplecare. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die psychosoziale Betreuung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen sowie das Verfassen wissenschaftlicher Abhandlungen in Psycho-, Sozial- und Kulturwissenschaften.
XVIII
Über die Autorinnen und Autoren
Univ.-Prof. DDr. Bernd Rieken
geb. 1955 in Rispelerhelmt (Ostfriesland), Studium der Deutschen Philologie, Geschichte, Politikwissenschaft, Philosophie, Psychologie (LA) und Volkskunde (Europäische Ethnologie) an den Universitäten Mannheim und Wien. 1984–1998 Gymnasiallehrer in Wien, seit 1996 freiberuflicher Psychotherapeut, seit 2006 Lehranalytiker (SFU/IP), 2005 Habilitation für Europäische Ethnologie an der Universität Wien mit einer psychoanalytisch-ethnologischen Monografie zur Katastrophenforschung, 2005–2006 Vertretungsprofessur am Institut für Volkskunde/ Europäische Ethnologie der LMU München, seit 2007 Professor für Psychotherapiewissenschaft (PTW) an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien (SFU) und Leiter des Doktoratsstudiums PTW, des Instituts für Katastrophenforschung sowie des Fachspezifikums Individualpsychologie an der SFU. Univ.-Prof. Dr. phil. Brigitte Sindelar
Studium der Psychologie an der Universität Wien, Promotion 1976, Klinische Psychologin und Psychotherapeutin (Individualpsychologie). Habilitation für Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund-FreudPrivatuniversität, dort tätig als Vizerektorin für Forschung, als Leiterin des Instituts für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie sowie im akademischen Lehrbetrieb und als Lehrtherapeutin für Individual psychologie. Leitung einer psychotherapeutischen und klinisch- psychologischen Praxis (»Sindelar Center«) in Wien gemeinsam mit Mag. Christoph Sindelar. Entwicklung der »Sindelar-Methode« zur Behandlung von Teilleistungsschwächen, Aufbau und Leitung der Behandlungszentren »Schmunzelclubs« für Kinder und Jugendliche in Österreich, Deutschland, Slowakei. Trägerin des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst. Mag. Dr. Reinhard Skolek
Psychotherapeut Analytische Psychologie, Ehrenpräsident und Lehranalytiker der Österreichischen C.G.Jung Gesellschaft, Lehrsupervisor. Ehemaliger Leiter des Zentrums für Psychotherapie und Psychosoziale Gesundheit an der Niederösterreichischen Landesakademie. Seit über dreißig Jahren Ausbildung von Psychotherapeut*innen, Vorträge und Seminare über Kinofilme. Zahlreiche Publikationen zu verschiedenen Themen der Analytischen Psychologie. Dr. Felix Sommer
geboren 1978 in Lörrach. Studium der Rechtswissenschaften sowie der Mittleren und Neueren Geschichte, der Romanischen Sprachwissenschaften und des Öffentlichen Rechts in Heidelberg. Magister Artium 2005. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, Promotion 2009. Nach mehrjährigen Tätigkeiten in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institute for Medical Humanities an der Universitätsklinik Bonn.
Über die Autorinnen und Autoren
XIX
Dr. Otto Teischel
Geboren 1953 in Duderstadt (Kreis Göttingen). Philosoph, Psychotherapeut, Psychoanalytiker und Schriftsteller. Arbeitete als Kleinverleger, Galerist, Buchhändler, Filmkritiker, Dozent in der Erwachsenenbildung und in einer eigenen Philosophischen Praxis. Langjähriger Leiter einer filmtherapeutischen Patientengruppe in der REHA-Klinik für Seelische Gesundheit. Seit 2010 als Psychotherapeut und Psychoanalytiker in eigener Praxis in Klagenfurt am Wörthersee. »Der Mensch zwischen Sucht und Sehnsucht« als Lebensthema und Forschungsprojekt, dem sich auf vielfältige Weise anzunähern versucht wird. Entwurf einer »existenziellen Psychoanalyse« am Beispiel der Filmdeutung. Mag. Günther Wintersteller
Philosophiestudium in Salzburg. Psychoanalytiker und Psychotherapeut in eigener Praxis, sowie aufsuchender therapeutischer Familienbetreuer im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe. Seit 2018 außerdem Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Philosophie (Katholisch Theologische Fakultät) an der Universität Salzburg.
Mag. Tanja Zwiener
Ausbildung zur Buchhändlerin in Berlin, Studium der Philosophie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt/Kärnten, derzeit in Klagenfurt als Buchhändlerin tätig.
XXI
Autorenadressen Jan Philipp Amadeus Aden
Univ.-Prof. Dr. Jutta Fiegl
Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien Freudplatz 1 1020 Wien, Österreich [email protected]
Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien Campus Prater Freudplatz 1 1020 Wien, Österreich [email protected]
Diana Aguado
Malfattigasse 1–5/10/5 1120 Wien, Österreich [email protected] Mag. Dr. Nina Arbesser-Rastburg
Psychotherapeutin Linke Wienzeile 128/17 1060 Wien, Österreich [email protected] Dr. Dirk Arenz
Mersbachweg 9 53881 Euskirchen [email protected] Felicitas Auersperg
Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien Campus Prater, Freudplatz 1 1020 Wien, Österreich [email protected] MMag Dr. Friederike Blümelhuber
Robert-Stolz-Straße 18/28 4020 Linz, Österreich [email protected] Dr. Gerhard Buchinger
Dietrichsteinplatz 5/II 8010 Graz, Österreich [email protected] Dr. Tobias Eichinger
Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte Universität Zürich Winterthurerstrasse 30 8006 Zürich, Schweiz [email protected]
Dr. Brigitte Frizzoni
Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft Universität Zürich Affolternstrasse 56 8050 Zürich, Schweiz [email protected] Dr. Rainer Gross
Freundgasse 2 1040 Wien, Österreich [email protected] Martina Heichinger
Czapkagasse 8/4 1030 Wien, Österreich [email protected] Dr. Julia Heimerdinger
Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Seilerstätte 26 1010 Wien, Österreich [email protected] Dr. Dennis Henkel
Hohenstein 17 42283 Wuppertal [email protected] Univ.-Ass. Mag. Dr. Anna Jank
Zahnradbahnstraße 2/1/3 1190 Wien, Österreich [email protected]
XXII
Autorenadressen
Dr. Astrid Kathrein, BSc MSc
Dr. Gabriela Pap
Beethovenstraße 25/2 9020 Klagenfurt am Wörthersee [email protected]
Individualpsychologie Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien Freudplatz 1 1020 Wien Österreich [email protected]
Dr. Bodo Kirchner
Göllstraße 9 5020 Salzburg, Österreich [email protected] Prof. Jochen Kölsch
Lustheimstr. 2b 81247 München [email protected] Caroline von Korff
Herbertstraße 16 9020 Klagenfurt, Österreich [email protected] Mag. Dr. h. c. Heinz Laubreuter
Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien Campus Prater, Freudplatz 1 1020 Wien, Österreich [email protected] Dr. Hans-Joachim Maaz
Fuchsbergstraße 53 06120 Halle (Saale) [email protected] Sandra Monika Matissek, M.A.
Universitätsambulanz der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien Salztorgasse 5 1010 Wien, Österreich [email protected] Univ.-Prof. Dr. Jutta Menschik-Bendele
Troyerstr. 45 9020 Klagenfurt, Österreich [email protected] Prim. Mag, Dr.; MAS Herwig Oberlerchner
Pfarrplatz 5/II 9020 Klagenfurt, Österreich [email protected]
Hannah Poltrum, B.Sc.
Gumpendorferstraße 76/15 1060 Wien, Österreich [email protected] Univ.-Prof. Mag. Dr. Martin Poltrum
Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien Campus Prater, Freudplatz 1 1020 Wien, Österreich [email protected] Dr. Susanne Rabenstein
PEZZLG 78/3/2 1170 Wien, Österreich [email protected] Paolo Raile
Eichbergstraße 15 2640 Gloggnitz, Österreich [email protected] Univ.-Prof. Mag. DDr. Bernd Rieken
Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien Campus Prater, Freudplatz 1 1020 Wien, Österreich [email protected] Univ.-Prof. Dr. Brigitte Sindelar
Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien Campus Prater, Freudplatz 1 1020 Wien, Österreich [email protected] Dr. Reinhard Skolek
Hochmaisgasse 4/1/3 1130 Wien, Österreich [email protected]
XXIII
Autorenadressen
Dr. Felix Sommer
Günther Wintersteller
Institute for Medical Humanities Universitätsklinikum Bonn Venusberg-Campus 1, Gebäude 44 53127 Bonn [email protected]
Sendlweg 2b Top 5 5020 Salzburg, Österreich [email protected]
Dr. Otto Teischel
Lipizach 37 9065 Ebenthal in Kärnten, Österreich [email protected]
Tanja Zwiener
9020 Klagenfurt, Österreich [email protected]
1
Dennis Henkel
Stummes Sterben – Suizid im frühen Kino Amors Pfeile – Fluch und Segen . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Hypnose, Manipulation und Psychoterror – Der fremdbestimmte Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Tod mit Todesfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Soziale Ächtung, Ehrverlust, Schande . . . . . . . . . . . . . 12 Delinquenz und Konsequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Verlust von Arbeit, Geld oder Status – Der sozioökonomische Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Märtyrertum, Selbstopferung und politischer Protest . . . 14 Krankheit, Wahnsinn und Medikamente . . . . . . . . . . . . 15 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_1
1
Filmplakat Laster der Menschheit. (Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
3
Suizid im frühen Kino (1899-1933) Dennis Henkel
Sein Dasein im Dunkel einer Höhle fristend, mit spärlichen Schatten auf der Wand als einzigem Orientierungspunkt und einen beschwerlichen Aufstieg aus jener Gruft vor sich, um an das Licht der Erkenntnis zu gelangen. Platons Metapher des Höhlenmenschen ist sicher jedem ein Begriff und in diesem Fall besonders passend: Denn obwohl der Stummfilm fast vier Jahrzehnte die Zuschauer in die Kinos strömen ließ, sind Forschungsprojekte zu medizinischen Themen derart rar, dass man sich unweigerlich in der gleichen Situation wie Platons Kunstfigur wiederfindet. Dieser Beitrag möchte Licht in jenes Dunkel bringen und interessierte Leserinnen und Leser bei dem Aufstieg aus jener Höhle begleiten. Wenn Menschen freiwillig aus dem Leben scheiden, ist dies meist Ausdruck endloser Verzweiflung und in seiner Irreversibilität an Schrecken kaum zu überbieten. Solch dramaturgisch kraftvolle Eigenschaften lassen leicht nachvollziehen, weshalb der Freitod für Schriftsteller von Dante über Shakespeare bis Goethe vielfach eine Quelle der Inspiration darstellte. Natürlich gilt dies auch für die Künstler hinter den Lichtspielen der Stummfilmzeit und führt unweigerlich zu einer enorm großen Anzahl von Filmen, die sich dieses Motivs bedienen. Aufgenommen in diese Arbeit wurden nur Produktionen, die entweder einen »medizinischen Unterbau« vorweisen konnten oder für die Suizid dramaturgisch eine entscheidende Rolle spielte. Entscheidend meint, dass die Selbsttötung für die Hauptfigur (oder wichtige Nebenfiguren) ein bedeutsames Ereignis war, sie die Handlung vorantriebt oder eine Peripetie erzeugte bzw. die Klimax bildete. Ein weiteres – auf den ersten Blick kurios erscheinendes – Kriterium bietet der englische Nationaldichter William Shakespeare. Die Häufigkeit suizidaler Figuren in seinem Werk, gepaart mit den schier unzähligen filmischen Adaptionen seiner Dichtungen, würden den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Hier sei auf eine gesonderte Abhandlung zu diesem Thema verwiesen (Ball 1968). Dennoch sind in der Werkliste Beispiele für besonders gelungene Adaptionen aufgeführt (F8, F34, F36 und F44), die bei Interesse einen geeigneten Einstiegspunkt in die Materie bieten. Insgesamt wurden 78 Filme identifiziert und gesichtet (wobei drei verschollene nur rekonstruiert werden konnten), die anhand der Suizidgenese in acht Kategorien eingeteilt und systematisch analysiert wurden. Diese acht Einteilungen umfassen Gründe wie den Liebesschmerz, Fremdbestimmung, Trauerreaktion nach Todesfall, sozialen Gesichtsverlust, Verbrechertum, ökonomisches Elend, die Selbstaufopferung und natürlich medizinische Ursachen. Das Ergebnis richtet sich an interessierte Laien wie Fachkollegen/-innen und möchte Möglichkeiten zum vertiefenden Selbststudium bieten. Eine beigefügte, detaillierte Werkliste soll als Hilfestellung dienen. Den Beginn unseres Aufstiegs liefert ein Topos, den nicht nur jeder kennt, sondern der durch seine Ambivalenz dem Leben sowohl Sinn geben als auch rauben kann: die Liebe. In diesem Sinne: Fiat lux!
4
Stummes Sterben – Suizid im frühen Kino
..Tab. 1.1 Werkliste Fx
Titel
Erscheinungs jahr
Deutscher o. Englischer Titel
Produktionsland
Regisseur
F1
L’affaire Dreyfus
1899
Die Affäre Dreyfus
Frankreich
Georges Méliès
F2
The Burlesque Suicide, No. 2
1902
–
USA
George S. Fleming, Edwin S. Porter
F3
Revolver et absinthe
1902
Revolver und Absinth
Frankreich
Georges Mendel
F4
Le Pendu
1906
Attempted Suicide
Frankreich
Max Linder
F5
Il y a un dieu pour les ivrognes
1908
Wörtl: Es gibt einen Gott für Säufer
Frankreich
Georges Méliès
F6
The Usurer
1910
–
USA
D. W. Griffith
F7
Zweimal gelebt
1912
–
Deutschland
Max Mack
F8
Marc’Antonio e Cleopatra
1913
Die Herrin des Nils (Cleopatra)
Italien
Enrico Guazzoni
F9
Deaths Marathon
1913
–
USA
D. W. Griffith
F10
The Squaw Man
1914
–
USA
Cecil B. DeMille
F11
Cabiria
1914
–
Italien
Giovanni Pastrone
F12
The Avenging Conscience: or »Thou Shalt Not Kill«
1914
–
USA
D. W. Griffith
F13
Cruel, Cruel Love
1914
–
USA
Charles Chaplin
F14
A Fool There Was
1915
–
USA
Frank Powell
F15
The Birth of a Nation
1915
Die Geburt einer Nation
USA
D. W. Griffith
F16
Posle smerti
1915
Nach dem Tode
Russland
Jewgeni Bauer
F17
Intolerance: Love’s Struggle Throughout the Ages
1916
Intoleranz – Die Tragödie der Menschheit
USA
D. W. Griffith
F18
The Ocean Waif
1916
–
USA
Alice Guy
F19
War Brides
1916
–
USA
Herbert Brenon
F20
If My Country Should Call
1916
–
USA
Joseph De Grasse
F21
Stella Maris
1918
–
USA
Marshall Neilan
F22
A Woman’s Fool
1918
–
USA
John Ford
F23
Die Augen der Mumie Ma
1918
–
Deutschland
Ernst Lubitsch
F24
The Homesteader
1919
–
USA
Oscar Micheaux, Jerry Mills
F25
Broken Blossoms
1919
Eine Blüte gebrochen
USA
D. W. Griffith
F26
Anders als die Andern
1919
–
Deutschland
Richard Oswald
F27
Feline Follies
1919
–
USA
Otto Messmer
5
Suizid im frühen Kino (1899-1933)
..Tab. 1.1 (Fortsetzung) Fx
Titel
Erscheinungs jahr
Deutscher o. Englischer Titel
Produktionsland
Regisseur
F28
The Mid-Channel
1920
–
USA
Harry Garson
F29
Hard Luck
1920
Buster Keaton ist nicht totzukriegen
USA
Edward F. Cline, Buster Keaton
F30
Haunted Spooks
1920
Er im Haus des Schreckens
USA
Alfred J. Goulding, Hal Roach
F31
Harakiri
1919
–
Deutschland
Fritz Lang
F32
Ring Up the Curtain
1919
Vorhang hoch
USA
Alfred J. Goulding
F33
Alkohol
1919
–
Deutschland
Ewald André Dupont, Alfred Lind
F34
Romeo und Julia im Schnee
1920
–
Deutschland
Ernst Lubitsch
F35
The Conquering Power
1921
–
USA
Rex Ingram
F36
Hamlet
1921
–
Deutschland
Svend Gade, Heinz Schall
F37
Der Gang in die Nacht
1921
–
Deutschland
F. W. Murnau
F38
The Soul of the Cypress
1921
–
USA
Dudley Murphy
F39
The Ace of Hearts
1921
–
USA
Wallace Worsley
F40
Eldorado
1921
–
Frankreich
Marcel L’Herbier
F41
The Affairs of Anatol
1921
–
USA
Cecil B. DeMille
F42
Never Weaken
1921
Er im Paradies
USA
Fred C. Newmeyer
F43
Der müde Tod
1921
–
Deutschland
Fritz Lang
F44
Othello
1922
–
USA
Dimitri Buchowetzki
F45
Dr. Mabuse, der Spieler
1922
–
Deutschland
Fritz Lang
F46
The Toll of the Sea
1922
–
USA
Chester M. Franklin
F47
The Young Rajah
1922
–
USA
Phil Rosen
F48
Foolish Wives
1922
Närrische Weiber
USA
Erich von Stroheim
F49
Lucretia Lombard
1923
Frauen in Flammen
USA
Jack Conway
F50
A Woman of Paris: A Drama of Fate
1923
Die Nächte einer schönen Frau
USA
Charles Chaplin
F51
Narcotica – Die Welt der Träume und des Wahnsinns
1924
–
Österreich
Leopold Niernberger
F52
Die Nibelungen
1924
–
Deutschland
Fritz Lang
F53
Dante’s Inferno
1924
Die Nacht des Inferno
USA
Henry Otto
F54
Wolfblood
1925
–
USA
George Chesebro, Bruce Mitchell
F55
The Prairie Pirate
1925
–
USA
Edmund Mortimer
6
Stummes Sterben – Suizid im frühen Kino
..Tab. 1.1 (Fortsetzung) Fx
Titel
Erscheinungs jahr
Deutscher o. Englischer Titel
Produktionsland
Regisseur
F56
Stella Dallas
1925
Das Opfer der Stella Dallas
USA
Henry King
F57
Poil de carotte
1925
Rotfuchs
Frankreich
Julien Duvivier
F58
The Temptress
1926
Totentanz der Liebe
USA
Fred Niblo, Mauritz Stiller
F59
Klovnen
1926
Der tanzende Tor
Dänemark
A. W. Sandberg
F60
Six et demi onze
1927
Six and One Half Times Eleven
Frankreich
Jean Epstein
F61
The Scar of Shame
1927
–
USA
Frank Peregini
F62
Children of Divorce
1927
–
USA
Frank Lloyd, Josef von Sternberg
F63
London after Midnight
1927
Um Mitternacht
USA
Tod Browning
F64
Laster der Menschheit
1927
–
Deutschland
Rudolf Meinert
F65
Sadie Thompson
1928
… aber das Fleisch ist schwach
USA
Raoul Walsh
F66
The Crowd
1928
Ein Mensch der Masse
USA
King Vidor
F67
Laugh, Clown, Laugh
1928
Lach, Clown, lach!
USA
Herbert Brenon
F68
Spione
1928
–
Deutschland
Fritz Lang
F69
The Mating Call
1928
–
USA
James Cruze
F70
Geschlecht in Fesseln
1928
–
Deutschland
William Dieterle
F71
The Pace That Kills
1928
–
USA
William A. O’Connor, Norton S. Parker
F72
Zhivoy trup
1929
Das Ehegesetz
Deutschland/ Sowjetunion
Fyodor Otsep
F73
Piccadilly
1929
Nachtwelt
England
Ewald André Dupont
F74
Tagebuch einer Verlorenen
1929
–
Deutschland
G. W. Pabst
F75
Mocny czlowiek
1929
A Strong Man
Polen
Henryk Szaro
F76
Chemi bebia
1929
My Grandmother
Georgien
Kote Mikaberidze
F77
Mutter Krausens Fahrt ins Glück
1929
–
Deutschland
Phil Jutzi
F78
Tôkyô no onna
1933
Woman of Tokyo
Japan
Yasujirô Ozu
Suizid im frühen Kino (1899-1933)
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Amors Pfeile – Fluch und Segen Es mag wenig überraschen, dass die Liebe mit 22 Filmen die Hitliste der Suizidursachen anführt. Liebeskummer ist sicher nahezu jedem Kinogänger bekannt und führt nur in Ausnahmefällen zum Äußersten. Diese »Vertrautheit« bei guter Prognose macht den Herzschmerz zu einer der harmloseren Ursachen. Diese Umstände erklären gleich zwei Auffälligkeiten: Wir treffen relativ viele Komödien in dieser Kategorie an und der Suizidversuch bleibt meist ohne Erfolg. Den Anfang macht der wohl erste große Star der Slapstick-Komödie: Max Linder. In seinem durchaus amüsanten Le Pendu von 1906 wird er schroff von seiner Herzensdame zurückgewiesen und versucht sich vergeblich an einem Baum zu erhängen. Der zum Suizid unfähige Tor sollte sich schnell zu einem Klischee entwickeln, das Komiker in den folgenden Jahren immer wieder aufgriffen (F13, F33). Schnell entstanden aus den simplen und witzigen Suizidszenen Filme, die aneinandergereihte, erfolglose Selbstmordversuche zur wichtigsten Quelle des Gelächters machten (F29, F30, F42). Dieser heitere Einstieg in ein recht ernstes Thema zeigt, wie der Suizid zum festen Repertoire der Witzeschreiber wurde und weitaus mehr vermochte, als Leid, Verzweiflung und Schaudern zu erzeugen. Ein wenig ernster wird es in der bitterbösen Satire Foolish Wives (1922) von Regiegroßmeister Erich von Strohheim. Dieser spielt hier einen gewieften Verführer, der Frauen um den Finger wickelt, um an ihr Geld zu kommen. Eines der Opfer ist seine Haushälterin, die nach unzähligen Heiratsversprechen jede Hoffnung fahren lässt und sich ins Meer stürzt. Strohheim inszeniert diese Szene hochdramatisch: Die Kamera verweilt auf der stürmischen See – in ein tiefes Blau eingefärbt – und bildet das klimatische Moment des Films. Stürmisch war auch die Rezeption des Werks: Der amerikanische Frauen überlistende Europäer rührte stark am Nationalstolz der US-Amerikaner, was erhebliche Kürzungen durch die Zensur zur Folge hatte (Toeplitz 1979, S. 291–292). Ein Rest Komik findet sich in der Groteske Chemi bebia (1929). Der georgische Regisseur Kote Mikaberidze kreierte hier eine außergewöhnlich schräge Parodie über die Bürokratie der Sowjetunion. Ein gekonnter Einsatz der russischen Montage, kühne Kameraarbeit und avantgardistische Überblendungen machen diesen politischen Aufschrei zu einem kurzweiligen aber auch feinsinnigen Spaß. Des Lebens müde werden hier gleich zwei Protagonisten: Ein Vorarbeiter greift zur Schusswaffe, nachdem eine seiner Angestellten seine Avancen abblitzen lässt. Später, nachdem eine andere Figur ihren Job verloren hat, folgt der Versuch sein Leben durch den Strang zu beenden – nur um darauf von seiner Frau durch die spärliche Wohnung geprügelt zu werden. Den Übergang zum ernsten Lichtspiel bietet Charlie Chaplin. Im Jahre 1923 wagte der Komiker einen Exkurs in das handfeste Drama. A Woman of Paris: A Drama of Fate war kein großer Erfolg beim Publikum. Aus heutiger Sicht besticht das Werk aber durch nüchternes Schauspiel, gekonnte Dramaturgie und Authentizität. Die Handlung kreist um eine Frau vom Lande, die im Moloch Paris auf die schiefe Bahn kommt und den begehrten Mann aus der ländlichen Heimat nicht bekommt. Keinen Ausweg sehend, greift die Hoffnungslose zur Waffe. Das Motiv der Urbanisierung und der dadurch aufkeimenden Übel der Großstadt ist ein zentrales Motiv in vielen Filmen dieser Zeit. So inszeniert der impressionistische Regisseur Jean Epstein in dem avantgardistischen Six et demi onze (1927) die Geschichte um ein wohlhabendes Brüderpaar, dessen Jüngerer in selbstmörderischer Absicht zur Waffe greift, weil eine Opernsängerin seiner leid wird. Das pulsierende Nachtleben schadet der Ehe der Protagonistin in The Mid-Channel (1920) auf irreversible Weise. Obwohl ihr Verhalten eigentlich nur eine Konsequenz des unerfüllten Kinderwunsches ist, stürzt sie sich letztendlich hoffnungslos aus dem Fenster. In gleich zwei Adaptionen von »Madame Butterfly«, Harakiri (1919) und The Toll of the Sea (1922), bringt ein amerikanischer Offizier mit Moralvorstellungen industrialisierter Kultur gleich doppelt den Tod ins japanische Dorf. Piccadilly (1929) zeigt wie eine alternde Pariser Tänzerin bereit ist einen Mord zu begehen, weil sie künstlerisch wie im Liebesleben durch eine jüngere Rivalin verdrängt wird, welche wiederum von einem abgewiesenen Verehrer erschossen wird. Im Gerichtssaal spitzen sich
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Stummes Sterben – Suizid im frühen Kino
die dramatischen Ereignisse bis zur Selbsttötung des Schützen zu. Durch den Suizid einer Haushälterin in Tagebuch einer Verlorenen (1929) kommt ein Mädchen auf Abwege. In der Großstadt angekommen, wo nur Geld, Macht und Sex zählen, ist für eine Nebenfigur der Verlust eines erhofften Vermögens Grund genug, aus dem Fenster zu springen. Dann gibt es noch das Klischee des suizidalen Clowns, dem wir später nochmal begegnen werden. In Klovnen (1926) wird ein ambitionierter Zirkusartist in die große Stadt gelockt. Mit Ruhm und Reichtum beginnt die Ehe des Bajazzos zu bröckeln, es kommt zu Untreue, Scheidung, Reue und schlussendlich zum Sprung der ehemaligen Gattin ins tödliche Wasser. Besonders interessant ist The Scar of Shame (1927), dessen Protagonistin Lucretia eine Mitschuld an der Haftstrafe des begehrten Mannes trägt und mit den Worten
RR »God forgive me« Gift trinkt. Was diesen kraftvollen Film besonders macht, ist seine Produktionsgeschichte: Er gehört zu den sogenannten »race movies«, einem Kino von, mit und für Afroamerikaner, welches seine Existenz bis in die 1960er-Jahre fristete, heute jedoch kaum bekannt ist. Grund dafür ist, dass diese Produktionen nicht in Kinos »weißer« Amerikaner aufgeführt wurden. Eine Parallelwelt, für die Regisseur Frank Peregini als Pionier gilt. Aber auch außerhalb der Einflüsse des urbanen Übels finden wir Menschen, die freiwillig aus dem Leben scheiden: Die Prärie in John Fords frühem, verschollenem Western A Woman’s Fool (1918) dient als Kulisse für eine unerwiderte Liebe, die im Gifttod endet. Weiter begegnen wir in den Vororten Ame-
..Abb. 1.2 Unterdrückte Emotionen werden durch symbolische Traumbilder visualisiert. (Aus: Posle smerti (1915). Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Suizid im frühen Kino (1899-1933)
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rikas dem Ku-Klux-Klan, der in The Mating Call von 1928 einen Unschuldigen foltert, welcher durch eine Affäre den suizidalen Tod einer jungen Frau herbeigeführt haben soll. Etwas fantastischer wird es in Fritz Langs großartigem Der müde Tod (1921). Hier wird der Giftbecher als Einstieg ins Reich der Toten genutzt, um einen verstorbenen Geliebten ins Leben zurück zu holen. Die an Orpheus und Eurydike erinnernde Handlungsgrundlage hat Lang in meisterhaft düsteren Bildern auf die Leinwand gebannt, die dem großen Namen des Filmemachers gerecht werden. Eine mythologisch-transzendente Vereinigung mit einer zum Menschen gewordenen Zypresse sucht ein junger Maler in The Soul of the Cypress (1921) und stürzt sich ins Meer. Zum Ende des Abschnitts wollen wir uns einem Film des russischen Pioniers Yevgeni Bauer widmen. Will man einen literarischen Vergleich anbringen, wäre Puschkin wohl der Treffendste: Hochtalentiert, noch tief in der Romanik angesiedelt, bereitete er den Weg für die jungen Wilden, die dem russischen Kino zu Glanz verhelfen sollten. In Posle smerti (1915) verliebt sich ein introvertierter Student in die Bühnendarstellerin Zoia, um nur drei Monate später von ihrem Selbstmord zu erfahren (. Abb. 1.2). Warum sie zum Äußersten griff, erfahren wir durch Wehklagen der Mutter:
RR »Because of unrequired love? My chaste Zoia? That is slander!« Fortan kann er nicht aufhören an sie zu denken. Träume quälen ihn, er halluziniert, leidet unter Alpträumen und beginnt scheinbar seinen Verstand zu verlieren. Er erhält Zoias Tagebuch und versucht sein Trauma durch posthume Ehrung der Verstorbenen zu verarbeiten. Doch die Visionen und Träume lassen ihm keine Ruhe und enden im Herztod des Studenten. Bauer ist hier ein kleiner Geniestreich gelungen. Schauspielerisch überraschend subtil bewegt er die Protagonisten durch gekonnte Planaufnahmen, poetische Schwenks, subtile Kamerafahrten und inszeniert großartige Traumsequenzen. Diese sind dominiert durch bedeutungsschwere Symbolik – wie das fruchtbare Kornfeld, in dem die Träume lokalisiert sind (siehe Posle smerti . Abb. 1.2) –, die psychoanalytische Parallelen erkennen lässt. Der Besessene scheint dem Wahnsinn verfallen, aber es wird nie ganz klar, ob wir uns in einem romantisch-mystischen Märchen um eine wiederkehrende Tote oder in einer Pathografie eines psychisch Kranken befinden. Die Inszenierung des Suizids, in einer Rückblende vorgeführt, ist bemerkenswert: Trauer wird nur durch Tränen in den Augen verdeutlicht und keinerlei Theatralik stört trotz des langsam inszenierten Gifttods. Kurz: Die Poetik des Todes in romantischem Mystizismus.
Hypnose, Manipulation und Psychoterror – Der fremdbestimmte Suizid Tauchen wir ein in eine Welt der Sadisten, Manipulatoren und Misanthropen, die willentlich Mitmenschen in den Freitod treiben. Einem Klischee, das Schule gemacht hat, begegnen wir in dem ersten Film dieser Kategorie: dem Männer verschlingenden »Vamp«. Theda Bara bringt diese Personifizierung des skrupellosen Bösen in A Fool There Was (1915) nicht nur gekonnt auf die Leinwand, ihre Rolle steht sogar im Ruf dieses Rollenschema popularisiert zu haben (Klepper 2005, S. 45). Bara spielt eine gewissenlose Verführerin, welche die Herren der Schöpfung materiell und psychisch aussaugt. Die Haupthandlung erzählt wie der Vamp einen Anwalt alkoholabhängig macht, ausnimmt, erniedrigt und weiter schröpft, um ihn am Ende in einem kataplektischen Zustand zurückzulassen. Ein Suizid wird beim Advokaten nicht explizit inszeniert, aber ein vorheriges Opfer der Sadistin wird beim tödlichen Sprung ins Meer gefilmt. Unter Berücksichtigung der gezielten Zerstörung des Anwalts ist hier Absicht zu unterstellen. Nicht weniger skrupellos geht es in der schon angesprochenen Parallelwelt des afroamerikanischen Kinos zu. Oscar Micheaux – 1924 mit Body and Soul zu kritischem Ruhm gelangt und unter Cineasten
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Stummes Sterben – Suizid im frühen Kino
auch heute noch ein Begriff – war nicht nur der erste afroamerikanische Regisseur, sondern gründete 1918 mit der »The Micheaux Film and Book Publishing Corporation« das erste Produktionsstudio der farbigen Community. Leider gilt sein Erstlingswerk The Homesteader (1919) als wahrscheinlich verschollen. Dennoch kann man eine interessante Instrumentalisierung des Selbstmords ausmachen: Hier malträtiert ein Prediger, dessen Tochter eine für ihn inakzeptable Heirat vollzogen hat, das Pärchen so lange mit einer öffentlichen Schmutzkampagne, bis die Frau zur Verzweiflungstat getrieben wird. Im späten 19. Jahrhundert hatte die Hypnose eine wahre Hochzeit. Der berühmte Nervenarzt JeanMartin Charcot brachte das Thema in aller Munde und selbst Sigmund Freud liebäugelte einige Zeit mit dieser umstrittenen Methode. Es wundert daher kaum, dass berühmte Regisseure, wie z. B. Fritz Lang, diese Thematik in ihre Werke einbauten: In seiner streckenweise expressionistisch gestalteten Verbrechersaga Dr. Mabuse, der Spieler (1922) zeigt er, wie der Super-Verbrecher einen unbequemen Ehemann sich selbst unter Hypnose die Halsschlagadern eröffnen lässt. Eine andere verbrecherische Hinterlist nutzen die Protagonisten im nur als Rekonstruktion erhaltenen London after Midnight (1927). Um eine vollends konfuse Verschwörung mit Vampiren und politischen Machtspielchen zu verschleiern, wird ein Mordopfer mit einer Waffe in der Hand als vermeintlicher Suizident getarnt. Streng genommen gibt es hier also gar keine Selbsttötung. Der Regisseur Tod Browning zeigt in seinem Werk aber wie früh dieses – in Kriminalfilmen endlos strapazierte – Motiv Einzug in die Kinematografie genommen hat.
..Abb. 1.3 Das klimatische Moment des Films: Das herzerwärmende Vater-Sohn-Gespräch. (Aus: Poil de carotte (1925). Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Zurück in realistischere Gefilde bringt uns Julien Duviviers erstaunlicher Poil de carotte (1925). In diesem ergreifenden Werk, welches auch künstlerisch auf hohem Niveau imponiert, wird die Geschichte des rothaarigen Jungen François erzählt (. Abb. 1.3). Der Knabe leidet unter seiner gehässigen Mutter, die den Sprössling grundlos bestraft, züchtigt und demütigt. Dieser Psychoterror geht so weit, dass der Nachwuchs keinen Ausweg mehr sieht: Er versucht sich in einem Wassereimer zu ertränken, später auch zu erhängen. Zwischentitel summieren bruchstückhaft
RR »Die Scheune … ein Balken … ein Seil.« Der sonst recht desinteressierte Vater schafft es zum Schluss mittels eines Vater-Sohn-Gesprächs (siehe Poil de carotte 04), dem Kind wieder Lebenssinn zu geben. Beachtung verdient auch Max Macks Zweimal gelebt (1912). Obwohl der Film stilistisch noch stark in theatralischer Ästhetik verwurzelt ist (Szenenanalyse: 396 Long-Shots, nur 83 Medium Long-Shots und keine Close-Ups), gilt das Werk als einer der Ursprünge des deutschen Autoren- bzw. Kunstfilms (Salt 2002, S. 327 f.). Ein Arzt entwickelt für eine scheinbar tödlich verunglückte Patientin Liebesgefühle.
RR »Einige Tage später … der Arzt hat sich leidenschaftlich in seine Patientin verliebt« kommentiert der Film nüchtern. Als die Angebetete aus ihrem Scheintod erwacht und eine retrograde Amnesie aufweist, entführt der Mediziner die Unwissende und beginnt mit ihr ein neues Leben. Die Traumwelt zerbricht, als das Paar zufällig auf die frühere Familie der Entführten trifft. Mit der Situation vollends überfordert, findet die Frau Ruhe im ewigen Meer. Kein guter Start für das Image der Medizin: Der erste Arzt, dem wir begegnen, treibt seine Patientin in den Selbstmord. Eine Perversion des Heilungsauftrags. Dieser Abschnitt verdeutlicht: Schon im Stummfilm wurde der Suizid gekonnt als Waffe genutzt – auch von Ärzten!
Tod mit Todesfolge In diesem kurzen Abschnitt wollen wir uns vier Filme ansehen, in denen der Tod eines nahestehenden Menschen nicht verarbeitet werden kann. Im Sinne einer übersteigerten Trauerreaktion folgen die Zurückgelassenen in den Tod. Glücklich kann man da den Vater aus Georges Méliès Il y a un dieu pour les ivrognes (1908) nennen. Im Glauben seine Tochter wäre aus dem Fenster gestürzt, versucht der Verzweifelte den Ausweg mittels Pistole und Strang zu nehmen, wird aber durch die quicklebendige Tochter gerettet. Ein später Méliès, der in Sachen Erzähltechnik nicht auf der Höhe der Zeit ist. Weniger erfreulich geht es für Cheng in D. W. Griffiths Broken Blossoms (1919) aus, der seiner Geliebten in den Tod folgt. Der Regisseur entwirft hier das schon bekannte Bild der unerbittlichen Großstadt, malerisch eingefangen, in seiner Atmosphäre an die düsteren Werke Charles Dickens’ erinnernd. Hier fristet man ein einsames Leben, in das Cheng nicht mehr zurück möchte. Mythologischer wird es bei den deutschen Regiemeistern Fritz Lang und Ernst Lubitsch. Lang lässt in Die Nibelungen (1924) den Tod Siegfrieds vorlagengetreu im Suizid der Brünhild enden. Die Augen der Mumie Ma (1918), Lubitschs erster Langfilm, präsentiert Emil Jannings als unerbittlichen Verfolger der entflohenen Ma. Als er diese endlich stellt, bricht sie tot zusammen und Schuldgefühle lassen den Verursacher reuevoll zum Dolch greifen. Wer bei diesem ernsten Werk die später berühmte Ironie des Regisseurs vermisst, kann Spuren davon schon im ersten Zwischentitel finden: »This film had a big budget, that is two palm trees …«. Dafür ein sehenswerter Film!
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Stummes Sterben – Suizid im frühen Kino
Soziale Ächtung, Ehrverlust, Schande Glaubt man Thomas Hobbes, ist unsere Gesellschaft ein schützendes Konstrukt aus Gesetzen und dem Souverän, das den Einzelnen davor bewahrt, sich im anarchischen Naturzustand verteidigen zu müssen. Die folgenden sieben Filme zeigen, wie erbarmungslos dieses schützende Konstrukt sein kann, wenn man die inhärenten Moralvorstellungen nicht erfüllt. Georges Méliès skizziert einen solchen Fall in L’affaire Dreyfus (1899). Hier nimmt sich ein gewisser Colonel Henry, dessen Fälschungen die Dreyfus-Affäre initiierten, das Leben. Im Mikrokosmos der Militärs, wo Ehre und Ansehen Alles zu sein scheinen, ist dieser Gesichtsverlust nicht verkraftbar. Méliès’ Film ist für die Zeit monumental, ein 11-Teiler, der gänzlich ohne die berühmten Tricks des Regisseurs auskommt. Doch dem Werk ist schwer zu folgen, denn es setzt die detaillierte Kenntnis der Dreyfus-Affäre voraus, welche um die Jahrhundertwende eines der heißesten Diskussionsthemen war. Ähnlich rigide Moralvorstellungen finden wir beim Klerus der Zeit. In Sadie Thompson (1928) verliebt sich ein Reformator in eine »gottlose« Frau, was genügt, um die Todsünde von eigener Hand zu begehen. Ähnlich ergeht es einer Figur aus dem Bankwesen in Stella Dallas (1925). Eine Veruntreuung lässt den Banker den Freitod wählen und seine ausgestoßene Frau zieht den Gashahn als Lösung in Betracht. Um das heiße Eisen der Homosexualität drehen sich die folgenden Werke, die durch ihre diametral entgegengesetzten Aussagen das Spaltungspotenzial des Themas widerspiegeln.
..Abb. 1.4 Die tiefe Kameraeinstellung als eines der typischen Markenzeichen des Regisseurs. (Aus: Tôkyô no onna (1933). Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Geschlecht in Fesseln (1928) plädiert für eine Gefängnis-Reform, die Ehegatten ungestörte Besuche ermöglichen soll, um die Gefangenen nicht in die »Abart der Homosexualität« zu treiben. Für das Paar im Film zu spät, die Schande ist zu groß und der Gasherd die einzige Option. Anders als die Andern (1919) hingegen stellt die Homosexualität als Normvariante dar und nutzt den Suizid als Mahnmal für mehr Toleranz. Hier begegnen wir auch dem bekannten Arzt Dr. Magnus Hirschfeld, der die Eltern des Andersartigen beruhigt: die Veranlagung »… ist völlig unverschuldet … eine Variante«. Ein mutiger, starker Film, dessen lange Zensurgeschichte wenig Überraschung hervorruft. Der japanische Tôkyô no onna (1933) ermöglicht uns Einblick in fremde Kulturen (. Abb. 1.4). Hier begeht ein Student Suizid, weil seine Schwester in die (angedeutete) Prostitution geraten ist. Der Bruder als Familienoberhaupt nimmt die Schande der Schwester auf sich und zieht die fatale Konsequenz. Dem Regisseur Yasujirô Ozu ist hier ein mit lyrischer Bildsprache durchzogenes Meisterwerk gelungen. Ozus meditative Inserts, symbolträchtige Mise-en-scènes, zurückhaltende Dramatik und meisterhafte Kameraperspektiven machen den Film zu einem wahren Erlebnis. Über Allem kreist überwachend, wie Geier über dem Kadaver, die argwöhnische Gesellschaft. Der Selbstmord bildet zwar die Klimax, wird aber in einer Selbstverständlichkeit inszeniert, dass man fast von einer suizidalen Gesellschaft sprechen kann. Dieser Eindruck wird intensiviert, als Nebenfiguren die Tat kommentieren. Mit
RR »No need to make a lot of fuss about it« tun sie das zu oft Gesehene ab. Ein früher, aber ausgezeichneter Ozu-Film!
Delinquenz und Konsequenz Rechtliche Konsequenzen können für den gestellten Verbrecher derart erschreckend sein, dass mit dem Tod vorliebgenommen wird. In einer Ära, in der die Todesstrafe noch üblicher war als heute, mag das wenig verwundern. So entgeht der manische Bösewicht aus Fritz Langs Spione (1928) seiner Haftstrafe durch eine Kugel in die Schläfe und auch der Mörder in The Ocean Waif (1916) wählt den »einfachen« Ausweg. Einer anderen Konsequenz entgeht die Protagonistin aus The Prairie Pirate (1925): der drohenden Vergewaltigung. Ähnlich ergeht es Mae Marshs Figur in dem wegen seiner rassistischen Tendenzen berüchtigten The Birth of a Nation (1915). Da der potentielle Vergewaltiger von dunkler Hautfarbe war, wird die Verzweiflungstat durch den Film heroisiert:
RR »Um sie, die die harte Lektion der Ehre gelernt hatte, sollten wir nicht trauern, weil sie die opalenen Tore des Todes bevorzugte« verklärt ein Zwischentitel. Auch die Indianerin aus The Squaw Man (1914) kann aus rassistischen Gründen keinen fairen Prozess für ihren Fall von Nothilfe erwarten und greift zur Pistole. Ein entlaufener Sträfling, der durch den Alkoholismus seiner Gattin in das Verbrechertum gedrängt worden ist, bleibt in Alkohol (1920) lieber seelenruhig in einem brennenden Haus sitzen, als zurück ins Zuchthaus zu gehen. Die letzte »Konsequenz« kommt weniger ernst daher: Otto Messmer lässt seinen berühmten animierten Kater Felix in Feline Follies (1919) Gas inhalieren, weil er eine Streunerin geschwängert hat. Lieber tot als Vater – ein amüsantes Filmchen!
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Stummes Sterben – Suizid im frühen Kino
Verlust von Arbeit, Geld oder Status – Der sozioökonomische Suizid Denkt man an die vielen suizidalen Sprünge aus den Wolkenkratzern der Wall Street, die während des Finanzcrashs 1929 dem »Black Thursday« unter anderem seinen Namen gaben, wundert es wenig, dass auch viele Filmfiguren diesen oder ähnliche Wege wählten. Wir haben schon einige Beispiele kennengelernt (F74, F76) und die Liste von Selbstmorden durch den reinen Verlust von Reichtum ist lang (F35, F53, F58). Vielleicht am spannendsten inszeniert hat dies der impressionistische Filmemacher Marcel L'Herbier. In seinem künstlerisch über jeden Zweifel erhabenen El Dorado (1921) findet sich Sybilla mit Nachwuchs von einem reichen Mann wieder, der fortan nichts mehr von ihr wissen will. In der Gewissheit dem Kind kein Leben in Armut bieten zu müssen, bringt sie sich um, als der Nachwuchs in eine finanziell gesicherte Zukunft blicken kann. Weniger ein Verlust denn ein vorbestehender, sozioökonomisch desolater Zustand bringt die Protagonisten der folgenden Werke ans Äußerste. Dies kann Nebenfiguren betreffen (F41) oder wie in D. W. Griffiths The Usurer (1910) ganze Familien. Dieses kapitalismuskritische Werk zeigt Kreditgeber, die ihre Schuldner durch Wohnungsräumungen derart traktieren, dass verschuldete Familienväter zum Revolver greifen. Ähnlich ergeht es beinahe dem chronisch arbeitslosen Helden aus King Vidors bemerkenswertem Streifen The Crowd (1928), der nur knapp dem Brückensprung widersteht. Ein verzweifelter Aufschrei gegen die Ungerechtigkeit in der Weimarer Republik ist Mutter Krausens Fahrt ins Glück (1929). Durchaus als politische Propaganda zu verstehen, zeichnet der Film den Werdegang einer existenziell verarmten Familie nach, deren Mutter am Ende eine folgenschwere Entscheidung trifft. Fernab von der filmischen Kraft des Werkes haben wir ein Unikum vor uns: Mutter Krausen nimmt die kleinen Kinder ihrer Tochter mit in den Tod. Daher ist dieser Film der einzige Fall eines erweiterten Suizids, welcher aus der Stummfilmzeit zu eruieren war.
Märtyrertum, Selbstopferung und politischer Protest Ob Mönche, die sich aus Protest selbst anzünden, oder Selbstmordattentäter, die ihrer Agenda Aufmerksamkeit verschaffen möchten: Suizid aus mehr als rein persönlichen (also höheren) Beweggründen ist in der Stummfilmzeit keine Rarität und bewegt die Gemüter durch seine drastischen Bilder. Ein gängiges Motiv ist hier der Freitod nach politischem Umsturz, sei es der gescheiterte Usurpator oder der usurpierte Herrscher (F11, F17, F47). Der verschollene Antikriegsfilm War Brides (1916) soll einen Suizid aus politischen Motiven – wohl aus Protest gegen den Ersten Weltkrieg – inszeniert haben. Auch treffen wir hier wieder den suizidalen Clown, gespielt von Lon Chaney in Laugh, Clown, Laugh (1928), der seine Adoptivtochter liebt (und vice versa) und diese mittels geplantem Sturz beim Hochseilakt vor einer Zukunft mit ihm bewahren will (zum Motiv der Selbstopferung siehe auch F21, F62, F72). Erschreckend modern erlebt man Chaney in The Ace of Hearts (1921) als Mitglied einer Selbstmordattentäter-Bande, welches einen Gesinnungswandel erlebt und sich kurzerhand samt der anderen Mitglieder in die Luft jagt. Besonders interessant ist F. W. Murnaus Der Gang in die Nacht (1921). Hier begegnen wir einem Ophthalmologen, der wie in Macks Werk (F7) seinen Heilungsauftrag nicht sehr ernst nimmt. Der erblindete Liebhaber seiner Frau ist nur durch eine Operation zu retten und der Mediziner stellt seine Gattin vor die Wahl:
RR »… töte dich, dann werde ich ihn heilen.« Dass den Worten Taten folgen, hat der verbitterte Arzt nicht erwartet. In seinem Stuhl zusammengesunken sehen wir den Medicus am Ende des Films durch Einsamkeit bestraft. Conrad Veidt besticht hier als blinder Maler!
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Krankheit, Wahnsinn und Medikamente Freilich könnten hier auch die Filme angeführt werden, in denen Ärzte den Suizid verursachen (F7, F37). Da aber diese eher als Privatperson handeln, erscheinen andere Ursachen stimmiger. Den Einstieg in die medizinischen Genesen bewerkstelligen zwei Produktionen, die ihre Figuren an den Rand des Wahnsinns treiben. Wolfblood (1925) lässt einen Forstarbeiter den Realitätsbezug verlieren, als dieser immer stärker dem Glauben erliegt, er würde zum Wolf. Dieser Irrglaube, der quälende Suizidgedanken mit sich bringt, wird zu allem Übel noch von einem befreundeten Mediziner befeuert. Dieser hat ein Auge auf die Ehefrau des vermeintlichen Lykanthropen geworfen. Bevor es aber zum Äußersten kommt, besinnt sich der Arzt und klärt die paranoide Episode fachgerecht auf. Ähnlichem Verfolgungswahn erliegt der Protagonist in The Avenging Conscience: or »Thou Shalt Not Kill« (1914), einer GriffithAdaption von Edgar Allen Poes »The Tell-Tale Heart«. Nach dem Mord an seinem Onkel versinkt der Meuchelmörder immer mehr in Episoden paranoider Halluzinationen. Obwohl ihn niemand wirklich des Mordes verdächtigt, nehmen die krankhaften Zustände zu, bis er unfreiwillig während einer dieser Sinnestäuschungen gesteht. Als Folge erhängt sich nicht nur der psychisch Gepeinigte, sondern auch die Dame, für welche er den Mord beging. Die Gefahr des Medikamentenmissbrauchs bzw. der Überdosierung klären drei Werke aus ganz unterschiedlicher Perspektive auf. Morphium wird im polnischen Mocny czlowiek (1929) durch Injektion ins Herz als klassische Überdosierung in Szene gesetzt. Es trifft einen verarmten Autor, dessen letztes Werk von einem Hochstapler als sein eigenes ausgegeben wird (dieser suizidiert sich am Ende ebenfalls). Etwas verschachtelter muss die Handlung im nur noch fragmentarisch erhaltenen If My Country Should Call (1916) gewesen sein. Eine kardiodepressive Arznei soll hier von einer pazifistischen Mutter missbraucht worden sein, um den Sohn untauglich für den Kriegsdienst zu machen. Als ein Kardiologe den Trick – zum Entsetzen des Sohnes – aufdeckt, greift die Mutter selbst zum überdosierten Medikament. Zum letzten Mal ist ein Pharmazeutikum der Übeltäter in Lucretia Lombard (1923), in dem ein schwerkranker Mann absichtlich die Deckel seiner Medikamente vertauscht. Die Folge ist eine Überdosis des gefährlichen Medikaments, welche ihm die nichtsahnende Ehefrau verabreicht. Wenn man so möchte, eine unfreiwillige Sterbehilfe. Wie heute fehlt es dem Thema nicht an Brisanz: Die pflegende Gattin wird angeklagt und nach einem langen, kräftezehrenden Prozess freigesprochen. Das wohl zentrale medizinische Motiv ist die Sucht. Schon 1902 sehen wir in Revolver et absinthe (sowie in dem amerikanischen, nahezu identischem Remake Burlesque Suicide No. 2 aus demselben Jahr) einen Mann, der seine Suizidmethode zwischen einer Schusswaffe und einem Glas Absinth abwägt. Er entscheidet sich in beiden Fällen für die langsamere Methode des grünen Gebräus. D. W. Griffith bringt uns in Deaths Marathon (1913) eine andere Sucht näher: das pathologische Spielen. Von Griffith in gewohnt hoher Qualität inszeniert, bringt die Sucht den Protagonisten in so starke finanzielle Nöte, dass er sich die sprichwörtliche Kugel gibt. Aber zurück zur Drogensucht. Ein junges Pärchen, in der Großstadt gelandet, verfällt in The Pace That Kills (1928) den Verlockungen des Opiums. Das Unheil nimmt seinen Lauf, als die Drogenkranke schwanger wird und sich verzweifelt ertränkt. Ihr Partner folgt ins ewige Schweigen. Ähnlich ergeht es einer Gouverneursfrau, die im leicht reißerischen Aufklärungsfilm Narcotica (1924) von ihrem Dealer gezwungen wird Drogen zu verkaufen. Doch nachdem ein junger Maler, an den sie das Gift verkaufen muss, beinahe stirbt, nimmt die Getriebene eine Überdosis Morphium. Wie durch ein Wunder überlebt sie und wird in eine Fachklinik eingewiesen. Eine weitere Spielart des Missbrauchs, die zum Klischee geworden ist, finden wir in Laster der Menschheit (1927): den unerbittlichen Leistungsdruck des Showbusiness und den damit verbundenen Missbrauch leistungssteigernder Rauschmittel (. Abb. 1.1, Filmplakat). Asta Nielsen spielt hier eine Opernsängerin, die von ihrem Drogen verkaufenden Manager Mangol – phänomenal gespielt von
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Stummes Sterben – Suizid im frühen Kino
Alfred Abel – zu immer mehr Leistung gepeitscht wird. Das aufputschende Toxikum, mit dem Mangol seine Sängerin »dopt«, scheint Kokain zu sein (auch das Kinoplakat stützt diese Annahme). Verzweifelt resümiert die Süchtige kurz vor der Tat:
RR »Ich will nicht mehr – Alles habe ich seinen Giften geopfert – mein Kind, meinen Mann – mein Heim.« Die Konsequenz vollstreckt die Rastlose mit der Feuerwaffe. Diese leider viel zu selten gesehene Filmperle nimmt den Mythos von Drogenproblemen der Stars und Sternchen vorweg: Berühmtheiten wie Miles Davis, Charlie Parker, Marilyn Monroe, Michael Jackson oder Amy Winehouse werden einem ähnlichen Schicksal zum Opfer fallen – diese Prognose trifft ins Schwarze! Dank famosem Spiel von Nielsen und Abel – flankiert von Werner Kraus’ imponierender Junkie-Darstellung – ist dieses Werk bereit neu entdeckt zu werden.
Diskussion Nachdem wir nun schnellen Schrittes durch 34 Jahre Filmgeschichte und 78 Filme gewandert sind, ist es Zeit kurz inne zu halten und zu sammeln, was uns das platonische Licht gezeigt hat. Zuvor ist anzumerken, dass nicht alle Filme zu jedem erhobenen Parameter klare Darstellungen boten oder einige Werke gleich zwei Suizide bereithielten (z. B. F12, F70 o. F76). Daher sind die Statistiken selten mit der eigentlichen Gesamtzahl n = 78 erhoben. Dem Motiv der Urbanisierung sind wir ein ums andere Mal begegnet und das entworfene Bild war selten schmeichelhaft (z. B. F25, F59, F71). Verdeutlicht man sich die Lebensumstände der Menschen dieser Zeit, ist diese durchweg negative Darstellung wenig verwunderlich. In einer durch die Industrialisierung exorbitant gesteigerten Lebensgeschwindigkeit, in der Maschinen den Takt angaben, war der Puls der Zeit »celer et altus« geworden. Durch den Wegfall des spirituellen Überbaus (man denke an Nietzsche, Freud oder Darwin) und folgenreiche Zäsuren der Zeitgeschichte (der Erste Weltkrieg oder der erste deutsche Versuch einer Demokratie) bröckelte der feste Halt unter den Füßen umso mehr. Diese dystopische Bewertung vermeintlich schillernder Metropolen – den Ballungsgebieten der Geschwindigkeitssteigerung und Säkularisierung – spiegelt somit die schwierige Anpassung an neue Lebensbedingungen wider. Wie stark gesellschaftliche Folgen historischer Ereignisse in die Filmkunst einflossen, unterstreicht folgende Feststellung: Betrachtet man die Erscheinungsjahre, fällt eine deutliche Produktionssteigerung von Suizid-Filmen um die Jahre 1914/15, in den Jahren 1919–21 und um 1928/29 auf (siehe . Abb. 1.5 Diagramm 1). Der erste dieser kinematografischen Selbsttötungsanstiege ließe sich mit dem großen Leid des Ersten Weltkriegs assoziieren, letzterer durch die verheerende Weltwirtschaftskrise zum Ende der 1920er-Jahre. Der Peak um 1920 (+/− 2 Jahre) imponiert durch deutsche Dominanz: Ganze acht der 15 rein deutschen Produktionen tummeln sich in dieser Vierjahresspanne. Ruft man sich die nationalen Nöte (z. B. die Folgen des Versailler Vertrags mit der alliierten Rhein- und Ruhrbesetzung etc.) ins Gedächtnis, ergibt dies auch einen Sinn. Eine naheliegende Konsequenz wäre, hier in Zukunft vom »Deutschen Suizidfilm« zu sprechen. Wechseln wir zu den Produktionsländern. Das Feld führen die USA mit 44 Filmen an. Es folgen Deutschland (15), Frankreich (7), die Sowjetunion (3) sowie Einzel- und Koproduktionen. Diese recht trockene Statistik lässt – neben produktiver Potenz und besseren Archivierungsbedingungen bestimmter Länder – auch eine andere Erhebung richtig interpretieren: Soweit zu eruieren war, stammen 40 von 67 filmischen Selbstmördern aus der Oberschicht. Man könnte hier eine Tendenz erkennen, welche Menschen, die es in der Gesellschaft geschafft haben, eine höhere Wahrscheinlichkeit des Freitods zuspricht als den Mittellosen. Doch die Masse an amerikanischen Werken, die Hollywood-typisch fast immer reiche Leinwandfiguren entwarf, liefert eine schlüssigere Erklärung.
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Suizid im frühen Kino (1899-1933)
9 8 7 6 5 4
Anzahl der Filme
3 2 1 0
1899
1905
1910
1915
1920
1925
1930
1933
Jahr
..Abb. 1.5 Verteilung der Filme nach Erscheinungsjahr (n = 78)
Eine klar positive Darstellung (57/72) charakterisierte fast alle Freitod-Suchenden. Bevor man eine schopenhauersche Idealisierung der Melancholie annimmt, scheint auch hier eine dramaturgische Ursache einflussreicher: Die Figuren sollen Mitleid erregen und – wichtiger noch – als Identifikationsfigur fungieren, was ohne positive Konnotation schlicht unmöglich wäre. Der Arzt bzw. das Gesundheitssystem hingegen werden in einem ambivalenteren Licht porträtiert. Nur zehn Mal kommt der Medicus überhaupt vor, unfähig auch nur einen der Suizide zu verhindern. Wirklich helfend sehen wir die Doctores in drei der sechs positiven Rollen (F26, F51, F67), wirklich Schaden anrichtend dafür in allen vier missbilligenden Darstellungen (F7, F37, F54, F70). Zusammenfassend muss man daher wohl von einem quantitativ leicht positivem, qualitativ aber eher negativem Leinwandimage des Berufsstandes sprechen, was durch die geringe Inanspruchnahme und den marginalen therapeutischen Erfolg unterstrichen wird. Alternative Heilmethoden, sehr prominent im Sucht-Film dieser Zeit (vgl. Henkel 2017, 2019), finden sich nicht. Die »Gesamterfolgsrate« der Selbsttötungen ist hoch (62/75), wobei Männer häufiger als Frauen die Tat versuchen, was als realitätskonform anzusehen ist (Ott 2005). Erstaunlicherweise stammen nur drei der 13 vergeblichen Selbstmordversuche von weiblicher Hand, was wenig Entsprechung zum heutigen Forschungsstand bietet, der Männern durch »härtere Suizide« mehr Erfolg bescheinigt (Universität Münster 2017). Die Motivation der Suizide ist in den einzelnen Unterkapiteln ausgiebig besprochen worden. Erwähnt sei hier aber, dass medizinische Ursachen Platz zwei der Rangliste einnehmen und die Initiatoren mit unter anderem Sucht, Depression und (schizophrener) Paranoia durchaus realistisch gewählt sind. Aber welche Art des »Aus-dem-Leben-Scheidens« bevorzugte der Protagonist des Stummfilms? Schauen wir uns die Top 3 an: Der Sprung aus großer Höhe – ob auf Beton oder ins Wasser – war die beliebteste Methode mit 18 Versuchen. Knapp dahinter (15-mal) reiht sich die Schusswaffe ein, die fast immer von männlicher Hand abgefeuert wurde (12/15). Gifte, Drogen und Medikamente wurden am dritthäufigsten missbraucht, wobei sich besonders beim Gifttod eine weibliche (7/8) Präferenz präsentiert. Andere recht populäre Versuche sind z. B. Gasintoxikation (5-mal), Erdolchen oder das klassische Erhängen (beide 6-mal). Wer nach skurrilen Einzelfällen wie Verbrennung oder Bomben Ausschau hält, bleibt ebenfalls nicht enttäuscht zurück. Skandalös umwitterte Themen bot das stumme
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Stummes Sterben – Suizid im frühen Kino
Kino ebenfalls: einen erweiterten Suizid mit Kinderopfern (F78), eine unfreiwillige Sterbehilfe (F49) sowie einen Selbstmordattentäter, der sich gegen seine eigene fanatische Gruppierung richtet (F39). Zum Abschluss kann die Antwort auf die Frage aufschlussreich sein, ob bestimmte Filmemacher das Thema häufiger strapazierten als andere und wie dies zu erklären ist. Zwei Namen stechen heraus: Fritz Lang kommt fünf Mal als Regisseur vor und D. W. Griffith ist gleich sechs Mal vertreten. Ob man Lang hier eine besondere Affinität zum Thema zusprechen kann, ist fraglich, denn viele der Suizide in seinen Werken sind durch literarische wie mythologische Vorlagen diktiert. Anders gestaltet sich die Einschätzung bei Griffith. Da er selbst an einem der häufigsten Gründe für den Freitod – der Alkoholsucht – litt, muss er die psychischen Zustände seiner Figuren gekannt haben. Eine Auf- bzw. Verarbeitung seines Zustandes durch kreatives Schaffen kann daher angenommen werden. Schließen wir unsere Betrachtung mit einem kurzen Resümee ab: Der klassische Suizident der Stummfilmära war meist männlich, erschoss sich oder sprang aus großer Höhe in den Tod. Schritt das weibliche Pendant zur Tat, bevorzugte dieses ebenfalls den Höhensprung oder vergiftete sich. Die Frau verfehlte bei insgesamt weniger Versuchen jedoch seltener das Ziel. Ursachen waren bei beiden Geschlechtern besonders häufig Herzschmerz, sozioökonomische Umstände und die Einflüsse von Krankheit und Medizin. Die künstlerische Qualität der Lichtspiele rangierte vom einflussreichen Meisterwerk bis zur unbedeutenden Massenware, wobei US-amerikanische Produktionen den Hauptanteil ausmachten. Kulturhistorische Parallelen zeigen auf, wie nationale und internationale Tragödien auf das Kino projiziert wurden und wie das Suizidkino als Spiegel der Gesellschaft fungierte – besonders im »Deutschen Suizidfilm«. Die Frage nach der Relevanz der Heilkunde ergab wenig Schmeichelhaftes: Kaum Inanspruchnahme, wenig therapeutische Potenz, aber bei fast der Hälfte der Auftritte waren die Mediziner (Mit‑)Verursacher des Dramas. Für die ärztliche Prävention bzw. Intervention bei suizidalen Krisen war im frühen Kino somit kein Platz. Und zu guter Letzt: Die Krone des Suizid-Regisseurs der Epoche geht an einen der entscheidenden Entwickler der klassischen Filmsprache: David Wark Griffith – Gratulation!
Literatur Ball RH (1968) Shakespeare on silent film: a strange eventful history. Theater Arts Books, London Henkel D (2017) Die mediale Präsentation von Abhängigkeit im frühen Kino: Ein Streifzug. Rausch – Wien Z F Suchttherapie 6:84–98 Henkel D (2019) Silent Craving. Sucht und Drogen im Stummfilm (1890–1931). Kassel University Press, Kassel Klepper RK (2005) Silent films, 1877–1996. A critical guide to 646 movies. McFarland & Company, Inc., Publishers, London Ott C (2005) Suizidrate bei Männern ist höher als bei Frauen. Forschung und Praxis, ÄrzteZeitung. https://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/neuro-psychiatrische_krankheiten/depressionen/article/349141/suizidrate-maennernhoeher-frauen.html. Zugegriffen: 4. Sept. 2019 Salt B (2002) Der frühe deutsche Film. Stilmerkmale im internationalen Vergleich. In: Kino der Kaiserzeit. Zwischen Tradition und Moderne, S 327–336 Toeplitz J (1979) Geschichte des Films 1895–1928. Roger & Bernhard München, München Universität Münster (2017) Geschlechterunterschiede bei Suizid und Suizidalität. GenderMed-Wiki. https://gendermedwiki.uni-muenster.de/mediawiki/index.php?title=Geschlechterunterschiede_bei_Suizid_und_Suizidalit%C3%A4t/Fachartikel. Zugegriffen: 4. Sept. 2019
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Hans-Joachim Maaz
Der Missbrauch von „Gottes Wille“ Das Drama der Lieblosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Die Krankheit auf der Suche nach dem längst verlorenen Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Die fragwürdige Ehre der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Gewalt ist keine Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Das Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_2
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Filmplakat Paradise Now. (© Constantin Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Paradise Now (2004) Hans-Joachim Maaz
Das Drama der Lieblosigkeit Als Psychoanalytiker will ich nicht die politische Dimension des Nahostkonfliktes besprechen, sondern die Psychodynamik von Gewalt, Terror, Fanatismus, Selbstmord, Manipulation und Erlösung reflektieren. Im Vorspann suggeriert sich der potenzielle Attentäter das geplante Verbrechen als »Gottes Wille«: »Schicksal ist Schicksal. Es gibt keine andere Lösung. Es ist so. Gottes Wille!« So speist sich die Tragödie menschlicher Verstörung aus der Sehnsucht nach »väterlicher« Führung und der Verleugnung persönlicher Verantwortung. »Paradise Now« ist ein Film, der mich erschaudern lässt (. Abb. 2.1, Filmplakat). Auf welchen Irrwegen hoffen Menschen, das »Paradies« zu finden? Welche psychosoziale Not bringt Menschen dazu, durch Gewalt, Terror und Tod Erlösung finden zu wollen? Als Psychiater und Psychotherapeut habe ich viele Patienten kennengelernt, die durch Suizid ihr Leiden beenden wollten. Die meisten können durch Therapie ihren Todeswunsch überwinden lernen, wenn sie Halt in einer Beziehung finden und unterstützt werden, ihre Tendenz zur Selbstverachtung wieder in kritische Auseinandersetzung nach außen zu bringen. Die krasse Metapher, dass ein Selbstmord eigentlich immer ein verhinderter Mord sei, lässt sich oft bestätigen. Es sind meistens Hass bei erlittener Bedrohung und Wut bei erfahrener Kränkung – schon in der frühen Kindheit erlebt – die als Gefühlsstau das Leben belasten und in eine Sackgasse im Erwachsenenleben führen können. Therapie kann Ausgänge finden helfen. In »Paradise Now« sind weder die individuellen Ursachen der (Selbst‑)Mordwut noch die therapeutischen Hilfen berücksichtigt, sondern das verstörende Psychogramm von terroristischen Tätern und ihr politischer Missbrauch stehen im Mittelpunkt. Auch die Tragödie potenzieller Opfer bleibt ausgeblendet.
Handlung Zwei befreundete junge palästinensische Männer – Said und Khaled – werden von einem radikalen, militanten Terrorkommando als Märtyrer ausgewählt. Dass sie ihr eigenes Todesurteil und die tödliche Gewalt gegen unbekannte, beliebige Opfer nicht nur widerspruchslos annehmen, sondern als verpflichtende Ehre und als Weg ins Paradies erleben, wird nicht ausreichend verständlich. Als Motiv für den geplanten Terrorakt wird die Feindschaft gegen Israel als Besatzungsmacht, mit dem in der Folge eingeengten, beschwerlichen und kulturell »langweiligen« Leben im Westjordanland erkennbar. Said hat darüber hinaus ein sehr persönliches Motiv: Er möchte die Ehre seiner Familie retten, nachdem sein Vater als »Kollaborateur« von einer palästinensischen Terrororganisation hingerichtet worden war. Bezeichnenderweise kann auch die reale Liebe zu der Menschenrechtsaktivistin Suha, die für eine friedliche Konfliktlösung steht, Said nicht abhalten, sich eine Hoffnung auf Engel im Paradies einreden zu lassen. Der Plan ist, dass sich zuerst der eine Opfertäter in Tel Aviv in die Luft sprengen soll. Der andere soll noch warten bis viele Menschen und Helfer zusammengelaufen sind, um dann erst die zweite Explosion zu zünden, um möglichst viele Israeli sterben zu lassen. Vor der beabsichtigten Tat wird eine terroristische Videobotschaft produziert, es wird noch ein gemeinsames Essen zelebriert, dann der Sprengstoffgürtel an den Oberkörpern der verpflichteten Attentäter befestigt und unter festlichen schwarzen Anzügen mit weißen Hemden versteckt (. Abb. 2.2). Die Terroristen werden nach Israel durch einen Grenzzaum geschleust, aber wegen einer Militärpatrouille müssen sie ihr Vorhaben abbrechen. Auf der Flucht werden beide getrennt. Said verirrt sich
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Der Missbrauch von „Gottes Wille“
..Abb. 2.2 Khaled lässt sich als »Bombe« präparieren. (© Constantin Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
und läuft damit Gefahr, von den eigenen Leuten liquidiert zu werden, weil er ein Sicherheitsrisiko sein könnte. Khaled und Suha suchen und finden ihren Freund und bringen ihn wohlbehalten zurück. Der missglückte erste Versuch eröffnet einen dramaturgischen Höhepunkt, noch mal über das geplante Attentat nachzudenken. Khaled kommen Zweifel, ob Terror das richtige Mittel sei, die Palästinenser von israelischer Unterdrückung zu befreien, Said aber bleibt fanatisch unbeirrt. Nachdem der zweite Anlauf, nach Tel Aviv zu kommen, gelungen war, will Khaled seinen Freund Said davon überzeugen, die Aktion abzubrechen. Er ruft – wie bei einer Problemlage vereinbart – über Handy ein Auto von Unterstützern, in das Said aber nicht mit einsteigt. Im Film wird dann doch noch eine versteckte menschliche Regung im zur Tat entschlossenen Terroristen Said gezeigt, als dieser ein Kind als potenzielles Opfer in einem Bus sieht und nicht einsteigt, um das geplante Verbrechen zu begehen. Der Film endet dann, indem Said mit starrem, leeren Gesichtsausdruck in einem anderen Bus sitzt und mit einem weißen Licht die Szene abgeschlossen wird. So bleibt es dem Zuschauer überlassen, ob er die Bombe gezündet hat oder nicht. »Paradise Now« gibt mir Stoff für die Themen Liebessehnsucht, familiäre Verhältnisse, Manipulation, Missbrauch, Selbstmord und Terror, die ich auch in einem psychodynamischen Zusammenhang sehe.
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..Abb. 2.3 Said will sich für die »Familienehre« opfern und kann sich seiner Mutter nicht anvertrauen. (© Constantin Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Die Krankheit auf der Suche nach dem längst verlorenen Glück Entwicklungspsychologie, Bindungsforschung, Säuglings- und Kleinkindforschung sowie Hirnforschung haben die Bedeutung der frühen Kindheit für die Persönlichkeitsentwicklung und das spätere psychosoziale Verhalten als Erwachsene überzeugend wissenschaftlich belegt. Der christliche Mythos von der »Vertreibung aus dem Paradies« realisiert sich praktisch in jeder persönlichen Entwicklung eines Menschen. Das »Paradies« ist die absolut sichernde und versorgende Beziehung zur Mutter, deren glückselige Symbiose im Geburtsakt ihr Ende findet. Diese unvermeidbare Trennung ist aber eine gemeinsam zu gestaltende schwierige Aktion, deren Erfolg der Mutter Selbstwert sichert und dem Kind Selbstwirksamkeit als prägende Erfahrung vermittelt. Wir wissen heute, dass die Einstellung zur Schwangerschaft – die Qualität des Kinderwunsches –, der Geburtsvorgang – natürlich oder medizinisch beeinflusst –, die Bereitschaft und Fähigkeit zum Stillen – ausreichend lange und zum Geben bereit –, und die Qualität der elterlichen Erstbetreuung – liebevoll oder defizitär –, die weitere Entwicklung des Menschen entscheidend prägen. Es macht einen großen Unterschied, ob Eltern ihr Kind wirklich wollen, empathisch verstehen und in seinen Bedürfnissen zu befriedigen in der Lage sind. Ein medizinisch nicht zwingender Kaiserschnitt macht die erste Trennungserfahrung zu einem Trauma. Die Qualität der mütterlichen und väterlichen Beziehungsangebote an das Kind entscheidet darüber, ob die Eltern ihre »Frucht« erblühen oder verdorren lassen. So kann das ursprüngliche, aber verloren gegangene »Paradies« zu einem lebenswerten »Garten« oder zur »Hölle auf Erden« gestaltet werden. Der entscheidende Wert ist die Liebe! Liebe heißt dafür zu sorgen, dass es dem Geliebten gut geht und das schließt bei Kindern auch Begrenzung, Konfrontation und Auseinandersetzung zum Wohle des Kindes mit ein. »Paradise Now« zeigt uns nichts von diesen frühen Lebensbedingungen. Nur eine trostlose Landschaft, zerstörte Häuser und eine spürbare soziale Spannung lassen ahnen, dass die familiären Lebens-
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Der Missbrauch von „Gottes Wille“
bedingungen nicht entspannt, froh und liebevoll sind. Aber die Vorstellung von einem augenblicklichen »Paradies jetzt« ist so irrational, dass ein Selbstmord-Attentäter nur als ein psychisch schwerst Beladener in einer destruktiven sozialen Umwelt verstanden werden kann. In einer beziehungsdynamisch intimeren Szene fragt Suha den auserwählten Attentäter Said:
RR »Was machst du in deiner Freizeit? Treibst du Sport? Liest du gern? Gehst du ins Kino?« Und Said versteht gar nicht, um was es seiner möglichen Freundin geht:
RR »Keine Ahnung, nichts. Was meinst du denn?« Er muss zugeben, dass er das einzige Kino mit anderen in Brand gesteckt hatte. Und Suha:
RR »Was hat das Kino euch getan?« Said:
RR »Überhaupt nichts, aber Israel durch die Besatzung …« Und Suhas freundliche Kritik:
RR »Dein Leben ist minimalistisch!«, bringt das Drama der psychosozialen Einengung auf den Punkt. Der Film macht die menschenunwürdige soziale Behinderung in der Westbank erkennbar, nicht aber die Quellen der familiären und entwicklungspsychologischen Verstörung des einzelnen Menschen. Die unerfüllte Liebessehnsucht, die vermeintlich nur noch im Tod gestillt werden kann, wird auch nicht mehr von einer realen PartnerLiebe als erfüllbar erwartet. In der Gestalt der Suha eröffnen sich ja zwei Chancen der »Erlösung« von frühen Defiziten: einerseits partnerschaftliche und sexuelle Liebe und andererseits eine friedliche Konfliktlösung ohne Gewalt. Viele Menschen versuchen in einer Partnerschaft das längst verlorene Mutter-Glück wiederzufinden und sind nach einiger Zeit schwer enttäuscht, weil kein Partner, keine Partnerin die fehlende oder mangelhafte Mutterliebe ersetzen könnte. Mit der Ernüchterung einer Illusion geht dann meistens auch die begrenzte Realliebe einer Partnerschaft verloren. Viele sind dann erstaunt, wie bisherige Liebe in tiefen Hass umschlagen kann, der die Trennung zum Kampffeld macht und die weitere Beziehung vergiftet, was dann leider vorhandene Kinder am bittersten zu spüren bekommen. Dieser Hass wird nur verständlich, wenn die Panik und das Gefühl der Lebensbedrohung eines ungeliebten Kindes realisiert wird, das im Erwachsenenleben keine wirkliche Erlösung gefunden hat. Die frühe narzisstische Kränkung, die die Eltern zu verantworten haben, bekommt jetzt der Partner oder die Partnerin ab. Nicht selten wird der aufgestaute frühe Hass auch politisiert oder sozialisiert auf Feindbilder projiziert. Das Besondere an einem Sündenbock ist in aller Regel, dass sich durchaus reale Fehler, Schwächen oder Verstöße benennen lassen, womit die Aggressionen gegen das Feindbild erklärt werden können, aber der mittransportierte Affektstau aus ganz frühen Kränkungs-Quellen wird dabei übersehen oder regelrecht geleugnet. Ein unstimmiges Verhältnis von begründetem Anlass und der Heftigkeit der hassvollen Reaktion macht auf verborgene Motive aufmerksam. Bei einer Selbstmordabsicht wird man immer nach einer solchen Diskrepanz suchen müssen, um gegenwärtige reale Belastungen von unbewusst gewordenen frühen Traumatisierungen zu differenzieren. Der Selbsttötungswunsch oder die Bereitschaft dazu machen auf eine schwere Kränkung aufmerksam, mit der man sich leider identifiziert hat und keinen Aufstand gegen die Verletzung wagt. Ein (Selbst‑)Mörder war immer zuerst Opfer, bevor er zum Täter wird. Diese Tragik muss verstanden werden und sollte
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medial immer wieder in Szene gesetzt werden. »Paradise Now« leistet diese notwendige Aufklärungsarbeit nicht. Ich kann mir das Ungeheuerliche an einem terroristischen Attentat, das prinzipiell auf Unschuldige gerichtet ist, nur als schwerste seelische Beeinträchtigung – als Krankheit – verständlich machen, wobei individuelle Verstörung durch einen kollektiven politisierten Wahn verstärkt und todbringend missbraucht wird. Das persönliche Unglück eines Täters – das der Film uns vorenthält – wird ideologisiert gegen »Besatzer«, »Ungläubige«, »Feinde« entpersönlicht ausgetragen. Wenn ein durchaus verständliches und berechtigtes Hasspotenzial aus frühesten Beziehungstraumata in einem Rache-Verbrechen aufgelöst und gesühnt werden soll, ist das nicht nur prinzipiell unmöglich, sondern macht das ursprüngliche Opfer zu einem Täter und die eigentlichen Täter der mörderischen Selbstentfremdung – die frühesten Beziehungspersonen und soziale Verhältnisse – bleiben unerkannt und verschont. Die Pauschalisierung eines Feinbildes – hier die Israelis – hilft immer, im politischen Kampf den persönlichen Gefühlsstau aus ganz individuellen Motiven zu verstecken, aber stellvertretend abreagieren zu können. Selbstmordattentäter müssen im höchsten Maße traumatisierte Menschen sein, deren Lebenswert prinzipiell infrage gestellt worden ist und deshalb leicht manipuliert werden können, wenn ihr Verbrechen zu einer Heldentat aufgewertet wird. Man muss dazu annehmen, dass sie noch nie so viel Zuwendung und Aufmerksamkeit erfahren haben wie durch einen potenziellen Märtyrertod, der ein unheimliches Gemisch aus Selbstabwertung und Rachegefühl transportiert. Beide schwerwiegende psychosoziale Störungen sind behandelbar und damit ließe sich persönliches und fremdes Unglück vermeiden. Aber noch wichtiger wäre, dafür zu sorgen, dass die Frühentwicklung der Kinder nicht traumatisiert verläuft, was auch die Grundlage für die Fähigkeit für gewaltfreie Konfliktlösungen wäre.
Die fragwürdige Ehre der Familie Der Terrorist Said wird vor allem durch das Bedürfnis, die Ehre seiner Familie retten zu wollen, angetrieben. Dieses persönliche Motiv dominiert über alle Zweifel, die den Freund Khaled zunehmend plagen. Es wird ein Vater-Sohn-Verhältnis gezeichnet mit einem familiären Ehrbegriff, der der europäischen Kultur fremd ist. Der Vater Saids sei ein »Kollaborateur« gewesen, was als unerklärte Behauptung festgestellt wird. Die Motive des Vaters und sein reales »Verbrechen« bleiben ungeklärt. Dass der Vater auch richtig gehandelt haben könnte und vielleicht bemüht gewesen war, eine Verständigung und friedliche Konfliktlösung zwischen Israelis und Palästinensern unterstützen zu wollen, wird nicht reflektiert. Wir erfahren nur, dass der Vater von den eigenen Leuten als Verräter liquidiert worden ist. Dass der Sohn Said die Ehre der Familie durch das väterliche Verhalten als schwer (tödlich!) verletzt erlebt – weil er irgendetwas mit oder für die Feinde getan hat, bezeugt eine schwere ideologisierte Realitätsverweigerung und einen für mich nicht nachvollziehbaren Ehrbegriff. Dass der Film die kritische Auseinandersetzung mit dem Verhalten des Vaters scheut und eine »Kollaboration«, die den Tod verdient, einfach nur feststellt und weder die »Kollaboration« noch die tödliche Strafe problematisiert, halte ich für eine bedenkliche Schwäche des Films. So bleibt auch der ehrenrettende Antrieb des Sohnes ausgesprochen fragwürdig. Verständlich wäre, wenn Said die Mörder seines Vaters anklagen würde und interessiert wäre, das Verhalten seines Vaters zu verstehen. Wer verletzt die Ehre einer Familie? Der Vater, der offenbar ein kollektives Feindbild verweigert? Die Terrororganisation, die sich zu einer Hinrichtung berechtigt sieht? Der Sohn, der den Vater verurteilt und die Mörder schützt? Ja, noch perverser, der Sohn, der das Verbrechen an seinen Vater durch ein noch größeres Attentats-Verbrechen im Auftrage der Mörder fortführen und vermehren will und den Vater damit vollkommen entehrt? Wir können leider das väterliche Verhalten nicht reflektieren, weil der Film uns dafür keine Inhalte liefert. Aber das Motiv der familiären Ehrenrettung bezeugt eine höchst pathologische Dominanz einer TerrorIdeologie über alle menschlichen familiären Verhältnisse. Und dass der Sohn sich offenbar des Vaters schämt, ohne dessen Beweggründe kritisch zu reflektieren und eine klärende Auseinandersetzung – real
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Der Missbrauch von „Gottes Wille“
zu Lebzeiten oder gedanklich post mortem – zu führen, mag ein Hinweis darauf sein, wie schwierige, sehr belastende soziale und politische Verhältnisse selbst Familien zerstören (. Abb. 2.3). Das ist sicher eine bittere Realität, wie sie durch Verhältnisse, wie im Nahostkonflikt, geschehen kann. Aber eine viel häufigere und persönlichere Tatsache, dass Vater und Sohn sich nicht gut verstehen, wenn der Vater sein Kind ablehnt oder als Konkurrent um die Muttergunst erlebt und daher keine Zeit, kein Interesse für die Entwicklung und Betreuung des Sohnes hat, wird im Film gar nicht berücksichtigt. Das wäre aber für die Rezeption der Motivation des Sohnes von großer Wichtigkeit, weil die berechtigte Enttäuschung über das persönliche väterliche Beziehungsversagen sehr häufig nicht familiär geklärt wird, sondern im gewaltbereiten Sozialverhalten, im ideologisierten Feindbilddenken bis zur Bereitschaft terroristischer Gewalt ausgetragen wird. So gesehen wäre die Verführung Saids durch andere »väterliche« Instanzen ein tragischer und destruktiver Missbrauch, eine unerfüllte oder beschädigte Vatersehnsucht durch Selbstmord und Mordanschlag rächen zu wollen. Politik, Religion, Ideologie und Moral (Ehre) sind immer eine Gefahr, psychosoziale Defizite zu hassvollen Aktionen im Interesse von Macht und Profit zu manipulieren und zu missbrauchen und dabei den Menschen die Chance zu rauben, die Folgen ihrer Frühtraumatisierung zu erkennen und allmählich heilen zu lernen.
Gewalt ist keine Lösung Ich habe einen Witz gelesen, der das männliche Macho-Gehabe, eine fehlgeleitete Testosteron-Kraft auf bezeichnende Weise entlarvt: »Wer eine Mücke auf seinem Hoden sitzen sieht, der begreift, dass Gewalt keine Lösung ist!« Hier wird auf gekonnte Weise Männlichkeit und Gewalt in einen Widerspruch gebracht, der im Film leider nur gestreift wird. Das Leben im besetzten Westjordan-Land wird als kulturell langweilig erwähnt und die mögliche Liebesbeziehung zwischen Said und Suha letztlich als unbedeutend dargestellt. Terror statt Liebe, Jungfrau im »Paradies« statt lustvolle Sexualität in der Gegenwart, perverser kann männliche Potenz nicht gezeichnet werden. Da erhebt sich bei mir die Frage, weshalb der Film mehrfach ausgezeichnet worden ist? Weil diese schwere psychosoziale Störung zur mahnenden Abschreckung dargestellt wird? Oder wird eine politische Propaganda transportiert? Die Produktion eines Propaganda-Videos vor dem geplanten Attentat gerät allerdings fast zu einer kabarettistischen Szene. Die verstörte, aber ernst gemeinte Botschaft:
RR »Ich bin Märtyrer, ich empfange den Tod freudig. Die Kraft ihrer Drohungen werde ich so zunichtemachen und die militärische und politische Tyrannei besiegen … Allah wird uns zum Sieg führen!« wird nahezu konterkariert durch das technische Versagen der aufnehmenden Kamera, sodass die Kampf-Parole wiederholt werden muss und so an Überzeugung verliert (. Abb. 2.4). Der Film bietet eine Dramaturgie im Spannungsfeld zwischen dem seelisch verpanzerten und zum Terrorakt entschlossenen Said, dem zögernden und zweifelnden Khaled, der den Mordanschlag am Ende verweigert, und der weiblichen Tendenz zu einer friedlichen Konfliktlösung in Gestalt der Suha. Die Macht der Suha aber wird degradiert, indem ihr vorgeworfen wird, dass sie keine wirkliche Ahnung von den Verhältnissen habe, da sie gar nicht in den palästinensischen Gebieten leben würde. Die Psychodynamik dieser unterschiedlichen Positionen klärt der Film leider gar nicht: Was begründet eine unbeirrbare Gewalt? Welche seelische Konstellation erlaubt Zweifel an ideologisierter Macht und vermittelt Mut zum Widerstand? Warum werden Frieden und Liebe so abgewertet? Dem Film kann man vorwerfen, dass die Täter sehr menschlich dargestellt werden – sie sind die Helden des Filmes, mit denen man sich identifizieren kann, aber sie werden nicht als »Schurken« charakterisiert, sodass für die Terrorgewalt eine gewisse Akzeptanz suggeriert wird. Würden auch getötete Menschen und zerfetzte Leiber gezeigt, bekäme die Rezeption des Filmes eine andere Richtung. Die spürbare Absicht des Filmes,
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..Abb. 2.4 Lächerliche Propaganda. (© Constantin Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
unerträgliche und ungerechte Lebensbedingungen im Palästinenser-Gebiet als Erklärung für die politische Instrumentalisierung bis zur Terrorgewalt zu benutzen, halte ich für hochproblematisch, vor allem, weil die ganz individuellen Störungen dabei überhaupt nicht berücksichtigt werden. Dazu ist eine Aussage des Regisseurs anlässlich der Berlinale bezeichnend: »Aber ich verurteile die Selbstmordattentäter nicht. Für mich ist das eine sehr menschliche Reaktion auf eine extreme Situation.« Als Psychiater kann ich einen Selbstmord auch nicht verurteilen, aber ich müsste die Fehlentwicklung, die Krankheit und die versäumte Hilfe kritisch ansprechen. Ein Selbstmordattentat aber werde ich immer verurteilen, weil es keine Berechtigung gibt, Unschuldige zu Opfern zu machen und eine »extreme Position« kann niemals eine berechtigte Begründung für Mord sein. Eine eventuell individuelle oder kollektive Notwehrreaktion wird man immer sehr genau und kritisch analysieren müssen. Dazu liefert der Film aber kein Material. »Paradise Now« lässt die Option zur Gewalt offen. Das stört mich sehr. Ich bin überzeugt, dass Gewalt niemals eine wirkliche Lösung sein kann. Auch die jahrzehntelange israelische und palästinensische Gewalt haben zu keiner Verbesserung geführt, aber vielfaches Leid produziert. Die psychotherapeutische Forschung zeigt uns, dass Gewalt kein »Trieb« ist, sondern eine mögliche Reaktion des Menschen bei lebensbedrohlicher Gefahr oder die Folge eines Affektstaus bei schwerer individueller psychosozialer Verletzung und Kränkung sein kann. Wir wissen, dass Palästinenser und Israeli von einer permanenten Existenzbedrohung ausgehen und sie auch situativ durch Politik und Terror real erleben. Damit ist ein Projektionsfeld eröffnet, das für jeden individuell begründeten Hass und für alle Rachegelüste eine Zielfläche bietet. Ich wünschte mir Filme, in der die persönlich-gestörten Motive von Menschen gezeigt werden, die Politik machen oder Attentate verüben, um Erkenntnisse zu vermitteln und kritische Reflexion anzuregen, wie solche Selbstentfremdung von Menschen verhindert werden kann und welche psychosozialen Bedingungen erforderlich sind, dass gewaltfeie Konfliktlösungen möglich werden können.
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Der Missbrauch von „Gottes Wille“
Das Resümee »Paradise Now« ist ein Film, der die unerträgliche Realität der menschlichen Unfähigkeit zur gewaltfreien Lösung von Konflikten inszeniert. Der Hintergrund ist das politische Drama zwischen Israel und den Palästinensern. Auch Politik wird von Menschen gemacht, deren Beweggründe im Film nicht thematisiert werden. Im Terror werden die Folgen politischen Versagens ein hochpathologisches Symptom. Der Film thematisiert den tödlichen, verbrecherischen Missbrauch von zwei Menschen, die für die Verweigerung der Verständigung geopfert werden sollen. Die wesentliche Schwäche des Films sehe ich darin, dass die psychosozialen Motive, die persönlichen Entfremdungen und Verstörungen der verantwortlichen Politiker, der Funktionäre des Terrorismus und der Attentäter im Dunklen bleiben. Das fragwürdige Motiv familiärer Ehrrettung, aufkommende Zweifel an terroristischer Gewalt helfen überhaupt nicht für ein tieferreichendes Verständnis. Auch für den eher randständigen Part für friedliche Konfliktlösung wird nicht ergründet, was einem Menschen hilft, auf Gewalt verzichten zu wollen und zu können. Diese Option wird sogar gezielt abgewertet, dass ein Außenstehender die Situation nicht verstehen könne. Was ich anerkenne ist, dass potenzielle Terroristen nicht als Helden oder Monster dargestellt werden, sondern als Menschen mit Ängsten, Zweifeln und ideologischer Verirrung. Man kann ihnen nicht einmal Fanatismus als eine höchste Stufe psychischer Verstörung attestieren, sie aber als »Rekruten einer mörderischen Ausweglosigkeit« (Frankfurter Rundschau) zu bezeichnen, halte ich für kritikwürdig. Dem »Rekruten« kann ich zustimmen, weil damit eine Abhängigkeit benannt wird, die den fehlenden kritischen Diskurs durch den Befehl ersetzt. Aber eine »mörderische Ausweglosigkeit« anzunehmen, wo Kommunikation, Empathie und Konfliktlösung als basale menschliche Fähigkeiten gefordert sind, entspricht eher einer propagandistischen Absicht. Ich kenne nicht die Interessen der preiskrönenden Jurys. Aus meiner Sicht hat der Film nur einen Preis verdient, den Wahnsinn religiösen Missbrauchs von Menschen in der Folge politischen Versagens darzustellen. Der Film hat mich herausgefordert, über das zu reflektieren, was nicht gezeigt wird: über die von Menschen gemachte Pathologie politischer und religiöser Verhältnisse.
Originaltitel
al – Dschanna al-ān
Erscheinungsjahr
2004
Land
Palästinensische Autonomiegebiete, Niederlande, Israel, Deutschland, Frankreich
Drehbuch
Hany Abu-Assad, Bere Beyer
Regie
Hany Abu-Assad
Hauptdarsteller
Kais Nashef, Ali Suliman, Lubna Azabal
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Jochen Kölsch
Ein Selbstmordattentat – oder doch Liebe? Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Die dramaturgische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Darf ein Film freundlich ein Terrorattentat erzählen? . . . . 38 Der Typus Selbstmordattentäter . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Mord und Selbstmord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_3
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Filmplakat Alles für meinen Vater. (© Kinowelt Filmverleih Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Alles für meinen Vater (2008) Jochen Kölsch
Einleitung
Der Spielfilm »Alles für meinen Vater« findet seinen eigenen Weg, die große katastrophale Vermischung von Terrorismus, Politik, Religion und Alltagsleben in einer kleinen Geschichte zu erzählen und elementare Fragen im fast beschaulich-märchenhaften Stil auf eine menschliche Ebene zu ziehen: Wie umgehen mit der täglichen Todesbedrohung und wie funktioniert ein Selbstmord-Attentäter?
RR »Warum tust du das?« Es ist ein Angstthema, das seit langem weit über die Krisengebiete im Nahen und Mittleren Osten nach Europa und Amerika vorgedrungen ist. Selbstmordattentate erschüttern die Menschen. Die Analyse und die Erklärungen sind präziser geworden, das Verstehen der Bedrohung hat zugenommen, die Angst jedoch kaum nachgelassen. Der Selbstmordattentäter wurde zu einer ikonografischen Figur der gegenwärtigen Welt. Am weitesten vorangeschritten ist aus naheliegenden Gründen der wissenschaftliche und kulturelle Diskurs über Selbstmordattentäter in Israel, ein Land das seit Jahrzehnten nicht nur als Staat von der Auslöschung bedroht ist, sondern auch jeder einzelne Bürger sich täglich mit dem Tode konfrontiert fühlen muss, viele tausend Menschen Opfer geworden sind. Das ist die Ausgangslage dieses deutsch-israelischen Filmes (. Abb. 3.1, Filmplakat).
Handlung Der Film erzählt in zwölf Kapiteln. Die Titelsequenz beginnt in einer Stadt der Westbank, mit einer arabischen Musik untermalt, ein melancholisch liegender Mann in einem liebevoll eingerichteten Raum, Bilder von Straßenleben, ein brennendes Auto inmitten geschäftiger Menschen. Tarek, die Hauptfigur, muss aufstehen, die Mutter drängt, er käme zu spät. Hier wird schon das Motiv des Filmes skizziert: Alltag, Normalität, gleichzeitig Gewalt, Zerstörung. Die Hartnäckigkeit, mit der es dem Protagonisten, halb gelähmt, scheinbar müde vor sich hinblickend, widerstrebt, aufstehen zu müssen, spiegelt die Tonlage des Filmes. Tarek wartet nachdenklich und unausgeschlafen an der Straßenecke, der Ton eines Hubschraubers über ihm signalisiert die Präsenz der israelischen Sicherheitskräfte. Ein Auto mit zwei Männern gabelt ihn auf. Er setzt sich in den Fond. Scheinbar Berufsalltag. »Guten Morgen« begrüßt man sich mit düsterem Gesicht. Es beginnt eine Parallelmontage, Tel Aviv, in Strandnähe, eine attraktive junge Frau, Keren, öffnet den Rollo ihres Ladens, Café und Zeitungen, gegenüber ein alter Mann, Katz, sein kleiner Elektroladen, die Musik vergnüglich, heiteres Klavier, im Stil von Eric Satie. Die Idylle des Shtetl, die untergegangene Welt der Ostjuden, lebt hier weiter in der Mitte von Tel Aviv. Eine wehmütige Erinnerung an die Auslöschung, die diese friedliche stille Welt ab 1939 erlitt. Das Auto mit den Palästinensern fährt durch die staubige Westbank, dazwischen die Bilder eines morgendlichen Alltags in Strandnähe von Tel Aviv. Die Situation im Auto, keineswegs ein normaler Job: Während der Fahrt soll Tarek seinen Sprenggürtel anlegen, die drei Männer gehen damit um wie mit einem Alltagsgeschäft. Die Weste kann jetzt nicht mehr abgelegt werden ohne sie zu zünden. Ein familiäres Telefonat unterbricht das Scharfstellen der Weste, es geht um die kommende Hochzeit eines gemeinsamen Freundes. Dazwischen ernste
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Ein Selbstmordattentat – oder doch Liebe?
Ermahnung des anderen Mannes, dass Tarek auf jeden Fall um Punkt acht Uhr auf den Sprengknopf drücken soll. Zu Zeit der Hochzeit wäre er längst tot. Tarek wirkt etwas abwesend, verstört und verwundert, starrt auf den Auslöseknopf. In den Radio-Nachrichten in der kleinen Straße in Tel Aviv wird ein Selbstmordattentäter erwähnt und der heftige Regen. Der alte Mann, Katz, öffnet die Hydranten zum Ärger seiner Nachbarn, die das schon kennen. Zurück im Auto der Attentäter muss Tarek mal pinkeln, was zu einem genervten Dialog führt. Verkneifen sei ungesund, argumentiert Tarek. Er darf aussteigen, stellt sich an den Straßenrand, und genießt noch ein letztes Mal die beeindruckende Szenerie der Wüste in der Westbank. Die beiden Hintermänner verständigen sich, dass sie Tarek genauso wenig vertrauen wie seinem Vater. Der Dialog ist ebenso untergründig komisch wie absurd, Tarek jedoch ganz ernst, fast schon entrückt. Währenddessen ist das Geschehen in Tel Aviv mit einer nur scheinbar lustigen Aktion der illegal geöffneten Hydranten beschäftigt, das die Kinder erfreut und einigen Aufruhr in Nachbarschaft und Polizei erregt. Die Hintermänner geben Tarek noch einen letzten Einsatzbefehl für das Attentat, das genaue Vorgehen, die absolute Motivation des Selbstmordattentäters, Tarek zeigt sich entschlossen, er ist bereit. Auf die Frage »Warum«:
RR »Weil ich von Geburt an nicht mal träumen darf, und solange wir ihnen nicht wehtun, wird sich daran nichts ändern.« Die zweite Sequenz startet in der kleinen Straße in Tel Aviv, harmloses Alltagsleben, unterlegt mit einer Polizeisirene. Es wird klar, dass auch Keren bedroht ist, sie ist rebellisch, zu locker, läuft zu sexy herum und erregt damit den Ärger von extremistischen orthodoxen jungen Juden, die »der Schlampe eine Lektion erteilen wollen.« Inzwischen kommen die Attentäter am benachbarten Markt an. Tarek ist gestresst. Sie schließen an ihm noch ein Handy zur Fernzündung der Bombe an, »für alle Fälle«.
RR »Wir haben keine Flugzeuge. Hätten wir welche, würden wir das hier nicht brauchen. Was du machst, ist wichtig. Du bist unser Flugzeug.« Tarek sitzt düster und entschlossen im Auto, wirkt traurig, frustriert, gleichgültig, verärgert. Die Hintermänner fragen ihn, was los sei. Tarek darauf: »Mir ist schlecht.« Hier deutet sich das Grundmotiv des Filmes an, der Attentäter ist auch Mensch. Aber er geht entschlossen blickend wie selbstverständlich los, um sein Attentat zu vollbringen. Parallel dazu geht Keren ebenfalls auf den Markt. Untermalt wird das alles von einer spannungsteigenden rhythmischen Musik. Tarek wandelt durch die Menschenmassen am Markt, sucht den richtigen Moment der Zündung. Gerade als er drücken will, ruft seine Mutter liebevoll besorgt an und warnt ihn wegen eines Attentäters auf dem Markt. Er wirkt wie ein netter braver Junge und beruhigt seine Mutter. Die Spannung im Film steigt extrem an, als er die Augen schließt, sich das ganze Gesicht verkrampft, er ein Gebet murmelt, wieder den Knopf drücken will. Da versagt der Schalter, er ist schockiert, nicht tot zu sein, eilt durch die Menschenmenge vom Markt, verbirgt sich vor einem Polizeiauto. Er telefoniert mit seinen Hintermännern, denen er das Scheitern nicht erzählt. Die Hintermänner reden ständig davon, ihn fern zu zünden, warten aber noch. Zu Beginn der dritten Sequenz ist Keren unterdessen erneut von einem der orthodoxen jüdischen Jung-Männer bedrohlich angeredet worden. Tarek kommt kurz danach in den kleinen Laden von Keren, weil er auf die Toilette muss, was sie ärgerlich zulässt. Tarek strahlt eine milde Ernsthaftigkeit aus, die auch auf Keren wirkt. Hier erlebt er erstmals einen starken Moment des Nachdenkens, der inneren Betroffenheit, spürt seine Zersplitterung. Gegenüber bei Katz in seinem Elektrogeschäft
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..Abb. 3.2 Der alte Katz versucht den Attentäter Tarek von seinem Plan abzubringen. (© Kinowelt Filmverleih Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
spricht er über einen Ersatz für einen kaputten Schalter, den dieser ihm nach dem Shabbat besorgen will. Weiter von der Polizei irritiert bietet Tarek dem Katz an, dessen Dach zu reparieren, um von der Straße weg zu kommen (. Abb. 3.2). Die vierte Sequenz beginnt damit, dass Tarek entdeckt, dass die depressive Frau von Katz sich mit Gas umbringen will, was er verhindert – er rettet ihr Leben, er ist bestürzt, betroffen. Sie strahlt etwas Mütterliches gegenüber Tarek aus, spricht mit ihm, wie wenn er ein Sohn wäre. Währenddessen telefoniert Keren aus ihrem Laden gegenüber mit ihrer eigenen orthodoxen Mutter und es wird deutlich, dass sie mit ihren Eltern gebrochen hat wegen religiöser Gründe und wegen ihres Lebenswandels. Tarek geht zu Keren hinüber wegen eines Kaffees und so kommt es zu einer ersten freundlichen Begegnung zwischen den beiden. Tarek verspricht, den besten Kaffee der Welt zu kochen. Sie lächeln sich an, sprechen über Tareks Fußball und den gestorbenen Sohn von Katz, was die Traurigkeit der Mutter erklärt und den Ärger von Katz über die Welt. Keren erfindet eine Party am Strand am Shabbat, zu der sie Tarek einlädt, was dieser zögernd annimmt. Musikalisch mischt sich zu Beginn der fünften Sequenz Eric Satie mit arabischen Klängen. Tarek, nachdenklich, friedlich auf dem zu reparierenden Dach, drunten an der Mauer der Schriftzug: Tod den Arabern und mehrere jüngere orthodoxe Juden. Hier hinein bricht die Parallel-Handlung, einer der Hintermänner von Tarek ruft an und bedroht ihn, dass er nichts verrät, Tarek versichert ihm erneut seine völlige Loyalität zum Attentatsplan. Hierbei spielt eine zentrale Rolle, dass Tareks Vater ein Verräter ist und Tarek mit seinem Selbstmordattentat ihn von dem Makel befreien muss. Falls er das nicht tun würde, würde der Vater ermordet. Hier wird die Ausweglosigkeit für Tarek unübersehbar, der Zuschauer ahnt, wie der Film wird ausgehen müssen. Zum Kontrast erleben wir Tarek bei der Essenseinladung bei seinem Arbeitgeber Katz, der mit ihm und seiner Frau einen zunächst gemütlichen, familiären Abend erlebt. Bei der Nachbarfamilie von Katz wird im Fernsehen wieder die Meldung von
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der Suche nach einem Selbstmordattentäter gebracht, wo der Nachbarssohn die Frage nach dem Araber von Katz stellt, immer wieder die Spannung einer Aufdeckung des Tarek. Der gemütliche Abend bei den Katz’ entgleist dann, weil der betrunkene Katz in Trauer über seinen toten Sohn ausbricht, der beim Militär gestorben ist, er hatte kein Wasser trinken dürfen, so wurde er als Rekrut zu Tode gequält. Für Tarek ist das alles sehr gefühlvoll und menschlich bewegend, im Dialog taucht auch das Motiv von Romeo und Julia auf. Die sechste Sequenz startet mit dem angekündigten Angriff der orthodoxen Jungmänner gegen die »sündhafte« Keren in ihrem Laden, der noch geöffnet ist. Sie versuchen Keren unter Druck zu setzen, ihr Vater würde sehr leiden unter dem Lebenswandel der Tochter. Sie habe jetzt drei Stunden Zeit nachzudenken. Währenddessen erzählt Tarek der Frau von Katz aus seinem Leben, was sich ähnlich anhört wie das Leben einer jüdischen Familie, erzählt von seinem Vater, dem klassischen Musiker, Violinisten, von seiner eigenen Fußballkarriere als Jugendlicher in Nazareth. Und dass der Vater nur noch depressiv ist, weil eine schlimme Sache passiert sei.
RR »Manchmal muss man eine Pause machen, wenn schlimme Dinge passieren.« sagt die Frau von Katz. Tarek schläft schlecht in der Werkstatt von Katz, träumt von Schüssen und Krieg, in die Tropfen vom Dach mischen sich Blutstropfen. Er wacht schweißgebadet auf und betastet seine Sprengweste. Als er an die frische Luft geht, sieht er, wie die Orthodoxen mit scharfem Schritt wieder in den Laden von Keren gehen. Als diese Keren zwingen wollen, kommt Tarek in den Laden. Er wird als Araber beschimpft, schlägt in einem Boxkampf den aggressiven Orthodoxen nieder, der daraufhin unter Drohungen den Schauplatz verlässt. Keren hat nun Angst, weil die Orthodoxen, wissen wo sie wohnt, deshalb lässt sie sich von Tarek in die Werkstatt von Katz bringen. Durch Zeitungsartikel, die dort an der Wand hängen, erfahren beide, dass der Sohn von Katz in der Armee durch gezielten Wassermangel verdurstet ist und niemand dafür bestraft wurde.
RR »Die Eltern bleiben immer am Leben«, sagt Keren. Tarek breitet fürsorglich für Keren ihr Lager zum Schlafen. Keren ist erstaunt, dass Tarek gehen will. Sie bittet ihn, erst dann zu Katz rüberzugehen, wenn sie eingeschlafen ist. Tarek bleibt distanziert, auch wenn Keren geradezu zutraulich mit ihm umgeht. Dann erzählt er noch auf ihre Bitte eine GuteNacht-Geschichte, von dem Abendessen bei dem Ehepaar Katz und dass die Frau am Nachmittag »nicht mehr wollte«. Während Keren schon schläft, flüstert Tarek:
RR »Ich will auch manchmal nicht mehr.« Die siebte Sequenz startet mit einer friedlichen Shabbat-Szene, wie im Shtetl. Eine heitere Keren holt mit dem Fahrrad den verschlafenen Tarek ab (. Abb. 3.3). Der Sohn des Nachbarn, ein Hilfspolizist, hat weiterhin seinen Verdacht und versucht, Tarek auf die Schliche zu kommen, jedoch Katz und der Nachbar hindern ihn durch ihr fröhliches Streiten daran. Keren gondelt mit Tarek auf ihrem Fahrrad wie ein junges Liebespaar durch die Stadt am Shabbat, vor allem über den geschlossenen Markt, dem geplanten Terror-Schauplatz. Ein heiteres Lied begleitet sie dabei. Keren fährt noch bei ihrer Mutter an der Synagoge vorbei, wo der Konflikt von Keren mit ihrem strengen Vater eine Rolle spielt. Die Mutter glaubt, Tarek sei der Freund ihrer Tochter und bittet ihn: »Gib auf sie acht.« Tarek nickt. In der achten Sequenz sagt Keren nach dem gefühlvollen, schwierigen Gespräch mit der Mutter zu Tarek:
RR »Ich glaub, ich explodier gleich, es ist alles so verwirrend.«
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..Abb. 3.3 Die zarte Annäherung von Keren stürzt Tarek in einen schmerzvollen Konflikt. (© Kinowelt Filmverleih Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Sie erzählt, dass sie unverheiratet schwanger war und ihr Kind vor der Geburt gestorben ist. Das verzeihe Gott nicht, sagen die Leute. Sie weiß nicht, ob es einen Gott gibt, auch Tarek zuckt mit den Schultern. Wenn es ein Leben nach dem Tod gäbe, hätte sie damals Schluss gemacht. In diesem tiefsinnigen Gespräch rufen wieder die Hintermänner an und drohen Tarek an, dass sie ihn zünden. Tarek rennt verzweifelt weg vor Keren, weil er Angst hat, dass die Sprengweste fern gezündet wird. Er klettert auf einen Baum, weil er ihr sonst nicht entkommen kann, und wartet auf die Zündung. Ein Anruf kommt von dem vernünftigeren der Hintermänner, dass die Zündung auf den nächsten Tag verschoben ist. Tarek ist ganz dankbar und erleichtert, dass er erst morgen sterben soll. In der neunten Sequenz klettert Keren zu ihm auf den Baum und fragt ihn, was er eigentlich macht. Da erzählt Tarek die Geschichte von seinem Fußballtraining in Nazareth und dass sein Vater dafür Palästinenser an die Israelis verraten hat und seine Familie deshalb gebrandmarkt ist. Keren will wissen, wie Tarek die Familie reinwaschen kann und versteht nicht, dass es letztlich die Israelis sind, die er hasst. So stößt Tarek Keren zurück.
RR »Auf die ganze Welt bin ich sauer, aber nicht auf dich«, sagt Tarek zu Keren und sie lächeln sich an. Die zehnte Sequenz beginnt mit Tarek wieder in der kleinen Straße, vor dem Laden von Katz. Ein Kunde kommt, ein Israeli, der überraschend Tarek kennt, er war Tareks Trainer. Er zwingt Tarek sich zu äußern, warum er nicht mehr zum Fußballspielen kam, wo er doch so begabt sei. Tarek ist sehr verlegen und versucht, sich auf eine Verletzung herauszureden. Dann aber deckt er den Hintergrund auf, dass er nicht mehr über die Grenze durfte und jetzt tief drinstecke mit der palästinensischen Organisation. Der Trainer ist so begeistert von Tarek, dass er ihn drängt, wieder anzufangen. Tarek kann ihm nicht mehr absagen. Dabei erfährt er noch, dass nie sein Vater der Fußball-Narr war, sondern dass er alles nur für Tarek getan hat.
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Ein Selbstmordattentat – oder doch Liebe?
In der elften Sequenz spaziert Tarek am Strand von Tel Aviv, wo er Keren trifft. Während die beiden vor einem romantischen Feuer den Sonnenuntergang erleben, kommen die Orthodoxen zu Kerens Laden und wollen wieder Druck machen. Keren und Tarek bleiben alleine am Strand, die versprochene Party hat es nie gegeben. Stattdessen fordert Keren Tarek liebevoll auf, mit ihr nächtlich schwimmen zu gehen,
RR »Man lebt nur einmal, komm schon«, was er ablehnen muss, »heute nicht«. Während Keren schwimmt, telefoniert Tarek mit seinem Vater und seiner Mutter und nimmt innerlich traurig Abschied. Keren will von ihm mehr wissen, aber Tarek versucht es zu überspielen. Sie sitzen fast wie Liebende am Strand, abends vor dem Feuer, Rücken an Rücken, hören ein gefühlvolles Lied in den Ohrhörern und ihre Hände finden zueinander und Keren fragt, ob er ihr Freund sei.
RR »Ja, ich bin dein Freund«, sagt Tarek. Morgens wird Tarek von einem Anruf geweckt, dass er sich eine Stunde später in die Luft sprengen muss. Innerlich hat er sich weit entfernt von seiner Mission, »ich gehöre niemandem«, wehrt er aggressiv den Anrufer ab. Er schaut am Strand nochmal über das weite Meer, deckt die schlafende Keren liebevoll gegen die Kälte zu und geht los. Die zwölfte Sequenz beginnt damit, dass Tarek schnell noch das Dach von Katz fertig repariert, dann tauscht er den Sprengknopf aus, und läuft zum Markt. Der Nachbarsohn verfolgt ihn, in Kontakt mit der Polizei. Gerade als Tarek den Knopf drücken will, trifft ihn Katz, der auf ihn gewartet hat. Katz redet auf ihn ein, es zu lassen, er hat Tarek längst durchschaut. Tarek ist verzweifelt, weil er Katz retten will.
RR »Wen willst du also umbringen, wofür machst du das?«, fragt Katz ihn. Tarek antwortet unter Tränen
RR »Für meinen Vater.« Darauf Katz:
RR »Es wird ihm nicht helfen, es wird ihn umbringen.« Währenddessen sind Scharfschützen in Stellung gegangen. Sie erschießen Tarek und Katz kann es nicht verhindern, der Sprengsatz explodiert. Keren am Strand wacht von der Explosion auf und sieht die Nägel aus dem Sprengsatz neben sich liegen. Und Tarek hat ihr um den Ringfinger aus einem Nagel einen Ring gebogen. Der Film endet mit Bildern, ähnlich wie zu Beginn, mit den verzweifelten Eltern von Tarek, der trauernde Katz ist nur leicht verletzt, an Häuserecken werden von Jugendlichen Heldenfotos von Tarek als Attentäter geklebt, eine tieftraurige Keren öffnet ihren Laden.
Die dramaturgische Struktur Der Film erzählt seine Geschichte in Form der klassischen Filmdramaturgie. Wir haben einen tragischen Helden, Protagonisten und eine Antagonistin, die unwissend den Terrorakt verhindern will. Im ersten Akt, in den ersten zwei Sequenzen wird der Alltag erzählt, der harmlose in Israel und der Alltag der palästinensischen Wut. Der große Wendepunkt geschieht in dem Moment, als die Bombe nicht zündet, Ende der zweiten Sequenz. Bis zur sechsten Sequenz lernen wir die handelnden Per-
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sonen besser kennen, den liebevoll, konflikthaften Alltag der Israeli, die existenzielle Trauer von Katz und seiner Frau wegen des toten Sohnes, der Hintergrund des Holocaust bei Katz, die aggressiven jüdischen orthodoxen Fundamentalisten, die drängenden Hintermänner des Attentäters, Strippenzieher der palästinensischen Terroristen. Bis inklusive der zehnten Sequenz nähern sich Keren und Tarek an, er immer auf Sicherheitsabstand wegen der möglichen Fernzündung. Und Tarek erfährt, dass sein Vater alles nur für ihn getan hat. Der letzte Akt zeigt uns Keren und Tarek in einer Annäherung, die fast eine liebevolle, erotische Dimension hat und schließlich in der zwölften Sequenz der Showdown, den auch Katz nicht verhindern kann, die Antiterrorexperten erschießen Tarek und lösen so die Sprengung aus, es ist nicht einmal mehr ein Selbstmord, es gibt keine größeren weiteren Opfer, Katz ist nur am Arm verletzt, Keren am Strand geblieben. Jedoch ist die dramatische Struktur nicht das erzähltheoretisch Wesentliche an diesem Film. Der Protagonist gerät ab den ersten Minuten in eine ausweglose Lage. Irgendwie erhofft der Zuschauer ein Wunder, es quält ihn die Spannung, ob es am Ende zur Katastrophe kommt und wen sie trifft. Dagegen bleibt der Erzählton des Filmes quälend heiter, anekdotisch, liebevoll kleinstädtisch und setzt einen scharfen Kontrast zum bedrohlichen, erschreckenden Inhalt des Geschehens. Das Selbstmordattentat wird ein fast schmerzhaft normaler Aspekt des alltäglichen Lebens, die eigentlich realistische Bedrohungs-Angst des benachbarten Polizisten als geradezu komische Übertreibung inszeniert. Die eigentliche, souveräne Reaktion repräsentiert Katz, der ja am Ende auch schon gewusst hatte, was Tarek eigentlich vorhat. Terrorattentate als Selbstverständlichkeit. Insofern wird keine wirkliche Erwartung auf ein Wunder, eine Lösung wie in der klassischen Dramaturgie aufgebaut. Es wird eher das Epos eines großen Jahrhundertkonflikts von Religionen, Mentalitäten, Territorien und Ethnien gezeigt, das eine »Lösung« auf unabsehbare Zeit unmöglich erscheinen lässt, selbst wenn sich die einzelnen Menschen bestens verstehen und verständigen. Und so beschreibt der Film Mentalitäten, Alltagsleben, die kleinen Schicksale, zwei Welten, die konflikthaft ineinander verwoben sind, und Menschen, die eigentlich doch sehr friedlich und bezogen miteinander leben können oder könnten. Jedoch, in der großen Politik, wie auch in Filmen »… nehmen die Zweifel zu, dass das handelnde Subjekt sich weiterhin in einer gesellschaftlichen Situation befände, in der seine Entscheidungen oder Handlungen einen entscheidenden Einfluss haben könnten« (Benke 2002, S. 34).
Die gezeigten Personen leben in ihrer sehr durch Kultur, Religion, Ethnien und Traditionen definierten Welt und können nicht eigentlich handeln. Die Hoffnung beschränkt sich auf eine Entwicklung, in der das Individuum sich aus der prägenden Herkunftswelt lösen und eine eigene Entscheidung über sein Leben treffen könnte. Die Parallelgeschichten der sterbenden Söhne weisen jedoch auf die fast ausweglosen, selbstzerstörerischen Tendenzen des Konflikts hin. Der palästinensische Tarek ist überzeugt, seine Familie, insbesondere seinen Vater, von der Schande der Kollaboration durch seinen Selbstmord reinwaschen zu müssen, der Sohn von Katz wird von seinen eigenen Leuten durch Überforderung, Militärtraining mit Wassermangel, zu Tode gebracht. Der Schmerz der Überlebenden ist der Grundton der Erzählung. Das Motiv des Selbstmordes und des Todes wird im Film mehrfach thematisiert, bei Keren, bei Katz’ Sohn, bei Katz’ Frau, bei Tarek, es durchdringt wie ein Leitmotiv alle Zusammenhänge. Das Individuum bleibt ohnmächtig gegenüber der Übermacht der Konfliktlagen der Welt, in der es lebt. Ein eigener Spielraum ist kaum vorhanden, der Horror kann nur abgemildert werden, nicht verhindert oder aufgehalten. Tarek ist somit eine passive Hauptfigur, ein Held, der nichts tun kann oder will. Damit wird er zum Spielball des Geschehens im Film, der beiden Hintermänner des Terrors, die ihn zum Attentat treiben.
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Sein Ziel muss es sein, seine Sprengweste mit einem neuen Schalter zu reparieren, um den Vater zu retten. Die Annäherungen von Keren, die ihn attraktiv findet und für die er auch tiefere Gefühle entwickelt, muss er abwehren, er kann die Sprengweste nicht mehr ablegen, ist todbringend für sie. Das Geschehen um Tarek herum schreitet dramatisch voran, er selbst ist das Zentrum in großer Ruhe. So gewinnt der Film den Raum, eine innere Entwicklung von Tarek voranzutreiben, die ihn vom verbitterten Attentäter zum traurigen Selbstmörder werden lässt. Die Kräfte des Lebens, die auf ihn wirken, erreichen es, aus dem fanatisierten Ideologen einen normalen, fühlenden Menschen zu machen, der in seiner verzweifelten Situation nur noch den Ausweg hat, seinen Selbstmord nicht auch zum Massenmord zu machen. Immerhin erreicht er seinen Märtyrer-Heldenstatus, der Vater ist wieder reingewaschen, aber beide Eltern tragen nun, wie die Eltern Katz, das unendliche Leiden über den toten Sohn.
Darf ein Film freundlich ein Terrorattentat erzählen? Ein modernes Märchen von einem Selbstmordattentäter, kann das gelingen? Was Millionen von Menschen in Panik versetzt, ist auf einmal ein beschaulich erzählter Film mit anrührenden Charakteren. Natürlich eine Provokation, die entsprechende Reaktionen hervorrief. Im Original heißt der Film: Sof Shavua B’Tel Aviv (Guten Sabbat Tel Aviv) oder auch mit dem Alternativ-Titel »Shabat Shalom Maradona«, also etwa: »Guten Sabbat, Maradona«, der schon auf wesentliche Aspekte des Filmes hinweist, Humor und Leichtigkeit. »Es gibt kein eindeutiges Profil des Selbstmordattentäters … Aber mir war klar, dass ich einen ›Selbstmordattentäter light‹ entwickeln musste, damit der Film in Israel überhaupt eine Chance hat. Ein antisemitischer, hasserfüllter, blutrünstiger Attentäter – undenkbar« (Zahavi 2009a).
Die Kritiken zu dem Film waren überwiegend positiv. Der Regisseur Dror Zahavi (*1959 Tel Aviv) ist ein israelischer Filmregisseur, der in Deutschland ausgebildet wurde und seit 1991 hauptsächlich für das deutsche Fernsehen arbeitet und mit vielen Preisen geehrt wurde. Er lebt in Berlin. »Alles für meinen Vater« war, nach ca. 20 langen Fernsehfilmen sein erster Kinofilm, eine deutsch-israelische Koproduktion, hauptsächlich finanziert von der ARD. Später schuf er u. a. bedeutende Filme »Mein Leben – Marcel Reich-Ranicki« und »München 72 – Das Attentat«. Zahavi hatte für diesen Film eine programmatische Idee: »Was mir am wichtigsten war, der israelischen Gesellschaft zu zeigen, dass so ein Selbstmordattentäter ein Gesicht hat, ein Selbstmordattentäter auch ein Mensch ist, und ein Selbstmordattentäter unter anderen Umständen sich ändern kann und zu anderen Schlussfolgerungen kommen kann, dass diese Situation in der wir uns befinden, nicht statisch ist« (Zahavi 2009b).
Zahavi will einen Film über Menschen machen, der über gegenwärtige politische Konflikte weit hinausreicht. In einem Interview im Deutschlandfunk formuliert er unter dem Sendungstitel »Der Selbstmordattentäter als Sympathieträger«: »Wenn man den Film sieht, erkennt man, dass der Tarek von seiner Gemeinschaft abgestoßen ist wegen kultureller Fragen, Fragen der Ehre, Fragen des Familienrufes. Genauso wie die Keren, die Jüdin, die aus ihrer Gemeinschaft abgestoßen wird, weil sie für die Religiösen eine Sünde begangen hat, nämlich zu lieben und schwanger zu werden. Es war unsere Absicht zu zeigen, dass a) auf beiden Seiten Menschen sind und b), dass diese Menschen gar nicht so weit voneinander entfernt sind, wie es manchmal erscheint« (Zahavi 2009b).
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Sehr subtil unterläuft Zahavi auch die Propagandastrategie des palästinensischen Terrorismus. »Das war uns wichtig zu zeigen, dass wir es jetzt nicht mit professionellen Killern zu tun haben, sondern mit eher Amateuren, die zu einer kleinen Einheit da gehören, die irgendwas zusammengebastelt haben und irgendwas in Tel Aviv veranstalten wollen. Das war auch wichtig für die Charakterisierung der Figur Tarek … dass dort Menschen mit Biografien, mit Familien, mit Freunden leben und nicht nur diese Gesichter sind, die wir aus den Abschiedsvideos kennen« (Zahavi 2009b).
Der Film enthält mehrere Provokationen: Zum einen ist der Held ein Palästinenser, der menschlich gezeigt wird, obwohl er Selbstmordattentäter ist. Die orthodoxen Juden und die israelische Armee werden kritisch gezeichnet und dann gibt es auch noch eine zarte Liebesgeschichte zwischen dem Palästinenser und der Israelin, ein Horror für alle Orthodoxen. »›Am Anfang gab es Boykottaufrufe, aber dann wurde der Film sehr gut aufgenommen und für sieben israelische Filmpreise nominiert.‹ sagte Zahavi. ›Mein Film richtet sich an die israelische Gesellschaft … die Erfahrung zeigt, dass israelische Filme in arabischen Ländern wenig Chancen haben. Aber ich hoffe sehr, dass der Film seinen Weg dorthin findet. Auf internationalen Festivals haben die wenigen Araber, die ihn dort sahen, sehr positiv reagiert‹« (Zahavi 2009c).
Dieser Film erzählt auf einer ganz anderen, analytischen Ebene: Im Mittelpunkt steht nicht der heimtückische Attentäter, die Terrorpanik, der politische Konflikt, das gesellschaftliche Drama, sondern, ganz märchenhaft, die Geschichte von einem jungen Mann, der die Ehre seines Vaters retten will. Und wie im Märchen, muss der junge Mann seine Aufgabe erfüllen, dabei muss er sterben und sich wandeln. »Die Moral des Märchens ist das Glück, und das bedeutet nicht Tod, sondern Leben« (Heindrichs, Heindrichs, Kammerhofer 2005).
Und das Leben der Anderen rettet der junge Mann Tarek, indem er die tödlichen Nägel aus der Sprengweste entfernt. Er selbst befindet sich in einem unentrinnbaren Dilemma: Entweder stirbt er oder sein Vater, der ihm seinen Jugendtraum »Fußball« mit Verrat erfüllt hatte. Und noch vor dem Tod hat er sich gewandelt, vom Attentäter zum handlungsfähigen Selbstmörder, der nicht mehr andere ermorden will, für seine Mission, geläutert durch das Erleben von liebevoller Freundlichkeit und Zuneigung von Menschen, die ihm nahegekommen sind. »Kunst und Filme können keine Realität verändern, leider. So ein Film kann aber die Herzen von Menschen erreichen und einige Menschen zum Nachdenken bringen und das kann dann ihr Verhalten gegenüber den Palästinensern verändern, und dann haben wir eine Menge geschafft« (Zahavi 2009a).
Der Typus Selbstmordattentäter Der Film ist in seinen inhaltlichen Aspekten exakt nach dem Stand der wissenschaftlichen Analyse von Selbstmordattentätern der 2000er-Jahre erzählt. Der US-Terrorexperte und Psychiater Mark Sageman, der auch für die CIA in Afghanistan und Pakistan gearbeitet hat, hat die Mentalitäten von Selbstmordterroristen untersucht, indem er die Biografien von Hunderten Islamisten aus dem Umfeld der
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Ein Selbstmordattentat – oder doch Liebe?
Attentäter analysierte. Die meisten stammten keineswegs aus prekären Verhältnissen, sondern aus der Ober- und Mittelschicht. Sie waren in intakten, liebevollen und oft nicht sonderlich religiösen Familien aufgewachsen. »Neither bad nor mad« (Glomb 2011, S. 30).
So stammt auch Tarek in dem Film aus einer liebevollen Familie, der Vater Musiker, die Mutter sorgt sich. Er ist auch, wie die untersuchten Terrorkämpfer, keineswegs ein geborener Psychopath, noch leidet er an einer Psychose. Bei einer Untersuchung von Scott Atran und Lydia Wilson ergab sich, dass die meisten Terrorkämpfer bei Eigenschaften wie Empathie, Mitgefühl, Idealismus oder dem Wunsch, anderen zu helfen, sich im Bereich der Normalverteilung befanden (Saum-Aldehoff 2016). Der Film führt in seinem liebevollen sozialen Umgang der Hauptfiguren geradezu paradigmatisch vor, was Hammad Sheikh für den Umgang mit Terrorkämpfern zentral erscheint, »… die Identitätskrise dieser Menschen gesellschaftlich zu diskutieren und ihnen eine positive Rolle in ihrem Geburtsland zu ermöglichen« (Sheikh 2015).
Dass Tarek als Mensch ernst genommen, gemocht, wertgeschätzt, geliebt wird, bewirkt einen Wandel seines Gemüts, auch wenn es für ihn zu spät ist, das Problem noch zu lösen. Die Persönlichkeit des Film-Protagonisten Tarek entspricht genau dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand: Die Mentalität von Selbstmordattentätern wird in einer Untersuchung von Ariel Merari beschrieben als nicht primär selbstmordgefährdet, um einen unerträglichen mentalen Zustand zu beenden, sondern weil sie, als abhängig-vermeidende Persönlichkeiten, besonders anfällig sind für äußere Einflüsse. Doch hat Merari in seiner Untersuchung auch noch andere typische Merkmale herausgefunden: »Data converged on a predominant type of suicide bombers. Most of the would-be suicides were shy, socially marginal, followers rather than leaders. Many were loners and outsiders, with a history of failure in school, and harbored the feeling of having disappointed their parents. More than one third has suicidal tendencies, which may have played an important role in their willingness to become ›martyrs‹. As a group, their personality features were markedly different from the controls« (Merari 2010).
Das zeigt der Film auch zum einen im deprimierten, traurigen Anflug von Tarek, nicht mehr leben zu wollen, aber auch durch die Steuerung und Konditionierung des Selbstmordattentäters, der vielleicht selbst nie zur Tat schreiten würde, sondern nur durch die brachiale ideologische Überzeugungsarbeit der zwei Hintermänner so weit geht, für die er nur eine menschliche Bombe ist ohne eigenen Willen und die ihn mit der Brandmarkung und Todesdrohung gegen seinen Vater erpressen. Sie benutzen das wichtigste Argument vieler Selbstmordattentäter: »Menschen töten und sterben nicht einfach für eine Sache. Sie töten und sterben füreinander« (Atran 2010).
Insofern ist der Selbstmordattentäter in dem Film »Alles für meinen Vater(!)« eigentlich kein typischer Selbstmörder, nicht sonderlich lebensmüde, seinem erzwungenen Selbstmord steht er völlig sachlich, unkritisch gegenüber, ohne irgendwelche Affekte, es ist eine fast kühle, automatische Logik seines Familienzusammenhangs. Selbstmord als Heilung für die Familie, wichtiger als ein eigenes Überlebensmotiv, auch die beginnende Liebesgeschichte und die freundschaftlichen Bande mit der Familie Katz
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können das nicht grundlegend ändern. Für ihn gibt es keine Perspektive in dieser verfahrenen Welt zwischen Palästinensern und Israelis. Er ist als Individuum auch ein außergewöhnlicher Typus von Attentäter, zeigt keinen Hass, eher Ohnmacht und Trauer, Verbitterung, Wut. Aber eigentlich handelt er für seinen Vater, für seine Gruppe. Und er ist als Mensch erreichbar, rettet Katz’ Frau vor dem Selbstmord, repariert das Dach, schützt Keren gegen die ultraorthodoxen Jungmänner, lässt sich vorsichtig auf die Gefühle zu Keren ein. Dies führt dazu, dass er das Mörderische seines Tuns beendet und nur die Selbstzerstörung noch durchführen will. Er nähert sich immerhin der Verweigerung gegen den Gruppendruck, gegen die Hintermänner des Terrors, gegen das politische Kalkül. Der Film zielt auf die Botschaft ab, dass eine Lösung auch nur auf menschlichem, gesellschaftlichem, politischem Gebiet läge. »Deradikalisierung erfolgt wie Radikalisierung von unten nach oben nicht von oben nach unten« (Atran 2010).
Auch hier ist der Film auf der Höhe der wissenschaftlichen und politischen Expertise. Das zarte Pflänzchen der Hoffnung des Zuschauers, dass Tarek überleben möge und mit Keren eine Art von Glück erleben könnte, wird zunichte gemacht durch die andere, eiskalte Logik der israelischen Terrorbekämpfung: maximale Abschreckung, die auch Tarek ereilt, der erschossen wird. »Die Erkenntnisse, die durch den Einsatz des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet in den palästinensischen Städten gewonnen wurden, waren beträchtlich. Nach der Verhaftung von schätzungsweise 7000 Palästinensern und entsprechenden Verhören verfügte der Dienst über beinahe lückenlose Informationen über die Terrorgruppen. Der permanente Druck durch gezielte Tötungen und Verhaftungen zermürbte sie. Schon bald konnten die israelischen Sicherheitskräfte Selbstmordanschläge fast vollständig neutralisieren« (Serr 2016).
David Ben-Gurion brachte dies schon Mitte der 1950er-Jahre auf den Punkt, indem er sagte, wenn wir den Arabern nicht zeigen, dass sie einen hohen Preis dafür zahlen, Juden zu ermorden, werden wir nicht überleben. Der Film also folgt letztlich dieser Logik des israelischen Staates und lässt keinen anderen Ausgang zu. Das Märchen wird von der Realität eingeholt und findet ein gleichermaßen grausames wie »märchenhaftes« Ende. Die Filmkritik im SPIEGEL: »Private, naive, politisch unverdächtige Träume sind im Nahen Osten lebensgefährlich. Tarek, alles andere als ein Fanatiker, muss sich für die Ehre seiner Familie als Selbstmordattentäter opfern. Eine Kampforganisation hat es so beschlossen, Tarek fühlt sich machtlos. Es ist Idiotie, es ist gaga. Es ist trotzdem, wie es ist … Das Schlimmste am Nahost-Konflikt, so ahnt man hier, ist die Unmöglichkeit, unbeschwert jung zu sein, unbeschwert seinen Gefühlen folgen zu können. Das Private ist zur Geisel der Staatsräson geworden« (Festenberg 2012).
Mord und Selbstmord Es geht bei Terrorattentaten im Kern um die Botschaft des Terrors, die Einschüchterung und Panik der Menschen. Insofern ist es eine politische Aktion, die in der Regel von einer Organisation gesteuert wird oder im Sinne der eigenen gesellschaftlichen Gruppe geschieht. Opfer wie Täter sind austauschbar und zufällig. Die Charakterisierung als Mord ist dennoch zutreffend im Sinne des Strafgesetzes.
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»Beim neuen Terrorismus fielen die Opferziele wahllos aus, so Wolfgang Kraushaar, weil kaum einer der genannten Adressaten wie ›die Juden‹, ›die Israelis‹, ›die Amerikaner‹, ›der Westen‹ oder ›die Feinde des Islams‹ gezielt zu treffen seien. Die Anwesenheit von Kindern etwa spiele nicht nur keine Rolle mehr, sondern Kinder werden, wie in Beslan, gezielt angegriffen. Ins Zentrum des Terrors ist der Selbstmordattentäter gerückt. Der Selbstmord ist mit dem Attentat und das Attentat mit dem Selbstmord identisch« (Deutscher Bundestag 2008).
So löst sich die mörderische Tat von den zufälligen Opfern ab und wird zum reinen Medienereignis. Sie rückt damit in eine mediale Sphäre des Uneigentlichen. Ebenso wird der Selbstmord bei dem Geschehen überwiegend zum Nebenereignis, nur dazu da, den Täter als Märtyrer herauszuheben aus der Schar der untätigen islamischen »Unterdrückten und Entrechteten«, wissend, dass es lediglich eine symbolische Veranstaltung ist. »Die Glaubensmörder sind in ihren psychischen Merkmalen durchschnittlich, ganz gewöhnlich. Auch wenn diesen Leuten die Biederkeit der Nazi-Erfüllungsgehilfen abgeht, deren psychische Struktur Hannah Arendt einst analysierte, so sind sie doch eine zeitgenössische Inkarnation der ›Banalität des Bösen‹« (Saum-Aldehoff 2016).
Der Aspekt des Selbstmords betrifft insbesondere zwei Faktoren, die den eigenen Tod möglich machen, nach den Untersuchungen von Lydia Wilson und Scott Atran. »Der erste Faktor beschreibt deren Identifikation mit der eigenen Gemeinschaft oder genauer: das Ausmaß, in dem sich ein Islamist in seiner persönlichen Identität mit der Identität seiner Gruppe verschmolzen fühlt« (Atran 2010).
Dies trifft in hohem Maße auch auf Tarek, den Protagonisten des Filmes zu. Die Identität mit der Gruppe verschärft sich noch durch den zweiten Faktor der »heiligen Werte«, zu denen dann auch noch an oberster Stelle die eigene Familie gehört. »›Heilige Werte‹ … gelten als nicht verhandelbar. Sie zu schützen ist für die Betreffenden nicht eine Frage von Kosten und Nutzen, sondern von Richtig und Falsch. Nicht nur Terroristen, sondern wohl alle Kulturen kennen solche beinahe absolut gesetzten Werte. Das kann ein abstraktes Gut sein, im Westen etwa die Meinungsfreiheit. Oder eine religiöse Vorschrift wie im Judentum die Ruhe am Sabbat. Oder die nationale Zugehörigkeit eines umstrittenen Territoriums wie der Krim, Kaschmir, Taiwan. Oder ein heiliger Ort wie Mekka oder der Tempelberg. Der Sozialpsychologe Hammad Sheikh stellte 2013 in einer Umfrage fest, dass für 86 Prozent der palästinensischen Bevölkerung ›die Verteidigung palästinensischer Rechte an Jerusalem‹ ganz oben auf der Werteordnung stand, nur knapp übertroffen vom ›Schutz der Familie‹« (Saum-Aldehoff 2016).
So wird der Selbstmord überhöht durch die doppelte Motivation auf der Ebene der Zugehörigkeit und der heiligen Werte. Er ist im engeren Sinne kein persönliches Ereignis mehr, er wird zu einem Dienst an der Gemeinschaft, der Religion, der Familie, die zentralen Bausteine der Identität. So werden auch gescheiterte Kleinkriminelle zu edlen Mitgliedern einer Gemeinschaft, die eigene Perspektivlosigkeit frühzeitig beendet durch einen Bilanzselbstmord, durch den der Täter zu einer grandiosen Heldengestalt mutieren will. Und so schafft der Film einen Protagonisten, der der Selbsttötung lange teilnahmslos gegenübersteht, sie als selbstverständliches Ereignis akzeptiert. Im Grunde eine Hamlet-Figur, die mit zwangs-
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läufiger Sicherheit dem tödlichen Ende entgegengeht. Das eigene Grübeln über notwendiges eigenes Handeln scheitert an den männlich-archaisch festgelegten Prägungen (Gruen 2013). Und die weitergehende, offenere weibliche Perspektive der Integration auch des Fremden, im Film durch die Israelin Keren verkörpert, aber auch durch Katz und seine Frau, kann die vermeintliche Zwangsläufigkeit kaum aufbrechen. Erst als es schon zu spät ist, wird Tarek handlungsfähig und scheitert damit. So entwirft der Film die Vision einer möglichen besseren Welt, zeigt den Weg, der aus dem Konflikt führen könnte und muss dann doch das Scheitern eingestehen. Aber eine hoffnungsfrohe, weiterreichende Erkenntnis bleibt, wenn die Herzen der Zuschauer erreicht und bewegt wurden, dass auch eine andere Welt vorstellbar ist.
Literatur Atran S (2010) Talking to the enemy. Faith, brotherhood, and the (un)making of terrorists. Harper Collins Publishers, London (zit. nach Glomb, 2011) Benke D (2002) Freistil – Dramaturgie für Fortgeschrittene und Experimentierfreudige. Lübbe, Bergisch Gladbach Deutscher Bundestag (2008) Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, »Klassischer Terrorismus« und »transnationaler Terrorismus«. https://www.bundestag.de/resource/blob/411752/549a420f163b8ad938f3cc4eb7137529/wd-1-075-08-pdfdata.pdf. Zugegriffen: 18. Aug. 2019 von Festenberg N (2012) Du bist echt bombig, Spiegel-Online. http://www.spiegel.de/forum/kultur/ard-film-alles-fuermeinen-vater-du-bist-echt-bombig-thread-70010-1.html. Zugegriffen: 18. Aug. 2019 Glomb I (2011) Was macht junge Männer zu Terroristen? Psychol Heute 8/2011 Gruen A (2013) Dem Leben entfremdet. Klett-Cotta, Stuttgart Heindrichs U, Heindrichs HA, Kammerhofer U (Hrsg) (2005) Tod und Wandel im Märchen, Urania Verlag, Königsfurt. https:// www.maerchen-emg.de/index.php/veroeffentlichungen/emg-schriftenreihen/band-16-tod-und-wandel-im-maerchendetail. Zugegriffen: 13. Okt. 2019 Merari A (2010) Driven to death: psychological and social aspects of suicide terrorism. Oxford University Press, Oxford (https://journals.openedition.org/ress/1241?lang=en Zugegriffen: 13. Oktober 2019) Saum-Aldehoff T (2016) Ganz normale Terroristen. Psychol Heute 2/2016 Serr M (2016) »Shoot their hearts and blow their minds«. Terrorismusbekämpfung in Israel: Vorbild für Europa?, aus Politik und Zeitgeschichte, 43–45/2016. http://www.bpb.de/apuz/235542/terrorismusbekaempfung-in-israel-vorbild-fuer-europa?p=all. Zugegriffen: 18. Aug. 2019 Sheikh H (2015) Die drei Grundformen des Dschihad, Die Zeit, 15. Dez. 2015 Zahavi D (2009a) RBB, Interview und Filmspot, 14.10.2009. https://www.youtube.com/watch?v=fF5FeOkh5wM. Zugegriffen: 18. Aug. 2019 Zahavi D (2009b) Der Selbstmordattentäter als Sympathieträger, DLF. https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-selbstmordattentaeter-als-sympathietraeger.954.de.html?dram:article_id=143969. Zugegriffen: 18. Aug. 2019 Zahavi D (2009c) Erschöpfung als Chance, Der Tagesspiegel, 21. Jan. 2009
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Ein Selbstmordattentat – oder doch Liebe?
Originaltitel
Sof Shavua B’Tel Aviv – Alles für meinen Vater
Erscheinungsjahr
2008
Land
Deutschland, Israel
Drehbuch
Ido Dror, Jonatan Dror
Regie
Dror Zahavi
Hauptdarsteller
Shredy Jabarin, Hili Yalon
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher und hebräischer Sprache erhältlich
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Jutta Menschik-Bendele
„Sie können mich nicht umbringen – ich bin schon seit Jahren tot“ Der Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Die Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Drei Männer nehmen sich das Leben . . . . . . . . . . . . . . 52 Anfang und Ende – Liebe und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_4
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Filmplakat Der englische Patient. (© Miramax. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Der englische Patient (1996) Jutta Menschik-Bendele
In den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges entschließt sich die kanadische Krankenschwester Hana, einen Krankentransport der Alliierten nach Norditalien zu verlassen, um sich in ein zerbombtes Kloster zurückzuziehen und sich dort voll der Pflege eines am ganzen Körper verbrannten Patienten zu widmen. Er wurde über der Sahara von deutschen Soldaten mit seinem britischen Flugzeug abgeschossen und kann sich seitdem an nichts mehr erinnern – nicht einmal an seinen Namen. Zu den beiden gesellen sich im Laufe der nächsten Wochen noch der Kriegsspion Caravaggio, der in dem Kranken einen Verräter vermutet, der ihm Schaden zugefügt hat, und Kip, ein Sikh, der im Dienste der britischen Armee in Italien Bomben entschärft. Hana hat sich mit genügend Morphium versorgen lassen, um den Kranken von seinen Schmerzen zu erlösen – und nach und nach beginnt dieser sich zu erinnern …
Der Film 1996 erschien das Meisterwerk unter der Regie von Anthony Minghella, das ein Jahr später bei der Oscar-Verleihung neun Preise abräumte: bester Film, beste Regie, beste Nebendarstellerin: Juliette Binoche, beste Ausstattung, beste Kamera, beste Kostüme, bester Schnitt, beste dramatische Filmmusik, bester Ton. Nominiert waren ebenfalls Ralph Fiennes als bester Hauptdarsteller, Kristin Scott Thomas als beste Hauptdarstellerin und das beste adaptierte Drehbuch. Diesem Auszeichnungsregen folgten noch zahlreiche Prämierungen – Grammys, Golden Globe Award, Europäischer Filmpreis etc., die hier nicht im Einzelnen aufgezählt werden sollen (. Abb. 4.1, Filmplakat). Was macht den Film so außergewöhnlich? Er handelt im Wesentlichen von zwei Liebesgeschichten. Die eine spielt in der Vergangenheit, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Ägypten und beschreibt die dramatisch-leidenschaftliche Beziehung zwischen Katharine Clifton, der verheirateten Frau eines britischen Piloten, und dem ungarischen Wüstenforscher Graf László Almásy. Die andere rankt sich um die zarte Romanze zwischen der Krankenschwester Hana und dem Bombenentschärfer Leutnant Kip Singh, einem Inder, der auch im Krieg versucht, nach den Gesetzen der Sikh-Religion zu leben. Sicherlich mitentscheidend für die Faszination, die der Film auslöst, ist der 1992 erschienene Roman »Der englische Patient« von Michael Ondaatje, einem kanadischen Schriftsteller mit niederländischtamilisch-singhalesischen Wurzeln. Darin erzählt er literarisch verfremdet die Afrika-Abenteuer des ungarischen Grafen Ladislaus Eduard Almásy. Dass dessen reales Leben nur entfernt mit dem Buch zu tun hat, mag der Leser wissen, ohne dass der Genuss an der Lektüre geschmälert wird. Das Buch wurde ebenfalls ausgezeichnet und war die (freizügig verwendete) Vorlage für den Film und wurde dadurch ebenfalls weltberühmt. Es handelt sich aber bei beidem – Film und Buch – um ganz eigenständige Kunstwerke. In beiden gelingt es, kunstvoll verschlungene Handlungsstränge, verschiedene Zeitebenen und einen Mix aus Dokumentation und Fiktion in ein faszinierendes Ganzes zu vereinen. Wer das Buch liest, wird vom Film nicht (wie so oft) enttäuscht, sondern freudig überrascht sein – und umgekehrt.
Die Handlung Am Beginn zeichnet ein Pinsel mit Rötelfarbe eine Figur. Sie stellt einen Schwimmer dar, so, wie sich die ersten Menschen in Höhlen abbildeten. Dann sieht man ein Doppeldecker-Flugzeug über die Sandwüste schweben. Vorne auf dem Passagiersitz ist eine schöne Frau (Kristin Scott Thomas) mit geschlossenen Augen. Sie scheint zu schlafen und der zarte Stoff, der sie umhüllt, hebt und senkt sich im
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„Sie können mich nicht umbringen – ich bin schon seit Jahren tot“
Rhythmus des Windes. Plötzlich wird das Flugzeug beschossen und stürzt ab. Der Pilot (Ralph Fiennes) hat schwer verletzt überlebt, ist am ganzen Körper und im Gesicht verbrannt, wird von Beduinen in der Wüste gefunden und von ihnen nach deren Regeln der Heilkunst behandelt. Sie hüllen ihn ein und bedecken sein Gesicht mit Ölmasken. Sie transportieren ihn mithilfe einer improvisierten Trage auf dem Kamel bis zu ihrem nächsten Halteort. Dort wird er von den Alliierten gefunden und mit einem Krankentransport des Roten Kreuzes nach Italien gebracht. Da er in einem britischen Flugzeug abgestürzt war, keine Papiere bei sich trug und offenbar sein Gedächtnis verloren hat, ist er von nun an »der englische Patient«. In einem Eisenbahnzug mit den verletzten Soldaten versieht die aparte Krankenschwester Hana (Juliette Binoche) ihren Dienst. Sie wird von den Männern angeschwärmt, kann die Avancen aber eindeutig und zugleich charmant abweisen. Obwohl sie es nicht hören soll, bekommt sie mit, dass ihr Verlobter gefallen ist. Wenig später wird sie Zeugin, wie ihre lebenslustige Kollegin und Freundin Jan in ihrem Jeep auf eine Mine fährt – gerade, als sie auf dem Weg war, sich mit von Hana geliehenem Geld einen Kleiderstoff zu kaufen. Hana ist überzeugt, dass jeder, der sie liebt, verflucht ist. Sie entscheidet sich, den Konvoi zu verlassen und sich ganz der Pflege des hoffnungslos kranken englischen Patienten zu widmen.
Im Kloster Nördlich von Florenz gibt es ein verlassenes Kloster, das einmal als Lazarett gedient hat und jetzt in einem desolaten Zustand ist. Hana inspiziert die Örtlichkeit, findet ein Bett und eine staubige Matratze, fabriziert aus den Büchern der Klosterbibliothek eine provisorische Treppe, entdeckt Obstbäume mit essbaren Früchten im Garten, schneidet sich die Haare zu einer praktischen Kurzhaarfrisur ab und ist bereit für die Pflege des geheimnisvollen Mannes. Einen Besitz hat dieser gerettet: einen dicken abgegriffenen Band der Historien von Herodot, der gespickt ist mit Notizen, handgezeichneten Landkarten, alten Fotos und anderen Erinnerungsstücken. Hana hat sich von ihrer Einheit mit Medikamenten und Morphium versorgen lassen und behandelt den Kranken mit Hingabe. Sie wäscht ihn, füttert ihn mit saftigen Pflaumen, spritzt ihm das Schmerzmittel und liest ihm aus den reichlich vorhandenen Büchern vor. Draußen hat sie den Gemüsegarten des Klosters zu neuem Leben erweckt und wehrt sich mit einem eisernen Kruzifix, das sie zur Vogelscheuche umfunktioniert, gegen diebische Vögel, die die Saat plündern. Die beiden richten sich ein, soweit es möglich ist.
RR Patient: »Warum sind Sie so fest entschlossen, mich am Leben zu halten?« Hana: »Weil ich Krankenschwester bin«. Ein unerwarteter Gast stellt sich ein, der behauptet, in Kanada mit Hanas Vater bekannt gewesen zu sein. Er nennt sich Caravaggio (Willem Dafoe), erklärt, früher ein Dieb und im Krieg ein Spion im Dienste der Alliierten gewesen zu sein. Mit der rechten Hand bietet er Hana ein lang entbehrtes Ei an, mit der linken stiehlt er einige Morphiumampullen. Er ist ungeschickt, weil ihm beide Daumen fehlen. Sie sind ihm als Kriegsgefangenem von einem sadistischen deutschen Offizier abgehackt worden. Er glaubt, dass der geheimnisvolle Patient der Verräter ist, der an seinem Unglück schuld sei, weil dieser dem deutschen Militär Kartenmaterial überlassen habe, das den Vormarsch der Deutschen in Afrika und seine Gefangennahme ermöglicht hat. Seine Gegenwart wird geduldet, obwohl der Patient und Hana nicht gerade erfreut sind. Hana spielt Bach auf einem im Kloster entdeckten Klavier und wird heftig unterbrochen als ein englischer Offizier (Naveen Andrews) hereinstürzt und sie darauf aufmerksam macht, dass die Deutschen Klaviere als beliebtes Versteck für Sprengfallen ausgewählt hatten. Er findet einen verborgenen Sprengsatz unter dem Instrument und rettet ihr so das Leben. Er trägt einen Dastar, den für Sikhs typischen Turban und ist (wie seine Landsleute ein bei den Briten sehr geschätzter) Experte zum Entschärfen
Der englische Patient (1996)
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..Abb. 4.2 László: »Wieviel haben Sie bezahlt? Wie finden Sie Kairo?« (© Miramax. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
von Bomben, von denen die deutsche Armee unzählige zurückgelassen hatte. Er schlägt im Garten des Klosters sein Zelt auf, um von dort seiner Arbeit nachzugehen und seine von der Religion vorgeschriebenen Rituale zu vollziehen. Damit ist die Gesellschaft im Kloster komplett.
In der Wüste Durch die allmählich auftauchenden Erinnerungen des Patienten ändert sich die Szene und wechselt in die ägyptische Sahara kurz vor Ausbruch des Krieges. Der Patient ist zu der Zeit ein berühmter Wüstenforscher, der im Auftrag der Royal Geographical Society mit seinem vertrauten Kollegen Madox (Julian Wadham) in dessen klapprigem Flugzeug unterwegs ist, um Karten zu zeichnen. Auf dem Plateau Gilf el-Kebir im Südwesten Ägyptens entdecken sie eine Höhle, deren Inneres mit zahlreichen rötlichen Zeichnungen von schwimmenden Menschen bedeckt ist – 4000 Jahre alt. Sie sind außer sich vor Freude. Wir Zuschauer wissen inzwischen, dass der Führer der Expedition der ungarische Graf László Almásy ist. Dann landet ein elegantes Flugzeug am Forschungslager, dem ein frisch verheiratetes Ehepaar entsteigt. Geoffrey Clifton (Colin Firth) soll angeblich im Auftrag der englischen Regierung die Geländeerkundung der Forscher materiell und durch seine Fotokünste unterstützen. (Später gesteht seine Ehefrau Katharine, dass ihr Ehemann in Erwartung eines Krieges wichtiges Kartenmaterial für die britische Regierung erstellen soll.) László ist nicht begeistert über die Frauengesellschaft. Katharine sieht, dass er ein dickes ledergebundenes Buch bei sich hat, in das er Notizen einfügt. Sie will ihm Zeichnungen der Schwimmer, die sie gekonnt angefertigt hat, für das Buch schenken. Er weist die Gabe schroff zurück, um ihr nicht zu Dank verpflichtet sein zu müssen. Zurück in Kairo verhält sich Laszlo sehr unbeholfen. Er ist den Umgang mit Frauen nicht mehr gewöhnt, wohl aber von Katharine fasziniert (. Abb. 4.2).
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„Sie können mich nicht umbringen – ich bin schon seit Jahren tot“
..Abb. 4.3 László: »Wann warst du am glücklichsten?« Katharine: »Jetzt.« László: »Wann warst du am unglücklichsten?« Katharine: »Jetzt.« (© Miramax. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Das Geld für die Expedition wird knapp, aber den Cliftons gelingt es, Mittel aufzutreiben, sodass die Gruppe wieder in die Wüste zurückkehren kann. Beim abendlichen Lagerfeuer wird durch Flaschendrehen jeweils eine Person bestimmt, eine Vorstellung zum Besten zu geben. Wohl ohne zu wissen, was dieser antike Schriftsteller für ihn bedeutet, liest Katharine eine Geschichte aus dem Historienbuch von Herodot, das László ihr gibt. Fast prophetisch wird hier die sich anbahnende Dreieckstragödie vorweggenommen. Sie erzählt, wie der griechische König Kandaules seinem getreuen Leibwächter Gyges von der außergewöhnlichen Schönheit seiner Frau vorschwärmt. Der Diener wollte nichts davon wissen, aber Kandaules nötigte ihn, heimlich seiner Frau beim Umkleiden zuzusehen. Diese erkannte Gyges jedoch und zwang ihn – da er sie nackt gesehen hatte – zu einer Entscheidung: Entweder zu sterben oder den König zu töten und sie zur Frau zu nehmen. Dieser wählte das Leben und die Königsherrschaft. Unter dem Vorwand, private Fotos britischer Offiziere in Kairo aufnehmen zu sollen, verabschiedet sich Geoffrey von der Expedition und lässt Katharine bei den Männern. Ein Sandsturm überrascht die Gruppe. László verbringt mit Katharine die Nacht von Sand eingeschlossen im Jeep. Er erzählt ihr von den Winden, dem Harmattan, dem roten Wind, der Blut regnen lässt. In dieser Nacht sind sich die beiden einander sehr nahe und am Morgen gesteht er, dass er doch sehr gerne ihre Zeichnungen in sein Buch einfügen möchte. Diese intensive Nähe setzt sich in Kairo fort. Katharine besucht László in seinem Hotelzimmer, schlägt und küsst ihn. Sie gleitet zu ihm in die Badewanne (. Abb. 4.3). 1938 feiert der britische Club in Kairo bei glühender Hitze Weihnachten. Während Geoffrey im roten Santa Claus Kostüm durch die Reihen geht, ziehen sich Katharine und László in einen entfernten Raum zurück und lieben sich leidenschaftlich, während draußen »Silent Night« ertönt. Wenig später findet Geoffrey seine völlig aufgelöste Frau. Er zeigt seine Sorge und fragt sie, ob sie schwanger sei, wie
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..Abb. 4.4 »Ich komme zurück.« (© Miramax. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
eine Lady draußen vermutet hat. Sie verneint, sagt, wie sehr sie unter der Hitze leidet und bittet ihn, mit ihr nach England zurückzukehren. Er erklärt ihr, dass dies wegen politischen Situation und der Aufgabe, die er übernommen hat, unmöglich sei. Da er auswärtige Aufträge zu erledigen hat, können die beiden Liebenden sich weiterhin treffen. Zum ersten Hochzeitstag möchte Geoffrey seine Frau überraschen und täuscht vor, dass er verhindert sei, zu kommen. Sie verabredet sich mit László und sie freuen sich, die ganze Nacht für sich zu haben. Als Geoffrey mit dem Taxi ankommt, sieht er, wie seine Frau ihr gemeinsames Domizil verlässt. Er wartet die ganze Nacht und sieht sie am nächsten Morgen zurückkommen. (Nun weiß er Bescheid.) Katharine erträgt die Spannung nicht mehr und trennt sich von László. Bei einem Bankett des Clubs betrinkt er sich sinnlos und stellt sich, Katharine und damit auch Geoffrey bloß. Der Krieg steht von der Tür und die Forschungen können nicht fortgesetzt werden. Sein Gefährte Madox hat sich deshalb schon nach England verabschiedet. László kehrt noch einmal zur Höhle der Schwimmer zurück, um letzte Aufzeichnungen zu machen. (Da ist auch das alte Flugzeug von Madox unter einer Plane geparkt.) Er soll dort von Geoffrey abgeholt und ausgeflogen werden. Als er das Flugzeug erwartet, bemerkt er, dass dieses genau auf ihn zufliegt und Geoffrey ihn, László zu töten versucht. Er kann ausweichen, aber das Flugzeug zerschellt am Boden. Als er näher kommt, sieht er, dass Geoffrey tot ist und entdeckt auf dem vorderen Sitz die schwer verletzte Katharine. Er befreit sie aus dem Wrack, wickelt sie in die Seide des Fallschirms und trägt sie in die Höhle. Sie hat einen gebrochenen Knöchel, wohl auch eine gebrochene Hand und kann sich nicht fortbewegen. Er macht ein Feuer, versorgt sie mit Wasser, etwas Lebensmitteln, einer Taschenlampe und gibt ihr sein Herodot-Buch, »etwas Gutes zum Lesen«. Er wird bis zum nächsten Ort drei Tage zu Fuß gehen müssen, um Hilfe zu finden. Sie verabschieden sich innig und er verspricht ihr, sie zu holen (. Abb. 4.4).
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„Sie können mich nicht umbringen – ich bin schon seit Jahren tot“
Er schafft es, aber wie? Halb verdurstet und erschöpft kommt er in einer Stadt an, die von einer britischen Patrouille bewacht wird. Ein Ausweis wird von ihm verlangt, er aber will sofort einen Arzt für »seine Frau«. Als er seinen Namen Graf Almásy nennt, wird er für einen Deutschen (»Fritz«) gehalten und gefangengenommen. Lange Zeit später wird er mit der Bahn nach Norden transportiert, überwältigt einen Bewacher und flieht aus dem fahrenden Zug. Wir Zuschauer werden erfahren, dass er es zu den deutschen Besatzern Ägyptens schafft und ihnen seine Landkarten im Austausch gegen Benzin und das alte Flugzeug von Madox übergibt. Nun kann er sein Versprechen einlösen und Katharine holen. Er trägt sie behutsam, – allerdings nur noch tot – heftig weinend in die Maschine. Sie schweben über der Wüste, bis die Schüsse die Stille zerreißen. (Dies ist die erste Szene des Films.)
Wieder im Kloster Dies alles erschließt sich nach und nach den Bewohnern, die sich in dem heruntergekommenen Kloster ein provisorisches Heim eingerichtet haben. Es stellt sich heraus, dass Caravaggio vermutet, László sei der Verräter und damit die Ursache dafür, dass er als britischer Spion in die Gewalt der Deutschen geriet, von denen er gefoltert wurde. Weil er keine Namen preisgegeben hat, wurden ihm beide Daumen abgetrennt. Er erwähnt, dass Madox sich in seiner englischen Heimat erschoss, als er von dem vermeintlichen Verrat des englischen Patienten erfahren hat. Je mehr Caravaggio die Geschichte des englischen Patienten versteht, desto geringer wird sein Rachebedürfnis. Außerdem profitiert er von Lászlós Morphiumvorrat. Zwischen Hana und dem Sikh Kip entwickelt sich behutsam eine Liebesgeschichte. Er zeigt ihr die Fresken von Piero della Francesca in Arezzo, indem er sie pioniermäßig angurtet und auf Augenhöhe zu den Figuren navigiert. Sie bringt ihm Olivenöl, damit er seine langen Haare pflegen kann. Beide sind scheu, aber nachts in seinem Zelt können sie sich berühren und vereinen. Der Krieg nähert sich dem Ende und manchmal geht es im Kloster auch heiter zu. Caravaggio und Hana tanzen zu Swingplatten, die sie von den Vorbesatzern finden »Cheek to Cheek« und als es regnet, bringen sie den Patienten hinaus in den Garten in die Feuchtigkeit und Kühle, wonach er sich so lange gesehnt hat. Dann ist der Krieg zu Ende. Das Dorf ist hell erleuchtet, die Leute singen, tanzen und küssen sich. Sergeant Hardy, der getreue Gefährte von Kip, mit dem dieser so viele lebensgefährliche Situationen durchgestanden und bewältigt hat, klettert auf die Säule am Brunnen, um den Union Jack zu hissen. Doch genau dort war noch ein Sprengkörper versteckt, der Hardy tötet. Kip trauert und kann nicht mehr mit Hana zusammen sein. Er bricht auf, wie er gekommen ist – mit seinem Motorrad, auf dem sein zusammengerolltes Zelt und seine gesamte Habe Platz finden. Hana und der Patient sind jetzt allein im großen Haus. Sie versorgt ihn weiter liebevoll. Als sie die Spritze für ihn aufzieht, ergreift er von seinem Bett aus die Schachtel mit den Ampullen. Er stürzt sie um, und gibt ihr mit all den mimischen und motorischen Ausdrucksmöglichkeiten, die ihm noch zur Verfügung stehen, ein deutliches Zeichen: Sie soll alles Morphium auf einmal verwenden. Hana versteht. László bedankt sich und bittet sie, ihm vorzulesen, bis er einschläft. Sie weint heftig, fasst sich und liest dann die letzten Worte, die die sterbende Katharine in dem Herodot-Buch hinterlassen hat: Ein Lastwagen hupt. Hana wird erwartet. Noch einmal kehrt sie in den Raum zurück, in dem sie den englischen Patienten so hingebungsvoll begleitet hat. Das Bett ist leer und aufgeräumt. Hana schnappt sich das Buch. Sie geht nach draußen. Caravaggio wartet auf sie und stellt seine italienische Freundin vor, die am Steuer sitzt. Hana schwingt sich hinten auf die Ladefläche und die Fahrt geht los.
Drei Männer nehmen sich das Leben Madox erschießt sich. Geoffrey Clifton will seine Frau, seinen Nebenbuhler und sich töten und stirbt als Einziger. László Almásy bittet um die tödliche Dosis Morphium. Der Suizidexperte Edwin Shneidman, der bereits 1955 das erste Suizidpräventionszentrum in Amerika mitbegründete, definiert den Suizid
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»als vorsätzlichen Tod – als selbst herbeigeführten Tod aufgrund eines absichtlichen, direkten und bewussten Versuchs, das eigene Leben zu beenden« (zitiert nach Comer 1995, S. 360).
Er unterscheidet vier Arten von Menschen, die die Absicht haben, ihrem Leben ein Ende zu setzen: Todessuchende, Todesverächter, Todesherausforderer, Todesinitiatoren. Demnach hätten Todessuchende die klare Absicht, ihr Leben zu beenden. Männer wählen dabei eher »harte« Suizidmethoden wie Erhängen und Erschießen, Frauen wenden eher »weiche« Methoden wie Vergiftung durch Medikamente an. Todesverächter wollen ihr Leben hinter sich lassen, weil sie überzeugt sind, nach den Tod eine bessere Existenz zu haben. Todesherausforderer sind oft Abenteurer, die eine zwiespältige Einstellung zum Tod haben und es mit riskantem Verhalten darauf ankommen lassen, ob ihr Leben tödlich endet. Todesinitiatoren – oft hoffnungslos schwer kranke Menschen – haben mit dem Leben abgeschlossen und wollen den Prozess des Todes beschleunigen (vergl. ebenda, S. 363 f.). Hilft diese Kategorisierung, die Suizide der drei Männer zu verstehen?
Madox erschießt sich – ein Todessuchender nach enttäuschter Lebensbilanz? Der Mann, dessen Vornamen nie genannt wird, ist der Partner und Wüstengefährte an Lászlós Seite. Er ist neben ihm als sie die »Höhle der Schwimmer« entdecken, er rettet seinen Gefährten und Katharine, als diese im Sandsturm verschüttet sind. Er ahnt die gefährliche Beziehung der beiden, versagt sich aber jeden Kommentar. Bis auf eine Ausnahme: Als der liebestrunkene László ihn fragt, wie der medizinische Ausdruck für die Halsgrube (einer Frau) heiße, wirkt Madox ungehalten und bittet seinen Freund, sich zusammenzureißen. Im Jahr 1939 müssen alle Forscher der geografischen Gesellschaft das Land und die Wüste verlassen. Zum Abschied fragt Madox, der zu seiner Frau nach Somerset zurückkehren wird, ob László ihn dort besuchen würde. Aber er weiß, dass dies nicht geschehen wird. Seine letzten Worte sind seine verspätete Antwort als persönliches Abschiedsgeschenk.
RR »Falls es dich immer noch interessiert. Das nennt man incisura jungularis sternis.« Warum erschießt sich Madox nach seiner Rückkehr in sein Heimatdorf? Der Film gibt nicht viel Aufschluss. Caravaggio konfrontiert László mit dessen angeblichem Verrat, dem er den Verlust beider Daumen »verdankt«, und erwähnt fast beiläufig, dass Madox sich erschossen habe – aus Entsetzen über die Kooperation seines Freundes mit den Deutschen. Der Schmerz über diese Nachricht ist deutlich im zerstörten Gesicht von László zu erkennen. Dennoch wirkt die Tat in dieser Verkürzung unmotiviert. Vielleicht hilft der Buchtext (von mir stakkatoartig zusammengefasst) weiter. »Und Madox kehrte in das Dorf Marston Magna in Somerset zurück, wo er geboren war, und einen Monat später saß er in der Kirchengemeinde, hörte eine Predigt zum Lobpreis des Krieges, zog seinen Wüstenrevolver heraus und erschoss sich … Er kehrte heim zu seiner Frau … nahm nur sein Lieblingsbuch von Tolstoi mit, hinterließ mir alle seine Kompasse und Landkarten. Unsere Zuneigung blieb unausgesprochen … Ein Krieg, der nicht seiner war, riss den fein gewirkten Gobelin mit seinen Gefährten auseinander … Zwei oder drei Leute hatte er in seinem Leben näher kennengelernt, und jetzt zeigte sich, dass sie der Feind waren … Hinten in der überfüllten Kirche beschlossen sie (Madox und seine Frau, J MB), um überhaupt Platz zu bekommen, getrennt zu sitzen. Als die Predigt nach einer halben Stunde begann, dröhnte sie nationalistisch, bedenkenlos in der Befürwortung des Krieges. Der Geistliche sprach mit donnernder Stimme frohgemut vom Kämpfen, sprach den Segen über die Regierung und die Männer, die im Begriff standen, in den Krieg zu ziehen. Madox hörte mit an, wie die Predigt immer leidenschaftlicher wurde. Er zog seinen Wüstenrevolver heraus, beugte sich vor und
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schoss sich ins Herz. Er war auf der Stelle tot. Ein großes Schweigen. Wüstenschweigen. Flugzeugloses Schweigen … Seine Frau ging das Mittelschiff entlang, blieb an seiner Reihe stehen, murmelte etwas, und sie machten ihr Platz neben ihm. Sie kniete sich hin und nahm ihn in die Arme« (Ondaatje 2017, S. 299 ff.).
Madox war ein zurückhaltender Mensch, der seine Gefühle verbarg und nicht leicht Freundschaften schloss. Auch sein Verhältnis zu seiner Frau wirkt eher kühl und vernünftig, soweit ihr Verhalten bei seinem Tod Rückschlüsse auf ihre Beziehung erlaubt. Seine Leidenschaft gehörte der Arbeit – dem Fliegen, dem Entdecken, dem Kartenzeichnen. Dies alles teilte er gern mit seinen Gefährten, besonders mit dem Einen. Kleine Gesten der Verbundenheit reichten ihnen aus. Worte, die ihre Freundschaft beschrieben, vermieden sie und hätten sie vermutlich verlegen gemacht. Man kann wohl sagen, dass Madox kein besonders fröhlicher Mensch war, vielleicht sogar etwas melancholisch. Aber alles, was wir über ihn wissen, reicht nicht aus, ihn als psychisch kranken depressiven Menschen zu betrachten. Es muss also noch etwas anderes hinzugekommen sein, das ihn zum Suizid getrieben hat. Kurz vor der Tat preist der Priester dröhnend den Krieg und die Männer, die in den Krieg ziehen. Es wird für Madox wie ein Hohn geklungen haben, dass der Kriegsausbruch, der alles für ihn Wichtige und Lebendige begraben hatte, jetzt von höchster Stelle gesegnet wurde. Madox zeigt durch seine Tat, wie sehr er sich von den sozialen Institutionen Kirche, Gemeinde, Gesellschaft, vielleicht auch Familie unverstanden fühlt. Bereits 1897 entwickelte der Soziologe Emile Durkheim die soziokulturelle Ansicht, dass Menschen, die sich aus der Gesellschaft zurückgeziehen oder von ihr zurückgestoßen werden, ein höheres Suizidrisiko haben als gesellschaftlich gut integrierte Personen. Durkheim führt aus, wie Wirtschaftskrisen, Kriege, Kulturumwälzungen, aber auch das Auflösen privater Beziehungsformen eine Regel- und Orientierungslosigkeit (Anomie) hervorbringen, die Ursachen für zunehmende Selbstmorde in modernen Gesellschaften darstellen. »Der egoistische Selbstmord bestimmt sich daraus, dass die Menschen im Leben keinen Sinn mehr sehen; der altruistische Selbstmord daher, dass ihnen dieser Sinn als außerhalb des eigentlichen Lebens liegend erscheint; die dritte Art von Selbstmord, die wir eben festgestellt haben, daraus, dass ihr Handeln regellos wird und sie darunter leiden. Wegen seines Ursprung wollen wir dieser letzten Art den Namen anomischer Selbstmord geben« (Durkheim 1973, S. 295).
Insofern ist der Suizid von Madox nicht nur aus seiner individuellen Befindlichkeiten heraus zu erklären, demnach also weder egoistisch, noch altruistisch, sondern ist am ehesten mit dem Verlust aller Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten (anomisch) zu erklären, die sein Leben bestimmt hatten. »Ich habe ihn nie tanzen sehen. Er war jemand, der schrieb, der die Welt interpretierte … Wenn er eine neue Fertigkeit bei einem Wüstenstamm aufspürte oder eine seltene Palme entdeckte, war er wochenlang verzaubert« (Ondaatje 2017, S. 302 f.).
Nicht nur, dass ihm der Krieg dies alles nahm, sondern auch noch verherrlicht wurde, muss in ihm einen ohnmächtigen Zorn aufgebaut haben, dem wohl Gereiztsein und Überdruss vorausgegangen sind. »Die vollständige Auflösung all seiner Lebensgewohnheiten versetzt ihn in einen Zustand von Raserei, die sich notwendig in einer gewalttätigen Handlung einladen muss. Es ist letztlich gleichgültig, auf wen sich die so entfesselten Gewalten entladen« (ebenda, S. 329).
Ein Mensch wie Madox begeht keinen Mord, er löscht sich selbst aus.
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Geoffrey Clifton will seine Frau, seinen Nebenbuhler und sich töten – ein Todesverächter und Todesherausforderer aus Selbstwertverlust? Geoffrey und Katharine kennen sich, seit sie drei Jahre alt sind. Er glaubt, dass ihm nichts an seiner Frau fremd ist. Er ist arglos, als er zu seinen vielen Erkundungsreisen für den britischen Staat/Geheimdienst aufbricht und seine Frau in Kairo und bei den Wüstenforschern zurücklässt. Für ihn muss eine Welt zusammenbrechen, als er Katharine zum ersten Hochzeitstag überraschen will und vom Taxi aus sieht, wie sie das gemeinsame Haus verlässt und erst am nächsten Morgen beschwingt zurückkehrt. Er hat die ganze Nacht vor ihrem Haus gewartet. Er lässt sich nichts anmerken. Als er László am Ausgrabungsort abholen und mit seiner Maschine aus der Wüste herausholen soll, sagt er Katharine nichts von seiner Mission, sondern lediglich, dass er eine Überraschung für sie bereit habe. Das Flugzeug hat nur zwei Sitze, sodass für ihn von vornhinein klar war, dass nicht alle drei zurückkommen würden. Er ist ein erfahrener Pilot und hält voll auf den nichtsahnend wartenden Nebenbuhler zu. Er muss wissen, dass er mit solch einem Crash nicht nur dessen, sondern auch sein eigenes Leben und das seiner Frau aufs Spiel setzt. Nicht planen konnte er, dass er als einziger stirbt. Seine Frau überlebt schwer verletzt und sein »Feind« bleibt (äußerlich) unversehrt. Erklärungen, warum Menschen töten, was sie begehren und lieben, hat der Gewaltforscher Andreas Marneros in jahrzehntelanger Arbeit zusammengetragen und dafür auch einen neuen Begriff geschaffen: Intimizid, die Tötung des Intimpartners. Geoffrey ist bereit, zu riskieren, seine Frau zu töten und sich selbst dazu, nachdem sein Glauben an eine perfekte Beziehung zerstört ist. Man kann diese Reaktion nicht nur mit Eifersucht erklären. Er muss die Kränkung, die ihm durch seine Frau und seinen Kameraden zugefügt wurde, als eigenes Versagen erleben, das ihn selbst total infrage stellt. Marneros spricht in diesem Zusammenhang von einer finalen Bankrottreaktion bzw. -handlung. »Die Finale Bankrottreaktion bzw. Bankrotthandlung hat als durchgehendes Charakteristikum die Primitivierung der Bewältigungsmechanismen: Sowohl zivilisatorisch geprägte Tabus und Handlungsverbote als auch persönlichkeitsgebundene Bewältigungsmechanismen brechen zusammen; Hemmmechanismen versagen; moralisch-ethische Vorstellungen, die bis zum Tatzeitpunkt Gültigkeit besaßen, werden ignoriert; sthenische Gefühle, die mehrfach im Leben unter Kontrolle gehalten werden konnten, überwinden jeglichen Kontrollmechanismus, und das bis jetzt noch gehaltene und streng respektierte höchste Tabu, das mit dem Tötungsverbot und der Tötungshemmung geschützt war, wird enttabuisiert« (Marneros 2008, S. 57).
Geoffrey war ein verwöhntes Kind seiner Klasse, attraktiv, erfolgreich, strahlend. Zu einem solchen Mann gehören ein schillernder Beruf (Pilot, Meisterfotograf, Spion) und eine wunderschöne Frau, die auch von anderen bewundert wird. Er genießt großes Ansehen bei seinesgleichen, darf sich mancherlei Spaß und Albernheiten erlauben und wird doch immer dazu gehören. Wenn seine Frau sich mit einem anderen einlässt, was in der Community nicht verborgen bleiben kann, hat er nicht nur sein Gesicht vor den anderen, sondern auch die Achtung vor sich selber verloren. Er hat nicht gelernt, mit Katharine über seine Gefühle zu sprechen und schon gar nicht, sich mit dem Liebhaber seiner Frau verbal auseinanderzusetzen. Seine Ehre ist nicht nur verletzt, sondern zerfetzt. So entsteht sein Plan, nicht nur seine Frau zu vernichten und sich dazu, sondern auch den Dritten zu beseitigen. Dadurch wird dieser Intimizid zu einem erweiterten Suizid – eigentlich ein Unwort, denn genau genommen ist es Mord. »Als erweiterter Suizid wird seit Naecke (1908) der Suizid bezeichnet, bei dem ein Mensch, welcher sich zum Suizid entschlossen hat, gleichzeitig andere Menschen in den Tod mitnimmt, ohne deren Zustimmung und Wissen« (ebenda, S. 162).
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Den Todesherausforderer Geoffrey können wir uns gut vorstellen. Er hat viele Abenteuer bestanden und wirkt nicht besonders ängstlich. Er scheint sich auf seine guten Gene, seine Erfahrungen und seinen Optimismus verlassen zu können. Sein durchaus auch gesunder Narzissmus beflügelt ihn in vielen Situationen und gibt ihm Selbstvertrauen. Das riskante Flugzeugmanöver, das László töten sollte, birgt für ihn (und Katharine?) eine geringe Chance, mit dem Leben davonzukommen. Aber warum inszeniert er diese merkwürdige Dreierbedrohung? Es ist, als wollte er seine Verbindung mit den zwei Menschen, die ihm sehr nahe standen, in eine andere Sphäre transportieren, jenseits des irdischen Lebens. Somit erscheint er auch als Todesverächter, dem der Tod letztendlich nichts anhaben kann.
László Almásy bittet um die tödliche Dosis – ein Todesinitiator, der sein Leiden beenden möchte! Diese Überschrift zum dritten Suizid enthält kein Fragezeichen, sondern ein Ausrufezeichen. Unmissverständlich deutet der Patient auf die Ampullen mit dem Morphium, stößt die Schachtel um und zeigt Hana mimisch, dass sie alle benutzen soll. Nichts deutet darauf hin, dass Hana die Absicht hatte, sein Leiden vorzeitig zu beenden. Sie hat ihn liebevoll gepflegt und wäre auch bereit, dies fortzusetzen – auch wenn dies bedeutet hätte, ganz allein mit László zurückzubleiben. So hatte sie es ja anfangs auch beabsichtigt. In voller Absicht hat sie ihm die bewusstseinsdämpfenden Medikamente gespritzt, um ihm die unerträglichen Schmerzen zu lindern, aber nicht, um seinen Tod herbeizuführen. Sie hat ihn gefüttert, gewaschen, bewacht und unterhalten. Er trifft die Entscheidung, im Schlaf zu sterben. Dabei soll sie ihm die letzten Zeilen vorlesen, die Katharine vor ihrem Tod (für ihn) in sein Buch geschrieben hat:
RR »Mein Liebster, ich warte auf dich. Wie lange dauert ein Tag in der Dunkelheit? Oder eine Woche? Das Feuer ist jetzt aus und mir ist furchtbar kalt. Wir sterben, wir sterben. Wir sterben reich an Liebhabern und an Völkern, an Säften, die wir genossen haben, an Körpern, in die wir eingedrungen sind und die wir durchschwommen haben wie Flüsse. An Ängsten, in denen wir uns versteckt hielten wie in dieser verfluchten Höhle. Ich möchte von all dem Spuren auf meinem Körper. Wir sind die wahren Länder. Nicht die Grenzen auf den Karten mit den Namen mächtiger Männer. Ich weiß, du wirst kommen und mich hinaus tragen in den Palast der Winde. Mehr habe ich mir nicht gewünscht, als mit dir an einem solchen Ort herum zu laufen, mit Freunden, auf einer Erde ohne Landkarten.« Erleben wir hier eine Lektion in »gutem Sterben«? László bringt Hana in ein Dilemma. Sie muss entscheiden, ob sie seinem Wunsch nachkommt, ihm die tödliche Dosis zu verabreichen und danach mit diesem Wissen weiterzuleben. »Terminale Sedierung« nennt die Medizin die Art der Behandlung, bei der ein sterbenskranker Patient mit Medikamenten so weit versorgt wird, dass sein unerträgliches Leiden gemildert wird. Nicht selten äußern Betroffene und Angehörige den Wunsch nach Erlösung – »im Schlafen hinübergehen«. Der Experte für Palliativmedizin, Christof Müller-Busch, nennt drei Dimensionen der Probleme und Konflikte in der Grenzsituation zwischen Leben und Tod: »eine philosophisch-religiöse, durch die allgemein anerkannt ethisch-moralische Grundsätze, aber auch unterschiedliche Erkenntniswege und Sichtweisen zum Ausdruck kommen, eine rechtliche, durch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen berücksichtigt werden und die im Einzelfall einen Schutz gewährleisten soll, sowie eine medizinische, in der sich die prognostischen Kriterien sowie therapeutische Möglichkeiten und Erfahrungen für konkrete Behandlungssituationen manifestieren« (Müller-Busch 2006, S. 128).
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Inzwischen wird auch in Deutschland ein liberales Sterbehilfegesetz diskutiert. Die FDP-Bundestagsfraktion hat dazu Eckpunkte vorgelegt. Sie schlägt ein mehrstufiges Verfahren vor: Es muss eine ärztliche Diagnose über eine unheilbare, zum Tode führende Krankheit vorliegen (psychische Leiden sind ausgenommen). Dann müssen sich Menschen, die Hilfe zum Sterben wünschen, »ergebnisoffen« beraten lassen. Dort soll auch die Freiverantwortlichkeit des Sterbewunsches geprüft und bescheinigt werden. Zwischen unabhängiger Beratung und assistierter Hilfe zur Selbsttötung muss mindestens eine Woche zeitlicher Abstand sein (Quelle: Der Spiegel 2019, S. 1616. Seit dem 26. Februar 2020 ist laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts der assistierte Suizid in Deutschland erlaubt.). Die Philosophin Svenja Flaßpöhler diskutiert die Ambivalenz der Selbstermächtigung zum Suizid: »Auf der einen Seite will sich der aufgeklärte Mensch nicht bevormunden lassen, sich nicht länger metaphysisch verankerten Dogmen unterwerfen … Auf der anderen Seite aber droht das Recht auf Selbstbestimmung fortwährend in eine prekäre Selbstbezüglichkeit umzuschlagen. So fällt es uns offensichtlich immer schwerer, Kontrolle abzugeben, bestimmte Dinge einfach geschehen zu lassen – eine Entwicklung, die nicht zuletzt durch den technischen Fortschritt bedingt ist … Vor diesem Hintergrund wäre zu fragen, ob nicht der Ruf nach Freitodhilfe den modernen Willen nach Selbstbestimmung insofern auf die schwindelerregende Spitze treibt, als wir nun nicht einmal mehr am Lebensende die Zügel aus der Hand geben wollen« (Flaßpöhler 2015, S. 102 f.).
In meiner Wahrnehmung gibt der Held des Filmes die Zügel aus der Hand. Er hat schon länger Kontrolle abgegeben, seit er in der Wüste gefunden, von einheimischen Nomaden dem Roten Kreuz übergeben und von Hana übernommen wurde. Er hat bis zuletzt von ihr zärtliche Betreuung, Nähe und mitfühlendes Verständnis erhalten. Sie hat es in Gemeinschaft mit Caravaggio und Kip geschafft, dass der »englische Patient« sich an seine Geschichte erinnern und sie erzählen konnte, sodass bei aller Schuld, die er auf sich geladen hatte, zum Ende der Mensch sichtbar wurde, der seine Würde bewahrt hat. So konnte er auch Hana wieder ins Leben entlassen, und sie nahm dieses Angebot an.
Anfang und Ende – Liebe und Tod Warum berührt dieser Film so sehr, in dem letztendlich sechs Menschen zu Tode kommen? Er erzählt die alte Geschichte von glücklicher, unglücklicher, verbotener und unmöglicher Liebe, von unerwünschtem und selbst herbeigeführtem Tod auf wieder neue Weise. Lohnt sich das Lieben, wenn die geliebten Menschen gehen oder sterben? Zwei lebenslustige Menschen, Sergeant Hardy und die Krankenschwester Jan, die gegen die Hinterlassenschaft des Krieges ankämpfen, werden doch noch von Bomben des Feindes erfasst und getötet. Madox vernichtet sich aus einer Mischung von Seelenschmerz und politischem Protest heraus. László, der unheilbar kranke Patient, entscheidet sich, sanft einzuschlafen und zu gehen. Aber vorher entfaltet er noch einmal die ganze unberechenbare Leidenschaft zu seiner geliebten Katharine. Einer Stelle ihres Körpers, der Halsgrube, gibt er einen eigenen Namen: Almásy Bosporus, »Almásy hat eine neue Obsession. Er wird zum Topographen von Katharines Körper, versucht nicht nur ihren Körper, sondern sie selbst in Besitz zu nehmen. Auf ihrem Körper spielt fortan sein Begehren, so wie es einst in der Wüste spielte. Wie diese in seinen Landkarten Gestalt annimmt, ist Katharine real für ihn nur in seiner Kartographie. Wüste und weiblicher Körper konvergieren« (Hark 2003, S. 326).
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Aber diese Art erotischer Inbesitznahme enthält nicht das tödliche Gift wie das Besitzdenken ihres Ehemanns Clifton, das schließlich zu Katharines und seinem Tod führt. Der schlitzohrige (Über‑)Lebenskünstler Caravaggio, der mutige und begabte Leutnant Kip und die tüchtige, liebenswerte Krankenschwester Hana sind die überlebenden Protagonisten in diesem Film – und jede Person vermittelt Hoffnung für die Zuschauer und ist damit auch ein Plädoyer für das Leben und gegen den Tod. Caravaggio stünde damit für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Vergebung, Leutnant Kip für die Kraft der Selbstbeherrschung und die Hilfe durch Spiritualität und Hana für die Energie der Jugend, der ein gutes Leben zu wünschen ist. So könnte die Botschaft des Filmes sein: Das Leben gewinnt.
Literatur Comer RJ (1995) Klinische Psychologie. Spektrum, Heidelberg, Berlin, Oxford Der Spiegel (2019) FDP für Sterbehilfe. Nr. 48/23. Nov. 2019 Durkheim E (1973) Der Selbstmord. Suhrkamp, Frankfurt am Main Flaßpöhler S (2015) Mein Tod gehört mir. Über selbstbestimmtes Sterben. Pantheon, München Hark S (2003) Kartographien von Wüste und Körper: Der englische Patient. In: Lezzi E, Ehlers M (Hrsg) Fremdes Begehren. Transkulturelle Beziehungen in Literatur, Kunst und Medien. Böhlau, Köln Marneros A (2008) Intimizid. Die Tötung des Intimpartners. Schattauer, Stuttgart Müller-Busch C (2006) Terminale Sedierung. In: Kettler D et al (Hrsg) Selbstbestimmung am Lebensende. Ringvorlesung im Wintersemester 2005/06. Universitätsverlag, Göttingen Ondaatje M (2017) Der englische Patient, 5. Aufl. dtv, München
Originaltitel
The English Patient
Erscheinungsjahr
1996
Land
USA, UK
Drehbuch
Anthony Minghella
Regie
Anthony Minghella
Hauptdarsteller
Ralph Fiennes, Juliette Binoche, Kristin Scott Thomas, Willem Dafoe, Colin Firth, Naveen Andrews
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Jan Philipp Amadeus Aden
Liebe und Tod im Meer vereint Basisdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Hintergrundgeschichte des realen Ramón Sampedro . . . . 61 Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Über die Pflicht zu leben und das Recht zu sterben . . . . . 65 Das Meer, die Liebe und der Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Abschlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_5
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Filmplakat Das Meer in mir. (© TOBIS Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Das Meer in mir (2004) Jan Philipp Amadeus Aden
Basisdaten
Im Jahre 2004 lief der Film Das Meer in mir (Originaltitel: Mar Adentro) des chilenisch-spanischen Regisseurs Alejandro Amenábar in den Kinos an und wurde ein internationaler Erfolg, der vom Publikum und der Kritik mit Begeisterung aufgenommen wurde (. Abb. 5.1, Filmplakat). Die überaus positive Rezeption – trotz oder gerade wegen des brisanten Themas – dokumentierte sich nicht zuletzt in zahlreichen künstlerischen Ehrungen, wie beispielsweise der Auszeichnung als Bester fremdsprachiger Film im Rahmen der 87ten Oscarverleihung 2005 in Los Angeles. Der Regisseur Alejandro Amenábar war neben der Direktion ebenso für die Musik sowie den Schnitt des Films verantwortlich und steuerte der Produktion gemeinsam mit Mateo Gil auch das Drehbuch bei. Die Hauptrolle des Ramón Sampedro wird vom mehrfach ausgezeichneten Schauspieler Javier Bardem verkörpert, der für seine Darstellung u. a. bei den Filmfestspielen von Venedig 2004 den Silbernen Löwen erhielt. Weitere zentrale Rollen werden von den spanischen Schauspielerinnen Belén Rueda (Julia), Lola Dueñas (Rosa) und Mabel Rivera (Manuela) übernommen, die für ihre schauspielerische Leistung in Das Meer in mir ebenfalls künstlerische Auszeichnungen erhielten. Das Meer in mir basiert auf der Lebensgeschichte des im Alter von 25 Jahren bei einem Sprung ins Meer verunglückten und dadurch vom Hals ab gelähmten (Tetraplegie) Spaniers Ramón Sampedro. Dieser kämpfte seitdem auf juristischem Wege für das Recht auf einen selbstbestimmten »würdevollen« Tod und beendete schließlich fast 30 Jahre nach seinem Unfall – ohne das Ziel, gesetzliche Legitimation erhalten zu haben – sein Leben durch assistierten Suizid. Amenábars cineastische Inszenierung des Falls Ramón Sampedro ist dabei keine exakt dokumentarische Nachstellung biografischer Episoden des galizischen Seemanns Ramón (Weiher 2006). Vielmehr bildet das filmische Narrativ einen Raum, innerhalb dessen gesellschaftliche Ansichten – verkörpert durch unterschiedliche Personen im Leben des Protagonisten – eine Position gegenüber der persönlich-individuellen Entscheidung, sterben zu wollen, einnehmen oder finden müssen bzw. vor diesem Hintergrund illustriert werden. Künstlerische Freiheiten stehen im Dienste einer Dramaturgie, welche in verdichteter Erzählweise ethisch-philosophische Fragen sowie innerpsychische Prozesse vor allem durch Beziehungen Ramóns zu den Menschen seiner nächsten Umgebung, sichtbar macht und auf den Zuschauer*in wirken lässt (zu vorgenommenen Veränderungen siehe Katholisches Filmwerk o.J.). Wofür lohnt es sich zu leben? Wer hat die Deutungshoheit über die Bewertung eines Lebens als würdevoll? Wo liegen die Grenzen von Freiheit und Autonomie?
Hintergrundgeschichte des realen Ramón Sampedro Ramón Sampedro wurde 1943 im kleinen galizischen Ort Porto do Son geboren und erlitt 1968 einen Badeunfall, infolgedessen er fortan vom Hals ab gelähmt war (Tetraplegie). Er stritt vor spanischen Gerichten sowie dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vergeblich für die Legalität von aktiver Sterbehilfe. Im Jahre 1996 veröffentlichte er eine Sammlung mit von ihm verfassten Schriften unter dem Titel »Briefe aus der Hölle« (orig. Cartas Desde El Infierno). Ramón Sampedro nahm sich schließlich 1998 mithilfe einer Freundin (Ramona Maneiro) das Leben. Dabei nahm er in Wasser aufgelöstes Zyankali durch einen Trinkhalm zu sich. Der folgende Todeskampf dauerte 20 Minuten und wurde filmisch festgehalten. Ramón Sampedro wurde 55 Jahre alt. Ramona Maneiro bekannte sich nach Ablauf der Verjährungsfrist im Jahre 2005 öffentlich zu ihrer Mithilfe bzw. Assistenz zum Suizid (Weiher 2006).
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Liebe und Tod im Meer vereint
Handlung Die Handlung des Films konzentriert sich vor allem auf die letzte Lebensphase Ramóns und greift frühere Lebensereignisse lediglich in Form von Rückblenden auf und integriert diese ins filmische Geschehen, ohne dabei den Fokus von der gegenwärtigen Extremsituation zu nehmen. Die erste Szene versetzt die Zuschauer*innen aber zunächst an einen sinnlichen Ort voll Schönheit und Harmonie. Auf einer Leinwand öffnet sich der Blick auf ein Meer, dessen sanfte Wellen gemeinsam mit einem tiefen Blau den gesamten Bildschirm für sich zu vereinnahmen beginnen. Eine Frauenstimme untermalt die Szenerie und lädt in ihren Worten zur sinnlichen Verschmelzung mit dem vorgestellten Ort ein. Ein Mann schreitet durch den Sand des Strandes, das Wasser berührt seine Füße sanft und zieht sich nach kurzem Kontakt wieder in die rauschende Unendlichkeit des Meeres zurück, nur um kurz darauf die zärtliche Berührung ein weiteres Mal zu wiederholen. Der Zuschauer wird dieser friedlichen Situation jedoch durch ein lautes Donnern entrissen. Die zuvor gehörte Frauenstimme lässt sich nun einer konkreten Person zuordnen, die das zur Linken von Ramón gelegene Fenster verschließt. Es handelt sich um Gené. Eine Mitarbeiterin des Vereins »Recht für ein würdiges Sterben«, der Ramón juristisch und psychologisch unterstützt. Der evidente Kontrast zwischen der Situation in Ramóns Zimmer und der vorherigen Bilderwelt, die eine imaginative Reise Ramóns zu dessen Lieblingsort darstellte, könnte kaum größer sein. Statt Beklemmung entwickelt sich eine humorvolle Interaktion zwischen den beiden, welche nicht zuletzt deren vertrautes und persönliches Verhältnis illustriert. Gené ist es gewesen, die den Kontakt zur Kanzlei der Anwältin Julia aufgebaut hat. Gemeinsam mit ihrem Mitarbeiter Marc übernimmt diese den Fall Ramón Sampedro, wobei insbesondere bei ihrem Engagement eine persönliche Dimension das ausschlaggebende Moment der juristischen Betreuung darstellt. Sie selbst leidet an der unheilbaren und degenerativen Erkrankung Cadasil, in deren Verlauf es zu Lähmung und der Entwicklung einer Demenz kommt. Ein Umstand, der sie in ihren Augen Ramóns Anliegen verstehen lasse und ein wesentliches Motiv für ihr berufliches Engagement darstelle. In der weiteren Handlung treffen Julia und ihr Mitarbeiter beim Haus der Sampedros ein und es werden weitere Personen aus dem sozialen Kosmos Ramóns in die Handlung eingeführt und zu Wort kommen gelassen. Da wäre zunächst Ramóns älterer Bruder José. Er duldet keine Selbsttötung in seinem Haus, da dies seinen Glaubensvorstellungen widerspräche und nicht rechtens sei. Josés Frau Manuela pflegt Ramón und hat ein inniges Verhältnis zu ihm. Ihr Sohn Javi führt eine ebenfalls enge, vertrauliche Beziehung zu seinem Onkel Ramón und unterstützt ihn, indem er mechanische Hilfsapparaturen baut, die es Ramón etwa ermöglichen zu schreiben. Diesbezügliche Konstruktions- und auch Wartungsarbeiten führt er gemeinsam mit seinem Großvater Joaquín aus, welcher seinerseits mit Ramón jedoch nie über dessen Todeswunsch spricht oder gesprochen hat. Die erste Begegnung zwischen Julia und Ramón findet in dessen Zimmer statt. Er liegt mit aufgerichtetem Oberkörper in seinem Bett. Julia betritt Ramóns Raum und nähert sich seinem Bett. Kokett entschuldigt sich Ramón, ihr nicht die Hand zur Begrüßung reichen zu können, worauf sie seine regungslose Hand mit der ihren begrüßend umfasst. Im Laufe des ersten Gesprächs stellt Julia ihm die Frage, warum er sterben wolle. Ramóns Antwort bildet den verbalisierbaren Teil seines Todeswunsches ab und stellt die individuelle Selbstbestimmung sowie Definitionshoheit über das eigene Leben und dessen Würde ins Zentrum seiner Haltung.
RR »Ich möchte sterben, weil für mich ist ein Leben in diesem Zustand ein unwürdiges Leben. Aber ich verstehe, dass sich andere Tetraplegiker beleidigt fühlen könnten, wenn ich sage, dass so ein Leben unwürdig sei. Ich, ich maße mir kein Urteil an.«
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Im folgenden Abschnitt wird der Charakter der Rosa in die Handlung eingeführt. Eine Fabrikarbeiterin und junge Mutter zweier Söhne, die von Ramón und dessen Geschichte im Rahmen eines Fernsehbeitrags erfahren hat. Sie ist vom Auftritt Ramóns tief bewegt und beschließt ihn persönlich aufzusuchen. Auf der Seite liegend und den Blick auf das Fenster zu seiner Linken gerichtet empfängt er sie mit einem warmen Lächeln im Gesicht. Rosa ist aufgeregt. Ihr mögen keine Worte einfallen, sich selbst in dieser Situation zu erklären. Ramón nimmt die Last der Gesprächsführung von ihren Schultern und lenkt fortan die Konversation. Der Austausch steuert unweigerlich auf die Frage ihres Besuchsgrunds zu. Sie wolle sich ihm als Freundin anbieten und helfen, wieder Freude am Leben zu finden. Ihr Angebot ist gleichzeitig ein Ansuchen um eine wichtige Rolle im Leben von Ramón. Dafür müsse man – Ramón folgend – jedoch zunächst sein Anliegen respektieren. Er ist verärgert und wirft ihr vor, in erster Linie für sich selbst einen Sinn zu suchen. Rosa verlässt, mit den Anschuldigungen überfordert und durch selbige verletzt, den Raum stürmisch. Doch sie wird wiederkommen und eine zentrale Rolle in der Erfüllung seiner Todessehnsucht spielen. Im zweiten Aufeinandertreffen von Ramón und Julia hingegen erhält das Thema der Liebe entscheidende Bedeutung. Ramón erläutert, weshalb er, trotz möglicher Liebe in seinem Leben, sterben wolle. Er sei in seinem Zustand nicht in der Lage zu lieben, weshalb er verzichte bzw. Liebe kein tragendes Element für den Fortbestand seines Lebens darstelle. Er verzichte auf die Liebe, wenn er sie nicht gänzlich leben könne. Dies gelte jedoch ausschließlich für ihn und impliziere keinerlei Generalisierung auf Tetraplegiker an sich. Schwägerin Manuela zeigt Julia darüber hinaus eine Sammlung von Gedichten, die Ramón verfasst hat und von ihr in einer kleinen unscheinbaren Schachtel verwahrt werden. Julia liest diese und ist fasziniert von der Schönheit seiner Poesie. Sie rät zur Veröffentlichung, was nicht zuletzt auch dem juristischen Anliegen zuträglich sein könne. Julias Erkrankung schreitet jedoch voran und lässt sie noch während ihres Aufenthaltes bei Ramón stürzen. Gegenüber Gené artikuliert sie im Krankenhaus liegend ihre Angst und Hoffnungslosigkeit:
RR »Das hat keinen Sinn mehr, sich jedes Mal wieder aufzurappeln, zu quälen voller Illusionen und da ist schon wieder der nächste Infarkt und der wirft mich am Ende doch wieder hin und dann ist noch weniger von mir übrig.« Julia erhält eine immer größere Bedeutung für Ramón. Dies wird nicht zuletzt in einem Brief an sie deutlich, in welchem er schreibt:
RR »… nun weiß ich, dass es sich manchmal sogar lohnt in dieser Hölle zu leben, wenn man dadurch einer Person wie dir begegnen kann.« Sie antwortet ihm postalisch aus dem Krankenhaus, während ihrer Rehabilitationstherapie. Ein Anklang von Sehnsucht steht dabei in und zwischen den Zeilen des vorgelesenen Briefes geschrieben. In der Zwischenzeit musste Ramón eine erste juristische Niederlage vor dem Gericht in Barcelona hinnehmen. Die Klage wurde aus formalen Gründen abgelehnt. Ramón habe sich mit seinem Anliegen an ein galizisches Regionalgericht zu wenden. Im Rahmen der medialen Berichterstattung um seinen Fall, meldet sich ein katholischer Priester, der ebenso wie Ramón an Tetraplegie erkrankt ist, in einem Fernsehinterview zu Wort. Darin kritisiert er Ramóns Anliegen, über seinen Tod selbstbestimmt entscheiden zu wollen. Vielmehr sei Ramóns Wunsch sein Leben zu beenden, ein Ruf nach fehlender Aufmerksamkeit und Liebe. Es kommt zu einem persönlichen Treffen zwischen dem Priester und Ramón, das in einem akustischen Schlagabtausch der beiden Männer mündet. Ohne zueinander gefunden zu haben, trennen sich beider Wege und kreuzen sich auch fortan nicht mehr.
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..Abb. 5.2 Ramón und Julia empfinden Zuneigung füreinander. (© TOBIS Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Julia besucht Ramón erneut. Nun jedoch, um mit ihm an der Veröffentlichung seiner Gedichte zu arbeiten. Durch ihre Krankheit ist sie mittlerweile auf einen Rollstuhl angewiesen. Während ihres Aufenthalts kommen sich beide auch körperlich näher, indem sie sich durch einen Kuss verbinden (. Abb. 5.2). In einem Gespräch offeriert Ramón jedoch, dass er in Anbetracht beider Lebenssituationen eine gemeinsame Zukunft für keine reale Option halte.
RR »Ich bitte dich. Sieh dich an, wie du da sitzt, sieh dich an und erst mal mich. Wohin soll das führen? Sieh uns an.« Sie artikuliert ihm gegenüber ihre Angst vor der Zukunft und ihren Entschluss, sich das Leben nehmen zu wollen und ihm zuvor bei seinem Scheiden aus der Welt zu helfen. Während sie diese Worte spricht, trägt sie ein Lächeln im Gesicht, das nur durch Tränen in den Augen etwas von seiner Ambivalenz preisgibt. Für dieses Vorhaben sei der Tag, an welchem sie mit dem ersten gedruckten Exemplar des Gedichtbandes zu ihm zurückkehre, gesetzt. Von dieser Verheißung auf einen greifbaren Tod vitalisiert, entscheidet sich Ramón zum Gericht nach La Coruña zu reisen, um dem, in seinem Namen geführten Prozess, beizuwohnen und seine Sicht zu Gehör zu bringen. Doch die Prozessordnung untersagt es, ihn zu Wort kommen zu lassen (. Abb. 5.3). Rosa ist ebenfalls zur Verhandlung erschienen und verfolgt den Prozess von den Zuschauerplätzen aus. Nach dem Verfahren gesteht sie Ramón in einem Park ihre Liebe. In einer späteren Einstellung wird Julia in ihrem Rollstuhl sitzend in einer Druckerei gezeigt. Die Poesie des Ramón wird nun gedruckt und die Maschinen schneiden sie in eine rechte Form. Julia beschließt, sich nicht das Leben zu nehmen und somit auch Ramón den letzten Wunsch nicht zu erfüllen. Statt den gemeinsamen Liebestod zu sterben, sendet sie ihm ein Exemplar seines literarischen Werkes. Gemeinsam mit Julia einen schönen Tod zu sterben, wird von ihm nun als Unmöglichkeit realisiert.
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..Abb. 5.3 Ramón im Gerichtssaal in La Coruña. (© TOBIS Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Ein Weg aus der Aporie seiner Lebenssituation erscheint für Ramón in Form von Rosas Angebot, ihn aus Liebe zum Tod zu führen. Es ist sie, die schließlich die entscheidende Rolle spielt, sein Leben zu beenden. Rosa stellt ihm das in Wasser gelöste Zyankali bereit, welches er schließlich mit einem Trinkhalm zu sich nimmt. Sein Todeskampf wird dabei auf einem Videomitschnitt festgehalten. Nach Ramóns Tod begibt sich Gené zu Julia, um ihr einen letzten Brief von Ramón zu geben. Julia, die von ihrer Erkrankung bereits stark gezeichnet ist, kann sich nicht mehr an Ramón erinnern. In der letzten Einstellung spielen Gené und Marc mit ihrem im Laufe der filmischen Handlung geborenen Kindes am Strand, während der Zuschauer ein Gedicht Sampedros zu Gehör bekommt.
Über die Pflicht zu leben und das Recht zu sterben Die Zuschauer*in begegnet Ramón Sampedro 26 Jahre nach dem besagten Unfall in dessen Zimmer im Haus seines Bruders. Ein Raum, dessen Wände gleichsam die Grenzen seiner engen Lebenswelt markieren. Zur Rechten eine schmale Tür, die das Zimmer am Ende eines engen Flures über eine Treppe mit den Gemeinschaftsräumen des familiären Lebens im darunterliegenden Erdgeschoss verbindet. Zur Linken ein Fenster, dessen Aussicht vielmehr die Erinnerung an das Verlorene im Leben nährt, denn als Vermittlerin des Schönen in der Welt fungiert. Jedoch erlauben »kleine Fluchten« durch diesen Spalt zur äußeren Welt das Eintauchen in die Tiefe einer inneren Sehnsucht. Die Sehnsucht, den Körper des Raumes zu verlassen, lässt das Fenster gleich einem Tor zur Welt grenzenloser, außerkörperlicher Freiheit erscheinen. Allerdings erinnert dieses nicht zuletzt auch an die Grenzen der ersehnten Uferlosigkeit, denn Ramón lebt hinter dem Fenster, von dessen einfacher Verglasung ihm die Innenseite zugewandt ist.
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In diesem Lebensraum bildet er den Zentroid, dessen Gravitationsfeld alle Elemente um sich vereint und in Bahnen um ihn und vor allem seine Entscheidung, sterben zu wollen, kreisen lässt. Die Anziehungskraft macht seinen Raum zum Ort eines dynamischen Mikrokosmos, dessen filmische Inszenierung die existenzielle Frage nach dem Wert und der Würde des eigenen Lebens sowohl als gesamtgesellschaftliches Diskursfeld als auch inner- sowie interpersonelle Herausforderung verhandelt. Der Raum und der sich in ihm entfaltende soziale Kosmos sind gleich einer Metapher für seinen Körper und die Ambivalenz seiner Lebenssituation. Einerseits versammeln sich die Menschen dort um ihn und lassen ihm Unterstützung zuteilwerden. Andererseits symbolisiert er die Begrenzung aller Freiheit, lebenslänglich (Katholisches Filmwerk o.J.). In ihrem ersten Gespräch sagt er zu Julia:
RR »Du sitzt hier, kaum zwei Meter weg. Gut, was sind zwei Meter? Eine lächerliche Entfernung für jeden anderen Menschen. Aber für mich sind diese zwei Meter, die ich überwinden müsste, um dich zu erreichen und dich vielleicht zu berühren eine unmögliche Reise. Eine Illusion. Ein Traum. Darum will ich sterben.« In seiner Fantasie verlässt er seinen Körper und überwindet alle physischen Grenzen, die die Natur ihm auferlegt hat. Das Ziel all seiner inneren Reisen führt ihn zum Meer hinter den unüberwindlich scheinenden Bergen. Es ist der Wunsch, den bleiernen Körper mit dem fluiden Element des Wassers zu verbinden und in der Grenzenlosigkeit des Meeres aufzugehen. Ein Entgrenzungsbedürfnis, das sich als Ausgangspunkt eignet, eine Betrachtung seiner Vorstellung von einem guten Leben anzustellen, dessen Unmöglichkeit für ihn den guten Tod unausweichlich macht. Er möchte nicht verzichten, seine Behinderung nicht akzeptieren, sondern das Leben zur Gänze, d. h. für ihn, ohne Einschränkung und Grenzen leben. Liebe ohne Körperlichkeit sowie Freiheit ohne Bewegung und unter Abhängigkeit sind für ihn keine zu vereinbarenden Konzepte eines guten Lebens. Hierin dokumentiert sich Ramóns hoher Anspruch an das Leben, welchen er jedoch ausschließlich für sich reklamiert und keinesfalls zu einer verallgemeinerbaren Philosophie erhebt (vgl. Luther 2018).
RR »Wer redet hier denn von Tetraplegikern? Ich rede hier nur von mir, Ramón Sampedro.« Sein Argument spitzt sich in der Empfindung zu, dass angesichts höchster Abhängigkeit ein Leben in Würde so für ihn nicht möglich sei. Die Definitionshoheit über das, was Würde ist, liege bei den Menschen selbst. In seinem Abschiedsvideo spricht er:
RR »Meine Herren Richter, werte Vertreter der politischen und kirchlichen Macht, was bedeutet für Sie ›Würde‹? Wie auch immer Sie das für sich selbst beantworten, Sie sollen wissen: Für mich ist dieses Leben würdelos.« Neben der Definitionshoheit über die Würde des eigenen Lebens wird das zentrale Argument der Selbstbestimmung (vgl. Luther 2018) in die, im Film verhandelte Debatte um aktive Sterbehilfe eingeführt und zum Bezugspunkt auch der juristischen Auseinandersetzung. Wie soll jemand autonom handeln, dessen Selbstbestimmung von den Normen anderer abhängig ist? Dieses zunächst intellektuelle Spannungsfeld wird hier als handlungspraktische Größe vor dem Hintergrund der existenz-philosophischen Frage nach Leben und Tod verhandelt. Albert Camus führt in seiner Schrift Der Mythos des Sisyphos an: »Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie zu antworten« (Camus 1991, S. 9).
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In Ramons sozialem Kosmos nehmen nun die Menschen – explizit gesprochen oder gelebt – Stellung zu dieser Frage. Rosa beantwortet diese Frage zunächst eindeutig. Sie sagt, dass es sich immer zu leben lohne und verweist dabei darauf, dass auch ihr Leben, so wie das vieler Menschen, von Problemen und Schwierigkeiten durchzogen, doch alles auch zu überwinden sei. Nichts sei so schwerwiegend, dass es sich nicht zu leben lohne (vgl. Luther 2018). Umso interessanter ist es daher, dass gerade Rosa diejenige ist, welche Ramón schlussendlich seinen sehnlichsten Wunsch erfüllt. Ramóns älterer Bruder José wiederum fokussiert in seiner Argumentation weniger den Wert eines jeden Lebens, sondern verweist vielmehr auf externe Normen, von denen er seinen Standpunkt ableitet. Es sei nicht rechtens, was sein Bruder vorhabe und in seinem Haus werde es so etwas nicht geben. Möglicherweise artikuliert José damit auch eine konservative Haltung, wie sie weiten Teilen der Landbevölkerung zugeschrieben wird. In einigen Regionen Spaniens gilt der klerikale Einfluss als äußerst hoch, sodass die kirchliche Haltung eine beträchtliche Schnittmenge mit der vorherrschenden Meinung der dortigen Bevölkerung aufweist. José trifft seine diesbezügliche Äußerung während der Arbeit im Kuhstall, womit nicht zuletzt auf das rurale Milieu Galiziens verwiesen wird, welche die direkte soziokulturelle Umgebung der Familie bildet und an dieser Stelle im Film Gehör findet. Neben dieser ethischen Haltung hat der Todeswunsch Ramóns für seinen Bruder aber vor allem auch eine persönliche Dimension. Das Leben der Familie kreise seinem Empfinden nach um Ramón. So habe er beispielsweise seinen Wunsch, weiter zur See zu fahren, für Ramón geopfert. Die fehlende Autonomie Ramóns dokumentiere sich somit nicht zuletzt auch in der eingeschränkten Selbstbestimmung einzelner Familienmitglieder. José konstatiert gar, dass die Familie wie Sklaven Ramóns seien, dessen Todeswunsch ihn angesichts der erbrachten Opfer zu tiefst kränke. Ramóns Vater Joaquín stellt in seiner Ablehnung von Ramóns Vorhaben eine explizite Verbindung zu einem Gottesgesetz her und sagt:
RR »… und er muss damit leben, so lange es Gottes, so lange es Gottes Wille ist.« Die Frage nach der Verfügbarkeit über das eigene Leben wird von Pater Francisco in einer ähnlichen Weise beantwortet. Der Mensch besitze sein Leben nicht wie ein materielles Gut. Vielmehr habe er es von Gott erhalten. Für ihn ist die menschliche Autonomie an dieser existenziellen Stelle an ihre Grenzen gekommen. Ramón und Francisco unterscheiden sich nämlich v. a. in ihrer Haltung zur Heteronomie des menschlichen Lebens, welche von Pater Francisco im Gegensatz zu Ramón sowohl weltanschaulich als auch ganz persönlich akzeptiert wird. Er selbst ist von Tetraplegie betroffen und sieht das Leben unter körperlichen Einschränkungen – im Gegensatz zu Ramón – als würdevoll und lebenswert an:
RR »Geben Sie dem guten Mann doch Lebenswillen. Er muss sehen, dass das Leben, es bedeutet nicht nur, die Arme bewegen können oder dauernd durch die Gegend springen oder einen Ball über ein Feld ballern oder? Alles Quatsch. Das Leben ist was Anderes, nicht wahr? Es ist wirklich um so viel mehr.« Allerdings insinuiert diese Äußerung, dass nicht jeder Mensch für sich selbst über Wert und Würde der eigenen Existenz zu befinden habe. Das Leben sei »mehr«, konstatiert der Pater, habe immer einen Wert, welcher von den Sterblichen nur erkannt werden müsse, sodass ein Wille zum Leben entstehe. Gené hingegen rückt ebenso wie Ramón die Freiheit des Menschen ins Zentrum ihrer Haltung. Es gehe ihr nicht darum, für die Legalisierung der Sterbehilfe an sich zu streiten, sondern für die Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben, wie auch immer dieses aussehen mag (Luther 2018). So sagt sie zu Julia, nachdem diese ihren Wunsch zu sterben geäußert hat:
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RR »Nein, nein. Glaubst du denn, ich würde herumziehen und zu allen Leuten, die Probleme haben, sagen, das Beste wär, ihr bringt euch um. Nein. Nein, wir verhelfen den Menschen nur zu ihrer Freiheit. Und zwar denen, die leben möchten und denen, die sterben wollen. Ist ein gewaltiger Unterschied.« Darüber hinaus lässt sich ihre Auffassung von Selbstbestimmtheit um eine weitere Nuance ergänzen. Indem sie darauf verweist, dass eine Entscheidung, die – etwa diejenige sterben zu wollen – aus Angst getroffen werde, nicht selbstbestimmt sei. Die Klarheit des Entschlusses aus sich selbst und nicht aus einer Angst vor dem Künftigen heraus, ist ein entscheidendes Moment für einen selbstbestimmten Tod. Julia entscheidet sich am Ende dagegen, ihrem Leben vorzeitig ein Ende zu setzen. Eine persönliche, individuelle und autonom gefällte Entscheidung, die keinen normativen Anspruch erhebt. Um die camus’sche Frage nach dem Wert des Lebens und dessen Beendigung aufzugreifen, lässt sich im Film eine wesentliche Trennlinie zwischen den zu Wort kommenden ProtagonistInnen sowie Institutionen identifizieren, nämlich das Motiv der Selbstbestimmung. Gené und Julia setzen sich für Freiheit und Selbstbestimmung über das eigene Leben ein bzw. exekutieren dieses Prinzip im Falle Julias durch ihr eigenes Handeln. Die bürgerlichen Institutionen wie die Familie und Kirche hingegen sehen die Selbstbestimmung und Autonomie im Angesicht des Todes nicht als das zentrale Maß der Beurteilung. Als weitere Institution nimmt auch der Staat in Form der Judikative Stellung zu dieser existenzphilosophischen Frage. Diese versagt Ramón das Ansuchen auf aktive Sterbehilfe. Obwohl – so die Urteilsbegründung – der Wunsch zu sterben verstanden würde, sich dabei helfen zu lassen jedoch eine Straftat darstelle. Die Argumente der Säkularisierung, Unantastbarkeit der Würde und Selbstbestimmung wiegen in der Rechtsprechung weniger. In diesem Zusammenhang kann auf den Begriff der Biomacht des Staates verwiesen werden (Foucault 2006), der auch im Zusammenhang staatlicher Macht und der Debatte um Sterbehilfe ein diskursprägendes Konzept darstellt (z. B. Graefe 2007). Die bürgerlichen Institutionen von Familie, Staat und Kirche versagen Ramón seinen Wunsch. Daher kommt es nun auf die Haltung der Freunde und Bekannten an. Dieses Netzwerk hilft Ramón schließlich, assistierten Suizid zu begehen und die Bestimmungen staatlicher und moralischer Größen – oder wie Kersten (2007) schreibt – die Bestimmungen der Funktionssysteme zu umgehen. Im Verlassen auf ein privates Netzwerk war es Ramón erst möglich, der Macht, vor allem öffentlicher Institutionen, auszuweichen, um seine Entscheidung selbstbestimmt umzusetzen. Der Satz Das Private ist politisch wird im Angesicht der Entscheidung, freiwillig aus dem Leben scheiden zu wollen, wie unter einem Brennglas verdeutlicht. Das Individuum ist also ohne seine Einbettung in gesellschaftliche Diskurse nicht zu denken. Ebenso wirkt das, was ein Individuum im Privaten lebt auf die gesamte Gesellschaft rück, womit von einem reziproken Verhältnis privaten Handelns und der Öffentlichkeit gesprochen werden kann. Welche individuellen Bedürfnisse etwa müssen als gesellschaftliche Zeichen einer Psychopathologie gesehen werden? Was darf vom Einzelnen gedacht, gewünscht, getan werden? Der Selbstmord ist also mehr als nur eine individuelle Entscheidung. Auch im Angesicht der persönlichsten und intimsten Entscheidung ist das Subjekt nicht von der Gesellschaft und deren Bedingungen getrennt. Bei Ramón Sampedro wird der Selbstmord zu einer res publica. Ebenso wenig wie sich eine solche Entscheidung aus dem systemischen Kontext lösen lässt, sind auch alle anderen Komponenten, die eine Person ausmachen, in diese Entscheidung involviert. Die Trennlinien zwischen Individuum und Gesellschaft, Körper und Psychischem verlieren ihre Schärfe. Emmanuel Bauer schreibt beispielsweise: »Suizid betrifft den Menschen als Ganzen. Um daher einem Suizidenten gerecht werden zu können, gilt es, ihn als ›ganzen‹ Menschen zu sehen, d. h. in der biologisch-somatischen und psychischen Dimension seiner Existenz ebenso wie in den sozialen bzw. sozio-kulturellen, phi-
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losophischen und religiösen Konstituenten seines Menschseins. Es wäre daher ein ebenso fataler Reduktionismus, Selbsttötung unter einem bloß medizinisch-psychiatrischen Gesichtspunkt zu betrachten, wie ihn ausschließlich als Frage der Ethik und Moral abzuhandeln« (Bauer 2002, S. 5 f.).
Der Film situiert die Figur des Ramón Sampedro in genau diesem mehrdimensionalen Spannungsfeld und es gelingt, die existenzielle Frage nach der Legitimität des Selbstmords vor diesem Hintergrund zu diskutieren. Dies ist eine der Stärken des Films und macht Das Meer in mir so zu einem filmischen Zugang zu diesem komplexen und totalen Phänomen.
Das Meer, die Liebe und der Tod In Alejandro Amenábars Film steht die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung im Zentrum des filmischen Geschehens. Doch was sind die Bedingungen eines selbstbestimmten Lebens und Sterbens? Ist der Selbstmord per se eine Äußerung und Symptom schwerster psychischer Erkrankung? Oder wie Erwin Ringel (1953) schreibt – ohne dessen Ausführungen auf diese Aussage reduzieren zu wollen –, der Endpunkt einer pathologischen Entwicklung? Oder ist der Selbstmord Zeichen der menschlichen Freiheit, von der er auch Gebrauch machen darf? Diese Frage wird nur am Rande der filmischen Erzählung behandelt und lediglich mit Andeutungen versehen, die mehr zum Hypothetisieren, denn zum »Diagnostizieren« geeignet sind. Daher soll an dieser Stelle weniger auf etwaige Psychopathologien eingegangen, denn vielmehr auf einer symbolischen Ebene die Thematik des Todeswunsches untersucht werden. Ramón will sterben. Zurück ins Element, das Leben schenkt und wieder nimmt, das Meer. Eine Sehnsucht, sich mit dem Ort des Ursprungs wieder zu verbinden. Am Abend vor seinem Tod spricht Ramón mit Rosa darüber, was mit ihm nach seinem irdischen Ableben geschehen werde. Er sagt:
RR »Es ist, wie nicht geboren sein.« Also wie ein Zustand vor der Geburt, vor dem Leben. Freud spricht in seiner Schrift Jenseits des Lustprinzips (Freud 1923) davon, dass Triebe – und nicht nur die konservativen – nach Wiederherstellung eines früheren Zustands, eines Ur- bzw. Ausgangszustands streben. Das Leblose sei, Freud folgend, vor dem Lebenden gewesen und stellt damit im weitesten Sinne den anorganischen Ausgangszustand vor dem Leben – und um es zu pointieren, vor der Geburt des Lebens – dar. Daran anknüpfend lässt sich eine Verbindung zum hohen Stellenwert, den das Meer in Ramóns Leben und Vorstellungswelt einnimmt, ziehen. Das (Ur‑)Meer als Ausgangs- und Startpunkt allen Lebens. Der Todestrieb freudianischer Prägung findet hier in Ramóns Sehnsucht nach dem Meer seine symbolische Manifestation, so eine mögliche Lesart. Die Vermutung, dass eine gewisse Todessehnsucht bereits vor seinem Unfall in Ramón existierte und zu Erfüllung drängte, wird an einigen weiteren Stellen des Films angedeutet (Katholisches Filmwerk o.J.). Allerdings wird den Zuschauern dies nicht mit Gewissheit, sondern vielmehr als interpretatives Moment offeriert. Die erste, in diesem Zusammenhang, anzuführende Szene lässt die Umstände des Unfalls aus der Perspektive von Ramóns Vater schildern und apostrophiert das Unbegreifliche des Vorfalls. Julia, ihr Mitarbeiter und Gené besuchen gemeinsam mit Ramóns Vater Joaquín die Unfallstelle am Meer. Es zeigt sich eine schroffe, von flachen scharfkantigen Felsen durchzogene Küste. Die Luft ist in unruhiger Bewegung und das aufgewühlte Meer schlägt Wellen an die Felsen, als wolle es die Menschen an seine zerstörerische Urgewalt erinnern. Vater Joaquín deutet auf die Stelle im Meer, an
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welcher sich Ramón kopfüber ins Wasser stürzte und verbalisiert das Unbegreifliche in Ramóns Entscheidung, hier zu springen:
RR »Von hier ist mein Sohn reingesprungen. Ich weiß nicht, was er sich dabei gedacht hat. Ich weiß es nicht.« Es scheint unbegreiflich, wie ein das Meer und dessen Tücken kennender Mann hier klaren Verstandes einen Kopfsprung wagen kann. Das scheinbar irrationale Moment wird hier aus Perspektive eines Dritten unterstrichen. Neben dieser Fremdperspektive erlaubt ebenso Ramóns innere Repräsentation des Unfallhergangs eine vorsichtige Deutung im Sinne einer vorhandenen allgemeinen Todessehnsucht (vgl. Katholisches Filmwerk o.J.). Als er von Julia nach dem Hergang des Unfalls gefragt wird, eröffnet sich dem Zuschauer eine Szenerie, in der das Meer mit beinah mythologischem Anklang etwas seiner verführerischen Anziehung verrät. Diese Anziehung des Meeres, die – wie Ramón in einem seiner Gedichte schreibt – »verführerische(n) Liebe« steht im Zentrum einer solchen Deutung. In der Erinnerung ist der Ort in hellen sommerlichen Farben gemalt und greift die Ästhetik der Eröffnungsszene wieder auf. Im Bild erscheint ein kleiner Strandabschnitt. Von Felsen gerahmt bildet dessen pittoreske Schönheit bloß den würdigen Hintergrund einer jungen Frauengestalt, die im Glanz der Sonne alle Aufmerksamkeit auf sich zu konzentrieren scheint. Sie wirkt dem Schaum der Wellen frisch entstiegen und fesselt seinen Blick; verführt von der sirenenhaften Anziehung, stürzt er sich, den Verheißungen des Augenblicks erlegen, ins sonnen-schimmernde Türkis, das von einem Ort voll Harmonie und verfließender Kontur, dem Aufgehen im Ganzen, kündet. Das Element empfängt ihn dort jedoch mit ungebremster Härte und lässt seine Glieder auf dem sandig festen Untergrund zerbrechen. Das Motiv des Sprunges bleibt rätselhaft und für den Zuschauer letztlich unerklärlich. Durch seinen Sprung hat er sich dem Leben und Tode gleichermaßen hingegeben. Regungslos treibt er im Wasser und das Meer wiegt seinen Körper, beinah harmonisch, wie im Bauch der Mutter, umgeben vom wärmenden Element. Doch gleich einer Geburt wird er von den starken Armen einer Person zurück ins Leben gerissen. Der Beginn eines neuen und anderen Lebens, was ihm das Meer genommen und geschenkt hat. Doch es bleibt die Frage nach dem Grund oder vielmehr dem Antrieb des Sprunges ungeklärt. In einem Moment des Films scheint selbst Ramón der unbedingte Wille zum Tod als unerklärlich (vgl. Katholisches Filmwerk o.J.). So wacht er eines Nachts auf und sagt aufgewühlt und unter Tränen schreiend:
RR »… Warum? Warum? Warum? Warum bin ich nicht wie die anderen Leute? Warum, warum kann ich dieses Leben nicht ertragen? Warum, warum will ich bloß sterben? …«. Die im vorangegangenen Abschnitt beschriebene Erinnerungsszene zeichnet das Meer als Symbol Ramóns innerer Ambivalenz zwischen Leben und Tod. Aufgrund seiner adonis-gleichen Inszenierung an dieser Stelle eine Referenz zur altgriechischen Sage zu sehen, scheint weit hergeholt und ist womöglich von Amenábar auch so nicht intendiert, trotz dessen sei der Gedanke hier erlaubt. Doch wie Aphrodite, Göttin der Liebe und Schönheit, gegen Persephone, Königin des Reichs der Toten, um die Gunst des Jünglings streiten, so scheint auch in Ramón ein Kampf des Todes mit dem Leben und der Liebe zu bestehen. Der von Persephone Geliebte hört weiter ihre Rufe, auch nachdem sie ihn zunächst vergebens zu sich rief. Aus Liebe wünscht sie seinen Tod, um in der Unterwelt mit ihm vereint zu sein. Der Tod des jungen Mannes ist hier die Bedingung zur Erfüllung ihres Liebeswunsches. An dieser Stelle soll jedoch der Verweis zum altertümlichen Mythos ausgesetzt werden und durch eine andere
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intertextuelle Referenz erweitert werden, die ebenfalls die Verbindung von Liebe und Tod aufgreift und deren scheinbaren Antagonismus in besonderer Weise aufzuheben, ja zu entgrenzen1 scheint. Das Motiv der Liebe und deren Verbindung mit dem Tod und der Erlösung wird zu einem zentralen Motiv der filmischen Erzählung. Das Ende der ersten Szene kündet bereits von dem Zusammenspiel dieser Konzepte. Die erste Szene schließt musikalisch mit dem Präludium zum dritten Akt der Wagner-Oper Tristan und Isolde. In Richard Wagners Werk ist mit der Ankunft des Schiffes von Isolde der Tod des Tristans verbunden. So wartet auch Ramón auf einen Menschen, der ihn so liebt, damit er – wie Tristan in den Armen von Isolde – endlich sterben kann und Erlösung findet. Unter den Klängen des Vorspiels zum dritten Akt ist ein Schiffsmodell in einem Fenster in Ramóns Zimmer zu sehen. Nach dieser Einstellung erscheint Julia in einer Hafenbucht, sie blickt auf ein ankerndes Schiff, als ob sie dieses gerade verlassen hätte. Tatsächlich verlieben sich Ramón und Julia ineinander. In der spezifischen Situation einer aufkeimenden Liebe im Angesicht des Todes, eröffnet sich das Spannungsfeld zwischen Eros und Thanatos. Es scheint als gäbe die Liebe ihm neuen Lebenswillen. Doch letztlich ändert es seine Grundhaltung, das eigene Leben zu beenden, nicht. Die schwer erkrankte Julia bietet ihm schließlich an, nachdem der Gedichtband erschienen ist, gemeinsam in Liebe zu sterben. Eine Form des Liebestodes und damit die Aussicht auf eine Erlösung in und aus Liebe. Hier scheint es so, als sei sie die Erlösung bringende Liebe, seine Isolde. Doch schließlich versagt sie ihm den Liebestod und entschließt sich, weiterzuleben. Damit erhalten die Zuschauer*innen bereits zu Beginn einen Hinweis auf die enge Verbindung der Konzepte von Liebe und Tod in der folgenden Geschichte. Amenábars geschickter Einsatz der Musik ermöglicht es, die Eingangssequenz wie eine Ouvertüre zu begreifen, die den weiteren Verlauf der Handlung vorausgreifend zusammenfasst. Die Liebe ist es, welche ihm schließlich seinen Tod ermöglicht. Doch nicht jene, die ihn mit Julia verbindet, sondern die, die ihm von Rosa entgegengebracht wird. Rosa liebt Ramón und aus dieser Liebe gewährt sie ihm seinen größten Wunsch, den Tod. Durch Liebe ist ihm seine Erlösung zuteilgeworden.
Abschlussbemerkungen Im Rahmen der öffentlichen Rezeption des Filmes tauchte stets die Frage auf, ob Das Meer in mir ein Plädoyer für aktive Sterbehilfe sei. Im Zentrum des Films steht meines Erachtens weniger die konkrete Frage nach der Legitimität aktiver Sterbehilfe, sondern vielmehr die, nach der Autonomie und Selbstbestimmtheit des Menschen (vgl. Luther 2018), welche hier anhand der Suizidthematik und damit vor einem existenziellen Hintergrund verhandelt wird. Gibt es Grenzen der Autonomie? Gilt die persönliche Selbstbestimmtheit auch beim Vorhaben die eigene Existenz zu beenden? Amenábar zeichnet den Charakter und das Leben Ramóns nicht wie die Hölle, wie dieser es selbst beschreibt. Vielmehr zeichnet er das Bild eines intelligenten, humorvollen und mit einer einnehmenden Wirkung auf andere ausgestatteten Menschen, der von fürsorglichen und liebenden Personen umgeben ist. Der unbedingte Todeswunsch erscheint den Zuschauer*innen angesichts dieser Elemente in Ramóns Leben phasenweise unbegreiflich. Doch die Autonomie eines anderen anzuerkennen, heißt auch dessen Subjektivität zu akzeptieren. Doch genau dieser Umstand bringt das Publikum in eine Situation, darüber zu befinden, entweder die Subjektivität des Betroffenen zu akzeptieren, ihn als alleinigen Herrn des eigenen Lebens anzuerkennen oder dessen Deutungshoheit über und Verantwortung für die eigene Existenz zumindest partiell infrage zu stellen. 1
Zur Aufhebung der inneren Differenziertheit durch die Verbindung von Liebe und Tod siehe z. B. Yamazaki (2008).
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Braucht es allgemeine Gesetze, um das Selbstgesetz, die Autonomie αὐτός (selbst) und νόμος (Gesetz) nicht zum einzigen Maßstab und Handlungsrichtlinie im Leben eines Menschen werden zu lassen? Amenábar betont in seinem Film den Wert der Freiheit und das Recht des Menschen über das eigene Leben zu entscheiden. Darin ein Plädoyer für aktive Sterbehilfe im Allgemeinen zu sehen ist zwar nachvollziehbar, doch wird es der Fülle lebensbejahender Elemente im Film nicht gerecht. Damit handelt es sich in meinen Augen um kein uneingeschränktes Plädoyer für aktive Sterbehilfe, sondern um eine Fürsprache zur Freiheit. Die Zuschauer*innen müssen selbst darüber befinden. Der Film bietet dabei einen Einblick in die Seelenlandschaft eines faszinierenden Charakters und die systemischen Auswirkungen seines Todeswunsches auf die ihn umgebende Welt. Der Film bietet die Möglichkeit, für 120 Minuten in diese Welt einzutauchen und sich dieser Situation ebenso zu stellen.
Literatur Bauer EJ (2002) Das Problem des Suizids in der Perspektive der abendländischen Geistesgeschichte. Exist Prax 19(1):4–15 Camus A (1991) Der Mythos des Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Hamburg Foucault M (2006) Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978–1979. Original-Ausgabe, 1. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt a.M. Freud S (1923) Jenseits des Lustprinzips. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien Graefe S (2007) Autonomie am Lebensende?: Biopolitik, Ökonomisierung und die Debatte um Sterbehilfe. Campus, Frankfurt a.M. Katholisches Filmwerk (o.J.) Arbeitshilfen. Das Meer in mir. Frankfurt a. M. http://www.materialserver.filmwerk.de/arbeitshilfen/dasmeerinmir_ah.pdf. Zugegriffen: 28. Apr. 2019 Kersten C (2007) Mafia oder Lösungsmodell? Freundschaft und ihre Netzwerke bei Niklas Luhmann und Alejandro Amenábar. In: Broch J, Rassiller M, Scholl D (Hrsg) Netzwerke der Moderne: Erkundungen und Strategien. Königshausen und Neumann, Würzburg, S 245–255 Luther A (2018) Die Darstellung medizinethischer Themen im aktuellen Spielfilm. Unveröffentlichte Dissertation, Greifswald. https://epub.ub.unigreifswald.de/files/2074/diss_luther_annette.pdf. Zugegriffen: 28. Apr. 2019 Ringel E (1953) Der Selbstmord. Abschluss einer krankhaften psychischen Entwicklung. Maudrich, Wien Weiher U (2006) Filmanalyse: Mar adentro (Das Meer in mir) von Alejandro Amenábar. München: GRIN Verlag. https://www. grin.com/document/124004. Zugegriffen: 28. Apr. 2019 Yamazaki A (2008) Das Verschwinden der Differenzierung in der Todesgemeinschaft in Richard Wagners Tristan und Isolde. 研究報告 22:35–58
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Das Meer in mir (2004)
Originaltitel
Mar Adentro
Erscheinungsjahr
2004
Land
Spanien, Frankreich, Italien
Drehbuch
Alejandro Amenábar, Mateo Gil
Regie
Alejandro Amenábar
Hauptdarsteller
Javier Bardem, Belén Rueda, Lola Dueñas, Mabel Rivera
Verfügbarkeit
Als DVD erhältlich
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Dirk Arenz
„Schöneres Sterben unter Freunden“ Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Exkurs 1: Der »Vorgängerfilm« von Denys Arcand: »Der Untergang des amerikanischen Imperiums (Le Déclin de l’empire américain)« von 1986 . . . . . . . . . 81 Exkurs 2: Sterbehilfe und assistierter Suizid . . . . . . . . . . 82 Exkurs 3: Abgrenzung zum nationalsozialistischen Film »Ich klage an« (1941) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_6
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Filmplakat Die Invasion der Barbaren. (© Prokino Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Die Invasion der Barbaren (2002) Dirk Arenz
Einleitung Siebzehn Jahre nach seinem erfolgreichen Film »Der Untergang des amerikanischen Imperiums« drehte der Regisseur mit den gleichen Protagonisten den hier besprochenen Film »Die Invasion der Barbaren« (. Abb. 6.1, Filmplakat). Die Darsteller kommen – deutlich gealtert – am Krankenbett eines ihrer alten Freunde wieder zusammen, schwelgen in alten Erinnerungen und assistieren ihrem todkranken Freund schließlich beim Suizid. Der Film gewann bei der Oscarverleihung 2004 den Preis in der Kategorie »Bester fremdsprachiger Film«. Es ist ein tragikomischer Film, der vom Sterben eines todkranken kanadischen Universitätsprofessors in Montréal handelt. Die Lust am prallen Leben und ein gutes, humanes Sterben werden in dem Film trotz des als schmerzlich empfundenen Abschieds nicht als Widerspruch thematisiert. Ironische, amüsante und zum Teil sarkastische Szenen wechseln mit filmisch dargestellten Ängsten vor dem Tod. Das Porträt des Protagonisten ist dabei psychologisch äußerst tiefgründig, ebenso wie die erzählten familiären und freundschaftlichen Vernetzungen des sterbenden Professors. Dabei fasst der Film ein äußerst »heißes Eisen« an, denn er thematisiert nicht nur die Suizidalität der Hauptperson, sondern auch die Problematik der »aktiven Sterbehilfe« und des »assistierten Suizids«. Aufgrund der letztlich stark affirmativen Tendenz des Films zum »assistierten Suizid« erhält er eine ethisch in der Gesellschaft stark umstrittene Dimension, die zudem an einen ideologisch äußerst problematischen Vorgängerfilm (»Ich klage an« 1941) erinnert, der dieses Thema aus der Perspektive der nationalsozialistischen Vernichtungsideologie behandelte. Dass der Film von Denys Arcand in seiner Aussage jedoch einen komplementären, zutiefst humanistischen Ansatz verfolgt und nicht das entfernteste mit den oben angeführten ideologischen Gedanken gemein hat, soll im Folgenden verdeutlicht werden (vgl. Haas 2003).
Handlung Rémy ist ein alternder kanadischer Hochschulprofessor und Lebemann mit politisch sozialistischen Ansichten, der unheilbar krank im Krankenhaus in Montréal liegt. In der Eingangsszene sieht man ein schmuddeliges Krankenhaus, wo auf den Gängen das Chaos herrscht. Sein Sohn Sébastien, ein äußerst erfolgreicher Investmentbanker in London, erklärt sich auf Drängen seiner Mutter Louise bereit, zum Krankenlager seines sterbenden Vaters zu kommen. Das Verhältnis zu ihm ist spannungsgeladen, der bekennende »sinnliche Sozialist« Rémy verachtet die kapitalistische Welt seines Sohnes sehr, was er ihn bei jeder Gelegenheit spüren lässt. Zudem ruinierte Rémy durch zahlreiche Affairen und Bettgeschichten in der Vergangenheit seine Ehe, bis ihn seine Ehefrau Louise vor 15 Jahren verließ und die Kinder – den Sohn Sébastien und die Tochter Sylvaine – alleine großzog (. Abb. 6.2). Da Geld mittlerweile für den sehr erfolgreichen Sohn keine Rolle mehr spielt, besorgt er seinem Vater durch »Spenden« an die Verwaltung und Gewerkschaft im Krankenhaus ein Einzelzimmer in einer frisch renovierten und noch gar nicht eröffneten Station, ohne dies jedoch dem Vater öffentlich zu machen. Rémy sieht sich selbst als einen der letzten Vertreter einer moralisch-sinnlichen und den Ideen des Sozialismus verpflichteten Menschen der westlichen Zivilisation, während er die gegenwärtig herrschenden kapitalistischen und neoliberalen gesellschaftlichen Praktiken zutiefst widerwärtig und abstoßend findet. So weigert er sich folgerichtig, dem Vorschlag seines Sohnes zu folgen und die bestmögliche Behandlung in den verhassten USA mit dessen finanzieller Unterstützung anzunehmen. Kapitalisten und besonders Investmentbanker als deren Hauptprotagonisten bezeichnet Rémy als »Bar-
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..Abb. 6.2 Der Professor auf dem Krankenlager mit einer seiner früheren Gespielinnen. (© Prokino Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
baren« und seinen Sohn nennt er den »Häuptling der Barbaren«. In diese familiär spannungsgeladene Atmosphäre lädt der Sohn alte Freunde seines Vaters ein, damit diese sich von ihm verabschieden können. Die Freunde reisen aus verschiedenen Gegenden Amerikas und Europas an, um dem sterbenden Rémy die Ehre zu erweisen und alter gemeinsamer Zeiten zu gedenken. Mit dabei sind auch einige ehemalige Geliebte Rémys, was zu einigen turbulenten Verwicklungen führt. Die sexuellen Abenteuer von Rémy und seiner Freunde wurden von Arcand in dessen Film: »Der Untergang des amerikanischen Imperiums« (1986) ausführlich thematisiert. Rémy ist begeistert, besonders, als auch einige seiner ehemaligen Studenten sein Krankenlager besuchen und ihm versichern, welch toller Dozent er gewesen sei. Dass sein Sohn Sébastien die Studenten für deren Besuch bezahlte, erfährt der Vater nicht. Im Fernsehen sieht man die Anschläge vom 11. September und ein Kommentator berichtet von der bislang bestehenden Fähigkeit der USA, die »Barbaren« vom Land fern zu halten. Insofern sind mit den Barbaren an dieser Stelle zwar islamistische Terroristen gemeint, die jedoch sonst an keiner Stelle des Films für die Handlung eine Rolle spielen. Für Rémy sind – neben den kapitalistischen Investmentbankern der Gegenwart auch die Invasoren Amerikas »Barbaren«, die für die Ausrottung der Ureinwohner Nordamerikas verantwortlich waren. Somit wird im Film nicht klar, wer eigentlich mit »den Barbaren« gemeint ist. Die einzigen Invasoren, die im Film zu sehen sind, sind die ehemaligen Freunde, Geliebten und Familienangehörigen Rémys, die aus verschiedenen Gegenden Amerikas und Europas in sein Krankenzimmer »einfallen«. Insofern wird aus dem »Barbar« ein durchaus ambivalenter Begriff und es kommt bei dessen moralischer Bewertung jeweils auf individuelle Perspektiven der jeweiligen Protagonisten oder des Filmbetrachtenden an. Rémy lässt mithilfe seiner Besucher alte Zeiten in der Erinnerung wieder aufleben, muss jedoch erkennen, dass er den Sinn im Leben trotz – oder wegen – zahlreicher Affären und anderer Genüsse
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nie wirklich fand. Auch wird seine tiefe Angst vor dem Tod deutlich, den er hinter seiner harten und schroffen Fassade zu verbergen sucht. Als die körperlichen Schmerzen für Rémy unerträglich werden und das verabreichte Morphin zu schwach ist, diese wirksam zu lindern, beschließt Sébastien auf einen Rat hin, seinem Vater schmerzwirksameres Heroin zu besorgen. Zunächst versucht er es auf legalem Weg, indem er recht naiv die kanadische Polizei um den Stoff bittet, aber selbstverständlich eine Abfuhr erhält. Über eine ehemalige Geliebte seines Vaters (Diane) kommt er mit deren opiatabhängigen Tochter Nathalie in Kontakt. Sébastien schließt einen Deal mit Nathalie: Er gibt ihr das Geld für ihren eigenen Heroinkonsum, dafür verpflichtet sich Nathalie, Rémy regelmäßig Heroin gegen dessen Schmerzen zu verabreichen. Als klar wird, dass Rémy nun bald sterben wird, organisiert sein Sohn – gegen den Willen des Krankenhauses – einen Aufenthalt in einem wunderschönen Landhaus mitten in der kanadischen Natur, wo die mitgereisten Freunde aus Rémys Leben ebenfalls anwesend sind. Bei gutem Wein werden Episoden und Anekdoten aus dessen wildbewegten Leben erzählt und es wird klar, dass Rémy weniger an seinem aktuellen Leben hängt als an seiner verklärten Vergangenheit. Nach dem schönen Abend voller Erinnerungen und echter menschlicher Wärme nimmt Rémy von Nathalie die letzte, tödliche Überdosis Heroin entgegen und er scheidet friedlich aus seinem Leben.
Charaktere Rémy: Er ist ein alter, todkranker Professor für Geschichte. Er wirkt auf den ersten Blick zynisch und
sarkastisch. Er lehnt eine Behandlung in den USA mit der Begründung ab, er wolle sich nicht von »wildgewordenen Islamisten« killen lassen (im Fernsehen sind die einstürzenden Twintowers von New York zu sehen). Er schwelgt in seiner lustvollen Vergangenheit und schäkert mit seinen ehemaligen Mätressen, Ärztinnen und Schwestern des Krankenhauses. Er offenbart dabei seine sexuellen Obsessionen. Rémy verachtet zunächst das kapitalistische Finanzgebaren seines Sohnes Sébastien zutiefst, nähert sich aber im Lauf der Handlung seinem Sohn emotional an. Er ist sehr narzisstisch gekränkt, dass die Universität und auch die Studenten ihm keinen würdigen Abschied aus dem Berufsleben bescherten. Tief in seinem Inneren fühlt er sich wissenschaftlich als Versager. Daher ist er sehr gerührt, dass ihm ehemalige Studenten ihre Ehrerbietung auf dem Krankenlager machen, ohne dass er jedoch von der Tatsache erfährt, dass diese von seinem Sohn dafür bezahlt werden. Rémy verkörpert neben seinen sozialistischen Idealen auch das »dionysische Element« der Lebensgier und des Hedonismus. Er verachtet die moralisierenden Religionen und besonders die katholische Kirche. Trotz – oder wegen – seines Agnostizismus fürchtet er sich jedoch sehr vor dem Tod. Sébastien: Der Sohn von Rémy ist ein sehr erfolgreicher Investmentbanker und finanziell in jeder Hinsicht unabhängig (. Abb. 6.3). Es besteht zunächst ein sehr angespanntes Verhältnis zu seinem Vater, der seine Lebensphilosophie des finanziellen Erfolges zutiefst verachtet. Er hilft seinem Vater schließlich mit von diesem eigentlich abgelehnten Mitteln: Geld. Er ermöglicht dem Vater eine diagnostische Computertomografie in den nahegelegenen USA (Baltimore), die schlechte Befunde erbringt. Sébastien wird zunächst als typischer Kapitalist gezeigt: Er ist ständig am Telefon, um geldschwere Aktiengeschäfte zu erledigen. Er besticht aufgrund seiner finanziellen Möglichkeiten Krankenhausverwaltung und Gewerkschaft, um seinem Vater auf einer stillgelegten Station ein Einzelzimmer renovieren und herrichten zu lassen. Es wirkt geradezu komisch und grotesk, wie selbstverständlich Geld und Geldgier über staatliche oder moralische Regeln und Prinzipien siegen. Er beschafft zudem Heroin als Schmerzmittel für seinen Vater und versucht es naiverweise zunächst bei der Polizei zu besorgen. Ein Polizist gibt ihm tatsächlich einen Tipp und spricht von einer »Invasion der Drogen«. So versteht jeder unter der »Invasion der Barbaren« etwas anderes. Sébastien verliebt sich mehr und mehr in die heroinabhängige Nathalie, die schließlich sogar sein Broker-Handy ins Lagerfeuer wirft und ihn so symbolisch zum Menschen macht, der sich auf die Nähe persönlicher und tiefgehender Beziehungen einlässt. Er
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..Abb. 6.3 Rémy und sein Sohn versöhnen sich angesichts des nahenden Todes. (© Prokino Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
überlässt schließlich Nathalie nach Rémys Tod dessen Wohnung, ohne dass sein Annäherungsversuch in einer der letzten Filmszenen von ihr erwidert wird. Louise: Sie ist die Ehefrau von Rémy, die sich vor 15 Jahren von ihm aufgrund seiner vielfältigen Seitensprünge trennte und ihm nun am Totenbett zur Seite steht. Ihrer Initiative ist es zu verdanken, dass die Familie – bis auf die aktuell weltumsegelnde Tochter Sylvaine – und die Freunde am Krankenbett von Rémy vereint sind. Ansonsten bleibt sie eine Nebenfigur im Film, anders als im Vorgängerfilm »Der Untergang des amerikanischen Imperiums« (1986). Dominique und Diane: Ehemalige Mätressen von Rémy. Diane ist die Mutter der heroinabhängigen Nathalie. Alessandro und Claude: Homosexuelles Paar und alte Freunde von Rémy. Pierre: Er ist ein alter Freund von Rémy und frischgebackener Vater zweier kleiner Kinder. Er führt eine filmisch geschilderte schreckliche Ehe und er überlässt Rémy und seiner Familie und Freunden schließlich gegen den erklärten Widerstand seiner Frau das Ferienhaus zum Sterben. Nathalie: Sie ist die heroinabhängige Tochter von Diane, einer ehemaligen Mätresse von Rémy und sie besorgt Sébastien das Heroin für seinen Vater. Sie steht in Kontrast und Konkurrenz zur eher biederen Gaëlle, der Freundin und Verlobten von Sébastien. Sie wird zur persönlichen Dealerin von Rémy und führt ihn in den Drogenkonsum ein. Mit Rémy philosophiert sie über das Leben und den Tod. Sie selbst führt auf Initiative von Sébastien eine Substitutionstherapie mit Methadon durch. Sie gibt Rémy schließlich im Kreise seiner Familie und Freunde die letzte, tödliche Dosis Heroin. In einer der letzten Filmszenen zieht sie Sébastien an sich heran und küsst ihn, verweigert sich ihm dann und stößt ihn zurück. Sie lässt Sébastien verwirrt zurück. Gaëlle: Sie ist die Freundin und Verlobte von Sébastien und somit potenzielle Schwiegertochter von Rémy. Sie wird als eher brave und oberflächliche Person präsentiert, die mit religiöser Kunst han-
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delt und die im Kontrast zu Nathalie steht, der heroinabhängigen Tochter von Diane. Sie gehört zum gesellschaftlichen Establishment und scheint zunächst perfekt zu Sébastien, dem Investmentbanker, zu passen, bis dieser sich auch Nathalie zuwendet. Sylvaine: Sie ist die Tochter von Rémy, die während der Handlung des Films lediglich einige Male per Skype zugeschaltet wird und so außerhalb des anwesenden Familien- und Freundeskreises steht. Sie überführt ein Segelschiff und ist auf den Ozeanen der Welt unterwegs. Im letzten Bildtelefonat gesteht sie ihrem Vater ihre große Liebe, wobei sie sich schmerzlich von der Kamera abwendet. Sie ist somit im Film zwar physisch abwesend, dennoch wird eine große emotionale Verbundenheit zum Vater deutlich.
Exkurs 1: Der »Vorgängerfilm« von Denys Arcand: »Der Untergang des amerikanischen Imperiums (Le Déclin de l’empire américain)« von 1986 Es ist ein Zusammentreffen von Intellektuellen, die allesamt ihrer sexuellen Obsessionen frönen. Drei Freunde und Rémy treffen sich in einem Landhaus und sie vertreiben sich die Zeit mit Geschichten aus ihrem Leben. Hauptgesprächsstoff ist dabei Sex. Die Protagonisten erzählen von ihren amourösen Abenteuern. Sex wird dabei als wichtigstes Lebenselixier und Leitidee des Lebens und Handelns der Gruppe thematisiert. Auch vier Freundinnen, die sich im Fitnessstudio ebenfalls mit Gesprächen über ihre sexuellen Abenteuer die Zeit vertrieben, stoßen später dazu. Dabei ist auch Louise, die Frau von Rémy. Das idyllische Zusammensein wird schließlich zerstört, als eine der Frauen, Dominique, der Gruppe erzählt, dass Rémy nicht nur mit ihr schlief, sondern mit »halb Montréal« und sogar mit der Schwester von seiner Ehefrau Louise. Neben der produktiven Vitalkraft der Sexualität bewirken die Seitensprünge von Rémy somit schließlich das Scheitern seiner Ehe mit Louise, die ihm seine zur Obsession gewordene Untreue nicht verzeiht. Die Verzweiflung Louises wird deutlich und ihr Entschluss, sich von Rémy zu trennen, wird erst im Nachfolgefilm thematisiert, obgleich eine Fortsetzung ihrer Ehe auch unter dem Eindruck des offenen Endes in »Der Untergang des amerikanischen Imperiums« unmöglich erscheint. Der Film ist zwar zum Verständnis der 17 Jahre späteren filmischen Fortsetzung »Die Invasion der Barbaren« interessant, jedoch auch in letzter Konsequenz entbehrlich. Der Zuschauer muss diesen Film nicht sehen, um »Die Invasion der Barbaren« verstehen zu können. Interessant ist jedoch die Thematisierung der hedonistischen Grundeinstellung, vor allem der männlichen Protagonisten. Der Hedonismus (Lust als Ziel des Handelns und Denkens) kann zwar positive Energien freisetzen, er zerstört jedoch auch tiefgehende Beziehungsstrukturen, wenn die jeweiligen Lebenspartnerinnen andere Lebensziele favorisieren. Der Film stellt daher – wie im Nachfolgefilm – die Frage, was im Leben wirklich wichtig ist. Ist es die individuelle sexuelle Selbstbestimmung oder sind es nicht doch lang anhaltende menschliche Beziehungen, in denen Sexualität zwar ein wichtiger Aspekt ist, aber darüber hinaus auch eine nachhaltigere Emotionalität als Grundvoraussetzung einer interpersonellen Beziehungsstruktur besteht? Der Film gibt diesbezüglich keine eindeutige Antwort, durch die Thematik des Nachfolgefilms »Die Invasion der Barbaren« können jedoch einige existenzielle Fragestellungen herausgearbeitet werden, die beiden unterschiedlichen Filmen eine »thematische Klammer« geben können. Während in »Der Untergang des amerikanischen Imperiums« die Frage nach dem Leben und der individuell »richtigen« Lebensführung die wesentliche Rolle spielt, so ist es in »Die Invasion der Barbaren« die Frage nach dem »guten« Tod. Erst angesichts des bevorstehenden Todes werden die sozialen Beziehungen des Sterbenden wichtig. Insofern hängen »gutes« Leben und Sterben eng miteinander zusammen. Diese Erkenntnis wird durch den Vorgängerfilm immerhin befördert. Der Vorgängerfilm wurde vielfach ausgezeichnet und in Kritiken wurde der filmisch inszenierte Wertezerfall der modernen westlichen Kultur betont (vgl. les invasions barbares, Schwäbisches Tageblatt 24. Nov. 2015). Der »Untergang des amerikanischen Imperiums« steht für den Verfall von staatlich-
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gesellschaftlicher Ordnung und Institutionen, die auf Macht, aber auch auf Moral gegründet sind. Es ist Dominique, die »das Glück« von Louise und Rémy zerstörte und welche die These vertritt, das Streben nach persönlichem Glück hänge mit dem Niedergang der westlichen (amerikanischen) Welt zusammen. Tatsächlich wirken die Protagonisten in ihren sexuellen Bemühungen und dem Streben nach persönlichen Glück hilflos-getrieben und ohne tiefgehende gesellschaftliche oder gar spirituelle Bezüge. Dies ist im Nachfolgefilm anders. Spirituelle Bezüge ergeben sich hier gerade aus den lebenslangen sozialen Beziehungen Rémys und seinen Freunden.
Exkurs 2: Sterbehilfe und assistierter Suizid Die gezielte Verabreichung eines tödlichen Medikamentes oder ein Medikament in einer tödlichen Dosierung an eine andere Person, die den Tod – mutmaßlich – wünscht, wird als sogenannte »aktive Sterbehilfe« oder auch »direkte Sterbehilfe« bezeichnet und ist gesetzlich in Deutschland, Österreich und der Schweiz verboten, dagegen in den Niederlanden unter Einhaltung juristischer Regelungen erlaubt. Erfolgt die direkte, aktive Sterbehilfe auf expliziten Wunsch des Patienten, handelt es sich um »Tötung auf Verlangen« und ist in Europa nur in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg erlaubt. Im deutschen Strafrecht (§ 216 StGB) ist in diesem Zusammenhang eine Freiheitsstrafe zwischen 6 Monaten und 5 Jahren vorgesehen. Eine Tötung eines Menschen ohne dessen explizite Willensäußerung, die auch schriftlich in Form einer Patientenverfügung vorliegen kann, wird gewöhnlich als Totschlag oder sogar Mord gesetzlich geahndet. Unter »indirekter Sterbehilfe« versteht man streng genommen auch eine »aktive« Form der Sterbehilfe. Sie ist eine »palliative« oder »terminale« Sedierung eines todkranken Menschens mithilfe meist einer Opiatmedikation zur Schmerzlinderung, die das Leben – quasi als Nebeneffekt – verkürzt. Eine Grauzone zur direkten-aktiven Sterbehilfe mag gelegentlich vorliegen, diese Form der Sterbehilfe wird jedoch in aller Regel nicht juristisch geahndet. Die sogenannte »passive Sterbehilfe« bezeichnet ein »Sterbenlassen« eines Patienten durch Unterlassen von lebenserhaltenden Maßnahmen. Auch das Abschalten von z. B. Beatmungsmaschinen gehört dazu. Der Begriff »assistierter Suizid« beinhaltet hingegen die Bereitstellung eines tödlichen Mittels, welches der Patient selbst einnimmt. Der assistierte Suizid ist zwar per se in Deutschland nicht strafbar, die Bereitstellung eines tödlichen Medikamentes verstößt jedoch gegen Arzneimittelrecht, Betäubungsmittelgesetz und ärztliche Berufsordnung. In der Schweiz findet die Anwendung des assistierten Suizides mithilfe von hierauf spezialisierten Organisationen statt. Die Diskussion um die verschiedenen Facetten der Sterbehilfe ist durch die grausame »Euthanasie« der Nationalsozialisten in Deutschland sehr erschwert, da eine historisch unbelastete Diskussion nicht möglich ist. Es ist hierbei jedoch zu bedenken, dass es sich bei den Krankentötungen der Nationalsozialisten nicht um »Sterbehilfe« im heutigen Sinne handelt, sondern um eine aktiv-gezielte Tötung kranker Menschen, denen unter anderem die Bezeichnung »Ballastexistenzen« gegeben wurde. Die Euthanasie der Nationalsozialisten war somit nichts anderes als staatlich gelenkter Massenmord und hat nichts mit heutigen seriösen Diskussionen um eine humane Sterbehilfe gemein. Die von den Nationalsozialisten getöteten Menschen waren keinesfalls »sterbewillig«. Insofern hat diese Form der »Euthanasie« nichts mit Sterbehilfe zu tun. Sie war kalter Mord an wehr- und hilflosen Menschen. Mit diesen grausamen Praktiken hat das Sterben Rémys selbstverständlich nichts zu tun. Hier geht es um ein individuelles Schicksal und um einen »guten Tod« im Kreis der Familie und Freunde als einen versöhnlichen Lebensabschluss (vgl. Jenny 2003). Rémys Sterben im Film ist begrifflich in dem Bereich zwischen aktiver Sterbehilfe und Tötung auf Verlangen anzusiedeln. So gesehen ist der Tod Rémys terminologisch streng genommen nicht mehr als »Suizid« zu bezeichnen, auch nicht als »assistierter Suizid«, da Rémy das todbringende Heroin nicht selbst einnimmt (. Abb. 6.4). Dennoch geht sein Wille zur Verabreichung aus der filmischen Handlung klar hervor.
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..Abb. 6.4 Der Zeitpunkt des Abschiedes ist gekommen. (© Prokino Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Exkurs 3: Abgrenzung zum nationalsozialistischen Film »Ich klage an« (1941) Die filmische Rezeption einer »Tötung auf Verlangen« ist ein sehr riskantes Projekt, da auf diesem Feld bereits ein sehr problematischer Film aus dem Jahr 1941 des Regisseurs Wolfgang Liebeneiner vorliegt (Liebeneiner 1941). In beiden Filmen wird somit ein unheilbar erkrankter Protagonist auf eigenen Wunsch durch die Gabe eines tödlichen Medikaments getötet. Es ist daher angebracht, die wesentlichen Unterschiede der filmischen Intentionen der jeweiligen »Tötung auf Verlangen« herauszuarbeiten, da der kanadische Film von 2003 ansonsten leicht missdeutet werden kann. Perfiderweise propagierten die Nationalsozialisten durch den Film »Ich klage an« öffentlich und publikumswirksam eine durchaus nachzuvollziehende »Tötung auf Verlangen«, während sie in Wirklichkeit den massenhaften Patientenmord durchführten. Eine unheilbar an Multipler Sklerose erkrankte Frau bittet um Sterbehilfe und erhält diese schließlich. Im daraufhin stattfindenden Prozess geht es um gesetzlich zu definierende Regeln im Umgang mit der Euthanasie. Der Film propagiert jedoch nicht nur die Tötung auf Verlangen, sondern auch die Sterbehilfe schwer behinderter Menschen, die ihren Willen nicht äußern können. Individuelle nachvollziehbare Schicksale werden in diesem Film geschickt
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dazu benutzt, gesetzliche Regelungen der Euthanasie im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie zu propagieren. Appelliert wird dabei an das (falsche) »Mitleid« der Zuschauer mit unheilbar Kranken und behinderten Menschen. Dieses »Mitleid« trägt jedoch implizit die Erhebung des »Herrenmenschen« über das »lebensunwerte Leben« der sogenannten »Ballastexistenzen« in sich. »Wie furchtbar«, soll der Zuschauer denken und den »armen Behinderten« den »Gnadentod« wünschen. Ganz anders das Sterben von Rémy: Im Film von Arcand geht es vordergründig überhaupt nicht um gesetzliche Bestimmungen oder Gesetze und auch nicht um »Mitleid«. Zwar ist es hinderlich, dass erst die Bereitstellung von viel Geld ein humanes Sterben durch die Umgehung offizieller Wege ermöglicht, eine intendierte gesetzliche Regelung steht jedoch nicht im Vordergrund der filmischen Botschaft. Während der Film »Ich klage an« eine Irreführung der Öffentlichkeit über die menschenverachtende nationalsozialistische kollektive Ideologie des »Herrenmenschen« als Intention in sich barg, zielt der Film von Denys Arcand auf die Bereitstellung von Möglichkeiten, mit denen ein todkrankes Individuum selbstbestimmt und human sterben kann. Es geht somit nicht um gesellschaftliches »Mitleid«, sondern um unbedingte Hilfe zur individuellen Selbstbestimmung. Diese Selbstbestimmung als Ziel ist das entscheidende Kriterium der Humanität, wie diese im Film von Arcand verstanden wird. Diese Unterscheidung erscheint mir sehr wesentlich, um gravierende Missverständnisse zu vermeiden. Die wenigen Bemerkungen zeigen jedoch auch, wie leicht die aktuell geführte gesellschaftliche Diskussion um humanes Sterben durch feinste perspektivische Änderungen oder Unterstellungen der Position Andersdenkender polemisiert und polarisiert werden kann. Wenn das Ziel der Diskussion um Sterbehilfe die Selbstbestimmung eines kranken Menschen ist, dann liegen die Unterschiede zur »NS-Euthanasie« klar auf der Hand.
Diskussion Der Regisseur Denys Arcand entwickelte filmisch die Utopie eines schönen Todes: Selbstbestimmt seine Furcht überwindend, inmitten seiner Familie und seiner Freunde, in einer wunderschönen Landschaft und die Freuden guten Weines und auch eines letzten Joints genießend, bevor eine Überdosis Heroin für einen sanften Tod sorgt. Der Film thematisiert darüber auch das letztliche Scheitern überkommener sozialistischer und kommunistischer Utopien. Es ist das Geld des Sohnes von Rémy, des kapitalistischen Investmentbankers, das ihm einen würdigen und selbstbestimmten Abschied aus dem Leben ermöglicht (vgl. Haas 2003). Das Geld des Sohnes ermöglicht ihm, aus der chaotischen Kellerstation des Krankenhauses in ein Einzelzimmer verlegt zu werden. Es ermöglicht ihm auch den Aufenthalt in dem wunderschönen Landhaus, das für ihn zum Luxus-Hospiz für den letzten Abend wird. Ohne das Geld des Sohnes hätte der todkranke Rémy nicht die Möglichkeit, das schmerzlindernde Heroin zu erhalten. Auch wäre die Illusion der dankbaren Studenten nicht möglich gewesen, die für ihren Auftritt bei Rémy bezahlt wurden, ohne dass dies der Vater bemerkt hat. Der schöne und sanfte Tod Rémys wäre ohne das Geld und kleine und größere Bestechungen des Sohnes nicht möglich. Selbst die Mitarbeiter des Krankenhauses beteiligen sich gegen Bezahlung an der aktiven Sterbehilfe. Dies kann als beißende Gesellschaftskritik verstanden werden: In dieser Gesellschaft benötigt man erhebliche finanzielle Mittel und darüber hinaus bedarf es nicht unerheblicher Rechtsbrüche, um sich einen schönen und sanften Tod leisten zu können. Das Thema Geld und die alten sozialistischen Gesellschaftsutopien des todkranken Rémys verbleiben jedoch in einem ambivalenten Spannungszustand. Während das Kapital einerseits zur adäquaten Bedürfnisbefriedigung eines sterbenden alten Mannes notwendig und darüber hinaus moralisch gut mit dem Ziel der Selbstbestimmung angelegt ist, so zementieren die monetären Unterschiede in der Gesellschaft auch deren Ungerechtigkeiten. Die eindrucksvolle Eingangsszene des Films, in der ein
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mit Krankenbetten überfüllter maroder Krankenhausflur gezeigt wird, wo schon einmal bei dem dort herrschenden Chaos ein falscher Patient die letzte Krankensalbung bekommen kann, zeigt, dass diejenigen Patienten, die sich eine private Luxusbehandlung nicht leisten können, das Nachsehen haben. Im Film wird angedeutet, dass diese Patienten buchstäblich jämmerlich verrecken müssen, während um sie herum geschäftiges medizinisches Notfalltreiben einschließlich Handwerkerarbeiten im maroden Gebäude herrscht (vgl. Merker 2003). Insofern werden im Film gesellschaftliche Strukturen kritisiert, in denen sich nur Reiche einen schönen Tod erkaufen können, der doch eigentlich für alle selbstverständlich sein sollte. Der Film kritisiert – neben den kapitalistisch bedingten Ungleichheiten – auch sehr deutlich Zustände in Kliniken: Es herrscht eine hektische Betriebsamkeit ohne die geringste Rücksicht auf die Bedürfnisse nach Menschlichkeit zu nehmen. Die Medizin läuft in der Klinik wie eine geölte Maschine ohne Rücksicht auf die Kranken. Ärzte und Schwestern kennen die Patienten und deren Biografie nicht. Die Klinik dient dem Selbstzweck der Profitmaximierung. Bedürfnisse der Menschen nach Zuwendung, Trost oder Spiritualität werden vollständig ignoriert. Ohne einen gut gepolsterten finanziellen Rückhalt ist man in dieser Welt so verloren, wie es schlimmer nicht sein könnte. Erst der Besitz erheblicher finanzieller Mittel kann in diesem System den Rahmen dafür schaffen, dass es sich überhaupt erst über Utopien wie sozialistische oder andere Gesellschaftssysteme philosophieren lässt. Dies ist – etwas überspitzt – die bittere Botschaft des Films: Erst durch Geld lässt sich eine humane Situation herstellen. Im Krankenhaus mangelt es für die armen Kassenpatienten an fast allem. Keine Privat- oder Intimsphäre und eine mangelhafte, inhumane medizinische Versorgung. Wirksame Schmerzmittel (z. B. Heroin) können nur illegal durch Privatinitiative besorgt werden. Die Kritik des Regisseurs am Krankenhausbetrieb zeigt sich an dem beschriebenen Einzelfall des sterbenden Professors Rémy. Ein Individuum mit individuellen Bedürfnissen trifft auf eine Krankenhausinstitution mit starren Regeln. Diese Regeln gelten für alle und immer – es sei denn, man kann diese mit Geld umgehen. Insgesamt ist der vielfach preisgekrönte Film ein durch und durch utopischer Film. Er zeichnet und beschwört geradezu die Vision eines menschenwürdigen und selbstbestimmten Sterbens im Kreis der Familie und Freunde. Hedonismus und Humanität sind in diesem Film kein Widerspruch – wenn man es sich leisten kann.
Literatur DocCheck Flexikon (https://flexikon.doccheck.com) 30.4.2019 Haas D (2003) »Die Invasion der Barbaren« Alles ist käuflich. Spiegel online 5. Dez. 2003 Jenny U (2003) Ein Fest für den Tod. Der Spiegel 47/2003 LES INVASIONS BARBARES: Schwäbisches Tageblatt 24. Nov. 2015 Liebeneiner W (1941) Ich klage an (DVD) Merker H (2003) Fröhliches Abendmahl. Die Zeit 49/2003
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„Schöneres Sterben unter Freunden“
Originaltitel
Les invasions barbares
Erscheinungsjahr
2002
Land
Kanada, Frankreich
Drehbuch
Denys Arcand
Regie
Denys Arcand
Hauptdarsteller
Rémy Girard, Stéphane Rousseau, Dorothée Berryman, Louise Portal, Dominique Michel, Yves Jacques, Pierre Curzi, Marie-Josée Croze, Marina Hands, Toni Cecchinato, Mitsou Gélinas, Isabelle Blais, Roy Dupuis
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Bodo Kirchner
Jenseits des Lustprinzips Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Am Ende der Liebe – eine zarte und schreckliche Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Die Leinwand als Spiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Über dem Abgrund der Zweisamkeit . . . . . . . . . . . . . . 96 Alt, krank, tot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Bis dass der Tod uns verbindet . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_7
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Filmplakat Liebe. (© X Verleih AG. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Liebe (2012) Bodo Kirchner
Handlung Wir erleben als Zuschauer aus dem anfänglichen Dunkel des Bildes heraus, wie die Tür einer Wohnung von Einsatzkräften aufgebrochen wird. In die hereinbrechende Helligkeit betreten Feuerwehr, Polizei und Rettungsmänner die Diele, öffnen auch die mit Klebebändern abgedichtete Schlafzimmertür und zeigen einen heftigen Ekel, der sich als (unsichtbare, daher dem Medium Film nicht direkt verfügbare) heftige, körperliche Abwehrbewegung manifestiert. Wir ahnen schon, hier herrscht Leichengestank, das Schreckliche ist nur noch wenige Sekunden entfernt. Auf dem Ehebett liegt der Leichnam einer festlich gekleideten, alten Dame, das Kopfkissen ist mit Blumen geschmückt (Abeltshauser 2012). Hier beginnt die Rückblende, welche nach dem »Finale« die eigentliche Handlung des Films umfasst: Wir erleben die großbürgerliche, gepflegte und kultivierte Atmosphäre einer Pariser Wohnung, die von einem alternden, pensionierten Ehepaar, Georges und Anne, bewohnt wird. Anne hat als Klavierlehrerin gearbeitet, Georges ebenfalls als Musikpädagoge. Beide kehren soeben aus dem Théatre des Champs-Élysées von einem Schubert-Konzert zurück, in dem Annes früherer Schüler, Alexandre, brilliert hat. Als sie die Wohnung betreten wollen, stellen sie fest, dass jemand – offenbar erfolglos – versucht hat, in diese einzubrechen. Anne ist beunruhigt, George nimmt dieses Ereignis jedoch gelassen und kehrt rasch zum Alltag – und zu seiner offenkundigen, zärtlichen Liebesbeziehung zu seiner Frau zurück:
RR »Wie hübsch du heute warst!« Anne (aus dem Off ) wehrt ab: »Was ist denn mit dir los?« In der folgenden Nacht wälzt sie sich unruhig im Schlaf. Georges fragt:
RR »Was ist los?« Anne meint: »Nichts.« Am nächsten Morgen, während des Frühstücks, erstarrt Anne plötzlich, verstummt, schaut mit starrem Blick durch den unendlich besorgten Georges hindurch, der vergeblich versucht, sie aus dieser Starre zu befreien. Zuerst glaubt er noch an einen Scherz, aber dann macht es ihm (und uns, den Zuschauern) zunehmend Angst (. Abb. 7.1, Filmplakat). Nach wenigen Minuten ist der Zustand vorüber, Anne versucht das Ereignis zu bagatellisieren, wirkt dabei aber ratlos und verwirrt:
RR »Ich verstehe das alles nicht«, sagt sie, und verschüttet dabei den Tee, den sie versucht, in ihre Tasse zu gießen. Georges wirkt äußerst angespannt und sorgenvoll und verlangt, dass sie sich ärztlich untersuchen lasse. Offenbar wird eine Verengung der Halsschlagader festgestellt, die operiert werden muss. Im Rahmen dieses Eingriffs erleidet Anne einen Schlaganfall, der ihre rechte Körperhälfte lähmt. Wir erleben im Film jedoch nur die Rückkehr in die Wohnung, Georges bugsiert seine Frau im Rollstuhl, hilft ihr beim An- und Ausziehen, bei der Körperpflege, der Toilette und bei den Bewegungsübungen. Immer wieder sorgen lange Überblendungen über Dunkel, fast Schwarz für eine düstere Atmosphäre: Nacht, Schlaf, Tod.
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Jenseits des Lustprinzips
..Abb. 7.2 Anne erstarrt (© X Verleih AG. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Anne fordert von Georges:
RR »Versprich mir eines! Bringe mich nie wieder ins Krankenhaus!« Offenbar hegt sie Suizidgedanken; als Georges sie nach der Rückkehr von einem Begräbnis auf dem Boden des Vorzimmers vorfindet – sie war aus dem Rollstuhl gefallen – bemerkt er, dass das Fenster zum Hof offensteht. Anscheinend wollte Anne sich hinunterstürzen, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu; sie meint nur:
RR »Verzeih mir, ich war zu langsam.« Nach einem kurzen Moment der Sprachlosigkeit erwidert Georges lakonisch:
RR »Du bist immer für eine Überraschung gut.« Später sagt Anne, es gäbe für sie einfach keinen Grund, weiterzuleben:
RR »Es wird immer schlechter werden, und es gibt keinen Grund, dir und mir das anzutun.« Diesmal findet Georges keine Antwort. Es nützt nichts, darüber zu reden. Alexandre, der gefeierte Klavierspieler, besucht das Paar und wird gebeten, Schuberts »Bagatelle« zu spielen, aber wird unterbrochen; es gelingt nicht, die Illusion der Ästhetik aufrechtzuerhalten, zu sehr steht der Tod im Raum. Später stürzt Anne aus dem Bett, versucht sich zu behaupten:
RR »So blöd bin ich noch nicht!« und ist in einer folgenden Szene beschämt darüber, dass sie einnässt. Georges versucht, sie zu trösten:
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..Abb. 7.3 Gemeinsame Scham und Hilflosigkeit (© X Verleih AG. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
RR »Das ist ja kein Drama.« Es ist die gemeinsame Scham, die gemeinsame Hilflosigkeit, die sie beschwert und vereint (. Abb. 7.3). Doch Annes Zustand verschlimmert sich, sie kann nur noch mühsam und undeutlich sprechen, muss gefüttert und gewickelt werden. Manchmal ruft sie nur noch, immer wieder »Hilfe. Hilfe. Hilfe.« In dem gemeinsamen Lied »Sur le pont d’Avignon« gelingt dem Paar noch einmal eine musikalische, regressive und tröstliche Kommunikation. Mit dem Fortschreiten der Behinderung wächst jedoch die Isolation, auch von der Tochter Eva, die mit ihrem Mann Geoff(rey) in London lebt und ihre Mutter lieber in einem Pflegeheim sähe. Aber Georges leistet erbitterten Widerstand:
RR »Ich habe es ihr versprochen!« Er organisiert eine Hauskrankenpflege, die bei der Körperpflege hilft, die er jedoch wieder entlässt, als er merkt, wie herzlos und grob diese mit Anne umgeht. Als er dieser das letzte (überhöhte) Honorar zahlt und sie entlässt, beschimpft ihn die Pflegerin voller Wut, aber Georges bewahrt auch hier noch, wie immer bisher, die Contenance. Diese verliert er erstmals, als Anne sich weigert, aus der Schnabeltasse zu trinken. Er droht ihr mit dem Krankenhaus, zwingt ihr die Tasse in den Mund:
RR »Du trinkst das jetzt!« Sie spuckt ihm die Flüssigkeit ins Gesicht, er gibt ihr eine Ohrfeige. Verzweifelt und beschämt entschuldigt er sich, sichtbar am Ende seiner Kräfte. Die Kamera wandert nostalgisch durch die Wohnung, über die romantischen Landschaftsgemälde und das stilvolle Interieur. Eva fordert ihren Vater auf, die Mutter endlich in ein Pflegeheim zu geben, dieser wehrt grob und kompromisslos ab (. Abb. 7.4):
RR »Lass uns in Ruhe!«
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..Abb. 7.4 »Lass uns in Ruhe!« (© X Verleih AG. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Eva besteht darauf, ihre Mutter zu sehen (»Ich bin’s, Mama«), verlässt schließlich verzweifelt und ratlos das Schlafzimmer, sprachlos auch die Wohnung. Georges beruhigt Anne:
RR »Alles wird gut« und erzählt ihr aus seinen Erinnerungen, der Kindheit, einem Ferienlager, in dem er an Diphtherie erkrankte, unglücklich und voller Heimweh, nur durch die Krankheit sei er nach Hause gekommen. Plötzlich packt er das Kopfkissen und erstickt Anne damit. Anschließend kauft er Blumen, dekoriert damit das Bett, verklebt die Türen. Eine Taube, die sich schon einmal in den Flur verflogen hatte fängt er mit einer Decke, streichelt sie und entlässt sie durch das offene Fenster im Flur, aus dem Anne sich damals stürzen wollte. Er schreibt Briefe, träumt davon, mit Anne gemeinsam die Wohnung zu verlassen, miteinander auszugehen:
RR »Lass den Abwasch …«, dann, nach einer langen Pause, sehen wir Eva alleine in der aufgeräumten, fast leeren Wohnung. Das Schicksal von Georges bleibt ungewiss.
Entstehungsgeschichte Hanekes biografischer Hintergrund war der Selbstmord seiner über 90-jährigen Tante, die ihn großgezogen hatte. Diese hatte die letzten Jahre alleine in ihrer Wohnung gelebt, weil sie nicht in einem Seniorenheim leben wollte und den Regisseur selbst mehrere Male erfolglos um Sterbehilfe gebeten hatte. Haneke meinte daher, das Hauptthema seines Films sei »die Frage, wie man mit dem Leiden eines geliebten Menschen umgeht« (Albetshauser). Seit 1992 beschäftigte sich Haneke mit dem Stoff, wurde jedoch durch eine Schreibblockade daran gehindert, das Thema weiter zu verfolgen. Er arbeitete immer wieder an dem Drehbuch, quälte sich
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damit herum, in der Hoffnung, dass ihm der zunächst noch unklare Schluss der Geschichte beim Schreiben einfallen werde. Schließlich gelang ihm die Schlussfassung doch und er wählte Jean-Louis Trintignant als Darsteller, da er diesem zutraute, die schwierige Rolle des Protagonisten zu übernehmen. Trintignant erschien ihm besonders deshalb geeignet, da dieser die Dinge nicht ausspiele, sondern sie nur andeute und damit »sein Geheimnis« für sich behalte. Obwohl Trintignant anfänglich nicht mitspielen wollte, konnte er schließlich als Hauptdarsteller gewonnen werden. Trintignant gab dem Film auch seinen Titel, da die Geschichte so »voller Liebe« sei. Emanuelle Riva war seit dem Film Hiroshima, mon amour (1959) eine »Jugendliebe« Hanekes gewesen, er hatte sie immer schon als außergewöhnlich empfunden. Als sie beim Casting in der Küchenszene (der gewiss schauspielerisch schwierigsten Szene des Films) ihn überzeugte, war die Wahl eindeutig: Riva habe die Autorität einer Klavierpädagogin ausgestrahlt und auch perfekt zu Trintignant gepasst. Haneke wählte für seinen Film bewusst das großbürgerliche Milieu, in dem er selbst aufgewachsen war, aber auch, weil er kein Sozialdrama schildern wollte, sondern das »wesentliche, menschliche Drama« (Albetshauser), welches er kammerspielartig unter Einhaltung der Einheit von Zeit, Ort und Handlung in der Wohnung des alten Paares festlegte. Dabei will er auch sentimentale Effekte vermieden haben, da er »allergisch gegen Sentimentalität« sei (Haneke 2012). Das Drehbuch verfasste er in deutscher Sprache, es wurde ins Französische übersetzt. Die Dreharbeiten fanden in den TSF-Filmstudios in Épigny-sur-Seine statt, die komplette Wohnung wurde mitsamt einem Innenhof als Kulisse im Studio errichtet, mit Originalfenstern und echtem, alten Parkett, in 4 Metern Höhe, um den Lift realistisch einbauen zu können. Die Bibliothek wurde aus massiver Eiche angefertigt und auf Anweisung von Haneke mit Büchern in thematischer und alphabetischer Ordnung befüllt. Der Wohnungsgrundriss entsprach weitgehend der Wiener Wohnung von Hanekes Eltern, das Mobiliar jedoch französischer Tradition. Während der Szene mit der Taube stürzte Trintignant und brach sich das Handgelenk. In der Tötungsszene musste dies durch geschickte Hand- und Körperhaltung überspielt werden. Die für Riva emotional schwierige Duschszene, in der ihr nackter Körper nur teilweise von der Pflegerin verdeckt wurde, wurde nur zweimal gedreht, um die unbehagliche Situation für sie in Grenzen zu halten. Um die Sprachschwierigkeiten nach dem Schlaganfall authentischer zu gestalten, erhielt sie vom Zahnarzt eine kleine Prothese und nahm zusätzlich ein Stück Baumwolle in den Mund. Die Filmmusik stammt von Franz Schubert, von Bedeutung ist dabei das dritte Impromptu. Abrupte Unterbrechungen der Musik (ohne Ausblendungen) erhöhen beim Zuschauer die Empfindung von Abbrüchen, Scheitern und Endgültigkeit; ursprünglich wollte Haneke dem Film einen dazu passenden Titel geben: La musique s’arrête – Die Musik endet. Auch die zweite Bagatelle Beethovens, welche Alexandre bei seinem Besuch in der Wohnung spielt und das von Georges begonnene Choralvorspiel von Bach, »Ich ruf ’ zu dir, Herr Jesu Christ, ich bitt’, erhör’ mein Klagen«, brechen plötzlich ab. Anne fragt:
RR »Warum spielst du nicht weiter?« Georges schweigt.
Rezeption Bei der Uraufführung in Cannes erhielt Liebe von der Filmkritik sehr großes Lob und schließlich die Goldene Palme, es folgten 2012 und 2013 weitere 80 Auszeichnungen, darunter ein Golden Globe für den besten fremdsprachigen Film, zwei BAFTA-Awards für die beste Hauptdarstellerin und den besten, nichtenglischsprachigen Film und fünf Césars. Dazu kamen der 25. Europäische Filmpreis für Film, Regie, Darsteller und Darstellerin, mehrere Critics Association Awards in den USA und schließlich ein Oscar für den besten fremdsprachigen Film.
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Die Süddeutsche Zeitung bezeichnete ihn als »… das große Gemälde der Liebe, die sparsamste aller Skizzen – allerdings ohne einen einzigen falschen Strich … einen besseren Führer auf dieser Reise als Michael Haneke kann man sich hier tatsächlich nicht vorstellen« (Kniebe 2012). Die Presse, Wien, sieht in Amour den »letzten Liebesdienst«, ein »Kammerspiel über die härteste Prüfung«, eine »Versuchsanordnung, in der die Figuren und der Zuseher auf die Probe gestellt werden«. Haneke »überlässt die Frage nach der Er- oder Auflösung einmal mehr dem Zuseher« (Huber 2012). Die Zeit bewundert die »Zärtlichkeit des Endes, die Zärtlichkeiten in flüchtigen Augenblicken … Liebe ist eher das, was man nicht sieht«, spricht jedoch auch vom »Räderwerk einer griechischen Zimmertragödie« und resümiert: »Nein, es gibt doch keinen Trost mehr in der Kunst.« Haneke zeigt, »dass die einzige Würde die einem dabei bleibt, die illusionslose Nüchternheit ist« (Radisch 2012). Die Welt findet gar eine Definition der Liebe: »Liebe ist, die Allerliebste in den Tod zu begleiten«, eine eher euphemistische Sicht, geht es doch um aktive Sterbehilfe, ohne jemals ein Plädoyer für humanes Sterben, Euthanasie, den sogenannten »schönen Tod« oder Ähnliches anzubieten. »Einer muss gehen, einer bleibt zurück, es ist das Natürlichste der Welt, und doch schreit es zum Himmel.« Der Film »besteht auf der Möglichkeit der Liebe als Bekenntnis zweier Menschen füreinander: Ich werde da sein, und sei es nur als Erinnerung« (Peitz 2012). Und der Cicero widmet dem »großen Verstörer« Haneke zwei Artikel: »Das Hohelied der Liebe« und »So ist das eben«. Besser ist die Thematik, die Dynamik und der weite, offene Bogen des Filmes nicht zu beschreiben, ein »grandioses Gemälde ohne sentimentale Ausflüchte … ein Schauspiel, das von jeglichem Pathos befreit ist. Nie war er dabei ein größerer Poet, ein größerer Realist, der die Realität des Alterns, des Sterbenmüssens nicht verklärt, sondern sie zeigt, wie sie ist. Er erschüttert und berührt uns zugleich mit seiner Idee von Liebe. Bis ins Mark … Und wir Zuschauer verlassen den Saal: verstört und voller Liebe« (Cicero, 2019).
Am Ende der Liebe – eine zarte und schreckliche Annäherung Die Filmerzählung spult geradezu lakonisch das Ende einer klassischen Ehe (»… bis dass der Tod uns scheidet«) ab, wir wissen ja bereits zu Beginn um das tragische Finale, das wahrscheinlich nicht nur die überraschende, wenn auch nicht gänzlich unerwartete Tötung Annes durch Georges umfasst, sondern auch dessen Verschwinden/Suizid. Nach dem dramatischen Beginn mit der gewaltsamen Eröffnung der Wohnung bleibt das Unheimliche und Unheilvolle zunächst im Hintergrund, wird durch den versuchten Wohnungseinbruch zunächst nur angedeutet, aber nimmt mit der Küchenszene, der ersten, verstörenden, aber noch vorübergehenden Erstarrung Annes seinen Lauf. Rührend, zärtlich und in einer langjährig erprobten wie auch abgeklärten Nähe und Distanz leben die beiden miteinander ein durchaus aufeinander bezogenes, aber auch einzelnes Leben, jeder scheint mit sich und dem anderen in philia, caritas und agape verbunden. Eros ist im Ruhestand, aber die Zärtlichkeit hat überdauert. Das Unheil bricht, wie bei Haneke üblich, plötzlich, aber nicht unerwartet herein: Schlaganfall, Lähmung, Behinderung, Sprachverlust, Inkontinenz. Und Georges scheint dies alles mit Stoizismus, Zuwendung und Aufopferung zu ertragen. Keine Trauer, keine Verzweiflung, keine Tränen; äußerste Konsequenz wird spürbar, wenn er der Tochter gegenüber sein Versprechen, Anne niemals wieder in ein Krankenhaus zu bringen, bekräftigt. Hier hält das Liebes- und Eheversprechen, das müssen wir anerkennen. Doch die Frage taucht auf: wie, wenn es nicht mehr weitergeht? Wenn er die pflegerischen Aufgaben nicht mehr bewältigt und die Hilfspersonen sich als unfähig oder uneinfühlsam erweisen? Hier beginnt eine Spannung, welche Georges zwischen Lebenserhaltung und Todeswünschen langsam zu zermürben beginnt, ohne dass er dies nach außen hin zu zeigen bereit ist. Mit einer gewissen Sturheit sehen wir den alten Herren den Weg zu Ende gehen, die Hilfsangebote ausschlagen, gekettet an sein Versprechen wie an eine Galeere nimmt er aufrecht und pflichtbewusst den Weg in den Untergang.
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Wie ist die Beziehung zwischen Anne und Georges strukturiert? Abgeklärt, freundlich, aufeinander bezogen, gewiss. Aber wir wissen nichts von den Spannungen, Konflikten und Enttäuschungen, die sie einander bereitet haben, die es auch einmal (wie in jeder längeren Ehe) gegeben haben muss, all dies ist vom gegenseitigen Wohlwollen und Wohlverhalten zugedeckt, verborgen, vielleicht sogar verschwunden in jener Vergangenheit, die der Film nicht thematisiert. Es ist, wie es ist. Doch wie war es damals, gibt es überhaupt eine Geschichte vor der Geschichte, eine Erzählung bevor das letzte Kapitel beginnt? Haneke lässt diese Frage offen, das ist sein gutes Recht als Regisseur, als Kammerspieldirektor. Wir aber fragen uns als Zuschauer: Wie ist das gekommen? Die Beziehung zur Tochter Jeanne, welche von Isabelle Huppert hervorragend, zwischen Nervosität, Optimismus und Aggression changierend, gespielt wird, diese Beziehung erscheint fragil, fragwürdig, wie auch jene zum Schwiegersohn und zwischen den beiden:
RR »Liebst du ihn?« »Ich denke, schon.« Mehr ist nicht zu sagen, doch unausgesprochen schwingt der Zweifel mit: Ist nicht diese Frage zu einfach gestellt? Welcher Art ist die Liebe des jungen Paares? Ist sie ein Spiegelbild des alten? Stabilisiert sich auch diese Beziehung über Höflichkeit und gutes Benehmen? Ist die Liebe der Eltern zueinander eine immer noch erotische Anziehung, eine liebgewordene Gewohnheit oder eine gesellschaftliche Pflicht? In einer kleinen Sequenz erfahren wir etwas mehr, als Tochter Eva ihrem Vater ein Geheimnis anvertraut: Sie habe, wenn sie als Kind gehört habe, dass die Eltern miteinander Sex hatten, das Gefühl gehabt, sie würden sich ewig lieben und sich nie trennen (Jaeggi 2014, S. 164). Haneke lässt uns darüber hinaus aber im Ungewissen, wie auch in seiner eigenen Lebensgeschichte. Denn wie dürfen wir es uns vorstellen, wenn er von dieser Tante aufgezogen wurde? Wo waren seine Eltern? Warum spielt die Wohnung so eine große Rolle, dass sie im Maßstab 1:1 wiederkonstruiert werden musste? Erzählt er vielleicht verschoben, aber im Wiederholungszwang gefangen, von seinen eigenen ödipalen Sehnsüchten, Todeswünschen und -fantasien, vom Verschwinden des Vaters, von der selbst erfahrenen, schrecklichen, emotionalen Leere in der bürgerlichen »Normalität«? Wir dürfen darüber spekulieren, sind doch die Angst, Gewalt, Grausamkeit und der Schrecken in wiederkehrenden und mannigfaltigen Gestalten Haneke’sche Konstanten – in all seinen Filmen. Wie kann er solche Filme schreiben, drehen, meisterhaft Regie führen, wenn sie nur aus der äußeren Realität, nicht auch aus innerer Not entstanden wären? Was er uns vorhält, ist ein Spiegel, gewiss, aber ein halbverspiegelter, in dem der Regisseur des eigenen Dramas mit jedem Film deutlicher wird. Dieses biografische Element vermischt sich darin mit dem allgemeinen, wir erschrecken daher mindestens ebenso über uns selbst, über unsere eigenen Affekte, Gewalt- und Todesängste bzw. -fantasien. Sind wir imstande, unsere Liebste/n zu töten? Haben wir nicht schon einmal daran gedacht, davon geträumt, erschrocken, zweifelnd, verzweifelt? Haneke sagt uns: So ist es. Es ist, was es ist. Und das sagt nicht nur die Liebe, sondern auch der Tod.
Die Leinwand als Spiegel In der zweiten Szene des Films betrachten wir den Zuschauerraum des Konzertsaals aus der Sicht der Bühne, langsam findet der Blick die beiden Alten, das kunstsinnige Paar, zwischen den anderen. In diesem Moment verwandelt sich die Leinwand in einen Spiegel, es könnte auch umgekehrt sein, man blickt ja doch in einen Zuschauerraum, der der eigene sein könnte. Das Paar könnte genauso gut mitten unter uns sitzen, vielleicht sogar neben einem selbst, letztendlich sitzt vielleicht sogar neben mir jener Mensch, den ich liebe und mit dem ich mein Leben verbringen will, verbringe, verbracht habe? Als Zuschauer werden wir zu Mitspielern, zu Statisten, aber auch zu Zeugen und Betroffenen der weiteren Handlung. Die Leinwand wird gleichsam halbdurchlässig, verweist auf unsere eigenen Wünsche und Illusionen, wie der Schirm (»écran«) bei Lacan trägt er zur Erkenntnis und Verkennung zugleich bei, wir erblicken das Paar und werden erblickt; das Subjekt der Vorstellung ist zugleich im
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Blick als Objekt gespiegelt und gefangen. Aus dieser Position heraus bleibt als Ausweg nur der Tod, bzw. das Verschwinden der Schauspieler; das Ende des Films ist die einzige Möglichkeit zur Rückkehr ins eigene Leben, das wir nun mit dem Wissen um das Schicksal der Protagonisten, dem Wissen um das Ende allen Lebens teilen müssen. Ein irritierendes »memento mori« aus Intrusion, Identifikation und emotionaler Teilhabe, dann wieder in der Distanz des alltäglichen (Weiter-)Lebens. Auch der weitere Film bleibt voyeuristisch, indem er uns in die Privatwohnung begleitet, wir das Schlafzimmer, Küche und Badezimmer mit den beiden Darstellern betreten und betrachten. Wir hören, sehen und fühlen mit Georges und Anne, oder sind es Trintignant und Riva? Sind wir ihnen nicht viel zu nahe? Manchmal entsteht der Wunsch, die Wohnung (den Spiegel) wieder verlassen zu können, aus dem Übertragungsgeschehen herausfinden und heraustreten zu können, aber wir sind schon längst verstrickt in die eigenen Erinnerungen, Wünsche, Hoffnungen und Ängste, die sich mit jenen auf der Leinwand verdichten und verschieben. Einzig die sekundäre Bearbeitung der eigenen Traumregie könnte uns noch retten, aber zu dicht, zu nahe, zu zwingend schreitet das Drama voran – wir sind schon im Haneke-Universum gefangen. Indem wir zusehen, sind wir Mitleidende und Mittäter. Wie in einer griechischen Tragödie folgen wir den Orakelsprüchen der Protagonisten, welche so vernünftig und eindeutig, angenehm und angemessen klingen, es aber nicht sind. Denn dahinter lauert das Unheimliche und Ungeheuerliche, das grausame Ende, das wir ja schon aus der Eingangsszene kennen und dennoch während des ganzen Filmes zu verdrängen versuchen, nicht wahrhaben wollen. Die knappen Dialoge bilden eine Fassade aus anständiger, großbürgerlicher und hochzivilisierter Kommunikation, aber es gibt keine Rettung, die Kultur ist nur eine dünne Schicht über dem Schrecken, der Gewalt und dem Tod. Das Reale ist mächtiger als das Imaginäre und das Symbolische, es zerbricht jede Illusion, jede Diskussion. Darüber zu sprechen, zu diskutieren, zu schreiben, sind letztlich unzulängliche Versuche, das Unfassbare zu bewältigen. In diese Hinsicht ist der Tod tatsächlich die letzte Grenze, das Unbewältigbare schlechthin – auch wenn unsere kulturellen Leistungen ja sämtlich dazu aufgeboten werden, diese Grenze zu bewältigen, zu überwinden, uns irgendwie unsterblich zu machen. In dieser Hinsicht ist die Szene, in welcher stumm die Landschafts- und Genrebilder der Wohnung an der Kamera vorüber wandern, eine Anspielung auf das Kommende: Der schöne Schein trügt, es gibt keine Idylle, keine Rettung, weder durch die Leinwand des Künstlers noch durch die Leinwand im Kino. Ja, die Diskrepanz könnte größer nicht sein: Zeigen diese Ölbilder ein fixiertes, verfügbares allgemeines Wunschbild (die Landschaft war ja niemals so, wie sie gemalt wurde), so zeigen die bewegten Bilder auf der Kinoleinwand eine Realität, die auch niemals (wirklich) so war, die Darsteller sind nur Darsteller, die Wohnung eine Kulisse, aber die Wahrheit des Films »Liebe« reicht über das Allgemeine direkt ins Besondere, in unsere einzelne Existenz, in unseren eigenen Tod. Hier endet die Sprache, die Musik, ja vielleicht ist auch dieser geschriebene Text über den Haneke-Film nur ein verzweifelter Bewältigungsversuch.
Über dem Abgrund der Zweisamkeit In der stilvollen Wohnung konzentriert sich das Gefühl des Eingeschlossenseins. Für Anne, für Georges, für die Taube, für uns Zuschauer. Haneke sperrt uns in diesem Film ein wie in einem Käfig, gefüllt mit ästhetischen und verstörenden Bildern, mit einer unausweichlichen, menschlichen Tragödie. Furcht und Rührung befallen uns auf dem Weg in den Abgrund, aber es nützt nichts, das Schöne ist nur des Schrecklichen Anfang. Haneke erzählt ruhig, ungerührt, diskret, er vermeidet die Melodramatik zugunsten der genauen Empfindung, die sich oft nur in den Gesichtern und Gesten der Darsteller spiegelt, selbst die Sprache versagt, bei Anne aufgrund ihres Schlaganfalls, bei Georges aufgrund seiner Einsamkeit und Ausweglosigkeit. Die Banalität des langsamen Verfalls und des Sterbens, das Scheitern jeder Tröstung, das Erbärmliche und Erbarmungslose des Todes entfalten ihre unerbittliche Dramatik. Welche Chance hat hier noch die Liebe?
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Findet sie sich in der Zärtlichkeit der Pflege, die Georges seiner Anne angedeihen lässt, die er konsequent und kompromisslos gegen die Lieblosigkeit der Pflegerin verteidigt? Ein Ritter von trauriger Gestalt, aber rührend und unerbittlich in seiner moralischen Konsequenz, auch der eigenen Tochter gegenüber: Ein Versprechen gilt. In dieser Haltung bleibt er Gentleman, Vertrauter, Liebender und Patientenvertreter in einer Person, egal wie sehr das Körpererleben durch Alter, Lähmung, Sprachverlust, Hinfälligkeit und Inkontinenz deformiert und zerstört wird. Georges bleibt aufrecht, auch wenn der Verfall und die Katastrophe unaufhaltsam näher rückt. Und Anne ergibt sich in ihr Schicksal, mit Haltung, solange diese noch möglich ist, zunehmend dann mit Verbitterung und Zorn, den ihr aber niemand übelnehmen kann, so nachfühlbar, so menschlich sind ihre Regungen und Resignationen. Hier haben zwei stolze und unabhängige Menschen in großer Liebe zueinander gefunden, haben dadurch einiges erlitten und bewahren immer noch ihre Liebe in und durch die Distanz (Jaeggi 2014, S. 165) Anscheinend ist die Situation hoffnungslos, aber nicht lieblos. In seiner Zuwendung und Zärtlichkeit gelingt es Georges, einen letzten Aufschub zu erreichen, ein Moratorium, das kläglich und komisch, stoisch und verzweifelt zugleich ist. Im Tanz mit dem Rollstuhl blüht noch einmal die Erinnerung an den Tanz der Liebenden auf, gefolgt vom Sturz, der Zäsur, dem Ende der Musik. Eine ausweglose Liebe, gewiss, aber ist Thanatos nicht immer stärker als Eros, hat er nicht das letzte Wort? Auch die romantischen Landschaftsbilder, die Klaviermusik schützen nicht vor dem Abgrund, der das Ende der Zweisamkeit besiegelt. Was wird aus George, nachdem er Anne erstickt, das Schlafzimmer versiegelt, die Abschiedsbriefe geschrieben hat? Vielleicht hilft uns sein Tagtraum, seine halluzinatorische Wunscherfüllung in seiner letzten Szene weiter: Er verlässt mit seiner gesunden Anne gemeinsam imaginär die Wohnung, geht mit ihr zusammen hinaus, aus dem Gefängnis der Gebrechlichkeit, aus dem Unausweichlichen findet er einen Ausweg. Orpheus und Eurydike gehen gemeinsam in die Unterwelt, verschwinden aus dem Leben ihrer Tochter, wenn er sie schon nicht retten kann, wenn er sie schon töten muss, um sie vor dem weiteren, längeren Leiden zu bewahren, so folgt er ihr konsequenterweise ins Schattenreich. Der Blumenschmuck auf dem Sterbebett vergeht, wie auch die sterbliche Hülle, die Verwesung beginnt. Die Liebe, wie sie Haneke uns in ihrer Schönheit und in ihrer Schrecklichkeit zeigt, bleibt als Erzählung auf unserem Wunderblock, als Film auf unserer Traumleinwand zurück.
Alt, krank, tot Nicht einmal die bürgerliche Fassade bleibt: das Bett wird gegen ein Pflegebett ausgetauscht, der Bugholzsessel gegen den Rollstuhl, das Sèvres-Porzellan gegen die Schnabeltasse aus Plastik. Die Krankheit zeigt ihr hässliches, geschmackloses, funktionales Gesicht. Dort, wo die Körperfunktionen versagen, ist kein Platz für Design, Ästhetik oder Stil, die Fakten der Neurologie zwingen dem Ende des Lebens ernüchternde Muster auf; les jeux sont faits, rien ne vas plus. Wie beschämend dieser Niedergang ist, wie sehr die Krankheit zur großen Gleichmacherin wird, wie der Habitus verschwindet und anstelle des savoir-vivre die Notwendigkeit und Bitterkeit der Sanitätsartikel unseren Narzissmus demütigt, zeigt Haneke in seiner bekannten Schonungslosigkeit. Hier, wo der Trost so notwendig wäre, versagt er grausam, sagt: schaut her, das Ende ist banal, hässlich und trostlos. Fernab jeder Romantisierung und Ironie, nicht mit feinem, britischen Humor, wie bei »Harold and Maude«, nicht witzig und tiefsinnig wie bei »Ziemlich beste Freunde«, nein, nackt, kläglich und armselig nähert sich hier das Ende. Wir schaudern, trauern, sind beklommen, denn wir sehen in unsere eigene Zukunft. Dieses Sterben ist ohne Charme, ohne Heldentum, ohne Hoffnung. Und wir dürfen als Zuschauer lediglich hoffen, dass das eigene Ende – oder das unserer Liebsten – schneller, gnädiger, überraschender kommen möge. Was Haneke jedoch gelingt, ist, die Bitterkeit, das Zerstörerische und Aussichtslose zu transzendieren: In der letzten Szene, nachdem die Eltern die Wohnung verlassen haben, bleibt die Tochter zurück. Wir können uns vorstellen, was in ihr vorgehen mag, aber entscheidend ist doch, dass das Ende nicht
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das Ende ist. Das Leben geht weiter, anders, ganz anders, mag sein, aber in Evas »rèverie« bleibt die Erinnerung an die sich liebenden Eltern. Sodass die Zuschauer wieder Zuschauer werden, ihren eigenen Fantasien und Träumereien nachgehen können, nach Hause gehen können und weiterträumen. In dieser Hinsicht ist die Liebe stärker als der Tod, das weiß auch Haneke und er sagt es uns – ohne Worte. Zweimal verirrt sich eine Taube in die Wohnung, zweimal fängt sie Georges und lässt sie durch das offen gelassene Fenster im Flur wieder frei. Eine Friedenstaube, ein Turteltäubchen? Wohl eher nicht, Haneke lässt Georges in der zweiten Szene die Taube regelrecht jagen, mithilfe einer Decke fängt er sie schlussendlich, durch seine eigene Alterslangsamkeit gelingt es ihm kaum. Und den Zuschauer erfasst eine plötzliche Angst: Wird Georges auch die Taube töten? Ihr unter der Decke den Hals umdrehen? Tötet er die Liebe ein zweites, grausames Mal – diesmal sinnlos, nur um der Gewalt, der Verzweiflung, der Wut freien Lauf zu lassen? Nein er tut es nicht, Georges ist kein sadistischer Killer aus »Funny Games«, er verfolgt keine exzessive Brutalität, sondern tut nur das, was die äußerste Konsequenz der Liebe ist: die Hilfe zum Sterben zu geben, wenn keine andere Hilfe mehr möglich ist. Die Taube ist unschuldig, sie hat sich nur in den Film verirrt.
Bis dass der Tod uns verbindet Haneke wirft die alte Frage neu auf: Ist es die Liebe oder ist es der Tod, der uns stärker aneinander bindet? Oder gar beides? Verbindet sich die Liebe mit dem Tod, steht die Zuneigung über der Körperlichkeit, die Hingabe über dem Begehren, die Aufopferung über dem Lustgewinn. Gewiss, eine unbequeme Wahrheit, aber wir sollten sie ins Auge fassen, denn wie so oft, verbinden sich die scheinbaren Gegensätze, ist der Tod nicht das letzte Zeichen der Liebe, sondern ihre Vollendung. Das Ziel des Lebens ist der Tod, schreibt Schopenhauer, aber nicht im finalen Sinn, sondern im Beschließen, im Erreichen einer Endgültigkeit. Damit wäre auch eine andere, freundlichere Lesart denkbar und auch der Film böte nicht nur die lakonische Beschreibung eines tragischen Endspiels. Der Tod wäre dann die endgültige Verbindung des Paares, das nicht mehr von den Wechselfällen der Geschichte, von außerehelichen Partnern, von Ermüdung und dem berüchtigten »Wir-haben-uns-auseinander-gelebt« bedroht werden kann. Der Tod wäre dann die letzte Verbindung, nicht der kleine Tod im Orgasmus, sondern der große, endgültige, gemeinsame. Nur dass es nicht, wie bei Romeo und Julia, einer tragischen Verkettung widriger Umstände bedarf, es keine verfeindeten Elternhäuser benötigt, nicht den Irrtum, sondern die Wahrheit: Es ist ein langes, liebevolles, gemeinsames Leben, das einen logischen Abschluss im Sterben findet. Das ist es, nicht mehr – aber auch nicht weniger. Was dürften wir darüber hinaus hoffen? Überlegen Sie gut, was wäre besser? Ein gemeinsames Dahinsiechen im Altenheim? Eine einsame Reise ins Vergessen, indem einer der Partner dement wird? Ein Unfalltod, ein plötzlicher Herztod, eine grausame Krebserkrankung? Haneke bietet uns eine tröstliche Alternative. Liebe bis zum letzten Moment, die Tötung als einen Akt der Gnade und des Mitleids, nicht aus dem Affekt des überforderten Angehörigen, sondern im Wissen, dass diese aktive Sterbehilfe der letzte Liebesdienst ist, den wir nicht wagen, weil er uns moralisch verwerflich erscheint. Aber ist Liebe je moralisch? Gewiss nicht, setzt sie sich doch regelmäßig über Vorschriften, Normen und Gebote hinweg, ja ist sie nicht gerade dadurch charakterisiert, dass sie keine andere Wahrheit und Verpflichtung anerkennt als diejenige, die sie selber für sich einfordert. Liebe ist egoistisch, beziehungsweise »dualistisch«, sie kennt nur das Paar, ist diesem bis aufs Äußerste verpflichtet und gibt alles andere auf, was Sitte, Anstand, Gesellschaft, Moral und Religion fordern. In der Liebe gilt nur die Liebe – und sei es bis in den Tod hinein. Mit rücksichtsloser Konsequenz ist der Film daher auch ein Hohelied auf die Liebe, gewiss ein düsteres, trauriges, in Moll, wie die Beethoven-Sonate; wie wir es ja auch für unser Leben und Lieben ahnen, wie wir es fürchten, wie wir es wissen. Aber es bleibt ein Lied der Liebe.
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Literatur Abeltshauser (2012) https// de.wikipedia.org/wiki/Liebe. Zugegriffen: 18. März 2019 Haneke M (2012) Video-Interview am 26.05.2012: Ich bin allergisch gegen Sentimentalität. http://www.critic.de/interview/ ich-bin-allergisch-gegen-sentimentalitaet-3558/. Zugegriffen: 28. März 2019 Huber C (2012) Haneke-Film »Amour«: Letzter Liebesdienst, am 18.09.2012 in: diepresse.com. https://diepresse.com/home/ kultur/film/filmkritik/1291640/HanekeFilm-Amour. Zugegriffen: 18. März 2019 Jaeggi E (2014) Liebe altert anders – Alter liebt anders. In: Doering S, Möller H (Hrsg) Mon Amour trifft Pretty Woman. Springer, Berlin , Heidelberg Kniebe T (2012) Über dem Abgrund, in Süddeutsche.de vom 19.09.2012. https://www.sueddeutsche.de/kultur/2.220/ amour. Zugegriffen: 18. März 2019 N.N. (Autor unbekannt): Das Hohelied der Liebe, in: Cicero.de, undatiert, abgerufen am 18. März 2019 unter: https://www. cicero.de/kultur/das-hohelied-der-liebe/51924 und: N.N. (Autor unbekannt): So ist das eben, in: Cicero.de, undatiert, abgerufen am 18. März 2019 unter: https://www.cicero.de/ kultur/so-ist-das-eben/52680 Peitz D (2012) Liebe ist, die Allerliebste in den Tod zu begleiten, in: Welt.de am 19.09.2012. https://www.welt.de/kultur/ kino/article109319682/Liebe. Zugegriffen: 18. März 2019 Radisch I (2012) Die Zärtlichkeit des Endes, in: Zeit Online, aus: Die Zeit 39/2012 vom 20.09.2012. https://www.zeit. de/2012/39/Film-Liebe-Michael-Haneke. Zugegriffen: 18. März 2019
Originaltitel
Amour – Liebe
Erscheinungsjahr
2012
Land
Frankreich, Deutschland, Österreich
Drehbuch
Michael Haneke
Regie
Michael Haneke
Hauptdarsteller
Jean-Louis Trintignant, Emanuelle Riva, Isabelle Huppert
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Jutta Fiegl
Bis dass der Tod uns scheidet Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Alzheimer-Erkrankung – ein Leben zwischen Traum, Vergangenheit und Realität bis zur geistigen und seelischen Erlöschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Judith und der langsame Abschied von ihrer großen Liebe 109 Ein Ende wird angedacht – was kommt nach der »gnädigen Schwelle«? Ernst bittet Judith um Sterbehilfe . 110 Tötung auf Verlangen oder Mord? . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_8
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Filmplakat Die Auslöschung. (© Mona Film Produktion. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Die Auslöschung (2013) Jutta Fiegl
Handlung Die Restauratorin Judith Fuhrmann lernt den bekannten Wiener Kunsthistoriker Ernst Lemden bei einer Veranstaltung im Museum kennen, die sie zusammen mit ihrer Freundin Bettina und dem Freund Bernd besucht. In der Community wird Lemden als eloquent, gescheit aber etwas überheblich beschrieben. Als er Judith nach der Veranstaltung anspricht, ist sie zunächst etwas vorsichtig distanziert und gibt ihm zu verstehen, dass sie nicht durch plumpe Anmache zu erobern sei. Sie beginnen doch miteinander zu plaudern und finden offensichtlich Gefallen aneinander (. Abb. 8.1, Filmplakat). Ernst möchte sie mit seinem Auto nach Hause bringen, es regnet in Strömen, aber er findet sein in der Nähe geparktes Auto nicht (. Abb. 8.2). Lachend geben sie die Suche auf und steigen in ein Taxi. Die Atmosphäre zwischen beiden verdichtet sich, sodass sie nicht nach Hause fahren, sondern dem Taxifahrer als Ziel ein Hotel angeben. Ernst, seit langem verwitwet, warnt Judith, dass er schon lange nicht mit einer Frau zusammen gewesen sei und sie mit ihm nachsichtig sein solle. Nach einem von beiden offenbar sehr befriedigend erlebten Zusammensein, schlafen sie ein. Davor sagt Ernst noch ein paar Zeilen eines Gedichts auf, dessen Ende fällt ihm jedoch nicht mehr ein. Am nächsten Morgen macht sich Judith leise auf den Weg, sie hinterlässt Ernst noch ein paar auf Papier geschriebene Zeilen und auch die ergänzten Worte des Gedichts, die Ernst nicht mehr wusste. Ernst stellt sich schlafend, beobachtet, wie sich Judith aus dem Hotelzimmer schleicht. Als Judith den nächsten Tag aus dem Museum, ihrer Arbeitsstätte, kommt, wartet Ernst auf sie und spricht sie an.
RR E: »Glaubst du, du kannst dich einfach so davonschleichen?« J: »aus dem Hotelzimmer« E: »Aus meinem Leben« Drei Monate später sind beide unterwegs zur Taufe von Emil, dem Enkel von Ernst. Die Schwiegereltern seiner Tochter besitzen außerhalb von Wien ein Anwesen, in dem die Feier stattfinden soll. Ernst hat Judith dazu eingeladen, er möchte auch, dass sie bei dieser Gelegenheit seine beiden Kinder kennenlernt. Auf der Hinfahrt verliert er plötzlich kurz die Orientierung und verfährt sich. Etwas verspätet treffen sie ein, Ernst stellt Judith seine Familie vor: seine Tochter Katja, deren Mann Christoph und den Täufling Emil, wobei ihm sowohl der Name des Schwiegersohns als auch der Name des Enkels nicht einfällt. Sein Sohn Theo, ein Künstler, erstaunt Judith mit seiner Frage, wie sie es denn mit seinem Vater jeden Tag aushielte. Hier wird deutlich spürbar, dass das Vater-Sohn Verhältnis nicht das Beste zu sein scheint. Als nach der Taufe alle Gäste im Garten des Hauses zusammensitzen, will Ernst das Taufgeschenk für Emil holen, sucht es, findet es nicht. Etwas betroffen schaut er aus dem Fenster auf die Tafelrunde im Garten, als ihm alles vor den Augen verschwimmt. Als er wieder deutlich sehen kann, gesellt er sich wieder zu den Gästen und hält eine Rede auf Emil, dessen Namen ihm wieder nicht einfällt. Im Zuge dessen macht er sich über sich selbst lustig und beschreibt spöttisch drei Kennzeichen von Demenz, wobei er das Dritte nicht mehr weiß. In der Nacht schläft er schlecht und unruhig, träumt von seiner Kindheit und von unschönen Szenen mit Kindern, die ihn gerne ärgerten – ihm zum Beispiel eine lebende Fliege ins Nasenloch stopften und sich an seiner Angst erfreuten. Er erzählt Judith, die aufgewacht war, die Geschichte aus seiner Kindheit, dass er ein viel zu dünnes Kind gewesen sei, deshalb zu einer Verwandten in ein Dorf
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..Abb. 8.2 Judith und Ernst auf der Suche nach dem geparkten Auto. (© Mona Film Produktion. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
geschickt wurde zum Aufgepäppelt-werden mit herrlichem Grießbrei. Doch die Dorfbuben mochten ihn nicht und machten auf seine Kosten Späße. Judith hört zu und meint zum Schluss, dass sie große Lust hätte, mit ihm gemeinsam eine Wohnung einzurichten und zusammenzuziehen. Am nächsten Morgen, als Ernst sich im Badezimmer wäscht, findet er im Handtuchschrank das vergeblich gesuchte Taufgeschenk für Emil. Verärgert lässt er es im Schrank, als Judith ihn ruft, um ihm einen wunderschönen Regenbogen, der sich nach dem Gewitter gebildet hat, zu zeigen. Neun Monate später haben beide eine stattliche große Wohnung bezogen und sind dabei, sie einzurichten. Judith führt ihre Freundin Bettina durch die Räume. Das Zimmer von Ernst beherbergt eine Unzahl an Büchern, die er als »Außenstellen seines Gehirns« bezeichnet, die nur er einräumen darf, um sie »auch blind zu finden«. Als Judith ihrer Freundin etwas zu trinken anbietet und den Kühlschrank öffnet, findet sie darin Ernsts Brille in einem Fach. Die Freundin merkt ihre Betroffenheit, doch Judith erklärt es mit Überarbeitung, dass Ernst und sie zu viele Projekte hätten und deshalb müde seien. Zur gleichen Zeit besucht Ernst einen Neurologen, der nur aufgrund von Röntgenbildern seines Gehirns keine Diagnose stellen kann und meint, dass weitere Tests gemacht werden müssten. Ernst geht nachdenklich nach Hause. Judith erzählt er nur, dass er einen weiteren Termin am nächsten Tage hätte. Am Abend wird mit Kindern, Schwiegersohn und Enkel die Wohnungseinweihung gefeiert, dort verkündet Ernst, dass er Universitätsrektor werden solle und alle freuen sich mit ihm. Ernst geht etwas später zum kleinen schlafenden Emil ins Zimmer, ein leise klirrendes Mobile hängt über dem Bett und Ernst flüstert dem Buben lauter kurze Reime zu, die er offensichtlich selbst als Kind aufgesagt bekommen hat. Als sie bei einem Glas Wein miteinander plaudernd den Abend beschließen, fallen Ernst wieder Begriffe nicht ein und als Judith ihn ergänzt, will er verstört den Raum verlassen, um eine Flasche Wein
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zu holen und schlägt zum Erstaunen der anderen zunächst den falschen Weg ein. Als er auf die Frage von Katja, wo denn die Spieluhr der verstorbenen Mutter sei, antwortet, er habe sie weggegeben, denn sie habe ihm nicht gefallen, entspinnt sich ein Streitgespräch zwischen seinem Sohn Theo und Ernst. Theo wirft dem Vater vor, er habe die Mutter zu wenig geachtet, sie auch im Sterben allein gelassen und sich nicht um sie gekümmert. Als Ernst wortlos und bedrückt das Zimmer verlässt, meint Katja, dass irgendetwas mit dem Vater nicht stimme. Theo hingegen interpretiert das Verhalten seines Vaters als bekannt und immer so gewesen.
RR »Aber geh, das war ja immer so. Was er nicht wissen wollte, hat er verdrängt«. Den nächsten Tag geht Ernst zum Test ins Krankenhaus, Judith begleitet ihn und wartet draußen am Gang. Der Arzt ersucht Ernst, er solle in einen vorgezeichneten Kreis eine Uhrzeit einfügen – er schafft es nicht. Unausgesprochen wird klar, dass sich nun die Befürchtung bestätigt hat: beginnende Demenz vom Typ Alzheimer (Dilling und Freyberger 1999). Als Ernst die wartende Judith trifft, tut er, als wäre alles normal und lädt sie auf einen Spaziergang ein. Bevor sie das Krankenhaus verlassen, sucht er die Toilette auf. Judith hört ihn drinnen verhalten schreien. Sie gehen an die Alte Donau und er zeigt ihr eine Technik des Kieselsteinewerfens, das »Platteln«, aus seiner Kindheit. Sie sprechen nicht über die Diagnose, wissen aber beide stillschweigend Bescheid. Die Handlung springt 18 Monate weiter, Ernst versteckt ein kleines Päckchen in seiner Bücherwand hinter einem Buch von Seneca und schreibt auf einen Notizzettel: Seneca bringt Erlösung. Inzwischen hat sich die Liebe zwischen den beiden immer mehr gefestigt, Judith verfolgt aufmerksam die Handlungen von Ernst, nach außen verleugnet sie seine Erkrankung. Ernst hat sich mittlerweile von der Universität karenzieren lassen. Als er Judith zweimal hintereinander die völlig gleiche Frage stellt, redet er erstmals ernsthaft über die Erkrankung. Er spricht über die mögliche Zukunft als Alzheimer-Patient, dass er alles vergessen werde, auch möglicherweise wie man geht und er nicht mehr er selbst sein werde. Judith übt mit ihm Erinnern, indem sie ihm Fotos von Gemälden zeigt, deren Maler er nennen soll. Nach außen hin lässt Judith weiterhin nichts durchblicken, erzählt auch den Kindern nichts über die Erkrankung. Nur Freundin Bettina weiß Bescheid und macht sich Sorgen um Judith.
RR »Merkst du das überhaupt, dass du nur mehr sein Leben lebst? Wissen wenigstens die Kinder Bescheid? Wie stellst du dir die Zukunft vor?« Ernst beschäftigt sich intensiv mit seiner Erkrankung, liest Studien und Forschungsergebnisse und vergisst sogar die Sponsion seines Sohnes Theo. Erstmals sieht man Judith wütend auf ihn und seine Erkrankung. Sie verlässt das Haus und geht zur Sponsionsfeier. Theo ist über das Fernbleiben seines Vaters enttäuscht und sieht sich bestätigt in der Einschätzung der Beziehung zu ihm. Überraschenderweise taucht Ernst verspätet doch noch auf. Er erkennt seine Kollegen nicht und als ihm Judith die Namen einflüstert, schreit er sie wütend an. »Das weiß ich ja! Ich brauch keine Einflüsterfrau!«, dreht sich um und geht. Auch seine eigene Tochter erkennt er nicht, sondern grüßt sie höflich, wie eine Fremde. Als Judith nach Hause kommt, findet sie eine verqualmte Küche vor. Ernst vergaß den Herd abzudrehen, das Essen ist verkohlt und er verschwunden. Verzweifelt sucht sie ihn an allen Orten in der Stadt, wo er gerne ist. Abends findet sie ihn in dem Lokal, in dem sie ihren ersten gemeinsamen Abend verbracht hatten. Als Folge dieses Ereignisses gehen beide zum Notar und er unterzeichnet eine »Freiwillige Abtretung der Rechtsfähigkeit«. Sie gehen gemeinsam durch die Stadt nach Hause, über ihnen schwere dunkle Wolken.
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Immer öfter kommen ihm Erinnerungen an seine Kindheit und Ängste, seine Zukunft betreffend. In so einer Stimmung zeigt Ernst Judith das geheime Päckchen in der Bücherwand. Es ist ein Pulver, das schmerzfrei und rasch sein Leben beenden würde, wenn es so weit sei, dass er alles vergessen habe, selbst Judith. Dann wolle er nicht mehr sein. Judith versteht die unausgesprochene Aufforderung, ist entsetzt und verlässt die Wohnung, um in ihrem Atelier zu nächtigen, kehrt aber noch in der gleichen Nacht zurück. Zweieinhalb Jahre später, Ernst wird stundenweise von einer Pflegerin betreut, wird der Geburtstag von Enkel Emil gefeiert gemeinsam mit Sohn Theo, Tochter Katja und Schwiegersohn, den er nicht mehr erkennt. Ernst hat immer mehr kindliche Züge angenommen, er spielt mit seinem Enkel, als wäre er mit ihm gleichaltrig. Als Katja in die Küche geht, sieht sie, dass alle Schalter am Herd zum Schutz des Vaters abmontiert sind. Sie hält es kaum aus, den Vater so zu sehen, den sie einst als so strengen, mächtigen, eloquenten Mann erlebt hat.
RR »Ich würde mich am liebsten vor jedem Besuch drücken.« Judith führt Ernst zu den Orten, die beide miteinander verbinden, um ihm Erinnerungen zu ermöglichen. In der Bar, in der sie ihre erste Begegnung hatten, äußert Ernst den Wunsch, wieder zu den Tieren zu gehen. Als Judith nicht weiß was er damit meint, wird er böse wie ein Kind. Die Krankheit nimmt immer mehr Platz im Leben von Ernst ein. Er schaut sich zu Hause alte Filme an, vergisst Wasserhähne abzudrehen, lässt überall Kleidung liegen. In seiner Geldbörse hat er statt Geld Zettel, auf denen sein Name steht, ein Foto von Judith mit ihrem Namen darauf und ebenfalls die Notiz: »Seneca bringt Erlösung«. Immer öfter taucht er in die Welt seiner Kindertage ein und Judith beginnt zu ahnen, dass er in diesen Momenten, wenn er liebevoll mit ihr spricht, jemanden anderen als sie in ihr sieht. In der Nacht steht sie auf und findet in der Bücherwand das Giftpulver, von dem Ernst ihr erzählt hat. Sie will es in die Toilette schütten, doch im letzten Moment lässt sie davon ab und bewahrt es auf. Eineinhalb Jahre später hat die Krankheit Ernst noch mehr im Griff. Er sitzt im Rollstuhl, weil er nicht immer weiß, wie man geht. Die Pflegerin betreut ihn, versucht ihn zu beruhigen, wenn ihn Ängste überkommen. Theo, der inzwischen einen Weinbaubetrieb besitzt, kommt den Vater besuchen. Ernst ist verwirrt, erkennt den Sohn zunächst nicht, begrüßt ihn mit Kindersprüchen, die Theo mit ebensolchen erwidert. Ernst nennt Judith »Anna«. Theo erzählt, dass Anna die erste große Liebe seines Vaters war, die er nie vergessen werde. Sie wohnte am Land auf einem Bauernhof mit Tieren. Theo fragt Judith:
RR »Meint er jetzt noch dich?« Nachdenklich geht Judith über diese Frage hinweg indem sie sagt: »Ist doch egal.« Als Theo geht, verabschiedet sich Ernst von ihm und zum ersten Mal endet der Abschied in einer innigen Umarmung. Judith besucht mit Ernst einen Bauernhof mit Kaninchen, Kühen und Kälbern. Er freut sich und beobachtet die Tiere aus dem Rollstuhl. Judith lässt ihn kurz allein, als sie zurückkommt, ist Ernst verschwunden und der Rollstuhl umgestürzt. Beunruhigt sucht sie ihn und findet ihn in der Tenne, voller Angst, das Gesicht im Stroh vergraben (. Abb. 8.3). Sie bringt ihn wie ein kleines Kind nach Hause und legt ihn schlafen. In der Nacht ertappt sie ihn dabei, als er ungeduldig alle seine Bücher aus den Regalen wirft und offensichtlich das Versteck seines Pulvers sucht. Beide schauen einander lange und intensiv an. Judith geht in die Küche und kocht ihm seinen geliebten Grießbrei – neben dem Kochtopf steht der leere Behälter des Pulvers. Er wartet bei Tisch, wieder schauen sich beide an – wissend, intensiv – Ernst isst den Grießbrei wortlos auf. Danach sitzen beide auf dem Sofa und schauen sich Videos ihrer gemeinsamen Zeit an. Judith spricht dazu,
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..Abb. 8.3 Judith findet Ernst verwirrt und verängstigt im Stroh versteckt. (© Mona Film Produktion. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Ernst verzieht keine Miene. Im Video erscheint die Szene nach der Taufe von Emil, in der sie einen Regenbogen gefilmt haben und in der Ernst zu Judith meint:
RR »Ich glaub, jetzt ist es vorbei.« J: »Ja, aber schön war’s« (gemeint war der Regenbogen). Judith kuschelt sich an Ernst, er kippt langsam um und sie merkt, dass er tot ist. Sie geht zum Fenster, schiebt die Vorhänge zur Seite, lässt Licht herein und öffnet das Fenster – es erinnert an ein Ritual, das der Seele eines Toten ermöglicht, wegzufliegen. Dazu macht das Mobile, das beim Fenster hängt und das Ernst so mochte, leise klirrende Geräusche.
Alzheimer-Erkrankung – ein Leben zwischen Traum, Vergangenheit und Realität bis zur geistigen und seelischen Erlöschung Morbus Alzheimer ist eine neurodegenerative Erkrankung und gehört zum Oberbegriff der Demenzerkrankungen (Paulitsch 2004). Sie ist benannt nach ihrem Entdecker Aloys Alzheimer, der sie im Jahre 1907 erstmals beschrieb (vgl. Dilling und Freyberger 1999). Sie ist gekennzeichnet durch den allmählichen Verlust kognitiver Fähigkeiten, es fällt dem Erkrankten immer schwerer, seinen Alltag zu bewältigen und sein Verhalten wird zunehmend auffälliger. Betroffen sind das Kurzzeitgedächtnis, das Denkvermögen, die Sprache, das Orientierungsvermögen und die Motorik. Im Film zeigt Ernst deutlich die Warnzeichen, die auf die Alzheimer-Erkrankung hinweisen (Paulitsch und Krawautz 2008). Er legt seine Brille im Kühlschrank ab, wiederholt Fragen mehrmals, vergisst das Wasser oder den Herd abzudrehen, erkennt vertraute Menschen nicht mehr, erinnert sich nicht mehr an deren
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Namen, verlegt Gegenstände und findet sie nicht mehr. Auch seine emotionalen Reaktionen werden unberechenbarer. Der Film beginnt bereits mit einer Szene, die noch lustig erscheint, jedoch bereits ein Warnzeichen darstellt: Ernst will Judith mit seinem Auto nach Hause bringen, weiß jedoch nicht mehr, wo er es geparkt hat. Eine Situation, die so mancher von uns zwar andeutungsweise kennt, das Auto jedoch wiederfindet. In der ersten gemeinsamen Nacht erinnert Ernst sich nicht mehr an die letzten Zeilen eines Gedichtes. Noch sind die Erinnerungslücken gut zu überspielen, als Zeichen einer Arbeitsüberlastung und somit auch noch sozial verträglich und unauffällig. Noch erheitern sich Judith und Ernst über seine Vergesslichkeit, als er plötzlich den Weg zu den Schwiegereltern seiner Tochter nicht mehr weiß und sich mit dem Auto verfährt oder er bei der Tauffeier seines Enkels nach dessen Namen im Gedächtnis kramt. Er kann sogar Scherze über Demenz in seiner Taufrede unterbringen, wobei er auch eine der drei Pointen vergessen hat. Jedoch kann der Zuseher bereits erahnen, dass diese Erlebnisse Ernst doch mehr zu schaffen machen als er nach außen zeigt, ihn beunruhigen und beschämen. Sein Schlaf ist unruhig und er träumt Szenen aus seiner Kindheit, in denen er von Kindern gehänselt, verspottet und gedemütigt wird. Die Geschichte, die er träumt, als ihm Buben eine lebende Fliege ins Nasenloch stopfen, begegnet im Filmverlauf immer wieder als Symbol der Hilflosigkeit und des Verfalls. Zum Beispiel als Ernst über vier Jahre später bei der Geburtstagsfeier für Enkel Emil unter einer umgedrehten Tasse eine lebende Fliege versteckt oder einmal zu Judith meint:
RR »Irgendetwas sitzt in meinem Kopf und summt und summt, ich möcht’s gern ausreißen.« Wieder eineinhalb Jahre später als Ernst im Rollstuhl vor dem Fenster sitzt, hört er eine Fliege summen, gerät in Panik, wirft sich aus dem Rollstuhl auf den Boden, kriecht zum Tisch und schlägt auf die Fliege ein. Eindrucksvoll lässt der Film die Zuseher miterleben, wie Traum, Vergangenheit und Realität sich vermischen und mitleiden, wenn zu merken ist, dass Ernst seinen Verfall erkennt, später wache Momente hat, die ihn ängstigen und beschämen. Alzheimer schreitet langsam voran und wenn Betroffene merken, dass die Umwelt ihre Ausfälle wahrnimmt, reagieren sie häufig heftig und ärgerlich (Freyberger und Stieglitz 1996). Deutlich wird dies in der Szene, in der Judith ihm die vergessenen Namen der Kollegen einflüstert, er sie anschreit und zornig den Ort des Geschehens verlässt. Zunehmend verlieren Erkrankte den Bezug zur Gegenwart und Realität, leben in ihrer eigenen Welt, in der man sie nur erreicht, wenn man sich in diese mit ihnen begibt. Alzheimer-Erkrankte zu betreuen und zu begleiten, erfordert ein hohes Maß an Geduld und Einfühlungsvermögen, um stetige Wiederholungen auszuhalten, Ungeduld, Ängsten und emotionalen Ausbrüchen zu begegnen und die Betroffenen vor Gefahren, in die sie sich bringen können, zu schützen (Birnbacher et al. 2015). Naomi Feil, eine amerikanische Sozialarbeiterin, hat zwischen 1963 und 1980 als erste eine Methode der Betreuung von Demenzkranken entwickelt: die Validation (Feil 2010), in der sie wichtige Maßnahmen und Verhaltensregeln Erkrankten gegenüber beschreibt, die Judith instinktiv und auch durch ihre Liebe zu Ernst geleitet, anwendet. Dass die Erkrankung im sehr fortgeschrittenen Stadium auch die Motorik beeinträchtigt (Paulitsch K, Krawautz A 2008), sieht man an Ernst, der zuletzt im Rollstuhl sitzt, weil er seine Bewegungen nicht verlässlich koordinieren kann. Im Anfangsstadium, als sich Ernst noch sehr intensiv mit dem Thema Alzheimer beschäftigt hat, warnte er Judith bereits vor und doziert über Alzheimer-Erkrankte:
RR »Sie sitzen oft im Rollstuhl, weil sie vergessen haben, wie man geht.«
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Das weit fortgeschrittene Stadium zeigt Ernst verloren, in der Vergangenheit lebend, halluzinierend, niemanden mehr erkennend, sich wie ein Kind verhaltend. Es ist genau der Zustand eingetroffen, der seine ersten Befürchtungen bewahrheitet und wie er nicht enden wollte.
Judith und der langsame Abschied von ihrer großen Liebe Judith verliebt sich sehr ernsthaft in den zunächst sehr kritisch betrachteten Ernst, der ihre Gefühle ebenso erwidert. Sie passen gut zueinander, denn beide haben eine berufliche Affinität zur Kunst, die sie letztlich auch zusammengeführt hat. Zunächst ist sie vorsichtig, doch nach drei Monaten willigt sie doch in eine gemeinsame Wohnung ein und kann sich einen Weg zu zweit vorstellen. Nach und nach bekommt sie mit, dass die scheinbar lustigen Gedächtnislücken und Wortfindungsstörungen doch einen ernsten Hintergrund haben könnten. Als sie Ernsts Brille im Kühlschrank entdeckt, gibt ihr das zwar sehr zu denken, aber wirklich wahrhaben möchte sie ihren Verdacht nicht. Auch als Ernst vom Neurologen offensichtlich die befürchtete Diagnose bekommt, wird nicht darüber gesprochen. Von den Zusehern wird große Aufmerksamkeit gefordert, um kleine Hinweise oder nebenbei gemachte Bemerkungen zu erfassen, die jedoch deutliche Schritte der Krankheitsverschlechterung bedeuten. Judith schafft es, auf die Emotionen hinter oft scheinbar unerklärlichen oder ihr fremden Geschichten einzugehen, und auf diese Weise Ernst zu erreichen. Sie bringt es fertig, Ernst das Gefühl zu geben, dass sie ihn nicht verlassen werde und kann noch etwas Humor in düstere Zukunftsperspektiven bringen:
RR E: »Irgendwann werde ich vergessen, wer du bist.« J: »Sehr gut, ich lass mich gerne von dir nochmals erobern!« Judith verbringt fast ihre gesamte Zeit mit Ernst, beide ziehen sich immer mehr aus dem Gesellschaftsleben zurück und auf die provokante Frage ihrer Freundin Bettina, ob sie denn merke, dass sie nur mehr sein Leben lebe, meint Judith:
RR »Das ist nicht wahr! Das ist jetzt mein Leben und zwar genau das, was ich führen will!« Die Frage der Freundin scheint jedoch etwas in ihr ausgelöst zu haben, denn als Ernst versunken in seine Lektüre über Alzheimer-Erkrankung den Sponsionstermin seines Sohnes vergisst, wird sie erstmals wütend:
RR »Alles was dich interessiert ist diese Scheißkrankheit! Du kämpfst nicht gegen sie an, sondern legst dich mit ihr ins Bett.« Für Judith wird es immer schwieriger, mit den Folgen der Erkrankung umzugehen; Ernst schreit sie an, wenn sie ihm bei Gedächtnislücken helfen will und sie muss damit rechnen, dass er sich und auch sie in Gefahr bringt, weil er beispielsweise vergisst, den Herd abzudrehen oder ohne etwas zu sagen, verschwindet. Als sie ihn eines Tages nach langem Suchen endlich in einem Lokal wiederfindet, macht Ernst einen Scherz mit ihr und tut so, als würde er sie nicht erkennen. Judith ist zwar sichtbar erleichtert, als sie den Scherz erkennt, jedoch hat Ernst genau ihre Zukunftsängste getroffen und sie so erschüttert, dass sie weinen muss. Aus diesen Szenen geht hervor, wie die Gedanken beider um die Krankheit kreisen und sie eine genaue Vorstellung von deren zukünftigen Auswirkungen haben. Dies geht doch soweit, dass beide einen Termin beim Notar nehmen und er eine »Freiwillige Abtretung der Rechtsfähigkeit« unterzeichnet.
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Ein Ende wird angedacht – was kommt nach der »gnädigen Schwelle«? Ernst bittet Judith um Sterbehilfe Zum ersten Mal konfrontiert Ernst Judith mit seinem Erleben der Gegenwart und seinen Zukunftsvorstellungen. Er vergleicht seinen Geisteszustand mit einem Eindruck aus seiner Kindheit, als er durch einen Vorhang mit Lochstickerei geschaut hat und immer nur Teile der Welt sehen konnte. Bald werde dieser Vorhang alles für ihn verdecken. E: »Soweit will ich nicht gehen, Judith. Im Verlauf der Krankheit gibt es einen Punkt, den nennt man ›die gnädige Schwelle‹. Das ist der Punkt, an dem man vergisst, dass man vergisst. Ich werde eines Tages nicht mehr selbst entscheiden können.« J: »Ernst, bitte mach das nicht mit mir.« Judith spürt, was Ernst ihr sagen möchte und wird bestätigt, als er ihr einen kleinen Behälter mit einem Pulver zeigt.
RR E: »Ich werde vergessen, dass ich lebe, werde Liebe vergessen, werde dich vergessen und dann will ich nicht mehr sein. Es ist schmerzfrei und dauert nicht lang.« Judith ist die Erschütterung und auch das Entsetzen über dieses Ersuchen anzusehen. Sie packt eine Tasche und verlässt die Wohnung, kehrt jedoch in der Nacht wieder zurück. Der Zustand von Ernst verschlechtert sich zusehends, er lebt immer mehr in seiner Kindheit und ist nur mehr in seltenen Momenten er selbst. In so einem Moment meint er:
RR »Ich bin kein richtiger Mann mehr für dich.« Eine für Judith schmerzhafte Wendung und wirkliche Kränkung ergibt sich, als sie merkt, dass er nicht sie meint, wenn er sie liebevoll ansieht. Er nennt sie auch »Anna«. Als dann Theo von der ersten großen Liebe seines Vaters namens Anna erzählt und dass Vater immer meinte, die werde er niemals vergessen, ist das ein Stich in Judiths Herz. Ebenso trifft sie die Frage von Theo:
RR »Meint er jetzt noch dich?« Interessant ist aber, dass Ernst das Gefühl »Liebe« der Richtigen – nämlich Judith – entgegenbringt, einem Menschen, den er liebt; er lebt in seinen Kindertagen und kennt »Liebe« in Gestalt von Anna, deren Namen er nun Judith verleiht. Das heißt die Emotion ist Judith gegenüber geblieben und nicht wie gegenüber allen anderen Familienmitgliedern oder Freunden gewichen und in Fremdheitsgefühl übergegangen. Für Judith wird das Leben mit Ernst schwieriger, sie hat inzwischen eine Pflegerin engagieren müssen, da Ernst nicht mehr allein sein kann und mittlerweile im Rollstuhl sitzt. Ernst lebt inzwischen größtenteils das Leben des kleinen Buben von damals und spricht Judith nun immer mit »Anna« an. Sie geht ein Stück dieses Weges mit, indem sie die Rolle von Anna einnimmt und mit ihm zu den Tieren auf dem Bauernhof geht, die er in Erinnerung hatte. Immer wieder wird er von Unruhe befallen, von Ängsten aus seiner Kinderzeit. Ernst ist nicht mehr er selbst. Eine berührende Szene lässt erahnen, wie Ernsts Wunsch, ihn beim Aus-dem-Leben-scheiden zu unterstützen, in ihr arbeitet. Judith findet das versteckte Pulver, will es vernichten, bewahrt es dann doch auf. Was geht wohl in ihr vor?
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Tötung auf Verlangen oder Mord? Eines Abends hört sie, wie Ernst alle Bücher aus seinen Regalen wirft und offensichtlich auf der Suche nach seinem versteckten Pulver ist. Sie betritt das Zimmer,
RR J: »Was suchst du da?« E: »Ich such …« J: »Sag mir, was du suchst, sag’s mir, was suchst du!??« Beide schauen einander lange an, traurig, forschend. Aus seinem Blick ist erkennbar, dass er weiß, dass Judith das Pulver hat. Es sind keine Worte notwendig, sowohl der Zuseher als auch Judith und Ernst spüren stillschweigend, was für ein Wunsch im Raum steht. Beide wissen, dass es jetzt soweit ist. Ist der »richtige« Moment gekommen? Ist es jetzt soweit? Die Blicke suchen einander. Judith blickt in einer Mischung aus Mitleid, Liebe, aber auch Traurigkeit und Enttäuschung, weil er sie wirklich nicht mehr kennt, Ernst aber auch fordernd. Judith bereitet in der Küche einen Grießbrei, der leere Behälter des Pulvers steht auf dem Küchentisch. Als sie Ernst den Grießbrei bringt, ist es für beide klar, was es bedeutet. Sie schauen einander tief in die Augen. Nach einem kleinen Zögern beginnt Ernst zu essen, Judith fragt, ob es gut sei. Beide sehen sich mit einem winzigen Anflug eines Lächelns an. Er stirbt an der Seite Judiths. Das Ende des Films verbirgt die Folgen der Tat von Judith. Strafrechtlich gesehen, hat sie einen Mord begangen (Österr. Strafgesetzbuch 1974). »Aktive Sterbehilfe ist die gezielte Herbeiführung des Todes durch Handeln auf Grund eines tatsächlichen oder mutmaßlichen Wunsches einer Person« (§ 75, § 77, § 78 des Strafgesetzbuches). Aktive Sterbehilfe ist in Österreich strafbar und fällt entweder unter den Tatbestand des Mordes (§ 75 StGB), der Tötung auf Verlangen (§ 77 StGB) oder der Mitwirkung am Selbstmord (§ 78 StGB). Und zieht eine bis zu fünfjährige Haftstrafe nach sich. Ernst hatte zwar einen Todeswunsch, den er lange zuvor geäußert hat, er selbst besorgte das Pulver und erklärte Judith die Wirkung, jedoch ein ernsthaftes eindringliches Verlangen in dem Moment lag nicht vor – zumindest nicht wörtlich ausgesprochen. Dies ist natürlich die juristische Auslegung. Emotional ist Judith gut zu verstehen; man könnte auch durchaus ihre Stärke und Verlässlichkeit bewundern. Die Bitte um Sterbehilfe kann man auch als schwere Zumutung sehen, besonders je näher beide einander stehen (Sass H-M (Hrsg.), 1999). Judith hat das Ersuchen in der Zeit, als Ernst noch denken konnte und seine Würde nicht ganz verlieren wollte, in Erinnerung behalten und es erfüllt, als sie das Gefühl hatte, es sei nun für ihn richtig. Ein Stück Resignation war jedoch auch spürbar, denn Ernst hatte sie, so gesehen, ja bereits lebend verlassen, die gemeinsame Geschichte war sozusagen gelöscht, er sah und meinte nicht mehr sie als Person – eine Vorstellung, die beide als Aussicht der Erkrankung sehr gefürchtet haben.
Literatur Birnbacher D, Klitzsch W, Langenberg U, Barnikol U (2015) Umgang mit Demenzpatienten. Gemeinsam verantwortete Entscheidungen. Dtsch Arztebl 112:A–514 Dilling H, Freyberger HJ (1999) WHO Taschenführer zur Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10. Huber, Bern Feil N (2010) Validation. Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen, 9. Aufl. Reinhardt, München Freyberger HJ, Stieglitz R-D (Hrsg) (1996) Kompendium der Psychiatrie und Psychotherapie, 10. Aufl. Karger, Basel, S 69 Österr. Strafgesetzbuch (1974) § 75, 77, 41, 43 https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1974_60_0/1974_60_0.pdf Zugegriffen: 16. Sept. 2019 Paulitsch K (2004) Praxis der ICD-10-Diagnostik. Ein Leitfaden für PsychotherapeutInnen und PsychologInnen. Facultas, Wien Paulitsch K, Krawautz A (2008) Grundlagen der Psychiatrie. Facultas, Wien, S 278 Sass H-M (Hrsg) (1999) Medizin und Ethik. Reclam, Stuttgart
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Originaltitel
Die Auslöschung
Erscheinungsjahr
2013
Land
Österreich
Drehbuch
Agnes Pluch & Nikolaus Leytner
Regie
Nikolaus Leytner
Hauptdarsteller
Klaus Maria Brandauer, Martina Gedeck, Birgit Minichmayr, Philipp Hochmair
Verfügbarkeit
Als DVD in Deutsch
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Martin Poltrum
„Lassen Sie mich nicht so lange hier liegen, bis ich die Menschen nicht mehr jubeln höre“ Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Maggie und Frankie: Tochter- und Vaterersatz? . . . . . . . . 118 Maggie bittet Frankie um Erlösung, aktive Sterbehilfe . . . 120 Widerstreit von Werten – theologische versus existentielle Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Brief an eine Tochter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Exkurs: Philosophische Positionen zum Suizid . . . . . . . . 122 »Aus Liebe zum Leben –, den Tod anders wollen, frei, bewusst, ohne Zufall, ohne Überfall« (Nietzsche) . . . 124 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_9
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Filmplakat Million Dollar Baby. (© Kinowelt Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Million Dollar Baby (2004) Martin Poltrum
Handlung »Million Dollar Baby« ist die 25. Regiearbeit von Clint Eastwood und sein 58. Film als Schauspieler, mit dem er zahlreiche Preise erzielte, unter anderem vier Oscars (2005) in den Kategorien bester Film, beste Regie, beste Hauptdarstellerin und bester Nebendarsteller (. Abb. 9.1, Filmplakat). Basierend auf einer Kurzgeschichte des US-amerikanischen Schriftstellers F. X. Toole erzählt er die tragische Geschichte der Kellnerin und Boxerin Maggie Fitzgerald (Hilary Swank), des professionellen Boxtrainers, Managers, begnadeten Cutmans und Besitzers des Boxstudios Hit Pit, Frankie Dunn (Clint Eastwood), und des einstmaligen Boxers und nunmehrigen Hausmeisters des Hit Pit, Eddie Dupris (Morgan Freeman), den man im Spitznamen »Scrap« nennt. Frankie ist alles andere als ein typischer Trainer. Er ist ein Boxlehrer, ein Boxgelehrter, ein Weiser des Boxsports, der »zu den besten seines Faches gehören könnte« (Armbruster 2019), wäre er nicht so übervorsichtig im Umgang mit seinen Boxern. Eddie, einer seiner ehemaligen Fighter, verlor nach einem Kampf ein Auge, wofür sich Frankie schuldig fühlt. »Scrap« wohnt im Boxstudio und ist die gute Seele des Schuppens. Er fungiert als Nebenfigur und Off-Erzähler des Films, der die Geschehnisse aus der Ich-Perspektive berichtet und als Erzähler auktoriale Züge aufweist.
..Abb. 9.2 Maggie spart ihr hart verdientes Geld für eine eigene Boxbirne. (© Kinowelt Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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„Lassen Sie mich nicht so lange hier liegen, bis ich die Menschen nicht mehr jubeln höre“
Von ihm erfahren wir, dass Maggie Fitzgerald Anfang dreißig ist, aus Südwest-Missouri stammt und schon von früher Kindheit an wusste, dass sie zum »Abschaum« gehört. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr schlägt sie sich als Kellnerin durch. Das Einzige, was ihr im Leben wirklich Freude bereitet, ist Boxen (. Abb. 9.2). Mit ihrem hart verdienten Geld zahlt sie die Gebühren für das Hit Pit ein halbes Jahr im Voraus und überredet Frankie, ihr Trainer zu werden, der das zunächst ablehnt, da er keine Frauen trainiere, sie jetzt schon zu alt sei und es darüber hinaus vier Jahre brauche, bis man einen Boxer aufgebaut hat. Er sage das alles sehr ungern, aber schließlich müsse jemand einmal ehrlich zu ihr sein und die Wahrheit sagen. Maggie trainiert Tag und Nacht, und als Frankie eines Abends Eddie im Boxstudio besucht und sieht, wie sie verzweifelt auf die Boxbirne einschlägt, und erfährt, dass sie Geburtstag hat, wendet er sich ihr zu.
RR Frankie: »Sie haben also Geburtstag, ja? Wie alt sind Sie geworden?« Maggie: »32, Mr. Dunn – und ich feiere, dass ich wieder ein Jahr mit Bedienen und Tische-Abräumen verbracht habe, was ich mache, seit ich dreizehn bin. Und ich werde 37 sein, ehe ich Ihrer Ansicht nach einen anständigen Schlag abfeuern kann. Und nachdem ich seit einem Monat auf diese Birne einschlage, ohne weiterzukommen, glaube ich, dass das die Wahrheit ist. Die andere Wahrheit ist, dass mein Bruder sitzt, meine Schwester zu Unrecht Stütze kassiert, weil sie behauptet, dass ihr zweites Kind noch lebt, mein Dad tot ist und meine Mama 125 Kilo wiegt. Wenn ich halbwegs vernünftig wäre, würde ich auf der Stelle nach Hause fahren, einen gebrauchten Wohnwagen kaufen und mir eine Fritteuse und eine Packung Kekse zulegen. Dummerweise ist das hier das Einzige, woran ich Freude hatte. Und bin ich dafür zu alt, dann habe ich gar nichts. Sind das genug Wahrheiten für Sie?« Frankie: »Ist das Ihre Boxbirne?« Maggie: »Hab Ihre zurückgelegt. Ich wünschte, ich hätte sie so abgenutzt. (Sie schlägt wieder auf die Boxbirne ein).« Frankie: »Okay, sachte, sachte (er hält die Boxbirne). Ich zeige Ihnen ein paar Dinge und dann suchen wir einen Trainer für Sie.« Maggie: »Nein, sorry.« Frankie: »Glauben Sie, Sie könnten verhandeln?« Maggie: »Ja, Sir. Weil ich genau weiß, wenn Sie mein Training übernehmen, werde ich Champion. Ich weiß, Sie sehen mir zu.« Frankie: »Ja, aus Mitleid.« Maggie: »Sagen Sie das nicht. Sie dürfen das nicht sagen, wenn das nicht die Wahrheit ist. Ich will einen Trainer. Ich will keine Almosen, und ich will keine Gefälligkeiten. Wenn Sie nicht interessiert sind, dann feiere ich noch ein bisschen. (Maggie schlägt nun wieder auf die Boxbirne ein.)« Frankie: »Stopp, stopp, stopp. Hören Sie auf, verdammt! Was denken Sie sich eigentlich? Okay, wenn ich mit Ihnen trainiere (…).« Mr. Dunn klärt die Bedingungen und wird ihr Trainer. Maggie ist eine extrem talentierte Boxerin mit einem harten Haken. Die ersten Kämpfe werden organisiert. Nach zwölf K.-o.-Siegen – davon die meisten schon am Anfang der ersten Runde – bekommt sie ein paar sehr gute Gegnerinnen angeboten (. Abb. 9.3).
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..Abb. 9.3 Frankie, Eddie und Maggie, die ihre Gegnerinnen meistens schon in der ersten Runde k. o. schlägt. (© Kinowelt Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Unter anderem ein Angebot, gegen die amtierende Weltmeisterin im Weltergewicht Billie »The Blue Bear« um den Titel zu kämpfen, und ein Angebot, gegen die amtierende britische Meisterin anzutreten. Frankie, ihr Trainer und Mentor, der mehr und mehr väterliche Gefühle für seine Boxerin entwickelt, lehnt zunächst noch ab, da er Maggie nicht verheizen möchte und meint, dass sie noch nicht so weit sei. Als Vorbereitung auf den Titel organisiert er Kämpfe in London, Edinburgh, Paris, Brüssel und Amsterdam. Als sie wieder in die Staaten zurückkehren, kämpft Maggie in einer ganz anderen Liga und schließlich um den Weltmeistertitel. Ihre Gegnerin im Titelkampf ist Billie »The Blue Bear« Osterman, eine ehemalige Prostituierte aus Ostberlin, die im Ruf steht, die unsauberste Kämpferin in der Rangliste zu sein. Eine Boxerin, der es nichts auszumachen scheint, dass sie mit ihren unfairen und unerlaubten Schlägen, die sie meistens dann setzt, wenn ihre Gegnerinnen bereits am Boden liegen oder der Ringrichter nicht hinsieht, einen Menschen töten könnte, wie wir vom Off-Erzähler erfahren. Im Titelkampf gegen Maggie, die den Ring-Namen Mo Cuishle trägt, gerät »The Blue Bear« von Anfang an in die Defensive und mehr und mehr wird sie ihrem Ruf gerecht. Sie schlägt mit dem Ellenbogen auf Mo Cuishle ein, stößt sie mit beiden Händen zu Boden, und als sich der Ringrichter umdreht, um Ostermans Trainer zu sagen, dass sie dafür einen Punktabzug bekomme, schlägt sie Maggie, die gerade vom Boden aufsteht, mit einem brutalen Kinnhaken. Die erste Runde ist vorbei. Mo Cuishle ist überlegen. Getroffen durch den unerlaubten Schlag, blutet das obere Lid ihres linken Auges. Gleich am Beginn der zweiten Runde trifft Maggie ihre Gegnerin mit einem harten Haken. »The Blue Bear« geht zu Boden und hat Mühe, wieder aufzustehen, sie wird bis 8 angezählt und steht bei 9 wieder auf. Mo Cuishle schlägt in weiterer Folge konzentriert auf die deutsche Weltmeisterin ein. Runde zwei ist beendet. Maggies Lid schwillt stark an. In der Folge sieht sie nur mehr mit dem rechten Auge.
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Frankie instruiert sie, dass sie den Ischias-Nerv ihrer Gegnerin bearbeiten solle – immerzu auf den Ischias-Nerv schlagen! Runde drei beginnt. »The Blue Bear« ist eindeutig unterlegen und steckt ein paar extrem harte Schläge ein. Sie taumelt in den Seilen und allein das Ende der dritten Runde rettet sie vor einem wahrscheinlichen K.-o.-Schlag. Der Gong ertönt. Frankie strahlt, da nun für ihn klar ist, wie die vierte Runde und der Kampf ausgehen werden. Die amtierende Weltmeisterin zieht sich an den Seilen hoch, Maggie ist auf dem Weg in ihre Ecke. Der Cutman stellt den Boxschemel in Mo Cuishles Ecke. Plötzlich aus dem Hinterhalt schlägt »The Blue Bear« auf Maggies Kopf ein, die sich, ahnend und fühlend, dass hinter ihr etwas vor sich geht, noch halb umdrehen kann und seitlich im Gesicht schwer getroffen wird. Mo Cuishle fällt sehr, sehr unglücklich mit ihrem Kopf auf den Boxschemel. Regungslos liegt sie am Boden. Es ist klar, dass etwas Furchtbares passiert ist. »Million Dollar Baby« dauert rund zwei Stunden. 90 Minuten erzählt der Film von der Welt des Boxens, von einem Trainer, seiner Kämpferin und der Begegnung zweier Menschen – und ist alles andere als ein herkömmlicher Sportfilm. Die letzte halbe Stunde zeigt Maggie als Tetraplegikerin, wie sie beatmet werden muss und wie sich Frankie rührend um sie kümmert. Sie möchte nicht mehr leben, begeht zwei Suizidversuche, indem sie ihre Zunge zerbeißt, um zu verbluten, und bittet ihren Trainer um aktive Sterbehilfe. Frankie kämpft mit Schuldgefühlen und versucht als gläubiger Christ mit ihrem Wunsch nach Erlösung klarzukommen. Schließlich entscheidet er sich dafür, Maggie zu helfen.
Maggie und Frankie: Tochter- und Vaterersatz? Maggie Fitzgerald versucht über das Boxen ihre White-Trash-Vergangenheit und ihre Broken-HomeSituation hinter sich zu lassen. Ihr Vater ist früh gestorben, die Mutter ist eine herzlose Person und Empathie ein Fremdwort für ihre Geschwister. Es gibt zwei Szenen, in denen das emotionale Drama ihrer Herkunft deutlich wird. Als Mo Cuishle erste Erfolge feiert, die sich auch finanziell niederschlagen, kauft sie ein Haus für ihre Mutter, die gemeinsam mit der jüngeren Schwester und deren Kind in einem heruntergekommenen Wohnwagen lebt. Als sie diese auf dem Rückweg von einem Kampf mit ihrem Trainer besucht und ihr das neue Heim schenken möchte, ist die einzige Sorge der Mutter die, dass wenn es öffentlich wird, dass sie nun ein Haus besitze, ihr sicher die Sozialhilfe gestrichen werde. Maggie hätte vorher fragen sollen. Dankbarkeit, Gesten der Herzlichkeit und Zuneigung, geschweige denn Momente der Anerkennung von Maggies Erfolgen bleiben nicht nur aus, sondern alles, was ihre Mutter zu bieten hat, sind subtile Entwertungen. Sie solle sich einen Mann suchen, Boxen sei nichts für eine Frau, und die Nachbarn würden schon reden. Getoppt wird die emotionale Kälte der Fitzgeralds, als Maggie zum Pflegefall wird. Frankie hat eine schöne Rehabilitationsklinik gefunden, in der gut für seine ehemalige Boxerin gesorgt wird. Mutter, Bruder und Schwester kündigen ihren Besuch an. Dass sie es offensichtlich nicht eilig hatten, Maggie zu sehen, zeigt sich auch daran, dass sie erst, nachdem sie bereits sechs Tage in der Stadt gewesen waren, in die Klinik kamen. Disneyland war wichtiger als der Besuch im Spital. Nachdem Maggie zwei Wochen jeden Tag am Fenster gewartet hat, taucht die schreckliche Familie gemeinsam mit einem Rechtsanwalt auf. Sie wollen, dass Maggies Besitz auf die Mutter überschrieben wird. Momentan zahle zwar der Boxverband die Rehabilitationskosten, aber wenn alles auf die Mutter überschrieben sei, dann könne man ihr nichts mehr wegnehmen. Die Mutter hat nicht einmal den Titelkampf ihrer Tochter gesehen und sagt nur, dass sie verloren habe, wie sie gehört hätte. Sie soll das Papier unterschreiben und damit sei die Familie versorgt, so wie das ihr Daddy von ihr gewollt hätte. Dann steckt sie ihrer gelähmten Tochter eine Füllfeder in den Mund und hält ihr den Vertrag zur Unterzeichnung hin. Maggie weigert sich und will, dass die Familie verschwindet und sich nie mehr blicken lässt.
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..Abb. 9.4 Maggie und Frankie: Zwei Sturköpfe mit großem Herzen. (© Kinowelt Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Ihr Trainer und Mentor beobachtet die Szene und man sieht ihm an, dass er mit der Herzlosigkeit und Kälte der Familie Mühe hat. Frankie Dunn ist ein Mann mit harter Schale und weichem Kern (. Abb. 9.4). Man sieht ihn beten, regelmäßig in die Kirche gehen, den Pfarrer seiner Gemeinde mit theologischen Fragen zur Trinität und unbefleckten Empfängnis nerven, Gälisch lernen, William Butler Yeats lesen und seiner Tochter Briefe schreiben, die immer mit demselben Vermerk – »Annahme verweigert« – zurückkommen. Warum seine Tochter mit ihm gebrochen hat und jeglichen Kontakt meidet, erfahren wir nicht. Frankie kümmert sich rührend und wie ein liebender Vater um Maggie. Er war einst ein begnadeter Cutman, der jede Wunde zu stillen vermochte. Als Versorger von Wunden hat er bei seiner Boxerin einiges zu tun. Väterlich kümmert er sich um seinen Schützling und nimmt ihre Karriere in die Hand. Maggie sagt ihm einmal, dass er der einzige Mensch sei, den sie habe. Durch seine Zuwendung, Präsenz und Verfügbarkeit werden seelische Wunden versorgt. Als Cutman stillt er ihre blutenden Kampfwunden und rückt ihre gebrochene Nase zurecht. Später, als Maggie gelähmt im Bett wundliegt, wäscht und pflegt er ihren Dekubitus. Er überlegt, wie ihr Leben weitergehen könnte, denkt über einen Rollstuhl nach, den man über einen kleinen Hebel mit dem Mund bedienen könnte, und sieht sich das VorlesungsVerzeichnis des City-Colleges an – vielleicht möchte sie ja studieren. Als er in Europa Kämpfe für sie organisierte, schenkte er ihr einen grünen Ring-Mantel aus Seide, auf dem sich der gälische Name Mo Cuishle findet, was so viel heißt wie »mein Schatz«, »mein Blut«. Maggie sagt Frankie, dass er sie an ihren Vater erinnere, und sie zeigt ihre Dankbarkeit dafür, dass er jeden Tag da ist und ihr beisteht. Als sie nach dem Kampf mit gebrochener Wirbelsäule im Krankenhaus aufwacht, macht sie sich Sorgen, wie Frankie das wohl verkraften werde. Sie bittet Eddie, ihm zu sagen, dass C1 und C2 gebrochen seien und dass sie für den »Rest ihres Lebens tiefgefroren sei«, auch, dass es ihr leidtue, dass sie nicht auf ihre Deckung geachtet hätte, Frankie habe ihr das immer und immer wieder gesagt.
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Als sie vor dem Boxunglück einmal gemeinsam im Auto fahren, erzählt Maggie, dass ihr Daddy einen Deutschen Schäferhund hatte, der auf den Namen Axel hörte und dessen Hinterläufe »kaputt« gewesen seien. Ihr Daddy, der damals schon so krank gewesen sei, dass er sich kaum aufrecht halten konnte, sei in den Wald gefahren und dann ohne Axel heimgekommen. Er habe ihn von seinem Leiden erlöst. Manchmal würde sie die beiden schon vermissen. Die fürsorgliche Zuwendung, die sich Maggie und Frankie entgegenbringen, erinnert unweigerlich an eine ideale Form der Vater-Tochter-Beziehung, an die agapeische Weise der liebenden Begegnung.
Maggie bittet Frankie um Erlösung, aktive Sterbehilfe Frankie ist Tag und Nacht bei Maggie und unterstützt sie, wo er nur kann. Er müsse nicht jeden Tag herkommen, meint sie. Seine Antwort: Es gefalle ihm hier. Würde sie nicht hier liegen, dann würde er auch so kommen, einfach, um zu lesen. Die beiden haben trotz oder vielleicht gerade wegen der Aussichtslosigkeit der Situation ihre eigene Art des Humors miteinander. Eines Tages bittet Maggie Frankie um einen finalen Gefallen.
RR Maggie: »Tun Sie mir einen Gefallen, Boss?« Frankie: »Sicher, alles was du willst!« Maggie: »Sie wissen, was mein Daddy für Axel getan hat.« Frankie: »Daran darfst du nicht mal denken.« Maggie: »So leben kann ich nicht, Frankie. Nachdem, was ich alles hatte. Ich hab’ die Welt gesehen. Die Menschen riefen meinen Namen. Wenn auch nicht meinen, sondern den Namen, den sie mir gegeben haben. Sie haben mir zugejubelt. Ich war in Zeitschriften. Denken Sie, das hätte ich mir je träumen lassen? Als ich geboren wurde, wog ich kaum mehr als zwei Pfund. Daddy sagte immer, ich kämpfte mich in diese Welt. Und ich würde auch kämpfend wieder gehen. Das ist alles, was ich will, Frankie. Ich will dafür nur nicht gegen Sie kämpfen. Ich hatte, was ich wollte. Ich hatte es alles. Erlauben Sie nicht, dass mir das wieder genommen wird. Lassen Sie mich nicht so lange hier liegen, bis ich die Menschen nicht mehr jubeln höre.« Frankie: »Ich kann es nicht. Bitte. Bitte, frag mich nicht.« Maggie: »Ich bitte Sie.« Frankie: »Ich kann nicht.« Mitten in der Nacht hat Maggie selbst eine Lösung gefunden. Sie hatte sich die Zunge zerbissen, damit sie verblutet. Nachdem ihr die Zunge wieder zusammengenäht wurde, hat sie einen zweiten SuizidVersuch unternommen und die Nähte wieder aufgebissen. Danach wurde ihre Zunge so fixiert, dass sie keinen weiteren Selbsttötungs-Versuch unternehmen konnte. Maggie so zu sehen, setzt Frankie schwer zu und er sucht Beistand beim Pfarrer seiner Gemeinde.
Widerstreit von Werten – theologische versus existentielle Wahrheit Frankie durchlebt in der Folge einen Wertkonflikt, den Widerstreit zweier hoher und positiver Werte – eine tragische Situation (vgl. Poltrum 2013, S. 63). Auf der einen Seite steht der Wert, ihre innige Bitte um »Erlösung« als ihr Trainer, Mentor, Freund und »Ersatz-Vater« ernst zu nehmen und in die Tat umzusetzen. Maggie, wie sie sagt, »nicht so lange hier liegen zu lassen, bis sie die Menschen nicht mehr
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jubeln hört«. Auf der anderen Seite steht das Gebot »Du sollst nicht töten«, das für ihn als gläubigen Christen auch auf den assistierten Suizid anzuwenden ist, beziehungsweise die christliche Überzeugung, dass wir uns das Leben nicht selber gegeben haben und es daher auch nicht vorzeitig verlassen dürfen. Über Leben und Tod entscheidet nicht der Mensch, sondern Gott, die Natur, das Unvordenkliche oder wie immer man es nennen möchte – säkular oder metaphysisch –, eine wie auch immer geartete intentionale Passivität. Die theologische Position zu dieser Frage ist für Frankie – wie auch für Platon und Augustinus, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden – eindeutig. Unklar ist für ihn, was er mit Maggies Bitte machen soll. Sie hat ihn um »Erlösung« gebeten.
RR Pfarrer: »Das dürfen Sie nicht, das wissen Sie!« Frankie: »Natürlich, Vater. Sie wissen nicht, wie stur sie ist. Wie schwer es war, sie zu trainieren. Andere Boxer tun genau das, was man ihnen sagt, aber sie hat gefragt, wieso dies, wieso das, und hat sowieso getan, was sie wollte. Und wie sie auf den Titel losging. Einfach so, ohne, zumindest ohne auf mich zu hören (Frankie weint). Aber jetzt wünscht sie sich den Tod und ich will sie einfach bei mir behalten. Ich schwöre bei Gott, Vater, ich begehe eine Sünde damit, wenn ich es tue. Aber es ist auch ihr Tod, wenn ich sie am Leben erhalte. Verstehen Sie mich, wie komme ich damit zurecht?« Pfarrer: »Gar nicht, Sie halten sich raus, Frankie, und überlassen sie Gott.« Frankie: »Sie hat ja nicht um Gottes Hilfe gebeten, sondern um meine.« Pfarrer: »Frankie. Ich habe Sie seit 23 Jahren beinahe jeden Tag in der Messe gesehen. Und ein Mensch, der so oft in die Kirche kommt, ist jemand, der sich selbst irgendetwas nicht vergeben kann. Was immer das auch für Sünden sein mögen, im Vergleich hierzu sind sie nichts. Vergessen Sie mal Gott oder Himmel und Hölle. Wenn Sie das tun, sind Sie verloren, in so furchtbaren Tiefen, dass Sie sich selbst nie wiederfinden.« Frankie: »Ich glaub, das bin ich schon.« Nach dem Gespräch mit dem Pfarrer besucht Frankie seine Boxerin im Spital. Als ihm eine Krankenschwester mitteilt, dass sie Maggie medikamentös ruhiggestellt habe, damit sie nicht erneut versucht sich das Leben zu nehmen, und Frankie sie so sediert, benommen und beatmet im Bett liegen sieht, reift sein Entschluss, ihre Bitte zu erhören und sie vom (seelischen) Leiden zu erlösen. Die nächste Einstellung zeigt ihn in seinem Boxstudio, wie er Spritzen und Ampullen aus einem Spint in eine Tasche packt. Eddie taucht auf.
RR Eddie: »Ich hab’ Maggie heute Morgen besucht. Da warst du wohl woanders.« Frankie: »Ja.« Eddie: »Hast du einen Kampf, von dem ich nicht weiß?« Frankie: »Es war nicht deine Schuld. Ich hab’ dir Unrecht getan. (Frankie hat Eddie nach Maggies Querschnittslähmung einmal im Affekt beschuldigt, dass er schuld sei, da er insistierte, sie zu trainieren.)« Eddie: »Hast verdammt recht. Ich hab’ eine Boxerin gefunden. Du hast das Bestmögliche aus ihr gemacht.« Frankie: »Ich habe Sie getötet.«
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Eddie: »Sag das nicht! Maggie kam durch diese Tür mit nichts als ihrem Mut. Ohne Chance, jemals das zu werden, wovon sie geträumt hat. Und eineinhalb Jahre später kämpft sie um die Weltmeisterschaft im Weltergewicht. Das hast du getan. Jeden Tag sterben Menschen, Frankie. Beim Fußbodenschrubben, Abwaschen – und weißt du, was ihr letzter Gedanke ist? Ich hatte nie meine Chance. Dank dir hat Maggie ihre Chance gehabt. Wenn sie heute stirbt, weißt du, was dann ihr letzter Gedanke sein wird? Ich hatte alles, was ich wollte. (Eddie empathisch nickend) Ich hätte damit meinen Frieden.« Frankie: »Ja. Ja! (nach einer Pause, nachdenklich und die Tasche mit den Spritzen und Ampullen drückend) Ja, ja.« Spät in der Nacht fährt Frankie ins Spital und erfüllt Maggies Bitte, nicht, ohne ihr vorher zu sagen, dass Mo Cuishle »mein Schatz«, »mein Blut« heißt.
Brief an eine Tochter Frankie hat seiner Tochter viele, viele Briefe geschrieben, die alle ungeöffnet, ungelesen und mit dem Vermerk »Annahme verweigert« zurückgesendet wurden. Am Ende des Filmes sieht man Eddie einen Brief an Frankies Tochter schreiben, der die Geschichte von Frankie und Maggie, den eben gesehenen Film, erzählt und mit den Worten endet: »Er hatte keinen Brief hinterlassen und niemand wusste, wo er hingegangen war. Ich hab’ gehofft, er würde zu Ihnen fahren und Sie einmal mehr um Vergebung bitten. Aber vielleicht war sein Herz zu leer. Ich hoffe nur, er hat einen Platz gefunden, an dem er seinen Frieden hat. Ein Platz zwischen Zedern und Eichen, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Doch das ist wahrscheinlich nur Wunschdenken. Aber ganz gleich, wo er ist, ich dachte, Sie sollten wissen, was für ein Mann Ihr Vater wirklich war.«
Exkurs: Philosophische Positionen zum Suizid Betrachtet man die Lehren und Meinungen der großen Philosophen zum Thema Suizid, dann findet man Befürworter wie Gegner in gleich großer Zahl. Der geführte Diskurs siedelt sich dabei stets in einem Jenseits psychiatrischer Überlegungen an. Einig ist man sich: Der Selbstmord ist Zeichen der menschlichen Freiheit. Uneinigkeit besteht: Soll er von dieser Freiheit Gebrauch machen dürfen? Wenn wir Albert Camus Glauben schenken, dann ist der Suizid das philosophische Thema schlechthin, meinte der Existenzphilosoph doch: »Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie. Alles andere – ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neun oder zwölf Kategorien habe – kommt erst später.« (Camus 1991, S. 9) Stimmten wir dieser These zu, dann würde eine Untersuchung der Suizidraten unter Philosophen die Frage beantworten, ob sich nach deren Meinung »das Leben lohne oder nicht«. Doch wie es die Alten damit hielten, davon ist wenig überliefert. Einzig von den Stoikern, mit ihrer generellen Einstellung der apathia gegenüber dem Tod, sei dieser natürlich oder von eigener Hand herbeigeführt, wissen wir, dass es nicht wenige Anhänger dieser Strömung gab, welche wirklich Hand an sich legten. Wen wundert’s, lesen wir doch bei Seneca über das Leben: »Gefällt dir’s, so lebe, gefällt dir’s nicht, so kannst du wieder hingehen, woher du gekommen. Um die Kopfschmerzen los zu werden, hast du schon öfters Blut gelassen. Um die Körperfülle zu mindern, wird dir zu Ader gelassen. Es ist nicht nötig, die Brust durch eine weit klaffende Wunde zu spalten: ein Messerchen genügt, den Weg zu bahnen zu jener hochherrlichen Freiheit, ein einziger Stich sichert uns die sorglose Ruhe.« (Seneca 1993, S. 267 f.) Doch nicht alle großen Philosophen vertraten eine
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so extreme Position. Ist der »Freitod«, »Selbstmord«, »Suizid« – allein die Wortwahl gibt hier oft die diesbezügliche Einstellung wieder – ethisch zu legitimieren oder zu verwerfen? Wenn sich die großen Denker, von denen einige im Folgenden zur Sprache kommen sollen, dieser Frage annehmen, dann ist das ein Diskurs jenseits psychiatrischer oder psychologischer Vorstellungen. Es interessiert die Erlaubtheit oder Verwerflichkeit des Suizids, des Selbstmordes, der nicht Ausdruck oder Symptom einer Krankheit ist. Ob es diesen frei gewählten Tod als Ausdruck der menschlichen Freiheit aus psychotherapeutischer Sicht überhaupt gibt, das steht auf einem anderen Blatt. Eröffnet wird die Debatte durch Plato, der die Möglichkeit des Selbstmordes ebenso wie später Aristoteles, allerdings aus anderen Gründen, verwirft. Wir gehören nicht uns selbst, wir stehen in der Macht der Götter. Wir haben das Leben nicht selbst gemacht, es wurde uns gegeben und wir dürfen es daher auch nicht vorzeitig verlassen, so die Argumentation. Für den, der es trotzdem tut, hat Plato besondere Bestattungsvorschriften entworfen: Erstens soll der Selbstmörder auf unbebautem, namenlosem Gelände begraben werden, zweitens an einem einsamen Platz, niemand soll neben ihm zu liegen kommen, und drittens soll die Bestattung ruhmlos vor sich gehen. Damit findet sich bei Plato eine rituell-kulturelle Sanktionierung des Selbstmordes vorgedacht, die in christlichen Ländern noch weit bis in die Neuzeit befolgt wurde – den Leichnam nicht in gesegneter Erde beizusetzen. Die Stoa, welche dieses Thema wie viele andere Themen ruhig und nüchtern anging, kannte und erlaubte einen eulogos exagoge, einen »wohlüberlegten Freitod«. Die ältere Stoa hatte sogar eine Art Kasuistik erarbeitet, unter welchen Umständen der Freitod eine angemessene Handlung ist. Zum Beispiel, wenn man unheilbar krank sei und unter unerträglichen Schmerzen leide, oder wenn man durch seinen Tod das Vaterland oder Freunde rette (vgl. Decher 1999, S. 47 f.). Einfacher hat es da schon der Kirchenvater Augustinus, der das erste Gebot »Du sollst nicht töten« auch auf den Selbstmord bezieht. Einzige Ausnahme stellt, wie im Übrigen schon bei Plato, der »explizite« Befehl bzw. Wink oder das »eindeutige« Zeichen aus dem Reich der Transzendenz dar, man möge doch – und dürfe daher – abtreten. »Wer also um das Verbot, sich selbst zu töten, weiß, mag es dennoch tun, wenn der (Gott, Anm. d. Verf.) es befohlen hat, dessen Befehle niemand verachten darf«, und präzisierend meint Augustinus weiter: »aber er sehe wohl zu, ob dieser Befehl auch keinen Zweifeln ausgesetzt ist.« (Augustinus 1985, S. 46 f.) Thomas von Aquino verwirft den Selbstmord ebenfalls und bringt unter anderem eine Begründungsfigur ein, welche in die Neuzeit vordeutet: das Selbsterhaltungsprinzip. Von Natur aus liebt jedes Ding sich selbst. Das bedeutet, dass jedes Ding bestrebt ist, sich im Dasein zu halten und dem, der es zerstören will, Widerstand zu leisten. Daraus wird geschlossen: Der Selbstmord ist nicht erlaubt, weil er naturwidrig ist. Mit dem Selbsterhaltungsprinzip ist ein Begründungsmodell gefunden, das von Hobbes über Locke und Rousseau bis Spinoza unter Beifügung leichter Variationen gehalten hat. Na ja, könnte man fragen: Was aber ist, wenn die Natur selber den Suizid anordnet? So etwa die Frage des französischen Enzyklopädisten Baron Paul Thiry d’Holbach. Für Holbach – Atheist, Materialist und Determinist – geschieht der Lauf der Dinge aus Naturnotwendigkeit, und ein Mensch, »wenn er sich das Leben nimmt, führt er eine Anordnung der Natur aus, die ihn nicht mehr existieren lassen will. Diese Natur hat während tausenden von Jahren im Innern der Erde das Eisen geschaffen, das seinem Leben ein Ende setzen soll.« (Holbach 1978, S. 244 f.) Tabula rasa mit den bisherigen Argumentationen gegen den Selbstmord macht schließlich David Hume mit dem Essay »On Suicide« von 1777, in dem er zum Schluss kommt: »Gott kann sich, auch wenn er wollte, nicht selbst den Tod geben, was er dem Menschen als beste Gabe in den so großen Mühen des Lebens verlieh.« (Hume 1984, S. 130) Kant und der Deutsche Idealismus (Fichte, Hegel) sehen den Selbstmord nicht vereinbar mit der moralischen Pflicht des Menschen als Person. »Die Selbstentleibung ist ein Verbrechen (Mord)«, so Kant, da man mit der Vernichtung der »Person« als Subjekt der Sittlichkeit gleichsam die Idee der Sittlichkeit verwerfen würde (Kant bei Decher 1999, S. 103). Eine nahezu paradoxe Sonderposition finden wir bei Schopenhauer, über den man oft gespottet hat, er sei der Selbstmörder, der am Leben blieb. »Alles Leben ist Leiden« (Schopenhauer 2002, S. 405),
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so seine Formel. Leiden, das sich daraus ergibt, dass alles Leben auf einem unersättlichen, nie zu befriedigenden Willen ruht. Aus diesem Leid verursachenden Kreislauf steige man durch die konsequente Verneinung des Willens zum Leben aus. Der Selbstmord, diese »törichte Handlung«, ist aber genau aus diesem Grund zu verwerfen. Der Selbstmörder gehe in der Verneinung des Willens zum Leben nicht weit genug, im Gegenteil. »(…) der SELBSTMORD. Weit entfernt Verneinung des Willens zu seyn, ist dieser ein Phänomen starker Bejahung des Willens. Denn die Verneinung hat ihr Wesen nicht darin, dass man die Leiden, sondern dass man die Genüsse des Lebens verabscheuet. Der Selbstmörder will das Leben und ist bloß mit den Bedingungen unzufrieden, unter denen es ihm geworden. Daher gibt er keineswegs den Willen zum Leben auf, sondern bloß das Leben, indem er die einzelne Erscheinung zerstört.« (Schopenhauer 2002, S. 512) Einzig den asketischen Hungertod lässt Schopenhauer, der gerne an reich gedeckten Tafeln dinierte, gelten. Dort manifestiere sich die konsequente Absage an die Genüsse und den Willen des Lebens. Als einen Akt krassester Selbstsucht sieht Eduard von Hartmann – der Autor der »Philosophie des Unbewussten« – den Selbstmord, und Nietzsche, das Enfant terrible dieses Diskurses, meinte, man solle zur rechten Zeit abtreten. Der natürliche Tod, für Nietzsche der »Selbstmord der Natur«, sei ein »unfreier Tod«, ein Tod zur »unrechten Zeit, ein Feiglings-Tod. Man sollte, aus Liebe zum Leben –, den Tod anders wollen, frei, bewusst, ohne Zufall, ohne Überfall (…).« Man sollte »auf eine stolze Art sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so dass ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo der noch da ist, der sich verabschiedet, insgleichen ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine Summierung des Lebens – alles im Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften Komödie, die das Christentum mit der Sterbestunde getrieben hat« (Nietzsche 1985, S. 91 f.).
»Aus Liebe zum Leben –, den Tod anders wollen, frei, bewusst, ohne Zufall, ohne Überfall« (Nietzsche) Wenn Maggie Frankie bittet: »Lassen Sie mich nicht so lange hier liegen, bis ich die Menschen nicht mehr jubeln höre«, und Eddie zu Frankie sagt: »Wenn sie heute stirbt, weißt du, was dann ihr letzter Gedanke sein wird? Ich hatte alles, was ich wollte. Ich hätte damit meinen Frieden«, und Frankie zustimmend nickt, dann kommen diese drei Filmfiguren Nietzsches Position zum Thema Freitod, dass man »auf eine stolze Art sterben« soll, »wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben«, dass man »aus Liebe zum Leben –, den Tod anders wollen« soll, »frei, bewusst, ohne Zufall, ohne Überfall«, sehr nahe. In der Schweiz, in Holland und wahrscheinlich auch in einigen anderen Staaten gibt es Sterbehilfeorganisationen, die Menschen helfen, wenn sie nicht mehr leben wollen. Diese Form der »passiven Sterbehilfe«, die in manchen Ländern erlaubt ist, hieße, dass man Maggie – gesetzt, sie würde in ein Land gebracht werden, wo solche Formen juristisch legitimiert sind – z. B. einen Becher mit Gift hinstellt und sie den letalen Akt, das Trinken des Gifts, dann selber vollziehen würde. Gesetzliche Voraussetzung wäre, dass psychiatrische Gutachten zur Erkenntnis kommen, dass der Wunsch zu sterben im Falle von Maggie nicht Ausdruck einer psychiatrischen Krankheit ist. Auch wenn es schwer und im Grunde unmöglich ist, Filmfiguren zu diagnostizieren – denn jede Diagnose würde ja ein diagnostisches Gespräch zur Voraussetzung haben, was bei fiktionalen Charakteren ja per se nicht möglich ist –, und ich an dieser Stelle trotz dieser Unmöglichkeit, sozusagen aus hypothetischen Gründen, eine diagnostische Überlegung anstelle (vgl. dazu auch Blothner 2010), dann würde ich sagen, dass Maggie trauert, käme aber nicht zum Schluss, dass sie eine Depression hat und der Wunsch zu sterben Ausdruck einer reaktiven depressiven Episode ist. Daher würde, gesetzt, Frankie brächte Maggie in die Schweiz oder nach Holland, einer »passiven Sterbehilfe« nichts im Wege stehen.
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Frankie würde sich juristisch nicht schuldig machen, was er im Falle des Films, so wie die Handlung konstruiert ist, allerdings wäre, da er »aktive Sterbehilfe« betreibt. Wie das philosophisch oder ethisch zu bewerten ist, ob eine Gesellschaft solche Möglichkeiten bereitstellen soll, daran scheiden sich die Geister. Ob »Million Dollar Baby« bzw. der Regisseur des Filmes zu diesem Thema eine Position hat, und wenn ja, welche, oder ob der Film gar als »Werbefilm« für das Recht auf assistierten Suizid gelten kann, ist ebenfalls Gegenstand von Kontroversen (Waxman 2005; Girsh 2005; Haller 2006; Braswell 2011). Gemäß Clint Eastwood ist das Thema des Filmes allerdings nicht die Frage nach dem Recht auf Sterbehilfe, wie er es gegenüber der New York Times geäußert hat, sondern: »The film is supposed to make you think about the precariousness of life and how we handle it«, und darüber hinaus müsse man zwischen Filmfigur und Regisseur unterscheiden: »How the character handles it is certainly different than how I might handle it if I were in that position in real life. Every story is a ›what if‹« (Eastwood bei: Waxman 2005). Dieser Position möchte ich mich als Autor dieser Zeilen anschließen. Ich kann nachvollziehen, dass Maggie sterben möchte, und auch, dass ihr Frankie hilft. Die Vorstellung, dass er sie gelähmt in ihrem Bett dahinsiechen lässt, so lange, bis sie die Menschen nicht mehr jubeln hört, wäre schrecklich und vielleicht sogar inhuman. Maggie will sterben, das sagt sie und hat sie durch zwei Suizid-Versuche klar und deutlich zum Ausdruck gebracht. Gleichzeitig wäre es aber auch denkbar, dass Maggie – spätestens dann, wenn ihre Trauerreaktion nicht mehr so akut ist – irgendwann, mit der Hilfe anderer Menschen entdeckt, dass es auch in so einer eingeschränkten Situation Sinnmöglichkeiten gibt und sie etwas findet, wofür es sich zu leben lohnt. Wahrscheinlich würde sie die Menschen irgendwann nicht mehr jubeln hören, aber es bleibt möglich, dass sie nicht nur für Frankie, sondern auch für viele andere eine Bereicherung wäre oder werden könnte. Sei es als Vorbild, durch die Art, wie sie ihr Leid trägt, oder durch das Schreiben von Gedichten und Geschichten oder durch was auch immer. Manche Gesellschaften entscheiden sich über die Gewährung des Rechts auf »assistierten Suizid« dafür, den Weg ins Freie offenzuhalten, und sehen diese Autonomie als höchstes menschliches Gut an. Andere wiederum betonen, dass es die Mitmenschlichkeit gebietet, das Leben aller Menschen so human und würdevoll einzurichten, dass niemand, auch nicht in der leidvollsten aller möglichen Situationen, auf die Idee kommt, es vorzeitig zu beenden. Man könnte »eine zentrale ethische Forderung im Umgang mit Suizid auch darin sehen, zu überlegen, was in gesellschaftlicher Hinsicht getan werden müsste, um das Entstehen solcher Entschlüsse zu verhindern. Immerhin stimmt es sehr nachdenklich, wenn verschiedene Studien belegen, dass zahlreiche Sterbewillige angaben, eine Hauptmotivation für Sterben wollen sei die Sorge, anderen zur Last zu fallen (…).« (Maio 2012, S. 348). Wahrscheinlich ist beides wichtig: den Weg ins Freie offenzuhalten und das Leben so einzurichten, dass keiner davon Gebrauch machen möchte.
Literatur Armbruster J (2019) Million Dollar Baby. http://www.filmstarts.de/kritiken/56714/kritik.html. Zugegriffen: 27. Dez. 2019 Augustinus A (1985) Vom Gottesstaat (De Civitate Dei), 2. Aufl. Bd. 1. Deutscher Taschenbuch Verlag, München Blothner D (2010) Was Menschen ertragen können. Million Dollar Baby. In: Möller H, Döring S (Hrsg) Batman und andere himmlische Kreaturen. Nochmal 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen. Springer, Berlin, Heidelberg, S 169–179 Braswell H (2011) Taking representation seriously: rethinking bioethics through Clint Eastwood’s Million Dollar Baby. In: J Med Humanit LLC 2011. Springer, Berlin Heidelberg, S 77–87 https://doi.org/10.1007/s10912-010-9130-4 Camus A (1991) Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Rowohlt, Hamburg Decher F (1999) Die Signatur der Freiheit. Ethik des Selbstmords in der abendländischen Philosophie. zu Klampen, Lüneburg Girsh F (2005) Ashcroft, Eastwood, and assisted dying. In: The humanist. Social science premium collection, S 33–34 Haller B (2006) Thoughts on »Million Dollar Baby«. J Research in Spec Educ Needs 6(2):112–114. https://doi. org/10.1111/J.1471-3802.2006.00067.x
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„Lassen Sie mich nicht so lange hier liegen, bis ich die Menschen nicht mehr jubeln höre“
Holbach PT (1978) System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. Suhrkamp, Frankfurt am Main Hume D (1984) Die Naturgeschichte der Religionen. Über Aberglauben und Schwärmerei. Über die Unsterblichkeit der Seele. Über Selbstmord. Felix Meiner Verlag, Hamburg Maio G (2012) Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin. Schattauer, Stuttgart Nietzsche F (1985) Götzendämmerung. Insel, Frankfurt am Main Poltrum M (2013) Musen und Sirenen. Ein Essay über das Leben als Spiel. Pabst Science Publishers, Lengerich, Berlin Schopenhauer A (2002) Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Aufl. Bd. 1. Deutscher Taschenbuch Verlag, München (Gesamtausgabe) Seneca LA (1993) Briefe an Lucilius, Brief Nr. 70, 15. In: Seneca LA (Hrsg) Philosophische Schriften. Reclam, Stuttgart Waxman S (2005) Groups Criticize »Baby« For Message on Suicide. In: New York Times, Jan 31, 2005, pg. E1
Originaltitel
Million Dollar Baby
Erscheinungsjahr
2004
Land
USA
Drehbuch
Paul Haggis
Regie
Clint Eastwood
Hauptdarsteller
Clint Eastwood, Hilary Swank, Morgan Freeman
Verfügbarkeit
Als DVD erhältlich
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Julia Heimerdinger
„Einsame Sonntage hab ich zu viel verbracht. Heut mach ich mich auf den Weg in die lange Nacht“ Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Liebeskummer, Verzweiflung, Eifersucht, Einsamkeit, Resignation – und ein Lied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Die legendenumwobene Geschichte des ungarischen »Selbstmörderlieds« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 In Würde sterben. Ein Blick auf Didos Lamento . . . . . . . . 140 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_10
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Filmplakat Ein Lied von Liebe und Tod – Gloomy Sunday. (© PolyGram. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Ein Lied von Liebe und Tod – Gloomy Sunday (1999) Julia Heimerdinger
Handlung Der überwiegend Ende der 1930er- und Anfang der 1940er-Jahre in Budapest spielende Film beginnt mit einem Racheakt in der Gegenwart des Jahres 1999 (. Abb. 10.1, Filmplakat). Die alte Ilona (Erika Marozsán) vergiftet – zu diesem Zeitpunkt von den Zuschauern noch unerkannt – den deutschen Geschäftsmann Hans Wieck (als 80-Jähriger gespielt von Rolf Becker) in ihrem Restaurant »Szábo« mit einer Portion Rollfleisch. Wieck, offenbar gut situiert und zufrieden, ist anlässlich seines 80igsten Geburtstages mit einer Festgesellschaft an den Ort zurückgekehrt, an dem die Geschichte 60 Jahre früher ihren Lauf nahm (. Abb. 10.2). Er selbst verbindet mit dem Ort schöne Erinnerungen, während andere dort ihr Leben und ihre Liebe verloren haben, wofür nicht zuletzt er die Schuld trägt. Eine zentrale Rolle spielt das titelgebende »Lied vom traurigen Sonntag«, welches, so erzählt es der Film, damals vom Hauspianisten András (Stefano Dionisi) komponiert worden ist. Auf Wiecks Geburtstagsfeier spielt es, auf seine Bestellung hin, ein Duo mit Geige und Klavier und so wird es zur Begleitmusik seines Sterbens. Noch während Wieck isst und zuhört, entdeckt er auf dem Klavier eine Fotografie der jungen Ilona, die er seinerzeit selbst gemacht hat und beginnt in Erinnerungen zu schwelgen, aus denen er durch seinen Zusammenbruch gerissen wird. Fallend reißt Wieck seiner Frau die Perlenkette vom Hals, an der er vergeblich Halt sucht. Auch die Musik reißt in diesem Moment ab. Dass Wiecks Gattin zuerst die Perlen aufzusammeln versucht, bevor sie sich ihrem Mann zuwendet, steht, wie der Versuch daran Halt zu finden, sinnbildlich für Wiecks Fokus auf das Materielle. Seine Profitgier wird im Laufe der Handlung immer deutlicher sichtbar, wenngleich er anfangs noch als naiver junger Mann (Ben Becker) ohne böse Absichten auftritt. Den plötzlichen Tod seines Gastes kommentiert der Restaurantchef mit den Worten
RR »Das ist das verfluchte Lied. Immer wieder das verfluchte Lied«, sehr wohl wissend, dass das vergiftete Fleisch die Todesursache ist. Seine Aussage vor den Gästen soll davon ablenken und birgt gleichzeitig einen tieferen Sinn, der sich später erklären wird. Ein Kommentar zu besagtem Lied leitet die Rückblende ein:
RR »Dabei wurde es doch aus Liebe geschrieben. Für sie. Vor 60 Jahren.« Die Rückblende beginnt mit der Lieferung eines Flügels, die der Restaurantinhaber László (Joachim Król) Ilona gegenüber lächelnd damit erklärt, dass in ein gutes Restaurant »einfach ein Piano« gehöre. Mehrere Pianisten spielen dem Paar vor, bis András erscheint und die beiden mit seinem Spiel eines melancholischen Stückes (»Komm Zigan«) von sich überzeugt. Schon bei der ersten Begegnung András’ und Ilonas wird sichtbar, dass die beiden voneinander angetan sind und auch László entgeht dies nicht. In der nächsten Szene, die das Restaurant bei laufendem Betrieb zeigt, sieht man Ilona dem jungen deutschen Touristen Hans Wieck eine Portion Rollfleisch servieren. Auf ihre Frage, ob er noch einen Wunsch habe, reagiert er, offensichtlich von ihr fasziniert und eingeschüchtert, mit der Bitte, der Pianist möge »Komm Zigan« spielen. Ilona geht zu András ans Klavier und sagt ihm, wenn sie ihm zuhöre, bedaure sie, mit dem Singen aufgehört zu haben. Im Verlauf des Gesprächs erfährt man, dass sie Gesang studiert, aber nach zwei Jahren aufgehört hat, weil es nicht für den Konzertsaal gereicht habe. Sie sagt
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„Einsame Sonntage hab ich zu viel verbracht. Heut mach ich mich auf den Weg in die lange Nacht“
..Abb. 10.2 Hans Wieck feiert seinen 80igsten – und letzten – Geburtstag im Restaurant Szábo. Das Rollfleisch vor ihm ist vergiftet. (© PolyGram. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
dies ohne Groll, im Gegensatz zu András, der dasselbe von sich behauptet und sichtbar frustriert Wiecks Musikwunsch erfüllt. Im Verlauf der Szene wird deutlich, wie Ilona auf die Gäste wirkt.
RR »Hast du bemerkt«, sagt László, als sie später gemeinsam ein Bad nehmen,
RR »unser Pianist ist dir auch schon verfallen.« Auf Lászlós eindeutige Avance hin, dass er ihr – von vielen – am meisten verfallen sei und sich wünsche, sie möge immer in seiner Wanne baden, entgegnet Ilona, sie möge es genauso, wie es ist. Die Hintergrundmusik vermittelt, dass ihre Beziehung durch Leichtigkeit geprägt ist. Schwer verliebt scheint hingegen András, der Ilona zum Geburtstag besagtes Lied schenkt:
RR »Ich habe kein richtiges Geschenk für Sie«, sagt er, als sie abends im Restaurant anstoßen,
RR »nur eine kleine Melodie.« Während András das – hier textlose – traurig-schöne Stück spielt, dem er später den Titel »Das Lied vom traurigen Sonntag« gibt, zeigt die Kamera, wie die Gäste und Kellner von der Musik gebannt innehalten. Ilona nimmt die Noten von András mit ernstem Gesichtsausdruck entgegen. Alle Bewegung erscheint in Zeitlupe, bis Hans plötzlich von hinten in die Tasten greift, weil er ein Ständchen spielen will. László erklärt ihm daraufhin freundlich, dass die Gäste fast alles dürften, außer in die Küche und
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ans Klavier – ein Verbot, über das Hans sich später, wenn er in SS-Uniform wiederkommt, hinwegsetzen wird. Noch aber ist er der schüchterne Tourist und wünscht sich, da er zufällig auch Geburtstag hat, ein Foto von Ilona machen zu dürfen – jenes Bild, das er ansieht, bevor er sterben wird. Auf dem gemeinsamen Nachhauseweg der vier macht Hans Ilona einen unbeholfenen Heiratsantrag, den sie freundlich ablehnt. Hans läuft davon und Ilona entscheidet sich mit dem Freibrief Lászlós, ihn aber offenbar schmerzend, die Nacht mit András zu verbringen. Kurz darauf trifft der sichtlich betrunkene und die Melodie vor sich hin summende Hans László auf einer Brücke.
RR »Seltsames Lied ist das«, sagt er zu László,
RR »Das ist, wie wenn einem etwas gesagt wird, was man nicht hören will.« Begleitet werden die Bilder von einer orchestrierten Version des Liedes, ebenso die parallel ablaufende Liebesszene András’ und Ilonas, bis zu dem Moment, in dem Hans in den Fluss springt. Der erste Suizidversuch eines Liebeskranken mit der fatalen Melodie auf den Lippen. László rettet Hans und bringt ihn am nächsten Tag zum Bahnhof, wo sie sich freundschaftlich verabschieden. Hans werde ihm das nie vergessen, beteuert er noch. Später wird er ihn, den Juden László, am selben Bahnhof in den Zug nach Auschwitz steigen lassen. In Hans’ Abwesenheit entspinnt sich nun die Dreierbeziehung zwischen László, Ilona und András, während das Lied allmählich berühmt wird. Eines Abends bemerkt Ilona, dass Konzertbesucher von einer Schallplattenfirma aus Wien im Restaurant sind und sorgt dafür, dass András sein Stück spielt. Die Herren horchen auf und es kommt zum Schallplattendeal, den László aushandelt. Ein anderer Gast, der öfter zeichnend am Rand sitzt, wird vorher ebenfalls dem Lied zuhörend gezeigt. Er wirkt verzweifelt und lässt seine Mappe mit einer Notiz auf dem Tisch liegen:
RR »Das Lied war sehr schön. Vielen Dank, ich muss jetzt gehen.« Er wird am nächsten Tag – und ohne weitere Erklärung – mit Strangulationsspuren am Hals tot aus seinem Haus getragen. Die Schallplattenaufnahme wird mit einem Streichorchester eingespielt und die drei feiern den Erfolg. Das Lied läuft im Radio.
RR »Es ist schon eigenartig«, sagt András, als sie beschwipst auf einer Brücke stehen,
RR »jetzt kann man es nicht mehr aufhalten, mein Lied geht in die Welt hinaus« und sinniert über die Botschaft des Liedes, die er nicht zu fassen bekomme. Im Laufe des Abends lässt er auch eine unbedachte antisemitische Bemerkung fallen. Als Ilona eingreift, solidarisieren sich die beiden Männer gegen sie und beklagen lallend, dass sie sich die Frau teilen müssen. Beim Anblick des in der Szene vorbeiziehenden Fackelzugs wird durch Kommentare klar, dass Ungarn Hitler zuliebe aus dem Völkerbund ausgetreten ist. Die Bedrohung durch die Nazis wird im Folgenden immer deutlicher spürbar. Wenig später schneidet sich eine junge Frau zum »Lied vom traurigen Sonntag« die Pulsadern auf, die es sich vorher im Restaurant im Kreis ihrer Familie (der Industriellenfamilie Mendel, die später noch eine Rolle spielen wird) zu hören gewünscht hat. Ein konkreter Grund für ihren Suizid wird nicht mitgeteilt, doch dass sie sich traurig und einsam fühlte, wird durch ein Kamerazoom auf ihr Gesicht suggeriert.
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..Abb. 10.3 Ilona und László trösten András, der aus Schuldgefühlen über die angebliche Wirkung seines Lieds die Notenblätter in die Donau wirft. (© PolyGram. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
RR »Was sagen Sie dazu, dass sich in Budapest in den letzten drei Tagen fünf Menschen das Leben genommen haben? Alle fünf hatten Ihr Lied auf dem Plattenteller«, konfrontieren Reporter den arglos im Café sitzenden András mit den neusten Nachrichten, der daraufhin schockiert davonläuft. Besorgt suchen Ilona und László ihn, weil er nicht zur üblichen Zeit im Restaurant erscheint. Auch sie haben die Nachrichten gehört. Sie finden András auf einer Brücke. Er wirft Notenblätter in die Donau und will aus Schuldgefühlen nie wieder komponieren (. Abb. 10.3). László beruhigt ihn, er habe ja niemanden zum Suizid aufgefordert, sondern ihnen nur den Abschied verschönt. Die »Botschaft« des Liedes, meint András, habe er noch immer nicht gefunden. Die drei verbringen den Nachmittag am Wasser. Ein Giftfläschchen, das András aus der Tasche fällt, nimmt László an sich. Sie liegen sich in den Armen. Es wird der glücklichste Moment des Films gewesen sein. Während Hitler im Westen vormarschiert, wird das Lied, so hört man in der gemeinsam besuchten Wochenschau, ein sensationeller Erfolg. Allerdings hätten die »magischen Töne« bereits 157 Menschen veranlasst, Selbstmord zu begehen. Als »Gloomy Sunday« erobere es die ganze Welt und bringe vielen den Tod. András senkt den Kopf. Ein Zeitsprung. Drei Jahre später steht plötzlich der gut gelaunte Hans als SS-Standartenführer im Restaurant und bricht gleich zwei Regeln. Erst will er in die Küche, um zu sehen, wie sein »geliebtes Rollfleisch« zubereitet wird, dann klappt er, ohne zu fragen, das Klavier auf und spielt ein paar Töne. László bleibt freundlich, aber András kommt alarmiert um die Ecke und dreht gleich wieder ab, als er Hans erkennt.
RR »Der Gigolo ist auch noch da«,
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bemerkt dieser. In einer Außenszene sieht man, dass deutsche Soldaten allgegenwärtig sind und die Versorgungslage schlecht ist. Ilona trifft András schreibend in einem Straßencafé. Auf ihre Frage, ob er wieder komponiere, entgegnet er, dass er einen Text für das Lied schreibe.
RR »Der letzte Atemzug bringt mich für immer heim. Im Reich der Schatten da werd’ ich geborgen sein«, liest Ilona laut vor, während man das von einem Streichorchester gespielte Lied als Hintergrundmusik hört.
RR »Versprich mir, dass du das nicht tust«, sagt sie ernst.
RR »Nicht, solange ich dich habe«, antwortet András. Man ahnt nichts Gutes. Tatsächlich verdichtet sich ab jetzt die Handlung. Hans besucht mit seinem ideologiefesten Kollegen Eichbaum (Sebastian Koch) das Restaurant, der László nach Feierabend betrunken zusammenschlägt. Hans entschuldigt sich für seinen Kollegen und der noch immer versöhnliche László bittet ihn, Ilona nach Hause zu bringen, während er sich von András verarzten lässt. Hans macht Ilona in ihrer Wohnung eindeutige Avancen und verrät ihr ein Geheimnis, von dem man aber erst etwas später erfährt. Ilona weist ihn freundlich ab und Hans trifft im Stiegenhaus auf András, der gerade die Treppe hochkommt. Sie grüßen sich nicht und Hans pfeift im Weggehen das damals bekannte Lied »Schöner Gigolo, armer Gigolo«. Um die erniedrigende Geste noch zu verstärken, schlägt er seine Handschuhe dabei mehrmals aufs Geländer. András wartet einen Moment, dreht um und geht. Seine Eifersucht wird ihm zum Verhängnis werden. Ilona erzählt László am nächsten Tag, dass Hans ihr von den Judenvernichtungsplänen der Deutschen in Ungarn berichtet hat. László beschließt, das Restaurant Ilona zu überschreiben »bis alles vorbei ist«. Sie sucht daraufhin Hans auf, um ihn um einen Schein zu bitten, dass László kriegswichtig ist.
RR »Ist das nicht die Mendel-Villa?«, fragt sie in der Eingangshalle des Hauses die Sekretärin, die darauf antwortet:
RR »Jetzt nicht mehr. Hier werden jetzt Wirtschaftsgüter erfasst.« In der folgenden Szene wird deutlich, welche Art Geschäft Hans betreibt: Er bietet dem Juniorchef Mendel 600.000 Dollar für alle Güter, die laut Mendel sehr viel mehr wert sind, und es wird außerdem klar, dass die Angehörigen Mendels im Arbeitslager interniert sind und ein Verkauf zu diesem Preis die Bedingung dafür ist, dass die Familie ins neutrale Ausland gebracht werden kann. Im Laufe des Gesprächs droht Hans damit, Eichbaum anzurufen und ihm mitzuteilen, dass die Verhandlungen gescheitert seien. Mendel unterschreibt. In den folgenden Gesprächen mit Ilona und der Sekretärin wird klar, dass Hans seine Macht genießt und keine Widerrede duldet. Er verspricht Ilona aber den Schein. Vor der Villa wartet András.
RR »Macht’s dir ein Arier besser als zwei Ungarn?«, fragt er sie und bekommt dafür eine Ohrfeige, aber keine Aufklärung.
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In der anschließenden Restaurantszene besucht Hans mit einem anderen SS-Kollegen das Restaurant. László dankt Hans dafür, was er für ihn getan habe. Hans wehrt ihn unfreundlich ab und bestellt Rollfleisch, das László wegen der schlechten Versorgungslage nicht servieren kann.
RR »Das ist aber unangenehm. Wie steh’ ich denn jetzt da?«, quittiert Hans die Entschuldigung. Der Abend eskaliert zusehends. Hans erklärt seinem Kollegen, dass er nicht verstehe, »warum man vernichten soll, was man verkaufen kann« und fordert nach dem Essen László auf, ihnen einen Witz zu erzählen, es könne auch ein jüdischer sein. Zur Pointe hin verstummen die Gespräche im Restaurant und nun bittet Hans im Befehlston darum, das »berühmte Lied« zu spielen. András bleibt still am Klavier sitzen und sieht Hans an, der nun ungehalten wird.
RR »Wird’s bald«, schiebt er hinterher. András blickt auf die Pistole, die Hans auf dem Stuhl neben sich abgelegt hat. Ilona, die offenbar Angst hat, bittet András, das Lied für sie zu spielen und beginnt, seinen Text zu singen.
RR »Trauriger Sonntag, dein Abend ist nicht mehr weit. Mit schwarzen Schatten teil ich meine Einsamkeit. Schließ ich die Augen, dann seh ich sie hundertfach. Ich kann nicht schlafen und sie werden nie mehr wach. Ich seh Gestalten zieh’n im Zigarettenrauch. Lasst mich nicht hier, sagt den Engeln ich komme auch. Trauriger Sonntag. Einsame Sonntage hab’ ich zu viel verbracht. Heut mach ich mich auf den Weg in die lange Nacht. Bald brennen Kerzen und Rauch macht die Augen feucht. Weint doch nicht Freunde, denn endlich fühl ich mich leicht. Der letzte Atemzug bringt mich für immer heim, im Reich der Schatten, da werd’ ich geborgen sein. Trauriger Sonntag.« András begleitet sie überrascht (. Abb. 10.4). Als die Gäste applaudieren, stürzt sie nach draußen und muss sich schwer atmend abstützen. Man hört einen Schuss. Ilona läuft zurück in den Gastraum, wo András tot am Boden liegt. Er hat sich mit Hans’ Pistole erschossen. Nach der Beerdigung trifft Hans László und Ilona auf dem Friedhof.
RR »Das wollte ich nicht«, beginnt er das Gespräch. Ilona läuft davon und László bittet Hans, ihm Papiere zu besorgen, mit denen er aus Ungarn ausreisen könne. Dieser beteuert wiederum, dass László in Sicherheit sei, solange Hans da ist und überredet ihn außerdem, ihm Juden zu bringen, die er gegen Bezahlung »vor dem Schornstein retten« könne. Zwar reagiert László mit zynischen Bemerkungen, da er inzwischen auch begriffen hat, wie Hans tickt, doch verwehrt er sich dem »Deal«, bei welchem er ja der Abhängige ist, nicht.
RR »Ich glaube, ich habe gerade die Botschaft vom Lied vom traurigen Sonntag verstanden«, sagt László anschließend zu Ilona – im Hintergrund hört man das Lied leise auf einer Klarinette –
RR »Ich glaube, das Lied will sagen, dass jeder Mensch seine Würde hat. Wir werden verletzt, wir werden gekränkt, und das alles halten wir aus, solange wir uns einen
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..Abb. 10.4 Ilona singt András’ Text zum »Lied vom traurigen Sonntag«, um ihn in der angespannten Situation zum Spielen zu bewegen. Kurz darauf nimmt er sich vor den Augen der Gäste das Leben. (© PolyGram. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
letzten Rest Würde bewahren können. Aber wenn uns nur noch ein Kübel Jauche nach dem anderen über den Kopf gegossen wird, dann ist es vielleicht besser, sich von dieser Welt zu verabschieden. Dann muss man gehen, aber mit Würde.« »Wer sagt denn, dass man gehen muss? Man kann auch bleiben. Und für sein Glück kämpfen«, wendet Ilona ein.
RR »Es gibt Menschen, die das können«, antwortet László unter Tränen,
RR »András hat es nicht gekonnt.« Es geht weiter der Katastrophe entgegen. Hans verkauft in der Mendelvilla »Fahrkarten in die Freiheit«. Als Frau Tajtelbaum vor ihm zu weinen beginnt, gibt er ihr Schmuck und Geld zurück und antwortet auf die Frage, wie sie ihm danken könne, dass sie doch, wenn alles vorbei ist und andere Zeiten angebrochen sind, bekannt geben solle, wer sie gerettet hat. Er sorgt damit bereits umsichtig für seine Rehabilitierung nach dem Krieg. Außerdem sei ihr Onkel, Professor Moishe Tajtelbaum, abgeholt worden, sagt Frau Tajtelbaum verzweifelt und bittet Wieck um Hilfe. Er sehe, was er tun könne, sagt er zum Abschied. Die Tantiemen des Liedes werden nun an László und Ilona ausgezahlt. Sie hören die Schallplatte gemeinsam in der Badewanne. László wirft einen Schuh gegen das Grammophon.
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RR »Es fängt an, mir zu gut zu gefallen«, kommentiert er seine Aktion. Ilona sagt, sie wolle für immer in seiner Wanne baden. Als László losgeht, um im Restaurant nach der Kartoffellieferung zu sehen, halten Militärfahrzeuge vor dem Haus und ein Soldat fragt eine Nachbarin nach ihm. Obwohl sie László sieht, schickt sie die Männer in den dritten Stock, László entkommt und schreibt im Restaurant einen Brief. Er nimmt das Giftfläschchen aus dem Sekretär und versteckt den Brief im Klavier. Die Soldaten dringen ins Restaurant ein und führen László ab, dem das Fläschchen dabei auf den Boden fällt. Ilona erscheint draußen, doch ihr verzweifelter Ruf, dass László eine Sondergenehmigung habe und gebraucht wird, hilft nicht. Der Lastwagen, in dem mehrere Menschen sitzen, fährt ab. Ilona eilt zu Hans, der gerade die Villa räumen lässt. Auch mit Wertsachen und Geld gefüllte Särge, die »Rettungsgebühren«, sind darunter. Ilona findet Hans in einem Zimmer, wo er Papiere im Kamin verbrennt. Aufgelöst bittet sie ihn um Hilfe, der die Situation umgehend ausnutzt.
RR »Natürlich helfe ich ihm. Für dich tu ich doch alles«, sagt er, während er Ilona auszieht, die sich nicht dagegen wehrt. Man erfährt nicht, ob sie miteinander schlafen, aber man sieht, wie Hans, nach einem Schnitt, wortlos geht, während Ilona nackt auf dem Bett sitzend zurückbleibt. Hans sucht Eichbaum auf und behauptet, jemand sei irrtümlich auf die Liste für den Zug nach Auschwitz geraten. Ohne den Namen und den weiteren Verlauf des Gesprächs zu erfahren, sieht man in der nächsten Einstellung Hans am Bahnhof, wie er einen Soldaten zu den vor einem Güterwaggon stehenden Menschen schickt. Dort steht auch László, der nun, im Glauben, dass Hans ihn mitnehmen wird, einen Schritt auf ihn zumacht. Der vorgeschickte Soldat fragt jedoch nach Tajtelbaum und lässt László zurück. Hans übernimmt Tajtelbaum und erklärt diesem, wie lebensgefährlich seine Rettung für ihn sei. László und Hans sehen sich an, aber keiner von beiden sagt etwas. László besteigt den Güterwaggon und während die Melodie des traurigen Sonntags auf einer Geige zu hören ist, wird die Tür zugeschoben. Ilona findet im Restaurant das Giftfläschchen am Boden und liest den Brief. Ihr wird klar, dass László sich vergiften wollte, bevor er abgeholt wurde.
RR »Liebe Ilona, ich höre nun ganz deutlich, was das Lied vom traurigen Sonntag sagen will«, hört man Lászlós Stimme,
RR »den letzten Kübel Jauche soll ich mir ersparen. Ich mach’ es einfach wie András. Zum Kämpfen ist es für mich zu spät und richtig gelernt habe ich es auch nie. Sei nicht traurig, dass es nicht so ausgegangen ist, wie wir uns das gewünscht haben. Jetzt heißt es: Nach der Sintflut du.« Die nächste Einstellung zeigt Ilona an András’ Grab.
RR »Er hat nur solche Leute gerettet, die ihm nach dem Krieg nützlich sein konnten«, sagt sie,
RR »Das hat er gut geplant, er ist ein Geschäftsmann, der sehr praktisch denkt. Der Teufel soll ihn holen.«
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Als sie aufsteht, sieht man, dass Ilona schwanger ist. Man erfährt, dass sie das Restaurant am Abend wiedereröffnen wird. Die Erzählung schwenkt zurück in die Gegenwart. Hans wird im Sarg aus dem Restaurant getragen, Reporter stehen draußen und berichten:
RR »Hans Eberhard Wieck ist tot. Der Konzernchef und mehrfache Ehrendoktor ist heute in Budapest an Herzversagen gestorben. Ganz Deutschland trauert um diesen Mann. Während des zweiten Weltkrieges hat er über eintausend Juden unter Einsatz seines Lebens aus Budapest gerettet.« Der Restaurantchef, der László auch wegen seiner Art, sich zu bewegen, am ähnlichsten zu sein scheint, geht zurück in den Gastraum und nimmt eine Flasche Sekt, während man eine Frauenstimme die Melodie vom traurigen Sonntag summen hört. Mit zwei Gläsern in der Hand kommt er in die Küche, wo Ilona das Geschirr und das Giftfläschchen spült.
RR »Alles Gute zum Geburtstag, Mama«, sagt er und sie stoßen an.
Liebeskummer, Verzweiflung, Eifersucht, Einsamkeit, Resignation – und ein Lied In dem knapp 110 Minuten langen Drama ist vermutlich die höchste Zahl an Suiziden der Filmgeschichte zu verzeichnen – rechnet man die 157 ein, die laut der Wochenschau auf das »Lied vom traurigen Sonntag« bzw. »Gloomy Sunday« zurückführbar sein sollen. Kaum ist das Lied »in der Welt«, springt der erste Liebeskranke mit der Melodie im Kopf in die Donau, wobei Hans’ Suizidversuch nicht ganz ernst oder wenigstens sehr spontan erscheint. Schon wenig später nehmen sich Menschen das Leben, die, so wird es jedenfalls angedeutet, substanzielleren Kummer haben; erklärt werden diese Suizide jedoch nicht. Man beobachtet den namenlosen Maler und die junge Frau Mendel vorher lediglich dabei, wie sie auf die Musik reagieren. Der Maler lässt sich in seiner Verzweiflung gehen und die junge Frau scheint im Kreis ihrer Familie quasi im Bann der Einsamkeit zu verschwinden. Vielleicht soll hier aber auch eine Vorahnung dessen vermittelt werden, was der Familie Mendel später widerfahren wird. Im Gegensatz zu denjenigen, die sich nicht in Sicherheit bringen werden können, ist diese junge Frau noch eine »schöne Leiche«. In kurzer Aufeinanderfolge wird nun in der Presse und in den Nachrichten behauptet, die »magischen Töne« des Liedes hätten viele dazu veranlasst, sich das Leben zu nehmen und »bringe Menschen den Tod«, was im Film direkt im Anschluss an die in der Wochenschau als frohe Botschaft propagierte Nachricht vom erfolgreichen Vormarsch Hitlers behauptet wird, obwohl dieser Vormarsch der wirkliche Todbringer ist. András aber fühlt sich schuldig und wirft in einem symbolischen Akt die Notenblätter ins Wasser. Einzig László nimmt eine rationalistische Perspektive ein und hält fest, dass das Lied, zu diesem Zeitpunkt noch textlos, ja keine Aufforderung zum Suizid sei, sondern nur den Abschied verschöne. Die unergründliche Botschaft des Liedes wird zuerst von Hans, dann von András thematisiert. Als Wendepunkt des Films erscheint der Moment, in dem letzterer den Liedtext niederschreibt und damit seine Interpretation der Botschaft manifestiert. Der in der Ich-Perspektive formulierte Text thematisiert das Gefühl der Einsamkeit und die Sehnsucht nach dem Tod. In dieser Vorstellung ist die Einsamkeit traurig, schlaflos und unerträglich. Der Tod dagegen führt zu den Engeln, zu einem Gefühl der Leichtigkeit und Geborgenheit. In der Filmerzählung werden letztere Bilder bzw. Zustände mit der Person Ilonas verknüpft, an einer Stelle bezeichnet Hans Ilona sogar als einen Engel.
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András’ Suizid wird mit dem – von ihm so empfundenen – Verlust Ilonas erklärt. Er glaubt offensichtlich, sie habe eine Affäre mit Hans und deutet, sprichwörtlich blind vor Eifersucht, Hans’ und Ilonas Verhalten falsch. Die – tatsächlichen – Demütigungen durch Hans erreichen am Abend des Suizids ihren Höhepunkt. Dass Ilona dessen Spielbefehl nachkommt, versteht András, so lässt sich die Situation deuten, nicht als Rettungsversuch seiner Person, sondern als freiwillige Darbietung für ihren Liebhaber. Die unglückliche, fatale Fehlinterpretation entspringt einer entsprechenden Grunddisposition. Der talentierte und gutaussehende junge Mann wird zu einem frühen Zeitpunkt der Handlung als frustrierter Pianist und einsamer, vulnerabler Mensch vorgestellt, der sich nur selten öffnet. Suizidgedanken werden schon vor der erfolgreichen Selbsttötung offensichtlich. Ein erstes Mal in Zusammenhang mit der Nachricht der angeblichen Wirkung seines Liedes, ein weiteres Mal, als er kurz nach Hans’ Wiederkehr den Liedtext verfasst. Dass er in diesem Moment Ilona, die die Suizidgefahr anspricht, mit der Aussage, er »tue das nicht, solange er sie habe«, eine untragbare Verantwortung zumutet, verschlechtert die Aussichten, die aufgrund der gesamtpolitischen Lage ohnehin schon miserabel sind. Lászlós Erklärung von András’ Suizid hebt vielmehr auf die Entwürdigung ab, die dieser erfährt. Ob er sich des Ausmaßes von András’ Eifersucht bewusst ist, erscheint fraglich. Der letzte, schon während der Vorbereitung unterbrochene Suizidversuch betrifft László selbst, der sich mithilfe des Gifts, das er András abgenommen und seither aufbewahrt hat, der drohenden Tötung durch die Nazis entziehen will. Er bezieht sich in seinem Abschiedsbrief an Ilona auf die nun angeblich »ganz deutliche Botschaft« des Liedes, nämlich, dass er sich »den letzten Kübel Jauche« ersparen solle. Dies gelingt ihm jedoch nicht. Ilona wird ihn ein gutes halbes Jahrhundert später zu den Klängen des Liedes rächen. Bei dieser Gelegenheit wird ihr Sohn es – öffentlich – für verflucht erklären. Seine Mutter summt die Melodie wenig später vor sich hin, während sie das Giftfläschchen ausspült. So wird das »Lied vom traurigen Sonntag« schließlich zu ihrem persönlichen Triumphlied.
Die legendenumwobene Geschichte des ungarischen »Selbstmörderlieds« Was hat es mit diesem ominösen Lied auf sich, dem hier eine derartige Wirkkraft zugeschrieben wird? »Szomorú Vasárnap«, in der deutschen Übersetzung »Einsamer Sonntag« und am verbreitetsten unter dem englischen Titel »Gloomy Sunday« ist quasi der Inbegriff des Selbstmörderlieds und wurde – oft unter dem Beinamen »Hungarian Suicide Song« – seit seinem Erscheinen Anfang der 1930er-Jahre viele Male interpretiert. Sowohl über seine Entstehungs- als auch seine Rezeptionsgeschichte finden sich zahllose widersprüchliche und eine Menge unbelegte Aussagen. Manche Behauptungen waren so bekannt, dass das Lied z. B. in Hal Morgans und Kerry Tuckers 1984 bei Penguin Books erschienenem Buch Rumor! schon auf den ersten Seiten prominent behandelt wird. Das dort angeführte Gerücht lautet »The song ›Gloomy Sunday‹, recorded by Paul Whiteman, was banned from radio broadcasts because it had triggered so many suicides (1936).«
und wird als »partly true«
bezeichnet. Das Lied sei im Zuge von Ermittlungen zum Tod eines Schuhmachers Joseph Keller im Jahr 1936 von der Budapester Polizei mit 18 Suiziden in Verbindung gebracht und daraufhin behördlich verboten worden. In den USA sei es dagegen nie auf einer »black list« gelandet. Auch zum Zeitpunkt und zu den Umständen der Entstehung des Liedes gibt es uneinheitliche Angaben. Fest steht aber, dass es um 1932 von dem Budapester Kaffeehauspianisten Reszö Seress kom-
Ein Lied von Liebe und Tod – Gloomy Sunday (1999)
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poniert und der Text »Szomorú Vasárnap« vom ebenfalls aus Budapest stammenden Journalisten und Schriftsteller László Jávor verfasst wurde. Letzterer soll den Text – so ein weiteres unbelegtes (und wohl unbelegbares) Gerücht – aus Liebeskummer geschrieben haben: Aus der Ich-Perspektive beschreibt ein offenbar von seiner Geliebten Verlassener die finstere Fantasie seines eigenen Todes. Die erste Einspielung auf Schallplatte sang der damals äußerst populäre Pál Kalmár. Sie wurde sehr erfolgreich und es folgten weitere Aufnahmen in verschiedenen Sprachen, u. a. vom »russischen Tangokönig« Pjotr Leschenko. Besondere Bekanntheit erlangte das Lied unter dem Titel »Gloomy Sunday« in der Version mit einem neuen Text von Sam M. Lewis aus dem Jahr 1936, der 1941 von Billie Holiday interpretiert wurde. Sie gilt als eine der berühmtesten Aufnahmen und wurde, laut Aussage eines BBC-Mitarbeiters und »belegt« durch eine Recherche auf der Website des Senders, von der BBC bis 2002 nicht gespielt (Stack et al. 2008, S. 352–353). Grund dafür sei, so eine an anderer Stelle gemachte und wiederum schwer verifizierbare Behauptung, dass sich eine Frau beim Anhören des Songs mit Barbituraten das Leben genommen habe (ebd.). Ein bemerkenswertes Faktum ist, dass die verschiedenen angeblichen Verbote und die angebliche suizidale Wirkung des Lieds vom Text unabhängig gewesen zu sein scheinen. Laut einem Aufsatz von Ágnes Patakfalvi (2017, S. 115–116) gibt es keine offiziellen Unterlagen, die beweisen, dass das Lied in Ungarn verboten worden ist, aber mindestens die rein instrumentale Version habe neben einigen anderen Fassungen »sicher« nicht gespielt werden dürfen. In den verschiedenen Textfassungen ist die Suizidfantasie unterschiedlich explizit. Während sie in Javórs Text nur angedeutet wird, ist sie in Sam M. Lewis bekannter Fassung zwar direkter formuliert, nimmt aber in der letzten Strophe eine positive Wendung: Der Tod der/des Geliebten entpuppt sich am Ende als ein schlechter Traum und auch die harmonischen Fortschreitungen sind an dieser Stelle weniger trüb. Für den Film Ein Lied von Liebe und Tod wurde eine eigene Textfassung geschrieben, die keine Liebesgeschichte andeutet, sondern »nur« das Gefühl von Einsamkeit thematisiert. Die »love story« wird ganz dem Film überlassen, der diesbezüglich übrigens von Nick Barkows Buchvorlage Das Lied vom traurigen Sonntag abweicht, in der die Figur Ilona nicht vorkommt. Obwohl dies sicher keine hinreichende Erklärung ist, gibt es doch auch musikalische Gründe dafür, dass das Lied als »Selbstmörderlied« prädestiniert erscheint. Die Tonart c-Moll wurde häufig mit Trauermusik assoziiert. Auch im 18. und 19. Jahrhundert, in denen man die Tonartencharakteristik trotz der temperierten Stimmung noch ernster nahm, galt c-Moll als besonders pathetisch und zum »Grabgesang« oder für Trauermärsche geeignet. Solche Charakterisierungen sollten indes nicht überbewertet werden, denn durch die Transposition in andere Molltonarten verliert das Stück ja nicht seine besonderen Eigenschaften (bspw. die Aufnahme von Billie Holiday steht in g-Moll). Wesentlich an dem – refrainlosen – Lied ist seine ausnehmend schlichte traurige Melodie. Die langsame Dauerschleife der sich vom Grundton c aufschwingenden und schon zur Strophenmitte wieder hinabsinkenden Wellenbewegung aus gleichförmig durchlaufenden Triolenketten entwickelt in seiner Repetitivität einen eigenartigen Sog nach unten, der durch die längeren Notenwerte am Strophenende noch verstärkt wird. Das Stück weist damit eine der Eigenschaften des von Erwin Ringel beschriebenen präsuizidalen Syndroms auf, die sogenannte »Einengung«. Diese macht sich insbesondere an der starken harmonischen Reduktion, der ständigen Wiederholung des Melodiebogens und der Einförmigkeit der Motive bemerkbar. Ein weiterer Aspekt der Einengung nach Ringel ist die »Einengung zwischenmenschlicher Beziehungen, die sich vor allem in der Vereinsamung ausdrückt« (Willms 1975, S. 40).
Diese wird, wie bereits geschildert, im Liedtext dargestellt. Ein gravierenderer Grund für die nach der Veröffentlichung des Liedes mit diesem in Zusammenhang gebrachten Suizide ist zweifellos die damals desaströse wirtschaftliche, politische und soziale
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Situation (siehe dazu u. a. Bruch, 1999). Zudem wies Ungarn und weist noch heute eine der höchsten Suizidraten der Welt auf. Diese Umstände werden im Film vergleichsweise zurückhaltend dargestellt.
In Würde sterben. Ein Blick auf Didos Lamento Dagegen greift der Film ein altes musikdramatisches Thema auf: den würdevollen Abgang. Eine entsprechende Deutung des Liedes formuliert László nach dem Tod András’ und vor seinem eigenen Suizidversuch. Der endgültigen Resignation, die ja gemeinhin als Schwäche, wenn nicht gar als moralisch verwerflich gilt, wird hier nicht nur Verständnis entgegengebracht, sondern es wird auch betont, dass der aufgebende Mensch deshalb nicht seine Würde verliert. Lászlós Deutung steht damit in der Tradition einer Reihe von Selbstmordarien der Operngeschichte. Ein herausragendes Beispiel dafür ist das Lamento »When I am Laid in Earth« aus Henry Purcells Dido and Aeneas aus dem Jahr 1689. Dido singt ihre finale Arie, nachdem Aeneas sie verlassen hat – ein für das Musikdrama einigermaßen typischer Fall eines Suizids aus Verzweiflung über das Verlassenwerden. Verglichen mit dem »Lied vom traurigen Sonntag« ist auch diese Arie relativ schlicht, getragen und traurig und die Melodie »zieht« nach unten – sinnbildlich ist u. a. die absteigende Figur auf das Wort »laid« und der tiefste Ton auf das Wort »earth« im ersten Abschnitt (»When I am laid in earth, may my wrongs create no trouble in thy breast« – vgl. auch »Weint doch nicht Freunde, denn endlich fühl’ ich mich leicht«). Einen musikalischen Kontrast dazu bildet die folgende Phrase
RR »Remember me, but – ah – forget my fate«. Während »remember me« den Höhepunkt markiert, steigt die Melodie anschließend zum »fate« hin wieder ab – jedoch nicht ganz so tief wie vorher zu »earth«. Dido holt mit diesem letzten Aufbäumen noch einmal aus, um ihren letzten Willen zu formulieren: sich an sie, die würdevolle Herrscherin von Karthago zu erinnern, aber bitte ihr unglückliches Schicksal, von einem Mann verlassen zu werden und damit letztlich auch ihr Volk zu verlassen, zu vergessen. In der Resignation Würde und Schönheit zu bewahren, wird in diesen beiden betrachteten Fällen mit Musik bewirkt. Das ist es, was László mit seiner Anmerkung
RR »Du hast ihnen den Abschied nur verschönt« andeutet. Dass das Lied am Ende auch Hans das Sterben »verschönt«, Ilona aber »zuletzt singt«, ist ein feiner ironischer Schlussgag, der dem Film seine Leichtigkeit zurückgibt.
Literatur Bruch M (1999) Gloomy Sunday – Hymne der Selbstmörder. Die Geschichte eines Liedes (Dokumentarfilm). WDR, Köln Patakfalvi Á (2017) »Gloomy Sunday«. The Hungarian »Suicide Hymn« between the Myths and Interpretations. In: Barna E, Tófalvy T (Hrsg) Made in Hungary. Studies in Popular Music. Routledge, New York, S 111–121 Stack S, Krysinska K, Lester D (2008) Gloomy sunday. Did the »Hungarian suicide song« really create a suicide epidemic? Omega 56(4):349–358 Willms H (1975) Die Bedeutung der Musik für den Suicid und die Suicidprophylaxe. Musik Medizin 6:39–41
Ein Lied von Liebe und Tod – Gloomy Sunday (1999)
Originaltitel
Ein Lied von Liebe und Tod – Gloomy Sunday
Erscheinungsjahr
1999
Land
Deutschland, Ungarn
Drehbuch
Ruth Thoma, Rolf Schübel
Regie
Rolf Schübel
Musik
Rezsö Seress, Detlef Friedrich Petersen
Hauptdarsteller
Joachim Król, Erika Marozsán, Stefano Dionisi, Ben Becker
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Gabriela Pap
Das leise Drama eines Unsichtbaren Handlung des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Der Traum und das böse Erwachen . . . . . . . . . . . . . . . 145 Die perfekte Politur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Rückblenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Charley und die Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Die Nachbarn und das Leben geht weiter . . . . . . . . . . . 149 Drei Schichten Politur und der Mensch dahinter . . . . . . . 150 Die Verführung und das mögliche Leben . . . . . . . . . . . 151 Letzte Vorkehrungen – alles unter Kontrolle . . . . . . . . . 151 Der missglückte Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Nochmals in das Leben eintauchen . . . . . . . . . . . . . . . 153 Alles wird ruhig – der Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Diskussion und abschließende Bemerkungen . . . . . . . . 155 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_11
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Filmplakat A Single Man. (© Senator Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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A Single Man (2009) Gabriela Pap
Handlung des Films Die Kamera begleitet George Falconer an seinem letzten Tag, in seiner Einsamkeit, und in der darauffolgenden Nacht einer beginnenden Verwandlung. George kann sich von seiner Trauer und seinem Schmerz nach dem Unfalltod seines Lebenspartners Jim anscheinend nicht mehr erholen und beschließt zu sterben. Der Verlust ist für George derart unerträglich geworden, dass er in seiner unaufgeregten englischen Art beschließt, an diesem Tag mit seinem Leben abzuschließen und dem Schmerz ein Ende zu setzen (Peters 2010). So leise und aufgeräumt, wie George selbst ist, folgt die Erzählung des Films in sanften Bildern in Rückblenden verschiedenen Stationen seines Lebens. Es sind Gedanken an Vergangenes, an Wendepunkte, die ihn in Träumen und Tagträumen begleiten. Wir sehen die Welt durch Georges Augen, die einen Einblick in seine Gefühlswelt und Psyche erlauben, und wir dürfen miterleben, wie seine Augen an diesem letzten Tag beginnen, die Welt anders wahrzunehmen. Ein außergewöhnliches Farbenspiel deutet darauf hin, dass eine gewisse Lebendigkeit in Georges Leben zurückkehrt, die totgeglaubte Gefühle zulässt. Neues taucht auf, als ein junger Student Georges Nähe sucht. Beide sind in ihren Identitäten erschüttert, zwei verlorene Seelen, die einander einen Anker bieten. Regisseur Tom Ford zeigt in seinem Filmdebüt eine fast perfekte Ästhetik und Eleganz, die einen Gegenpol zur inneren Schwärze und Verzweiflung bilden sollen. Der Film wirkt wie eine Aneinanderreihung wunderschöner, atemberaubender Bilder, wobei das Schöne manchmal auch das Hässliche in Szene setzt (. Abb. 11.1, Filmplakat). Der Inhalt orientiert sich eng am Roman von Christopher Isherwood »A Single Man« (Isherwood 2014), wobei ein gravierender Unterschied gegenüber der Vorlage vorhanden ist: Ein Revolver – der in der Romanvorlage fehlt – soll dem Leben ein Ende setzen. Dieser ist immer griffbereit und begleitet George durch den Tag, was als eine Art Prüfung, wann und wie er seinem Selbsttötungswunsch nachgeben wird, gesehen werden kann (Manohla 2009).
Der Traum und das böse Erwachen Der Film beginnt mit einem dieser ausdrucksstarken Bilder, die anscheinend einen Traum Georges darstellen: Er treibt im blauen Wasser wie eine Leiche. Das Bild suggeriert (Wieder‑)Geburt, aber gleichzeitig auch das fatale Untergehen. Wäre er eine Leiche, könnte er dem toten Geliebten nahe sein. Aber Leben kehrt in ihn zurück, Luftbläschen zeichnen sich ab, er beginnt sich zu bewegen. Dies führt unmittelbar, mit einem harten Filmschnitt gesetzt, zur nächsten Traumszene. Sie zeigt den verunglückten Jim, tot, aber schön und perfekt gekleidet, der neben seinem ebenfalls verunglückten Hund in der wunderschönen, fast märchenhaften, unberührten Winterlandschaft neben dem Auto liegt. George legt sich neben den toten Jim und spürt seine physische Nähe, die er im wachen und bewussten Leben so sehr vermisst (. Abb. 11.2). Vorsichtig neigt sich George über Jim und küsst ihn. Dieser Kuss, vielleicht der ersehnte letzte Abschiedskuss, die Lippen des Geliebten nochmals zu spüren, seinen Duft einzuatmen, führt schließlich dazu, dass der Traum endet.
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Das leise Drama eines Unsichtbaren
..Abb. 11.2 Der Albtraum von Jim’s Tod (© Senator Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Der eigentliche Schrecken beginnt nach dem Aufwachen: Trauer, Hilfslosigkeit, Wut, das Gefühl des Alleingelassen-Seins. Acht Monate währt dies nun schon, jeden Tag das Bemühen, eine Fassade zu schaffen, die ihn durch das Leben trägt. Jim dagegen begrüßte das Leben täglich aufs Neue mit Freude und widersprach damit Georges Mantra:
RR »Nur Narren begrüßen den Tag mit einem Lächeln.« Georges Reserviertheit und seine perfekte äußere Schale sind lange vor dem Unfassbaren zu charakteristischen Zügen geworden. Nach dem traumatischen Erlebnis handelt er folglich so, wie er bei psychischen Belastungen wahrscheinlich immer handeln würde: Ein innerer Rückzug findet statt, Wut und Enttäuschung werden gegen die eigene Person gerichtet, Selbstmordgedanken erscheinen als logische Folge. Einen Teil der Trauerarbeit hat George bereits geleistet, er träumt den Partner als Toten. In der unberührten und frisch verschneiten Landschaft liegt der verunglückte Lebenspartner, die Einsamkeit des Todes wird für den Zuschauer spürbar. Der tote Hund, den Jim so sehr geliebt hat, unterstreicht nochmals den Verlust, aber der zweite ist unauffindbar, in der Realität wie im Traum. Der verschwundene Hund könnte am Leben sein, etwas könnte gerettet worden sein und weiterleben. In aller Ruhe nähert sich George der Szene an und und hinterlässt frische Spuren im Schnee. Das perfekte Äußere soll möglicherweise das Hässliche, das George erlebt und fühlt, überdecken. Die perfekte Oberfläche bietet gleichzeitig Schutz, George fühlt sich geschützt und unantastbar, er bleibt der Unsichtbare. »Unsichtbar« ist, wie sich Jim und George in ihrem Leben als homosexuelles Paar fühlten. Jeder wusste von ihnen, aber keiner sah hin. Der Traum kann als eine Wunscherfüllung angesehen werden, George ist zumindest im Traum möglich, dem geliebten Menschen nahe zu sein. Sein Wunsch, sterben zu wollen, bezeichnet eine bestimmte Form der Suizidalität, die so genannte fusionäre Suizidalität, die im Dienste von Verschmelzungswünschen steht: dem Wunsch nach einem ruhigen, endlichen Schlaf in einer bergenden, gleichmäßig harmonischen Welt, um vereint mit der geliebten Person, die man verloren hat, zu sein (Kind 2011, S. 37). Der Wunsch nach Hingabe und Getragen-Werden ist im Element des Wassers verkörpert und wird durch die erste Traumsequenz nochmals unterstrichen (Kind 2011, S. 38).
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Der Traum zeigt, dass George nicht loslassen kann, er klebt an dem toten Geliebten und verliert immer mehr die Verbindung zu den anderen, sein Gemeinschaftsgefühl vermindert sich.
Die perfekte Politur Eine makellose, kontrollierte Fassade, die viele Schichten Politur braucht, ist Georges funktionsfähige Seite. Es dauert eine ganze Weile, bis »der perfekte George« erschaffen ist. Wenn er sich im Spiegel betrachtet, um die letzten Schichten der Politur nochmals zu überprüfen, blickt er sich nicht in die Augen, könnte er doch den Ausdruck eines Dilemmas entdecken, das er möglichst verdecken will:
RR »Bring ihn hinter dich, den gottverdammten Tag.« Doch die Fassade des »perfekten George« bekommt Risse. Seine Wut zeigt sich, als er das Toastbrot gefroren vorfindet. Diese ist eine der wenigen Szenen, in welchen der Zuschauer einen Einblick in das Ausmaß seiner Wut bekommt. Auf wen ist er wütend? Auf sich, auf Jim, auf die scheinheiligen Nachbarn, auf die scheinheilige Gesellschaft der Kleinstädte der USA in den frühen 1960er Jahren? Doch es bleibt bei einer kurzen Szene der ausagierten Aggression, das Gefühl wird schnell wieder hinter der perfekten Fassade versteckt.
Rückblenden Jim Zunächst führt George den Zuschauer mit Rückblenden zu den Anfängen des fast perfekten Lebens, das er mit Jim geführt hat. Jim überzeugte ihn, dass das Haus, in dem sie 16 Jahre als Paar gelebt haben, das perfekte Zuhause für sie beide wäre, obwohl es fast durchsichtig ist. Sie könnten sich ganz offen zeigen, denn niemand würde wirklich hinschauen und sie beide als homosexuelles Paar sehen:
RR »Wir sind unsichtbar.« Das perfekte Haus, das perfekte Auto, das perfekte Paar, das ein perfektes Leben führen könnte, und doch gibt es einen Makel: Ihre Liebe ist eine geächtete Liebe, eine minderwertige Liebe, wie sie die Gesellschaft nicht erlaubt und zu jener Zeit sogar gesetzlich verbietet. Die äußere Perfektion soll den Makel ausgleichen. Adler (2008) hat sich gefragt, wieso man ganz bestimmte Episoden aus dem Leben herauspickt, um sie in Erinnerung zu behalten. Diese Erinnerungen sind Schlüsselerlebnisse im Leben der Betroffenen, die über wichtige Ereignisse und die damit verbundenen Gefühle Auskunft geben. An diesen erinnerten Ereignissen kann man den Lebensstil der Person ablesen, d. h. wie sie zu den Aufgaben des Lebens Stellung nimmt. Diese ersten Erinnerungen Georges zeugen von jemandem, der zwar zaghaft, aber mit Jims Hilfe alle Lebensaufgaben (Liebe, Gemeinschaft und Beruf) gut lösen kann (Stephenson 2011). Die nächste Rückblende führt zu dem Abend, an dem ihn die Todesnachricht aus dem perfekten Leben reißt. Der Cousin des Geliebten überbringt ihm die Nachricht erst einen Tag nach dem tödlichen Unfall. Die Eltern des Toten wollten nicht wahrhaben, dass dieser schwul war. Deshalb war George für Jims Familie ebenfalls ein Unsichtbarer. Aus diesem Grund kann er der Beerdigung nicht beiwohnen, der letzte Abschied wird ihm verwehrt. Hastig fragt er noch nach den Hunden, und daran zeigt sich eine Wiederholung seiner Situation: Einer ist tot, der andere hat überlebt und streunt nun alleine durch die Wildnis im Winter.
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Das leise Drama eines Unsichtbaren
Auf das Telefonat folgen der erste Schock, Trauer, Stille und Sprachlosigkeit. Draußen regnet es heftig. Der Regen steht für die Tränen, die George vergießen möchte, er wird von seinen Gefühlen schließlich überflutet und sucht Trost und Schutz bei seiner langjährigen Freundin Charley. Ein traumatisches Ereignis reißt George aus seinem Leben. »Trauma ist ein unerträgliches Erlebnis, das die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten überschreitet, wobei die Relation von Ereignis und erlebtem Subjekt entscheidend ist, es ist ein Zusammenspiel von Innen- und Außenperspektive« (Fischer und Riedesser 2009, S. 63 f., Hervorhebung i. O.). Die traumatische Reaktion stellt eine Notfallreaktion dar. Die Betroffenen bemühen sich, die überwältigende, physisch wie auch psychisch existenzbedrohende und oft unverständliche Erfahrung in einem Wechselspiel von Zulassen der Erinnerung und kontrollierender Abwehr oder Kompensation zu begreifen (Fischer und Riedesser 2009, S. 65). Ein Trauma kann nicht alleine bewältigt werden, Traumabewältigung hat deshalb immer eine soziale Dimension (Fischer und Riedesser 2009, S. 65). Die soziale Dimension ist in Georges Fall dezimiert, er kann sich nur an Charley wenden, denn sie scheint die Einzige zu sein, die von der Beziehung zu Jim weiß. Sein Verlust bleibt von allen unbemerkt. George ist seinerseits sehr darum bemüht, sein Trauma nicht nach außen zu tragen, und legt immer wieder, jeden Tag aufs Neue, seine glatte, perfekte Fassade auf. Mit Jims Tod verliert George seinen Halt und seine Zugehörigkeit im Leben. Es ist der Verlust der Familie, Jim war seine Familie. Der Verlust wirkt umso stärker, als George die Tendenz hat, sich zu isolieren und den Toten nicht gehen zu lassen. Eine Fixierung auf Jim bedeutet, ihm treu zu bleiben bis über den Tod hinaus, und gleichzeitig macht diese Fixierung jede neue Bindung unmöglich. Was ihm geblieben ist, sind nur Hinweise auf Jim und das gemeinsame Leben mit ihm: das Haus, die Musik, die Erinnerungen an eine tiefe Vertrautheit, an Sätze und Gefühle, die nicht mehr sein können. All das hilft George, Zwiesprache mit Jim zu halten, doch zugleich spricht das ganze Haus davon, dass er nicht mehr da ist. Der Geliebte ist gleichzeitig anwesend und abwesend, seine Anwesenheit ist eine radikal andere als die physische Anwesenheit in der Vergangenheit. Man fragt sich, wie ist George so geworden, wie er uns im Film gezeigt wird? Weshalb hat er England verlassen, und was hat er in den USA erwartet? War seine Migration ebenfalls mit traumatischen Ereignissen verbunden? Eine Kumulation an Traumatisierungen kann zum Selbstmord bzw. zu Selbstmordgedanken führen (Ringel 2006, S. 157). Weitere Traumatisierungen verstärken bereits vorhandene Traumata und Neurosen. Adler (2012) spricht von der lebensstiltypischen Bewegung – der Melodie des Lebens, die eine unbewusste Haltung dem Leben und den Lebensaufgaben gegenüber durchsetzt, gespeist aus frühkindlichen Erfahrungen, die sich ganz besonders stark in schwierigen, herausfordernden Situationen zeigen. Diese seelischen Störungen tragen schließlich dazu bei, dass die Toleranzfähigkeit bei traumatischen Erfahrungen herabgesetzt ist, weshalb die traumatisierenden Erfahrungen zum Motiv für die Selbstmordhandlung werden (Ringel 2006, S. 177). Das Suchen nach einem Sinn für das eigene Weiterleben bereitet dagegen darauf vor, dass man den Verlust akzeptiert (Kast 2015, S. 77). Dieser Schritt gelingt George nicht, eine Neuorientierung findet nicht statt. Er sucht den Verstorbenen in allen Ecken seines Gedächtnisses. Jim ist aber nicht mehr real, er ist nur eine innere Figur, eine Erinnerung, ein Gedanke. Seine Präsenz ist geistig, aber nicht materiell. Ein neues Verhältnis zur Welt und zu sich selbst wäre notwendig, um sich wieder lebendig, eingebunden und dazugehörig zu fühlen. Stattdessen sucht er die Verschmelzung mit dem verlorenen Menschen, um den Verlust ungeschehen zu machen (Kast 2015, S. 137). Die Symbiose mit dem verstorbenen Partner lässt keine Veränderung zu, deshalb muss alles so bleiben, wie es war. Die Aufrechterhaltung der Fassade bringt vielleicht eine gewisse Erleichterung, ein Gefühl von Kontrolle über das Leben. Die eigenen Rituale behält er bei, aber es ist immer wieder eine schmerzvolle Wiederholung, die nur ins Leere laufen kann.
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Charley und die Vergangenheit Wieder zurück in die Gegenwart: Das Telefon läutet, Charley ruft an. George hebt zunächst nicht ab. Sein letzter Draht zur Außenwelt bedeutet ihm so gut wie nichts mehr, er isoliert sich immer mehr. Die menschliche Existenz ist durch eine Fülle gegebener Gestaltungs- und Entfaltungsmöglichkeiten charakterisiert. Doch im präsuizidalen Stadium erleben die Betroffenen eine Einengung dieser Möglichkeiten (Ringel 2006, S. 163 f.). Dieses Stadium scheint George erreicht zu haben. Obwohl Charley hartnäckig versucht, den Kontakt zu George aufrechtzuerhalten, ist sie nicht nahe genug an seinem emotionalen Zustand. Sie ist ebenfalls alleine und einsam, verlassen von Mann und Tochter. Sie sucht wahrscheinlich eher Halt bei George, als dass sie ihm Halt geben könnte. Charley ist seine älteste Freundin und Landsmännin. Sie beginnt ihren Tag ein paar Häuser weiter im Bett mit einem Gin-Cocktail. Sie wird von Julian Moore dargestellt, die ihr eine glamouröse Mischung aus Zerbrechlichkeit und Lebensgier verleiht (Leweke 2010). Die Lebensgier teilt George nicht mit ihr, die Zerbrechlichkeit ist aber beiden anzusehen. Charley lädt George für den Abend zum Essen ein, der halbherzig zusagt im Wissen, dass er schon etwas Anderes vorhat. Rechtzeitig vor dem Erscheinen der Haushälterin hat George die Abschiedsbriefe, die er davor in seiner perfekten Art fein säuberlich geordnet hat, in seinem Schreibtisch versteckt. Diese dürfte er am Vorabend vor dem Einschlafen geschrieben haben. Der Füller, den er am Morgen im Bett findet, ist ausgelaufen. Als er seinen Finger nach dem Aufwachen auf seine Lippen legt, schmiert er sich schwarze Tinte auf die Lippe, das dunkle Blut seiner Wunde, die unaufhörlich blutet. Er verlässt das Haus und fährt im Zeitlupentempo an der Nachbarsfamilie vorbei. Zuerst werden die Kinder sichtbar, die ihre aggressiven Gelüste ausleben. Die Mutter und der Vater, die sichtlich eine konflikthafte Ehe führen, winken freundlich. George weiß jedoch von ihrer Ablehnung. Die Fassade wird wieder in jeder Hinsicht gewahrt.
Die Nachbarn und das Leben geht weiter Hass gehört zur Trauer. Es ist der Hass darauf, dass andere überleben und weiterleben dürfen, während einem der geliebte Mensch entrissen wird. Seinen Hass projiziert George auf die Nachbarn, die seine Andersheit verleugnen. Gemeinsam mit Jim war das leichter zu ertragen. Jetzt nutzt er die Nachbarn als Kanal für seine Wutgefühle, seine Enttäuschung und Hilflosigkeit. Die Kinder, die das Neue, Lebendige und Triebhafte darstellen, sind die erste Projektionsfläche für eigene aggressive Impulse, in ihrem Spiel symbolisiert sich seine Wut. Die Nachbarn haben seit Jims Tod kein einziges Mal nach ihm gefragt. Normalerweise wird der Trauernde von der Umwelt anders behandelt. George aber nicht, denn kaum jemand kennt seinen Verlust. Die Außenwelt weiß nichts oder will nichts wissen. Seine Trauer wird von allen verleugnet wie seine Beziehung, als Jim noch lebte. George entfremdet sich ihnen immer mehr und erlebt die Welt, der er nicht mehr gewachsen ist, als feindlich. So kann sich ein Zirkel der Isolierung und der Weltentfremdung einstellen. Ein neues Weltverständnis kann nicht zustande kommen, eher stellen sich bei ihm paranoide Gedanken ein (Kast 2015, S. 21). Die damals normwidrige homosexuelle Liebe drängte die beiden in eine gewisse Isolation. Jetzt, da Jim diese Isolation mit ihm nicht mehr teilt, ist aus der »splendid isolation« ein unerträglicher Zustand geworden. Das Anders-Sein hat vielleicht Minderwertigkeitsgefühle in den beiden Hauptcharakteren ausgelöst, die durch die kleine Gemeinschaft, die sie miteinander eingegangen sind, kompensiert werden konnten. Nach Jims Tod gelingt George diese Kompensation nicht mehr, er fühlt sich außerhalb der Gemeinschaft. Es könnte durchaus sein, dass George diese Gefühle bereits durch die Migration kannte und sie jetzt verstärkt wieder hervortreten. Eine erzwungene Migration, die wahrscheinlich in einer Notwendigkeit
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gründet (dem Zweiten Weltkrieg, vielleicht auch aus einer Ahnung seines Anders-Seins als homosexuell liebender Mann), kann mit vielen Hoffnungen und Erwartungen, aber auch Ängsten verbunden sein. In der neuen Heimat erfährt George einen Verlust an Wissen und Ressourcen, den er durch Leistung und perfekte Anpassung zu kompensieren versucht. Nach dem traumatischen Ereignis findet eine erneute Migration statt: die Migration nach innen, zu einem Ort des seelischen Rückzugs (Steiner 1998). Die innere Migration kann als ein Versuch verstanden werden, innere Konflikte bzw. unerträgliche Realitäten abzuspalten und depressive Ängste fernzuhalten (White 2018). George gelingt es nicht, wieder zu einem einheitlichen Erleben seiner selbst zu kommen, er fühlt sich aus der gegenwärtigen Welt ausgestoßen und beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Vergangenen.
Drei Schichten Politur und der Mensch dahinter Während George an der Universität ankommt, hört man im Hintergrund Nachrichten über die Kubakrise. George scheint alleine gegen den Strom der Schüler und Lehrpersonen zu gehen. Er ist auch hier anders, seine Isolation, die er mittlerweile selbst antreibt, wird greifbar. Der Kollege, der sich Sorgen um ihm macht und im nächsten Satz von der atomaren Bedrohung spricht, ist nicht in der Lage, Georges Gefühlswelt zu erahnen. Jeder ist viel zu sehr mit den eigenen subjektiven Ängsten beschäftigt und merkt nichts von Georges innerer Not.
RR »Eine Welt, in der es keine Zeit für Gefühle gibt, ist eine Welt, in der ich nicht leben will.« Hier deutet sich der nächste Abschied an. Seine Isolation scheint nicht nur aufgrund der Tatsache zu bestehen, dass er homosexuell ist. Er kann die amerikanische Hysterie und die Lösungsansätze gegenüber den politischen Bedrohungen der damaligen Zeit nicht nachvollziehen. Seine Geschichte ist die Geschichte eines Migranten aus einer anderen Kultur, die er durch sein perfektes Auftreten zu überdecken versucht. Seine maßgeschneiderten Anzüge, das makellos weiße Hemd mit der perfekt gebundenen Krawatte und den polierten Schuhen sind das Ergebnis einer mustergültigen Anpassungsleistung eines homosexuellen, immigrierten Akademikers der 1960er Jahre (Peters 2010). George hält nun eine Vorlesung über Aldous Huxleys »Nach vielen Sommern« und erzählt etwas von der »Angst vor dem Unbekannten« und »unsichtbaren Minderheiten«. Es scheint, als ob George seine Fassade ein wenig bröckeln lassen möchte, aber kaum jemand hört ihm zu. Nur Kenny, ein junger Student (gespielt von Nicholas Hoult), beobachtet George genau und versucht, ihm nahezukommen. Kenny scheint mit seiner (sexuellen) Identitätsbildung beschäftigt zu sein. Die Gefahr, so führt George aus, kommt nicht, wenn überhaupt, vom Weltgeschehen, sondern liegt in den Hüften von Elvis. Ist die Leidenschaft das wirklich Gefährliche? Die Leidenschaft der anders Liebenden scheint für den amerikanischen Traum gefährlicher zu sein als die atomare Bedrohung. Sein Status als Angehöriger einer Minderheit, als Homosexueller, Immigrant, Geisteswissenschaftler ist in vielerlei Hinsicht eine Bedrohung für die amerikanische Gesellschaft. Er gehört einer Minderheit an, von der sich die Mehrheit bedroht fühlt, in ähnlicher Weise, wie sich die USA von dem kleinen karibischen Staat Kuba bedroht fühlen. Dahinter könnte eine viel größere Macht stehen – im Fall Kubas die Sowjetunion –, die das bestehende System untergräbt und schließlich zerstört. Der auftauchenden Leidenschaft kann man sich kaum entziehen, und so erlebt George in Gegenwart von Kenny ein neues kleines Feuer, das entfacht wurde und sich kaum noch löschen lässt. Der junge verführerische Student stellt ihm nach, stellt ihm persönliche Fragen und spricht eine Einladung aus. Hier taucht jemand auf, der den Menschen George hinter der Fassade entdecken möchte.
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Die Verführung und das mögliche Leben Erneut setzt sich George ins Auto, und bevor er losfährt, greift er in seiner Tasche nach der Waffe. Da taucht der junge Verführer wieder auf. Er ist der Einzige, der gemerkt hat, dass George sein Büro leergeräumt hat. Ist er der Einzige, der sensibel genug ist, die Zeichen zu lesen, die George auf seine zurückhaltende und subtile Art und Weise zu setzen versucht? Ist er näher dran, weil auch er ein Unsichtbarer ist? Kenny erkennt etwas, das allen anderen entgeht: George könnte einen Freund brauchen.
Letzte Vorkehrungen – alles unter Kontrolle Aber George folgt seinem Plan, rückt die Fassade zurecht, und erledigt, was zu erledigen ist. Er möchte die Kontrolle über seinen Tod und was danach geschieht behalten. Er geht zur Bank, um seine Schätze zu bergen. Sein Schließfach beherbergt seinen wertvollsten Besitz: ein paar Versicherungspolizzen, den Ehering seiner Mutter, den er sich ansteckt, und das Foto, das Jim nackt zeigt. Das Wertvolle sind anscheinend nicht vordergründig die materiellen Werte, sondern Erinnerungsstücke an Menschen und Beziehungen. Die Fotografie führt zu einer Rückblende: die nackten, rauen Felsen und das liebende homosexuelle Paar. Die nackten Felsen und Jims Nacktheit zeigen die nackte Wahrheit. Jim wusste schon immer, dass er Männer mag, George nicht. Diese Selbstsicherheit hat George bewundert, ihm emotionale Sicherheit gegeben, die er plötzlich verloren hat und in sich nicht wiederfinden kann, er scheint im Meer der Realität zu ertrinken, weil er in sich keinen Halt finden kann. Aus der sehnsuchtsvollen Erinnerung schreckt er auf, als plötzlich das Nachbarsmädchen vor ihm steht. Das Mädchen könnte seine Waffe sehen, die in der offenen Tasche gut sichtbar ist, aber wieder scheint sich die Situation zu wiederholen: Niemand interessiert sich für ihn. Das Mädchen ist mit seinem Skorpion beschäftigt, den es in einem Gurkenglas mit sich herumträgt. Der Skorpion wird jeden Tag gefüttert. Die Spinne, die bereits zu Futter degradiert ist, ist im Gurkenglas als Opfer gefangen, ähnlich wie George in seiner Isolation. Der nächste geplante Schritt folgt. George besorgt Patronen für seinen Revolver. Das Ungeplante folgt danach. George kauft Gin für Charleys Party und wird vor dem Schnapsladen von einem jungen, verführerischen Spanier angesprochen. Diese Begegnung findet vor einem riesigen Plakat von Hitchcocks »Psycho« statt. Zunächst ist alles in Blau getüncht und wird am Ende der Szene in Rot gefärbt sein, der Farbe plötzlich auftauchender sexueller Regungen und der Liebesfähigkeit. Doch beide Akteure, George und Carlos, scheinen äußerst kühl und kontrolliert zu sein, nicht die kleinste Regung ihrer Mimik und Gestik verrät etwas über den sexuellen Inhalt ihrer Begegnung. Die Lust erwacht, und George öffnet sich ein wenig (. Abb. 11.3). Der junge Spanier, der an James Dean erinnert, spricht »seine« Sprache. Die jungen Unsichtbaren – und nur die! – erkennen ihn. Sie sind voller Leben und Leidenschaft, können es aber nicht offen ausleben. Er lässt sich ein wenig von Carlos verführen. Wie auch bei Kenny, berührt ihn Carlos’ Interesse. Die Augen und die Sinne der jungen Männer sind noch geschärft, sie müssen keine Fassaden aufbauen und erhalten, während Georges Fassade durch die aufkommenden Gefühle nun nach und nach Risse bekommt. Carlos kann nicht verstehen, wie ein Mann in Georges Situation so unglücklich sein kann. Der Blick von außen berichtigt ein wenig Georges verzerrte Wahrnehmung. Er kann diese Korrektur annehmen, weil diese von jemandem kommt, der ihm ähnlich ist: einem Immigranten, der in der neuen Welt sein Glück sucht und zu den Unsichtbaren gehört. Carlos hat noch Hoffnung auf das kommende Glück, das von einem Vermächtnis seiner Mutter genährt und aufrechterhalten wird:
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..Abb. 11.3 George lässt sich auf Carlos ein (© Senator Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
RR »Liebe ist wie ein Bus. Da muss man nur warten, bis der nächste kommt.«
Der missglückte Versuch Zuhause angekommen wird er von der Nachbarin zu einer Party eingeladen. Er lehnt ab und will nun seinen Plan weiterverfolgen, er will sich erschießen. Es ist zehn Minuten vor sieben Uhr. Die Schallplatte, die er auflegt, lässt eine weitere Erinnerung hochkommen. Er sitzt mit Jim auf der Couch. Zwei so unterschiedliche Welten, die doch so gut miteinander können. Eine Szene, die vom Leben für den Augenblick erzählt, eine wunderschöne Szene von tiefer Intimität und gleichzeitig so alltäglich und gewöhnlich. Georges letzte Vorbereitungen sollen die ersehnte Ruhe nach dem Sturm bringen. Die Auseinandersetzung mit dem Suizid ist ins Ich bereits integriert (Kind 2011, S. 182 f., Baumgartner 2017). Die Ruhe nach dem Sturm kann als die Loslösung von allen anderen Bezugspersonen verstanden werden. Individualpsychologisch betrachtet bedeutet diese Veränderung einen Verlust des Gemeinschaftsgefühls. Als Jim noch lebte, gab es eine sehr intime Gemeinschaft, in der sich George gänzlich aufgehoben fühlte. Ohne Jim verkommt sein Leben zu einer Wüstenlandschaft und einer Tour de Force ohne Aussicht auf Veränderung. Sein von ihm ausgesuchtes Suizidmittel, eine Pistole, lässt eine starke Aggression vermuten, die er nun gegen sich wenden will. Die Aggression, die Wut, die Enttäuschung gelten aber den anderen – vielleicht Jim, der gestorben ist und ihn verlassen hat, der Gesellschaft, die eine homosexuelle Liebe nicht annehmen kann, den Nachbarn, die ihre Ehe noch weiterführen können, obwohl sie eine Farce ist. Das alles konnte er nicht beeinflussen, nicht kontrollieren. Nun versucht er die Kontrolle an sich zu reißen, eine fiktionale Kompensation seiner Minderwertigkeit (Rieken 2011a).
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..Abb. 11.4 George und Charley feiern Neujahr. (© Senator Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Er bereitet das Outfit für sein Begräbnis vor. Da ist sie wieder, die perfekte Politur, die über Schönheit und Ästhetik bis über den Tod hinauswirken soll. Alles ist geplant, bestens vorbereitet, alles liegt perfekt bereit, und doch entgleitet ihm die Kontrolle. Das Ich hat vor dem Suizidimpuls (noch) Angst, vielleicht, weil Kenny und der verführerische junge Spanier etwas in ihm ausgelöst haben, das George noch nicht bewusst fassen kann. Der Selbstmordversuch gerät zu einem lächerlichen Unterfangen. Er ist darauf bedacht, nichts zu beschmutzen, was unmöglich ist, wenn die Tatwaffe eine Pistole sein soll. Die Aggression darf zum wiederholten Mal nicht hinaus. Die Wendung der aggressiven Impulse gegen sich selbst ist nicht vollkommen erreicht. Er lässt sich doch noch von Charley »stören« und beschließt, ihrer Einladung zu folgen. Es ist der letzte Tag des Jahres, und für George soll es der letzte Tag seines Lebens werden. Der Abend mit Charley beginnt als ein Abend unter alten Freunden, entwickelt sich jedoch zu einer bedrückenden Atmosphäre der Einsamkeit (. Abb. 11.4). Charley kann George emotional nur bedingt erreichen, und der Faden zwischen den beiden scheint zu reißen, als sie seine Beziehung zu Jim infrage stellt. George wird wütend. Erstmals kann er Emotionen in Anwesenheit anderer herauslassen, VerletztSein, Schmerz, Wut und Selbstmitleid kommen hervor. Charley ihrerseits ist unkontrolliert, zeigt offen ihre Zuneigung und damit auch ihre Abhängigkeit. Die Liebe, die sie für ihn empfindet, hat nie aufgehört. Das ist vielleicht das Gemeinsame zwischen den beiden: eine Liebe, die nicht gelebt werden kann. Als er seinen Neujahrsvorsatz äußert, die Vergangenheit für immer und ganz konsequent loszulassen, hofft er vielleicht insgeheim, dass Charley verstehen könnte, wie radikal sein Vorsatz gemeint ist. Doch auch die lange Freundschaft der beiden reicht nicht aus, um den Hinweis in seiner ganzen Bedeutung zu erfassen. Charley ist viel zu sehr mit sich und ihrer Einsamkeit beschäftigt.
Nochmals in das Leben eintauchen Zuhause angekommen taucht die nächste Erinnerung an Jim auf: das Kennenlernen in einem überfüllten Lokal. Die Entscheidung stand für beide schnell fest:
RR »Ich bin vergeben.« George macht sich erneut auf den Weg, diesmal zum Ort ihrer ersten Begegnung, der Strandbar. Spontaneität entsteht, die Kontrolle weicht dem Leben. Als Kenny dort überraschend auftaucht und ihm
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anscheinend unbemerkt durch den Abend gefolgt ist, wird seine Ahnung bestärkt, dass seine Sicht der Welt aufgrund seiner tendenziösen Apperzeption verzerrt ist. In der Begegnung mit Kenny kann George seine starre Lebensbewegung lockern. Die Irritation, dass dieser junge Mann an ihm und seinem Leben als Mensch Interesse zeigt, ist ihm klar anzumerken. Die Begegnungen mit Kenny fühlen sich radikal anders an als die Begegnungen mit Charley. George macht sein Herz einen Spalt weit auf, und der Junge kann bedeutsam werden. Ob Kenny tatsächlich als der wahrgenommen wird, der er wirklich ist, ist jedoch fraglich. Vielleicht sieht George in Kenny den jungen Jim, der so selbstsicher in jene Bar, in der er jetzt dem Jungen wieder begegnet, kam und bereits nach kürzester Zeit wusste: George und er sind das, wonach er sich gesehnt hat. Sind die auftauchenden Gefühle dem Jungen gegenüber nichts Anderes als Übertragungsliebe (Rieken 2011b)? Vielleicht ist der junge Student auch eine geeignete Projektionsfläche seines Selbst als junger Mann. Der Junge spricht von Einsamkeit und Isolation und fühlt sich George verbunden. Das erinnert George an seine Verbundenheit mit Jim:
RR »Das einzige Wertvolle waren die innigen Momente, sich eng verbunden fühlen mit dem einzigen Menschen.« Impulsivität hat nun Platz, und Kenny kann den unbekümmerten und spielerischen Anteil in George hervorrufen. Sie springen gemeinsam ins Meer, nackt und übermütig wie damals, als er mit Jim den Sprung in ein Meer aus Gefühlen gewagt hat. Der Junge ist wie Jim von damals, nochmals könnte George erleben, was wunderschön angefangen und so tragisch geendet hat. Das fühlt sich gut an und ist deshalb verführerisch, doch dahinter lauert die Angst. Eine Welle reißt ihn mit, er geht unter und wird verletzt. Das Untergehen symbolisiert das emotionale Geschehen: sich auf jemanden einlassen und sich verletzlich zeigen. Kenny kümmert sich liebevoll um George. Dessen Vertrauen ist spätestens gewonnen, als Kenny zu ihm sagt:
RR »Wir sind unsichtbar.« Es gibt wieder einen perfekten jungen Mann im perfekten Haus. Der Junge entdeckt Jims Nacktfoto im Bad, die Tatwaffe und damit Georges Geheimnisse. Die Zeit bleibt erneut stehen. Die beiden tauchen in eine andere Welt ein. Eine zaghafte Annäherung wird möglich, und sie fühlt sich für beide wohltuend, aufregend, aber auch verunsichernd an. George wehrt seine Sehnsüchte ab, sagt zu sich: »Erbärmlich«. Er meint aufgeben zu müssen, denn nochmals so einem Menschen zu begegnen, wie Jim einer war, scheint für ihn nicht vorstellbar. Sollte er sich auf jemanden Neuen einlassen und sein Leben weiterleben, würde das einer Entwertung der Beziehung zu Jim gleichkommen. Vielleicht aber sucht er einfach nur nach einer Person, die ihm eine Existenzberechtigung verleiht (Kind 2011, S. 95). Ein Leben ohne die Gewissheit, dass man von jemandem geliebt wird, so wie man ist, scheint ihm kein lebenswertes Leben zu sein. »Niemand gibt das Leben auf, der nicht die Hoffnung auf Liebe aufgeben musste« (Sadger 1929, S. 423). Hat George diese Person in dem jungen Studenten gefunden, der ihn verführen will, der ihm nahekommen will, der sich für ihn interessiert?
Alles wird ruhig – der Abschied Die nächste Szene knüpft an der Anfangsszene an: Georges Treiben im Wasser. Diesmal ist jedoch alles rot und bewegt – als ob er versuchen würde, nach oben zu kommen, sich retten zu wollen. Die Lebensgeister sind aufgetaut, und er spürt wieder andere als die sich wiederholenden Gefühle der Trauer und Einsamkeit.
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Der Junge schläft auf der Couch – George lächelt –, der Junge hat die Pistole, die George wegnimmt und wegsperrt. Damit scheint der Suizid abgewendet zu sein. War das das Notwendige, um einen Suizid zu verhindern: hinschauen, fragen, interessiert sein, über Grenzen gehen und in emotionalen Kontakt treten? Rettet hier eine neue mögliche Liebe die Hoffnungslosigkeit? Gelingt so das endgültige Loslassen? Der Tod scheint jedoch unabwendbar zu sein, er wird von einer Eule, die hier als Unheilsbotin fungiert, angekündigt. Nichts ist unter Kontrolle, das Leben ist sehr zerbrechlich und unberechenbar. Ein Herzinfarkt setzt Georges Leben ein Ende. Schöner hätte es nicht mehr werden können. Die Zeit bleibt stehen, und ein letzter Traum wird gezeigt: Jim küsst George zum Abschied. George sprach von Momenten der absoluten Klarheit, in der die Stille die Welt erfüllt, doch diese Momente kann er nicht halten, es sind flüchtige Momente. Gerade jetzt ist alles genauso, wie es sein sollte, und das ist einer dieser Momente. Es folgt der letzte Atemzug. George ist tot, das Leben hat sich verabschiedet. Es kommt doch alles ganz anders als gewollt, wir haben es nicht in der Hand. Das Leben ist zurückgekehrt, aber der Moment des Lebendigen war kurz. Er stirbt am gebrochenen Herzen, er kann den Geliebten nicht loslassen, es darf niemand danach bzw. dazwischenkommen. Die neuen kurz entflammten liebevollen Gefühle, die sich in der Beziehung zu Kenny gezeigt haben, sind vielleicht zu gefährlich. Sie aktivieren nicht nur seinen Lebenswillen, sondern auch seine Verlustängste.
Diskussion und abschließende Bemerkungen Der Film zeigt eine Wandlung der Ausgangslage. Der Zuschauer wird in diese Entwicklung, die den bewegenden Kern des Films ausmacht, einbezogen. Anfangs sieht man einen verzweifelten, einsamen George, der sich mit viel Mühe durch das Leben kämpft und den schwersten Verlust seines Lebens nicht verkraften kann. Gegen Ende des Films verwandelt sich George, etwas Leben kehrt zu ihm und in ihn zurück, das Begehren flammt wieder auf. Es scheint wieder Licht am Ende des Tunnels zu sein, und man erkennt den lebendigen, begehrenden und lebenswilligen George. Aber schlussendlich siegt der im letzten Gedanken auftauchende Wunsch nach der Wiedervereinigung mit dem Geliebten, dessen Bild in seiner ganzen Perfektion bereits bis hin zur mythologischen Überhöhung idealisiert erscheint. Nun im Tod, vor der finalen Erstarrung, im allerletzten Refugium vor dieser Welt, sollte es zu einer letzten und damit ewigen Begegnung mit dem Geliebten kommen. George hat einen extremen Kontrollverlust über sein Leben durch den Unfalltod des Geliebten erlebt. Um ein traumatisches Ereignis so zu verändern, dass ein Neubeginn möglich ist, sind u. a. Schuldanerkennung, Wiedergutmachung, aber auch Fragen von Sühne und Strafe von Bedeutung (Fischer und Riedesser 2009, S. 77). In der Geschichte handelt es sich um einen tödlichen Unfall, daran hatte niemand direkt Schuld, es war eine Laune des Schicksals. Gefühle von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe führen zu einer dauerhaften Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis (Fischer und Riedesser 2009, S. 84). Georges Umgang mit dieser Erschütterung zeigt sich darin, dass er den Tod des geliebten Menschen ungeschehen machen möchte, das wiederum von einer unbewussten Größenfantasie zeugt. Die Unerfüllbarkeit dieses Wunsches ist ihm allzu schmerzlich bewusst. Seine Selbstmordfantasien sind eine (Über‑)Kompensation seiner Ohnmachts- und Minderwertigkeitsgefühle, die er mit einer anderen Größenidee zu stillen versucht: Wenn er schon dem Toten das Leben nicht wiederschenken kann, dann löscht er sein eigenes aus. Es ist eine stürmische Überkompensation, in der er sich über die Natur stellt, menschliche Grenzen überschreitet und zum Herrn über Leben und Tod wird (Adler 2007a, S. 119). Die perfekten Bilder und Szenen unterstreichen nochmals Georges Mühe, seinen toten Geliebten loszulassen. Jim und die Beziehung werden idealisiert, und an dieses Ideal kann das reale Leben nur
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schwer herankommen, deshalb ist vielleicht der einzig logische Ausgang der Tod, der die Aufrechterhaltung des Mythos der perfekten Beziehung und des perfekten Geliebten ermöglicht. Eine radikale Veränderung ist mit dem Auftauchen Kennys möglich – ein Dreh- und Angelpunkt des Films. Der Blick des Jungen erweckt einen totgeglaubten Anteil Georges wieder zum Leben, und Risse in der perfekten Fassade werden sichtbar. George gelingt es, diesen Blick aufzufangen und sogar zu erwidern. Indem er dies zulässt, kann es zu einer Wendung vom Leiden ins Tun kommen, George kann sich aus der Opferrolle herausschälen und ein Stück weit aus der Erstarrung lösen. Dieses Auftauchen der Gefühle bringt ihn zurück zu Erinnerungen an sein früheres Ich, das erfüllt war von Liebe, Zufriedenheit, Begehren, das aber auch Angst und Aggression kannte, die ganze Klaviatur an Gefühlen, die ein gesunder Mensch beherrscht. Nach und nach entdeckt George seine verloren geglaubte Liebesfähigkeit, aber seine Angst vor einer neuerlichen Bindung, die zur Voraussetzung hätte, das verlorene Objekt loszulassen, stellt ihn vor eine schwierige, widersprüchlich-konflikthafte Situation. Diese wird auf psychosomatische Weise gelöst, ein Herzinfarkt setzt seinem Leben ein Ende (Adler 2007b, S. 54). Damit kann die Bindung an Jim aufrechterhalten bleiben, und eine bewusste Entscheidung für oder gegen eine neue Bindung wird obsolet. Der Herzinfarkt scheint sich bereits am Anfang des Tages anzukündigen, sein Herz ist bereits geschwächt. Adler (2007c) spricht in diesem Zusammenhang von Organdialekt (Sindelar 2011). Das Psychische, das nicht bewusstgemacht werden kann, zeigt sich durch die organische Schwächung. Die Organwahl Herz ist der Ausdruck des Unbewussten inneren Konflikts und hat symbolische Bedeutung. Es ist der Ausdruck der inneren Zustände, Haltungen und Affekte in einer körperlichen Metapher und Fiktion (Adler 2007c, S. 251). Eine gewaltsame Art des Selbstmords ist für George nicht machbar, die Pistole würde die Schönheit und das Ideal zerstören. Der Herzinfarkt ist etwas, das im Inneren passiert, am Organ, das ein Symbol für die Liebe und Liebesfähigkeit ist. Sogar über seinen Tod hinaus handelt er seinem Lebensstil entsprechend. Indem er sich äußerlich nicht zerstört und in der filmischen Arbeit malerisch neben seinem Bett liegen bleibt, erfüllt sich sein Lebensstil des perfekten Unsichtbaren sogar über seinen Tod hinaus.
Literatur Adler A (2007a) Über den Selbstmord, insbesondere den Schülerselbstmord. In: Bruder-Bezzel A (Hrsg) Persönlichkeit und neurotische Entwicklung. Frühe Schriften (1904–1912). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S 114–121 Adler A (2007b) Die Theorie der Organminderwertigkeit und ihre Bedeutung für Philosophie und Psychologie. In: BruderBezzel A (Hrsg) Persönlichkeit und neurotische Entwicklung. Frühe Schriften (1904–1912). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S 51–63 Adler A (2007c) Organdialekt. In: v Bruder-Bezzel A (Hrsg) Persönlichkeit und neurotische Entwicklung. Frühe Schriften (1904–1912). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S 250–259 Adler A (2008) Über den nervösen Charakter. Studienausgabe. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Adler A (2012) Understanding life. An introduction to the psychology of Alfred Adler. Oneworld Publications, Oxford Baumgartner M (2017) Suizidalität in der analytischen Behandlung von Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen. Zeitschrift Für Individ 42:32–47 Fischer G, Riedesser P (2009) Lehrbuch der Psychotraumatologie. Ernst Reinhardt, München Isherwood C (2014) A Single Man. Hoffmann und Campe, Hamburg Kast V (2015) Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Kreuz Verlag, Freiburg im Breisgau Kind J (2011): Suizidal. Die Psychoökonomie einer Suche. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen Leweke A (2010) A Single Man. Krawatte auf dem Klo. In: Die Zeit, abgerufen am 16. Apr. 2019 Manohla D (2009) A Love That Speaks Its Name: A College Professor’s Fateful Day. Veröffentlicht am 10. Dez. 2009 In New York Times, abgerufen am 16. Apr. 2019 Peters H (2010) Tom Fords Debüt – der lange Tag des Selbstmords. In: Die Welt, abgerufen am 14. Apr. 2019 Rieken B (2011a) Das Minderwertigkeitsgefühl und seine Kompensation; Wirk- und Zielursache, Fiktionalismus. In: Rieken B, Sindelar B, Stephenson T (Hrsg) Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis. Psychotherapie, Pädagogik, Gesellschaft. Springer, Wien, S 55–64
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Rieken B (2011b) »Übertragung« und »Gegenübertragung«. In: Rieken B, Sindelar B, Stephenson T (Hrsg) Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis. Psychotherapie, Pädagogik, Gesellschaft. Springer, Wien, S 203–208 Ringel E (2006) Selbstschädigung durch Neurose. Verlag Dietmar Klotz, Eschborn bei Frankfurt/Main Sadger J (1929) Ein Beitrag zum Problem des Selbstmordes. Z Psychoanal Pädag 3:423–426 Sindelar B (2011) Psychosomatik. In: Rieken B, Sindelar B, Stephenson T (Hrsg) Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis. Psychotherapie, Pädagogik, Gesellschaft. Springer, Wien, S 307–314 Steiner J (1998) Orte des seelischen Rückzugs. Klett-Cotta, Stuttgart Stephenson T (2011) Lebensstil, Lebensstilanalyse und tendenziöse Apperzeption. In: Rieken B, Sindelar B, Stephenson T (Hrsg) Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis. Psychotherapie, Pädagogik, Gesellschaft. Springer, Wien, S 64–71 White K (2018) Die Bedeutung der Trauer bei der Psychoanalyse von Menschen mit Migrationserfahrungen. Z Individ 43:176–190
Originaltitel
A Single Man
Erscheinungsjahr
2009
Land
USA
Drehbuch
Tom Ford, David Scearce
Regie
Tom Ford
Hauptdarsteller
Colin Firth, Julianne Moore, Nicholas Hoult, Mathew Goode
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Nina Arbesser-Rastburg
Grün ist nicht das neue Schwarz Eine einfache Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Ein Blick auf Veronikas Suizidalität und ihre künstlerischen »Eltern« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Wozu sich töten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Vulgär-individualistische Suizidalitätstherapie . . . . . . . . 168 Wozu leben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_12
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Filmplakat Veronika beschließt zu sterben. (© Capelight Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Veronika beschließt zu sterben (2009) Nina Arbesser-Rastburg
Eine einfache Geschichte Paulo Coelhos Bücher strotzen nur so von Lebensweisheiten und Dialogen, die filmische Adaption seines Bestsellers Veronika beschließt zu sterben kommt zwar nicht ganz ohne sie aus, jedoch beeindruckt der Film vor allem durch seine Simplizität. Statt Special Effects trifft man auf eine einfache Kameraführung und statt üppiger Dialoge wird das meiste szenisch dargestellt, um die einfache Botschaft einer einfachen Geschichte zu vermitteln. Eine Geschichte, die im Folgenden umrissen wird, um sodann den Verlauf der Suizidalität der Protagonisten aus individualpsychologischer Perspektive zu beleuchten.
Handlung Ein Monolog Veronika Deklavas (Sarah Michelle Gellar) bildet den Auftakt zu Veronika beschließt zu sterben. Er gewährt wertvolle Einblicke in das Innenleben Veronikas, welche sich, wie auch die meisten anderen Figuren, den Rest des Films eher wortkarg zeigt (. Abb. 12.1, Filmplakat).
RR »Überlegen wir mal. Nachdem ihr entschieden habt, dass ich depressiv bin oder was auch immer, setzt ihr mich auf Medikamente, nicht wahr? Ich kenne hunderte von Leuten, die so was nehmen, und denen geht’s gut. Tatsache. Mit meinen neuen Antidepressiva gehe ich dann wieder zur Arbeit. Ich treffe mich mit meinen Eltern zum Essen und mache ihnen klar, dass ich ganz die Veronika bin, die ihnen nie Ärger gemacht hat. Eines Tages wird mich irgendein Mann fragen, ob ich ihn heiraten will. Er wird ganz nett sein, und meine Eltern werden sich freuen. Im ersten Jahr werden wir ständig miteinander schlafen, aber im zweiten und dritten Jahr wird das immer mehr nachlassen. Wenn wir uns dann langsam satthaben, werde ich schwanger. Die Sorge um die Kinder, um unsere Jobs und den Hauskredit wird uns eine Weile auf Kurs halten. Nach vielleicht zehn Jahren hat er dann eine Affäre, weil ich immer zu beschäftigt und zu müde bin. Ich werde es merken. Ich werde drohen, ihn umzubringen, seine Geliebte, mich selbst. Wir kommen darüber hinweg. Ein paar Jahre später hat er dann wieder eine. Und dieses Mal werde ich so tun, als wüsste ich von nichts, weil ich dann keine Lust mehr auf den Ärger habe. Und ich, ich werde einfach so weitermachen und mir manchmal wünschen, dass meine Kinder das Leben führen könnten, das ich nie hatte. Aber manchmal werde ich auch insgeheim froh darüber sein, dass sie zu Abbildern von mir werden. Es geht mir gut. Ehrlich.« (00:03:00) Anschließend arrangiert die junge, hübsche Veronika minutiös ihren Selbstmord. Sorgfältig legt sie in ihrer makellos aufgeräumten Wohnung in New York verschiedenste Pillen sowie ein Glas voll mit Spirituose auf dem Tisch bereit, um sie kontrolliert, eine nach der anderen, zusammen mit dem Alkohol herunterzuschlucken. Danach beginnt sie, bereits sichtlich beeinträchtigt und unter Schmerzen,
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Grün ist nicht das neue Schwarz
..Abb. 12.2 Veronika nach ihrer Einlieferung in Villette. (© Capelight Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Zeilen an ihre Eltern zu verfassen, in denen sie ihnen mitteilt, dass das alles nicht ihre Schuld sei. Diese löscht sie allerdings postwendend wieder. Als ihr Blick auf das Cover des Magazins »Village Voice« fällt, welches den Titel »Grün ist das neue Schwarz« trägt, fühlt sie sich veranlasst, ein E-Mail an ebenjenes zu verfassen, die sie beginnt mit:
RR »Wieso haben wir nur solche Angst, Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind?« Weiters schreibt sie:
RR »Die Leute sollen wissen, dass ich mich lieber umbringe, als am kollektiven Wahnsinn dieser Welt teilzunehmen, in der wir alle leben.« (00:07:00) Kurz darauf stürzt sie zu Boden und ist gerade im Begriff, das Bewusstsein zu verlieren, als die Polizei ihre Wohnung betritt (vermutlich aufgrund der Musik, die sie im Delirium immer lauter gedreht hat) und ihren Suizid in einen Suizidversuch verwandelt. Nach zwei Wochen im Koma erwacht Veronika in der privaten psychiatrischen Einrichtung Villette, die von Dr. Blake (David Thewlis) geleitet wird (siehe . Abb. 12.2). Dieser teilt ihr mit, dass sie die Klinik so schnell nicht werde verlassen können – vor allem nicht lebend. Denn, wie er erklärt, habe die Überdosis einen Herzstillstand provoziert, der wiederum ein inoperables Herzwandaneurysma verursacht habe, welches von Tag zu Tag größer werde, bis es schließlich reißen wird. Die Vorstellung, in Villette auf ihren Tod zu warten, behagt Veronika nicht. Da es ihr allerdings nicht gelingt, sofort an Pillen zu gelangen, um ihrem Leben unverzüglich ein Ende zu setzen, muss sie sich in der etwas in die Jahre gekommenen, aber immer noch prächtigen, Villa Villette zurechtfinden. Gesprächen mit Mitpatientinnen steht sie eher ablehnend gegenüber und wenn,
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dann führt sie Veronika nur, um ihrem Ziel, ihrem baldigen Ableben, näher zu kommen. Lediglich von Edward (Jonathan Tucker) nimmt sie Notiz, einem jungen Mitpatienten, mit dem sie eine Gemeinsamkeit zu teilen meint, denn wie sie glaubt, machen sie sich beide aus niemandem etwas – ein Umstand, der Claire, Veronikas Zimmerkollegin, die ihr regelmäßig Beziehungsangebote unterbreitet, kränkt. Auch Edward findet Gefallen an Veronika. Dieses Interesse tritt non-verbal durch verstohlene Blicke und Skizzen, die er heimlich von ihr anfertigt, zu Tage. Denn ein Unfall vor ein paar Jahren, bei dem seine damalige Freundin ihr Leben verlor, ließ ihn völlig verstummen, weshalb sein Vater auch seine Unterbringung in Villette veranlasste. Ein von Dr. Blake initiierter Besuch von Veronikas Eltern in Villette offenbart die Fürsorge, aber auch Distanz bzw. das Unverständnis zwischen ihnen und ihrem erwachsenen Kind. Sie können nicht verstehen, weshalb ihre Tochter, nun in ihren Endzwanzigern, die bis dahin nur gute Noten und Jobs gehabt hat, plötzlich psychisch »erkrankt« ist – von dem Aneurysma wissen sie nichts. Nach dieser Begegnung fällt Veronika in ihrem Zimmer in Ohnmacht, annehmend, dass sie nun sterben müsse, da ihr Aneurysma geplatzt sei. Sie ist sichtlich nicht erfreut, als sie erwacht und merkt, noch am Leben zu sein. Sie klettert daraufhin über einen Balkon, wohl mit der Absicht zu springen, überlegt es sich dann jedoch anders und kehrt in den Gemeinschaftsbereich zurück. Dort erwartet sie schallendes Gelächter sowie ihr eigenes Gesicht, welches ihr vom Fernsehbildschirm entgegenstrahlt – ein Sender berichtet über ihren Versuch sich umzubringen, weil »Grün nicht das neue Schwarz ist«. Ein geistig beeinträchtigter Mitpatient namens Fred, der besonders laut lacht, erklärt ihr, dass sie total durchgeknallt sei, woraufhin sie ihm eine schallende Ohrfeige verpasst und aus dem Saal stürmt. Mithilfe von Mari, einer Mitpatientin, der sie erklärt, dass sie den Zeitpunkt ihres Todes selbst bestimmen will, erhält sie Zugang zum Tablettenschrank und nimmt dort nach kurzem Zögern einige Pillen in den Mund. Doch wieder wird ihr Suizidversuch vereitelt, diesmal vom Klinikpersonal, das sie daran hindert, die Tabletten zu schlucken, und sie unverzüglich zu Dr. Blake geleitet. Wütend wirft sie diesem vor, nur mit den Seelen von Menschen spielen zu wollen, und meint weiter, dass sie ihn hasse. Aufgebracht zählt Veronika all die Dinge auf, die sie gerade hasst, das wären u. a. seine lächerlichen Socken, seine Krawatten, ihre Mitpatienten und weiter auch ihre Eltern, und zwar deshalb, da diese ihr letztes Geld dafür aufwenden würden, sie in diesen »Zoo« zu sperren und nie an sich selber denken würden. Dr. Blake quittiert ihre Äußerungen damit, dass er ihr rückmeldet, dass es ihr wohl besser gehe. Erbost verlässt Veronika sein Zimmer und klimpert zunächst wütend am Piano herum, bevor sie zaghaft beginnt, ein wunderschönes Stück zu spielen. Edward beobachtet sie dabei aus dem Garten, obwohl es in Strömen regnet. Ein kurzer Blickwechsel, ein kurzes Lächeln, und er läuft wieder davon. Tags darauf fordert Edward sie abends gestisch zum Klavierspielen auf. Veronika kommt seiner Bitte nach, und nicht nur das, sie entkleidet sich vor ihm und lädt ihn dazu ein, sie zu berühren. Als er jedoch seine Hand zurückzieht und stumm stehenbleibt, masturbiert Veronika vor ihm und meint nach ihrem Höhepunkt zu ihm:
RR »Ich könnte mich auf der Stelle in dich verlieben und ich weiß, dass du nichts sagen wirst, doch das ist in Ordnung.« (01:04:23) Edward verlässt daraufhin den Raum und Veronika blickt ihm, immer noch nackt am Klavierhocker sitzend, nach. Am darauffolgenden Morgen ist Veronika immer noch voller Energie und wendet sich an Dr. Blake, um eine Injektion zu erhalten, die es ihr ermöglichen soll, länger wach zu bleiben, um jeden Moment bewusst zu erleben. Weiters äußert sie den Wunsch, die Klinik zu verlassen, da sie begriffen habe, dass sie leben muss und es noch so viele Dinge gibt, die sie erleben möchte. Dr. Blake weist ihre Bitten ab und rät ihr, mit ihrer Energie hauszuhalten. Enttäuscht, aber nicht völlig entmutigt, zieht sie von dannen und möchte zu Edward, der allerdings gerade von Pflegern festgehalten wird, da er am Weg zu seiner »Koma-Therapie« – gemeint ist wohl eine Elektrokonvulsionstherapie – zum ersten Mal
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..Abb. 12.3 Edward während seiner »Koma-Therapie«. (© Capelight Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
seit Jahren sein Schweigen gebrochen hat und das Klinikpersonal wissen ließ, dass er aus Villette raus möchte. Bevor er sich den Pflegern fügt, flüstert er Veronika ins Ohr, dass er denkt, dass sie wichtig für ihn ist (siehe . Abb. 12.3). Nach der erzwungenen »Koma-Therapie« türmen Edward und Veronika aus Villette. Dr. Blake, der die beiden aus seinem Fenster beobachtet, unternimmt nichts, um sie davon abzuhalten, sondern beschließt ebenfalls Villette zu verlassen. Veronika und Edward reisen mit dem Zug nach New York, lieben sich in Veronikas Apartment und tanzen und lachen die ganze Nacht, um den Sonnenaufgang mitzuerleben. Als Veronika einschläft, denkt Edward, dass sie tot ist. Kurze Zeit später realisiert er jedoch, dass sie nur tief geschlafen hat, was ihn umso mehr erfreut. Diese Szenen bilden den Abschluss von Veronika beschließt zu sterben und lassen den Film so enden, wie er auch begonnen hat, nämlich mit einem Voice-over-Monolog, nur diesmal stammt er von Dr. Blake und er teilt darin seiner Nachfolgerin mit, dass Veronikas Herz kerngesund sei und er diese Lüge erfunden habe, um ihr das Wunder des Lebens vor Augen zu führen und sie dadurch von ihren Selbstmordwünschen zu kurieren.
Ein Blick auf Veronikas Suizidalität und ihre künstlerischen »Eltern« Die Entwicklungsgeschichte von Veronikas Suizidalität lässt sich schnell erzählen: Veronika wird dem Zuseher als suizidale junge Frau vorgestellt, wobei ihrer Ansicht nach das Leben nichts mehr für sie bereithält, auf das sie sich freuen könnte oder wozu es sich zu leben lohnen würde. Eine Perspektive, die der Film nicht hinterfragt, sondern als Heilmittel die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit als Antidot zur Suizidalität offeriert, und siehe da, dies augenscheinlich auch funktioniert und eine »ge-
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heilte«, lebensbejahende Frau hervorbringt. Wozu also noch weiter auf die Darstellung der Suizidalität in Veronika beschließt zu sterben eingehen? Weil eine individualpsychologische Betrachtung des Films eine andere Perspektive auf diesen Prozess ermöglicht und dazu verhelfen soll, ein vertieftes Verständnis davon zu erlangen, was Veronika antreibt, was sie dazu bewegt, zuerst den Tod zu suchen und dann das Leben. Nun könnte man meinen, dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten es gewohnt sind, mit ihren Patienten zu sprechen, dass sich deshalb ein Film, in dem Dialoge rar sind, vielleicht gar nicht analysieren lasse. Auch wenn verbal, bis auf den Monolog zu Beginn, zeitweise wirklich nicht viel mitgeteilt wird, so wird dennoch szenisch einiges vermittelt. Die Aufmerksamkeit beim Versuch des Verständnisses Veronikas darf deshalb nicht nur dem gesprochenen Wort gelten, sondern auch der in Bildern ausgedrückten Handlung. Spannend ist Weiters zu fragen, weshalb sich der Film überhaupt nur so weniger und kurzer Dialoge bedient. Die Antwort findet man bei der Regisseurin des Films, der Britin Emily Young. Obwohl sich wenige Informationen über sie aufspüren lassen, verhelfen die vorhandenen, obige Frage zu klären. Young absolvierte ihre Ausbildung in Polen und übernahm von dort den Ansatz, dass mittels der Bilder und nicht mittels der Worte eine Geschichte erzählt werden sollte (Dalton 2003). Nur so lässt sich erklären, dass sich ein dialogträchtiger und bedeutungsschwangerer Roman auf der Leinwand unaufgeregt und einfach präsentiert. Will man Veronikas Suizidalität und deren Verlauf verstehen, darf dennoch nicht der Autor des Romans, auf dem der Film basiert, vergessen werden, nämlich Paulo Coelho. Seine Werke sind unbestritten sehr umstritten. Obwohl Literaturkritiker einhellig in seinen Romanen nichts weiter als triviale, esoterische Sammelsurien mit autobiographischen Bezügen sehen (Lätzel 2007; Zwing 2012), verzeichnet Coelho dennoch Unmengen an verkauften Exemplaren und schafft es mit seinen Werken regelmäßig in die Bestsellerlisten. Ein Grund hierfür liegt darin, dass Coelho sich zwar literarisch nicht sonderlich herausragend auszudrücken vermag, jedoch die Themen, die seine Bücher berühren, die Lebensweisheiten, und seien sie noch so simpel, offenbar den Zeitgeist treffen, durch ihre Einfachheit Verständnis ermöglichen und durch die mystische und vage Komponente viel an Projektionsfläche offerieren (Lätzel 2007). Da es sich bei Veronika beschließt zu sterben um einen in vielerlei Hinsicht typischen Coelho-Roman handelt, den er u. a. deshalb geschrieben hat, um seine eigenen psychiatrischen Aufenthalte während seiner Jugend zu verarbeiten (Lätzel 2007, S. 239 f.; Zwing 2012, S. 52), ist es unerlässlich, bei der Annäherung Veronikas auch ihn als ihren Künstler-»Vater« mitzudenken.
Wozu sich töten? Zunächst einmal steht die Frage im Raum, weshalb Veronika versucht, sich anfangs zu töten. Die leichteste Antwort wäre wohl, weil, wie sie in ihrer Abschieds-E-Mail schreibt, »Grün eben nicht das neue Schwarz ist« und sie deshalb nicht an dem kollektiven Wahnsinn dieser Welt mitpartizipieren möchte. Da sie aber bereits den Suizidversuch beginnt, bevor sie das Village Voice Magazin in Händen hält, kann von dieser Erklärung abgesehen werden. Eine ernsthaftere Antwort darauf versucht der Monolog am Anfang des Films zu offerieren, in welchem Veronika in einem Voice-over davon erzählt, wie sie sich ihr weiteres Leben vorstellt, und dass ihre Zukunftsfantasien zumindest nicht prickelnd wirken, erscheint nachvollziehbar – jedoch dem Leben deswegen ein Ende setzen? Nun könnte man meinen, dass Veronika wohl an einer Depression erkrankt sein müsse. Untypisch für eine schwere Depression ist allerdings Veronikas Funktionslevel. Sie ist in der Lage, ihrer Arbeit nachzugehen, ihre Wohnung sieht fast schon zwanghaft sauber aus, und selbst beim Versuch, sich das Leben zu nehmen, zeigt sie starke Anzeichen eines enormen Kontrollbedürfnisses. Fein säuberlich ordnet sie die unterschiedlichen Pillen, bevor sie sie kontinuierlich Stück für Stück mit Hochprozen-
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tigem schluckt. Also, wenn nicht auf Grund einer schweren depressiven Episode, weshalb und wozu bevorzugt diese junge Frau dann den Tod? Der Gedankengang, aufgrund einer wenig berauschenden, langweiligen Zukunftsfantasie Selbstmord zu begehen, ist nur plausibel, wenn man zwei Dinge als gegeben ansieht. Das wäre zum einen ein Mangel an Selbstwirksamkeit und zum anderen eine Krise ihres Selbstwertgefühls. Denn offenbar existiert in Veronikas Kopf keine Idee davon, dass sie ihr weiteres Leben, wie sie es sich ausmalt, ja auch positiv mitgestalten, ihrem Unglück etwas entgegensetzen könnte – abgesehen vom Selbstmord, welcher ihr das einzig probate Mittel dagegen erscheint. Damit zeigt sie etwas, das laut Erwin Ringel, einem Individualpsychologen, dessen Verdienste rund um die Suizidprophylaxe als immens anzusehen sind, typisch für das präsuizidale Syndrom des Selbstmörders bzw. der Selbstmörderin ist, nämlich eine Einengung, also eine »Verkümmerung und Verlust der expansiven Kräfte« (Ringel 2006, S. 160).
Die betreffende Person fühlt sich in ihrem Lebensraum und ihren Handlungsmöglichkeiten eingeengt. Dies kann zum einen durch Schicksalsschläge wie z. B. eine schwere körperliche Erkrankung verursacht sein, aber auch, wie in Veronikas Fall, durch persönliche »Einbildung« entstehen (ebd., S. 163). Diese zeigt sich bei Veronika darin, dass sie denkt, auf den einen Lebenspfad, den sie zu Beginn skizziert, eingeengt zu sein, und über keine anderen Handlungsoptionen zu verfügen. Denn es ist die persönliche Bewertung der Situation und der Einengung, die darüber entscheidet, ob sich jemand umbringt oder nicht, denn Einengung nur durch äußere Umstände allein (wie z. B. durch eine unglückliche Ehe oder Jobverlust) vermag nicht, im Suizid zu resultieren, erst die Antwort des Individuums auf die Umstände entscheidet (ebd.). Weiters stellt die »Stagnation« ein typisches Merkmal des präsuizidalen Syndroms dar, die sich bei Veronika ebenfalls entdecken lässt. Damit sind eine Fixierung und zunehmende Inflexibilität der Verhaltensmuster gemeint, die den Menschen dazu bringen, sich immer weniger wandlungsfähig zu fühlen und im Gefühl der Ausweglosigkeit resultieren (ebd. S. 160). Und es ist gerade diese »Stagnation«, diese »Erstarrung«, auf die bereits der Begründer der Individualpsychologie, Alfred Adler, hingewiesen hat, welche kennzeichnend für Leidensdruck und neurotische Entwicklung ist (vgl. Eife 2016, S. 199 f.). Prozesse wie das präsuizidale Syndrom entstehen nicht einfach über Nacht. Spannend ist daher, dass der Film erst an der Stelle einsteigt, als Veronika offenbar bereits hochgradig dynamisch eingeengt ist. Dass der Film nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt in Veronikas Leben seinen Anfang nimmt, lässt sich dadurch erklären, dass der »Aufbruch gegen den Stillstand« ein typisches Motiv in Coelhos Arbeiten darstellt, es also mehr der Aufbruch ist, welcher ihn fasziniert, als die Umstände, welche in der Stagnation münden (Lätzel 2007, S. 242). Suizid als Aufbruch zu betrachten, ist freilich fragwürdig, und deshalb belässt es Coelho auch beim missglückten Suizidversuch und ermöglicht es seiner Protagonistin, einen »Aufbruch« im weiteren Verlauf der Handlung ebenso auf der nützlicheren Seite des Lebens zu wagen. Wie bereits erwähnt, bedarf es der subjektiven Bewertung des Individuums, damit es zu einer dynamischen Einengung und Stagnation kommt, die in einem Selbstmord resultiert. Weshalb kommt Veronika in ihrem Monolog zum Schluss, dass ihr Leben nicht lebenswert sei? Dies lässt sich verstehen, wenn man bedenkt, dass Suizidalität auch immer in den Diensten des Sicherungsstrebens steht (Baumgartner 2017, S. 35). Der Suizid stellt eine Sicherung dar, »um dem Kampf des Lebens mit seinen Beeinträchtigungen zu entgehen« (Adler 2007, S. 121).
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Denn wer tot ist, muss sich nicht mehr mit etwaigen Minderwertigkeits‑, Scham- und Schuldgefühlen und deren Konsequenzen auseinandersetzen. Bei Veronika lässt dies daran denken, dass sie vielleicht versucht, mit einem Suizid der Gefährdung ihres Selbstwerts durch eine Nicht-Bewältigung ihrer Lebensaufgaben zu entrinnen. Adler unterscheidet drei Lebensaufgaben, die Liebes‑, Arbeits- und Gemeinschaftsfähigkeit, die stets nur vorübergehend und niemals endgültig gelöst werden können (Adler 2010, S. 536 f.). Veronikas Zukunftsfantasien im Eröffnungsmonolog lässt sich entnehmen, dass sie sich eine gelingende und erfüllende Beziehung mit einem Mann dauerhaft nicht vorstellen kann, sich für die Lösung der Lebensaufgabe der Liebes- und Gemeinschaftsfähigkeit nicht gerüstet sieht. Zur einstweiligen Lösung der Lebensaufgaben bedarf es, dass das Individuum »sozial zum Mitgehen vorbereitet« ist (Adler 2010, S. 537), sprich, dass ein gewisses Maß an Gemeinschaftsgefühl, also einer Verbundenheit, einem Gefühl von und für Gemeinschaft vorhanden ist, welches sich nicht nur auf eine konkrete Gruppierung beschränkt. Ein weiteres Indiz für einen diesbezüglichen Mangel bei Veronika ist der Umstand, dass der Selbstmord »nur für den eine Lösung bedeutet, der anlässlich einer drängenden Frage an der Grenze seines mehr oder weniger zu kurz geratenen Gemeinschaftsgefühls angekommen ist« (Adler 2009, S. 210).
Um sich selbst das Leben zu nehmen, bedarf es einer ungeheuren Energie, eines enormen Antriebs. »Nur eine hochgradige dynamische Einengung, niemals aber bloß rationale, Überlegung’ vermag dieselbe freizusetzen« (Ringel 2006, S. 165).
Selbst wenn Veronikas Überlegungen in ihrem Monolog vielleicht überlegt und aus ihrer Sicht »vernünftig« wirken, kann daher keinesfalls von »Freitod« gesprochen werden. Woher stammt ein solch immenser Antrieb? Er kann nur aus Veronika selbst heraus entstehen, und zwar dann, wenn aggressive Impulse sich gegen sie selbst wenden und nicht externalisiert werden können (vgl. ebd., S. 167). Dieser Mangel an nach außen gerichteten Aggressionen setzt eine starke Aggressionshemmung voraus, welche wiederum oftmals mit einem strengen Über-Ich korrespondiert (ebd., S. 168). Anzeichen für ein strenges Über-Ich, also eine starre innere Kontrollinstanz, lassen sich bei Veronika vor allem zu Beginn entdecken: Penibel sortiert sie ihre Pillen, und ihr Verhalten wirkt stark übersteuert, kontrolliert, und auch ihre makellose Wohnung könnte ein Anzeichen hierfür sein. Dies vermag auch zu erklären, weshalb Veronika im beruflichen Bereich durchaus leistungsfähig ist – eine Eigenschaft, die ihren Eltern, wie in der Besuchsszene deutlich wird, von äußerster Wichtigkeit ist –, privat jedoch ein geringes Selbstwirksamkeitsgefühl aufweist. Denn neben einem Gemeinschaftsgefühl bedarf es einer emotionalen Lebendigkeit, eines Zugangs zu den eigenen Aggressionen, um diese produktiv nützen zu können und Beziehungen lebendig und reichhaltig zu gestalten. Diese mangelnde Selbstwirksamkeit in Bezug auf ihr Privatleben, also ihrer Beziehungs- und Lebensgestaltung außerhalb des Leistungsbereich ihres Berufes, vermag zu Ohnmachtsgefühlen und dem Gefühl des Kontrollverlusts führen, welchen sie wiederum aufgrund ihrer starren inneren Kontrollinstanzen versuchen muss, Einhalt zu gebieten. Dies zeigt sich z. B. in ihrem starken Kontrollbedürfnis und ihrem Streben, alles pedantisch ordentlich zu halten. Rekapitulierend lässt sich festhalten, dass Veronikas Suizidversuch als Versuch der Rettung ihres Selbstwerts, als letzte Bastion gegen den drohenden Kontrollverlust zu sehen ist. Zur Annahme, darauf angewiesen zu sein, ihren Selbstwert auf diese Art und Weise absichern zu müssen, gelangt sie, da sie zwar von ihren Eltern zur Leistungsfähigkeit »getrimmt« wurde, ihr ein gutes Selbstwirksamkeitsgefühl im Privatleben jedoch offenbar fehlt. Letzteres könnte unter anderem einem gering ausgeprägten
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Gemeinschaftsgefühl und einem fehlenden Zu- und Umgang mit ihrer eigenen Emotionalität, allen voran ihren Aggressionen, geschuldet sein.
Vulgär-individualistische Suizidalitätstherapie Auf den ersten Blick wirkt es, als würde Dr. Blake Veronika keine wie auch immer geartete Therapie zur Behandlung ihrer Suizidalität angedeihen lassen. Lediglich Spritzen zur Milderung ihrer Herzproblematik werden ihr verabreicht. Es erfolgt somit augenscheinlich eine rein physische Therapiemaßnahme, und dieser Eindruck erhärtet sich auch in Hinblick auf andere Patientinnen und Patienten, die lediglich einer »Koma-Therapie« unterzogen werden. Weder sieht man, dass Veronika Antidepressiva erhält, noch, dass sie die gerade in ihrem Fall dringend indizierten psychotherapeutischen Sitzungen angeboten bekommen würde. Gerade bei der Behandlung suizidaler Patientinnen und Patienten sind ein sicherer therapeutischer Rahmen, ein besprochener Behandlungsvertrag und klare Grenzziehungen von äußerster Wichtigkeit (Baumgartner 2017, S. 40 f.). Dr. Blake tritt eher als eine Art ärztlicher Leiter auf, an den man sich mit Bitten hinsichtlich der medizinischen Behandlung wenden kann. Inwiefern er auch die Rolle des Psychotherapeuten von Villette und damit auch von Veronika innehat, bleibt bis zum Schluss unklar. Ab und an wird der Zuseher bzw. die Zuseherin Zeuge bzw. Zeugin von kurzen, teilweise mystisch anmutenden Dialogen zwischen Dr. Blake und Veronika, so z. B. als er ihr den Besuch ihrer Eltern ankündigt und bei diesem auch anwesend ist. »Echte« therapeutische Sitzungen hingegen lassen sich nicht beobachten. Kurzum: Eine Behandlung ihrer psychischen Problematik lege artis lässt sich dem Film nicht entnehmen. Zumindest wird der Zuseherin bzw. dem Zuseher nicht vermittelt, dass sich irgendjemand tagsüber mit Veronika beschäftigten würde, mal abgesehen von ihren Mitpatientinnen und Mitpatienten. Und dennoch verfolgt Dr. Blake durchaus ein Behandlungskonzept, wenn auch ein sehr unorthodoxes. Für ihn besteht die Behandlung darin, Veronika zu belügen. Denn durch die dadurch in Veronika entstandene Annahme, jeden Moment an einem gerissenen Herzwandaneurysma sterben zu können, hofft er, ihre Achtsamkeit zu schärfen und dadurch ihre selbstmörderischen Tendenzen heilen zu können.
RR »Ich wollte das einzige Mittel ausprobieren, an das ich überhaupt noch glaube: sich des Lebens bewusst zu werden«. (1:32:20) Dass Achtsamkeit der psychischen Gesundheit sehr zuträglich ist, dieser Auffassung sind zahlreiche psychotherapeutische Schulen – diesen speziellen Weg hierfür zu wählen, ist aus ethischer Hinsicht hingegen nicht vertretbar. Trotzdem wirkt Dr. Blake als ärztlicher Leiter und entfernter Begleiter von Veronikas innerpsychischen Prozesses nicht völlig inkompetent, so stellt er z. B. seine Integrität unter Beweis, als das Village Voice Magazin versucht, an Veronika heranzutreten, um die negative Presse, die ihr Selbstmordversuch ausgelöst hat, einzudämmen. In diesem Fall bleibt Dr. Blake standhaft und schirmt Veronika ab, selbst als ein Mitarbeiter des Village Voice versucht, ihn zu erpressen und ihm mit negativer Berichterstattung über seine unorthodoxen Methoden droht. Weiters erkennt er den Prozess, den Veronika in Villette durchläuft, so meint er, als man sie nach dem zweiten missglückten Suizidversuch zu ihm bringt und sie ihm wütend und aufgebracht erzählt, gegen wen und gegen was sich ihr Hass richtet:
RR »Ich habe erschreckende Neuigkeiten für Sie. Es klingt, als würde es Ihnen bessergehen. Bitte sagen Sie mir ehrlich, fühlt es sich nicht besser an, sich besser zu fühlen?« (00:40:00)
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Und ja, zweifellos wird hier ein Fortschritt sichtbar, denn an dieser Stelle findet Veronika einen Zugang zu ihrer Aggression, wenn auch noch keinen konstruktiven Umgang mit ebenjener. Sie kann sie spüren und lebt sie aus, und damit stellt sich bei ihr ein zunehmendes Gefühl des Mehrs an Lebendigkeit ein. Es ist noch am selben Abend, als sie ihren Gefühlen und Wünschen freien Lauf lässt und zuerst am Klavier spielt, ehe sie vor Edward masturbiert. Durch die Abreaktion ihrer Aggressionen (zunächst durch Mitteilung ihres Hasses, dann durch konstruktivere Formen wie Klavierspielen und Masturbation) sinkt auch ihre Suizidalität (vgl. Ringel 2006, S. 173). Ein Fortschreiten ihrer Entwicklung in eine positive Richtung zeigt sich auch kurz darauf, als ihre Fantasietätigkeit hinsichtlich ihrer Zukunft lebendiger wird. Sie möchte unter anderem Burritos essen, am Strand sein sowie einen Sonnenaufgang beobachten, weshalb sie Villette verlassen möchte. Diese Fantasien stellen ein gutes Antidot gegen Aussichtslosigkeit und damit gegen die Suizidalität dar (vgl. ebd., S. 173 f.). Dr. Blakes Entscheidung, ihr zwar ein Verlassen Villettes verbal zu verweigern, sie aber nicht daran zu hindern, als er entdeckt, dass Veronika mit Edward heimlich aus Villette türmt, lässt sich als Maßnahme verstehen, ihre Selbstwirksamkeit zu fördern und ihren Autonomiewünschen gerecht zu werden. Die Behandlung, die Veronika in Villette zuteilwird, reduziert ihre Suizidalität, ohne dabei psychotherapeutischen oder psychiatrischen Richtlinien zu entsprechen. Veronika beschließt zu sterben setzt einzig und allein auf die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit, um der Todessehnsucht Einhalt zu gebieten, und das erweist sich zumindest auf der Leinwand als erfolgreich. Dieses »Nicht-Behandeln« könnte zum einen die Verarbeitung von Coelhos eigenen psychiatrischen Aufenthalten widerspiegeln, zum anderen zeigt sich darin sehr deutlich sein Anspruch an das Individuum, es aus sich selbst heraus zu schaffen, kein Feigling zu sein, völlig autonom zu sein (vgl. Lätzel 2007, S. 248; Zwing 2012, S. 54). Damit wird dem Individuum zeitgleich eine enorme Verantwortung aufgebürdet, denn dies bedeutet im Umkehrschluss: Wer nicht in der Lage ist, seine Träume unabhängig von den äußeren Umständen zu verwirklichen und mutig und glücklich sein Leben zu meistern, ist selbst schuld und »verachtenswert« (vgl. Lätzel 2007, S. 248). Das ist eine Einstellung, die dem ähnlich ist, was der Soziologe Manfred Prisching unter »Vulgär-Individualismus« versteht. Er bezeichnet damit ein Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, das darauf beruht, dass jeder alles kann und daher jeder alles aus sich heraus schaffen muss, somit die absolute Selbstverantwortung (Prisching 2006, S. 65). In der »vulgärindividualistischen« psychiatrischen Utopie, die Coelhos Gedanken entsprungen ist, erscheint es daher nur folgerichtig, dass Veronikas Therapie aus einer »Nicht-Behandlung« besteht und sie es nur durch Bewusstwerdung der eigenen Sterblichkeit, aber ansonsten völlig aus sich selbst herausschafft, ihre Todessehnsucht zu überwinden und emotionale Lebendigkeit zu gewinnen.
Wozu leben? Es ist ein Leitmotiv zahlreicher Arbeiten Coelhos, sich selbst zu verwirklichen, und stets ergreift er Partei für das Leben (Lätzel 2007, S. 241–246). Insofern verwundert Veronikas Besserung, ihr aufkeimender Wunsch leben zu wollen, ja zu müssen, nicht. Wie bereits erwähnt, möchte der Film einen glauben machen, dass es allein die Konfrontation mit ihrer eigenen Sterblichkeit ist, die zu einer Besserung ihres psychischen Zustands und einer gesunden psychischen Entwicklung anregte. Dies vermittelt der Film in vielen kleinen Szenen und Dialogen, so z. B. auch, als Mari, die Veronika heimlich beim Masturbieren und Klarvierspielen vor Edward beobachtete, zu Veronika meint:
RR »Ich habe erkannt, dass du mit so viel Seele gespielt hast, weil du weißt, dass du stirbst.« (1:13:33) Damit drückt sie aus zu denken, dass Veronikas besserer Zugang zu ihren eigenen Aggressionen und damit auch zum Klavierspiel in ihrem Bewusstsein für ihre eigene Endlichkeit begründet liegt. Und tatsächlich kann eine abrupte Konfrontation mit der Möglichkeit des eigenen Todes einen dazu an-
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halten, den Blick auf die für ein wesentliches Ding im Leben zu richten. Dennoch lohnt sich vielleicht ein zweiter Blick, um zu hinterfragen, weshalb Veronika beschließt, leben zu wollen. Die Sterblichkeit ist eine anthropologische Konstante, die es mit sich bringt, sich mit dem Sinn der Zeit vor dem Tode, also dem Sinn des Lebens auseinanderzusetzen. »Für die Ökonomie ist der Tod eben nur ein ökonomisches Problem, für die Politik ein politisches, für das Recht ein rechtliches und für die Medizin ein medizinisches Problem. Für den einzelnen endlichen Menschen ist der Tod aber weder ein ökonomisches noch ein politisches, rechtliches oder primär medizinisches Problem, sondern das, was man ein existentielles Sinnproblem nennen könnte« (Nasshei 1992, S. 15).
Die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit allein reicht nicht, das Leben als sinnvoll zu erachten. So wirkt Veronika fast enttäuscht, als sie in Villette aufwacht und merkt, dass ihr Suizidversuch gescheitert ist. Auch die Mitteilung über ihren inoperablen Herzschaden, der wie ein Damoklesschwert über ihr hängt und jeden Moment ihr Leben abrupt beenden könnte, führt allein noch nicht dazu, dass sie ihren Willen zu leben wiederentdeckt. Sie ist zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht in der Lage, dem Leben als solchen einen Sinn abzugewinnen. Was, wenn nicht die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit, ist es dann, was ihre Lebensgeister wiedererweckt und ihre Suizidalität einzudämmen vermag? Wie bereits angesprochen, beginnt sie in Villette zunehmend ihre Aggressionen nicht nur gegen sich selbst, sondern auch ins Außen zu richten. Zunächst geschieht dies auf eine eher destruktive Art und Weise, wenn sie Frank ohrfeigt und Dr. Blake mit ihrem Hass überschüttet, doch diese Begebenheiten könnten eine kathartische Wirkung erzielt haben, die es ihr in weiterer Folge ermöglicht, ihre Aggressionen zunehmend konstruktiv zu nutzen. Genussvoll kann sie sich wieder dem Klavierspiel widmen, Sexualität aus- und erleben, und sie vermag auch in Kontakt mit anderen Menschen zu treten. Jetzt ließe sich fragen, welche Umstände es ihr ermöglichten, den Mut aufzubringen, ihre Aggressionshemmung zu verringern? Um Mut aufzubringen, bedarf es eines Urvertrauens, und wenn dieses erschüttert wurde, so bedarf es zumindest einer hilfreich zugewandten, liebevollen Person, die das Zärtlichkeitsbedürfnis, wie Adler es nennt, befriedigt. Solch eine Person könnte man nun zum einen in Dr. Blake sehen, viel eher jedoch dürfte es Edward sein, der Veronikas Zärtlichkeitsbedürfnis stillt. Durch seine stille Zuneigung ist er für Veronika ein ideales »Objekt«, welches sie für sich »nutzen« kann. Dass seine stille, zurückhaltende Art nicht nur dazu gedacht ist, Veronika ein ideales Gegenüber zu verschaffen, hat etwas mit dem Autor zu tun. Denn Coelho sieht in Edward ein Alter Ego seiner selbst, und wie in vielen seiner Romane wird Sexualität auf die Frau projiziert, und der Mann bleibt unberührt (im wahrsten Sinne des Wortes) und in diesem Fall auch still (vgl. Zwing 2012, S. 108). Die Stillung ihres Zärtlichkeitsbedürfnisses, das Erleben hilfreicher Anderer (wie u. a. der Mitpatientin Mari) erlauben es Veronika, den Mut zu fassen, ihre Aggressionen zu externalisieren und schlussendlich diese auf konstruktive Art und Weise zu nutzen. Damit einher geht auch ein gesteigertes Selbstwirksamkeitsempfinden, da Veronika nun die Fähigkeit erworben hat, nicht nur im Beruf leistungsfähig zu sein, sondern durch den Zugang zu ihrer eigenen Gefühlswelt auch einen wichtigen Schritt gegangen ist, um zwischenmenschliche Beziehungen gelingen zu lassen und damit ein besseres Rüstzeug aufweist, um die Lebensaufgaben zu meistern. Es dürfte also dem Zusammenspiel aus Ermutigung, zunehmender Achtsamkeit und Bewusstsein, Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit, besserem Zu- und Umgang mit der eigenen Aggression, ein Mehr an emotionaler Lebendigkeit sowie vielleicht sogar einem etwas verbesserten Gemeinschaftsgefühl geschuldet sein, dass Veronika beschließt, leben zu müssen, ja zu wollen.
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Resümee Um sterben zu wollen, bedarf es einer langweiligen Zukunftsperspektive. Behandelt wird eine solche am besten, indem sich das Individuum in die Obhut einer »vulgär-individualistisch« eingestellten Einrichtung begibt, um dort mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert zu werden. Daraufhin wird die betroffene Person eine neue Achtsamkeit entwickeln sowie einen Lebenshunger. Das ist auf den ersten Blick die Geschichte und Botschaft von Veronika beschließt zu sterben, aber wie gezeigt werden konnte, bedarf es weit mehr, um einerseits an den Punkt zu gelangen, an dem Selbstmord als das einzig probate Mittel erscheint, und andererseits, um in weiterer Folge an den Punkt zu gelangen, doch leben zu wollen. Dass der Film bei genauerer Betrachtung dieses Mehr offeriert, ist vermutlich auch Emily Young zu verdanken ist, da sie nicht eine Lebensweisheitsplattitüde an die nächste reiht, sondern vieles atmosphärisch und szenisch darzustellen vermag. Auf den zweiten Blick lässt sich erkennen, dass Einengung und Stagnation Veronika an einen Punkt in ihrem Leben brachten, an dem sie sich hinsichtlich der Bewältigung ihrer Lebensaufgaben so entmutigt fühlte, dass sie die völlige Aufgabe vorzog. Dass sie die Wende schaffte und einen Zugang zu ihrem Lebenswillen fand, ist der Befriedigung ihres Zärtlichkeitsbedürfnisses durch hilfreiche Andere, einen besseren Zu- und Umgang mit ihrer eigenen emotionalen Lebendigkeit, allem voran ihrer Aggression geschuldet sowie einer Bewusstwerdung der Kostbarkeit des Lebens. Diese Transformation, für die andere Jahre auf der Couch verbringen, vollzog sich bei Veronika im Eiltempo innerhalb weniger Wochen und Tagen, wozu man ihr nur gratulieren kann. Ob diese schnelle Heilung auf die unorthodoxen Behandlungsmethoden Dr. Blakes oder auf die Tatsache, dass Veronikas Leben auf der Leinwand stattfindet, zurückzuführen ist, sei an dieser Stelle dahingestellt.
Literatur Adler A (2007) Über den Selbstmord, insbesondere den Schülerselbstmord. In: Bruder-Bezzel A, Lehmkuhl G (Hrsg) Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 1. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S 114–121 Adler A (2009) Selbstmord. In: Bruder-Bezzel A (Hrsg) Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 7. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S 208–212 Adler A (2010) Der Aufbau der Neurose. In: Eife G (Hrsg) Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 3. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Baumgartner M (2017) Suizidalität in der analytischen Behandlung von Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen. Zeitschrift Für Individ 42(1):32–47 Dalton S (2003) In the midst of life … In: The Times, 18.12.2003. https://www.thetimes.co.uk/article/in-the-midst-of-life60wv3jdpntn. Zugegriffen: 15. Juli 2019 Eife G (2016) Analytische Individualpsychologie in der therapeutischen Praxis. Das Konzept Alfred Adlers aus existentieller Perspektive. Kohlhammer, Stuttgart Lätzel M (2007) Die »Mystik« des Individualismus. Anmerkungen zu Paulo Coelho. Int J Pract Theol 10(2):238–251 Nasshei A (1992) Sterben und Tod in der Moderne zwischen gesellschaftlicher Verdrängung und professioneller Bewältigung. In: Nasshei A, Pohlmann R (Hrsg) Sterben und Tod. Probleme und Perspektiven in der Organisation von Sterbebegleitungen. LIT, Berlin, S 11–26 Prisching M (2006) GOOD BYE NEW ORLEANS. Der Hurrikan Katrina und die amerikanische Gesellschaft. Leykam, Graz Ringel E (2006) Selbstschädigung durch Neurose. Psychotherapeutische Wege zur Selbstverwirklichung. Dietmar Klotz, Eschborn bei Frankfurt am Main Zwing V (2012) Weisheits-Lee(h)re: Eine ideologiekritische Studie zur Rezeption von Paulo Coelho im deutschsprachigen Raum. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Wien
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Originaltitel
Veronika Decides to Die; deutscher Titel: Veronika beschließt zu sterben
Erscheinungsjahr
2009
Land
USA
Drehbuch
Larry Gross
Regie
Emily Young
Hauptdarsteller
Sarah Michelle Gellar, Jonathan Tucker, David Thewlis
Verfügbarkeit
Auf DVD auch in deutscher Sprache erhältlich
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Tobias Eichinger
Der Auftragsselbstmörder »Parting is so difficult«: Die Geschichte vom erfolglosen Selbstmörder … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 … und dem todgeweihten Killer: »Nobody wants it but die they must« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Allheilmittel Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_13
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Filmplakat Vertrag mit meinem Killer. (© Pandora Film Verleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Vertrag mit meinem Killer (1990) Tobias Eichinger
Wer alles hat, wem alles gelingt im Leben, der hat kaum Grund, dieses vorzeitig zu beenden und sich selbst das Leben zu nehmen. Wer dagegen notorisch vom Pech verfolgt wird, bei der Umsetzung wichtiger Lebensziele scheitert und es nicht schafft, sich stabile Beziehungen aufzubauen und seinen Lebensunterhalt mit halbwegs sinnvoller Tätigkeit zu bestreiten, oder wer gar unheilbar erkrankt, den mag der Gedanke nicht lange verschonen, von eigener Hand zu sterben. So eine landläufige Meinung, die bei der Frage nach möglichen Faktoren, die suizidale Gedanken und Handlungen verursachen oder begünstigen, in erster Linie missliche Lebenslagen und soziale Umstände verantwortlich macht. Die urmenschliche Fähigkeit, das eigene Ende erwägen, planen und in die Tat umsetzen zu können, erscheint dann als plausible Möglichkeit, den so bedrängenden wie aussichtslosen Seiten einer sinn- und freudlosen Existenz zu entfliehen. Als bittere Ironie des Schicksals erscheint da beinahe der Umstand, dass dem Lebensmüden, um diese letzte, unwiderrufliche Konsequenz aus seiner anhaltenden und zersetzenden Erfolglosigkeit zu ziehen, ein letztes Mal eben doch etwas gelingen muss, er wenigstens dieses eine Mal bei dem finalen Schritt Erfolg haben muss. Nun ist es aber nicht unbedingt abwegig, dass Menschen, die im Leben auf ganzer Linie scheitern, auch bei diesem letzten Akt ihre liebe Not haben und versagen. Von solch einer traurig-tragischen Zwickmühle erzählt I Hired a Contract Killer von Aki Kaurismäki, dessen Protagonist zu Beginn des Films seinen Job verliert, der daraufhin als Exilant im fremden Ausland seine Einsamkeit erkennen muss und dem es schließlich nicht einmal glücken will, sich selbst umzubringen (. Abb. 13.1, Filmplakat). Durch Zufall kommt ihm die rettende Idee: Warum müssen Auftragskiller immer Dritte töten, warum sollte ein gedungener Mörder nicht auch auf den Auftraggeber selbst angesetzt werden können? Und so engagiert er einen Killer, der ihm die Ausführung des Suizids abnehmen soll. Doch kommt es anders als geplant, der gerade noch Hoffnungslose entdeckt seinen Lebenswillen wieder und möchte den ungewöhnlichen Auftrag stornieren. Seine Motivlage hat sich in ihr Gegenteil verkehrt, der Beschluss, aus dem Leben scheiden zu wollen, hat sich aufgelöst, und so muss auch der Killer aufgehalten werden. Das aber scheint aus verschiedenen Gründen sehr schwierig bis aussichtslos, dem reuigen Sterbewilligen stellen sich erhebliche Hindernisse in den Weg und es ergeben sich zahlreiche Wendungen und Verkehrungen der Dramaturgie. So wird der Jäger zum Gejagten, als der Protagonist sich notgedrungen wiederfindet auf der Suche nach dem Mann, der ihn aufspüren und erledigen soll. Im Showdown kann der Killer gerade noch rechtzeitig gestoppt werden. Und doch steht am Ende des Films ein Suizid, allerdings ganz anders als erwartet. I Hired a Contract Killer basiert auf dem Kern eines Romans von Jules Verne aus dem Jahr 1879 mit dem Titel »Les Tribulations d’un Chinois en Chine«, auch wenn Aki Kaurismäki anderes behauptet hat.1 Vernes Roman wurde im Laufe der Filmgeschichte einige Male mit zum Teil namhaften Hauptdarstellern wie Douglas Fairbanks, Heinz Rühmann, Theo Lingen, Louis de Funès, Jean-Paul Belmondo, Graham Chapman und Dieter Hallervorden verfilmt, in jeweils mehr oder weniger werktreuen Bearbeitungen (wobei die genannten Schauspieler deutlich auf die überwiegende Betonung des komischen Potenzials des Stoffs verweisen).
1 So erzählt er im Vorwort des Drehbuchs, er hätte die Grundidee für sein Skript auf einem Zettel gefunden, den der Filmhistoriker Peter von Bagh in seinem Büro gelassen hätte (vgl. Kaurismäki 1991, S. 8).
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Der Auftragsselbstmörder
»Parting is so difficult«: Die Geschichte vom erfolglosen Selbstmörder … Nach dem Vorspann und einer Reihe von Standbildern, die mit schäbigen Hinterhöfen, vernagelten Abbruchhäusern, verregneten Baustellen, grauen Hochhäusern und tristen Hafenszenen wenig attraktive Ansichten Londons zeigen, setzt der Film ein mit der Schilderung eines ähnlich trostlosen Arbeitsalltags in einem kafkaesken Großraumbüro der Königlichen Wasserwerke. Im fahlen Licht nackter Neonröhren bearbeiten graue Anzugträger an kleinen, hintereinander aufgereihten Schreibtischen darauf aufgetürmte Aktenstapel. Einer ist über die nicht enden wollende, stumpfsinnige Arbeit eingeschlafen, der Bürodiener wirft ihm trotzdem einen neuen Packen Papier auf den Tisch. Als eine Glocke läutet und alle in den benachbarten Pub trotten, bleibt ein Angestellter allein zurück und geht nur zögerlich den anderen nach. Es ist der Protagonist des Films, Henri Boulanger, ein Franzose, der in seiner Wahlheimat ein unsichtbares und eintöniges Leben führt. Als die Kollegen in der Mittagspause sich ausgelassen unterhalten und über ihre Witze laut lachen, sitzt er abgesondert am Nebentisch, als würde er gar nicht dazu gehören. Auch auf dem Heimweg scheint es fast, als wäre er der einzige, der alleine in der U-Bahn sitzt und ernst vor sich hinstarrt, während alle anderen miteinander reden oder zumindest angeregt Zeitung lesen. Zu Hause angekommen, sitzt er in seiner engen und karg möblierten Single-Wohnung am Tisch mit dem Blick aus dem Fenster auf eine gegenüberliegende Backsteinmauer und trinkt eine Tasse Tee. Den einzigen Kontakt mit Lebewesen hat er zu ein paar kümmerlichen Pflanzen, die, improvisiert auf Obstkisten platziert, das schmucklose Hausdach verschönern sollen, zu dem er auf einer schmalen Metallleiter aus seiner Diele hinaufklettert. Mit dieser kurzen Exposition ist klar: Der Held des Films ist ein ausgesprochener Antiheld, führt alles andere als ein beeindruckendes Leben, er fristet sein Dasein fern der Heimat in einer trostlosen Umgebung, hat weder ein erkennbares Privatleben noch Hobbys oder Freunde und auch seine tägliche Arbeit ist kaum dazu angetan, soziale Beziehungen oder eine erfüllende Beschäftigung zu bieten. Demgemäß findet Peter von Bagh, der Kaurismäki angeblich die Idee zu dem Film geliefert haben soll, recht harte Worte für die Hauptfigur, die er als eine »in ihren Routinen gefangene, abgestumpfte, desillusionierte und an ihrem Schreibtisch vergessene Büroratte« (Bagh 2014, S. 142) beschreibt. Bei aller Isolation und Tristesse bewahrt Henri jedoch sichtlich Haltung und lässt erkennen, dass er doch einen gewissen Stolz besitzt, der ihn seine klägliche Situation mit Fassung ertragen lässt. Somit entspricht die Figur durch und durch der typischen Handschrift Kaurismäkis, für den all seine Charaktere »auf ihre eigene Weise Künstler der Würde« sind (Aki Kaurismäki zit. n. Werner 2005, S. 185). Doch ändert ein würdevolles Erdulden nicht unbedingt das bedauernswerte Schicksal des Verlorenen und Außenseiters. Für den einsamen Henri kommt, was kommen muss: Es kommt noch schlimmer, er verliert alles, was seinem Leben überhaupt Ordnung und Struktur gegeben hatte, er verliert seine Anstellung. Im Zuge von Privatisierungsmaßnahmen müssten zuerst ausländische Mitarbeiter entlassen werden, erklärt ihm der blasierte Vorgesetzte teilnahmslos und lässt ihm zur Kündigung (nach 15 Jahren!) eine goldene Uhr aushändigen, die allerdings nicht funktioniert und sich als wertlos herausstellt. Mit dem Jobverlust ist, nach der bereits durchgestrichenen Telefonnummer einer verstorbenen Tante, auch der einzig verbliebene Eintrag in seinem Adressbuch hinfällig. Henri hat niemanden, der von seiner Existenz Notiz nähme, es gibt niemanden, dem sein Verschwinden auffallen würde. Er ist arbeitslos, einsam und allein. Und so beschließt er, sein Leben zu beenden. Die drastische Konsequenz der selbstgewählten Flucht in den Tod hatte sich schon fast beiläufig angekündigt. Bereits in der ersten Einstellung, die Henri in einer Großaufnahme an seinem Schreibtisch zeigt, ist neben seinem Kopf im Hintergrund ein »Exit«-Schild zu erkennen.2 Dass es der Verlust seiner 2 Der Einwand, Kleinigkeiten wie das Exit-Schild könnten doch auch nur unbeabsichtigte Details der Ausstattung sein, die da eben noch mit im Bild seien, kann im Keim entkräftet werden, denn gerade bei Kaurismäki gilt: »Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Alles ist inszeniert, die Bilder an der Wand, die Farben, die Blumenvase auf der Mitte des Tisches« (Rusch 1997, S. 12).
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..Abb. 13.2 Mit der Schlinge um den Hals: der lebensmüde Antiheld Henri. (© Pandora Film Verleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Anstellung ist, der ihm den Rest gibt, der seinem Leben alle kümmerliche Bedeutung raubt, wird mehrfach mit filmischen Mitteln akzentuiert. So vollführt die Kamera einen plötzlichen Zoom von einer halbnahen Einstellung zu einer Großaufnahme von Henris Gesicht just in dem Moment, als er realisiert, dass sein Vorgesetzter ihm soeben die sofortige Entlassung verkündet – eine Kamerabewegung zur Darstellung des Moments, in dem der Delinquent sein Todesurteil begreift, die als »filmische Hinrichtung« (»cinematic execution«, Nestingen 2013, S. 45) interpretiert wurde. Wenig später wird die Tragweite des Arbeitsplatzverlusts ebenfalls auf der Bildebene überaus eindrücklich verdeutlicht: Nach erfolgter Kündigung setzt Henri sich wieder an seinen nun bereits leergeräumten Schreibtisch, untätig mit dem Mantel auf dem Schoss, als müsse er bis Büroschluss warten, um seinen Arbeitsplatz zu räumen. Da kommen zwei Männer und tragen den Tisch weg. Nun erst geht er. Visuell ist daran bemerkenswert, dass man die ganze Einstellung Henri nur bis zum Hals sieht, sein Kopf ist vom oberen Bildrand abgeschnitten, als machte die Kamera »eine übertriebene Aussage, dass er gerade wie von einer Guillotine hingerichtet worden wäre« (Seppälä 2018, S. 88). Jeglicher Zweifel, ob dies nun dem Zufall oder einer nachlässigen Bildeinstellung geschuldet ist, wird ausgeräumt, als Henri unmittelbar im Anschluss nach dem Verlassen des Gebäudes wie zum Schutz seiner von der Exekution bedrohten Kehle den Mantelkragen hochschlägt und sich mit der Hand über den Hals streicht, als müsse er sich versichern, dass der Schnitt eben nicht real erfolgte, sondern vielmehr eine symbolische Vorwegnahme seines Suizidplans darstellte, die sich Kameramann und Regisseur erlaubten. Nun kauft er sich einen Strick und als er im Laden seine Auswahl trifft, ist wieder ein Schild im Hintergrund zu lesen, das von »Saw Sharpening Service« kündet. Der Sensenmann beherrscht bereits unübersehbar die Szene. Zu Hause angelangt,
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Der Auftragsselbstmörder
verabschiedet er sich von seiner Hauswirtin und geht ans Werk. Minutiös wird gezeigt, wie er das Seil auspackt, die Schlinge knüpft, das Loch für den Haken bohrt, diesen in die Wand dreht, schließlich den Strick um seinen Hals legt, ihn strafft und erneut die Leiter besteigt (. Abb. 13.2). Währenddessen heult der Wind, um die erbarmenswerte Verlassenheit des Suizidenten nur noch zu unterstreichen. Nach einer gnädigen Schwarzblende und einem Poltern sieht man Henri zunächst regungslos auf dem Boden liegen – hat er es geschafft? Ist die Hauptfigur des Films nach einer knappen Viertelstunde bereits tot? Doch da öffnet er die Augen, richtet sich auf, vor sich das Seilende mit dem Haken daran, der aus der Wand gerissen ist. Wieder reibt er sich den Hals, diesmal nach einer tatsächlichen, wenn auch harmlosen Strangulation. Verzweifelt und noch den Strick hinter sich herziehend, geht er in die Küche, schiebt seinen Oberkörper in das Ofenrohr seines Gasherdes, nachdem er den Hahn geöffnet hat. Doch auch dieser Versuch scheitert, als wenige Augenblicke später der tödliche Luftstrom versiegt, alles Rütteln und Hantieren am Ofen kann daran nichts ändern – ein Gasstreik hat gerade begonnen, wie ein Zeitungsmann in der nächsten Einstellung auf der Straße unaufhörlich ruft. Um sich von diesen fehlgeschlagenen Suizidversuchen zu erholen, geht Henri in ein Café und blättert in der Zeitung, dort stößt er auf Schlagzeilen über bezahlte Mörder im kolumbianischen Drogenkrieg. Das bringt ihn auf die entscheidende Idee: Er wird einen professionellen Killer engagieren, der ihn selbst töten soll. Um an das nötige Geld für die Umsetzung dieses Plans zu kommen, bringt er die billige Armbanduhr zum Pfandleihhaus und hebt sein verbliebenes Guthaben von der Bank ab. Von einem alten Taxifahrer lässt er sich in die Nähe einer dubiosen Bar bringen, die sich im Keller eines leerstehenden Fabrikgebäudes in einer besonders heruntergekommenen Gegend verbirgt. Umgeben von zwielichtigen Gestalten kann Henri nun sein Anliegen an der richtigen Stelle anbringen, »I need a killer!«, und wird in ein Hinterzimmer geleitet, um mit einem Mittelsmann die Bedingungen des Geschäftes auszuhandeln. Dort übergibt er einen Umschlag mit Geld, seine Adresse und ein Foto von sich selbst dem maßgeblichen Strippenzieher, der daraufhin Genaueres über den ungewöhnlichen Auftrag wissen möchte:
RR Killer’s Boss: »Why don’t you do it yourself and save your money?« Henri: »I tried, but I’m too yellow.« Killer’s Boss: »It’s up to you. But if you want to change your mind, remember to get in touch with us in time.« Henri: »That won’t be necessary. I want die.« Dann fügt er noch hinzu:
RR Henri: »Would you please do it fast. I’m not so brave, you see, and waiting may, well …« Killer’s Boss: »I’ll do my best. Don’t worry.« Nun wird er noch auf einen Drink eingeladen (er bleibt jedoch abstinent und bei Ginger Ale) und muss sich Unverständnis für sein Vorhaben und Lobeshymnen auf die Schönheit des Lebens gefallen lassen, ausgerechnet von denen, die ihm gerade behilflich waren und seinen eigenen Killer vermittelten. Er hat genug, erwidert er, er habe seinen Job verloren und sei müde und wolle schlafen. Dann geht er. Zu Hause wartet er im Anzug in stoischer Haltung auf die Ausführung des Plans. Irgendwann, nach Stunden oder Tagen ereignislosen Wartens, es ist spät, er ist müde geworden, fällt sein Blick wieder einmal auf die Leuchtreklame des gegenüberliegenden Pubs. Er geht hinüber – nicht ohne vorher an der Haustür für seinen Mörder einen Zettel zu hinterlassen, wo er nun zu finden sei. In sichtlich höchst ungewohnter Lage betritt er das Lokal, versucht vergeblich Tee zu bestellen (»This is a pub!«), bevor er sich einen Ruck gibt und zum ersten Mal in seinem Leben Whisky und Zigaretten ordert. Als müsste er
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..Abb. 13.3 Das Blumenmädchen vertreibt Henris Suizidabsichten. (© Pandora Film Verleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
alles bisher Verschmähte nachholen, trinkt er ein Glas nach dem anderen, raucht eine Schachtel nach der anderen. Da betritt eine weißblonde Frau mit roten Lippen das Lokal, um erfolglos Rosen an den Mann zu bringen. Henri spendiert ihr ein Bier, sie setzt sich zu ihm, er berichtet ihr von seiner hoffnungslosen Situation und bittet sie um ein Wiedersehen, als sie geht. Sie willigt ein und gibt ihm ihre Adresse. Nun will er nicht mehr sterben (. Abb. 13.3). In der Zwischenzeit ist der Killer zu Henris Haus gekommen, dieser kann jedoch fliehen. Er geht zu Margaret, der Blumenverkäuferin, und verbringt die Nacht mit ihr. Am nächsten Morgen dann erfahren sie und der Zuschauer von seinem abrupten Sinneswandel:
RR Margaret: »What about now – do you still want to die?« Henri: »No. Not anymore!« Margaret: »Because you met me?« Henri: »Yes, that made me change my mind.« Somit gilt es nur noch, den selbstmörderischen Auftrag zurückzunehmen und einem glücklichen Leben zu zweit stünde nichts mehr im Wege. Als Henri allerdings bei der Kneipe mit dem Hinterzimmer ankommt, muss er entsetzt feststellen, dass das komplette Gebäude in der Zwischenzeit dem Erdboden gleich gemacht wurde. Wo vor wenigen Tagen noch die Bar war, ist nur mehr ein großer Schutthaufen. Mit der Spelunke ist auch jegliche Möglichkeit verschwunden, mit dem beauftragten Mörder Kontakt aufzunehmen. Jetzt hat der gescheiterte Suizident und (Selbst‑)Mordauftraggeber ein echtes Problem. Als er auch noch durch unglückliche Zufälle fälschlicherweise eines Raubmordes verdächtigt und überall gesucht wird, wird die Lage für ihn immer verzweifelter. Vor allem macht ihm jetzt wegen Margaret zu schaffen, dass er »arbeitslos, abgebrannt und insgesamt nutzlos« (Kaurismäki 1991, S. 50)
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ist. Und so versucht Henri erneut, wenn auch nun unter völlig neuen Vorzeichen, sich durch einen Sprung von der Eisenbahnbrücke selbst das Leben zu nehmen. Doch abermals bringt er es nicht über sich, den letzten Schritt (im Wortsinne) zu tun. Einige Szenen zuvor hatte er bereits beim Abschied von Margaret vielsagend gezögert mit den Worten: »Parting is so difficult«, was freilich weit mehr als diesen kurzen Gang zum Zigarettenholen meinte. Obwohl fest entschlossen und keineswegs aus einem Affekt heraus, gelingt es ihm einfach nicht, sein Leben zu beenden. Auch nicht in der neuerlich verzweifelten Lage, in der der Suizid ein Mittel böte, um sich der vermeintlich ausweglosen Flucht vor Polizei und Killer zu entziehen, aber auch der beschämenden Situation seiner Geliebten gegenüber, der er sich verpflichtet fühlt.
… und dem todgeweihten Killer: »Nobody wants it but die they must« Doch nicht nur der Protagonist muss dem Tod erneut ins Auge sehen, auch der Killer, den er beauftragt hat und nun wieder zurückrufen möchte, erlebt eine existenzielle Krise. In einer Nebenhandlung erfährt der dauerrauchende Einzelgänger bei einem bemerkenswerten Arztbesuch, dass er unheilbar erkrankt ist (wahrscheinlich Lungenkrebs) und nur noch wenige Wochen zu leben hat. Er nimmt die Prognose mit Fassung und sorgt sich vor allem um seine Berufsehre, er stecke schließlich mitten in einem Auftrag, den er noch zu Ende bringen müsse. Es ist freilich der Auftrag, den Henri ihm erteilt hat, jetzt aber wieder stornieren möchte. So hat sich die Ausgangslage der Handlung völlig verkehrt und die Hauptfiguren haben beinahe die Rollen getauscht: Der wieder lebenslustige Suizident ist nun auf der Jagd nach seinem todgeweihten Mörder. Wie in einer klassischen Westerndramaturgie kommt es schließlich auf einem alten Friedhof zum Showdown. Der Killer hat Henri aufgespürt und steht ihm in den Ruinen einer verfallenen Kapelle mit gezückter Pistole gegenüber. Nachdem er wieder gequält in sein Taschentuch gehustet und Blut gespuckt hat, klärt er sein Opfer über seinen Zustand auf (. Abb. 13.4):
RR Killer: »Cancer. I’ll be gone in a few weeks’ time.« Henri: »I’m sorry.« Killer: »Why? It’ll get me out of here.« Henri: »Don’t you like it here?« Killer: »No, I’m a loser.« Henri: »This time, you won.« Killer: »That’s what you think. Life’s a disappointment.« Daraufhin zieht der Killer die Pistole, richtet diese auf Henri, sagt »Good bye« und drückt ab. Doch hat er im letzten Moment die Waffe umgedreht und sich selbst ins Herz geschossen. Während der professionelle als Suizidhelfer engagierte Killer selbsterlöst zu Boden sinkt, ist der lebensmüde Antiheld des Films noch einmal mit dem Leben davongekommen. Henri im Glück: Er hat eine vielversprechende Liebesbeziehung zu einer Frau, hat zu neuem – oder überhaupt zum ersten Mal zu – Lebensmut gefunden, sogar der falsche Mordverdacht ist inzwischen aufgeklärt. Henri gibt keinerlei Anlass mehr zur Annahme von Selbstmordabsichten oder sonstiger Suizidgefährdung: Er ist »geheilt«, durch Liebe. Neben dem unerwarteten Ende der Killerjagd zeugt dieser Schluss- und Höhepunkt des Films überdies von der ganz speziellen Vorliebe seines Regisseurs für die Figur des Cowboys (die ja nicht zuletzt in den Leningrad-Cowboys-Filmen unverkennbar zum Ausdruck kommt). Was auf den ersten Blick erstaunen mag, wird klar, wenn man Kaurismäkis eigenen Erklärungen folgt. Er sei fasziniert von Cowboys, »weil man sich leicht mit ihren Problemen identifizieren kann. Es sind Männer ohne Heimat und ohne Hoffnung … Cowboys gehören zur Arbeiterklasse oder sind arbeitslos« (Aki Kaurismäki zit. n. Eue 2006, S. 83). Und nicht nur ist Henri nach dieser Definition ein waschechter Cowboy, auch die Begegnung mit
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..Abb. 13.4 Der krebskranke Killer muss selbst dem Tod ins Auge schauen. (© Pandora Film Verleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
seinem Killer, auf die der gesamte Film zuläuft, ist unverkennbar als finale Gegenüberstellung nach dem Muster der filmischen Cowboy-Urszene schlechthin inszeniert, dem eines Duells. Während die Gesetze des klassischen Duells im Western von Mann gegen Mann, traditionell als Zweikampf zwischen Gangster und Sheriff, zwischen Outlaw und Ordnung, zwischen Gut und Böse angelegt, nur einen Gewinner zulassen, der seinen Widerpart besiegt, indem er diesen tötet, präsentiert Kaurismäki seine ganz eigene und eigenwillige Variante, gewissermaßen ein Suizid-Duell. Zwei Männer stehen sich gegenüber, die sich bereits auf den eigenen Tod vorbereitet haben. Der eine ist mittlerweile jedoch von seinem Vorhaben entschieden abgerückt, das eigene Ende zu suchen, während der andere nicht mehr den Gegner, sondern nun sich selbst zu töten beabsichtigt. Dass er diesen letzten Akt, seinen Suizid, ausgerechnet vor den Augen Henris vollzieht, entspringt dabei nicht etwa sadistischer Neigung oder purer Spontanität, sondern geschieht mit beachtlichem Bedacht. Nur so kann Henri sicher sein, nun nicht mehr die Ausführung seines ursprünglichen Auftrags fürchten zu müssen. Insofern erweist sich der Killer als Mann von Ehre und als Humanist, dem sehr wohl der Schrecken bewusst ist, den sein Beruf erzeugt, und der diesen nun seinem Auftraggeber ersparen möchte, da er von dessen Gesinnungswandel weiß.
Allheilmittel Liebe Ob suizidales Verhalten, in Gedanken oder Tat, als sündhafte Verirrung des menschlichen Geistes und unbezweifelbarer Beleg zutiefst verfehlter Moral zu gelten habe, wie es in der Geistesgeschichte religiöstheologische Lehren immer wieder verkündet haben; ob es, als Variation der Verwerflichkeit, gar als illegale Tat zu verurteilen sei, sich selbst zu morden, wie es in früheren Zeiten durchweg üblich war und in manchen Rechtsordnungen noch heute der Fall ist; ob die versuchte wie die vollendete Selbstzerstörung per se als Symptome einer psychischen Störung oder selbst als Krankheiten angesehen werden
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Der Auftragsselbstmörder
müssen, wie es biologisch-medizinische Sichtweisen oft tun; ob es in erster Linie ein Produkt sozialpsychologisch prekärer Umstände, gesellschaftlich bedingter Nöte und Bedrängnisse ist, das eigene Leben selbstbestimmt beenden zu wollen, wie es stärker sozialpolitisch orientierte Autorinnen und Autoren mehrheitlich vertreten; oder aber ob die Möglichkeit des Suizids das Signum der menschlichen Freiheit schlechthin darstellt, wie es philosophische Positionen häufig nahelegen, die den Suizid dann gerne emphatisch als Freitod apostrophieren – dies scheint eine höchst komplexe, eine emotional, moralisch und gesellschaftspolitisch aufgeladene und notorisch umstrittene Frage zu sein, die weder eindeutig noch umfassend oder letztgültig entschieden werden kann. Das mag kaum verwundern, wenn zutrifft, dass die Frage nach dem Suizid »ein zentrales Leitmotiv der Moderne« (Macho 2017, S. 8) darstellt, wie Thomas Macho feststellt. Für den Kulturwissenschaftler liegt vor allem in der Umwertung der menschlichen Fähigkeit, sich aus freien Stücken selbst zu töten, eine epochale Dimension. Wollte man Kaurismäkis lakonische, tragikomische Geschichte vom sterbehilfesuchenden Henri vor diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund in ihrem Erklärungsanspruch einer der vielen Herangehensweisen ans Thema zuordnen, so legt der Film wohl am ehesten eine sozialpsychologische Suizidtheorie nahe.3 Er präsentiert das Erwägen des Suizids dann als nachvollziehbare, ja geradezu folgerichtige Option, wenn in einem Leben jegliche zwischenmenschlichen Kontakte und Beziehungen fehlen oder abhandenkommen, zudem mit der Lohnarbeit die andere sinngebende Stütze wegbricht und das Individuum ohne Aufgabe und ohne Lebenssinn eine isolierte Nichtexistenz zu führen verdammt ist. Zwar verweigert der Regisseur in einer oft zitierten, knappen Charakterisierung seines Films gewissermaßen die Aussage über die Psychologie hinter dem Plot: »Henry Boulanger ist lebensmüde, warum, das ist eine viel zu persönliche Angelegenheit, um hier weiter erläutert zu werden« (Internationales Forum des Jungen Films 1991). Im Drehbuch gibt Kaurismäki dann aber doch einen klaren, wenn auch indirekten Hinweis auf die ausschlaggebende Motivation des von ihm inszenierten Suizidhelden Henri. Zu der Szene, in der dieser nach erfolgter Kündigung seinen vormaligen Arbeitsplatz verlässt und sein leeres Adressbuch vergeblich nach Einträgen durchsucht, die von sozialen Bindungen künden würden, schreibt der Filmemacher: »Zweifellos hat Henri Boulanger auch schon gemerkt, dass sein Privatleben nicht das ausschweifendste der ganzen Stadt ist, aber irgendein Selbsterhaltungstrieb hat ihn vor der Erkenntnis bewahrt, dass er keinen einzigen Freund, kein Familienmitglied, keinen Verwandten besitzt, dem auch nur das Geringste an seinem Schicksal gelegen wäre.« (Kaurismäki 1991, S. 21) Demnach würde die ungetrübte Erkenntnis derartiger Verlassenheit direkt und folgerichtig in den Wunsch zu sterben münden müssen. Dieser eindeutige Blick auf die Plausibilität und Legitimität des Suizids aus sozial-relationalen Gründen ist bei Kaurismäki jedoch gleichzeitig verknüpft mit der hoffnungsvollen Botschaft von der Abwendbarkeit eines solchen Schicksals. Dies ist der Kern der Attraktion und Spannung vieler Suizidfilme, deren Protagonisten zu Anfang in einer hoffnungslosen Lage eingeführt werden, in der sie versuchen, ihr Leben selbst zu beenden, dann dabei aber scheitern, anderweitig aufgehalten werden oder davon abkommen, um sich unversehens in eine Liebesbeziehung zu verstricken, dank derer sie am Ende alle Suizidabsichten hinter sich lassen.4 Auch Kaurismäki bedient sich dieses dominanten Topos’ von der Macht der Liebe, die stärker ist als der Tod. Die optimistische Botschaft an das Publikum ist schlicht und beruhigend: Jeden Menschen in aussichtsloser Lage kann es so unvermittelt wie unverhofft treffen, das plötzliche Glück der Liebe und Verliebtheit, das alles in ein anderes, positives Licht zu tauchen vermag, in dessen Glanz sich alle Suizidgedanken letztlich als einziger großer – vorschneller – Irrtum erweisen. Doch ist dies nur die halbe Wahrheit von I Hired a Contract Killer. Kaurismäki lässt die Zuschauer nicht nur dem glücklosen Franzosen ins Dickicht seiner emotional-existenziellen Wirrungen folgen, sondern entfaltet meisterhaft 3 Dies entspricht der dominierenden Darstellung im Spielfilm. Hans Wedler zufolge werden über die Hälfte aller Film-Suizide auf externe Faktoren wie »belastende soziale Beziehungen« zurückgeführt. Vgl. Wedler (2017, S. 63) und die so umfassende wie detaillierte Studie zu Suicide Movies von Stack und Bowman, die bezeichnenderweise den Untertitel »Social Patterns« trägt (Stack und Bowman 2012). Dort identifizieren und klassifizieren die Autoren allein in der US-amerikanischen Filmproduktion von 1900 bis 2009 über eintausend Spielfilme, die mindestens ein suizidales Motiv beinhalten. 4 Vgl. Eichinger (2015).
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in einem recht sparsamen, dafür umso reicheren Handlungsstrang parallel dazu die Figur des Killers, eines gleichfalls stoischen Engländers, der, vom Raucherkrebs gebeutelt, sein ganz eigenes Verhältnis zum Sterben finden muss. In seinem Fall liegen die Dinge jedoch entschieden anders. Während die positive Moral der Geschicht’ im Falle Henri Boulangers, der zufolge mit einfacher menschlicher Nähe genug Bestätigung und Kraft geweckt werden kann, um geschwundenen Lebenswillen wiederherzustellen, sich doch als durchweg optimistisch darstellt, ist das Fazit der Geschichte des Auftragskillers niederschmetternd. Im Falle einer unheilbaren – organischen – Erkrankung, als die der Lungenkrebs gezeigt wird, ist im Gegensatz zu prinzipiell behebbaren sozialen Defiziten kein Kraut gewachsen. Hier bleibt dem rettungslos Erkrankten nur eine letzte Option, will er sein Lebensende in Würde gestalten, anstatt dem körperlichen Zerfall und Siechtum untätig und ohnmächtig zum Opfer zu fallen. Diese klare Ansicht zum möglichen oder unmöglichen Sinn eines Weiterlebens angesichts einer terminalen Prognose macht die andere Facette der Positionierung des Films zur Möglichkeit und Rechtfertigung des Suizids aus. Wird der Selbstvernichtung als Flucht aus misslichen psycho-sozialen Verhältnissen eine klare Absage erteilt, erscheint der Suizid als Reaktion auf irreversible körperlich-somatische Leiden umso plausibler und alternativloser.5 Damit erhält die Aussage von I Hired a Contract Killer auch einen deutlich existenzialistischen Zug, wonach »einem Menschen jederzeit alle Möglichkeiten offen stehen: die des Todes ebenso wie die des Lebens« (Esser 2006, S. 15). Mit diesem nüchternen Grundton unterstreicht Kaurismäki eine These Machos, der einen fortschreitenden Relativierungsprozess beschreibt, den die jüngere Kulturgeschichte der Suizid-Bewertung durchlaufen hat: Auf eine Phase der »Entheroisierung« der Selbsttötung folgten die einer »Entmoralisierung«, einer »Entkriminalisierung« und schließlich gegenwärtig die einer »Entpathologisierung« des Suizids (Macho 2017, S. 436). Was diese Prozesse ermöglicht hat, ist Macho zufolge der »Verlust der Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod, auf Unsterblichkeit und Auferstehung der Toten« (ebd.). Und auch dieser Befund findet sich in I Hired a Contract Killer. Es ist die Szene, in der der Killer vom Arzt seines Vertrauens erfährt, wie es wirklich um ihn steht und dass er nur mehr ein paar Wochen zu leben hat. Am Ende dieser Sequenz, die für sich genommen eine wunderbare Preziose lakonischer Filmkunst über Kommunikation, Wahrheit und die Fundamente jeder Arzt-Patienten-Beziehung ist, geht es um letzte Dinge. Nachdem er seinem Patienten Klarheit über dessen terminale Lage verschafft hat, wie dieser es unzweideutig von ihm gefordert hat, stellt der Mediziner (der sinnigerweise Frank heißt, denn frank: englisch für offen, aufrichtig) noch die Gretchenfrage:
RR Frank: Do you believe in god, Harry? Killer: I don’t know. Why do you ask? Frank: ’Cause if you don’t, there’s no hell either. Killer: You take what you can. Wenn es keinen Gott gibt, keine Hölle und kein Jenseits, dann kann die Möglichkeit des Suizids auch ihren unwägbaren Schrecken einer gnadenlosen Strafe und ewigen Verdammnis im Leben nach dem Tod verlieren. Unter einer atheistischen Prämisse gewinnt die Selbsttötung somit die Konturen einer freiheitlichen ›Selbsttechnik‹ und der Option eines gefassten Umgangs mit einem unabwendbaren Schicksal, mit der der Unerschrockene sich seiner ungebrochenen Handlungsmacht im Tod versichert. Henri, den Helden des Films, kümmern solche existenzialistischen Wendungen jedoch nicht mehr, er hat schließlich mit der Liebe und dem Whisky die Lebenslust für sich entdeckt.
5 Ein anderes, auffallend ähnliches Beispiel für die Verwendung dieser dramaturgische Grundfigur ist Wilbur Wants To Kill Himself. Auch hier wird der suizidale Protagonist, dem es zunächst in zahlreichen Anläufen nicht gelingt, sich selbst zu töten, schließlich durch Liebe von seiner ›bloß‹ sozial bedingten Lebensmüdigkeit erlöst, während sein Bruder, der zwar ein sozial intaktes Leben führt, aber mit einer infausten Krebsdiagnose ans Krankenbett gefesselt ist, sich angesichts seiner ausweglosen medizinischen Situation im ersten Anlauf erfolgreich suizidiert. Vgl. Text in diesem Band.
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Der Auftragsselbstmörder
Literatur von Bagh P (2014) Kaurismäki über Kaurismäki. Alexander Verlag, Berlin Eichinger T (2015) Zwischen Einsamkeit und Krebsdiagnosen – Suizid im Film. Spectr Psychiatr 8(1):28–33 Esser M (2006) Blue Cadillacs – Das Fernweh des Aki Kaurismäki. In: Eue R, Söffker L (Hrsg) Aki Kaurismäki. Bertz + Fischer, Berlin, S 7–32 Eue R (2006) Das Leben ist bitter, aber lustig. In: Eue R, Söffker L (Hrsg) Aki Kaurismäki. Bertz + Fischer, Berlin, S 61–84 Internationales Forum des Jungen Films (1991) I hired a contract killer. 21. internationales forum des jungen films berlin, Berlin Kaurismäki A (1991) I hired a contract killer. Haffmanns, Zürich Macho T (2017) Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne. Suhrkamp, Berlin Nestingen A (2013) The cinema of Aki Kaurismäki. Contrarian stories. Columbia University Press, New York Rusch B (1997) Schatten im Paradies. Von den Leningrad Cowboys bis Wolken ziehen vorüber – Die Filme von Aki Kaurismäki. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin Seppälä J (2018) The camera’s ironic point of view: notes on strange and comic elements in the films of AK. In: Austin T (Hrsg) The films of Aki Kaurismäki. Ludic engagements. Bloomsbury Academic, New York, S 83–100 Stack S, Bowman B (2012) Suicide Movies. Social patterns 1900–2009. Hogrefe, Göttingen Wedler H (2017) Suizid kontrovers. Wahrnehmungen in Medizin und Gesellschaft. Kohlhammer, Stuttgart Werner J (2005) Aki Kaurismäki. Bender, Mainz
Originaltitel
I Hired a Contract Killer
Erscheinungsjahr
1990
Land
FIN/S
Drehbuch
Aki Kaurismäki
Regie
Aki Kaurismäki
Hauptdarsteller
Jean-Pierre Léaud, Margi Clarke, Kenneth Colley
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Brigitte Frizzoni
Ode ans Leben »Das hätte aber tödlich ausgehen können« – Inszenierung der Ambivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Überwindung des Todesfurors . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 »Es kann es nicht von unserem Vater haben« – Plausibilisierung der Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Zuschauerlenkung – Evokation von Unruhe, Angst, Ohnmacht und Wut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Eros und Thanatos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Fest des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_14
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Filmplakat Wilbur Wants to Kill Himself. (© Kinowelt Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Wilbur Wants to Kill Himself (2002) Brigitte Frizzoni
»This is one helluv a title, isn’t it?« (IMDb, ruby_fff 2004). So kommentiert eine Rezensentin in der Internet Movie Database den ungewöhnlichen, in seiner Präzision irritierenden Titel des tragikomischen Films »Wilbur wants to Kill Himself« von Lone Scherfig. Der Titel lässt denn auch keinen Zweifel über die thematische Klammer des Films offen und gibt gleichzeitig zu verstehen, dass durchaus Hoffnung besteht, dass der Suizid nicht gelingen wird, denn Wilbur North, ein junger Mann aus Glasgow um die dreißig, bringt sich nicht um, sondern will sich umbringen (. Abb. 14.1, Filmplakat). Thema des Films ist also nicht nur Suizid bzw. Suizidalität – ein Überbegriff, der nach Manfred Wolfersdorf (2008, S. 1321) Suizidgedanken, -absicht und -versuche umfasst, also sämtliche »Denk‑, Erlebens- und Verhaltensweisen von Menschen, die in Gedanken, durch aktives Handeln oder passives Unterlassen oder durch Handelnlassen den eigenen Tod anstreben bzw. als mögliches Ergebnis einer Handlung in Kauf nehmen.« Thema des Films ist ebenso sehr, ob und wie sich Suizidalität überwinden lässt, ja, was das Leben lebenswert macht. Wie dieser Film über Suizidalität gleichzeitig Humor, Hoffnung und Liebe zum Leben vermittelt und die Zuschauer – nach einem Wechselbad der Gefühle – zugleich wehmütig und zuversichtlich entlässt, soll im Folgenden – nahe an der Filmnarration – aufgezeigt werden (ich beziehe mich hierbei auf die DVD in der Reihe »Arthouse Collection«). Von der ersten Filmeinstellung an werden die Zuschauer mit Wilburs wilder Entschlossenheit zu sterben konfrontiert: Musik mit Streichern und Bläsern setzt ein (Komponist: Joachim Holbek), die eher eine Liebes- als eine Todeshandlung erwarten lässt – ein erster Hinweis darauf, dass dieser Film über Suizidalität auch ein Film über Hoffnung und Liebe sein könnte. Die Filmmusik macht zudem deutlich, dass die dänische Regisseurin Lone Scherfig, deren preisgekrönter Film »Italienisch für Anfänger« (2000) der fünfte Dogma-Film war, sich mit ihrem neuen Film von den Dogma-Regeln verabschiedet, hier von jener, die extradiegetische Musik, also Musik, die nicht am Drehort vorkommt, verbietet (Christen 2006, S. 490). Georg Seeßlen (2002) bezeichnet den Film daher auch augenzwinkernd als »postdogmatisch«. Wilbur (Jamie Sives) schließt energisch die Tür zu seiner Wohnung auf, in der Hand eine Tüte aus der Apotheke, begibt sich zielgerichtet in die Küche, entnimmt der Tüte mehrere Fläschchen mit Tabletten, kippt die Tabletten allesamt mit einem Glas Wasser hinunter, setzt sich an den Gasherd und dreht das Gas auf … und bereits nach der ersten Filmminute erfolgt ein erster ironischer Bruch (1:18): das Gas geht aus – die Filmmusik stoppt. Dieser Bruch ist ebenso Indiz für eine humorvoll-ironische Perspektive auf den tragischen Stoff wie der Filmtitel. Entnervt steht Wilbur auf, schlägt mit der Faust auf den Gasherd, die Filmmusik setzt wieder ein, er begibt sich ins Badezimmer auf der Suche nach Kleingeld, um den Gasapparat zu füttern, findet weitere Medikamente, die er ebenfalls schluckt, wirft das Kleingeld ein, das Gas fließt, mit sorgenvollem Gesicht hockt sich Wilbur erneut neben den Gasherd – und Abblende zum Filmtitel und Schnitt zur zweiten Szene. Wilburs freundlicher Bruder Harbour North (Adrian Rawlins) sitzt im Antiquariat »North Books«, das auf schottische Bücher spezialisiert ist und dass er und sein jüngerer Bruder von ihrem kürzlich verstorbenen Vater geerbt haben. Die Mutter ist bereits seit längerem verstorben. Zwei Leute sind im Laden, eine davon die schüchterne Alice (Shirley Henderson), die Harbour drei Bücher verkaufen will und in die er sich verlieben und die er bald heiraten wird. (Dass Alice mit Harbour zwangsläufig auch Wilbur als zentrale Bezugsperson gewinnt, wird sich bald zeigen.) Das Telefon klingelt, Harbour nimmt ab, lässt kurz darauf in Panik den Hörer fallen und rennt aus dem Laden, Alice schaut ihm verwundert nach. Harbour findet den bewusstlosen Wilbur, stellt den Gasherd ab, öffnet das Fenster und ruft die Ambulanz an. Wilbur überlebt, wie die folgende Szene zeigt: Er nimmt an einer Gruppentherapiesitzung in der Klinik teil und ist hier offensichtlich ein wohlbekannter – und nicht allen willkommener – Stammkunde. Wilbur ist Wiederholungstäter, hat schon
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mehrere Suizidversuche hinter sich, er wird auch noch einige vor sich haben. Auch aus der Suizidforschung ist bekannt, dass bei Menschen, die einmal einen Suizidversuch unternommen haben, die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sie einen weiteren unternehmen (Bronisch 2006, S. 49). Trotz humorvoll-ironischem Ton verspricht der Film also einen informierten Blick aufs Thema. Auf welche Kenntnisse der Suizidforschung er sich beziehen lässt und wie er sich dramaturgisch im Vergleich zu anderen Filmen zum Thema positioniert (vgl. Stack, Bowman 2011), soll im Folgenden ebenfalls diskutiert werden. Dramaturgisch fungiert der Suizidversuch in »Wilbur wants to Kill Himself« als Motor, als erregendes Moment bei Plot-Beginn, als zentraler Konflikt (Schwab 2006, S. 41; Piegler 2010, S. 21 f.). Er dient der Erregung von Spannung, von Zukunftsspannung (Suspense), denn bei jedem neuen Versuch ist da die Angst, er könnte diesmal gelingen, und auch von Rätselspannung, von Neugierde (Curiosity), denn die Zuschauer suchen nach Hinweisen für den Grund von Wilburs Todeswunsch und fragen sich, ob und wie die Suizidalität überwunden werden kann.
»Das hätte aber tödlich ausgehen können« – Inszenierung der Ambivalenz Bereits in den ersten acht Minuten werden die wichtigsten Schauplätze, Figurenkonstellationen und der zentrale Konflikt eingeführt: das Antiquariat »North Books« in Glasgow (in Dogma-konformer Low-KeyBeleuchtung) samt integrierter Privatwohnung und die Klinik mit Therapieangebot für Suizidgefährdete; das ungleiche Bruderpaar Harbour und Wilbur North; die chronisch übermüdete alleinerziehende Alice, die als Reinigungskraft abends in der Klinik arbeitet – wenig später lernen wir auch ihre neunjährige Tochter Mary (Lisa McKinlay) kennen; den melancholisch-resignierten leitenden Klinik-Psychologen Horst (Mads Mikkelsen) sowie die von Wilbur erotisierte Pflegefachfrau Moira (Julia Davis) und Alice’ Arbeitskollegin Sophie (Susan Vidler); schließlich die Therapiegruppe mit suizidgefährdeten Frauen und Männern, darunter Wayne (Gordon Brown), Claire (Mhairi Steenbock) und Ruby (Lorraine McIntosh). Während der Therapiesitzung wird im Dialog zwischen Wilbur und dem Psychologen Horst der zentrale Konflikt der Suizidalität, die Ambivalenz, sterben und doch überleben zu wollen, angesprochen (5:41–5:45):
RR Horst: Dieses Mal Tabletten? Wilbur: Tabletten und Gas. Horst: Das hätte aber tödlich ausgehen können. Wilbur: Ja, darum geht’s auch. Ruby aus der Therapiegruppe aber stellt Wilburs Entschluss in Frage (6:39–7:02):
RR »Was hier wirklich lebensgefährlich für uns alle ist, das bist du, Wilbur. Du verplemperst unsere Zeit, du schmarotzt an unserem System herum. Und diese Gasgeschichte, das war doch Irrsinn, du hast das Leben aller in diesem Haus aufs Spiel gesetzt (…). Wieso machst du nicht einfach die Grätsche und überlässt deinen Platz irgendeinem anderen?« Nach der Therapiesitzung beschwert sich Wilbur bei seinem Bruder (7:25–7:38) (. Abb. 14.2):
RR Wilbur: Weißt du, jedes einzelne Mal, wo ich das überlebe, wird es demütigender für mich. Müsst ihr euch denn unbedingt alle auf einmal da reinhängen? Wieso steckst du immer wieder deine Nase da rein?
Wilbur Wants to Kill Himself (2002)
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..Abb. 14.2 Harbour holt seinen Bruder von der Gruppentherapie in der Klinik ab. (© Kinowelt Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Harbour: Du hast angerufen. Wilbur: Und du hast mich gar nicht erst zu Ende reden lassen. In diesen Dialogen wird Wilburs Ambivalenz hinsichtlich seines Wunsches zu sterben evident. Walter Pöldinger definiert sie als inneren Kampf zwischen »konstruktiven und destruktiven Tendenzen« (zit. in Scherr 2016, S. 57). Wilburs bisherige Suizidversuche sind Appelle – nach Bronisch (2006, S. 13 f.) so genannt parasuizidale Gesten –, riskant, aber doch so angelegt, dass die Chance besteht, rechtzeitig gefunden zu werden. Suizid und Suizidversuch sind, so die Suizidforschung, äußerst selten eindeutige Handlungen (ebd., S. 114); innerhalb kurzer Zeit kann sich die Suizidabsicht massiv ändern, bis zu 80 % der Patienten ändern sie in weniger als zwei Tagen, bis zu 99 % in weniger als zehn Tagen (ebd., S. 37). Wolfersdorf (2008, S. 1326) beschreibt Ambivalenz als zweites Stadium in der suizidalen Entwicklung (das erste ist das Erwägungsstadium und das dritte das Entschlussstadium). Pflegefachfrau Moira spricht aus, was sowohl Therapeuten als auch Angehörige von Suizidgefährdeten akzeptieren müssen (vgl. Bronisch 2006, S. 121), als sie zu Harbour sagt (7:42–7:46):
RR »Ich weiß, wir können Ihren Bruder nicht aufhalten, aber wir finden, dass er momentan nicht allein leben sollte.« So zieht Wilbur bei seinem Bruder in die Antiquariatswohnung ein.
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Ode ans Leben
Überwindung des Todesfurors Auch weiterhin versucht Wilbur mit großer Getriebenheit sein Leben zu beenden, er befindet sich geradezu in einem Todesfuror. Die Vehemenz und Vitalität, mit der er vorgeht, lässt sich als Illustration der Wendung der Aggression gegen das eigene Ich, des Wiederholungszwangs und Todestriebs (Freud 1976) beschreiben. In einem fast schon absurden Staccato folgt ein Suizidversuch dem andern, mit immer wieder anderen Methoden, als wenn eine Auslegeordnung, eine Typologie von Suizidmöglichkeiten vorgestellt werden sollte: sich erhängen, sich ertränken, sich die Pulsadern aufschneiden, sich zu Tode stürzen. Als »flirtation with death«, als Suizid, »um Leben zu verhindern«, typologisiert Michele Aron (2014, S. 46 f.) solche Suizidversuche im Film. Die von Wilbur gewählten Suizidmethoden bezeichnet er als »weibliche« Selbstmordarten (ebd., S. 55). Thomas Bronisch (2006, S. 14) spricht von »weichen Methoden«, die er von »harten Methoden« unterscheidet, zu denen er auch das Erhängen zählt. Es mag der Eindruck entstehen, dass der Film mit dieser Auslegeordnung Suizidgefährdeten möglicherweise Hinweise geben könnte. Inwiefern mediale Suizid-Darstellungen zur Nachahmung animieren (Scherr 2016), wird in der Presse gerade wieder anlässlich der aktuellen Netflix-Serie »13 Reasons Why« (auf Deutsch »Tote Mädchen lügen nicht«) diskutiert: »Suizid zu thematisieren, ist gut, aber man sollte aufzeigen, wie man aus einer vermeintlich ausweglosen Situation herauskommen kann«, so etwa Thomas Niederkortenthaler, der zur Suizidprävention forscht, in der Neuen Zürcher Zeitung (Witte 2019). »Wilbur Wants to Kill Himself« tut das, er begleitet seinen Protagonisten zwar von Suizidversuch zu Suizidversuch, doch schließlich auch auf seinem Weg aus der Suizidalität. Es handelt sich um einen zu überwindenden, therapeutischen Suizid (Schwab 2006, S. 41; Piegler 2010, S. 22). In der 19. Minute findet Wilbur in der von seinem Bruder von allen gefährlichen und spitzen Gegenständen befreiten Antiquariatswohnung doch noch etwas, ein Elektrokabel, und versucht, sich damit zu erhängen – auch dieser Suizidversuch wird unterbrochen, diesmal von einem Kunden, der auf der Suche nach einem Kipling-Buch für seine Nichte ist und von Wilbur mit einem Buch zum Einmachen von Essiggurken abgespeist und wieder weggeschickt wird. Diesmal gelingt der Suizid tatsächlich beinahe, Wilbur ist am Ersticken – was für den Zuschauer unerträglich ist –, aber in letzter Sekunde wird er von Alice gerettet (18:20–21:10). Dieser nur schwer auszuhaltende Erhängungsversuch lässt sich mit Bronisch (2006, S. 14) denn auch nicht mehr als parasuizidale Geste mit dem Motiv des Appells, sondern als parasuizidale Handlung mit dem Motiv der Autoaggression bezeichnen, da Wilbur den eindeutigen Wunsch hat zu sterben, ein rechtzeitiges Auffinden eher unwahrscheinlich ist und die angewandte Methode den tödlichen Ausgang wahrscheinlich macht. Der dritte Suizidversuch (sich ertränken) in der 26. Minute scheitert an einem zu niedrigen Wasserstand, wird also wiederum ironisch gebrochen (26:07–26:30). Der Suizidversuch aber, der ums Haar gelingt, erfolgt in der 31. Filmminute, es ist Wilburs vierter, wieder mit ausgesprochener Autoaggression. Wilbur legt sich in der Hochzeitsnacht von Alice und Harbour in die Badewanne, schneidet sich die Pulsadern auf und stirbt nun tatsächlich beinahe. Er wird gerade noch rechtzeitig gefunden, von Harbour und Alice (30:45–32:53). Alice meint zu Harbour:
RR »Eines Tages wird er es schaffen. Wie kann er nur?« Dieser Suizidversuch erweist sich als Zäsur und Wendepunkt in mehrfacher Hinsicht. Er wirkt – mit Theo Piegler und Jan Tilman Schwab gesprochen – als Katalysator, ist abschreckend und führt zum Umdenken, ja schließlich zu einer Art Happy End. Auch aus der Suizidforschung ist bekannt, dass missglückte Suizidversuche als bedeutungsvolle Ereignisse zu entscheidenden Veränderungen führen können – es bleibt allerdings offen, ob sie in eine positive oder negative Richtung gehen (Bronisch 2006, 17). Wilbur wird zwar erneut »mit dem Tod flirten«, ab jetzt wird er aber keinen Versuch mehr unternehmen. In der 53. Minute steht er auf dem Dach eines Hochhauses, um sich in den Tod zu stürzen,
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..Abb. 14.3 Wilbur liest Mary aus dem Buch »Die blaue Flagge« vor. (© Kinowelt Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
lässt es aber bleiben – auf dem Cover der DVD wird dieser nicht mehr ausagierte Suizidversuch dargestellt. Später lässt er nachts noch einmal Badewasser einlaufen, so dass man sofort denkt, er wiederhole den Suizidversuch der 31. Filmminute. Als Alice’ Tochter Mary ins Badezimmer kommt und ihn fragt, ob er jetzt noch baden wolle, verneint er aber und liest ihr vor, bis sie einschläft (. Abb. 14.3). Zum Schluss rettet Wilbur gar einer Suizidgefährdeten aus der Therapiegruppe das Leben. Er beobachtet, wie Ruby ins eiskalte Wasser steigt, springt ihr beherzt hinterher und bringt sie ans Ufer (1:17:54–1:19:39). Im Hauptmenü der CD wird diese Szene in Endlosschlaufe gezeigt, bezeichnenderweise wird – wie fürs Cover – als Motiv kein Suizidversuch gewählt. Als Wilbur durchnässt nach Hause kommt und ihn Alice fragt, ob er im Fluss war, sagt er:
RR »Ja, aber das letzte Mal.«
»Es kann es nicht von unserem Vater haben« – Plausibilisierung der Suizidalität Einen Wendepunkt stellt der vierte Suizidversuch aber nicht nur dar, weil es Wilburs letzter sein wird. Als Zuschauer erfahren wir im Gespräch mit Alice und Harbour nun endlich auch, welch traumatisches Kindheitserlebnis Auslöser für seine Autoaggressionen sein könnte. Es fällt bis dahin nämlich schwer zu verstehen, wieso Wilbur so abwehrend und lebensmüde ist und versucht, sich umzubringen. Denn er ist voller Vitalität, hat durchaus auch Züge eines »sunny boy«, ist bei vielen beliebt, wird als Erzieher von den Kindern verehrt, hat eine charismatisch-erotische Ausstrahlung und wird deshalb von Frauen begehrt und darüber hinaus von seinem Bruder liebevoll umsorgt. Er ist es auch, der seinem älteren Bruder einen Tipp gibt, wie man Frauen für sich gewinnen könne: Man müsse ihnen nur tief in die
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Augen schauen, und schon kämen sie auf einen zu. So gelingt es Harbour denn auch, Alice für sich zu gewinnen (und später wird er, selbst schon todkrank, diesen Tipp weitergeben). Warum also nur will sich Wilbur umbringen? Der Film gibt uns bis zum Gespräch mit Alice und Harbour einige indirekte Hinweise: Es ist auffallend, wie sehr sich Harbour bemüht, Wilbur immer wieder von seiner Liebenswürdigkeit zu überzeugen, zu betonen, wie sehr ihn Vater und Mutter geliebt hätten. Fast kommt der Verdacht auf, es handle sich um eine Verkehrung ins Gegenteil. Wilbur korrigiert Harbour denn auch und sagt, Vater habe ihn gehasst. Harbour entgegnet, das stimme nicht – wenn Wilbur den Vater besucht habe, sei er nachher wochenlang fröhlich wie ein Pinguin gewesen. Und schließlich habe er Wilbur immerhin das Antiquariat hinterlassen. Worauf Wilbur kontert:
RR »Und wieso steht dann Harbour im Testament?« Auch das kann Harbour erklären:
RR »Er wird unsere Namen verwechselt haben.« (9:17–9:55) Tatsächlich kommt der Verdacht auf, Harbour beschönige die Vergangenheit, Wilbur verdränge weniger, sei möglicherweise »auf paradoxe Art der Gesündere« (Seeßlen 2002). Gestützt wird dieser Verdacht durch eine Szene anlässlich Marys Geburtstag, in welcher Harbour erzählt, dass es bei ihnen zu Hause immer Geburtstagskuchen gegeben habe, als sie noch klein gewesen seien, und wie er für Wilbur einen solch großen gemacht habe, dass dieser kaum darüber hinaus habe sehen können. Und wie sie rosa Milchshakes mit Strohhalmen dazu getrunken hätten. Ob sich Wilbur noch daran erinnere? Wilbur antwortet:
RR »Das war nicht bei uns, das war in einem Mickey-Rooney-Film.« (42:40–42:55) Die Frage möglicher Vererbtheit psychischer Dispositionen ansprechend – eine These, die sich übrigens gemäß Bronisch (2006, S. 117) nicht erhärten lässt –, meint Harbour zu Horst, dem leitenden Psychologen (21:24–21:27):
RR »Es kann es nicht von unserem Vater haben. Der pfiff oft schon morgens beim Frühstück.« Bemerkungen von Wilbur sowie anderer Figuren im Film zeichnen hingegen ein anderes Bild des Vaters. Und als Alice fragt, was denn sein Vater davon gehalten habe, meint er, er habe zu verhindern versucht, dass der Vater es merke, da er sich jedes Mal Sorgen gemacht habe, wenn Wilbur sich umbringen wollte. Es stecke viel von Mutter in Wilbur. Alice’ Nachfrage, ob sich seine Mutter umgebracht habe, verneint er; es sei irgendetwas Erbliches gewesen, sie habe die letzten zwei Jahre im Spital verbringen müssen und große Schmerzen gehabt, was auf eine körperliche Erkrankung schließen lässt (33:57–34:21). Alice lässt nicht locker, obwohl Harbour jede Gelegenheit nutzt, um das Thema zu wechseln. Schließlich erzählt Harbour vom Tod seiner Mutter (34:52–36:10):
RR »Wir wussten, dass Mutter nicht nach Hause durfte, solange sie im Krankenhaus behandelt wurde. Sie hat es trotzdem getan. Wahrscheinlich konnte sie ohne Wilbur nicht leben. Er war damals wirklich sehr liebenswert. Also kam sie immer wieder zum Laden. Und dann musste Vater sie wieder zurückbringen, und die sagten ihr immer wieder, dass sie nicht nach Hause dürfte, weil es sie sogar schon umbringen könnte, nur aufzustehen. Sie war so zerbrechlich. Ich frage mich immer
Wilbur Wants to Kill Himself (2002)
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noch, wieso weder Vater noch ich sie in dieser Nacht gehört haben. Wilbur war der einzige, der von dem Klopfen wach wurde. Er lief runter ins Geschäft, und da sah er sie ans Fenster klopfen, und sie hatte nur ihr Nachthemd aus dem Krankenhaus an. Und sie musste eine halbe Ewigkeit geklopft haben. Aber er wollte die Tür nicht aufmachen. Er wagte es nicht, sie reinzulassen, weil Vater gesagt hatte, zu Hause sein würde sie umbringen. Alles, was Wilbur getan hat, war, zu mir ins Bett zu kriechen. Und ich dachte, er hätte einen Alptraum gehabt. Die hatte er oft. Und dann am Morgen, als wir rausgingen, um Schnee zu fegen, wollte Wilbur nicht mitkommen. Und ich hab sie da gefunden.« In der Logik der Filmnarration werden so Wilburs Ambivalenz und seine Autoaggression verständlich. Er hat große Schuldgefühle. Die Überzeugung, das Leben nicht verdient zu haben, ist nachvollziehbar, wenn er aus kindlicher Perspektive überzeugt ist, den Tod seiner Mutter verursacht zu haben. Auch Filmkritiker Thomas Vorwerk (2003) meint, er müsse zugeben, dass sei ein recht überzeugender Grund für Wilburs Suizidalität. Die Forschung zur Suizidalität hütet sich allerdings vor monokausalen Erklärungen (Bronisch 2006, S. 113 ff.), es gibt kein einheitliches Erklärungsmodell für die Ursache, Entstehung und Entwicklung von Suizidalität (Wolfersdorf 2008, S. 1326).
Zuschauerlenkung – Evokation von Unruhe, Angst, Ohnmacht und Wut Die große Stärke von Lone Scherfigs Film liegt denn auch weniger in der Erklärung von Wilburs Suizidalität, sondern darin, dass es ihm subtil gelingt, die Zuschauer in Gefühlslagen zu versetzen, mit denen auch die betroffenen Figuren im Film konfrontiert sind: Die Angst Harbours um seinen Bruder, die stete Unruhe, die ihn übermannt, wenn Wilbur unerwarteterweise nicht zu sehen und zu hören ist, das regelmäßige Nachfragen bei Alice, in welcher Stimmung Wilbur sei, überträgt sich auf den Zuschauer und geht unter die Haut. Auch die Anstrengungen Harbours, Wilbur aufzuheitern, ihm eine Freude zu bereiten, ihn zu bestätigen, ihm zu versichern, wie liebenswert er sei, wie sehr ihn Mutter und Vater geliebt hätten, lassen erahnen, wie dominierend und belastend Wilburs Suizidalität ist und wie sie sein Leben bestimmt. Doch nicht nur stete Unruhe und Angst machen sich breit, auch Ohnmachtsgefühle und Resignation sind spürbar – verkörpert durch den melancholischen Psychologen Horst. Einen Wendepunkt stellt der vierte Suizidversuch Wilburs in der Hochzeitsnacht von Harbour und Alice auch hinsichtlich der Zuschauerlenkung dar: Nun werden im Zuschauer nicht mehr bloß Unruhe, Angst, Ohnmacht und Resignation evoziert, sondern auch Empörung und Wut, und zwar in einer Heftigkeit, wie sie Ruby in der Therapiegruppe zu Beginn des Films ausdrückt. Bis zu diesem Zeitpunkt irritiert die Aggressivität Wilburs eher, als dass sie empört, ja Wilburs Aggressivität hat durchaus skurrile Züge und evoziert Lacher: In der Therapie lässt er Horst regelmäßig auflaufen, er lässt sich auf niemanden ein, brüskiert Moira und Sophie, die sich von ihm angezogen fühlen, und selbst in seinem Job als Kindergärtner verhält er sich gegenüber seinen Schützlingen, die ihn verehren, feindselig und abweisend. Doch als er sich nach der fröhlichen kleinen Hochzeitsfeier von Harbour und Alice ins Bad legt und sich die Pulsadern aufschneidet, kommt Wut auf. Dass er den beiden auch noch die Hochzeitsnacht vermiesen muss, ist inakzeptabel, als Zuschauerin denkt man unwillkürlich: Jetzt reicht es! »And by God you’ll wish he had«, gibt ein Rezensent seiner Wut – über den Film insgesamt – mit Referenz auf den Filmtitel entsprechend Ausdruck (IMDb, deadmanjones 2006).
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..Abb. 14.4 Antiquariat »North Books«: Wilbur und Alice kommen sich näher. (© Kinowelt Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Eros und Thanatos Einen Wendepunkt markiert der vierte Suizidversuch aber vor allem, weil sich Wilbur danach in Alice, die Frau seines Bruders, verliebt und auch Alice seine Gefühle erwidert, obwohl sie ihm zu verstehen gibt, dass sie Harbour liebt und nie mehr jemanden so lieben werde (. Abb. 14.4). Dass sie aber auch keinen von beiden verlieren wolle. Auch Wilbur kommt durch seine Gefühle für Alice in große Konflikte und beteuert (1:00:03–1:00:17):
RR »Ehe ich ihm wehtue, würde ich lieber sterben. Du denkst vielleicht, wenn es von mir kommt, bedeutet es wenig. Also Sterben, oder so. Aber er ist mein Bruder.« Dass die Liebe zu Alice Wilbur künftig von weiteren Suiziden abhalten wird, erstaunt nicht. Generell dient Suizid im Film als dramaturgisches Mittel, um davon zu erzählen, wofür es sich zu leben lohnt, und die Macht der Liebe ist hier ein verbreitetes Motiv, wie Tobias Eichinger (2015) – neben dem vorliegenden Film – auch am Beispiel von »Veronika beschließt zu sterben« und von »I Hired a Contract Killer« zeigt. Eine tragische Zäsur nach Wilburs viertem Suizidversuch stellt die lebensbedrohliche Erkrankung seines Bruders Harbour dar. Harbour ahnt, dass er schwer krank ist – er hat seit längerem erhöhte Leberwerte –, weigert sich aber, für eine genauere Abklärung zwei Tage in die Klinik zu gehen. Verzweifelt versucht er Horst zu erklären, dass er dafür wirklich keine Zeit habe, Wilbur komme heute nach Hause, er wolle jetzt bei ihm, bei seiner Frau und seiner Tochter sein, zudem brächten sie gerade das Antiquariat auf Vordermann (39:33–40:19). Es stellt sich heraus, dass er an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt ist, der Krankheit, an der offenbar auch seine Mutter litt. Es ist bewegend zu sehen,
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wie Harbour um jede Minute Leben kämpft, um sich um seine Familie zu kümmern, mit derselben wilden Entschlossenheit, mit der sich sein Bruder bisher das Leben nehmen wollte. Dieser Kampf um Leben und Sterben, Eros und Thanatos, verkörpert durch die beiden innig verbundenen Brüder, lässt sich psychoanalytisch beschreiben als Widerstreit zwischen »zwei inneren Instanzen, deren eine für das Leben plädiert, während die andere die Vorzüge des Todes und eines Lebens danach hervorhebt« (Piegler 2010, S. 17). Der Film lässt keinen Zweifel offen, welche dieser Instanzen zu bevorzugen ist, wie das Gespräch zwischen Harbour und Wilbur übers Tot-Sein offenbart (52:27–53:01):
RR Harbour: Wilbur, also wenn man, also tot ist, wie ist das so? (…) Gab es da noch irgendetwas, sahst du da so ein weißes, strahlendes Licht? Wilbur: Es ist total stinklangweilig. Da ist gar nichts. Nur Schwärze und vollkommene Stille. Ein bisschen so wie in Wales. Harbour (bedrückt): Verstehe. Damit entromantisiert der Film Vorstellungen, welche die Suizidforschung als präsuizidales Syndrom beschreibt, zu denen auch irreale Vorstellungen über den Tod gehören. Der Suizident phantasiert sich als tot, aber er kann sich im Tode noch beobachten, er kann sehen und empfinden, wie die Angehörigen Reue überfällt, d. h. er erlebt sich in seiner Phantasie auch nach dem Tod noch als lebendig (Bronisch 2006, 36). Mit Harbours lebensbedrohlicher Erkrankung ändert sich die Konstellation der Brüder grundlegend: Nun wird Wilbur »wider Willen und erleichtert zugleich in die Rolle dessen gedrängt, der Leben bewahren muss, statt es zu zerstören.« (Seidel 2003) Durch seine schwere Krankheit erreicht Harbour also nun genau das, was er immer wollte (Kurz o.J.). Der einzige Suizidversuch im Film, der gelingt, ist jener von Harbour. Als er die Gewissheit hat, dass für Alice und Mary gesorgt ist und Wilbur seine Suizidalität überwunden hat, legt er sich ins Spitalbett, schluckt alle Tabletten und entsorgt die leeren Fläschchen sorgsam in der Nachttischschublade, damit ja kein Verdacht aufkommen kann. Er bedankt sich bei der Nachtschwester für die Freundlichkeit aller im Spital und schläft für immer ein. Es ist ein versöhnlicher, akzeptabler Suizid, der keine Bitterkeit zurücklässt, sondern die Gewissheit, dass Harbour dadurch langes Leiden erspart bleibt. Es ist kein Suizid, um das Leben zu verhindern, kein Flirt mit dem Tod, wie bei Wilbur, sondern ein Suizid, um das Sterben zu verhindern, um einen besseren Tod zu haben (Aron 2014, S. 44).
Fest des Lebens Nachdem Harbour am Weihnachtsabend gemerkt hat, dass Alice und Wilbur ein Paar sind, sagt er lächelnd zu Wilbur (1:33:37–1:33:42):
RR »Es ist schön, dass Menschen zusammenfinden können, wenn sie sonst niemanden haben, nicht wahr?« Die beiden Brüder umarmen sich. Kurz darauf suizidiert er sich. Die letzte Filmeinstellung zeigt Wilbur, Alice und Mary, wie sie gemeinsam nach der Beerdigung von Harbour vom Friedhofshügel hinunter in die Stadt spazieren, beteuernd, dass sie Harbour nicht vergessen werden. Der Film entlässt den Zuschauer wehmütig und zugleich zuversichtlich, dass die drei es miteinander schaffen werden. Man könnte sagen – so Lone Scherfig im Booklet zur CD –, dass der Film das gleiche Anliegen verfolgt wie Harbour, nämlich zu beweisen, dass es für Wilbur einen Grund gibt zu leben. »Wilbur Wants to Kill Himself«, dieser Film über Suizidalität und Suizid ist auch ein Film darüber, was das Leben
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Ode ans Leben
lebenswert macht: Es ist die Verbundenheit mit anderen, die Fürsorge für andere. Harbour verkörpert diese Haltung. Er ist ein optimistischer, liebevoller Mensch, der sich selbst angesichts des eigenen Todes um andere kümmert. Voller Empathie hört er der traurigen Geschichte des Psychologen Horst zu, der eigentlich Jazzposaunist hätte werden wollen, sich aber dem Willen des Vaters nach einem »anständigen Beruf« unterworfen hat. Und dass der Vater seinen geliebten Hund einschläfern ließ, der ihm jeweils beim Posaunenspielen zuhörte (46:26–48:25). Harbour macht Horst auf die charmante Sophie aufmerksam und erlebt noch kurz, bevor er stirbt, wie die beiden einander näherkommen. Der liebe- und zugleich humorvolle Blick auf einsame Figuren, die allesamt auf die eine oder andere Weise beschädigt und hilfsbedürftig sind und sich gleichwohl gegenseitig unterstützen können, ist Lone Scherfigs Markenzeichen (Hjort 2010, 11 f., 36). Der Regisseurin gelingt es, in »Wilbur Wants to Kill Himself«, Sympathie und Zuneigung für alle Figuren zu wecken, nicht nur für den liebenswürdigen Harbour, die schüchterne Alice und die kleine Mary, den melancholischen Horst, sondern auch für die naiv-unsensible Moira, die ruppige Ruby und insbesondere für den aggressiv-suizidalen Wilbur. Denn seine schroffe Abwehr entpuppt sich letztlich als tiefer Wunsch nach Verbundenheit, als »Seismograph der Sehnsucht« (Hüttmann 2003). So lässt sich abschließend mit Daniel Sander (2009) bilanzieren: »›Wilbur Wants to Kill Himself‹ bleibt in seinem Kern immer ein Fest des Lebens und der Menschen.«
Literaturverzeichnis Aron M (2014) Death and the moving image. Ideology, iconography and I. Edinburgh University Press, Edinburgh Bronisch T (2006) Der Suizid. Ursachen, Warnsignale, Prävention. Beck, München Christen T (2006) Dogme ’95: Rückkehr zum Grundlegenden. In: Christen T, Blanchet R (Hrsg) New Hollywood bis Dogma 95. Schüren, Marburg, S 487–509 Eichinger T (2015) Suizid im Film. Zwischen Einsamkeit und Krebsdiagnosen. Spectr Psychother 1:28–33 Freud S (1976) Jenseits des Lustprinzips. Studienausgabe Bd. 3: Psychologie des Unbewußten. Ex Libris, Zürich Hjort M (2010) Lone Scherfig’s Italian for Beginners. University of Washington Press, Seattle Hüttmann O (2003) »Wilbur Wants to Kill Himself«: Mit Komik in der Tragik. Spiegel Online, 19.09.2003. https://www.spiegel.de/kultur/kino/wilbur-wants-to-kill-himself-mit-komik-in-der-tragik-a-266467.html. Zugegriffen: 30. Juni 2019 IMDb, deadmanjones (2006), 2. Sept. 2006. https://www.imdb.com/review/rw1464827/?ref_=tt_urv. Zugegriffen: 30. Juni 2019 IMDb, ruby_fff (2004), 22.05.2004, https://www.imdb.com/review/rw0891175/?ref_=tt_urv. Zugegriffen: 30. Juni 2019 Kurz J (o.J.) Wilbur wants to kill himself: Am Abgrund. https://www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/wilbur-wants-to-killhimself. Zugegriffen: 30. Juni 2019 Piegler T (2010) Suizid im Film – Eine schwindelerregende Brücke. In: Piegler T (Hrsg) »Ich sehe was, was du nicht siehst«. Psychoanalytische Filminterpretationen. Psychosozial Verlag, Gießen, S 15–42 Sander D (2009) Wilbur wants to kill himself. Kulturspiegel. In: Booklet zur CD (Arthouse Collection 07) Scherr S (2016) Depression – Medien – Suizid: zur empirischen Relevanz von Depression und Medien für die Suizidalität. Springer, Wiesbaden Schwab JT (2006) Selbstmord im Film – Versuch einer dramaturgischen Typologie. In: Kallwies N, Schütz M (Hrsg) Mediale Ansichten Dokumentation des 18. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums, Universität Mannheim, 2005 Schüren, Marburg, S 41–48 Seeßlen G (2002) Wilbur wants to kill himself. Postdogmatisch: der neue Film von Lone Scherfig. 14.05.2002. http://www. getidan.de/kritik/film/georg_seesslen/2279/wilbur-wants-to-kill-himself Seidel HD (2003) Bruderliebe: Lone Scherfigs traurig-tröstliche Komödie »Wilbur wants to kill himself«. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.09.2003. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/kino-bruderliebe-lone-scherfigs-traurig-troestliche-komoedie-wilbur-wants-to-kill-himself-1117904.html. Zugegriffen: 30. Juni 2019 Stack S, Bowman B (2011) Suicide movies. Social patterns 1900–2009. Hogrefe, Göttingen Vorwerk T (2003) Wilbur wants to kill himself. http://www.satt.org/film/03_02_wilbur_1.html. Zugegriffen: 30. Juni 2019 Witte F (2019) Tote Mädchen lügen nicht. In: Neue Zürcher Zeitung, 08.06.2019, S 55 Wolfersdorf M (2008) Suizidalität. Nervenarzt 79:1319–1336
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Wilbur Wants to Kill Himself (2002)
Originaltitel
Wilbur Wants to Kill Himself Wilbur begår selvmord
Erscheinungsjahr
2002
Land
Dänemark, Großbritannien, Schweden, Frankreich
Drehbuch
Andreas Thomas Jensen und Lone Scherfig
Regie
Lone Scherfig
Hauptdarsteller
Jamie Sives (Wilbur North), Adrian Rawlins (Harbour North), Shirley Henderson (Alice), Lisa McKinlay (Mary), Mads Mikkelsen (Horst)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Friederike Blümelhuber
Eine verhängnisvolle Ménage à trois Film und Drehbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Die Handlung des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Die reale Handlung – Die Steglitzer Schülertragödie . . . . 205 Der Sensationsprozess der Weimarer Republik . . . . . . . . 206 Geschichtlicher Hintergrund – Die Weimarer Republik . . . 208 Interpretation aus kriminaltechnischer Sicht . . . . . . . . . 209 Psychodynamik von Mord und Selbstmord . . . . . . . . . . 210 Milieu von Günther und Hildegard Scheller . . . . . . . . . . 212 Das Milieu von Paul Krantz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Die unsichtbaren Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Homosexuelle als Außenseiter der Gesellschaft . . . . . . . 213 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_15
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Filmplakat Was nützt die Liebe in Gedanken. (© X Verleih AG. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Was nützt die Liebe in Gedanken (2004)
»Der Selbstmörder will das Leben und ist bloß mit den Bedingungen unzufrieden, unter denen es ihm geworden« (aus: Arthur Schopenhauer 1819).
Film und Drehbuch »Basierend auf einer wahren Begebenheit, die in der Weimarer Republik für Aufsehen sorgte, verbindet der hervorragend fotografierte und gespielte Film ein realistisches Stimmungsbild mit philosophischer Weltbeschreibung, wobei er die entwurzelten Jugendlichen präzise konturiert und ihr ebenso verklärtes wie hysterisches Ringen um Leben und Tod, Liebe und Verzweiflung als zeitlose Suche nach Orientierung und Lebenssinn deutet« (Filmdienst.de 2003).
Regisseur Achim von Borries gelang es, mit seinem Spielfilm »Was nützt die Liebe in Gedanken« im Jahr 2004 den New Faces Award der deutschen Zeitschrift »Bunte« für Nachwuchsstars der deutschen Filmbranche zu gewinnen. Die Jury bestand zum damaligen Zeitpunkt jedoch noch nicht aus Filmexperten, über die Vergabe des Preises entschieden Laien. Kritiker bemängeln das Erzähltempo des Films als allzu gemächlich, über die Hintergründe des Selbstmordkomplotts, das der Handlung zu Grunde liegt, wird wenig gesprochen. Der Film mutet an wie ein wunderschönes Gemälde, die Bildsprache ist überzeugend, die jugendlichen Schauspieler hervorragend. Die Bilder beginnen mit dem vorgezogenen Ende, der Vorführung von Paul Krantz, dem Angeklagten, vor dem Richter. Das erzeugt Spannung und weckt die Neugier auf das Drama, das sich im Laufe der Handlung entspinnt. Der Film strahlt eine morbide dekadente Eleganz aus, vergleichbar mit dem Schauspiel »Der Reigen« von Arthur Schnitzler, das 1920 erstmals in Berlin aufgeführt wurde (Schnitzler 2014). Jutta Pohlmanns Kamera fängt wenige, leuchtende Momente ein, in denen die Verletzlichkeit der Freunde bloßliegt (. Abb. 15.1, Filmplakat). »August Diehl spielt Günther Scheller so wunderbar überreizt, labil und leicht entflammbar, dass er von Anfang an eine latente Bedrohung ausstrahlt. Aber eine Intensität, die die Verzweiflungstat am Ende nachvollziehbar machen würde, erreicht der Film kaum. Achim von Borries findet keinen Rhythmus und keine wirkliche Nähe zu seinen Figuren, um die Zuschauer in den Strudel der Leidenschaft mit hineinzureißen« (Kölner Stadtanzeiger 2004).
Der Regisseur verfilmt hier eine wahre Begebenheit, den Sensationsprozess der Weimarer Republik schlechthin, die sogenannte »Steglitzer Schülertragödie« aus dem Jahre 1927. Arno Meyer zu Küingdorf dichtete basierend auf dem Stoff 1999 den Roman »Der Selbstmörder-Klub« (Meyer zu Küingdorf 1999). Die von Annette Hess und Alexander Pfeuffer erstellte Drehbuchvorlage wurde von Hendrik Handloegten und Achim von Borries zum Drehbuch für den Film umgeschrieben. Borries gelang mit dieser Regiearbeit der Durchbruch bei einem größeren Publikum. Im Film trennt Borries die Welt der Erwachsenen von der Welt der Jugendlichen – er verwendet dafür, wie er selbst in seinem Kommentar zum Film beschreibt, auch unterschiedliche Musik. Die in den 1920er Jahren übliche Popularmusik spiegelt die Welt der Erwachsenen wider, die Musik, die die Welt der Jugendlichen charakterisiert,
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..Abb. 15.2 Günther und Hilde. (© X Verleih AG. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
wurde eigens für den Film komponiert (Thomas Feiner, Ingo Frenzel und die Mardi Gras.bb zeichnen für die Musik verantwortlich). In seinem Film hält sich Borries weitgehend an die Fakten, wie sie auch im Prozess dargestellt werden: Der im Prozess weitgehend tabuisierten Nichtdarstellung der Homosexualität stellt er klar und deutlich diese als zentrales Mord- und Selbstmordmotiv gegenüber. Die von ihm angedeutete inzestuöse Beziehung der Geschwister hat indes keinen bekannten realen Hintergrund. Die Orte der Handlung sind überwiegend das Sommerhaus der Schellers in Mahlow (. Abb. 15.2) und dessen ländliche Umgebung, das Stadthaus der Schellers in Berlin Steglitz und das Gericht Moabit in Berlin. Gedreht wurde aber nicht an den Originalschauplätzen, Achim von Borries kreiert mit sicherer Hand ein stilgerechtes Ambiente nach seinen eigenen künstlerischen Vorstellungen, an Stelle des berühmt berüchtigten Moabit Gefängnisses wählt er ein Gefängnis in Dresden für die Aufnahmen. Fast 100 Jahre nach den Geschehnissen standen vermutlich die Originalschauplätze nicht oder jedenfalls nicht in der ursprünglichen Form zur Verfügung. Die Tonaufnahmen sind demgegenüber an einzelnen Stellen nicht perfekt, gelegentlich sind sie schlecht verständlich. Spannt man den Bogen von seinem Erstlingsfilm »Was nützt die Liebe in Gedanken«, in dem das Unheil auf eher leisen Sohlen herannaht, bis zur aktionsreichen und spannenden Krimiserie »Babylon Berlin«, so sieht man die Vielschichtigkeit des Regisseurs. Diese Serie ist die teuerste und aufwändigste Serienproduktion des deutschen Fernsehens, die jemals gedreht wurde. Drei Regisseure und Drehbuchautoren haben fast fünf Jahre lang daran gearbeitet: Tom Tykwer, Achim von Borries und Henk Handloegten. Die Dreharbeiten verschlangen fast 40 Millionen Euro (Wikipedia, Babylon Berlin). Achim von Borries bleibt sowohl in »Babylon Berlin« als auch in »Was nützt die Liebe in Gedanken« in der
Was nützt die Liebe in Gedanken (2004)
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..Abb. 15.3 Paul in Untersuchungshaft. (© X Verleih AG. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Zeit der Weimarer Republik, die nachhaltig als die »goldenen« 20er-Jahre verklärt wurde (TV-Media 2018). Seine Faszination für diese Epoche mag in der eigenen Biographie begründet sein, das westfälisch-niedersächsische Adelsgeschlecht von Borries brachte immer wieder Politiker und hochrangige Regierungsbeamte hervor, so auch in der Zeit der Weimarer Republik.
Die Handlung des Films In seinem poetischen Drama »Was nützt die Liebe in Gedanken« gelang Achim von Borries ein Film von internationalem Format, durchaus ungewöhnlich für einen deutschen Film. Mit einer Schar exzellenter Jungstars erzählt er die reale Geschichte um die »Steglitzer Schülertragödie« aus dem Jahr 1927 und packt sie in betörende wie verstörende Bilder. Der Film beginnt mit dem Ende: Der Gymnasiast und angehende Dichter Paul Krantz (Daniel Brühl) ist in Untersuchungshaft und wird dem Richter vorgeführt. Er hat gemeinsam mit seinem besten Freund, dem aus wohlhabendem Haus stammenden Günther Scheller (August Diehl), einen Selbstmörderclub gegründet und quasi dem Gericht in den vor dem Mord und Selbstmord verfassten Texten ein Geständnis geliefert (. Abb. 15.3). Drei Tage davor: Paul und Günther planen, das Wochenende auf dem luxuriösen Landsitz von Günthers Eltern in Mahlow nahe Berlin zu verbringen. Sie laden noch einige Freunde aus der Stadt ein; eine ausschweifende, zügellose Party mit viel Alkohol, Sex und der Modedroge Absinth ist das Ziel. Paul verliebt sich in Günthers kokette Schwester Hilde (Anna Maria Mühe), die allerdings mehrere Männer ausprobieren will. Günther ist unsterblich in den bisexuellen Hans (Thure Lindhardt) verliebt, mit dem auch Hilde eine Affäre hat. Günther will aber von Hans loskommen (. Abb. 15.4). Hildes beste Freundin Elli (Jana Pallaske) hat sich unterdessen in Paul verliebt, sie möchte ihn für sich gewinnen, obwohl ihr
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..Abb. 15.4 Hans – das Objekt der Begierde. (© X Verleih AG. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
klar ist, dass er in Hilde verliebt ist. Die ekstatische Fete mit einer Mischung aus Verliebtheit, Alkohol, Absinth, Lebenslust und hemmungsloser Eifersucht erreicht einen Kulminationspunkt in einem Selbstmord und Mordplan. In der Stunde des vollkommenen Glücks wollen die Protagonisten freiwillig aus dem Leben scheiden – am höchsten Punkt. Oder den mit in den Tod nehmen, der ihre Liebe abweist. Nach dem Fest beenden die Jugendlichen ihr Zusammensein nicht, sie treffen einander in der Stadtwohnung der Schellers. Übernächtig, alkoholisiert und erschöpft, feiern sie weiter. Paul und Günther in der Küche der Wohnung. Hans und Hilde im Schlafzimmer, in das Hilde Hans eingeschmuggelt hat. Am Morgen kommt Elli aus dem Nachbarhaus zu Besuch. Günther entdeckt Hans, den Hilde nicht mehr rechtzeitig aus dem Haus schmuggeln konnte, im Schlafzimmer, tötet ihn mit zwei Schüssen und erschießt anschließend sich selbst. Paul wird verhaftet und wegen Doppelmords an Hans und Günther angeklagt. Der Film endet mit dem Freispruch von Paul. Was den Film auszeichnet, sind vordergründig zwei Dinge. Zum einen die herausragenden schauspielerischen Leistungen und zum anderen die einzigartig dichte Atmosphäre, die von Borries im Zusammenwirken von Schauspiel und Bildern erschaffen wird. Die betörenden Bilder von Kamerafrau Jutta Pohlmann erzeugen vor dem Hintergrund der poetischen Geschichte eine unglaubliche Stimmung, von der der Film lebt. Unterstützt wird diese noch von Thomas Feiners nostalgischem Soundtrack, der sich der Salon-Musik der Epoche annimmt, ohne zu übertreiben. Dazu glänzen die Jungdarsteller mit hervorragenden Leistungen. Die Begeisterung und Spannung in den Augen von Günther faszinieren. In der Zügellosigkeit seiner Filmfigur geht Diehl voll auf, er lebt den extravertierten Charakter voll aus. Er ist maßlos arrogant, aber zugleich verletzlich. Daniel Brühl bildet das schauspielerische Pendant. Seine Figur ist introvertiert, ruhig, aber dennoch innerlich voller Leidenschaft. Der in Barcelona geborene Brühl ist für die feineren Nuancen zuständig. Das gelingt ihm gut, auch wenn er nicht ganz an Diehls großartige Performance herankommt. Eine
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schauspielerische Überraschung ist die hervorragende Leistung von Newcomerin Anna Maria Mühe. In der Darstellung der Hilde macht sie alle verrückt – ihren Liebhaber Hans, Paul, der sie verehrt, und nicht zuletzt ihren Bruder Günther, zu dem das Thema Inzest angedeutet wird. Die Vierte im Bunde, Jana Pallaske, fällt ebenfalls nicht aus der Reihe. Auch sie kann als schüchterne Elli, die sich in den Falschen verliebt, überzeugen. So auch der Däne Thure Lindhardt, der erstmals in einem deutschen Film zu sehen ist. Als Objekt der Begierde des Geschwisterpaares Günther und Hilde, als Mittelpunkt der Ménage-à-trois, soll er zur tragischen Figur werden.
Die reale Handlung – Die Steglitzer Schülertragödie »Jugend ist Trunkenheit ohne Wein« Goethezitat aus dem Plädoyer des Verteidigers Dr. Frey kurz vor dem Ende des Mordprozesses (Sack 2016, S. 131).
Am Morgen des 28. Juni 1927 erschoss der Primaner Günther Scheller in der Wohnung seiner Eltern in der Albrechtstraße 72C in Berlin-Steglitz den Kochlehrling Hans Stephan und beging Selbstmord, indem er sich in die Schläfe schoss. Die Eltern der Geschwister Scheller waren nach Stockholm gereist. Zum Zeitpunkt der Tat befanden sich Günther Schellers Schwester Hildegard, und der beste Freund Günthers, Paul Krantz, in deren Stadtwohnung. Während Günther und sein Schulfreund Paul in der Küche saßen, rauchten und tranken, vergnügten sich Hilde und Hans Stephan im elterlichen Schlafzimmer. Das Gespräch von Paul und Günther kreiste wie schon oft zuvor um Liebe und Todessehnsucht, woraufhin die Jungen beschlossen, in dieser Nacht das lang geplante Vorhaben in die Tat umzusetzen. Günther Scheller hatte zusammen mit seinem Freund Paul Krantz einen »Selbstmörderclub« gegründet – sie verfassten Abschiedsbriefe:
RR »1. Der Name dieses Selbstmörderclubs ist Fe-hou. 2. Liebe ist der einzige Grund, für den wir zu sterben bereit sind. 3. Liebe ist der einzige Grund, für den wir töten würden. 4. Wir verpflichten uns daher, unser Leben in dem Augenblick zu beenden, in dem wir keine Liebe mehr empfinden. Und wir werden all diejenigen mit in den Tod nehmen, die uns unserer Liebe beraubt haben.« 28:40 Dazu muss man wissen, dass Paul Krantz »in den 35 Stunden vor der Tat […] nichts zu sich genommen hatte als ein Brötchen. Sonst nur Alkohol, Kaffee, Zigaretten. […] Alkohol, Zigaretten, Qualm, Erotik, Verstiegenheit« (Schlesinger 1977, S. 25).
Dazu die morbide Grundstimmung, die die ganze Nacht herrschte.
RR »Liebes Weltall! Ein winziges Stück Deines Organismus vergeht. Sei nicht böse darüber. Du wirst den Untergang einer Zelle kaum als Verlust empfinden. Tausend andere drängen sich als Ersatz. Die Zeit rollt weiter und weiter, was kümmert sie mein bisschen Leben? Ein kurz aufleuchtender Schein in der Gemeinschaft der Menschen und dann Erlöschen, Staub, Asche. […] Sobald uns von der monde entier [= ganzen Welt, Anm. F.B.] ein Empfang bereitet werden soll, würden wir die letzten Konsequenzen ziehen!« 1:10:00
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Wie wenig ihr Leben unter den gegebenen äußeren Umständen für alle Beteiligten an Wert zu haben schien, macht ein weiterer Notizzettel deutlich, auf den Paul Krantz geschrieben hatte:
RR »In diesem Augenblick werden Hans Stephan und Männe sterben (durch unsere Hand). Wir beide, Günther und ich, werden lächelnd aus dem Leben scheiden!« 0:26 Die Kriminalpolizei fand Günther und Hans tot im Schlafzimmer der Schellers vor und ging zunächst davon aus, dass Günther Scheller den verhassten Kochlehrling und sich dann selbst erschossen hatte. Paul und Günther hatten Abschiedsbriefe hinterlassen, die darauf hinweisen, dass Paul aus enttäuschter Liebe Hilde und dann sich selbst töten wollte, und Günther Hans, bevor er dann ebenfalls freiwillig selbst aus dem Leben schied. Günther vollzog den erweiterten Suizid, Paul ließ es beim Gedanken bewenden (Wikipedia, Was nützt die Liebe in Gedanken). Die Schusswaffe, mit der Günther Scheller erst seinen und den Liebhaber seiner Schwester und anschließend sich selbst erschoss, stammte von einem Mitglied des Jungdeutschen Ordens, dem Krantz und Scheller angehörten, und wurde Krantz »zur Aufbewahrung« anvertraut (Noth 1982). Davon, dass die Tragödie nicht aus heiterem Himmel kam, und nicht nur aus reinem jugendlichem Leichtsinn resultierte, zeugt ein Brief, den Paul an seinen Freund Karowski schrieb. Darin heißt es unter anderem: »Nimm diese Zeilen als letzten Gruß […]. Du magst eventuell wenig Wert darauf legen, dass Dich […] ein Doppel- und Selbstmörder mit seinem letzten Gewissen beehrt. […] Ich glaube, dass die Liebe (staunste was?) mich zur letzten Konsequenz verleitet. […] Ich erschieße erst Günther, dann Hilde, während Günther Hans Stephan zuerst erschießt. […] Günther ist vollkommen einverstanden. […] P. Krantz« (Sack 2016, S. 134).
Der Sensationsprozess der Weimarer Republik Der Fall stellte offensichtlich eine Überforderung für die Öffentlichkeit im Jahre 1928 dar. »Zwei Tote, von denen man dem einen (Günther) Homosexualität nachgesagt wird [sic], was noch jahrzehntelang verboten sein wird. Ein Arbeiterjunge, der seit Wochen im Landhaus der Kaufmannsfamilie Scheller in Mahlow lebt und sich mit seinen Eltern überworfen hat, und zwei 16-jährige Mädchen, Hilde und ihre Freundin Elli, die offensichtlich sehr freizügig waren« (Schlieckau 2015).
Während des Prozesses galt die Aufmerksamkeit vor allem dieser Freizügigkeit und dem selbstbewussten Umgang Hildes mit dem anderen Geschlecht. So schrieb die Berliner Morgenpost am 12.02.1928: »Jetzt hat man den Eindruck, als ob es sich gar nicht um einen Prozeß Krantz wegen Mordes, sondern um einen Prozeß über das Liebesleben von Hilde Scheller handelt« (Die Welt 2004).
Nach siebenmonatiger (!) Voruntersuchung kam die Staatsanwaltschaft zum Schluss, dass der 18-jährige Oberprimaner der Oberrealschule Berlin-Mariendorf, Paul Krantz, mit größter Wahrscheinlichkeit der Mörder ist. Also erhob sie Anklage, und es kam im Februar 1928 vor dem Schwurgericht am Landgericht Berlin II in Moabit zum Aufsehen erregenden Prozess gegen Paul Krantz wegen zweifachen
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Mordes, der Verabredung zum Mord und des verbotenen Waffenbesitzes. Krantz drohte die Todesstrafe (Das Blättchen 2012). Auffällig dabei ist, dass dadurch, dass Günther Scheller Linkshänder und Paul Krantz Rechtshänder waren, relativ leicht eine exakte Zuordnung auch zur damaligen Zeit, erfolgen hätte können, wer wen erschossen hat. Auffällig ist ferner, dass selbst 2004 der Regisseur Achim von Borries dieses Faktum nicht beachtet hat und im Film Günther Scheller mit der rechten Hand die tödlichen Schüsse abgibt. Paul Krantz hatte trotz der zunächst erdrückend erscheinenden Beweislage Glück. Sein Verteidiger Erich Frey (1882–1964) war von seiner Unschuld überzeugt und machte den Prozess zu einem Meilenstein der deutschen Justizgeschichte. Seine engagierte Arbeit spielte eine wesentliche Rolle. Dieser musste, um erfolgreich sein zu können, die Wahrhaftigkeit der Zeugin Hilde Scheller massiv in Zweifel ziehen, was ihm auch gelang. Letztendlich wurde Paul Krantz lediglich wegen verbotenen Waffenbesitzes zu einer durch die Untersuchungshaft verbüßten Gefängnisstrafe von drei Wochen verurteilt. Im Anklagepunkt Totschlag entschied das Gericht auf Freispruch. Der Fall erregte ungeheures Aufsehen, und zwar sowohl in Deutschland als auch international, und es gab auch heftige Debatten zum sittlichen Verfall der Jugend in der Weimarer Republik. Paul Krantz selbst schrieb im Jahr 1931 den Roman »Die Mietskaserne«, in dem er Teile dieses Vorfalls unter dem Pseudonym Ernst Erich Noth schrieb (Noth 2003). »Dieser Fall«,
so Erich Frey später, »der die Gemüter in der ganzen Welt aufwühlte, war für mich mehr als ein Sensationsprozess. Auch hier ging es, wie oft, um den Kopf eines Menschen. Aber mehr noch ging es um seine Seele. Ich kämpfte für Paul Krantz, den Angeklagten, wie ich für meinen eigenen Sohn gekämpft hätte« (Sack 2016).
Theodor Lessing schreibt als Resümee in seiner Gerichtsreportage: »Eine Woche lang hat Moabit aus diesem Kindertrauerspiel einen Sensationsprozess gemacht. Indes hundert Literaten ihre klugen Federn, hundert Lichtbildner ihre Dunkelkammern bemühten, haben Richter, Lehrer, Erzieher, Seelenforscher, ohne schamrot zu werden, keimende Jugend betastet, nackend ausgezogen, viviseziert, ausgepresst. Ausgepresst durch jene Fragemartern, die die Erfahrung der alten Generation stellt, eine durchwegs verderbte und schon seelenhässlich gewordene Erfahrung, die die Jugend nicht besitzt« (Prager Tagesblatt 1928).
Vom Krantz-Prozess gibt es faszinierende zeitgenössische Gerichtsreportagen, so die »Kindertragödie« von Theodor Lessing (1872–1933) und Slings (Sling ist das Pseudonym für Paul Schlesinger [1876– 1928]) psychologisches Meisterwerk »Mordprozess Krantz«. Die Schriftstellerin Clara Viebig hatte ebenfalls an der Gerichtsverhandlung zur Steglitzer Schülertragödie teilgenommen. In ihrem Roman »Insel der Hoffnung« (1933) verarbeitete sie ihre Eindrücke bezüglich der Befragung Jugendlicher über intime Details ihres Privatlebens, die sie als unangemessen und voyeuristisch empfand. Die voyeuristische Begierde der Öffentlichkeit, aber auch die der bei Gericht handelnden Personen, die allesamt durch die Darstellung des Liebeslebens bürgerlicher Jugendlicher erotisiert wurden, wurde von Journalisten wie Dichtern gleichermaßen an den Pranger gestellt und lächerlich gemacht, wie auch das folgende Spottgedicht zeigt:
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Der Prozess Der Landgerichtsdirektor putzt die Brille. Die Atmosphäre ist erotisiert. Er faßt die Zeugin scharf in die Pupille: »Wo hat der Angeklagte sie berührt?« Des Landgerichtsdirektors Zeigefinger Entblättert jenes kleine Sumpfgewächs. Die alten Herren werden immer jünger; Sie leiden immer noch an dem Komplex. Die Damen an der Klimakteriumsgrenze, Obwohl entrüstet über den Morast, Gedenken doch verblühter Jungfernkränze, Wo auch vorzeiten jemand hingefaßt. Durch alle Bänke rieselt etwas Heißes. Mit angehaltenem Atem sitzt man da. Gott, was im Bette vor sich ging, man weiß es! Doch möchte man es hören, wie’s geschah. Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen. Man fühlt sich von Verdrängungen beklemmt. Man kam doch her, sich einmal zu entlösen. Nicht weiter! Einen Blick nur unters Hemd. (Sack 2016, S. 287)
Geschichtlicher Hintergrund – Die Weimarer Republik Zu seinen Lebensjahren in der Weimarer Republik schreibt Krantz: »Die moralisch-soziale Krise, in deren Mitte wir stehen und deren Ende noch nicht abzusehen scheint, sie war doch damals schon in vollem Gange. Unser bewusstes Leben begann in einer Zeit beklemmender Ungewißheit. Da um uns herum alles barst und schwankte, woran hätten wir uns halten, nach welchem Gesetz uns orientieren sollen? Die Zivilisation deren Bekanntschaft wir in den zwanziger Jahren machten, schien ohne Balance, ohne Ziel, ohne Lebenswillen, bereit zum Ruin« (Noth 2002).
Aus dem Ersten Weltkrieg ging das Deutsche Reich als parlamentarische Demokratie hervor. Der politische Neubeginn und die neu erworbene bürgerliche Freiheit weckten Hoffnung auf die Überwindung des Nationalismus und starrer gesellschaftlicher Normen. Die Weimarer Republik hatte anfangs allerdings mit erheblicher politischer Instabilität zu kämpfen: Innerhalb von 14 Jahren gab es insgesamt 16 Reichsregierungen. In der Zeit von 1924 bis 1929 gab es eine Zeit innenpolitischer Ruhe mit wirtschaftlichem Aufschwung und kultureller Blüte. Die »Goldenen Zwanziger« endeten aber mit der im Oktober 1929 beginnenden Weltwirtschaftskrise, in der Armut und Verzweiflung schnell um sich griffen.
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In der Weltmetropole Berlin explodierte in jener Zeit die Kreativität – Malerei, Musik, Kino, Film, Rundfunk, Kabarett sind bis heute bedeutende Phänomene der Weimarer Republik und stehen für die nachhaltige Verklärung dieser kurzen Zeit, die die »goldenen 20er Jahre« genannt werden. Für diese Seite stehen Namen wir Paul Klee, Max Ernst, Käthe Kollwitz, Max Beckmann, Otto Dix, stehen Dadaismus, Expressionismus, Surrealismus, Neue Sachlichkeit oder sozialkritischer Realismus. Thomas und Heinrich Mann, Vicky Baum, Egon Erwin Kisch, Anna Seghers, Erich Maria Remarque, Kurt Tucholsky, Berthold Brecht, Alfred Döblin, Erich Kästner oder Gerhard Hauptmann schufen Literatur von Weltgeltung. Walter Gropius, Mies van der Rohe begründeten den Bauhausstil als bedeutendsten Architekturstil des 20. Jahrhunderts. Zwischen 1918 und 1933 erlangte der deutsche Film Weltgeltung durch Regisseure wie Ernst Lubitsch, Robert Wiene, Friedrich Wilhelm Murnau, Fritz Lang oder Georg Wilhelm Pabst Von den zwischen 1919 und 1933 verliehenen 36 naturwissenschaftlichen Nobelpreisen ging jeder dritte nach Deutschland. Für den damals hohen Stand deutscher Forschung und Wissenschaft stehen Namen wie Albert Einstein, Max Planck, Werner Heisenberg, Lise Meitner, Max Born oder Karl Bosch und Erfindungen wie das Radio, der Tonfilm, der Raketenantrieb oder auch das Fernsehen. Das literarische Schaffen der Zeit war beherrscht von den Themen Krieg, Zerfall, Angst, Ich-Verlust und Apokalypse. Aber auch Wahnsinn, Liebe, Rausch und Natur spielten in der Literatur eine Rolle. 1920 boten in Deutschland 3422 Kinos ihr Programm an. 1930 waren es über 5000. Die jährlichen Besucherzahlen stiegen bis 1928 auf 353 Millionen an. (Filmportal.de: Das Kino als Erfahrungsraum)
Neben diesen Kunstfilmen und den populären Unterhaltungsfilmen kam als zeittypische Erscheinung auch der Sitten- und Aufklärungsfilm hinzu. So befasste sich Richard Oswald 1919 in dem Film »Anders als die Anderen« mit der Kriminalisierung der Homosexualität (Wikipedia, § 175). Insgesamt handelte es sich um eine Epoche, in der traditionelle Werte in Frage gestellt wurden wie nie zuvor, mit der Folge einer massiven Verunsicherung, die sich auch in einer Erhöhung der Selbstmordrate in der Zeit der Weimarer Republik widerspiegelt, und zweifelsohne einen der vielen multifaktoriellen Einflüsse des gegenständlichen Selbstmords darstellt.
Interpretation aus kriminaltechnischer Sicht Im vorliegenden Fall, insbesondere da die Leichen vermutlich nicht bewegt wurden, sondern sich in der ursprünglichen Position befinden, die Leichen nicht manipuliert wurden und die Körper nicht verwest sind, gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, den konkreten Tathergang festzustellen. Bearbeitet man einen solchen Fall, so ist zunächst die Schusshandbestimmung aller zur Tatzeit in der Wohnung befindlichen Personen erforderlich. Dabei wird eine mit Weinsäure getränkte Folie auf die Hand der zu untersuchenden Person gepresst und anschließend mit einem Reagens besprüht. Die Farbreaktion zeigt, ob und wo sich Schusspartikel befinden. Allerdings können diese Partikel durch gründliches, mehrfaches Händewaschen entfernt werden. Da aber keine der vor Ort befindlichen Personen allein war, hätte auch dies ohne Schwierigkeiten durch entsprechende Nachfrage eruiert werden können. Günther Scheller war Linkshänder. Der Schuss traf ihn in der rechten Schläfe. Der Schusssachverständige diagnostizierte aufgrund der Art des Einschusses und des Schusskanals eindeutig Selbstmord. Da beide Leichen vorlagen, nämlich die von Hans Stephan wie auch die von Günther Scheller, waren folgende Untersuchungen möglich: bei beiden eine Schusshandbestimmung, darunter versteht man den Nachweis von Schussrückständen, was Aufschluss darüber gibt, ob jemand geschossen hat und mit welcher Hand. Günther Scheller war Linkshänder, Paul Krantz Rechtshänder. Weiters hinterlässt
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ein aufgesetzter Schuss auf der Haut charakteristische Spuren. Ist die Waffe vom Einschussloch weiter entfernt, so ist es möglich, die exakte Distanz zu bestimmen. Der Schusskanal in den Leichen macht es möglich, eine exakte Aussage dahingehend zu treffen, wo sich die einzelnen Personen zum Zeitpunkt der Schussabgabe befunden haben. Günther Scheller war Linkshänder, Paul Krantz war Rechtshänder, es hätten sich dementsprechend auf Günther Schellers linker Hand Partikel finden lassen müssen, wenn er geschossen hat und Partikel auf Paul Krantz rechter Hand, falls die Schussabgabe durch ihn erfolgte. Ebenso ist es möglich zu eruieren, wie weit Täter und Opfer zum Zeitpunkt der Schussabgabe voneinander entfernt waren. Die Autorin selbst hat das im Zusammenhang mit einer Schussabgabe wie folgt eruiert: OÖNachrichten vom 6. Dezember 1997: Frau genau für heikle Fälle. Auszug aus den OÖNachrichten (1997): »Friederike Blümelhuber ist es gewohnt, den Dingen auf den Grund zu gehen. Denn von ihrer Genauigkeit und Kombinationsgabe kann das Schicksal eines Menschen abhängen. Den OÖNachrichten gewährte Österreichs führende Kriminaltechnikerin jetzt Einblick in ihre verantwortungsvolle Arbeit. Wer im Labyrinth kriminalistischer Streitfälle den rettenden Ariadnefaden finden will, muss sein Heil mitunter in unkonventionellen Experimenten suchen. Zum Beispiel bei Milos M., der am 29.9.96 nach der Rangelei mit einem Kripobeamten in der Linzer Altstadt eine Kugel ins Gesäß abbekommen hatte. Doch aus welcher Distanz hatte der Beamte geschossen? War es wirklich Notwehr? Friederike Blümelhuber löste den Fall auf ihre Weise. Sie beschaffte sich einen Schweinsschlögel (Anmerkung der Autorin: Schweinefleisch und Schweinehaut verhält sich sehr ähnlich wie Menschenfleisch und Menschenhaut), streifte ihm eine Jeans über und hängte das Hintern-Imitat auf dem VÖEST Gelände an einen Baum. Mit der Dienstwaffe nahm sie dann den Schweinsschlögel unter Beschuss – aus wechselnden Abständen. ›Anhand der Schmauchspuren konnte ich zweifelsfrei feststellen, daß der Schuß aus 40 Zentimeter abgegeben worden sein muß‹ berichtet Blümelhuber. Was die Angaben des Beamten bestätigte.«
Analog wäre es auch im gegenständlichen Fall möglich gewesen, die Distanz zwischen Täter und Opfer zu bestimmen. Nicht zuletzt ist auch noch der Winkel, unter dem die Schussabgabe erfolgte, relevant, in welcher Position befanden sich Täter und Opfer? Diese Angaben lassen es zu, die Angaben eines Zeugen zu verifizieren oder zu entkräften. Warum selbst nach monatelanger Untersuchungshaft diese Fakten nicht erhoben wurden und dennoch eine Anklage wegen Doppelmords erfolgte, konnte die Autorin mangels entsprechender Angaben nicht eruieren – es ist nach wie vor völlig unverständlich. Bei den angegebenen chemischen und kriminaltechnischen Untersuchungen handelt es sich auch nicht um brandneue Experimente, sondern sowohl die chemischen wie auch die kriminaltechnischen Untersuchungen sind seit langem bekannt.
Psychodynamik von Mord und Selbstmord RR »Vielleicht ist es so, dass wir nur einmal in unserem Leben wirklich glücklich sind. Nur einmal. Und dann werden wir bestraft. Die Bestrafung ist, dass wir immer an diesen einen Moment denken müssen. Ich denke, man sollte sich im richtigen Moment verabschieden. Und zwar genau dann, wenn man am glücklichsten ist.« 27:01 Verbrechen, bei denen es sich um eine Koppelung von Mord und Selbstmord handelt, sind zwar durchaus häufig, dennoch sind die Kenntnisse über die tieferliegenden Motive und auch deren wissenschaftliche Er-
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forschung spärlich (Buteau 1993; Meloy 1998). Dies verwundert nicht, da ja in solchen Fällen die zentrale Person, die das Verbrechen begangen hat und somit kompetent über ihre Motivation berichten könnte, in den meisten Fällen tot ist. Die Untersuchungen der Kriminalpolizei sind in solchen Fällen meist relativ kurzgehalten. Sobald klar ist, dass der Täter sich selbst suizidiert hat, werden die Untersuchungen häufig rasch eingestellt, und auch das Gericht befasst sich mit diesen Fällen nicht weiter, da es ja keine Person mehr gibt, die angeklagt werden könnte. All das ist im gegenständlichen Fall völlig anders, da zunächst nicht so eindeutig und klar war, wer der Mörder von Hans Stephan war und ob Günther Scheller sich tatsächlich selbst das Leben genommen hat. Dennoch ging hier sowohl die Untersuchung als auch der Prozess an den zentralen Motivationen der Jugendlichen vorbei, extrem groß war die Lust der am Prozess beteiligten Erwachsenen, in recht voyeuristischer Weise sich am Sexualleben der erst 16-jährigen Hilde Scheller zu ergötzen. Wollen wir also etwas über die dahinter liegenden Motive erfahren, helfen uns weder der Film noch das Buch, ja letztendlich auch nur teilweise die Prozessakten weiter, und wir sind auf eigene Überlegungen angewiesen. Wesentlich war unter anderem auch das Gutachten des psychologischen und pädagogischen Sachverständigen Prof. Dr. Eduard Spranger (1882–1963), des Autors der bekannten Schrift »Psychologie des Jugendalters« (1924): »Es ist meiner Meinung nach beinahe niemals möglich, die Psyche des Jugendlichen in Einklang zu bringen mit der Fassung eines juristischen Paragraphen … Das Nachzittern seines ersten Liebes-Erlebnisses, der Alkohol und der mangelnde Schlaf – dass alles bestimmt die aufgeregte Situation. Nie ist die Rede von Mord, sondern immer nur von einer Art erweitertem Selbstmord. Wenn Paul und Günther an das ›Weltall‹ schreiben, ist es halb ernst und halb Theater« (Das Blättchen 2012).
Krantz selbst schreibt: »Was die Ereignisse dieser Unheilsnacht betrifft, bleibt die Tatsache bestehen, dass ich eine Bange, dämonische Stunde lang in den wahnsinnigen Plan eines ›Selbstmords zu Vieren‹ eingewilligt habe. Dass ich nicht oder niemals gänzlich an die Möglichkeit seiner Verwirklichung glaubte und ihn zuletzt ebenso verzweifelt wie erfolglos zu hintertreiben suchte, ändert nichts an der gedanklichen Verfrevelung, die sich aus den wüsten Wirrungen dieser perversen Nacht gebar« (Noth 2002).
Die literarischen Werke von Paul Krantz wären ihm beinahe zum Verhängnis geworden, hatte er doch das, was er dann letztendlich nicht getan hatte, niedergeschrieben und gleichsam ein Geständnis für eine Tat, die er gar nicht begangen hatte, geliefert: Auf dem Boden liegt die Leiche Meines Freundes Robert Krause, Aus der Wunde sickert langsam Rotes Blut zur grauen Erde. Neben ihm sitzt stierem Blickes Er, der ihn gemordet hat. Es verglimmt die Zigarette Zitternd in der Mörderhand. Blutverschmiert liegt neben ihm Noch der Dolch, der ihn getroffen, Der ihm seine Liebste stahl. Den die Rache jetzt erreichte. … Paul Krantz (Berliner Morgenpost 1928)
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Milieu von Günther und Hildegard Scheller Hildegard und Günther Scheller entstammen äußerst wohlhabenden Eltern, die ihnen neben finanziellen Wohlstand auch bewusst große Freiheit in jeder Hinsicht gestatten. Im Landhaus der Schellers, in Mahlow, südlich von Berlin, wo viele Berliner ein Sommerhaus besitzen, sind die 16 bis 19-jährigen Jugendlichen meist ohne Erwachsene und können dort ohne jegliche Kontrolle tun und lassen, was sie wollen. Der reichliche Vorrat an Alkohol aller Art steht ihnen zur Verfügung und tut das seine dazu, dass die Sache außer Kontrolle gerät. Zum Tatzeitpunkt befinden sich die Eltern im Ausland und die Jugendlichen können eine unbeschwerte Zeit mit Freunden, Musik und Absinth verleben. Sie amüsieren sich unbeaufsichtigt und genießen die Freizügigkeit ihres Lebens. Die wohlstandsverwahrlosten Kinder haben eine Erziehung ohne Grenzen bezüglich materieller Dinge genossen, es fehlte ihnen aber an emotionaler Zuwendung und Liebe. Den Kindern fehlen konsistente Richtlinien. Die Welt wird als unzuverlässig und unberechenbar erlebt (Bronisch 2014). Die latente Homosexualität von Günther Scheller spielt bei seiner Verunsicherung zweifelsohne eine nicht unbedeutende Rolle. Im Allgemeinen zeigen Homosexuelle hinsichtlich der Parameter Hoffnungslosigkeit, Selbstwert, Substanzmissbrauch einen engen Zusammenhang mit Suizidalität und psychischer Gesundheit (Henseler 1990; Liem 2010; Plöderl 2004).
Das Milieu von Paul Krantz Paul, der Angeklagte, ist ein lediges Kind. Die Mutter lebt zu diesem Zeitpunkt allein, und der Lehrer, der sie geschwängert hat, heiratet sie nicht, daher wird Paul von der Mutter die ersten sechs Jahre seines Lebens zu den Großeltern gegeben, die das Kind sehr lieben, gleichzeitig aber auch zum Wunderkind stilisieren. Im Alter von sechs Jahren, seine Mutter ist nunmehr verheiratet, kommt er in den mütterlichen Haushalt. In großer Armut lebt er mit Mutter, Stiefvater und drei Geschwistern in sehr beengten ärmlichen Verhältnissen in einer Mietskaserne, aufgrund seiner großen Begabung erhält er aber schließlich einen Freiplatz in der Odenwaldschule. Doch mit dem Freiplatz allein ist es ja nicht getan, die Kosten für Bücher, Hefte und einigermaßen adäquate Kleidung sind in einem so ärmlichen Haushalt sehr schwer aufzubringen, und das Nicht-mithalten-Können mit seiner gut betuchten Umgebung führt zunächst zu einer gewissen Isolation, wie Paul Krantz später in seinen Schriften selbst beschreibt (Noth 2003, S. 15 ff.). Zwar lebt er im elterlichen Haushalt, aber in einer Art innerer Emigration, so als ob er weitab von den Eltern leben würde. Trotz alledem ist Paul aber deutlich besser geerdet als Günther, sodass es ihm letztendlich gelingt, von den ursprünglichen Mord- und Selbstmordplänen abzulassen. Pauls Eltern zeigen während des Prozesses deutlich mehr Emotion und Hilfestellung als die Eltern Scheller und versuchen ihren Sohn in diesen schweren Stunden nicht allein zu lassen. Alkohol als Problemlöser ist in der Welt von Paul Krantz selbstverständlich, sein Stiefvater ist Musiker und kommt sehr häufig stockbetrunken nach Hause, wenn er überhaupt nach Hause kommt und seine Frau nicht gerade mit einer seiner zahlreichen Liebschaften betrügt.
Die unsichtbaren Eltern Auffällig ist im Film das Nichtvorhandensein der Eltern, und diese haben sich ja auch tatsächlich aus dem Leben ihrer Kinder weitgehend zurückgenommen. Die Eltern Scheller, also die Eltern von Hilde und Günther, sind äußerst wohlhabend und verfügen über eine elegante Stadtwohnung in Berlin Steglitz und über ein Sommerhaus im Süden von Berlin, in Mahlow. Die Eltern bezeichnen ihre Erziehung als liberal und sind ihren Kindern gegenüber finanziell extrem großzügig, wobei hier vielfach die Grenze zwischen Großzügigkeit und Gleichgültigkeit verschwimmt. Immerhin ist Hilde erst 16 Jahre alt und hier tagelang mit zahlreichen älteren Jugendlichen im Sommerhaus ohne jeden Erwachsenen. Hinzu kommt, dass der reichlich bestückte Weinkeller den Jugendlichen beliebig zur Verfügung steht,
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dass die hochprozentige Modedroge Absinth im Übermaß genossen wird und zahlreiche wahllose sexuelle Beziehungen im Rausch selbstverständlich sind. Orientierungslosigkeit und Depression machen sich breit, der Umgang mit dem Tod, mehr oder weniger spielerisch, der Revolver als Spielzeug sind erste Anzeichen des kommenden Dramas. Es ist auch durchaus charakteristisch, dass sich die Eltern im Verlauf des Prozesses darauf stürzen, Paul Krantz als den Schuldigen zu sehen und zu deklarieren, obwohl es ihr eigener Sohn ist, der in diesem Verbrechen die zentrale Rolle spielt.
Homosexuelle als Außenseiter der Gesellschaft Die Homosexualität von Günther Scheller spielt für den Selbstmord eine nicht unwesentliche Rolle. Wie der Autorin aus zahlreichen Therapien mit Homosexuellen bekannt ist, spielt das durch die Gesellschaft erzwungene Außenseiterdasein der Homosexuellen in Sachen Depression und Lebensmüdigkeit eine wesentliche Rolle (ORF 2010). Die damalige Rechtslage hat gleichfalls nicht unwesentlich dazu beigetragen. Laut Paragraf 175 des Deutschen Strafgesetzbuches war im Jahr 1927 die sexuelle Beziehung zweier Männer miteinander immer noch mit Strafe bedroht. Wenngleich Günther aufgrund seiner gesellschaftlichen Position unter der negativen Einschätzung der Homosexualität weniger bedroht ist als Personen der Unterschicht, zwingt ihn seine damals noch mit Strafe bedrohte Homosexualität dennoch zum Verstecken und Verbergen seiner homosexuellen Neigungen. Es stellt sich in diesem Film die Frage, ob es tatsächlich um Liebe geht oder um Liebelei. Wie in zahlreichen Filmen wird hier Liebe mit Sex, Begierde und Bedürfnis nach Zuwendung verwechselt. Hier, in der homosexuellen Partnerschaft, geht es um die gleichen Probleme wie in heterosexuellen Partnerschaften. Es geht um Besitzansprüche, Erwartungen von Exklusivität und Treue, und wenn die eigenen Bedürfnisse und Wünsche nicht erfüllt werden, um das spontane Umschlagen von »Liebe« in Hass und Aggressivität. Eine erwachsene Liebe, die offen und annehmend ist, kommt hier nicht vor. Die Protagonisten sehen die eigentliche Erfüllung darin, geliebt zu werden, und nicht darin zu lieben. So sind die Geschehnisse im Film häufig frustrierend, traurig und unschön. Bei der Steglitzer Schülertragödie stellt sich die Frage, warum sich gut abgesicherte Jugendliche umbringen, ganz unvermittelt, scheinbar aus nichtigem Anlass, überflutet von Gefühlen, übermannt von einer merkwürdigen Todessehnsucht. Einer der Beweggründe für Günther Schellers Freitod ist wohl, dass der bisexuelle Hans Stephan die gesellschaftlich eher akzeptierte Beziehung zu seiner Schwester Hilde vorzieht (Freud 1922). Martin Plöderl hat in seiner Dissertation »Sexuelle Orientierung, Suizidalität und psychische Gesundheit« schwule, lesbische und bisexuelle erwachsene Österreicher befragt. Dabei stellte es sich heraus, dass Menschen mit sexueller in der Gesellschaft nicht so gut akzeptierter Prägung wesentlich häufiger depressiv sind, an Selbstmord denken, einen Selbstmord planen oder einen Suizidversuch machen. (Plöderl 2004) Vergleicht man das Suizidrisiko mit dem der Heterosexuellen, so ist es bei Homosexuellen circa siebenmal so hoch wie bei Heterosexuellen. Die Hauptursache dafür dürfte die geringe soziale Unterstützung, insbesondere auch die nicht stattfindende durch die eigenen Eltern sein. Günther kann seine Konflikte nicht adäquat verarbeiten und zieht sich in die Geborgenheit des Todes zurück (Meloy 1992). Neben der mangelnden gesellschaftlichen Akzeptanz spielen aber auch die schwierige persönliche Einstellung zur Homosexualität, Hoffnungslosigkeit und ein geringeres Selbstwertgefühl eine Rolle (Plöderl 2016). Interessant ist, dass Paul Krantz, wiewohl durch Hildes Spottgedicht zumindest verbal kastriert, sich dennoch nicht entschließt, die geplante Tat auch tatsächlich auszuführen. Sie schenkt ihm zwar – einmalig – ihre Gunst, sagt ihm aber klar und deutlich, dass sie seine sexuellen Aktivitäten als äußerst unzureichend empfindet – und wohl nicht zuletzt deshalb – den Sexualkontakt mit Hans Stephan vorzieht.
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Wie unterschiedlich die Gefühle von Hilde für Paul respektive von Paul für Hilde waren, wird klar und deutlich aus den beiden nachfolgenden Gedichten ersichtlich. Die Kaltschnäuzigkeit von Hilde bezüglich der Gefühle von Paul kommt klar zum Ausdruck, ihr sorgloser Umgang mit den Gefühlen anderer Menschen hat ja nicht zuletzt auch zum Tod ihres Bruders mit beigetragen. Aber auch Paul ist sich trotz aller Verliebtheit durchaus klar, worauf er sich einlässt. Hildes Gedicht an Paul
Pauls Gedicht an Hilde
RR Dies Buch trägt die Ergüsse deiner Seele. Mein Sohn, du bist poetisch angehaucht Zwar sind die Reime ohne Fehle doch die Gedanken sind in Finsternis getaucht Auch scheint es mir, da du noch jung an Jahren Daß dein Erleben in der Liebe nur erträumt Ich fürcht’, du bist darin noch reichlich unerfahren. Beeile dich, du hast schon viel versäumt. Ein Mädel wird sich schön bedanken, Wenn deine Glut nur aus Gedichten spricht. Was nützt die Liebe in Gedanken? Kommt die Gelegenheit, dann kannst du’s nicht Doch ist das noch kein Grund, sich zu erschießen. Die Kugel spare Dir zu anderm Zweck. Auch würden viele Tränen fließen, Das lohnt sich nicht, für solchen Dreck.
Die wilde Glut in Deinen Küssen Entfachte meine Leidenschaft Nun bin ich Dein mit aller Kraft Und werd es bitter büssen müssen. Doch ewig bin ich Dir verfallen Du Schönste, Herrlichste von allen. Ich will im süßen Rausch versinken, In heißen Küssen tief ertrinken, In Deinen Armen will ich liegen, Mich leidenschaftlich an Dich schmiegen Dich gierig, heiß und wild umfassen. Denn niemals kann ich von Dir lassen, Obgleich schon der Verrat aus jedem Kusse spricht Bist Du mein Leben und mein schönstes Licht! (Sack 2016, S. 228)
19:41
Im Film wird ferner eine inzestuöse Beziehung zwischen Hilde und Günther Scheller angedeutet, was wohl ein weiterer Grund für Günther Schellers Selbstmord sein könnte. Paul Krantz spielt zwar theoretisch bei den Statuten des Selbstmörderclubs mit, aber bei der letzten Konsequenz springt er ab und ist wohl um einiges besser geerdet als Günther Scheller. Resümee: Ein Selbstmordgeschehen ist immer multifaktoriell, es gibt dabei gesellschaftliche und individuelle Einflüsse (Bills 2017). Gesellschaftlich spielen die massiven Veränderungen in der Weimarer Republik eine Rolle, die generell für einen Anstieg der Selbstmordrate sorgen. Individuell ist die Homosexualität von Günther Scheller von großer Bedeutung, die ihm eine noch wesentlich düstere Zukunftsprognose damals, in den 1920er Jahren, als heute erwarten lässt. Der Vertrauensbruch seines Geliebten, der ihn nicht nur mit irgendeiner Frau, sondern mit seiner Schwester, mit der ihn eine inzestuöse Beziehung verbindet, betrügt, trägt das ihrige zum Suizid bei. Auch die Orientierungslosigkeit, beeinflusst durch ein Nichtvorhandensein von Richtlinien im Elternhaus, spielt eine nicht unwesentliche Rolle.
RR »Wir haben das einzig Richtige getan, wir haben gelebt.« 1:20:00
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Literatur Berliner Morgenpost vom 10. Februar 1928. Auf dem Boden liegt die Leiche Bills CB (2017) The relationship between homicide and suicide: a narrative and conceptual review of violent death. International Journal of Conflict and Violence. http://www.ijcv.org/index.php/ijcv/article/view/400/pdf. Zugegriffen: 15. Sept. 2018 Bronisch T (2014) Der Suizid. Ursachen. Warnsignale.Prävention. Beck, München Buteau J et al (1993) Homicide Followed by Suicide: A Quebec Case Series, 1988–1990. Can J Psychiatry. https://doi. org/10.1177/070674379303800805 (16.10.2018) Das Blättchen (2012) 20. August 2012. Frank-Rainer Schurich Die Schülertragödie von Steglitz. https://das-blaettchen. de/2012/08/die-schuelertragoedie-von-steglitz-14783.html. Zugegriffen am 13. Mai 2019. Die Welt (2004) 31. Jänner 2004. Gregor Sander »Auf dem Boden liegt die Leiche …«. https://www.welt.de/print-welt/ article289950/Auf-dem-Boden-liegt-die-Leiche.html. Zugegriffen am 14. Mai 2019. Filmdienst.de (2003) Was nützt die Liebe in Gedanken. https://www.filmdienst.de/film/details/521774/was-nutzt-dieliebe-in-gedanken. Zugegriffen: 21. Juli 2019 Freud S (1922) Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia, Homosexualität. I Henseler H (1990) Narzißtische Krisen. Zur Psychodynamik des Selbstmords, 3. Aufl. Westdeutscher Verlag, Opladen Kölner Stadtanzeiger (2004) 12. Februar 2004. »Was nützt die Liebe in Gedanken«: Trunkenheit ohne Wein. Liem M (2010) Homicide followed by suicide: a review. Aggression and violent behaviour. https://www.researchgate.net/ publication/223840323_Homicide_followed_by_suicide_A_review. Zugegriffen: 16. Okt. 2018 Meloy JR (Hrsg) (1998) The psychology of stalking. Clinical and forensic perspectives. Elsevier, San Diego Meloy JR et al (1992) Violent attachments. Jason Aronson, New Jersey Meyer zu Küingdorf A (1999) Der Selbstmörder Klub. Reclam, Leipzig Noth EE (1982) Erinnerungen eines Deutschen. Claasen, Berlin Noth EE (2002) Die Tragödie der deutschen Jugend. Glotzi, Frankfurt am Main Noth EE (2003) Die Mietskaserne. glotzi, Frankfurt am Main OÖNachrichten (1997) 6. Dezember 1997. A. Krieglsteiner: Frau genau für heikle Fälle. ORF (2010) Selbstmordgefahr bei Homosexuellen viel häufiger. https://sciencev1.orf.at/news/112837.html. Zugegriffen: 16. Okt. 2018 Plöderl M (2004) Sexuelle Orientierung, Suizidalität und psychische Gesundheit. Beltz, Weinheim Plöderl M (2016) LSBTI und psychische Gesundheit: Fakten und Erklärungsmodelle. https://www.psychotherapiewissenschaft.info/index.php/psywis/article/view/257/508. Zugegriffen: 21. Juli 2019 Prager Tagesblatt (1928) 14.Februar 1928. T. Lessing: Kindertragödie Sack H (2016) Moderne Jugend vor Gericht. Sensationsprozesse, »Sexualtragödien« und die Krise der Jugend in der Weimarer Republik. transcript, Bielefeld Schlesinger P (1977) Richter und Gerichtete: Gerichtsreportagen aus den zwanziger Jahren. dtv, München Schlieckau F (2015) Sorgenkinder des Lebens – Königskinder der Moderne. Liebe als Bewältigungskonzept für Modernisierungsprozesse in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts am Beispiel von Heinrich, Thomas und Klaus Mann. Diss. phil. Freie Universität Berlin. https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/11286/DISSERTATIONFERTIG_ Veroeffentlichung.pdf?sequence=1&isAllowed=y. Zugegriffen: 13. Aug. 2019 Schnitzler A (2014) Reigen. Reclam, Stuttgart Schopenhauer A (1819) Die Welt als Wille und Vorstellung. Brockhaus, Leipzig TV-Media (2018) 29 September 2018. Lohninger und Fiedler: Babylon Berlin – die dunklen Seiten der Goldenen Zwanziger Wikipedia § 175. https://de.wikipedia.org/wiki/%C2%A7_175. Zugegriffen: 20. Mai 2019 Wikipedia Babylon Berlin. https://de.wikipedia.org/wiki/Babylon_Berlin. Zugegriffen: 16. Apr. 2019 Wikipedia Was nützt die Liebe in Gedanken. https://de.wikipedia.org/wiki/Was_n%C3%BCtzt_die_Liebe_in_Gedanken. Zugegriffen: 19. Mai 2019
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Eine verhängnisvolle Ménage à trois
Originaltitel
Was nützt die Liebe in Gedanken
Erscheinungsjahr
2004
Land
Deutschland
Drehbuch
Hendrik Handloegten und Achim von Borries (nach einer Vorlage von Annette Hess und Alexander Pfeuffer)
Regie
Achim von Borries
Hauptdarsteller
Daniel Brühl, August Diehl, Anna Maria Mühe, Thure Linhardt
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Reinhard Skolek
Selbstmord als Opfer Die Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Die andere, bessere Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Walt Kowalski, der erlöste Erlöser . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Trost zum Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Sterben als Pflegefall? Heldentod oder doch nur Suizid? . . 227 Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_16
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Filmplakat Gran Torino. (© Warner Bros. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Gran Torino (2008) Reinhard Skolek
Die Handlung Der Witwer Walt Kowalski und seine Familie Der Film beginnt mit der Totenmesse für Walt Kowalskis verstorbene Ehefrau in einer katholischen Kirche. Der junge Pater Janovich hält eine oberflächliche Predigt mit Floskeln wie zum Beispiel vom »bittersüßen Tod«. Unter den Trauergästen befinden sich die beiden erwachsenen Söhne von Walt mit ihrer Familie. Sie machen sich über ihren Vater lustig. Walts Enkelin kommt unpassend gekleidet zur Totenmesse, nabelfrei mit Nabelpiercing. Sie langweilt sich demonstrativ während der Trauerfeierlichkeiten und spielt mit ihrem Handy. Walt findet die Feier widerlich. Nach der Totenmesse versammeln sich die Trauergäste in Walt’s Haus. Pater Janovich bedrängt Walt im Auftrag von dessen verstorbener Frau mit der Aufforderung zur Beichte. Walt reagiert verärgert. Die Beziehung zwischen Walt und seiner Familie ist gegenseitig von Unverständnis und Geringschätzung geprägt. Walt weist Hilfsangebote seines Sohnes und seiner Enkelin mit verletzenden Bemerkungen brüsk zurück. Walts Enkelin geht gelangweilt in Großvaters Garage und raucht dort eine Zigarette. Als Walt die Garage betritt, lässt sie die Zigarette zu Boden fallen. Sie findet es lächerlich, dass Großvater die Zigarette (wegen Explosionsgefahr) austritt. Unverblümt fragt sie ihn, wer nach seinem Tod den kostbaren, in der Garage stehenden Ford-Oldtimer »1972er Gran Torino Sport« erhalten soll. Sie würde ihn gerne bekommen und auch andere Dinge aus Großvaters Haus. Walt spuckt verächtlich vor ihr aus.
Walt Kowalski, ein Patriot An Walt Kowalskis Haus weht die US-Flagge. Den winzigen Rasenflecken vor seinem Haus verteidigt Walt wie US-Territorium mit dem Gewehr in der Hand (. Abb. 16.1, Filmplakat). Er ist stolz, fünfzig Jahre lang als Fließbandarbeiter amerikanische Autos der Marke Ford gebaut zu haben. Sein Oldtimer Ford Gran Torino ist sein größter Stolz. Walt verachtet Amerikaner, die japanische Autos fahren, so wie seinen Sohn, der japanische Autos verkauft.
Walt Kowalski, ein Rassist Walt ist der letzte weiße Amerikaner in einer jetzt nur mehr von Asiaten bewohnten Gegend. Für Walt sind die asiatischen Nachbarn alle verachtungswürdige Schlitzaugen, Feinde, gegen die er im Kambodscha-Krieg gekämpft hat. Er spuckt vor seiner alten asiatischen Nachbarin aus. Sie macht das Gleiche. Beide verachten einander und akzeptieren sich gegenseitig nicht als Nachbarn.
Held und »Weichei« Im Nachbarhaus wohnt Thao, ein netter Jugendlicher mit seiner Schwester, seiner Mutter und Großmutter. Er verrichtet im gemeinsamen Haushalt Arbeiten wie zum Beispiel Geschirrspülen. Seine Großmutter befürchtet, dass er nie ein »richtiger Mann« werden, nie »der Mann im Haus« sein wird. Der vietnamesische Vorname »Thao« ist eigentlich ein Mädchenname und bedeutet »Höflichkeit«. Er passt gut zu seinem unmännlichen Namensträger. Thao widersetzt sich dem Drängen seines Cousins, Mitglied in dessen krimineller Jugend-Gang zu werden. Der Cousin verspottet Thao (so wie später es auch Walt tut) als »Weichei« und setzt ihn so lange unter Druck, bis er widerwillig einer Mutprobe
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Selbstmord als Opfer
..Abb. 16.2 Walt vertreibt die Gang. (© Warner Bros. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
zustimmt. Er soll zur Initiation für die Aufnahme in die Männerwelt der Gang Walt’s Auto, den Ford Gran Torino, stehlen. Der Autodiebstahl wird von Walt vereitelt. Thao kann unerkannt entkommen. Die Gang terrorisiert Thao und seine Familie. Walt greift mit dem Gewehr im Anschlag in eine Rauferei vor seinem Haus ein und vertreibt die Gang (. Abb. 16.2). So wird er ungewollt zum Beschützer und Helden der asiatischen Nachbarn. Diese bringen ihm aus Dankbarkeit immer wieder Geschenke. Walt will sie zuerst nicht annehmen und wirft sie in den Müll.
Sue, Thaos Schwester und der Schamane Walt beobachtet zufällig, wie eine Gang schwarzer Jugendlicher Thaos Schwester Sue bedrängt. Er greift mit einer Pistole in der Hand ein und rettet Sue vor der Gang. Durch diesen Vorfall entsteht unbeabsichtigt Nähe zwischen den beiden. Sue schafft es mit Empathie und Charme, Walt zur Teilnahme an einer Geburtsfeier im Haus ihrer Familie zu überreden. Unter den Gästen befindet sich ein asiatischer Priester-Heiler, der Walt ständig beobachtet. Sue führt Walt zu dem Schamanen. Dieser blickt Walt sehr lange in die Augen. Er sieht Walts Verbitterung, erkennt Walts unerlöste Seele. Sue übersetzt die Worte des Schamanen. Walt reagiert betroffen. Während des Besuchs macht Sue Walt auch mit ihrem Bruder Thao bekannt. Walt bemerkt, dass sich der schüchterne Nachbarjunge nicht traut, ein offensichtlich an ihm interessiertes Mädchen anzusprechen. Walt provoziert ihn und nennt ihn »Weichei«. Walt beginnt sich langsam mit den Nachbarn anzufreunden.
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..Abb. 16.3 Walt hustet Blut. (© Warner Bros. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Walt Kowalski – todkrank Walt hustet immer wieder Blut (. Abb. 16.3). Er raucht trotzdem weiter Zigaretten und versucht seine Erkrankung zuerst zu ignorieren und zu verharmlosen, bis er von seiner Ärztin über seine schwere, vermutlich tödlich verlaufende Krankheit informiert wird. Walt wirkt sehr betroffen und versucht sich seinem Sohn mitzuteilen. Das scheitert aber am Unvermögen beider. Der Vater kann sich dem Sohn nicht anvertrauen, der Sohn hat kein Interesse und keine Zeit für seinen Vater.
Vater wider Willen und Thao wird »männlich« Als Thaos Mutter vom Einbruch ihres Sohnes in Walt’s Garage erfährt, zwingt sie ihn, sich bei Walt zu entschuldigen und als Wiedergutmachung für ihn zu arbeiten. Nur so könne die Ehre der Familie wiederhergestellt werden. Walt lässt Thao Schäden an den Häusern der Nachbarschaft reparieren. Dabei entwickelt er immer mehr Gefallen an dem sympathischen, anständigen, arbeitswilligen und fleißigen Jugendlichen. Walt übernimmt für Thao immer mehr die Rolle eines Vaters. Thao sieht seine Zukunft pessimistisch. Walt will ihn aus seiner Lethargie herausholen, ihm einen Job verschaffen. Er versucht ihn auf die Arbeit in der »harten Männerwelt« von Bauarbeitern vorzubereiten. Aus Thao dem »Weichei« soll ein »ganzer Mann« werden. Der Besuch der beiden Männer bei Walts befreundetem italienischstämmigen Friseur soll eine Lektion in männlichem Auftreten und in männlicher Sprache werden. Es wird ein fast parodistisch anmutender Dialog mit »männlichen« Kraftausdrücken, Flüchen und rassistischen, aber nicht böse gemeinten wechselseitigen Beschimpfungen: Zwei weiße US-Amerikaner werfen mit ärgsten rassistischen Schimpfworten einander (lachend) ihre jeweils italienischen und polnischen Wurzeln vor. Thao findet die Lektion etwas lächerlich, spielt aber nach einigem Zögern mit und lernt schnell. Mit seinem neuen männlichen Auftreten und mithilfe von Walt schafft er es als
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Selbstmord als Opfer
Bauarbeiter einen Job zu bekommen. Walt ist dem schüchternen Thao auch bei dessen erstem Date mit einem netten Mädchen behilflich und borgt Thao dafür sogar seinen wertvollen Gran Torino.
Die Spirale der Gewalt Thao wird auf dem Heimweg von der Arbeit von der Gang seines Cousins überfallen, gequält und verletzt (. Abb. 16.4). Walt greift ein. Er schlägt ein Mitglied der Gang brutal zusammen, mit der Absicht, die Gang einzuschüchtern und sie vor weiteren Angriffen auf Thao abzuhalten. Der Plan misslingt. Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter. Die Gang beschießt das Haus von Thao mit Maschinenpistolen und vergewaltigt Sue. Walt wird bewusst, dass die Verbrecher Thao und Sue niemals mehr in Frieden lassen werden. Alle Nachbarn haben Angst vor der Gang und trauen sich nicht, mit der Polizei zu kooperieren. Die Polizei ist machtlos. Thao bedrängt Walt massiv mit dem Vorhaben, seine Schwester zu rächen. Walt steht unter großem Druck. Er will die Gang ausschalten und Thao vor einer unüberlegten, folgenschweren Handlung abhalten. Walt trifft seine Entscheidung alleine. Nach längerem inneren Kampf scheint er die richtige, stimmige Lösung gefunden zu haben. Er wirkt ruhig und zufrieden, mäht den Rasen vor seinem Haus, geht in feierlicher Stimmung zu seinem Friseur, lässt sich von ihm die Haare schneiden und zum ersten Mal nach vielen Jahren auch rasieren. Dann kauft er einen eleganten Anzug für festliche Anlässe und betrachtet sich wohlwollend im Spiegel. Nachdem er Thao im Keller eingesperrt hat, um ihn am Kampf mit der Gang zu hindern, übergibt er seinen geliebten Hund an Thaos Großmutter.
..Abb. 16.4 Die Gang quält Thao. (© Warner Bros. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Walt Kowalskis Tod Walt stellt sich vor das Haus der Gang und provoziert sie. Die Mitglieder der Gang schießen auf den Unbewaffneten im Glauben, dass er bewaffnet sei. Der Atheist Walt Kowalski stirbt mit einem Gebet an Maria, die Mutter Gottes, auf den Lippen auf offener Straße im Kugelhagel der Gang. Viele Menschen werden Zeugen des Mordes. Die Polizei verhaftet die Gangmitglieder. Diese haben mit langen Gefängnisstrafen zu rechnen. Ihr Terror ist beendet. Aufgrund Walts testamentarischer Verfügung erhält die Kirche sein Haus, so wie es seine Frau gewollt hätte, und Thao bekommt Walts Gran Torino. Walts enttäuschte Familienmitglieder erben nichts. Walts Enkeltochter hatte sich schon fix als Erbin des Gran Torino gesehen.
Die andere, bessere Predigt Die Geschichte von Walt Kowalski endet dort, wo sie begonnen hat: bei einer Totenmesse in Walts Kirche. Pfarrer Janovich hält nun für den toten Walt die Predigt, so wie am Beginn des Films für dessen Frau. Diesmal wirkt die Predigt aber ergreifend, persönlich, belebt durch Inhalte aus den Begegnungen mit Walt Kowalski und persönlichen Erfahrungen des Priesters mit Gewalt, Sühne und Tod. Im Verlauf des Films sind wesentliche seelische Veränderungs- und Wachstumsprozesse von drei Personen zu beobachten: von Walt, Thao und Pater Janovich. Die Veränderungen dieser Männer bedingen einander und entwickeln sich aus ihren Beziehungen zueinander.
Walt Kowalski wird ein aufopfernder Vater Walt beichtet Pater Janovich, dass er seine Söhne nie verstanden habe. Wahrscheinlich war er ihnen kein guter Vater. Das kann man auch aufgrund der im Film dargestellten schlechten Vater-Sohn-Beziehung vermuten. In der väterlichen Beziehung zu Thao holt Walt wahrscheinlich an seinen Söhnen Versäumtes nach. Er übernimmt Verantwortung für Thao, unterstützt, fördert und beschützt ihn, kämpft für ihn und krönt seine väterliche Beschützer-Rolle, indem er sein eigenes Leben für Thao und dessen Schwester Sue opfert.
Walt Kowalskis Wandlung eines Rassisten Für Walt sind am Beginn des Films alle Asiaten verachtungswürdige Schlitzaugen und Feinde. Der Kriegsveteran steht mit ihnen noch immer auf »Kriegsfuß«. Erst von Sue erfährt er, dass die asiatischen Nachbarn im Korea-Krieg auf Seiten der Amerikaner standen. Walt lernt allmählich, zwischen Feinden und Freunden zu unterscheiden sowie zwischen »guten« und »bösen« Asiaten. Thao, Sue und ihre Mutter verkörpern die anständigen, ehrenhaften, friedliebenden, arbeitswilligen, kurz – die »guten« Asiaten. Thaos Cousin und die anderen Mitglieder der kriminellen Jugend-Gang stellen die »bösen« Asiaten dar. Anfangs verallgemeinert Walt, »wirft alle Schlitzaugen in einen Topf«. Er verwechselt zunächst auch hartnäckig den Namen »Thao« mit »Mao«, er verwechselt den Namen seines Nachbarn mit dem Namen des verfeindeten chinesischen Kommunistenführers. Religionen, Ideologien, Begriffe die mit »…ismus« enden, so wie zum Beispiel »Rassismus«, tragen das Potenzial von Feindbildern, Vorurteilen, Pauschalierungen und Ausgrenzung anderer in sich. Die offene und persönliche Begegnung mit diesen anderen ermöglicht,Vorurteile abzubauen, zu differenzieren und Projektionen von Feindbildern zurückzunehmen. Walt würde das vermutlich nie freiwillig machen. Er wird aber durch die Geschehnisse in seiner Nachbarschaft widerwillig zu immer intensiver werdenden Kontakten mit seinen asiatischen Nachbarn gedrängt. In der Nachbarsfamilie findet Walt letzten Endes alles, was er in seiner eigenen Familie nicht finden kann: Wertschätzung, Dankbarkeit, Anteilnahme, Fürsorge.
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Im Laufe der Zeit stellt sich heraus, dass Sue und ihre anfangs von Walt verachtete Familie nach jenen Werten leben, für die er selbst auch lebt und stirbt. Es entsteht eine intensive Beziehung zwischen Walt und seinen asiatischen Nachbarn, die in Walts Opfer-Heldentod zum Schutz dieser Menschen ihren Höhepunkt erreicht.
Walts Enkeltochter und Sue die Seelenführerin Walts Enkeltochter bringt ihrem Großvater weder Verständnis noch Respekt entgegen. Ihr einziges Interesse am Großvater gilt seinem wertvollen Auto, dem Ford Gran Torino. Sie stellt mit ihren Piercings, ihrer provokativ zur Schau getragenen Langeweile, ihrer schlampigen Körperhaltung das Gegenstück zu ihrem geraden, »aufrechten« Großvater und seinen Wertvorstellungen dar. Man kann sie als Negativbild einer Wohlstands-Spaß-Gesellschaft verstehen: haben wollen ohne zu geben, Leben ohne Leistung und ohne soziale Verantwortung. Walt verachtet sie ebenso wie seinen Sohn, ihren Vater. Sue verkörpert das Gegenstück zu Walts Enkeltochter: einfühlsam, authentisch, offen, bezogen, hilfsbereit, selbstbewusst, klug und charmant. Sue merkt, dass Walt leidet, sorgt sich um ihn, nimmt Anteil an seinem Leben und bewundert ihn als Helden. Sue spielt in der seelischen Entwicklung von Walt als »Seelenführerin« eine wichtige Rolle. Sie stellt den Kontakt Walts zu ihrer Familie und vor allem zu Thao her. Sie vermittelt zwischen den verfeindeten Nachbarn. Ohne sie könnte Walt seine rassistischen Vorurteile nicht abbauen und bekäme auch keine Chance, seinem tristen Leben als väterlicher Freund von Thao wieder Sinn zu geben. Sue führt Walt außerdem zum Schamanen, der Walts Leid und Verbitterung erkennt und anspricht. Damit wird in Walt ein Selbstreflexions- und Veränderungsprozess ausgelöst. Sue bringt Walt nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit sich selbst, mit seinem Unbewussten in Kontakt.
Walt Kowalski, der erlöste Erlöser Auch Pater Janovich ist im Auftrag von Walts verstorbener Ehefrau um Walts Seelenheil bemüht. Er schafft es trotz vieler, auch kränkender Zurückweisungen Walt näher zu kommen und ihn mit Fragen über Gewalt, Schuld und Vergebung zu konfrontieren. Walts seelische Entwicklung wird auch an den Veränderungen seines Umgangs mit Pater Janovich sichtbar: Zuerst zeigt er ihm seine Verachtung, verweigert ihm das Gespräch, wirft ihn aus dem Haus. Er nennt ihn einen »siebenundzwanzigjährigen Streber« ohne Lebenserfahrung, zuletzt aber spricht er ihn anerkennend mit »Vater« an. Zu Recht wirft Walt dem Priester vor, über den Tod zu predigen, aber nichts davon zu verstehen. Er hingegen hätte in Kambodscha den Tod hautnah erfahren. Der Pater stimmt Walt zu, wirft ihm aber andererseits vor, dass er, Walt, vom Leben und von Schuld und Vergebung nichts verstünde. Nachdem Walt ein Mitglied der Gang brutal zusammengeschlagen hat, konfrontiert ihn der aufgebrachte Priester mit dem Vorwurf der Selbstjustiz. Walt meint immer noch, wie im Korea-Krieg, Konflikte ohne Polizei und mit Gewalt selbst lösen zu können. Dadurch macht er sich aber mitschuldig an der Gewalt-Eskalation. Langsam nähert sich Walt in mehreren Gesprächen mit dem Priester über das Leben und den Tod seiner eigenen, aus dem Kambodscha-Krieg stammenden, Schuld an, die ihn schon jahrzehntelang belastet. Die zuletzt doch noch stattfindende Beichte endet aber enttäuschend. Es scheint, als ob Walt den Priester mit Geständnissen vorwiegend unbedeutender Sünden loswerden will. Die Absolution durch Pater Janovich ist ebenso eine Farce wie die Geständnisse von Walt. Der Priester ahnt, dass Walt das Wichtigste verschwiegen hat und vermutet einen bewaffneten Angriff Walts auf die Gang. Er will diesen Akt der Selbstjustiz verhindern und wartet mit Polizisten vor dem Haus der Gang auf Walt. Die Polizisten ziehen aber nach einiger Zeit des vergeblichen Wartens, noch bevor Walt erscheint, mit dem Priester ab. Pater Janovich hat verständlicherweise damit gerechnet, dass Walt so handeln würde, wie er bisher immer gehandelt hat. Aber Walt hat offenbar eingesehen, dass Gewalt
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immer wieder Gewalt auslöst und will dem ein Ende bereiten. Überraschend schafft er durch seinen Opfer-Heldentod die Ausschaltung der verbrecherischen Gang ohne Selbstjustiz, ohne selbst wieder schuldig zu werden. Diesmal spielt Clint Eastwood nicht eine seiner üblichen Heldenrollen, in denen er mit Verbrechern kugelreich aufräumt. Diesmal verlässt – auch entgegen den Erwartungen seiner Kinofans – keine einzige Kugel seinen Colt, diesmal lässt er sich erschießen und wird dadurch zum Sieger. Davor ist es Walt außerdem gelungen, den rachedurstigen Thao von Gewalttätigkeiten abzuhalten, die Thao ins Gefängnis bringen würden oder dem waffenunkundigen Jugendlichen das Leben kosten könnten. Walt beendet den Terror und die Spirale der Gewalt.
Walts Opfertod und Wandlung Walts Tod erinnert an den Opfertod Christi, der damit nach christlicher Auffassung die Menschheit erlöst hat. Das katholische »Vater-unser-Gebet« endet mit den Worten: »und erlöse uns von dem Bösen«. Mit seinem Opfertod erlöst Walt nicht nur Thao und seine Nachbarn von der »bösen« Gang, sondern auch sich selbst. Die Art, wie er in den Tod geht, so zufrieden, ruhig, erleichtert und »gelöst«, rechtfertigt die Annahme, dass seine Seele endlich Frieden gefunden hat. Mit dem Opfertod hat Walt seine seelische Wandlung abgeschlossen. In der christlichen Messe stellt der Ritus des Opfertods, der Wandlung und der Wiederauferstehung Christi das zentrale Element dar. Wenn man Riten und religiöse Vorstellungen beiseitelässt, bleibt die einfache profane Erkenntnis, dass »Opfern«, das Aufgeben der bisher gelebten Erlebens- und Verhaltensmuster, Voraussetzung für Veränderung, für »Wandlung« und damit für Neues, für neue Möglichkeiten ist. Walt gibt auf, was ihn aus seiner ursprünglichen Sichtweise stark und unabhängig gemacht hat. Zuerst verzichtet er auf seine Überzeugung rassisch begründeter Stärke und Überlegenheit über die »Schlitzaugen«, dann gibt er sein unabhängiges Eigenbrötler-Dasein auf und lässt sich auf Beziehungen, vor allem mit Thao und Sue, ein, übernimmt Verantwortung und wird verletzbar. Zuletzt »opfert« er noch seine Waffen, lässt seine Pistole und sein Gewehr aus dem Koreakrieg zu Hause und zieht ohne sie in sein letztes Gefecht. Der starke »alte Walt« kannte nur eine Art der Konfliktlösung: Sieg durch Gewalt. Der »neue Walt« scheint schwach zu sein, er lässt sich erschießen! Aber es ist dieser neue Walt, der die Klärung der vorher als ausweglos erschienen Situation ermöglicht. Walt ist Held geblieben oder sogar noch mehr Held geworden. Walt hat sich nicht zum »Weichei« entwickelt, denn er könnte noch immer so kämpfen wie früher aber er muss es nicht mehr. Es steht ihm eine Alternative, eine neue Möglichkeit zur Verfügung. Walt hat innerhalb kurzer Zeit vor seinem Tod, vielleicht durch den von seiner terminalen Lungenerkrankung ausgehenden Zeitdruck begünstigt, eine bemerkenswerte Persönlichkeitsentwicklung, »Wandlung«, durchgemacht. In der Psychotherapie spielt die Aufgabe der alten, »eingeschliffenen« Erlebens- und Verhaltensmuster eine zentrale Rolle, besonders, wenn sie zumindest teilweise – wie bei Walt – erfolgreich waren und für die Betroffenen alternativlos scheinen. Die Aufgabe des vermeintlich Alternativlosen wird von Unsicherheit, Orientierungslosigkeit und manchmal großer Angst begleitet. In Nachträumen lassen sich dann immer wieder Motive von Tod und (»Wieder«-)Geburt finden. Symbolisch drückt der Tod in diesen Träumen das angstmachende Ende des bisherigen Lebens, der bisherigen Art zu leben aus. Das Symbol der Geburt oder das Symbol des (neugeborenen) Kindes in derartigen Träumen können neues Leben, neue Lebens-Möglichkeiten, einen Neubeginn symbolisieren. Nach dem physischen Tod von Walt Kowalski ist natürlich kein Neubeginn mehr möglich. Walts Neubeginn hat aber mit grundlegenden Veränderungen schon vorher in seinem letzten Lebensabschnitt begonnen. Sein neues Leben beginnt nicht, sondern endet mit seinem Opfertod, den man als konsequenten Ausdruck und Abschluss seines neuen Lebens verstehen kann.
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Walts Sühnetod Walt gibt erst gegen Ende des Films dem beharrlichen Drängen von Pater Janovich nach und lässt sich von ihm die Beichte abnehmen. Er beichtet vorwiegend belanglose Sünden, seine größte Schuld allerdings, die Schuld für ein Kriegsverbrechen, deutet er nur einmal in einem Gespräch mit dem Pater an, verschweigt sie aber dann bei der Beichte. Er offenbart das Geheimnis nur Thao, erst kurz vor seinem Tod. Walt erschoss im Kambodscha-Krieg einen Jungen, obwohl dieser sich ergeben wollte. Thao ist jetzt so alt wie dieser junge Mann damals war. Walt gibt sein Leben für den Nachbarjungen Thao, wahrscheinlich auch zur Sühne für das Leben, das er im Krieg einem anderen Jungen genommen hat. Walts Tod wird um eine Facette reicher. Sein Opfertod ist gleichzeitig auch ein Sühnetod. Für Walts Tat im Koreakrieg gab es keinen Befehl, auf den sich Walt hätte berufen können. Für sein Kriegsverbrechen hätte sich Walt vermutlich aber vor keinem Gericht verantworten müssen. Seine Tat ist in den Wirren des Gefechts wahrscheinlich auch niemanden aufgefallen. Walt hätte sich vielleicht doch auf seine Pflicht als Soldat ausreden können oder auf einen emotionalen Ausnahmezustand während der Kampfhandlungen. Er selbst aber weiß, wahrscheinlich als Einziger, was damals in Korea wirklich vorgefallen ist. Er kann sich selbst nichts vormachen. Er hat Schuld auf sich geladen, unter deren Last er seit dem Krieg leidet. Seine verstorbene Frau wusste von seinen Gewissensbissen und wollte daher unbedingt, dass er sein Gewissen durch eine Beichte bei Pater Janovich erleichtere. Der Priester musste Walts Frau vor ihrem Tod versprechen, dass er sich um Walts Seelenheil bemühen würde. Die kurz vor Walts Tod stattfindende Beichte endet – wie bereits erwähnt – nicht zufriedenstellend. Walt kann sein Gewissen im Gespräch mit dem Pater nicht erleichtern. Vielleicht schafft er es noch immer nicht, sich anderen Menschen anzuvertrauen und als Bittsteller auf Verständnis und Vergebung zu hoffen. Vielleicht meint er, dass er ohnehin seine Schuld nur mit seinem Tod sühnen könne. Er wählt diese, zu seiner Persönlichkeit besser passende »männlich-kriegerische«, von der Vergebung durch den Priester unabhängige Variante, vielleicht auch deswegen, weil er sich ohnehin schon für den OpferHeldentod zur Rettung Thaos entschlossen hat.
Walts Heldentod Über den Sinn des Lebens ist schon viel gedacht, gesagt und geschrieben worden. Lebenssinn ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für ein lebenswertes Leben. Wie steht es aber um den Sinn des Todes? Wäre der Tod nicht leichter annehmbar, wenn wir auch ihm Sinn verleihen könnten? Helden schenken ihrem Tod Sinn, indem sie vermeintlich oder tatsächlich ihr Leben für etwas Größeres opfern, das mehr wert erscheint als ihr eigenes Leben. Menschen konnten und können durch in Aussicht gestellte Belohnungen im Jenseits, im siebten Himmel oder Walhalla oder wie immer diese Himmel heißen mögen, zum Heldentod verführt werden. Helden erhalten aber auch noch im »Diesseits« ein staatliches sowie stattliches Heldenbegräbnis unter Anteilnahme der Gesellschaft, für die sie etwas Großes vollbracht haben, für deren Bestand, deren Freiheit, für deren Werte sie gekämpft haben. Die vielen Heldendenkmäler in Städten und Dörfern und nach Helden benannte Plätze erinnern an die »unsterblichen« Toten. Dem Heldentod ist die allgemeine wertschätzende Aufmerksamkeit und Dankbarkeit der jeweiligen Religionsgemeinschaft, Nation, oder Wertegemeinschaft sicher. Der Heldentod verleiht dem Tod Größe. Kein unbemerktes Verglimmen, kein bedeutungsloses Verblassen, keine ohnmächtige Niederlage – sondern ein Sieg! Sylvester Stallone spricht als »John Rambo« im Film »Rambo 4« eindrucksvoll die heldenhaften Worte: »Lebe für Nichts oder stirb für Etwas«! Dieser Ausspruch drückt die existenzielle Bedeutung der Suche nach dem Lebenssinn aus, auch wenn dieser erst durch den Tod gefunden werden kann oder der Tod den dafür zu bezahlenden Preis darstellt. Auch Walt Kowalski wird von seinen Nachbarn als Held verehrt und mit Geschenken überhäuft. Er stirbt nicht nur den Opfertod für Thao und dessen Schwester (und für sich), sondern auch den
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Heldentod für Recht und Ordnung, für die Guten, die Fleißigen, die Anständigen. Er versteht sich als Patriot, der für die Werte seiner Nation kämpft und stirbt. Das Leben von Walt wäre aber weniger zufriedenstellend zu Ende gekommen, wenn er nicht noch während seiner letzten Lebenszeit befriedigende Beziehungen hätte aufbauen, anderen helfen und Thao wie ein guter Vater zur Seite hätte stehen können. Ein Opfer-Heldentod kann diese Taten nicht ersetzen, aber er krönt sie und schließt sie ab.
Trost zum Abschied Hohes Alter, Zufriedenheit mit dem gelebten Leben und zunehmende Einschränkungen oder Schmerzen lassen den Tod annehmbarer erscheinen, für die Sterbenden, aber auch für die Hinterbliebenen. Wenn man im Lauf des Lebens wichtige Vorhaben den eigenen Möglichkeiten entsprechend umsetzen konnte, wenn man ein sinnerfülltes Leben im Einvernehmen mit den eigenen Wertvorstellungen, Ambitionen und Begabungen führen konnte, fällt der Abschied leichter. Ein unerfülltes Leben, ungelöste Konflikte, »offene Rechnungen« machen hingegen den Abschied schwer. Walt Kowalski gelingt es, zuletzt doch noch Versäumtes nachzuholen, einiges wiedergutzumachen und seine Schuld zu sühnen. So kann er versöhnt doch noch auf ein »abgerundetes« Leben zurückblicken und in Frieden gehen. Manche Menschen machen sich über den Tod wenig Gedanken, sie akzeptieren mehr oder weniger, dass sie einmal sterben müssen: »aus, basta«. Für manche ist der Tod das absolute Ende, der Beginn ewiger Finsternis, der trostlose Schritt in die Schwärze des Nichts. Manche glauben an die Wiederauferstehung des Leibes, andere an die Reinkarnation, wieder andere zumindest an eine Art physikalischer Unsterblichkeit im Wandel von Masse in Energie und umgekehrt. Manche glauben an Belohnungen im Jenseits für ein meist von der jeweiligen Religion gefordertes vorbildliches Leben als guter Mensch und für ihre im Diesseits begangenen guten Taten. In der christlichen Auffassung hat man diese nicht nur für andere Menschen, sondern für Gott getan. Religionen haben schöne, zum Teil beglückende Vorstellungen vom Jenseits und vom Leben nach dem Tod geschaffen. Für wirklich gläubige Menschen mag das Trost genug sein. Walt Kowalski verfügt vermutlich über keine derartig tröstenden Vorstellungen, er ist Atheist. Die zum Trost der Hinterbliebenen gepredigten Worte des jungen Pater Janovich beim Begräbnis von Walts Frau sind im Priesterseminar auswendig gelernte banal und hohl klingende Worte. Er spricht von der Bittersüße des Todes, wobei die Heimkehr zum Vater im Himmel das Süße am Tod wäre, der Sinn des Todes. In den ersten Filmszenen mit dem jungen Pfarrer zeigt sich Walts Verachtung dem frischen Priesterseminar-Absolventen und »Streber« sowie überhaupt der Religion gegenüber. Dann verändert sich zwar seine Haltung gegenüber Pater Janovich, aber Trost spenden dessen religiöse Vorstellungen über das Jenseits und die Heimkehr zu Gott wahrscheinlich immer noch nicht. Im Bewusstsein Walts bedeutet der Tod nichts Süßes, macht der Glaube an die Heimkehr zu Gott keinen Sinn. Walt stirbt aber mit einem Gebet an die Maria Mutter Gottes auf den Lippen. Wie passt das zu Walt, dem Atheisten? Was sind Walts letzte Gedanken während des Sterbens? Was sieht er, bevor es ganz finster wird? Was geht in ihm vor, wenn am Ende des Sterbens das kritische Denken ausgeschaltet wird? Kehrt er dann heim zu Maria, (s)einer guten Mutter? Betritt er das trostlose Reich der Schatten oder doch das Himmelreich?
Sterben als Pflegefall? Heldentod oder doch nur Suizid? Menschen, die den Freitod wählen, haben die »Freiheit« gewonnen, ihr Leben nach eigenem Willen zu beenden. Diese Möglichkeit kann einem Menschen Hoffnung geben: »Er kann gehen wann er will!« Er muss den Tod nicht erdulden, er kann ihn wählen! Wirklich freiwillig wird das aber wahrscheinlich nie sein. Der Freitod kann in besonderen Situationen als das kleinere Übel erscheinen – in der Wahl
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zwischen einem unerträglichen Leben, zum Beispiel von unheilbar Kranken, und der Beendigung des Lebens. Der Opfer-Heldentod von Walt überstrahlt einen anderen, im Film weniger beleuchteten Aspekt seines Todes, eines Selbstmords aus weniger heldenhaften und selbstlosen Motiven. Walt hustet in mehreren Filmszenen Blut und leidet vermutlich an Lungenkrebs. Das nahende Ende dürfte ihm bewusst sein. Sterben als Pflegefall wäre keine akzeptable Aussicht für Walt und andere heldenhafte Einzelgänger, wie sie Clint Eastwood in zahlreichen Filmen verkörpert hat: misstrauische, unabhängige Typen mit selbstbestimmtem Leben. Sie würden so sterben wollen wie sie gelebt haben: stark, unabhängig und einsam. Man kann auch die Frage stellen, ob es für einen Krieger wie den ehemaligen Kambodscha-Kämpfer Walt (trotz der vor seinem Tod noch entstandenen Persönlichkeitsveränderungen) ehrenvoll sei, nicht im Kampf zu fallen, sondern im Bett zu sterben? Ist der Heldentod für einen Krieger nicht dem Lebensende im Spitalbett – mit Infusionsschläuchen, schmerzstillenden und lebensverlängernden Medikamenten – vorzuziehen? In Altenheimen kann man alte Menschen beobachten, die sich schon weit von der Außenwelt in ihre Innenwelten zurückgezogen haben. Manche von ihnen lächeln, sehen zufrieden aus wie Babys an der Mutterbrust. Andere blicken misstrauisch, ängstlich, abweisend. Die alten Menschen erwecken den Eindruck, in ihre frühe Kindheit zurückgekehrt zu sein und diese nochmals zu erleben. Wie in der Kindheit ist der alte Mensch als Pflegebedürftiger wieder darauf angewiesen von seinen Familienangehörigen und Betreuer*innen in seinen Bedürfnissen und Wünschen erkannt und verstanden zu werden. Er kehrt in einen Zustand kindlicher Abhängigkeit und Wehrlosigkeit zurück. Wir erfahren im Film nichts über die Kindheit von Walt, können aber annehmen, dass er in dieser oder auch später ein Mensch geworden ist, der sich anderen nicht anvertrauen kann und dem es sehr schwer fällt, Hilfe anzunehmen. Walt ist nicht der Typ, der seine Autonomie aufgeben könnte, der sich vertrauensvoll der Pflege in einem Altenheim oder Krankenhaus hingeben würde. Das zeigt sich unter anderem in jener Filmszene, in der Walt dem unsensiblen Drängen seines Sohnes und dessen Frau, in ein betreutes Altenheim zu übersiedeln, wütend zurückweist und die beiden aus seinem Haus hinauswirft. Walt stirbt stolz, aufrechten Hauptes den Heldentod im Kugelhagel des Feindes statt im Spitalbett dahinsiechend, immer schwächer und hilfsbedürftiger werdend. Er stirbt im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte, bei vollem Bewusstsein, als das was er immer war oder zumindest sein wollte. Mit seinem Heldentod erspart sich Walt den Tod als Pflegefall. Er endet als er selbst und nicht als ein anderer, ein durch Hirn-Metastasen oder schmerzstillende Opiate Veränderter, sich selbst nicht mehr Erkennender, ohne Orientierung, ohne Kontinuität, als halluzinierender Teil dessen, was er einst einmal war. Walt Kowalski könnte fragen: Warum wählen schwerkranke Menschen trotz ihres unvermeidlich nahen Endes und trotz großer Schmerzen, trotz zunehmender Hilflosigkeit und Abhängigkeit und manchmal sogar trotz würdeloser Behandlung nicht den Freitod? Der Tod ist so etwas Unbegreifliches, Endgültiges und unser angeborener Lebenswille meist so stark, dass wir unsere Sterblichkeit verleugnen, verdrängen und die meisten von uns selbst als Todgeweihte noch an Wunder glauben wollen, um bis zum letzten Atemzug weiter zu kämpfen. Viele Menschen haben aber wahrscheinlich auch weniger Angst als Walt, ihre Autonomie aufzugeben, von anderen enttäuscht zu werden und sich pflegen zu lassen. Wäre das Verhältnis Walts zu seinen Kindern besser, würde er sich vielleicht doch in Abhängigkeiten von ihnen und in den bergenden Schoss seiner Familie wagen. Von dieser hat er aber tatsächlich nichts Gutes zu erwarten. Er wäre seinen Angehörigen gleichgültig bis lästig, würde von ihnen nicht ernst genommen, nicht verstanden, nicht liebevoll gepflegt werden.
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Schlussbetrachtungen Der Freitod Walt Kowalskis stellt eine Kombination von mehreren Arten des Freitods dar: dem Opferund Heldentod, dem Sühnetod und dem Selbstmord im Zusammenhang mit einer schweren unheilbaren Erkrankung. Mit seinem Freitod trifft Walt »mehrere Fliegen auf einen Schlag«: Er entzieht sich dem beschwerlichen, langen und vielleicht qualvollen Sterben eines unheilbar Kranken, opfert sich heldenhaft für die Freiheit und Sicherheit seiner Nachbarn, sühnt seine Schuld, versöhnt sich mit den ehemaligen asiatischen Feinden und gewinnt einen von ihnen als Sohn, dem er im wahrsten Sinn des Wortes ein »aufopfernder« Vater geworden ist. Walt macht im letzten Abschnitt seines Lebens noch eine bemerkenswerte seelische Entwicklung durch und findet seinen Frieden. Mit seinem Freitod schließt er diese Entwicklung ab. Walts Mission ist damit beendet. Er hat das als Vater seiner leiblichen Söhne Versäumte mit dem Nachbarjungen nachgeholt und in ihm einen würdigen Erben und Nachfolger für seinen Ford Gran Torino gewonnen. Wäre ein anderes Ende von Walt Kowalski vorstellbar als das im Film gezeigte? Wie könnte die Zukunft von Walt und dessen Nachbarn im Fall von Walts Überleben aussehen? Das muss der Fantasie der Cineasten überlassen werden. Ich kann mir Walt Kowalski als Leihopa mit kleinen Kindern von Thao oder Sue am Schoss schwer vorstellen. Walt mit der Großmutter von Thao und Sue auf Walts Terrasse scheint trotz aller Versöhnung auch nicht sehr realistisch. Walt zufrieden im Kreis seiner eigenen Familie wäre ein Thema für einen ganz anderen Film. Ich kann Walt – wie bereits beschrieben – auch nicht im Pflegeheim oder sterbend im Krankenhaus sehen. Walt als Revolverheld und strahlender Sieger über eine Übermacht von Verbrechern wäre platt und billig und würde den Film seines Tiefgangs berauben. So erscheint mir Walts Ende durch seinen Freitod im Einklang mit seiner Persönlichkeit und den seelischen Wachstumsprozessen in seinem letzten Lebensabschnitt schlüssig und stimmig.
Epilog Thaos gelungene Initiation: Vom Weichei zum Mann im Haus Walt sieht in Thao seinen »wahren Sohn«, seinen Erben, indem er ihm seinen kostbarsten Besitz, testamentarisch überlässt: den Gran Torino! Hier schließt sich der Kreis: Die Geschichte hatte damit begonnen, dass Thao den Gran Torino hätte stehlen sollen, um seinen Mut und seine Männlichkeit zu beweisen. Er muss zur Sühne des versuchten Diebstahls für Walt arbeiten und findet in ihm einen väterlichen Lehrer für die Initiation in die Männerwelt. Von Walt lernt er, dass man sich die Dinge des Lebens erarbeiten, manchmal auch erkämpfen muss. Thao verdient ehrlich Geld durch harte Arbeit am Bau. Mit seinem Ersparten will er später vielleicht ein College-Studium finanzieren. Der schüchterne Thao gewinnt mit Walts Hilfe eine Freundin und wird entgegen den Befürchtungen seiner Großmutter doch noch »der Mann im Haus«. Thao wird aber kein Mann nach dem Vorbild von Walt, kein Plagiat dieses Auslaufmodells. Er kann seine »weiblichen« Persönlichkeitsanteile, die er durch seine Sozialisation ausschließlich im Kreis von Mutter, Großmutter und Schwester entwickelt hat, durch von Walt stammendes »Männliches« ergänzen. Er wird ein moderner Mann, der Männliches und Weibliches in sich vereint.
Das Ziel: Der Gran Torino Als Anerkennung und Preis für seine gelungene Entwicklung, Initiation erhält Thao den Gran Torino, nach dem der Film auch benannt ist. Der kostbare Wagen symbolisiert Ziel und Preis der Initiation. Diesen Preis muss man verdienen. Man kann ihn nicht stehlen und nicht umsonst bekommen. Walts
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Enkelin hat ihn nicht verdient, aber auch Thao wäre er anfangs nicht zugestanden. Der Gran Torino symbolisiert auch die Werte von Walt Kowalski, Nationalstolz, Patriotismus, Tradition, Leistung, Freiheit und Männlichkeit. Der Film klingt feierlich mit der Fahrt von Thao im Gran Torino entlang des Meeres oder eines großen Sees aus. Der Wagen hat im Geiste Walts seinen würdigen Nachfolger gefunden.
Originaltitel
Gran Torino
Erscheinungsjahr
2008
Land
USA/Australien
Drehbuch
Nick Schenk (Drehbuch), Dave Johansson (Story)
Regie
Clint Eastwood
Hauptdarsteller
Clint Eastwood, Christopher Carley, Bee Vang, Ahney Her, Brian Haley
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Bernd Rieken
Der Tod kommt beim Filmen Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Ein Skandalfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Lady Godiva, Peeping Tom und Mark Lewis – Aggression und eine Prise Sexualität . . . . . . . . . . . . . . 239 Wissenschaftsgeschichtlicher Hintergrund . . . . . . . . . . 243 Abschließende Bemerkung: ein konsequenter Selbstmord 244 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_17
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Filmplakat Augen der Angst. (© J. Arthur Rank Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Augen der Angst (1960) Bernd Rieken
Inhalt
Passend zum deutschen Filmtitel sieht man als erste Einstellung in Großaufnahme ein zunächst geschlossenes, aber nervös zuckendes Auge, das sich sogleich zur Gänze öffnet und Angst offenbart. Danach erblickt man eine großstädtische, aber kaum belebte Straße bei Nacht und eine blonde Prostituierte namens Dora, die in eine Auslage schaut. Ein Mann, Mark Lewis, gespielt von Karlheinz Böhm, geht auf sie zu, der eine Bell and Howell Filmkamera anschaltet, die sich versteckt in seinem Mantelsack befindet. Dann blickt der Zuschauer durch das Objektiv, das – ähnlich einem Fadenkreuz im Fernrohrbild eines Gewehres – durch eine senkrechte und eine waagrechte Linie unterteilt ist, die einander genau in der Mitte des Objektivs kreuzen. Als er ihr ganz nahe ist, dreht sie sich zu ihm um und antwortet sachlich:
RR »Es kostet zwei Dollar«, was ein wenig kurios ist, weil der Film in Großbritannien spielt und »zwei Pfund« ein realistischerer Preis in der damaligen Zeit, zu Beginn der 1960er Jahre, gewesen wäre (. Abb. 17.1, Filmplakat). Die gesamte nächste Sequenz durch die Kamera blickend, sehen wir Dora zunächst in ihr Haus gehen, wobei Mark, bevor er sich hineinbegibt, um ihr zu folgen, die Umverpackung einer leeren, im typischen Kodak-Gelb gehaltenen Plus-X 16 mm Filmkassette in einen Mistkübel wirft. Nachdem sie begonnen hat, sich auszuziehen, hören wir auf einmal ein schnalzendes Geräusch, das vom raschen Entfernen des Aufsatzes eines Stativbeins herrührt, unter dem sich eine scharfe Messerspitze befindet. Lewis geht damit und der am Stativ befindlichen Kamera langsam auf sie zu und richtet gleichzeitig eine Leuchtquelle auf ihr Gesicht sowie in ihre Augen, die mehr und mehr von panischer Angst ergriffen werden. Sie schreit und ruft
RR »nein, nein«. Dann ein plötzlicher Wechsel, es fällt der Blick auf einen laufenden Filmprojektor, der in Schwarz-Weiß just jene Bilder bis zu Doras Ermordung zeigt, welche wir eingangs gesehen haben. Dabei wird die Titelsequenz eingeblendet, beginnend mit »Peeping Tom« – wie der Film auf Englisch heißt –, was auf Deutsch »Voyeur« und wörtlich übersetzt »blickender Thomas« bedeutet. Wir befinden uns in Lewis’ Haus, einer pompösen viktorianischen Villa, und er schaut sich, nachdem er den Film entwickelt hat, den Mord an, den er vor kurzem begangen hat. Am nächsten Morgen ist die Leiche bereits entdeckt, und Mark filmt die Polizei bei ihrer Arbeit nebst der toten Dora, die auf einer Tragbahre weggebracht wird, wobei einige der Szenen wiederum durch das Auge von Marks Kamera gefilmt werden. Danach begibt er sich in eine Trafik, für deren Besitzer er Soft-Porno-Fotos anfertigt, welche dieser unterm Ladentisch an betuchte Kunden aus der Londoner Oberschicht verkauft (. Abb. 17.2). Dann geht er hinauf in die oberhalb der Trafik gelegene Wohnung, wo sich das Atelier befindet, um Pin-Up-Fotos anzufertigen. Neben einem ihm bereits bekannten Model ist dort auch eine junge Frau namens Lorraine, die sich zum ersten Mal fotografieren lässt und die Mark zunächst nur von der Seite sieht. Als sie sich ihm zuwendet, sieht er, dass ihr Gesicht durch eine große Narbe auf der rechten Oberlippe entstellt ist.
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Der Tod kommt beim Filmen
..Abb. 17.2 Mark Lewis in der Trafik, für dessen Besitzer er erotische Fotos anfertigt, die sich ein im Hintergrund befindlicher Interessent anschaut. (© J. Arthur Rank Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
RR »Er [= der Mann, der sie vermittelt hat, Anm. B.R.] sagte, mein Gesicht brauchst Du nicht zu fotografieren«. Mark, ganz ergriffen, antwortet:
RR »Das will ich aber, […] ich will es […]. Und hab’ keine Scheu, vor mir ist es, für mich ist es auch das erste Mal […]. Ich meine, vor Augen, die wie, vor Augen, die so voller …«. Während er die holprigen Sätze spricht, geht er mit seiner Kamera auf sie zu und filmt ihre Augen. In der nächsten Einstellung schenkt sich das andere Model einen Tee ein – und in der direkt folgenden Szene eine blinde ältere Frau, Mrs. Stephens, einen Whiskey in ihr Glas. Damit befinden wir uns wieder in Marks Villa, die er von seinem Vater geerbt hat, aber alleine nicht unterhalten kann, weswegen er mehrere Zimmer an Fremde vermietet, unter anderem an Mrs. Stephens und ihre Tochter Helen. Diese feiert gerade ihren 21. Geburtstag mit Freunden; die Stimmung ist ausgelassen, und als Mark heimkommt, geht sie zur Tür hinaus und fragt, ob er mitfeiern wolle. Er lehnt ab, doch später klopft sie an seiner Wohnungstür an, um ihm ein Stück von ihrer Geburtstagstorte zu bringen. Sie verwickelt ihn in ein Gespräch und bewegt ihn dazu, ihr einen seiner Filme zu zeigen.
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Man sieht einen kleinen Buben im Bett liegen, es ist Mark als Kind, der von seinem Vater gefilmt wird. Zunächst schläft er, doch dann wacht er erschrocken auf, wobei ein Licht, das von der Kamera kommt, auf sein Gesicht fällt. In der nächsten Szene klettert er auf den Lattenzaun des elterlichen Grundstücks und beobachtet im benachbarten Park ein Paar, das sich leidenschaftlich küsst.
RR »Mark, wie seltsam, dass Ihr Vater das gefilmt hat.« – »Soll ich ausmachen?« – »Nein«. Dann wieder Mark im Bett, unruhig sich hin- und herwälzend. Als sein Vater eine circa 20 Zentimeter große »Echse« auf die Tuchent legt und diese sich eilig auf ihn zubewegt, ist er voller Panik. Helen ist entrüstet, doch Mark richtet seine Kamera auf sie und lässt ein Licht auf ihr Gesicht fallen. Auf ihre empörte Frage, was er da tue, antwortet er:
RR »Ich wollte Sie filmen beim Zuschauen«. – »Nein!«, wehrt sie entrüstet ab.
RR »Bitte helfen Sie mir, das zu verstehen.« Zwischenzeitlich fällt der Blick wieder auf das, was der Vater aufgenommen hat, nämlich den in Panik vor der »Echse« zurückweichenden und weinenden Mark. Aus dem Off hört man die Stimme des Vaters:
RR »Das reicht jetzt, Mark. Trockne Dir die Augen, und hör auf, so dumm zu sein«. Daraufhin fragt Helen:
RR »Also Mark, was hat das alles zu bedeuten? Das war eine Echse, nicht wahr, oder war es ein …?« – »Echse.« Nota bene und gewissermaßen als Fußnote sei angemerkt, dass die im Film so bezeichnete »Echse«, die in der filmwissenschaftlichen Literatur als »Eidechse« angegeben wird, weder das eine noch das andere ist. Das Tier hat keine Schuppen, dafür vorstehende Augen mit Wülsten, lange Zehen, eine glatte Haut, und sein Gang ist gemächlich. Kurzum es dürfte sich eher um einen Salamander handeln, was auch besser zu dessen Stellung im Volksglauben passt, der ihm einen ausschließlich dämonischen Charakter zuschreibt und ihn als Kind des Teufels betrachtet (vgl. Webinger 1987, Sp. 457 f.), während die Eidechse zumindest ambivalent betrachtet wird, als dämonisches Wesen, aber auch als Schutzgeist (Riegler 1987, Sp. 676–683). Doch fahren wir nun weiter fort mit der Inhaltsangabe: Helen fragt Mark:
RR »Wie ist sie dahingekommen, Mark? Das ist doch nicht normal. War sie etwa ein Haustier?« – »Nicht meins.« – »Wollen Sie nicht versuchen, mir das zu erklären?« – »Es ist besser, Sie gehen jetzt.« – »Ich verstehe gern, was man mir zeigt. Was hatte Ihr Vater denn mit Ihnen vor, als er Sie nachts gefilmt hat?« – »Besser, Sie gehen.« Dann fällt der Blick wieder auf den weiterhin laufenden Film des Vaters. Man sieht, wie Mark die Hand einer am Bett liegenden Person ergreift.
RR »Mark, was tun Sie da?« – »Ich verabschiede mich – von meiner Mutter.« – »Er hat das gefilmt?« – »Ja, und das: eine Trauerfeier. Und das: eine Beerdigung. Und das (mit Nachdruck, Anm. B.R.)«.
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Der Tod kommt beim Filmen
Man sieht eine jüngere Frau im Film des Vaters.
RR »Das ist ihre Nachfolgerin. Er hat sie sechs Wochen nach der vorherigen Sequenz geheiratet.« Helen hat nun genug, sie schaltet den Projektor aus.
RR »Lassen Sie uns hier herausgehen. – Er war also Wissenschaftler. Was für ein Wissenschaftler, Mark?« – »Biologe.« – »Was hatte er mit Ihnen vor? Mark, was hatte er nur mit Ihnen vor?« – »Mich beobachten, wie ich aufwachse. Er wollte eine Aufzeichnung über ein heranwachsendes Kind – eine komplette, in allen Einzelheiten, wenn es überhaupt möglich wäre. Und er versuchte es möglich zu machen, indem er eine Kamera auf mich richtete, und zwar ständig. Ich hatte während meiner gesamten Kindheit nicht einen Moment für mich.« – »Und diese Lichter in Ihren Augen und dieses Ding?« – »Er interessierte sich außerordentlich für die Reaktionen des Nervensystems auf, auf Angst.« – »Angst?« – »Angst!«, wobei nun der Blick auf eine Reihe von Büchern fällt, die in einem Regal stehen: drei Bände »Fear and the Nervous System«, dann »The Physiology of Fear« und zwei Bände »Essays on Fear«, allzumal verfasst von »Professor A. N. Lewis«. Mark fährt weiter fort:
RR »Ganz besonders Angst bei Kindern und wie sie darauf reagieren. Hm, ich glaube, er hat eine Menge von mir gelernt. Ich bin manchmal schreiend aufgewacht – und er war da. Er notierte sich etwas und filmte mich. Und ich bin sicher, daraus ist Wertvolles entstanden – für ein paar Menschen. Er war brillant.« – »Ein Wissenschaftler lässt eine Echse auf das Bett eines Kindes fallen, und daraus entsteht Wertvolles?« Dann klopft jemand, ein Partygast, der Helen mitteilt, dass die Gäste allmählich heimgehen und sie hinunterkommen möge. Die nächste Sequenz spielt in einem Filmstudio, in dem gerade an einem einfach gestrickten Streifen gearbeitet wird. Mark arbeitet dort als Kameramann, sein Haupterwerb. Nach Drehschluss ist er mit Vivian verabredet, einer Stand-in-Schauspielerin, das heißt einer Person, die für die Vorbereitung der eigentlichen Aufnahmen anstelle des echten Darstellers tätig ist. Er will mit ihr in den leeren AufnahmeHallen Filmszenen drehen, wobei sie große Angst ausstrahlen soll:
RR »Stell Dir vor, jemand kommt auf Dich zu, der Dich töten will, und zwar ungeachtet der Folgen für ihn.« – »Ein Verrückter?« – »Ja, aber er weiß darum und Du nicht. Und Dich einfach nur zu töten, reicht ihm nicht, Viv.« Daraufhin passiert das gleiche wie mit Dora, er schaltet seine Kamera an, öffnet die im Stativ-Bein verborgene Klinge, geht auf sie zu und tötet sie. Und ähnlich wie zuvor, schleicht er sich anderentags zum Tatort, um ihn unbemerkt von den Polizisten zu filmen. Diese werden indes allmählich auf ihn aufmerksam, nachdem er mit einem Psychoanalytiker gesprochen hat, der von der Polizei zum Tatort gerufen wurde und der bei seinem Vater studiert hat. Fortan wird er beobachtet, und so folgt ihm ein Beamter zu jener Wohnung, in der er Pin-up-Fotos
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..Abb. 17.3 Während Mark zu Helen spricht, geht er langsam auf sie zu. (© J. Arthur Rank Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
des Models Milly machen will. Obwohl er bemerkt, dass der Polizist ihm gefolgt ist, tötet er sie auf die übliche Weise. Mark geht heim und ist aufgeregt, weil er weiß, dass seine Zeit bald abgelaufen sein wird. Helen, zu der er allmählich zarte Bande geknüpft hat, folgt ihm in seine Wohnung. Aufgewühlt bittet er sie, ihm keine Angst zu zeigen, denn anderenfalls passiere Übles. Daher soll sie sich in den Schatten stellen.
RR »Deine Mutter hat Recht, ich muss jemandem alles sagen. Tut mir leid, dass Du es bist, Helen. Dies war sein Atelier, Du weißt einiges von dem, was er getan hat (Pause, Anm. B.R.), aber nicht alles. […] Alle Zimmer waren mit Mikrophonen ausgestattet. Sie sind es noch heute. […]. Weißt Du, was die furchteinflößendste Sache auf der Welt ist? Die Angst. Also habe ich etwas ganz Einfaches gemacht, etwas ganz Einfaches. Als sie gespürt haben, wie diese Spitze ihre Kehle berührte, und wussten, dass ich sie töten würde, habe ich sie ihren eigenen Tod mit ansehen lassen (= Man sieht einen an der Kamera befestigten Zerrspiegel, in den die Opfer hineingeschaut haben, Anm. B.R. s. . Abb. 17.3). Ich habe sie ihren eigenen Schrecken mit ansehen lassen, während die Spitze eindrang. Und wenn der Tod ein Gesicht hat, haben sie das auch gesehen. Aber Du nicht, ich habe versprochen, Dich nie aufzunehmen, nicht Dich.« Mittlerweile trifft die Polizei ein, und Mark filmt ihre Ankunft. Er schaltet rasch jene Kamera, welche er für die Morde verwendet hat, ein, mit der ein nach vorne hinausstehendes Messer verbunden ist.
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Er geht langsam auf sie zu, und Blitzlichter leuchten auf, die er zuvor installiert hat und die ihn dabei fotografieren. Als die Messerspitze ganz nah ist, sagt er, er habe Angst, und er sei froh. Dann läuft er ins Messer hinein und stirbt.
Ein Skandalfilm Die zeitgenössischen Kritiken waren vernichtend und feindselig, wie es kaum einem anderen Film widerfahren ist: »Nur ein krankes Hirn kann sich diese Handlung ausgedacht haben«, oder: »Einen peinlicheren, schmierigeren, ekelhafteren Film als diesen« könne man sich kaum denken (Höltgen 2010, S. 175).
Ein Grund für die affektgeladenen Verrisse mag darin liegen, dass dem Zuseher ein Spiegel vorgehalten wird, indem er an seine eigene Lust am Schauen erinnert wird. Der Rezipient ist immer neugierig, er möchte in die privatesten Gefühle anderer Menschen eindringen, wofür unter anderem jene Film-Anfänge stehen, welche mit einer Totalen beginnen, etwa dem Blick auf eine Großstadt, um sich allmählich dem Fenster eines bestimmten Hauses zu nähern, in dessen Inneres die Kamera dann eindringt. In dem Fall dringt der Zuseher in die tiefsten Abgründe des Protagonisten ein und lässt ihn daran teilhaben, indem er gemeinsam mit ihm durch die Filmkamera schaut, das Objekt wie in einem Fadenkreuz anvisiert und dabei die Todesangst des Opfers miterlebt, das seinerseits durch den an der Kamera befestigten Spiegel daran auf traumatische Weise teilhat. Ein weiterer Aspekt dürfte sein, dass Erotik als Konsumartikel damals ein Tabu-Thema war, Mark indes sein Geld unter anderem mit erotischen Fotografien verdient, die an gut situierte Herren verkauft werden, womit der Schein der Wohlanständigkeit in Frage gestellt wird und dergestalt ebenfalls »Abgründe« deutlich werden, zumindest aus Sicht der damaligen Zeit. Ein anderer Grund besteht in der Enttäuschung der Erwartungen, die mit dem Hauptdarsteller verknüpft waren, denn Karlheinz Böhm (1928–2014) kannte man vor allem als sanften, wohlerzogenen Darsteller Kaiser Franz Josephs I in den drei Sissi-Filmen Ernst Marischkas (ebd., S. 178). Nach außen hin ist Böhm in »Augen der Angst« ähnlich, nämlich sehr höflich, kultiviert, zurückhaltend und etwas schüchtern, ein Sohn aus gutem Hause. Doch hinter dieser Fassade versteckt sich ein Mörder. Mit dem britischen Regisseur des Films, Michael Powell (1905–1990), verhält es sich ähnlich, weil er seit langem berühmt war und angesehen für seine schönen und poetischen Filme (ebd.). Verstörend wirkte in dem Zusammenhang ferner, dass Powell und sein eigener Sohn in den 16 mm Filmszenen Professor Lewis und Mark darstellen. Für Böhm und noch mehr für Powell bedeutete der Film zunächst einen massiven Karriere-Knick, wobei Letzterer erst ab dem Ende der 1970er Jahre rehabilitiert wurde, als Martin Scorsese öffentlichkeitswirksam den Film als Meisterwerk des britischen Kinos feierte, während Böhm einen Imagewechsel vollzog, indem er fortan ambivalente bzw. negative Charaktere darstellte (ebd., S. 179). Ergänzend sei hinzugefügt, dass an »Augen der Angst« darüber hinaus skandalträchtig war, Elemente des Snuff-Films thematisiert zu haben, also jener Streifen, welche durch die Aufzeichnung von Morden vor laufender Kamera charakterisiert sind. Ob tatsächlich wirkliche Tötungen auf Film gebannt wurden, ist bis heute allerdings unklar. »Snopes.com«, eine seriöse und in Fachkreisen geschätzte Webseite für Urban Legends oder moderne Sagen, meint, derartige Behauptungen seien erfunden: »Police on three continents routinely investigate films brought to them, and so far this has always been their verdict. No snuff films. Some clever fakes, yes. But no real« (Mikkelson 2006).
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Dagegen heißt es im Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«: »Hinter vorgehaltener Hand erzählen Fahnder, dass es zahlreiche Fälle gäbe, vor allem im Kontext mit Kinderpornografie: Morde an Babys und Minderjährigen. Details würden mit Rücksicht auf die Familien zurückgehalten« (Patalong 2002).
Lady Godiva, Peeping Tom und Mark Lewis – Aggression und eine Prise Sexualität Mit Lady Godiva of Coventry, der Frau des Leofric, Earl of Mercia, ist eine populäre Erzählung aus dem 13. Jahrhundert verbunden: Da das Volk unter der Steuerlast leidet, die ihr Mann ihm auferlegt hat, bittet sie ihn, diese zu reduzieren. Er antwortet, er werde ihrem Wunsch nachkommen, wenn sie nackt auf einem Pferd über den Marktplatz reite, was dann auch geschieht. In einer Fassung aus dem 16. Jahrhundert bittet darüber hinaus Godiva die Menschen, in ihren Häusern zu bleiben und nicht aus dem Fenster zu schauen. Und im 18. Jahrhundert wird diese Erzählung um die Episode mit einem Einwohner namens Peeping Tom erweitert (Ohne Autor 1849), der den Wunsch missachtet, nicht auf die Straße zu schauen, während sie nackt vorbeireitet – und daraufhin zur Strafe erblindet (Davidson 1987, Sp. 1336 f.). Freud sieht darin einen Beleg für die psychogene Sehstörung, so »als erhöbe sich in dem Individuum eine strafende Stimme, welche sagte: ›Weil du dein Sehorgan zu böser Sinneslust mißbrauchen wolltest, geschieht es dir ganz recht, wenn du überhaupt nichts mehr siehst‹« (Freud 1996, S. 100). Von dieser Geschichte leitet sich der englische Ausdruck »Peeping Tom« für Voyeur ab. Voyeurismus oder Skopophilie ist laut Brockhaus Enzyklopädie »das Anstreben sexueller Erregung oder Befriedigung durch heimliche Beobachtung körperlicher Nacktheit, Entblößung oder sexueller Handlungen bei anderen«, wobei hinzugefügt wird, dass der Voyeurismus »als ausschließlicher Weg zu sexueller Befriedigung […] als eine Perversion« gelte; »ansonsten sind voyeuristische Anteile im Sexualverhalten weit verbreitet« (Brockhaus 1994, S. 468).
Demnach könnte man behaupten, Mark Lewis, der Protagonist des Films, sei ein Voyeur und leide an Skopophilie. Dafür würde sprechen, dass er sein Interesse daran explizit formuliert. Als er nämlich am letzten Tatort, nach seinem dritten Mord, den Psychoanalytiker anspricht, erzählt er ihm zunächst, er sei der Sohn von Professor Lewis, worüber jener hoch erfreut ist, weil er bei seinem Vater studiert habe und er ihn für einen hervorragenden Wissenschaftler halte. Dann sagt Mark:
RR »Wissen Sie, für was er sich interessiert hat, bevor er starb? Ich erinnere mich nicht mehr, wie er es nannte, aber es hatte etwas damit zu tun, was manche Menschen zu Spannern macht«, woraufhin der Psychoanalytiker antwortet:
RR »Skopophilie, das musste ihn interessieren, so einen außergewöhnlichen Mann […], der wahrhaft krankhafte Drang zu starren«. Behandle man sie, fügt er hinzu, mit dreistündigen psychoanalytischen Sitzungen pro Woche über mehrere Jahre, sei sie »so gut wie überwunden«
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Auch in der wissenschaftlichen Literatur wird Mark Lewis als ein Voyeur betrachtet. Er leide an einer Perversion, sei ein obsessiver Voyeur, dessen »only sexual satisfaction can come from watching, in an active controlling sense, an objectified other« (Mulvey 1986, S. 201).
Ähnlich sieht es Elisabeth Bronfen, die nota bene für ihr Buch »Hollywood und das Projekt Amerika« eigentümlicherweise auch ein umfangreiches Kapitel über den britischen Film »Peeping Tom« verfasst hat. Sie attestiert dem Protagonisten ebenfalls Skopophilie, ergänzt jedoch, dass »Marks perverse, mit Ekel und einer Art Enthüllung verbundene Phantasie« darin bestehe, »durch das Sexuelle hindurch den Schrecken des Todes zu betrachten« (Bronfen 2018, S. 121).
Nach Freud seien das sexuell betonte Tasten und Schauen bis zu einem gewissen Grad etwas Gebräuchliches. Das Sehen biete den normalen Menschen die Möglichkeit, »einen gewissen Betrag ihrer Libido auf höhere künstlerische Ziele zu richten. Zur Perversion wird die Schaulust im Gegenteil, a) wenn sie sich ausschließlich auf die Genitalien einschränkt, b) wenn sie sich mit der Überwindung des Ekels verbindet (Voyeurs: Zuschauer bei den Exkretionsfunktionen), c) wenn sie das normale Sexualziel, anstatt es vorzubereiten, verdrängt« (Freud 1991, S. 56).
Auf Freuds »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, denen das Zitat entnommen ist, beruft sich auch Elisabeth Bronfen und schreibt, das Tasten werde durch das Schauen abgelöst, verselbstständige sich und führe in »Peeping Tom« zu einer verkehrten Form der Penetration, und zwar »durch den Blick und/oder durch das Messer statt durch das männliche Glied« (Bronfen 2018, S. 120).
Wenn man sich auf dem Boden der Freud’schen Libido-Theorie bewegt, ist das allzumal plausibel, doch kann man sich die Frage stellen, ob und inwieweit sie sich anhand des Films und seiner Dialoge tatsächlich belegen lässt. Erinnern wir uns an das, was Mark zu Helen über seinen Vater sagt. Dieser habe eine vollständige Aufzeichnung über ein heranwachsendes Kind angestrebt,
RR »indem er eine Kamera auf mich richtete, und zwar ständig. Ich hatte während meiner gesamten Kindheit nicht einen Moment für mich«. Das vornehmliche Interesse des Vaters sei dabei auf der kindlichen Angst gelegen und darauf, wie er, Mark, auf selbige reagiert. Ein Kind wird zum Studienobjekt, es wird tagein tagaus überwacht, und nicht nur das, es werden auch Experimente mit ihm gemacht, indem zum Beispiel ein Salamander auf sein Bett geworfen wird, in welchem es schläft, um zu erfahren, wie es auf einen Angst auslösenden Reiz reagiert – das Hauptinteresse seines Vaters, aber für das Kind
RR »die furchteinflößendste Sache auf der Welt«. Eine normale Entwicklung ist damit ausgeschlossen, denn zu ihr würden Freiräume gehören, in denen man nicht überwacht wird, und eine Erziehung, die möglichst wenige Ängste hervorruft.
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Opfer werden oftmals zu Tätern, das ist hinlänglich bekannt, und Mark tut das, was mit ihm getan wurde, nämlich gefilmt zu werden und dabei unsägliche Angst zu erleben. Weil sein Vater ihn ohne Unterlass gefilmt hat, geht Mark nie ohne seine Kamera aus dem Haus, stets darauf bedacht, etwas für ihn Lohnenswertes aufzunehmen. Nur ein einziges Mal verzichtet er darauf, nämlich als er mit Helen essen geht und sie ihn ausdrücklich darum bittet, die Kamera daheim zu lassen. Ansonsten hat er sie immer dabei, denn er möchte, wie er ihr an einer Stelle mitteilt, einen Dokumentarfilm drehen. Mark nimmt die drei Frauen, die er sich als Opfer auserkoren hat, auf, weil er sie in Todesangst auf Zelluloid bannen möchte. Mit anderen Worten: Sie sollen das erleben, was er selber erlebt hat, als sein Vater die Angst-Experimente an ihm vollzogen und ihn dabei aufgenommen hat. Entsprechend äußert er sich selbst: »Als sie gespürt haben, wie diese Spitze ihre Kehle berührte, und wussten, dass ich sie töten würde, habe ich sie ihren eigenen Tod mit ansehen lassen«, was durch den Zerrspiegel ermöglicht wird. Darüber hinaus möchte er wahrscheinlich nachempfinden, was sein Vater empfunden hat, als er ihn filmte – und er möchte anhand der Todesängste seiner Opfer nacherleben, wie er sich damals gefühlt hat. Warum sind es Frauen, die er sich als Opfer auserkoren hat? Darauf gibt der Film keine Antwort, weswegen wir auf Spekulationen angewiesen sind. Eine Frau hasst er auf jeden Fall, und zwar seine Stiefmutter, die bereits sechs Wochen nach dem Tod der leiblichen Mutter ihre Stelle einnimmt. Als sein Vater mit ihr in die Flitterwochen fährt, schenkt dieser ihm seine erste Filmkamera. Sie ist fortan sein Begleiter, doch welche Gefühle verbindet er mit dem Aufnahmegerät? Einerseits wohl Macht, denn er vermag den Spieß nun umzudrehen, indem nicht er gefilmt wird, sondern er andere filmen kann. Andererseits ist die Kamera jedoch jenes technische Gebilde, das sein Leben unerträglich macht, weswegen er in einen inneren Konflikt geraten dürfte, der sein Leben in eine pervertierte, verdrehte Richtung lenkt: Er kann damit Unheil stiften. Die andere Frau, die für ihn wichtig ist, ist selbstredend seine Mutter. Sie besticht durch Abwesenheit, man sieht sie nur als Leiche, und das auch nur in rudimentärer Form, indem die 16 mm Kamera ausschließlich ihre Hände am Totenbett zeigt. In gewisser Weise dürfte sie bereits vorher für Mark tot gewesen sein, denn welche Gefühle muss es in einem Kind auslösen, wenn die Mutter, unabhängig davon, wie dominant der Vater ist, nicht imstande ist, ihren Sprössling vor den grausamen Experimenten des Erzeugers zu beschützen? Doch wohl Wut und Aggression. Demnach könnte die Tötung der drei Frauen in Zusammenhang stehen mit der ambivalenten oder negativen Einstellung gegenüber der Mutter und Stiefmutter. Primär dürfte es demnach die Aggression sein, die ihn dazu verleitet zu töten, und das ist bereits deswegen naheliegend, weil eine enge Verbindung zwischen Angst und Aggression vorhanden ist, worauf schon früh Konrad Lorenz aus ethologischer Perspektive hingewiesen hat (Lorenz 1975). Bezüge zur Angst existieren ebenso zu John S. Dollards Frustrations-Aggressions-Hypothese (Dollard et al. 1970), denn wenn man frustriert ist, staut sich nicht nur Aggression auf, sondern man befürchtet auch, im Leben zu kurz zu kommen. In der neueren Forschung wird der Zusammenhang zwischen Angst und Aggression gleichfalls bestätigt, so etwa bei Egon Fabian, der »zwischen einer situativ bedingten ›Realaggression‹ und einer tieferen Aggression« mit existentiellen Wurzeln unterscheidet. Letztere stamme »aus nicht verstandener, nicht ausgedrückter, gleichsam ›chronifizierter‹ Wut, die gewissermaßen verinnerlicht und zum Teil der Persönlichkeit wurde« Diese Art von Aggression sei »in aller Regel Ausdruck einer abgewehrten unerträglichen Angst« (Fabian 2013, S. 192).
Das alles lässt sich, hält man sich die bisherigen Ausführungen vor Augen, auf Mark Lewis übertragen. Triebtheoretisch können wir mit Alfred Adler von einer »Verschiebung des Triebes auf ein anderes Ziel« sprechen (Adler 2007, S. 67),
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denn der Protagonist kann weder den Vater noch die Mutter und wohl auch nicht die Stiefmutter töten, aber doch die drei Frauen, die sich von ihm willig filmen lassen. Wenn wir darüber hinaus an seinen Selbstmord denken, können wir von einer »Richtung des Triebes auf die eigene Person« sprechen (ebd.).
Wenn man, mit Blick auf Sadismus und Masochismus – worum es bei Mark zweifelsohne auch geht –, darüber hinaus der Sexualität ihren Tribut zollen möchte, kann man von zwei ursprünglich getrennten Trieben sprechen, »die späterhin eine Verschränkung erfahren haben, derzufolge das sadistisch-masochistische Ergebnis zwei Trieben zugleich entspricht, dem Sexualtrieb und dem Aggressionstrieb« (ebd., S. 66).
Nebenbei bemerkt stammt der Begriff »Triebverschränkung« (und auch »Triebhemmung«) nicht von Freud, sondern von Adler, der ihn in seinem Aufsatz »Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose«, aus dem die obigen Zitate stammen, eingeführt hat, was von Freud selbst bestätigt wird (Freud 1993, S. 341). Aus Sicht der Triebverschränkung kann man das Töten mit Hilfe des Messers daher nicht nur als aggressiven, sondern auch als sexuellen Akt betrachten, denn Mark dringt mit einem langen, scharfen Gegenstand in einen Frauenkörper ein. Diesen Zusammenhang belegen auch Redewendungen, die den Geschlechtsverkehr mit »angreifenden« Begriffen umschreiben, etwa »jemanden nageln« oder »in die Wunde hineinstechen«, wie man in Österreich mitunter zu sagen pflegt. Geht man jedoch davon aus, was aus Marks Lebensgeschichte bekannt ist, so ist das primäre Moment die Angst, welche sich in Aggression verwandelt. Denn wäre er ein Lustmörder, so wäre es wahrscheinlich möglich gewesen, zunächst seine Opfer zum Sex zu verführen oder sie zu vergewaltigen, wie es in der Realität oft genug vorkommt. Dem könnte man zwar entgegenhalten, dass der Psychoanalytiker im Gespräch mit ihm von Skopophilie spricht, die im Freud’schen Universum eng mit der Libido-Theorie verknüpft ist. Doch diese erwähnt er nicht, sondern spricht nur vom »wahrhaft krankhafte[n] Drang zu starren«, womit eine offene Interpretation, auch des englischen Titels »Peeping Tom«, ermöglicht wird – die den Geistes- und Kulturwissenschaften mit ihrer Präferenz für multiperspektivische Zugänge eher angemessen ist als monoperspektivische bzw. dogmatische Ansätze. Den aggressiven Aspekt betont auch die Ähnlichkeit mit einem kulturhistorischen Motiv, das weltweit verbreitet ist, dem bösen Blick, einer Vorstellung aus dem Bereich der schwarzen Magie, nach der eine mit übernatürlichen Kräften ausgestattete Person einem Menschen Leid zufügt oder diese gar tötet. »Alle Menschen, deren Seele durch irgendeine böse Eigenschaft, wie Zorn, Eifersucht, Neid und dergleichen affiziert ist«, seien dazu fähig. »Denn eine derartig verderbte Seele beeinflußt den Körper und seine Säfte und sendet aus den Augen gleichsam vergiftete Pfeile aus, die Menschen und Tier krank machen« (Seligmann 1987, Sp. 685; vgl. Seligmann 1910).
Bezogen auf den Film fixiert Mark seine Opfer, indem er durch die Kamera blickt, an deren Stativ ein Messer sitzt, mit dem er sie umbringt. Bedenkt man all dies, so ist der deutsche Filmtitel »Augen der Angst« besser gewählt als der englische. Mark tötet zwar drei Frauen, aber, das sei ergänzend hinzugefügt, bei drei anderen unterlässt er es. Da ist zunächst Lorraine, die sich zum ersten Mal als Pin-up-Mädchen zur Verfügung stellt und deren Gesicht durch eine große Narbe auf der rechten Oberlippe verunstaltet ist. Von ihr ist er ergriffen, was wahrscheinlich daran liegt, dass sie im Gegensatz zu jenen Frauen, welche er tötet, nicht mit ihren weiblichen Reizen wuchert. Möglicherweise erinnert sie ihn darüber hinaus an sein eigenes
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Leid, nämlich durch das, was sein Vater ihm angetan hat, im übertragenen Sinn entstellt zu sein, denn er bezeichnet sich in einem anderen Zusammenhang ausdrücklich als »verrückt«. Zum Zweiten verschont er Helens Mutter, obwohl sie unbemerkt in seine Dunkelkammer eindringt und dort von ihm ertappt wird. Dass ein Zusammenhang mit Lorraine besteht, zeigt sich in der Montage des Übergangs zwischen der Szene mit Lorraine und der Wohnung von Helens Mutter, die wie ein unsichtbarer Schnitt wirkt (vgl. Hickethier 1993, S. 139–158): In jener wird Tee eingeschenkt, und im nächsten Moment sieht man, wie sich die Mutter Whiskey in ein Glas gießt. – Mark tut ihr wohl deswegen nichts an, weil sie die Mutter jener Frau ist, in die er sich verliebt hat, vor allem aber, weil sie blind ist, denn unter dem Aspekt, Todesängste in den potentiellen Opfern hervorzurufen, ist sie ein »untaugliches Objekt«, weil sie das nicht sehen würde. In anderer Hinsicht sieht sie indes umso mehr, denn sie verkörpert das Motiv des blinden Sehers, der in der griechischen Mythologie durch Teiresias verkörpert wird. So meint sie einmal gegenüber ihrer etwas blauäugigen Tochter: »Ich traue keinem Mann, der so leise geht wie er.« – »Aber er ist schüchtern«, erwidert Helen, worauf die Mutter antwortet: »Seine Schritte sind es nicht, die sind verstohlen.« Drittens tut er Helen nichts an, denn sie geht offen auf ihn zu, ist an ihm als Person interessiert, und sie ist nicht eitel. Außerdem hat sie im Großen und Ganzen keine Angst vor ihm, und das ist wohl das entscheidende Moment, zumal er sich in sie verliebt hat. Diese drei Frauen hätten einen Ausweg aus dem krankhaften Wiederholungszwang bedeuten können.
Wissenschaftsgeschichtlicher Hintergrund Ein weiterer Aspekt, der dafürspricht, dass es vorrangig um den Zusammenhang zwischen Angst und Aggression und erst in zweiter Linie um Sexualität geht, ist wissenschaftshistorischer Natur. Marks Vater ist Naturforscher, Biologe, ihn interessiert vor allem der Einfluss der Angst auf das kindliche Gemüt. Er setzt Reize, indem er beispielsweise einen Salamander auf Marks Bett legt, und er beobachtet kühl und nüchtern die Reaktion seines Sohnes, wenn das Tier auf ihn zu läuft. Mit anderen Worten: »Über die Vater-Figur transportiert PEEPING TOM […] eine zeitgenössische wissenschaftstheoretische Debatte: Professor A. N. Lewis vertritt mit seinen grausamen Experimenten den Behaviorismus […]. Mark Lewis selbst kann als ›missglücktes‹ Experiment seines verhaltensforschenden Vaters gelten und unterstreicht damit Powells kritische Haltung gegenüber dem zu Beginn der 1960er Jahre populären Behaviorismus Watson’scher Prägung« (Höltgen 2010, S. 180).
John B. Watson schreibt, der Behaviorismus sei »ein vollkommen objektiver, experimenteller Zweig der Naturwissenschaft. Ihr theoretisches Ziel ist die Vorhersage und Kontrolle von Verhalten« (Watson 1968, S. 13). Damit wird der Mensch verdinglicht, er wird zu einem bloßen Objekt gemacht, mit dem alles Mögliche angestellt werden kann. Ähnlich wie Professor Lewis richtet Watson sein Hauptaugenmerk auf Kinder und darauf, wie sie auf Ängste reagieren: »Angenommen, wir beginnen mit Dreijährigen: Wir gehen hinaus in Stadt und Land und holen sie zusammen. Wir gehen auch in die Häuser der Reichen. Wir bringen alle Kinder in unser Laboratorium und konfrontieren sie mit bestimmten Situationen. Nehmen wir an, wir lassen einen Jungen zuerst in ein gut beleuchtetes Spielzimmer gehen und mit seinem Spielzeug spielen. Plötzlich lassen wir eine kleine Königsschlange oder ein anderes Tier los. Das nächste Mal nehmen wir ihn mit in ein dunkles Zimmer und zünden dort plötzlich ein kleines Feuer mit Zeitungspapier an« (Watson 1968, S. 160).
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Watsons Behaviorismus, schreibt der Psychologe Gerhard Vinnai, sei von totalitären Zügen geprägt: »Sein einflußreichstes Werk Behaviorismus wurde nicht zufällig 1930, also in der Ära des Faschismus, veröffentlicht. Psychoanalytisch Gebildete können am Denken Watsons leicht Züge des autoritären Zwangscharakters mit seinem latenten Sadismus ausmachen« (Vinnai 1993, S. 26; Hervorhebung im Original, Anm. B.R.).
Der weitere geschichtliche Kontext ist die »Herrschaft der Mechanisierung« (Giedion 1987), womit aber nicht, wie im landläufigen Sinn, die Produktion oder Anwendung von Maschinen zur Entlastung des Menschen oder zur Steigerung der Produktivität verstanden wird. Vielmehr wird sie als philosophischer bzw. wissenschaftstheoretischer Begriff verstanden, der sich aus der Physik ableitet (Dijksterhuis 2002): Mechanik ist die Lehre von der Bewegung, und Mechanisierung bedeutet in dem Zusammenhang, Naturprozesse und Phänomene des Lebendigen auf Gesetze der Bewegung zurückzuführen und sie streng deterministisch nach dem Kausalprinzip von Ursache und Bewegung zu erklären (Rieken und Gelo 2015, S. 71–75). Ihren Siegeszug trat die Mechanisierung – und damit die modernen Naturwissenschaften – in der Frühen Neuzeit an, im Zeitalter des Absolutismus, weswegen »die vorherrschenden Methoden der Wissenschaft […] das Produkt der dominierenden gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse« seien (Vinnai 1993, S. 51).
Der Mechanisierung geht es also um Kontrolle, aber dahinter steht eine Sicherungstendenz, nämlich eigene Ängste abzuwehren. An den frühen behavioristischen Experimenten könne »die Wiederkehr des Verdrängten sichtbar gemacht werden. Die Experimente von Watson und seinen Mitarbeitern sind eigentümlicherweise sehr oft auf einen Problembereich bezogen, der kaum zu ihrer Forschungslogik paßt: auf die Angst, besonders die Angst vor Tieren« (Vinnai 1993, S. 61).
Dabei geht es dem Behaviorismus nicht um die Frage nach dem Ursprung sowie dem Sinn und der Bedeutung von Ängsten, sondern nur darum, sie im Kontext des kausalanalytischen Reiz-ReaktionsMusters wegzukonditionieren. Es soll also mit Hilfe der Wissenschaft Distanz geschaffen werden gegenüber dem angsterregenden Phänomen. Das ist auch bei Professor Lewis so, er nimmt sie nur vermittelt wahr, genauer über ein mechanisches Gerät, welches zwischen ihm und seinem Sohn steht. Eine Kamera, so der Ethnologe Ueli Gyr, habe »weit mehr als [eine] bloß technische Funktion, sie ist auch Schutzschild gegen das Neue, Unbekannte, Fremde« (Gyr 1988, S. 236).
Das gilt selbstredend auch für Mark, der seine Opfer nicht direkt anblickt, sondern vermittelt durch das Objektiv, wenn er sich ihnen nähert.
Abschließende Bemerkung: ein konsequenter Selbstmord Wenn es ein wichtiges Anliegen der modernen Naturwissenschaft im Allgemeinen und des Behaviorismus im Besonderen ist, die Natur und den Menschen zu kontrollieren, dann ist es klar, dass unter der Oberfläche Ängste vorhanden sind, diese nicht kontrollieren zu können, sondern von ihnen beherrscht zu werden. Das würde in Bezug auf den Film bedeuten, dass Professor Lewis unbewusst seine eigenen Ängste zu bewältigen versucht, indem er sie in seinem Sohn hervorruft.
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Dieser wird damit allein gelassen; er hat niemanden, an den er sich wenden kann, keine Bezugsperson und kein Bindungsobjekt, das ihm hilfreich und ausgleichend zur Seite stünde. Um aus der Passivität hinauszugelangen, verwandelt er daher die Ängste in Aggressionen und agiert in zugespitzter und pervertierter Form das an seinen Opfern aus, was ihm angetan wurde – und am Ende auch an sich selbst, indem der Aggressionstrieb sich gegen die eigene Person richtet. Wenn jemand von den Eltern bzw. dem Vater ausschließlich funktionalisiert und nicht in seinem Eigenwert respektiert wird, wird er sich selber als wertlos und nicht lebenswert betrachten. Außerdem weiß Mark, dass er durch die drei Morde in eine Sackgasse geraten und die Polizei ihm auf der Spur ist. Da er andererseits durch Helen eine Ahnung davon erlangt hat, dass Liebe »Erlösung« bedeuten könnte, er sie sich indes selber durch seine Verbrechen verwirkt hat, bleibt als Ausweg nur der Selbstmord. Und drittens wird durch diesen sein eigener Dokumentarfilm vollendet, von dem er nachgerade besessen ist, denn er nimmt sich dabei auf, als er buchstäblich ins eigene Messer rennt. Sein Leben auszulöschen, ist daher bereits geplant, als er zu seinem dritten Opfer, zu Milly, geht, denn er beobachtet, dass Polizisten ihm folgen und ihm klar sein muss, dass sie die Leiche entdecken und ihn als Mörder identifizieren werden, nachdem er sie umgebracht haben wird.
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Der Tod kommt beim Filmen
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Originaltitel
Peeping Tom
Erscheinungsjahr
1960
Land
Großbritannien
Drehbuch
Leo Marks
Regie
Michael Powell
Hauptdarsteller
Karlheinz Böhm, Anna Massey, Maxine Audley
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Felix Sommer
„Schwäche, nichts als Schwäche“ Details zum Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Handlung des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Analyse sowie historische Hintergründe zum Fall Ludwig II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Die Regierungszeit Ludwigs 1864 bis 1886 in Zitaten . . . . 255 Ein angekündigter Suizid? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Ludwigs Tod im Starnberger See – Suizid im Film? Suizid in der Realität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_18
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Filmplakat Ludwig II. (© Warner Bros. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Ludwig II. (2012) Felix Sommer
Über das Leben des bayerischen Königs Ludwig II. (1845–1886) gibt es eine Reihe von Spielfilmen, darunter Werke von Helmut Käutner (1955) und Luchino Visconti (1972). Aus dem Jahr 2012 stammt der hier besprochene Film der Regisseure Peter Sehr und Marie Noëlle (. Abb. 18.1, Filmplakat). Die Kritik war sich nicht einig in der Bewertung des Films. Bert Rebhandl schrieb am 27. Dezember 2012 in der FAZ: »Es hat eine Weile gedauert, bis der Märchenkönig wieder in die Kinos kam. Doch auch in Peter Sehrs und Marie Noëlles neuem Film bleibt das ewige Rätsel unerlöst.« Und weiter heißt es: »Peter Sehr und Marie Noëlle … sehen einen sympathischen Nonkonformisten, der (…) ein wenig enthusiastisch ist und seiner Sexualität nicht trauen kann. Ausgeliefert einer technokratischen Psychologie, unfähig zur Sublimierung … muss er … zwangsläufig zum klinischen Fall werden« (Rebhandl 2012). Wohlwollend äußert sich Birgit Roschy von »epd Film«: »Die oft erstaunlich leichtfüßige Inszenierung verzichtet auf das Psychologisieren oder eine sozialkritische Kontrastierung. Stattdessen werden Ludwigs Eskapaden durch eine feine Ironie gebrochen … So ist das opulente Historiendrama vor allem eine klammheimliche Liebeserklärung an Ludwig II.« (Roschy 2013). Eric Mandel hingegen vermisst in seiner Kritik für das Portal »Kunst und Film« das »Wundersame« des »wundersamen Königs«. »Was hätte aus diesem Film alles werden können: eine Revision der Pathologisierung eines aus der Zeit gefallenen Charakters.« Das Werk versuche »von allem ein bisschen« und führe »nichts zu Ende« (Mandel 2012). Die Deutsche Filmbewertung verlieh dem Film das Prädikat wertvoll. »Sehr und Noëlle setzen mit ihrem opulenten Werk dem legendären Bayernkönig ein glanzvolles Denkmal … In ihren Rollen glänzen insbesondere Sabin Tambrea, androgyn und fast zerbrechlich in seiner Darstellung, sowie Edgar Selge als Richard Wagner« (Deutsche Filmbewertung und Medienbewertung 2012). In jedem Fall gelang es, ein hochkarätiges Schauspielerensemble zusammenzustellen, um die Geschichte des bayerischen Königs nachzuerzählen.
Details zum Film Die wichtigsten Akteure Peter Sehr (1951–2013) und Marie Noëlle: Die Regisseure und Drehbuchautoren Peter Sehr und Marie
Noëlle wurden beide als Naturwissenschaftler ausgebildet, bevor sie sich dem Kino widmeten. Noëlle ist Mathematikerin, Sehr war Physiker und Chemiker, der sich im Rahmen seiner biophysikalischen Promotion mit dem Einsatz von Magnetresonanz auseinandersetzte. Peter Sehrs erster internationaler Erfolg als Regisseur war der Spielfilm »Kaspar Hauser« im Jahr 1994. Es folgten Werke wie »Obsession« im Jahr 1997 und »Love The Hard Way« 2001. Die deutschfranzösisch-spanische Koproduktion »Die Frau des Anarchisten« aus dem Jahr 2007 drehte er gemeinsam mit Marie Noëlle. Sehrs Filme wurden mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet und u. a. auf den Festivals von Locarno und Toronto sowie auf dem Sundance Film Festival gezeigt. Marie Noëlles erster eigener Spielfilm »Ich erzähle mir einen Mann«, für den sie nicht nur das Drehbuch schrieb, sondern bei dem sie auch Regie führte und als Produzentin fungierte, entstand 1994/95. Gleichzeitig führte sie Regie und fungierte als Produzentin. Nach der bereits erwähnten Gemeinschaftsarbeit »Die Frau des Anarchisten« folgte 2011/12 »Ludwig II.«. 2016 führte Noëlle bei dem Spielfilm »Marie Curie« Regie.
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„Schwäche, nichts als Schwäche“
Christian Berger: Als Kameramann konnte Christian Berger gewonnen werden. Er führte die Kamera bereits bei so bedeutenden Filmen wie »Die Klavierspielerin« (2001), »Caché« (2005), »Das weiße Band« (2009) oder »Die Wand« (2012). Sabin Tambrea: Die Rolle des jungen Königs ist Sabin Tambreas erste wichtige Rolle in einem Spielfilm für das Kino. Vor allem als Theaterschauspieler hatte sich Tambrea vorher einen Namen gemacht. Seit seiner Rolle als König Ludwig II. trat er in zahlreichen Fernseh- und Serienproduktionen auf, darunter »Ku’damm 56« (2016 und 2018), »Tatort« (2013 und 2016) oder »Bella Block« (2017). Sebastian Schipper: Vor allem als Regisseur der Spielfilme »Absolute Giganten« (1999), »Mitte Ende August« (2009) und »Victoria« (2015) wurde Sebastian Schipper bekannt. Für »Victoria« erhielt er unter anderem den Deutschen Filmpreis 2015 als bester Regisseur. Als Darsteller übernahm er Rollen u. a. in den Filmen »Der englische Patient« (1996), »Lola rennt« (1998), »Der Krieger und die Kaiserin« (2000) und »Die Nacht singt ihre Lieder« (2004). Im vorliegenden Film spielt er den älteren Ludwig II. Hannah Herzsprung: Ihr Debüt vor der Kamera gab Hannah Herzsprung in der Serie »Aus heiterem Himmel« im Jahr 1998. Ihre erste Kinohauptrolle übernahm sie 2005 in dem Spielfilm »Vier Minuten«. Es schlossen sich zahlreiche Engagements in bekannten Produktionen an, darunter »Der Vorleser« (2008) von Stephen Daldry nach dem Roman von Bernhard Schlink und »Der Baader Meinhof Komplex« (2008). In dem Spielfilm »Ludwig II.« spielt sie Kaiserin Elisabeth. Ab 2017 war sie in der Fernsehserie »Babylon Berlin« zu sehen. Edgar Selge: Der vielfach ausgezeichnete Schauspieler übernahm die Rolle des Richard Wagner. Bekannt wurde Selge durch Fernsehserien, aber auch durch Rollen in Kinofilmen wie »Hamsun« (1996), »Rossini« (1997), »Das Experiment« (2001) und »Poll« (2010). Paula Beer: Im hier besprochenen Film spielt Beer die Rolle der Herzogin Sophie in Bayern, Ludwigs Cousine und Verlobte, Schwester von Kaiserin Elisabeth. Bekannt wurde Beer durch ihre Hauptrolle in dem Spielfilm »Poll« (2010) von Chris Kraus. Nach ihrem Engagement in dem Film über Ludwig II. spielte sie unter anderem in »Das finstere Tal« (2014), François Ozons »Frantz« (2016) sowie der Fernsehserie »Bad Banks« (2018). Peter Simonischek: Nach Engagements in Bern und am Schauspielhaus Düsseldorf wurde Simonischek Ende der 1970er-Jahre Ensemblemitglied an der Berliner Schaubühne. Seit der Spielzeit 1999/2000 gehört er dem Ensemble des Wiener Burgtheaters an. In »Ludwig II.« spielt er die Rolle des Ministerratsvorsitzenden Ludwig von der Pfordten. International bekannt wurde Simonischek durch seine mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnete Hauptrolle in Maren Ades Kinofilm »Toni Erdmann« (2016).
Handlung des Films Der gemeinsame Besuch einer Wagner-Oper durch den von der Musik magisch angezogenen Ludwig und seinen jüngeren Bruder Otto wird kontrastiert mit gemeinsamen Schießübungen der Geschwister (Otto zeigt hier große Begeisterung, Ludwig ist entsetzt) – hier bereits befinden sich die Zuschauer inmitten des inneren Konflikts, den der spätere bayerische König Ludwig II. zeitlebens ausfechten musste.
RR »Weißt du, was deine Liebe zur Kunst in Wirklichkeit ist? Schwäche, nichts als Schwäche.« (Maximilian II., Filmzitat) So sieht Ludwigs Vater, König Maximilian II., die von ihm als solche definierte Grundproblematik seines Sohnes, vor allem bezogen auf die Macht- und Nachfolgefrage, die sich irgendwann stellen würde. Und tatsächlich, sie stellte sich rasch. Bereits im Alter von 18 Jahren, 1864, muss der junge Ludwig, der sich stets den Versuchen, ihm die »Spiele der Macht und der Politik« beizubringen, entzogen hatte, die Herrschaft seines Vaters antreten. Am Totenbett des überraschend verstorbenen Vaters drückt der junge Agnat seine Gedanken folgendermaßen aus:
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..Abb. 18.2 Ludwig II. (Sabin Tambrea) lässt sich von Richard Wagner (Edgar Selge) inspirieren. (© Warner Bros. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
RR »Lieber strenger Vater, wie oft habe ich mir gewünscht, dass du Verständnis finden würdest für mich und meine Vorstellungen.« (Ludwig II., Filmzitat) Die Thronbesteigung durch Ludwig ist von seinem persönlichen und ästhetischen Idealismus durchdrungen. Auch dies spiegelt sich in zentralen Aussprüchen wider:
RR »Bayern wird zum Mittelpunkt der Schönheit werden.« (Ludwig II., Filmzitat) Die erste Konsequenz dieser Aussage ist der Auftrag an den künftigen Staatssekretär und späteren Minister Johann von Lutz, Richard Wagner, wegen seiner Beteiligung an der Revolution 1848/49 zu einer lebenslangen Strafe verurteilt und auf der Flucht, aufspüren und nach München holen zu lassen. Stallmeister Richard Hornig findet ihn in Stuttgart und bringt ihn zum bayerischen König, der ihn fortan hofiert und in seinem engsten Umfeld installiert. Die daraus resultierenden Konflikte mit Ministerpräsident Ludwig von der Pfordten wegen dessen offener Feindschaft zu Wagner nimmt Ludwig II. in Kauf. Musikinstrumente statt Waffen – für dieses Projekt gewinnt der junge König den Komponisten, dessen politischer Einfluss nach und nach größer wird, zum Missfallen der Minister sowie der Königsfamilie (. Abb. 18.2). Kunst und Kultur sollen blühen, nicht Waffen und Gewalt. Ansichten wie diese bestimmen auch Ludwigs Gespräche mit seiner gleichgesinnten Cousine Elisabeth. Im Sinne Ludwigs soll Bayern nicht nur kulturell, sondern auch im Hinblick auf moderne Technik ein Vorbild werden. Ludwig II. lässt visionär erscheinende technische Ideen in die Tat umsetzen; dazu gehören u. a. elektrische Einrichtungen rund um Schloss Linderhof. Jedoch stehen die Umstände der Zeit den hochfliegenden königlichen Plänen entgegen. 1866 bricht der Krieg Österreichs gegen Preußen aus, in den Bayern an Österreichs Seite involviert wird. Ludwig zieht sich auf Schloss Berg am Starn-
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berger See zurück, betäubt sich mit Alkohol und Medikamenten. Von der Sorge um die bayerischen Soldaten und seiner Verzweiflung am Krieg lenkt sich Ludwig mit seinem Stallmeister Richard Hornig auf der Roseninsel ab, wo es zu homoerotischen Handlungen kommt, die wiederum große Schuldgefühle nach sich zu ziehen scheinen. Aus dem Krieg geht Preußen siegreich hervor, Bayerns Armee wird durch ein von Minister Ludwig von der Pfordten ausgehandeltes Schutz- und Trutzbündnis für einen potenziellen erneuten Kriegsfall Preußens Führung unterstellt – zum Entsetzen des bayerischen Königs. Als Reaktion auf den Krieg und die verheerenden Auswirkungen unternimmt Ludwig II. jedoch im späten Herbst des Jahres 1866 eine Reise durch Franken, durch die er große Sympathien seines Volkes erlangt. Er steht auf dem Höhepunkt seiner Anerkennung. Aufgrund seiner sexuellen Orientierung sagt Ludwig die Hochzeit ab, die er seiner Verlobten Sophie versprochen hat, die Verlobung wird aufgehoben – eine persönliche Niederlage für den König und seine Cousine Sophie. Und auch das Verhältnis zu Wagner zerbricht, der Komponist verlässt München im Streit und zieht sich in die Schweiz zurück, wo er jedoch weiterhin durch den König Unterstützung erhält. Ludwig gibt sich desillusioniert:
RR »Majestät soll ein ewig Rätsel bleiben.« (Ludwig II., Filmzitat) So äußert er sich gegenüber dem kürzlich zum Minister ernannten Johann von Lutz. Doch für den erklärten Freund Frankreichs gibt es noch weitere politische Qualen. Durch den Expansionsdrang Preußens sieht sich Frankreich 1870 gezwungen, in den Krieg gegen Preußen zu ziehen. Auch die freundschaftlichen Gespräche zwischen Ludwig II. und Napoleon III. in Versailles können daran nichts ändern.
RR »Mein armes, armes Frankreich.« (Ludwig II., Filmzitat) Durch das Schutz- und Trutzbündnis an Preußen gebunden, muss Bayern am Krieg teilnehmen. Frankreich unterliegt 1871, Ludwig weigert sich, an den Verhandlungen in Versailles teilzunehmen. Stattdessen lässt er einen Brief nach Versailles übermitteln, in dem er dem preußischen König Wilhelm I. die Kaiserwürde anträgt (»Kaiserbrief«). Ludwig denkt an einen völligen Rückzug, da seine Ideale nicht verwirklicht werden und sein Königreich Preußen untergeordnet ist. Doch der Gedanke, zu Gunsten seines jüngeren Bruders Otto zurückzutreten, wird verworfen, da Otto durch den Krieg schwer traumatisiert ist und sich in psychiatrische Behandlung bei Bernhard v. Gudden begeben muss. Rückzugstendenzen sind trotzdem unübersehbar. Ludwig lässt sich Opern in Einzelaufführungen präsentieren, er flüchtet sich in exzentrische Bauvorhaben. Gleichzeitig vernachlässigt er – trotz Abwesenheit aus München – die Regierungsgeschäfte nicht. Er lässt sich sämtliche Dekrete zur Überprüfung und Unterschrift vorlegen. Nun erfolgt ein Sprung in das Jahr 1885/1886: Der Bau des Märchenschlosses Neuschwanstein ist weit fortgeschritten.
RR »Geschlafen wird am Tag, gelebt in der Nacht.« (Ludwig II., Filmzitat) In diesen Worten wird nicht nur das Verstecken Ludwigs in Phantasiewelten angedeutet. Verbunden damit sind im Film auch ganz konkrete Hinweise auf eine zunehmend von der königlichen Umgebung gesehene Problematik: Drohungen von Gläubigern, deren Rechnungen im Umfeld des Schlösserbaus nicht beglichen werden, die Finanzlage der königlichen Privatkasse, die Pläne, weitere und noch exzentrischere Schlösser bauen zu wollen. Die Familie und die Minister wollen die finanziellen Wünsche und Vorstellungen des Königs nicht weiter mittragen. Zwar hat Minister v. Lutz sogar einen Sanierungsplan erarbeitet, doch erhält er aufgrund des Verhaltens des Lakaien Mayr keinen Zugang zum König. Auch
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weil Ludwig konsequent und unveränderlich an seinen Bauplänen festhalten will, lässt v. Lutz die Bauarbeiten einstellen – der Konflikt zwischen König, Ministern und Königsfamilie eskaliert. Ludwig II. versucht, seinen Vertrauten Alfred Graf Dürckheim dazu zu bringen, nach England zu reisen, um dort Gelder einzuwerben. Und auch Reichskanzler Otto von Bismarck, der Ludwig nach wie vor sehr gewogen ist, ruft v. Lutz dazu auf, Gelder des Landtags zur Verfügung zu stellen. Doch die Regierung lehnt ab – sogar die existierenden Kreditangebote aus England. Marstallfourier Karl Hesselschwerdt erhält währenddessen einen weiteren Auftrag des Königs, Gelder zu akquirieren, diesmal in Italien. Im Film fürchtet v. Lutz, seiner Position enthoben zu werden – und bittet den Psychiater Bernhard v. Gudden um die Erstellung eines Gutachtens per psychiatrischer Ferndiagnose, das Ludwig belasten soll.
RR »Kann man Treue zu einem Unzurechnungsfähigen halten?« (Minister Johann v. Lutz, Filmzitat) So geht v. Gudden an sein Werk. In einem Gespräch mit Richard Hornig kommt es zu einer entlarvenden Situation: Als Hornig die positiven Seiten Ludwigs darstellen will, zeigt sich v. Gudden desinteressiert, er möchte ausschließlich belastende Argumente zusammenstellen. Nur kurze Zeit später legt v. Gudden das Gutachten vor, das sog. »krankhafte Sexualverhalten« bleibt dabei ausgeblendet. Auf das Erstaunen v. Lutz’ über die Schnelligkeit der Begutachtung entgegnet v. Gudden:
RR »Fälle, die jenseits von allen Zweifeln sind, lassen sich einfach diagnostizieren.« (Bernhard v. Gudden, Filmzitat) Eine Eskorte um v. Gudden, eingelassen durch Marstallfourier Karl Hesselschwerdt, holt Ludwig II. am 12. Juni 1886 auf Schloss Neuschwanstein ab, um ihn nach Berg zu bringen. Kurz zuvor befindet sich der König auf der Spitze des Turms und scheint über eine Selbsttötung nachzudenken.
RR »Endlich frei.« (Ludwig II., Filmzitat) Während ihm v. Gudden das Gutachten vorliest, erscheint Ludwig II. vollkommen bei Verstand und klar (. Abb. 18.3). Dies setzt sich fort bei der Ankunft in seinem Zimmer auf Schloss Berg, als der abgesetzte König feststellt, dass die Türen von außen verriegelt sind, die Türklinken entfernt, Gucklöcher installiert:
RR »Der Geruch ist unerträglich … Es ist strikt verboten, Majestät anzuschauen.« (Ludwig II., Filmzitat) Die Behandlung durch die Irrenpfleger ist für Ludwig demütigend.
RR »Die Nacht wird zur Nacht, der Tag zum Tag.« (Filmaussage eines Irrenpflegers, der damit Bezug nimmt auf die Gepflogenheiten, die auf Schloss Neuschwanstein herrschten) Am 13. Juni 1886 bittet Ludwig II. um einen Pfingstspaziergang mit v. Gudden. Dieser ist von dem klaren Auftreten seines Patienten beeindruckt, der sich mehr über die No-restraint-Methode Guddens erklären lassen will, und lässt die Pfleger im Haus zurück.
RR »Ein unglaubliches Beispiel, welche Wunder die Psychiatrie vollbringen kann.« (Bernhard v. Gudden, Filmzitat)
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..Abb. 18.3 Bernhard v. Gudden (im Film gespielt von August Schmölzer) verliest das psychiatrische Gutachten, das ohne Untersuchung des Patienten erstellt wurde. (© Warner Bros. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Nach einem kurzen Zweikampf mit dem Psychiater am und im Wasser versinkt der bayerische König in der letzten Szene des Films im Starnberger See (damals noch Würmsee genannt).
Analyse sowie historische Hintergründe zum Fall Ludwig II. Werden die Zuschauer in der gerade erwähnten Schlussszene des Films Zeugen einer Selbsttötung? Oder eines missglückten Fluchtversuchs? Darauf ist später noch näher einzugehen. Im Abgleich mit den historischen Hintergründen und Zitaten ist der Gang in den See am Filmende, ein sehr kurzer Moment des Gesamtwerks, hinsichtlich der Frage zu überprüfen, ob der Tod Ludwigs ein möglicherweise absehbarer Suizid war – und wenn ja, welche Anzeichen es gab und welche Faktoren für eine Selbsttötung sprechen. Zunächst jedoch ist bei der Gesamtbetrachtung die grundsätzliche Frage naheliegend, ob sich in der Darstellung des Königs die Einstellungen der »normalen« bzw. der sich als »normal« betrachtenden Zuschauer widerspiegeln. Wird ein bestimmter Blick auf psychisch Belastete bedient, wie dies in anderen Filmen erfolgte, in denen Psychiatriepatienten im Mittelpunkt stehen (erwähnt sei hier beispielsweise der Film »One Flew Over the Cuckoo’s Nest« (1975)) (Grunst 2008, S. 4)? Zu konstatieren ist, dass es sich bei dem vorliegenden Filmporträt um ein sehr behutsames und verständnisvolles Betrachten der Sonderbarkeiten Ludwigs handelt. Auf das Bedienen von erwarteten Stereotypen wurde oftmals verzichtet. Lediglich die Szenen auf Schloss Neuschwanstein im Jahr 1886 erscheinen bisweilen klischeehaft. Hier werden Verhaltensmuster und Auffälligkeiten in den Dialogen zwischen König und politischem sowie Hof-Personal allzu stereotyp dargestellt. Zudem wird die Entwicklung Ludwigs zur potenziell suizidären Person recht oberflächlich nachgezeichnet. Zu berück-
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sichtigen ist allerdings, dass Spielfilme über psychisch Belastete oftmals den Fachdiskurs nicht adäquat abbilden können, ja vielleicht gar nicht wollen oder sollen. Gesellschaftlich erwartete Vorstellungen finden sich im Film, der häufig ein Spiegel einer Gesellschaft ist, freilich wieder, auch wenn sich der hier betrachtete Historienfilm in der Tat zurückhält mit vorschneller Beurteilung, auch mit einer Beurteilung nach laienpsychiatrischer Art. Vielmehr gehen die Schöpfer des Werks davon aus, dass Kinobesucher sich im Klaren darüber sind, dass sie »einen Spielfilm sehen und keine wissenschaftliche Dokumentation« (Grunst 2008, S. 7). Doch nun zur Einbettung der Filmhandlung in den historischen Hintergrund bzw. die politische Realität des 19. Jahrhunderts in Bayern. König Ludwig II. von Bayern wurde im Jahr 1886 für verrückt erklärt, entmündigt und entmachtet. Natürlich war er – wie auch sehr anschaulich aus dem Spielfilm von 2012 hervorgeht – eine äußerst exzentrische Erscheinung. Die Annahme einer Paranoia (im Sinne einer Schizophrenie) fortgeschrittenen Grades, wie sie im ärztlichen Gutachten genannt ist, lässt sich jedoch nicht halten. Vielmehr sind bei Ludwig soziale Phobien und eine nichtstoffgebundene Sucht zu beobachten (zur filmischen Umsetzung dieser Thematik siehe auch Wedding und Niemiec 2014, S. 97–104 und S. 203–205; zu sämtlichen Hintergründen und insbesondere auch zur psychiatrischen Begutachtung Häfner 2008; Sommer 2009). Die Psychiater allerdings, die den König niemals untersuchten, diagnostizierten im Juni 1886, dass seine freie Willensbildung aufgrund einer Paranoia (im Sinne einer Schizophrenie, s. o.) ausgeschlossen sei. Am 8. Juni 1886 befand der Psychiater Bernhard v. Gudden, Ludwig sei »in sehr fortgeschrittenem Grade gestört«, ein Weiterregieren unmöglich (Gutachten vom 8. Juni 1886, zitiert nach Wöbking 1986, S. 318). Warum wurde keine Abdankung ins Spiel gebracht, der Ludwig vielleicht sogar zugestimmt hätte, sondern stattdessen die Entmündigung gewählt? Befasst man sich intensiv mit der riesigen Anzahl von Quellen und Literatur (geschehen u. a. im Rahmen eines von dem Psychiater Heinz Häfner geleiteten, am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim angesiedelten psychiatrisch-historischen Forschungsvorhabens der Heidelberger Akademie der Wissenschaften zu »Leben und Krankheit Ludwig II. von Bayern«, in dem der Autor als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war; gefördert wurde das Projekt von der Fritz-Thyssen-Stiftung und der Robert-Bosch-Stiftung), so ist zu konstatieren, dass diese Quellen umfassend das Material ergänzen, das dem psychiatrischen Gutachten von 1886 zugrunde lag, basiert doch Letzteres auf überwiegend von Hoflakaien zu Ungunsten des Herrschers gemachten Zeugenaussagen aus einem kurzen Zeitraum. Die Forschungen zeigten am Ende, dass über Jahrzehnte gemachte negative, neutrale oder positive Beobachtungen mit den einseitigen Bekundungen der Gutachter nicht in Einklang zu bringen sind. Bernhard v. Gudden hat zudem schon im 19. Jahrhundert geltende Regeln für die Erstellung psychiatrischer Gutachten missachtet. Eine dieser von Richard von Krafft-Ebing in seinem »Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie« von 1876 formulierten Regeln lautet: »Der synthetische Weg der Begutachtung ist der einzig richtige. Nicht Einzelsymptome, sondern vorurtheilslose Auffassung der gesammten Thatsachen müssen die Diagnose herbeiführen.« (KrafftEbing 1881, S. 43)
Die Regierungszeit Ludwigs 1864 bis 1886 in Zitaten 1864, im Jahr der Thronübernahme, schrieb Ludwigs Kabinettssekretär Pfistermeister in sein Tagebuch: »Der König sieht alle Tage Minister, was sehr guten Eindruck macht und mir auch recht ist, damit ich nicht allein die Verantwortlichkeit tragen muß.« (Pfistermeister in seinen Tagebuchaufzeichnungen, zitiert nach Franz, in v. Müller 1933, S. 82) Von einem »tiefernsten und unglaublich entwicklungsfähigen« König war damals die Rede, der »erstaunlichen Regierungseifer« an den Tag lege (ebd., S. 82). Spätestens ab 1866 verbrachte Ludwig jedoch mehr und mehr Zeit in den Bergen. Ein Grund waren die Kriege, die den friedliebenden König in seinen ersten Regierungsjahren belasteten. So wurde der
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deutsch-deutsche Krieg von 1866 zum »Krieg ohne König« (Sommer 2009, S. 58). Mal weilte er in der Schweiz bei Richard Wagner, mal mit Paul von Thurn und Taxis am Starnberger See. Dies führte zu kritischen Nachfragen seitens der Presse, aber auch seitens ausländischer Gesandter. Der österreichische Diplomat Gustav Graf Blome merkte an, Ludwig habe sich drei Betten auf die Roseninsel im Starnberger See schaffen lassen – »in dem Augenblicke, wo es sich um Krieg und Frieden handelt« (zitiert nach Hacker 1972, S. 119). Doch bereits im November 1866 konnte Ludwig zeigen, dass er sich das Regieren nicht aus der Hand nehmen lassen würde. Wie auch im Rahmen der Filmbeschreibung erwähnt, besuchte er das vom Krieg gegen Preußen schwer in Mitleidenschaft gezogene Franken: »Ein Triumphzug – der spektakulärste Auftritt des jugendlichen Monarchen auf dem Höhepunkt seiner Ausstrahlung.« (v. Aufsess 1980, S. 5) Die Herausforderungen allerdings waren groß für einen unerfahrenen Mann von etwas mehr als zwanzig Jahren. Und nachdem er den Krieg von 1866 mehr ab- als anwesend durchlebt hatte, stand schon die nächste Hürde bevor: der deutsch-französische Krieg von 1870/71. Im Zuge der politischen Umwälzungen, insbesondere der Eingliederung Bayerns in das Deutsche Reich im Jahr 1871, zog sich Ludwig wieder zurück. Er fühlte sich missverstanden, auch verletzt durch die Kritik an seinem Verhältnis zu Richard Wagner, und pflegte nur selektiven Kontakt zu Menschen. Staatsminister Nikolaus von Bomhard bezeichnete den jungen Monarchen zu jener Zeit als Einsiedler und Sonderling. Der Schriftsteller Felix Dahn war zu derselben Zeit nach einer seiner Unterredungen mit Ludwig aber nach wie vor überzeugt: »Der scharfe, helle, spitzfindig denkende Geist legt große Sachkenntnis in politischen Angelegenheiten an den Tag« (Dahn 1895, S. 291).
1871 also nahm Otto von Bismarck, der bis 1886 in engem Kontakt zu Ludwig stand, dem bayerischen König den Inhalt seines Königseins: Die militärischen Siege von 1870/71 weckten in Preußen nämlich die Idee, das deutsche Kaiserreich wieder zum Leben zu erwecken. Ludwig kam dem nach, indem er im sog. »Kaiserbrief« dem preußischen König die Kaiserkrone anbot. Für sein Bayern handelte er allerdings weitgehende Reservatrechte aus und erhielt zudem aus dem Welfenfonds jährliche Zuwendungen, die unter anderem in den Bau seiner Schlösser flossen. Der Kontakt zu Bismarck indes ging weiter. Im Mai 1880 schrieb Ludwig: »Sie kennen das Maß der aufrichtigen Verehrung und des unbedingten Vertrauens, welches ich für Sie unauslöschlich im Herzen trage.« (Ludwig an Bismarck, 17.05.1880, zitiert nach v. Bismarck 1901, S. 532) Was also war das wahre Problem, das die Wittelsbacher später die Psychiatrie beauftragen ließ, um für die Absetzung Ludwigs zu sorgen? Es ging um wenige Frauen, um viele Männer – und vor allem um große Mengen Geld. Der zeitgenössische Arzt und Sexualforscher Magnus Hirschfeld schrieb über den bayerischen König und sein Verhältnis zu Frauen: »Er liebte Frauen, wie man ein schönes Kunstwerk liebt … diese Liebe war frei von jeder Sinnlichkeit, ein kameradschaftliches Verstehen. Die Natur hatte es ihm versagt, ein Weib so zu lieben, wie es ein Mann lieben muß« (Hirschfeld 1897, S. 417). Seine Verlobung mit Sophie Charlotte in Bayern, der Schwester Kaiserin Elisabeths, löste Ludwig kurz vor der geplanten Hochzeit 1867 auf. Er schrieb im Oktober 1867 an Sophie: »Meine treue innige Bruderliebe wurzelt tief in meiner Seele, nicht aber die Liebe, die zur Vereinigung in der Ehe erforderlich ist« (Ludwig an Sophie, 07.10.1867, BSB München, Handschriftenabteilung, Ana 346, B.I.5.c, siehe Sommer 2009, S. 133/134). Wenige Tage später teilte er Richard Wagner mit: »ich athme wieder frei auf, erwache wie aus düstrem Traum … o nun ist alles wieder gut!« (Ludwig II. an Wagner, 19.10.1867, zitiert nach Wagner/Strobel 1936, S. 195 f.). Für Männer schwärmte Ludwig II. dafür umso mehr. So spielte der Schauspieler Josef Kainz zu Beginn der 1880er-Jahre eine wichtige Rolle im Leben des Herrschers. Kainz, der »nie Spuren geistiger
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Störung an Ludwig II. bemerkt« (v. Böhm 1922, S. 486) hat, begleitete Ludwig z. B. 1881 in die Schweiz. Nur wenige Beziehungen währten über längere Zeiträume, so wie die außergewöhnliche Freundschaft zu dem Darmstädter Hoftheater-Maschinisten Friedrich Brandt. Von 1869 bis 1883 gab es einen intensiven Briefkontakt zwischen den beiden Männern. Die schwärmerischen Texte klangen so: »Für Deine beiden letzterhaltenen Briefe, die so unendlich herzlich, liebevoll und freundlich waren, nimm meinen wärmsten, innigsten Dank entgegen, ebenso für die theure Locke des vielgeliebten Hauptes, die ich sehr in Ehren halten will … Daß Du so lebhaft unsres Zusammenseins im jetzigen Wintergarten Dich erinnerst, freut mich innig. Das waren wunderschöne Stunden herzlichen, poesiedurchwehten Beisammenseins« (Ludwig II. an Brandt, 26.03.1883, BSB München, Handschriftenabteilung, Autogr. Cim. Ludwig II. von Bayern, Nr. 63, siehe Sommer 2009, S. 143/144). Freundschaften wie diese und auch diejenige zu Richard Hornig beweisen nicht nur die intensiven Gefühle, die der bayerische König Männern gegenüber verspürte. Sie zeigen auch, dass es einen totalen Rückzug Ludwigs, wie ihn die Gutachter ihm vorwarfen, nie gegeben hat. Problematisch wurden die homoerotischen Ausschweifungen erst, als Ludwig sich über Diener junge Männer in ganz Europa suchen ließ – mit teilweise expliziten Wünschen zu deren Aussehen. Die jungen Leute wurden schließlich beispielsweise aus den Reiterregimentern der bayerischen Armee rekrutiert, was in München »die Spatzen von den Dächern pfiffen« (Holzschuh 2001, S. 11). Der preußische Gesandtschaftssekretär Philipp Graf zu Eulenburg notierte in einem Brief an Herbert von Bismarck, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, im Mai 1885: »Es ist Ihnen bekannt, daß König Ludwig neuerdings in seiner Zuneigung zu dem jüngeren Stallpersonal sehr energisch geworden ist« (Eulenburg an H. von Bismarck, 14.05.1885, Bismarck-Archiv, B 40/3, zitiert nach Sommer 2009, S. 161).
Ein angekündigter Suizid? Energisch betrieb Ludwig II. auch das Bauen, das für ihn zu einer regelrechten Sucht geworden war. Wenn der Schlösserbau aufgrund finanzieller Engpässe seiner Privatschatulle stockte, verzweifelte der König fast. In solchen Situationen sollte sich sein Diener Karl Hesselschwerdt an Kabinettssekretär Friedrich von Ziegler wenden: »Sage ihm, daß die Bauten Mir die Hauptlebensfreude sind, daß Ich, seit Alles schändlich stockt, ganz unglücklich bin, an Abdanken, Selbsttötung stets denke, daß der Zustand aufhören muß, daß die Bauten nicht mehr stocken dürfen, daß, wenn er Alles richtet, er Mir buchstäblich das Leben wiedergibt« (Ludwig II. an Karl Hesselschwerdt, 11.05.1886, zitiert nach Wöbking 1986, S. 35). Doch nicht nur der König selbst war von den Baupausen betroffen: »Mit Sehnsucht harren die Arbeiter auf den Wiederbeginn der Arbeiten am neuen k. Schloß (sic!), welche seit zwei Monaten unterbrochen waren« (Füssener Blatt Nr. 19/1884, S. 74, siehe Sommer 2009, S. 96). 1886 schlug die Stunde des Psychiaters: Bernhard v. Gudden, Leiter der Irrenanstalt Werneck in Franken, erhielt den Auftrag, dem Treiben des Königs ein Ende zu setzen. Von seinen bayerischen Auftraggebern als bedeutendster Psychiater Deutschlands gelobt, musste v. Gudden von manchen Kollegen erhebliche Kritik einstecken. Emil Kraepelin, ehemals Assistent bei v. Gudden und später Gründer der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie (heute: Max-Planck-Institut für Psychiatrie), vermerkte beispielsweise: Gudden stellte »mit dem Gefühle der Sicherheit … eigentlich nur eine einzige Diagnose, diejenige der Paralyse … Jedem Versuch, … den feinen Unterschieden des seelischen Verhaltens nachzugehen, stand er durchaus ablehnend und zweifelnd gegenüber« (Kraepelin 1983, S. 16). Gudden habe nichts von der klinischen Beobachtung gehalten. Beste Voraussetzungen also für eine Begutachtung im Sinne des bayerischen Herrscherhauses. Gudden war den Wittelsbachern durch die Betreuung Ottos (s. o.) zudem gut bekannt, mit Johann von Lutz verband ihn eine Freundschaft. Zur Beurteilung Ludwigs genügten ihm negative Aussagen von Hofbediensteten sowie Dokumente aus Papierkörben Ludwigs.
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Der Aspekt des Geldes spielte, wie bereits angedeutet, bei der Begutachtung eine große Rolle. Zur Lage der bayerischen Finanzen schrieb der ehemalige mexikanische Generalkonsul in Wiesbaden, Ferdinand Moos, im Jahr 1886: »Bayern ist eines der reichsten Länder, seine Finanzen sind in guter Verfassung« (Moos 1886, S. 9). Die staatliche Finanzlage also wurde durch das Handeln des Königs nicht negativ beeinflusst. Vielmehr ging es um die weiter steigende persönliche Schuldenlast, für die die Familie Ludwigs teilweise schon Bürgschaften übernommen hatte. Die Wittelsbacher sahen durch den extensiven Schlösserbau große finanzielle Probleme auf sich zukommen. Der Historiker Karl Alexander von Müller notierte dazu: »Die wachsende persönliche Schuldenlast des Königs, welche auch seine Agnaten bedrückte, trieb die Dinge, wie wir sahen, allmählich einer Krise zu« (v. Müller 1932, S. 651). Minister Johann v. Lutz kannte die Lösung, die er dem Gesandten v. Bruck aus Österreich schon im Januar 1886 anvertraute: »Wenn der König nicht bereit sei, alle Ausgaben einzustellen, dann müsse eine Katastrophe eintreten, welche zur Abdankung führe, und sei er, Minister von Lutz, der Mann dazu, diese herbeizuführen« (v. Bruck an Kálnoky, 17.01.1886, HHStA Wien, siehe Sommer 2009, S. 196). Eine grobe Pflichtvernachlässigung durch Ludwig II. ist zu verneinen. Das belegen die Signatenbücher der Jahre 1864 bis 1886. Sämtliche Ministerialanträge wurden dem König zur Genehmigung vorgelegt. Die Menge der zu bearbeitenden Papiere lag durchschnittlich zwischen 500 und 700 Dokumenten pro Jahr. Im Jahr 1884 beschäftigte sich Ludwig II. mit 657, im Jahr 1885 mit 562, in den Monaten bis zum 8. Juni des Jahres 1886 mit 267 Bitten und Anträgen. Auch 1886 wurden die Unterschriften in den meisten Fällen innerhalb kurzer Fristen geleistet. Das Gutachten Guddens sagt aber: »Der Einlauf, welcher gesiegelt aus dem Kabinet zu Seiner Majestät kam, lag von Allerhöchstdemselben geöffnet, längere Zeit, oft Tage lang, obwohl die wichtigsten Staatsangelegenheiten sich darunter befanden, offen vor den Augen der Dienerschaft« (Gutachten v. Guddens, zitiert nach Wöbking 1986, S. 315). Sogar eine Zeitung (Dresdner Journal) meldete noch kurze Zeit vorher: »Es ist bekannt, wie gewissenhaft der König sich den Landesgeschäften widmet. In seiner alpinen Abgeschiedenheit hängt Ludwig II. nicht etwa nur seinen künstlerischen Neigungen nach; er nimmt an den Staatsgeschäften ununterbrochen Antheil« (Dresdner Journal, Nr. 34/1884, in: BayHStA, MA 50721, siehe Sommer 2009, S. 183). Und etwas früher äußerte Otto v. Bismarck: »Ludwig hat Schrullen, aber es steckt viel in ihm. Er versteht das Regieren heute noch besser wie alle seine Minister« (EulenburgHertefeld 1923, S. 117). Es war also eine Mischung aus das Privatvermögen betreffender Verschwendungssucht, exzentrischem Verhalten und homoerotischen Umtrieben, die den wahren Hintergrund für die Begutachtung bildet, die Minister v. Lutz, Ludwigs Onkel Luitpold von Bayern und dessen Söhne anstießen. Der preußische Gesandte Georg Graf von Werthern berichtete im März 1886 an Herbert von Bismarck: »Seit dem October stellt man den König dar als einen in Schnapsgenuß & gemeiner Wollust untergehenden Narr & weist auf eine Regentschaft hin als Erlösung aus dem unhaltbaren & scandalösen Zustande … In seinen Briefen steht der König ganz anders da. Ich habe sie selbst gelesen; sie sind ein jeder … mit ganz gleicher Hand geschrieben, einfach, natürlich & verbindlich … Der König … ist nicht entfernt der Cretin, der ohne Eisbeutel auf dem Kopfe nicht leben kann & der reif ist für das Irrenhaus« (v. Werthern an Herbert von Bismarck, 27.03.1886, Bismarck-Archiv Friedrichsruh, B 124/1, siehe Sommer 2009, S. 206). Einstimmig kamen v. Gudden und seine drei Mitunterzeichner zu der Diagnose »Paranoia«. Da die wahren Gründe verschleiert werden mussten, wurden zur Untermauerung sowohl angebliche Halluzinationen als auch krankhafte Störungen der Sinnes- und Denktätigkeit herangezogen. Häufige Abwesenheiten des Königs und technische Finessen und Besonderheiten in den Königsbauten genügten dem Psychiater Bernhard von Gudden, den Eindruck des Krankhaften in Ludwigs Verhalten als einen »sofort durchschlagenden« anzusehen (aus dem ärztlichen Gutachten v. Guddens, zitiert nach Wöbking 1986, S. 308/311).
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Ludwigs Tod im Starnberger See – Suizid im Film? Suizid in der Realität? Am 12. Juni 1886 wurde Ludwig II. von einer Kommission abgeholt und nach Berg gebracht. Dort sollte er festgehalten und unter Beobachtung gestellt werden, eine psychiatrische Behandlung durch v. Gudden war vorgesehen. Wie auch in der Filmhandlung geschildert, sollte Ludwig in einem Raum des Gebäudes leben, dessen Türen nur von außen zu öffnen und mit Beobachtungslöchern versehen waren. Dieser Absturz vom Herrscher zum Entmündigten ist subjektiv wie objektiv als unerträglich zu bewerten. Am Abend des 13. Juni 1886 begaben sich Ludwig und v. Gudden auf einen Spaziergang auf dem Parkgelände rund um Schloss Berg am Ufer des Starnberger Sees. Von diesem Rundgang kamen die beiden Protagonisten nicht mehr zurück. Beide starben im See, Gudden ins Wasser gestoßen von dem wesentlich stärkeren Ludwig, der sich aus den Fängen des Psychiaters lösen wollte, der König selbst höchstwahrscheinlich in Selbsttötungsabsicht. Der Journalist Maximilian Harden schrieb 1911: »Das war der Mann nicht mehr, den, schlank und hoch, auf vollblütigem Roß, im Prunkwagen zwischen dem Troß glitzernder Hofdiener, zwischen Fackelträgern im üppig geschmückten Schlitten, die Bayern für eines Augenblickes Dauer erschaut hatten. Nur das Zerrbild noch ihres Märchenhelden. Doch der geliebte König: noch immer« (Harden 1911, S. 381 f.). Harden war sich sicher, dass Ludwig in Selbsttötungsabsicht »das Leben … von sich warf« (Harden 1911, S. 381 f.). Auch wenn es sehr wahrscheinlich ist, dass sich Ludwig II. in suizidaler Absicht in den See stürzte, sollte hier betont werden, dass es auch andere Theorien gibt. Der Psychiater Max Hubrich schrieb am 20. Juni 1886 im Fränkischen Kurier: »Ich möchte es … offenlassen, ob der Untergang des Königs ein geplanter Selbstmord oder ein Fluchtversuch war, der dadurch sein Ende fand, daß der durch den vorhergegangenen Kampf erschöpfte hohe Kranke sich den Umklammerungen des weichen Seegrundes nicht mehr zu entziehen vermochte« (Hubrich im Fränkischen Kurier, Nr. 310/1886, 20.06.1886, S. 1, Stadtarchiv Nürnberg, C7/1, Nr. 686, siehe Sommer 2009, S. 236). Ob nun bewusste oder unbewusste Flucht aus dem Leben (für die Selbsttötung sprechen freilich nicht nur die Umstände der Ereignisse, sondern auch bereits vorher geäußerte Suizidabsichten, s. o.) – der Rechtsmediziner Peter Betz bezeichnete den Tod des bayerischen Königs vorsichtig als »Ertrinkungstod in weiterem Sinne« (Betz 2001, S. 29). Der Sturz von Macht in Ohnmacht, die damit verbundene Entwürdigung, die Erlösung im Tod. So zeigt es die fiktionale Handlung im Film. Und so mag es auch in der Realität gewesen sein, die These der Selbsttötung jedenfalls ist unter den Thesen rund um den Tod des Königs eine sehr realistische. Historische wie aktuelle Fachliteratur haben über diesen Aspekt intensiv diskutiert (siehe dazu ausführlich Häfner 2008; Sommer 2009, S. 235 ff.). Was also bleibt nach dem Betrachten des Films und dem Abgleich mit den historischen Hintergründen? Das intensive und umfassende Quellenstudium und die Untersuchung der Aussagen von Zeitzeugen zeigen, dass es sich bei dem psychiatrischen Gutachten, das dem Tod des Königs unmittelbar vorausging, um eine Aneinanderreihung skandalöser Kurzgeschichten ohne jeden Ansatz einer kritischen Abwägung ihres Wahrheitsgehalts handelt. Auch nach Maßstäben des 19. Jahrhunderts wurden – wie oben gesagt – die für ein neutrales Gutachten notwendigen Schritte missachtet. Mit den bekannten tödlichen Folgen. Wie anhand der hier erfolgten Gegenüberstellung von Filmhandlung und historischen Hintergründen ersichtlich wurde, bilden die beiden Komponenten ein recht harmonisches Ensemble, wobei die künstlerische Freiheit im Film selbstverständlich auch zur Geltung kommt – legitimerweise. Denn – und damit kehren wir zurück zu einem der Ausgangspunkte – es ist davon auszugehen, dass die Zuschauer wissen, was sie erwartet: ein Spielfilm, keine wissenschaftliche Dokumentation.
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Literatur von Aufsess M (1980) Ludwig II., Triumphzug durch Franken. Verlag Nürnberger Presse, Nürnberg Betz PL (2001) Ertrinkungsdiagnostik gestern und heute, veranschaulicht am Schicksal Ludwigs II. von Bayern. Palm & Enke, Erlangen von Böhm G (1922) Ludwig II. von Bayern. Sein Leben und seine Zeit. Engelmann, Berlin Dahn F (1895) Erinnerungen, Viertes Buch 1863–1888, 2. Abtheilung 1871–1888. Breitkopf & Härtel, Leipzig Deutsche Filmbewertung und Medienbewertung (2012) Ludwig II., Pressetext. https://fbw-filmbewertung.com/film/ ludwig_ii_1. Zugegriffen: 18. Aug. 2019 zu Eulenburg-Hertefeld P (1923) Aus 50 Jahren – Erinnerungen, Tagebücher, Briefe. Gebrüder Paetel, Berlin von Bismarck O (1901) Aus Bismarcks Briefwechsel. Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart Grunst S (2008) Spielfilme über psychisch Kranke: Drama light oder Medium der Entstigmatisierung? Die Darstellung von Menschen, die an einer Schizophrenie, einer bipolaren Störung oder einer Alkoholkrankheit leiden, im Kinofilm der Gegenwart. BoD, Norderstedt Hacker R (1972) Ludwig II. in Augenzeugenberichten. dtv, München Häfner H (2008) Ein König wird beseitigt – Ludwig II. von Bayern. C.H. Beck, München Harden M (1911) Ludwig der Zweite. In: Die Zukunft, Bd. 75. Verlag der Zukunft, Berlin, S 369–383 Hirschfeld M (1897) Das Rätsel im Leben der Herzogin Sophie von Alençon. In: Der Hausdoctor, Nr. 392. Dt. Drucks- und Verlagshaus, Berlin, S 417–418 Holzschuh R (2001) Das verlorene Paradies Ludwigs II. – Die persönliche Tragödie des Märchenkönigs. Eichborn, Frankfurt am Main Kraepelin E (1983) Lebenserinnerungen, herausgegeben von Hanns Hippius. Springer, Heidelberg von Krafft-Ebing R (1881) Lehrbuch der Gerichtlichen Psychopathologie, 2. Aufl. Ferdinand Enke, Stuttgart Mandel E (2012) Ludwig II. (Filmkritik). http://kunstundfilm.de/2012/12/ludwig-ii. Zugegriffen: 18. Aug. 2019 Moos F (1886) Zur Lage der bayrischen Kabinetskasse. Allgemeiner Verlag, Berlin von Müller KA (1932) Bismarck und die Königskatastrophe. Süddeutsche Monatshefte 29:648–661 von Müller KA (1933) Staat und Volkstum, Neue Studien zur bairischen und deutschen Geschichte und Volkskunde. Huber, Diessen Rebhandl B (2012) Chancenlos zum bitteren Ende. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/ludwig-ii-im-kino-chancenlos-zum-bitteren-ende-12007278.html. Zugegriffen: 18. Aug. 2019 Roschy B (2013) Kritik zu »Ludwig II.«. https://www.epd-film.de/filmkritiken/ludwig-ii. Zugegriffen: 18. Aug. 2019 Sommer F (2009) Psychiatrie und Macht – Leben und Krankheit König Ludwig II. von Bayern im Spiegel prominenter Zeitzeugen. Peter Lang, Bern Wagner W, Strobel O (Hrsg) (1936) König Ludwig II. und Richard Wagner, Briefwechsel, 3. Aufl. Braun, Karlsruhe Wedding D, Niemiec RM (2014) Movies and mental illness – using films to understand psychopathology Bd. 4. Hogrefe, Boston Wöbking W (1986) Der Tod König Ludwigs II. von Bayern – Eine Dokumentation. Rosenheimer Verlagshaus, Rosenheim
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Originaltitel
Ludwig II.
Erscheinungsjahr
2012
Land
Deutschland, Österreich, Frankreich
Drehbuch
Peter Sehr, Marie Noëlle
Regie
Peter Sehr, Marie Noëlle
Hauptdarsteller
Sabin Tambrea, Sebastian Schipper, Edgar Selge, Paula Beer
Verfügbarkeit
Als DVD erhältlich
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Susanne Rabenstein
„Todeskampf im Klassenzimmer“ Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Die Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Die Entwicklung einer (un‑)emotionalen Tragödie . . . . . . 270 Die Stimmungsmacher: Schuberts Andantino und Lenaus Herbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 »Mein Herz dem Tod entgegenträumt« – Das schreckliche Ende eines Schülers . . . . . . . . . . . . . . 274 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_19
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Filmplakat Der Schüler Gerber. (© Bayerischer Rundfunk. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Der Schüler Gerber (1981) Susanne Rabenstein
1981 sind die Vorstellungen in der Wiener Urania ausverkauft, als Der Film Der Schüler Gerber von Regisseur Wolfgang Glück in die Kinos kommt. Die Handlung spielt vor dem Hintergrund des 1930 erschienenen Erfolgsromans Der Schüler Gerber hat absolviert von Friedrich Torberg, der selbst zweimal zur Matura antreten musste. Dieses autobiographische Moment und seine Entrüstung über das schon damals weit verbreitete Phänomen des Schülerselbstmords mündeten in die Schilderung der willkürlichen Machtausübung im Klassenzimmer (. Abb. 19.1, Filmplakat). »Werksgetreu« ist das treffende Attribut für die filmische Umsetzung Glücks, der sich zunächst mit Literaturverfilmungen einen Namen gemacht und wiederholt filmisch autoritäre Machtstrukturen festgehalten hat. Der Film Der Schüler Gerber wartet vor und hinter der Kamera mit einer prominenten Namensliste auf. Gabriel Barylli und die leider schon verstorbene Doris Mayer machen sich später einen Namen als Bestsellerautoren, Kameramann Xaver Schwarzenberger fällt bald als Regisseur auf und der ebenfalls schon verstorbene Werner Kreindl, der den sadistischen Professor Kupfer mimt, wird beim Deutschen Bundesfilmpreis mit dem Filmband in Gold ausgezeichnet. Und nicht zuletzt findet sich Schuberts Andantino, am Klavier interpretiert von Alfred Brendel, fast in der Hitparade wieder (Reichhold 2018, S. 188–189).
Handlung Der Schüler Kurt Gerber tritt nach den Ferien das letzte Schuljahr vor der Matura an. Überrascht wird er dabei von dem Umstand, dass der von allen Schülern und Schülerinnen gefürchtete Professor Kupfer sein neuer Klassenvorstand wird. Der Protagonist, ein intelligenter und frühreifer Schüler, aber schwach in Mathematik und Darstellender Geometrie, wird nun genau in diesen Fächern von dem autoritären Pädagogen unterrichtet. Zwischen den beiden entspinnt sich ein Machtkampf auf Leben und Tod, bei dem Kupfer vom Anfang bis zum Ende des Films dominiert, was die Übermächtigkeit des Systems darstellt. Der Lehrer ist der Prototyp pervertierter psychischer Gewalt, indem er die Schüler und Schülerinnen regelmäßig sadistisch erniedrigt. Gerber scheint er im Besonderen ausgewählt zu haben, um an ihm seine Macht und Überlegenheit lustvoll zu demonstrieren. Die anfängliche freche Auflehnung des Maturanten gegen den Lehrer schlägt bald in Ohnmacht und Verzweiflung um, bis sich der Schüler schließlich suizidiert, indem er aus dem Fenster in der Schule springt, ohne das positive Ergebnis der Matura abzuwarten, was er somit nicht mehr erfährt.
Die Figuren Gott Kupfer oder Die Lust am Quälen RR »Versuchen Sie nie, mich zu beschwindeln! Hauptmann Kupfer sieht alles, weiß alles, merkt alles. Ich war im Weltkrieg Hauptmann. Machen Sie sich keine Hoffnungen, mir mit den üblichen Tricks und Kniffen beikommen zu können. Ich tue nie, was die Masse tut.« Der erste Auftritt Professor Kupfers als neuer Klassenvorstand vor der Maturaklasse ist bezeichnend. Im dunklen Anzug bewegt er sich in aufrechter Haltung und strammen Schrittes auf das Lehrerpult zu, um dort seine lederne Aktentasche wie ein Symbol der neuen Herrschaft abzulegen. Er äußert
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sogleich, dass er warten will, bis völlige Ruhe eingekehrt ist, obwohl nichts zu hören ist. Dieser Habitus deutet bereits in Richtung seiner zukünftig oft dargelegten Willfährigkeit. Denn selbst wenn sich die Schüler und Schülerinnen bemühen, werden sie nicht gelobt, sondern herabgesetzt. Als beispielsweise ein Schüler für Kupfer zu Schulbeginn einen Sitzplan erstellt, würdigt der Pädagoge das nicht, sondern nimmt den Plan zum Anlass, daraus eine Mathematikaufgabe abzuleiten und den Schüler sodann auf Nicht genügend zu prüfen. Dabei wird vermieden, den Lehrer in einem Close-Up zu zeigen, denn ein Detailblick in sein Gesicht würde das Publikum mit der Bedrohung, die von ihm ausgeht, emotional verbinden. Das wird unterlassen, der Zuschauer kann nicht zu einem Betroffenen werden. Kupfer schließt einen Fensterflügel, sein Gesicht ist dabei zur Hälfte vom Sonnenlicht erhellt, die andere Seite bleibt ins Dunkel getaucht. Auch diese Geste wirkt wie eine unheimliche Voraussage, denn die erste Szene mit ihm im Klassenraum ist der Auftakt für seine nicht enden wollende Machtillustration in einem geschlossenen System. Die beleuchtete Seite des Gesichts verweist auf das symbolisierte Göttliche bzw. Übermenschliche, denn »Gott Kupfer«, wie der Professor von seinen Schülern und Schülerinnen genannt wird, stellt eine Übermacht dar. Die dunkle Seite des Lehrers lässt wiederum das »Böse« des Mächtigeren, den Machtmissbrauch, erahnen, denn der Professor ist keine unterstützende Autorität, wie sie Alfred Adler – der Gründer der Individualpsychologe – definiert. Als »persönliche Autorität« will Adler jemanden verstanden wissen, der wohlwollend der Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen zur Entfaltung verhilft, indem er Orientierung, Sicherheit und Anleitung bietet (vgl. Kotthoff 1995, S. 51 ff.). Dabei warnt der Individualpsychologe vor Zwang und Unterwerfung, denn diese lassen Minderwertigkeitsgefühle entstehen, die wiederum mit dem eigenen Machtstreben (über‑) kompensiert werden wollen, um das Persönlichkeitsgefühl zu erhöhen (Adler 2008a, S. 70 ff.). Um sich gegen die Unterdrückung abzusichern, können aktiv Trotz, Zorn, Ungehorsam genauso an den Tag gelegt werden wie passiv Angst, Schüchternheit und Unterordnung (ebd., S. 214 ff.). Beide Modi sind an Gerber erkennbar. Der Professor repräsentiert eine Autorität in einem zerstörerischen Machtkomplex, in welchem die anderen mit Aggression und Sadismus unterworfen werden. Im Film wird das Thema Totalitarismus ausschließlich über das Schulsystem bearbeitet, obwohl er in der Zeit vor dem Nationalsozialismus spielt. Einige Jahre später wartet Glück mit einer erneuten Torberg-Verfilmung, 38 – auch das war Wien, auf – diesmal zutiefst politisch – und wird als erster österreichischer Regisseur für den Auslands-Oscar nominiert. Der Schüler Gerber spielt in der Zwischenkriegszeit, die Stimmung vor dem Anschluss in Wien wird aber nicht ins Bild gerückt, wird ausgeblendet, sie wird aber über den Untergang des Schülers in einem autoritären System symbolisiert. Vielleicht verweist das Ausblenden auch auf das fehlende Bewusstsein der damaligen Gesellschaft vor der bevorstehenden Gefahr des nationalsozialistischen Regimes. Der expliziten Kritik am autoritären System Schule kann ohne Weiteres eine implizite zeitgeschichtliche Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen attestiert werden. Die Geschichte, die filmisch erzählt wird, kann in diesem Sinn als Allegorie aufgefasst werden. Das Herrschaftssystem wird anhand der Figur Kupfers vorgeführt, wobei der Film kein Interesse hat, ihn psychologisch zu erklären. Sein Inneres – wie weitgehend auch das Kurt Gerbers – bleibt ausgespart. Der Rezipient erfährt nicht, ob er sich aufgrund eigener Ängste und Minderwertigkeitsgefühle zum schulischen Machthaber erhebt. Kupfer ist Macht, ist unpersönlich und emotionslos wie seine Fächer Mathematik und Darstellende Geometrie, die er unterrichtet, denn als Mensch wird er nicht greifbar. Sein einziger Lebensraum ist die Schule, der Hauptschauplatz des Films. Diese Gestaltung lässt den Professor zur Schablone, zum Stereotyp, werden (. Abb. 19.2). Markus Vorauer, der gemeinsam mit Ulrike Greiner Lehrerfiguren im internationalen Spielfilm (Vorauer 2007) analysiert und sich vor allem dem Wandel des Lehrerbildes widmet, stellt die Frage nach Kupfer als Metapher für die »Inkarnation des Bösen« (Vorauer 2007, S. 80). Er weist darauf hin, dass die Lehrerdarstellung auch für damalige Verhältnisse nicht ohne Vorbehalt als repräsentativ genommen werden kann, da der »böse« Lehrer nie repräsentativ für die ganze Berufsgruppe sein kann. Dement-
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..Abb. 19.2 Der Lehrer »Gott Kupfer« – unnahbar und ohne Erbarmen. (© Bayerischer Rundfunk. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
sprechend erscheint Kupfer in seinem Handeln autonom, die Berufskollegen werden in Distanz zu ihm dargestellt und begegnen ihm mit respektvollem Misstrauen (ebd., S. 83 ff.). Sie agieren auch nicht in seinem Stil. Im Gegenteil, im Gespräch mit dem Mathematiklehrer gibt ein Kollege zu bedenken,
RR »dass auch wir [Lehrer, S. R.] schuld sein könnten am Nicht genügend, wenn wir Schüler falsch behandeln.« Insofern findet Vorauer, dass der Pädagoge im Film nur bedingt dem Stereotyp des »bösen« Lehrers entspricht, nämlich in seinem autoritären Gebaren, aber er kann nicht als »systemkonform« interpretiert werden (ebd.). Vielmehr scheint in ihm ein persönliches Verlangen angelegt zu sein, die Schüler und Schülerinnen zu demütigen. In Bezug auf das bevorstehende Maturajahr stellt der Professor klar:
RR »Ich lasse die Matura nicht zur bloßen Formalität degradieren. Gnadenakte gibt’s bei mir nicht!« Diese Spitze geht bereits gegen Gerber, der gerade noch provokant gelacht hat und sich anfänglich nicht entmutigen lassen will. Aber der perfide Lehrer ist selbst um keinen Trick verlegen. Er wiegt die Schüler und Schülerinnen während der Schularbeit in Sicherheit, indem er vorgibt, seelenruhig die Zeitung zu lesen. Dennoch erwischt er Kurt beim Schummeln, der hier nicht mehr selbstbewusst erscheint,
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sondern sich mit hilfesuchendem Blick an einen Mitschüler wendet, der ihm einen Zettel zusteckt. Just in dem Moment entlarvt ihn Kupfer:
RR »Ich hab doch gesagt, ich seh alles!« Der Höhepunkt der Szene ist allerdings, dass die Schüler nach der Stunde Löcher in der Zeitung des Lehrers entdecken, durch die er sie beobachten konnte. Beständig werden anhand der Lehrerfigur Macht, Kontrolle und die Lust am Quälen inszeniert. Der Schüler Zasche wird nach der Lösung eines Beispiels an der Tafel von dem Pädagogen gerade noch gelobt, um ihn im nächsten Moment mit einer unlösbaren Aufgabe bloßzustellen und ihm doch ein Nicht genügend zu geben. Auch Gerber wird Opfer des Kupfer’schen Sadismus, beispielsweise wenn er sich sichtlich verbessert und deshalb auf eine positive Beurteilung im Zeugnis hoffen darf. Aber der Professor macht ihm einen grausamen Strich durch die Rechnung. Mit der Bemerkung
RR »Die Erniedrigten können erhoben, die Erhobenen gestürzt werden« beurteilt er Kurt sowohl in Mathematik als auch in Darstellender Geometrie mit Nicht genügend im Zeugnis. Letzterer ist den Tränen nahe. Kupfer erinnert an einen Soziopathen, der sich bestens in den anderen hineinversetzen kann, dessen Wünsche, Gefühle und Nöte errät, aber ohne dabei Mitgefühl zu empfinden. Das Erschließen der Innenwelt des Gegenübers dient lediglich dazu, um es für die eigenen narzisstischen und aggressiv aufgeladenen Impulse zu benutzen. Der andere soll vernichtet werden, im Triumph der Macht vernichtet sich der andere sogar selbst. Beiden – Kupfer in seiner Herrschaft wie Gerber in seiner zunehmenden Isolation – fehlt die gesunde Verbindung zu den anderen, das von Alfred Adler als regulierende Kraft beschriebene Gemeinschaftsgefühl (Adler 2008b), welches das Machtstreben abschwächen und eine tragfähige Beziehung ermöglichen kann.
Kurt Gerber – zwischen Auflehnung und Unterwerfung RR »Der gehört längst nicht mehr in die Schule, eine ausgeprägte Persönlichkeit«, proklamiert Professor Selig vor seinem Kollegen Kupfer über den Schüler Kurt Gerber. Letzterer kontert:
RR »Das gibt es nicht. Jedenfalls solange er an dieser Anstalt ist, ist er einfach der Schüler Gerber!« Kurt wird filmisch zunächst als frühreif umrissen, frech, vorlaut, vordergründig selbstbewusst, in die Klassengemeinschaft eingebunden, und er kann es kaum erwarten, die Schule hinter sich zu lassen. Das wird am Anfang des Films skizziert, als fröhlich lärmende Schüler und Schülerinnen durch die Säulenhalle des Akademischen Gymnasiums im 1. Wiener Gemeindebezirk ins Freie, in die letzten Schulferien, stürmen. Aber noch liegt das Maturajahr vor Gerber, er ist unglücklich verliebt, mit Problemen im Elternhaus, da der Vater herzkrank ist und von dort viel Erwartungsdruck auf dem Sohn lastet. In seinem Schüler- und Sohn-Dasein und in der ersten Liebe erscheint er noch stark unter dem Einfluss der Kindheit stehend und noch nicht im Erwachsenenleben angekommen. Dafür fehlt auch noch die äußere und innere Abnabelung, die Unabhängigkeit. Zwischen diesen Polen wird die Adoleszenzkrise aufgespannt, aber gleichzeitig zwischen Professor »Gott Kupfer« und dem Schüler, die einen ungleichen Machtkampf im Klassenzimmer bestreiten, in welchem das Ringen um (erwachsene) Selbstbehauptung und eigene Identität gegen (kindliche) Unterwerfung aussichtslos erscheint. Der Konflikt wird zur Zerreißprobe auf Leben und Tod. In diesem Sinn lässt sich das Attest des Lehrers, dass Gerber für ihn einfach nur ein Schüler ist, als Affirmation der Entindividualisierung verstehen.
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Der Maturant nimmt den aussichtslosen Kampf zunächst auf. Kupfer hält zu Beginn des neuen Schuljahres vor der Klasse einen selbstgefälligen Monolog darüber, dass die Masse immer das Dumme tut. Damit spielt er auf die Klasse an:
RR »Und Sie wissen ja, wie das im Leben geht. Die Dummen weinen nachher, und die Gescheiten lachen. Ich pflege zu lachen.« Darauf hört man Gerbers Stimme, ein langgezogenes, kräftiges, mit einer Pause nach jeder Silbe:
RR »Hahahahaha!« Der Pädagoge lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und stellt süffisant in den Raum, dass der Schüler vielleicht zu denen gehören wird, die nachher weinen. Aus der Aussage ist sadistische Vorfreude zu hören. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto mehr wird das Schwanken des Protagonisten deutlich, konkret zwischen dem zuerst vorhandenen jugendlichen Selbstbewusstsein und seiner zunehmenden Labilität angesichts der Demütigungen, die er zu ertragen hat. Kupfer meint wohl besonders Gerber, als er die Schüler und Schülerinnen davor warnt, Faulheit durch Frechheit zu ersetzen. Er würde Gerechtigkeit walten lassen. Noch kann Kurt auf seine Schlagfertigkeit zurückgreifen und spricht seinem Kollegen zu:
RR »Wenn du unter Gerechtigkeit gleichmäßige Gemeinheit verstehst.« Aber bald schon sieht man ihn in verschiedenen Situationen eingeschüchtert, wenn der Lehrer beispielsweise willkürlich neue Regeln aufstellt oder gezielt auf Nicht genügend prüft. In diesem Verlauf kippt das Selbstvertrauen des Schülers in Unsicherheit um. Der jugendliche Übermut wandelt sich zu flehender Verzweiflung – zum Beispiel, wenn ihn Kupfer während der Schularbeit bezichtigt, gestört zu haben, und einen Eintrag ins Klassenbuch vornimmt, obwohl Kurt nichts getan hat. Auch als sich Gerber verbessert, muss er sich mit zwei Nicht genügend im Zwischenzeugnis abfinden. Der Lehrer hat seine Fortschritte kurz honoriert, um gleich wieder darüber hinwegzugehen, indem er einen Karzer über den Maturanten verhängen lässt, weil sich dieser unter einer Ausrede während des Unterrichts zu Lisa auf die Straße geschlichen hat. Auch in der (unglücklichen) Liebesgeschichte mit Lisa kristallisiert sich Kurts Adoleszenzkrise heraus. Das Mädchen ist vor dem letzten Schuljahr ausgetreten und arbeitet bereits. Damit steht sie für das Erwachsenenleben. Sie kommt als Gast in eine Physikstunde ihrer alten Klasse. In diesem Ausschnitt wird ihr Gesicht – wie verklärt – in Licht getaucht. Von Hilgers meint, dass die junge Frau in dem weichen Lichtstrahl madonnenhaft wirkt und dass dadurch die romantische Idealisierung des Mädchens durch den Protagonisten zum Ausdruck kommt (von Hilgers o.J., S. 4). Gerber schwankt auch in dieser Beziehung, und zwar zwischen der an Hoffnung gekoppelten Überhöhung und beständiger Enttäuschung. Im Zug auf dem Weg in den gemeinsamen Schiurlaub sieht man schwarze Umrisse, ein Schattenspiel zweier Köpfe, die sich küssen, akustisch vom Rattern des Zuges begleitet. Es sind Kurt und Lisa. Das Schattenspiel symbolisiert die Unerfahrenheit des jungen Mannes, die Liebe, die ihm im Dunkeln noch verborgen ist. Seine Liebe wird von Lisa nie erwidert. Die gegenseitige Liebe kann also nicht ans Licht kommen, da sie nicht vorhanden ist. Das Rattern des Zuges steht in seinem harten Klang in einem Gegensatz zur assoziierten Sanftheit des Kusses und lässt das baldige Aufschlagen des Schülers in der Realität erahnen. Denn am nächsten Morgen muss er seine Angebetete bereits in den Armen eines anderen sehen. Seine Unerfahrenheit und Zaghaftigkeit in Sachen Liebe äußern sich besonders, als er die Gelegenheit hat, mit Lisa zu schlafen, aber wie ein Kind an ihrer Brust liegt und sie ihm mütterlich über das Haar streicht. Der Konflikt im Elternhaus verschärft sich ebenfalls. In dem patriarchalen familiären System wird der Maturant durch die Erkrankung des Vaters für dessen (Über‑)Leben verantwortlich gemacht. Nach-
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dem der Arzt klargemacht hat, dass der Vater einen zweiten Herzanfall nicht überleben wird, appelliert der Vater an den Sohn am Krankenbett:
RR »Tu mir das nicht an!« Gerber gerät auch hier zunehmend unter Druck. Nach den zwei Nicht genügend im Zeugnis zieht er seinen Freund ins Vertrauen:
RR »Weißt du, was ich gedacht habe? Etwas Furchtbares! Wenn ich jetzt mit dem Zeugnis nach Hause komm und meinem Vater passiert etwas, dann muss ich die Matura nicht mehr machen. Verstehst du das, so schlecht bin ich!« Kurt scheitert, weil ihm die Bewältigung der Entwicklungskrise zwischen Autonomie und Abhängigkeit bzw. zwischen Freiheit und Bindung nicht gelingt, er scheitert an einer unerhörten Liebe, an einem Generationenkonflikt im Elternhaus und nicht zuletzt am Ausgeliefertsein an ein übermächtiges restriktives System, welches das Entfalten einer eigenen Identität verhindert. Die Ausweglosigkeit gipfelt im Sprung ausgerechnet aus dem Fenster in der Schule, was die Überbewertung der Schule und die Unentrinnbarkeit aus dem System abbildet.
Die Entwicklung einer (un‑)emotionalen Tragödie Mit welchen filmischen Mitteln wird nun der Verlauf bis zum tragischen Suizid des Schülers gestaltet? Zunächst fällt auf, dass der Film keine großen Emotionen transportiert. Es handelt sich um eine naturalistische Darstellung, wie von Hilgers festhält (ebd., S. 3). Das passt dazu, dass der Film wenig Innenschau in Gerber gestattet. Es wird dokumentarisch von außen illustriert, nicht aus der Sicht der Hauptfigur, noch durch einen Erzähler kommentiert, spärlich von Musik untermalt. Indem der äußere Konflikt präzise in Bildern festgehalten wird, wird genauso ein innerer Konflikt nachvollziehbar, ohne dass der Zuschauer emotional verstrickt wird. Das Innere bleibt ausgeblendet, entzieht sich dadurch einer Deutung und erzeugt auch Befremdung. Das entspricht der Selbstentfremdung Gerbers. Die Selbstentfremdung ist ein wesentlicher Aspekt der suizidalen Krise (Ringel 2006, S. 155 ff.). Dennoch kann ein suizidaler Prozess im eigentlichen Sinn nicht miterlebt werden, nachdem der Rezipient von Beginn an auf die Position eines außenstehenden Beobachters festgelegt ist. Es wird vermieden, ihn durch Close-Up’s des Protagonisten mit dessen Subjektivität und Emotionen zu verbinden. In den viel gebrauchten Totalen und Halbtotalen muss der Zuschauer zum Teil selbst suchen, so wie Gerber mühsam auf der Suche nach Lösung, nach Identität ist. Die Kamera hilft nicht, trifft keine Vorauswahl, enthält den subjektiven Blick vor, lässt das Publikum so allein wie Gerber. Es gibt auch kein Zoom, keine Dynamik, so wie es für Kurt keine Veränderungsmöglichkeit gibt. In diesem Sinn ergeht es dem Rezipienten wie Gerber, wodurch dann doch eine Verbindung entsteht, ohne dass Ersterer allzu sehr verstrickt wird. Er wird vielmehr zum Zeugen. Hamburger vertritt die Haltung: »Es ist der Film, der wie ein deutender Analytiker prototypische Szenenfolgen ausmalt und uns mit Imaginationen konfrontiert, die etwas aufgreifen, von dem er annimmt, dass es uns innerlich beschäftigt« (Hamburger 2018, S. 60).
An Der Schüler Gerber beschäftigt den Zuschauer das (emotional) Unfassbare. Das entspricht auch Angehörigen, die nach einem Suizid im eigenen Umfeld mit viel Unverstandenem zurückbleiben. Die Zeichnung der inneren Entwicklung des Protagonisten wirkt (absichtlich) unklar. Es lassen sich in der filmischen Umsetzung aber Kriterien eines suizidalen Prozesses, wie er von der Forschung verstanden wird, erkennen, auch wenn die Abbildung desselben nicht im Vordergrund
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steht. Dennoch werden psychische Aspekte in diesem Zusammenhang sichtbar gemacht. Neben der Einengung, der (Selbst‑)Entfremdung und der hilflosen Ohnmacht spielt die Aggression eine wichtige Rolle. Während das aggressiv-sadistische Verhalten Kupfers offensichtlich ist und von der Kamera minutiös zur Schau gestellt wird, zeichnet sich Gerber durch gehemmte Aggression aus, was sowohl dem Depressiven als auch der Suizidalität entspricht. Es ist nach dem Suizidforscher Erwin Ringel ein zentrales Moment des »präsuicidalen Syndroms« (Ringel 2006, S. 167 ff.). Der Schüler sieht seine angebetete, ehemalige Mitschülerin beispielsweise nächtlich auf der Straße mit einem anderen Mann. Er versteckt sich und imitiert mit der Hand einen Pistolenschuss, was seine passive Aggressivität veranschaulicht, da es ihm nicht möglich ist, Lisa oder den Kontrahenten direkt zu konfrontieren. Auch im Machtkampf mit Gott Kupfer ist für den Protagonisten kein offenes Ausagieren des Konflikts aufgrund der haushohen Überlegenheit des Lehrers möglich. Jede aggressive Äußerung Kurts wird im Keim erstickt, muss in der Demütigung wieder verebben oder lässt ihn in Unterwerfung kippen. Als er auf der Straße von dem Professor dabei ertappt wird, dass er den Unterricht verlassen hat, gibt er sich dem omnipräsenten Pädagogen gegenüber zuerst noch selbstbewusst:
RR »Ich habe Ihnen nichts zu sagen, Herr Professor!«, worauf dieser kontert:
RR »Das will ich Ihnen auch geraten haben!« Aber angesichts der Erklärungsnot greift der Maturant zu einer Lüge, die ihn unsicher werden lässt. Ringel unterstreicht, dass Schüler und Schülerinnen in den Lehrern und Lehrerinnen (oft negativ) ihre Eltern wieder erleben (Ringel 2005, S. 122 ff.). Er stellt Prüfungsneurosen in einen Zusammenhang mit »typischen Vaterneurosen«, welche die Pubertätsproblematik in ihrer Sehnsucht nach Unabhängigkeit forcieren können: »Es kommt zu Auseinandersetzungen mit einer sehr dominierenden patriarchalischen Vaterfigur, die ein autoritär-diktatorisches, selbstherrliches Verhalten an den Tag legt und neben dem eigenen Willen keinen anderen selbständigen duldet. Gegenüber solchen Vätern wird eine starke Ambivalenz, mit gleichzeitiger Bewunderung und Aggression, entwickelt, welche ein Schwanken zwischen Geborgenheitswünschen und Auflehnungstendenzen, man könnte auch sagen revolutionärem Drängen nach Selbständigkeit zur Folge hat« (Ringel 2006, S. 195).
Dieses Schwanken wird an der Figur Gerber offenbar, der aus einem patriarchalen Elternhaus kommt. Der pubertäre Konflikt kann mit dem Vater, der schwer erkrankt ist, nicht ausgetragen werden und entfaltet sich bald vollends in der Interaktion mit dem Lehrer, was nicht heißen soll, dass Kurt ohne den kranken Vater im Hintergrund keine konfliktbeladene Beziehung mit Kupfer gehabt hätte. Es kann allerdings vermutet werden, dass der Aspekt eine Verstärkung bedeutet. Der Schüler pendelt demnach emotional gegenüber der ambivalent besetzten Vaterfigur Kupfer zwischen Aggression und sehnsüchtigem Hoffen auf Akzeptanz, manifestiert in dem Wunsch, positiv beurteilt zu werden, um sich ablösen zu können. Aber auch in Bezug auf die Bewertung seiner Umstände schwankt er. Denn zunächst ist Selbstmord kein Thema. Suizid wird vom Protagonisten nur ein einziges Mal angesprochen, und zwar in einem Brief an den Vater, in welchem er diesen Weg verneint und betont, dass er der Matura sicher nicht den Wert geben würde, dass er deshalb ins Wasser ginge. Gernot Sonneck, einer der Nachfolger Ringels, betont den situativen Aspekt bei Suizidalität und damit einhergehend die Änderung der Wertigkeit der Betroffenen. Der Anlass zum Suizid wird überbewertet, und andere Aspekte wie zum Beispiel Beziehungen werden entwertet (Sonneck 2000, S. 168 f.). Aus Kurts Verneinung, dass ein Durchfallen bei der Matura so schlimm sein könnte, dass ein Selbstmord in Frage
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kommt, wird schließlich ein praktizierter Suizid ohne jede Ankündigung. Der innere Prozess kann nur erahnt werden. Gerade, dass die Emotionen des Schülers im Film überwiegend nicht direkt oder zurückhaltend dargestellt werden, lässt an die sozialen Rückzugstendenzen von Suizidgefährdeten denken. Kurt tut sein Leid nicht kund, aber es wird ihm durch bestimmte Stilelemente Ausdruck verliehen. Das Schnitttempo beispielsweise, das eine affektive Färbung erzeugen kann (Hamburger 2018, S. 163), wirkt 1:1 wie im Alltag, wobei in den 1980er Jahren generell noch langsamere Schnitte üblich waren. Die Langsamkeit kann aber auch als Gestaltungselement für Gerbers depressives Erleben gesehen werden, in das er immer mehr abgleitet. Es kennzeichnet auch die Unentrinnbarkeit der Qual, die eben nicht durch entsprechende Schnitte verkürzt würde oder ein schnelleres Tempo erhielte. Des Weiteren wird mit der Lichtgestaltung die Atmosphäre oftmals akzentuiert. Hinsichtlich Kurts suizidaler Krise sticht insbesondere die Fensterszene am Schluss ins Auge. Bevor er springt, scheint ihm das Sonnenlicht auf das Gesicht wie das warme Licht der bevorstehenden Befreiung. Fast wirkt er dabei wie eine verklärte Gestalt, schon nicht mehr hier, dem schrecklichen Dasein enthoben. Dabei steht er aufrecht am Fenster, was ihn erhaben, würdevoll zeichnet. Verzweiflung steht in dieser Gestaltung nicht im Vordergrund, sondern die Aussicht auf Erlösung. Stilistisch auffallend ist auch, dass weitgehend auf Filmmusik verzichtet wird. Das passt zu dem dokumentarischen Charakter der Inszenierung genauso wie die alten Originalfilmen angeglichene Farbgebung und Ausstattung. Die Einkleidung in das Historische schafft Distanz. Durch eine so gewählte Farbdramaturgie wird einem Film die sinnliche Unmittelbarkeit genommen (ebd., S. 185). Er wird dadurch zur Allegorie auf das schulische Machtsystem. Die fehlende Musik enthält zudem eine affektive Färbung vor. Darin drücken sich die fehlenden Emotionen, besonders die der fehlenden Einfühlung in der schulischen Atmosphäre – aus. Später wird einige Male Schuberts Andantino eingespielt. Durch die wenigen musikalischen Akzente kommt den mit Schuberts Sonate untermalten Abschnitten eine besondere Ausdruckskraft zu.
Die Stimmungsmacher: Schuberts Andantino und Lenaus Herbst Nach 27 Minuten Spielzeit erklingt das erste Mal die Musik. Kurt hat einen Brief von der Schule an die Eltern geöffnet, der diese über einen Verweis informieren soll. Daraufhin versucht er vergeblich Lisa zu erreichen. Frustriert setzt er sich ans Klavier und spielt die ersten sieben Takte des Andantinos aus der A-Dur-Sonate von Franz Schubert. Schuberts Sonate ist in seiner melancholischen Ausprägung lange nicht erkannt und fälschlicherweise wie viele seiner Werke als »liebliches Volkslied« gehandelt worden (Haika 1998, S. 109 ff.). Das tiefgründige Andantino trägt die psychische Verfassung des Schülers. Der österreichische Klaviervirtuose Alfred Brendel, der es eigens für den Film mit einigen »Fehlern« und verstimmten Tönen aufgenommen hat, legt als Pianist das Dunkle frei, das der Schubert’schen Sonate innewohnt (ebd.). Brendel meint, das Stück gehört für ihn »zum Kühnsten und Erschreckendsten, was die Musik hervorgebracht hat« (Brendel 1988, S. 87; vgl. Haika 1998, S. 111).
Es gelingt über die Sonate »dieser Stimmung Kontinuität auch über inhaltlich fremde Passagen hinweg« zu verleihen (Haika 1998, S. 109). Das Andantino wird zum musikalischen Sprachrohr von Kurts depressiver Färbung, es wird in jenen Sequenzen, in denen sich der Schüler enttäuscht, einsam, ratlos und resigniert fühlt, eingesetzt. Gerber spielt, indem seine Hände bedacht, fast sanft über die Tastatur gleiten, aber die Töne, die er dem Flügel entlockt, klingen dramatisch, intensiv und heftig. Dieser Kontrast versinnbildlicht die Diskrepanz seiner sensiblen, relativ ruhigen Erscheinung im Außen und der in seinem Inneren längst emotional aufwallenden Krise, dem inneren Schrecken. Die Stimmung, die den seelischen Abgrund des Protagonisten markiert, wird durch Nikolaus Lenaus Gedicht Herbst ver-
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stärkt, das gleichermaßen eine düstere, gar todessehnsüchtige Atmosphäre erzeugt, besonders mit der letzten Strophe (Lenau 1995, S. 318):
RR Und mir verging die Jugend traurig, Der Frühlings Wonne blieb versäumt; Der Herbst durchweht mich trennungsschaurig, Mein Herz dem Tod entgegenträumt. Im Film wird es dem Maturanten, dessen Lieblingsfach Deutsch ist, zur Interpretation bei der DeutschMatura vorgelegt. Das lyrische Ich klagt über die Vergänglichkeit der Jugend, die traurig zu Ende geht. Die Schwermütigkeit wird durch die Herbstmetapher symbolisiert. Die letzte Zeile verweist auf die Todessehnsucht, die als Befreiung regelrecht erträumt wird. Eine Übertragung auf das seelische Befinden und die Situation des Protagonisten im Film liegen nahe. Gerber rezitiert Lenaus Herbst, längst im Glauben die Mathematik-Matura nicht bestanden zu haben. Er wirkt, als würde er neben sich stehen, psychologisch könnte man ein dissoziatives Geschehen vermuten, was heißt, dass sein Bewusstsein und seine Wahrnehmung sich vom Hier & Jetzt entfernen, entrücken, weil das unmittelbare Erleben ihn erdrücken würde. Die Gefühle, welche sich aber unter der Oberfläche im Rahmen des »präsuizidalen Syndroms« zusammenballen, sind laut dem Individualpsychologen Erwin Ringel Angst, Verzweiflung und Panik. Sie können nicht mehr durch andere Emotionen ausgeglichen werden, und es besteht die Gefahr, dass die Welle der Gefühle irgendwann durchbricht als »etwas Ungeheures, die Person Sprengendes, sich des Menschen bemächtigt …, das nicht mehr in Kontrolle zu bekommen ist und das … dann mit der Schubkraft einer Rakete den Menschen aus der Anziehungskraft der Erde und der Selbsterhaltung hinausschleudert ins Nichts« (Ringel 2005, S. 114).
Ringel war ein Bewunderer Torbergs und hat dessen Schilderung der Verfassung des Schülers gewürdigt, da diese seinen langjährigen Beobachtungen an suizidalen Menschen als Arzt und Therapeut völlig entsprach. Und auch im Film deutet sich die erwähnte, bereits drängende, Schubkraft bei Kurt an, als er nicht nur das Gedicht interpretiert, sondern dazu auch freie Assoziationen liefert, durch die er in Wahrheit über sich selbst spricht.
RR »Der Tod hat seine Hand an mich gelegt, wie ein Förster im Wald die Bäume zeichnet«, setzt er fort. Der Zuschauer kann nicht mehr unterscheiden, ob der Schüler noch Lenau meint oder sich. Seine Gefühle bahnen sich über den Umweg der Gedichtinterpretation den Weg nach außen, um sich doch mitzuteilen. Gerber brilliert in Deutsch, aber seine emotionale Verfassung dringt nicht durch. Entsprechend der Forschung stellt die subjektiv erlebte Einengung ein zentrales Element im suizidalen Prozess dar, wie Ringel konstatiert (Ringel 2006, S. 163). Diese wird bei Gerber durch die oben beschriebenen Stilelemente angedeutet. Auch die Umsetzung der Szene der Mathematik-Matura demonstriert in besonderer Weise sein psychisches Zustandsbild. Wieder wird auf Schuberts Andantino zurückgegriffen, und zwar auf den Mittelteil des Sonatensatzes, in welchem Dissonanzen im Vordergrund stehen, welche das innere Erleben des Protagonisten anklingen lassen, konkret seine Verwirrung und Ohnmacht (Herberth 2014, S. 188). Akustisch werden »wilde Oktavsprünge und Zweiunddreißigstel-Läufe« eingeblendet (Haika 1998, S. 112), eine Klangmetapher für Kurts Verzweiflung, während sich die Kamera um ihn herumdreht, so wie er sich von der Kommission und Kupfer eingekreist fühlt und keine Chance auf
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ein Entkommen sieht. Das spezifische Intervall der Sonate begleitet den Schüler, der – sich nach allen Seiten umsehend – verstört und hilfesuchend wirkt (vgl. Herberth 2014, S. 188). Sein inneres Chaos spiegelt sich im musikalisch gezielt komponierten Chaos des Andantinos wider. Auf diese Art wird die seelisch erlebte Einengung, aber auch die Stagnation als Fixierung auf die immer gleichen Verhaltensmuster, das ständige Um-sich-selbst-Kreisen, wie es Ringel beschreibt, sichtbar gemacht, genauso wie die im »heranreifenden Selbstmord« auftretende Regression, in der wie bei einem Kind die Lösung von den anderen erhofft wird (Ringel 2006, S. 161 ff.). Haika weist darauf hin, dass Xaver Schwarzenberger die Kameraführung durch eine Standbildabfolge von fast unbewegten, unbeteiligten Personen um Gerber herum der Musik angleicht. Nur Professor Kupfer wird mit einem Lächeln im Gegenlicht präsentiert. Haika vermutet darin »den Triumph des Siegers« (Haika 1998, S. 113). Das ist eine mögliche Interpretation, es bietet sich aber eine weitere an, nämlich, dass das Gezeigte absichtlich in eine Uneindeutigkeit gehüllt bzw. mit Irritation gearbeitet wird. Zumindest verhindert Kupfer nicht, dass der Schüler mit einem Genügend in Mathematik zur Matura zugelassen wird. Bei der Mathematik-Matura kann der Kandidat sodann mit viel Unterstützung Kupfers das erste Beispiel lösen (. Abb. 19.3). Auch hier stellt sich die Frage, ob der Lehrer so viel eingreift, um den Protagonisten in seinem Nicht-Können vorzuführen oder ob er in dem Moment, wo es darauf ankommt, doch Erbarmen hat und seine Ankündigung zu Anfang des Schuljahres
RR »Gnadenakte gibt’s bei mir nicht!« widerlegt. Zuerst macht er sich bei der Matura zwar noch auf Kosten des Schülers lustig, indem er mit der Frage, ob Gerber mit der Rentenrechnung bis zum Rentenalter warten will, die Lacher der Kommission auf seine Seite zieht. Aber dann übernimmt er an der Tafel und erklärt das Beispiel. Zu dem Prüfling wendet er sich mit den Worten:
RR »Jetzt denken Sie einmal ruhig nach, Sie werden schon noch drauf kommen« und rechnet weiter. Als der Vorsitzende mit
RR »Es ist genug!« abbrechen will, verschafft Kupfer dem Schüler die Chance, auch das zweite Beispiel noch rechnen zu dürfen. Wenn dieses Verhalten des Professors nicht seinem bis dahin beständig praktizierten Sadismus zugerechnet wird, um die Qual in die Länge zu ziehen, dann könnte es als ein Entgegenkommen in letzter Minute verstanden werden. In diesem Sinn könnte auch das Lächeln im Gegenlicht als freundliche Geste in der aussichtslos und dunkel scheinenden Lage des Maturanten begriffen werden. Immerhin besteht der Schüler die Matura, auch wenn er es nicht mehr erfährt. Hier werden auch der Verlust des Realitätssinns bzw. die verzerrte Wahrnehmung, die für suizidale Menschen typisch ist (Ringel 2006, S. 164), manifest. Es bleibt im Unklaren, ob er auch die Mathematik-Matura positiv absolviert hat – dann wäre das mit Kupfers Hilfe vonstattengegangen – oder ob der Lehrer überstimmt worden ist. Der Rezipient wird genauso wenig wie Gerber aufgeklärt. Das ist schließlich symptomatisch, denn Kurt muss bei Kupfer immer auf das Unvorhersehbare gefasst sein.
»Mein Herz dem Tod entgegenträumt« – Das schreckliche Ende eines Schülers Gerber spiegelt sich im Fensterglas. Die Metapher des Spiegels verweist auf den Mythos von Narziss und somit auf die Identitätsproblematik von Kurt. Hamburger erläutert:
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..Abb. 19.3 Kurt Gerber erlebt die Mathematik-Matura als letzte Niederlage. (© Bayerischer Rundfunk. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
»Die Metapher des Spiegels steht am Anfang des Identitätsdiskurses. Schon im Mythos von Narziss und Echo wird die (optische und akustische) Abbildung zum Kern der Erzählung« (Hamburger 2018, S. 168).
In Glücks Film fehlt dem Schüler beständig das Gegenüber, in welchem er sich spiegeln könnte, über das er emotionale Resonanz und (Selbst‑)Bestätigung erfahren würde. Das entspricht dem Konzept der Spiegelung des Selbstpsychologen Heinz Kohut, der die Notwendigkeit einer feinfühlenden Responsivität der Beziehungsperson für die Ausbildung der eigenen Identität betont (Kohut 1971). Somit ist der Maturant auf sich selbst zurückgeworfen, kann sich nur um sich selbst drehen. Anerkennung und Mitgefühl werden ihm vorenthalten, er ist nicht im (gefühlten) Fokus des anderen, und die anderen sind sodann nicht (mehr) in seinem Fokus. Die Kamera spiegelt ebenfalls keine Gefühle – wie erwähnt – sie dokumentiert. Auch die Schlusssequenz ist nicht emotional aufgeladen, obwohl sich gerade jemand umbringt. Die Hauptfigur ist ganz auf sich selbst fixiert, wobei die Kameraperspektive eine eingeschränkte ist, wodurch die suizidale Einengung ins Bild gerückt wird. Tatsächlich sieht Gerber sein Spiegelbild im Fensterglas nicht, das ist dem Zuschauer vorbehalten. Der Protagonist erkennt sich nicht, die Selbsterkenntnis und Identitätsfindung sind gescheitert. Was bleibt, ist (Selbst‑)Entfremdung. Die Kamera fährt dreimal auf ihn zu und gibt seinen von der Sonne erhellten Kopf in der Spiegelung des Fensterglases wieder. Abermals ertönt das Grundmotiv des Andantinos. Das Zu- und Wegfahren der Kamera transportiert gleichermaßen die Entfremdung des Publikums von Kurt, denn der Rezipient kann sich dem Schüler zwar immer wieder annähern, aber nicht erschließen, was wirklich in diesem vorgeht: »Die Kamera nähert sich seinem Gesicht dreimal gleich. Nur die Kopfhaltung des Schauspielers ist leicht verändert, was der Zuschauer jedoch kaum bewusst wahrnehmen kann. Ich wollte damit ausdrücken: ›Was geht vor in dir?‹« (Glück, zit. n. Vorauer 2007, S. 87).
Der Blick der Kamera auf Gerbers Spiegelbild markiert die Ausweglosigkeit, den engen Bewegungsspielraum seines inneren Erlebens im immer gleichen Hin und Her. Er ist psychisch in der Ohnmacht
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erstarrt, die Aggression kann weder in Lebenskraft umgesetzt noch gegen den Aggressor gerichtet werden, nur gegen sich selbst, was im Selbstmord gipfelt. In diesem letzten Akt werden auf pervertierte Art die Machtverhältnisse umgekehrt. Denn der Protagonist kann die Ohnmacht mit der Selbsttötung zumindest fiktiv in Macht umdrehen, weil er sich dadurch Gott Kupfers Einfluss entzieht, diesen somit entmachtet. Genauso wird Handlungsfähigkeit entgegen der Erstarrung möglich, aber leider nur auf die selbstzerstörerische Tat bezogen. Die Kamera nimmt Gerber am Ende allein in den Fokus, worauf der Film sonst weitgehend verzichtet. Das vermittelt Individualität, die erst angesichts des Todes möglich wird. Davor wird der Protagonist immer gemeinsam mit der Umgebung abgebildet, was die Nichtexistenz von Individualität und Subjektivität in diesem Schulsystem unterstreicht. Das passt zu der Aussage des Psychoanalytikers Stravros Mentzos, der anmerkt, dass »Selbstmord die letzte, extreme Maßnahme darstellt, um das Selbst vor Vernichtung, Scham, Schuld, unerträglichem Schmerz zu schützen. Die physische Existenz wird geopfert, um die Integrität des Selbst zu retten – so paradox es auch erscheinen mag« (Mentzos 2015, S. 132).
Indem die Kamera in der Schlussszene ganz auf Kurt konzentriert ist, verbindet sie den Rezipienten mit dem Protagonisten. Auf diese Weise kann angespannte Anteilnahme – Angst, was er tun wird – beim Publikum aufkommen. Das dreimalige Zufahren der Kamera auf Kurt, sein ins Sonnenlicht getauchtes Gesicht und sein Spiegelbild im Fenster sowie die melancholisch-musikalische Untermalung mit Schubert erzeugen eine unangenehme Stimmung. Doch im nächsten Moment wird der Zuschauer bereits wieder ausgeschlossen. Während die Musik verstummt, darf er an Gerbers Fall nicht teilhaben, entdeckt den Schüler gemeinsam mit dessen Freund Kaulich, der ihn aus dem Fenster schauend tot am Boden liegen sieht. So identifiziert sich der Rezipient dann doch nicht mit dem Protagonisten, sondern mit dem erschrockenen Zeugen, er wird selbst zum Zeugen – von einem traurigen Akt der Selbstbestimmung.
Literatur Adler A (2008a) Der nervöse Charakter. Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 2. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Adler A (2008b) Der Sinn des Lebens. In: Brunner R, Wiegand R (Hrsg) Der Sinn des Lebens. Religion und Individualpsychologie. Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 6. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S 5–176 Brendel A (1988) Musik beim Wort genommen. Über Musik, Musiker, und das Metier des Pianisten. Piper, München, S 80–153 Haika G (1998) Lenaus Herbst, Schuberts Andantino und der Freitod des Schülers Gerber. Beobachtungen über die stimmige Zusammenführung unterschiedlicher Kunstgattungen im Medium des Films. Lenau-Jahrbuch 24. Selbstverlag Herbert Zeman, Wien-Stockerau, S 97–114 Hamburger A (2018) Filmpsychoanalyse. Das Unbewusste im Kino – Das Kino im Unbewussten. Psychosozial-Verlag, Gießen Herberth A (2014) Der Jugendsuizid in der Moderne. Wissenschaftliche Vermessung und literarischer Diskurs. Dissertation. Universität Wien, Wien von Hilgers L (o.J.) Der Schüler Gerber. Abgerufen am 17.04.2019. http://www.filmabc.at/documents/Filmheft_Schueler_ Gerber.pdf Kohut H (1971) Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main Kotthoff L (1995) Autorität. In: Brunner R, Titze M (Hrsg) Wörterbuch der Individualpsychologie, 2. Aufl. Reinhardt, München, S 51–53 Lenau N (1995) Gedichte bis 1834. In: Zemann H, Ritter M (Hrsg) Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 1. Deuticke Klett-Cotta, Wien, S 318 Mentzos S (2015) Lehrbuch der Psychodynamik. Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen, 7. Aufl. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
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Reichhold C (2018) Der Schüler Gerber. In: Reichhold C (Hrsg) 100 x Österreich: Film. Amalthea, Wien, S 188–189 Ringel E (2005) Torbergs »Schüler Gerber« und seine Bedeutung für die moderne Selbstmordverhütung. In: Ringel E (Hrsg) Die österreichische Seele. Kremayr & Scheriau/Orac, Wien, S 107–144 Ringel E (2006) Selbstschädigung durch Neurose, 2. Aufl. Dietmar Klotz, Eschborn bei Frankfurt am Main Sonneck G (Hrsg) (2000) Krisenintervention und Suizidverhütung. UTB/Facultas, Wien Vorauer M (2007) Die Inkarnation des Bösen. In: Vorauer M, Greiner U (Hrsg) Lehrerfiguren im internationalen Spielfilm: Helden oder Gescheiterte? Monsenstein & Vannerdat, Münster, S 80–86
Originaltitel
Der Schüler Gerber
Erscheinungsjahr
1981
Land
Österreich
Drehbuch
Friedrich Torberg, Werner Schneyder, Wolfgang Glück
Regie
Wolfgang Glück
Hauptdarsteller
Gabriel Barylli, Werner Kreindl, Doris Mayer
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Hannah Poltrum
„Carpe diem – und wenn ich dabei draufgehe“ Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Shaking up a boys’ school with poetry . . . . . . . . . . . . . 282 Die problematische Umsetzung des carpe diem . . . . . . . 285 Neils Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 O Captain! My Captain! Our fearful trip is done . . . . . . . . 290 Identität finden zwischen Rebellion und Autorität . . . . . 291 John Keating. Ein perfekter Lehrer? . . . . . . . . . . . . . . . 291 Ein letztes Mal Kontrolle ergreifen, um jeden Preis . . . . . 294 Hinter den Kulissen: Lebens- und Leidensweg von »Mr. Keating« (Robin Williams) . . . . . . . . . . . . . . . 296 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_20
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Filmplakat Der Club der toten Dichter. (© Warner Bros. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Der Club der toten Dichter (1989)
There are some films that, if you watch them for the first time at the right age, have the capacity to inspire and embolden you: Dead Poets Society is one such film. The Guardian (Manzoor 2011)
Handlung Es ist das Jahr 1958. Das neue Schuljahr hat gerade begonnen (. Abb. 20.1, Filmplakat). Todd Anderson, einer der Hauptprotagonisten des Filmes, beginnt sein erstes Jahr an der Welton Academy im Schatten seines großen Bruders, welcher einst einer der besten und erfolgreichsten Schüler dieser Institution war. An seinem ersten Tag lernt Todd seinen neuen Zimmergenossen Neil Perry kennen. Dieser hat eine von seinem Vater bestimmte Zukunft vor sich, wobei der Besuch der Welton Academy hierfür die Basis schafft, da viele Absolventen dieser Schule an Eliteuniversitäten aufgenommen werden. Was nicht weiter verwunderlich ist, sind doch die Grundprinzipien des konservativen Internats Tradition, Ehre, Disziplin und Leistung. Laut seines Vaters Plan soll Neil die Schule beenden und anschließend nach Harvard gehen, um Medizin zu studieren. Gemeinsam mit Todd beginnt auch für den neuen Englischlehrer John Keating das erste Jahr an der Welton Academy, welche er früher selbst einmal besuchte. In der ersten Unterrichtsstunde von Mr. Keating bemerken Neil und seine Klassenkollegen, dass sich die Unterrichtsmethoden des neuen Lehrers stark von den üblichen Methoden der anderen Professoren unterscheiden. Mr. Keating ermutigt seine Schüler zu selbstständigem und kritischem Denken und legt ihnen nahe, etwas Außergewöhnliches aus sich und aus ihrem Leben zu machen. Durch seinen unkonventionellen Unterricht erweckt er in so manchen Schülern eine Leidenschaft für Literatur und Poesie. Besonders Neil scheint von seinem Unterricht schwer begeistert zu sein. In einem alten Schuljahrbuch der Bibliothek entdeckt Neil gemeinsam mit seinen Freunden alte Fotos von Mr. Keating und dabei auch, dass er ein Mitglied im Club der toten Dichter war. Sie konfrontieren ihn damit, und Mr. Keating erzählt ihnen von der Bedeutung dieses Clubs. Der Club der toten Dichter verschrieb sich nach einem Gedicht von Henry David Thoreau darauf, das Mark des Lebens in sich aufzusaugen. Der Club traf sich in einer alten »Indianerhöhle« und die Mitglieder lasen sich abwechselnd Gedichte von »den Großen« vor. Inspiriert von Keatings Erzählungen, beschließt Neil, gemeinsam mit seinen Freunden diese Höhle aufzusuchen und den Club der toten Dichter wieder ins Leben zu rufen. Neil schleicht sich zur Höhle, die er durch Mr. Keatings Hinweise findet, und wird dabei von dem schüchternen Todd Anderson, dem chaotischen Charlie Dalton, dem Draufgänger Knox Overstreet, dem naiven Steven Meeks und dem Streber Richard Cameron begleitet (vgl. Wimmer 2011, S. 83). Fortan treffen sie sich dort regelmäßig und lesen sich gegenseitig Gedichte berühmter Poeten und selbst verfasste lyrische Versuche vor. Todd ist Teil dieses Clubs, ein stiller Zuschauer und Zuhörer, der nicht vortragen muss, da Neil die Gruppe dazu überredet, Rücksicht auf seine Schüchternheit zu nehmen und ihn nicht deshalb auszuschließen. Durch Mr. Keating kann Neil seine Leidenschaft zur Schauspielerei entdecken. Allerdings weiß Neil, dass sein Vater diese Leidenschaft nicht willkommen heißen wird. Hinter dem Rücken seines Vaters geht Neil zum Vorsprechen für eine Collegeproduktion von Shakespeares Sommernachtstraum. Neil bekommt die Rolle des Puck. Ermutigt von Mr. Keating, traut er sich, seinem strengen Vater von seiner Leidenschaft zu erzählen, und bittet ihn sogar, zur Premiere zu kommen. Mr. Perry, der seinem Sohn die Schauspielerei eigentlich verbieten wollte, besucht die Aufführung. Neils Freunde und Mr. Keating sind ebenfalls eingeladen. Nach dem Stück befiehlt Mr.
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Perry seinem Sohn, mit nach Hause zu kommen und die Welton Academy zu verlassen. Neils Vater will vom Traum des Sohnes, Schauspieler zu werden, nichts wissen und plant, ihn stattdessen auf eine Militärakademie zu schicken, damit er ja nicht von der Idee abkommt, später in Harvard Medizin zu studieren, wie er es für ihn vorgesehen hat. Eingeschüchtert und verletzt durch seinen strengen Vater, weiß sich Neil nicht anders zu helfen, als sich selbst das Leben zu nehmen, nachdem sich seine Eltern schlafen gelegt haben. Vom Schuss des Revolvers aus dem Schlaf gerissen, finden sie den toten Neil am Boden liegend. Auf Wunsch von Neils Vater wird gegen Mr. Keating ermittelt, der schließlich die Welton Academy verlassen muss.
Shaking up a boys’ school with poetry Mr. Keating fällt durch seine liberalen und unkonventionellen Lehrmethoden in der konservativen Welton Academy schnell auf. Bereits in der ersten Stunde ermutigt er seine Schüler, ein Beurteilungssystem für Lyrik aus ihren Lehrbüchern herauszureißen, nach dem sich der Wert von Gedichten mittels eines Koordinatensystems vermessen lassen soll. Poesie zu messen und zu vermessen ist nicht nur absurd, sondern das Gegenteil von Keatings Idee, durch Lyrik und Dichtung das Eigentliche und Wesentliche des Lebens zu lernen. Sein Ziel ist es nicht, den Schülern Poesie als Lernstoff zu vermitteln, sondern sie zu selbstreflektierenden, autonomen und verantwortlichen Individuen zu erziehen (Wimmer 2011, S. 84). Er ermutigt die Schüler zu selbstständigem Denken und kritischem Hinterfragen, etwas, das in der konservativen Elite-Akademie nicht gerne gesehen wird. Er versucht, ihnen die wirkliche Bedeutung von Poesie näherzubringen:
RR Mr. Keating: »Wir lesen und schreiben Gedichte nicht nur so zum Spaß. Wir lesen und schreiben Gedichte, weil wir zur Spezies Mensch gehören. Und die Spezies Mensch ist von Leidenschaft erfüllt. Und Medizin, Jura, Wirtschaft und Technik sind zwar durchaus edle Ziele und auch notwendig, aber Poesie, Schönheit, Romantik, Liebe sind die Freuden unseres Lebens.« Passend zu dieser emphathischen Erläuterung, zitiert der Lehrer an dieser Stelle den US-amerikanischen Dichter Walt Whitman:
RR Mr. Keating: »Ich und mein Leben, die immer wiederkehrenden Fragen, der end lose Zug der Ungläubigen, die Städte voller Narren. Wozu bin ich da? Wozu nützt dieses Leben? Die Antwort: Damit du hier bist. Damit das Leben nicht zu Ende geht, deine Individualität. Damit das Spiel der Mächte weiterbesteht und du deinen Vers dazu beitragen kannst. (Nach einer kurzen Pause wiederholt Mr. Keating den letzten Satz.) Damit das Spiel der Mächte weiterbesteht und du deinen Vers dazu beitragen kannst.« Danach fragt der Lehrer in die Runde:
RR »Was wird wohl euer Vers sein?« John Keating versucht insgeheim, seinen Schülern nahezulegen, ein sinnvolles und erfülltes Leben zu führen. Dies wird besonders deutlich, als er versucht, ihnen die Bedeutung von carpe diem (»Genieße den Tag«, »Nutze den Tag«, wörtlich »Pflücke den Tag«) nahezubringen. Hierfür lässt er den Schüler
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..Abb. 20.2 Mr. Keating in leidenschaftlicher Pose mit seinen lauschenden Schülern. (© Warner Bros. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Gerard Pitts das Gedicht »Rat an eine Jungfrau, etwas aus ihrem Leben zu machen« des englischen Dichters und Klerikers Robert Herrick (1591–1674) vortragen:
RR Gerard Pitts: »Pflücke die Knospe, solange es geht, / Und die Blüten, wenn sie noch prangen. / Denn bald sind die Rosenblätter verweht. / Wie schnell kommt der Tod gegangen.« Mr. Keating erläutert, dass das Pflücken von Rosenknospen im Gedicht für carpe diem steht. Er fragt in die Runde, ob einer seiner Schüler weiß, was carpe diem bedeutet. Steven Meeks zeigt auf und meint, dass carpe diem »Nutze den Tag« bedeutet.
RR Mr. Keating: »Nutze den Tag. Pflückt Rosenknospen, solange es geht. Wieso verwendet der Verfasser dieses Bild?« Charlie Dalton: »Na ja, er hat’s eilig!« Mr. Keating: »Nein, aber danke fürs Mitspielen. Weil wir irgendwann nur noch Würmernahrung sind, Jungs. Denn ob ihr’s glaubt oder nicht, jeder von uns, der hier anwesend ist, wird eines Tages aufhören zu atmen, erkalten und sterben.« Im Gegensatz zu seinen Kollegen herrscht in Mr. Keatings Unterricht keine autoritäre und strenge Atmosphäre (. Abb. 20.2). Von mutigen Schülern lässt sich Mr. Keating sogar mit »O Captain, mein Captain«, dem Titel eines Gedichtes von Walt Whitman über den Tod Abraham Lincolns, ansprechen. John Keating verwendet ungewöhnliche Methoden, um den Schülern seine Lebensphilosophie näher
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..Abb. 20.3 Mr. Keating auf dem Lehrerpult. Ein Signal an die Schüler, das in der Welton Academy nicht gerne gesehen wird. (© Warner Bros. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
zubringen. Eines Tages stellt er sich auf den Lehrertisch (. Abb. 20.3). Er fragt die Klasse, wer weiß, warum er hier oben steht. Ein Schüler:
RR »Um größer zu sein.« Mr. Keating: »Nein.« Der Grund, warum er sich auf den Tisch gestellt habe, sei der, um sich und seinen Schülern bewusst zu machen, dass man alles auch aus einer anderen Perspektive sehen kann bzw. sehen sollte.
RR Mr. Keating: »Von hier oben sieht die Welt wirklich anders aus. Glauben Sie mir nicht? Dann steigen Sie selbst hier rauf.« Der Lehrer bietet seinen Schülern einen Perspektivenwechsel an, indem er sie ermutigt, selbst auf ihre Tische zu steigen. Zusätzlich zu dieser performativen Geste versucht er, die »Gefahr« von Konformität bewusst zu machen, indem er drei seiner Schüler auf dem Schulhof auf und ab gehen lässt, ohne dabei eine genaue Handlungsanleitung zu geben. Nach kurzer Zeit verfallen seine Schützlinge automatisch in den Gleichschritt. Währenddessen sieht der Rest der Klasse zu und klatscht im Takt. Diese Übung soll illustrieren, wie schwer es ist, seinen eigenen Überzeugungen treu zu bleiben und gegenüber anderen aufrechtzuerhalten. Keating sagt, dass er vielen ansieht, dass sie sich denken, dass sie wohl anders gegangen wären. Doch er meint, sie sollen lieber hinterfragen, warum sie eigentlich geklatscht haben.
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RR Mr. Keating: »Weil wir das Bedürfnis nach Anerkennung haben, aber man muss seine Überzeugung für einmalig und individuell halten, selbst wenn andere meinen, sie sei sonderbar oder unpopulär. Auch wenn die Herde blökt.« Er rät seinen Schülern in der Folge, ihren eigenen Rhythmus zu gehen und dort hin zu gehen, wohin sie wollen und wie sie wollen, egal, ob es blöd oder albern aussieht.
RR Mr. Keating: »Gentlemen, der Schulhof gehört Ihnen.« Bei dieser Übung wird er vom Schulleiter Mr. Nolan beobachtet. Da Keatings ungewöhnliche Unterrichtsmethoden bereits auch anderen Lehrern aufgefallen sind, wird er vom Direktor zu einem Gespräch geladen. Er spricht ihn darauf an, dass ihm Gerüchte über seine »unorthodoxen Lehrmethoden« zu Ohr gekommen sind. Der Direktor erklärt Mr. Keating, dass sich der Lehrplan der Welton Academy über Jahre bewährt habe. Er stehe fest und sei effektiv. Mr. Nolan befürchtet, wenn Mr. Keating diesen Plan in Frage stellt, könnten seine Schüler dasselbe tun.
RR Mr. Keating schmunzelnd: »Ich habe immer geglaubt, Erziehung habe etwas mit selbstständigem Denken zu tun.« Direktor Nolan: »Bei Jungen dieses Alters? Niemals! Tradition, John. Disziplin. Bereiten Sie die Jungs auf das College vor, dann wird sich alles andre auch einstellen.« Mr. Keating muss seinen unorthodoxen Unterricht nicht nur vor dem Schulleiter rechtfertigen, sondern auch vor seinem Kollegen Mr. McAllister, der an der Welton Academy Latein unterrichtet.
RR Mr. McAllister: »Ich finde es sehr riskant, diese Jungs zu ermutigen, Künstler zu werden, John, denn wenn sie feststellen, dass sie keine Rembrandts, Shakespeares oder Mozarts sind, werden sie Sie verachten.« Mr. Keating: »Es geht nicht um Künstler, George. Wir reden über Freidenker.« Mr. McAllister (lacht): »Siebzehnjährige Freidenker!« Mr. Keating: »Komisch, ich hätte Sie nicht für einen Zyniker gehalten.« Mr. McAllister: »Das bin ich auch nicht. Ich bin Realist. Zeig mir ein Herz, das frei ist von törichten Träumen, und ich zeige dir einen zufriedenen Menschen.« Mr. Keating: »Doch nur im Traum du wirklich frei noch bist; so war es stets und auch die Zukunft noch so ist.« Mr. McAllister: »Tennyson?« Mr. Keating: »Nein, Keating.«
Die problematische Umsetzung des carpe diem Inspiriert von Keatings carpe diem, versuchen einige seiner Schüler dieses Lebensmotto auf ihre Weise umzusetzen. Der schwer verliebte Knox Overstreet wagt es nun endlich, dem Mädchen, das er liebt, seine Gefühle zu gestehen. Todd Anderson, der von seinen Eltern kaum Beachtung bekommt und im Schatten seines hochbegabten und erfolgreichen Bruders steht, versucht sein Potenzial auszuschöpfen und seine Schüchternheit zu überwinden. Neil entdeckt seine Leidenschaft für Poesie und geht seinem Traum nach – der Schauspielerei. Er will für eine Rolle in einer Schulaufführung von Shakespeares Sommernachtstraum vorsprechen.
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Allerdings scheint es für die Schüler und speziell für Neil nicht gleich gut möglich zu sein, ihre Träume und Ziele umzusetzen. Neil hat mit seinem autoritären Vater zu kämpfen, der zwar nur das Beste für ihn will, aber nicht erkennt, was wirklich das Beste für ihn wäre. Neils Vater ist dominant und bestimmt sogar darüber, welche schulischen Aktivitäten Neil wahrnehmen soll. Wenn seinem Vater etwas an den Schulaktivitäten nicht gefällt, dann lässt es Neil automatisch sein. Zu Beginn des Schuljahres beschließt sein Vater, dass Neil das Schuljahrbuch aufgeben soll. Neil ist Mitherausgeber dieses Jahrgangs, aber sein Vater lässt sich nicht umstimmen. Als Neil seinem Vater in aller Öffentlichkeit sagt, dass dies unfair sei, unterbricht ihn dieser und bittet Neils Freunde, sie alleine zu lassen. Mr. Perry packt seinen Sohn an der Jacke und sagt ihm, dass er es nie wieder wagen soll, ihm in der Öffentlichkeit zu widersprechen. Er sagt ihm auch, dass er, sobald er sein Medizin-Studium abgeschlossen hat und auf eigenen Füßen steht, tun und lassen kann, was er will, aber bis dahin hat er zu tun, was sein Vater ihm sagt. In der Folge hält es Neil für zwecklos, mit seinem Vater zu diskutieren. Seine Freunde verstehen das allerdings nicht. Sie suchen ihn auf und fragen, warum sein Vater ihm nicht die Entscheidung überlässt. Sie raten ihm, dass er seinem Vater widersprechen soll, da es ohnehin nicht schlimmer kommen könne. Neil kontert und entgegnet:
RR »Als ob ihr euren Eltern immer widersprechen würdet.« Er meint, dass sie genauso sind wie er und ihm nicht erzählen sollen, wie er sich seinem Vater gegenüber verhalten soll. Sie fragen ihn, was er vorhat. Neil meint:
RR »Was soll ich schon machen, ich schmeiß das Jahrbuch.« Eines Tages stürmt Neil lachend ins Zimmer, in dem sein Zimmergenosse Todd gerade an einem Gedicht schreibt. Er rennt überglücklich zu ihm und meint, dass er jetzt gefunden habe, was er wirklich machen will. Er zeigt ihm einen Zettel, auf dem steht: Ein Sommernachtstraum. Überglücklich berichtet er, dass noch Schauspieler zum Vorsprechen gesucht werden. Jeder kann dort teilnehmen und er will dort unbedingt mitspielen. Er sagt, dass er Schauspieler werden will und das immer schon wollte. Letztes Jahr wollte er auch schon zu einem Vorsprechen gehen, aber sein Vater hatte es natürlich nicht erlaubt.
RR »Zum ersten Mal in meinem Leben weiß ich jetzt, was ich wirklich will, und ich werde es mit Sicherheit auch durchsetzen, egal, ob mein Vater damit einverstanden ist oder nicht«, ruft Neil, während er auf einem Tisch steht, mit Zetteln um sich wirft und
RR »carpe diem« brüllt. Im Wissen, dass er die Erlaubnis seines Vaters dafür niemals bekommen wird, lässt Neil nun Direktor Nolan einen gefälschten Brief zukommen, der scheinbar bestätigt, dass er Theater spielen darf. Allerdings fliegt der Plan auf und der Vater stellt den Sohn zur Rede.
RR Neil: »Vater, bevor du irgendetwas sagst …« Mr. Perry (unterbricht ihn): »Wag es ja nicht, mir zu widersprechen. Es ist schlimm genug, dass mein Junge seine Zeit an diese absurde Schauspielerei hängt. Aber du hast mich bewusst hintergangen. Wie hast du erwarten können, damit erfolgreich zu sein? Antworte bitte.« (Neil stottert und bringt kaum ein Wort heraus.)
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Mr. Perry: »Wer hat dich dazu angestiftet? War es dieser Mr. Keating?« Neil: »Nein. Kein Mensch. Ich hab’ dich nur überraschen wollen. Ich hab’ in allen Fächern Einsen.« Mr. Perry: »Hast du geglaubt, ich krieg das nicht raus? Oh, meine Nichte spielt mit Ihrem Sohn Theater, sagt Ms. Marks. Nein, nein, nein, sage ich, mein Sohn spielt nicht Theater, das weiß ich. Neil, ich stand als Lügner vor ihr. Also morgen wirst du hingehen und sagen, dass du aufhörst.« Neil: »Nein, das kann ich nicht. Ich spiel die Hauptrolle. Morgen Abend ist Premiere.« Mr. Perry (unterbricht ihn): »Das interessiert mich nicht. Und wenn morgen die Welt untergeht, jetzt ist Schluss mit der Schauspielerei. Ist das klar? IST DAS KLAR!« Neil: »Ja, Sir.« Mr. Perry (geht zur Tür, dreht sich noch einmal zu Neil, bevor er das Zimmer verlässt): »Ich habe sehr viele Opfer bringen müssen, um dich hierher zu schicken, Neil. Und du wirst mich nicht enttäuschen.« Neil: »Nein, Sir.« Nach dem Gespräch mit seinem Vater ist Neil schwer eingeschüchtert und sucht verzweifelt Mr. Keating in seinem Zimmer auf, um mit ihm ein Gespräch zu führen, da er weiß, dass John Keating seine Leidenschaft am meisten unterstützt. Als Keating Neil in seinem Zimmer erblickt, fragt er:
RR »Was gibt’s?« Neil: »Ich habe eben mit meinem Vater gesprochen. Er hat mir das Theaterspielen untersagt. Aber das Theater bedeutet mir alles. Aber er weiß es nicht. Na ja, ich kann seinen Standpunkt gut verstehen, wir sind nicht so reich wie Charlies Eltern, aber mein Vater verplant mein ganzes Leben. Er hat mich nie gefragt, was ich will.« Mr. Keating: »Haben Sie das Ihrem Vater auch so gesagt wie mir? Ich meine, was Ihre Leidenschaft fürs Theater betrifft, haben Sie ihm das klargemacht?« Neil: »Ich kann es nicht.« Mr. Keating: »Warum nicht?« Neil: »Weil ich so mit ihm nicht sprechen kann.« Mr. Keating: »Dann spielen Sie ihm was vor. Sie spielen vor ihm die Rolle des gehorsamen Sohnes. Ich weiß, das klingt unmöglich, aber Sie müssen mit ihm reden. Sie müssen ihm zeigen, wer Sie sind und woran Ihr Herz hängt.« Neil: »Ich weiß, was er sagt. Die Schauspielerei ist eine vorübergehende Laune, die ich vergessen soll (Neil weint). Sie rechnen mit mir. Zu meinem eigenen Besten soll ich es mir aus dem Kopf schlagen.« Mr. Keating: »Neil, Sie sind doch kein Leibeigener Ihrer Eltern. Dass es keine Laune ist, können Sie Ihrem Vater beweisen, indem Sie ihn überzeugen und begeistern. Machen Sie es ihm klar, und wenn er es dann immer noch nicht glauben will, nun ja, bis dahin sind Sie mit der Schule fertig und können tun, was Sie wollen.« Neil (lächelnd und den Kopf schüttelnd, während er weint): »Nein. Und was wird aus dem Stück? Morgen Abend ist Premiere.«
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..Abb. 20.4 Neil als Puck mit einer Krone auf dem Kopf in Shakespeares Sommernachtstraum. (© Warner Bros. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Mr. Keating: »Dann werden Sie vorher noch mit ihm reden müssen.« Neil: »Gibt es keinen leichteren Weg?« Mr. Keating: »Nein.« Neil (lächelnd, während er weint): »Ich sitze in der Falle.« Mr. Keating: »Nein. Bestimmt nicht.« Keatings Rat war gut gemeint, aber in seinen Folgen nicht unproblematisch. Neil wurde durch die Worte seines Lehrers ermutigt, im Stück aufzutreten, was den Konflikt mit seinem Vater weiter zuspitzt, da er sich nicht traute, mit ihm zu sprechen. Ohne über die potenziellen Konsequenzen nachzudenken, bedankt er sich bei Keating für dessen Rat und erscheint zur Premiere (. Abb. 20.4). Um seine Dankbarkeit zu zeigen, lädt Neil seinen Mentor zur Vorstellung ein. Mr. Keating ist begeistert. Mr. Perry, Neils Vater, fordert seinen Sohn nach der Vorstellung auf, mit nach Hause zu kommen. Als die beiden an Mr. Keating vorbeigehen, ruft dieser:
RR »Neil, Sie sind begabt! Was für eine Vorstellung! Sogar mir hat es die Sprache verschlagen. Sie müssen weitermachen!« Als Neils Vater dies hört, geht er zu Mr. Keating und fordert ihn auf, seinen Sohn in Ruhe zu lassen.
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Neils Suizid Nach der Premiere fährt Neil mit seinem Vater nach Hause. Dort angekommen, konfrontiert Mr. Perry seinen Sohn.
RR Mr. Perry: »Wir haben uns große Mühe gegeben, um zu verstehen, wieso du versuchst, dich uns zu widersetzen. Egal, was deine Gründe sind, du wirst dein Leben nicht ruinieren. Morgen melde ich dich in Welton ab und schicke dich auf die Militärakademie in Braden. Anschließend gehst du nach Harvard und wirst Medizin studieren.« Neil: »Das bedeutet weitere zehn Jahre. Das ist eine Ewigkeit, Vater.« Mr. Perry: »Schluss damit. Mach’s nicht so dramatisch. Du tust gerade so, als wäre es eine Gefängnisstrafe. Du bist uneinsichtig, Neil. Du hast Möglichkeiten, von denen ich nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Ich werde nicht zulassen, dass du …« Neil (seinen Vater unterbrechend): »Ich muss dir doch wenigstens sagen können, was ich empfinde.« Mrs. Perry: »Wir machen uns Sorgen.« Mr. Perry: »Na schön, sag mir, was du empfindest.« (Neil stockt und bringt kein Wort heraus.) Mr. Perry: »Na, was! Hat es wieder mit Schauspielerei zu tun? Das kannst du für immer vergessen. Also?« Neil: »Gar nichts.« Mr. Perry: »Hm, gar nichts. Dann lasst uns schlafen gehen!« Als Neils Eltern sich schlafen gelegt haben, beginnt Neil, sich umzuziehen. Leicht bekleidet setzt er sich Pucks Krone auf, atmet tief durch und schließt seine Augen für eine Weile. In diesem Moment beschließt er, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er legt die Krone auf sein Fensterbrett und schleicht sich in das Arbeitszimmer seines Vaters, öffnet die versperrte Schublade eines Schreibtisches, nimmt den Revolver seines Vaters heraus und schießt sich in den Kopf. Die Eltern erwachen von dem Schuss und finden ihren toten Sohn am Boden liegend. Nach Neils Suizid sind seine Freunde und Mr. Keating erschüttert und voller Trauer. Todd ist der einzige seiner Freunde, der sich traut, auszusprechen, dass Neils Vater ihn zum Suizid getrieben hätte.
RR Todd: »Er hätte das nie getan. Es war sein Vater. Er hätte uns nie verlassen. Er hat’s nur getan, weil … Er hätte es nie getan. Seine Familie, sein Vater hat ihn umgebracht.« Auch bei seinem Mentor sitzt die Trauer über Neils Suizid tief. John Keating öffnet Neils Tisch in seinem Klassenzimmer und nimmt ein Buch über »Verse aus fünf Jahrhunderten« heraus. Auf der Innenseite im Buchumschlag steht handschriftlich geschrieben:
RR »Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben; intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten, was nicht lebend war. Damit ich nicht in der Todesstunde innewürde, dass ich gar nicht gelebt habe.«
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Diese handgeschriebenen Zeilen aus Henry David Thoreaus »Walden« (Thoreau 1854) wurden bei den Treffen des Clubs der toten Dichter als Anfangsritual vorgetragen. Mr. Keating liest diese Zeilen und bricht verzweifelt in Tränen aus.
O Captain! My Captain! Our fearful trip is done Mr. Keating ist Mr. Nolan, dem Direktor der Welton Academy, aufgrund dessen unkonventioneller Lehrmethoden schon lange ein Dorn im Auge. Nach Neils Suizid und dem Wunsch seines Vaters, dass in diesem Todesfall speziell gegen Mr. Keating ermittelt wird, setzt der Direktor die Schüler von Mr. Keating unter Druck und »zwingt« sie dazu, ein Schreiben zu unterzeichnen, auf dem steht, dass Mr. Keating für den Tod Neils verantwortlich sei. Gedrängt durch die Eltern, Neils Vater, die Umstände der Situation und Mr. Nolan unterschreiben die Schüler. Daraufhin wird Mr. Keating aus der Schule entlassen. Seine Sachen zusammenpackend, kehrt John Keating noch einmal während des Unterrichts in seine Klasse zurück, aber lediglich, um seine persönlichen Gegenstände aus dem Lehrerzimmer hinter dem Klassenraum zu holen. Todd, der zu Beginn des Filmes so schüchtern war, dass er sich nicht einmal traute, vor der Klasse vorzulesen, ist von Schuldgefühlen gequält und beschließt, etwas zu sagen. Nachdem Mr. Keating seine Sachen geholt hat geht er zur Tür, um das Klassenzimmer zu verlassen. Todd ruft Mr. Keating zu:
RR »Mr. Keating, man hat uns gezwungen …« Direktor Nolan unterbricht ihn mit den Worten: »Schweigen Sie bitte.« Todd: »Sie müssen mir glauben.« Mr. Keating: »Ich glaube Ihnen.« Als Mr. Keating gehen will steigt Todd auf sein Pult und ruft:
RR »Käpt’n! Mein Käpt’n!« Mr. Nolan befielt ihm, sich zu setzen. Mr. Keating dreht sich um und beobachtet die Situation. Mr. Nolan ersucht Todd erneut, sich zu setzen. Ein Teil der restlichen Klasse schließt sich ihm an. Mr. Nolan ist außer sich und »warnt« die Schüler. Er schreit sie an, dass sie sich sofort setzen sollen. Mittlerweile steht die halbe Klasse auf den Tischen, während Mr. Nolan wütend schreit. Mr. Keating ist gerührt und blickt seine Schüler an. Er lächelt und sagt:
RR »Ich danke euch, Jungs. Danke!« Nicht nur Neil hatte Schwierigkeiten bei der Umsetzung des carpe diem. Auch Mr. Keating stand in einem Spannungsfeld, das es ihm nicht unbedingt leicht machte. Während er einerseits versuchen musste, den Anforderungen der Institution Schule gerecht zu werden, stand er andererseits durch die Eltern der Schüler stark unter Beobachtung, die für ihre Kinder eine gute Bildung wollten und dementsprechend auch gute Noten erwarteten. Zusätzlich dazu empfand er seinen Schülern gegenüber die innere Verpflichtung, seinem Lehrauftrag nachzugehen. Mr. Keating konzentriert sich auf das Wesentliche und versucht seinen Schülern das näherzubringen, was ihm am Herzen liegt, nämlich seine Lebensphilosophie. Seine Priorität im Lehren liegt nicht in der Vermittlung von Wissen und Leistung, sondern in der Vertiefung von Bildung und Verständnis (Wimmer 2011, S. 86). Der Lehrer und seine Zöglinge befinden sich in einer Welt voller Dichotomien, was die von Keating angestrebte Selbstverwirklichung seiner Schüler erschwerte. Beide sind gefangen zwischen Disziplin und Freiheit, Leistungs-Drill und pädagogischer Beziehung, Karriere und Selbstverwirklichung, Fremdbestimmung
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und Autonomie, Unterwerfung und Emanzipation, naturwissenschaftlichem Wissen und geisteswissenschaftlichem Verstehen (Wimmer 2011, S. 90 f.). Diese in Dichotomien gespaltene Welt bekommt besonders Neil zu spüren.
Identität finden zwischen Rebellion und Autorität Die Schüler der Welton Academy befinden sich mitten in der Phase ihres Lebens, in der sie sich mit ihrer eigenen Identität auseinandersetzen beziehungsweise diese zu entwickeln versuchen. Gerade das Jugendund frühe Erwachsenenalter ist geprägt durch viele Veränderungen und bedeutsame Herausforderungen (Juen et al. 2008, S. 71). Eine dieser Herausforderungen stellt das Finden der eigenen Identität dar. Allerdings scheint es nicht einfach zu sein, sich selbst zu finden, in einer Zeit und einer Schule, die von dominanten Autoritäten geprägt wird. Da Mr. Keating signalisiert, dass man sich nicht von Autoritäten unterdrücken lassen muss, versuchen seine Schüler, auf ihre Weise zu rebellieren. Die einfachste Art der Rebellion ist das Umbenennen der Grundprinzipien der Schule – Tradition, Ehre, Disziplin und Leistung.
RR Steven Meeks: »Gentlemen, wie lauten die vier Grundprinzipien?« Neil, Charlie, Knox, Steven (im Chor): »Travestie, Ekel, Dekadenz, Lethargie.« Diese Art der Rebellion scheint die Schüler nicht groß in Schwierigkeiten zu bringen, da sie verdeckt abläuft. Ebenso verläuft die »Neugründung« des Clubs der toten Dichter geheim, weshalb die Schüler erst nach dem Auffliegen dieses Clubs in Schwierigkeiten kommen. Weniger verdeckt ist Charlie Daltons Rebellion bei einer Schulversammlung, in der Mr. Nolan nach der Person sucht, die dafür verantwortlich war, einen nicht genehmigten Artikel in der Schülerzeitung zu veröffentlichen. Während der Versammlung klingelt ein Telefon im Saal. Charlie Dalton hält ein Schnur-Telefon in der Hand. Er nimmt deutlich vernehmbar für alle den Hörer ab und sagt:
RR »Welton Academy. Hallo? Ja, er ist da. Augenblick bitte.« Dann steht er auf und sagt:
RR »Mr. Nolan, es ist für Sie. Es ist Gott. Wir sollen Mädchen aufnehmen bei uns.« Als Konsequenz wird Charlie in das Büro des Direktors zitiert, wo ihn Schläge erwarten. Da die Gruppe Respekt vor Mr. Nolan hat, stehen den Schülern nicht allzu viele Möglichkeiten offen, gegen seine Autorität zu rebellieren. Die berühmte »O-Captain-My-Captain-Szene«, als Mr. Keating seine Sachen aus dem Klassenraum holt und ihm die Schüler die letzte Ehre erweisen (siehe oben), stellt ein schönes Beispiel für die Rebellion seiner Zöglinge dar. Hier versuchen allen voran die Mitglieder des Clubs der toten Dichter, angeführt vom eigentlich schüchternen Todd Anderson, zu zeigen, dass sie nicht mit Mr. Keatings Kündigung einverstanden sind, indem sie sich auf den Tisch stellen. In dieser Szene zeigt sich welchen Einfluss Mr. Nolans Autorität trotzdem hat, da sich ein Teil der Klasse gar nicht traut, aufzustehen. Möglicherweise lässt sich Neils Suizid ebenfalls als eine Art Rebellion verstehen, allerdings als ein letaler, tragischer und stummer Widerstand.
John Keating. Ein perfekter Lehrer? Wie bereits beschrieben, scheint die Suche nach Identität ein zentrales Thema des Filmes zu sein. Dies ist gerade in einer autoritären Schule mit Hindernissen verbunden. Umso mehr scheint Keating hier einen Lichtblick zu bieten. Die persönliche Weiterentwicklung seiner Schüler liegt ihm am Herzen.
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Sein Unterricht ist weniger durch Autorität gekennzeichnet, sondern durch ein Verhältnis von Freundschaft und gegenseitiger Anerkennung (Wimmer 2011, S. 84). Ein wesentlicher Unterschied zu seinen Kollegen stellt die Tatsache dar, dass er »von seinen Schülern als Autorität erkannt wird, weshalb er nicht autoritär auftreten muss« (ebd. S. 85).
Keating wird wie ein Gott inszeniert und stellt sich selbst dar als ein Captain, der das Schiff steuert (Muro 2018, S. 215). Er wird von seinen Schülern idealisiert und buchstäblich auf Händen getragen. Dies lässt sich anhand einer Szene im Sportunterricht ausweisen, in der er von seinen Schülern wirklich getragen wird (Wimmer 2011, S. 84). In einer Filmkritik, die von Hank Gallo (1989) für die Daily News verfasst wurde, thematisiert der Autor eine subtile Ambivalenz der Figur Mr. Keatings: »On the surface Robin Williams appears to be giving his standard performance as Prof. Keating – witty, sincere and lovable. But there’s much more here. There is a warmth he projects that seems so real that you, like the boys, would gladly follow him anywhere.«
Mr. Keating hat seine Schüler gut im Griff und kann sie sehr leicht beeinflussen. Dieser Einfluss Keatings ist nicht ungefährlich, da ihm die Schüler fast blind vertrauen. Während er durch sein warmes und vertrauenerweckendes Auftreten von den Schülern schnell als eine Art Freund angenommen wird, kann im Hintergrund erkannt werden, dass seine Art auch etwas Manipulatives an sich hat. In einer Szene, in der er den schüchternen Todd herausfordert, vor der Klasse ein Gedicht vorzutragen, demonstriert Keating sein riskantes und fast schon gewalttätiges Verhalten. Mr. Keating zu Todd:
RR »Mr. Anderson, Sie scheinen in Agonie verfallen zu sein. Kommen Sie, Todd, treten Sie vor, erlösen wir Sie von Ihrem Leid.« Todd sagt, dass dies nicht gehe, weil er kein Gedicht geschrieben habe. Mr. Keating erwidert darauf:
RR »Mr. Anderson hält sich und sein gesamtes Innenleben für wertlos und beschämt, hab’ ich recht, Todd? Das ist doch Ihre größte Angst.« Todd holt Luft und Mr. Keating sagt:
RR »Sie irren sich, glaub ich, ich glaube, in Ihnen schlummern eine Menge Werte.« Mr. Keating geht zur Tafel und schreibt:
RR »Ich höre mein barbarisches YAWP über den Dächern der Welt erschallen.« »Schon wieder Onkel Walt«, fügt er hinzu.
RR »Für alle, die es nicht wissen, ein YAWP ist ein sehr lauter Ruf oder Schrei. Also, Todd, demonstrieren Sie uns mal, wie das klingt, so ein barbarischer YAWP.« Die Schüler schmunzeln. Todd scheint fast schon verzweifelt. Doch Mr. Keating lässt nicht locker, er geht zu ihm und sagt:
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RR »Na kommen Sie schon, stehen Sie auf, im Sitzen geht das nicht, na kommen Sie, hopp. Nehmen Sie YAWP-Stellung ein.« Todd stellt sich nach vorne zur Tafel, wobei Mr. Keating hinter ihm steht. Todd:
RR »Ein, ein YAWP.« Mr. Keating:
RR »Nein, nicht irgendein YAWP, ein barbarischer YAWP«, ruft er.
RR »Okay«, sagt Todd. Er versucht es nochmal:
RR »YAWP.« »Na, machen Sie schon, lauter«, ermutigt ihn Mr. Keating.
RR »YAWP«, wiederholt Todd leise.
RR »Das war das Piepsen einer Maus. Los, lauter«, sagt Keating.
RR »YAWP«, sagt er wieder in derselben Lautstärke, nun rennt Keating nach vorne und ruft:
RR »Herrgott, Junge, schrei wie ein Mann!« Doch Todd unterbricht ihn und brüllt:
RR »YAWP!« »Na also, es steckt also doch ein Barbar in Ihnen«, sagt Keating zu ihm. Mr. Keating hat Glück, dass Todd dadurch bestärkt wird, seine Schüchternheit überwindet und sich in der Folge sogar traut, sein Gedicht vorzutragen. Nach Neils Suizid findet Todd sogar zu seinem eigenen YAWP, indem er sich für Keating einsetzt und sich als Erster zum Abschied des Lehrers auf den Tisch stellt. Allerdings hätte die YAWP-Szene genauso in der Bloßstellung Todds enden können (Wimmer 2011, S. 88 f.). So wichtig Keatings Unterrichtsmethoden auch sind, scheint er da und dort auch manche Grenzen zu überschreiten. Ob seine Einmischung in Neils Zukunftspläne ebenfalls eine Grenzüberschreitung darstellt, ließe sich diskutieren. Keatings Rat an Neil, sich der Konfrontation mit seinem Vater zu stellen und seinen Träumen nachzugehen, eröffnet die Frage, ob Neils Suizid nicht hätte verhindert werden können, wenn sein Lehrer die Situation anders eingeschätzt und seinen Schüler mehr
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„Carpe diem – und wenn ich dabei draufgehe“
in Richtung Realitätsprinzip beraten hätte. Durch Keatings Signal, man solle seinen Träumen treu bleiben, spitzt sich der Konflikt zwischen Neil und seinem Vater weiter zu, und für den stürmenden und drängenden Jungen scheint der Suizid der einzig mögliche Weg zu sein, um ins Freie zu gelangen.
Ein letztes Mal Kontrolle ergreifen, um jeden Preis Die Frage, wer denn nun »schuld« an Neils Suizid ist, lässt sich vielleicht folgendermaßen klären. Neil trägt den Konflikt in sich aus, entweder den Plan des Medizinstudiums aufzugeben, seinen Vater dadurch zu enttäuschen und einen Bruch mit seinen Eltern zu riskieren, oder seinen Lebenstraum, Schauspieler zu werden, aufzugeben. Die versuchte Auseinandersetzung mit seinem Vater und dessen Widerstand führt ihn in eine unerträgliche Situation, aus der er nur einen Ausweg sieht. Neils Vater scheint das Fass zum Überlaufen zu bringen, indem er ihm ankündigt, dass er nun, nach seinem Ungehorsam, eine Militärakademie besuchen muss, und dass danach ein Medizinstudium in Harvard folgt. Meines Erachtens stellt diese Aussicht im Endeffekt auch den Auslöser für seinen Suizid dar, schließlich antwortet Neil seinem Vater ja damit, dass er einwendet, dass das weitere zehn Jahre seines Lebens seien. Eine Zeitspanne, die für einen jungen Menschen eine Ewigkeit darstellen kann und darüber hinaus die Beerdigung seines Lebenstraums fordert. Allerdings scheint Mr. Keating in dieser Situation und Dynamik ebenfalls eine Rolle zu spielen. Er war Neils wichtigster Ansprechpartner und hätte intervenieren können, wenn er die Gefahr der Situation erkannt hätte. Die Vorstellung Neils, nicht mehr zurück an seine Schule gehen zu können, dürfte, was die Frage nach den suizidauslösenden Faktoren anbelangt, ebenfalls eine Rolle spielen. Gerade in Neils Alter scheint die Schule die wichtigste Sozialisierungsinstanz zu sein, und die dazugehörige Peer-Group, in seinem Fall der Club der toten Dichter, von elementarer Bedeutung zu sein. Neil verbringt die meiste Zeit in der Schule und baut sich dort sein gesellschaftliches Leben auf. In der Schule übt er Verhaltens‑, Interaktions- und Kommunikationsstrategien ein (Bründel 2004, S. 67 f.). Neil steht vor der Bedrohung, mit seiner Schule auch sein (gesellschaftliches) Leben zu verlieren. Er hat dort enge Freundschaften aufgebaut, die wichtig für sein Wohlbefinden sind. Im Gegensatz zu der hierarchischen Beziehung zu seinen Eltern kann Neil die Freundschaften zu seinen Internatskameraden freiwillig eingehen, und in der Beziehung zu Gleichaltrigen besteht darüber hinaus auch keine Bevormundung. Im Umgang mit der Peer-Group setzen sich Jugendliche durch die Anerkennung, Ablehnung und Interpretation ihres Verhaltens durch Gleichaltrige mit sich selbst auseinander, was wiederum wichtig für die Identitätsbildung ist (Bründel 2004, S. 183 f.). Suizidalität kann sich im Jugendalter schnell aus einer Krisensituation heraus entwickeln, ohne das Vorhandensein einer »Vorgeschichte« (Juen et al. 2008, S. 70). Ein bisher unauffälliger Jugendlicher kann plötzlich mit einem Lebensereignis konfrontiert werden, welches mit den bisherigen Copingstrategien nicht mehr bewältigbar erscheint. Ein zusätzliches Versagen von unterstützenden Ressourcen wie Familie, Partnerschaft etc. führt zu Gefühlen der Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung (Wunderlich 2004, S. 73). Krisen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie ihren Ausgangspunkt in situativen Ereignissen nehmen und die emotionale Befindlichkeit der Person beeinflussen. In Krisen wird das psychische Gleichgewicht gestört (Bründel 2004, S. 122). In Neils Fall ist zu sehen, dass er bis zu der Konfrontation mit seinem Vater nach dem Theaterstück ein fröhliches Gemüt hatte und psychisch unauffällig war. Weiter lässt sich festhalten, dass er auch keine Anzeichen zeigte, die in Richtung Depression oder depressiver Verstimmung wiesen. Dementsprechend scheint es plausibel zu sein, dass sich sein Suizid »spontan« aus einer für ihn unerträglichen Situation heraus entwickelte und nicht lange davor geplant wurde. Interessant erscheint die Studie von Shaffer et al. (1998, zitiert nach Wunderlich 2004, S. 108), welche besagt, dass viele Jugendliche nach dem Erleben einer Zurückweisung, Ernied-
Der Club der toten Dichter (1989)
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rigung oder im Zusammenhang mit Disziplinierungsmaßnahmen Suizid begehen. Oftmals ist Suizid nicht durch den expliziten Wunsch zu sterben motiviert, sondern durch das Bedürfnis, anderen seine Gefühle der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit mitzuteilen (Dick 2002, S. 326). Suizidales Verhalten ist durch mehrere Faktoren bedingt und wird gekennzeichnet durch eine Verknüpfung verschiedener Risikofaktoren. Einer dieser Risikofaktoren ist eine ungünstige familiäre Bindung (Juen et al. 2008, S. 70). Während Auseinandersetzungen mit der Familie wichtig sind, damit Jugendliche selbstständig werden, scheinen chronische Konflikte, die oft still und unterschwellig ablaufen, schwere Folgen zu haben. Oft sind Suizidversuche und Selbstabwertung Folgen von chronischen Konflikten zwischen Jugendlichen und ihren Eltern (Flammer und Alsaker 2002, S. 173 ff.). Chronische Konflikte können auch als Daily Hassles bezeichnet werden, die als alltägliche, sich wiederholende kumulierende Belastungen verstanden werden können (Wunderlich 2004, S. 33). Im Falle von Neil Perry zeigt sich, dass er bislang nie äußerte, sterben zu wollen, und auch nie Selbstverletzungstendenzen zeigte. Es lässt sich vermuten, dass sein Suizid eine Art Selbstmitteilung ist. Im Film zeigt sich klar, dass Neils Beziehung zu seinem Vater einen Risikofaktor darstellt. Wird Neils Alter berücksichtigt, wird klar, dass ein langsamer Ablösungsprozess von seiner Familie beginnen würde. Dieser ist dadurch erschwert, dass Neil in einer finanziellen Abhängigkeit zu seinen Eltern steht, ein Faktum, an welches ihn sein Vater gerne erinnert. Oftmals werden Jugendliche in ihren Ablösungsprozessen nur dann unterstützt, wenn sie sich an den selben Werten und Normen wie ihre Eltern orientieren (Wunderlich 2004, S. 44). Ablösungsprozesse bringen nach Mansel und Hurrelmann (1991, S. 149, zitiert nach Bründel 2004, S. 60) Risiko und Gefahrenpotenziale mit sich, wenn der Prozess aus Gründen der finanziellen Abhängigkeit oder aufgrund von Verboten der Eltern nicht umgesetzt werden kann und Jugendliche deshalb in einer ungewollten Abhängigkeit festgehalten werden (Bründel 2004, S. 60). Durch die ständige Unterdrückung des Vaters wird Neil mehr oder weniger zum Suizid getrieben. Neils ehemaliger Zimmergenosse, welcher aufgrund Neils Suizid einen Wandel durchmacht, scheint der Erste zu sein, der sich traut, auszusprechen, dass Neils Vater ihn in den Tod getrieben hat. Durch Neil schafft es Todd, seinen barbarischen »YAWP« zu finden (Muro 2018, S. 218). Zu Beginn des Films scheint Todd so schüchtern zu sein, dass er sich kaum traut, ein selbstgeschriebenes Gedicht vorzulesen. Auch im Club der toten Dichter ist er nur stiller Zuhörer und nimmt nicht aktiv teil. Nach Neils Suizid traut er sich erstmals, offen auszusprechen, was er denkt. Ebenso ist er derjenige, der in der berühmten »O-Captain-My-Captain-Szene« den ersten Schritt wagt. Er traut sich, seiner Schüchternheit zum Trotz als Erster aufzustehen und gegen Mr. Nolans Aufforderungen zu handeln (ebd.). Nicht nur Todd findet durch Neils Suizid zu seinem »YAWP«. Neils Suizid könnte als ein Versuch interpretiert werden, endlich selbst die Kontrolle über sein Leben zu erlangen, indem er gegen den Willen seines Vaters handelt. Ein Entschluss, der im Tod endet. Alicia Muro, die einen spannenden Beitrag zum Film geschrieben hat, sieht Neil in seinem Suizid als eine Art »Gewinner«, da er es nun endlich geschafft hat, sich selbst durchzusetzen (ebd. S. 213). Der dargestellte Suizid hat darüber hinaus eine romantische Dimension. Die Tatsache, dass Neil sich vor seinem Suizid als Puck verkleidet, veranschaulicht, dass er ein Romantiker ist und sich nun als solcher präsentiert. Dieser Moment ist die Möglichkeit, sein Leben zum ersten Mal selbst in die Hand zu nehmen, auch wenn dies bedeutet, dass er dabei »draufgeht« (ebd. S. 211). Im übertragenen Sinne kann dies als eine Geste verstanden werden, die darauf abzielt, zu zeigen, wie sehr ihn das Verbot, Schauspieler zu werden, verletzt hat. Deshalb scheint es auch kein Zufall zu sein, dass Neil Pucks Krone auf seinem Fensterbrett hinterlässt, bevor er sich das Leben nimmt.
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„Carpe diem – und wenn ich dabei draufgehe“
Hinter den Kulissen: Lebens- und Leidensweg von »Mr. Keating« (Robin Williams) Nach der Veröffentlichung des Films Der Club der toten Dichter war Robin Williams noch oft auf der Kinoleinwand zu sehen. Privat litt er unter Drogenproblemen, wobei er auch längere Phasen der Abstinenz hatte. Im Jahr 2014 begab er sich in Rehabilitation. Laut den Angaben seiner Frau war er lange Zeit schwer depressiv, litt an Angstzuständen und einer tödlichen neurodegenerativen Erkrankung. Im August 2014 nahm er sich das Leben. Zum Andenken an diesen großartigen Schauspieler standen die Journalisten Armin Wolf in der österreichischen ZIB 2 und Caren Miosga im deutschen Tagesthemen-Studio und viele andere Menschen auf der ganzen Welt auf ihren Tischen und erwiesen dem »Captain« dadurch die letzte Ehre.
Literatur Bründel H (2004) Jugendsuizidalität und Salutogenese. Hilfe und Unterstützung für suizidgefährdete Jugendliche. Kohlhammer, Stuttgart Flammer A, Alsaker F (2002) Entwicklungspsychologie der Adoleszenz. Die Erschließung innerer und äußerer Welten im Jugendalter. Huber, Bern Gallo H (1989) »Dead Poets Society« seizes the day: 1989 review. https://www.nydailynews.com/entertainment/movies/ dead-poets-society-seize-day-1989-review-article-1.2655911. Zugegriffen: 8. Okt. 2019 Juen B, Unterluggauer K, Kratzer D, Warger R (2008) Suizidalität im Jugendalter. Akutsituation und Besonderheiten der suizidalen Entwicklung im Jugendalter. In: Wedler H, Wolfersdorf M, Fartacek R (Hrsg) Suizidprophylaxe. Theorie und Praxis. Jg 35, Heft 2, S 70–73 Manzoor S (2011) My favourite film: dead poets society. https://www.theguardian.com/film/filmblog/2011/nov/21/favourite-film-dead-poets-society. Zugegriffen: 8. Okt. 2019 Muro A (2018) What will your verse be? Identity and masculinity in dead poets society. J Engl Stud 16:207–220 Thoreau HD (1854) Walden oder Leben in den Wäldern. Diogenes, Zürich Wimmer M (2011) Zwischen schöpferischer Gewalt und aggressivem Pathos. Lehren im Film Der Club der toten Dichter. In: Pazzini KJ (Hrsg) Lehrperformances. Filmische Inszenierungen des Lehrens. VS, Wiesbaden, S 81–96 Wunderlich U (2004) Suizidales Verhalten im Jugendalter. Theorien, Erklärungsmodelle und Risikofaktoren. Hogrefe, Göttingen
Originaltitel
Der Club der toten Dichter – Dead Poets Society
Erscheinungsjahr
1989
Land
USA
Drehbuch
Tom Schulman
Regie
Peter Weir
Hauptdarsteller
Robin Williams, Robert Sean Leonard, Ethan Hawke, Josh Charles, Gale Hansen, Kurtwood Smith
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Gerhard Buchinger
Eine Reise zurück Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Der Versuch einer Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Ein Ringen nach Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Eine Reise zurück – und die Dynamik aus psychoanalytischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Epilog – Die Badezimmer-Szene und Ideen der Hoffnung . 314 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_21
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Filmplakat Der letzte Tango in Paris. (© United Artists. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Der letzte Tango in Paris (1972)
»Naturally, if what I say has truth in it, this will already have been dealt with by the world’s poets, but the flashes of insight that come in poetry cannot absolve us from our painful task of getting step by step away from ignorance towards our goal.« Donald Winnicott, Fear of Breakdown
»Die Musik war schon lange verklungen, aber der Tango nahm einfach kein Ende. Es ist der Film, der Bernardo Bertolucci in sein Grab verfolgte. Verfolgen musste. Ein gigantischer Film. Und ein gigantischer unbeglichener Haufen Schuld. Am Anfang stand die Utopie einer absoluten Freiheit, am Ende die brutalste Form der Unterdrückung: die von einem Mann erzwungene Verfügbarmachung der Frau« (Buß 2018).
Einleitung Der Film mit Marlon Brando (Paul) und Maria Schneider (Jeanne) entstand im Jahr 1972 in 8 Wochen. Der Film zeigt einen Mann und eine Frau, die sich in einer Wohnung treffen (. Abb. 21.1, Filmplakat). Paul ist 45 Jahre alt, Jeanne 20. Die Frau von Paul, Rosa, hat Selbstmord begangen. Am Ende von 3 Tagen verlassen Paul und Jeanne die Wohnung und Paul wird von Jeanne erschossen. Der Film führt den Betrachter an die Grenzen des Raums und an die Grenzen des Ichs. Das kann bedrohlich sein und es erklärt die ambivalenten Reaktionen des Publikums und auch der Verantwortlichen in den Ländern, in denen der Film verboten wurde. Die Reaktionen reichten von enthusiastisch bis schockiert1. Der Versuch, den Raum metaphorisch auf jene Wohnung zu reduzieren, misslingt. Der Versuch, eine Zeitlosigkeit zu schaffen, misslingt, der Versuch, in einer – wenn auch sehr frühen und von Partialtrieben geleiteten – idyllischen Welt zu leben, misslingt. Der letzte Tango hat unterschiedlichste Einflüsse und bietet viele Interpretationen. Ich versuche, ein Bild einer Reise zurück zu zeichnen – Tötung, Selbstmord, Mord … Zu Beginn des Textes bringe ich den Versuch einer Abgrenzung, dann ein Ringen nach Struktur, einige der Einflüsse und Umstände, die zu diesem Film geführt haben, Künstler und biografische Zugänge, eine Reise zurück und die Dynamik aus psychoanalytischer Sicht und die Frage der Hoffnung. Im Film finden sich viele Symbole, Mythen, Darstellungsformen, die zu Deutungen führen. Mehrdeutigkeit und Ambivalenz sind ein Wesen des Films, sie unterstützen die vorherrschende Bewegung des Films in Richtung Auflösung der Grenzen – eine Reise zurück. Die Thematik des (psychischen) Todes, der Vergänglichkeit und die Versuche, diese Gesetzmäßigkeiten abzuwehren, leiten mich, die Thematik des toten Objektes, der »toten Mutter« und die Reise von Paul – von seiner Männlichkeit weg hin zu einem sterbenden Fötus. Aus psychoanalytischer Sicht lasse ich mich von Freud, Klein, Winnicott, Bion, Green leiten und möchte Verbindungen herstellen. Verbindungen zwischen dem Film, der Kunst und der Psychoanalyse. Ich erwähne Bion, der mit dem »Angriff auf Verbindungen«
1 Einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Bekanntheit des Films lieferte ein Artikel von Pauline Kael in der New York Times am 28.10.1972 nach der Premiere des Films. Sie sah einen Meilenstein der Filmgeschichte und zog den Vergleich mit der Premiere von »Le Sacre du Printemps« heran.
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Eine Reise zurück
»destruktive Angriffe auf seine Verbindung mit seinem Objekt« meinte (Bion 2016, 82) und Winnicott (1971, 116), dessen Gedanken sich wie ein roter Faden durch den Artikel ziehen, der Bezug auf Francis Bacon nimmt: »Wäre es nicht furchtbar, wenn das Kind in den Spiegel schauen und nichts sehen würde. Und meinte, dass das Baby die Mutter ansah und merkte, dass diese zu jemand anderem sprach.«
Dies könnte – in Anbetracht der Komplexität dieses Films – zur Assoziation führen, dass eine große Leere da ist und – bezogen auf das Zitat zu Beginn des Textes – Bertolucci selbst den Film nicht überlebt hat. Für mich endet der Film nicht nach der Produktion, nach der Vorführung – er ging einfach weiter. Vielleicht, weil er in einen sehr frühen Bereich der psychischen Existenz des Menschen führte, in dem die Grenzen verschwimmen, so wie im Selbstmord. So wie der Selbstmord ein Handlungsstrang des Filmes ist und es keine Auflösung zum Guten gibt. Der Film ist wie »untot«, die Protagonistin Rosa wie eine Untote.
Der Versuch einer Abgrenzung Es gibt im Film einen Teil, der mir sehr problematisch erscheint und einer eigenen Erwähnung bedarf. Es handelt sich um die sogenannte »Butterszene«. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wann Kunst Kunst ist, etwa in Form der Sublimierung – Green (2004, 244) meint das künstlerische Schaffen oder die intellektuelle Begabung – aber auch, wann handelt es sich nicht um Kunst, sondern um etwas ganz anderes? Wann werden Grenzen überschritten? Grenzen im Zusammenhang mit der Psychoanalyse, der Psychotherapie. Man könnte meinen, alles ist Psychoanalyse. Natürlich wirkt das Unbewusste: Ein sich in die Tiefen des Unbewussten begeben lässt sich nicht verhindern, doch meint Freud (1915b, 285 f.): »in den besonderen Eigenschaften des Systems Ubw: Es gibt in diesem System keine Negation, keinen Zweifel, keine Grade von Sicherheit. Und: Die Vorgänge des Systems Ubw sind zeitlos, … haben überhaupt keine Beziehung zur Zeit … Widerspruchslosigkeit, Primärvorgang, Zeitlosigkeit und Ersetzung der äußeren Realität durch die psychische sind die Charaktere, die wir an zum System Ubw gehörigen Vorgängen zu finden erwarten dürfen.« Es gibt Grenzen. Vieles lässt sich deuten, das ist auch wichtig, aber es kommt zu »Vermengungen« mit anderen Mengen, der Manipulation, des Missbrauches, des Rechts etc. Eine Deutung kann ja möglich sein, gleichzeitig muss es – um es sehr diplomatisch zu formulieren – zu einem Abgleich der Mengen kommen. Die Deutung hat ihre Berechtigung, sie muss aber im Kontext anderer Materien gesehen werden. Dass Marlon Brando Maria Schneider in einer Szene anal mit Butter als Gleitmittel penetriert, kann auch einen analytischen Hintergrund haben, dass es nicht mit ihr abgesprochen war, hätte, wäre es so gewesen, einen strafrechtlichen Hintergrund. Die Psychoanalyse-Affinität des Films verschleiert aus meiner Sicht die Frage des Missbrauchs. Das ist mitunter auch ein Missbrauch an der Psychoanalyse. Dennoch: Es bedarf einer Abgrenzung. Damit nehme ich bewusst eine Position ein, die durch andere (Rechts‑)Materien definiert ist und ich postuliere das Recht auf einen »deutungsfreien Raum«. Im Jahr 2013 spricht Bertolucci über die sogenannte »Butterszene«, die den Film in eine (weitere) schwierige Position gebracht hat. In dieser Szene wird dargestellt, wie Paul (Marlon Brando) die damals gerade 20-jährige Jeanne (Maria Schneider) anal koitiert (»he sodomizes her«) und dazu Butter verwendet. Bertolucci habe die Sequenz mit der Butter gemeinsam mit Brando geplant, es beim Frühstück besprochen und Schneider nicht darüber informiert:
Der letzte Tango in Paris (1972)
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»No, I don’t feel guilty, but when she died I thought, God, I’m so sorry that I can’t apologise for what Marlon and I did with that scene and we decided not to tell her. Her sense of humiliation was very real, but I think what really offended her was that she didn’t feel she had been allowed to prepare for the scene as an actress. But I wanted her reaction as a person, not as an actress« (Preston 2013).
Es bietet sich eine Assoziation zum Orpheus-Mythos an, auf welchen sich Bertolucci immer wieder bezog: Bertolucci hielt sich nicht an die Regeln, an das Skript – und dann ist etwas für immer verloren: »Nicht mehr waren sie fern vom Rande der oberen Erde, Da, sie verlangend zu sehn und besorgt, dass Kraft ihr gebreche, Schaut er liebend sich um, und zurück gleich ist sie gesunken.« Ovid (o.J., 10, 55–57)
Auch hier war etwas für immer verloren. Maria Schneider meinte, dass sie den Film drei Jahre nach dem Tod von Marlon Brando gesehen habe und ihre Meinung über den Film ist, es sei Kitsch und dass Bertolucci überbewertet sei und nach dem Letzten Tango nichts mehr produzierte, das den selben Eindruck hinterließ. Die »Butterszene« war nicht im Originalskript, »Die Wahrheit ist, es war Marlon, der die Idee hatte.« Und sie fährt fort: »Ich hätte meinen Agenten anrufen oder meinen Anwalt zum Set holen sollen, weil jemand nicht dazu gezwungen werden kann, etwas zu tun, was nicht im Drehbuch steht, aber zu dieser Zeit wusste ich das noch nicht« (Das 2007). Brando meinte in diesem Zusammenhang, sie (Schneider) erinnere ihn an seine Tochter Cheyenne: »You look just like Cheyenne with your baby face« (Das 2007).2 Maria Schneider hat 1976 das letzte Mal mit Bertolucci gesprochen. Eine Hauptrolle in »1900/ Novecento« nahm sie an, brach diese aber ab. Ihre Animosität gegenüber Bertolucci bestand bis zu ihrem Tod (Das 2007) und sie empfand es als entsetzliche Ausbeutung ihr gegenüber durch Bertolucci (Preston 2013). Auch Brando fühlte sich ausgenutzt von Bertolucci und es kam erst in den 1990erJahren des vorigen Jahrhunderts zu einem Gespräch zwischen Bertolucci und Brando – »After that everything was fine«, so Bertolucci (Preston 2013). Bertolucci’s »Interpretationen« über die Butterszene variieren über die Jahre. Schon früh meinte Bertolucci, es handle sich um eine Art didaktischer Wildheit von Brando (Bachmann 1973). 2016 wiederum klingt es so: »I specified, but perhaps I was not clear, that I decided with Marlon Brando not to inform Maria that we would have used butter. We wanted her spontaneous reaction to that improper [butter] use. That is where the misunderstanding lies. Somebody thought, and thinks, that Maria had not been informed about the violence on her. That is false! Maria knew everything because she had read the script, where it was all described. The only novelty was the idea of the butter« (Anderson 2016).
2 Cheyenne Brando war die Tochter von Marlon Brando und seiner dritten Frau Tarita Teriipaia. Sie kam am 20. Februar 1970 zur Welt. Die Eltern ließen sich 1972 scheiden. Der Lebensgefährte von Cheyenne hieß Dag Drollet. Als sie mit ihm ein Kind erwartete, wünschte ihr Vater, dass sie von Tahiti nach Los Angeles in sein Haus zogen, um in diesem Umfeld mit einer guten medizinischen Versorgung das Kind zu bekommen. Der Halbbruder von Cheyenne, Christian, schoss am 16. Mai 1990 auf Dag, weil Cheyenne Christian gegenüber angegeben habe, dass Dag sie körperlich missbraucht habe. In den Jahren nach diesem Vorfall verschlechterte sich der Gesundheitszustand von Cheyenne zusehends, sie beging 2 Selbstmordversuche und erhängte sich am 16.04.1995. Die Erinnerung an Cheyenne könnte auch daher rühren, wenn man bedenkt, dass Brando und der Vater von Maria Schneider, Daniel Gélin Wohngenossen im Jahr 1949 waren (Manso, 511). Maria Schneider kam 1952 auf die Welt, vielleicht hat er damals die kleine Marie Christine Gélin kennengelernt. Vielleicht auch nicht.
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Eine Reise zurück
Ich bleibe dabei: Es ist etwas für immer verloren und es bleibt ein ambivalentes Bild. Also ein letzter Tango mit Vorbehalt aus der Sicht des Todes, des Selbstmordes, der Tötung. Auch der Selbstmorde im Leben des Marlon Brando. Es bleibt grenzwertig. Mit diesen Vorbehalten eine deutende Anmerkung über die »Butterszene«. Es ist die Szene, die den Film am Leben (Un-Leben) gehalten hat. Aus meiner Sicht ist es nicht die entscheidende Szene, aber ich komme vom Gedanken nicht los und damit ist der Kreis geschlossen, ob sich nicht in dieser Szene auch die Dramatik des Selbstmordes widerspiegelt. Die Vergewaltigung brachte den Film über die filmische Handlung in die Realität, ein möglicherweise ungewollter Versuch, in die Außenwelt zu gelangen. Auch möchte ich an dieser Stelle eine Äußerung von Ingmar Bergman (Manso, 516) erwähnen, »in Wirklichkeit sei Tango ein Film über Homosexuelle, nur hätten Brando und Bertolucci sich nicht getraut, an geheiligte Tabus zu rühren … So ist der Film eminent frauenfeindlich; aber wenn man ihn so interpretiert, dass der Mann in einen Jungen verliebt ist, dann wird er verständlich … Bertolucci: ›Zutreffender hätte er es nicht formulieren können. Schließlich ist Schneider nach eigenem Bekenntnis … homosexuell‹« (Manso 516 f.).
Ich frage mich: »Und jetzt?«
Ein Ringen nach Struktur Ein Ringen nach Struktur, um dem regressiven Sog des Filmes entgegenzuwirken. Gerisch (2005, 922) spricht in einem Text über suizidale Frauen von einem unbezwingbaren Hineingesogenwerden. Das erinnert mich an ein Gegenübertragungsgefühl, das ich immer wieder bei der Auseinandersetzung mit dem Film hatte, den regressiven Sog. Um diesem Sog entgegenzuwirken, halte ich zum Verständnis des Filmes Strukturen für wichtig. Im Film findet sich ein gerne verwendetes Thema von Bertolucci wieder, der Orpheus-Mythos3 (Kline 1976). Es ist eine Reise in die Unterwelt, in die Innenwelt, in eine »Welt vor der Welt«. Moormann (2004) bietet neben dem Orpheus-Mythos weitere mögliche Strukturen an: den Maler Francis Bacon, Erotik und Tango. Mir erscheinen psychoanalytische Zugänge wichtig: Freud (u. a. 1917, 1920), Überlegungen über Objekte und deren Verlust, Themen, die in der Entwicklungspsychologie sehr früh angesiedelt sind – auch Variationen der Spiegelung, des Raumes (die Innen- und die Außenwelt, die Unterwelt …), der Zeit und der Hinweis auf Biografisches, hier insbesondere auf das Leben von Marlon Brando. Im Letzten Tango verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität. Es ist eine hohe Kunst, sich als Schauspieler in eine Rolle hineinzuversetzen und sich darin nicht zu verlieren. Im Letzten Tango flossen biografische Anteile von Marlon Brando in die Rolle des Paul, bedingt durch die Vorstellungen von Bertolucci und das von Bertolucci und Franco Arcalli verfasste Drehbuch. Auch hier ein (mitunter narzisstisches) Überschreiten von Grenzen. Der Film war von der Besetzung, vom Bühnenbild, von der Musik, von den literarischen Vorbildern und nicht zuletzt vom Einfluss der Psychoanalyse dazu prädestiniert, entweder einen Skandal auszulösen oder als genial eingestuft zu werden. Der Film hat von beidem etwas.
3 Der Film spielt in einer Wohnung in Paris am Quai de Passy in der Nähe der Bir-Hakeim-Brücke. Die Rue Jules Verne platziert er dort (sie ist aber in Wirklichkeit im 11 Arrondissement) und stellt dadurch einen Bezug zur Orpheus-Sage dar (Jules Verne hat die Sage im »Karpathenschloss« umgesetzt).
Der letzte Tango in Paris (1972)
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Zur Struktur aus der Sicht der Zeit Es ist nicht die Sicht des Augenblicks, sondern der Blick aus der Perspektive der zeitlichen über die Jahre entstandenen Distanz. Der letzte Tango entstand vor fast 50 Jahren. Paul versucht, die Zeit, die Vergänglichkeit, das Außen auf seiner Reise zu leugnen. Die Zeit ist die größte Prüfung und die größte Strafe für diesen Film. Es ist nicht gelungen, den Film dort zu belassen, wo er zeitlich beheimatet ist. Auch Filme haben ein Recht auf Frieden, finden vielleicht einen Platz und können zur Ruhe kommen. Der Versuch des Filmes, zur Ruhe zu kommen, gleicht phänomenologisch einem Selbstmord, einem nicht zur Ruhe kommen. Aus dem Leben gerissen, keine Vorwarnung und es bleibt dann so stehen. Trauer benötigt die Dimension der Zeit. Gutwinski-Jeggle (2003 zitiert nach Gerisch 2005, 931) spricht von den Versuchen, »den symbiotischen Zustand von konkreter Kontinuität und damit vermeintlicher Zeitlosigkeit wiederzuerlangen, Versuche, die untergründig mit jenem Tödlichen aufgeladen sind, dem wir damit bewusst gerade entkommen wollen, denn der Tod ist der extremste und gewaltigste Augenblick, der uns aus Diskontinuität in Kontinuität schickt« (Gutwinski-Jeggle 2003).
Auch, und das stimmt mich umso nachdenklicher, – in einer weiteren Dimension, die über den Film hinausreicht und über die Jahre eine Spur gezeichnet hat – eine Spur im Leben und Tod der Maria Schneider, in der menschlichen Beziehung zwischen den ProtagonistInnen und in der Frage der Schuld, der Frage, was im Film geschah und zerstört wurde (und womit dieser Artikel beginnt). Es scheint, als ob es aufgrund der sehr intensiven Zugänge (Psychoanalyse und pseudo-psychoanalytische Zugänge, autobiografische Bezüge, Method Acting …) zu einem Zauberlehrling-Phänomen gekommen ist. Maria Schneider starb 2011. Ihre Asche ist am Fuß des Jungfrauenfelsens (!) im Atlantik in der Nähe von Biarritz beigesetzt. Ich denke, der Film hat seine Spuren gezogen.
Einflüsse Der Einfluss der Psychoanalyse auf Bertolucci und Brando Sowohl Bertolucci als auch Brando hatten im Gegensatz zu Maria Schneider (ich habe keinen Hinweis gefunden) einen intensiven Kontakt mit der Psychoanalyse (s. a. Kline 1987) in unterschiedlichster Form und wurden ein wesentliches Kriterium für den Film (Manso 1998, 508), was mitunter zu einer Asymmetrie zwischen Bertolucci und Brando einerseits und Schneider andererseits führte. Brando war lange Jahre bei Bela Mittelmann in Psychoanalyse (Manso 1998, 159), bei Erika Freeman (Menasse 2015) und bei Muensterberger (Zeitz 2013) in Analyse, von Bertolucci sind seine weitreichenden Äußerungen über Psychoanalyse bekannt und der Umstand, dass er jahrelang zur Psychoanalyse ging. »Für Bertolucci war das Kino eine voyeuristische Kunst. Einen Film zu sehen sei so, als würde man den eigenen Eltern beim Sex zusehen, lautete sein Dogma … Die schärfsten Linsen, die ihm zur Verfügung stünden, so Bertolucci, stammten von Sigmund Freud … Fast manisch erzählte er von inzestuösen Beziehungen, von Söhnen, die ihre Mütter lieben und ihre Väter töten. Über ein Vierteljahrhundert lang ging Bertolucci zur Analyse. Beim Letzten Tango wollte er seinen Analytiker sogar mit in den Vorspann aufnehmen, das Drehbuch sei ›in weiten Teilen auf der Couch‹ entstanden« (Beier 2018).
Ein weiteres zentrales Thema war für Bertolucci die Frage nach Identität (Kline 1987, 6). Der Vater Atilio Bertolucci (die Suche nach dem idealisierten Vater) und die Mutter werden zum Thema und Kline fährt fort, dass Bertolucci zustimmen würde, dass der Generaltitel aller seiner Filme lauten würde:
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Eine Reise zurück
..Abb. 21.2 Jeanne (Maria Schneider) und Paul (Marlon Brando) in der Wohnung in der Rue Jules Verne (© United Artists. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Scena Madri – Die Szene der Mutter (ebd.). Dies dürfte sowohl für Bertolucci als auch für Brando gegolten haben. In einem späteren Interview meint Bertolucci, dass er bei konventionellen Interpretationen vorsichtig sei. Er muss die Beziehungen, die ein Film schafft, durchleben und dass die ganze Geschichte des Letzten Tango eine ödipale Projektion des Mädchens und auch von Paul in Bezug auf dessen Frau, die sich suizidierte, ist. Aber, so schränkt er gleich wieder ein, er wolle die Dinge nicht auf diese Art definieren. Der Film bedeutet Unterschiedliches für unterschiedliche Menschen – die letzte persönliche Wichtigkeit einer Arbeit hängt immer vom Betrachter ab (Bachmann 1973, 95). Die Frage nach Identität findet sich durchgängig, sei es im Dialog mit Rosa (Bertolucci und Arcalli 1972)
RR »ll never discover the truth bout you. Never. I mean, who the hell were you?«, in der (Double4-)Szene mit Marcel (Bertolucci und Arcalli 1972)
RR »Really, Marcello, I wonder what she ever saw in you.« oder auch am Ende des Filmes mit den Worten von Jeanne (Bertolucci und Arcalli 1972)
RR »I don’t know who he is.« 4
Ein Stilmittel von Bertolucci ist der Effekt des Doubles (s. a. Kline 1987).
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Der Einfluss von Bacon und Bataille Bertolucci führt die Entstehung des Letzten Tangos auf seinen Wunsch zurück, »to meet a woman in an empty apartment without knowing who that territory belonged to and to make love with her without knowing who she was. I’d like to meet again and again without asking or being asked any questions. Last Tango is the development of this very personal and perhaps banal obsession« (Thompson 1998).
In der Zeit dieser Phantasien und der Entstehung des Drehbuchs war Bertolucci sehr von Georges Bataille beeindruckt, insbesondere von dessen Werk »Das Blau des Himmels« (Bataille 2018, Thompson 1998; s. a. Koebner und Felix 2007). Wie im Letzten Tango haben die Treffen des Protagonisten im Blau des Himmels in geschlossenen Räumen eine vergleichbare erotische Aufladung, eine abgegrenzte Umgebung, in der das Drängen nach dem Orgasmus untrennbar mit dem rauen Körperlichen und Schmutzigen ist. In einer frühen Version des Drehbuchs heißt Paul Leon und Leon meint: »I make you die, you make me die, we’re two murderers, each other’s. But who succeeds in this is twice the murderer. And that’s the biggest pleasure: watching you die, watching you come out of yourself, whiteeyed, writhing, gasping, screaming so loud that it seems to be the last time« (Thompson 1998).
Auch hier zeigt sich die Achse Tod – Selbstmord – Mord. Die Motive der moraltranszendendierenden Sexualität von Bataille – als Gegenposition zur bürgerlichen Gesellschaft – gleichen Bertoluccis Film frappierend – vor allem die Phantasie von dem leidenschaftlichen Akt mit einem völlig fremden, namenlosen Gegenüber (Koebner und Felix 2007). Die Protagonisten des Textes sind auf dem Weg ihrer Auflösung, ihrer Zerstörung (Duras 2018, 10) – so wie es auch bei Bacon gesehen werden kann. Und Surya stellt sich im Nachwort des Romans von Bataille’s Blau des Himmels die Frage: »In der Tat, wie sollte man in dem ›Abgrund des Grauens‹ nicht das erkennen, was in ›Das Blau des Himmels‹ beschrieben wird? … Und wie sollte man überhören, dass wir unbedingt Erkenntnis von solch einem Grauen erlangen müssen, wenn wir auch nur ein wenig dem auf den Grund gehen wollen, was der Mensch ist, was er ›bedeutet‹, vor allem zu was er fähig ist« (Surya 2018, 230 f.). Francis Bacon hatte zur Zeit der Entstehung des Films eine Ausstellung im Grand Palais in Paris. Bertolucci besuchte u. a. mit Brando und seinem Kameramann Vittorio Storaro die Ausstellung. Dieser Besuch beeinflusste die Gestaltung des Films sehr. Die Gesichter verformen sich im Film, wie dies Bacon darstellt. Bacon war ebenfalls von Bataille beeinflusst – insbesondere durch den Text »Bouche« (Bataille 1930). Übrigens bezieht sich auch Winnicott auf Bacon: »When I look I am seen, so I exist« (Winnicott 1971, 114). Bereits im Vorspann des Films sind zwei Bilder von Bacon (ein Bild ist ein Porträt von Lucien Freud) dargestellt und die Darstellungsweise Bacon’s wird als dramaturgisches Mittel im Film umgesetzt: »Großen Anteil daran, dass die Bilder Bertoluccis als so verstörend und schockierend wahrgenommen wurden, hat die Arbeit des Malers Francis Bacon, dessen Bildästhetik eine zentrale Stellung in diesem Werk Bertoluccis einnimmt« (Moormann 2004). Deformierte Gesichter und Körper, eine wachsgleich wirkende Haut und leblos wie totes Fleisch (Moormann, ebd.). Micheletti Tonetti (1995, 126) zitiert Bertolucci: »I wanted Paul to be like the figures that obsessively return in Bacon: faces eaten by something coming from the inside.« Dies erscheint mir – in Analogie zu Bataille – als eine entscheidende Aussage über den Film. Ich nenne es das »orale Drama« oder die »orale Katastrophe« und versuche eine Herleitung zu Georges Bataille und seinem Text »Bouche« (Bataille 1930). Der Mund ist die Mündung tiefgreifender körperlicher
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Impulse und durch den Mund werden die bedeutendsten Erfahrungen von Vergnügen und Schmerzen des Menschen ausgedrückt und dadurch die Ähnlichkeit von Mensch und Tier enthüllt. Die Umsetzung der Stilmittel Bacon’s führt zu einer grimassenhaften Darstellung von Gesichtern durch Gläser, die zu einer Verzerrung führen. Die Gesichter nehmen animalische Formen an. Eben: »Faces eaten by something coming from the inside«, so wie ein internalisiertes Objekt das Subjekt von innen heraus zerfrisst. Manso (1998, 503) meint, dass Bertolucci ein Bild besonders beeindruckt hat, das eines Mannes »in äußerster Verzweiflung«. »Genau das«, erzählte er Brando, wollte er in seinem Film darstellen. »Bei Bacon gibt es Menschen, die ihr Innerstes buchstäblich herauswürgen und die Bescherung anschließend mit der eigenen Kotze übertünchen«, sagte er später. »Der gleiche Zug fiel mir bei Marlon Brando auf« (Manso 1998, 503).
Die Wohnung in der (vermeintlichen) Rue Jules Verne hat etwas Gebärmutterhaftes (so wie Bertolucci’s Fantasie der leeren Wohnung bei Bertolucci und der abgegrenzten Umgebung bei Bataille), in den farblichen Tönen von Bacon gehalten, in Orange (. Abb. 21.2): »Wie in den Gemälden Bacons birgt Orange auch bei Bertolucci eine ambivalente Qualität in sich. In dieser Farbe ausgeleuchtete Innenräume werden zu pränatalen, uterusgleichen Orten der Geborgenheit« (vgl. Peter Bondanella: Italian Cinema. New York 1991, S. 310, zitiert nach Moormann 2004). Eine Umrahmung bildet die hypnotisierende Filmmusik eines Gato Barbieri. Kline (1987) sieht in den Bildern von Bacon Themen der Identität und der Beziehung zwischen Narzissmus und Tod und weist auf die Rolle der Spiegel hin, die das eigene Leid und die eigenen Ängste zeigen und bezieht den Betrachter ein, der bei der Betrachtung auch sich selbst in der Spiegelung des Glases sieht. Im Narzissmus gibt es kein Gegenüber. Moormann meint, mittels »Spiegeln und Glasscheiben versucht Bertolucci das morbide Innenleben seiner Figuren zu veräußerlichen«. Ein weiterer Aspekt der den regressiven Sog verstärkt ist der Umstand, dass Brando in New York bei Stella Adler die Technik des »Method Acting« erlernte. Dabei geht es darum, die Rollen individuell zu gestalten. Bertolucci selbst erweitert die Grenzen zudem, indem er die Schauspieler anregt, sich selbst zu spielen: »Bertolucci’s control over his frame is legendary, but so too is his openness to his actors: He practically let Marlon Brando walk off with Last Tango in Paris, letting the graying actor improvise for pages on end. ›The person who acts a character gives life and flesh to what was written, and so much more comes with that‹, Bertolucci says. ›When I shoot, I try to feel the body and the face and the weight of the actor, because the character until that moment is only in the pages of the script. And very often, I pull from the life of my actors. I’m always curious about what these characters and these actors are hiding about their lives‹« (Ebiri 2018).
Neben dieser relativ großen Freiheit, die Bertolucci den Protagonisten lässt, bezieht sich Bertolucci auf einen Hinweis (der väterliche Rat? Oder gar: der väterliche Verrat?) des von ihm so geschätzten Jean Renoir, er sollte »immer die Tür offen lassen, weil unerwartete Dinge hereinkommen können. Mit anderen Worten, strukturiere nicht alles zu rigide, weil dann kein Platz mehr für Experimente ist« (s. a. Preston 2013). Eine schwache Struktur bedeutet zugleich Verführung als auch Gefahr. Die offenen Fenster wurden Wirklichkeit – eines in der Vergewaltigung von Maria Schneider (bewusst nicht Jeanne) – andere im Gehen in die Außenwelt am Ende des Films, in den Tanz des letzten Tangos, im Umdrehen des Orpheus (Paul), als er zurückblickt in seine eigene Vergangenheit. Bertolucci blieb nicht bei seiner
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3-tägigen Welt in sich, der Welt der Vereinigung, in den Farben des Francis Bacon im Wunsch nach Wiedervereinigung mit der Mutter in Form einer absoluten Symbiose, im Verschwimmen der Körper, der Flüssigkeiten, der Butter (die aus der Milch entsteht). Es gab die Vermengung nach außen, etwa mit der (biografischen) Parallelhandlung des 16-mm-Films (a story within the story), mit der Butter, mit dem Bruch der Regel, keine Namen zu nennen, mit dem Sentimental-Werden. Die Butter war eine Frühstücksbutter – eigentlich auch ein Beginn (des Tages, des Lebens). Aber die Butter war ja verhängnisvoll. So wie es Orpheus ergangen ist.
Vor dem Film Im November 1971 kam es zu einem Treffen zwischen Brando und Bertolucci in Los Angeles und nachdem Bertolucci eine halbe Stunde damit verbrachte, Brando zu erklären wie er sich den Protagonisten vorstellte, meinte Bertolucci abrupt: »Reden wir über uns – unser Leben, unsere Lieben, über Sex. Darum geht es in dem Film nämlich« (Manso 1998, 507). Dem folgte eine zweiwöchige psychoanalytische Sitzung in der über sexuelle Identität, Familienhintergrund, Leidenschaft und Obsessionen gesprochen wurde. Bertolucci: »Ich habe versucht, eine vorrationale Beziehung zu ihm herzustellen« (Manso, ebd.). Es war Bertolucci offenbar gelungen, die dunklen ungezügelten Kräfte in Brando zu entdecken: »Es steckt eine wilde, irrationale Gewalttätigkeit in ihm.« Bertolucci betrachtete das Drehbuch nur als Hinweis für das was er von den Schauspielern erwartete. »Ich wollte darauf hinaus, dass er Paul vergaß und sich ganz auf sich selbst und das, was in ihm steckte, konzentrierte« (Manso, 508). Es entwickelte sich eine Nähe zu Brando und ihm gefiel auch seine körperliche Attraktivität: »Ach Marlon, ich hab dich zum Fressen gern.« Die Bindung zwischen Bertolucci und Brando war aufgrund täglicher intensiver Gespräche sehr eng und sie inspirierten sich gegenseitig aufgrund ihres gemeinsamen Interesses an der Psychoanalyse zu immer gewagteren Fragen und Bertolucci ermutigte Brando, das ganze Reservoir an Gram und Zorn in seinem Inneren auszuloten (Manso, 511).
Eine Reise zurück – und die Dynamik aus psychoanalytischer Sicht Das Thema Eine Reise zurück begleitet mich über die Zeit der Auseinandersetzung mit dem Film hinweg und ist für mich eine Reise in den frühen passiven Selbstmord von Paul. Der Film löst bei mir Gegenübertragungs-Reaktionen in Form von Leere, Wut, Lähmung und tiefer Trauer aus und den Wunsch und die (schwache) Hoffnung, »etwas Besseres« zu erleben. Auch tauchen Gefühle auf, dass ich mit diesem Text etwas Offenes schließen, etwas Aufgerissenes heilen, etwas zu Ende bringen muss. Etwas. Zu Ende bringen. Zu Beginn des Filmes ist der Selbstmord (von Rosa) bereits vollzogen – sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Dieser Selbstmord legt sich wie eine Grundthematik in seiner ganzen Schwere über den Film. Es ist etwas geschehen, was den (psychischen) Rahmen von Paul sprengt und er versucht, den Schmerz, die Angst vor dem Zusammenbruch (Winnicott 1991) zu kompensieren. Freud (1917) spricht von Trauer und Melancholie. In der Trauer besteht das geliebte Objekt nicht mehr »und erläßt nun die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen … Das Normale ist, dass der Respekt vor der Realität den Sieg behält« (Freud 1917, 430). Die Melancholie bezieht Freud auf einen dem Bewusstsein entzogenen Objektverlust und meint: »Bei der Trauer ist die Welt arm und leergeworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst« (ebd., 431). Dies hat Folgen. Melancholie führt dazu, dass das Ich nichtswürdig, leistungsunfähig, moralisch verwerflich sei. Das Bild dieses – vorwiegend moralischen – Kleinheitswahnes vervollständigt sich durch Schlaflosigkeit, Ablehnung der Nahrung und eine psychologisch höchst merkwürdige Überwindung des Triebes, der alles Lebende am Leben festzuhalten zwingt (ebd.). Eine Erschütterung einer Objektbeziehung wird nicht durch die Bearbeitung der Trauer und eine Verschiebung der Libido auf
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ein anderes Objekt bewerkstelligt, sondern die Libido wurde in das Ich zurückgezogen und diente dazu eine Identifizierung des Ichs mit dem aufgegebenen Objekt herzustellen. Auf diese Weise hatte sich der Objektverlust in einen Ich-Verlust verwandelt. In »Massenpsychologie und Ich-Analyse« meint Freud, »das Ich wird immer anspruchsloser, bescheidener, das Objekt immer großartiger, wertvoller; es gelangt schließlich in den Besitz der gesamten Selbstliebe des Ichs, sodaß dessen Selbstaufopferung zur natürlichen Konsequenz wird. Das Objekt hat das Ich sozusagen aufgezehrt. Züge von Demut, Einschränkung des Narzissmus, Selbstschädigung sind in jedem Falle von Verliebtheit vorhanden« (Freud 1921, 124). Nacht & Racamier sehen am Ursprung jedes depressiven Zustandes das »Zerreißen einer engen, gegenseitigen Liebesbindung« (Nacht und Racamier 1961, 655). Tatsächlich ist Selbstmord das sublimste Mittel, um die absolute Liebe zu erlangen, um eine totale, unterscheidungslose Verschmelzung mit dem Objekt zu erreichen (ebd. 672). Der Depressive wird als Mensch beschrieben, der sich stets vor den Ausbrüchen seiner Aggressivität bedroht fühlt und dass das Subjekt weniger unter dem eigentlichen Verlust des Objekts leidet als darunter, dass ihm dessen Erhaltung nicht möglich gewesen ist (ebd. 656). Es fehlen die Worte, die den Mund füllen würden, so wie es früher die Milch tat (hätte tun können): Die Leere des Mundes mit Wörtern füllen zu lernen, wäre ein Weg der Introjektion (Abraham und Torok 2001, 548). Aber Paul sinngemäß: Wir reden nicht, wir wollen nichts von uns wissen, keine Namen. Die Illusion, die Zeit aufzuhalten, funktioniert nicht, der Mund füllt sich nicht mit Milch – mit Worten –, sondern es kommt zur oralen Katastrophe, der Mund frisst sich selbst auf, so wie es Bataille im Text »Bouche« beschreibt und wie es Bacon darstellt. Das Von-innen-zerfressen-Werden lässt die Verbindung zu Freud (1917) zu, als das verinnerlichte Objekt über dem Ich steht und dieses quasi »frisst«: »Es möchte sich dieses Objekt einverleiben, und zwar der oralen oder kannibalischen Phase der Libidoentwicklung entsprechend auf dem Wege des Fressens« (Freud 1917, 436). Aufgezehrt wie in der filmischen Umsetzung die Gesichter des Francis Bacon (s. o.). Das Objekt frisst letzten Endes das Ich auf. In einer Szene erzählt Paul Jeanne von seinen Eltern und deutet damit seine frühe Kindheit an. Es sind Hinweise für eine kaum fördernde Umwelt – Verwahrlosung, Nötigung, Erniedrigung. Manso (1998, 131) beschreibt in seiner Brando-Biografie dessen schwierige Beziehungen zu Frauen und zur alkoholkranken Mutter und: »Er schätzte dunkelhäutige, junge Frauen, die das genaue Gegenteil von ›Dodie‹ (Anmerkung Dorothy, seine Mutter) waren« (Manso 1998, 131). Winnicott spricht von einem angeborenen Reifungsprozess, von dem die Entwicklung des Individuums getragen wird, wenn eine fördernde Umwelt existiert. Im Film erzählt Paul Jeanne von seiner (nicht fördernden) Kindheit (Bertolucci und Arcalli 1972):
RR Oh … My father was a … a drunk. Tough. Whore-fucker, bar-fighter. Super-masculine. And he was tough. My mother was very … Very poetic. And also a drunk. And … one of my memories, when I was a kid, was of her being arrested nude. Es dürfte daher bei Paul eine wenig fördernde Umwelt in der Kindheit gegeben haben. Eben keine Umwelt, die haltend und handelnd ist und zu einem sich anbietenden Objekt wird. Bertolucci meinte in einem Interview (Ungari 1984, 90), dass »als Marlon über seine Kindheit spricht, ist es seine wirkliche Kindheit mit seiner Mutter, die immer betrunken war und dem Schatten des kräftigen/männlichen und gewalttätigen Vaters irgendwo in Nebraska. Am Ende des Filmes meinte er mir gegenüber mehr oder weniger: ›Ich will nie mehr so einen Film machen. Ich bin nicht gerne ein Schauspieler aber diesmal war es schlechter. Ich fühlte mich vom Beginn bis zum Ende vergewaltigt, jeden Tag, zu jedem Zeitpunkt.
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Ich fühlte, dass mein ganzes Leben, meine intimsten Dinge, meine Kinder, alles aus mir herausgerissen wurde‹« und Bertolucci war sich nicht sicher, ob Brando den fertigen Film sah (ebd.). Die Eltern also beide alkoholkrank, sie hatten zahlreiche außereheliche Affären, die Mutter hatte mehrere Selbstmordversuche, die Kinder waren vernachlässigt und litten unter der geringen Verlässlichkeit der Mutter. Der selbstmordgefährdeten, instabilen Mutter von Brando in der Realität steht nun Rosa im Film gegenüber. Paul bringt zum Ausdruck, wie grauenhaft das Zusammenleben von Paul und Rosa gewesen sein muss. Micheletti Tonetti (1995) beschreibt die Beziehung zwischen Paul und Rosa »wie zwei Akrobaten die nebeneinander auf Seilen balancieren, sie kommen aus dem Dunkeln und enden im Dunkeln« und bezieht sich auf Sartre im Sinne einer »sinnlosen Leidenschaft« – und – er kann sich ihren Selbstmord nicht erklären und er kann es ihr nicht erklären. Die Vergangenheit ist so nutzlos und schmerzvoll wie ein Unfall. Die einzige Entlastung für ihn ist es, einen Platz zu finden, an dem die Zeit gnädig ist zu ihm – die Zeit heilt alle Wunden, sodass »das Verstreichen der Minuten nicht so schwer auf seinen Schultern lastet« (Micheletti 1995, 127). Rosa funktionierte primär als eine Mutter-/Frau-Figur für Paul, die ihn »adoptiert« hatte und ihn über Jahre unterstützte, ihm aber nie die ganze Aufmerksamkeit gegeben hat (Kline 1987,113). Paul startet einen Versuch der Bewältigung – in einer neuen gebärmutterhaften Wohnung im Orange des Francis Bacon, in einer neuen Ich-Umgebung – einer Trennung zwischen Innen- und Außenwelt, einer Zeitlosigkeit, einer Negierung der Zeit (und damit der Vergänglichkeit) – und: Jeanne betritt die Szene. »Die Annahme von der Inszenierung einer gemeinsam geteilten unbewussten Fantasie wird bereits in den ersten Szenen des Films nahegelegt, wenn sich Paul und Jeanne unter einer Brücke sehen, ohne miteinander zu sprechen. Sie müssen nicht verabreden, sich in einer der nächsten Szenen in der halbleer stehenden Wohnung zu treffen« (Zeul 1997, 126). sieht den Film als Inszenierung einer ins Bild gesetzten unbewussten gemeinsamen Fantasie der beiden Protagonisten. Paul eignet sich, für Jeanne zum geliebten Vater(-objekt) zu werden. Sie lockt ihn in die elterliche Wohnung und tötet ihn, um für alle Zeiten an dieser Liebe festhalten zu können (ebd., 131). Die Inszenierungen gelingen nicht. Spiegel mahnen. Das Verbot des Orpheus, nicht zurückblicken zu dürfen, wird missachtet. Keine Namen. Dennoch kommt es zu biografischen Inhalten, immer mehr bricht das Außen ein. Auch der 16-mm-Film, den Tom, der Freund von Jeanne über deren Kindheit dreht, mahnt an eine Außenwelt – wieder eine Abhandlung des Double-Themas von Bertolucci – und zeigt, dass es (doch) eine Biografie (und eine Realität im Außen) gibt, in diesem Fall die Kindheitsschilderungen von Jeanne. Der sich selbst keine Verbindungen zur Außenwelt, gleichsam zur Realität, herzustellen auferlegende Paul, beginnt nun selbst, sentimental zu werden und ansatzweise seine Bedürfnisse zu erkennen, die er – um psychisch überleben zu können – sofort wieder abwehren muss. Rosa als Protagonistin für die »tote Mutter« (Green 2004), die in den Doubles variiert wird und Paul als Protagonist eines Menschen, der ein Leben lang von (der Metapher) seiner toten Mutter gefesselt ist. Der Selbstmord von Rosa eröffnet also das Innere (das Grauen), die Abgründe bei Paul, führt ihm seine frühe Bedürftigkeit vor Augen. Versuche der Mutter von Rosa, ihn zu halten, erwidert er mit Aggression – »denn er (der Depressive) ist ein Mensch, der sich stets von Ausbrüchen seiner Aggressivität bedroht fühlt. Diese Angst vor der imaginären Allmacht seiner Aggressivität erreicht bei ihm ihren Höhepunkt, wenn es sich ereignet, dass er ein Objekt verliert, dem er unbewusst den Tod wünschte … in einem solchen Fall leidet das Subjekt zwar weniger unter dem eigentlichen Verlust des Objekts, als darunter, dass ihm dessen Erhaltung nicht möglich gewesen wäre« (Nacht und Racamier 1961, 656).
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Das Subjekt wendet nun die Aggression gegen sich selbst, um das introjizierte Objekt – die tote Mutter, Rosa … – zu schonen. Und: Der Depressive hat nur wenige Objekte, die Nachbildungen, die entweder gleichzeitig mit dem ursprünglichen Objekt, der Mutter, bestehen oder ihm nachfolgen. Er kann nur ein einziges und ausschließliches Objekt besitzen. Von ihm erwartet er alles (Nacht & Racamier, 665). Hier zeigt sich auch die vollkommene Ausweglosigkeit. Das Subjekt ist dem (verlorenen) Objekt ausgeliefert. Die Hoffnung, das Objekt zu binden, scheitert und die Ausweglosigkeit wird umfassend. Nichts ist für den (objektverarmten) Depressiven ein Beweis, dass er geliebt wird. Auf niedrigerem Niveau (einer Depression auf Borderline-Niveau) kann es sein, dass überhaupt keine stabile Objektvorstellung existiert. Bei einer Borderline-Symptomatik kann ein Versuch einer Linderung des seelischen Leides und der Angst die projektive Identifizierung sein, dies, nur so lange es einen Container, ein Projektionsobjekt gibt, sobald das Projektionsobjekt verloren geht, kehrt der projizierte feindselige und quälende Fremdanteil ins Selbst zurück. Dies kann für Borderline-Patienten eine Angelegenheit von Leben und Tod sein (Rohde-Dachser 2010, 872, zit. nach Fonagy 2008) und: »Die einzige Möglichkeit, den fremden Anteil im Selbst zu vernichten, ist dann oft nur mehr der Suizid« (ebd.). Rosa bietet sich so wie die »tote Mutter« bei Green (2004) nur (mehr) ganz bedingt als Objekt der projektiven Identifizierung an, etwa in der Szene, als das Badezimmer gereinigt wird oder in der Szene, als sich Paul neben die aufgebahrte Rosa zum offenen Sarg setzt und mit ihr quasi einen Dialog beginnt. Es kommt nichts zurück – von Rosa, von der toten Mutter, es spiegelt sich nicht, es tönt nicht – eine ferne, starre, gleichsam unbeseelte Figur (Green 2004, 233). Zuvor meint Paul Jeanne gegenüber, fast so wie es Winnicott (1991) sinngemäß darstellt:
RR No, you’re alone. You’re all alone. You won’t be free of that feeling of being alone until you look death right in the face. I mean, that sounds like bullshit, some romantic crap, until you go right up into the ass of death. Right up in his ass … till you find the womb of fear. And then, … maybe … Maybe then, you’ll be able to find him. Er ist sich nicht im Klaren, aber im Grunde weiß er es: Du bist allein und du wirst das Gefühl nicht los, bis du dem Tod ins Gesicht blickst. Er zweifelt, »bullshit«, »some romantic crap« und kommt dann wieder auf den Punkt: Right up in his ass … bis du die Gebärmutter (den Schoß der Mutter) der Angst findest. Darum geht es, in den »vorobjektalen« Bereich, in ein Stadium, in dem es noch kein Ich gibt, in eine vollkommene Leere des Raums (der Gebärmutter), die keine Sicherheit gibt. Er versucht dies durch die anale Penetration von Jeanne zu erreichen, das sterbende Schwein, die Todesfurze zu riechen und die Kontrolle über Jeanne zu haben, die dies alles für ihn machen würde. Während Nacht und Racamier (1961) von der Introjektion des Objekts sprechen und es von einer intensiven Liebesbeziehung zu einer intensiven Aggressionsbeziehung kommt, deren Opfer das Subjekt selbst ist, gehen Abraham und Torok (2001) noch weiter und sprechen von der Inkorporation des Objekts. Um den Verlust nicht »schlucken« zu müssen, stellt man sich vor, das Verlorene in Form eines Objekts zu verschlucken oder verschluckt zu haben. Der Versuch einer magischen Heilung bedeutet, das Fehlende zu verschlucken und die Trauer zu verweigern. Dies ist ein weiterer Bezug zu Bacon’s Grimassen und Bataille’s »Bouche«: zum Fressen und der dahinterliegenden Illusion, das Objekt »verschlucken« zu können. Es weitet sich zu einem sich selbst Auffressen des Subjekts aus. Eine wahrlich grauenhafte Vorstellung und eine unvorstellbare Angst
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davor. Rohde-Dachser (2010) spricht von einem Primärprozess, der von »katastrophischen Ängsten« gekennzeichnet ist. Paul geht nun zur aufgebahrten Rosa und beginnt mit ihr diesen Quasi-Dialog, einen Monolog/ Dialog zu einer toten Mutter: »You’re your mother’s masterpiece«. Es hat auch etwas Zärtliches. Paul sitzt vor der mit Blumen geschmückten Leiche von Rosa – der Bemühung, »das Grauen vor Tod und Zerfall durch Schmücken der Leiche zu leugnen« (Muensterberger 1963, 170). Die Blumen kann er aber nicht riechen, dennoch spricht er ihre »little goodies« an, ihre Sammlungen, ihre Stifte, fremdes Geld, sogar das Halsband eines Pfarrers und er erkennt, dass er sie (Rosa) nicht kennt, nicht erreicht hat und nun nicht (nie) mehr erreichen würde. Die tote Mutter macht es ihm nicht möglich. Er war mehr ein Gast denn ein Ehemann in den letzten fünf Jahren, er kam ihr nicht näher. »Sag mir was Liebes. Lächle mich an und sage, ich habe dich falsch verstanden.« So ist Paul in seinem Narzissmus gefangen wie in einem Spinnennetz. Die Erkenntnisse, die er der aufgebahrten Rosa mitteilt, erreichen sie nicht, genauso, wie die mütterliche Depression das lebendige (mütterliche) Objekt – Quelle der kindlichen Vitalität, eben der Buntheit – in eine ferne, starre, gleichsam unbeseelte Figur (Green 2004, 233) verwandelt, von der es unmöglich ist, eine Antwort, ein Verständnis zu bekommen, welches einen Weg in die Trauer öffnen könnte. Auch die Integration der Zeit – und damit der Vergänglichkeit, um eine Trauer zu ermöglichen – und gleichzeitig eine Öffnung nach außen, misslingen. Anstatt sich mit seinem Leid darüber und der Trauer auseinanderzusetzen, kommt er in einen unlösbaren Konflikt, den er nicht imstande ist zu lösen: »Der Depressive liebt das Objekt nicht um seiner selbst willen und weil es so ist, wie es ist, sondern er braucht es, um dadurch schlecht und recht sein emotionales Gleichgewicht aufrechtzuerhalten« (Nacht und Racamier 1961, 656). Gibt es nun ein Entrinnen aus dem Grauen und der unfassbaren Angst vor dem Verlust der Identität, vor der Leere, vor dem psychischen Zusammenbruch (Winnicott 1991)? Kline bezieht sich auf den Versuch von Paul, seine Frau zurückzugewinnen. Im Versuch, Rosa zurückzubekommen, inszeniert er wilde Sexszenen mit Jeanne – dem Double von Rosa – und will so die Frustration und die verdrängte Wut Rosa gegenüber kompensieren. Diese Unfähigkeit von Lösungen führt Paul immer weiter in eine Reise zurück, die aus analytischer Sicht eine ständige Gefahr der Auflösung des Ichs, des Kommens in eine Leere zurück an die Anfänge des (somatischen und) psychischen Lebens bedeutet, in der die Formen der Abwehr nicht mehr funktionieren. Bertolucci: »Women are the only ones who really understand the film. Because it’s a film that’s built on the concept of the inside of the uterus. Not just the room. Marlon in fact makes a voyage back to the uterus – so that at the end he’s a fetus« (Cott 1973). Mit dieser Reise verstehe ich auch den Wunsch von Paul nach einer Wiedervereinigung mit der Mutter – die (unbewusste Todes‑)Sehnsucht nach der Mutter und andererseits die Vernichtungsängste, die Leere der »toten Mutter«, die unbeschreibliche Einsamkeit und Verlorenheit. Der Tod wird zum letzten Heilmittel gegen Ängste, die aus Todeswünschen und Todesfurcht entstanden sind (Nacht und Racamier 1961, 672). So beschreibt Bertolucci die »Reise« von Paul, »zu Beginn des Films ist Paul ein kräftiger Mann, verzweifelt aber bestimmt in seiner Verzweiflung … aber langsam verliert er seine Manneskraft, kommt in die anale Phase, die anal-sadistische und später kommt er im Mutterleib von Paris an, sterbend mit der Mutter Paris um ihn herum … es ist eine klare Abfahrt und eine klare Ankunft im Tod« (Bachmann 1973, 97). Paul versucht gleichsam in einer entgegengesetzten Bewegung, von Rosa »loszukommen«. Doch ihr Selbstmord – die aggressive Handlung – verunmöglicht dies. »Der Selbstmörder tötet sich, um zu lieben und geliebt zu werden« (Nacht und Racamier 1961, 673). Eine Trennung von Rosa, von der jungen (gehäuteten) Jeanne und insbesondere von der (mehr oder minder identen) Mutter von Paul/Brando ist nicht möglich und daher kann er sich der Thematik des Selbstmordes nicht entziehen. »Der Hass allein wird deshalb niemals dorthin vorstoßen, wo der Patient auch seine Liebe gelassen hat, nämlich dem Grab der toten Mutter. Der Patient verbringt sein Leben damit, diese Tote zu versorgen, gerade als sei einzig und allein nur er dafür zuständig« (Rohde-Dachser, 2010, 878).
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Die Besetzungsenergie wird von der toten Mutter abgezogen und es kommt zu einer unbewussten Identifizierung mit der psychisch toten Mutter. Die Mutter wird gleichsam eingekapselt und »weigert sich ihren zweiten Tod zu sterben … Sie ist eine Hydra mit tausend Köpfen, und immer, wenn man denkt, ihr den Hals abgehauen zu haben, dann hat man doch nur einen ihrer Köpfe erwischt« (Green 2004, 250). So wie der Tod, der Selbstmord von Rosa, auf dem gesamten Film lastet und dessen Verlauf bestimmt, so lastet der frühe psychische Tod der Mutter auf dem gesamten Leben. Das Tote wird dadurch zum (scheinbaren) Leben erweckt – Rosa erscheint wie eine Untote. Die fehlende/eingeschränkte/ besondere Möglichkeit der Auseinandersetzung mit Rosa – mit jemand, der Selbstmord begangen hat – schafft – als letzter vermeintlicher Versuch der Rettung, den es zu erkennen gilt – für sich ein Objekt. Der Selbstmord kann quasi als Versuch der Stabilisierung gesehen werden, so wie die Leere an sich zu einem Objekt werden kann. Parallel zum Selbstmord von Rosa erstreckt sich über den gesamten Film der (verdeckte) diskret verlaufende, sich zunehmend verdichtende passive Selbstmord von Paul, der am Ende des Films zum Fötus wird und den Verlust von Rosa nicht durch die zeitlose, raumlose, sexualisierte Beziehung mit Jeanne kompensieren kann. Muensterberger (1963, 172) meint, dass das Fortgehen der Toten nur als etwas Vorübergehendes betrachtet wird und sieht in der weit verbreiteten Sitte, den Leichnam in der Haltung eines Fötus oder in riesigen Gefäßen zu bestatten, eine Identifizierung mit dem Uterus. Paul endet in der Stellung eines Fötus. »Our Children … will remember.« Nachdem eine Trennung von Rosa – von der Mutter – letzten Endes nicht gelingt, versucht er – im Double Jeanne – eine Wiedervereinigung (mit Rosa, mit der Mutter). Die gegen Rosa (gegen die Mutter?) gerichteten Aggressionen führen zum Wunsch der Entschuldigung und zur Äußerung, er würde sich auch suizidieren. Seine Todessehnsucht wird zur Realität und er veranlasst Jeanne unbewusst, das zu tun, wozu er selbst nicht in der Lage ist (Zeul 1997, 126). Der Selbstmord als letzte Konsequenz der fatalen Verinnerlichung des verlorenen Liebesobjektes, als Bild der toten Mutter, die abwesend ist (Green 2004), als Bild der Todessehnsucht – »in ihre gemeinsam geteilte Sehnsucht, sich mit den Toten (das sind Rosa und auch der Vater von Jeanne) sexuell zu vereinen« (Zeul 1997, 128) und damit verbunden der vermeintlichen Illusion einer Wiedervereinigung und gleichzeitig der Angst vor dem Zusammenbruch (Winnicott 1991). Aus Sicht einer Borderline-Depression (Rohde-Dachser 2010) als grausamer Überlebens(Todes‑)kampf mit Objekten »destruktiver Natur: folternd, würgend, parasitär, überwältigend, verschlingend und … dass es nicht möglich ist, sich von diesen Objekten zu trennen, so grausam und zerstörerisch diese auch sein mögen« (Leichsenring 2004, zit. nach Rohde-Dachser 2010). »Die unzweifelhaft genußreiche Selbstquälerei der Melancholie bedeutet ganz wie das entsprechende Phänomen der Zwangsneurose die Befriedigung von sadistischen und Hasstendenzen, die einem Objekt gelten und auf diesem Wege eine Wendung gegen die eigene Person erfahren haben« (Freud 1917, 438).
und er fährt fort: »So ist bei der Regression von der narzisstischen Objektwahl das Objekt zwar aufgehoben worden, aber es hat sich doch mächtiger erwiesen als das Ich selbst. In den zwei entgegengesetzten Situationen der äußersten Verliebtheit und des Selbstmordes wird das Ich, wenn auch auf gänzlich verschiedenen Wegen, vom Objekt überwältigt.«
Green (2002) spricht von der zentralen phobischen Position und meint, dass es dabei zu einer weitgehenden Ichhemmung kommt, die die Patienten in eine immer stärkere Isolierung treibt. Äußerungen
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bei einem Patienten wie »ich weiß nicht«, »ich erinnere mich nicht« etc. dienten dazu, jede Vorstellung zunichte zu machen und das Entstehen von Zusammenhängen zu vermeiden. Gerisch (2005, 938) meint, dass Selbstmordphantasien selten etwas mit dem realen Tod zu tun haben, sondern es sich um Wünsche handelt, »Nichts-mehr-fühlen-Müssen, Einfach-nur-schlafenWollen, Ruhe-haben-Wollen, Sich-in-einem-Objekt-verankern-Wollen, wie aber auch das Objekt-aussich-Heraushabenwollen, einen destruktiven oder bedürftigen Teil abtöten wollen etc.« Wie im Film Paul von einem Mann zu einem Fötus regrediert, kann man von einer Umkehrung der Reifungsprozesse im Sinne von Winnicott sprechen: Eine fördernde Umwelt, die sich an die sich ändernden Bedürfnisse des heranwachsenden Individuums anpasst. Die Entwicklung geht im Normalfall von der absoluten Abhängigkeit zu relativer Abhängigkeit hin zur Unabhängigkeit. Eine fördernde Umwelt meint haltend, handelnd und objektanbietend. In ähnlicher Weise äußert sich Klein (1960, 299 f.) im Umgang mit Konflikten, Schuld und Leid und der »Fähigkeit, mit seiner Angst fertigzuwerden, in gewissem Grade durch seine frühere Entwicklung bestimmt, in dem Ausmaß, in dem es während der ersten drei oder vier Monate seines Lebens fähig gewesen ist, sein gutes Objekt, das den Kern seines Ichs bildet, in sich aufzunehmen und zu festigen.«
In ganz frühen Phasen der psychischen Entwicklung beginnt der Mensch zwischen Ich und Nicht-Ich zu unterscheiden. Er benötigt dabei die spiegelnde Mutter. In einer Zeit der absoluten Abhängigkeit, des psychischen Lebens, während derer die Mutter als Hilfs-Ich dient, gibt es zum Teil noch keine Unterscheidung zwischen Nicht-Ich und Ich (s. u. a. Winnicott 1991, 1119): »Aber ein Individuum kann sich nicht aus den Wurzeln seines Ichs entwickeln, wenn jene völlig getrennt sind vom psychosomatischen Erleben und vom primären Narzissmus« (ebd. 1126). Winnicott überträgt die Angst vor dem Zusammenbruch auf die Angst vor dem Tod. »Das in der Vergangenheit Geschehene war der Tod als ein Phänomen, aber nicht eine irgendwie zu beobachtende Tatsache. Viele Frauen und Männer versuchen ihr Leben lang, im Selbstmord eine Lösung zu finden, was bedeutet, den Körper in den Tod zu schicken, der die Psyche bereits ereilt hat« (1123). »Betrachtet man den Tod auf diese Weise, als etwas, was dem Patienten widerfuhr, ohne dass er reif genug gewesen wäre, ihn zu erleben, so hat er den Charakter der Vernichtung.« Winnicott führt die Leere und die Nicht-Existenz an. Von der (psychisch) nicht vorhandenen Mutter kann man nicht Abschied nehmen, nicht wirklich trauern. Der Selbstmord von Rosa, auf die Paul seine Aggressionen und Todeswünsche projiziert hat, konfrontiert ihn mit seiner frühen Leere, mit seinem eigenen psychischen Tod. Die Szenen, die unter anderem darauf Bezug nehmen, sind das Reinigen des Badezimmers, das Gespräch mit der Mutter von Rosa, die Szene mit Marcel und die Szene, als Paul bei der aufgebahrten Rosa sitzt. Rosas Funktion war die einer Mutter/Frau. Archaische Seelenqualen meinen die Rückkehr zu einem unintegrierten Zustand, das ewige Fallen, das Versagen des In-sich-Wohnens, den Verlust des Realitätssinns und den Verlust der Fähigkeit zur Objektbezogenheit. Es ist die Angst vor einem Zusammenbruch, der bereits erlebt wurde, was klinisch davon sichtbar wird, ist dann immer bereits eine Ersatzbildung, denn die zugrundeliegende Agonie ist unvorstellbar (ebd. 1125). Es lassen sich zwischen den »archaischen Seelenqualen«, die Winnicott meint, und dem Film – insbesondere beim Protagonisten Paul – Verbindungen herausarbeiten: die Rückkehr zu einem unintegrierten Zustand – zum Fötus, das ewige Fallen – der Verlust der psychosomatischen Verschmelzung, des In-sich-Wohnens – das Hotel ist nur ein Stundenhotel, die Bewohner (Gäste?) wirken beziehungslos, die Concierge wie eine Hexe und es gelingt nicht, die Wohnung über den uteralen Status hinauszubringen, sie bleibt mehr oder minder leer. Sie füllt sich nicht – das Ich füllt sich nicht. Der Illusion des
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Eine Reise zurück
Aufbaues einer Gegenwelt in der Wohnung der Rue Jules Verne – in der Unterwelt, ohne einen Bezug zum Außen, ohne Identität, ohne der Nennung von Namen, quasi zeitlos – erweist sich als trügerisch. Jeanne blickt auf die Uhr, bevor sie das Haus in der (vermeintlichen) Rue Jules Verne betritt, so, als ließe sie die Zeit draußen – Leere, Unsicherheiten, Ambivalenzen, Abgründe. Winnicott (1991, 1120 f.) meint, dass »die ursprüngliche Erfahrung der primitiven Seelenqualen nicht in die Vergangenheit gelangen kann, wenn das Ich sie nicht zuerst in seine eigene gegenwärtige Erfahrung aufnehmen und unter omnipotente Kontrolle bringen kann (indem es die stützende Funktion des Hilfs-Ichs der Mutter/des Analytikers annimmt).« In Verbindung mit dem Tod ist es die zwanghafte Suche nach einem Tod, »der geschehen ist und nicht erlebt wurde, der gesucht wird«. Selbstmord kann also als Reinszenierung eines sehr frühen psychischen Todes verstanden werden. Im Film finden sich viele Variationen der Bedrohung der frühen Ich-Organisation, die im schlimmsten Fall zum Selbstmord führt.
Epilog – Die Badezimmer-Szene und Ideen der Hoffnung Dennoch gibt es die sehr ambivalente Szene mit Jeanne im Badezimmer – Paul macht sein Rasiermesser scharf – gleichzeitig ist er zärtlich zu ihr. Kindliche Versuche einer Heilung (»I’ll be happy with you, I merry you as a farmer«) misslingen. Die Ambivalenz ist zu groß, die sich abzeichnende Nähe wird nicht ertragen, weil eine gesunde Abgrenzung vom Objekt nicht gesehen werden kann. Hier deutet Jeanne (aus ihrem Narzissmus) an, damit abzuschließen, sie wird eine normale (Reklame‑)Ehe führen. Er meint, sie verloren zu haben, so wie er seine Mutter (und die Mutter ihn) verloren hat. Lieber eine tote Mutter – eingeschlossen in einer inneren Krypta (Abraham und Torok 2001) – bis zum eigenen Tod pflegen. Paul zeigt Gefühle doch verlässt er unmittelbar darauf ohne Kontakt zu ihr die Wohnung. Jeanne meint: »Again! Do it again! Again!« Aber er macht es nicht – die destruktiv-omnipotenten Teile des Selbst verhindern abhängige Objektbeziehungen und halten die äußeren Objekte permanent entwertet (Rosenfeld, 484). Damit schließt sich der Circulus vitiosus. Auch wenn Paul wollte, ist die Bedrohung (noch einmal) in eine Abhängigkeit zu kommen, zu groß. Ich betrachte die (von mir so genannte) Badezimmer-Szene als Schlüsselszene des Films im Hinblick auf die zerstörerische Dimension. Sie ist gestaltet mit einem Doppelwaschbecken, mit Spiegeln. Es wäre ja im Sinne von Ideen der Hoffnung möglich, der frühen Verschmelzung zu entgehen, zu beginnen, eigene Identitäten aufzubauen, dem »Spiegel in’s Auge zu schauen«, damit sich mit sich selbst zu konfrontieren, damit die Dimension der Zeit (und der Vergänglichkeit) einzubeziehen. Damit eine Welt der Objekte (wieder‑)entstehen zu lassen. Aber es ist doch nicht möglich. Zu groß ist die Angst. Denn: Die Überwindung des Narzissmus führt zu Neid und wenn dieser zu stark ist, dann entsteht der Wunsch, das Objekt zu zerstören, das, was die Quelle des Guten ist. In der narzisstischen Grandiosität besteht die Überzeugung, dass sich der Narzisst selbst das Leben gegeben hat. Tritt nun ein gutes Objekt in Szene, so würde er lieber sterben, nicht existieren, die Tatsache seiner Geburt verleugnen (Rosenfeld, 485). Ein Wunsch, der bis zum Selbstmord führen kann. So verdichtet sich im Verlauf des Films zunehmend die Auflösung des Ichs von Paul und verzweifelte (frühkindliche) Versuche, dies zu verhindern, scheitern. Eine fördernde Umwelt, wie Winnicott sie postuliert, lässt sich nicht etablieren. Der destruktive Narzissmus nimmt seinen Verlauf mit dem Ausgang des Todes von Paul, der im Versuch den Suizid der Mutter/Frau/Rosa zu überwinden nun seinen eigenen Tod/passiven/Selbstmord erlebt. Die ödipale Komponente des Erschießens von Paul durch Jeanne mit der Waffe ihres Vaters ist zwar da, aber für mich eine Überlagerung. Die Inszenierung des Mordes/Selbstmordes von Paul (das Double) – den Jeanne exekutiert – steht für mich im Vordergrund. Eine der letzten Szenen ist die im Tanzlokal, die, die dem Film den Titel gegeben hat. Dort wird der letzte Tango getanzt. Die Illusion hat ein Ende gefunden, in der Außenwelt gibt es keine Möglichkeit zu leben.
Der letzte Tango in Paris (1972)
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Eine Reise zurück
Originaltitel
L’ Ultimo Tango A Parigi | Le Dernier Tango A Paris
Erscheinungsjahr
1972
Land
Italien/Frankreich
Drehbuch
Bernardo Bertolucci; Franco Arcalli
Regie
Bernardo Bertolucci
Hauptdarsteller
Marlon Brando, Maria Schneider, Jean-Pierre Léaud, Massimo Girotto, Veronica Lazar
Verfügbarkeit
Als DVD und Blue-Ray in deutscher Sprache erhältlich
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Sandra Monika Matissek
Ein außergewöhnlicher Sohn in einer „ganz normalen Familie“ Die Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Konrads psychologisches Profil . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Konrads Suizidversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_22
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Abb. 22.1 Filmplakat Eine ganz normale Familie. (© Paramount Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Eine ganz normale Familie (1980) Sandra Monika Matissek
Die Handlung
Der Film von Robert Redford zieht einen als Zuschauer von Anfang an in seinen Bann. In dem großartig besetzten Familiendrama von 1980 stellt sich die Frage, ob diese spezielle Familie wirklich so »normal« ist, wie sie vorzugeben scheint (. Abb. 22.1, Filmplakat). Redford erzählt die Geschichte der dreiköpfigen Familie Jarrett, die durch den Unfalltod des einen Sohnes Buck und den damit zusammenhängenden Suizidversuch des anderen Sohnes Konrad dazu gezwungen wird, ihre inneren Vorstellungen von der Wirklichkeit grundlegend zu hinterfragen. Während die Mutter Beth kläglich an dieser Lebensaufgabe scheitert, sind Konrad und Calvin Jarrett dazu in der Lage, diese Herausforderung anzunehmen und daran zu wachsen. Damit bildet der von Hans Vaihinger geprägte und von Alfred Adler weiterentwickelte Begriff der »Fiktion« den Hintergrund für die innere Entwicklung der Filmfiguren (Rieken 2011, S. 62). Die Fiktion stellt eine »bewusst gewählte Annahme«
über die Wirklichkeit dar, die es dem Individuum ermöglicht, sich in der Außenwelt zurechtzufinden (ebd.). Sie ist damit eine »gedankliche Hilfsoperation« (Brunner und Titze 1995, S. 154)
und ein Motor, um das Minderwertigkeitsgefühl zu überwinden und dadurch »einem fiktiven Endziel näherzukommen« (Adler 2008, S. 70).
Während Beth ihre Lebenslüge mit der Realität verwechselt und sich infolgedessen immer enger »in die Maschen [ihres dysfunktionalen] Schemas verstrickt«, können die beiden Männer ihre Fiktion dazu nutzen, um Bucks Tod zu verarbeiten und dadurch »ein reales Ziel zu erreichen« (ebd., S. 71).
Der Film wird durch den Anblick des Wassers eröffnet, das Blau des Sees verschwimmt mit dem Blau des Himmels zu einer unendlich scheinenden Weite. Langsam zoomt die Kamera an den Bootssteg heran, was die Omnipotenz des Wassers als Naturgewalt betont. Zu diesem Zeitpunkt kann der unvoreingenommene Zuschauer noch keinen Zusammenhang zwischen dieser Eröffnungsszene und dem tragischen Segelunfall der beiden Jarrett-Brüder herstellen, der den Dreh- und Angelpunkt des Filmes darstellt. Von dem Blau des Wassers wandert die Kamera zu den farbenprächtigen Bäumen im Herbstgewand, die die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz symbolisieren. Bevor der Zuschauer Konrad Jarrett zum ersten Mal zu Gesicht bekommt, ist der Gesang des Chores, in dem er mitsingt, zu hören. Die Kamera nähert sich ihm langsam und vorsichtig an, als wäre er ein scheues Reh, das leicht die Flucht ergreifen könnte. Die Kameraführung schwenkt zunächst auf das Gebäude, in dem der Chor singt, und gleitet dann über die Gesichter der Sänger und Sängerinnen. Dabei streift sie Konrads Gesicht zunächst spielerisch und lenkt dann die gesamte Aufmerksamkeit des
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Ein außergewöhnlicher Sohn in einer „ganz normalen Familie“
Zuschauers auf ihn. Diese erste Szene wirkt friedlich und harmonisch und steht im scharfen Kontrast zu der anschließenden Szene, in der Konrad nachts schweißgebadet wegen eines Albtraums aus seinem Bett hochschreckt. Zeitgleich besuchen seine Eltern mit Freunden eine Theateraufführung, bei der die beiden Schauspieler, die ein Ehepaar darstellen, sich die Frage stellen, wie gut sie sich eigentlich wirklich kennen. Diese Anfangsszene stimmt den Zuschauer auf die Bühnenmetaphorik ein, die den gesamten Film wie einen roten Faden durchzieht. Sie hat aber noch eine weitere wichtige Funktion, indem sie den Zuschauer mit der Nase darauf stößt, dass sich auch für Beth und Calvin die entscheidende Frage stellt, wie gut sie einander wirklich kennen. In der vorletzen Filmszene nimmt Calvin verbal zu dieser Lebenslüge Stellung, als er Beth gegenüber resigniert resümiert, dass er nicht wisse, wer sie sei und was sie sich gegenseitig vorgespielt hätten. Während Beth von der Aufführung begeistert ist, scheint sie ihren Mann so zu langweilen, dass er für einen Moment einnickt. Zurück zu Hause sieht Calvin Licht in Konrads Zimmer und fragt ihn, ob er nicht schlafen könne. Dieser spielt seinerseits »Theater« und gibt vor, alles wäre in Ordnung. Durch diese Anfangsszene, in der es wie in der Bühnenmetapher um den Unterschied zwischen Schein und Sein geht, erhält Letztere schon zu Beginn des Films eine entscheidende Bedeutung. Insbesondere innerhalb der komplexen Beziehungsdynamik der Jarretts scheint es die alles entscheidende Frage zu sein, welche Gefühle den anderen Familienmitgliedern nur vorgetäuscht werden und welche authentisch sind (Rieken 2006). Konrad und seine Eltern versuchen, sich gegenseitig vorzumachen, alles wäre beim Alten. Der Umgang der einzelnen Familienmitglieder miteinander hat etwas Unechtes und Gekünsteltes. Es wirkt so, als trügen alle drei voreinander Masken, hinter denen sie ihre wahren Emotionen verbergen. Passend zur Tradition des Theaters spielt damit auch das Prinzip Maske eine tragende Rolle (Klages 1978, S. 89). Letztere kann zwei entgegengesetzte Funktionen haben und sowohl der sozialen Kontaktaufnahme als auch der Schaffung von Distanz dienen (ebd.). In der oben beschriebenen Szene benutzt Konrad die Maske der Normalität, um die vorsichtigen Versuche seines Vaters, sich nach seinem Gefühlszustand zu erkundigen, abzuwehren. Auch Calvin Jarrett scheint während dieser Szene dieselbe Maske der Scheinnormalität aufgesetzt zu haben. Allerdings hat sie bei ihm die gegenteilige Wirkung eines emotionalen Bindeglieds zu seinem Sohn. Oberflächlich betrachtet scheinen die Jarretts eine harmonische und wohlsituierte Familie zu sein, der es an nichts fehlt. Zu Beginn des Filmes wirken die Eltern wie ein glückliches Ehepaar, das ein aktives Liebesleben hat und auch in Bezug auf Konrads Erziehung an einem Strang zieht. Bei genauerem Hinsehen sind hinter der glatten Fassade aber Untiefen und Abgründe zu erkennen, die verleugnet werden, weil sie die einzelnen Familienmitglieder hoffnungslos überfordern. Insbesondere die Mutter, die von Mary Tyler Moore dargestellt wird, ist eine Meisterin der Verdrängung. Genau wie Konrad und ihr Mann versteckt sich auch Beth hinter der Maske der Pseudonormalität, die nach außen hin den Eindruck erwecken soll, als wäre alles in ihrer Familie harmonisch und in bester Ordnung. Im Gegensatz zu den beiden Männern, die im Laufe des Films einen inneren Entwicklungsprozess durchlaufen, der es ihnen langfristig gesehen ermöglicht, die Maske abzulegen, wirkt die Mutter mit ihrer Maske jedoch so verwachsen, dass sie für sie überlebensnotwendig und damit unverzichtbar zu sein scheint (ebd., S. 90), was letztendlich zum Bruch mit ihrer Familie führt. Der Ausgangspunkt der Geschichte ist der Unfalltod des älteren Sohnes Buck. Scheibchenweise erfährt der Zuschauer, dass die beiden Brüder gemeinsam segeln waren und das Boot in einem Sturm gekentert ist. Dabei ging der ältere Bruder Buck über Bord und ertrank. Konrad, der Überlebende, meisterhaft gespielt von Timothy Hutton, konnte Buck nicht retten. Er wurde so sehr von seiner Überlebensschuld gequält, dass er versuchte, sich mit einer Rasierklinge die Pulsadern aufzuschneiden. Konrad überlebte seinen Suizidversuch nur knapp und wurde danach für vier Monate in die Psychiatrie eingewiesen. Nach seiner Entlassung geht er wieder zur Schule und sogar zum Schwimmtraining. Er versucht alles, um den Anschein der Normalität zu wahren, aber es gelingt ihm nicht. In der Schule wirkt er unkonzentriert und abwesend, erst eine direkte Frage seiner Lehrerin scheint ihn aus seinen Tagträumen
Eine ganz normale Familie (1980)
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zu reißen. Sie fragt Konrad, ob er davon ausgehe, dass der Hauptcharakter des Buches, das sie gerade gemeinsam in der Klasse lesen, machtlos sei. Er muss einen Moment überlegen, bevor er die Frage bejaht. Diese Szene betont die innere Parallele zwischen Konrads eigener Machtlosigkeit in Bezug auf das Ertrinken seines Bruders und der Machtlosigkeit der fiktiven Romanfigur. Konrads bester Freund Lazenby, der auch mit Buck befreundet war, bemüht sich nach Kräften, ihn dazu zu bewegen, sich ohne Maske zu zeigen und mit ihm darüber zu sprechen, wie es ihm wirklich geht. Doch zu diesem Zeitpunkt seiner psychischen Entwicklung kann Konrad noch nicht auf die Distanz schaffende Wirkung seiner Maske verzichten. Allein der Anblick seines Freundes ist für ihn unerträglich schmerzhaft, weil er ihn mit brutaler Deutlichkeit daran erinnert, dass Buck, der auch ein Teil des Dreiergestirns war, nicht mehr am Leben ist. Konrads Vater, beindruckend gespielt von Donald Sutherland, macht sich große Sorgen um seinen Sohn und rät ihm dazu, einen Psychiater aufzusuchen. Nach intensivem Ringen mit sich selbst überwindet er sich dazu, sich zu Dr. Berger in Therapie zu begeben. Zunächst ist Konrad von seinem Psychiater weder begeistert noch überzeugt. Vor der ersten Sitzung wirkt er ganz in sich zurück gezogen und erweckt in Bezug auf seine Körpersprache und Motorik den Eindruck eines Rekonvaleszenten. Er scheint die Anderen aus einer großen Distanz zu beobachten, ohne dabei selbst wirklich am Leben teilzunehmen. Vor dem Erstgespräch kann der Zuschauer Konrad im Aufzug dabei beobachten, wie er den Gesprächsverlauf antizipiert und versucht, genau wie vor seinen Eltern Theater zu spielen, indem er auf die fiktive Frage seines Psychiaters nach seinem Befinden behauptet, es gehe ihm bestens. Auch während des tatsächlichen Gesprächs bemüht er sich intensiv, Dr. Berger vorzugaukeln, es gehe ihm gut. Dieser durchschaut das Scheinmanöver seines Patienten aber sofort und stellt ihm die provokante Frage, warum er sich dann in Therapie begebe, wenn doch alles in Ordnung sei? Konrads Antwort, er hätte sich gerne besser unter Kontrolle, damit sich sein Vater keine Sorgen mehr um ihn mache, ist sehr vielsagend. Im gleichen Atemzug sagt er seinem Psychiater, dass er nicht aus eigenem Antrieb zu Therapie gekommen sei, sondern nur, um seinen Vater dadurch ruhigzustellen. Dr. Berger lässt sich durch die nachdrücklichen Versicherungen seines Patienten, er finde die Therapie nicht gut, nicht aus der Ruhe bringen, sondern deutet sie zutreffend als Widerstand. Konrads eigenverantwortliche Entscheidung, sich wirklich auf den therapeutischen Prozess einzulassen, ermöglicht ihm, sich seiner lange verdrängten Wut auf Buck zu stellen, die bis zu diesem Zeitpunkt jegliche Art von Trauerarbeit verhindert hatte. Durch diesen Entwicklungsschub nabelt er sich zunehmend von seinen Eltern ab und lernt, schrittweise auf seine Maske der Pseudonormalität zu verzichten. Konrads fortschreitende Persönlichkeitsentwicklung verändert die Ehedynamik dahingehend, dass das Thema Sohn zum Zankapfel zwischen den Elternteilen wird. Judd Hirsch spielt den
RR »Seelenklempner« Dr. Berger so authentisch und facettenreich, dass man sich als Zuschauer am liebsten selbst bei ihm auf die Couch legen würde. Er schafft es, seinen tief verletzten Patienten in seiner Isolation zu erreichen und ein tragfähiges therapeutisches Bündnis zu ihm aufzubauen. Die beiden einfühlsamen männlichen Figuren stehen im scharfen Kontrast zur distanzierten und gefühlskalten Mutter. Beth Jarrett ist so darauf fixiert,
RR »dass alles wieder normal wird«, dass sie darüber die entscheidende Frage aus den Augen verliert, was Normalität für ihre Familie angesichts von Bucks Tod und Konrads Suizidversuch eigentlich bedeutet. Während seiner Zeit in der Psychiatrie hat Konrad ein Mädchen namens Karen kennen gelernt, das ihm zu gefallen scheint. Er trifft sich einmal mit ihr, als sie beide wieder zur Schule gehen, und beichtet ihr, dass er die Psychiatrie vermisse, weil dort
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Ein außergewöhnlicher Sohn in einer „ganz normalen Familie“
RR »niemand was verdeckt habe«. Im Gegensatz zu Konrads Familienalltag, in dem der schöne Schein regiert, konnte er seine Mitpatienten im Krankenhausalltag als authentisch und echt erleben. Auch für ihn selbst bestand als Psychiatriepatient nicht die Notwendigkeit, seine Gefühle zu verbergen, was es verständlich macht, warum er diese Zeit vermisst. In der Szene wird der Zuschauer für die Dichotomie zwischen
RR »der wirklichen Welt« und der Welt hinter den Klinikmauern sensibilisiert. Das hängt unter anderen damit zusammen, dass Konrad sich Karen gegenüber ohne Maske zeigt, sie ihm aber Theater vorspielt und vorgibt, es ginge ihr gut. Tragischerweise bringt sie sich im weiteren Verlauf des Films um. Im Nachhinein betrachtet hat sie bei diesem Treffen wohl einen falschen Anschein erweckt. Vielleicht wollte sie sich auch unbewusst selbst vormachen, es ginge ihr besser, als es zu diesem Zeitpunkt tatsächlich der Fall war. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass sie Konrad zweimal erzählt, sie spiele in der Schule Theater, und zwar das Stück »Die 1000 Clowns«. Vor dem Hintergrund ihres späteren Suizids wirkt der Name des Theaterstücks extrem symbolgeladen, denn Clowns tragen Perücken, sind geschminkt und wirken lustig, sind innerlich aber oft todtraurig, so wie Karen es wohl war. In der Therapie bringt Konrad seinen Wunsch, mit dem Schwimmtraining aufzuhören, zur Sprache. Bezeichnenderweise fragt er sich zuerst, wie diese Entscheidung nach außen hin
RR »aussehen« würde. Dr. Berger hakt an dem Punkt nach und fragt seinen Patienten, wie es sich anfühlen würde, würde er mit dem Schwimmen aufhören, und konfrontiert ihn dadurch mit der Gefühlsebene. Konrads Freund Lazenby versucht ihn darauf anzusprechen, dass Bucks Tod der
RR »wahre Grund« dafür sei, dass er mit dem Schwimmen aufhören wolle, aber Konrad blockt jegliche Versuche, offen über seine Beweggründe zu sprechen, kategorisch ab. Als Beth durch Dritte erfährt, dass ihr Sohn mit dem Schwimmtraining aufgehört hat, kommt es zum offenen Eklat zwischen den beiden. Sie wirft ihm vor, es mache ihm Spaß, sie zu verletzen. Er kontert damit, dass sie ihn nie in der Klinik besucht habe, was sie bei Buck auf jeden Fall getan hätte. In dieser Szene lässt sie für einen kurzen Moment die Maske der liebenden Mutter fallen und faucht Konrad an, dass sein Bruder überhaupt nie in ein Krankenhaus gekommen wäre. Ihr Ehemann bemüht sich verzweifelt, zu vermitteln und Konrad zu verstehen. Nach dem hitzigen Wortwechsel zwischen Mutter und Sohn ist Calvin derjenige, der zu seinem Sohn ins Zimmer geht und versucht, ihn emotional aufzufangen. Konrad entschuldigt sich für seinen Ausbruch, wirft seinem Vater aber gleichzeitig vor, dass er die Augen davor verschließe, dass seine Mutter ihn hasse. Er reagiert geschockt und wiegelt ab, aber der Kommentar seines Sohnes scheint in ihm zu arbeiten. Es ist die gedankliche und emotionale Auseinandersetzung mit dieser unangenehmen Wahrheit, die ihn während einer Joggingrunde wortwörtlich zu Fall bringt. Daraufhin begibt er sich auch zu Dr. Berger in Therapie. Durch seine Gespräche mit dem Psychiater hinterfragt Calvin zunehmend sein eigenes Verhältnis zu Beth, und der emotionale Graben zwischen ihm und seiner Frau scheint sich mit jeder Therapieeinheit zu vertiefen. Auch seinem beruflichen Partner Ray fällt Calvins Geistesabwesenheit auf, und er vermisst den Kontakt zu ihm. Ray führt das darauf zurück, dass sein Partner sich zu viele Sorgen um seinen Sohn mache und sich seinetwegen (. Abb. 22.2)
RR »zermartere«.
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..Abb. 22.2 Sondierungsgespräche zwischen Vater und Sohn. (© Paramount Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Beth scheint das ähnlich zu sehen, sie wirft ihrem Mann vor, sich von Konrad emotional erpressen zu lassen und ihm seit seinem Suizidversuch alles durchgehen zu lassen. Sie lenkt dadurch das Augenmerk des Zuschauers darauf, »wie stark ein Mensch in seiner Depression« sein kann (Adler 1928, S. 430).
Gestärkt durch seine Therapiefortschritte gelingt es Konrad, eine zarte Beziehung zu Janine, einem Mädchen aus seinem Chor, aufzubauen. Bei ihrem ersten gemeinsamen Date sprechen sie über Schuld und Sühne. Janine öffnet sich Konrad gegenüber und erzählt ihm, dass sie an Gott glaube und einiges erlebt und getan habe, wofür sie sich schäme. Er gesteht ihr, dass das bei ihm genauso sei. In diesem Moment verrutschen die Ärmel seines Pullovers, und die Narben seines Selbstmordversuchs sind deutlich zu erkennen. Beide scheinen sich innerlich auf einer fundamentalen Ebene zu treffen. In dieses sehr intime Gespräch platzt plötzlich Konrads ehemalige Schwimmclique herein. Die Gruppe benimmt sich so ungestüm und störend, dass sie vom Inhaber des Lokals hinausbefördert wird. Janine ist unsicher und weiß nicht, wie sie mit der Situation umgehen soll. Aus Verlegenheit beginnt sie dann zu lachen, womit Konrad wiederum schlecht umgehen kann. Er bringt sie nach Hause, und zunächst sieht es so aus, als wäre die Beziehung damit beendet. Nachdem Konrad sich den Schwimmwettkampf seines ehemaligen Teams angesehen hat, bei dem es vernichtend geschlagen worden ist, lässt er sich von einem der Schwimmer provozieren, und es
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kommt zu einer Schlägerei. Der Auslöser ist, dass dieser sich abwertend über Janine geäußert hat. Die Tatsache, dass Konrad die Beherrschung verliert, zeigt Zweierlei: Auf der einen Seite scheint ihm Janine so wichtig zu sein, dass er ihre »Ehre« verteidigt. Auf der anderen Seite bahnt sich in dieser Situation seine lange unterdrückte Wut ihren Weg nach draußen. Als sein Freund Lazenby danach behutsam das Gespräch mit ihm sucht, redet Konrad mit ihm zum ersten Mal offen über seine Trauer und den damit verbundenen Schmerz. Zurück bei seinen Großeltern versucht er, Karen anzurufen, und erfährt, dass sie Selbstmord begangen hat. Es zieht ihm den Boden unter den Füßen weg, als er erfährt, dass sie sich das Leben genommen hat. Die Nachricht über ihren Tod triggert bei Konrad furchtbare Erinnerungen über den Unfalltod seines Bruders, die wellenartig über ihm zusammenschlagen und ihn mit sich reißen. In seiner akuten Verzweiflung wendet er sich an seinen Psychiater, der sich ad hoc mit ihm in seiner Praxis trifft. In dieser Krise wirkt Dr. Berger wie Konrads »seelischer Rettungsanker« (DVD Rückseite),
der ihn davor bewahrt, in den quälenden Selbstvorwürfen unterzugehen. Gestärkt durch die therapeutische Aufarbeitung seines Traumas kann Konrad wieder Nähe zulassen und sich auf einen zweiten Beziehungsversuch mit Janine einlassen. Auch auf seine Mutter geht er offen zu, sie kann das Beziehungsangebot ihres Sohnes aber nicht erwidern. Der Film endet damit, dass Beth Jarrett ihre Familie verlässt und in ein Taxi steigt, nachdem Calvin erfolglos versucht hat, mit ihr über ihre Eheprobleme zu sprechen. In der letzten Szene sitzen Vater und Sohn einträchtig im winterlichen Garten und umarmen einander.
Konrads psychologisches Profil Konrad ist ein intelligenter junger Mann von circa 17 Jahren, der tiefgründig, sportlich, sensibel, introvertiert und selbstkritisch ist. Sein Spitzname ist »Konnie«, was sehr feminin klingt. Auf der anderen Seite hat er einen klangvollen Tenor, was seine männlichen Anteile hervorhebt. Für einen Teenager wirkt er in ungewöhnlich hohem Maße ernsthaft und verantwortungsbewusst. Er besitzt ein stark ausgeprägtes Über-Ich, hat klare moralische Werte und ist, wie es sein Vater im Laufe des Films ausdrückt, äußerst »hart gegen sich selbst«. Das hat direkte Auswirkungen auf seinen Umgang mit dem traumatischen Segelunfall. Durch seine hohen Erwartungen und strengen Moralvorstellungen fällt es ihm besonders schwer, sich selbst zu verzeihen. Diese ohnehin belastende Situation wird für Konrad noch zusätzlich dadurch verschärft, dass seine Mutter ihn auch für Bucks Tod verantwortlich zu machen scheint. Nachts wird er von Flashbacks an den Unfall heimgesucht, er leidet unter Appetitlosigkeit und Albträumen und zieht sich aus seinem Umfeld zurück. Das alles sind Anzeichen dafür, dass er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (Dilling et al. 2014, F 43.1, ICD 10) leidet, die durch das traumatische Miterleben von Bucks Tod ausgelöst wurde. Im Verlauf seiner Therapie durchläuft er eine tiefgreifende Persönlichkeitsentwicklung: Durch die Zuverlässigkeit und das aufrichtige Interesse seines Therapeuten an seiner Person traut er sich mehr und mehr, seine Gefühle zuzulassen und sie verbal auszudrücken. Durch das Aussprechen der Gefühle, das zu Hause ein Tabu ist, wird Konrad soweit seelisch entlastet, dass er sich mit der professionellen Unterstützung seines Psychiaters immer näher an das Trauma von Bucks Tod herantasten und es letztendlich in der Therapie aufarbeiten kann. Vor dem Beginn seiner Stunden mit Dr. Berger wirkt er anderen Menschen gegenüber teilweise ungeduldig, unbeholfen, distanziert und auf subtile Weise aggressiv. Er scheint ganz in seiner eigenen Welt zu leben, zu der niemand außer ihm Zutritt hat. Als ihn seine Freunde aus dem Schwimmverein mit in die Schule nehmen, zeigt sich seine Andersartigkeit besonders deutlich. Während sich der Rest
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der Clique wie typische Heranwachsende verhalten, die sich nur für Mädchen und Sport interessieren, wirkt Konrad mit seinem Tiefgang und seinem Interesse an Meditation wie ein Wesen von einem anderen Stern. Konrads Bindung zu seinem Vater scheint wesentlich enger zu sein als die zu seiner Mutter. Seinem Psychiater gegenüber beschreibt er sein Verhältnis zu seiner Mutter als oberflächlich und beklagt, sie hätten keinen echten Kontakt zueinander. In Bezug auf die Mutter-Sohn-Beziehung sind vier bestimmte Filmszenen sehr aufschlussreich: Zu Beginn des Films hat Beth Konrad sein Lieblingsfrühstück zubereitet. Als er verkündet, er habe keinen Hunger, entsorgt sie das Essen, ohne auch nur einen Moment abzuwarten, ob er es sich vielleicht noch anders überlegt. Diese kleine Geste wirkt symptomatisch für das angespannte Verhältnis zu ihrem Sohn, das von unterdrückter Wut, Ungeduld und emotionaler Distanz geprägt ist. Diese Gefühle stehen wiederum im engen Zusammenhang mit ihrer eigenen unverarbeiteten Trauer in Bezug auf ihren verstorbenen Sohn Buck. Als Konrad im herbstlichen Garten auf einer Liege seinen Gedanken nachhängt, sucht seine Mutter das Gespräch mit ihm. Für einen Moment sieht es so aus, als wären die beiden dazu in der Lage, sich ganz »normal« wie Mutter und Sohn zu unterhalten. Die zarte emotionale Annäherung der beiden wird durch das Spielen der Titelmelodie musikalisch untermalt. Auch die Tatsache, dass Konrad seine Mutter auf die Taube anspricht, die für eine gewisse Zeit ihr »Haustier« war, ruft positive Konnotationen an die weiße Taube als Friedenssymbol wach. Doch der kurze Moment der Nähe ist schlagartig vorbei, als Konrad den Fehler macht, Bucks Namen zu erwähnen. Daraufhin zieht sich seine Mutter abrupt aus dem Gespräch zurück. Bucks Tod scheint wie ein unüberwindliches Hindernis zwischen Mutter und Sohn zu stehen, welches verhindert, dass beide auf einer Gefühlsebene authentisch miteinander kommunizieren. Als Beth alleine in das Zimmer ihres verstorbenen Sohnes geht und sich dort auf das Bett setzt, bekommt der Zuschauer eine kleine Ahnung vom Ausmaß ihres Verlustes. Diese Szene hat etwas Intimes und gleichzeitig etwas sehr Ödipales. Die Wände des Zimmers sind gepflastert mit Bucks Sporttrophäen und Fotos von ihm in Siegerpose. Plötzlich kommt Konrad nach Hause und überrascht seine Mutter im Zimmer seines Bruders. Sie reagiert unwirsch und fährt ihn an, das nie wieder zu tun. Er entschuldigt sich bei ihr und versucht, sie in ein harmloses Gespräch zu verwickeln. Als er ihr von seinem Schwimmtraining und der Schule erzählt, wird deutlich, dass beide nicht die gleiche Sprache sprechen. Beth scheint ihrem erstgeborenen Sohn so intensiv nachzutrauern, dass Konrad in ihrem Herzen keinen Platz mehr hat. Während eines Besuchs bei ihren Eltern fällt Beth ein Teller zu Boden, der zerbricht. Bezeichnenderweise interessiert es sie nur, ob man den Teller kleben kann, damit es so aussieht, als wäre er wieder ganz. Auf dem Hintergrund ihrer ablehnenden und verstockten Haltung ihrem Mann und Sohn gegenüber wirkt diese Szene extrem symbolgeladen. Ihr Sohn hat einen Suizidversuch hinter sich, aber genauso wie bei dem Teller fragt sie sich auch bei Konrad nicht, was dazu geführt hat, dass er zerbrochen ist. Auch ihren Mann Calvin lässt sie mit seiner Trauer und Angst so alleine, dass er sich letztendlich an den Psychiater seines Sohnes wenden muss, um seinen Gefühlen Ausdruck verleihen zu können. In einer Rückblende erzählt Buck seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder, dass er am letzten Tag des Semesters die Schule geschwänzt und Alkohol getrunken habe. Anstatt ihm Vorhaltungen über sein unverantwortliches Verhalten zu machen, lacht Beth wie ein verliebter Teenager und hängt förmlich an den Lippen ihres erstgeborenen Sohnes. In dieser Szene zeigt sich, dass Konrad seinen älteren Bruder sehr bewundert und geschätzt hat. Obwohl Buck bei seiner Mutter eine Sonderstellung genoss, schien Konrad nicht eifersüchtig auf ihn zu sein, was seine menschliche Größe unter Beweis stellt. In dieser Rückblende wird auch deutlich, dass die beiden Brüder sehr unterschiedliche Temperamente haben beziehungsweise hatten: Obwohl Konrad der Jüngere von beiden ist, wirkt er reifer und vernünftiger, aber auch ruhiger und zurückhaltender als sein Bruder. Im Vergleich zu Konrad wirkt Buck wie ein extravertierter Sonnyboy, dem es leichtfällt, andere Menschen um seinen Finger zu wickeln.
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Durch die Therapie bei Dr. Berger bekommt Konrad langsam wieder Zugang zu seinen Gefühlen. Seine wachsende emotionale Reife zeigt sich auch in der zarten Beziehung zu Janine. Nach ihrer schlecht verlaufenen ersten gemeinsamen Verabredung ist er selbstkritisch und empathisch genug, um zu erkennen, dass sie von dem plötzlichen Wechsel der Gefühlsebene – von tiefgründig und ernsthaft auf albern und oberflächlich – überfordert war und deshalb zu lachen begann. Er ergreift die Initiative, besucht sie sonntags zu Hause und entschuldigt sich bei ihr für sein abweisendes Verhalten. Er ist sogar mutig genug, ihr offen zu gestehen, dass er sich nicht sicher war, ob sie es ehrlich mit ihm gemeint und er deshalb seinerseits so heftig reagiert habe. Das verleiht ihr den Mut, ihm zu zeigen, dass sie es ernst mit ihm meint. In diesem Moment scheinen die beiden sich auf der tiefen inneren Ebene wiederzufinden, die sie schon erreicht hatten, bevor ihr vertrautes Gespräch abrupt von Konrads Schwimmclique unterbrochen wurde.
Konrads Suizidversuch Schon in der ersten Therapiestunde spricht der Psychiater seinen Patienten auf dessen Suizidversuch an. Er lässt sich nicht mit seiner Bemerkung, er habe versucht, sich umzubringen, abspeisen, sondern fragt nach, wie er es genau gemacht habe. Konrad antwortet mit einem gewissen Stolz, er habe eine ganz gewöhnliche Rasierklinge für seinen Selbstmordversuch benutzt. Obwohl sein Suizidversuch die entscheidende Schlüsselszene ist, auf der die gesamte weitere Handlung des Films und die Persönlichkeitsentwicklung der Filmfiguren basiert, wird sie nur indirekt gezeigt. Der Zuschauer kann nur eigene Rückschlüsse aus den Erinnerungsfetzen von Konrads Vater ziehen, die in einer Rückblende gezeigt werden: Während einer Zugfahrt von der Arbeit nach Hause unternimmt Calvin Jarrett eine gedankliche Reise in die Vergangenheit: In der ersten Szene, die der Zuschauer zu sehen bekommt, ist Buck noch am Leben. Er trägt Konrads Pullover, der ihm viel zu klein ist und den er diesem weggenommen hat, um dadurch die Sachen von ihm zurückzubekommen, die ihm sein kleiner Bruder zuvor abspenstig gemacht hatte. Die beiden Brüder scheinen in diesem Moment die Rollen getauscht zu haben. Während Konrad von den beiden wesentlich durchsetzungsstärker und souveräner wirkt, macht sein älterer Bruder in dieser Szene einen eher hilflosen und unfreiwillig komischen Eindruck. Diese Rollenverteilung wiederholt sich auf tragische Art und Weise, als sich beide Brüder nach dem Segelunfall am Bootswrack festklammern und Buck als ersten die Kräfte verlassen. Dr. Berger bringt das in der zugespitzen Frage an seinen Patienten auf den Punkt, ob er je daran gedacht habe, dass er der Stärkere von beiden sein könnte. Mit dieser Einschätzung scheint der Psychiater voll ins Schwarze getroffen zu haben. Die Tatsache, dass Konrad physisch und psychisch stärker ist als sein älterer Bruder, scheint die tiefliegende Ursache von seinen Selbsthass und gleichzeitig die »Verfehlung« zu sein, die er sich selbst nicht verzeihen kann. Die Reaktion seiner Mutter auf seinen Selbstmordversuch schildert er Dr. Berger gegenüber so, dass diese ihm die Blutflecke auf den Handtüchern und Badezimmerkacheln, die dabei entstanden seien, wohl nie verzeihen werde. Mit dieser sarkastischen Bemerkung bringt Konrad die Fixierung seiner Mutter auf Äußerlichkeiten genau auf den Punkt. Genauso wie bei dem zerbrochenen Teller scheint es für Beth nach dem Suizidversuch ihres Sohnes primär darum zu gehen, die äußerlich sichtbaren Spuren davon zu beseitigen und nicht etwa darum, den Ursachen für seinen Selbstmord auf den Grund zu gehen. Letzteres würde ihr abverlangen, dass sie sich die Frage stellt, was sie selbst dazu beigetragen haben könnte, dass sich die Situation derart zugespitzt hat. Das wäre jedoch gleichbedeutend mit einer Demaskierung, die für Beth wegen der Verwachsung mit ihrer Maske eine existentielle Bedrohung darstellt, die um jeden Preis verhindert werden muss. Direkt im Anschluss daran sieht der Zuschauer die erste Szene von Konrads Suizidversuch: Calvin hämmert verzweifelt an eine verschlossene Tür und ruft mit vor Angst brüchiger Stimme ohne Unterlass den Namen seines Sohnes. Konrad selbst ist in dieser Szene nicht zu sehen, was den dramatischen Effekt
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noch weiter steigert und beim Zuschauer eigene Vorstellungen davon heraufbeschwört, wie er blutüberströmt im Badezimmer liegend von den Sanitätern aufgefunden wurde. Danach schwenkt die Kamera abrupt hinüber zu Beth, die beunruhigt fragt, was denn los sei? Das Blaulicht des Krankenwagens ist in einer Großaufnahme zu sehen, während Konrad, der komplett mit einer Decke zugedeckt ist und auf einer Bahre liegt, von den Sanitätern in das Innere des Wagens geschoben wird. Einer der Sanitäter kommentiert seinen Selbstmordversuch mit den Worten, dass er längs geschnitten und es wirklich ernst gemeint habe. Diese ergreifende Szene endet damit, dass eine entsetzt schauende und verloren wirkende Beth verzweifelt beide Hände vors Gesicht schlägt und der Zuschauer zum zweiten Mal die Großaufnahme des Blaulichts zu sehen bekommt. Konrads Suizidversuch ist nur auf dem Hintergrund seines psychologischen Profils und des fatalen Segelunfalls vollständig in seiner Komplexität zu beleuchten. Er ist die unbewusste Antwort eines emotional zutiefst erschütterten, aber sehr verantwortungsbewussten jungen Mannes auf sein eigenes Unvermögen, seinen Bruder vor dem Ertrinken zu bewahren. Als beide Brüder während eines Sturmes mit dem Segelboot ihres Vaters kenterten, gelang es Konrad, sich so lange an dem Bootswrack festzuklammern, bis er gerettet wurde. Er musste hilflos zusehen, wie Buck vor seinen Augen das rettende Bootswrack losließ und ertrank, während er selbst überlebte und seitdem innerlich von Schuldgefühlen zerfressen wird. Dieses Phänomen wird in der Literatur als »Überlebensschuld« (Lieb et al. 2012, S. 290) bezeichnet und stellt eine Sonderform der posttraumatischen Belastungsstörung (Dilling et al. 2014, F43.1) dar. Die Störung »entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis« (ebd.).
In Konrads Fall ist dieses belastende Ereignis der Unfalltod seines Bruders beim Segeln, den er machtlos miterleben musste. Bei diesem ungleichen Kampf mit seiner übermächtig wirkenden Überlebensschuld scheint er genauso mutterseelenallein zu sein wie zuvor im Wasser. Als er nach seinem Selbstmordversuch und anschließendem Psychiatrieaufenthalt wieder zu Hause bei seinen Eltern ist, erwartet seine Mutter, dass er nahtlos wieder in die Normalität zurückkehrt und sich so verhält, als wäre nichts passiert. Der traumatische Unfalltod des einen und der damit zusammenhängende Suizidversuch des anderen Sohnes werden von beiden Elternteilen totgeschwiegen, so dass Konrad mit seinem schlechten Gewissen ganz alleine dasteht. Diese extrem belastende Situation wird noch zusätzlich dadurch verschärft, dass Konrad seinen älteren Bruder aufrichtig geliebt hat. Er droht in Selbstvorwürfen zu ertrinken, weil er es versäumt hat, beim ersten Anzeichen eines Sturmes sofort beizudrehen. Die daraus entstandenen Schuldgefühle waren wohl so erdrückend groß, dass Konrad seinen Selbstmord als einzigen Ausweg sah, ihnen zu entkommen. Konrads Suizidversuch ist damit gleichzeitig ein verzweifelter Versuch, seine innere »Entmutigung« zum Ausdruck zu bringen (Adler 1928, S. 428). Er entlarvt die Sprachlosigkeit und die »Scheinwelt« seiner Eltern, weil er ein nach außen sichtbares Zeichen für die dysfunktionalen Muster innerhalb der Familie ist (Fiegl 2017, S. 21). Beth Jarrett ist nur darauf bedacht, den äußeren Anschein der Normalität zu wahren, und dabei erweist sich ein Sohn, der die Familientragödie zur Sprache bringen will, als äußerst störend, zumal er auch noch professionelle Hilfe in Anspruch nimmt. Durch das Einschalten des Psychiaters werden die innerfamiliären Schwierigkeiten nach außen getragen und somit aus der Versenkung ans Tageslicht gehoben. Für Beth scheint die Tatsache, dass Konrad professionelle Hilfe annimmt, einen unverzeihlichen Tabubruch darzustellen, weil dadurch die von ihr geschaffene heile Familienfassade als Kulisse entlarvt wird. Diese narzisstische Kränkung ist für die selbstverliebte Beth schwer zu verkraften. Sie reagiert mit zunehmender Ablehnung und Aggressivität. Im Gegensatz dazu scheint der Selbstmordversuch seines Sohnes Calvin Jarrett wachgerüttelt und ihm die Augen dafür geöffnet zu haben, dass Konrad nicht alleine mit seiner Trauer fertig wird und
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seine Hilfe braucht. Je mehr Calvin sich mit seinem Sohn auseinandersetzt, desto weniger scheint er bereit zu sein, weiter seine Augen vor der innerfamiliären Realität zu verschließen. Er erkennt langsam seinen eigenen Part in diesem Familiendrama des Schweigens und versucht mit seiner Frau gemeinsam, ihr Leben offener zu gestalten, was diese aber abblockt. Konrad hat dieses Theater zunächst mitgespielt und auch um jeden Preis versucht, den Schein zu wahren, was in seinem Selbstmordversuch gipfelte. Durch die therapeutische Aufarbeitung des traumatischen Segelunfalls gewinnt Konrad Schritt für Schritt jedoch seine emotionale Schwingungsfähigkeit und Ausdrucksfähigkeit zurück und traut sich mehr und mehr, er selbst zu sein. Abgesehen von seinem Psychiater und seinem Coach spricht er mit Janine zum ersten Mal detaillierter über seinen Suizidversuch. Als sie ihn fragt, ob es wehgetan habe, als er sich die Pulsadern aufgeschnitten habe, antwortet er ihr, dass sie die Erste sei, die ihn je danach gefragt habe. Er beschreibt sein Gefühl vor dem Selbstmord »als ein tiefes schwarzes Loch, was sich dann plötzlich in einem selbst befinde«. Damit stellt er sehr schlicht und eindrücklich die innere Leere und Hoffnungslosigkeit eines schwer depressiven Menschen dar. Während Janine aufrichtiges Interesse an Konrads Gefühlszustand und den Motiven für seinen Selbstmordversuch zu haben scheint, wirkt Konrads Schwimmcoach auf primitive Art und Weise sensationslüstern, als er ihn auf seinen Psychiatrieaufenthalt anspricht und ihn fragt, ob er Elektroschocks erhalten habe, was dieser bejaht. Damit wird auf eine Therapiemethode angespielt, die man als Elektrokrampftherapie (EKT) bezeichnet (Paulitsch und Karwautz 2008, S. 46 ff.). Diese Methode wurde und wird noch heute als Ultima Ratio bei schweren Depressionen eingesetzt, wenn andere Therapiemethoden versagen (ebd., S. 47). Als Konrad am Telefon erfährt, dass Karen
RR »sich das Leben genommen hat«, katapultiert ihn das mit einem Schlag in die letzten Momente vor Bucks Ertrinken. Dieser Augenblick stellt sowohl den Therapiedurchbruch für Konrad als auch den entscheidenden Wendepunkt für seine seelische Genesung dar. Seine Gefühle brechen geradezu aus ihm heraus, und seinem Therapeuten gelingt es, ihn emotional aufzufangen und seine lange unterdrückte Wut, Trauer und Verzweiflung auszuhalten. Endlich erfährt der Zuschauer, warum Konrad sich so schuldig am Tod seines Bruders fühlt: Zum Zeitpunkt des Unfalls war die See war sehr stürmisch. Buck sagte Konrad, er solle das Segel einholen, was er mit allen Kräften versuchte, aber nicht bewerkstelligen konnte, weil es klemmte. In diesem extrem emotionsgeladenen Moment wirkt es so, als würde Konrad mittels seines Psychiaters ein Zwiegespräch mit seinem verstorbenen Bruder halten. Es wird deutlich, dass er auch vor dem Unfall immer schon der Verantwortungsbewusstere von beiden war und sich deshalb solche Vorwürfe macht, nicht rechtzeitig auf das aufziehende Unwetter reagiert zu haben. In seinen Augen hat er nicht nur in seiner Rolle als der Vernünftigere von beiden Brüdern versagt, sondern dieses Versagen hat den Tod seines Bruders (mit‑)verursacht. Das scheint die tiefliegende Ursache von Konrads massivem Selbsthass zu sein. Auch Beth Jarrett scheint Konrad für Bucks Tod verantwortlich zu machen. Es wirkt so, als wolle sie ihn durch Liebesentzug für den Segelunfall bestrafen. Konrad nimmt die unterschwelligen Aggressionen seiner Mutter feinfühlig wahr und versucht, offen mit ihr darüber zu sprechen, was sie aber nicht zulässt. Sein Selbstmordversuch hat die immer tiefer werdenden Risse in der Ehe seiner Eltern zum Vorschein gebracht. Während sich sein Vater zunehmend Vorwürfe macht, weil er sich vor dem Suizidversuch seines jüngeren Sohnes nie um diesen gesorgt hat, wirkt seine Mutter ihm gegenüber wie emotional erstarrt. Konrad selbst bestätigt seinem Vater in der letzten Filmszene, dass vor seinem Suizidversuch nicht viele Signale gegeben hat und dieser es nicht hätte verhindern können. Die stereotypen männlichen und weiblichen Rollenbilder werden vom Vater, der sich massiv um seinen Sohn sorgt, und der Mutter, die stur und unkommunikativ alle Konflikte in ihrer Familie totschweigt und dadurch einen Heilungsprozess verhindert, auf den Kopf gestellt (. Abb. 22.3).
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..Abb. 22.3 Der Wendepunkt in Konrads Therapie. (© Paramount Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Gestärkt durch die Therapie und die gesunde Beziehung zu Janine lernt Konrad, im übertragenen Sinne, seiner eigenen Stimme zu vertrauen und sie, wenn nötig, zu erheben. Janine ist offen und ehrlich und nennt die Dinge beim Namen, was genau der weibliche Gegenentwurf zu Konrads Mutter ist. Sie versucht nicht, unangenehme Wahrheiten wie Konrads Suizidversuch unter den Teppich zu kehren, sondern spricht ihn mutig darauf an. Schrittweise gelingt es Konrad, sich aus dem dysfunktionalen Bindungsmuster seiner Eltern zu lösen und eigene Entscheidungen zu treffen, auch wenn diese nach außen hin unpopulär sind. Das macht er beispielsweise, als er endlich auf sein eigenes Bedürfnis hört, das Schwimmtraining zu beenden. Selbst als sein Coach ihm droht, er werde ihn nie wieder ins Training nehmen, steht er zu seiner Entscheidung und knickt nicht ein. Sein Vater macht eine ähnliche Entwicklung durch. Ihn scheint der Selbstmordversuch seines Sohnes in Bezug auf die Persönlichkeit seiner Ehefrau wachgerüttelt zu haben, und er erkennt mit der Unterstützung des Psychiaters, dass er mit ihr eine Lebenslüge gelebt hat. In der Therapie gesteht Calvin Dr. Berger, dass es
RR »reines Glück« gewesen sei, dass er zu Hause war und Konrad nach seinem Suizidversuch rechtzeitig gefunden habe. Er versucht mehrfach, die Mauer der Sprachlosigkeit, die Beth um ihr Gefühlsleben errichtet hat, zu durchbrechen und mit ihr über Bucks Tod zu sprechen. Sie kann das aber bis zum Ende des Films nicht zulassen und klammert sich stattdessen an ihre Kulisse einer heilen Familie. Konrad scheint für sie ein Störfaktor zu sein, der mit seiner zunehmenden Entwicklung ihre Familienidylle immer mehr als Scheinwelt entlarvt. Das scheint so unverzeihlich für sie zu sein, dass sie sich noch nicht einmal von ihm verabschiedet, bevor sie ihre Familie für immer verlässt (. Abb. 22.4).
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..Abb. 22.4 Konrad kann wieder lachen. (© Paramount Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Im Gegensatz dazu treffen Vater und Sohn einander auf einer neuen Beziehungsebene der Offenheit und klaren Worte. Beide sind am Ende des Films dazu in der Lage, den jeweils anderen mit all seinen Facetten wahrzunehmen, ohne sich dabei gegenseitig etwas vorzuspielen. In dieser neuen Welt der aufgeklärten und reifen Bindung hat Beth mit ihrer Tendenz zur Verdeckung und Spaltung keinen Platz mehr, und als würde sie das spüren, räumt sie wortlos das Feld. Abgesehen von der gewachsenen Vater-Sohn-Beziehung zeigt sich Konrads zunehmende Bindungsfähigkeit am deutlichsten in seiner Beziehung zu Janine. Mit ihr kann er offen über seine Gefühle sprechen, ohne zu befürchten, dass sie ihm das übel nimmt. Wie Konrad ist sie sensibel und tiefgründig, zusätzlich noch offen und lebensfroh. Gestärkt durch diese heilsame Bindung kann Konrad sich dem Leben stellen, wie es ist. Da er sich zunächst sowohl für Karen als auch für Janine interessiert hat, wirkt es in der Retroperspektive so, als hätte er sich nicht nur zwischen den beiden Mädchen entschieden, sondern als hätte er sich mit seiner Entscheidung, mit Janine eine Beziehung einzugehen, gleichzeitig auch endgültig für das Leben und gegen den Tod entschieden.
Literatur Adler A (1928) Neurotisches Rollenspiel. Int Zeitschrift Für Individ 6(1):427–432 Adler A (2008) Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie. Kommentierte textkritische Ausgabe. Hg v A Bruder-Bezzel, 2. Aufl. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Brunner R, Titze M (Hrsg) (1995) Wörterbuch der Individualpsychologie, 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (Hrsg) (2014) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10, 9. Aufl. Huber, Bern
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Fiegl J (2017) Bitte verzeih und zeige mir Deine Liebe! »Eine ganz normale Familie«. In: Poltrum M, Rieken B (Hrsg) Seelenkenner, Psychoschurken. Psychotherapeuten und Psychiater in Film und Serie. Springer, Berlin, S 17–30 Klages W (1978) Der sensible Mensch. Psychologie, Psychopathologie, Therapie. Ferdinand Enke, Stuttgart Lieb K, Frauenknecht S, Brunnhuber S (2012) Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie, 7. Aufl. Elsevier, München Paulitsch K, Karwautz A (2008) Grundlagen der Psychiatrie. Facultas, Wien Rieken B (2006) »Die ganze Welt ist eine Bühne«. Kulturgeschichtliche und anthropologische Einflüsse auf Adlers Nervösen Charakter. Zeitschrift Für Individ 31:192–209 Rieken B (2011) Das Minderwertigkeitsgefühl und seine Kompensation; Wirk- und Zielursache; Fiktionalismus. In: Rieken B, Sindelar B, Stephenson T (Hrsg) Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis. Psychotherapie, Pädagogik, Gesellschaft. Springer, Wien, New York
Originaltitel
Ordinary People; deutscher Titel: Eine ganz normale Familie
Erscheinungsjahr
1980
Land
USA
Drehbuch
Alvin Sargent Basierend auf einem Roman von Judith Guest
Regie
Robert Redford
Hauptdarsteller
Timothy Hutton, Mary Tyler Moore, Donald Sutherland, Judd Hirsch
Verfügbarkeit
Als DVD erhältlich
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Brigitte Sindelar
Die Schande des Unvermögens Die Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Sexualität ist mehr als eine sexuelle Angelegenheit . . . . . 336 Der Analphabetismus und seine fatalen Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 342 Die Gefahren des Gehorsams für die Menschlichkeit . . . . 343 Mehr als Sex und Vorlesen: Die Fiktion der Liebesbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Die Flucht vor der Schande der Minderwertigkeit . . . . . . 344 Der Prozess bringt die Wahrheit ans Licht – aber nur für Eingeweihte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Die Flucht vor der noch größeren Schande in den Suizid . . 346 Ein Versuch zur Wiedergutmachung: Hannas Erbe . . . . . . 348 Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_23
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Filmplakat Der Vorleser. (© Senator Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Der Vorleser (2008) Brigitte Sindelar
Die Handlung Der mit dem Buch von Bernhard Schlink (1995) wortgleiche Filmtitel »Der Vorleser« verweist auf einen Protagonisten, den Anwalt Michael Berg, dem die Zuschauer im Jahr 1995 in Berlin begegnen, als er für seine Geliebte ein Frühstücksei bereitet. Tatsächlich wird die Handlung, in der sich die drei Themen des Analphabetismus, der Sexualität zwischen einem Jugendlichen und einer erwachsenen Frau und des Holocaust verweben und verdichten, von zwei Protagonisten getragen, vom Vorleser Michael Berg (David Kross, Ralph Fiennes) und von Hanna Schmitz (Kate Winslet), der Analphabetin und ehemaligen KZ-Aufseherin in Auschwitz (. Abb. 23.1, Filmplakat). Die beiden begegnen einander im Jahr 1958, er damals 15, sie 36, als er durch die Symptome der ausbrechenden Scharlacherkrankung hilflos und beschmutzt von seinem Erbrochenen in der Hauseinfahrt zu ihrer Wohnung kauert. Hanna hilft ihm, reinigt ihn und begleitet ihn nach Hause, wohin er in seinem geschwächten Zustand alleine nicht gekommen wäre. Nach seiner Genesung besucht Michael Hanna mit einem Blumenstrauß, zum Dank für ihre Hilfe. Beginnend mit einem Bad in ihrer Badewanne verführt Hanna ihn, es entwickelt sich eine sexuelle Beziehung zwischen den beiden, in der sie durch ihre sexuelle Erfahrenheit dominiert. Hanna, die Straßenbahnschaffnerin, fragt den Gymnasiasten Michael nach Inhalten seines Schulunterrichts und bittet ihn, ihr aus seinen Schulbüchern vorzulesen. Daraus entwickelt sie ein Ritual von Vorlesen und sexueller Begegnung. Die Beziehung entfernt Michael von seinen Gleichaltrigen und seiner Familie. Nach einigen Wochen verschwindet Hanna plötzlich und ohne Spuren zu hinterlassen, nachdem ihr eine Beförderung von der Straßenbahnschaffnerin zur Büroangestellten in Aussicht gestellt wurde. Michael trifft sie wieder, als er im Rahmen seines Jusstudiums einem Gerichtsprozess beiwohnt, in dem Hanna und weitere vier ehemalige Aufseherinnen des Frauenlagers im KZ Ausschwitz des Mordes angeklagt sind. Ausgelöst wird der Prozess durch ein Buch, von einer Frau geschrieben, die als Kind mit ihrer Mutter in Ausschwitz interniert war und mit ihrer Mutter als einzige von 300 Frauen den Brand einer Kirche überlebte, in der die Frauen von Hanna und ihren Kolleginnen eingesperrt waren und nicht herausgelassen wurden, als die Kirche brannte. Über diesen Vorfall existiert ein handschriftlich verfasster, inhaltlich gefälschter Bericht einer der Aufseherinnen. Als Hanna zum Beweis ihrer Unschuld an dem verfälschenden Bericht eine Probe ihrer Handschrift vor dem Richter abgeben soll, diese aber verweigert und sich für das Verfassen dieses Berichts schuldig bekennt, wird Michael klar, dass Hanna Analphabetin ist. Hanna wird zu lebenslänglicher Haft verurteilt, die anderen ehemaligen Aufseherinnen kommen mit geringen Haftstrafen davon. Nachdem Michaels Ehe, der eine Tochter entstammt, geschieden wurde, bezieht er eine neue Wohnung. Beim Auspacken der Übersiedlungskisten fallen ihm die Bücher, die er als Jugendlicher Hanna vorgelesen hatte, in die Hand. Er beginnt, diese Bücher auf Audiokassetten vorzulesen. Die besprochenen Kassetten und einen Kassettenrekorder schickt er Hanna ins Gefängnis. Hanna beginnt nach einer Weile, in der sie die Kassetten anhört, sich die dazugehörigen Bücher aus der Gefängnisbibliothek auszuborgen und bringt sich autodidaktisch das Lesen und Schreiben bei. Michael erfährt davon durch kleine Briefe, die sie ihm aus dem Gefängnis schickt, antwortet ihr aber nie. Nach zwanzig Jahren und sehr guter Führung soll Hanna aus der Haft entlassen werden. Darauf angesprochen durch die Sozialarbeiterin des Gefängnisses bereitet Michael für Hanna nach ihrer Entlassung eine Wohnung und eine Arbeit in einer Schneiderei vor. Kurz vor ihrer Entlassung besucht er
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sie im Gefängnis und berichtet ihr über seine Vorbereitungen für sie. In der Nacht vor ihrer Entlassung erhängt sich Hanna in ihrer Zelle. Hanna hinterlässt einen Brief, in dem sie Michael bittet, ihr Erspartes der Buchautorin zu übergeben, gemeinsam mit einer verzierten Teedose, in der sie als Kind ihre Schätze aufbewahrte. Michael reist nach New York, wo die Buchautorin lebt, um diesen Auftrag zu erfüllen. Sie nimmt nicht das Geld, aber die Teedose an. Der Film endet damit, dass Michael seine Tochter zum Grab Hannas führt. Seine Tochter wusste bislang nichts von Hanna und der Geschichte ihres Vaters mit ihr. An Hannas Grab beginnt Michael, seiner Tochter zu erzählen.
Sexualität ist mehr als eine sexuelle Angelegenheit Der Film beginnt im Jahr 1995 mit einer Szene von distanzierter Erotik: Die nackte Geliebte, der korrekt gekleidete Anwalt, der in dieser Situation offenbar keine Augen für den schönen Körper der Frau hat. Schon in dieser ersten Szene erfährt der Zuschauer viel über die Persönlichkeit des Michael Berg: Er bereitet zwar für seine Geliebte ein Frühstücksei zu, was an sich eine liebevolle Handlung der Versorgung ist, sie ist nackt, was körperliche Nähe zwischen den beiden signalisiert – dennoch wirkt die Szene zwischen den beiden distanziert. Das spricht sie auch an, er rechtfertigt sich durch den Hinweis, dass er doch für sie Frühstück vorbereitet und dies das Zeichen sei, dass er ihre Anwesenheit nicht ablehne. Sie bringt seine Art, Liebesbeziehungen zu gestalten, auf den Punkt:
RR »Kam das je vor, dass eine Frau lang genug bei dir bleibt, um herauszufinden, was in deinem Kopf vorgeht?« Nähe und Vertrautheit sind offensichtlich nicht das, was seine Liebesbeziehungen auszeichnet. Ein kleiner Hinweis darauf, dass Michael Berg nicht vollkommen beziehungsunfähig ist, ist seine Mitteilung, dass er am Abend seine Tochter Julia treffen würde. Dass seine Geliebte bis jetzt nichts von der Existenz dieser Tochter wusste, illustriert, wie wenig Michael Berg über sich preisgibt. Und doch scheint seine Tochter, von deren Mutter er geschieden wurde, als sie etwa fünf Jahre alt war, seine engste Bezugsperson zu sein, da er ihr eingesteht:
RR »Ich war nicht immer offen – ich bin zu niemandem wirklich offen.« Auch wenn Michael Berg der Protagonist ist, der im Titel des Filmes angesprochen wird, so ist der Kern des Filmes eine dichte Verwobenheit seiner Lebensgeschichte mit der Lebensgeschichte der Hanna Schmitz, deren Eintritt in sein Leben der Rückblick auf das Jahr 1958 zeigt. Auf seinem Weg nach Hause von Krankheitssymptomen der Kinderkrankheit Scharlach überfallen, ist der 15-jährige Michael in einem hilflosen und hilfsbedürftigen Zustand. Auf ihrer Heimkehr von ihrer Arbeit zu ihrer Wohnung findet die erwachsene Frau Hanna Schmitz, deren Alter erst viel später im Film konkretisiert wird, in der Hauseinfahrt den jugendlichen Michael vor, der, von Übelkeit erfasst, erbricht und geschwächt auf einem Mauervorsprung hockt. Die Szene spielt in strömendem Regen, und Wasser bleibt ein wesentliches Element in der Beziehung zwischen den beiden. Die Kinderkrankheit hat den 15-jährigen Michael getroffen, also in einem Alter, das nicht das typische Manifestationsalter einer Kinderkrankheit ist, da Scharlach am häufigsten im Alter zwischen drei und zwölf Jahren auftritt. Michael ist aber bereits 15, die Scharlacherkrankung betont also seine Kindlichkeit. Hanna reinigt die Hauseinfahrt von seinem Erbrochenen und in einer unangemessen übergriffigen Form auch sein Gesicht. Schon in der ersten Szene ihrer Begegnung zeigt sich Hannas mangelnde körperliche Distanz zu Michael, die abgespalten wirkt und im Kontrast zu ihrem emotional distanzierten Verhalten steht. Wesentliche Elemente der Beziehung zwischen den beiden sind damit schon zu Beginn ihrer Begegnung markiert: Hanna ist
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..Abb. 23.2 Hanna ist eine tüchtige, korrekte und pflichtbewusste Straßenbahnschaffnerin. (© Senator Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Michael körperlich überlegen, überschreitet ohne zu zögern die Grenzen der körperlichen Distanz. Und ihr ist Ordnung und Sauberkeit wichtig, denn sie kümmert sich zuerst um die Sauberkeit der Hauseinfahrt. Sie ist aber dann sehr wohl hilfsbereit und hilfreich für Michael, als er offensichtlich zu schwach ist, um ohne Hilfe seinen Weg nach Hause zu bewältigen. Hanna stützt und führt ihn bis in die Nähe der Wohnung der Familie Berg. Die letzte Strecke vor dem Erreichen der Wohnung möchte Michael allein zurücklegen und verbirgt damit seine Bekanntschaft mit Hanna vor seiner Familie. Die Scharlacherkrankung, zu der Zeit noch eine schwere Erkrankung, derentwegen viele Kinder hospitalisiert wurden, fesselt Michael mehrere Wochen ans Bett. Als er beinahe schon genesen ist, erzählt er seiner Mutter, dass ihm in der ersten akuten Phase seiner Erkrankung eine Frau auf dem Weg nach Hause geholfen und ihn nach Hause gebracht hat. Entsprechend den sozialen Umgangsformen der gutbürgerlichen Familie, der Michael offensichtlich angehört, fordert ihn die Mutter auf, diese unbekannte Frau aufzusuchen und sich bei ihr mit einem Blumenstrauß zu bedanken. Die Bilder seines Weges dorthin zeigen auf, dass Hanna einer anderen sozialen Schicht angehört als Michael: Die Wohngegend wirkt schäbig, die Menschen, die zu sehen sind, grobschlächtig und derb. Der junge Michael ist ein Fremder in dieser Welt, in der ihm Hanna die Tür zur Sexualität öffnen wird, die für ihn zu dem Zeitpunkt aber noch ein unbekanntes Land ist. Michael findet die Wohnung Hannas und beobachtet sie dabei, wie sie ihre Unterwäsche bügelt. Als sie die Unterwäsche anzieht, ist Michael von dieser seiner Begegnung mit der Erotik derart erschreckt, dass er davonläuft. Wieder ist Hanna die Überlegene, obwohl ihre Lebensumstände, illustriert durch die einfachen Wohnverhältnisse in einer schäbigen Wohnung, die aber über den ungewöhnlichen Luxus einer Badewanne verfügt, ihre soziale Unterlegenheit klarstellen. Michael wagt es dann doch, sich ihr in einem zweiten Anlauf zu nähern und ihr den Blumenstrauß zu überreichen. Wiederum spielt sie ihre Überlegenheit aus, indem sie den Blumenstrauß nicht annimmt, sondern Michael auffordert, ihn
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in die Spüle zu legen. Obwohl Hanna dem »Jungchen«, wie sie ihn nennt, abweisend begegnet, fühlt er sich von ihr angezogen. Der jugendliche Michael ist ihrer erotischen Anziehungskraft, ihrer Verführung ausgeliefert und zugleich von ihrer emotionalen Kälte verängstigt. Hanna ist Straßenbahnschaffnerin (. Abb. 23.2). In diesem Beruf bewährt sie sich, denn ihre Aufgabe ist die Kontrolle, und darin ist sie besonders kompetent, wie sich auch in ihrer perfekt korrekten Kleidung in der Uniform der Straßenbahnschaffnerin und in ihrer zwar schäbigen, aber penibel aufgeräumten Wohnung ausdrückt. Offensichtlich hat sie die Folgsamkeit und das Pflichtbewussten gründlich gelernt und ihr Leben danach ausgerichtet. Nur die Badewanne in der Küche irritiert dieses Gesamtbild der Ordentlichkeit, denn das lustvolle Körpergefühl, die Sinnlichkeit des Erlebnisses, im warmen Wasser zu liegen, lässt sich auch durch die Rechtfertigung der Sauberkeit nicht vollkommen verleugnen. Und genau diese Badewanne ist es auch, die ihren »unordentlichen« Emotionen, ihren Trieben Raum gibt, beginnend aber mit eben dieser Rechtfertigung der Sauberkeit, die die sexuelle Beziehung zu Michael einleitet: Michael wartet auf Hanna im Stiegenhaus, die von ihrer Arbeit als Straßenbahnschaffnerin nach Hause kommt. Ohne auch nur einen Ansatz einer freundlichen Begrüßung oder auch nur der Überraschung über seine Anwesenheit schickt sie ihn zuerst einmal in den Kohlenkeller, wo er sich beim Einschaufeln der Kohle in die Eimer besonders ungeschickt anstellt. Offensichtlich ist er, Kind einer gutbürgerlichen Familie, in solchen Arbeiten nicht geübt. Mit vom Kohlenstaub geschwärztem Gesicht und verstaubter Kleidung bringt er die mit Kohle gefüllten Eimer zu Hanna, die, ohne ihm für seine Hilfe zu danken, feststellt, dass er ein Bad braucht. Ihre Bestimmtheit lässt Widerspruch dagegen, in Hannas Badewanne ein Bad zu nehmen, gar nicht aufkommen, und das unausgesprochene, aber fühlbare erotische Versprechen vernichtet auch jeden Ansatz dazu. Körperliche Begegnung ist für Hanna offensichtlich durch das Gebot der Sauberkeit legitimiert. Unnahbar, überheblich, mimisch arm und scheinbar emotionslos öffnet sie dem jungen Michael die Tür in eine Welt der sexuellen Leidenschaft, in der wiederum sie dominiert. Als sie ihm ein Badetuch reicht, wird ihr Begehren klar: Nackt umfängt sie Michael von hinten mit dem Badetuch. Mit einer Hand legt sie ihm das Badetuch um die Schultern – wohin sie mit ihrer anderen Hand an der Vorderseite seines Körpers greift, kann der Zuschauer vermuten. Hanna leitet Michaels erstes Koituserlebnis mit einer Handlung der Reinigung, Säuberung und Körperpflege ein. Der sogenannte Pflegemissbrauch, bei dem unter dem Mantel der Körperpflege sexuelle Handlungen an einem Kind oder auch Jugendlichen begangen werden, ist die Form des sexuellen Missbrauchs, der immer im Bereich der Dunkelziffer bleiben wird und nie in realistischen Zahlen in der Häufigkeitsstatistik aufscheinen wird. Hannas Verführung des jugendlichen Michael macht durch sein erwachendes sexuelles Begehren aus einem Pflegemissbrauch eine zwar aus der Sicht der gesellschaftlichen Normen verbotene sexuelle Beziehung, die aber auch nach der aktuellen Gesetzeslage in der BRD zum sexuellen Missbrauch von Jugendlichen nicht zu einer Strafverfolgung führen würde, würde sie angezeigt. Denn »das Gericht [kann] von Strafe nach diesen Vorschriften absehen, wenn bei Berücksichtigung des Verhaltens der Person, gegen die sich die Tat richtet, das Unrecht der Tat gering ist.« (Strafgesetzbuch der BRD, § 182(6) Sexueller Missbrauch von Jugendlichen). Auch in Österreich wäre die Strafverfolgung Hannas wegen sexuellen Missbrauchs eines Jugendlichen nach § 207b. (1) StGB rechtlich unter der Formulierung zu sehen, dass nur zu bestrafen ist, wer »an einer Person, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat und aus bestimmten Gründen noch nicht reif genug ist, die Bedeutung des Vorgangs einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, unter Ausnützung dieser mangelnden Reife sowie seiner altersbedingten Überlegenheit eine geschlechtliche Handlung vornimmt« (§ 207b. (1) StGB). Ist der 15jährige Michael, der an der Kinderkrankheit Scharlach erkrankte, die zwar selten, aber doch auch Erwachsene treffen kann, noch nicht reif genug? Kann er die Bedeutung dieses »Vorgangs« einsehen? Fest steht jedenfalls, dass Hanna ihm altersbedingt überlegen ist und dies ausnützt. Hanna ist in Michaels erster sexueller Beziehung die Lehrerin, er der Schüler, wie die Szene während des Koitus, in der er sie fragt
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RR »Ist es richtig so?«, zeigt und sie ihm Anweisung gibt. Aber sie bleibt emotional distanziert. Erst bei ihrer dritten Begegnung fragt er sie nach ihrem Namen. Und obwohl sie danach auch seinen Namen erfragt, nennt sie ihn weiterhin »Jungchen« (. Abb. 23.3). Die erste emotionale Regung Hannas wird sichtbar, als er ihr von seiner langen Bettruhe während der Scharlacherkrankung erzählt und meint, dass er »nicht mal etwas zu lesen« hatte. Nun wird sie aufmerksam und beginnt sich nicht für ihn, aber für einen bestimmten Bereich seines Schulunterrichts zu interessieren:
RR »Lernst du da auch Sprachen?« Als er dann Horaz zitiert und dann die ersten Zeilen des ersten Gesanges aus der Odyssee in Altgriechisch aufsagt, verändert sich ihre Mimik zu einem beglückten, kindlich anmutenden, seligen Ausdruck, den sie während ihres Beischlafs nie zeigt. Michael hat den Weg zu ihrer Lust gefunden. Das Lesen ist der Bereich, der ihr nicht zugänglich ist, in dem aber Michael kompetent ist. Dass seine Darstellung seiner Bildung mit Odysseus, dem Helden der griechischen Antike, beginnt, markiert umso deutlicher, dass seine Bildung und vor allem seine Lesefertigkeit das ist, was er in die Beziehung als Stärke einbringt. Nun kommt es zu einer Komplementarität ihrer Stärken und Schwächen: Er ist sexuell unerfahren, aber kann lesen; sie ist sexuell erfahren, kann aber nicht lesen, wobei sie um seine Schwäche weiß, aber ihre vor ihm geschickt, wie es die meisten Analphabeten tun, verbirgt. Ihr Interesse an seiner Welt erweitert sich nun, verlässt aber nur marginal die Grenzen dessen, was für sie brauchbar und nützlich ist. Und dennoch gibt sie dem »Jungchen« mehr als sexuelle Befriedigung, sie nährt auch seinen Selbstwert:
RR »Du kannst das gut, habe ich recht?« Michael muss nachfragen, da lesen zu können für ihn eine Selbstverständlichkeit ist:
RR »Was kann ich gut?« Hanna:
RR »Vorlesen«. Michael gesteht in seiner Antwort seine Minderwertigkeitsgefühle ein:
RR »Ich dachte, dass ich gar nichts gut kann«. Damit hat Hanna ihm aus der Perspektive ihres eigenen Minderwertigkeitsgefühls das gegeben, was ihm zu einer Steigerung seines Selbstwerts nützlich ist, sie hat ihn ermutigt. Das Erkennen, auch etwas gut zu können, wirkt sich für ihn auch auf andere Lebensbereiche aus und stärkt seine soziale Position in der Gruppe der Gleichaltrigen, wie die Folgeszene, in der er für seine Handballmannschaft ein Tor erzielen kann, aufzeigt. Damit sind die beiden in einer Form der Beziehung angelangt, zu der sich eine individualpsychologische Perspektive aufdrängt, die zugleich eine dichte Vernetzung mit der psychoanalytischen Theorie zulässt: In der individualpsychologischen Theorie Alfred Adlers (1870–1937) wird das »Minderwertigkeitsgefühl« im positiven Aspekt als die Kraft verstanden, die die Persönlichkeitsentwicklung vorantreibt, da der Mensch nach dessen Überwindung strebt; in der psychoanalytischen Theorie Sigmund
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..Abb. 23.3 Hanna ist Michaels Lehrerin in der Welt der Sexualität. (© Senator Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Freuds (1856–1939) ist es die Libido, die das Verhalten des Menschen auf Befriedigung ausrichtet. Die Gemeinsamkeit ist ein Gefühl der Unzufriedenheit, die dazu führt, dass »ein ähnliches Ziel verfolgt [wird], indem das Drängende nach Befriedigung sucht: entweder Abfuhr der Libido mithilfe geeigneter Objekte oder Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls durch den Aggressionstrieb bzw. das Geltungsstreben« (Rieken 2011, S. 58).
Michael bringt zu den Treffen mit Hanna die Literatur mit, die er im Unterricht zu bearbeiten hat, was seinem Schulerfolg zugutekommt, weil Hannas naives Nachfragen zu den Inhalten der Texte ihm den Anlass gibt, sich mit den Texten näher auseinanderzusetzen. Ein – wenn auch fragiles – Gleichgewicht zwischen Hanna und Michael ist die Folge. Dies wird gestört, als Michael von Hanna Interesse an seiner Person erwartet, auch als Ausgleich dafür, dass er für das Zusammentreffen mit ihr das Opfer bringt, zu lügen und damit das idealisierte Bild, das seine Mutter von ihm hat, zu enttäuschen: Die Mutter verteidigt ihn mit den Worten:
RR »Michael lügt nie!«, als ihm sein Vater und seine Geschwister seine Ausrede dafür, warum er zum Essen mit der Familie zu spät kommt, nicht abnehmen. Zu dem Zeitpunkt ist die Überwältigung des jugendlichen Michael durch die Begegnung mit der Sexualität aber so groß, dass er diesen Gewissenskonflikt in Kauf nimmt. Als er sich aber von der Gruppe seiner Freunde zurückzieht und diese sogar zurückzuweist, indem er, statt zur Überraschungsparty zu gehen, die sie zu seinem Geburtstag vorbereitet haben, zu Hanna, die
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ihn erwartet, läuft, von ihr aber sehr kühl empfangen wird, wird ihm kränkend klar, dass sie seinen Geburtstag gar nicht weiß, sie ihn nie danach gefragt hat. Seine Freunde aber haben seinen Geburtstag nicht vergessen. Hanna ist an der für die Bewältigung der Lebensaufgaben bedeutende Entwicklungsaufgabe, die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens zu lernen, gescheitert. Wie zerbrechlich und verletzlich Hannas Selbstwert durch ihr Minderwertigkeitsgefühl geworden ist, wird erstmals offensichtlich, als sie sich durch Michael, der den zweiten Straßenbahnwaggon besteigt, obwohl sie im ersten Waggon als Schaffnerin Dienst macht, und dann auch noch während der Fahrt ein Buch liest, so gekränkt fühlt, dass sie ihn wegschickt. Verzweiflung löst sie in ihm aus, als sie auf seine Beteuerung, dass er sie nicht kränken wollte, antwortet:
RR »Du bedeutest mir nicht genug, um mich zu kränken«. Trotz dieser Kränkung kommt Michael wieder, weil er von dem Gefühl erfasst ist, ohne sie nicht leben zu können. Indem sie ihr Verlangen nach Zugang zu Literatur vor seine sexuellen Wünsche stellt, ja sie die Erfüllung ihres Wunsches bald zur Vorbedingung für den sexuellen Akt macht, stellt Hanna das Machtverhältnis ihrer Überlegenheit über Michael wieder her:
RR »Zuerst liest du mir vor, danach lieben wir uns«. Bereits in den Anfängen der Individualpsychologie formulierte Ruth Künkel, dass nicht das sexuelle Begehren alleine, sondern das Streben zur Überwindung der Schwäche der Motor des Verhaltens auch in der Sexualität ist und diese gestaltet (Künkel 1926). Hanna bestätigt sie: Sie, die nicht lesen kann, die unter einem Analphabetismus, also unter der Extremform der Lese- und Rechtschreibschwäche leidet, übernimmt mit diesem Diktat die Macht über Michael, der lesen kann. Ihre sexuelle Beziehung zu Michael offenbart »Sexualität als Ausdrucksform der Persönlichkeit in ihrer sozialen Bezogenheit« (Sindelar 2011a, S. 168).
Der Persönlichkeitszug, den Hanna hier offenbart, ist ihr Streben nach Macht, das die Überwindung des Minderwertigkeitsgefühls zum Ziel hat (Adler 2007, 2008). Sie setzt dazu ihre sexuelle Erfahrenheit ein, denn »[S]exuelle Begegnungen können Minderwertigkeitsgefühle und Misserfolgserlebnisse beeinflussen, indem sie sie durch das Erleben der eigenen erotischen Attraktivität ausgleichen« (Sindelar 2011a, S. 173).
Michaels »Schwäche« der sexuellen Unerfahrenheit unterscheidet sich allerdings grundlegend von Hannas Schwäche des Analphabetismus. Von einem Jugendlichen im Alter von 15 Jahren war weder damals noch ist heute sexuelle Kompetenz zu erwarten, seine Schwäche ist sozusagen physiologisch, so wie es keine Schwäche eines Säuglings ist, dass er nicht laufen oder sprechen kann. Seine Schwäche ist also Teil einer gesunden Entwicklung. Hannas Schwäche dagegen ist pathologisch, da von einem erwachsenen Menschen erwartet wird, dass er, sofern er beschult wurde, zumindest über Grundkenntnisse des Lesens und Schreibens verfügt. Ihre Schwäche wäre in den Klassifikationssystemen psychischer Störungen kodierbar, Michaels Schwäche dagegen nicht. Michaels zentrale Entwicklungsaufgaben in der Lebensphase der Adoleszenz, die umgangssprachlich als Pubertät bezeichnet wird, sind die Entwicklung von Identifikation, Identität und Intimität
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(Friedrich 2005; Sindelar 2014a). Die Beziehung zu Hanna unterstützt ihn bei der Entwicklung seiner sexuellen Intimität. Seine ersten Begegnungen mit der Welt der Sexualität sind aufregend, leidenschaftlich und einsam. Wie der Beginn des Filmes zeigt, bleiben sie auch so.
Der Analphabetismus und seine fatalen Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung Wie wir später im Film erfahren, wurde Hanna am 21. Oktober 1922 geboren. Sie wurde also mit dem Schuljahr 1929/30 schulpflichtig. Bereits um 1900 wurde das Phänomen bekannt, dass in ihren intellektuellen Fähigkeiten ansonsten unauffällige Kinder nicht imstande sind, mithilfe der üblichen Beschulung das Lesen und Schreiben im ausreichenden Maß zu erlernen. Parallel dazu entwickelte sich international eine umfangreiche empirische psychologische Grundlagenforschung zum Leseprozess, getragen von der kognitiven Psychologie. Jenseits dieses wissenschaftlichen Feldes der Neurologie und der experimentellen Psychologie wurde die Fertigkeit im Lesen und Schreiben nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der angewandten Pädagogik des Schulunterrichts als Gradmesser für die intellektuellen Fähigkeiten eines Menschen verstanden, was sich, ungeachtet der Vielzahl der Forschungsarbeiten mit anderen Ergebnissen bis ins 21. Jahrhundert gehalten hat und bis heute noch immer nicht einmal aus den Privatlogiken praktizierender Pädagog_innen gänzlich verschwunden ist, geschweige denn aus dem Verständnis der Gesellschaft, besonders in bildungsfernen Gruppierungen. Marion Monroes umfangreiche empirische Untersuchung an über 400 Kindern zur Leseschwäche und deren Behandelbarkeit wurde 1932 publiziert, also in dem Jahr, in dem Hanna ihr drittes Schuljahr absolvierte (Monroe 1932). Zwar erfahren wir im Film nichts über Hannas Schulzeit, doch ist es keine realitätsferne Annahme, davon auszugehen, dass ihr, die sie das Lesen nicht erlernte, damit auch die Dummheit zugeschrieben wurde. (Dass diese fälschliche Zuschreibung eine bemerkenswerte Überlebensdauer hat, bildet sich schon allein darin ab, dass eine populärwissenschaftliche Basisinformation zur Lese-Rechtschreibschwäche und deren Zusammenhang mit Teilleistungsschwächen für Eltern und Lehrer_innen unter dem Titel: »Mein Kind ist doch nicht dumm!« 2000 publiziert wurde und seither mehrmals neu aufgelegt wurde (Sindelar 2000).) Hanna wächst also in der Situation auf, als zumindest normal intelligentes Kind an einem partiellen, für sie unüberwindbaren Entwicklungsdefizit zu leiden, das ihre berufliche Karriere massiv behindert. Mittlerweile hat die Legasthenie eine Entwicklungsgeschichte erfahren, die sie in den Status der »neuen Kinderkrankheit« erhoben hat (Sindelar 2006) und in der die massiv beeinträchtigenden Auswirkungen dieser partiellen Unfähigkeit auf die Persönlichkeitsentwicklung in all ihren Dimensionen umfangreich erforscht und beschrieben ist (Sindelar 2011b). Bereits 1964 – Hanna war damals 42 Jahre alt – prägte der deutsche Kinderpsychiater Reinhard Lempp den Begriff der »sekundären Neurotisierung«, unter dem er diese Auswirkungen zusammenfasst (Lempp 1964). Mittlerweile ist durch empirische Forschungsarbeiten fundiert, dass die Persönlichkeitsentwicklung, wie Adler es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts postulierte (Adler 2008), nur aus dem Zusammenwirken von kognitiver, emotionaler und sozialer Entwicklung zu verstehen ist (Sindelar 2014b), und ebenso, dass Umwelteinflüsse determinieren, in welchem Ausmaß und in welcher Form die genetische Ausstattung ihren Ausdruck findet und die neuronale Plastizität bei weitem größer ist als noch am Ende des vorigen Jahrhunderts angenommen (Hüther 2005). Das Schulmädchen Hanna, das 1929 in die Schule eintrat, wusste von all diesen Forschungsergebnissen nichts, genauso wenig wie ihre Lehrer_innen. Ihr blieb nur die Selbstzuschreibung der Dummheit, für die sie sich zu schämen hatte, wie es der zur Zeit ihrer Kindheit herrschenden Erziehungshaltung grundsätzlich zu eigen war, sich für eine Unfähigkeit schuldig fühlen zu müssen. Durch die Unfähigkeit zu lesen, blieb ihr auch der Weg zur Bildung versperrt, aber die Sehnsucht nach Bildung ein loderndes Feuer in ihr, wie ihre Gier nach Literatur zeigt (. Abb. 23.4).
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..Abb. 23.4 Vorlesend öffnet Michael für Hanna das Tor zur Welt der Literatur, das ihr bisher verschlossen war. (© Senator Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Die Gefahren des Gehorsams für die Menschlichkeit Hanna wuchs in einer Zeit auf, in der bereits die Anzeichen für den bevorstehenden Bankrott der Menschlichkeit im Nationalsozialismus sichtbar wurden, wenn auch nur für die Hellhörigen. Als Hanna im ersten Schuljahr war, erschien »Mario und der Zauberer«, in dem Thomas Mann in beklemmender Weise die fatalen Auswirkungen des Gehorsams gegenüber einer moralisch korrumpierenden und korrumpierten Persönlichkeit mit demagogischen Fähigkeiten darstellt, in der in Italien spielenden Geschichte verkörpert durch einen »Zauberer«, der die Hypnose einsetzt, um Menschen zu demütigen (Mann 2013). Hannas Ressourcen zur Sicherung ihres Selbstwerts und ihres wertgeschätzten Platzes in der menschlichen Gemeinschaft waren durch ihren Gehorsam gegenüber den sozialen Werten, damals unter anderem durch Pflichtbewusstsein, Reinlichkeit und Ordentlichkeit definiert und daher auf diese und ihre körperliche Attraktivität beschränkt, wobei letztere in ihrem sexuellen Verhältnis mit Michael natürlich mit den moralischen Werten ihrer Zeit kollidierte und daher genauso geheim gehalten werden musste wie ihr Makel des Analphabetismus. Hanna verwirklichte ihr Potenzial zur sozialen Anerkennung durch ihre Folgsamkeit und kompensierte ihren Mangel im Lesen und Schreiben durch ihre Überlegenheit und Macht in der Sexualität gegenüber dem jugendlichen Michael – für eine Umsetzung dieses Potenzials in einer Beziehung zu einem erwachsenen Partner reichte ihr Mut nicht aus, da in einer solchen Beziehung die Überlegenheit in der Sexualität nicht gesichert gewesen wäre und das Risiko bestand, dass das Geheimnis ihres Makels entdeckt worden wäre.
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Mehr als Sex und Vorlesen: Die Fiktion der Liebesbeziehung Kurze Szenen zu Michaels Leben in der Gemeinschaft der Gleichaltrigen geben Einblick, dass Michael neben der geheimen Beziehung zu Hanna auch ein altersentsprechendes Leben führt, allerdings eingeschränkt durch sein davon abgespaltenes Leben mit Hanna, das es ihm auch unmöglich macht, sich auf die altersentsprechende zarte erotische Annäherung eines Mädchens aus seinem Freundeskreis einzulassen. So vereinsamt Michael im Kreise seiner Gleichaltrigen. Michaels jugendlicher Erlebnishunger ist mit den Beschränktheiten seiner Beziehung zu Hanna auf Vorlesen des Schulstoffs und sexuelle Triebbefriedigung nicht gestillt. Er wünscht sich eine Erweiterung des Gemeinsamen, das über die Mauern der schäbigen Wohnung hinausgeht. Für einen Radausflug mit Hanna gibt er seine Briefmarkensammlung – ein Symbol seiner Kindheit – auf, um das nötige Geld für den Ausflug zur Verfügung zu haben. Auf diesem Ausflug wird wieder eine sensible emotionale Seite Hannas sichtbar, als sie auf dem Ausflug in einer Kapelle vom Gesang eines Kinderchors zu Tränen gerührt ist. Diese Anflüge von emotionaler Resonanz in Hanna erleichtern nicht nur Michael, der ihr lächelnd zusieht, sondern auch den Zuschauer, da sie sich der Kälte und mimischen Armut, die Hanna ansonsten zeigt, entgegensetzen, so wie es auch ihre Berührtheit vom Inhalt des Vorgelesenen bewirkt. Gekonnt meistert Hanna die Situationen, in denen ihre Unfähigkeit zu lesen aufgedeckt werden könnte, indem sie so tut als würde sie die Speisekarte des Wirtshauses lesen und sich dann für die Speise entscheidet, die auch Michael wählt. Auch Michael legt eine bemerkenswerte Gelassenheit und Selbstsicherheit an den Tag, wenn der Altersunterschied zwischen Hanna und ihm als Mutter-Sohn-Beziehung interpretiert wird, als die Kellnerin ihn fragt:
RR »War Ihre Mutter mit dem Essen zufrieden?« und er souverän ohne einen sichtbaren Moment der Verunsicherung antwortet:
RR »Ja, es hat ihr gut geschmeckt.« Hanna war in dem Jahr, in dem der Ausflug stattfand, 36 Jahre alt, Michael 15, die Mutter-SohnBeziehung also durchaus plausibel.
Die Flucht vor der Schande der Minderwertigkeit Hanna ist in ihrem Beruf als Schaffnerin erfolgreich, denn hier kann sie ihre Arbeitstugenden des Pflichtbewusstseins, der Verlässlichkeit, Ordentlichkeit und Korrektheit, die sie zum Ausgleich ihrer Leseunfähigkeit überkompensierend besonders gut entwickelt hat, zum Tragen bringen. Die Gesetzmäßigkeit der Arbeitswelt ist, dass jemand, der sich in seinem Wirkungsbereich besonders bewährt, in eine höhere berufliche Position befördert wird, die üblicherweise mit finanziellen Verbesserungen und Erhöhung des Sozialprestige verbunden ist. Eine Beförderung von der Tätigkeit als Schaffnerin in ein Büro war zu der Zeit jedenfalls als ein beruflicher Aufstieg anzusehen und daher zu erwarten, dass eine Schaffnerin darüber hoch erfreut ist und stolz auf ihren Erfolg. Anders stellt sich diese Situation natürlich für Hanna dar: Sie ist aufgrund ihres Analphabetismus außerstande, Bürotätigkeiten, die immer mit Lesen und Schreiben verbunden sind, auszuüben und würde mit dem Eintritt in die Büroarbeit von einer erfolgreichen Schaffnerin zu einer beruflichen Versagerin mutieren, deren beschämendes Geheimnis unweigerlich aufgedeckt würde. Aus dieser Zwangslage bleibt ihr nur ein Ausweg, der ihr Geheimnis bewahren kann: Sie verlässt fluchtartig und plötzlich, ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen, ihren Lebensraum. Und diesen Ausweg wählt sie, da ihre erste Priorität ist, ihre Unfähigkeit zu verbergen.
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Der weitere Verlauf der Geschichte belegt, dass diese erste Priorität, die ihr Ansehen in der Gemeinschaft schützt, auch ihren weiteren Lebensweg bestimmt. Hanna nimmt jede Konsequenz des Verlusts dafür in Kauf, dass ihre Schande verborgen bleibt. Sie lässt Michael ratlos und unglücklich zurück, die Wahrung ihres Geheimnisses ist ihr wichtiger als alles und jeder andere in ihrem Leben.
Der Prozess bringt die Wahrheit ans Licht – aber nur für Eingeweihte Acht Jahre später, im Jahr 1966, begegnet Michael Hanna überraschend wieder: Er ist inzwischen Jusstudent und nimmt im Zuge eines Seminars, das von einem im Film weise wirkenden Professor (gespielt von Bruno Ganz) gehalten wird, aber nur von fünf Studierenden besucht wird, an einer Exkursion zu einem Prozess gegen am Holocaust Beteiligte teil. Hanna ist eine der fünf angeklagten Frauen, die als Aufseherinnen im Frauenlager des Konzentrationslagers in Ausschwitz für die Selektion der Frauen, für die Ermordung zuständig waren. Die geringe Studierendenzahl, die in krassem Widerspruch zu den Demonstrationen vor dem Gerichtsgebäude steht, pointiert den Hinweis darauf, dass damals der Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus zwischen Verschweigen und Empörung lag. Zu der Zeit war es zum Beispiel eher die Ausnahme, wenn der Zweite Weltkrieg im Geschichtsunterricht der »Gymnasien«, wie sie damals einheitlich genannt wurden, thematisiert wurde. Ich hatte das Glück, ein Gymnasium zu besuchen, in dem der Geschichtsunterricht in meiner Klasse von einer aktiven Widerstandskämpferin gehalten wurde, die, im Rückblick gesehen, von den traumatisierenden Erlebnissen gezeichnet, ihren pädagogischen Auftrag darin sah, einen Beitrag zum »Nie wieder!« zu leisten – so lautete der Titel einer Ausstellung, die sie mit meiner Schulklasse besuchte und die einen tiefen Eindruck hinterließ, von mir mit einer Ohnmacht beim Besuch der Ausstellung beantwortet. Meine Lehrerin hätte mit Michaels Professor an der Universität Heidelberg sicherlich hervorragend zusammengearbeitet, aber beide waren Ausnahmegestalten in den 1960er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Im Prozess wird Hanna und den mitangeklagten ehemaligen Aufseherinnen nicht nur die Selektion der Frauen zur Vergasung vorgeworfen, sondern auch eine besonders grausame Handlung: Auf einem Transportmarsch von 300 gefangenen Frauen unter Aufsicht von Hanna und ihren Kolleginnen übernachteten die Gefangenen in einer Kirche, die von den Aufseherinnen versperrt war, die Aufseherinnen im Pfarrhaus. Ein Bombenangriff setzte die Kirche in Brand. Da die Aufseherinnen das Kirchentor nicht aufsperrten, verbrannten die dreihundert Frauen bis auf eine Frau und deren Tochter in der Kirche. Die Tochter schrieb ein Buch über diese Erlebnisse, das schließlich zum Prozess gegen Hanna und ihre Kolleginnen führte. Sie war gemeinsam mit ihrer Mutter bei dem Prozess als Zeugin anwesend. Befragt vom Richter, warum Hanna die Kirchentür nicht aufgesperrt habe, antwortet Hanna, dass dann das Chaos ausgebrochen wäre, große Unordnung geherrscht hätte, und meint:
RR »Wir durften sie doch nicht fliehen lassen« und erklärt
RR »Wir haben die Türen nicht aufgeschlossen, wir durften es nicht. Wir hatten doch die Verantwortung für sie.« Offensichtlich verstand sie ihre Verantwortung für diese Frauen nicht als Verantwortung für deren Leben, sondern als ihre Verantwortung dafür, dass sie nicht durch Flucht entkamen. Und diesen Auftrag hat sie ja vorbildlich erfüllt – zumindest nahezu, denn eine Frau konnte sich doch mit ihrer kleinen Tochter retten. Dass Hanna Ordnung und Gehorsam unwidersprochen dem menschlichen Mitgefühl
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überordnet, bleibt ein dominanter Zug ihres Lebensstils in ihrem weiteren Leben, wie in ihrer Begegnung mit Michael acht Jahre vor dem Prozess deutlich wird. Die fatalen Auswirkungen einer Erziehung zum Gehorsam auf die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen sind mittlerweile umfangreich untersucht (Gruёn 2000, 2003) und auch empirisch belegt durch das »Milgram-Experiment«, das erstmals 1963, also drei Jahre vor dem Prozess gegen Hanna, publiziert wurde und in dem gezeigt wurde, dass Menschen jeder Gesellschaftsschicht bereit sind, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen, wenn es ihnen von einer Autorität befohlen wird (Milgram 1963). Gehorsam ist mächtiger als jede Ethik und Moral und vernichtet die Menschlichkeit. Die beiden überlebenden Frauen berichten auch, dass Hanna nach einer anderen Selektionsstrategie vorging als ihre Kolleginnen: Sie wählte vor allem junge Frauen aus, woraus vermutet wurde, dass sie in der Nacht vor deren Vergasung sexuelle Handlungen von diesen Frauen verlangte. Es stellte sich aber heraus, dass sie diese Frauen zu sich rief, um sich von ihnen vorlesen zu lassen. Auch hier klingt wiederum die Verbindung zwischen Sexualität und Lesefertigkeit an, wie sie sich in der Beziehung von Hanna zu Michael verdichtet und auch in ihrer Beziehung aus Hannas Perspektive das Lesen der wichtigste Teil der Beziehung ist. Je mehr Michael in dem Prozess erfährt, umso deutlicher offenbart sich für ihn, dass Hannah Analphabetin ist – er erinnert Szenen aus ihrer Beziehung, die er nun mit diesem Wissen klar verbinden kann. Als ein nicht mit der Erzählung der Autorin und ihrer Mutter übereinstimmender Bericht über den Bombeneinschlag in die Kirche, bei der die 300 gefangenen Frauen hilflos verbrannten, in der Verhandlung vorgelegt wird, behaupten die anderen angeklagten Frauen, dass Hanna diesen Bericht verfasst habe. Hanna, die auch alle anderen Fragen des Richters ehrlich beantwortet hat, auch wenn diese Antworten zu ihren Ungunsten waren, antwortet auch auf die Frage, ob sie den Bericht geschrieben habe, wahrheitsgetreu. Als der Richter zum Beweis für diese Aussage von ihr eine Probe ihrer Handschrift verlangt und Papier und Stift vor sie gelegt wird, lügt Hanna und gesteht, die Verfasserin dieses Berichts zu sein:
RR »Das ist nicht notwendig, ich habe den Bericht geschrieben«. Die Lüge ihres Lebens ist das Verheimlichen ihres Analphabetismus. Hanna entscheidet sich dafür, die Schuld für den Tod dieser Frauen auf sich zu nehmen, um zu verhindern, dass ihre Unfähigkeit aufgedeckt wird. Sie schämt sich offenbar weit mehr dafür, Analphabetin zu sein als dafür, eine vielfache Mörderin zu sein. Michael, der nun mit Hanna ihr Geheimnis teilt, ohne dass sie es weiß, gerät damit in einen intensiven Gewissenskonflikt: Soll er ihr Geheimnis, das ihr so viel wert ist, preisgeben und sie damit vor der lebenslangen Haft retten, aber sie dafür ihrer Schande, Analphabetin zu sein, ausliefern oder vor der Schande, nicht lesen und schreiben zu können, bewahren und sie damit der lebenslangen Haftstrafe ausliefern? Er respektiert ihre Entscheidung und behält ihr Geheimnis für sich. Hanna wird schuldig gesprochen und zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, die anderen Angeklagten kommen mit einer Haftstrafe von vier Jahren und drei Monaten davon. Auch das ist eine Art der Überlegenheit.
Die Flucht vor der noch größeren Schande in den Suizid Beruflich erfolgreich als Student und später als renommierter Anwalt bleibt Michael in seinen Beziehungen einsam – sein Studentenleben lebte er abseits seiner Studienkollegen, auf die Beziehung zu einer Mitstudentin kann er sich nur sexuell einlassen, hält aber ihre Nähe auch nicht für eine Nacht aus. Seine Ehe geht in die Brüche. Die einzige Person, zu der er offensichtlich eine innige Beziehung hat, ist seine Tochter.
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Beim Umzug anlässlich der Trennung von seiner Frau fallen ihm die Bücher, die er Hanna vorgelesen hatte, in die Hand. Die Geschichte von Odysseus, mit der er zum Vorleser für Hanna wurde, ist auch die erste, die er auf Kassette aufnimmt und mit einem Kassettenrekorder Hanna ins Gefängnis schickt. Das letzte Buch, das der jugendliche Michael Hanna vor ihrem Verschwinden vorgelesen hatte, war Anton Tschechows »Die Dame mit dem Hündchen«. Auch dieses liest er Hanna auf Kassette vor. Er ist wieder ihr Vorleser. Hanna wirkt im Gefängnis entlastet: Sie ist davon befreit, die Lebensaufgaben bewältigen zu müssen, sie kann ihr Talent zur Ordnung und zum Pflichtbewusstsein leben, ohne befürchten zu müssen, sie so gut zu erfüllen, dass ihr eine Beförderung in ein Büro droht. In der Haft ist sie davor geschützt, dass ihr Geheimnis aufgedeckt wird, und so findet sie auch den Mut, sich dem Lesenlernen zu stellen. Mithilfe der »Vorlesungen« Michaels geht Hanna dabei so vor als hätte sie Kenntnisse der Legastheniebehandlung und ihre Selbstbehandlung ist erfolgreich: Sie erlernt das Lesen und Schreiben, Michael erhält regelmäßig kleine Briefchen von ihr, auf die er aber nie antwortet. Nach 20 Jahren im Gefängnis steht Hanna 1988 die Haftentlassung bevor. Veranlasst durch die Sozialarbeiterin des Gefängnisses bereitet Michael Hannas Leben in Freiheit vor, indem er ihr eine Wohnung und Arbeit besorgt. Erstmals besucht er Hanna nun im Gefängnis und informiert sie darüber, dass er für ihr Leben in Freiheit vorgesorgt hat. Diese Wiederbegegnung ist distanziert und zugleich verborgen vertraut: Es verbinden sie die Geheimnisse ihrer Vergangenheit, Hannas Analphabetismus und die sexuelle Beziehung des jugendlichen Michael mit der erwachsenen Hanna. Hanna ist nun keine Analphabetin mehr, und damit eine andere. Das Motiv erster Priorität ihres Handelns war ihr Leben lang, das Geheimnis ihrer Schande, des Lesens und Schreibens unfähig zu sein, zu verbergen. Dieses Motiv entschied, dass sie immer wieder, wie im Prozess zu hören ist, ihre Arbeitsstellen aufgab, sobald ihr Erfolg die Geheimhaltung ihres Mangels gefährdete, dass sie Beziehungen abbrach, dass sie die Schuld für etwas übernahm, was sie nicht getan haben konnte. Diese Schuld war aber zugleich der beste Deckmantel für ihre Unfähigkeit im Lesen und Schreiben, denn wer diesen Bericht, der Gegenstand des Prozesses war, geschrieben hatte, hat damit nicht nur seine Schuld, sondern auch seine Fähigkeit zu schreiben und zu lesen bewiesen. Diese Scham dafür, Analphabetin zu sein, die ihr Leben bestimmt hat, die all ihr Handeln darauf ausrichtete, diese Schande zu verbergen, existiert nicht mehr. Nun kann sie lesen und schreiben. Damit verlieren auch das Pflichtbewusstsein und die Ordentlichkeit, mit denen sie ihren Mangel zu kompensieren versuchte, an Bedeutung. Darüber berichtet die Gefängnisaufseherin in einem Nebensatz: Sie warnt Michael vor seiner persönlichen Begegnung mit Hanna, dass er über ihr Aussehen nicht erschrecken möge. Hanna habe bis vor einigen Jahren sehr auf ihr Aussehen geachtet, sei aber in letzter Zeit nachlässig geworden – wohl zeitgleich mit dem Erlernen des Lesens und Schreibens verlor die Kompensation an Bedeutung. Die Schande, nicht lesen und schreiben zu können und deswegen nach der Meinung der damaligen Zeit dumm zu sein, ist ausgemerzt, die Kompensation überflüssig geworden. Damit gewinnt die Schande, eine Massenmörderin zu sein, Raum in ihrem Innenleben. Mit der Schande, Analphabetin zu sein, konnte sie leben. Mit der Schande, eine Massenmörderin zu sein, kann sie es nicht. Als Michael am Tag von Hannas Entlassung aus der Haft kommt, um sie abzuholen, erfährt er, dass sie sich am Vorabend in ihrer Zelle erhängt hat. Dazu hat sie die Bücher, die sie sich aus der Gefängnisbibliothek ausgeborgt hatte, auf dem Tisch in ihrer Zelle ordentlich gestapelt und sich auf diese gestellt, um sich mit dem Wegstoßen der Bücher unter ihren Füßen erhängen zu können: Sie hat das Lesen, symbolisiert durch den Stapel der Bücher, erlernt und ist dadurch ihrer Minderwertigkeit, Analphabetin zu sein, entwachsen. Dadurch konnte sie aber auch sehen, welche Schuld sie mit dem verbissenen Verbergen dieses Makels auf sich geladen hatte und diese Erkenntnis war für sie unerträglich, die Schande unüberwindbar und nicht wieder gut zu machen. Mit dieser Schande konnte sie nicht aus der Isolation des Gefängnisses in die Gemeinschaft zurückkehren.
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Ein Versuch zur Wiedergutmachung: Hannas Erbe Hanna hat das, was sie sich im Gefängnis erspart hatte, der Buchautorin, die als Kind gemeinsam mit ihrer Mutter den Brand der Kirche überlebte, hinterlassen, gemeinsam mit der verzierten Teedose, in der sie als Kind ihre Schätze aufbewahrt hatte. Hanna versucht offenbar, mit diesem Erbe einen Teil ihrer Schuld zu begleichen, wissend, dass diese Schuld damit nicht ausgeglichen werden kann. In ihrem Abschiedsbrief bittet sie Michael darum, dafür zu sorgen, dass Ilana Mather, die Buchautorin, die als wohlhabende Frau in New York lebt, dieses Erbe bekommt. Michael fährt mit dem Geld und der Teedose zu Ilana Mather. Sie ist die erste, der er von seiner sexuellen Beziehung als Jugendlicher mit Hanna erzählt und sie ist auch die erste, die erkennt und zu verstehen gibt, dass diese Beziehung etwas in ihm zerstört hat. Ilana nimmt die kleine Summe der Erbschaft nicht an, da es für sie eine Geste der Absolution wäre, stimmt aber Michaels Vorschlag zu, das Geld einer jüdischen Institution zu spenden, die die Alphabetisierung unterstützt, wenngleich sie meint, dass
RR »der Analphabetismus kein jüdisches Problem ist«. Hannas verzierte Teedose behält sie, in Erinnerung, dass ihr als Kind im Lager eine ähnliche Teedose mit ihren kindlichen Schätzen gestohlen wurde. Ilana stellt Hannas Teedose zu den Fotos aus ihrer Kindheit, auf denen sie und ihre im Holocaust umgekommenen Familienmitglieder zu sehen sind: Das Kind Hanna und das Kind Ilana können einander in ihrer Unschuld nahe sein.
Schlussbemerkung Der Film endet damit, dass Michael Berg mit seiner Tochter Hannas Grab besucht. Julia wusste bis zu diesem Zeitpunkt nichts von Hanna. Der Film endet damit, dass Michael seiner Tochter von Hanna zu erzählen beginnt. Mit dem Abschied von Hanna öffnet sich Michael für seine Tochter. Bernhard Schlink hat der Protagonistin den Vornamen »Hanna« gegeben. Hanna kann als Abkürzung des deutschen Vornamens Johanna gesehen werden, der in dieser Kurzform auch für sich allein stehen kann. Hätte Hanna am Ende noch ein H, hieße sie Hannah und trüge damit einen hebräischen Namen, der abgeleitet wird von »Channah«, der Gnade und Barmherzigkeit.
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Rieken B (2011) Das Minderwertigkeitsgefühl und seine Kompensation; Wirk- und Zielursache, Fiktionalismus. In: Rieken B, Sindelar B, Stephenson T (Hrsg) Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis. Psychotherapie – Pädagogik – Gesellschaft. Springer, Wien, New York, S 55–64 Sindelar B (2000) Mein Kind ist doch nicht dumm. Austria Press, Wien Sindelar B (2006) Die neue Kinderkrankheit Legasthenie. Zeitschrift für Pädiatrie und Pädologie 1:16–22 Sindelar B (2011a) Gender und Sexualität. In: Rieken B, Sindelar B, Stephenson T (Hrsg) Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis. Psychotherapie, Pädagogik, Gesellschaft. Springer, Wien New York, S 165–174 Sindelar B (2011b) Partielle Entwicklungsdefizite der Informationsverarbeitung: Teilleistungsschwächen als Ursache kindlicher Lern- und Verhaltensstörungen 3. Auflage. Austria Press, Wien Sindelar B (2014a) Pubertät und Adoleszenz. Austria Press, Wien Sindelar B (2014b) Von den Teilen zum Ganzen: Theorie und Empirie einer integrativen psychologischen und psychotherapeutischen Entwicklungsforschung. Waxmann, Münster
Originaltitel
Der Vorleser – The Reader
Erscheinungsjahr
2008
Land
USA/D
Drehbuch
David Hare, basierend auf dem Roman von Bernhard Schlink
Regie
Stephen Daldry
Hauptdarsteller
Kate Winslet, David Kross, Ralph Fiennes, Bruno Ganz
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Rainer Gross
Drei Frauen, zwei Romane und ein Film Filmhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Zur Biografie Virginia Woolfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Liebe, Wahrheit, Realität – Virginia Woolfs »moments of being« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Roman über einen Roman: M. Cunninghams »The Hours« . . 362 Die Verfilmung eines unverfilmbaren Buches: Stephen Daldry’s »The Hours« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Die tote Mutter oder: Das Drama des alleingelassenen Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Clarissa Vaughan: Wenn eine Frau sich nicht lebendig fühlt 367 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_24
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Filmplakat The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit. (© Highlight Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit (2002) Rainer Gross
Stephen Daldry war bereits einer der berühmtesten Theaterregisseure Englands, als er mit seinem FilmDebüt »Billy Elliot – I will dance« (2000) sowohl das Lob der Kritik als auch des Publikums gewann. 2002 verfilmte er Michael Cunninghams Roman »The Hours«, für den der amerikanische Autor 1998 den Pulitzerpreis erhalten hatte (. Abb. 24.1, Filmplakat). »The Hours« war 1925 auch Virginia Woolfs Arbeitstitel für ihre »Mrs. Dalloway«. Cunninghams Roman ist eine subtile Variation auf Virginia Woolfs Text. Daldrys »The Hours« ist ein Triptychon über Entfremdung und Depression, aber auch über die Glücksmomente im Leben dreier Frauen: Wir erleben jeweils einen Tag im Leben dieser sensiblen und unglücklichen Frauen, in dem sich wie unter einem Brennglas ihre Problematik verdichtet: 1923 quält sich Virginia Woolf in London in einer psychischen Krise inklusive Schreibhemmung vor Beginn der Arbeit an »Mrs. Dalloway«. 1951 ist die Hausfrau Laura Brown im glänzend-schönen Vorort von Los Angeles trotz eines liebenden Mannes und eines reizenden Kindes zutiefst verzweifelt – und flüchtet sich in die Lektüre von »Mrs. Dalloway«. 2001 organisiert Clarissa Vaughan in New York eine große Party zur Feier eines Lifetime-Awards an ihren todkranken Schriftsteller-Freund. Richard war vor Jahren ihre große Liebe, er nannte sie immer nur »Mrs. Dalloway«. Also Bilder von drei Frauen und drei Ebenen der Realisierung eines Textes: Wir sehen, wie Virginia Woolf den Roman schreiben will, den Laura Brown dann so beeindruckt liest und den Clarissa Vaughan »lebt« bzw. agiert. Der Film variiert einen Roman, der wiederum einen früheren Roman fortschreibt: also die Verfilmung der Variation eines Textes. Daher geht es im Film auch durchgehend um das Verhältnis von Schöpfung, Neu-Schöpfung und Abwandlung, um die oft nur minimal veränderte »Wiederaufführung«, das Re-Enactment eines vorgegebenen Musters: In der klinischen Arbeit als PsychotherapeutInnen kennen wir diesen Rhythmus als Trias von Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten … Es geht um die Spannung im Leben des Menschen zwischen seinem sozialen und seinem kreativen Selbst, um die schwierige Balance zwischen Narzissmus und Objektbeziehungen. Es geht um die Funktionen von Kreativität und/oder Depression, um die stets prekäre Realität des emotionalen Lebens, das Virginia Woolf als immer »double-edged« empfand – als schwankend zwischen dem Erleben von Schönheit und Schrecken. Es geht um die kathartische Funktion von Kunstwerken: Der Begriff Katharsis bezeichnet ja ein eigentlich rätselhaftes Phänomen: Dass nämlich die »stellvertretende« Teilnahme an den heftigen Affekten auf einer Bühne, einer Filmleinwand oder in einem Roman die Zuschauer, die Leser trösten kann – auch und sogar besonders das Miterleben negativer und schmerzlicher Affekte. Wodurch wird diese affektive Resonanz ausgelöst? Wie können wir begreifen, warum uns ein Kunstwerk so ergreift, warum ein lebloses Objekt für den Einzelnen als subjektiviertes Objekt so ungemein lebendig und dadurch bedeutungsvoll werden kann? Es geht um den Gegensatz im Erleben der linearen Zeit im Vergleich zur psychologischen Zeit, um das Verhältnis von Chronos und Kairos im emotionalen Leben des Einzelnen. Es geht um die Frage der Wirkung von Texten/Worten im Gegensatz zu Bildern/Filmen auf das jeweilige Publikum. Und es geht schließlich um die unterschiedlichen Zugänge des Künstlers und des Therapeuten zum Symptom, zum seelischen Leiden: Immerhin beobachten wir in diesem Film viele »PatientInnen«, wir sehen zwei Suizide und »Überlebende«, die am Leben und an sich selbst (fast) verzweifeln.
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Drei Frauen, zwei Romane und ein Film
..Abb. 24.2 Virginia Woolfs Fluchtversuch aus dem ländlichen Idyll. (© Highlight Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Filmhandlung Die drei Handlungsstränge mit der Schilderung des Schicksals der drei Frauen aus verschiedenen Generationen sind so eng und kunstvoll parallelisiert und verzahnt, dass es manchmal fast schon forciert wirkt: »The Hours« als moderne Version des Virginia Woolf-Romans »Mrs. Dalloway« in der Bewegung von der Autorin Virginia zur Leserin Laura bis hin zur »Protagonistin« Clarissa als einer modernen Mrs. Dalloway. Die drei Ebenen der Handlung fließen mehrmals bruchlos ineinander:
Virginia Woolf 1923 Die Autorin empfindet ihr Haus in einem Vorort von London als Gefängnis. Eines Tages im Sommer 1923 erwacht sie, schwankend zwischen existenzieller Verzweiflung und einer ersten diffusen Idee für ihren neuen Roman. Wir erleben Virginia Woolf weniger als elegante und souveräne Intellektuelle, vielmehr als von Ängsten und vielfältigen Neurotizismen/Symptomen gequälte Frau. Sie wird besorgt gepflegt (in ihrem subjektiven Erleben: überwacht) vom Gatten Leonard, quält sich in Alltags-Auseinandersetzungen mit ihren Dienstboten und schwankt zwischen Zuneigung und Neid gegenüber ihrer Schwester Vanessa, als diese sie mit ihren Kindern besucht. Zwischenzeitlich leidet sie so sehr unter dem eingeengten und langweiligen Leben in Richmond, dass sie zum Bahnhof »flieht« und nach London fahren will, was Leonard gerade noch verhindern kann: Aus seiner Sicht wäre die Reizüberflutung der Großstadt ein Garant für die Auslösung der nächsten Psychose (. Abb. 24.2). Virginia wiederum entgegnet verzweifelt, dass man doch nicht das gesamte Leben vermeiden könne aus lauter Besorgnis um die psychische Gesundheit. Die erbitterte Auseinandersetzung der beiden, der so schmerzhafte Versuch, eine Balance zwischen Sicherheit und Freiheit zu finden – all das wird sofort unwichtig, als Virginia der erste Satz für ihren neuen Roman einfällt …
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..Abb. 24.3 Laura will nur mehr sterben. (© Highlight Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Laura Brown 1951 Laura erwacht in einer blitzblanken und geradezu schmerzhaft keimfrei-geputzten Vorstadt am Tag des Geburtstags ihres Mannes Dan. Als erstes greift sie zum Roman »Mrs. Dalloway« – fasziniert davon, dass die Heldin in diesem Text hinter der Oberfläche der souveränen Gesellschaftsdame als so hochgradig unsicher geschildert wird und kaum mehr als kohärente Persönlichkeit spürbar ist. Sie ahnt eine diffuse Parallele zu ihrem eigenen Leben, durch das sie tief verzweifelt wie auf Autopilot hindurchtaumelt: Die große Aufgabe ihres Tages besteht darin, einen möglichst perfekten Geburtstagskuchen für ihren Mann zu backen – unterstützt dabei von ihrem Sohn Richie. In dieser Episode erleben wir einen fast unerträglich intensiven Austausch der Blicke: Laura schaut immer wieder ihren Sohn an, den sie doch eigentlich lieben müsste – wozu sie aber kaum fähig ist. Umgekehrt lässt der sechsjährige Sohn seine Mutter keinen Augenblick aus den Augen. Intuitiv weiß er, dass sowohl sie durch ihre Suizidalität existenziell gefährdet ist als auch er dadurch, dass diese Mutter nur mehr aus der Familie – und damit auch von ihm – entkommen will. Nach Fertigstellung des Kuchens fährt Laura in ein Hotel (. Abb. 24.3). Wir sehen sie dort im Bett liegen und dann (in einer Traumsequenz) wird dieses Bett mit ihr (und dem Buch in ihrer Hand) überflutet, während die für den Suizid schon bereitliegenden Medikamente daneben sichtbar sind. Schlussendlich aber entscheidet sich Laura gegen den Suizid: Sie wird weiterleben, aber sie wird ihre Familie unmittelbar nach Geburt des zweiten Kindes (mit dem sie bereits schwanger ist) verlassen.
Clarissa Vaughan 2001 Clarissa arbeitet als Lektorin und Verlegerin in Manhattan, lebt in einer offen lesbischen Beziehung mit ihrer langjährigen Gefährtin Sally, ist Mutter einer erwachsenen Tochter Kitty. Ihr Tag beginnt mit dem
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Drei Frauen, zwei Romane und ein Film
..Abb. 24.4 Auch Clarissa kauft die Blumen selbst – wie Mrs. Dalloway. (© Highlight Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Kauf von Blumen (»I’ll buy the flowers myself.« zitiert sie den Eröffnungssatz von »Mrs. Dalloway«) für eine große Party, die sie am Abend geben will: Der Anlass dafür ist ein Literaturpreis, den ihre Jugendliebe Richard erhalten hat (. Abb. 24.4). Trotz eines nach außen erfolgreichen Lebens und ihrer dynamisch-zupackenden Art spüren wir die tiefe Verunsicherung von Clarissa, die zwar gesünder als Virginia Woolf oder Laura Brown in den beiden vorigen Episoden wirkt, die aber ihr Leben als ebenso leer und trivial empfindet. Am glücklichsten hat sie sich im kurzen Sommer ihrer Jugendliebe zu Richard gefühlt, der sie dann aber für einen Mann verlassen hat. Jetzt liegt er als aidskranker alter Mann im Sterben, aufopfernd von ihr gepflegt. Ihre Gefährtin Sally fühlt sich dementsprechend zurückgesetzt und wirft ihr das auch vor. Richard hat Clarissa schon zu Zeiten ihrer Jugendliebe »Mrs. Dalloway« getauft. (Clarissa lautet auch der Vorname der Mrs. Dalloway bei Virginia Woolf.) Jetzt ist Richard zutiefst verzweifelt und zynisch geworden. Er hofft nur mehr, dass Clarissa ihn endlich »loslässt« und nicht weiter am Suizid hindert: Eindringlich hält er ihr vor, dass sie sich erst auf ihre Liebe zu Sally und vor allem auf sich selbst konzentrieren kann, wenn er nicht mehr da sein wird. Trotz Clarissas verzweifelter Versuche stürzt er sich schließlich aus dem Fenster seiner Wohnung in den Tod und zitiert in seinen letzten Worten noch aus Virginia Woolfs Abschiedsbrief:
RR »Es hat keine zwei Menschen gegeben, die glücklicher hätten sein können als wir.« Die Party wird abgesagt, doch noch am selben Abend erhält Clarissa unerwartet Besuch von Laura Brown: In dieser Zusammenführung der Episoden ist Laura bereits achtzig Jahre alt und die Zuschauer begreifen, dass sie Richards Mutter ist. (Bereits davor hatte Richard ein Hochzeitsfoto seiner Eltern betrachtet und wir erfuhren, dass er in einem Roman seine Mutter durch Suizid sterben ließ.) Zu ihrer
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Überraschung erlebt Clarissa die Mutter, die den von ihr so geliebten Richard verließ, nicht als ein Monster, sondern als eine existenziell verzweifelte Frau: Laura erklärt ihr, dass sie damals weggehen und ihren Sohn zutiefst verstören musste – weil das für sie eine Entscheidung für das Leben war. Sie wäre sonst als Hausfrau und Mutter gestorben. Auf seltsame Art fühlt sich Clarissa dadurch erleichtert und befreit – sodass die Manhattan-Episode des Films immerhin (im Gegensatz zu den beiden anderen Handlungssträngen) mit einem Hoffnungsschimmer endet. In der allerletzten Szene sehen wir noch den Selbstmord von Virginia Woolf und hören als VoiceOver den ebenso berührenden wie schrecklichen Abschiedsbrief an ihren Gatten Leonard. Dieser Suizid wird in Cunninghams Roman und im Film variiert: Auch Richard lässt seine Helferin Clarissa verzweifelt zurück, demonstriert ihr ebenso ihre Hilflosigkeit wie einst Virginia Woolf ihrem Pfleger/Gatten. All die Jahre zuvor hat Richard Clarissa in Abhängigkeit gehalten als Muse und auch Pflegerin. Dies kann man durchaus als seine Identifikation mit der eigenen Mutter, mit der Aggressorin interpretieren: Er als Mann übernimmt die Rolle der Virginia Woolf, Clarissa wird dadurch zu »seinem Leonard«. Die Lebensgeschichte des von einer depressiven Mutter verlassenen Kindes muss aber nicht zwangsläufig so tragisch enden: Der »Notausgang in die Kreativität« allerdings führt öfter zu einem beeindruckenden Werk als zu einem erfüllten Leben. Interessanterweise wirkt der Film trotz des durchgehenden Themas von Depression und Suizidalität kaum bedrückend. Diesen affektiven Eindruck will ich im Folgenden durch Kontextualisierung begründen: Ich werde versuchen, den Zusammenhang zwischen den von Virginia Woolf beschriebenen Funktionen ihres Schreibens und dem so verblüffend positiven affektiven Erleben des Films darzustellen. Dabei geht es um den allgemein menschlichen Wunsch, dass unser Leben nicht nur gesichert und bequem sein möge, sondern auch als bedeutungsvoll und sinnvoll erlebt werden kann: Wie aber ist ein solch gutes Leben zu erreichen? Wie schaffen wir es »to work and to be«? (Charles, S. 317) Ausgehend von der Biographie Virginia Woolfs und dem Zusammenhang zwischen psychischer Krankheit, seelischem Leiden und Kreativität in ihrem Leben versuche ich das unterschiedliche Verhalten der drei Frauen im Film zu vergleichen und einige psychoanalytische Konzepte vorzustellen, die mir beim Nachdenken über diesen Film geholfen haben.
Zur Biografie Virginia Woolfs Die Dichterin wurde am 25.01.1882 in London-Kensington in einer wohlhabenden und intellektuellen Familie geboren. Die Familienkonstellation allerdings war – gelinde gesagt – kompliziert: Ihr Vater Leslie I. A. Stephen war ein berühmter Gelehrter, bei Vanessas Geburt mit fünfzig Jahren bereits verwitwet – ebenso wie ihre 36jährige Mutter Julia. Die Mutter aber hatte ihren ersten Mann sehr geliebt und war noch zum Zeitpunkt von Virginias Geburt tief verzweifelt. Virginia berichtet, dass sie stundenlang auf seinem Grab gelegen sei … In dieser Trauerzeit begann sie fast obsessiv, Kranke zu pflegen und die Angehörigen Verstorbener zu trösten. Sie entsprach also dem viktorianischen Idealbild der Frau als »Angel in the house«, von dem Virginia Woolf später bemerkte, jede um Autonomie kämpfende Frau müsse dieses Bild in sich zerstören, um überleben zu können. In »Professions for women« schrieb sie 1931 über dieses Idealbild der Frau als Engel: »She wasted my time and so I killed her. She died hard … It is far harder to kill a phantom than a reality« (Woolf 1992, S. 33 f.).
Nach der Geburt ihrer beiden Geschwister Vanessa und Thoby hatten Virginias Eltern beschlossen, auf weitere Kinder zu verzichten – Virginia wurde also als nicht erwünschtes oder gar ersehntes Kind geboren. Nach ihrer Geburt war die Mutter so erschöpft, dass sie bereits nach zehn Wochen abstillen
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musste. Virginia wurde von einem Dienstmädchen mit der Flasche aufgezogen. Bei ihrem Bruder Adrian, der noch ein Jahr nach ihr geboren wurde und als Junge und Nesthäkchen zum Liebling der Eltern wurde, war dies ganz anders: Er wurde zwölf Monate von der Mutter gestillt … Virginias Vater war ein Patriarch, für den die absolute Verfügungsgewalt über die Frauen seiner Familie völlig selbstverständlich war. Die von Virginia über alles geliebte Mutter war für sie nie wirklich greifbar. Sie entzog sich der Tochter anfangs durch ihre obsessive Trauer, später durch Zuwendung zu den anderen Geschwistern und durch ihre vielfältigen Pflichten gegenüber ihrem Mann oder ihren Pfleglingen. Virginia erinnert sich an ihre Mutter: »Sehr rasch, sehr entschieden, sehr aufrecht, und hinter der Aktivität das Traurige, das Schweigen. Und natürlich war sie für mich zentral … kann ich mich daran erinnern, jemals mehr als ein paar Minuten mit ihr allein gewesen zu sein? Irgendetwas kam immer dazwischen« (in: Amrain 1992, S. 176).
Im Leben dieser komplizierten Großfamilie gab es noch die Halbbrüder aus der ersten Ehe der Mutter: Diese waren wohl in hohem Maße verantwortlich für Virginia Woolfs psychisches Leid, ja für ihr Schicksal: Vom Halbbruder Gerald wurde sie im Alter von sechs Jahren zumindest sexuell belästigt, vom Halbbruder George im Alter von achtzehn bis ca. zwanzig Jahren mit Sicherheit missbraucht, wie sie selbst distanziert beschrieb. Woolf selbst hat zwar nicht ihre späteren psychotischen Depressionen, sehr wohl aber ihr durchgehend negatives Verhältnis zum eigenen Körper auf diese Erfahrungen zurückgeführt, ebenso ihre Tendenz zur Dissoziation in Belastungssituationen. Dieses Trauma entfaltete speziell durch die schwierige Beziehung zu ihren Eltern seine langfristige Wirkung: So schrieb Woolf, dass »mein Vater zu große emotionale Forderungen an uns stellte, und das ist, glaube ich für Vieles verantwortlich, was in meinem Leben falsch verlaufen ist … Ich kann mich nicht erinnern, jemals Freude an meinem Körper gehabt zu haben« (in: Amrain 1992, S. 177).
Nach dem Tod des Vaters erlitt Virginia ihren bereits zweiten Zusammenbruch. Nach Überwindung dieser Krise konnte sie aber mit ihrer Schwester Vanessa eine eigene Wohnung beziehen, die bald eines der Zentren der Bloomsbury-Group wurde: Ständige Gäste waren die geistreichen Brüder Lytton und James Strachey sowie Maynard Keynes und gelegentlich T. S. Eliot – und schließlich ein schüchterner Schriftsteller und Freund der Stracheys, der sich in Virginia verliebte: Leonard Woolf. Die Einschätzung von Leonard Woolf schwankt heftig in der Sekundärliteratur zu Virginia: Für die Feministinnen war er bestenfalls verständnislos und schlimmstenfalls ein weiterer unterdrückender Patriarch in Virginias Leben. Allerdings haben sich Virginia und Leonard mit Sicherheit sehr geliebt – und er übernahm (für damalige Zeiten höchst untypisch) durchgehend die undankbare Rolle des Partners, der seine eigene Schriftstellerkarriere zurückstellte und über viele Jahre als Sekretär und »Krankenpfleger« versuchte, seine geniale Frau vor Überanstrengung und Reizüberflutung zu schützen. Auch der gemeinsame Verlag der beiden »The Hogarth Press« war ja ursprünglich als »Beschäftigungstherapie« für Virginia gedacht. Speziell über diesen Verlag kam Virginia Woolf sehr früh in Kontakt mit der Psychoanalyse: Die Hogarth Press verlegte Freuds Werke in der englischen »Standard Edition« – James Strachey war ja Freuds erster Übersetzer ins Englische. Virginia Woolf lernte Freud 1939 auch noch persönlich kennen, beschrieb ihn als »einen zusammengeschrumpften sehr alten Mann mit den hellen Augen eines Affen« (zit. n. Gay 2016, S. 720).
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Im Gegensatz zu fast allen anderen Mitgliedern der Bloomsbury-Group aber unterzog sich Virginia nie einer Psychoanalyse – wohl auch wegen ihrer Ambivalenz bezüglich ihrer Symptomatik, die sie trotz allen Leidensdrucks auch als wesentliche Quelle ihrer Kreativität beschrieb. Denn sie empfand ihre lebensbedrohlichen psychischen Krisen inklusive quälender Wahnideen bzw. akustischer Halluzinationen, Anorexie und monatelangen tiefen Depressionen immer auch als unverzichtbaren Motor ihrer Kreativität. So schrieb sie 1930 an eine Freundin: »Und dann heiratete ich, und mein Gehirn explodierte in einem Schauer von Feuerwerk. Als Erfahrung ist das Verrücktsein großartig, kann ich Dir versichern, und nichts, worüber man die Nase rümpfen sollte. In seiner Lava finde ich noch immer die meisten jener Dinge, über die ich schreibe. Das Verrücktsein schießt alles geformt aus einem heraus, endgültig, und nicht bloß tropfenweise, wie die Gesundheit das tut« (in: Bell 1973, Band II, S. 26).
Woolf hat ihr Leben lang keinen verständnisvollen Therapeuten oder Psychiater gefunden (was man auch der boshaften Karikatur des Psychiaters Sir William Bradshaw in »Mrs. Dalloway« anmerkt). Nach ihrem ersten psychischen Zusammenbruch im Alter von 13 Jahren (nach dem Tod der Mutter) war sie mehrmals in stationärer Behandlung inklusive Ruhe- und Mastkuren, die sie immer als qualvoll erlebte. Über viele Monate gab es im Hause Woolf eine ständig präsente Hauskrankenschwester, die Leonard in der Pflege unterstützte und primär Suizidversuche verhindern sollte. Ihr ganzes Leben lang war Virginia Woolf durchaus bewusst, dass ihr Schreiben ein Selbstheilungsversuch war, eine Wiederherstellung eines fragmentierten, oft dissoziierten Bildes von sich selbst. Während ihr der eigene Körper immer fremd blieb, von ihr selbst nicht kontrollierbar war, weil er so früh enteignet wurde – konnte sie zumindest ihre Texte selbst herstellen und kontrollieren: Der Corpus ihres Werkes sollte somit einstehen für ihren physischen Körper, diesen im Idealfall ersetzen. So wurden ihre Schmerzen für sie zum kreativen Kapital, so konnte sie aus ihnen Bedeutung für ihr Leben herauspressen. »… bin ich weiterhin der Ansicht, dass es diese Fähigkeit ist, Schocks zu empfangen, die mich zur Schriftstellerin macht. Ich wage die Deutung, dass ein Schock in meinem Fall augenblicklich von dem Wunsch gefolgt ist, ihn zu erklären. Ich fühle, dass ich einen Schlag erhalten habe, aber es ist nicht, wie ich als Kind dachte, einfach ein Schlag von einem Feind, es ist oder wird eine Offenbarung irgendeiner Art, es ist der Beweis für das Wirkliche hinter den Erscheinungen; und ich mache es wirklich, indem ich es in Worte fasse. Nur dadurch, dass ich es in Worte fasse, mache ich es ganz, diese Ganzheit bedeutet, dass es seine Macht verloren hat, mich zu verletzen, es bereitet mir – vielleicht, weil ich den Schmerz eliminiere, indem ich es tue – großes Entzücken, die getrennten Teile zusammenzufügen. Vielleicht ist das die größte Freude« (in: Amrain 1992, S. 189).1
Jenseits der Arbeit allerdings blieb es für Virginia Woolf immer schwierig, ihr Leben als selbstbestimmt oder gar als gelungen zu empfinden – trotz der Liebe ihres Mannes, trotz des zunehmenden Ruhmes: »Sobald ich nicht arbeite oder das Ende in Sicht ist, beginnt das Nichts« (in: Amrain 1992, S. 213).
1 Aus psychoanalytischer Perspektive ist dies ein beeindruckendes Beispiel für die Rezeptionstheorie der Neo-Kleinianerin Hanna Segal: Für Segal ist ja jedes gelungene Kunstwerk ein Wieder-Zusammensetzen des fragmentierten, zerstörten inneren Objekts außerhalb und innerhalb des Selbst (vgl. Segal 1996)!
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Jedes neue Buch wird zum Versuch, den Dämonen ihrer Vergangenheit zu entkommen. So hat sie in »To the Lighthouse« ihre Eltern als gnadenlos nach Wahrheit strebenden Philosophen Mr. Ramsay und als idealisierte Zentralpräsenz Mrs. Ramsay dargestellt: »Ich schrieb das Buch sehr schnell, und als es geschrieben war, verfolgte mich meine Mutter nicht mehr. Ich vermute, ich habe für mich selbst getan, was Psychoanalytiker für ihre Patienten tun. Ich gab einer lange und tief gefühlten Empfindung Ausdruck, und indem ich ihr Ausdruck gab, erklärte ich sie und bettete sie dann zur Ruhe« (in: Amrain 1992, S. 183).
Diese Ruhe war leider nicht von Dauer. Nur allzu bald erwachten die Gespenster wieder zum Leben und prägten auch die Inhalte weiterer psychischer Krisen. Als dann zu Beginn des Zweiten Weltkriegs noch die Angst vor den Bomben und vor einer deutschen Invasion (die ihr Leben und das ihres jüdischen Mannes extrem gefährdet hätte) hinzukam, reichten ihre Kräfte irgendwann nicht mehr aus. Die Aussicht auf eine neuerliche Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus vergrößerte nur ihre Panik. Am 28. März 1941 verließ sie ihr Haus und ertränkte sich im nahen Fluss. Sie hinterließ einen der berühmtesten Abschiedsbriefe der Literaturgeschichte. »Ich werde mit fliegenden Fahnen untergehen« hatte sie noch kurz vorher in ihr Tagebuch geschrieben (Woolf 1978, S. 345).
Liebe, Wahrheit, Realität – Virginia Woolfs »moments of being« In ihren großen Romanen ging es Virginia Woolf primär um die Erfassung einer nicht nur rationalen, sondern umfassenderen Wirklichkeit: Sie betonte, dass ihrer Meinung nach die Fiktion mehr Wahrheit enthielte als die bloß faktische, materielle Realität. »There is more truth in fiction than facts« (Woolf 1977, S. 6).
Woolf zeigt in ihren Texten die Fülle all der Impressionen, die ein Mensch (wie etwa ihre Mrs. Dalloway) durch seine Sinne aufnimmt und im Bewusstsein verarbeitet. Niemand von ihren Figuren vermag genau zu sagen, was denn »life« oder »truth« oder »reality« wirklich bedeuten. Virginia Woolf aber verwendet diese drei Begriffe fast synonym. Deren Essenz lässt sich mit rationaler Begrifflichkeit nicht erfassen, erschließt sich bestenfalls in seltenen fast mystischen Augenblicken (oft verdeutlicht durch Metaphern von Licht und Dunkelheit): »Moments like this are buds on a tree of life, flowers of darkness« (Woolf 1964, S. 33).
Diese »moments of vision« oder auch »moments of being« sind erfüllt vom Gefühl, einen Herzschlag lang die ganze Fülle des Lebens bewusst und intensiv zu spüren – oder in den Worten ihrer Mrs. Dalloway: »to plunge2 into the very heart of the moment« (Woolf 1964, S. 42).
Dementsprechend sind das Innenleben, die Eindrücke, Empfindungen und Emotionen ihrer Figuren Woolf viel wichtiger als die äußere Oberflächenwirklichkeit. Ihre ProtagonistInnen reagieren unablässig auf die Mikro-Botschaften aller Menschen in ihrer Umgebung, umgekehrt werden auch sie immer in den Impressionen der anderen gespiegelt. Dieser Effekt wird noch verstärkt durch 2 To plunge: sich fallen lassen, ein Wagnis eingehen, aber auch: stürzen, sich hineinwerfen – also ein Wort zum Ausdruck sowohl des aktiven Handelns als auch des passiven Ausgeliefert-Seins …
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Verwendung des filmischen Stilmittels der Überblendung in ihren Texten: Bei den jeweiligen Übergängen von der Innenperspektive einer Person zur Innensicht der anderen dienen ihr Gegenstände oder Außenreize wie ein vorbeifahrendes Auto, ein Flugzeug am Himmel oder die Glockenschläge des Big Ben in »Mrs. Dalloway« als Brücke von einem individuellen Bewusstsein zum anderen und oft auch wieder zurück. Eine solche seismografische Beschreibung einer subjektiven Innenwelt gelang ihr erstmals 1925 in »Mrs. Dalloway«. In den Jahren davor hatte sie Joyce gelesen und vor allem Marcel Proust. Über das Erlebnis ihrer Proust-Lektüre berichtete sie, dass es ihr half, ihre Sinneseindrücke in Worte zu fassen. Original: »It has a couching3 effect on the senses« (vgl. Erzgräber 1993, S. 71).
Noch mehr als bei Proust oder Joyce sind bei Virginia Woolf ihre Zentralfiguren kaum mehr abgegrenzte Individuen, vielmehr Knotenpunkte von Sinneseindrücken in Beziehungsnetzen. Diese ständige Interdependenz, die Verbundenheit der Innenwelten ihrer ProtagonistInnen zeichnet sie in einer Prosa des Bewusstseinsstroms nach. Es ist eine umfassende Beschreibung aller Gedanken, Gefühlsregungen und Sinneseindrücke, die in Sekundenschnelle die Seele eines Menschen bewegen: »Betrachten wir einen Augenblick lang ein gewöhnliches Gemüt an einem gewöhnlichen Tag. Es empfängt eine Myriade von Eindrücken – triviale, phantastische, flüchtige, oder solche die sich stahlscharf einprägen. Von allen Seiten kommen sie heran, ein unablässiger Schauer zahlloser Atome … Lasst uns die Atome registrieren wie und in welcher Reihenfolge sie auf unser Gemüt eindringen, lasst uns jener Verbindung von Eindrücken nachspüren, so unzusammenhängend und sinnlos sie auch sein mag, die jeder Anblick oder Zwischenfall im Bewusstsein formt. Lasst uns nicht ohne weiteres annehmen, das Leben bestünde in reicherem Maße in dem, was man für gewöhnlich groß nennt, als in dem, was man für gewöhnlich klein nennt.« (Woolf 1997, S. 183)
Dieser ästhetische Ansatz einer Beachtung kleinster Details und Splitter von subjektiven Eindrücken führt sie sowohl nahe an die Psychoanalyse und deren Grundregel mit der Aufforderung zur freien Assoziation als auch in die Nähe des Filmes. Sie war fasziniert vom Kino, weil sie vermutete, dass die filmische Montage leichter als die Stilmittel des klassischen Romans eine lineare Erzählstruktur aufsprengen könnte. Sie beschrieb die »geheime Sprache des Kinos, die wir fühlen und sehen, aber niemals sprechen« (Woolf 1975, S. 227).
Trotz ihrer konsequenten Ablehnung einer psychoanalytischen Behandlung ging die Autorin wie selbstverständlich vom Einfluss des Unbewussten auf ihr Schreiben aus: so z. B. im Tagebuch am 15.10.1923 das Eingeständnis »You cannot do this sort of thing consciously. One feels about in a state of misery – and then one touches the hidden spring« (Woolf 1978, S. 66 f.).
3
To couch (vb.): ausdrücken, formulieren, in Worte fassen, aber auch: sich niederlegen, sich lagern … eben auf die Couch.
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Wenn aber diese verborgene Quelle, diese Triebfeder des Schreibens gefunden wird, dann gibt es die ersehnten ekstatisch-mystischen Momente, dann kann ein ganz alltäglicher Sinneseindruck zur Epiphanie werden, zum erfüllten Augenblick: Dann sind alle Konflikte, alle Kämpfe des Lebens suspendiert, wenn »das Leben für einen Augenblick Ruhe gibt und zugleich die Reichweite der Erfahrung grenzenlos wird« (in: Erzgräber 1993, S. 92 f.).
Solche Momente einer explizit nicht als religiös verstandenen »säkularen Epiphanie« lagen nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges damals sichtlich in der Luft: Robert Musil spricht von Erlebnissen tagheller Mystik, Walter Benjamin von profanen Erleuchtungen, Marcel Proust von der durch das Schreiben erzielten Evokation der wiedergefundenen Zeit. Erst in solchen ekstatischen Augenblicken, im Erleben eines Kairos wird für Virginia Woolf die Welt in einem umfassenden Sinn real: »Was ist die Realität? Sie scheint etwas höchst Unstetes, höchst Unverlässliches zu sein. Etwas, das sich einmal auf einer staubigen Straße findet, einmal in einem Stück Zeitungspapier auf dem Pflaster, einmal in einer Narzisse im Sonnenlicht. Es erhellt eine Gruppe von Menschen in einem Zimmer und drückt einer zufälligen Bemerkung seinen Stempel auf … Es ist dies, was zurückbleibt, wenn der Tag sich gehäutet hat und die alte Haut in der Ecke liegt; dies, was zurückbleibt vom Vergangenen, von unserer Liebe und unserem Hass. Es ist die Aufgabe des Schriftstellers, es aufzuspüren und zu sammeln und den anderen mitzuteilen« (Woolf 1977, S. 104).
Die Aufgabe des Schriftstellers ist es also, solche existenziell aufgeladenen Momente des Alltags mitzuteilen – und damit auch mit dem Leser zu teilen. Woolf hatte an ihren Mann kurz vor der Hochzeit über ihre Skepsis geschrieben, ob zwei Menschen wohl irgendetwas wirklich teilen könnten – aber zumindest in ihrem Werk fand sie manchmal zu dem, was Peter von Matt »die Resozialisierung der isolierten Schmerzen« genannt hat (Matt 2001, S. 120): Sie konnte es teilen mit allen ihren LeserInnen. Einer ihrer sensibelsten Leser war wohl Michael Cunningham.
Roman über einen Roman: M. Cunninghams »The Hours« Michael Cunningham wurde spätestens mit »The Hours« zu einem der wichtigsten zeitgenössischen amerikanischen Erzähler. Besonders faszinierend an diesem so dicht gearbeiteten Roman ist für mich die Gleichzeitigkeit des intensiven Bezugs auf »Mrs. Dalloway« (bis hin zu wörtlichen Zitaten) und die hochgradige Eigenständigkeit seines Textes. (Dieses Muster der »Variation über …« führt ja öfters in der Musik als in der Literatur zu eigenständigen Werken.) Cunningham demonstriert beeindruckend, wie ein intensives Leseerlebnis Anlass zum autonomen Werk werden kann. Rezeption wird für ihn der Ausgangspunkt für die eigene Produktion. Dadurch ist sein Roman auch ein überzeugendes »Fallbeispiel« für Freuds Beschreibung des Wesens von ästhetischem Erleben: »es soll die Affektlage, welche beim Künstler die Triebkraft zur Schöpfung abgab, bei uns wieder hervorgerufen werden« (Freud 1999, S. 173).
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Noch stärker als Virginia Woolf legt Cunningham den Akzent auf die Vergänglichkeit der »moments of being« und auf die Notwendigkeit, sie eben als Momente und nicht als Beginn eines permanenten Lebensglücks zu begreifen: Auch bei ihm gibt es nur einen Trost angesichts der Schmerzen und Verluste eines ganz normalen Lebens: »There is just this for consolation: An hour here or there when our lives seem, against all odds and expectations, to burst open und give us everything we have ever imagined« (Cunningham 1998, S. 225).
Diese Zeilen finden sich auf der letzten Seite von »The Hours«. Hier und auch in seinen anderen Romanen beschreibt Cunningham die Trauer um vergebene Möglichkeiten, das Schwanken zwischen verschiedenen Lebens-Optionen, wie z. B. zwischen homosexueller und heterosexueller Objektwahl. Cunningham selbst steht offen zu seiner Homosexualität, verwehrt sich jedoch gegen eine Rezeption bzw. Reduktion als »gay writer«. Er lebt seit über zwanzig Jahren mit seinem Partner zusammen – einem Psychoanalytiker. Sein Roman galt als unverfilmbar, bis der Drehbuchautor David Hare in beeindruckender Weise das Gegenteil bewies.
Die Verfilmung eines unverfilmbaren Buches: Stephen Daldry’s »The Hours« Stephen Daldry löst in seinem Film genau jene ästhetische (und formal so schwierige) Aufgabe, die sich auch Virginia Woolf in ihrer »Mrs. Dalloway« und Cunningham in »The Hours« gestellt hatten: »A woman’s whole life in a single day.« (So zitierte M. Cunningham Virginia Woolf – in NYT, 19.01.2003.) Der Film war trotz seiner komplexen Struktur ein beachtlicher Publikumserfolg und wurde von der Kritik freundlich bis enthusiastisch aufgenommen und mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht: Darunter neun Oscar-Nominierungen und schließlich ein Oscar als beste Hauptdarstellerin für Nicole Kidman und sieben Golden Globe-Nominierungen (inklusive Golden Globe für den Film als »Best Drama« und wiederum für N. Kidman). Neben einem deutschen Filmpreis 2003 wurden bei der Berlinale 2003 Nicole Kidman, Julianne Moore und Meryl Streep gemeinsam mit dem Silbernen Bären als »Beste Darstellerin« ausgezeichnet. Selbst die weniger freundlichen Kritiken (so wie z. B. im Commentary), die von »a gloomy, well made women’s weepie« schrieben, lobten den Film für seine Nachzeichnung des Fortschrittes bezüglich der Rollengestaltung von Frauen im Laufe eines Jahrhunderts. Der Film bietet drei Paraderollen für drei große Schauspielerinnen: Nicole Kidman konnte sich damit erstmals als ernsthafte Schauspielerin etablieren jenseits der Hollywood-Schönheit, auf die sie davor reduziert wurde. Julianne Moore brilliert als Vorstadt-Hausfrau am Rande des Nervenzusammenbruchs mit einem zur Grimasse erstarrtem Dauer-Lächeln. Meryl Streep beeindruckt durch ihre präzise Darstellung von Clarissa als sowohl souveräne Organisatorin als auch verletzliche, verstörte Frau. Die Filmmusik von Philip Glass wurde von der Kritik zwar überwiegend als zu intensiv oder gar schwülstig empfunden, erhielt aber ebenfalls Preise. Sie prägt besonders die sieben Minuten lange »stumme« Eröffnungs-Sequenz von Virginia Woolfs Vorbereitung zum Suizid. Diese drei Tage im Leben der drei Frauen überzeugen auch durch die Kameraführung, vor allem aber durch unterschiedliche Beleuchtung und Farbtönung unterschiedene »period pieces«: Die Szenen des ländlichen England von 1923 mit Virginia Woolf sind in dunklen, grün-braunen Erd-Tönen gehalten, während die Vorstadtszenen des Los Angeles von 1951 mit ihren knall-hellen Primärfarben die dunkle Verzweiflung Julianne Moores kontrastieren. Die Episode in New York 2001 imponiert
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als betont realistisch in kühlen Blau- und Grautönen mit konsequent neutraler Farbgebung und Kameraführung. Im gesamten Film sehen wir so gut wie ausschließlich Innenaufnahmen, wodurch eine Grundstimmung der Eingeengtheit, des Gefangenseins in den bestehenden Verhältnissen noch unterstrichen wird. Virginia Woolf findet nur zweimal den Weg ins Freie – das erste Mal auf der Flucht Richtung Bahnhof, das zweite Mal zum Suizid. Auch Richard verlässt seine höhlenartig gezeichnete Wohnung erst ganz am Ende zum Sprung in den Tod. Laura erleben wir zwar außerhalb ihres Vorstadt-Puppenheims – allerdings wiederum nur eingeschlossen im Auto oder im Hotel. Landschaftsbilder gibt es nicht, die Intensität des emotionalen Kammerspiels spiegelt sich in den Gesichtern der Hauptdarstellerinnen. Die Verknüpfung der drei Handlungsstränge ist durch viele parallele Details verzahnt: In jeder der drei Episoden gibt es einen Kuss zweier Frauen als erotisches Zentrum, in allen drei Episoden werden von den Frauen Eier zerschlagen, alle Handlungsstränge zeichnen den Tagesverlauf nach vom Aufwachen einer Frau bis zur abendlichen Party/Geburtstagsfeier am Ende des Tages. Besonders kunstvoll wirkt die Verzahnung der drei Narrative beim Motiv des Blumenkaufs: Virginia Woolf schreibt ihren berühmten ersten Satz: »Mrs Dalloway said she would buy the flowers herself.« Laura liest eben diesen Satz und Clarissa spricht ihn schließlich im Film. Alle oben genannten Motive erscheinen auch schon in »Mrs. Dalloway« – und sowohl Michael Cunningham als auch Stephen Daldry haben sie subtil variiert. Insgesamt erleben wir also eine kunstvolle Parallel-Montage, ein Spiegelkabinett der Blicke und Motive in zwei Romanen und einem Film. Von Cunninghams Roman hat Daldry auch die Zusammenführung der Handlungsstränge erst ganz am Ende übernommen: Laura entpuppt sich als Richards Mutter und taucht als alte Frau nach dessen Tod bei Clarissa Vaughan auf. Ein Mann also ist das »Link« zwischen den drei Frauen: Richard als bewundernder Leser des Romans der Virginia Woolf, als Sohn von Laura und als Lebens-Zentrum und Gegenstand der Sorge für Clarissa.
Virginia Woolf/Nicole Kidman In Nicole Kidmans Darstellung sehen wir fast ausschließlich die »dunklen Anteile« von Virginias Seelenleben und die quälende Rollenverteilung zwischen dem labilen Genie und ihrem engagierten, aber hilflosen Ehemann und »Pfleger« Leonard. Die Auseinandersetzung der beiden am Bahnhof kann man auch als »Drama des Angehörigen« lesen: Virginias so eindringlicher Satz: »You cannot find peace by avoiding life« würden wohl die meisten psychotischen oder bipolaren PatientInnen unterschreiben – nicht aber deren Angehörige und Therapeuten … Einig allerdings sind sich Virginia und Leonard darin, dass ihr Werk absoluten Vorrang hat: Als sie ihm mit ganz leiser Stimme sagt, dass sie »vielleicht einen ersten Satz« für das neue Buch habe – ist sofort für beide klar: Jetzt muss sie schreiben …4
Laura Brown/Julianne Moore Nach Kidman als Autorin von »Mrs. Dalloway« sehen wir dann im Nachkriegs-Kalifornien Julianne Moore bei der Lektüre dieses Romans: Für Laura Brown (auch der Name Brown ist kein Zufall – er taucht in einem Essay Virginia Woolfs auf) ist es eine verblüffende Entdeckung, dass Woolfs »Mrs. Dalloway« einerseits die souveräne Gastgeberin und Gesellschaftsdame sein kann, sich gleichzeitig aber völlig unsicher fühlen kann: Laura berichtet ihrer Freundin, dass das Buch von einer Frau handle, die glücklich zu sein scheint – es aber nicht ist. Also ist sie (Laura) mit ihren Zweifeln, mit ihrem Leiden
4 Bei der Beschäftigung mit diesem Film (und wohl auch in diesem Text) besteht sicher das Risiko, dass die »Notlösung« einer intensiven Besetzung eines »nicht lebendigen Objektes« im Sinne eines Kunstwerkes idealisiert wird: Insgesamt handelt es sich doch eindeutig auch um eine narzisstische Regression, eine Abwendung vom lebendigen, aber enttäuschenden Objekt.
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vielleicht nicht allein … Und dann natürlich die Frage der bewundernden Leserin: Wie kann sich jemand, der solche Sätze schreiben kann, das Leben nehmen? Beim Lesen dieser Sätze spürt Laura am ehesten so etwas wie Lebendigkeit – während das Durchhalten ihres Alltags als Ehefrau, Hausfrau und vor allem als Mutter ihr nur mehr als qualvolle Überforderung erscheint. So ist die Lektüre für sie eine Möglichkeit zur Flucht vor ihrem Leben – wohl aber auch die Rettung vor dem bereits fix geplanten Suizidversuch im Hotel. Sie kann sich also in ihrer Lektüre verlieren, vielleicht aber auch erstmals selbst finden. Am Ende wird sie Mann und Kind verlassen – die größte Angst ihres sechsjährigen Sohnes wird dadurch zur Realität. Für ihn wird die Mutter tot sein – auch wenn sie woanders weiterlebt (allein und zufriedener mit ihren Büchern?). Diese herzzerreißenden Bilder eines Sohnes und seiner durch ihre Depression affektiv unerreichbaren Mutter erscheinen wie ein Fallbeispiel zu André Greens Konzept der »toten Mutter«:
Die tote Mutter oder: Das Drama des alleingelassenen Kindes In Daldrys Film ist das weitgehend wortlose Leiden in den Szenen zwischen Laura Brown und ihrem Sohn kaum erträglich: Emotional wie vereist bewegt sich Laura Brown durch ihren Hausfrauen-Alltag und schaut sowohl hilflos als auch verzweifelt auf ihren Sohn, wie Michael Cunningham in einem Interview beschrieb: »Looking at her son with an agonizing mix of adoration and terror, knowing she will harm him no matter what she does« (Cunningham 2003).
Diese herzzerreißenden Szenen des ratlosen Sohnes und seiner durch ihre Depression für ihn affektiv unerreichbar gewordenen Mutter waren für mich zumindest ansatzweise zu begreifen – und dadurch auch leichter zu ertragen – durch das Konzept der »toten Mutter« des Psychoanalytikers André Green: Er beschrieb 1983 im gleichnamigen Aufsatz die psychischen Folgen einer mütterlichen Depression für ein Kind in dessen ersten Lebensjahren, die Konsequenzen der emotionalen Taubheit, des Versagens der mütterlichen Affekt-Spiegelung: »Die tote Mutter ist also eine Mutter, die am Leben bleibt, die aber sozusagen psychisch tot ist, tot in den Augen des kleinen Kindes, für das sie zu sorgen hat« (Green 2004, S. 233).
Als Erwachsene leiden diese Kinder einer »toten« Mutter unter einer narzisstischen Problematik mit gewaltigen Forderungen seitens ihres Ich-Ideals. Oft kommen sie in Therapie oder Analyse nicht mit den klassischen Symptomen einer klinischen Depression, vielmehr schildern sie ein unglückliches Liebesleben, ein Scheitern im Beruf oder aber ein generelles tiefes Unbehagen, eine Abwesenheit jeglicher Vitalität trotz aller Erfolge: »Deutlich ist ein Gefühl von Unfähigkeit: Der Unfähigkeit, aus einer Konfliktsituation herauszufinden, zu lieben, Begabungen zu nutzen oder Lebenserfahrungen reifen zu lassen. Selbst wenn dies alles realisiert wurde, verbleibt dennoch eine tiefe Unzufriedenheit über das Ergebnis« (ebd., S. 240).
Als charakteristisch für diese Disposition des Kindes zur späteren Depression beschreibt André Green, dass hier das mütterliche Objekt zwar physisch anwesend bleibt, dass aber diese Mutter durch ihre eigene Trauer völlig in Anspruch genommen ist und daher für das Kind affektiv abwesend – »tot« im emotionalen Sinn. Die Depression der Mutter, ihr dadurch verschwindendes Interesse für das Kind füh-
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ren zum Verlust an Sinn, an Lebenssinn. Das Kind organisiert in der Folge sein psychisches Leben um die unbewusste Identifikation mit dieser toten Mutter, was alle anderen, späteren Objekt-Besetzungen erschwert oder sogar unmöglich macht. André Green schildert als häufige Folge eines solchen Leidenszustands beim Kind ein (von außen betrachtet) durchaus autonomie-förderndes Coping-Verhalten: »vor allem strukturiert die Suche nach einem verlorenen Sinn die vorzeitige Entwicklung der phantasmatischen und intellektuellen Fähigkeiten des Ich … Leistung und Selbstheilung geben einander die Hand, um gemeinsam auf dasselbe Ziel hinzuwirken: Der Bewahrung einer Fähigkeit, mit der Verwirrung über den Verlust der Brust durch die Erschaffung einer angesetzten Brust fertig zu werden, welche ja letztendlich doch nur ein Stück Gedankenstoff ist … Das Kind hat die grausame Erfahrung seiner Abhängigkeit von den unterschiedlichen Stimmungen seiner Mutter gemacht. Fortan widmet es sein Bemühen dem Voraussagen oder Vorwegnehmen« (ebd., S. 244).
In Weiterführung dieser forcierten und verfrühten Autonomie-Entwicklung betont der Autor, dass viele kreative Menschen dementsprechend zwar große Leistungen in Wissenschaft und Kunst erbringen können, ohne jedoch als Erwachsene liebesfähig zu werden. Deshalb haben die Liebesobjekte dieser erwachsen gewordenen verlassenen Kinder in solchen Fällen wenig Chancen: »Alles in allem bleiben die Objekte des Subjekts immer an der Grenze des Ich, nicht ganz drinnen, nicht ganz draußen. Und das aus gutem Grund: Der Platz im Zentrum ist durch die tote Mutter besetzt« (Green 2004, S. 245).
Auch wenn sie sich einer Psychoanalyse unterziehen, investieren sie den emotionalen Ertrag dieser Behandlung wiederum nur in ihr Werk und nicht in ihre Liebesbeziehungen. Oft genug aber hat auch der Psychoanalytiker kaum eine Chance, mit ihnen in emotionalen Kontakt zu kommen, kann auch mit seiner »angesetzten Gedankenbrust« (siehe obiges Zitat) ihnen nicht genug nährende Milch geben. Aber nicht immer muss diese emotionale Extrembelastung der ersten Jahre wie ein Fluch über dem gesamten Leben liegen, nicht immer müssen solche Lebensgeschichten so schrecklich enden wie die von Richard im Film, der noch in seinen letzten Worten vor dem Sprung aus dem Fenster ausgerechnet jene Schriftstellerin zitiert, deren Lektüre seine Mutter der Beschäftigung mit ihm vorgezogen hatte. Während Richard als Protagonist im Film seine Mutter in einem Roman sterben ließ, konnte Cunningham mit seinem – von ihm als ähnlich angedeuteten Kindheits-Schicksal – sichtlich produktiver umgehen: Er betonte, dass in die Figur der Laura einige Charakterzüge seiner eigenen Mutter eingegangen seien: Laura sei zwar mit seiner Mutter nicht ident, aber »one uses what one knows« (Cunningham, 2003). Der Autor berichtet, dass es ihm ein großes Anliegen war, seiner sterbenskranken Mutter noch wenige Wochen vor ihrem Tod zumindest einige Muster der (noch nicht fertigen) Verfilmung seines Romans vorzuführen – als eine letzte Geste der Versöhnung? Auch von einem anderen Sohn einer affektiv abwesenden, für ihn dadurch unerreichbar gewordenen Mutter kennen wir ein berührendes Beispiel der kreativen Umsetzung einer solchen Verlusterfahrung: berührend sowohl wegen der ästhetischen Leistung als auch wegen des noch Jahrzehnte später schmerzlich spürbaren Leidens: Es ist das Gedicht eines Mannes, der ein sehr erfolgreiches Berufsleben lang forschte und nachdachte über diese so wichtige Beziehung der Mutter zu ihrem Kind. Seine eigene Kindheit schildert er im folgenden Gedicht:
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Mother below is weeping weeping weeping Thus I knew her Once, stretched out on her lap as now on dead tree I learned to make her smile to stem her tears to undo a guilt to cure her inward death To enliven her was my living.
Mutter unten weint weint weint So kannte ich sie Einst ausgestreckt in ihrem Schoß, wie jetzt auf totem Baum lernte ich, sie zum Lachen zu bringen, ihren Tränen Einhalt zu gebieten, ihre Schuld ungeschehen zu machen, den Tod in ihr drinnen zu heilen. Mein Leben war, sie zu beleben.
(Winnicott, in: Phillips 2007, S. 29)
Der Autor dieser Zeilen ist Donald Winnicott: Er prägte den Begriff der »hinlänglich guten Mutter«. Seine eigene Mutter war wohl nicht immer »hinlänglich gut« erreichbar, war depressiv und ließ in ihrem Sohn die Überzeugung zurück, dass er sie retten, »beleben« müsse. Übrigens berichtete auch André Green, dass er seinen Text aus eigenem schmerzlichem kindlichem Erleben schrieb, aus subjektiver Erinnerung an eine »tote Mutter«. Er hielt diese persönliche Betroffenheit für den Hauptgrund dafür, dass von seinen zahlreichen Aufsätzen und Büchern gerade dieser weltweit die meiste Resonanz fand. Und abschließend können wir zu dieser Reihe der verlassenen Söhne (Cunningham, Winnicott und Green) noch Virginia Woolf hinzufügen: Ihre eigene Mutter war ja durch die Trauer um den verstorbenen Gatten emotional so blockiert, so zentriert auf diesen Verlust, dass sie mehr Zeit an seinem Grab verbrachte als beim Spiel mit ihrer kleinen Tochter. Diese von der Mutter allein gelassenen Kinder reduzieren dann als Erwachsene ihrerseits die PartnerInnen oft zu »BetreuerInnen« – so auch in Cunninghams Roman und im Film: Sowohl Leonard Woolf als auch der hilflose Sohn Richie und der ahnungslose Ehemann von Laura als auch Clarissa Vaughan – alle sind rührend bemüht um ihre jeweiligen »PatientInnen« und alle bleiben sie letztlich trotz ihres Einsatzes hilflos zurück: All ihre Liebe war zu wenig: siehe Virginia Woolfs Abschiedsbrief an Leonard: »Dearest, I feel certain I am going mad again. I feel we can’t go through another of those terrible times. So I’m doing what seems the best thing to do … I don’t think two people could have been happier till this terrible disease came. I can’t fight any longer … I owe all the happiness of my life to you. You have been entirely patient with me and incredibly good. If anybody could have saved me it would have been you. I don’t think two people could have been happier than we have been. V« (in: Bell 1973, Bd. II, S. 226).
Clarissa Vaughan: Wenn eine Frau sich nicht lebendig fühlt Während Virginia Woolf (als Protagonistin in diesem Film und wohl auch in ihrem realen Leben) und auch Laura Brown mit einem quälend spürbaren Leidensdruck leben und daher als massiv psychisch krank imponieren, erleben wir im Film Clarissa Vaughan als zwar unglücklich, aber »normal«, zumindest nicht klinisch depressiv: Ihre Stimmung wechselt zwar rasch und oft, durchgehend aber spüren wir als Zuschauer bei ihr eine unerfüllte Sehnsucht nach einem »Mehr«, nach dem großen Gefühl, dass sie nur damals in ihrer Liebe zu Richard erlebt haben dürfte …
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Wahrscheinlich führt die Leitdifferenz gesund oder krank hier nicht allzu weit. Geeigneter scheint die von Donald Winnicott betonte Unterscheidung zwischen jenen Menschen, die sich lebendig fühlen und den anderen: Laut Winnicott kann man sehr wohl psychisch gesund sein, ohne sich dabei lebendig zu fühlen. Winnicott hat ja (im Gegensatz zur oft verkürzten Populär-Rezeption seines Werkes) keinesfalls nur die idyllische Beziehung zwischen Mutter und Kind idealisiert. Er beschrieb durchaus drastisch das Risiko nicht nur dieser dyadischen Beziehung, sondern jeglicher Objektbeziehungen für den Menschen. Vor allem dann, wenn dieser Mensch nicht auf ein Urvertrauen als Folge einer guten Bemutterung zurückgreifen kann. Für Winnicott ging es dabei nicht so sehr um die Frage des Konfliktes zwischen Triebwünschen und deren Abwehr, vielmehr um die Unterscheidung zwischen einem wahren und dem falschen Selbst in der Entwicklung des Kindes: Diese Unterscheidung ist auch relevant für die Rezeption von »The Hours«, weil sie wichtig ist für die Einschätzung einer eventuell gemeinsamen Genese von Depression und Kreativität: Während sowohl Sigmund Freud als auch Melanie Klein Kreativität als sekundär beschrieben (bei Freud sekundär als Sublimierung, bei Klein sekundär als Wiedergutmachung), postuliert Winnicott Kreativität als primäres Ereignis: Sie ist für ihn zentral und präsexuell, nicht erst eine Abwehrleistung als Folge eines Konfliktes. Gerade die natürliche, ungestörte und gegenseitige Beziehung zwischen dem Baby und der »hinlänglich guten Mutter« gilt ihm als ein Paradebeispiel für Kreativität. Primär hingegen ist für Winnicott die anfängliche Illusion des Babys, dass die Mutter seine eigene Schöpfung sei und ihm daher zur ausschließlichen Verfügung stehe. Erst durch langsame und möglichst schonende Desillusionierung seitens seiner Mutter (nach einer hinlänglich langen und intensiven emotionalen Absättigung des Babys) entsteht allmählich aus dieser Mutter-Kind-Dyade heraus ein intermediärer Raum. Der Umgang mit eben diesem intermedialen Raum aber wird noch beim späteren Erwachsenen dessen Beziehung zur Kultur, zu kulturellen Objekten prägen. Wenn aber diese Illusion des Anfangs zu früh zerstört wird (eben die Illusion des Babys, die Mutter selbst geschaffen zu haben), wenn sich das Kind an die Mutter anpassen muss statt umgekehrt, dann wird der Anteil des »falschen Selbst« zu groß, dann dominiert eine »primitive Form von Selbst-Genügsamkeit in der Abwesenheit von Fürsorge« (Phillips 2007, S. 134).
Eine solche Herrschaft des falschen Selbst aber resultiert dann im »allgemein menschlichen Unglück«, trägt bei zum Gefühl eines entfremdeten, leblosen Existierens. Dann besteht bei jeder neuen Objektbeziehung für den Menschen wieder die Gefahr der allzu bereitwilligen Anpassung an den Partner, dadurch wieder die Gefahr der Entfremdung von den eigenen Wünschen und des Autonomieverlustes. In den Worten von Marilyn Charles: »The Hours is the dilemma of how to define the self in relation to the other: How can one love and be loved and survive intact?« (Charles 2004, S. 306).
Allerdings gibt es auch die Gefahr eines allzu massiven Gegensteuerns in Richtung einer forcierten emotionalen Autonomie. Die dazu passenden Schlagworte der Populär-Psychologie sind tief in unser aller Leben eingedrungen: Be true to yourself! Sei authentisch! Selbstverwirklichung wurde zum Schlagwort, durch die freie Entfaltung der Persönlichkeit, durch das Persönlichkeitswachstum sollte so gut wie alles möglich werden. Das »wahre Selbst« (das bei Winnicott selbst kaum definiert ist) sollte sich beliebig oft und kreativ neu erfinden können (Vgl. Bröckling 2010). Für viele Menschen aber wurde diese Forderung nach psychischer Selbstverwirklichung und Neu-Erfindung des Selbst zur normativen Überforderung: 1998 beschrieb Alain Ehrenberg in seiner
The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit (2002)
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soziologischen Studie die psychischen Kosten dieses Strebens nach immer größerer Autonomie, nach Selbstverwirklichung, ja nach »Self design«: Die wörtliche Übersetzung des französischen Originaltitels hätte gelautet: »Die Müdigkeit, ein Selbst zu sein«.
Auf Deutsch hieß das Buch aber dann: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart (Ehrenberg 2004). Ehrenberg beschrieb diese Volkskrankheit, diese »neue« Depression als eine umfassende Erschöpfung (nicht so sehr als Folge eines psychodynamischen Konfliktes, sondern als Überforderung im Angesicht der unübersehbar vielen Optionen). Es geht hier also mehr um Scham am Nicht-Genügen als um Schuld, mehr um eine Ich-Ideal-Problematik als um den Druck des Über-Ichs wie früher. Nicht mehr zu viel Abhängigkeit, sondern zu viel Autonomie macht jetzt krank! Ehrenberg betont, dass diese Suche nach dem wahren Selbst sich von einem Privileg der Intellektuellen zu einer »demokratisierten« Forderung an alle verwandelt hätte (Vgl. Ehrenberg 2010). Der israelische Psychoanalytiker Carlo Strenger beschäftigte sich in den letzten Jahren mit der Frage, wie er in seinen Analysen Menschen bei diesen Problemen der allzu großen Autonomie, der »Individualität als unmögliches Projekt« und des »Self design« helfen könnte. [So auch die Titel seiner Bücher: Individuality, The impossible project (Strenger 2002) sowie The designed self (Strenger 2005).] Er definierte die Aufgabe der Psychoanalyse im 21. Jahrhundert dahingehend, dass sie Hilfestellung leisten müsse, einen Rahmen schaffen müsse, um die Projekte der »Selfcreation« zu erzählen. Also die Herstellung jeweils neuer »Narrative Selves« durch die Resonanz-Erfahrung mit dem Therapeuten. Diese Überlegungen scheinen mir auf Clarissa Vaughan als Lektorin und Romanfigur gut anwendbar: »Eigentlich« ist sie ja nicht so unglücklich mit ihrem Leben, aber … In diesem »eigentlich« schwingt die ganze Sehnsucht nach einer anderen, besseren, glückhaften Vitalität mit: Am lebendigsten fühlt sie sich nicht in der Gegenwart ihres realen »uneigentlichen« Lebens, sondern in der Erinnerung und in der Sehnsucht nach diesem anderen Leben. Allerdings gibt es auch Hoffnung auf eine Erfüllung im »Hier und Jetzt«: Sowohl im Gespräch mit ihrer Tochter als auch beim Kuss mit ihrer Lebensgefährtin. Vielleicht muss dafür aber erst Richard sterben? Vielleicht kann sie erst dadurch akzeptieren, dass das Glück immer nur momenthaft kommt, dass es sehr wohl ein »richtiges Leben im falschen«5 gibt. So bleiben wir am Schluss des Films zurück ohne Antwort auf die große Frage: Wie soll man leben? Oder gar glücklich leben? Dazu statt einer definitiven Antwort eine letzte Einladung Virginia Woolfs zur Feier des geglückten Augenblickes: »Was ist der Sinn des Lebens? Darauf lief es hinaus – eine einfache Frage, die einen im Lauf der Jahre immer wieder bedrängte. Die große Enthüllung war nicht erfolgt. Vielleicht erfolgte die große Enthüllung nie. Stattdessen gab es täglich kleine Wunder, Erleuchtungen, das unerwartete Aufblitzen eines Zündholzes in der Finsternis« (Woolf in: Spiel 1991, S. 240).
Dieser Moment der Epiphanie mitten im Alltag, dieses Aufblitzen in der Finsternis kann für uns die Begegnung mit einem geliebten Menschen sein, manchmal auch die Begegnung mit einem Kunstwerk. 5 »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Dieser so oft zitierte Satz von Theodor W. Adorno (Adorno 1951) ist zwar ein schönes Motto für melancholische intellektuelle Arroganz, beinhaltet aber auch eine hochgradige Verachtung jeglicher individueller Kompromissbildung und Anpassung an eine so schwer veränderbare sozio-ökonomische Realität.
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Literatur Adorno TW (1951) Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp, Frankfurt am Main Amrain S (1992) Gleichmut – Üben Sie sich in Gleichmut, Mrs. Woolf! In: Duda S, Pusch L (Hrsg) WahnsinnsFrauen. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S 174–225 Bell Q (1973) Virginia Woolf. A biography in two volumes. Hogarth Press, London Bröckling U (2010) Über Kreativität. Ein Brainstorming. In: Menke C, Rebentisch J (Hrsg) Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Kulturverlag Kadmos, Berlin, S 89–97 Charles M (2004) The hours. Between safety and servitude. Am J Psychoanal 64:305–319 Cunningham M (1998) The hours. Picador, New York Cunningham M (2003) My novel, the movie: my baby reborn. »the hours« brought elation, but also doubt. New York Times, 19.01.2003. (https://www.nytimes.com/2003/01/19/movies/my-novel-the-movie-my-baby-reborn-the-hours-broughtelation-but-also-doubt.html [Letzter Zugriff am 14.10.2019, 17:07]) Ehrenberg A (2004) Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Campus, Frankfurt am Main Ehrenberg A (2010) Depression – Unbehagen in der Kultur oder neue Formen der Sozialität. In: Menke C, Rebentisch J (Hrsg) Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Kulturverlag Kadmos, Berlin, S 52–62 Erzgräber W (1993) Virginia Woolf. UTB Taschenbuch, Francke-Verlag, Tübingen Freud S (1999) Der Moses des Michelangelo. In: Freud S (Hrsg) Gesammelte Werke, Bd. 10. Fischer, Frankfurt am Main, S 172–202 Gay P (2016) Freud. Eine Biographie für unsere Zeit, 4. Aufl. Fischer, Frankfurt am Main Green A (2004) Die tote Mutter. Psychoanalytische Studien zu Lebens-Narzissmus und Todes-Narzissmus. Psychosozial verlag, Gießen von Matt P (2001) Literaturwissenschaft und Psychoanalyse. Reclam, Stuttgart Menke C, Rebentisch J (Hrsg. 2010) Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Kadmos, Berlin Phillips A (2007) Winnicott. Penguin, London Segal H (1996) Traum, Phantasie und Kunst. Klett-Cotta, Stuttgart (Original 1991) Spiel H (1991) In meinem Garten schlendernd. Essays. Die Frau in der Literatur. Ullstein Taschenbuch, München, S 210–242 Strenger C (2002) Individuality. The impossible project. The Other Press, New York (Original 1998) Strenger C (2005) The designed self. Psychoanalysis and contemporary identity. The Analytic Press, Hillsdale, London Woolf V (1964) Mrs. Dalloway. Penguin, London Woolf V (1975) Letters in three Volumes (1923–1928). Houghton Mifflin, London (Brief an V. Sackville West vom 13.04.1926, 227) Woolf V (1977) A room of one’s own. Panther, London Woolf V (1978) A writer’s diary (extracts from the diary of V. W., ed. by L. Woolf ). Triad, Panther Books, Frogmore Woolf V (1992) Frauen und Literatur. Essays. Fischer, Frankfurt am Main Woolf V (1997) Der gewöhnliche Leser. Essays Band I + II. Fischer, Frankfurt am Main
The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit (2002)
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Originaltitel
The Hours
Erscheinungsjahr
2002
Land
USA
Drehbuch
David Hare
Regie
Stephen Daldry
Hauptdarsteller
Nicole Kidman, Julianne Moore, Meryl Streep, Miranda Richardson, Ed Harris, Toni Collette, Claire Danes
Verfügbarkeit
Als DVD erhältlich
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Herwig Oberlerchner
Ebbe und Flut Der Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Paranoide Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 Zur Ätiologie der Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Kinder psychisch kranker Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Suizidrisiko von Kindern nach Suizid eines Elternteils . . . 381 Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_25
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(© X Verleih AG. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Das weiße Rauschen (2001) Herwig Oberlerchner
Der Film
»Das weiße Rauschen« ist ein Film des österreichischen Regisseurs Hans Weingartner und des CoRegisseurs und Drehbuchautors Tobias Amann aus dem Jahr 2001 (. Abb. 25.1, Filmplakat). Der mehrfach ausgezeichnete Film wurde an Originalschauplätzen in und um Köln gedreht und gelangte 2002 in die Kinos. Dem Film merkt man eine sehr intensive und ernsthafte Auseinandersetzung mit dem seelischen Erleben schizophrener Menschen an. Die Verbindung von Fachwissen und tiefem Einfühlen, aber auch von Ton, Schnitt, Regie, Schauspiel und einer besonderen Atmosphäre am Set haben einen fachlich stimmigen aber auch unterhaltsamen Film entstehen lassen, in dessen Zentrum nicht die Sensationsgier anhand einer außergewöhnlichen Psychopathologie oder Kritik an der Institution Psychiatrie und ihren Modellen und Behandlungsstrategien, sondern die Einladung zu einem Eintauchen in eine bedrohliche aber auch verführerische seelische Welt steht.
Handlung Der junge Abiturient Lukas (Daniel Brühl) verlässt das kleine Dorf, in dem er bei seinen Großeltern aufgewachsen ist und »wo nie was los ist«, mit dem Ziel in der Wohngemeinschaft seiner Schwester Kati (Annabelle Lachatte) in Köln zu leben und zu studieren. Schon auf der Fahrt im Zug wirkt er überdreht und aufgeregt und nimmt auf bizarre Art und Weise mit einer jungen Frau, die im selben Abteil sitzt, Kontakt auf, indem er gestisch Oralsex andeutet. Während man Kati noch mit ihrem Freund Jochen (Patrick Joswig) am Hochbett beim Sex sieht, befindet sich Lukas schon am Kölner Bahnhof und verirrt sich auf der Bahnhofsbaustelle.
RR »Ich hab’ da voll die Panik geschoben da drin«, sagt er zu seiner Schwester, die ihn am Bahnhof schließlich findet. Rasch wird klar, dass er mit den komplexen Abläufen und Reizen einer Großstadt aber auch einer Universität überfordert ist. Er freut sich zwar wie ein kleines Kind über das ihm zur Verfügung gestellte und liebevoll vorbereitete Zimmer, packt seine Stereoanlage aus und beginnt sein Zimmer zu gestalten, doch scheitert er schon am nächsten Tag beim Immatrikulieren an der lauten und unübersichtlichen Universität, wirft die Unterlagen in den Mistkübel. Bereits am ersten Abend konsumieren Lukas, Kati und Jochen Cannabis, tauchen in das Nachtleben ein und trinken viel Alkohol. Lukas erholt sich nur mit Mühe von diesem Exzess. Am nächsten Abend gehen sie zu einer Party, wo Lukas ein junges Mädchen namens Annabell kennenlernt. Lukas ruft sie am nächsten Tag bereits im Morgengrauen ungeduldig und aufgeregt an, ein Kinobesuch wird vereinbart. In weißem Hemd und Sakko erwartet er Annabell, die sich leicht verspätet. Lukas hat sich jedoch im Datum geirrt und »Taxi Driver« läuft nicht. Lukas besteht trotzdem auf zwei Karten für »Taxi Driver«, wird ausfällig, beschimpft die Kassiererin, schreit und tobt und verschreckt und irritiert seine Begleiterin so, dass diese ab diesem Zeitpunkt den Kontakt mit ihm abbricht.
RR »Ich hab’ mich den ganzen Tag drauf gefreut«, sagt er zu ihr entschuldigend. Annabell läuft weinend davon.
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Ebbe und Flut
..Abb. 25.2 Lukas hört bedrohliche Stimmen (© X Verleih AG. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Die Wohngemeinschaft macht bald darauf einen Ausflug, man experimentiert mit Drogen, konsumiert auch psychoaktive Pilze, alle drei verhalten sich bizarr. Auf der auf Feldwegen sehr turbulenten Heimfahrt im Auto bei lauter Musik und unerträglicher Lärmkulisse erlebt Lukas erstmals akustische Halluzinationen, zuerst Geräusche, dann immer deutlicher werdende Stimmen, die sein Handeln kommentieren –
RR »Hallo Lukas. Du brauchst dir nicht die Ohren zuhalten« –, ihn beschimpfen und ihm auch Befehle erteilen:
RR »Spring aus dem Wagen«. »Ich war voll weg, eh« und
RR »Ich kam mir vor wie draußen«, meint Lukas, als es in seinem Kopf wieder ruhiger wird. Als Lukas am nächsten Morgen in seinem Zimmer erwacht, sind die Stimmen und Geräusche wieder da. Sie sind schließlich überall zu hören, beschimpfen ihn und werden sehr bedrohlich:
RR »Ich erwisch dich schon noch«, »Ich will dich töten, heute werden wir dich töten«. Eine flüsternde Stimme gibt ihm die Schuld am Tod der Mutter:
RR »Lukas, du weißt schon, dass Mama tot ist, kurz nach deiner Geburt hat sie sich umgebracht, wegen dir.« Lukas vermutet die Stimmen in den Wänden, er verwüstet voll Angst und Bedrohungsgefühl sein Zimmer, verdächtigt auch Jochen und Kati und wird den beiden gegenüber aggressiv (. Abb. 25.2).
Das weiße Rauschen (2001)
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..Abb. 25.3 Ein seltsamer Job (© X Verleih AG. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Er baut eine Stimmenerkennungs- und -analysieranlage. Seine Versuche, die Stimmen durch Musik oder Dauerduschen zu übertönen, haben nur vorübergehenden Erfolg.
RR »Finde das weiße Rauschen. Nur dort kannst du Frieden finden«, fordert ihn eine Stimme auf. Die Stimmen werden bedrohlicher, beschimpfen und entwerten ihn und werden schließlich immer konkreter, Lukas hört wiederholt den Befehl sich umzubringen:
RR »Bring dich um – weil du nichts wert bist« und springt –
RR »Spring« – aus dem Fenster. Er findet sich ohne schwere körperliche Verletzungen in der psychiatrischen Klinik wieder. Er wird medikamentös behandelt und erholt sich nach einigen Krisen und anfänglich unter Nebenwirkungen leidend langsam. Kati führt ein konfrontatives Gespräch mit dem Psychiater, der ihr die Diagnose Schizophrenie erklärt. Kati hat große Skepsis gegenüber dieser Diagnose, der Psychiatrie und auch der medikamentösen Behandlung, will Lukas aus dem Krankenhaus holen, er entschließt sich aber gegen den Rat und das Drängen seiner Schwester im Krankenhaus zu bleiben. Nach seiner Entlassung lebt Lukas – er wirkt stabil und auch etwas gereift – wieder in seinem neuerlich von Kati und Jochen renovierten Zimmer. Er nimmt anfänglich regelmäßig seine Medikamente, setzt sie aber dann, auch wegen der provozierenden Skepsis von Jochen, ab, leert seinen Dispenser in die Toilette. Ob dem Hochrisikopatienten Lukas fachärztliche Kontrollen oder irgendwelche Rehabilitationsangebote gemacht werden, wird im Film nicht erwähnt. Lukas beginnt sich eine Arbeit zu suchen und gestaltet Schaufensterpuppen, muss denen zum Teil auch den Kopf absägen und die Köpfe stapeln (. Abb. 25.3). Langsam kehrt Lukas paranoide
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..Abb. 25.4 Von Dämonen verfolgt (© X Verleih AG. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Realitätsverkennung zurück, er beginnt wieder Stimmen zu hören, versucht aber dieses Mal Kati seine Wahrnehmungen zu erklären, schlägt sich mit ihr.
RR »Ich kann dir nicht helfen«, muss sie sich zuletzt eingestehen. Lukas fühlt sich massiv verfolgt und bedroht, wirkt panisch, dann verzweifelt und zuletzt resignativ.
RR »Ich muss das mit allen Mitteln verhindern, ein zweites Mal stehe ich das nicht durch. Ich muss ein Zeichen setzen.« Er springt von einer Brücke, filmt sich dabei. Lukas überlebt auch diesen Suizidversuch. Zwei Hippies holen ihn aus dem Wasser des Rhein. Lukas schließt sich der Gruppe von Aussteigern an und fährt mit ihnen nach Spanien ans Meer. Bald wirkt er wieder sehr verändert, verhält sich aggressiv und bizarr, die intensive Nähe, die er zu einem Kind der Kommune aufbaut, wird unterbunden. Lukas schreibt mit großen Lettern »game over« in den Sand, die Kommune zieht weiter, Lukas bleibt zurück. Am Ende des Films sieht man ihn am Lagerfeuer über dem Meer und an der Brandung sitzen und über das weiße Rauschen sinnieren.
Paranoide Schizophrenie Der Film »Das weiße Rauschen« könnte als Lehrfilm zur Beschreibung und bildhaften Verdeutlichung der Diagnose paranoide Schizophrenie dienen. Eindrucksvoll und intensiv dargestellt von Daniel Brühl erlebt man eine langsame Entwicklung über Vorstufen hin zum voll ausgeprägten psychotischen Erleben und eine umfassende und plastische Darstellung der Kriterien der Klassifikationsschemata DSM-V oder ICD-10, wobei es über eine auch drogen- und stressinduzierte Vorstufe im Sinne einer Prodo
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malphase zur vollen Ausprägung einer psychotischen Erkrankung mit paranoid-wahnhafter Realitätsverkennung, akustischen Halluzinationen und bizarr-desorganisiertem Verhalten mit zunehmender psychosozialer Leistungseinbuße kommt. Nach den Diagnosekriterien des ICD-10 müssen folgende Kriterien für mindestens einen Monat kontinuierlich bestehen (vgl. Weltgesundheitsorganisation 2005, 103 ff.). Mindestens eines der folgenden A-Kriterien (angelehnt an die ICD-10-Diagnosekriterien): 1. Ich-Störungen: Gedankeneingebung, -entzug, -ausbreitung 2. Wahnphänomene: Verfolgungswahn, Kontrollwahn, Vergiftungswahn, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten, Wahnwahrnehmungen (. Abb. 25.4) 3. »Bizarrer« Wahn: anhaltend, kulturell unangemessen oder völlig unrealistisch 4. Akustische Halluzinationen: kommentierende oder dialogische Stimmen, oder Stimmen, die aus einem Teil des Körpers kommen Oder mindestens zwei der folgenden B-Kriterien (angelehnt an die ICD-10-Diagnosekriterien): 5. Anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität 6. Formale Denkstörungen: Gedankenabreißen und Einschiebungen in den Gedankenfluss, Denkzerfahrenheit, Danebenreden, Neologismen 7. Katatone Symptome: Symptome wie Stupor, Haltungsstereotypien, wächserne Biegsamkeit, Negativismus, Mutismus und Erregung 8. Negativsymptome: auffällige Apathie, Sprachverarmung, inadäquater Affekt und sozialer Rückzug 9. Gravierende Veränderungen im Verhalten: Ziellosigkeit, Trägheit Nach diesen Kriterien, aber auch nach den Kriterien des DSM-V, leidet Lukas eindeutig an den Symptomen einer paranoiden Schizophrenie.
Zur Ätiologie der Schizophrenie Die Entstehungsgeschichte der paranoiden Schizophrenie wird im aktuellen Krankheitsverständnis entsprechend einem multifaktoriellen Modell erklärt. Das allgemeine bio-psycho-soziale Krankheitsmodell kann mit dem gängigen Vulnerabilitätsstressmodell für die Schizophrenie kombiniert werden: Aufgrund angenommener genetischer Faktoren (hohe Sensibilität der Betroffenen), allfälliger hirnorganischer Störungen und mannigfaltiger psychosozialer Einflüsse vor allem in der Kindheit besteht bei einem Individuum eine erhöhte Verletzlichkeit (Vulnerabilität), die sich auch in seinem prämorbiden Charakter manifestiert. Durch zusätzliche belastende Lebensereignisse oder Aktivierung chronifizierter, innerpsychischer Konfliktkonstellationen wird psychoreaktiv oder psychodynamisch bedingt diese Vulnerabilitätsschwelle überschritten und werden bisherige Coping-Strategien überfordert und schizophrenes Denken, Handeln und Fühlen entsteht. Großteils unbekannt sind noch die intermediären Prozesse, die dynamischen Interaktionen und Interdependenzen zwischen den biologischen, psychologischen und sozialen Krankheitsbedingungen (Oberlerchner 2017, 71). Dieses Modell sollte auch um eine spirituell-weltanschauliche Dimension erweitert werden (Oberlerchner 2015). Der Film bietet nicht viele Details aus der Entwicklung und Biografie von Lukas, ein besonderes Detail, der Suizid der Mutter, wird auch nur in Ansätzen erwähnt. Lukas erscheint jedenfalls rasch überfordert, reizüberflutet, sein auf exogene Einflüsse und Noxen empfindlich reagierendes Gehirn neigt zu einem Dopaminüberschuss, der derzeit angenommenen neurobiologischen Endstrecke der schizophrenen Entwicklung. Der Dopaminexzess in Mittelhirnstrukturen, der Ansatzpunkt der medikamentösen Behandlung, führt zu Angst und Anspannung, vermehrter Bedeutungszuteilung bis hin zu wahnhafter Realitätsverkennung und einem halluzinanten Sensorium, die Wahrnehmungsfilter sind außer Kraft gesetzt.
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Der Umzug in die Stadt, das Zurücklassen der betagten Großeltern –
RR »Oma liegt im Bett, aber Opa ist echt gut drauf« – die emotional herausfordernden Situationen der ersten Tage in Köln, der drogentoxische Einfluss und vieles mehr übersteigen die Vulnerabilitätsschwelle des jungen Mannes. Belastungs- und Stressfaktoren überwiegen gegenüber Schutzfaktoren und Ressourcen im Sinne der Resilienz. Die verwackelte Handkameraführung und die Tongestaltung dieser Low-Budget-Produktion lassen das schizophrene Erleben noch zusätzlich näher, intensiver und authentischer wirken. Das Sensorium des Betrachters ist gefordert, der Film stresst. Über die Entstehung der Erkrankung Schizophrenie im Spannungsfeld Vulnerabilität versus Resilienz könnte noch viel geschrieben werden, doch im Folgenden wird der Aspekt der Suizidalität in den Mittelpunkt gerückt.
Suizidalität Im Film gelangt man sukzessive zur Erkenntnis, dass die Mutter von Kati und Lukas nach mehreren stationären Aufenthalten in einer Psychiatrie sich durch Erhängen das Leben genommen hat. Der Suizid der Mutter wird einerseits durch die Stimmen von Lukas inhaltlich angedeutet, es wird ihm aber auch durch die Stimmen die Schuld am Tod der Mutter gegeben. Kati führt ein Gespräch mit dem Psychiater und als dieser nach einer familiären Häufung von psychischen Erkrankungen fragt, muss sie sich eingestehen, dass die Erinnerung auftaucht, dass die Mutter psychisch krank war. Sie fährt zum Großvater und erhält die Auskunft, dass die Mutter wiederholt in psychiatrischen Kliniken stationär war und sich schließlich erhängte, was den Kindern gegenüber aber offensichtlich konsequent verheimlicht wurde. Diese lebten im Glauben, die Mutter sei
RR »wegen ihrer Wirbelsäule auf Kur gewesen«. Dieses innerfamiliäre Geheimnis und die zu vermutende gleichzeitige Abwesenheit des Vaters müssen als weitere Risikofaktoren in Lukas Biografie gewertet werden. Und doch ist dieses »Geheimwissen« ins Vorbewusste und Unbewusste von Lukas vorgedrungen und zum Inhalt seiner akustischen Halluzinationen geworden. Kati sieht sich alte Fotos an.
Kinder psychisch kranker Eltern Die Risikofaktoren zur Entstehung psychischer Erkrankungen sind schon recht gut beforscht. Risikofaktoren stehen andererseits Resilienz- oder Schutzfaktoren gegenüber.
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Schutzfaktoren: Dauerhafte und gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson Überdurchschnittliche Intelligenz Robustes, kontaktfreudiges und aktives Temperament Sichere Bindung Verlässliche und unterstützende Bezugspersonen im Erwachsenenalter Spätes Eingehen »schwer auflösbarer Bindungen« Physische Attraktivität Individuelle, kreative Coping-Strategien
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Risikofaktoren: Früher Verlust einer Hauptbezugsperson Armut (Schwerwiegende) psychische Störungen der Eltern Langdauernde Familienstreitigkeiten Schwere Erziehungsdefizite Aggressive und sexualisierte Traumatisierungen Geringer Altersabstand zu Geschwistern (unter 18 Monate) Fehlende tragfähige Beziehung zu den Eltern mit mangelnder Balance des Autonomie- und Bindungsgefüges »Drangsalieren« (»bullying«) Überwiegen neben anderen (biologischen) Faktoren die Risikofaktoren, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer psychischen Erkrankung (vgl. Entringer et al. 2016). Das Fortwirken dieser psychosozialen Belastungsfaktoren über die Generationen im Sinne einer transgenerationalen Weitergabe psychischer Strukturen und die familiäre Häufung psychischer Erkrankungen werden aktuell rege diskutiert und beforscht und tangieren die Bereiche Genetik, Epigenetik sowie soziokulturelle, systemische und psychodynamische Theorien (Glaesmer et al. 2011).
Suizidrisiko von Kindern nach Suizid eines Elternteils Zu den vielen Anstrengungen zur Suizidprävention, die in den letzten Jahren in vielen Ländern getätigt wurden, gehört auch die Identifikation von Risikogruppen und Risikoprofilen, wodurch gezielte Suizidprävention möglich ist.
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Risikogruppen und Risikoprofile Männer zwischen 45 und 59 Jahren Alte Menschen mit komplexer Problematik Komorbid kranke Menschen – Alkohol Aktuelle Vergiftung (Alkohol) Krebskranke Menschen – Diagnosemitteilung Soziale Isolation, arbeitslos, kinderlos, ledig, kürzliche Verlusterlebnisse Land- und Forstwirte – Zugänglichkeit einer Methode (Waffen) Persönlichkeitsfaktoren: Narzissmus, Impulsivität, Aggressivität … Werther Effekt – Suizidberichterstattung durch die Medien Stationäre Suizide – junge schizophrene Menschen Kinder und Jugendliche: (Cyber‑)Bullying, (Cyber‑)Mobbing … Anamnese von Gewalterfahrung als Kind Angehörige von SuizidentInnen – genetische und psychosoziale Komponente Unbehandelt (depressiv) psychisch kranke Menschen Eine besondere Risikogruppe stellen also auch die Angehörigen von SuizidentInnen dar und hier wiederum insbesondere die Kinder von diesen (Qin et al. 2002; SØrensen et al. 2009). In den betroffenen Familien wird der Suizid und das damit verbundene Trauma oft verschwiegen, verleugnet und tabuisiert. Den Kindern wird keine Hilfe angeboten, im Gegenteil, häufig kommt es zu einem Abwendungs- und Rückzugsverhalten in der unmittelbaren sozialen Umgebung und Stigmatisierung. Die Sprachlosigkeit der Betroffenen, die Einsamkeit, die mögliche Übernahme von zu früher Verantwortung als Ersatz für den verstorbenen Elternteil, sind weitere zu beobachtende Phänomene, die nicht
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nur das Risiko für das Entstehen psychischer Erkrankung erhöhen, sondern auch für spätere Suizidalität (vgl. Paetzold 2015). Diesen Phänomenen wurde bislang trotz der zu vermutenden hohen Anzahl der Betroffenen wenig Beachtung geschenkt. Begleitung und Hilfe bei der Be- und Verarbeitung von Suiziden, insbesondere auch Kindern und Jugendlichen gegenüber, stellen daher einen breiten Auftrag und eine Anforderung an die verschiedensten psychosozialen Institutionen auch oder vor allem für Schulen dar (Wolfersdorfer 2014; Paetzold 2015). Lukas scheint zwar eine vor- oder unbewusste Erinnerung an seine Mutter – er war zum Zeitpunkt ihres Todes erst zwei Jahre alt – zu haben und auch etwas von der Tatsache ihres Suizides zu ahnen, im Film entsteht jedoch der Eindruck, dass er und seine Schwester mit diesem Thema völlig alleingelassen wurden. Der Tod einer primären Bezugsperson, insbesondere im Kindes- und Jugendalter, ist eine der schwersten seelischen Erschütterungen der primären Sozialisation und stellt ein schweres seelisches Trauma dar. Auch wenn die betroffenen Individuen später meistens nicht die klassischen Symptome der definierten Traumafolgeerkrankungen aufweisen, stellen der Verlust von Liebesobjekten, das Verlieren von Interaktionsrepräsentanzen, die schwere Irritation von Bindungserfahrungen mit Verlust des Urvertrauens und das Zusammenleben mit psychisch kranken Bezugspersonen erhebliche Risikofaktoren für die Persönlichkeitsentwicklung, psychische Erkrankungen und suizidales Verhalten im späteren Leben dar. Lukas und Kati waren nicht nur mit dem Suizid der Mutter und vermutlich danach den typischen innerfamiliären und gesellschaftlichen Verhaltensweisen und Umgangsformen, sondern auch mit einer aufgrund einer psychischen Erkrankung immer wieder abwesenden Mutter konfrontiert. Von einem Vater erfahren wir nichts. Neben den epidemiologischen Untersuchungen zu den Phänomenen, der Beforschung von Prozessen rund um die transgenerationale Weitergabe von psychischen Strukturen inklusive Imitationsund Identifikationsprozessen, den Ideen der Bindungstheorie und Entwicklungspsychologie inklusive der Säuglingsforschung beschäftigt sich Menschik-Bendele in ihrem Artikel zum Film »Das weiße Rauschen« mit den Auswirkungen des Todes der Mutter basierend auf den psychodynamischen Ideen des Psychoanalytikers André Green (vgl.: Green 2004). Für André Green ist die schwer depressive Mutter eine tote Mutter. Die Mutter zieht sich zurück, das Kind ist ratlos und zutiefst verunsichert. Er »vertritt die Hypothese, dass die ›schwarze Depression‹, wie sie diese Mutter erlebt haben mag, vom Kind mit einer ›weißen Psychose, einer weißen Angst und weißen Trauer‹ kompensiert wird (Green 2004, S. 237). ›Weiß‹ beschreibt nach André Green den Zustand der Leere, die ›Klinik des Negativen‹. Damit ist gemeint, dass bei einer nicht anwesenden Mutter eine Urverdrängung stattfindet, ein Abzug libidinöser Besetzung, ›der im Unbewussten Spuren in Form ‚psychischer Löcher‘ hinterlässt‹« (Green 2004) (Menschik-Bendele 2008, 58). Daneben sind Kinder vielfach nach dem Suizid eines Elternteiles mit pathologischen Trauerprozessen in ihrer Umgebung konfrontiert. Das unbetrauerte Thema wird in einer Gruft, einer Krypta, eingeschlossen. Im Kontakt der trauerkranken (Groß‑)Eltern mit ihren Kindern wird diese Krypta als ein ausgeblendeter Interaktionsbereich abgebildet und das Liebesobjekt gerade durch Verleugnung des Verlustes auf die nächste Generation weitergegeben, wo es als Phantom weiterwirkt. Entwickelt der Phantomträger Symptome, erlebt er sie als sehr ich-dyston, weil sie ja ohne Bezug zur eigenen Geschichte als unbewusste Erbschaft im Inneren verborgen sind, die (psychotischen) Auswirkungen des Phantoms jedoch sind für den Betroffenen kraftraubend und entwicklungshemmend (vgl. Bürgin und Steck 1996, 362 ff.). Das unverarbeitete Trauma scheint bei Lukas nicht nur durch die bereits beschriebene Reizüberflutung, allgemeine Überforderung und den Drogenkonsum ausgelöst, sondern auch durch die besondere Konstellation an der Seite einer mütterlich-ambivalenten Schwester und verantwortungslos unbedarften Vaterimago (Jochen) gefördert zu werden.
Das weiße Rauschen (2001)
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Nachbemerkung Die Schizophrenie wird im Sinne eines multifaktoriellen Modells, des Vulnerabilitätsstresscopingmodells verstanden. Die Erkrankung per se birgt ein erhöhtes Risiko für Suizidalität, bei Lukas, dem Protagonisten des Films, finden wir zusätzliche Risikofaktoren, ein kumulatives Risiko für Suizidalität. Die Wiederbelebung der toten Mutter, die ausgeblendeten Interaktionsbereiche im Sinne von Krypten und die ständig irritierenden Gespenster und Phantome, die Integration des Traumatischen und schlicht die unendliche Sehnsucht nach dem geliebten Objekt und der eigenen (erwiderten) Liebesfähigkeit, sind Prozesse, die in der Schizophrenie – teilweise auch zu verstehen als Ausdruck früher und massiver Entwicklungsstörung – immer wieder heftig aufflammen und wohl nur eine Pseudolösung und psychotische Sackgasse darstellen. Dass Drogen frühe narzisstische Verluste, Regression in frühe Trauerphasen und Verschmelzungssehnsüchte aktivieren und ebenfalls nur Pseudobefriedigungen sind, steht außer Zweifel. Der schlechten Prognose vor allem bei früher Entstehung und geringen Schutz- bzw. Resilienzfaktoren steht die Hoffnung gegenüber, die wir in den letzten Sätzen im Film vermittelt bekommen. Die Schlusssätze lauten:
RR Das weiße Rauschen – das sind alle Visionen aller Menschen aller Zeiten in einem Augenblick. Wer das weiße Rauschen sieht, hat den höchsten Zustand der Erleuchtung erreicht … Das weiße Rauschen ist der ultimative Trip. Wer das weiße Rauschen sieht, der wird sofort wahnsinnig. Außer, wenn er schon wahnsinnig ist. Dann wird er normal … Und dann beginnt das ganz normale Leben, da bin ich mir sicher.
Literatur Bürgin D, Steck B (1996) Das Gespenst von Canterville (nach O. Wilde) oder Vom Leben und Sterben eines Phantoms in Abhängigkeit von der Adoleszenz einer jungen Frau. Kinderanalyse Zeitschrift Für Die Anwend Psychoanal Psychother Psychiatr Des Kindes- Jugendalters 4(4):363–384 Entringer S, Buss C, Heim C (2016) Frühe Stresserfahrungen und Krankheitsvulnerabilität. Bundesgesundhbl 59:1255–1261 Glaesmer H, Reichmann-Radelescu A, Brähler E, Kuwert P, Muhtz C (2011) Transgenerationale Übertragung traumatischer Erfahrungen. Trauma Gewalt 4:330–343 Green A (2004) Die tote Mutter. Psychosozialverlag, Gießen Menschik-Bendele J (2008) Wonach ich suchte, das war ein Leben … Paranoide Schizophrenie. In: Doering S, Möller H (Hrsg) Frankenstein und Belle de Jour. 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen. Springer, Frankfurt Oberlerchner H (2015) Was brauchen wir Menschen? Von der Phänomenologie über die Ätiopathogenese zur Salutogenese. Spectr Psychiatr 4(2015):8–10 Oberlerchner H (2017) Propheten. Begegnungen mit paranoid schizophrenen Menschen, 3. Aufl. Verlag Wissenschaft & Praxis, Sternenfels Paetzold U (2015) Vergessene Kinder: Suizid eines Elternteiles und die Folgen für die Nachfahren – eine Aufgabe für die schulische Sozialpädagogik. Pedagog Spoleczna 57:185–200 Qin Ping, Agerbo Esben, Mortensen Preben B (2002) Suicide risk in relation to family history of completed suicide and psychiatric disorder: a nested case-control study based on longitutinal registers. Lancet 360:1126–1130 SØrensen HJ, Mortensen EL, Wang AL, Knud J, Silverton L, Mendnick SA (2009) Suicide and mental illness in parents and risk of suicide in offspring. Soc Psychitry Psychiatr Epidemiol 44:748–751 Weltgesundheitsorganisation (2005) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10, 5. Aufl. Huber, Bern Wolfersdorfer M (2014) Suizid und Suizidprävention. Ein klinischer, psychosozialer Auftrag. Neurol Psychiatr 16:36–43
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Ebbe und Flut
Originaltitel
Das weiße Rauschen
Erscheinungsjahr
2001
Land
Deutschland
Drehbuch
Hans Weingartner, Matthias Schellenberg, Katrin Blum, Tobias Amann
Regie
Hans Weingartner
Hauptdarsteller
Daniel Brühl, Annabelle Lachatte, Patrick Joswig, Michael Schütz, Ilse Strambowski, Katharina Schüttler, Karl Dangullier
Verfügbarkeit
DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Anna Jank
Das Ich und der Tod. Vom Selbst-Verlust zur Selbst-Werdung Polanski – Trelkovsky – Polanski: Tradierte Angst . . . . . . 387 Handlung – Zwischen Wahn und Wirklichkeit . . . . . . . . . 388 Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns nützt und der uns hilft zu sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Sein und Nicht-Sein: Die Ich-Werdung im Tod . . . . . . . . . 398 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_26
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Filmplakat Der Mieter. (© Paramount Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Der Mieter (1976) Anna Jank
Polanski – Trelkovsky – Polanski: Tradierte Angst Roman Polanski ist ein Meister des Schreckens, der sich langsam aber beständig in den Zuschauern festsetzt und durch Momente, die vorerst nicht greifbar, nicht festzumachen sind, die Sinne okkupiert (. Abb. 26.1, Filmplakat). Damit schafft er Filme, die im Gedächtnis bleiben und noch lange Zeit später – da sie sich anscheinend weit unter der Oberfläche eingeprägt haben – in einzelnen Bildern oder Emotionen ins Bewusstsein treten. Sieht man von den formalen Techniken, der Kameraführung, Bildund Toneffekten – also der geschickten Art der Darstellung – ab, die jeder gute Regisseur auf die eine oder andere Art anzuwenden weiß, braucht es doch mehr, um Tiefe zu erreichen. Polanskis Biographie (Polanski 1984) gibt hier einen Einblick: Seine persönliche Geschichte ist geprägt von traumatischen Erfahrungen, Verfolgung, Angsterleben, einer Kindheit im Holocaust, im Versteck und auf der Flucht. Den Filmbildern, den evozierten Emotionen, die fesseln und im Gedächtnis haften bleiben, liegen also Erfahrungen zugrunde, die real waren, die real erlebt wurden, die nicht (nur) der Phantasie eines begabten Filmemachers entspringen, sondern der bitteren Wirklichkeit. Der Filmwissenschaftler Andreas Jacke, der eine umfangreiche Monografie über Roman Polanskis »Traumatische Seelenlandschaften« verfasst hat, schreibt dazu: »Weil Polanskis Inszenierungen der Angst stets den persönlichen Hintergrund biographischer Erfahrungen haben, erreichen sie auf dieser Ebene eine andere Intensität als vergleichbare Projekte« (Jacke 2010, S. 13 f.).
Jacke stellt bei den Versuchen der Interpretation Polanskis’ Filme immer wieder die Verbindung zu dessen biographischen Erlebnissen her. Diese Herangehensweise ist naheliegend und hat einerseits durchaus ihre Berechtigung, bedenkt man den unweigerlichen Einfluss der persönlichen Geschichte auf die Arbeit und die Kunst. Andererseits muss – selbst wenn der Emotion und Inszenierung im Film eine reale persönliche Erfahrung zugrunde liegen mag – nicht immer eine direkte Verbindung zu persönlichem Erleben bestehen oder jedes biographische Detail dem Interpreten bekannt sein. Und nicht immer trägt diese Verknüpfung tatsächlich zu einem besseren Verständnis des Films bei oder kann die Analyse mit neuen Erkenntnissen bereichern. »Der Mieter« ist ein Film, der von gerade jenen Filmbildern und Emotionen lebt, die sich im Zuschauer, in seinem Gedächtnis und seinen Empfindungen festsetzen und ein kurzer Blick in Polanskis Kindheitserfahrungen macht deutlich, wieso. Die Unterscheidungsfähigkeit zwischen real und irreal, zwischen Wirklichkeit und Einbildung, also zwischen Außen und Innen, nicht nur des Protagonisten Trelkovsky leidet im Verlauf des Filmgeschehens zunehmend, sondern mit ihr auch die des Zuschauers. Der Kollaps der Realitätswahrnehmung und die Unklarheit auch für den Außenstehenden über die Grenze zwischen äußeren realen Geschehnissen und Trelkovskys subjektiver, für ihn (und den Zuschauer) aber nicht weniger realen Perspektive ist durchsetzt mit einer kriechenden, schleichenden Angst, eben jenem subtilen Schrecken, der zu Beginn des Kapitels angesprochen wurde. Jene Angsterfahrung ist eine Grundthematik der menschlichen Existenz, denn sie stellt jegliche Sicherheit infrage, die man in die Welt, in Mitmenschen, vor allem aber in sich selbst und in seine eigene Wahrnehmung zu haben glaubt. Sie evoziert einen Kontrollverlust, der dem jedem Individuum als Grundbedürfnis inhärenten Streben nach Sicherheit (vgl. Adler 1973, S. 104) diametral gegenübersteht.
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Polanski schreibt in seiner Autobiographie aus dem Jahr 1984, dass für ihn die Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit immer schon absolut verschwommen und aufgelöst waren und es sich dabei um eine spezifische Charakteristik von ihm handle (Polanski 1984, S. 5 f.). Zur besonderen Thematik des Filmes, die dem existentiellen Sicherheitsbedürfnis des Menschen den Boden unter den Füßen entzieht, kommen also die biographisch bedingten Angsterfahrungen sowie die in der Persönlichkeit tief verankerte, verwischte Grenze zwischen Realität und Wahn des Regisseurs hinzu – eine Verbindung, die den Zuschauer an einer empfindlichen Stelle trifft und durch die Authentizität des eigenen Empfindens Polanskis den tiefgreifenden Schauer des Filmerlebens verstehbar macht. Eine interessante Ergänzung dazu ist, dass die Hauptfigur Trelkovsky von Roman Polanski selbst gespielt wird. Die extrem kurze Produktionszeit von acht Monaten ist wahrscheinlich ein Grund dafür, ändert aber nichts an der Tatsache, dass eine Darbietung, die auf persönlichem Erleben, erlebten Emotionen beruht, eine ganz andere Reichweite erlangt. »Der Mieter« ist der dritte Film in Polanskis Werk, dessen Thematik die mangelnde Unterscheidungsfähigkeit zwischen Innen und Außen und eine dadurch entstehende Desintegration der Hauptperson aufgreift: Auch »Ekel« (»Repulsion«) aus dem Jahr 1965 und »Rosemarys Baby« aus dem Jahr 1968 thematisieren die Auflösung der Persönlichkeit in ihre Einzelteile und spielen, wie auch »Der Mieter«, in einer unheimlichen Mietwohnung, die einziger Rückzugsort und klaustrophobisches Gefängnis gleichzeitig ist. Ein Unterschied ist, dass die Hauptpersonen, die nach und nach psychotisch werden, in »Ekel« und »Rosemarys Baby« weiblich sind, während Trelkovsky in »Der Mieter« ein Mann ist. Doch die besondere Thematik der Persönlichkeitsauflösung, der Angst, des Kontroll- und Realitätsverlusts und des Kollaps’ der Unterscheidungsfähigkeit dieser drei Filme, ebenso wie die ähnlichen Orte der Handlung, die einen befristeten und zeitlich begrenzten Platz, in den die Protagonisten lediglich eingemietet sind, darstellen in einer feindseligen und bedrohlichen Welt, erwecken den Gedanken, dass es sich möglicherweise nicht um ein zufällig gewähltes Filmmotiv handelt. Vielmehr könnte man – vorsichtig ausgedrückt – ein Muster erkennen, ein Wiederholungsphänomen, oder, aus Sicht der Psychoanalyse gesprochen, einen Wiederholungszwang des Regisseurs, der den ansonsten eher schwer verständlichen Impuls beschreibt, unangenehme Zustände, negative Emotionen oder ausweglose Situationen immer und immer wieder zu inszenieren (vgl. Freud 1982). Ob Polanski die Film-Serie durch das Selbst-Spielen der Hauptrolle, also das tatsächliche Durcharbeiten und Durchleben der ihm bekannten Emotionen, schlussendlich durchbrechen konnte, kann an dieser Stelle nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Fakt ist aber, dass das für Polanski bedeutungsvolle Thema der psychischen, sozialen und räumlichen Isolation eines einzelnen Menschen und dessen Entfremdung von sich selbst und der Welt mit diesem Film, der die Vorigen im Absurden und Radikalen weit übertrifft und den er als seinen persönlichsten Film (vgl. Mahler-Bungers 2007, S. 199; Zitzelsberger-Schlez 2018, S. 33) bezeichnete, endet (. Abb. 26.2). Der Zusammenhang zwischen Film-Wirkung, Rahmenbedingungen und den wichtigsten, direkt ersichtlichen persönlichen Einflüssen Roman Polanskis wurde hier als Basiswissen für das Filmverständnis, die Rezeption und die folgenden Überlegungen in der Arbeit mit dem Film dargelegt und herausgearbeitet, während alle weiteren Vermutungen und Hypothesen den Spekulationen jedes Einzelnen überlassen sein sollen. Auf die Herstellung von Verbindungen zwischen Film und Lebensgeschichte, etwa inwiefern der Inhalt durch biographische Elemente Polanskis gedeutet werden könnte, soll, aus bereits genannten Gründen, aber weitgehend verzichtet werden.
Handlung – Zwischen Wahn und Wirklichkeit Zurückhaltend und ein wenig schüchtern betritt der Büroangestellte Trelkovsky ein Mietshaus in Paris, klopft an das kleine Fenster der Concierge und fragt diese höflich nach einer Wohnung, die vor kurzem frei geworden ist. Sie ignoriert sein Anliegen und kehrt unverrichteter Dinge, mit unfreundlichem, mürrischem Blick, zu ihrem Abwasch zurück. Trelkovsky versucht es erneut, entschuldigt sich für die
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..Abb. 26.2 Trelkovsky allein im Park. (© Paramount Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Unannehmlichkeiten und seine störende Anwesenheit, lobt ihren Hund, der nach ihm schnappt und legt ihr sogar Geld für die Umstände auf den Tisch, bevor sie sich dazu herablässt, ihm die Wohnung im dritten Stock des Hauses zu zeigen. Die Concierge macht ihn auf den großartigen Blick in die gegenüberliegende Toilette des Hauses aufmerksam, die sich nicht in der Wohnung, sondern am Gang befindet. Von ihr erfährt er auch, dass in der Wohnung die alleinstehende Simone Choule gewohnt hat, die vor kurzem aus dem Fenster gesprungen ist und jetzt im Krankenhaus liegt. Sie schubst ihn sichtlich amüsiert zu dem Fenster hin und zeigt ihm das darunterliegende Glasdach, das bei Simones Selbstmordversuch durchschlagen wurde und nun ein großes, schwarzes Loch aufweist. Trelkovsky kann in die Wohnung nur einziehen, wenn die Vormieterin stirbt, was ihm die Concierge aber voller Zuversicht und mit etwas Hohn versichert. Der Vermieter Monsieur Zy, bei dem Trelkovsky vorstellig werden muss, wohnt einen Stock darunter. Eine Frau öffnet ihm die Türe und lässt ihn erst warten, bevor er zu dem strengen, mürrischen alten Mann vorgelassen wird. Er kann diesen schließlich überzeugen, dass er Junggeselle, ruhig und anpassungsfähig ist und weder Kinder hat noch Frauenbesuche die Mietergemeinschaft belästigen werden. Monsieur Zy macht ihn aber ebenfalls darauf aufmerksam, dass er die Wohnung nur unter der Voraussetzung beziehen könne, dass Simone Choule ihren schweren Verletzungen erliegt. Trelkovsky geht ins Krankenhaus, um sich selbst ein Bild zu machen und Simone Choule einen Besuch abzustatten. Er ist neugierig, aber auch voller Mitleid und sieht doch sein eigenes Schicksal von ihrem Überleben oder Sterben abhängig. Eine strenge Oberschwester zeigt ihm das Bett, und am Weg dorthin fallen ihm die anderen Patienten auf: Eine Gruppe Besucher feiert ausgelassen und stoßt am Bett ihres Freundes an, eine alte Frau redet verwirrt, während sie mit dem Gesicht in Erbrochenem
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Das Ich und der Tod. Vom Selbst-Verlust zur Selbst-Werdung
liegt. Simone Choules Kopf ist gänzlich in weiße Binden einbandagiert, beinahe wie eine Mumie. Nur der Mund und ein Auge sind ausgespart. Am Krankenbett lernt er ihre Freundin Stella kennen, die sichtlich fassungslos über dieses tragische Ereignis ist und Simone anspricht, woraufhin diese ihren Mund weit aufreißt und einen scheinbar nicht enden wollenden, entsetzlichen Schrei ausstößt. Die beiden werden sofort aufgefordert, das Krankenhaus zu verlassen, und gehen anschließend, schwer erschüttert, etwas trinken. Als Simone zu schreien beginnt, hält Stella sich an Trelkovsky fest, der augenblicklich die Reaktionen der anderen Besucher beobachtet. Er scheint die junge Frau interessant zu finden, doch das Erregen öffentlicher Aufmerksamkeit, sei es durch ihre spontane Berührung oder Simones Schrei, erfüllt ihn sichtlich mit Angst und Scham. Im Kaffeehaus bestellt Trelkovsky erst ein Bier, ändert seine Bestellung dann aber um zu einem Kaffee, um, nachdem Stella etwas Alkoholisches bestellt hat, doch auch einen Martini zu nehmen. Er sagt:
RR »Selbstmord werd’ ich nie versteh’n. Dass man so was macht, find ich unbegreiflich. Ich kann’s mir nicht vorstellen« (15:09). Danach gehen sie ins Kino, in dem Stella einen Annäherungsversuch unternimmt, den Trelkovsky etwas unbeholfen erwidert. Sie küssen sich. Wie bereits zuvor im Krankenhaus fällt Trelkovsky sofort der Blick des Mannes hinter ihnen auf, der sie – es ist nicht auszumachen ob feindselig oder eher neidisch – anstarrt, woraufhin die Intimitäten von Trelkovsky abrupt beendet werden. Auch beim Verlassen des Kinosaales starrt der Mann sie im Foyer ernst an. Es ist nicht zu übersehen, dass jeglicher Körperkontakt oder jede Annäherung zu Stella anscheinend von außen beobachtet oder missbilligt wird, wessen sich Trelkovsky mit ängstlichen Blicken ständig gewahr und bereit ist, den Moment, das eigene Bedürfnis oder Begehren sofort voll Scham einer verurteilenden und feindlichen Außenwelt unterzuordnen. Wenige Tage später erkundigt sich Trelkovsky im Krankenhaus nach Simone Choules Befinden und erfährt, dass sie gestorben ist. Er kann also in die Wohnung, die noch komplett eingerichtet ist und in der auch noch alle Kleider und andere Besitztümer der Toten sind, einziehen. Vom Fenster aus sieht er die anderen Mieter auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofes, wenn sie die Toilette aufsuchen. Trelkovsky geht in das kleine Café auf der anderen Straßenseite des Mietshauses und kommt mit dem Wirt ins Gespräch:
RR »Guten Tag Monsieur. Wohnen Sie gegenüber?« »Ja, ich bin gerade eingezogen.« »In die Wohnung von dem Mädchen, das aus dem Fenster gesprungen ist?« »Ja. Haben Sie sie gekannt?« »Aber sicher. Sie kam jeden Morgen her. Und setzte sich auf den Platz, wo Sie jetzt sitzen!« (24:22). Der Wirt serviert Trelkovsky, ohne dessen Bestellung abzuwarten, eine heiße Schokolade, denn auch Fräulein Choule habe immer nur Schokolade getrunken, niemals Kaffee. Trelkovsky wirkt überrascht, als er die Tasse zum Mund führt und die Verwechslung bemerkt, sagt aber nichts. Später an diesem Tag, bei der Leichenfeier von Choules Beerdigung in der Kirche, sieht Trelkovsky Stella wieder. Er ist erfreut darüber und lächelt ihr zu, doch als er näher in ihre Richtung rutscht und sie dabei ansieht, ändert sich plötzlich die Stimme und die Predigt des Pfarrers von einer Trauerrede über das ewige Leben und Gottes Gnade zu einer verstörenden Drohrede:
RR »Gott, […] der seinen liebevollen Blick in seiner unendlichen Güte auf uns sterbliche Kreaturen herabsenkt. Auf die Schwachen. Auf die Enterbten. Auf die Sterbenden. Ja, auf die Sterbenden. Auf das Röcheln derer, die im Sterben liegen. Auf die eisige Gruft. Du wirst wieder zu Staub, und die Würmer werden dein Fleisch zer-
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fressen. Sie werden sich auf deinen Lippen tummeln! Sie werden in deine Ohren kriechen, sie werden in deine Nasenlöcher eindringen! Dein Körper wird sich auflösen, bis in sein tiefstes Inneres; du wirst einen ekelerregenden Geruch verbreiten. Ja, Christus hat die Himmelreiche mit dem Gesang der Engel zu neuem Leben erweckt und erschaffen – aber nicht für Rotznasen deiner Sorte! Voll widerlicher Verderbtheit! Lüstern auf das Vergnügen. Du wagst es, mir deine Stirn zu bieten, meinen Tabernakel zu verhöhnen – welche Dreistigkeit! Was machst du hier, in meiner Kirche!? Der Friedhof ist es, der dich erwartet! Stinken wirst du. Wie das Aas am Rande des Weges wirst du stinken. Wenn du die Wahrheit wissen willst, sage ich dir: Du wirst niemals in mein Reich eintreten. Armes Schwein!« (27:04). Trelkovsky spürt die Worte des Pfarrers an sich gerichtet, sieht Christus auf dem Kreuz, dann die drohende Fratze des Paters. Beim Stichwort »Engel« schweift sein Blick zu Stella, der Schweiß steht ihm auf der Stirn. In Panik steht er auf und verlässt eilig die Kirche, doch die große Tür, an der er rüttelt, ist abgeschlossen – erst die kleinere Türe daneben gibt seinem Versuch zu entkommen nach. Am Wochenende gibt Trelkovsky eine kleine Einweihungsparty für seine Arbeitskollegen, die sich äußerst rücksichtslos benehmen, die Möbel lautstark hin- und herschieben und seine Wohnung regelrecht verwüsten. Ein Mieter beschwert sich über den Lärm, und Trelkovsky bittet seine Gäste zu gehen, was sie nur widerwillig und mit noch mehr Krach und Gegröle durch das ganze Stiegenhaus tun. Die unangenehme Situation wird durch ihr unmögliches Verhalten noch schlimmer. In der Früh begegnet Trelkovsky Monsieur Zy, als er den Müll der letzten Nacht die Treppen hinunterschleppt, entschuldigt sich für den Lärm und versichert ihm, dass so etwas nie wieder vorkommen wird. Monsieur Zy nimmt es nach einigen Vorwürfen mit strengem Blick zur Kenntnis und betont:
RR »Ich hatte schon vor, etwas in die Wege zu leiten. Sie wissen ja, wie schwierig es ist, heutzutage eine Wohnung zu finden.« (36:55). Als Trelkovsky weitergeht, verliert er im ganzen Stiegenhaus Müll, der aus den übervollen aufgeplatzten Tüten fällt. Doch als er von den Mülltonnen im Hof zurückkommt und seinen Unrat aufheben will, ist schon alles weg. Montagmorgen im Büro lesen seine Kollegen amüsiert aus der Tageszeitung vor:
RR »Betrunkener singt um drei Uhr morgens aus der Oper Tosca und wird daraufhin von seinem Nachbarn erschossen« (38:38) und machen sich über Trelkovsky und dessen schwierige Wohnsituation lustig. Von nun an klopfen bei jedem Geräusch, das Trelkovsky in der Wohnung macht, seine Nachbarn an die Wände und an die Decke, um ihn auf sein unmögliches und störendes Verhalten aufmerksam zu machen. Die Wasserleitung, die angeblich neu gemacht wurde und für die er auch extra zahlen muss, rattert beim Aufdrehen des Wasserhahnes auffallend laut – doch dieser Lärm scheint die anderen Mieter nicht zu stören. Die Wohnung wirkt düster und dunkel. Trelkovsky schleicht auf dem knarrenden Boden möglichst lautlos umher. Zufällig bemerkt er ein Loch in der Wand, in dem ein ausgerissener Schneidezahn versteckt ist. Irritiert legt er ihn zurück und verschließt das Loch wieder sorgfältig. Doch damit nicht genug der unheimlichen Beobachtungen: Auf jener Toilette, welche sich, worauf ihn die Concierge bereits bei der ersten Besichtigung der Wohnung aufmerksam machte, für alle Bewohner am Gang auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses befindet, kann Trelkovsky immer wieder Gestalten sehen, die regungslos dastehen. Er beobachtet sie von seinem Fenster aus, fasziniert und zugleich irritiert von ihrer starren, steifen, stundenlangen Bewegungslosigkeit. Im Verlauf des Films richtet sich sein Blick immer wieder aus dem Fenster auf die Toilette, es wirkt wie ein Zwang, dem er nachkommen
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..Abb. 26.3 Der prüfende Blick in die gegenüberliegende Toilette. (© Paramount Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
muss, obwohl er ihn ängstigt. Er greift sogar zum Opernglas, um das dubiose Vorgehen besser erkennen zu können, und sieht nicht zuletzt Simone Choule, die sich – und sie ist die Einzige, die sich bewegt – lachend die Bandagen von ihrem Kopf wickelt. Der Höhepunkt wird erreicht, als Trelkovsky selbst die Toilette aufsucht und bei einem neugierigen Blick über den Innenhof sich selbst in seiner Wohnung am Fenster stehen sieht, mit einem Fernglas in der Hand und einem misstrauischen, fast feindseligen Blick, wartend und beobachtend (. Abb. 26.3). Auch unter den anderen Mietern des Hauses herrscht Unfrieden. Madame Dioz, eine unfreundliche, gehässige Frau, unternimmt eine Unterschriftenaktion gegen Madame Gaderian und deren behinderte Tochter, von denen sie sich gestört fühlt und die sie aus der Wohnung werfen lassen will. Trelkovsky weigert sich, sehr höflich und sich selbst rechtfertigend, die Liste zu unterschreiben, woraufhin ihm Madame Dioz droht. Die Unterschriftenaktion ist erfolgreich und Madame Gaderian und ihre behinderte Tochter müssen einige Zeit später aus der Wohnung und dem Haus ausziehen. Trelkovsky hat als Einziger nicht unterschrieben – und während Madame Gaderian allen anderen Mietern früh am Morgen zum Abschied vor der Tür Kot lässt, verschont sie Trelkovsky aus Dankbarkeit. Um den Verdacht jedoch nicht auf sich selbst zu lenken, schmiert dieser etwas von den anderen Haufen auch vor seine Tür. Trelkovsky wird eines Tages von einem Mann besucht, der eigentlich zu Simone wollte und über deren Tod schwer erschüttert ist, da er schon lange in sie verliebt war. Die beiden verbringen die ganze Nacht zusammen und betrinken sich in einer Bar, Trelkovsky tröstet ihn und rettet ihm das Leben,
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da er ihn in seiner Trauer um Simone auffängt. In derselben Nacht aber wird in seine Wohnung eingebrochen und alle seine persönlichen Wertgegenstände gestohlen, während von Simone noch alles da ist. Monsieur Zy beschwert sich am Morgen wieder über den Lärm der letzten Nacht. Bei seiner nächsten Begegnung mit Stella verbringen die beiden den Abend zusammen bei Freunden und gehen dann zu ihr. Trelkovsky erzählt ihr von dem Zahn, den er in der Wand gefunden hat. Während Stella ihm eindeutige Avancen macht, lässt er sie an seinen Gedanken teilhaben, die ihn anscheinend sehr beschäftigen:
RR »Von welchem Moment an genau hört ein Mensch auf, die Person zu sein, die er zu sein glaubt? Man schneidet mir einen Arm ab. Ich sage: Ich und mein Arm. Dann schneiden sie mir den anderen Arm ab. Ich sage: Das bin ich, und meine beiden Arme. Und dann, dann schneiden sie mir den Magen raus – nehmen wir mal an, dass es möglich ist. Ich sage, ich und meine Eingeweide. Meine Eingeweide. Und dann, dann schneiden sie mir den Kopf ab. Und was sag ich dann? Ich und mein Kopf, oder mein Körper? Was sag ich? Mit welchem Recht bildet sich mein Kopf ein, er wäre ich? Hä? Mit welchem Recht?« (1:08:20). Eine sexuelle Annäherung kommt nicht mehr zustande. Trelkovsky übergibt sich in der Nacht noch in ihrer Toilette und schleicht dann unbemerkt aus der Wohnung. Zuhause angekommen wird er im Hausflur von einer obdachlosen Frau erschreckt und angegriffen, sie würgt ihn mit den Händen, ihr Gesicht wird immer wieder von Madame Dioz’ Gesicht überblendet, die ihn zu Boden ringt, und in einigen aufblitzenden Bildern dazwischen erkennt man, wie sich Trelkovsky mit eigenen Händen beinahe selbst erdrosselt. Trelkovsky geht schließlich zur Polizei, um Anzeige zu erstatten, wird aber sogleich selbst beschuldigt, da er einen ausländischen Namen hat und mehrere Anzeigen wegen Ruhestörung gegen ihn vorliegen, und kommt gerade noch davon. Nach einem Fieberanfall ist er mehr als überrascht, sein Gesicht am nächsten Morgen geschminkt im Spiegel zu sehen. Das Glasdach unter seinem Fenster ist mittlerweile vollständig repariert. Trelkovsky ist überzeugt, dass Monsieur Zy und seine Nachbarn ihn in den Selbstmord treiben wollen, gerade so, wie auch Simone Choule. Er kauft sich eine Damenperücke und hohe Schuhe und zieht sich Simones Kleid an, das noch im Kasten hängt. Mit verstellter Stimme spricht er zu sich selbst:
RR »Ohhh! Diese Schuhe sind ja hinreißend mein Schatz! Hinreißend! […] Ohhh! Nein, wie sie aussieht! Fantastisch, hinreißend! Wie eine Göttin – himmlisch!« (1:28:28). In dieser Nacht wacht er auf und bemerkt, dass ihm ein Schneidezahn fehlt, der, genau wie jener von Simone Choule, im Loch in der Wand versteckt ist. Vor seinem Fenster sieht er erst einen Ball vorbeifliegen, dann einen menschlichen Kopf mit seinen Zügen und langen Haaren. Er sieht, wie die anderen Hausbewohner im Innenhof Madame Gaderian und ihre Tochter quälen. Sie setzen der Tochter eine Maske mit seinem Gesicht auf, woraufhin diese ihn am Fenster stehen sieht und auf ihn zeigt. Die ganze Meute stürmt laut schreiend und grölend zu ihm hinauf. In Panik verbarrikadiert er die Türe mit schweren Möbelstücken und schließt sich ein. In dem Café gegenüber serviert der Kellner ihm wie immer Simone Choules heiße Schokolade und ihre Zigarettenmarke Marlboro, was Trelkovsky diesmal aber ablehnt. Er besteht auf Kaffee und die von ihm georderten Gauloises – doch beides ist aus, und Trelkovsky schreit:
RR »Ich weiß genau, worauf Sie hinaus wollen! Ihr seid eine Mörderbande! Ihr braucht mich gar nicht so unschuldig anzusehen. Endlich komm ich dahinter, was ihr plant.« (1:32:48).
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Das Ich und der Tod. Vom Selbst-Verlust zur Selbst-Werdung
Er flüchtet zu Stella, der einzigen, der er noch vertraut, und weiht sie in seine schreckliche Vermutung ein. Simone sei in den Selbstmord getrieben worden, gerade wie sie es jetzt auch bei ihm versuchen. Stella beruhigt ihn, kümmert sich um ihn und lässt ihn bei sich schlafen. Am nächsten Tag – sie ist gerade in der Arbeit – läutet ein Verkäufer an der Tür. Trelkovsky meint durch den Spion Monsieur Zy zu erkennen, der nach ihm sucht. Jetzt weiß er, dass auch Stella Teil der Verschwörung gegen ihn ist, und er verlässt ihre Wohnung, nachdem er sie zerstört hat. Er wird in seiner Panik und Orientierungslosigkeit von einem älteren Ehepaar angefahren, in denen er ebenfalls Monsieur Zy und Madame Dioz zu erkennen meint. Er fleht die Polizisten an:
RR »Hören Sie zu, hören Sie zu, die wollen mich umbringen! Die spielen Fußball mit dem Kopf eines Menschen!« (1:51:57) und stürzt sich auf die alte Frau, um sie zu erwürgen. Mit Beruhigungsmitteln niedergespritzt, wird er von dem Ehepaar nach Hause gefahren und an die Concierge und Monsieur Zy übergeben. Wenig später verkleidet sich Trelkovsky wieder in Simone Choule, ist geschminkt, trägt ihre Kleider, hohe Schuhe und die Perücke. Der Innenhof verwandelt sich in ein Theater, ein Opernhaus mit schweren, roten Samtvorhängen, theatralischer Beleuchtung und Logen, in denen sich die anderen Mieter in Abendkleidung versammeln. Sie zeigen auf ihn und klatschen begeistert in die Hände, warten voll Vorfreude auf seinen großen Auftritt. Stella ist auch da, sie sitzt neben Monsieur Zy und reibt inbrünstig und mit einem Lachen im Gesicht dessen Oberschenkel und Knie. Trelkovsky steht auf dem Fensterbrett. Vor Spannung erstarrte Gesichter. Trommelwirbel. Er springt – sein fallender Körper durchschlägt das neue Glasdach. Die Nachbarn wachen von dem Lärm auf, versammeln sich aufgeregt im Innenhof und rufen die Polizei. Doch der schwer verletzte Trelkovsky kriecht von ihnen weg, zieht sich in einer Blutspur die Stufen des Mietshauses hinauf und sieht aus seiner Perspektive Monsieur Zy und die anderen, die ihm besorgt und entsetzt nachkommen, wie sie ihn mit verzerrten Fratzen und Netzen einfangen wollen wie ein Tier (. Abb. 26.4). Er nimmt sich die Perücke ab und schreit:
RR »Mörderbande! Ihr wollt einen schön blutigen Mord? Einen schön blutigen Mord wollt ihr haben? Ihr sollt ihn haben. Abscheulich. Unvergesslich. Das letzte Mal war er besser, was? Ich bin nicht Simone Choule! Ich bin Trelkovsky! Trelkovsky!« (1:57:48). Zurück in seiner Wohnung quält er sich erneut aufs Fensterbrett – die im Hof Versammelten schreien entsetzt auf. Er springt ein zweites Mal. Die letzte Szene zeigt Trelkovsky, einbandagiert, genauso wie Simone Choule, im Krankenhausbett liegen, während man aus seiner Perspektive ihn und Stella sieht, wie sie am Anfang des Filmes Simone besuchen. Stella sieht ihn eindringlich an und sagt:
RR »Simone! Simone! Du erkennst mich doch, nicht wahr Simone?« (1:59:38). Trelkovskys Mund öffnet sich, und derselbe durchdringende, verstörende Schrei zerschneidet die Luft.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns nützt und der uns hilft zu sehen Es ist unschwer zu erkennen, dass dieser Film eine Reichhaltigkeit und Dichte an Bildern, Themen, Emotionen und Symboliken enthält, die auf mehreren Ebenen zugleich auf den Betrachter einwirken. Jedem Thema und jedem Zeichen könnte als neuem Faden in dem Geflecht nachgegangen werden,
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..Abb. 26.4 Der verwundete Trelkovsky flieht vor den Hausbewohnern. (© Paramount Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
doch es ist gerade bei einer solchen Vielschichtigkeit und Komplexität wichtig, die leitenden Komponenten, die der Handlung zugrunde liegen, herauszufiltern bzw. nicht aus den Augen zu verlieren. Es kann daher sinnvoll sein, den ersten Szenen eines Films besondere Aufmerksamkeit zu schenken (vgl. Schneider 2007, S. 221). Denn in ihnen ist bereits eine Darstellung zentraler Gegenstände und Konflikte der Filmthematik zu erkennen. Wenn es meist auch nicht dezidiert und klar angesprochen wird, ist es doch häufig – und so auch bei Polanskis »Der Mieter« – ein dezentes, feines Andeuten wesentlicher Elemente des ganzen Films, das viel zu oft unbemerkt bleibt. Aus dem Grund sei an dieser Stelle der Vorspann, der scheinbar nur die Kulisse und die Bewohner eines Mietshauses abbildet, während die Titelsequenz läuft, im Besonderen betrachtet, um zu sehen, welche Elemente im Speziellen hervorgehoben werden und somit dem Filmgeschehen im Allgemeinen als Leitmotive, als Grundthematiken unterliegen könnten. Der Vorspann (00:15–02:17) beginnt mit dem Bild eines Fensters, das, geschlossen, zu einem größeren Teil von der linken und rechten Seite von Vorhängen bedeckt ist und in der Mitte einen breiten, hölzernen Balken hat. Hinter dem Fenster werden plötzlich Kopf und Oberkörper eines Mannes erkennbar, der nur leicht aus der kohlschwarzen Tiefe des Raumes hervortritt und – soweit erkennbar – die Züge Trelkovskys hat. Der Blick ist etwas scheu, starr, wie mit dem schwarzen Hintergrund verschmolzen, und leblos. Dann kippt die Kamera kerzengerade in die Tiefe, entlang der Außenwand des Wohnhauses – es entsteht beinahe ein leichter Schwindel durch den Sog und das Gefühl der Haltlosigkeit, das durch die Kameraführung erzeugt wird –, und endet in der Tiefe bei einem großen Loch in einer schmutzigen, undurchsichtigen Glasfläche, vermutlich einem Vordach im Parterre. Die Kamera schwenkt langsam zurück hinauf, die Hauswand entlang, und bleibt beim selben Fenster stehen wie davor, hinter dem
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nun, an derselben Stelle wie gerade eben der Mann, schemenhaft das verstohlene, fast lächelnde Gesicht einer Frau zu sehen ist, die direkt in die Kamera, und somit den Zuschauer, ansieht. Sie sieht aus wie Simone Choule, die man im weiteren Verlauf des Films nur einmal kurz aus der Sicht Trelkovskys auf der gegenüberliegenden Toilette sieht, wie sie sich lachend die Bandagen abnimmt. Die Kamera verlässt dabei nicht ihre ursprüngliche Position: Sie führt von dem weiter entfernten Loch im Glas hinauf, und jedes Stockwerk, jedes Fenster wirkt näher am Objektiv, kommt näher an die eigene Position heran, bis schließlich das Fenster mit der Menschengestalt ganz nahe scheint, als wäre man unmittelbar davor. Das löst ein beklemmendes, angsterregendes Gefühl aus, und die Kamera verharrt einige Momente bei dieser Aufnahme. Dann schwenkt sie nach rechts, den Innenhof des Mietshauses entlang, bleibt dabei aber im selben Stockwerk und hält erst bei einem detailreich umrahmten Fenster, das ungefähr auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes liegen muss. Hinter diesem Fenster erkennt man etwas verschwommen die Gestalt – den Oberkörper und das Gesicht – einer Frau, vermutlich derselben Frau wie soeben, die hier ernst in die Kamera blickt. Nur Momente später wird sie überblendet von der Gestalt Trelkovskys, ebenso verschwommen und mit ernstem Blick, aber nun deutlich erkennbar. Bis zu diesem Moment sind die Bilder mit einer melancholischen Musik unterlegt, der einerseits durch dumpfe Töne eine zugrundeliegende Schwere und Angst innewohnt, und die andererseits durch feine, klare Klänge eine Spannung und Schärfe aufbaut und beinahe etwas Stechendes, Bedrohliches an sich hat. Als sich die Kamera von dem Fenster abwendet, ändert sich die Musik, fast unbemerkt, da die Instrumente und sogar die Grundmelodie dieselben bleiben, zu einem leichten, nahezu fröhlichen Spiel – und mit ihr auch die Bildaufnahmen: Der Innenhof wird mit demselben Blick nach rechts weiter erkundet, man sieht die alte Fassade des Gebäudes, einen rauchenden Kamin und hinter den Fenstern und Vorhängen immer wieder Gestalten und Schatten, die Tücher zusammenlegen, Zeitung lesen, sich bewegen. Der Vorspann endet mit den klappernden Geräuschen der Concierge – die, wie man kurz darauf feststellen wird, hinter den geschlossenen Fenstern ihrer Wohnung im Erdgeschoss den Abwasch erledigt – und Trelkovsky, der durch das schwere Eingangstor zum ersten Mal den Flur des Mietshauses betritt. Mit dem Wegschwenken der Kamera von dem zweiten Fenster, der subtilen Änderung der Musik und der Art der Aufnahmen entsteht ein Bruch, beginnt innerhalb des kurzen Vorspanns ein anderer Abschnitt, ein zweites Kapitel. Es ändert sich nämlich die Stimmung der Szenerie, auf den ersten Blick fast unmerklich und doch sehr deutlich, wenn man den Details und der (vorerst unbewussten) Resonanz im eigenen Empfinden – psychoanalytisch gesprochen der Gegenübertragung – Beachtung schenkt. Einerseits die auditive Untermalung, die sofort die Anspannung und dumpfe Erwartung des Ungewissen nimmt und mit ihrer Leichtigkeit wieder eine gewisse Entspannung bewirkt. Andererseits die Bildaufnahmen der Kamera, die kein konkretes Ziel mehr zu verfolgen scheinen und eher zufällige Eindrücke des Innenhofes vermitteln, als wollten sie einen allgemeinen Einblick geben in die nicht besonders spezifische Welt eines Pariser Mietshauses. Es wird ein Bild gezeichnet von Normalität und Unauffälligkeit. Die schemenhaften Gestalten hinter den verschlossenen Fenstern und Vorhängen gehen Alltagstätigkeiten nach, wirken bieder und banal. Sie bemerken auch die Kamera nicht, die einen unscharfen Einblick in ihr Leben gibt, und erwidern somit auch nicht den Blick, der für einen Moment auf sie gerichtet ist. Sie sehen den Zuschauer, der in dieser Situation zum Voyeur wird, nicht an – es entsteht keine »Beziehung« und keine »Berührung« durch direkten Blickkontakt. Man bleibt als Zuschauer außen vor, ist stiller Beobachter dieser Menschen und ihrer Welt, findet sich aber nicht selbst darin wieder. Was noch auffällt, ist, dass die Menschen hinter den Fenstern Dinge tun, Tätigkeiten nachgehen, sich bewegen, und somit – zumindest in ihrer Welt – lebendig sind. Man bedenke – im Gegensatz dazu – die starren unbeweglichen Gestalten bzw. Gesichter im ersten Teil des Vorspanns. Als Nächstes gilt zu beachten, dass es zu keiner Überlagerung der Personen mehr kommt, an deren Stelle plötzlich ein anderer Mensch steht oder von ihm überblendet wird. Die Kamera bleibt nicht mehr an bestimmten Punkten stehen, hält kein Motiv, keine Perspektive, kein geschlossenes Fenster mehr fest, sondern streicht, wie auch die Musik und wie die Bewohner in ihren Tätigkeiten, leicht und mit einer
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mühelosen, unscheinbaren Lebendigkeit dahin. Die gemeinsamen Elemente dieser unterschiedlichen Wirkungsebenen sind also die Leichtigkeit und Beweglichkeit, das ihnen inhärente Lebendige, das plötzlich im Außen entsteht, ganz im Gegensatz zu den Szenen davor, in denen jegliche Bewegung, jedes Leben vergangen zu sein scheint. Sehen wir uns nun den ersten Teil des Vorspanns genauer an. Es beginnt mit dem Blick in ein geschlossenes Fenster, das durch Vorhänge zum Teil verdeckt ist und nur wenig Einblick gewährt. Man sieht also von außen in ein Innen, ein schwarzes, dunkles, kaum erschlossenes Inneres, das nichts preisgibt und in seiner absoluten Schwärze unendlich tief und unheimlich scheint. Unvermittelt und ohne, dass man eine Bewegung oder ein Herannahen erkennen kann, taucht plötzlich aus dem schwarzen Hintergrund unklar Trelkovsky auf. Er bewegt sich nicht, schaut mit versteinerter Miene unsicher und linkisch in die Kamera. Seine Züge sind kaum zu erkennen, da die Umrisse nur zu kleinen Teilen aus der alles verschluckenden Dunkelheit heraustreten und zusätzlich gänzlich unscharf, verschwommen sind. Diese erste Begegnung verrät schon so einiges: Erstens blickt man von außen nach innen, dringt dadurch in einen persönlichen Raum, eine Privat- und Intimsphäre einer anderen Person ein, die aber dunkel, schwarz und tief zu sein scheint. Man merkt schon in diesem Moment, dass es sich nicht um eine fröhliche, unbeschwerte Person handelt, deren Persönlichstes man infiltriert. Zweitens ist es tatsächlich eine Begegnung, denn Trelkovsky sieht in die Kamera, sieht den Zuschauer direkt an, wodurch die eigentliche Begegnung stattfindet und ein gewisser Beziehungsaufbau zustande kommt. Der Zuschauer fühlt sich direkt angesprochen von der Person, in ihr Inneres hineingezogen – denn die Augen sind ja bekanntlich die Fenster zur Seele. Es passiert eine erste Identifikation. Drittens erkennt man durch die Art und Weise, wie die Gestalt erkennbar wird, dass sie in ihrer Person, in ihrem Eigenen größtenteils versunken bleibt, in ihr beinahe verschwindet und untergeht, von außen kaum als eigenständiger Mensch und Charakter erkennbar ist und sich praktisch nie herausbewegt, sichtbar macht, und Kontur oder Gestalt annimmt. Trelkovsky ist, überspitzt gesagt, eine verschwommene, verwischte Person. An derselben Stelle, an der Trelkovsky in der Tiefe hinter dem Fenster zu verschwinden droht, steht Augenblicke später in der gleichen Position eine Frau mit den Zügen Simone Choules. Es scheint, als sei Trelkovsky von dieser Frau ersetzt worden, als sei seine Person von ihr überblendet. Sie steht an seiner Stelle, sie hat seinen Platz eingenommen, sie sieht jetzt in die Kamera und überlagert die geringe, durchsichtige Präsenz Trelkovskys. Dabei wirken dieses Bild, ihr starrender, durchdringender Blick und das fast unmerkliche Lächeln unheimlich und unheilvoll. Dazwischen steht die eine zentrale Bewegung des ganzen ersten Abschnitts – der Fall des Kamerablicks drei Stockwerke die Hausfassade entlang in die Tiefe, bis zu dem großen Loch im Glasdach. Die Kamerabewegung ist dabei so unvermittelt und direkt, dass dem Zuschauer leicht schwindelig wird und eine Fallbewegung beinahe spürbar ist. Die zentralen Elemente dieser ersten Aufnahmen sind also der Blick von außen nach innen, in die Privatsphäre und das Innenleben einer kaum sichtbaren, verschwommenen Person, unseres Protagonisten, der von einer Frauengestalt ersetzt und überblendet wird, und eine Abwärtsbewegung, ein Sturz in die Tiefe, der in einem Loch im Glasdach endet. Ersichtlich ist, dass die beiden Gestalten sehr eng miteinander in Verbindung stehen, im selben Raum dieselbe Position einnehmen, einander überlagern und auch, dass der plötzliche Fall ein verbindendes Element darstellt. In der nächsten Aufnahme, nachdem die Kamera nach rechts zu einem anderen Fenster schwenkt, sieht man dieselbe Frau hinter diesem Fenster stehen. Die Distanz zwischen Kamera und Objekt ist jetzt größer. Die Frau, vermutlich Simone Choule, schaut ernst, erstarrt und reglos den Zuschauer wieder direkt an, aber diesmal ist ihr Blick nicht verschlagen, sondern leer. Ihre Erscheinung wird in diesem Moment überblendet von Trelkovsky, der in derselben Position, derselben Körperhaltung dasteht und ihre Gestalt mit seiner überlagert, ersetzt. Auch er sieht direkt in die Kamera mit demselben reglosen, leblosen, erstarrten Blick. In der Aufnahme ist er eindeutig erkennbar. Bei dem Fenster
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handelt es sich um das Toilettenfenster, das sich gegenüber Trelkovskys Wohnung auf der anderen Seite des Innenhofes befindet. Die Szene beinhaltet nun ebenfalls eine Überblendung, nur diesmal in die andere Richtung: Trelkovsky überdeckt und ersetzt Simone Choule – dort, wo sie gestanden ist, steht nun er, er hat jetzt ihren Platz eingenommen. Auffällig ist auch, im Gegensatz zu der Szene davor, dass beide keinen bzw. einen leeren, leblosen Ausdruck haben und ein Gefühl des bloßen »Nichts« vermitteln. Betrachten wir das Ganze in der szenischen Abfolge: Erst wird der unscheinbare, kaum präsente Trelkovsky von Simone Choule überblendet, sein schwaches Ich wird durch sie ersetzt, das verbindende Element, der Höhepunkt der Überlagerung ist der Fall in die Tiefe, der Sturz in den Tod. Danach, im Fenster der Toilette, wo alle Personen erstarren und leblos werden – sozusagen im Tod – ist es Trelkovsky, der Simone Choule überblendet, also von Simone Choule wieder oder erstmals wirklich zu Trelkovsky wird.
Sein und Nicht-Sein: Die Ich-Werdung im Tod Der Film ist durchzogen von Elementen, die dem Strukturmodell der Psyche zugeordnet werden können: auf der einen Seite Gegenstände körperlicher Lebensäußerungen wie Erbrochenes, der Kot auf der Türschwelle, die Toilette, die aus der Wohnung ans andere Ende des Hauses verbannt ist, Triebregungen und das Begehren gegenüber Stella etc., die omnipräsent sind. Auf der anderen Seite die Gebote und Verbote nicht nur der äußerst rigiden Hausgemeinschaft, des Vermieters, der Polizei, sondern auch Trelkovkys selbst, die Triebe verbieten (man denke z. B. an die plötzlich veränderte Predigt des Pfarrers in der Kirche, nachdem Trelkovsky sichtlich erfreut ist, Stella zu sehen) und jegliche Lebensäußerung, jedes Lebenszeichen bestrafen (Lärm, Geräusche, Gehen in der Wohnung …). Trelkovsky, so macht es den Anschein, darf nicht sein. Diese Spannung zwischen Es und Über-Ich ist ständig spürbar, und die Konsequenz – anschaulich dargestellt in der Szene, als Trelkovsky Stella seine innersten Konflikte anvertraut und sich fragt, wo sein Ich anfängt und wo es aufhört, wo es sich denn überhaupt befindet – ist der Verlust des Ichs. Im Vorspann ist diese Spannung ebenfalls angedeutet: Die Unterschiede vom ersten zum zweiten Teil weisen auf die Konflikte zwischen Außen und Innen, zwischen Bewegung und Erstarren, zwischen Leben und Tod hin. Im ersten Teil des Vorspanns, im ersten Fenster, kann die schemenhafte Durchsichtigkeit und Unkenntlichkeit Trelkovskys gleichgesetzt werden mit dem kaum vorhandenen Ich des Protagonisten. Die visuelle Überblendung im Bild, das kontinuierliche »ErsetztWerden« durch Simone Choule im Film braucht Trelkovsky, der den Platz einer Toten eingenommen hat, um sein eigenes Ich in Abgrenzung, im Kontrast dazu, zu entwickeln, was sich im Verlauf des Geschehens durch eine gesteigerte Aggressivität zur Verteidigung seiner eigenen Bedürfnisse zeigt. Im Fenstersturz erreicht die Überblendung ihren Höhepunkt, und gleichzeitig ereignet sich die große Wendung, die Distanzierung und Individuation, indem er als Simone Choule verkleidet erst ihren Suizid nachstellt und dann, die Frauenperücke abnehmend und sein wahres Ich offenbarend (»Ich bin nicht Simone Choule, ich bin Trelkovksy!«), als der, der er wirklich ist, ein zweites Mal in den Tod stürzt. Wie im zweiten Fenster des Vorspanns, in dem die ausdruckslose, leblose Simone Choule von dem ebenso erstarrten und toten Trelkovsky überblendet wird, entkommt Trelkovsky seinem eigenen NichtSein im Suizid, der eigentlich eine Inszenierung (man denke an das Opernhaus und das begeisterte Publikum) der Selbst-Werdung ist, und tritt dadurch aus der Identifikation – eher: der Überlagerung – mit Simone Choule heraus. Trelkovsky kann erst im Nicht-Sein das eigene Sein verwirklichen – er findet, schlussendlich, sein Ich im Tod.
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Literatur Adler A (1973) Zur Kritik der Freudschen Sexualtheorie des Seelenlebens. In: Adler A, Furtmüller C (Hrsg) Heilen und Bilden. Fischer, Frankfurt/Main, S 94–102 Freud S (1982) Jenseits des Lustprinzips. In: Mitscherlich A, Richards A, Strachey J (Hrsg) Psychologie des Unbewussten. Sigmund Freud-Studienausgabe, Bd. 3. Fischer, Frankfurt/Main, S 213–272 Jacke A (2010) Roman Polanski. Traumatische Seelenlandschaften. Psychosozial-Verlag, Gießen Mahler-Bungers A (2007) Projektion und Wirklichkeit. Zu Roman Polanskis »Der Mieter«. In: Zwiebel R, Mahler-Bungers A (Hrsg) Projektion und Wirklichkeit. Die unbewusste Botschaft des Films. Schriften des Sigmund-Freud-Instituts, Reihe 2, Bd. 5. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S 182–203 Polanski R (1984) Roman Polanski. Autobiographie. Heyne Verlag, Bern München Wien Schneider G (2007) »Der Mieter« – Roman Polanskis filmische Analyse eines psychotischen Universums. In: Zwiebel R, Mahler-Bungers A (Hrsg) Projektion und Wirklichkeit. Die unbewusste Botschaft des Films. Schriften des Sigmund-FreudInstituts, Reihe 2, Bd. 5. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S 220–234 Zitzelsberger-Schlez A (2018) Tödliche Verwandlung. Vom Selbstverlust zur Selbstvernichtung. In: Bär P, Schneider G (Hrsg) Roman Polanski. Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie, Bd. 2. Psychosozial-Verlag, Gießen, S 32–43
Originaltitel
Le locataire
Erscheinungsjahr
1976
Land
Frankreich
Drehbuch
Gerard Brach, Roman Polanski
Regie
Roman Polanski
Hauptdarsteller
Roman Polanski, Isabelle Adjani, Melvin Douglas, Jo Van Fleet, Lila Kendrova
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Martina Heichinger
Die Hinterpforte des Lebens Die Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Rezeptionsmöglichkeiten des Filmes . . . . . . . . . . . . . . 404 Die Handlung unter dem Fokus auf die Suizidalität des Protagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Die Hinterpforte des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 Suizidalität bei älteren Männern aus psychodynamischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_27
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Filmplakat Winterreise. (© X Verleih AG. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Winterreise (2006) Martina Heichinger
Der Titel dieses Filmes aus dem Jahr 2006 bezieht sich auf den Liederzyklus »Winterreise« von Franz Schubert (1797–1828), einem Meisterwerk aus dem Jahre 1827, für das der Komponist 24 Gedichte von Wilhelm Müller (1794–1827) vertont hat. Es handelt von einem verzweifelten und einsamen Wanderer, der ziel- und hoffnungslos in die Winternacht hinausgeht (. Abb. 27.1, Filmplakat). In seinem Schmerz schwankt er zwischen Resignation und Wut und flüchtet sich in Wahngebilde. Schuberts »Winterreise« kann als Metapher für Trauer, Todessehnsucht und Entfremdung gelesen und mit Suizidgedanken in Verbindung gebracht werden. Im Film klingen immer wieder Lieder dieses Zyklus an, und einzelne davon werden von den Darstellern Josef Bierbichler und Hanna Schygulla gesungen. Der Film »Winterreise« wurde bereits im Jahr 2010 in dem vom Springer Verlag herausgegebenen Sammelband »Batman und andere himmlische Kreaturen« (Möller und Doering 2010) unter dem Fokus auf die psychische Störung des Protagonisten Franz Brenninger von Eva Jaeggi umfassend analysiert und besprochen (Jaeggi 2010). Die zentrale Figur des Filmes, ein ehemals erfolgreicher bayrischer Unternehmer, weist die klassischen, im ICD-10 unter F31 – bipolare affektive Störung – angeführten Symptome auf (Weltgesundheitsorganisation 2015). Ebenso wichtig ist allerdings der Fokus auf das Thema, das vom ersten Moment des Filmes präsent ist: der Suizid des Franz Brenninger.
Die Handlung Franz Brenninger (Josef Bierbichler) ist der Protagonist dieses Filmes. Er ist ein Mann um die 60 Jahre, ein mittelständischer Unternehmer in einem bayerischen Dorf, der mit Eisenwaren handelt und Baumärkte beliefert. Er ist verheiratet mit Martha, genannt Mucki (Hanna Schygulla), die gesundheitlich angeschlagen ist – sie benötigt einen Gehstock, und ihre Sehfähigkeit schwindet. Das Paar hat zwei erwachsene Kinder: Sohn Xaver (Philipp Hochmair), der einen Baumarkt leitet, und Tochter Paula (Anna Schudt). Die Geschäfte laufen schlecht, und dem ehemals florierenden Unternehmen droht die Insolvenz. Franz Brenninger, einst erfolgreich und angesehen, ist hoch verschuldet und versucht mit allen Mitteln, den Bankrott aufzuhalten. Er ist von einer inneren Unruhe und Angetriebenheit erfasst und stößt alle, die ihm in die Quere kommen, mit lauten Beschimpfungen vor den Kopf. Das Wort »Arschloch« schleudert er dabei mit aggressiver Lust allem und jedem entgegen. Seine Kinder kränkt er auf gemeine und verletzende Weise, als diese ihre Sorge um ihn ausdrücken, und Martha bekommt seine Launen besonders brutal zu spüren. Franz ist von innerer Hitze und Hunger nach Luft erfasst. Er tanzt wild gestikulierend und schreiend, rauchend und trinkend bei offenem Fenster zu lauter IndieRock-Musik, läuft fast nackt und schwer atmend in den schneebedeckten Garten, sucht Ablenkung im Bordell und agiert als Autofahrer besonders rücksichtslos und aggressiv. Die Szenen von Franz’ Agitiertheit sind dabei mit Bildern einer afrikanischen Landschaft und eines alten, blinden Afrikaners durchbrochen. Nach den Ausbrüchen kommen die Einbrüche – dann liegt Franz regungslos und ins Leere starrend auf seiner Couch, im Umgang mit seiner Umgebung wirkt er niedergeschlagen und resigniert. In diesen Momenten klingen auch erste Strophen aus Schuberts »Winterreise« an. Auf seiner zunehmend verzweifelten Suche nach finanzieller Rettung gerät Franz an einen kenianischen Geschäftsmann, der ihm gegen die Vorauszahlung einer Provision von 50.000,– Euro ein dubioses Provisionsgeschäft mit hohem finanziellem Gewinn anbietet. Franz engagiert für die englische Korrespondenz mit dem Kenianer die junge kurdische Übersetzerin Leyla (Sibel Kekilli) und geht gegen deren eindringliche Warnung auf den Handel ein. Das Geld für die Vorauszahlung entnimmt er dem Bausparvertrag seines Sohnes, wobei diese Summe für eine Operation, die Martha vor dem Erblinden
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retten sollte, vorgesehen war. Es kommt, wie es kommen muss – Franz Brenninger wird betrogen und verliert sein Geld. Er reist mit Leyla nach Nairobi, um sich die Summe wieder zu holen und sich zu rächen. Dort gleitet er während der vergeblichen Suche nach dem Betrüger in eine tiefe Depression ab. Dann erhält er einen Tipp, reist mit Leyla quer durch Kenia und findet den Komplizen des Betrügers. Er überwältigt ihn und flüchtet mit einem Beutel voller Dollarnoten. Franz erteilt Leyla den Auftrag, das Geld nach Deutschland zu bringen und es, neben einer Vergütung für sich selbst, Martha und den Kindern zu übergeben. Franz selbst bleibt in der Savanne zurück und erschießt sich neben einem Baum.
Rezeptionsmöglichkeiten des Filmes Der Film weist mehrere Bedeutungsebenen auf. Zum einen ist er eine gelungene und beeindruckende Charakterstudie eines Menschen mit bipolarer Symptomatik. Eva Jaeggi hat die psychische Erkrankung des Protagonisten ausführlich anhand der Szenenfolge des Filmes analysiert (Jaeggi 2010). Die abrupten Stimmungsschwankungen und innere Not des Franz Brenninger werden mit mehreren filmischen Stilmitteln unterstrichen: dem Wechsel in der Darstellung der flirrenden afrikanischen Steppe und der kargen und kalten Winterlandschaft Bayerns, von Trockenheit und Regen, Hitze und Kälte, finsteren Wolken und blauem Himmel; weiters der abrupten Abfolge von Stille und Lärm, gehetzt stolpernder Musik und melancholisch klingenden Klaviertönen und immer wieder dem Kontrast von Schärfe und Verschwommenheit in den Bildern – dies alles soll ausdrücken, wie es in Franz Brenninger zugeht. Zum zweiten schildert der Film das Bild eines narzisstisch akzentuierten autoritären Patriarchen, dessen Machtposition und gesellschaftliches Ansehen durch beruflichen Misserfolg in Gefahr geraten ist. Franz Brenninger bringt die Eigenschaften mit, die es braucht, um als Unternehmer erfolgreich zu sein. Er ist durchsetzungsfähig und ideenreich, konfliktbereit und leidenschaftlich. In seinem zunehmenden Ausnahmezustand sind diese Eigenschaften allerdings ins Groteske verzerrt. Er ist die Verkörperung des patriarchalen Machos, der »sein Ding durchzieht«, auf jede Kritik mit aufbrausender Aggression reagiert und seine Bordell-Besuche der leidensfähigen Ehefrau um die Ohren brüllt. Die Menschen in seiner Umgebung, seien es die Prostituierten im Bordell, der Filialleiter seiner Hausbank oder – zumindest anfangs – die von ihm engagierte Dolmetscherin, benützt er für seine Zwecke; an ihnen als Personen ist er nicht interessiert. Seine erwachsenen Kinder haben Angst um und vor ihm. Sobald sie jedoch in ihrer Sorge um ihn und vor allem um ihre seinetwegen leidende Mutter an seine emotionsschützende Mauer klopfen, reagiert Franz mit unangemessen brutaler und vernichtender Demütigung. Dies lässt erahnen, wie groß die Angst tief drinnen in diesem Mann ist. Der Film ist zudem gesellschaftskritisch eingestellt. Er beschreibt das typische Beispiel des Unterganges der klein- und mittelständischen Betriebe zugunsten der großen Konzerne. Diese Großunternehmen haben eine »Geiz ist geil«-Mentalität geschaffen, die den Markt bestimmt und bei der nur sie mitspielen können. Damit beschreibt der Film die heutigen Ängste des Mittelstandes vor sozialer Deklassierung. »Gesellschaftlich ist das Angesehensein das ganze Sein« (Gansera 2010),
und je höher jemand aufgestiegen ist, desto tiefer und schmerzhafter ist der Fall. Auf ein solches Scheitern kann man unterschiedlich reagieren. Franz Brenninger zieht sich vorerst nicht depressiv und gedemütigt zurück. Er wütet und brüllt und tobt gegen den sozialen Absturz an. Er sieht sich von »Arschlöchern« umringt, und diese Überzeugung schleudert er jedem ins Gesicht. Der Film erzählt aber vor allem die Geschichte eines Mannes, der den Bezug zu sich verloren hat und gegen diese Entfremdung ankämpft. In Begleitung einer Fremden, die er fürs Übersetzen bezahlt, für ein »ihm etwas verständlich machen«, gelingt es ihm, sich durch eine Reise nach Afrika, dem Land des Ursprunges der Menschheit, wiederzufinden und damit sein Selbst letztlich zu retten, auch wenn er sein Leben vergibt. Es ist ein Film über ein Tabuthema unserer Gesellschaft: dem Suizid.
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»Ein Film, den man lieben oder hassen wird«,
stellt einer der Filmkritiker fest (Suchsland 2006). Der Film polarisiert, das hat sich auch in den Rezensionen und Kritiken abgebildet (z. B. Gansera 2010; Suchsland 2006; Willmann 2006). Neben Preisen und Lobeshymnen gab es auch scharfe Kritik und Verrisse – beides »Zeichen, dass wohl irgendetwas getroffen wurde, was für manchen Kritiker gefährlich ist« (Jaeggi 2010, S. 69).
Das liegt an mehreren Aspekten, vor allem sicherlich an der Inszenierung eines Menschen mit einer bipolaren Störung. Dass sich das Bipolare dann auch in der Filmkritik widerspiegelt, wundert nicht, da schwere psychische Störungen an den existentiellen Themen wie dem Sinn des Lebens und dem Leben und Tod an sich rütteln. Damit konfrontieren und berühren sie auch unweigerlich ihre Umwelt, und das kann dem einen oder anderen schon Angst machen oder zumindest Unbehagen bereiten und vehemente Abwehr auslösen. Jaeggi betont, »dass Diagnosen im Sinne der ICD-10 nur die formale Hülle sind, die das Eigentliche verbergen«,
und sie stellt fest, dass das Wichtigste die Frage nach der existentiellen Aussage durch die Krankheit für den Einzelnen sei (ebd., S. 66). Das erinnert an den Begründer der Individualpsychologie, Alfred Adler, der den Menschen immer als Einheit betrachtet und davon ausgeht, dass man »an irgendeinem beliebigen Punkt beginnen konnte, weil in jedem Symptom immer die ganze große Melodie des Individuums steckt« (Adler 2010, S. 476).
Jaeggi bezeichnet explizit zwei Aspekte des Filmes als verantwortlich für die gespaltene Filmkritik: Zum einen sei die mit Lust verbundene »Lösung vom Über-Ich« in der Manie die vermutlich »verstörendste Nachricht« dieses Filmes. Dass Josef Bierbichler diese Lust am verächtlichen Widerhandeln gegen die sozialen Konventionen so besonders genussvoll darzustellen weiß, mag die Spaltung in der Rezension noch vertieft haben. Der zweite Aspekt sei nach Jaeggi der des Schicksals, das sich im Ahnen und schlussendlich Wissen um das bevorstehende Lebensende zeige. Damit nimmt sie Bezug auf den Suizid des Franz Brenninger, und sie bezeichnet diesen als einen »hellsichtigen Suizid« von einem »der weiß, dass das Leben zu Ende ist« (Jaeggi 2010, S. 69).
Das kann in einer realistisch erzählten Geschichte als kitschig und irritierend erlebt werden. Dem Konzept des Schicksals liegt ein Verlust an Kontrolle über das eigene Leben zugrunde, und das hat in unserer modernen und (natur)wissenschaftlich-nüchternen Zeit keinen Platz, da es das herrschende Welt- und Menschenbild der Machbarkeit und Kontrollierbarkeit in Frage stellt. In Verbindung mit dem Thema Suizid wird es dann endgültig zu viel, und dies drückt sich in vehementer Abwehrhaltung aus. Diese Dynamik ist Ausdruck einer unlösbaren Ambivalenz, denn gerade der Suizid stellt durch den selbstbestimmten Tod die letzte Bastion der Kontrolle über das eigene Leben dar. Das bedeutet aber auch, dass die Kontrolle der Umwelt versagt hat. Und das ist in unserer Gesellschaft nicht tolerierbar. Vielleicht wird an dieser Dynamik sichtbar, dass es weniger um die selbstbestimmte Kontrolle des Individuums als um die Kontrolle der Einzelnen durch die machthabenden Instanzen – seien es die Kirche, den Staat oder die Deutungsmacht der Wissenschaft – geht. Somit eignen sich Filme wie »Winterreise« dafür, eine Dynamik zu entlarven, die nicht erkannt werden darf.
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Die zwiespältige Reaktion auf diesen Film ist daher auch wesentlich durch einen weiteren Umstand begründet: Es ist das bereits durch den Titel vorweggenommene und von Beginn des Films an präsente Thema des Suizids. Dass der Suizid des Protagonisten in den Filmkritiken zum großen Teil nur am Rande und vereinzelt gar nicht erwähnt wurde, kann angesichts der Präsenz des Themas in diesem Film ebenfalls nur mit einer massiven Abwehr der Thematik erklärt werden.
Die Handlung unter dem Fokus auf die Suizidalität des Protagonisten Der Vorspann. Der Vorspann ist wichtig wie das Erstgespräch in der Psychotherapie. Vieles von dem, worum es gehen wird, ist hier bereits enthalten. Im Vorspann von »Winterreise« wird vor allem ein Thema vorgestellt: Der Protagonist beschäftigt sich mit Suizid. Die Darstellung beginnt ohne Ton, es herrscht Grabesstille. Dann ein spröde-blecherner Gong, und man sieht Franz Brenninger an einer grauen Wand entlang durch eine verlassene Werkstatt gehen. Unter dem Verklingen des Gongs öffnet er eine Kiste, darin liegen einige zusammengerollte Seile in unterschiedlichen Stärken. Franz Brenninger entnimmt ein Seil mittlerer Stärke und prüft dessen Festigkeit. Mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken schließt er die Kiste. Auf das aufgerollte Seil in seinen Händen blickend, geht er langsam durch die Werkstatt, die Kamera folgt ihm aus der Vogelperspektive. Franz bleibt stehen und wirft einen Blick auf die Decke, direkt in die Kamera. Mit dieser kurzen und wortlosen Sequenz hat das Thema Suizid eine Hauptrolle im Film. Der Titel des Films »Winterreise« prangt auf schwarzem Hintergrund. Leise Klaviertöne erklingen, und es erscheint eine savannenartige afrikanische Landschaft. Im Vordergrund steht ein dunkelhäutiger, dünner Mann in orangerotem Umhang neben einem abgestorbenen Baum, im Hintergrund sieht man Berge. Der Himmel ist wolkenverhangen, und die Sonne blitzt durch einen Riss in der Wolkendecke hervor. Ein alter Afrikaner mit suchenden, blinden Augen erscheint in Nahaufnahme, während Flugzeuglärm ertönt. Eine weibliche Stimme erklingt, leise und stellenweise flüsternd:
RR »Ich träum’ nicht mehr von ihm. Ich träume von dem blinden schwarzen Mann, der dort oben auf ihn wartet, und ich weiß, dass er irgendwann weggehen wird, um den Alten zu suchen.« Es ist die Stimme von Leyla, der späteren Begleiterin des Protagonisten. Szenenwechsel. Die karge und stille Winterlandschaft eines Ortes in Bayern, Wasserburg am Inn. Der Vorspann geht nun nahtlos in die Handlung des Filmes über und schließt nach der Angabe der Namen der Hauptdarsteller mit der Zeile »für unsere Väter«. Dabei sieht man das Profil einer jungen Frau mit schwarzer Mütze, sie sieht aus wie Leyla. Es wirkt, als würde der letzte Satz des Vorspanns aus ihrem Munde stammen. Später wird man erfahren, dass sich der Vater von Franz Brenninger nach dem Konkurs seines Betriebes erhängt hat und dass der Vater der Kurdin Leyla ebenfalls nicht mehr lebt. Leyla hat eine vielschichtige Rolle in diesem Film. Auf der Realebene der Handlung ist sie die Dolmetscherin von Franz und wirkt in ihrer stillen, zurückhaltenden Art oberflächlich betrachtet fast wie eine Statistin neben dem bildfüllenden Mann. Ihre eigentliche Bedeutung ist aber die einer Begleiterin bei dessen Suche nach sich selbst. Sie ist Zeugin und Führerin bei seiner letzten Wanderung, und sie wird ihm helfen, sich selbst zu verstehen. In Nairobi passt sie auf Franz auf, und sie ist neben seiner Ehefrau die einzige, die ihm Grenzen setzt, an denen entlang er auf seinem Weg wieder ein Stück weiterkommt. Leyla hat von Beginn des Filmes an eine stille und sichere Präsenz und erweist sich als Leitfigur (. Abb. 27.2). Nach diesem Auftakt muss das Publikum nun jederzeit mit dem Suizid des Franz Brenninger rechnen. Sehr rasch wird man davon aber durch die Wucht seiner emotionalen Achterbahnfahrt immer
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..Abb. 27.2 Franz und Leyla in Nairobi. (© X Verleih AG. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
wieder abgelenkt. Die suizidale Entwicklung von Franz und das Thema des Todes sind jedoch in vielen Szenen präsent, immer wieder gibt es Hinweise, dass »es vorbei ist«, dass das Leben ihm nichts mehr gibt und dass »etwas anderes« auf ihn wartet. Eine Schlüsselszene ist die erste offizielle Begegnung zwischen Franz und Leyla. Franz geht im Büro seines Betriebes hektisch und aggressiv seine Geschäftspost durch. Unter einem Berg von »Arschlochpost« – großteils Rechnungen – befindet sich auch ein Schreiben aus Kenia. »Da schau her – die Neger schon wieder«, kommentiert Brenninger das Kuvert. Offensichtlich ist das nicht die erste Post aus Kenia, denn kurze Zeit später trifft die von ihm kontaktierte Übersetzerin ein – es ist Leyla, eine kurdische Studentin. Leyla will Ethnologin werden. Franz fragt, leicht belustigt, was man damit macht, und zum ersten Mal ist für einen Moment wirkliches Interesse am anderen bei ihm bemerkbar. Sie erwidert leise und mit festem Blick:
RR »Ich will wissen, was passiert, wenn ein Volk einfach ausstirbt oder verschwindet.« Damit gibt sie sich als Erfahrene zu erkennen: Sie kennt Tod und Verderben aus ihrer eigenen Biografie. Sie will das Schicksal des kurdischen Volkes studieren, um den Tod zu verstehen. Somit erweist sie sich als geeignete Begleiterin für Franz, der ebenfalls von einer Todesahnung erfasst ist. Ein weiterer Moment ereignet sich auf einer nächtlichen Autofahrt. Franz ist auf dem Heimweg von einem Bordellbesuch. Nachdem er abends zuerst daheim in einem wilden manischen Ausbruch seiner Frustration und inneren Unruhe zu ohrenbetäubend lauter psychedelischer Musik halb nackt in der Winterkälte tanzend und schreiend Ausdruck verliehen hatte, war er mitten in der Nacht in sein Stamm-Bordell gefahren. Sexuell zumindest an diesem Tag nicht ansprechbar, hatte er durch die sanft unterwürfige und freundliche Aufmerksamkeit durch die beiden ihm bekannten Prostituierten zumindest kurze Beruhigung erfahren. Auf der Heimfahrt in der einsamen und kargen nächtlichen
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ländlichen Schneelandschaft ertönt erstmals ein Lied aus Schuberts »Winterreise« aus dem Autoradio: »Der Wegweiser«. Franz hält seinen Wagen mitten auf der einsamen Landstraße an. Er starrt vor sich hin und wiederholt in Fistelstimme die letzte Zeile dieses Liedes:
RR »Eine Straße muss ich gehen, eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück.« Dann fährt er weiter. »Der Wegweiser« ist das 20. Lied des Schubert’schen Zyklus, und es ist der Augenblick, »in dem der Tod zum ersten Mal endgültig gegenwärtig ist« (Bostridge 2015, S. 330).
Ab diesem Moment ist dem Wanderer bewusst, dass er sich auf einer Reise ohne Wiederkehr befindet, und in dieser Szene scheint es, als wäre auch Franz kurz klar geworden, dass er diese Reise ebenfalls bereits angetreten hat. Eine weitere Szene liefert einen Hinweis auf eine der Stationen auf dem Weg der Entfremdung von Franz Brenninger. Daheim angekommen, es ist halb vier Uhr morgens, erlebt man Franz in einer verstörend grausamen Szene mit Martha. Verstörend auch deshalb, weil man ihn in einer Episode davor sehr liebevoll und behutsam mit ihr erlebt hat. Nun poltert er rücksichtslos durch das Schlafzimmer, in dem seine Frau schläft. Er durchwühlt geräuschvoll schimpfend im Kasten seine Kleidung und zerrt auch ein Kleid von Martha heraus. Mit einem gehässigen
RR »Wozu kaufst du dir ein Tanzkleid, wo du sowieso nicht mehr tanzen kannst? reißt er sie aus dem Schlaf. Woher sie wisse, wie spät es ist,
RR »wo du doch angeblich nicht mehr sehen kannst,« fährt er sie an, als sie ihn auf die Uhrzeit aufmerksam macht. Ihre Cartier-Uhr, ein Hochzeitsgeschenk zum 20. Hochzeitstag, habe er übrigens verkauft. Als Martha fragt, was er mit dem Geld gemacht habe, kontert er mit der Gegenfrage, ob sie das wirklich wissen wolle, was sie dreimal ruhig und fest bejaht. Dann sieht er sie boshaft an und sagt:
RR »Ich habe mit dem Geld gefickt.« Er habe damit einem Geschäftspartner in einer Bar eine »dicke Negerin« spendiert, und das
RR »hab i’ für uns g’macht, Mucki, verstehst du? Für uns!« schreit er, um diese brutale Kränkung zu rechtfertigen. Martha liegt auf ihrem weißen Satin-Kissen und blickt ihn nur stumm an. Franz geht, und er verbringt schreiend, tanzend und hektisch gestikulierend die restliche Nacht zu der üblichen rasenden Musik. Hierbei ereignet sich die bedeutsame Szene: Er zieht ein Notenbuch von Schubert aus der Bücherwand, blättert darin und mit einem
RR »Schubert, du bist ein Arschloch! Es ist vorbei!« wirft er es quer durch den Raum, um es danach wieder behutsam in das Regal zu stellen. Später, wenn Franz in Afrika ist, wird klar, welche Bedeutung Schubert für ihn hat. Da erfahren wir, dass Franz ursprünglich drei Jahre am Musikkonservatorium studiert hat. Dieses Studium hat er jedoch nicht beendet, es habe »einfach ned g’langt«. Der brachiale und ehemals bodenständige Unternehmer hat eine sehr feinsinnige und gefühlvolle Seite. Man kann nun phantasieren, dass Franz damals diese Seite
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..Abb. 27.3 Franz in tiefer Depression mit Martha an seiner Seite. (© X Verleih AG. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
an sich unterdrücken und sein Selbst verleugnen musste, um den Weg seines Vaters einzuschlagen und wie dieser ein eigenes metallverarbeitendes Unternehmen zu gründen. Ob aus einer Verpflichtung zur Fortsetzung des gescheiterten Lebenswerkes des Vaters oder, im Gegenteil, um den Vater, der den Sohn durch Suizid nach dem Konkurs allein gelassen hatte, durch den eigenen Erfolg zu übertrumpfen und zu besiegen, oder aus der existentiellen Angst, sein Leben nur rechtfertigen zu können, wenn er den Beruf des Vaters ergreifen und dabei erfolgreich sein würde – in allen Fällen wäre es ein fremdes Leben gewesen. Dass bereits damals eine Entfremdung stattgefunden hat und daraus ein lebenslanges Gefühl des Scheiterns trotz beruflichen Erfolges resultiert haben könnte, liegt jedenfalls nahe. An dieser Stelle kann man eine weitere Bedeutung der zu Beginn des Filmes angeführten Widmung »Für unsere Väter« erkennen. Auch die Kehrseite von Franz’ seelischer Verfassung wird als Hinweis auf den nahenden Tod inszeniert. Es ist Morgen, und man sieht Franz auf seiner Couch liegend, mit offenen Augen und regungslos. Martha ist bei ihm, ganz in Schwarz gekleidet. Für einen kurzen Moment scheint es, als wäre Franz tot (. Abb. 27.3). Martha beugt sich zu ihm:
RR »Franz – hörst du mich? Was ist denn in dir drin? Jetzt sag’s doch! Dann könn’ ma des teilen!« Er richtet den Blick auf sie, versucht etwas zu sagen, aber mehr als
RR »Alles ist dunkel. Dunkel ist Scheiße« bringt er nicht hervor.
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Franz hat schon in frühen Jahren erlebt, was passiert, wenn man beruflich scheitert. Dies geht aus einer Szene mit seinem Sohn Xaver hervor. Die beiden treffen im Betrieb aufeinander. Die Atmosphäre ist dunkel und trist, Franz ist depressiv und erschöpft. Der Sohn will helfen, er fordert den Vater auf, sich zusammenzureißen und mit ihm zu reden. Franz gibt zu, dass er praktisch pleite ist. Xaver seufzt laut und macht sich daran, im Betrieb aufzuräumen. Er ist strukturiert und tatkräftig, und er leugnet die seelische Befindlichkeit seines Vaters. Franz erzählt ihm währenddessen, was ihm durch den Kopf geht: Als sein Vater nach dem Krieg in Konkurs gehen musste und die schweren Geräte und Maschinen abtransportiert wurden, da wurden die Zugpferde blutig geschlagen. Damals lief der kleine Franz neben den Pferden her, weil diese ihm so leidgetan hätten. Diese Erinnerung,
RR »diese blutigen Viecher, die hab i da in mein Kopf drinnen. Und die gehen nimma weg,« sagt Franz und zeigt auf seine Stirn. Er hat eindringlich erlebt, dass das berufliche Scheitern tonnenschwer ist und eine sehr schmerzhafte und blutige Angelegenheit. Sein Vater hat sich deswegen dann auch erhängt. Für den kleinen Franz muss dies eine existentiell bedrohliche und sein Leben prägende Erfahrung gewesen sein, die nun durch das eigene berufliche Versagen aktualisiert wird. Sein Sohn ergeht sich während dieser Schilderung in hilfloser Aufräumtätigkeit, er will Ordnung schaffen und sachlich bleiben, das äußere Chaos beseitigen. Auf die innere Befindlichkeit seines Vaters kann er nicht eingehen:
RR »Denk’ dir ned so einen Scheiß,« sagt er. Xaver verspricht, die Sache mit dem Geld in der Sparkasse zu regeln und verlässt die Werkstatt. Er schließt das Tor hinter sich und lässt seinen depressiven Vater allein. Es ist zu vermuten, dass der Sohn die ganze Tiefe und Tragweite der existentiellen Bedrohung seines Vaters und dessen Nähe zum Tod spürt und dass ihn das zutiefst ängstigt und überfordert. Denn es geht nicht um den Bankrott des Betriebes. Wir erfahren später, dass das finanzielle Überleben des Ehepaares Brenninger durchaus nicht bedroht ist – es gibt zwei Renten, und das Dach über dem Kopf ist ebenfalls gesichert. Es geht um die existentielle Bedrohung durch das Scheitern, die Franz verinnerlicht hat, und diese ist mit einer Todesangst verknüpft. In weiterer Folge unterzeichnet Franz gegen Leylas warnende Worte und ohne ihr Wissen den Vertrag für das Provisionsgeschäft mit dem kenianischen Geschäftsmann. Zu groß ist seine Verzweiflung, zu groß die Verlockung der Lösung seiner finanziellen Lage, so dass er das Geld, welches der Sohn für eine Augenoperation der Mutter vorstreckt, in dieses Geschäft steckt. Bald bestätigt sich die unheilvolle Vorahnung – das Geld ist weg, Franz wurde betrogen, und der kenianische Geschäftspartner ist nicht mehr erreichbar. Franz wütet durch seine Werkstatt. Er wirft Gegenstände herum, schlägt wie besinnungslos mit einem Hammer auf die Metallwand, der blecherne Gong ertönt. Schimpfend und brüllend entkleidet sich Franz, tobend und schwitzend hat er einen psychotischen Anfall, die kreischende und ohrenbetäubende Musik unterstreicht die Unaushaltbarkeit seiner emotionalen Lage. Das Zusehen ist ebenfalls kaum zu ertragen. Franz beschließt, nach Afrika zu reisen und sich sein Geld zurückzuholen. Dafür braucht er Leyla. Er trifft sich mit ihr am Fluss in der kargen und schneebedeckten Landschaft. Leyla erscheint, sie trägt, wie schon in der ersten Begegnung, einen leuchtend gelben Mantel – eine Vorahnung der afrikanischen Sonne, Franz’ Stern zur Orientierung? Als Leyla zögert, wird Franz eindringlich:
RR »Leyla – es is vorbei! I konn nimma zoin! I brauch des Geld von da unten, i brauch des unbedingt!« und, als sie noch immer stumm bleibt:
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..Abb. 27.4 Franz durchstreift die Straßen Nairobis. (© X Verleih AG. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
RR »I brauch deine Hilfe!« Leyla willigt ein. Sie hatte davor eine Begegnung mit Martha, in der diese ihr indirekt die Rolle der schützenden Begleiterin für ihren Mann aufgetragen hatte. In Afrika nimmt die Geschichte zügig ihren Lauf, man ahnt, dass es dem Ende zugeht, und die Todesahnungen werden dabei mit weiteren Liedern des Schubert-Zyklus untermalt. In den Straßen von Nairobi herrscht das pulsierende und ungezügelte Leben. Hitze, Lärm, Staub, der chaotische Straßenverkehr – und Leyla und Franz mittendrin. Bald wird klar, dass die Hoffnung auf Gerechtigkeit enttäuscht werden wird. Der um Hilfe gebetene Botschafter rät dringend zur Aufgabe und weist auf die Gefährlichkeit der Lage hin, ein hier ansässiger Deutscher namens Friedländer bestätigt dies. Er habe vor 21 Jahren seine Frau hier in Nairobi verloren, und die Stadt sei »der blanke Horror«. Franz ist verzweifelt und tobt. Bei einer Fahrt mit dem Taxi im stockenden Verkehr stürzt er aus dem Wagen:
RR »I hoit des nimma aus, i muas weg, i muas raus da!« schreit er, Leyla allein zurücklassend. Mitten im äußeren Chaos und dem Wirbel der menschenüberfüllten Straßen, umringt von Distanzlosigkeit, bitterer Armut, Schmutz und Elend wird Franz etwas ruhiger. Diese äußeren Zustände sind ein Spiegelbild seiner Innenwelt, vielleicht fühlt er sich ein Stück weit erkannt (. Abb. 27.4).
RR »Hallo! I … i bin aus Germany, Deutschland … mir g’fallts bei euch,« ruft Franz Menschen in einem Bus entgegen.
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RR »S’ gfoit ma ganz guat. S’is einfach was anders,« murmelt er vor sich hin. Im Hotel treffen Franz und Leyla abends einander in der Lobby wieder. Leyla blickt ihn lange an, mit festem Blick.
RR »Wenn Sie mich noch einmal sitzen lassen, bin ich weg,« sagt sie ruhig. Franz steht wortlos auf und setzt sich an das Klavier in der Lobby. Er beginnt zu spielen. Es ist das 24. und letzte Lied aus dem Zyklus »Winterreise«, »Der Leiermann«:
RR »Keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an. Und die Hunde knurren um den alten Mann,« singt Franz. Auch Friedländer sitzt in der Lobby und hört bewegt zu. Kurz blitzt die verschneite bayrische Landschaft auf, während Franz
RR »Und er lässt es gehen, alles wie es will« singt.
RR »Dreht, und seine Leier steht ihm nimmer still,« geht es weiter, und dabei erscheint der alte blinde Mann in der afrikanischen Landschaft. Franz setzt sich zu Leyla, die still weint.
RR »Und i hab drei Jahre auf’m Konservatorium studiert, aber es hat nicht gelangt. Es hat einfach ned g’langt,« sagt Franz mit resigniertem Lächeln zur todernsten und stillen Leyla. Friedländer nähert sich. Tief bewegt bedankt er sich
RR »für dieses seltene Vergnügen, so habe ich dieses Lied noch nie gehört,« und er verbeugt sich vor dem verblüfften und dann verlegenen Franz und geht. In den Liedern des »Winterzyklus« rückt der Tod immer näher, und im letzten Lied »Der Leiermann« ist er endlich da, personifiziert als der »wunderliche Alte«. In der letzten Strophe dieses Liedes offenbart sich zudem »eine wunderbare Zirkularität«, da »[wir] nun erkennen […], dass der Leiermann möglicherweise die ganze Zeit gegenwärtig und vielleicht der eigentliche Anlass für den Schmerzgesang des Wanderers war« (Bostridge 2015, S. 390).
»Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehn? Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?« lauten die letzten Worte. Auch dies spiegelt sich im Film wider, der »wunderliche Alte« taucht bildlich und sprachlich als der blinde alte Mann bereits im Vorspann auf, und der Tod ist von Beginn an gegenwärtig. Der Name des Deutschen, »Friedländer«, kann »vielleicht auch ein Hinweis auf den möglichen Frieden sein […], den Franz irgendwann nun finden soll« (Jaeggi 2010, S. 65).
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Franz taucht nun in eine tiefe Depression ab. Er liegt im Hotelbett, starrt ins Leere und singt mit leiser gebrochener Stimme das Leiermann-Lied. Leyla spricht ihn leise an, zögernd und ganz behutsam streicht sie kurz über seine Hand.
RR »Franz – Sie müssen raus,« sagt sie.
RR »Ja, raus,« murmelt Franz, und etwas von »dunkel« und »Schubert«. Leyla besucht Friedländer, um ihn um eine Aufnahme der »Winterreise« zu bitten. Sie kennt diese Lieder nicht, aber sie spürt, dass diese eine große Bedeutung für Franz haben:
RR Leyla: »Das sind einfach Lieder, die ihm gut gefallen. Ich möchte ihm eine Freude machen.« Friedländer: »Das sind nicht einfach Lieder. Die »Winterreise« ist der Ausdruck für die Beschreibung einer Depression. Ein Zyklus schauerlicher Lieder. Über das Leiden eines einsamen und verlassenen Mannes, der durch eine Winterlandschaft irrt. Wem soll das gefallen?« Friedländer erzählt Leyla von dem vorletzten Lied des Zyklus, »Die Nebensonnen«: Dies sei das Lied,
RR »in dem der Mann den Verstand verliert, weil er drei Sonnen am Himmel stehen sieht. Zwei Sonnen stehen für die Augen, für das, was wir sehen. Die dritte Sonne aber steht für Erkenntnis, Leyla, dafür, dass unsere Augen uns täuschen.« Für das Naturphänomen der Nebensonnen gibt es seit jeher diverse metaphorische Zuschreibungen, ihre Bedeutung im vorletzten Lied »Die Nebensonnen« wurde ebenfalls unterschiedlich interpretiert. Nach Bostridge verkörpern sie auf jeden Fall »etwas Unergründliches […], das der Wanderer verloren hat, und zwar viel mehr als eine unglückliche Liebesbeziehung, etwas, das ihn bereit gemacht hat für eben genau die ausgezehrte Nicht-Musik des nächsten und letzten Liedes«,
eben für das Lied »Der Leiermann« (Bostridge 2015, S. 372). Wieder im Hotel steckt Leyla dem regungslos liegenden Franz sanft die Ohrstöpsel eines CDPlayers in seine Ohren und startet das Gerät. »Fremd bin ich eingezogen …« hört man eine Stimme, die an Martha erinnert. Es ist die erste Strophe des ersten Liedes des Schubert’schen Liederzyklus mit dem Titel »Gute Nacht«. In Franz’ Gesicht kommt Leben, er blickt um sich herum, lächelt leise, dann schließt er seine Augen und lauscht der Musik. Franz liegt wie aufgebahrt auf dem Bett. Leyla betrachtet ihn durch die Balkontüre, ihr Spiegelbild in dieser Türe erweckt den Eindruck, als würde sie über ihn wachen. »Gute Nacht« steht zwar am Anfang des Liederzyklus, deutet aber bereits hier ein Ende, einen Abschied an und kann als das Abschiednehmen der beiden Eheleute interpretiert werden.
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Die Hinterpforte des Lebens Das Tabu des Suizids wird bereits zu Beginn des Filmes thematisiert: Die erste Szene handelt von der Messe in einer katholischen Kirche. »Großer Gott, wir loben dich«, singt die Kirchengemeinde, und Franz ist mittendrin und singt kraftvoll mit. Suizid galt über Jahrhunderte als schwere Sünde gegen Gott. Erst seit 1983 genehmigt die katholische Kirche offiziell das kirchliche Begräbnis eines durch Suizid Verstorbenen (Wedler 2017, S. 13). Diese Tabuisierung hat seit Jahrhunderten in unserer Gesellschaft vor allem die Funktion der sozialen Kontrolle. Durch die Ausgrenzung des Todes aus dem Leben der Menschen erwächst ein Machtinstrument, das von den jeweiligen Macht-Institutionen unterstützt und perpetuiert wird. Es ist das jeweils vorherrschende Glaubenssystem einer Gesellschaft – früher jenes der Religion und Kirche, heute jenes des Kapitalismus mit seinen Milliardenumsätzen –, das sich an die Lebenden richtet und diese zu kontrollieren trachtet, weil es nur von diesen profitieren kann. Die Auseinandersetzung mit dem Altern und der eigenen Endlichkeit hat auch mit Selbst-Bewusstsein zu tun. Wenn diese Themen Platz haben im Leben, verringert dies das heillose Entsetzen, sobald das Thema Tod ins Leben tritt, und es ermöglicht die Chance auf die bewusste Vorbereitung auf den Abschied vom Leben. Wenn rund um einen herum alles zerbricht, kann der Gedanke, wenigstens den eigenen Tod noch selbst bestimmen zu können, das Leben erleichtern. Der Suizid kann unter diesem Blickwinkel auch als »als Hinterpforte des Lebens« betrachtet werden, als die beruhigende Gewissheit, die Kontrolle behalten zu können, auch wenn der »Haupteingang« einmal versperrt sein sollte. Daher ist die »Möglichkeit zum Suizid ein zwar gern verdrängter, aber unverzichtbarer Teil des Lebens« (ebd., S. 82).
Zurück zum Film. In weiterer Folge wird Franz wieder aktiv, auch dank der Initiative von Leyla. Er trifft jemanden und holt Informationen ein, während Leyla im Hotelzimmer schläft. Sie erwacht, tritt an den Balkon, beugt sich über die Brüstung und blickt auf den Pool unter sich. Von oben sieht man, wie sich Franz und ein Fremder, halb verdeckt unter einem Sonnenschirm, verabschieden. Der Fremde überreicht Franz dabei eine braune Papiertüte, man vermutet eine Waffe darin. Franz blickt kurz hinauf zum Himmel, und wie im Vorspann ist der bevorstehende Suizid wieder greifbar, doch diesmal ist er nicht allein – es gibt eine Zeugin: Leyla blickt vom Balkon auf ihn herunter, ihr Haar weht im Wind. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Franz und Leyla fahren im Geländewagen durch den roten Sand einer Landstraße in der afrikanischen Landschaft zu einer Lodge mitten in der Savanne. Franz entdeckt einen Afrikaner, der den Namen eines der Betrüger trägt, überwältigt ihn und nimmt ihm etwa 200.000,– Dollar ab. Zu Leyla sagt er nur erschöpft:
RR »Ich … ich bin … ich bin müde.« In der Morgensonne fahren sie davon und halten an einer Anhöhe. Franz gibt Leyla Anweisungen für die Verwendung des Geldes. Er umarmt sie zärtlich, dies ist ein sehr intensiver Moment des stillen und bewussten Abschieds für beide. Leyla steigt in den Wagen und fährt davon. Franz geht zielstrebig voran. Er erreicht einen verdorrten Baum auf einer Anhöhe vor einem Abgrund, es ist der Baum des Vorspannes. Franz bleibt stehen. Am Himmel stehen drei gleich große Sonnen. Zwei Schüsse ertönen, bei jedem erlischt schlagartig je eine Sonne. Man sieht Franz am Boden liegend, wie er sich mit Mühe aufstützt und in die Ferne blickt. Am Himmel steht nur mehr eine Sonne. Friedländers Interpretation der Bedeutung der Nebensonnen stimmt für Franz nicht. Franz hatte bereits zu einem früheren Zeitpunkt in seinem Leben »den Verstand verloren«. Die zunehmende Diskrepanz zwischen dem, was seine Augen, also die Realität, ihm zeigten, und dem inneren Wissen um sein eigentliches Sein, das sich immer deutlicher Gehör zu schaffen versuchte und sich nicht mehr
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länger unterdrücken ließ, hatte ihn in extreme emotionale Turbulenzen geworfen. Als Franz Brenninger durch eigene Hand sein Leben beendet, tut er dies weder im Zustand manischer Agitiertheit noch in depressiv-hoffnungsloser Leere. Er wirkt klar und bestimmt und ganz bei sich, im Kontakt mit seinem Selbst. Er hat seinen Verstand nicht verloren, sondern im Gegenteil – er hat ihn wiedergefunden. Er hat erlebt, wie er in einem immensen Kraftakt und beim Durchgehen von tiefer seelischer Verzweiflung erkennen musste, dass er vielleicht ein fremdes Leben gelebt hat. Seine letzte Verfehlung an Martha hat er wiedergutgemacht. Franz hat eine Bilanz gezogen, und er ist zu diesem Zeitpunkt sicher, einen derartigen emotionalen Parcours nicht noch einmal durchmachen zu können – er ist müde. Weit über seiner Lebensmitte ist ihm klar, dass die Entfremdung nicht mehr rückgängig zu machen ist. Mit seiner Begleiterin hat er eine Person gewählt, die den Tod erlebt hat und die verstehen will »warum ein ganzes Volk verschwindet«. Sie ist daher die einzige, der er das Verstehen zutraut, was in ihm verschwunden ist und mit ihm verschwindet, und die ihm dabei helfen kann, sich selbst zu verstehen. Insofern ist sie seine Beschützerin. Das Gefühl der Kontrolle, das aus dem wiedererlangten Kontakt zu sich selbst erwachsen ist, möchte er nicht mehr aus der Hand zu geben. Aus einer auf das Krankheitsbild des Franz Brenninger zentrierten Sicht ist sein Suizid nicht notwendig, aber verständlich. Aus einer transzendenten Sicht könnte man dies umgekehrt sehen – verstehen kann es nur der Betroffene selbst, und insofern kann dessen Suizid auch notwendig sein. Am Ende des Filmes hört man Leylas Stimme:
RR »Der blinde schwarze Mann hat mir erzählt, wir sterben unser ganzes Leben hindurch. Was wir den Tod nennen, ist in Wirklichkeit das Ende des Todes, die Erlösung. Das hat mich getröstet.« Das kann man als morbide und todessehnsüchtig interpretieren. Man kann darin aber auch ein Plädoyer für das bewusst gelebte Leben sehen, zu dem der Gedanke an den Tod unbedingt dazu gehört und eigentlich auch eine Voraussetzung für dessen Gelingen darstellt.
Suizidalität bei älteren Männern aus psychodynamischer Sicht Im Jahr 2007, also ein Jahr nach Erscheinen des Filmes, stellten in Deutschland die über 70-jährigen Männer 23,6 % der gesamten Suizide (Lindner 2010). Daran hat sich auch im Jahr 2019 in Mitteleuropa nicht wesentlich viel geändert. Die Suizidrate steigt weiterhin mit dem Alter an, und mehr als drei Viertel der Suizidtoten sind Männer (Bundesministerium für Arbeit 2019). Suizidale ältere Männer finden nach wie vor seltener den Weg in fachärztliche Behandlung und Psychotherapie, auch weil sich die Symptomatik eher in aggressiver Abwehrhaltung als in hilfesuchender Bedürftigkeit zeigt. Auch für Franz hat der Besuch beim Arzt offenbar keine Besserung gebracht. Die psychodynamische Hypothese zur Suizidalität des Franz Brenninger könnte, angelehnt an die Studie von Reinhard Lindner (Lindner 2010), wie folgt lauten: Franz Brenninger ist der Idealtyp des narzisstischen, leicht kränkbaren Patriarchen mit überkompensiertem Größenselbst, der die Menschen in seiner Nähe für seine Zwecke benützt, Nähe kaum zulässt und mit großer Aggression auf Kritik oder Widerstand reagiert. Trennungs- und Verlusterfahrungen lösen ebenfalls heftige Aggression aus, die sich zunehmend gegen sich selbst richtet. Der Protagonist befindet sich zum Zeitpunkt der Filmhandlung in einer konfliktbeladenen Beziehung zu seiner Frau Martha. Die Beziehung zu seinen Kindern ist ebenso von Ambivalenz und auch von zunehmender innerer Distanz geprägt. Auslöser für seine Suizidalität ist augenscheinlich die Kränkung durch den beruflichen und damit auch gesellschaftlichen Abstieg. Die männliche Identifikationsfigur des Franz Brenninger, sein Vater, hatte sich wegen des Konkurses seines Betriebs erhängt. Dem Protagonisten, der nun dasselbe Schicksal des beruflichen Scheiterns erleidet, scheint nur derselbe Ausweg möglich, das zeigt der Beginn des Filmes. Zudem macht Franz Brenninger eine weitere Trennungs-
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erfahrung, die sein Selbstbild erschüttern muss: die körperlichen Veränderungen durch das Alter und seine psychische Symptomatik. Der Verlust seiner Potenz wird in zwei Szenen deutlich: Die erste Szene ereignet sich im Bordell. Auch wenn der Protagonist hier großspurig sagt: »Der alte Brenninger hat heute keinen Kopf für sowas«, als die Bemühungen der Prostituierten keinen Erfolg hat und er ihr gönnerhaft einen Geldschein zusteckt, muss ihn diese Erfahrung erschüttern. Die zweite Szene ereignet sich in derselben Nacht im ehelichen Schlafzimmer: Wenn er seiner Frau den Satz »Ich habe gefickt!« entgegenschleudert, stellt sich wenig später heraus, dass er lediglich einem Geschäftspartner eine Prostituierte, also das »Ficken« spendiert hat. Seine schwindende sexuelle Potenz kompensiert er mit finanzieller Potenz. Wenn ihm diese nun auch abhandenkommt, wird es bedrohlich für sein Selbstbild. Seine psychische Symptomatik lässt ihn gegenüber seiner von ihm noch immer zärtlich geliebten Frau unkontrollierbar bösartig werden, sodass sich seine selbstdestruktive Stimmung durch Schuldgefühle noch verstärkt. Das alles kann dann so unerträglich werden, dass ein Strick ausgesucht werden muss. So könnte man den Suizid des Franz Brenninger im Film Winterreise betrachten. Man kann es aber auch sehen, wie es Eva Jaeggi in ihrer Analyse beschreibt: als die Geschichte eines Menschen, der spürt, aber noch nicht weiß, dass er genug gelebt hat. Dessen Leben nun dem Ende zugeht, eben, weil es Zeit ist (Jaeggi 2010). Wenn sich das Spüren in ein Verstehen zu wandeln vermag, ist das ein Geschenk, und der Film handelt auch davon, wie der Weg dorthin unter der achtsamen Präsenz einer sanften und verstehenden Begleiterin und Zeugin gut sein kann. Aus dieser Perspektive betrachtet ist der Film ermutigend und tröstend.
Literatur Adler A (2010) Symptomwahl beim Kinde (1931). In: Adler A (Hrsg) Persönlichkeitstheorie, Psychopathologie, Psychotherapie (1913–1937). Studienausgabe, Bd. 3. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S 463–481 Bostridge I (2015) Schuberts Winterreise. Lieder von Liebe und Schmerz. Beck, München Bundesministerium für Arbeit (Hrsg) (2019) Suizid und Suizidprävention in Österreich. Bericht 2018. https://www.sozialministerium.at/cms/site/attachments/2/3/9/CH4000/CMS1392806075313/suizidbericht_2018_korr2019.pdf. Zugegriffen: 9. Juli 2019 Gansera R (2010) Zwischen Baumarkt und Bordell. In: Süddeutsche Zeitung vom 17.05.2010. https://www.sueddeutsche. de/kultur/im-kino-zwischen-baumarkt-und-bordell-1.798116. Zugegriffen: 25. März 2019 Jaeggi E (2010) Die eisig glühenden Regionen der Seele. Winterreise: Bipolare affektive Störung (F31). In: Möller H, Doering S (Hrsg) Batman und andere himmlische Kreaturen. Nochmal 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen. Springer, Berlin, Heidelberg, S 59–70 Lindner R (2010) Psychodynamische Hypothesen zur Suizidalität bei älteren Männern. https://www.thieme-connect.com/ products/ejournals/html/10.1055/s-0029-1237387. Zugegriffen: 1. Apr. 2019 Möller H, Doering S (Hrsg) (2010) Batman und andere himmlische Kreaturen. Nochmal 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen. Springer, Berlin, Heidelberg Suchsland R (2006) Die Welt ist aus den Fugen. In: artechock filmmagazin. https://www.artechock.de/film/text/kritik/w/ winte4.htm#k0. Zugegriffen: 30. Apr. 2019 Wedler H (2017) Suizid kontrovers. Wahrnehmungen in Medizin und Gesellschaft. Kohlhammer, Stuttgart Weltgesundheitsorganisation (Hrsg) (2015) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien, 10. Aufl. Hogrefe, Bern Willmann T (2006) Was ist drin im Franz? oder: Mach’ dich nackert, Sepp! In: artechock filmmagazin. https://www.artechock.de/film/text/kritik/w/winte4.htm#k0. Zugegriffen: 30. Apr. 2019
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Originaltitel
Winterreise
Erscheinungsjahr
2006
Land
Deutschland
Drehbuch
Martin Rauhaus, Hans Steinbichler
Regie
Hans Steinbichler
Hauptdarsteller
Josef Bierbichler, Sibel Kekilli, Hanna Schygulla
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Diana Aguado
Durch die Hölle – Ich bin in Vietnam gestorben! Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Der Vietnamkrieg als historischer Hintergrund . . . . . . . . 424 Traumatische Aspekte des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . 426 Suizidalität und Trauma bzw. der Verlust einer Identität . . 430 Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_28
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..Abb. 28.1 Filmplakat Die durch die Hölle gehen. (© Universal Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Die durch die Hölle gehen (1978) Diana Aguado
Der US-amerikanische Spielfilm The Deer Hunter von Michael Cimino aus dem Jahr 1978, welcher auch unter dem deutschen Titel Die durch die Hölle gehen vertrieben wird, handelt von einer Gruppe junger Männer aus einer kleinen Industriestadt in Pennsylvania, die die Zerstörungskraft des Vietnamkrieges kennenlernen und den belastenden Auswirkungen ihrer Traumatisierung erliegen. Der 182-minütige Film kann in drei Hauptstränge gegliedert werden, die inhaltlich sowie kinematografisch stark voneinander unterschieden werden können. Drei junge Männer beschließen gemeinsam, sich der amerikanischen Armee anzuschließen. Ihr feierlicher Abschied bietet zunächst dem Zuschauer die Möglichkeit, dem sozialen Alltag der amerikanischen Arbeiterschicht zu begegnen. In den flüchtigen Dialogen kann man den unreflektierten Patriotismus und den US-amerikanischen Machismo auf sich wirken lassen, um dann abrupt in die Szenerie des Krieges hineinzugeraten. Mit der späteren Rückkehr der Veteranen beziehungsweise dem letzten Abschnitt werden Szenen der versuchten Bewältigung des Traumas, der Metamorphose einer Gemeinschaft sowie der tragischen Suizidalität einer verwundeten Seele gezeigt (. Abb. 28.1, Filmplakat). Der Film versucht nicht den Krieg phänomenologisch zu erklären oder seine historische Bedeutung für Vietnam zu porträtieren. Vielmehr handelt es sich um die zunächst naive und unbeschwerte Betrachtungsweise vom Leben aus der Perspektive des »Kleinstadtmenschen«; diese wiederum wird mit den Erfahrungen des Krieges noch eine schmerzhafte Transformation erfahren. Der Krieg erschüttert das Bekannte und erzwingt hart und grausam die Veränderung der Gesetze des gemeinsamen Lebens.
Handlung Im Mittelpunkt stehen ein paar russischstämmige Freunde, die allesamt in der Stahlfabrik der Stadt arbeiten. Der Film fängt mit einem weiten Blick auf die in Nebel und Abgas umhüllte Stadt an und geht über zum lauten und heißen Arbeitsplatz der Männer. Die spielerischen und von Testosteron durchtränkten Männergespräche in den Umkleidekabinen lassen den Zuschauer endgültig in das Milieu der amerikanischen Provinz eintauchen. Es wird gelacht, lausig herumgescherzt, und das gemeinsame Bier nach der Arbeit gehört wie selbstverständlich dazu. Die Aufmerksamkeit der Gruppe liegt auf den Vorbereitungen für die Hochzeit ihres Freundes Steven, der ebenso wie Nick und Michael am darauffolgenden Tag abreisen soll. Die Unsicherheit über die kommende Zeit in Vietnam ist in der Gruppe spürbar und wird erfolgreich durch die Vorfreude auf den gemeinsamen letzten Jagdausflug nach der Hochzeit beiseitegelegt. Szenen eines übermütigen Fests dominieren nun die Handlung: unterdrückte Liebesgefühle, die hervorzubrechen drohen, hastige Heiratsanträge und Leid verheißende Rotweintropfen auf dem Hochzeitskleid der Braut. Das Ausmaß an Rausch und Tanz steht den feierlichen Szenen in Coppolas Der Pate (1972) in nichts nach. Schnell wird dem Zuschauer klar, dass kein besonderer Fokus auf signifikante Dialoge und Aktionen vorherrscht. Die Banalität des Alltäglichen gibt dem ersten Drittel des Films sogar eine kaum zu entrinnende Langatmigkeit. Die darauffolgenden Jagdsequenzen ermöglichen nun aufschlussreiche Einblicke in die Charaktere unserer Hauptdarsteller.
RR Michael: »Ich will dir was sagen. Wenn ich wüsste, dass mein Leben da oben in den Bergen endet, ich wäre einverstanden. Aber es muss klar sein warum.« Nick: »Und wie? Ein Schuss?« Michael: »Zwei ist feige. Darauf läuft alles hinaus, ein Schuss.
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Das ist es, worauf es ankommt. Ich sag’ es immer wieder, aber keiner hört auf mich. Denkst du an Vietnam?« Nick: »Ja. Das heißt, zurzeit denk ich, glaub ich, mehr an den Hirsch. Er läuft da herum. Ich liebe die Bäume, weißt du? Ich liebe die Bäume in den Bergen, weil sie so verschieden sind. Keiner ist wie der andere.« (…) Michael: »Für mich muss sich ein Mann entscheiden können.« Robert De Niro als menschenscheuer Michael sieht im Jagen ein rituelles Erlebnis und tritt diesem mit fanatischer Präzision entgegen. Die obigen Zitate unterstreichen seine Bewunderung für die Kräfte der Natur; er respektiert den Lauf des Lebens und findet Genugtuung in der fairen Konfrontation mit ihr. Nick, gespielt von Christopher Walken, hat dagegen immer ein Auge für das Risiko und den Nervenkitzel. Er wettet in Bars und sucht den Rausch in gefährlichen Autofahrten. Ebenso wird in einer Szene mit der Gruppe deutlich, dass er lieber hungert als isst. Sein Hang, Grenzen auszutesten, zeigt gleichzeitig seine Fragilität und die dahintersteckende Unruhe und Orientierungslosigkeit. Dennoch ist auch schnell sein leichter Zugang zu zwischenmenschlicher Intimität und Fürsorge spürbar, und das Gruppenwohl ist ihm in diesem Sinne ein ständiges Anliegen. Die Jagdszenen erlauben einen genaueren Blick auf die charakterlichen Unterschiede der Protagonisten und auf die verschiedenen Herangehensweisen an das Jagen (. Abb. 28.2). In Anbetracht der darauffolgenden Szenen erfolgt ein abrupter Wechsel in das Kriegsgeschehen. Der Zuschauer wird zunächst von der Unbarmherzigkeit des Dschungels und des Krieges überrumpelt. Schlupflöcher von Zivilisten werden von einem Vietcong mit Handgranaten beworfen, und Michael geht auf den Feind, wie ein Berserker, mit Flammenwerfer und Maschinenpistole los. Der Verlauf des Krieges bleibt stark unübersichtlich. Die nächste Szene stellt das zufällige Wiedertreffen der drei Freunde bei einer Rettungsaktion dar. Bevor der Zuschauer überhaupt realisieren kann, wie lange und wo genau sie sich in Vietnam aufhalten, befinden sie sich in Gefangenschaft der Vietcong. Ein Bambuskäfig, umzäunt mit Stacheldraht, steht unter einem über Wasser gebauten Bungalow und in ihm drei verbrauchte Männer, die versuchen, nicht den Verstand zu verlieren. Ihre von Dreck, Nässe und Erschöpfung gezeichneten Gesichter machen die langwährende Verzweiflung eines Soldaten deutlich. Die affektgeladenen Dialoge vervollkommnen das Bild einer ausweglosen Situation.
RR Michael: Steve! Stevie! Hör auf! Es ist alles okay! Steve! Das sind nur die Nerven. Bitte! Steve: Ich bin wieder … okay! Michael: Du kannst ruhig festzudrücken, ganz fest. Ich bin bei dir! Drück fest zu, Steve! Ich bin noch bei dir! Wir müssen da durch! Der Film gelangt zu seinem Höhepunkt, als die Freunde gezwungen werden, russisches Roulette zu spielen. Nick sitzt mit der Waffe an der Schläfe Michael gegenüber und bricht zusammen. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt und voller Tränen. Nicks Verlust seiner Willenskraft und Michaels Wahnsinn in den Augen zeigen eine unvergessliche Intensität an Angst und Verzweiflung. Michael schafft es notgedrungen, einen klaren Kopf zu behalten und denkt sich einen Ausweg aus. Gut zuredend versucht er Nick zu beruhigen, um sie aus dieser Hölle herauszuholen. In einem großen Russischen-RouletteShow-Down schießen sie sich todesmutig frei. Sie befreien Steven und treiben auf einem Holzstamm den Fluss hinab. Die Flucht scheitert indes, und Nick muss zusehen, wie seine zwei Freunde aus einem Helikopter, der gekommen ist, um sie zu retten, wieder in den Fluss fallen. Bei dem Sturz bricht sich Steven mehrere Knochen. Hinsichtlich des Szenenverlaufs ist ein auffallendes Stilmittel des Regisseurs der abrupte Wechsel derselben, ohne jedoch nähere Informationen zu den Rahmenbedingungen zu geben. Die militärische Struktur, der Kontakt zu anderen Soldaten, Ziele und bisherige Verläufe unserer Protagonisten bleiben
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verdeckt. Die Szenen wirken fast wahllos zusammengestellt, und wie bei einem unangenehmen Rausch versucht man den Überblick zu behalten, muss sich aber dann doch nur mit vagen Standbildern und Dialogfetzen herumschlagen. Das Interessante ist vor allem der verwirrend starke Kontrast zu der Hochzeits- und Jagdszene. Im Gesamteindruck lässt sich die Idee formulieren, dass der Regisseur einen möglichen Kontrast zwischen dem langsamen Trott des Alltags und der überwältigenden Reizüberflutung lebensbedrohlicher Situationen illustrieren möchte. Die nächsten Szenen in unserem Film zeigen, wie die Männer getrennt voneinander versuchen, die Folgen des Krieges zu bewältigen. Für Nick gibt es kein Zurück in sein altes Ich und Leben. Nach seiner Flucht bleibt er in Saigon und streunt wie ein geschlagener Hund durch die schmutzigen Gassen einer zerbrechenden Stadt. Sein bisheriges Bild von der Welt, sein Wunsch nach einer Zukunft und seine Freunde wurden ihm genommen. All dies spiegelt die Leblosigkeit seines festgefahrenen Gesichtsausdrucks wider. Es wird immer klarer, dass er sich von seiner jetzigen Welt geistig entfernt und sich in eine unnahbare Hülle verwandelt. Prostituierte und ausbeutende Mafiakreise ziehen ihn zunehmend an. Vor allem im Kontakt mit einer vietnamesischen Prostituierten sind Nicks Ruhelosigkeit und Empfindungslosigkeit erkennbar. Steven wiederum verliert seine Beine und seine Selbstachtung. Er kehrt zurück nach Amerika, versteckt sich aber in einem Kriegsversehrtensanatorium. Seine zu großen Scham- und Minderwertigkeitsgefühle hindern ihn daran, seiner Ehefrau entgegenzutreten. Michael schafft es, in seine Heimat zurückzukehren, und versucht mit seinen verbotenen Gefühlen für Linda, die Verlobte von Nick, und der Feierlaune seiner Gemeinschaft umzugehen. Er soll als Held geehrt werden, aber stattdessen leidet er schweigend unter den Qualen seiner Erinnerungen und isoliert sich in seinem Trauma. In der zweiten Jagdszene wird seine Transformation als Jäger ebenfalls erkennbar. Nach Michaels Rückkehr nach Pennsylvania ist er wieder in den Bergen und auf der Wildjagd. Er versucht, sein rituelles Erlebnis zu wiederholen, hofft auf seelische Erdung und die Wiederkehr innerer Balance. Das von Choralgesang begleitete Szenenbild weitet sich zu einem traumhaften Panorama; über ihm die Wolken und der Himmel und unter ihm die scharfen Kanten der Berge. Als es zur epischen Szene des zweiten Jagdausflugs kommt – wenn Michael die Gelegenheit bekommt, mit einem finalen Schuss den Hirsch zu erledigen –, erkennt der Zuschauer die Gefühle der Ambivalenz des Veteranen. Er positioniert sich, visiert sein Ziel und ist bereit zu schießen, aber es ist etwas grundlegend anders. Das Töten eines Lebewesens hat nun eine veränderte Bedeutung, und mit einem lauten Schrei in die Weite der Berge schießt er in den Himmel und verschont das Tier. Unverkennbar verleiht er damit seinem Verlust und seiner Metamorphose Ausdruck. Durch die Hervorhebung der Sichtweise eines Jägers veranschaulicht Cimino die kriegsbedingte Dekonstruierung der Betrachtungsweise von Tod und Schmerz sehr eindeutig. Am Ende des Films kehrt er in ein untergehendes Saigon zurück, um seinen besten Freund nach Hause zu holen. Letztlich findet er Nick als professionellen Spieler in einer schäbigen Hütte. Reiche Männer verwetten viel Geld, um Leuten beim russischen Roulette zuzusehen. Als die beiden einander begegnen, scheint Nick ihn nicht wiederzuerkennen, und reagiert kaum auf äußere Reize. Fast mechanisch erfüllt er seine Pflichten als Spieler. Um ihn aus dieser Trance herauszuholen, trifft Michael eine unfassbare Entscheidung und entschließt sich mit Nick abermals, russisches Roulette zu spielen. Nicks Spuren der Selbstverletzung und des Drogenmissbrauchs könnten fast übersehen werden; denn seine weit aufgerissenen Augen voller Wahnsinn fesseln einen noch lange nach dem Film. Er hält sich wieder eine Waffe gegen seine Schläfe, drückt ab und verliert das erste Mal das Spiel. Das spätere Zusammenkommen in der altbekannten Bar, nach Nicks Beerdigung, erinnert mehr an ein makabres Familientreffen. Man kennt einander lange und gut, aber die Gefühle von Fremdheit und Fassade kribbeln unter den Fingernägeln. Eine Gruppe von jungen Leuten, die den Krieg unterschiedlich erlebt hat, ist verwirrt und psychisch verwundet. Für alle gilt, dass die gemeinsame Vergangenheit nur mehr wie ein entfernter Traum erscheint. Zuletzt bleibt die schmerzhafte Gegenwart. Cimino schafft es erfolgreich, das russische Roulette als Portrait des Krieges darzustellen: Vernichtung und seelische Entfremdung als sinnlose Folgen willkürlicher und unnötiger Gewalt.
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..Abb. 28.2 Nach der Hochzeit geht die Gruppe auf einen Jagdausflug. (© Universal Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Der Vietnamkrieg als historischer Hintergrund Um einen dermaßen bildgewaltigen Film umfassend in seiner beklemmenden Art und in seinem Facettenreichtum zu verstehen, ist eine nähere Betrachtung des historischen Hintergrunds unumgänglich. Der Vietnamkrieg gilt, nach dem Sezessionskrieg, als derjenige, welcher die amerikanische Nation am heftigsten gespalten hat. Fünf Präsidenten der Vereinigten Staaten waren über die Jahre 1955 bis 1975 involviert, und etliche Nebengeschehnisse im Zusammenhang mit dem Krieg haben die Welt geprägt und bestürzt. Die Watergate-Affäre, die Ermordungen von John F. Kennedy und Martin Luther King, das Massaker von My Lai oder die studentischen Friedensbewegungen sind nur einige Beispiele, die hier zu nennen sind. Der Vietnamkrieg ist ein Stellvertreterkrieg, der politisch, militärisch und menschlich von falschen Entscheidungen und katastrophalen Folgen geprägt ist. Als die amerikanischen Soldaten aus dem Vietnamkrieg zurückkehrten, begegneten sie einer Gesellschaft, die sie entweder als tapfere Helden empfing oder als Verlierer und Vollstrecker einer verhassten Politik verachtete. Der Vietnamkrieg war in vielerlei Hinsicht eine historische Ausnahmeerscheinung. Durch die direkte und detaillierte Präsentation in den Medien haben die Menschen weltweit erstmalig die strategische und technische Präzision der Kriegsführung mit ihrer Unfassbarkeit von Grausamkeit, Leid und Verbrechen auf dem Bildschirm mitverfolgen können. Der amerikanische Soldat, als Beobachtungsobjekt der gesamten Welt, betrat, letztlich auf sich allein gestellt, einen Dschungel aus Todesangst, Mordlust und eigener Nutzlosigkeit. Er kehrte nicht nur als Verwundeter, Sozialfall oder als Außenseiter zurück, sondern
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insbesondere auch als schwer traumatisierter Patient, der auf die psychiatrische Nachsorge angewiesen war (vgl. Frey 2016, S. 134, 151). Die Symptome, mit denen ein Psychiater in der Arbeit mit Kriegsveteranen konfrontiert wird, entsprechen häufig den Erscheinungen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Es handelt sich um eine aktuelle klinische Diagnose, die die Psychiatrie des 20. Jahrhunderts gefordert und beeinflusst hat. Um ein paar Meilensteine in ihrer Historie zu betrachten, sind vor allem die Begriffe Kriegsneurose, Kriegszitterer oder Granatschock (vgl. Komnacky 2017, S. 61, 63), die im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg entstanden sind, zu erwähnen. Die psychischen Besonderheiten der Veteranen und ihre außergewöhnlichen Erlebnisse wurden ausgiebig von Ärzten und Psychoanalytikern wie Sigmund Freud oder Sandor Ferenczi untersucht (Freud et al. 1919). Ihre Ergebnisse können als Vorläufer von heutigen Konzepten der psychischen Traumatisierung und Dissoziation (Janet 1894) verstanden werden. Ebenso sind die Psychologin Judith Lewis Herman (1992) und der Psychiater William G. Niederland (1980) zu erwähnen, die in Kohärenz mit den Traumata des Holocaust und des Vietnamkriegs Begriffe wie Survivor-Syndrom und PTBS eingeführt haben, wobei Letztere ihren offiziellen Einzug in die psychiatrische Medizin 1980 erreichte. Typische Symptome sind Substanzmissbrauch, Gedächtnis- und Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit oder ein omnipräsentes Misstrauen gegenüber der Umwelt. Durch die konstante Mobilisierung von innerer Spannung und Wachsamkeit kommt es häufig zu aggressivem, unberechenbarem und grenzwertigem Verhalten. Als Veteranen leiden sie an der Bedrohlichkeit der ehemals bekannten Welt, und als Soldaten haben sie innerlich das Schlachtfeld nie verlassen. Den Hintergrund des Kriegsgeschehens betrachtend, sprechen wir von Situationen höchster Todesgefahr, aber auch unerwarteter Errettung. Sie erleben zutiefst ungerecht empfundene Entscheidungen der Offiziere, die dazu führen, dass der Soldat sich gezwungen sieht, unmoralisch und unrechtmäßig zu handeln. Wenn der Soldat gänzlich seine zivilisatorischen Hüllen abstreift und zu einem Wesen aus mordlustiger Aggression und verzweifelter Gleichgültigkeit mutiert, können wir davon ausgehen, dass die Extrembelastungen sein Vertrauen in die Menschlichkeit und in das bekannte Gefüge von Recht und Unrecht erschüttert haben. Der Krieg konfrontiert den Soldaten mit neuen Erfahrungen der eigenen Täterschaft und der Komplizenschaft. Er wird zu einem schweigenden Beobachter von Kriegsverbrechen, die von Vorgesetzten vertuscht und als normal und akzeptabel postuliert werden. Der brutale Verlust von Kameraden sowie Gefühle, dass der Feind unfair kämpfe, sind weitere Beispiele von Extrembelastung (vgl. Shay 1998, S. 211). Die vietnamesische Guerilla-Kriegsführung beinhaltete nicht nur Angriffe auf den physischen Körper, sondern auch auf grundlegende Funktionen des Geistes. Die Fähigkeit der Wahrnehmung wurde durch die perfektionierte Tarnung des Feindes konterkariert. Die Soldaten lernten bitterlich, ihren Sinnen nicht mehr vertrauen zu können. Ebenso wurde die Erkenntnisfähigkeit durch Täuschungsangriffe und Irreführung der Guerilla-Krieger des Vietcongs gestört. Daraus folgend wurden Selbstwirksamkeit durch Überfälle und stetiges Zuvorkommen des Feindes vereitelt, was dazu führte, dass Selbstvertrauen und Willenskraft schrittweise zusammenbrachen. Taktiken der Verwirrung sind seit Urzeiten Bestandteil eines jeden Krieges, aber diese wurden in der amerikanischen Militärgeschichte noch nie so effektiv gegen die Infanterie-Soldaten eingesetzt wie im Vietnamkrieg. Die langen Märsche mit absurdem Ausrüstungsgewicht auf den Schultern durch Matsch und Hitze waren nur ein Teil der Qualen, die der amerikanische Soldat tagtäglich erdulden musste. Die vietnamesischen GuerillaKrieger versahen zusätzlich den Dschungel mit tödlichen »Überraschungseiern«. In Form von mit Sprengstoff beladenen alten Coladosen, Fahrrädern, Kinderspielzeugen oder Kokosnüssen machten sie den Dschungel zu einer Hölle auf Erden. Die gesamte Welt um den Soldaten herum entzieht sich seiner Urteilskraft und verwandelt alles ehemalig Bekannte in potentielle Folterinstrumente und Vernichtungswaffen (vgl. Greiner 2013, S. 181). Es folgt die allumfassende Schwächung des Körpers durch Hunger, Schlafentzug, Witterungsumstände sowie Drogen und Alkohol. Eine unbeschreibliche Frustration und Verzweiflung müssen
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um sich greifen. Auch die Enttäuschung über die unerfüllten Erwartungen des Soldaten spielt in vielen Fällen eine Rolle. Junge Kriegsfreiwillige, die einen erstaunlich großen Anteil der Rekruten ausmachten, sahen im Vietnamkrieg die Möglichkeit einer Selbstbestätigung. Eine attraktive Form des Ausdrucks von Patriotismus und amerikanischem Idealismus war der Eintritt ins Militär. Einige sehnten sich nach der Art von Erregung, die das Schauspiel des Krieges mit sich bringt, er ermöglichte die Flucht aus der provinziellen Einöde und der Perspektivlosigkeit eines 19-Jährigen aus der Arbeiterschicht. Die Frustration über Langeweile und Berechenbarkeit ist eine Stimmung, die ebenfalls im Film verdeutlicht wird. Während der Hochzeitsfeier ruft Nick betrunken zu einem Offizier:
RR »Ich hoffe, sie schicken uns wohin, wo die Fetzen fliegen, wo was los ist!«
Traumatische Aspekte des Krieges 1) Kulturtechniken zur Desidentifikation Betrachten wir die Techniken näher, die zur Förderung einer destruktiven Kampfkultur eingesetzt werden, stoßen wir im Rahmen der »US-Amerikanischen Machismo-Mentalität« auf eine systematische Herausbildung von ideal »männlichen Affekten«. Solche wie Wut, Verachtung und Ekel erfahren mehr Zuspruch, während Scham, Furcht und kontemplative Freude, die als »weiblich und minderwertig« definiert sind, geringgeschätzt werden. Der Autor Rainer Krause beschäftigt sich mit verschiedenen Sozialisationstechniken zur Förderung dieser »männlichen« Affekte. Um die wichtigsten zu nennen, beschränke ich mich auf vier, die im Zusammenhang mit der militärischen Ausbildung besonders verbreitet sind. Hierbei geht es um die Umwandlung von Schmerz und Unbehagen in Wut. Die Äußerung von Schmerz wird mit Schwäche assoziiert. Es wird ebenso vermittelt, Angstgefühle über Erregungszustände zu kompensieren und diese in Form von Verachtung und Dominanz auszudrücken (s. Krause 2001, S. 954). Diese Beispiele können mit der zweiten Jagdszene gut untermauert werden: Michael ist vom Krieg zurückgekehrt, und die Gruppe versucht in den gewohnten Alltag einzusteigen. Als aber während des Ausflugs ein Scherz dazu führt, dass der unsichere und impulsive Stan, gespielt von John Cazale, seine Waffe zückt und die anderen bedroht, bekommen der Rest der Gruppe und auch Michael es kurzerhand mit der Angst zu tun. Michael schnappt sich die Waffe, indem er Stan wütend zu Boden wirft und lässt eine einzige Kugel in der Trommel. Er beugt sich über ihn, drückt ihn nieder und hält ihm die Waffe an die Stirn.
RR »Willst du ein Spiel spielen? Okay, ich spiele dein Scheiß-Spiel!«, sind Michaels Worte, als er abdrückt. Angst und Schmerz sind in dieser Szene spürbar. Michaels Erinnerungen holen ihn ein, und seine Reaktionen darauf sind die Wut, die Verachtung in seinen Worten und die Dominanz in seiner Körperhaltung. Ein weiteres Kulturphänomen zur Stärkung potenter »Männlichkeit« sind übertriebene AntiSchuld- und Anti-Schamreaktionen, die Schuld- und Schamgefühle abwehren sollen. Die unreife Verweigerung von Mitverantwortlichkeit, ganz im Sinne eines unschuldigen Achselzuckens oder eines feigen Wegsehens, und das aufdringliche, selbstgefällige Macho-Gehabe können als bildhafte Beispiele herangezogen werden. Der aufkommende Stolz auf das eigene aggressive, tollkühne Verhalten füttert die subjektive Berechtigung, Verachtung und Ekel gegenüber den als »weiblich« definierten Attributen zu empfinden. Das »männliche« Dominanzverhalten, welches im Stil von Unberechenbarkeit und Schrecken ausgeführt wird, wird als erregend erlebt. In unserem Film verkörpert Stan viele dieser Eigenschaften. Seine Unsicherheit und Kompensationsversuche enden oft in unangenehmen und lächerlichen Interaktionen. Er trägt stets seinen Revolver mit sich herum und packt ihn prätentiös aus, wenn ihm danach ist. Er wirkt konstant unberechenbar, provozierend und
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selbstbezogen. Als es in der ersten Jagdszene zu einem Disput mit Michael kommt, will er sich selbstgefällig keine Verantwortung eingestehen und wirft stattdessen mit Vorwürfen um sich. Um dann verzweifelt von seiner Schuld abzulenken, klagt er vollkommen kontextbefreit Michaels scheinbare Homosexualität und ihre gemeinsame Freundschaft an. Diese Unreife wirkt armselig und wird in der Gruppe zügig erstickt. Zusammenfassend ist zu sagen, dass die dargebotenen Szenen im Film vieles preisgeben, was die Förderung einer Machismo-Kampfkultur betrifft. Zwar werden sie nicht innerhalb einer militärischen Ausbildung gezeigt, dennoch ist durch den Besitz von Waffen und eine typische Gruppenhierarchie sehr gut vorstellbar, welche Gefährlichkeit solche Verhaltensweisen mit sich bringen können. Der militärische Drill auf die Verleugnung von regulierenden Gefühlen, etwa Angst und Trauer, sowie auf den unkritischen Gehorsam sind zugespitzte Formen dieser Sozialisationstechniken. Die massive Ungerechtigkeit von Offizieren, die Rekruten oft erleben müssen, um »diszipliniert« zu werden, stärken lediglich die Bedeutung von Macht und Hass. Aggression wird gutgeheißen, und Berserker werden letztlich als die besten Soldaten gefeiert.
2) Von der Verengung des Gesichtskreises und dem Zerfall des Zeitempfindens Jonathan Shay, ein US-amerikanischer Psychiater, erkannte bereits in den späten 1980er Jahren die speziellen Trauma-Aspekte eines Krieges aus der Sicht des Soldaten und beschreibt diese ausführlich in seinem Buch Achill in Vietnam (Shay 1998). Wir werden in diesem Rahmen zwei Phänomene, wie auch der Titel des Kapitels deutlich machen soll, näher beschreiben: In der Unberechenbarkeit des Kriegsgeschehens kämpfen Soldaten in erster Linie für ihre Kameraden. Die Gefahren, die in jedem Krieg lauern, zwingen den Soldaten unausweichlich, seine Loyalität und sein Vertrauen auf ein paar wenige Kameraden zu reduzieren. Er verkürzt somit seinen Gesichtskreis und löst alle Bindungen und Verpflichtungen gegenüber anderen ab. Es entsteht eine Wir-gegen-sie-Mentalität. Das ist eine wichtige Strategie, sich vor weiteren psychischen Schäden zu schützen. Zum einen stärkt es die Willenskraft, und zum anderen kann es die allgemeine Überforderung mildern.
RR Michael: Nick, hör zu. Jetzt geht es nur noch um uns beide. Um dich und um mich. Nick: Und was ist mit Steve? Michael: Vergiss ihn! Er steht es nicht durch. Nick: Ich soll ihn vergessen? Was glaubst du, wer du bist: Gott? Michael: Schau ihn dir an! Der kommt da nie wieder raus! Ich sage, vergiss ihn, sonst sind wir beide genauso erledigt! (…) Reiß dich zu zusammen! Stilistisch drückt sich das im Film aus, indem ausschließlich die Schicksale der Protagonisten behandelt werden. Vorgesetzte und Kameraden erscheinen vollkommen nebensächlich. Ebenso ist in den dramatischen Dialogen zwischen Michael und Nick diese sogenannte Wir-gegen-sie-Mentalität sehr gut nachvollziehbar (vgl. Shay 1998, S. 58). Eine weitere kriegsbedingte Veränderung ist die Zerstörung des Zeitempfindens, und sie ist ebenso als eine Überlebenstechnik anzusehen. Die Zeit in Gefangenschaft oder im heftigen langwährenden Kampf machen Gedanken an die Zukunft und Gefühle der Sehnsucht und Hoffnung unerträglich. Der Soldat ist gezwungen zu erkennen, dass sie sich diese Art von Enttäuschungen und Verzweiflung nicht leisten können, um psychisch überleben zu wollen. Sie schränken ihr Zukunftsdenken auf ein paar Stunden bzw. Tage ein und reduzieren ihre Aufmerksamkeit auf das gegenwärtige Überleben. Das Einfrieren des Zeitgefühls bewirkt eine Auslöschung der Vergangenheit sowie der Zukunft. Folterer sind darauf aus, das Gefühl der Kontinuität einer identitätsspendenden, persönlichen Vergangenheit bei ihren Opfern zu durchbrechen und eine allumfassende Demoralisierung des psychischen Systems
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zu bewirken. Die Gepeinigten sind schlussendlich gezwungen, in einer endlosen, schmerzhaften und furchterregenden Gegenwart zu leben (vgl. Shay 1998, S. 239).
3) Das Unheilsame in der »Nichterzählbarkeit« Erfahrungen solch einzigartiger Grausamkeiten sind häufig nicht auszusprechen oder zu beschreiben. Es geht um eine unüberwindbare Distanz zwischen dem Erzähler und dem Zuhörer. Solche Erlebnisse verbannen Betroffene unwiderruflich in eine quälende Andersartigkeit. Sie sind gebrandmarkt und haben Schwierigkeiten, sich der Gesellschaft wirklich zugehörig zu fühlen. Es fehlen einem aber nicht die Worte, sondern den Ereignissen mangelt es an Sprachlichkeit. Wörter und Ausdrücke wie das Schreien und Weinen der Verwundeten, der Wahnsinn in den Blicken der Feinde, der Blutrausch, herausfallende Gedärme, fliegende und explodierende Körperteile oder das Schänden der feindlichen Leichen – sie alle erfassen deskriptiv bei weitem nicht die Qualität des psychischen Leids und vermitteln nicht die Einzigartigkeit des Hautnahen. Eine weitere Problematik ist in diesem Fall leider auch die häufige Überforderung und Unfähigkeit der Zuhörer, adäquat und sensibel genug zu reagieren. Einerseits müssen äußerst komplexe Gefühlszustände berücksichtigt werden, können aber andererseits kaum vollständig verstanden werden. Die Erzählung ist für beide Beteiligten ein delikates Unterfangen und macht die Trauma-Verarbeitung ersichtlich schwieriger. Im Film ist dies erkennbar, wenn die meisten Begegnungen der Gruppe nach der Rückkehr der beiden Veteranen erzwungen fröhlich und oberflächlich wirken. In Momenten des Abklingens von Alberei und Rausch tritt dann aber verlegenes Schweigen hervor. Ein tief verborgenes gegenseitiges Misstrauen, verdeckt von gemeinsamen nostalgischen Gefühlen über frühere Zeiten, nagt am Zusammenleben der Gemeinschaft. Die Gruppe versucht auf verschiedenste Weise, alte Erfahrungen neu zu beleben und das Lebensfeuer der Gemeinschaft zu entfachen. Sie spielen Bowling oder gehen in die Bar. Aber trotz authentischer Gefühle des Wohlwollens wirkt die Gruppe schwermütig und zaghaft. Sie alle fühlen Veränderungen, über die nicht gesprochen wird und doch alle verwunden. Die Wichtigkeit einer mitmenschlichen Auffangstation, die Platz für die abstoßende Wahrheit zulässt, wird in Anbetracht von Trauma und Suizidalität klargelegt (vgl. Viñar 2005, S. 102). »Wir können das Trugbild einer Dichotomie zwischen Unversehrten und Betroffenen anprangern und aufzeigen, dass zur Angabe und zum Verständnis des Problems der Ort des Zeugen von ebenso grundlegender Bedeutung wie der des Leidenden ist« (Viñar 2005, S. 113).
4) Scheinexekution als Folterinstrument »Das Ziel von Scheinexekutionen bei der politischen Folter besteht darin, die Identität des Gefangenen und seine geistige Realität zu zerstören und an ihre Stelle die absolute Realität der Welt des Folterers zu setzen« (Shay 1998, S. 213). Der Folterer bestimmt, wann und wie sein Gefangener stirbt oder leidet. Der Gefangene verliert sehr bald das Vertrauen in die gewohnten Gesetze einer zivilisierten Gesellschaft. Damit ist gemeint, dass die natürlichen Chancen auf Selbstwirksamkeit, (fremde) Hilfestellung und Flucht nicht mehr gelten. Bis zu einem gewissen Grad erlebt der Mensch all diese genannten Aspekte im Laufe seines Lebens. Er lernt darauf zu vertrauen, dass Leid kommt, aber auch wieder geht, und dass er diesen Umstand auch mit Hilfe seiner Umwelt beeinflussen kann. Aber in Gefangenschaft existiert dieser bekannte Lebensraum nicht mehr. Selbstbestimmtheit, Respekt vor der menschlichen Würde und das gemeinsame Ziel eines friedlichen Zusammenlebens verlieren ihre Selbstverständlichkeit. Der Zufall verschwindet, und stattdessen entscheidet ausschließlich der Wille des Folterers über das eigene Schicksal. Die Scheinexekution ist ein Beispiel für diesen allmächtigen Willen. Nicht der zu erwartende Tod hat das letzte Wort, sondern der Peiniger. Letztendlich erreicht er sein Ziel, gefürchteter zu sein als das Sterben selbst.
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..Abb. 28.3 Nick kehrt zurück in die Welt des tödlichen Glücksspiels. (© Universal Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Überlebende der Gefangenschaft, der Folter sowie lang andauernder Kampfsituationen im Krieg erleiden oftmals eine lebenslange Heimsuchung durch ihre Peiniger. Sie sind nicht mehr fähig, ihre eigenen Gedanken zu denken oder sich eine eigene Welt vorzustellen, worin sie alleiniger Dirigent und Akteur sein können. Die maßlose Selbstsicherheit und die unantastbare Allmacht des Peinigers können das Gefühl des absoluten Ausgeliefert-Seins hervorrufen und bleiben für die Mehrheit der Überlebenden unauslöschlich. Diese extremen Ungerechtigkeiten in Bezug auf die menschliche Würde entwickeln sich zu einer standhaften Quelle tiefster Verbitterung (vgl. Viñar 2005, S. 99). Nick zeigt dem Zuschauer sehr anschaulich diese Hartnäckigkeit der Welt des Folterers. Er versucht sie abzuschütteln, indem er sich extremen Reizen aussetzt (Sex, Glücksspiel), aber letztlich verbleibt nur das Gefühl seiner Verlorenheit. In Saigon torkelt Nick von einer suspekten Situation in die andere, und er schafft es überzeugend, den Verlust von Vergangenheit und Identität zu verdeutlichen. Er entwickelt eine Obsession gegenüber der Gewalt und ist dazu verdammt, sich immer und immer wieder eine Waffe an die Schläfe zu halten (. Abb. 28.3). Der bisherige Text befasst sich mit einzelnen traumatischen Gesichtspunkten innerhalb des Kriegsgeschehens. Es konnte dargestellt werden, dass Kriegserfahrungen auf vielen verschiedenen Ebenen erlebt werden und somit zweifelsohne als Quelle für Mehrfachtraumatisierungen verstanden werden sollten. Dennoch ist noch unklar, was diese einzelnen Aspekte gemeinsam haben bzw. inwiefern sie als traumatisch bezeichnet werden können. Wir werden nun versuchen, das zu beleuchten, und im Zusammenhang mit den speziellen Erlebnissen in unserem Film wollen wir besser verstehen, wie es zum Selbstmord von Nick kommen konnte.
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Suizidalität und Trauma bzw. der Verlust einer Identität Traumatische Erfahrungen können so definiert werden, dass die extrem belastenden Situationen das Ich in seinen Verarbeitungsprozessen überwältigen und seinen Reizschutz durchbrechen. Man hat das Gefühl, von der Wucht anstürmender Erregungszustände überflutet zu werden, welche eine tiefe Überforderung und Ohnmacht mit sich bringen. Die affektive Erregung ist zu groß, um psychisch verarbeitet und somit auch gemeistert zu werden. Die Psyche muss auf andere Methoden der Bewältigung zurückgreifen und nutzt häufig die Reinszenierung der traumatischen Situation oder, um es mit einem alten und diskussionsreichen Begriff aus der Psychoanalyse zu beschreiben, den Wiederholungszwang. Der Betroffene versucht das Trauma immer wieder zu aktualisieren in der Hoffnung, dessen Ablauf diesmal selbstbestimmt zu leiten und Macht über es zu erlangen. Das Ziel ist die Symbolisierung bzw. die Erlangung von persönlicher Bedeutung. In diesem Sinne spielt auch die individualisierende Benennung des Traumas eine wesentliche Rolle; sie ermöglicht die Kommunizierbarkeit sowie die Historisierung der Erfahrungen. Die dabei gewonnene hermeneutische Struktur verhilft grundlegend, das Trauma verstehbar zu machen und seine Ursachen zu erkennen (vgl. Bohleber 2007, S. 306). Ein essentielles Merkmal der Traumatisierung ist der gewaltsame Grenzverlust zwischen dem Selbst und dem Anderen. Das Zusammenbrechen des Selbstgefühls bewirkt Orientierungslosigkeit und beeinträchtigt nachhaltig die eigene Integrität sowie das Identitätsbewusstsein. Diese aufwühlende und unklare Verwischung der Persönlichkeitsgrenzen kann häufig zu Formen der Identifikation mit dem Aggressor führen. Wünsche und Ideale des Peinigers erscheinen rational und unausweichlich. Darüber hinaus kann die Ununterscheidbarkeit der Grenzen des Betroffenen zu seinem Gegenüber als eine zusätzliche Konsequenz daraus resultieren, dass parallel existierende Täter- und Opferanteile in allen Kriegsbeteiligten vorhanden sind. Das feindliche Gegenüber ist Peiniger sowie das Ziel der Rache und Mordlust zugleich. Im Rahmen der immer wieder auftauchenden Kriegsverbrechen wechseln die Beteiligten stetig ihre Rollen, und das Verschwimmen der Grenzen von Recht und Unrecht beeinflusst unausweichlich die psychische Wahrnehmung und ihre Orientierungskraft. Das subjektive Konzept von Schuld und Verletzung verliert seine Glaubwürdigkeit (vgl. Kind 2005, S. 15, 21). Wir betrachten nun näher die Beziehung des amerikanischen Soldaten zu seinem vietnamesischen Feind. Der Vietnamkrieg war ein Krieg ohne Fronten und Regeln und galt für Soldaten als undurchschaubar und moralbefreit. In einem nahezu symbiotisch abhängigen Verhältnis dämonisiert und entmenschlicht der Soldat seinen Feind als Peiniger. Um den Verlust und die Ungerechtigkeiten des Krieges zu kompensieren, entwickelte sich der vietnamesische Feind zu einem gerechtfertigten Racheobjekt der eigenen destruktiven Wut. In unserem Film wird dies stilistisch verstärkt durch die fehlenden Untertitel während der Dialoge der Vietnamesen. Ebenso achtet die Kameraführung sehr detailreich auf eine eher verwinkelte, suboptimale Darstellung der vietnamesischen Schauspieler. Weit hineinragende Gegenstände und subtile Schattenspiele erschweren den Blick auf sie und bewirken damit die Schwierigkeit einer grundlegenden Differenzierung. Ihre Emotionalität ist reduziert auf negative Affekte, und insgesamt fällt es dem Zuschauer schwer, sich in die Perspektive des Feindes hineinzuversetzen. Der Regisseur schafft es, die Eindimensionalität der vietnamesischen Charaktere zu perfektionieren. Während der Premiere auf der Berlinale 1979 kam es genau aus diesem Grund zu einigen Protesten und scharfen Kritiken seitens des Publikums. Speziell die sowjetische Delegation reiste demonstrativ ab, nachdem sie den Film als »Beleidigung für das Volk von Vietnam« bezeichnet hatte, und sorgte damit für einen Eklat (vgl. Klein et al. 2006, S. 255). Aber wie bereits beschrieben, war Ciminos Ziel nicht die historische Darstellung des Vietnamkriegs, sondern der Hinweis auf die Zerstörung individuellen Lebens durch den Krieg. Seine Darstellung der Vietnamesen erwies sich als kompatibel mit der Sichtweise des amerikanischen Soldaten auf seinen asiatischen Feind. Der Film zeigt also sehr gut das Bedürfnis des Amerikaners, den Feind auf einen primitiven Wilderer reduzieren zu wollen. Dennoch zeigt er ebenso,
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dass der Kriegsalltag den Soldaten unausweichlich zum Mörder, duldenden Beobachter und Komplizen macht. Unerträgliche Schuld- und Schamgefühle beherrschen das psychische Innenleben. Der geballte Hass auf den dehumanisierten und minderwertigen Feind richtet sich plötzlich auf das eigene Innere, und die Abspaltung eigener zerstörerischer Anteile auf den Feind ist nicht mehr möglich. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass die allgemeine Gewaltsamkeit des Traumas sowie die parallel bestehenden Täter- und Opferanteile eine Verwischung der Grenzen des Selbst gegenüber seinem Umfeld bewirken. Die Folge ist die drastische Fragmentierung einer persönlichen Narration bzw. Integrität. Der Extremfall dieses Selbstzerfalls – wir können Nicks Suizidalität als einen solchen bezeichnen – wird aus der Perspektive des Betroffenen als »tote« bzw. »in Vietnam gestorbene« Identität verstanden. Meist wird diese als Träger der zivilisierten und bekannten Sittlichkeit wahrgenommen, und mit ihrem Verschwinden verliert der amerikanische Jugendliche auch seinen persönlichen Zugriff auf Wünsche und Träume. Der traumatisierte Soldat ist blind für das Fantasieren über ein mögliches, zufriedenstellendes Leben nach dem Krieg. Das, was übrigbleibt, ist die Überzeugung einer befleckten, aber auch schändenden und Strafe verdienenden Identität. Alles Schlechte, das einem widerfahren ist und wozu man gezwungen wurde, erstickt konstant den Keim eines Heilungsprozesses. Der Selbsthass ist eine nachvollziehbare Konsequenz aus einem solchen Identitätsverlust (vgl. Shay 1998, S. 244). Nicks Suizidalität bzw. seine Obsession mit dem Russischen Roulette ist auch als eine Form von Selbstverletzung zu verstehen. Der konstante Erregungszustand und die Todesangst sind selbstinduzierte Verletzungen, und mit dem Abdrücken der Waffe kommt der schmerzlindernde Abbau der Spannung. Innerhalb dieses Verlaufs können Parallelen zum autoaggressiven Schneiden gezogen werden. Ein wichtiges Merkmal des autoaggressiven Verhaltens ist die darin paradoxe Selbstfürsorge. Der Akt führt zur Reduktion von inneren und unerträglichen Spannungszuständen. Diese Spannungszustände stehen in Kohärenz mit traumatischen Ereignissen und weisen häufig einen selbstentfremdenden Charakter auf. Damit ist eine Entkoppelung der wahrgenommenen Sinneseindrücke von dem denkenden und handelnden Ich gemeint. Das Selbst sowie das Umfeld erscheinen irreal, und man hat das Gefühl, zu einem weit entfernten Beobachter zu werden. Diese dissoziative Färbung bewirkt bei den Leidenden Zustände der Empfindungslosigkeit, des Verrückt-Werdens und der tiefen Isolation. Das Schneiden mit Rasierklingen, Glasscherben etc. kann nun im Moment des Blutaustritts zum Druck-Ablassen, zur Linderung führen und sie letztlich auch aus dieser furchteinflößenden Desintegration des Selbst herausholen. Im Zusammenhang mit der klinisch genannten Depersonalisation (Dissoziation) des Leidenden ist die Autoaggression allemal ein identitätsstiftendes Verhalten. Im Erblicken des eigenen Bluts wird eine Halt gebende Selbsterkennung sowie die Bestätigung der eigenen Vitalität erhofft. Für Nick kann das Hören der klickenden Waffe dieselbe Wirkung haben. Die Selbstverletzung ist die destruktive Befreiung von unerträglichen Gefühlen der Verzweiflung, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit (vgl. Resch 2017, S. 40, 50). Ein anderer Zugang zur Selbstschädigung ist wiederum der Aspekt der Selbstbestrafung. Denn Gefühle unglaublicher Hilflosigkeit, die oft im Zusammenhang mit Traumata stehen, werden durch Schuldzuweisung auf sich selbst zu überwinden versucht. Der Täter, der Unfall oder die Krankheit werden entmachtet, und Fantasien von Was-wäre-wenn-Szenarien, in denen die eigene Selbstwirksamkeit nicht versagt hat, erlangen omnipotente Gültigkeit. Betroffene grübeln zwanghaft darüber nach, welche folgenden Ereignisse hätten verhindert werden können, wenn nicht eine signifikante Entscheidung getroffen worden wäre. Das Gefühl von Ohnmacht wird ersetzt durch toxische Vorstellungen des eigenen Versagens und der Schuld. Ihre Giftigkeit besteht in der Unkontrollierbarkeit dieser selbsterrichteten Schuld- und Schamdynamiken. Es ist ein leichtes Unterfangen, sich in solch einer inneren Welt zu verlieren und abzukapseln. Das Ergebnis ist ein überaus nährender Boden für chronischen Selbsthass und Gefühle der Wertlosigkeit, die ihre Höhepunkte in der Selbstschädigung
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oder im Suizid erreichen. Es lässt sich letztlich das Bild skizzieren, dass die eigene Schuldzuweisung, trotz ihrer gefährlichen Konsequenzen, in vielen Fällen dennoch nicht dieselbe traumatische Qualität erreicht wie die archaische Angst in der absoluten Ohnmacht. Die Schuldaufladung erscheint häufig als einziger Weg einer schmerzentlastenden Verarbeitung. Das abermals macht uns verständlich, dass Autoaggression und Suizidalität zum einen unbestreitbar die Hilflosigkeit des Leidenden ausdrücken, aber zum anderen den ultimativen Versuch darstellen, endlich Handlungsfähigkeit zu erreichen und paradoxerweise die eigene Lebendigkeit zurückzugewinnen. Mit anderen Worten: Die Dissonanz der Täter- und Opferschaft im Individuum verschmilzt zu einer innerseelischen Apokalypse, die wie ein schwarzes Loch Lebendigkeit, Identität und Zukunftsperspektiven in sich verschlingt. Die dazugehörigen toxischen Schuld- und Schamgefühle lassen wiederum nur Selbsthass und das (übriggebliebene) böse und schlechte Selbst gedeihen. Zuallerletzt bedeuten Folter und Gefangenschaft immer auch den Zutritt zu einem anderen Universum, in welchem andere dunkle Gesetze gelten und die Rückkehr nach Hause bzw. das Verlassen dieser kalten Finsternis oft kaum in Lichtjahren gemessen werden kann. Nun ist besser nachvollziehbar, warum Suizidalität und Selbstverletzung als letzte Optionen der Schmerzentlastung in Frage kommen. Für unseren Filmcharakter Nick gelten nur mehr die Regeln des vietnamesischen Dschungels: Gewalt, Kompromisslosigkeit und Vernichtung. Die ganze Welt eines jungen, seelisch verstümmelten Soldaten konzentriert in einer Hölle aus Glücksspiel und Selbstexekution. Das Erbe des Peinigers mutiert paradoxerweise zur einzigen Chance auf Ich-Integrität und endgültige Erlösung aus einer psychischen Gefangenschaft.
Schlussfolgerung Deer Hunter ist ein erschreckend geduldiger Film über die ebenso erschreckende Fragilität der menschlichen Seele. Gewalt und Vernichtung sind Verursacher von unheilbaren Wunden. Sie können vernarben, aber sie lassen einen niemals vergessen. Um die unscheinbare Tiefe solcher Verwundungen zu erfassen, lässt Cimino ergiebigen Raum für das Gedeihen der Charaktere. All ihre unnatürlich langen Szenen des Seins und des Tuns sind zarte Bestandteile der Filmatmosphäre, und als der Krieg ihre Welt betritt, wirkt die Bedrohung des Zerbrechens ihrer Gemeinschaft umso plötzlicher und heftiger. Der Film fokussiert auf die alltäglichen Begegnungen einer traumatisierten Gemeinschaft und ihre zaghaften Versuche einer Verarbeitung. Ebenso lehrt er den Zuschauer zu erkennen, dass der Mensch auf bestimmte Bedingungen angewiesen ist, um würdig leben zu können: die freie Entfaltung eines Selbstgefühls und einer Identität, die Konzipierung eines eigenen Wertesystems in einem Lebensraum, der es ermöglicht, diesem gerecht zu werden, und letztlich der Kontakt mit der Umwelt bzw. der Austausch mit den Mitmenschen, um Erfahrungen der Reflexion, der Fürsorge und Zuneigung zu ermöglichen. Wir können durch Michael, Nick und Steven erkennen, dass diese genannten Bedingungen keine selbstverständlichen Voraussetzungen des Krieges sind und dadurch unvorstellbare Kostbarkeit erlangen. Mittels der Perspektive des Jägers und des Gleichnisses der zwei Jagdszenen schafft es Cimino, der Mächtigkeit und der Einflusskraft von Gnade und Verurteilung gerecht zu werden. Die Kluft zwischen den Versehrten und den Unversehrten sowie der Kontrast von der industriellen Kleinstadt und dem großen Dschungel sind weitere Stärken des Films, die ihn berührend und sehenswert machen. So wie zu einem Trauma und seiner Verarbeitung häufig verwirrende Gefühle und stille Fragen dazugehören, verbleibt der Film ebenso aufwühlend und schweigsam.
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Literatur Bohleber W (2007) Erinnerung, Trauma und kollektives Gedächtnis – Der Kampf um die Erinnerung in der Psychoanalyse. Psyche 61:293–321 Freud S, Ferenczi S, Abraham K, Simmel E, Jones E (1919) Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen. Internationale Psychoanalytische Bibliothek 1. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig, Wien Frey M (2016) Geschichte des Vietnamkriegs. Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums, 10. Aufl. Beck, Nördlingen Greiner B (2013) Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, 2. Aufl. Hamburger Edition HIS, Hamburg Herman J (1992) Trauma and recovery. The aftermath of violence from domestic abuse to political terror. Basic Books, New York Janet P (1894) Der Geisteszustand der Hysterischen. Die psychischen Stigmata. F Deuticke, Leipzig Kind J (2005) Suizidal. Die Psychoökonomie einer Suche, 4. Aufl. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Klein T, Stiglegger M, Traber B (2006) Filmgenres. Kriegsfilm. Reclam, Stuttgart Komnacky C (2017) Kriegszitterer. Posttraumatische Belastungsstörungen bei Soldaten im und nach dem Ersten Weltkrieg. http://othes.univie.ac.at/45735/1/48021.pdf. Zugegriffen: 30. Juni 2019 Krause R (2001) Affektpsychologische Überlegungen zur menschlichen Destruktivität. Psyche 55(9):934–960 Niederland W (1980) Folgen der Verfolgung. Das Überlebenden-Syndrom. Seelenmord. Suhrkamp, Frankfurt am Main Resch F (2017) Selbstverletzung als Selbstfürsorge. Zur Psychodynamik selbstschädigenden Verhaltens bei Jugendlichen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Shay J (1998) Achill in Vietnam. Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust. Hamburger Edition HIS Verlag, Hamburg (Originalausgabe: Shay J (1994) Achilles in Vietnam. Combat Trauma and the Undoing of Character. First Touchstone Edition, New York) Viñar M (2005) Folter als Trauma. Das wüste Land der Seele, wenn die Sprache verstummt. Jahrb Psychoanal 50:97–128
Originaltitel
The Deer Hunter
Erscheinungsjahr
1978
Land
USA
Drehbuch
Michael Cimino, Deric Washburn
Regie
Michael Cimino
Hauptdarsteller
Robert De Niro, Christopher Walken, Meryl Streep
Verfügbarkeit
Als DVD in Englisch und Deutsch erhältlich
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Otto Teischel
Mit dem Mut der Verzweiflung »DOGMA 95« – Ein Manifest gegen die Illusion . . . . . . . . 437 Ausgangspunkte – der Handlungsrahmen des Films . . . . 438 Im Sog der Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Der Suizid als Katalysator der Wahrheit . . . . . . . . . . . . 440 Die Psychodynamik von Perversion und Psychose . . . . . . 444 Die Wahrheit bricht sich endgültig Bahn . . . . . . . . . . . . 449 Hoffnungsvoller Schlussakkord . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_29
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Filmplakat Das Fest. (© Arthaus Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Das Fest (1998) Otto Teischel
»DOGMA 95« – Ein Manifest gegen die Illusion Die überragende Aufmerksamkeit und Bedeutung, die der Film »Das Fest« von Thomas Vinterberg (1997) schon bald nach seiner Veröffentlichung weltweit erhalten hat, lässt sich erst vor dem besonderen Hintergrund seiner Entstehungsgeschichte angemessen erklären. Denn es war seinerzeit der erste realisierte Film jener Gruppe junger dänischer Autorenfilmer um Lars von Trier, die zwei Jahre zuvor, im März 1995, auf einem internationalen Symposium zum hundertsten Geburtstag des Films im Pariser Odéon-Theater, ihr DOGMA-Manifest (Hallberg und Wewerka 2001) zur Erneuerung des Kinos präsentiert hat. Gegen die allgemeine Verflachung und Kommerzialisierung des Kinofilms, auch in Europa, setzten sie ihr Bekenntnis zu den ursprünglichen Mitteln und Möglichkeiten des Films als einem Plädoyer für dessen Wahrhaftigkeit und verstanden ihren öffentlichen Aufruf als »Rettungsaktion« (a. a. O., S. 11). Die bisherigen Erneuerungsbewegungen, wie die »Nouvelle Vague« und andere, seien schon bald ebenso käuflich und angepasst gewesen, wie überhaupt die »Illusionsmaschine Hollywood« mit ihren manipulativen Techniken die Wahrnehmungen des Publikums zunehmend dominiere. »Die Vorhersehbarkeit (Dramaturgie) ist zum Goldenen Kalb geworden, um das wir tanzen. Es gilt als zu kompliziert und nicht fein genug, wenn die innere Entwicklung der Figuren die Handlung rechtfertigt. Wie nie zuvor werden oberflächliche Handlungen und oberflächliche Filme gepriesen. Das Ergebnis ist dürftig: falsches Pathos und die Illusion der Liebe. Für DOGMA 95 ist Film keine Illusion! Heute tobt ein Sturm der Technik, der die Kosmetik zur Gottheit erklärt. Mit Hilfe der neuen Techniken kann jedermann zu jeder Zeit auch das letzte Fünkchen Wahrheit ersticken – in der tödlichen Umarmung mit der Sensation. Die Illusionen sind all das, wohinter Film sich verstecken kann. DOGMA 95 stellt dem Kino der Illusionen ein unangreifbares Regelwerk entgegen, das sogenannte Keuschheitsgelübde.«
In diesem »Keuschheitsgelübde«, das gleichsam die Unschuld einer »reinen«, nicht manipulativ auf Effekte abzielenden Filmsprache wiederbeleben wollte, bestand der provokante und aufsehenerregende Kern des Manifestes. Nach der Formulierung von »10 Geboten« – nur an Originalschauplätzen zu drehen, nur Originalton zu verwenden, mit Handkamera zu filmen, keine unnötige Action, keine künstlichen Effekte etc. – endet das Manifest mit den Worten: »Mein höchstes Ziel ist es, meinen Figuren und Szenen die Wahrheit abzuringen. Ich gelobe, dies zu tun – mit allen Mitteln, auf Kosten jeglichen guten Geschmacks und jeglicher Ästhetik. Hiermit lege ich das KEUSCHHEITSGELÜBDE ab« (a. a. O., S. 12–13).
Unterzeichnet wurde es »Im Namen von DOGMA 95« am 13. März 1995 in Kopenhagen von Lars von Trier und Thomas Vinterberg. Und die ersten beiden nach diesen Prinzipien gedrehten Filme – »Das Fest« (Vinterberg) und »Die Idioten« (von Trier) – wurden 1998, bei den Filmfestspielen von Cannes, erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt.
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Ausgangspunkte – der Handlungsrahmen des Films Wenn es ein Werk gibt, das den zentralen Anspruch des DOGMA-Manifestes geradezu idealtypisch eingelöst hat, sich für die Produktion eines Filmes vor allem der Wahrhaftigkeit seiner Erzählung und der inneren Entwicklung seiner Protagonisten verpflichtet zu fühlen, dann ist es »Das Fest« von Thomas Vinterberg (. Abb. 29.1, Filmplakat). Form und Inhalt gehen für dieses ebenso radikal verstörende wie befreiend wahrhaftige Werk über menschliche Verkommenheit und die perversen Abgründe einer sich selbst entfremdeten Existenz hinter der Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit eine kongeniale Verbindung ein. Das DOGMA»Keuschheitsgelübde«, den tatsächlichen Emotionen und Gedanken gequälter Seelen auf der Leinwand möglichst rein und unverfälscht Ausdruck zu geben, ermöglicht hier gleichsam die naive, unschuldige, »keusche« Sicht eines Kindes – aus der auch ein unvoreingenommener Zuschauer reagiert, nicht wissend, was ihn auf der Leinwand erwartet – auf die »unkeuschen« Perversionen degenerierter Erwachsener. Entsprechend reduziert ist der Handlungsrahmen des Films, in dem sich das Geschehen abspielt. Auch wenn neben Thomas Vinterberg noch ein weiterer Drehbuchschreiber – Mogens Rukov – bereits an den Vorüberlegungen zu diesem Projekt beteiligt ist, sollen sich die wesentlichen Prozesse doch während der Inszenierung ergeben: aus der Dynamik der inneren Konflikte der Hauptfiguren dieser Geschichte und dem Ausdrucksvermögen der Schauspieler, die vor laufender Kamera so diszipliniert wie nötig und so authentisch und improvisiert wie möglich das innere Drama der von ihnen verkörperten Charaktere darzustellen versuchen. Sobald es in einem Film vor allem um die Wahrhaftigkeit des Geschehens auf der Leinwand gehen soll, um die Beziehungsdynamik zwischen konkreten Menschen, die sich im Hier und Jetzt einer (Film‑)Erzählung in diesem Moment begegnen und dabei nonverbal und verbal interagieren, muss auch ein Raum für das Unbewusste, Unvorhersehbare ermöglicht sein: für die Phantasie der an der Realisierung des Films mitwirkenden Akteure ebenso wie für die darauf reagierenden – »antwortenden« – Zuschauer, die bereit sind, sich im Kino auf diese Geschichte einzulassen und einem Film ihre Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen. Dabei ist es nicht entscheidend, ob das für einen Film so authentisch wie möglich inszenierte Geschehen Anknüpfungspunkte in einem bestimmten realen Ereignis hat oder nicht. Es geht vor allem um eine zutiefst glaubwürdige Wahrhaftigkeit in der Vermittlung realer Grundkonflikte der menschlichen Existenz, mit allen Emotionen und Gedanken, die durch die Gestaltung einer Szene im Hier und Jetzt bei den Beteiligten vor und hinter der Kamera ausgelöst werden. Die Übertragbarkeit auf den Zuschauer – bzw. dessen »Gegenübertragung« während des Filmerlebens (Greenson 2007) – gelingt durch die Glaubwürdigkeit der Psychodynamik des auf der Leinwand offenbarten Handlungsgeschehens – in der Psyche des Einzelnen ebenso wie in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Je unmittelbarer eine Filmerzählung die unbewussten Bezirke der an ihr beteiligten Personen zu erreichen vermag, weil die Wahrhaftigkeit des Erzählten sie tief berührt, ergreift oder auch verstört, desto eindringlicher wird auch die Inszenierung dieser Empfindungen für das Publikum sein. Ihm unter die Haut gehen, eigene Erlebnisse wachrufen und noch lange nachwirken. Der Ausgangspunkt von »Das Fest« könnte erschütternder nicht sein. Der dänische Filmwissenschaftler Peter Scherpelen, von der Universität Kopenhagen, schreibt in seinem Aufsatz »Film und DOGMA« (Scherpelen 2001): »Die intensive Geschichte der Demaskierung eines teuflischen Vaters durch den Sohn während einer großen Geburtstagsfeier im Kreis der Familie, ein aristotelisches Drama mit streng gewahrter Einheit von Zeit, Raum und Handlung, ist ein sehr starkes Material. Die Geschichte stimmt ziemlich genau überein mit einem authentischen Fall aus einer Radiosendung vom
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28.03.1996: Ein anonymer jüngerer aidskranker Mann berichtete darüber, wie er in einer Ansprache auf der Geburtstagsfeier seines Vaters dessen sexuellen Missbrauch an den Kindern aufdeckte, an ihm selbst, dem Sohn, und seiner Zwillingsschwester, die Selbstmord beging.«
Und auch wenn die Wahrhaftigkeit der Aussagen dieser anonymen Person in dieser konkreten Radiosendung nicht durch Recherchen unter Zeugen dieses Familiendramas belegt werden kann, ist doch die weltweit täglich millionenfach ausgeübte Gewalt von Eltern an ihren Kindern eine schreckliche Tatsache: von der verbalen Demütigung über Schläge bis hin zur sexualisierten Gewalt, die wiederum von beschämenden Bemerkungen über handgreifliche Nötigung bis zur Vergewaltigung reichen kann. Für die Wirkung beim Publikum und den weltweiten Erfolg dieses Films ist die Universalität des Dramas von der massiven psychophysischen Gewalt zwischen Eltern und Kindern entscheidend. »Das Fest« kann, etwa zwanzig Jahre nachdem die bahnbrechenden Erkenntnisse der Kindheitsund Traumaforschung erstmals im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit angekommen sind (Miller 1979), wie eine verstörend massive Veranschaulichung dieses realen Grauens erlebt werden. Vinterberg berichtet in einem Interview darüber, wie ähnlich die Zuschauer nach der Vorführung seines Films reagieren: »nämlich mit tiefem, tiefem Schweigen und mit finsteren Mienen, und als der Abspann kam, haben sie sich völlig verschanzt. Zwei Tage später riefen sie dann an und redeten darüber, was für ein phantastischer Film das Ihrer Meinung nach ist« (a. a. O., S. 109 f.).
Im Sog der Verzweiflung Zur Feier seines 60. Geburtstages hat der wohlhabende Hotelier Helge Klingenfeldt-Hansen zahlreiche Gäste in seinen Landgasthof geladen: Freunde der Familie, Verwandte und auch seine drei Kinder, Christian, Helene und Michael reisen zur Feier an. Das vierte Kind, Linda, die Zwillingsschwester von Christian, hat sich offenbar wenige Monate zuvor das Leben genommen, wie der Zuschauer zunächst aus Nebensätzen entnehmen kann. Schon die erste Begegnung mit den Hauptpersonen des Films verläuft für das Publikum seltsam beunruhigend und verwirrend, auch weil sogleich die grobkörnigen Bilder, die schnellen Schnitte, starke Unschärfen und eine hektische Kameraführung auffallen. Der Zuschauer gerät schon in den ersten Minuten des Films durch fahrige Dialoge und eine aggressiv angespannte Atmosphäre zwischen den Protagonisten in einen Sog gemischter Gefühle zwischen Neugier und Abscheu. Was treffen da nur für merkwürdige, hilflos wirkende Gestalten aufeinander, die sogar eng miteinander verwandt sein sollen und jetzt obendrein eine große Feier im Familienkreis auszurichten haben? Solche Gegenübertragungen auf das Handlungsgeschehen unterstreichen gerade die Wirksamkeit des DOGMA-Anspruchs, Emotionen so pur und authentisch, so wenig »gemacht« wie möglich auf die Leinwand zu bringen. Wir sollen nicht durch eine dramatische Inszenierung von Emotionen schockiert, verblüfft oder überwältigt werden, sondern uns zu einer eigenen emotionalen Antwort herausgefordert fühlen. Wir sind als Zuschauer gleichsam zur Gegenübertragung eingeladen, indem wir die Position einer quasi-dokumentarischen Zeugenschaft einnehmen, distanziert und betroffen zugleich. Die Akteure auf der Leinwand spielen keine Rollen, sondern verkörpern die Gefühle der von ihnen übernommenen Charaktere in diesen ganz bestimmten wie unmittelbar mitzuerlebenden Situationen, in denen sie im Rahmen einer Geburtstagsfeier mehr oder weniger eng in Beziehung sind, während die Abgründe inzestuöser Verstrickung mit ihren fatalen, zerstörerischen Konsequenzen ans Licht der Öffentlichkeit gelangen.
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Nach einem chaotisch bewegten Intro, in dessen Verlauf wir die Geschwister auf dem Weg zum Landhotel erleben, dann ihre Ankunft dort und bald darauf das Eintreffen der Gäste, kommt es zu einer ersten, seltsam irritierenden Begegnung zwischen Christian und seinen Eltern. Der Sohn wirkt die ganze Zeit merkwürdig gehemmt und bedrückt, begrüßt zuerst im Flur eines Nebengebäudes seine Mutter, Else, die sich darüber freut, dass er zur Feier kommen konnte, und sucht dann seinen Vater Helge in dessen Büro auf, um ihm kurz zu gratulieren und auszurichten, dass die Gäste bereits auf ihn warten. Der Vater weist Christian an, sich zu setzen, er habe ihm etwas Wichtiges zu erzählen. Und als der Zuschauer schon eine ernste Ansprache erwartet –
RR »Es ist ziemlich wichtig, ich denke jetzt schon seit Tagen daran, also jetzt hör mal zu« –, beginnt der Vater mit einem abgeschmackten Witz:
RR »Zwei Nutten, die machen es sich in einem Zugabteil bequem …«. Christian lacht gequält und schüttelt den Kopf, als könne er nicht fassen, dass der Vater sogar jetzt mit solchem Mist daherkommt. Als Else zum Aufbruch drängt, wendet sich der Vater, bereits im Gehen, wie beiläufig noch einmal an seinen Sohn:
RR »Und noch was, Christian, könntest du heute Abend vielleicht ein paar Worte über deine Schwester sagen? Ich fang nur an zu heulen, mir fällt das zu schwer.« »Ja, ich hab’ schon was vorbereitet«, erwidert Christian. Mit dieser ersten intimeren Sequenz des Films, die eine beklemmende Spannung für den Zuschauer erzeugt, ist der Showdown zwischen Vater und Sohn eröffnet, der im Fortgang der Filmerzählung die Ausmaße einer antiken Tragödie und eines shakespeareschen Dramas annehmen wird.
Der Suizid als Katalysator der Wahrheit Während das Geburtstagskind im Foyer von den Gästen besungen wird, fragt Pia, eine der Hotelangestellten, Christian nach dessen Zimmernummer. Die beiden sind offenbar seit langer Zeit schon befreundet. Die Begegnung von Christian und Pia in einem der Hotelzimmer ist im Film parallel montiert zu Helene, die in Begleitung von Lars, dem Empfangschef des Hotels, das Zimmer ihrer verstorbenen Schwester Linda betritt. Sie werde darin übernachten, weil es Christian nicht zuzumuten wäre, dort zu logieren, wo seine Schwester vor Kurzem verstorben ist.
RR »Ihm würde schlecht werden. Sie waren schließlich Zwillinge, wissen Sie«, erklärt Helene dem Bediensteten.
RR »Sie haben darin ja alles abgedeckt. Es ist eine Sache, dass man nicht darüber sprechen will, aber alles so zuzudecken, das finde ich einfach blöd.« Während sie sich im Raum umsehen und die weißen Tücher von den Möbeln abnehmen, fällt Helenes Blick auf die halbgeöffnete Badezimmertür.
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RR »Hier ist es passiert, im Bad«, sagt sie zu Lars und auf einmal ist von drinnen ein Geräusch von gluckerndem Wasser zu hören. Jetzt wird es auch für den Zuschauer unheimlich und er bekommt in diesen Momenten Gewissheit, dass Linda in diesem Badezimmer Suizid begangen hat. Die nächsten wild ineinander geschnittenen Szenen von den Geschwistern in ihren jeweiligen Hotelzimmern werfen ein erschreckendes Licht auf schwer gestörte und gebrochene Persönlichkeiten, die mehr oder weniger mühsam darum ringen, nicht ganz ihre Fassung zu verlieren. Helene findet im Badezimmer, nach detektivischer Suche mit dem Hotelangestellten, ob vielleicht irgendwo ein Hinweis zu entdecken ist, den die verstorbene Schwester noch hinterlassen haben könnte, einen kleinen, in einem Lampenschirm versteckten Zettel. Als sie diesen auffaltet und halb vor sich hinmurmelnd liest, erkennen wir in ihrem Gesicht in Großaufnahme die Tränen ihres Entsetzens über diese letzten Zeilen vor Lindas Suizid. In diesem Moment bekommen wir plötzlich das Gesicht von Pia gezeigt, die in Christians Badezimmer soeben nackt unter die Wasseroberfläche der Wanne taucht und dort sekundenlang mit offenen Augen verharrt – als werde Pia für die den Abschiedsbrief lesende Helene zu Lindas Ebenbild. Dann schwenkt die Kamera auf Christian, der gedankenverloren in ein Whiskeyglas schaut. Indem der Film die verstörende Dynamik der geschwisterlichen Psychen ineinander schneidet und die offensichtliche Labilität der drei mit dem fatalen Abschiedsbrief der verstorbenen Schwester Linda (der noch eine entscheidende Rolle im Film spielen wird) in einen so greifbar existenziellen Zusammenhang bringt – wird die Wirkung dieser grauenhaften, wenngleich für den Zuschauer noch schleierhaften Wahrheit in authentisches, physisch spürbares Leiden gesteigert. Die Tote scheint nicht nur in den Gedanken der Geschwister unmittelbar präsent zu sein, Helene glaubt sogar Geräusche der Verstorbenen aus dem Badezimmer zu hören. In der nachfolgenden Szene beunruhigt den Zuschauer Michaels Aggression seiner Frau Mette gegenüber zutiefst. Er reagiert seine Spannung verbal und sexuell in rüdester Weise an ihr ab. Ausgelöst durch ein vergessenes Paar schwarzer Schuhe, ohne die er seinem Vater nicht gegenübertreten könne, eskaliert ein Streit in kürzester Zeit und Michael schreit seine Frau an, sie habe sich, verdammt noch mal, um das Packen zu kümmern und solle sofort nach Hause fahren, um seine Schuhe zu holen. Die schreit zurück, er ticke wohl nicht richtig, sie habe sowieso schon alles allein am Hals und wenn es ihm nicht passe, könne er sich ja künftig um seinen Scheiß selbst kümmern. Die eigene Ohnmacht ist für die Geschwister so unerträglich, dass sie gewaltsam am nächst erreichbaren anderen abreagiert werden muss. Helene erschreckt den hilfsbereiten Angestellten Lars, als der ihr Entsetzen bemerkt hat und fordert ihn zum Gehen auf. Christian bleibt unbeteiligt und abweisend gegenüber dem Nähewunsch seiner Jugendfreundin Pia. Und Michael, der offenbar besonders unter Angst und Minderwertigkeitskomplexen leidet, liegt im Dauerstreit mit seiner längst co-abhängigen (Schaef 2002) Frau. Vor seinem Vater dagegen tritt Michael ängstlich ergeben und unterwürfig auf wie ein Kind, das um Zuneigung bettelt, nachdem es in den Augen der Erwachsenen etwas Schlimmes angestellt hat.
Die erste »Wahrheitsrede« von Christian Nachdem Helge als Jubilar zur Begrüßung noch ein paar rührselige, selbstgefällige Worte über sich und seine Familie gesprochen hat – denen Christian, dessen Gesicht wir zwischendurch in Großaufnahme sehen, mit versteinerter Miene zuhört –, begibt man sich an die gedeckte Tafel. Nach einer Weile klopft Christian an sein Glas, um als ältester Sohn der Familie eine Tischrede für seinen Vater zu halten (. Abb. 29.2). Kurz folgt ein Schnitt in die unter dem Saal gelegene Großküche, wohin die Rede per Lautsprecher übertragen wird und das Personal sogleich seine Arbeit unterbricht, um Christian zuzuhören.
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..Abb. 29.2 Christian hält die erste »Wahrheitsrede« (© Arthaus Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
RR »Der älteste Sohn spricht«, ruft Kim, der Koch, den anderen zu. Christian geht besonders raffiniert vor, was die Spannung für die versammelten Gäste ebenso erhöht wie für die Zuschauer des Films. Er hält zwei verschiedenfarbige gefaltete Zettel in die Höhe, einen grünen und einen gelben, und lässt seinen Vater wählen, welche der beiden Reden er verlesen soll.
RR »Ich würde gern die grüne hören«, ruft ihm Helge von der gegenüberliegenden Seite der Tafel zu und Christian antwortet:
RR »Die grüne ist eine interessante Wahl. Das bedeutet, es ist eine Art Wahrheitsrede. Sie hat eine Überschrift und die lautet: Wenn Papa badete.« Die Gäste zeigen sich amüsiert, besonders Christians Mutter lacht hysterisch auf, während die Kamera ihr Gesicht in Großaufnahme zeigt. Christian beginnt seine Rede ähnlich anekdotisch wie sein Vater gerade noch zu den Gästen gesprochen hatte.
RR »Seht ihr, ich war noch ganz klein, als wir hier auf dem Gut eingezogen sind. Und ich muss schon sagen, damals fingen ganz neue Zeiten für uns an. Wir hatten so viel Platz, wie wir ihn uns nur wünschten, und wir stellten so viel an, wie wir nur konnten. Damals war der Raum, in dem wir jetzt sitzen, das Restaurant. Und ich
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weiß gar nicht mehr, wie oft meine Schwester Linda, die jetzt tot ist, und ich hier spielten. Ich weiß aber noch, dass sie häufig etwas ins Essen tat, ohne dass die Gäste etwas bemerkten. Und dann hockten wir in unserem Versteck, und Linda fing immer an zu lachen. Und es dauerte nie lange, da saßen wir beide da und lachten uns kaputt und wurden entdeckt. Aber es passierte uns nie etwas, nein. Was sich als viel gefährlicher herausstellen sollte« – die Kamera ist jetzt auf Helge gerichtet, der zunehmend beunruhigt erscheint –,
RR »war der Augenblick, wenn Papa baden wollte.« In diesem Moment wirft Helene an ihrem Platz versehentlich ein Glas um – sie ahnt ja bereits, was jetzt kommen wird.
RR »Ich weiß nicht, ob ihr euch daran erinnert, dass Papa immer baden wollte. Wenn er das wollte, dann nahm er komischerweise Linda und mich mit in sein Büro, denn er hatte zunächst immer noch etwas zu erledigen. So war’s. Dann verschloss er die Tür, zog die Rollos ganz runter, machte Licht an, gemütlich sollte es ja sein. Er zog sein Hemd aus, seine Hose … und das mussten wir dann auch tun. Und dann legte er uns auf die grüne Couch, die, die jetzt erst vor kurzem weggeschmissen wurde, und vergewaltigte uns. Er missbrauchte uns. Er hatte Sex mit seinen lieben Kinderchen.« »Christian!« ruft die Mutter empört dazwischen. Doch der lässt sich nicht aufhalten.
RR »Jetzt, vor ein paar Monaten, als meine Schwester starb, fiel es mir auf, dass Helge ein sehr reinlicher Mann war, so oft, wie er badete. Und ich dachte, das will ich teilen mit dem Rest meiner Familie. Ja, Sommer wie Winter, Frühjahr und Herbst, morgens und abends. Und ich dachte, das sollten sie doch eigentlich über meinen Vater wissen. Helge ist ein reinlicher Mann. Und wir haben uns heute hier versammelt, um Helges 60. Geburtstag zu feiern. Welch ein Kerl. Stellt euch vor, so ein langes Leben und zuzusehen dabei wie die Kinder – in Michaels Fall auch die Enkelkinder – heranwachsen. Schluss jetzt, ihr wollt mir ja nicht die ganze Nacht zuhören.« »Nein!«, entfährt es einem Gast in barschem Ton. Christian erhebt sein Glas für einen Toast.
RR »Wir wollen Helge zu seinem Geburtstag gratulieren, seinem Sechzigsten, und das sollten wir dann jetzt auch tun. Darum vielen Dank für die vielen guten Jahre. Und herzlichen Glückwunsch.« Einen kurzen Moment lang herrscht betretenes Schweigen unter den Gästen, dann erhebt sich der debile Großvater, um mit seiner Ansprache auf Helge zu beginnen. Christian verlässt die Tafel und geht in die Küche hinunter, als wolle er sich von den Angestellten dort verabschieden. Doch Kim, sein Freund aus Kindertagen, hält ihn auf und redet ihm ins Gewissen. Wenn er jetzt gehe, sei alles umsonst gewesen, nichts ändere sich, die Schlacht sei verloren. Seit Jahren warte er schon auf diesen Moment, da die Wahrheit endlich ans Licht komme. Er könne sich genau an
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alles erinnern, wie der Vater immer gelost habe, wen er sich zuerst vornehme – da sei es eine brillante Idee, dass Christian dieses Mal den Vater mit einer Wahl konfrontiert habe. Als Helge kurz darauf selbst in die Küche kommt, um sich dort einen Schnaps servieren zu lassen, ist er verwundert, Christian noch anzutreffen und stellt ihn in einem Nebenraum zur Rede. Wie es ihm jetzt gehe, nach seiner Ansprache. Er, der Vater, könne sich nämlich an nichts von dem erinnern, was der Sohn da erzählt habe. Wenn es stimme, was er sage, sei das ja kriminell, eine ernste Sache, dann müsse man die Polizei holen. Da auf einmal lenkt Christian ein und sagt, dann müsse er sich wohl falsch erinnern und habe sich zu entschuldigen. Es sei alles etwas viel in letzter Zeit, die Arbeit und dann noch der Tod der Schwester – der Vater solle die Angelegenheit einfach vergessen.
Die Psychodynamik von Perversion und Psychose In seiner Analyse des Films beschreibt Mathias Hirsch die Zerrissenheit Christians als Folge von dessen schuldhafter Verstrickung mit dem Vater. Weil das Kind auf die Fürsorge durch die Eltern angewiesen ist, kann es deren Gewalt nur überleben, wenn es den Täter dadurch entschuldet, dass es sich selbst zum hassenswerten Bösen macht. Dadurch gelingt es wiederum seinem Vater leicht, in Christian erneut Schuldgefühle zu erzeugen, was er ihm und der Familie mit seinen ungeheuerlichen Behauptungen antue (Hirsch 2008). Ein klassischer Fall von Täter-Opfer-Verdrehung und ein Beispiel für die Verleugnung des traumatischen Geschehens auf beiden Seiten. Mit derart fatalen Folgen wie sie uns diese erschütternd wahrhaftige Filmgeschichte schrittweise enthüllt und vor Augen führt. Der perverse Vater betreibt die Abspaltung seiner eigenen Ohnmacht durch die gewalttätige Erniedrigung der eigenen Kinder. Und die können die Wahrheit ihrer existenziellen Beschämung nur »ertragen«, indem sie sich in die Spaltung einer psychotischen Krankheit oder in letzter Konsequenz in den Suizid flüchten (Teischel 2014). Genau durch diese schreckliche, unwiderrufliche Konsequenz, die seine Schwester Linda für sich gezogen hat, brechen auch für Christian schließlich die Abwehrsysteme zusammen. Diesen Prozess können wir als Zuschauer so authentisch mitverfolgen, als seien wir ebenfalls unter den Festgästen und erführen durch Christian von dieser grauenvollen Vorzeit und gerieten mit ihm zwischen die Fronten des aufbrechenden Konflikts. Zuerst versucht er wieder auszuweichen, will gleich nach seiner ersten, noch anekdotisch verbrämten, Ansprache abreisen und wird daran von Kim, seinem Freund aus Kindertagen, gehindert. Der redet ihm ins Gewissen und ergreift obendrein beherzt die Initiative, indem er zwei der Angestellten, während der Tischrede des Großvaters, in den Zimmern der Gäste nach deren Autoschlüsseln suchen lässt. Ebenso wird Lars eingeweiht, den Abreisewilligen keinesfalls ein Taxi zu bestellen. Die Festgesellschaft soll gezwungen sein, sich den weiteren Enthüllungen auszusetzen, die in einen Eklat münden werden, sobald die ganze Wahrheit zur Sprache kommt. Die Erinnerung an das tödliche Los seiner Schwester hat sich in Christian mittlerweile soweit an die Oberfläche gewühlt, dass er sich von seinem Jugendfreund umstimmen lässt und erneut das Wort ergreift.
Die zweite »Wahrheitsrede« von Christian und die Rache des Vaters Bevor die Zuschauer Christians zweiten Auftritt miterleben, bekommen sie noch die Geschichte des Großvaters zu hören, die ein höchst seltsames Schlaglicht auf die Herkunftsfamilie des Patriarchen Helge wirft. Offenbar reicht die Dynamik sexueller Perversion bereits weit zurück in die Vergangenheit dieses Täters: Denn der Großvater beschämt Helge noch als Erwachsenen vor der Festgesellschaft durch eine Bloßstellung seiner kindlichen Gehemmtheit, die den Vater später so sadistisch Rache an seinen Kindern nehmen lassen wird.
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Christian erhebt sich und bittet um Aufmerksamkeit.
RR »Tut mir leid, dass ich wieder störe, aber ich hab’ das Wichtigste vergessen. Wir sind heute hier, weil mein Vater Geburtstag hat und nicht wegen anderer Dinge. Und wenn ich euch in die Irre geführt habe, dann will ich es hiermit wiedergutmachen, indem ich anstoße auf meinen Vater. Also, steht bitte auf.« »Gut so, Christian«, ruft jemand erleichtert aus dem Hintergrund und auch der Zuschauer fragt sich einen Moment lang, ob jetzt die große Entschuldigung folgt.
RR »Hebt eure Gläser: Auf den Mann, der meine Schwester umgebracht hat! Auf einen Mörder!« Jetzt steht die Anklage in aller Deutlichkeit im Raum und der Suizid der Schwester wird als Seelenmord durch den Vater gebrandmarkt. Der Vater ist außer sich und stürmt aus dem Saal, während Helmut, der Toastmaster, neben der hilflos grinsenden Else, konsterniert zu einer Rauchpause auffordert. Eine Zeitlang verliert die Tischgesellschaft ihre Fassung und Kamera und Bildregie verdeutlichen das innere Chaos durch hektische Schwenks und Schnitte. Einige Gäste wollen sofort abreisen, andere unbedingt bleiben, um die Feier nicht platzen zu lassen. Die ersten bemerken, dass ihre Autoschlüssel verschwunden sind und die allgemeine Unruhe vergrößert sich. Helene fragt Christian, der allein am Tisch sitzt und scheinbar teilnahmslos seine Suppe löffelt, ob er verrückt geworden sei, was für Helge längst feststeht:
RR »Er ist krank, zum Donnerwetter«. In der nachfolgenden Schlüsselszene des Films versucht der Vater mit einer zutiefst beschämenden, die Wahrheit pervertierenden »Schuldkeule« zum vernichtenden Schlag gegenüber seinem Sohn auszuholen, um sein Opfer ein für alle Mal zum Schweigen zu bringen. Helge hat sich zu Christian an den Tisch gesetzt, um über ihn zu richten – wieder einmal als Herrscher über Leben und Tod des ihm ausgelieferten Kindes, wie es die Zwillinge erlebt haben müssen.
RR »Ich könnte aufstehen und etwas über dich erzählen. Was wäre dann? Ja, da gäbe es einiges. Darüber, wie krank du als Kind damals warst, darüber, wie du den anderen Kindern ständig alles verdorben hast. Wie du ihnen ihre Sachen weggenommen hast, um sie vor ihren Augen zu verbrennen. Und wie verkorkst du schon immer warst.« Der gedemütigte Christian versucht weiter unbeteiligt seine Suppe zu löffeln, unter den hasserfüllten Blicken seines Vaters, der sich neben seinem Sohn in Rage redet.
RR »Ich könnte auch davon erzählen, wie deine Mutter und ich nach Frankreich fahren mussten und versuchten, dich aus einer Nervenklinik rauszuholen, wo du krank im Kopf gelandet warst und das bis obenhin vollgepumpt mit Medizin, zur größten Verzweiflung deiner Mutter. Ich könnte was darüber erzählen, wie erfolglos du bei den Frauen warst. Schöne Frauen, die du einfach hast laufen lassen, aus dem einzigen Grund, weil du nicht Manns genug bist, Christian!«
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Dann zielt er auf den empfindlichsten Nerv seines Sohnes, der sich kaum noch beherrschen kann, dem Vater gegenüber keine Reaktion zu zeigen.
RR »Ich könnte auch was erzählen über dich und deine Schwester. Hä, wie findest du das?« … »Du hast deine kranke Schwester alleine gelassen.« Der Vater weidet sich mit seinem unerträglichen Sarkasmus an den Schuldgefühlen des Sohnes.
RR »Denn du warst wie immer nur mit dir beschäftigt. Ja, für dich zählt nur deine kranke Seele. Und jetzt kommst du her und bewirfst deine eigene Familie, die immer nur dein Bestes wollte, mit so einem Dreck! Deine Mutter will, dass du fährst, sie möchte dich nicht mehr sehen. Ich finde das nicht, nein, du sollst hierbleiben und merken, wie das ist, wenn man seiner Familie ins Gesicht spuckt.«
Die Eskalation nach der Ansprache der Mutter Als nächstes hält Else eine zutiefst heuchlerische Ansprache, bedankt sich zuerst bei allen Gästen für ihr Kommen und dann ausdrücklich bei ihrem Ehemann für »dreißig wunderbare Jahre«. An ihrem Gerede über die Familie, ihren sarkastischen Bemerkungen und Bewertungen, wird erkennbar, wie sehr diese Eltern ihre Kinder und Enkelkinder als ihren Besitz betrachten, als narzisstische Verlängerung des eigenen Egos, das sich in den Leistungen der Kinder spiegeln möchte und enttäuscht darüber ist, wenn die ihre eigenen Wege gehen oder sich gar von den Eltern zu lösen versuchen. Nachdem die Mutter in ihrer Rede bereits Michael und Helene mit herablassenden Anspielungen beschrieben hat, entlädt sich ihre aufgestaute Wut zuletzt in ihrer Verachtung gegenüber Christian.
RR »Und dann bist du ja auch noch da, Christian. Du hattest schon immer an dir selbst genug. Ein kreatives Kind. Christian konnte fantastische Geschichten erzählen, als er klein war. Und ich glaube, ich habe mir immer vorgestellt, aus dir könnte ein großer Autor werden, ein sehr guter Autor, Christian. Als Christian klein war, da – ich vermute, das weiß nicht jeder von euch – da hatte er einen sehr treuen Begleiter. Sein Name war Snuts. Der aber natürlich nicht existierte. Aber Snuts und Christian waren unzertrennlich und sie waren sich immer über alles einig. Wenn Snuts irgendetwas nicht gefiel, dann gefiel es Christian auch nicht.« Während seine Mutter weiterredet, trinkt Christian ein Glas Rotwein auf ex und starrt dabei unentwegt in ihre Richtung.
RR »Und dann hatte man verloren, man kam nicht gegen die beiden an, egal was man auch immer versuchte. Aber, lieber Christian, es ist so wichtig, Fantasie und Wirklichkeit unterscheiden zu können – Christian schenkt sich erneut das Glas voll und leert es mit hastigen Schlucken –,
RR ich glaube, damit hattest du immer Probleme. Ich verstehe, dass man auf Vater böse sein kann, das war ich auch so manches Mal, aber das muss man unter vier Augen klären. Solche Geschichten zu erzählen wie die, die du uns heute Abend aufgetischt hast – und dabei spielt es überhaupt keine Rolle, wie spannend sie
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sind, und spannend, das sind sie ja –, das ist wohl doch ein bisschen zu viel des Guten. Christian, ich glaube, Snuts war heute mit dir zusammen, und ich glaube, dass du deinen Vater ein bisschen traurig gemacht hast. Und ich denke, es wäre daher angebracht, dass du jetzt aufstehst und dich bei deinem Vater entschuldigst. Du brichst dir keinen Zacken aus der Krone, wenn du dich entschuldigst. Das ist in Ordnung, Christian.« Christian starrt Else wie durch einen Nebel mit glasigen Augen an, fassungslos über ihre Verdrehungen der Wahrheit. Die Mutter ist mit dem Vater-Täter so vollkommen identifiziert, dass auch sie ihren Sohn für »verrückt« erklärt, obendrein noch die frühe Spaltung des Kindes bloßstellt, um diesen dramatischen kindlichen Überlebensmechanismus öffentlich zu beschämen und den Sohn vor allen zu demütigen (Ferenczi 2004).
RR »Christian, stehst du bitte auf.« Einen Moment lang wirkt sie ängstlich, als fürchte sie schon den nächsten Ausbruch des Sohnes. Michael versucht zu vermitteln.
RR »Komm jetzt, Christian. Scheiße, jetzt reiß dich zusammen. Er ist krank im Kopf, Mutter.« Als schon keiner mehr mit einer Reaktion rechnet, steht Christian abrupt auf und schlägt mit einem Messer gegen mehrere Gläser, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.
RR »Ja, entschuldigt, dass ich wieder störe. Ähm, seht ihr, 1974 kamst du, du meine Mutter, ins Büro und sahst dort deinen Sohn auf allen Vieren und deinen Mann ohne Hose. Entschuldigung, entschuldige, dass du deinen Sohn so sehen musstest. Entschuldige auch, dass dein Mann dich bat, sofort zu verschwinden, was du auch ohne Zögern gemacht hast. Entschuldige, dass du so mies und verlogen bist, dass ich hoffe, ja, du stirbst daran! Und entschuldigt, dass ihr solche Schweine seid, dass ihr so rumsitzt und ihren heuchlerischen Scheiß mitanhört.« Jetzt stürmt Michael mit zwei anderen Männern auf ihn zu, um den Bruder am Weiterreden zu hindern.
RR »Entschuldige auch, dass du deinem Mann dreißig Jahre erlaubt hast …« Weiter kommt Christian nicht, denn sie drängen ihn zur Tür und schließlich aus dem Haus hinaus. Dabei provoziert er Michael, indem er ihm auf den Kopf zusagt, er sei zwar nicht daheim gewesen, doch er wisse trotzdem, was vorgefallen sei.
RR »Du weißt es trotzdem, stimmt’s, hab’ ich recht, hä?« Das empört Michael nur noch mehr und mit roher Gewalt versucht er die grauenvolle Wahrheit zurückzudrängen – während im Saal die Festgesellschaft weiter krampfhaft bemüht ist, wieder zur Tagesordnung überzugehen. Inzwischen hat die Mutter des Jubilars an der Tafel ein Lied für Helge angestimmt. Noch einmal gelingt es Christian, in den Saal zurückzukehren.
RR »Entschuldigt, wo war ich gerade. Mama, meine treue Zeugin. 1974 kamst du ins Büro und sahst
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..Abb. 29.3 »Dieses Schwein!!« Christian schreit seine Wut heraus und wird abgeführt (© Arthaus Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
– er schreit es jetzt mit verzweifelter Wut in den Saal –
RR und sahst den steifen Schwanz meines Vaters sich an meinen Haaren reiben. Dieses Schwein!!« Schon stürzen sich Michael und die anderen erneut auf Christian.
RR »Du Schwein! … Schwein!!« brüllt der nochmals in Richtung seines Vaters (. Abb. 29.3). Wieder wird Christian abgeführt, während Helge die Situation erneut mit der Krankheit seines Sohnes zu überspielen versucht.
RR »Er ist nicht gesund. Das ist bedauerlich. Aber ich bitte dich, Mutti, sing einfach weiter.« Was die auch prompt macht, während sich der Eklat um Christian außerhalb des Hauses zuspitzt. Die Gewalt entlädt sich in brutalen Schlägen, einer nimmt sich sogar einen dicken Holzknüppel und will dem schon wehrlos am Boden liegenden Christian damit auf den Schädel schlagen, was Michael gerade noch verhindern kann. Dann fesseln sie ihn an einen Baum und verlangen von ihm, jetzt endlich Ruhe zu geben.
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Die Wahrheit bricht sich endgültig Bahn Helene ist mit ihren Nerven am Ende, als Michael an der Tafel mit den Gästen ein rassistisches Lied anstimmt, in dem sich sein Hass auf ihren farbigen Freund Bahn bricht. Sie stürmt aus dem Saal – gefolgt von Pia, die ihre Not bemerkt hat – und erleidet im Bad einen hysterischen Weinkrampf. Sie ertrage das nicht länger, Michael und Gbartokai werden einander noch umbringen schreit sie heraus und schlägt verzweifelt gegen die Wand. In ihrer Panik übergibt sie sich ins Waschbecken und bittet Pia, ihr die Tabletten aus ihrem Zimmer zu holen, weil sie entsetzliche Kopfschmerzen habe. Von da an verknüpfen sich die Handlungsstränge schicksalhaft und steuern auf den dramatischen Höhepunkt des Films zu: Pia findet in Helenes Handtasche jenes Tablettenröhrchen, in dem sie den Abschiedsbrief ihrer Schwester versteckt hat. Und sie begreift sofort, dass jetzt auch Lindas Wahrheit ans Licht kommen muss. Wieder erscheint Pia dabei im Film mit Linda und Christian fast magisch verbunden, denn während sie den Brief findet und liest, ist es Christian im Wald gelungen seine Fesseln zu lösen. Als die Kamera abrupt zu den Gästen im Saal zurückkehrt, eröffnet dort Helmut gerade die obligatorische Polonaise, die er sogleich anführt und mit den laut singenden Gästen im Schlepptau durch die Räume geleitet. Auf einmal steht Christian mit Pia neben dem Treppenabsatz und streckt Helene in der Reihe der Vorbeitanzenden den Brief von Linda entgegen:
RR »Du hast etwas verloren. Es ist nicht gut, etwas zu verlieren«, ruft er ihr zu und Helene nimmt ihm den Brief aus der Hand. Nach dem nächsten Schnitt sehen wir sie bereits im Gästezimmer hektisch ihre Sachen zusammenpacken. Sie wolle sofort abreisen, sagt sie zum Freund und zur Mutter – immer noch versucht, der Wahrheit auszuweichen. Dabei hat ihr Unbewusstes genau die richtigen Weichen zur Wahrheit gestellt. Denn eigentlich hätte sie wissen können, dass Pia den Brief in ihrem Tablettenröhrchen finden würde. Jetzt ist es Gbartokai, der Helene umstimmt und sie beide noch zu bleiben bittet – er fühle, dass sich alles noch zum Guten wenden werde. Und so kann das Schicksal seinen Lauf nehmen, anmoderiert von Helmut, der in seiner Blindheit und Identifikation mit dem Aggressor (Ferenczi, a. a. O.) anscheinend noch immer auf einen harmonischen Ausklang des Abends hofft. Es sei noch eine weitere Rede angemeldet worden:
RR »Ein Mann fordert seine Schwester auf, einen Brief für seinen Vater vorzulesen. Und so scheint es, als bekämen wir langsam ein wenig Ruhe in die Familie. Also, einen herzlichen Applaus für Helene.« Helene zieht den Brief aus dem Ausschnitt ihres Kleides – als läge ihr dessen Botschaft jetzt auch symbolisch am Herzen – und Christian kehrt gleichzeitig zurück an seinen Platz am Tisch, um mitzuerleben, was jetzt geschieht. Als Michael sich gleich wieder auf ihn stürzen will, raunt der Vater ihm zu, er solle so tun, als sei er nicht da. »Der arme Irre« muss nicht weiter beachtet werden, meint er wohl. Helene beginnt stockend zu lesen.
RR »Du … – er ist von meiner Schwester – (Helge wirkt jetzt sichtlich verstört)
RR du Liebe, die du diesen Brief findest. Du bist wahrscheinlich meine Schwester oder mein Bruder, wer auch immer, weil du gut sein musst bei dem Suchspiel. Hihi, kicher. Ich weiß, dass es für euch sehr traurig sein muss, mich in einer gefüllten Badewanne zu finden, aber es ist wahrscheinlich … es ist wahrscheinlich nicht so traurig für mich
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(Helene schluchzt bitterlich beim Lesen).
RR Ich weiß, dass ihr Geschwister fröhliche und strahlende Menschen seid und ich liebe euch und ich finde, ihr solltet nicht an mich denken.« Die Kamera zeigt Michael in Großaufnahme, und an seinem Gesichtsausdruck wird erkennbar, dass endlich auch er die grauenvolle Wahrheit begreift. Christian beißt angespannt auf seiner Kuchengabel herum, dabei wechselt sein Gesichtsausdruck zwischen irrem Grinsen und nackter Verzweiflung.
RR »Dir Christian, meinem geliebten Bruder, der schon immer bei mir war, möchte ich für alles danken. Ich möchte dich nicht in diese Sache hineinziehen, denn dazu liebe ich dich zu sehr. Und dich Helene auch. Und dich natürlich, Michael, du verrückter Kerl … Mein Vater stellt mir wieder nach, jedenfalls in meinen Träumen. Und das kann ich nicht mehr ertragen. (Schnitt auf Helge, der konsterniert in Helenes Richtung schaut. Auch Else wirkt zutiefst verstört).
RR Ich gehe jetzt weg. Und wahrscheinlich hätte ich das schon längst tun sollen. Ich weiß, dass es dein Leben verdunkeln wird, Christian. Ich hab’ versucht, dich anzurufen, aber ich weiß, dass du viel zu tun hast. Ich möchte dir nur sagen, dass du nicht traurig sein sollst. Ich glaube, im Jenseits, da gibt es Licht und Schönheit. Und darauf freue ich mich schon. Aber natürlich fürchte ich mich auch. Ich fürchte mich davor, ohne dich zu gehen. Ich werde dich immer lieben. Linda.« Während Helene sich gedankenverloren wieder hinsetzt und alle am Tisch betroffen schweigen, tritt Helge einmal mehr die Flucht nach vorn an.
RR »Danke, das war ein sehr schöner Brief. Darf ich um etwas Portwein für meine Tochter bitten, ich würde gerne mit ihr anstoßen. Ich hätte gern einen Schluck Portwein für meine Tochter.« Keine einzige Person im Saal reagiert auf seine Bitte, alle starren vor sich hin und das Personal steht regungslos daneben. Ein drittes Mal wiederholt Helge seinen Wunsch mit Nachdruck, dann flippt er aus, steht auf und wirft einen Teller in Richtung seiner Angestellten.
RR »Verdammt nochmal, etwas Respekt, sowas habe ich noch nie erlebt!« Dann schreit er aus den Tiefen seines Hasses seine ganze Verachtung in den Saal hinein.
RR »Wieso glotzt ihr so? Ist es vielleicht meine Schuld, dass ich solche unbegabten Kinder habe!« Jetzt mischt sich Christian noch ein letztes Mal ein, damit die ganze Festgesellschaft es mithören kann.
RR »Ich habe nur nie richtig verstanden, wieso du’s getan hast«, fragt er laut und deutlich in Richtung des tobenden Vaters.
RR »Ich hab’ nie verstanden, wieso du’s getan hast.« »Ihr wart nicht mehr wert«,
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schreit Helge voller Verachtung zurück und verlässt schwankend den Saal. Seine Frau folgt ihm langsam in einigem Abstand. Kurz darauf bricht Christian an der Rezeption zusammen und der Zuschauer erlebt in verwirrend montierten Bildern mit, wie er von seiner toten Schwester halluziniert. Am Ende dieser Szene erwacht er neben Pia in seinem Hotelbett, weil das Telefon laut klingelt. Helene will von ihm wissen, wo Michael abgeblieben ist, der seit längerem schon verschwunden ist.
Michaels symbolischer Vatermord Im Dunkeln torkelt Michael in Richtung des Nebengebäudes, in dem seine Eltern wohnen. Schwer betrunken, mit einer gebrochenen Stimme, schreit er schon im Näherkommen:
RR »Vater! Hier ist Michael, hier ist der kleine Michael! Ich komm jetzt!« Er wirft eine Scheibe der Eingangstür ein.
RR »Mach auf, Mann. Hier ist der Briefträger, verdammt nochmal!« Als stamme diese Formulierung aus den Tiefen des Unbewussten und sehe auch Michael sich jetzt als Überbringer der Botschaft seiner toten Schwester. In seiner verzweifelten Wut trommelt er mit der Faust gegen die Haustür und brüllt hysterisch weinend:
RR »Mach die Scheiß-Tür auf!! Mach auf!!« Der Vater öffnet, Else steht voller Angst neben ihm, doch Helge verlangt von ihr, wieder hineinzugehen und die Tür zu schließen, als ahne er, wozu sein Sohn jetzt fähig ist. Rasend vor Wut stürzt sich Michael auf den Vater und zieht ihn an den Haaren auf den Vorplatz.
RR »Hör auf damit, Michael«, ruft die Mutter aufgeregt. Und als Helge seiner Frau nochmals befiehlt,
RR »Na los, geh rein!«, entlädt sich Michaels Zorn erst recht mit brutaler Gewalt.
RR »Halt die Klappe, verdammt nochmal«, schreit er seinen Vater an und schlägt ihn erneut zu Boden.
RR »Was hab’ ich zu dir gesagt? Halt die Klappe!!« Hasserfüllt prügelt er immer wieder auf ihn ein und schleift ihn schließlich an seinen Haaren hinter sich her, weg vom Haus. Michael setzt sich auf einen Stuhl neben den bäuchlings am Boden liegenden Vater.
RR »Leg dich da hin, Mann, und bleib ja liegen! Ich will keinen Scheiß mehr hören! Du bleibst da liegen, hast du verstanden?« In seiner verheulten Wut klingt Michaels Stimme gebrochen, doch die bei ihm tief im Unbewussten verankerte Ohnmacht des gedemütigten, abgelehnten Kindes, hat endlich ihr eigentliches Ziel gefunden, den Grund für die tiefe Verzweiflung. Michaels Selbsthass, der immer wieder andere in seiner Umgebung zu Opfern machen musste, entlädt sich jetzt geradezu kathartisch in Richtung des Vaters.
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RR »Du wirst nie wieder deine Enkelkinder sehen, du wirst sie nie mehr sehen, ist das klar, ja?! Weißt du, dass diese Familie jetzt total kaputt ist, Mann?«, brüllt er seinem Vater entgegen und klingt dabei wie ein verwundetes Tier. Als Helge sich aufzusetzen versucht, wie um etwas zu sagen, stürzt Michael sich erneut auf ihn.
RR »Liegenbleiben hab’ ich gesagt!!«. Michael tritt den Vater mit voller Wucht, wobei er selbst torkelt wie ein schwer angeschlagener Boxer. Während der Zuschauer zu diesem Zeitpunkt des Films Michaels Ausbruch als Befreiung miterleben kann, kehrt die Kamera zu den anderen Geschwistern und den letzten verbliebenen Gästen zurück, die sich die Nacht mit Alkohol und Klaviermusik vertreiben. Plötzlich wankt Else in den Saal und bricht weinend zusammen, während sie immer wieder
RR »Das dürfen sie nicht, das dürfen sie nicht« vor sich hin ruft. Als spräche sie wie in Trance mit sich über ihre Kinder, die sich jetzt alle gegen den Täter gewendet haben und an ihm Selbstjustiz verüben. Christian begreift als erster die Lage und kommt in der nächsten Szene, bereits im Morgengrauen, gerade noch rechtzeitig, als Michael seine Hose öffnen will, um auf den regungslos vor ihm liegenden Vater zu urinieren. Er jagt seinen Bruder entschlossen weg und beugt sich zu Helge hinunter. Der wiederholt mit leiser, gebrochener Stimme
RR »Ihr bringt mich um … Ihr bringt mich um«. In einer letzten Totale ist das imposante Anwesen dieser scheinbar so ehrenwerten Familie im Morgengrauen zu sehen. Ein geradezu idyllisch friedvoller Anblick und das einzige Standbild des ganzen Films, nachdem die Zuschauer über neunzig Minuten lang miterlebt haben, welche Abgründe menschlicher Perversion, Ohnmacht und Gewalt sich hinter dieser schönen Fassade auftun.
Hoffnungsvoller Schlussakkord Die zum Frühstück gedeckte Tafel am nächsten Morgen. Michael, der zuerst eine Sonnenbrille trägt, scherzt mit einigen Gästen am Tisch. Als er die Brille abnimmt, ist sein Gesichtsausdruck zum ersten Mal freundlich entspannt und sein Lächeln wirkt gelöst und heiter, als er seinen Bruder begrüßt. Christian erscheint noch immer sehr ernst und irgendwie abwesend, doch im nächsten Moment wird klar, was ihn so beschäftigt. Er spricht Pia an, während die ihm gerade Orangensaft einschenkt, und als sie bemerkt, dass er ihr offensichtlich etwas sagen will, beugt sie sich zu ihm hinunter. Christian fasst sich ein Herz und fragt Pia jetzt ganz direkt:
RR »Hast du Lust mit mir nach Paris zu kommen?« Im ursprünglichen Drehbuch fragt er sie sogar »wollen wir heiraten«. Doch dass Christian sie mit in seine neue Heimat nehmen möchte, kommt für Pia einem Heiratsantrag gleich. Sie kann ihr Glück kaum fassen und strahlt ihn an:
RR »Gern!« Michael hat es mitbekommen und wirft seinem Bruder mit verschmitztem Lächeln ein Stück Brot an den Kopf.
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RR »Seit wann baggerst du denn Serviererinnen an … was soll ’n das werden, Mann?« Und zum ersten Mal in diesem Film strahlt auch Christian glücklich vor sich hin – und wohl jeder Zuschauer freut sich mit ihnen und kann sich auch ein Lächeln nicht verkneifen. Plötzlich kommen auch die Eltern in den Saal und begrüßen die anderen Gäste. Die scheinen ähnlich irritiert wie die Zuschauer im Kino – als hätte keiner damit gerechnet, dass die beiden sich nach dem gestrigen Eklat noch einmal zurückzukehren trauen. Als müsste sich die Abwehr der Verleugnung (Freud 1984) noch einmal bewähren und beide so tun lassen, als ob nichts geschehen wäre. Doch der Point of no Return ist definitiv erreicht und das Finale, zu dem es jetzt kommt, hat letztlich für alle, die bei diesem »Fest« in den alltäglichen Abgrund dieses Familienhorrors geblickt haben – und womöglich ihre eigenen Abgründe und Traumata darin gespiegelt fanden – eine kathartische Kraft. Wieder ist es jetzt Michael, der seit je gedemütigte »Idiot der Familie«, der mit seiner Entschlossenheit den befreienden Schlussakkord setzt. Als die ältere Enkeltochter mit einem Buch am anderen Ende der Tafel zu Helge geht und ihren Opa bittet, ihr eine Geschichte vorzulesen – und während der das Kind zu sich auf den Schoß hebt –, schreitet Michael sofort energisch ein:
RR »Dorthe, komm her zu Papa … komm her!« Und durch diese heftige Reaktion seines Sohnes, der ihn vor wenigen Stunden noch fast erschlagen hätte, scheinen jetzt auch bei Helge die Abwehrsysteme endgültig zusammenzubrechen.
RR »Geh zu Papa, der liest dir sicher etwas vor«, sagt er zur Enkelin wie mit letzter Kraft. Dann stöhnt er kaum hörbar auf und schlägt gegen das Glas vor ihm, als habe er diesen Moment auf sich zukommen sehen und müsse jetzt die Gelegenheit ergreifen. Mühsam erhebt er sich von seinem Platz.
RR »Ich weiß, es ist ein unpassender Moment, so mitten in eurem Frühstück. Ich werde versuchen, mich kurzzufassen. Ich wollte nur sagen, dass wenn ihr gleich zusammenpackt und dann nach Hause fahrt, dann werde ich euch nie wiedersehen. Ich verstehe, dass das, was ich meinen Kindern angetan habe, unverzeihlich ist, und ich weiß auch, dass alle, die an diesem Tisch sitzen, vor allem meine Kinder, mich hassen werden, für den Rest meines Lebens.« Während er mit schleppender Stimme redet, zeigt die Kamera nacheinander die Gesichter der Kinder in Großaufnahme – Helene, Michael und Christian –, in denen sich Verachtung und Verzweiflung mischen. Zuletzt ist das Objektiv auf Helge gerichtet, der sich in Selbstmitleid flüchtet.
RR »Aber trotzdem möchte ich euch sagen, dass ihr meine Kinder bleibt. Ich habe euch geliebt und ich liebe euch noch, wo immer ihr auch seid und was immer ihr macht.« Else hört mit erstarrter Miene zu, als begreife sie erst jetzt das ganze Ausmaß ihrer entsetzlichen Mitschuld.
RR »Dir, Christian, dir möchte ich sagen (Helge ringt mit den Tränen), du hast gut gekämpft, mein Junge, ja. Danke.«
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Doch nicht dem Vater steht das Schlusswort zu. Als alle betreten schweigen und Helge sich wieder hingesetzt hat, erhebt sich Michael, der jetzt seine Augen erneut hinter der Sonnenbrille verbirgt, und geht auf die andere Seite des Tisches zu. Hier nimmt er die Brille wieder ab und beugt sich auf Augenhöhe zu seinem jetzt verängstigt wirkenden Vater.
RR »Sehr gut, Papa, gute Rede, gelungen«. Michael bleibt souverän beherrscht und holt sich in diesem Moment seine Würde zurück. Als Geste seiner Verachtung genügt es ihm, sich die Sonnenbrille wieder aufzusetzen.
RR »Aber ich glaube, du musst jetzt gehen, damit wir essen können.« Helge gehorcht ihm aufs Wort. Jetzt ist der Vater in der Lage des gedemütigten, verachteten Sohnes, als den er Michael all die Jahre entwürdigt hat. Als Helge seine Frau anspricht, um sie zum Mitgehen zu bewegen, wendet sich auch Else von ihm ab. Sie bleibt am Tisch sitzen, als wolle sie sich dieses eine Mal mit ihren Kindern solidarisieren. Helge schleicht wie ein geprügelter Hund aus dem Saal und in der letzten Kameraeinstellung sehen wir das Gesicht von Christian in Großaufnahme. Wie sein Mut ein zutiefst verzweifelter gewesen ist, mit dem er den Suizid seiner Schwester in dessen tragischer Wahrheit bezeugen und ihre Existenz würdigen wollte, kann auch seine Genugtuung über dieses Ende nur eine äußerst brüchige sein. Was Eltern an ihren Kindern verbrechen, bleibt eine lebenslange Wunde in deren Körpern und Seelen, die niemals ungeschehen zu machen ist. Doch womöglich kann das Leiden gelindert und die Person befreit werden zur Würde einer eigenständigen Existenz: die sich Wahlverwandte sucht und sogar zu finden vermag, mit denen für kostbare Augenblicke eine vertrauensvolle Nähe gelebt werden kann – im Bewusstsein des Erlittenen und im Erleben einer aufrichtigen Liebe.
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Originaltitel
Festen
Erscheinungsjahr
1997
Land
Dänemark
Drehbuch
Thomas Vinterberg
Regie
Thomas Vinterberg
Hauptdarsteller
Ulrich Thomsen, Henning Moritzen, Thomas Bo Larsen, Birthe Neumann, Paprika Steen, Trine Dyrholm, Helle Dolleris
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Heinz Laubreuter
Sometimes they don’t come back Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Randy und sein Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Überlebenskampf und Sprung in den Abgrund . . . . . . . 462 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_30
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Filmplakat The Wrestler – Ruhm, Liebe, Schmerz. (© Kinowelt Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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The Wrestler – Ruhm, Liebe, Schmerz (2008) Heinz Laubreuter
Handlung
Ein Wrestling-Kampf vor tausenden von Zuschauern in der Halle und Millionen live an ihren Fernsehgeräten. Spektakuläres Showbusiness. Begeisterte Zuschauer. Die Darsteller im Ring erschöpft und blutend, genießen ihren Ruhm im Milieu dieser Subkultur. So beginnt Darren Aronofskys The Wrestler. Nach zwei Minuten ein Schnitt und die Einblendung: 20 Jahre später. Die nun einsetzende Handlung erzählt dem Zuseher was aus dem zuvor gezeigten Sieger wurde (. Abb. 30.1, Filmplakat). In der Folge porträtiert der Film den damaligen Helden – sein Name, eigentlich Künstlername ist »Randy The Ram« – als Deprivierten. Vereinsamt, fast verarmt. Er bewegt sich nach wie vor im Wrestling-Milieu. Allerdings kämpft er nur mehr in kleinen Hallen, mit wenigen Zuschauern, ein paar Dollar Gage. Seine Gegner sind allesamt jünger, er begegnet ihnen wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit, das seine Kontrahenten noch als Jugendliche vom Fernsehen kennen (. Abb. 30.2). Wrestler – Catcher nannte man sie früher auch – stehen im Ring. Der Ring steht für den sportlichen Aspekt. Tatsächlich geht es ja auch um Training, Körperkraft und Körperbeherrschung. Dieser Ring ist auch eine Bühne. Es geht um Show, Darstellung, Aufführung. Die Zuschauer in der realen Welt des Wrestlings gehören vornehmlich dem an, was man heute – vor allem im angloamerikanischen Raum – weiße Arbeiterklasse nennt. Ein Drama in einem solchen Milieu spielen zu lassen, stellt eine künstlerische Herausforderung dar, da eine nicht unerhebliche Gefahr besteht, dieses Milieu lediglich bloßzustellen und vorzuführen.1 Das Skript scheint film-amerikanisch simpel: winner, crash, challenge, comeback, win again or lose. Die letzte Szene des Filmes, die den Kampf zwischen »Randy The Ram« und seinem Gegner »The Ayatollah« zeigt, ein Wrestling-Match, welches anlässlich des 20. Jahrestages des damals spektakulären Matches dieser beiden Kontrahenten veranstaltet wird, lässt offen ob Randy überlebt oder nicht. Er überlebt nicht, so werden wohl die meisten die Geschichte für sich vervollständigen. Dass es sich bei diesem Nichtüberleben um einen verdeckten Suizid handeln könnte – ist interessanterweise in kaum einer Filmkritik zu lesen, jedoch die Annahme der wahrscheinlich wichtigsten Studie zum Thema Suizid im Film (vgl. Stack und Bowman 2011). Filmkritiken sprechen eher von einem Scheitern, einem vergeblichen Kampf des Protagonisten, sein Leben wieder zu meistern.
Randy und sein Körper Der Film porträtiert einige Wochen des Protagonisten. Man erfährt nicht, welche Umstände den einstigen Wrestling-Star in die jetzige Situation brachten: die Miete kann nicht bezahlt werden, er wohnt in einem Wohnwagen. Seit vielen Jahren ist der Kontakt zu seiner Tochter Stephanie abgebrochen. Freunde scheinen nicht da zu sein. Einer, der gegen den Rest der Welt ankämpft – dieses so häufige Motiv legt auch dieser Film nahe. The Wrestler bietet kaum einen Erklärungs- oder Interpretationsrahmen für den Verlauf dieses Lebens an. Auch aus den Dialogen lassen sich kaum Erklärungen für die Tristesse dieses Lebens ableiten. Man erfährt nichts über die »persönliche Krankheitstheorie« des Protagonisten. Die Fokussierung des Films auf Lebenskampf und Resignation – einige Wochen umfasst die Zeitspanne der Erzählung – wird 1 Die Vorführung der (Un-)Kulturen der Prolls – wie die heute umgangssprachlich oft verwendete pejorative Wendung des Begriffs Proletariat lautet – ist ein mediales Phänomen geworden (vgl. Jones 2012).
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..Abb. 30.2 Der Ring, die Bühne: eine von der Menge, also anonym, gespendete Anerkennung. »Hier gehöre ich hin«, sagt und fühlt Randy The Ram (Mickey Rourke). Hier ist – bisweilen der einzige – Ort der Anerkennung. (© Kinowelt Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
filmtechnisch dadurch unterstützt, dass der Streifen über weite Strecken an einen Dokumentarfilm erinnert. Die Person wird, gelegentlich wie von einer Handkamera, in ihrem Alltag begleitet. Dieser Alltag besteht einerseits aus wenig erfolgreichen Bemühungen, mit einem Job etwas Geld zu verdienen. Als Lagerarbeiter, als Verkäufer an der Wurst-Theke eines Supermarkts. Neben Job oder Jobsuche besteht der Alltag von Randy vor allem in der Beschäftigung mit dem eigenen Körper. Der Körper, das war einst sein großes Kapital als Wrestling-Star. Der eigene Körper, so scheint es, ist der wesentliche Bezugspunkt des Wrestlers in diesen Wochen. Dem eigenen Körper gilt die größte Aufmerksamkeit und Hinwendung. Training, Krafttraining vor allem, beherrschen den Tagesablauf. Der Körper wird trainiert, aber auch malträtiert. Das Spüren von Schmerzen und Erschöpfung, so vermitteln es die Bilder, gibt eine große Selbstzufriedenheit. Nur nach einem harten Training schläft er gut ein. Man sieht ihn, wenn er sich auf einen Kampf vorbereitet. Mit viel Aufwand und Geduld werden Arme und Beine zum Schutz verbunden. Man könnte auch sagen: eingewickelt, um eine Assoziation zu einem symbolischen Verständnis nahe zu legen – wie eine Mutter ein Kleinkind einwickelt, um es zu schützen, so wickelt sich Randy ein. Der Körper wird eingecremt in einem Ausmaß, wie es Männer sonst nicht tun. Jedes Körperhaar wird entfernt. Aber auch das aggressive Gegenteil, die Ausbeutung und Zerrstörung des Körpers ist der Fall: sorgfältig wird eine Rasierklinge in der Mitte gebrochen und unter dem Verband des Unterarms versteckt. Mit dieser halbierten Klinge wird sich der Wrestler später an der Stirn ritzen, schließlich soll ja Blut fließen. Dem Publikum soll damit eine Verletzung aus dem Kampf vorgetäuscht werden. Und, wie man weiß, das Publikum seinerseits weiß um die Vortäuschung und gerät dennoch in Erregung und Begeisterung. Im Kampf greifen er und sein Gegenüber zu einem Tacker – wie ihn Handwerker verwenden – und verletzen damit ihr Gesicht.
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..Abb. 30.3 Der geschundene, verletzte Körper: von außen ein künstlich erregtes Mitgefühl. Im Überwinden des Schmerzes immer wieder ein Triumph-Gefühl. (© Kinowelt Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Nach dem Kampf braucht es Tage, um all die Wunden und Verletzungen zu pflegen. Die Verbände werden gewechselt, mit schmerzverzerrtem Gesicht bei gleichzeitiger Hingabe an diese Art von »Selbstfürsorge«.2 Der Körper wird eingecremt und geölt. Schließlich der Gebrauch oder Missbrauch von Medikamenten und Substanzen. Mehrmals täglich werden Substanzen eingenommen. Für den Muskelaufbau, gegen die Schmerzen, zum Einschlafen (. Abb. 30.3). Diese extreme Hinwendung zum Körper – in einer selbstdestruktiven Weise ebenso wie in einer selbstfürsorglichen – geht im Falle dieses Wrestlers einher mit einer gewissen sprachlichen oder kommunikativen Reduziertheit. So als ob der auftrainierte und aufgepumpte Körper das wesentliche Medium der Kommunikation ist. Zunächst zur sozialen Abgrenzung: Randy lässt die Menschen aus seinem Arbeitsumfeld, die einer gewöhnlichen Tätigkeit als Lagerarbeiter oder Verkäufer nachgehen, spüren, dass er nicht zu ihnen gehört und nicht gehören will. Er verliert diese Jobs auch regelmäßig oder schmeißt sie hin. Auf der anderen Seite wird die Zugehörigkeit zur Ring-Community dargestellt und suggeriert. Innerhalb der Wrestling-Community, so erscheint es, ist es vor allem der Umgang mit Schmerz und indirekter Selbstverletzung (sich der Verletzung durch den Gegner auszusetzen), der die Zusammengehörigkeit stiftet. Aus dem Spektakel des Schmerzes, der Überwindung oder dem Standhalten des
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Siehe dazu die Überlegungen von Hirsch (2018) zu »Selbstbeschädigung als Selbstfürsorge« (S. 30 f.).
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freiwillig gesuchten Schmerzes, gewinnen der Wrestler und der Zuseher, so scheint es, auf eine pervertierte Art große Befriedigung.3 Diese Hinwendung zum Körper und seinen Schmerzen ist von ganz anderer Art als die Körperbezogenheit wie sie an der Hypochondrie beobachtet werden kann. Bei der hypochondrischen Hinwendung zum Körper stehen Ängstlichkeit und negative Fantasien im Vordergrund. Die Fremdheit des Leibes – und der Leib ist dem Bewusstsein gegenüber fremd – befördert Angst, gerade indem diese Andersheit deutlich wahrgenommen wird. Im Falle des Wrestlers ist der Kult des Körpers mit Omnipotenzfantasien verbunden. Die Fremdheit des Körpers wird von den Catchern genutzt für eine Art von dissoziativer Objektivierung, nach dem Muster: Im Falle von Schmerzen habe nicht ich diese Schmerzen, sondern der Körper. Dieses radikale Verständnis des Körpers als Objekt – und der Körper ist ja immer auch Objekt – ermöglicht die ausgeprägten Formen der Inszenierung des Körpers. Und auch die starke Besetzung dieses Objekts. Sichtbar wird das an Erscheinungen wie: Muskelaufbau, Tattoo, Narben, rasierten oder überlangen Haaren. Alle diese Merkmale der Körperinszenierung trägt auch »Randy The Ram«, die Hauptfigur des Filmes. Im Zusammenhang mit Hypochondrie hat Wolfgang Blankenburg (2011) formuliert: »Der Leib wird als Partner missbraucht, wenn ein Mensch den Leib an die Stelle eines mitmenschlichen Lebenspartners oder ganz generell an die Stelle einer Begegnung mit der Welt überhaupt setzt.« (S. 209) Obwohl die omnipotente Körperbesetzung im Falle des Wrestlers in einem radikalen Gegensatz zur hypochondrischen Leibfixierung steht, die sich durch Verletzlichkeit und Hinfälligkeit auszeichnet, lässt sich Blankenburgs Formulierung als einen Kommentar lesen, der auch auf den Wrestler passen könnte. Randy, der sich offensichtlich schwer tut, auf andere einzulassen, ersetzt eine wirkliche Partnerschaft durch seinen Körperbezug. Wollte man psychotherapeutische Begrifflichkeiten anwenden, könnte man sagen: Der Film zeigt uns eine Art von narzisstischem Rückzug. Der Ort, an den sich das Selbst zurückzieht, ist der eigene Körper. Der eigene Körper, der ja immer auch fremd ist. Gerade weil der Körper immer eigen und fremd ist, kann er auch Qualitäten eines Selbstobjekts erfüllen. Und kann damit eine Rolle einnehmen in den Versuchen von narzisstischer Selbstregulation. Und eine Variante solche Regulationsversuche ist eben auch der Rückzug.
Überlebenskampf und Sprung in den Abgrund Randy wohnt in einem Wohnwagen. Er fährt oft ziellos mit dem Auto herum. Er nimmt allerlei Substanzen zu sich. Gelegentlich trinkt er zu viel. In gewöhnlichen Alltagssituationen mit fremden Menschen agiert er gereizt, abweisend oder abwesend. Er wirkt ständig unruhig und die sozialen Kontakte, die er hat, sind sehr eingeschränkt. Sie beschränken sich auf das Zusammenkommen mit anderen Wrestlern und auf Kontakte mit einer Striptease-Tänzerin, in die er sich unerwidert verliebt. Wollte man es klinisch formulieren, träfe hier vielleicht eine Formulierung von Henseler (2000) zu: dass nämlich bestimmte als dissozial geltende Verhaltensweisen (Fortlaufen, Streunen etc.), also Verwahrlosungssymptome, relativ häufig mit Suizidalität gekoppelt sind, zum Teil als Suizidäquivalente bekannt sind (S. 179). Zur Sprache kommen Gedanken oder Fantasien des Selbstmordes nie. Ohnedies ist die Hauptfigur als wortkarger oder spracharmer Mensch gezeichnet. Darin steckt ein sozial bedingter Habitus und das Phänomen geringer sprachlicher Ausdrucksfähigkeit, wie es oft bei Menschen anzutreffen ist, die
3 Im klinischen Kontext von Selbstverletzung formuliert Kernberg (1978): »Bei manchen Patienten mit Selbstbeschädigungstendenzen, die sich von Spannungen jeglicher Art durch selbst zugefügte Schmerzen zu entlasten versuchen, beobachtet man manchmal eine wahre Lust und einen enormen Stolz über diese Macht der Selbstdestruktion, eine Art von Allmachtsgefühl und Stolz darüber, dass man nicht auf eine Befriedigung durch andere angewiesen ist« (S. 149).
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eine wie auch immer geartete Neigung zur Somatisierung oder Somazentrierung haben. Sprechend ist einzig der Körper. In der Mitte des Films spricht der Körper des Wrestlers sehr heftig. Nach einem Kampf – in einer dieser kleinen schäbigen Hallen mit wenig Zuschauern und ein paar Dollar Gage, deprimierend für den einstigen Star – bricht er in der Kabine zusammen. Im Krankenhaus wird ein Herzinfarkt diagnostiziert. Der behandelnde Arzt ist deutlich:
RR »Sie wären beinahe gestorben. Das nächste Mal haben Sie vielleicht nicht so viel Glück. Sie müssen mit diesen körperlichen Anstrengungen aufhören.« Seine Reaktion? Gegen den ärztlichen Rat verlässt er vorzeitig das Krankenhaus. Schon am zweiten Tag danach beginnt er wieder mit anstrengendem Training. Vom Ende her gesehen scheint die Beurteilung hier klar und einfach. Aber in der Situation stehend, ist die Sache weniger klar und einfach. Nachgeben oder überwinden? In harmloseren Situationen haben die meisten von uns schon einmal vor dieser Frage gestanden. Das Überwinden ist ja immer auch ein Risiko-in-Kauf-nehmen. Es erscheint allerdings selten als ein bewusstes Risiko auf die große Gefahr hin. Denn zuvor wirken Mechanismen der Verharmlosung, des Abspaltens und der Leugnung. Wofür solches dienlich sein kann und soll, zeigt der Film sehr eindrücklich. Ram hat die Möglichkeit erhalten zur »Wiederauflage« jenes großen Kampfes von vor zwanzig Jahren. Der Körper – sosehr er Partner und Zentrum der Hinwendung sein mag – wird aufs Neue geschunden, gequält, mit Training und Chemie aufgepumpt. Mehr als die Physis treibt ihn die Psyche an, das Wiederlangen dieser besonderen Art von Achtung und Selbstachtung, die ihm der Wrestling-Sport oder die Wrestling-Show ermöglicht. Hier könnte man einen Grundzug von suizidäquivalentem Verhalten feststellen. Die physische Existenz wird – tendenziell, der Möglichkeit nach – einer jeweils seltsamen Art der psychischen Existenzerhaltung geopfert. Die physische Integrität – beim verletzungsreichen Wrestling ganz augenfällig – wird aufs Spiel gesetzt zugunsten einer seelischen Integrität.4 Wenige Wochen bereitet er sich auf die »Neuauflage« des Kampfes vor. Nach dem zuvor erlittenen Herzinfarkt muss die Vorbereitung unvermeidlich eine unvollständige, der zu erwartenden körperlichen Belastung nicht angemessene bleiben. Cassidy, eine Striptease-Tänzerin, um die er sich bemüht und die sich ihm langsam zuwendet, spricht ihn auf die Gefahr des Kampfes an. Einmal fragt sie nach seinen Verletzungen. Er zeigt ihr die Narben. Cassidy:
RR »Tut es weh?« Randy:
RR »Nein. Ich meine, es tut nur weh, wenn du atmest. Aber wenn du eine tobende Menge hast, dann steckst du das einfach weg.« Eine solche tobende Menge erwartet ihn schließlich beim Kampf. Mit dem Gegner ist die Dramaturgie des Kampfes abgesprochen. Das Drama allerdings, so zeigt es der Film, indem er Ram immer wieder auf seine offenbar schmerzende Brust greifen lässt, liegt zunächst in seinem – mittlerweile kranken – Körper. Überraschend ist Cassidy zum Kampf erschienen. Noch einmal will sie ihn überreden, nicht in den Ring zu steigen. Erwartungsgemäß erfolglos.
4 In der klinischen Praxis hört man manchmal Sätze wie: »Mir kann nichts passieren, ich habe schon meine Medikamente auf die Seite gelegt für den Fall.« Dieses »nichts passieren« bezieht sich eben nicht auf die physische Existenz, sondern auf etwas, das mit »psychischer Desintegration« oder »seelischem Zerfall oder Auseinanderfallen« bezeichnet werden kann.
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..Abb. 30.4 Wollte man diese Szene bildungsbürgerlich aufnehmen: »Die letzte Wahl steht auch dem Schwächsten offen / Ein Sprung von dieser Brücke macht mich frei«, sagt Gertrud in Wilhelm Tell. Als einer der Schwächsten wird Ram in seinem Milieu wohl nicht gesehen. Bei diesem, seinem letzten Sprung scheint Ram allerdings eher unfrei und im Bewusstsein eingeengt. (© Kinowelt Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Randy:
RR »Ich muss. Dort gehöre ich hin.« Dann betritt er die Halle aus der man die jubelnde Menge hört. Der Kampfring, eine Bühne mit ihrer bedeutsamen Metaphorik, ist eine bildliche Verstärkung und Unterstützung eines solchen Dramas. Der Gegner merkt bald, dass Ram körperlich angeschlagen ist. Er deutet ihm, die Dramaturgie zu ändern und den Kampf vorzeitig zu beenden. Ram winkt ab. Schließlich bereitet er sich auf jene Aktion vor, die ihn vor zwanzig Jahren berühmt gemacht hat. Er steigt auf die Seile, schon schwankend. Sein Gesichtsausdruck, zuvor noch von Schmerzen gezeichnet, ändert sich merklich. Das Gesicht bekommt etwas Entspanntes, pathetisch formuliert sogar etwas Verklärtes. Er setzt zu einem Sprung an. Als Filmzuschauer stellt man sich unweigerlich die Frage: überlebt er diesen Sprung oder wird er einen zweiten, tödlichen Herzinfarkt erleiden? Ram, so muss man annehmen, ist sich seiner Tat bewusst. Indem er aktiv ist, die Action des Sprungs setzt, überlässt er es gleichsam passiv seinem Körper, seinem Herzen und seinen Gefäßen über den Ausgang seines Sprunges zu entscheiden. Sein erwachsenes Leben lang war sein Körper sein Kommunikationsmedium. Hier wird der Körper – man könnte fast sagen – vergöttlicht, indem er ihm die Entscheidung über Leben und Tod überlässt (. Abb. 30.4). Die Schluss-Szene lässt den Ausgang scheinbar offen, da nicht explizit gezeigt wird, ob Randy tot ist. Ram setzt zum Sprung an, hebt ab und der Film blendet ins Schwarze, Dunkle ab, was nahelegt, dass Randys verdeckter Suizidversuch »erfolgreich« war.
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Für die Hinterbliebenen ist ein Selbstmord immer ein tragisches Ereignis. Neben Stephanie, Randys Tochter, mit der jeder Kontakt abgebrochen ist, ist es vor allem die Stripperin Cassidy, die als Angehörige gelten könnte. Sie ist es auch, die im Film als diejenige gezeigt wird, die im letzten Kampf mit dem Wrestler mitleidet. Cassidy ist – für Ram unerwartet – zu diesem Kampf erschienen. Während er in den Ring steigt, schwenkt die Kamera zum Seiteneingang. Dort steht sie, halb verdeckt. Was auch immer ihre Gefühle und Gedanken sind, es ist eine Art von Teilnahme. Cassidys Anteilnahme hat jedoch wenig Einfluss auf die letzte Handlung des Wrestlers. Beim Filmzuschauer können hier Wunschgedanken und Fantasien auftauchen, die in die Richtung gehen, dass hier doch noch etwas möglich gewesen wäre. Cassidys Interesse an seiner Person und vielleicht noch anderes hätten ihn vor seinem Sprung in den Abgrund zurückhalten müssen. Was Bertolt Brecht (1898–1956) angesichts des Selbstmords von Walter Benjamin einmal dichterisch sprach, müsste für den Wrestler und viele andere gelten, die ihrem Leben selbst ein Ende setzen (Becker 2017): selbst der wechsel der jahreszeiten rechtzeitig erinnert hätte ihn zurückhalten müssen der anblick neuer gesichter und alter auch neuer gedanken heraufkunft und neuer schwierigkeiten
Literatur Becker P (2017) Brecht B (1898–1956). https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/frankfurter-anthologie/frankfurteranthologie-w-b-von-bertolt-brecht-15342379.html. Zugegriffen: 10. Sept. 2019 Blankenburg W (2011) Der Leib als Partner. Zit. Nach: Hirsch, M. In: Der eigene Körper als Objekt. Psychosozial Verlag, Gießen Henseler H (2000) Narzisstische Krisen. Zur Psychodynamik des Selbstmords. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden Hirsch M (2018) Körperdissoziationen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Jones O (2012) Proll. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse. Essay. VAT Verlag André Thiele, Mainz Kernberg OF (1978) Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus. Suhrkamp, Frankfurt am Main Stack S, Bowman B (2011) Suicide movies. Social patterns 1900–2009. Hogrefe, Cambridge
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Sometimes they don’t come back
Originaltitel
The Wrestler – Ruhm, Liebe, Schmerz
Erscheinungsjahr
2008
Land
USA
Drehbuch
Robert D. Siegel
Regie
Darren Aronofsky
Hauptdarsteller
Mickey Rourke, Marisa Tomei, Evan Rachel Wood
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher und englischer Sprache erhältlich
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Günther Wintersteller
„Die Hölle, das sind die anderen“ (Sartre) Der Plot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Mauvaise foi und Flucht in den Alkohol . . . . . . . . . . . . 479 Der Tod als Rückkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_31
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Filmplakat Das Irrlicht. (© RKO Radio Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Das Irrlicht (1963) Günther Wintersteller
Le feu follét (imdb.com 2018) gilt als eines der großen Meisterwerke des bedeutenden französischen Nouvelle-Vague-Regisseurs Louis Malle. Dem Regisseur gelingt es, uns an der tiefen Tragik eines zum Selbstmord entschlossenen Mannes zu beteiligen. Subtile Dialoge und schonungslose Gesellschaftskritik verhelfen dieser modernen Tragödie zu einer hohen szenischen Dichte, die nur selten im Kino erreicht wurde. Die Musik von Erik Satie bringt ein retardierendes Moment herein und lässt die einzelnen Szenen überdeutlich hervortreten. Der Film erzählt von den letzten Stunden eines Lebens, in dem es allen Überfluss der Dinge und Ideen gibt, in dessen tiefsten Inneren aber eine schreckliche Einsamkeit und Abgetrenntheit von der Welt und den anderen Menschen vorherrscht. Es ist nur ein einziger Tag im Leben des Protagonisten, an dem uns Louis Malle teilhaben lässt. Wir wissen kaum etwas über die biografischen Hintergründe. Woher kommt er? Wie war sein bisheriges Leben? Was ließ den tragischen Helden zum Irrlicht werden? Feu follét ist wörtlich mit »Narrenfeuer« ins Deutsche zu übersetzen. Es verweist also auf das Aberwitzige, aber auch Wahnsinnige des herumirrenden, haltlosen Lichts. Es ist jedoch ebenso hell, leuchtet Seele und Gesellschaft aus. Alain ist ein Mann von klarem Verstand, ein heller Kopf – vermutlich ein Schriftsteller, wie sein literarisches Vorbild in Pierre Eugène Drieu la Rochelles gleichnamigen Roman. Dieser wiederum verarbeitete mit diesem Buch den Suizid seines Schriftstellerkollegen und Freundes, Jacques Rigaut (salmoxisbote.de 2019, Rigaut)(. Abb. 31.1, Filmplakat).
Der Plot Unmögliches Zueinanderfinden im Hotelzimmer Die Eingangsszene spielt in einem Pariser Vorstadthotel. Wir sehen ein Paar nach der sexuellen Vereinigung, ein kaum durchschaubares Mienenspiel, dann wieder totenmaskenhafte Gesichtszüge. Eine Erzählstimme aus dem Off teilt uns mit, dass Alain, der Protagonist verbittert sei und nicht wisse, was Lydia, die Frau neben ihm im Bett, von ihm wolle. Sie würde ihm entgleiten, wie eine Natter zwischen Kieselsteinen. Sie aber versichert ihm, dass sie befriedigt sei. Alain erwidert, dass er auf sich selbst böse wäre. Es wird zunächst nicht gleich klar was er damit meint. Vielleicht weil er seine Ehefrau betrogen hat, oder weil er beim Akt nicht so potent war, wie erhofft? Oder beides – oder etwas völlig anderes? Lydia sagt ihm in tröstlichem Tonfall, dass er ihr armer Alain wäre, der übel dran sei. Dann fordert sie ihn auf, er solle sie anlächeln, sie wäre zufrieden, es wäre sehr gut gewesen. Wir erfahren auch, dass sie eine Freundin von Dorothy, Alains Ehefrau, ist. Lydia wolle ihr schreiben, dass er vollständig geheilt sei und auch, dass sie Dorothy fragen werde, was diese jetzt mit Alain vorhabe. Die Beziehung zwischen Dorothy und Alain dürfte gescheitert sein. Alain hat wohl aus den falschen Gründen die falsche Frau geheiratet. Auf die Frage, ob er Dorothy immer noch liebe, antwortet er, er wisse es nicht. Lydia will von ihm hören, ob er denn mit Dorothy schon einmal über Scheidung gesprochen hätte? Dorothy lasse ihm zu viele Freiheiten, außerdem sei sie nicht reich genug für ihn. Lydia gesteht ihm, dass sie ihn immer schon zum Mann hätte haben wollen. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass sie weiß, was gut für Alain ist und ist entschlossen, ihn zu ihrem Geliebten zu machen.
RR »Du brauchst eine Frau, die dich fest an die Hand nimmt, sonst bist du nur traurig und du stellst alles mögliche an.«
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„Die Hölle, das sind die anderen“ (Sartre)
..Abb. 31.2 Lydia will Alain zu sich nehmen. (© RKO Radio Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Alain bittet Lydia, noch nicht zu gehen – er brauche sie. Sie aber sagt, dass sie wegmüsse. Man benötige sie in New York. Mit einem etwas verlegenen Lachen meint sie, dass sie eine richtige Geschäftsfrau geworden sei. Beim Verlassen der Unterkunft gibt Alain dem Zimmermädchen anstelle von Trinkgeld seine Armbanduhr. Er wird sie nicht mehr brauchen. An dem Punkt, wo er ein neues Leben mit einer anderen Frau beginnen könnte, ist vielleicht der Entschluss gefällt worden, sich zu töten. Lydia macht deutlich, dass sie mit ihm zusammenleben will. Doch in Alain hat sich wohl die Gewissheit manifestiert, dass auch dieses neue Leben mit Lydia wieder so schal und leer wäre, wie das vergangene. Sie spricht davon, dass sie ihn auf eine ganz besondere Weise liebe. In der Art wie sie es sagt, klingt es jedoch so, als wäre Alain ein schöner Gegenstand, der seinen Eigentümer wechseln soll – von Dorothy zu Lydia. Alains und Lydias Konversation bleibt an der Oberfläche, ist weitgehend von Konvention und Klischee bestimmt, obwohl der Inhalt Intimität nahelegen würde.
Maligne Regression im Sanatorium Alain verlässt Lydia an der Türschwelle zum Sanatorium von Dr. La Barbinais, in dem er die letzten Monate verbracht hatte, um eine Entziehungskur zu machen (. Abb. 31.2). Es bleibt offen, ob er dem Verlassenwerden durch sie zuvorkommen will, indem er die Aussichtslosigkeit einer weiteren Beziehung bekennt, oder ob er zuvor nur den Bedürftigen gemimt hat. Im Sanatorium begegnen ihm Frauen, die sich mütterlich um ihn sorgen und nach seinem Befinden erkundigen. Dann gibt es dort auch Männer, die mit philosophischen Streitgesprächen über Glaube und Erkenntnis beschäftigt sind und kein Auge dafür zu haben scheinen, was sich um sie herum abspielt. Wir erfahren auch, dass die Therapie hauptsächlich darin bestehe, soviel zu trinken, bis man »fast krepiere«.
Das Irrlicht (1963)
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Alain bezeichnet seine Mitpatienten als Familie, seine eigenen Eltern würden in der Provinz leben. Sie wären alt, er kenne sie kaum noch. Diese knappe Bemerkung zu seiner Familie, im Übrigen die einzige im ganzen Film, lässt aufhorchen. Er scheint seiner Familie jedenfalls entfremdet und hinsichtlich seiner Herkunft entwurzelt. Vielleicht muss er ihre Bedeutung in seinem Leben aber auch herunterspielen, da sie nach wie vor in seinem Inneren eine zu große Rolle spielen. Nach seinem Streifzug durch das Haus, zieht er sich in sein Zimmer zurück. Die Gnossienne Nr. 1 von Satie erklingt im Hintergrund. Die fließende, rauschhafte Melancholie seiner Musik, taucht immer wieder leitmotivisch im Film auf. Satie selbst frönte ein Leben lang exzessiv dem Alkoholkonsum, an dessen Folgen er schließlich auch verstarb. Alains Leben hat längst seine Klangfülle, seine Farbigkeit verloren, ist monochrom geworden. Der Protagonist geht zu seinem Schreibtisch und macht sich daran, einen Brief zu schreiben. Es will ihm nicht gelingen. Alain schwankt zwischen einem harten, unerbittlichen und einem nahezu versöhnlichen Abschiedsbrief an seine Ehefrau Dorothy. Er verwirft eine Fassung nach der anderen. Schließlich bringt er nur noch Kritzeleien zustande. Nachdem er die Entwürfe allesamt zerknüllt und weggeworfen hat, hantiert er mit einer Pistole, welche er zuvor aus einem eleganten Damenhalstuch ausgewickelt hat. Alain wird durch ein Hupen auf der Straße aus seinen Gedanken gerissen. Für den Moment scheint seine Absicht in den Hintergrund getreten zu sein. So, als würde er noch einmal dem Ruf der Welt da draußen folgen, tritt er ans Fenster und sieht dem Treiben auf der Straße zu. Kaum merklich betritt Dr. Barbinais das Zimmer, um sich nach dem Befinden seines Patienten zu erkundigen und mit ihm Schach zu spielen. Der eigentliche Grund ist jedoch, dass er Alain für geheilt hält und ihn entlassen will. Alain weiß dies bereits und konfrontiert den Arzt mit dem Umstand, dass er wieder zu trinken beginnen werde, sollte er nicht bleiben können. Barbinais glaubt, dass Alain nur deshalb so mürrisch sei, weil sich Dorothy noch nicht bei ihm gemeldet hat. Im Weltbild des Dr. Barbinais scheint es unvorstellbar zu sein, dass Alain vielleicht gar nicht dazu in der Lage sein könnte, seine Frau zu lieben. Alain stellt seinen Arzt zur Rede und fragt Barbinais, ob er gekommen sei, weil er ihn loswerden wolle? Alains Hilferuf kommt beim Gegenüber nicht an. Er habe sein ganzes Leben auf etwas gewartet, wovon er nicht wisse, was es sei und leide an einem Angstzustand, der niemals aufhöre. Der Arzt ist jedoch überzeugt von seiner Einschätzung. Er glaubt zu wissen, was gut für seinen Patienten ist. Hinweise aus dem Unbewussten kann er nicht aufgreifen. Die analytische Qualität des Zuhörens, das im eigenen Unbewussten wurzelt, scheint ihm fremd zu sein. Er ist nicht bereit, auf sein psychiatrisches Expertenwissen zu verzichten und wirklich mit seinem Gegenüber in Kontakt zu treten. Somit gelingt es ihm auch nicht, das Subjektive in Alains Rede auszumachen. Barbinais meint, dass Alains Abstinenz nur eine Frage des Willens sei und dass er glaube, dass es Alain schon gelingen werde, sich zusammenzunehmen. Barbinais vertritt eine positive Psychologie, die den Willen seines Gegenübers in den Mittelpunkt rückt. Alain schleudert ihm entgegen, dass es nicht um seinen Willen gehe.
RR »Wie kommen Sie darauf, an meinen Willen zu appellieren? Das Übel sitzt im Zentrum meines Willens!« Der Arzt erweckt vordergründig einen verständnisvollen Eindruck, doch die Empathie wirkt gewollt. Die Einwände seines Patienten kümmern ihn wenig, er geht kaum auf ihn ein, zieht sein Programm durch. Auch scheint ihm das In-Beziehung-treten zu anstrengend, er möchte vielleicht als gütiger, alles glättender Vater gefallen, hört Alain aber auch nicht richtig zu. Alain wiegt ihn in trügerischer Sicherheit. Die ins Auge springenden Hinweise auf Alains Seelenzustand in Form von aufgehängten Zeitungsausschnitten übersieht der Arzt. Alain gelingt es auch in letzter Sekunde seine Pistole zu verbergen. Alle Zeichen, die auf den Suizid hindeuten, ignoriert der Arzt. Was nicht sein darf, kann auch
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„Die Hölle, das sind die anderen“ (Sartre)
nicht sein. Alain bitte den Psychiater, ihn hier zu behalten, doch dieser betrachtet ihn als geheilt. Der verdeckte Hilfeschrei verhallt ungehört. Barbinais empfiehlt Alain, seine Frau anzurufen. Sie solle umgehend herkommen und dann sollten sie zusammen in den Süden fahren, auf keinen Fall aber nach Paris. Alain entgegnet, dass sich der Arzt keine Sorgen machen müsse, bis zum Ende der Woche hätte er die Klinik so oder so verlassen. Dr. Barbinais Rede strotzt vor Klischees und Plattitüden wie der, dass das Leben lebenswert sei. Mit den Worten »Das Leben ist schön«, lässt der Arzt seinen desperaten Patienten allein zurück. Alains verzweifeltes »Sagen Sie mir doch wo, Herr Doktor!«, hört Barbinais schon nicht mehr. Abermals holt Alain die Waffe hervor. Er murmelt vor sich hin, dass das Leben zu langsam vergehe, er müsse es beschleunigen, seinen Ablauf korrigieren. Schließlich geht Alain erschöpft zu Bett. Eine ältere Dame weckt ihn auf. Streicht ihm durchs Haar, wie eine Mutter. Das familiär anmutende Sanatorium kann Alain nicht mehr halten. Die Hausdame hat ihm sein Frühstück gebracht und hilft ihm in den Morgenmantel. Sorgenvoll wölbt sich ihre Stirn, als er ihr mitteilt, dass er nach Paris wolle. Paris, das ist die »Stadt aller Orgien«. Auf dem Bücherbord sieht man Fitzgeralds »Wiedersehen mit Babylon«. Nicht ohne mahnenden Unterton fragt sie ihn nach seiner Rückkehr. Er beruhigt sie, wie ein Sohn, der zum ersten Mal ausgeht, die Mutter zu beruhigen pflegt. Es würde sehr schnell gehen. Die ältere Dame erinnert ihn noch eindringlich, seiner Frau ein Telegramm zu senden. Alain macht sich daran, ein solches zu entwerfen. Er formuliert, »Alle Schwierigkeiten sind vorbei, werde glücklich!« Und ergänzt, sie solle seinen Brief – er hat ihn also doch noch abgeschickt – vergessen. Es ist der 23. Juli, die Tour de France beginnt. In horrendem Tempo ziehen die Sportler an Alain vorbei, die Stadt pulsiert wie ein lebendiger Körper. Verloren steht er inmitten hupender Autos – quelle pagaille! Einförmige Wohnsilos, eine beschleunigte Welt und Paris eine Stadt, die Alain Angst macht. Versailles ist anders, Versailles ist ein Kontrapunkt dazu. Im herrschaftlichen Ambiente des Sanatoriums fühlt er sich sicher. Hätte sein Suizid verhindert werden können, wenn er nur bleiben hätte können? Das Datum steht mit schwarzer Farbe auf den Spiegel in seinem Zimmer geschrieben. Auch für Alain beginnt eine Tour, jedoch ist es eine Abschiedstour. Angst ist in einer existenzialistischen Perspektive auch wesentlich das Bewusstwerden der eigenen Freiheit und die Flucht davor.
Rückkehr nach Paris Alain trifft auf zwei Lieferanten der Galerie Lafayette. Er lädt sie auf einen Drink ein, im Gegenzug nehmen sie ihn nach Paris mit. Die Fahrt dauert eine Weile, sie passieren trostlose, eintönige Stadtviertel mit nicht enden wollenden Reihen von Wohnblocks. Die beiden Arbeiter werden schließlich neugierig auf Alain. Sie frage ihn nach seinem Beruf. Er würde überhaupt nicht arbeiten, er sei krank, bekommen sie zur Antwort. Fast ehrfurchtsvoll, als wäre es eine heilige Angelegenheit mit dem Kranksein, fragen sie ihn worunter er denn leide. Es sei das Herz, sagt ihnen Alain. Unterwegs hebt er eine beträchtliche Summe Geldes in einer Bank ab. Dem Schalterbeamten ist sichtlich unwohl dabei.
Hotel du Quai Voltaire Überschwänglich begrüßen die Rezeptionistinnen Alain im Hotel. Wir erfahren, dass er früher Stammgast in diesem Hause war und die Bar Ausgangspunkt so vieler durchzechter Nächte. Sie löchern ihn mit Fragen über New York. Er will jedoch nur wissen, ob ein gewisser Monsieur Bernard noch hier lebe. Alain geht in die Bar, um mit Monsieur Bernard zu telefonieren. Die Frauen tuscheln hinter vorgehaltener Hand über seinen schlechten Allgemeinzustand. Alain stellt eine Liste mit Leuten zusammen, die er besuchen will. Der Barkeeper schlägt einen nostalgischen Tonfall an, als er von den alten Zeiten, als Alain noch jeden Tag hier war, und von gemeinsamen alten Bekannten erzählt.
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Ein junges Paar betritt die Bar. Die beiden machen einen verkaterten Eindruck, haben sich wohl die Nacht um die Ohren geschlagen. Die Frau wirft Alain einen halb interessierten, halb ennuyierten Blick zu, verabschiedet sich und lässt ihren Begleiter zurück. Dieser mustert Alain von der Seite, ganz so, wie ein Teenager sein Idol und tut schließlich etwas verhohlen seine Bewunderung für Alain kund. Der junge Mann lebt nun im Zimmer, in dem zuvor Alain gewohnt hatte. Charly, der Barkeeper, ein offenbar guter Menschenkenner, sieht Alain an, dass es ihm nicht gut geht. Nach dessen Verabschiedung meint Charly zu den Damen von der Rezeption, dass Alain schon immer melancholisch gewesen wäre.
Die ägyptische Sonne am Grunde des Brunnens Dubourg ein früheres Alter Ego, fast ein Zwillingsbruder, hat eine andere Abzweigung im Leben genommen, in den Augen Alains ein Abstellgleis. Die beiden sind sich trotz ihrer vordergründigen Vertrautheit fremd geworden und doch scheinen sie auch wechselseitig einen Funken Neid auf das Leben des anderen zu verspüren. Dubourg hat etwas erreicht, was Alain nicht gelungen ist. Er vermag etwas im Leben zu halten, er hat Familie, er hat die Ägyptologie, vielleicht auch einen Zugang zur Mystik. Alain fühlt sich einerseits grandios überlegen, andererseits aber auch ausgeschlossen. Das Leben Dubourgs ist ihm unerreichbar, obwohl alle Eigenschaften und Talente in ihm angelegt wären, es ihm gleich zu tun. Es hat den Anschein als wäre es möglich ein stetiges Leben zu beginnen und die Unbeständigkeit des Bohemienlebens hinter sich lassen. Doch es ist ein tiefer Graben, zwischen den beiden Lebensentwürfen. Dennoch gibt es daneben auch eine Ebene des Wohlwollens, auf der die beiden einander begegnen. Fast väterlich ermahnt Dubourg Alain, er solle sich in Geduld üben. Er könne auch eine Zeit lang bei ihm und seiner Familie wohnen und wieder mit dem Schreiben beginnen. Alain aber spricht davon, dass es für ihn vorbei sei, er werde abtreten. Beim gemeinsamen Mittagessen mit Dubourgs Familie erkundigt sich Fanny, Dubourgs Frau, wie es Alain nun nach der Entziehungskur gehe. Er antwortet knapp, dass er sich wie sterilisiert an Geist und Körper fühle. Fanny ist wohl der Überzeugung, dass ihm das Leben in den USA geschadet habe. Etwas pathetisch bezeichnet sie New York als Stadt-Moloch, der die Menschen aufsauge, wie diese das Rauschgift. Als Fanny dann auch noch fachsimpelt, dass in »sterilisiert« auch »steril« stecke, schneidet Alain entnervt das Gespräch ab. Möglicherweise hält Alain es auch nicht aus, dass ihm die Frau seines Freundes sagt, dass er steril, ohne Kinder vielleicht auch im übertragenen Sinn nicht generativ sei. Er hat im Gegensatz zu Dubourg nichts, was er der Nachwelt hinterlassen kann, kein Werk, kein Vermögen, keine Nachkommen. Nach dem gemeinsamen Mittagsmahl machen Alain und sein Freund einen Spaziergang durch Paris. Dubourg wirft Alain vor, dass er sich in der Mittelmäßigkeit eingerichtet und sich diese auch noch vergoldet hätte. Alains lakonische Antwort auf die Frage nach seinem Lebensziel lautet, dass er immer nur etwas Geld haben hätte wollen und Macht über die Frauen. Dubourg gibt sich damit nicht zufrieden und entgegnet, dass das was Alain Geld nenne nur ein Vorwand für dessen Träume sei. Alain würde nach wie vor in der Pubertät stecken und wolle nicht erwachsen werden. Er hingegen sei älter geworden, habe zwar keine Hoffnungen mehr, dafür aber eine Gewissheit. Sein Lebensprojekt ist seine Familie und ein Buch über die Tugenden des alten Ägyptens. All seine Leidenschaft und Hingabe gilt diesen. Zu Dubourg meint er, dass es nicht so wäre, dass er das Leben an sich verdamme. Er verdamme nur das an ihm, was verachtenswert ist. Alain sagt zu Dubourg, dass er keinesfalls alt werden wolle. Dubourg rollt die Augen, er kann nicht nachvollziehen, weshalb Alain seiner Jugendzeit nachtrauere. Alain stimmt zu, seine Jugend war zugleich Versprechen und Lüge, der Lügner aber, wäre er selbst gewesen. Er sei zwar bei den Frauen immer gut angekommen, es wäre ihm aber nicht gelungen, Macht über sie zu haben. Das war es aber, was er immer gewollt hatte.
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»Epicuri de grege porcus« (»Aus Epikurs Herde ein Ferkel«, Horaz) Dubourg gerät in die Rolle des Therapeuten. Ein Dialog entspinnt sich, wie er auch in einer therapeutischen Sitzung stattfinden könnte. Dubourg fragt nach dem Anfang von Alains Verzweiflung. Alain entgegnet, dass er schon Alkoholiker war, bevor er es selber begriff. Er habe die Frauen nicht glücklich machen können, er sei ein schlechter Liebhaber. Dubourg will sich damit nicht zufriedengeben. Alain hätte doch Dorothy und Freunde. Doch dieser erwidert, er hätte sie eben nicht gehabt, bis heute nicht! Dass Dorothy sich Alain entziehe, führt Dubourg darauf zurück, dass dieser eben zu viel trinke. Alain wird ärgerlich und meint, dass es genau andersherum wäre, er würde nur zu viel trinken, weil er ein schlechter Liebhaber sei. Dubourg muss schmunzeln.
RR »Ach, unser beider Leben wird dann komisch, wenn es von den Frauen abhängt.« Alain versteht nicht, weshalb Dubourg von Fanny abhängt. Er habe »sich so in ihre Wärme geflüchtet, wie ein Schwein in seine Lehmkuhle«, setzt Dubourg hinzu. Als eine schöne junge Frau an den beiden vorbeigeht und Dubourg sie mit Paris vergleicht, das für ihn wie das geliebte Leben sei, wendet sich Alain ärgerlich ab und fährt ihn an, dass ihm Dubourgs mittelmäßige Empfindungen auf die Nerven gingen. Dubourg eilt dem sich raschen Schritts abwendenden Alain nach und dringt in ihn, dass, wenn er sich nur mit dem Mittelmaß abfinden könnte, er auch seine Fantasie wiederfinden würde. Er aber sei feige und schwach und faul auch. Er würde den Schatten nur verteidigen, weil die Sonne seinen Augen weh tue. Dubourg hält in epikureischer Manier ein Plädoyer für die Genussseiten des Lebens. Er würde das Leben lieben und auch das Leben jedes einzelnen Menschen. Auch das Lebendige in Alain sei es, was er letztlich an ihm liebe und was diesen einzigartig mache. Es komme darauf an, das Gute stets aufs Neue in sein Leben zu holen. Douburg setzt große Hoffnungen in die Veränderungskraft der konzentrierten und ausdauernden Werktätigkeit. Wenn sie nur gemeinsam arbeiteten, würde es schon wieder besser werden mit Alains Zustand, ist sein Freund überzeugt. Dubourg hält ihm seinen Ästhetizismus, seine Faulheit und Feigheit vor. Alain wendet sich ab. Dann tritt er ganz nah an seinen Freund heran und sagt ihm eindringlich, dass ihr Treffen nur einen einzigen Sinn habe. Dubourg solle ihm beim Sterben helfen, das wäre alles. Wenn er ein wahrer Freund sei, solle er ihn nehmen wie er eben ist. Dann geht er. Vor dem Musée National d’Art Moderne bleibt Alain stehen. Durch eine Auslage sehen wir eine Frau mittleren Alters, vielleicht eine Kuratorin oder Kunstvermittlerin. Sie unterhält sich angeregt mit einem älteren Herrn. Verspielt begrüßt sie Alain, als sie seiner gewahr wird, durch die Glasscheibe der Tür. Sie zieht die Grimasse eines schmalen Gesichts und meint mit langgezogenen Vokalen, dass er ja aussehe wie ein Leichnam! Eva, so lautet der Name der alten Freundin, nimmt ihn mit auf den Markt. Sie zieht über Dubourg her. Sie verstehe nicht so recht, weshalb sich Alain seine Bekannten unter den Gesunden aussuche. Décadence und morbide, fiebrige Ästhetik sind eher ihr Element. Für sie gibt es keine Entwicklung. Dass die Zeit die anderen verändern würde, hält sie für ein konventionelles Vorurteil. Die Aufrichtigkeit der anderen hält sie für vorgespielt, die bürgerliche Fassade sei nichts als eine Maskerade. Dahinter würden sie sich auf ihre niedrigen Begierden stürzen. Nun erfahren wir auch, dass Eva selbst künstlerisch tätig ist, sie malt. Alain fragt sie nach einer gewissen Carla. Diese habe sich mit ihrem Wagen umgebracht, bekommt er zur Antwort. Alain quittiert Carlas Tod mit »Das ist absurd – dadurch ändert sich nichts!« Gleich darauf sagt er aber zu Eva, dass er nur zum Verabschieden gekommen sei. »Du auch?«, meint sie, als hätte sie sogleich begriffen. Eva stellt keine Ansprüche an ihn, will ihn auch nicht von seinem Entschluss abbringen. Sie scheint um die Gefährdung zu wissen und ist besorgt
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um seine Unversehrtheit. Eva hält eine Lobrede auf den Schlaf, nur dieser würde zählen, sie glaube nur noch an den Schlaf. Sie schlendern vorbei an einem stark verwitterten klassizistischen Bau. Auf dem Fries des verfallenen Tempels ist die Inschrift »L’Amitie« zu lesen. Ein Mausoleum der Freundschaft? Das passt, Alain ist ja auch hier, um sich zu verabschieden. Im Atelier liegen Evas Freunde auf Kanapees im Kreis versammelt wie in einem antiken Triclinium. Urcel, ein Schriftsteller verbreitert sich mit bedeutungsvoller Miene über die Entgiftung. Er selbst hat einen Drogenentzug hinter sich. Er hätte nur aus Lust am Risiko Drogen genommen. Die Dichter würden keinerlei Rauschgift benötigen. Sie könnten auch ohne Substanzen an die Grenze zwischen Leben und Tod vordringen. Der idealisierende und selbstgefällige Tonfall Urcels ist Alain unerträglich. Er hält Urcel vor, sich ein hübsches System zusammengezimmert zu haben. Das »Rauschgift sei schon wieder das Leben« und »es kotze ihn an wie das Leben«. Ein Werk zu schaffen, das sei auch schon wieder so ein Alibi. Urcel entgegnet von oben herab und in einem Tonfall, der nur einem kleinen Kind gegenüber angebracht wäre, dass Alain für seine Kunst das Sensorium fehle. Alain verlässt die Künstlerkommune. Urcel höhnt – Alain hat die Künstler bereits verlassen –, dass dieser im Grunde nur ein Versager, der neidisch auf seine Kreativität wäre, sei. Er sei zwar sehr unglücklich, aber umbringen werde er sich nicht. Eva schnauzt ihn an, dass er das nicht wissen könne und sie ihn besser hierbehalten hätte.
Politisches Engagement In einer Buchhandlung im Universitätsviertel erkundigt sich Alain nach seinen alten Freunden. Der Buchhändler kann Alain nicht ausstehen und brummt ihn nur mürrisch an. Seine jugendliche Mitarbeiterin verrät Alain jedoch deren Aufenthaltsort. Alain macht sich auf ins Café de Flore, um Jérôme und Milou zu treffen. Wir erfahren, dass Alains Freunde im Gefängnis gesessen haben. Sie sind hoch ideologisiert und draufgängerische Aktionisten, die geheime Pläne verfolgen. Ob es sich um Parteigänger der faschistischen Parti populaire français bzw. einer ihrer Nachfolgeorganisationen oder um eine linksradikale Gruppierung handelt wird nicht klar. Verfassungsfeindlich sind sie jedoch alle Mal. Auch hören wir, dass sie obwohl die Algerienfrage in der französischen Politik vom Tisch sei, sie immer noch damit beschäftigt wären. Ein Unbekannter tritt hinzu. Jérôme weist darauf hin, dass Alain früher mal ein guter Offizier gewesen sei. Milou stellt ihn als einen »bedeutenden Säufer« vor. Wir bleiben mit offenen Fragen zurück. Was hat Alain im Krieg erlebt? Hat es etwas mit seiner aktuellen Verfassung zu tun? Die alten Freunde scherzen. Alain habe kein politisches Gewissen, es sei kein Verlass auf ihn, dies alles jedoch in heiterem Tonfall. Alain steigt nur vordergründig auf ihre Scherze ein und meint, es hätte doch keinen Sinn mehr. Ihre Zeit wäre vorbei. Die Männer sind offenkundig in eine aktuelle, brisante Aktion verwickelt. Alain hält diese für aussichtslos. Ihren Wunsch, »in die Geschichte einzugehen«, bezeichnet er als grotesk. Sie würden sich wie Pfadfinder benehmen. Der Rebellenromantik seiner früheren Freunde kann er nichts abgewinnen. Man wirft sich verschwörerische Blicke zu und die Brüder verlassen Alain. Milou spricht noch von einer großen Schlussabrechnung, die es geben werde, wenn alles vorbei sei.
Ausblick auf das Alte(r) Am Nachbartisch sitzt ein älterer Mann, der mit verstohlenem, hastigen Blick hin und her schaut. In einem Moment, in dem er sich unbeobachtet wähnt, steckt er die auf dem Tisch befindlichen Strohhalme in seine Tasche. Alains und seine Blicke kreuzen sich und Alain senkt den Kopf, so als hätte er nichts gesehen. Es liegt nahe, dass er denkt, er würde eines Tages wie dieser arme alte Mann enden. Aus Alains Blickwinkel sehen wir die Passanten vorüberziehen. Junge Frauen und Männer, Gruppen und Einzelne. Es hat den Anschein, als suchte Alain in der Menge Halt, als würde er vielleicht auf
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jemanden hoffen, der oder die ihn aus seiner Isolation und Sinnlosigkeit herausholt. Eine blonde Frau scheint ihm zu gefallen. In Alains Gesicht spiegelt sich die Möglichkeit eines Neuanfangs, doch nur für einen Wimpernschlag. Er wirkt fahrig, wird immer unruhiger. Schließlich greift er sich das Weinglas vom Nachbartisch. Es ist sein erster Schluck Alkohol nach der Entziehungskur. Sein Gesicht verzerrt sich, als hätte er Gift genommen. Genuss ist das keiner, die Szene erinnert eher an den todgeweihten Sokrates, der den Schierlingsbecher hinunterstürzt. Währenddessen versucht eine junge Frau, mit kaum merklicher Miene mit ihm in Kontakt zu treten, sie interessiert sich wohl für ihn. Alain wird übel, begibt sich auf die Toilette. Der Schweiß tropft ihm von der Stirn, er versucht sie mit Wasser zu kühlen. Ein junger Mann sieht ihn eindringlich an. Das Leben sei eine einzige Demütigung, murmelt Alain leise vor sich hin und kehrt ins Lokal zurück. Ein alternder Bonvivant tuschelt mit seinen jungen Freunden und deutet auf Alain: »Seht sein Gesicht, das ist das Gesicht eines Alkoholikers!« Viele der Leute scheinen Alain zu kennen, Blicke streifen ihn. Ein afrikanischstämmiger Bekannter Alains erzählt seinen beiden Begleiterinnen von alten Abenteuern mit Alain. Dieser hätte sich einen Bus »ausgeliehen« und Fremden damit die Stadt gezeigt. Alain erträgt die Art und Weise kaum mehr, in der die Menschen um ihn herum über ihn sprechen. Die Erzählungen über ihn haben allesamt pubertäre Akte zum Gegenstand. Der Zugang zu diesem alten Leben der Ersatzbefriedigungen ist Alain nun auch verschlossen. Lallend und wankend verlässt er das Lokal und wird beinahe überfahren. Ein Passant stößt ihn im letzten Augenblick zur Seite. Völlig durchnässt vom Regen gelangt er schließlich zu einem eleganten Stadtpalais.
Zu Gast bei der Hautevolee – das »letzte Abendmahl« Das befreundete – offenkundig sehr wohlhabende – Paar Lavaud ist gerade damit beschäftigt, Blumen auf der Gästetafel zu arrangieren, als Alain eintrifft. Er versucht seinen Zustand zu überspielen und nötigt sich ein Lächeln ab. Gestützt auf die Schultern seines Freundes gelangt Alain ins Gästezimmer. Der Herr des Hauses deckt ihn zu. Mit den Worten »Läute bitte, wenn du was brauchst!«, lässt er ihn ausruhen. Die Gastgeber und eine weitere Frau, eine ehemalige Geliebte Alains, umsorgen ihn wie Eltern. Das Paar steht neben seinem Bett. Sie wähnen ihn schlafend und scherzen. Der Hausherr legt seiner Frau Schmuck an, nimmt sie verspielt an den Händen: »Du bist recht hässlich heute, Mutter übel!« Sie lacht vergnügt. Alain öffnet unbemerkt die Augen, während er ihnen lauscht und stellt sich weiterhin schlafend. Alain ist wieder alleine, er steht im Badezimmer. Er betrachtet sich aufgewühlt im Spiegel und spricht mit verwaschener Stimme zu seinem Spiegelbild: »Sie sind so ruhig, sie sind so selbstsicher diese Leute!« Schließlich wirft er eine Brausetablette ein und bereitet sich auf den Gesellschaftsabend vor. Die Anwesenheit des berühmten Brancions scheint ihn zu verunsichern. Es wirkt, als hätte er Angst. Im Hintergrund beginnt die Wasserleitung laut zu klopfen, er dreht den Hahn zu. Alain erscheint als letzter zum Gastmahl. Er begrüßt Solange, die Hausherrin, mit Handkuss. Der Name wird von dem lateinischen Adjektiv solemnis für »gefeiert, feierlich und festlich« abgeleitet und ist Programm. Solange ist eine gefeierte Gesellschaftsdame und unbestrittene Königin des Abends. Mit betont jovialer Attitüde versucht Alain die anderen mit einem Satz seiner Mutter zu unterhalten, den diese früher zu sagen pflegte, wenn er zu spät zum Essen gekommen war: »Nachserviert wird bei uns nicht, du bekommst den Rest!« Solange stellt Alain und Brancion einander vor: »Sie sehen einen von den Toten Auferstandenen vor sich – Alain Leroy!« Alains Sitznachbarin spricht ihn darauf an, dass sie sich schon einmal auf Long Island getroffen hätten. Sie erkundigt sich nach Dorothys Befinden. Alain antwortet ihr wortkarg: »So genau weiß ich das nicht. Ich habe gehört, sie wäre glücklich.« Der trocken-nüchterne Brancion wirkt wie ein charakterlicher Antagonist Alains. Selbstsicher und gelehrt klinkt er sich in das Tischgespräch über die Erotik des Ostens ein. Der Orient sei überhaupt
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nicht erotisch, so seine Auffassung. Die Erotik wäre eine Erfindung des Abendlandes. Erotik sei ein christlicher Begriff, sie wäre begründet in der Erkenntnis von Gut und Böse. Schuld und Erbsünde seien Bedingung für die Erotik, so der intellektuelle Gast. Brancion, der mit Solange Lavaud kokettiert, wird von deren Mann misstrauisch, wohl auch eifersüchtig, beäugt. Um die geistigen Höhenflüge Brancions – die ihm wohl auf die Nerven gehen und mit denen er nicht konkurrieren kann – zu unterbrechen, bedient er sich unbedacht einer Trinkgeschichte aus Alains Vorleben. Unweigerlich tauchen Assoziationen zu Alains Herkunftsfamilie auf. Wird in dieser Konstellation etwas aus seiner Kindheit wiederholt? Es liegt jedenfalls nahe. Gegen Ende des Films scheint sich die familiäre Reinszenierung zu verdichten. Nach einer Kneipentour hätte sich Alain damals auf das Grabmal des »Unbekannten Soldaten« gelegt, seine Uhr, seine Brieftasche und sein Taschentuch neben der ewigen Flamme ausgebreitet, als wäre es die Nachttischlampe, und sei friedlich eingeschlafen. Allgemeines Gelächter bricht los, nur Brancion blickt Alain schweigend an. Irgendetwas zwischen Strenge und tödlicher Verachtung liegt in seinem Ausdruck. Alain wirkt beschämt, fühlt sich ertappt. »Sunt pueri, pueri puerilia tractant«. Er kann in dieser Tafelrunde nicht als Erwachsener bestehen, er ist nun in den Augen seines Gegenspielers ein Bub, ein ewiges Kind. Das dîner ist vorüber, die Gäste begeben sich in den Salon. Abwechselnd finden sich Paare zusammen und führen Zweiergespräche. Wir hören, dass Brancion Säufer nicht ausstehen könne. Er habe nämlich ein Leberleiden, so die Erklärung. Dieser wirkt wie ein strenger Vater, ein Vater, der das Gesetz vertritt und Alain ist einer, der sich nicht daran hält. Cyrille schenkt Alain Cognac ein, die anderen sehen ihnen bestürzt zu. Schließlich weiß jeder im Raum um Alains Alkoholabhängigkeit. Solange bittet Brancion, er möge doch etwas Freundliches zu Alain sagen, da er im Augenblick nicht in Form sei. Brancion lehnt mit den Worten »das würde ihn nur noch mehr verletzen« ab. Eine der Frauen flirtet mit Alain, mit verführerischer Stimme erinnert sie ihn daran, dass er ja ihre Nummer hätte. Er möge sie doch anrufen. Cyrille funkt dazwischen und scherzt: »Verführung Minderjähriger – Tztztz!« Mit teilweise gespieltem Bedauern entschuldigt sich Cyrille bei Alain für vorhin. Er solle sich von Brancion nicht unterkriegen lassen, es würde an Brancion liegen. Dieser müsse immer die Leute reizen. Alain hat sich inzwischen Mut angetrunken. Mit dem Gestus eines Bühnenheros mimt er den Mann von Welt. Er sei ein vollkommener Mann, ein prächtiger Spieler, der stolz und selbstsicher seinen Degen trage. Alle Frauen von Welt, die hier sind, habe er besessen. Weniger verspielt, mit gekünsteltem Witz setzt Cyrille ein, dass Alain Solange nicht besessen hätte. Mit den Worten »Dieser andere Mann ist ein Marsmensch, ich beneide ihn um seine Ruhe«, dreht Alain sich um. Alain spricht Brancion seine Bewunderung dafür aus, wie er sich in der Gesellschaft bewege, ohne wirklich daran zu glauben. Brancion widerspricht. Es kommt zur verbalen Auseinandersetzung zwischen den beiden. Lakonisch aber auch kühl sagt Alain, dass er es noch merkwürdiger finde als sein Gegenüber, auf einem Grab zu schlafen, wo es doch so viel leichter wäre, sich in das Grab hineinzulegen. Mit den Worten »So, das war alles« macht er am Absatz kehrt. Alain – inzwischen merklich trunken – schlägt das Cognacglas mit Wucht gegen die Tischkante. Seine Hand blutet, sanft tupft er sie mit seinem Stecktuch ab. Mit verwaschener, aber lauter Stimme gibt er von sich, dass die Säufer die Geschwister der Armen wären. Er wisse, wann es Zeit für ihn wäre zu gehen, wann er nicht mehr erwünscht sei. Obwohl er ein Mann wäre, sei es ihm nie gelungen, etwas festzuhalten, weder Geld noch Frauen. Es liege daran, dass seine Hände irgendwie festgebunden wären und es wäre unmöglich, die Dinge zu berühren.
RR »Wenn ich doch etwas berühre, dann fühl’ ich’s nicht!« Er fasst dem Intellektuellen an die Schulter, in seinen Augen der Ausdruck tiefer Traurigkeit. Dieser wendet sich ab wie ein kühler unnahbarer Vater. Möglicherweise war Alains leiblicher Vater früher ähnlich zu ihm?
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Die frühere Geliebte, die Alain vorhin am Bett umsorgt hatte, stellt ihren neuen Lebensgefährten vor. Taktvoll sagt dieser, dass er Alain viel lieber zuhöre, als selbst etwas von sich preiszugeben. Immer verzweifelter und agitierter gibt Alain von sich, dass es für ihn keinen Segen gäbe, dass er nichts berühren könne. Die Frauen, die hier wären, könne er nicht begehren, vielmehr würden sie ihn ängstigen. Solange wäre zum Beispiel so jemand. Wäre er nur fünf Minuten mit ihre alleine, würde er zur Ratte werden und durch ein Loch in der Wand verschwinden. Solange tritt hinzu, Cyrille lauscht im Hintergrund. Alain wendet sich tief verzweifelt an sie. Fortzugehen, ohne etwas berührt zu haben, weder Schönheit noch Güte, nur die Lügen der anderen im Ohr, das mache ihn bitter. Die Gastgeberin entgegnet, was denn mit all seinen Schönen sei? Da wären doch Dorothy, Lydia und wie sie alle hießen. Sie alle würden doch auf ihn warten, sie wären hinreißend und vor allem würden sie auf ihn warten. Aber sie seien nicht schön genug, nicht gütig genug und weit weg, meint der untröstliche Alain. Es geht wohl eher um eine innere Distanz. Die Eltern sind ja auch weit weg, wie er bereits früher geschildert hatte. Solange gibt ihm zu verstehen, dass sie alle auf ihn warten würden, indem sie sagt: »Sie alle lieben die Liebe, genau wie ich, wenn sie gut gemacht wird!« Alain müsse nur verstehen, den richtigen Augenblick auszumachen. Ein Angebot – oder spielt sie nur mit ihm? Doch das »wenn sie gut gemacht wird« hat dem Abend wohl die Krone aufgesetzt. Alain verlässt den Raum, wendet sich an Cyrille und sagt ihm, dass er jetzt gehen möchte. Er wäre schon genug gedemütigt worden. In Cyrilles Stimme liegt Besorgnis, als er ihm nachruft, er solle doch am nächsten Tag zum Mittagessen kommen. Cyrille und Solange winken Alain beim Abschied von der Balustrade aus nach. Es wirkt beinahe so, als würden Eltern ihren Sohn verabschieden. Dies kann wohl noch als Verdoppelung der bisherigen Demütigungen gesehen werden. Nichts kränkt mehr, als die ElternAttitüde der wohlsituierten Freunde.
Triste fin Alain wacht mit der Holzfigur in der Hand auf, der er am Tag zuvor mit einem Fingerschnippen den Kopf vom Rumpf getrennt hatte. Neben dem Bett steht noch eine Champagnerflasche. Der Kater steht ihm ins Gesicht geschrieben, gierig trinkt er ein Glas Wasser hinunter. Das Zimmermädchen tritt ein, er gibt ihm ein Bündel Geldscheine und bittet sie, ihn bis Mittag nicht zu stören. Alain macht sich daran Ordnung zu schaffen, er räumt die Fotos von den Spiegeln, gibt sie mitsamt der Holzfigur und dem restlichen Geld in Aktenkoffer. Dann folgt eine Rasur. Das Telefon klingelt, Solange umschmeichelt ihn und fragt unsicher nach, ob er gewiss auch zum Mittagessen kommen werde? Alain lässt sich nichts anmerken, sagt zu und legt auf. Leise sagt er vor sich hin:
RR »Solange hat mir für Dorothy geantwortet.« Er liest die letzten Seiten von Scott F. Fitzgeralds »The Great Gatsby«, der tragischen Inkarnation des American Dream – ein Mann der für seine große Liebe in den Tod ging, und holt die Waffe heraus. Der letztlich todbringende Pistolenlauf wird liebkost (. Abb. 31.3). Alain schmiegt seine Wangen an den kalten Stahl. Anstelle einer nährenden, Wärme spendenden Brust ein Todesinstrument. Wie einen Finger, der auf das gebrochene Herz zeigt, richtet Alain die Waffe auf seine Brust, holt tief Luft und drückt ab. Die Szene ist beklemmend und doch auch sanft. So als würde Alain einschlafen und nicht mehr aufwachen. Dazu im scharfen Kontrast: Im Abspann sind seine letzten Worte zu lesen. Eine bittere Abrechnung mit seinen Mitmenschen. Der schonungslose Abschiedsbrief lässt auch posthum keine Versöhnung zu.
RR »Ich töte mich, weil ihr mich nicht geliebt habt, weil ich euch nie geliebt habe. … Ich werde auf euch einen unauslöschlichen Makel zurücklassen.«
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..Abb. 31.3 Alain bereitet seinen Suizid vor. (© RKO Radio Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Mauvaise foi und Flucht in den Alkohol In Umkehrung des Sujets eines Bildungsromans verschließt sich Alain allen Entwicklungsangeboten und aller Weltaneignung. Er ist ein tragischer »Mann ohne Eigenschaften«. Jemand, der zu vielem eine Begabung hat, aber nichts davon in die Realität umzusetzen vermag – sein Talent nützt ihm nichts. Es ist ihm nicht geglückt, sich in seinem Leben einzurichten, einen Platz für sich zu sichern. So bleiben seine Potenziale in einem passiven Larvenstadium. Rings herum führen ihm die alten Gefährten vor Augen, was auch er aufgrund seiner Talente und Fähigkeiten – vielleicht sogar leichter als diese selbst – hätte erreichen können. Alain muss die Lebensentwürfe der anderen aber auch beständig abwerten. Er durchschaut die Oberflächlichkeit ihrer Beziehungen. Lebendige Begegnungen können in diesem Umfeld nur schwer entstehen. Das Leben ist für ihn sinnentleert, ebenso sind es die Beziehungen. Doch in der Radikalität seiner Beobachtungen, schießt er übers Ziel und so bleibt kein Platz mehr für ihn. Das »Enrichissez-vous!« des Juste Milieu, in dem Alain sich ebenso selbstverständlich bewegt wie in Künstlerkreisen, ist ihm nicht zugänglich. Geldverdienst und Geldvermehrung stoßen ihn zwar einerseits ab, in der Ambivalenz gibt er uns dann doch immer wieder zu verstehen, dass er gerne mehr Geld hätte. Er sieht sich aber auch nicht in der Lage, auf diesem Feld erfolgreich zu sein. Ein triebtheoretisch orientierter Psychoanalytiker würde sagen, er habe Schwierigkeiten, die anal-retentive Sphäre ausreichend libidinös zu besetzen, sei aber dennoch an diese fixiert. Alain gibt im Film mehrfach die Auskunft, dass es ihm nicht gelinge, etwas festzuhalten. Philosophische Motive aus Existenzialismus und Absurdismus rahmen die Handlung ein.
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Dem Absurden in Auflehnung zu begegnen, bedeutet für Camus, den Suizid abzulehnen. Diesen bezeichnet er als einzig ernstes philosophisches Problem. Alain kennt wohl die Gedanken Camus’. Sie sind ja damals in aller Munde. Es gelingt ihm jedoch nicht, ihrer habhaft zu werden. Er kann nicht mehr anders, als sich mit dem Absurden abzufinden und zieht die unwiderrufliche Konsequenz. »Das Absurde hat nur insoweit einen Sinn, als man sich nicht mit ihm abfindet« (Camus 2000, S. 44).
Alain bewegt sich ganz auf der Linie des Existenzialismus, wenn er die Anpassungsleistungen seiner Freunde und Bekannten in Richtung allgemeiner Maßstäbe als Fluchten abtut. Er wirft den anderen ihre Mauvaise foi (Sartre), ihre Unaufrichtigkeit gegen sich selbst, vor. Sublimierungen wollen Alain nicht mehr gelingen. Der Alkohol bietet keine Zuflucht mehr. Lustdroge und Freudenspender ist er schon lange nicht mehr, höchstens noch soziales Schmiermittel und Angstlöser. »Man weiß doch, daß man mit Hilfe des ›Sorgenbrechers‹ sich jederzeit dem Druck der Realität entziehen und in einer eigenen Welt mit besseren Empfindungsbedingungen Zuflucht finden kann. Es ist bekannt, daß gerade diese Eigenschaft der Rauschmittel auch ihre Gefahr und Schädlichkeit bedingt. Sie tragen unter Umständen die Schuld daran, daß große Energiebeträge, die zur Verbesserung des menschlichen Loses verwendet werden könnten, nutzlos verloren gehen« (Freud 1999b, S. 436 f.).
Die fiebrigen und rastlosen Aktivitäten beispielsweise, die Alain alleine im Zimmer unternimmt, vermögen nicht über seine tiefe Verzweiflung hinwegzutäuschen, er ist ein Zerrissener. Der Abgleich mit den Lebenswelten der anderen fördert keinen neuen Lebenswillen zutage. Das Leben ist für ihn fundamental entwertet und sinnentleert. Alain hält seinen Mitmenschen auch einen Spiegel vor, ihn widert die Oberflächlichkeit der Gesellschaft an. Sein Zimmer staffiert er – wohl nicht ohne bitteren Zynismus – mit Symbolen des Konsumismus und der Populärkultur aus. Da sieht man Poster von Marilyn Monroe und anderen Stars und Starlets, über dem Kamin steht eine kitschig anmutende Porzellanputte, der Alain eine Miniaturausgabe der amerikanischen Flagge zwischen die gefalteten Hände gesteckt hat. Die Fotos der Ehefrau und der Geliebten hat er miteinander verschnitten. Sie fließen ineinander, sind eins geworden. Es gibt keine Differenz zwischen den beiden, die Welt ist einerlei, die Frauen auch.
RR »Ich habe mir gewünscht, geliebt zu werden, damit es mir vorkommt, als liebte ich.« Überall im Raum hat er Zeitungsausschnitte über Unglück und Tod verteilt. Die äußere Symbolisierung eines inneren Zustandes. Die innere Katastrophe hat begonnen und nimmt ihren Lauf. Der Untergang des eigenen Ichs ist auch der Untergang einer ganzen Welt. Ekel zieht sich als Leitaffekt durch den ganzen Film. Es ist vielleicht auch – um ein Konzept Sartres aufzugreifen – ein metaphysischer Ekel, der noch weit hinter die gesellschaftliche Fassade reicht. Nach der Kur ist ihm auch der Alkohol verekelt. Das Trinken hat nun Abjektcharakter. Mit Julia Kristeva läßt sich sagen, dass der Ekel als Gegenstand der Abjektion hilft, die Ichgrenzen zu schützen und den Narzissmus momenthaft auszuschalten (filmlexikon.uni-kiel.de 2019, Abjekt). Alain gelingt es nicht, sich im anderen unterzubringen und den anderen nicht in sich. Alains Frauenbeziehungen wirken eher prä-ödipal bestimmt. Es scheint um die Wiederholung einer abhängigen Beziehung zu einer frühen Mutter zu gehen. Die Frauen scheinen ja allesamt sehr um sein Wohlergehen bemüht zu sein. Wolf-Detlef Rost (1992) meint dazu, dass dem Tun von Partner(n)/innen alkoholkranker Menschen sehr häufig Rettungsfantasien zugrunde liegen würden.
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Nur Eva, die Künstlerin, scheint nicht in diesem Schema zu agieren. Sie weist seinen Autonomiebedürfnissen einen höheren Stellenwert zu, auch wenn sie es hinterher bedauert. Sie bemuttert ihn nicht, obwohl sie ahnt, wie es in seinem Inneren aussieht. Dorothy ist vielleicht nicht gerade ein weiblicher Svengali, erscheint aber dennoch als eine ominöse Macht im Hintergrund. Im Erleben Alains sind die Frauen insgesamt übermächtige Geschöpfe, denen er nur auf einer abhängigen Ebene begegnen kann. Eine Partnerschaft auf Augenhöhe ist für ihn nicht vorstellbar. Die Frauen bereiten ihm entsetzliche Angst. Die finale Szene, in der ihm Solange doppeldeutig verführerisch begegnet, ließe sich als Begegnung mit einer ödipalen Mutter deuten, die Alain – wenn auch doppelbödig – zu verstehen gibt, dass er nicht genügen kann, wenn er sexuell nicht zufriedenstellend ist. Auffallend ist auch, dass der Film im Bett mit der mütterlich trostspendenden Lydia beginnt und auch wieder im Bett endet. Liebe und Tod liegen hier so nahe beisammen, der Kreis schließt sich. Sex ist hierbei Signum einer gescheiterten Begegnung. Alain verspürt eine bodenlose Fremdheit und Getrenntheit, die über das »post coitum omne animal triste« weit hinausgeht. Gerade nach dem Liebesakt mit Lydia fühlt er sich einsam und zerquält. Vielleicht auch deshalb, weil Sex ihm keine Lust mehr verschafft. Dazu schreibt Radó: »Die Meta-Erotik zerstört aber nicht nur die genitale Potenz, sie entwertet auch alle anderen natürlichen Wege der Lustgewinnung und setzt den pharmakotoxischen Orgasmus als Befriedigungsinstrument an ihrer Stelle ein« (Radó 1975, S. 367).
Der Tod als Rückkehr Aus Alains Gesicht ist jegliche Mimik gewichen. Ein äußeres Zeichen des inneren Besetzungsverlusts. Eine tiefe Gleichgültigkeit scheint sich in ihm breit zu machen, dahinter lauert aber wohl auch eine stark angewachsene Aggression, die jedoch gehemmt wird. Die Welt der Objekte rückt in weite Ferne. Die präsuizidale Einengung schreitet voran. Nur das Zimmer im Sanatorium bleibt noch für eine gewisse Zeit Zufluchtsort. Die Gesichtslosigkeit der Materie und der absolute Stillstand der Dingwelt vermögen ihn wohl noch eine Weile zu beruhigen. Alain teilt uns auch mit, dass er die Menschen gern hätte fangen und anbinden wollen. Um ihn herum hätte sich nichts mehr rühren dürfen. Dazu Freud in »Jenseits des Lustprinzips«: »Der konservativen Natur der Triebe widerspräche es, wenn das Ziel des Lebens ein noch nie zuvor erreichter Zustand wäre. Es muß vielmehr ein alter, ein Ausgangszustand sein, den das Lebende einmal verlassen hat, und zu dem es über alle Umwege der Entwicklung zurückstrebt. Wenn wir als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, daß alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nun sagen: Das Ziel alles Lebens ist der Tod« (Freud 1999a, S. 40).
Hätte Alain eine Therapie gemacht, wären mit hoher Wahrscheinlichkeit folgende Gegenübertragungskonstellationen zutage getreten, wie Jürgen Kind sie hier beschreibt: »Erschöpfen sich wegen ihrer Vergeblichkeit die Versuche, das Objekt auf manipulative Weise zu sichern und zu verändern, oder haben solche Versuche gar nicht erst stattgefunden, so tritt ein anderer Gegenübertragungszustand ein. Der Therapeut hat dass das Gefühl, überflüssig zu sein, vom Patienten nicht mehr benötigt zu werden, und zwar nicht deswegen, weil Hilfe nicht nötig wäre, sondern weil sie nicht möglich scheint. Der Therapeut fühlt sich vom Patienten aufgegeben« (Kind 1998, S. 134).
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„Die Hölle, das sind die anderen“ (Sartre)
Daneben dürfte auch der Schamaffekt eine große Rolle spielen. Alain spricht immer wieder von Demütigung und Beschämung. Die enthemmende Wirkung des Alkohols unterstützt die Schamabwehr. Da dieses Mittel nun nicht mehr zur Verfügung steht, bleibt Alain nur mehr der Suizid, um die unerträglichen inneren Schamquellen auszulöschen. Im Film wird deutlich, dass das Angeblicktwerden für Alain meist mit unangenehmen Gefühlen verknüpft ist. Die verächtlichen Blicke Brancions und der herausfordernde Blick Solanges verweisen Alain auf sein eigenes Nicht-Genügen. Sartre schreibt folgendes zu Blick und Scham in »Das Sein und das Nichts«: »Die Scham oder der Stolz enthüllen mir den Blick des Andern und mich selbst am Ziel dieses Blicks, sie lassen mich die Situation eines Erblickten erleben, nicht erkennen. Die Scham aber ist … Anerkennung dessen, daß ich wirklich dieses Objekt bin, das der andere anblickt und beurteilt. Ich kann mich nur meiner Freiheit schämen, insofern sie mir entgeht und gegebenes Objekt wird« (Sartre 1991, S. 471).
Vielleicht ist es aber auch Alains strenges und rigides Über-Ich, das im Unbewussten auf die Erfüllung realitätsferner und hochtrabender Ich-Ideal-Forderungen drängt. Alain kann vor seinen Ansprüchen nur kapitulieren, da sie nicht erfüllbar sind. Das Versagen führt zu Minderwertigkeitsgefühlen und einer weiteren Steigerung der Ich-Ideal-Forderungen. Realität und Ideal sind nicht in Übereinstimmung zu bringen. Alain gelingt es nicht, sich selbst zu relativieren, Humor wäre vielleicht ein Ausweg gewesen. Aber auch zu Ironie und Witz vermag sich Alain nicht aufzuschwingen. Sonst hätte er vielleicht über die Gesellschaft und den Kulturbetrieb herziehen und sich dabei eine Lustprämie abholen können. Doch der Zugang zu Witz, geschweige denn zu Humor scheint Alain versperrt zu sein. Der Abschiedsbrief lässt an den Suizid als Akt der Rache am versagenden Liebesobjekt denken. Die unverhüllten Anklagen und Vorwürfen bleiben über. Es kommt zur Entmischung von Liebe und Hass. Zugleich drängt sich aber auch die Annahme eines Wunsches nach fusionärer Verschmelzung mit dem Liebesobjekt im Tode auf.
Literatur Camus A (2000) Der Mythos des Sisyphos. Rowohlt, Hamburg (Erstveröff. Paris 1942) Freud S (1999a) Jenseits des Lustprinzips. Gesammelte Werke, Bd. 13. Fischer, Frankfurt/M (Erstveröff. 1920) Freud S (1999b) Das Unbehagen in der Kultur. Gesammelte Werke, Bd. 14. Fischer, Frankfurt/M, S 436 (Erstveröff. 1930) Kind J (1998) Suizidal. Die Psychoökonomie einer Suche. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Radó S (1975) Die psychischen Wirkungen der Rauschgifte. Versuch einer psychoanalytischen Theorie der Süchte. Psyche Zeitschrift Für Psychoanal Ihre Anwendungen 4/1975:360 Rost W-D (1992) Psychoanalyse des Alkoholismus. Theorie, Diagnostik, Behandlung. Klett-Cotta, Stuttgart Sartre J-P (1991) Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Rowohlt, Hamburg (Erstveröff. Paris 1943)
Internetquellen http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=4515 (Zugriff am 15. März 2019) http://www.salmoxisbote.de/Bote32/Rigaut.htm (Zugriff am 2. März 2019) https://www.imdb.com/title/tt0057058/ (Zugriff 15. Dez. 2018)
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Das Irrlicht (1963)
Originaltitel
Le feu follet
Erscheinungsjahr
1963
Land
Frankreich
Drehbuch
Louis Malle
Regie
Louis Malle
Hauptdarsteller
Maurice Ronet, Léna Skerla, Bernard Noël, Jeanne Moreau, Alexandra Stewart
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Caroline von Korff
Wirkliches Leben als eigenes Leben Wie alles begann … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Der gute George . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Das/der abgrundtiefe/-triefende B/böse Potter . . . . . . . 488 Der Beginn einer großen Liebe: Ein Sich-Erkennen auf der Schwelle des Lebens oder Die Mondnacht . . . . . . 489 Eines kommt zum anderen – das Schicksal nimmt seinen Lauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Neue Interpretation des Heiligen Abends . . . . . . . . . . . 490 Das Verlassen im Suizid – das Sich-Verlassen-Fühlen im suizidalen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 Clarence, der Engel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 Engel Clarence zieht alle Register . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Der Suizid(-Versuch) als Versuch, einen neuen Raum zu betreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_32
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Filmplakat Ist das Leben nicht schön? (© RKO Radio Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Ist das Leben nicht schön? (1946)
Dass Du das Auf-der-Welt-Sein in möglichst weite Schwingung gebracht hast: daran wirst Du gemessen werden. (Peter Handke)
Wie alles begann … Beginnen mit den Engeln: um zu helfen, müssen wir den Menschen gut kennenlernen, sagt der erfahrene Engel im Himmel. Und er hält seinen unter Supervision befindlichen Kollegen, der noch keine Flügel hat, dazu an, sich Zeit zu nehmen, die Szenerie zu verstehen. Wir tauchen ein in einen Heiligabend wie aus dem Bilderbuch, in ein tiefverschneites Dorf – Bedford Falls – und hören unterschiedliche Stimmen, die für George Bailey, die Hauptfigur dieses Films, beten, der, so ahnen wir schon, verzweifelt sein dürfte. Noch wissen wir nichts Genaues und werden in den Dialog der hauptdienstlich fungierenden Engel entführt. Clarence, der flügellose Engel soll nun den Rettungsdienst übernehmen und ist in gewissem Sinne kein »Volltreffer«, erinnert die Szene auch an das Lottospiel, dem Menschen ausgeliefert sind, wenn sie als Notfall in ein Krankenhaus kommen. Clarence erscheint einem gleichsam als »Donald Duck« der Engel und hilft dem Zuschauer immer wieder der Schwere des Filmstoffes zumindest für Momente zu entfliegen. Dabei möchte sich Clarence seine Flügel mit einem Rettungsmanöver verdienen, indem er George Bailey, der sich das Leben nehmen will, davon abzubringen versucht.
Der gute George Der Film stellt dem Zuschauer den aufgeweckten George als Kind und jungen Mann ausführlich und aus verschiedenen Blickwinkeln vor und ohne es gleich zu merken, werden wir in Clarence Position gerückt: Wir lernen nun George aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers kennen, der uns Georges Schicksalsschläge nahebringt, aber auch von sehr intimen Momenten erzählt, die uns tief in die Seele Georges blicken lassen. Der Zuschauer kann sich diesem Leben nicht entziehen, auch nicht dem Unrecht, das George widerfährt. Wir erfahren, dass George als Zwölfjähriger seinem Bruder das Leben rettet, als dieser in einen zugefrorenen See einstürzt. Aus diesem Rettungsmanöver bleibt George aufgrund einer schweren Ohrenentzündung, die er sich im eiskalten Wasser holt, ein taubes Ohr zurück. George hilft als Kind im Drogerieladen eines vom Schicksal leidgeprüften Mannes aus, der dem Alkohol zuspricht. Es werden dort auch Medikamente verkauft und so trägt es sich eines Tages zu, dass der Apotheker betrunken statt eines Heilmittels Gift an ein Kind durch George zustellen lassen möchte, der rechtzeitig den Irrtum erkennt und sogleich zurückkehrt. Als George seinen Vater aufsucht, um sich mitzuteilen, wird der gerade von einem Banker massiv unter Druck gesetzt und gedemütigt. George wird Zeuge dieser Situation, stellt sich vor seinen Vater, und verteidigt ihn, wird jedoch letztlich von ihm des Büros verwiesen. Auf diese Zurückweisung durch den Vater, der George, gerade selbst in Not, nicht zuhören und unterstützen kann, folgt die Erfahrung tiefen Unrechtes und erneuter Demütigung. Georges wird vom Apotheker, als dieser erfährt, dass der Junge die Medikamente nicht zugestellt hat, wutentbrannt geschlagen und an seinem kranken Ohr verletzt, das zu bluten beginnt.
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Wirkliches Leben als eigenes Leben
..Abb. 32.2 George mit seinen Eltern beim Abschiedsessen vor der geplanten Weltreise (© RKO Radio Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Als Zuschauer möchte man gerne physisch dem Schlag ausweichen, der einen genauso unvermittelt und schmerzlich trifft, wie die erlebte Erniedrigung des Vaters vor George. Dass George durch seinen beherzten Einsatz ein weiteres Leben rettet, geht in der Schockstarre des Bezeugten fast unter (auch für den Zuschauer), auch wenn der Ladenbesitzer zu einem späteren Zeitpunkt unter Tränen die Nicht-Ausführung seines Auftrags würdigt, der beinahe tödliche Folgen gehabt hätte.
Das/der abgrundtiefe/-triefende B/böse Potter Während wir erste Einblicke in das Leben von George, seiner Familie und seines Aufwachsens erhalten, kreuzt Potter hinein: ein triefend böser, habgieriger Widerling, der ganz und gar auf seinen Vorteil bedacht ist. Er macht nicht nur Georges Vater das (berufliche) Leben schwer, sondern auch Georges. Wir erfahren weiter, dass George schon als Kind den Wunsch hegt, reisen zu können, und es kommt der Tag, an dem George zu seiner Weltreise aufbrechen möchte. Wir sehen einen frischen abenteuerlustigen George voller Übermut und Vorfreude seinen Koffer aussuchen. Bei seinem »Abschiedsabendessen« mit seinem liebenswürdigen humorvollen Vater vermittelt George dezidiert, dass es völlig unvorstellbar für ihn sei, ein Leben wie das seines Vaters zu führen, das er wie folgt beschreibt: »In einem schäbigen Büro eingesperrt zu sein und mit jedem Pfennig zu rechnen« (. Abb. 32.2). Wir erfahren, dass sich George nichts so sehr wünscht, wie etwas Bedeutendes zu schaffen: Brücken und Flughäfen zu konstruieren. Im Anschluss an das Abendessen verliebt sich George im Glanz des Abschieds in seine spätere Frau Mary.
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Der Beginn einer großen Liebe: Ein Sich-Erkennen auf der Schwelle des Lebens oder Die Mondnacht Qué importa el tiempo sucesivo si en el hubo una plenitud, un extasis, una tarde? Was bedeutet die ablaufende Zeit, wenn es in ihr eine Fülle, eine Ekstase, einen Abend gab? (Jorge Luis Borges)
RR »Soll ich dir den Mond schenken«, fragt George seine Mary, die »ja gerne« antwortet. George darauf: »Dann brauchst du keine Lampe mehr, der Mond leuchtet nur für dich alleine und du wirst niemals mehr im Dunkeln sein.« George greift in dieser Nacht nach den Sternen und erobert Marys Herz, doch will er ja reisen und studieren, während Mary schon vom gemeinsamen Leben träumt. Dann überstürzen sich die Geschehnisse: Georges Vater erleidet in der Nacht vor der geplanten Abreise einen Herzinfarkt und verstirbt. George sagt seine Reise ab und übernimmt die Geschäfte des Vaters. Unterdessen wird klar, dass aufgrund der mangelnden Ressourcen nicht beide Brüder studieren können. George tritt zurück, in der Verantwortung für die väterliche Firma »Bailey Building & Loan« lässt George seinem Bruder den Vortritt beim Studieren. Mary verlässt in unerfüllter Liebe die Stadt für ihre Ausbildung. Jahre vergehen, George arbeitet und Mary kommt wieder zurück nach Bedford Falls. Georges Mutter, die um Marys Liebe, wie auch um die ihres Sohnes zu Mary weiß, hilft sehr nach, dass es schlussendlich zur Hochzeit kommt. So heiratet George die Liebe seines Lebens, jedoch zu einem Zeitpunkt, an dem es sich seine Mutter wünschte. Dann ist es offenbar endlich so weit: Das glückliche Paar möchte zur Hochzeitsreise nach Europa aufbrechen. In dieser Szene wird auch der Zuschauer förmlich vom Zauber des Aufbruchs und Abschieds mitgerissen, der verheißungsvoll auf das endlich und so lang Ersehnte wie Erhoffte zuzusteuern scheint, sich jedoch wieder nicht erfüllen wird. Ein geglückter Abschied ist der, der sich verwirklicht.
Eines kommt zum anderen – das Schicksal nimmt seinen Lauf Aus der Hochzeitsreise wird nichts, weil der Bank ausgerechnet jetzt alle Darlehen gekündigt wurden. George rettet die Liquidität der Bank, indem er und Mary das Geld für ihre Hochzeitsreise für die Rettung der Bank bereitstellen. So bezeugt der Zuschauer, wie George erneut die Bank, das Erbe seines Vaters, rettet, seine Interessen zum wiederholten Male zurückstellt und seine Träume immer weiter in den Hintergrund rücken. Das Leben nimmt seinen Lauf und wir sehen wie jede Entwicklung zur nächsten führt: eine verunmöglichte Weltreise, Heirat, es kommen die Kinder und die Verantwortungen binden George mehr und mehr an Bedford Falls. Der Zuschauer sieht die Katastrophe kommen und doch nicht, wie nicht real, weil nicht existent im gelebten Leben: die gelebten Wünsche, die ihre eigene Sprache schon gefunden haben, doch verhindert werden durch die »Verantwortung«. Wünsche werden nicht einer Beantwortung übergeben, stattdessen konsolidiert sich ein Beinahe-Leben oder ein Fast-Leben: fast Hochzeitsreise, fast Weltreise – die Reise als Sinnbild der Ablösung, des Aufbruchs in ein anderes Leben, in das neu zu entdeckende.
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Der Zug ist abgefahren, der nächste kommt bestimmt, meint man, doch welch eine (innere) Katastrophe, wenn wir ihn nie nehmen, wenn wir sie, die Abreise, nie vornehmen (können). George gelingt mit seiner Unternehmensphilosophie und Finanzierung sozialen Wohnbaus ein großer Erfolg. Durch sein Projekt »Baileys Park« stehen Potters Mietshäuser bald leer und seine Geschäfte laufen schlecht, sodass Potter in die Offensive geht und George ein »unmoralisches« Angebot unterbreitet. Potter gibt vor, sich geschlagen zu geben und bietet George an, ihn zum Prokuristen zu machen, verbunden mit einem verführerischen Gehaltsangebot, der ihm auch die Möglichkeit bietet, durch Geschäftsreisen um die Welt zu kommen, ein Haus zu bauen und seine finanziellen Sorgen hinter sich zu lassen. George scheint schon fast gewonnen und erbittet 24 Stunden, um darüber zu schlafen. Die Wendung kommt durch den Händedruck Potters, den auch der Zuschauer durch das Erschrecken Georges als feucht identifiziert. Das Unehrenhafte hat feuchte Hände. Die Gier Potters dringt durch seine schweißtreibenden Hand förmlich auch in den Körper des Zuschauers. Der feuchte Händedruck Potters entlarvt Potters hinterhältige Absichten und George flieht förmlich aus dem Büro. Es kommt der Krieg, der ihm am Tag seines Endes den Bankrevisor beschert. In all den Aufregungen passiert Onkel Billy, dem treuen Weggefährten von George, ein Versehen – er verliert einen großen Betrag und plötzlich steht die »Building & Loan« im Verdacht, Geld veruntreut zu haben. Nicht nur, dass George die Möglichkeit, den Beruf auszuüben, den er geliebt hätte, verwehrt sein sollte, so soll nun auch sein ethisch vorbildliches Betreiben seiner Firma durch ein kleines Missgeschick infrage gestellt sein und ihm gleichsam den Boden unter den Füssen wegreißen. Potter streut darüber hinaus das Gerücht einer Liebesaffäre Georges mit einer alten Freundin, der er privat Geld geliehen hat und als George in seiner Not bei Potter um Hilfe bittet, erniedrigt ihn dieser und nennt ihn mehr tot als lebendig (. Abb. 32.4).
Neue Interpretation des Heiligen Abends Es ist Heiligabend. Und nun kehren wir zur ersten Szene des Films zurück, zu jenem Davor, das wir sonst in der therapeutischen Praxis niemals zu sehen bekommen. Das weiß verschneite Bedford Falls ist kein friedlicher Ort mehr. Der stets freundliche George, gezeichnet von all den Ereignissen, vergisst sich, beleidigt am Telefon die Lehrerin seiner ältesten Tochter, die er verantwortlich für deren Erkältung macht und demütigt in Folge seine Tochter beim Klavierspielen. Das Blatt wendet sich dramatisch: George sieht sich nicht mehr aus und kann und will sich nicht mehr kontrollieren. Wut und Verzweiflung vermischen sich und Mary und die Kinder sehen George wie sie ihn noch nie gesehen haben (. Abb. 32.3). Als er den von Schmerz wie Fassungslosigkeit erfüllten Ausdruck seiner Frau und der verstörten Kinder sieht, verlässt er fluchtartig das Haus. George betet und fleht Gott um Hilfe an. Mittlerweile hat er sich in eine Bar begeben, wo er sich einen Drink nach dem anderen geben lässt. Wenige Augenblicke später erkennt ihn der Ehemann der am Telefon beschimpften Lehrerin und beginnt ihn zu verprügeln, was George in seiner Verzweiflung wiederum als die Antwort Gottes auf sein Gebet deutet. Hier zeichnet sich deutlich das psychotische Erleben Georges ab. Die Schläge, die ihm in der Bar verpasst werden, feuert die Kaskade des Erlebens Bestraft- und Geschlagenseins an und führt in ein scheinbar unaufhaltsam psychotisches Erleben und damit verbunden in eine suizidale Einengung. George sieht keinen Ausweg mehr. Schuld wird in dieser suizidalen Verdichtung in allen möglichen Gestalten zum Leitthema. Schuld am Bankrott, die drohende Haftstrafe, das familiäre Scheitern. George stürzt von einer Verzweiflung in die nächste, in ihm wird es immer dunkler. Die nächsten Begegnungen bekommen für George eine
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..Abb. 32.3 George völlig verändert am Heiligenabend bei seiner Familie (© RKO Radio Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
besondere Bedeutung, dennoch werden auch sie schwarz eingefärbt. Versuche, ihm zu helfen, kann er nicht mehr als solche wahrnehmen und schlägt sie aus. Sein Erleben, das in einem Tunnelblick mündet, reichert sich von Minute zu Minute mit Gefühlen an, sowohl versagt zu haben wie auch im Stich gelassen worden zu sein. Paula Aulagnier beschreibt dieses Erleben in einem universellen Sinn als téléscopage. So bezeichnet Aulagnier ein Zusammentreffen traumatisch-spannungsreicher Momente aus frühkindlicher Vergangenheit (sie nennt diese frühe psychische Organisation »das Originäre«) und Gegenwart, das zum Ausbruch einer Psychose oder psychotischen Episode führen kann (vgl. Aulagnier 1984). Die existenzbedrohende Vergangenheit aus dem nicht erinnerbaren Originären kann demnach in der Psyche wie »eingefroren« sein, sodass sie in einem solchen Fall der Aktualisierung mit uneingeschränkter Kraft die Psyche des aktualen Ich überschwemmt. Auch Freud postulierte bereits 1896 im Zusammenhang mit seinen theoretischen Überlegungen zu Hysterie, dass nur dann ein aktueller Anlass traumatisch wirken könne, wenn dieser eine verdrängte, unbewusste Konfliktthematik aktualisiere: »Nicht die letzte, an sich minimale Kränkung ist es, die den Weinkrampf, den Ausbruch von Verzweiflung, den Selbstmordversuch erzeugt, mit Missachtung des Satzes von der Proportionalität des Effekts und der Ursache, sondern diese kleine aktuelle Kränkung hat die Erinnerungen so vieler und intensiverer früherer Kränkungen geweckt und zur Wirkung gebracht, hinter denen allen noch die Erinnerung an eine schwere, nie verwundene Kränkung im Kindesalter steckt« (Freud 1896, S. 454).
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..Abb. 32.4 George in Angesicht zu Angesicht mit Potter (© RKO Radio Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Das Verlassen im Suizid – das Sich-Verlassen-Fühlen im suizidalen Raum In den Psychotherapien mit suizidalen Patient*innen kommt der Dimension Menschen zu verlassen eine große Bedeutung zu, die sich in der Auseinandersetzung darstellen kann: Kann/darf ich ihnen dies antun? Es wäre also durchaus eine Möglichkeit, diese Frage im Sinne einer Umkehrung in Erlebtes zu verstehen. Denkt der suizidale Mensch an das Verlassen der Welt/seiner Lieben als möglichen/rettenden Raum, weil es diese originäre Erfahrung des Verlassenwordenseins gegeben hat? Wie konnten sich dagegen die Menschen von Bedford Falls immer auf George verlassen, wie oft schraubte George seine Interessen hinter denen der anderen zurück, waren sie verlassen, leuchtete George durch seine Präsenz.
Clarence, der Engel Mme de Rumières; Qu’y a-t-il? Rémonin: Les dieux sont arrivés (Alexandre Dumas, Ètranger, Acte V)
Wir sehen Clarence als Hilfs-Ich, der im richtigen Moment den Anker wirft. Wenn wir den Psychotherapeut*in als Ankerwerfer verstehen, so bleibt uns eine Erkenntnis: Der Anker Clarence war deshalb so gut gewählt, weil er George kannte.
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Bevor sich George in seiner tiefen Verzweiflung in den Fluss stürzen möchte, springt Clarence vor ihm in den Fluss und entfacht Georges Helferinstinkt, der ihm nachspringt, um ihn zu retten. Der Engel hatte George in der Tat gut studiert und weiß auf Georges größte Ressource zu setzen: seine stete Bereitschaft, sein Wohl hinter das der anderen zu stellen und in diesem Moment auch das Bedürfnis zu sterben. Für einen Moment wird George durch Clarence List aus seinem psychotischen Tunnel herausgerissen und findet sich nach (wiederholter) Rettungsaktion nicht nur mit Clarence völlig durchnässt vom kalten Wasser am Ufer, er findet sich auch förmlich wieder zurück in seine Kindheit katapultiert: wieder rettet er einen Menschen, wenn auch diesmal einen Engel aus dem eiskalten Wasser wie damals seinen Bruder. Ein Mann hört ihr Rufen und bietet sich an, sie in seinem Haus aufzuwärmen – hier offenbart sich der auf George äußert skurril wirkende Clarence als Engel. George will sehr bald vor diesem auf ihn verrückt wirkenden Engel fliehen und stempelt ihn als Verrückten ab. Die Rettung hat noch keine wirkliche Veränderung gebracht. George lebt zwar, ist aber noch immer verzweifelt.
Engel Clarence zieht alle Register Im letzten Kapitel spielt der Film mit einer Variation der Annahme, dass kurz vor dem Tod unser Leben an uns vorbeizieht. Nur wird George mit (s)einem Leben konfrontiert, in dem es ihn quasi nicht gegeben hat – er ist gleichsam ausgelöscht – seine Mutter erkennt ihn nicht, für Mary hat es ihn nie gegeben – er sieht, wie seine geliebte Mary (ihn) (an)aussieht ohne, dass es ihre Liebe gegeben hätte. Qualvoll wird er sich der Bedeutung seines Lebens bewusst und muss mitansehen, wie viel Glück anderen (und sich selbst) ohne sein Sein vorenthalten worden wäre. Dieses Erkennen stellt sich plötzlich ein, abrupt, sehr schmerzlich. George realisiert, was er nicht mehr hat und plötzlich erscheint sein Leben (wieder) kostbar und George möchte nichts mehr als (in) sein Leben zurück. Und er bekommt es wieder. Immens ist sein Glück, als er zurückkehrt in seine Kleinstadt, zu seiner Mary und den Kindern (. Abb. 32.1, Filmplakat). Und zu aller Überraschung sind auch die Herzen der Menschen, die er schon verachtete, weit und voller Dankbarkeit für alles, was er ihnen Gutes getan hat, spenden sie für George und wenden sein berufliches Scheitern ab. Alle Gefühle des Gefangenseins und -werdens sind aufgehoben: Der Versuch, einen Ausweg in der antizipierten Nichtexistenz zu finden, scheitert nicht. Der Film in seiner klug gewählten Narration ermöglicht uns zu verstehen, was sich in George abspielt, der den (selbstgewählten) Tod in Erwägung zieht.
Der Suizid(-Versuch) als Versuch, einen neuen Raum zu betreten Zur psychoanalytischen Theorie der Repräsentation unter Einbeziehung der Raummetapher I always felt the world cannot fall apart as long as free men see the rainbow, feel the rain and hear the laugh of a child. (Frank Capra)
Einige Autoren haben sich mit der Frage der psychischen Repräsentation von Erfahrungen und den Umgang mit den inneren Objekten mittels der Raummetapher beschäftigt. André Green und Bion, beide stark von Winnicott inspiriert, differenzierten die von ihm konzipierte Raummetapher des Übergangsraums (vgl. Winnicott 1953). Green konzipierte den belüfteten
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Raum: espace aéré. Der Container (Bion) als Raummetapher ist dabei immer der Raum des Anderen, der die Herausbildung von Erfahrungen ermöglicht, in dem sich, so formuliert es Bion, die Fähigkeiten zu Denken erschließen können (vgl. Bion 1992). Die Repräsentationsbildung als intersubjektiver Prozess wird allein durch den Container ermöglicht. Bion (1959) postuliert die Dialektik von Anwesenheit und Mangel, von intersubjektivem Halt und intrapsychischem Wunsch auf besondere Weise. Denken und Erfahrung ist somit auch hier immer an Triangulierung oder in anderen Worten an die Verfügbarkeit eines Raumes gebunden. Das eindimensionale Denken Suizidaler kann somit auch als Zeichen einer Ermangelung dieses anderen (Vorstellungs‑)Raumes verstanden werden. Küchenhoff stellt in diesem Zusammenhang die appellative Natur der Suizide ins Zentrum seiner Überlegungen, warnt jedoch davor, appellative Suizide den vollendeten gegenüberzustellen und dies mit einer latenten Entwertung zu tun. Er postuliert, dass »der Appell von einer unerträglichen inneren Erfahrung ausgeht, die nicht beherbergt werden kann«. »Nur in der Tat selbst liegt der Appell … etwas von der Verzweiflung zu vermitteln, … die den Suizidanten im Verborgenen geleitet haben« (Küchenhoff 2001, S. 76). Der Suizid-Versuch kann als Versuch gesehen werden, einen Leerraum dort zu schaffen, wo kein Freiraum mehr erlebt wird. Green (1983) führt nachdrücklich aus, wie die depressive Mutter keinen Container bieten kann, aber zugleich auch nicht gestattet, sich zu entfernen. Der Suizid ist folglich als Akt der Autonomie zu verstehen, weil ein Leben im Abstand zum Objekt zu große Angst macht. Georges Wünsche nach seinem eigenen Leben werden von den Notwendigkeiten der anderen und deren Realität überlagert, so fügt sich George den Lebensentwürfen der Mutter für den Sohn, die etwas erkennt, nur etwas anderes nicht (seinen inneren Konflikt, der darin besteht, reisen und dann lieben zu wollen/entdecken und dann lieben zu wollen). Sehr eindrücklich ist die Darstellung des Vaters, der unter dem Joch seines Chefs sein Leben lang gequält wird. Als der Vater stirbt, tritt George dessen Erbe an, damit das Leben des Vaters nicht umsonst gewesen sei. Wir werden Zeugen dafür, dass es nicht einfach einer schwierigen Situation bedarf, um sich töten zu wollen, sondern ein solches Erleben auf Gefühle frühen Ausgeliefertseins stoßen müssen, die in eine unerträgliche Verzweiflung mündet. Bis die anderen in Erscheinung treten und George vor Augen führen, was sie in ihm sehen und sich bedanken und ihm helfen, so wie er etlichen von ihnen stets geholfen hat. Es sind also die anderen und ausschließlich diese, die George dank der Vermittlung seiner Frau, die ihn aufrichtig liebt, die es vermögen ihn ins Leben zurückzubringen.
Literatur Aulagnier, P (1984). L-apprenti-historien et le maitre sorcier. PUF. Paris Bion, WR (1959). Attacks on Linking. In E. Bott Spillius (ed.) Melanie Klein Today: Developments in theory and practice. Volume 1: Mainly Theory. 1988. Routledge. London Bion WR (1992) Lernen durch Erfahrung. Suhrkamp, Frankfurt a.M. Freud S (1896) Zur Ätiologie der Hysterie. GW, Bd. 1, S 423–459 Green A (1983) Narcissisme de vie, narcissme de mort. Le Editions de Minuit, Paris Küchenhoff J (2001) Suizid: Suche nach Beziehung oder Zerstörung des Dialogs? In: Gerisch B, Gans I (Hrsg) Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt. Vandehoeck & Ruprecht, Göttingen, S 60–81 Winnicott DW (1953) Transitional objects and transitional phenomena – A study of the first not-me possession. Int J Psychoanal 34:89–97
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Ist das Leben nicht schön? (1946)
Originaltitel
It’s a Wonderful Life
Erscheinungsjahr
1946
Land
USA
Drehbuch
Frances Goodrich, Albert Hackett, Jo Swerling, Frank Capra
Regie
Frank Capra
Hauptdarsteller
James Stewart, Donna Reed, Lionel Barrymore, Henry Travers
Verfügbarkeit
Als DVD, Blue-Ray und 4KUltra-HD in deutscher Sprache erhältlich
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Tanja Zwiener
„Wenn Du denkst es geht nicht mehr” (Rilke) Die Handlung – »Nice to meet you« . . . . . . . . . . . . . . . 499 Schuld, Leid und Krankheit – Suizidmotive . . . . . . . . . . 504 »Ich kann schwimmen.« – »Ich auch.« – Wie sie einander helfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Philosophische Überlegungen zum Suizid am Beispiel von »Arthur & Claire« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_33
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„Wenn Du denkst es geht nicht mehr” (Rilke)
Filmplakat Arthur & Claire. (© Universum Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Arthur & Claire (2017) Tanja Zwiener
Die Handlung – »Nice to meet you« Arthur, ein Mann in den 50ern, fliegt an Neujahr von Wien nach Amsterdam. Sein Ziel: Die Klinik eines Freundes, in der er am nächsten Tag Sterbehilfe in Anspruch nehmen will – er leidet an Lungenkrebs. Arthur wirkt wenig sympathisch: Nicht nur erschreckt er ein allein reisendes Kind im Flugzeug, sondern auch beim Mietwagenschalter verhält er sich unfreundlich der Mitarbeiterin gegenüber. Vom Flughafen fährt er in die Klinik (. Abb. 33.2), um sich über das genaue Prozedere seines Todes zu informieren. Eine Einladung seines Freundes zum Essen schlägt er aus, stattdessen lässt er sich am Nachmittag durch Amsterdam treiben und versucht mehrfach erfolglos, seinen Sohn David telefonisch zu erreichen. Er wirkt wie ein Fremdkörper in der lebendigen, bunten Stadt: isoliert, einsam, grau. Am Abend versucht er, einen Abschiedsbrief an seinen Sohn zu formulieren, wird jedoch von lauter Musik aus einem Nachbarzimmer abgelenkt. Auf sein Klopfen öffnet eine junge, verweinte und abwesend wirkende junge Frau, Claire, der Arthur bereits an der Rezeption begegnet war – sie stritt mit dem Rezeptionisten darüber, wieso eine Kreditkarte beim Check-in zwingend nötig sei, wo sie doch über genügend Bargeld verfüge. Als er, denn sie reagiert nicht auf ihn, schließlich in Claires Zimmer stürmt und die Musik abstellt, lautet ihr erster Satz an ihn:
RR »Marschieren Sie immer in fremde Zimmer? Macht Ihr Deutschen das immer noch so?« – »Ich weiß nicht, was die Deutschen machen, ich bin Österreicher.« – »Super, noch schlimmer.« Dieser ironische, angriffslustige Dialog ist typisch für ihr künftiges Kommunikationsverhalten, das immer wieder auch mit den Klischees ihrer verschiedenen Nationalitäten spielt. Als Arthur gehen will, fällt ihm ein begonnener Brief und ein Glas mit Tabletten auf – offensichtlich plant Claire, sich in dieser Nacht umzubringen. Arthur, der sofort reagiert, gelingt es, den sich entwickelnden Kampf um die Tabletten zu gewinnen und er schüttet sie in die Toilette. Er vermutet Liebeskummer, was sie mit den Worten quittiert:
RR »Halten Sie mich für blöd oder was?« – »Ja, wenn Sie so etwas machen, halte ich Sie tatsächlich für blöd.« Er traut einer jungen, attraktiven Frau keinen ernstzunehmenden Grund für einen Suizid zu. In der nächsten Szene entdeckt Claire in Arthurs Zimmer seine Einwilligungserklärung für die Sterbehilfe. Sie schüttelt nur den Kopf, als wolle sie ihm vermitteln, dass er wohl kaum das Recht habe, ihren geplanten Tod zu verurteilen, wenn er die gleiche Absicht verfolgt, und will sich in einer Apotheke neue Tabletten besorgen. Arthur läuft ihr hinterher und versucht erfolglos, sie mit Argumenten davon abzuhalten. Diese sind eher praktisch und vernünftig als moralisierend – natürlich hat er sich mit dem Thema beschäftigt und weiß, dass viele Menschen die Tabletten gleich wieder erbrechen oder mit einem Hirnschaden überleben. So ernst nimmt er sie doch, dass er auf banale Lebensratschläge verzichtet. Claire ignoriert ihn, er geht ihr auf die Nerven, und so verfolgt er sie unermüdlich. Auf einer Brücke bricht er mit Atemnot fast zusammen, und Claire kann nicht anders, als ihn zu fragen, ob alles in Ordnung ist:
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..Abb. 33.2 Arthur mit seinem Arzt und dem Trostmittel Alkohol (© Universum Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
RR »Alles o.k. Ich habe kurz geglaubt, jetzt ist es aus, aber jetzt geht’s wieder.« – »Schade.« – »Was?« – »Besser, als morgen in der Klinik. Wollen Sie nicht springen?« – »Nein.« – »Ich kann Sie auch schubsen.« – »Ich kann schwimmen.« – »Ich auch.« Sie gehen gemeinsam Essen, denn Arthur hat Hunger und will Claire ablenken – einen seiner letzten Wünsche kann sie ihm schlecht abschlagen. Das gewählte Restaurant scheint voll zu sein und Arthur will sofort wieder umdrehen, doch Claire gelingt es, einen extrem unbequemen Tisch für die Vorspeise zu organisieren. Ihr gefällt das Lokal auch nicht, aber sie möchte Arthur beweisen, dass sie in praktischen Dingen tüchtiger ist als er. Davon fühlt sich Arthur provoziert und versucht, ihr Ess- und Trinkverhalten madig zu machen, bis sie ihn bittet, doch eher seiner Frau auf die Nerven zu gehen. Dennoch, zunächst vermutlich aus gegenseitigem Verantwortungsgefühl, vielleicht auch aus Angst vor der kommenden Nacht, bleiben beide beieinander sitzen, obwohl die Stimmung zunehmend gereizt ist. Den Hauptgang nehmen sie zunächst schweigend ein. Claire wirkt abwesend und Arthur fragt sie unverbindlich, was »das Fleisch ist hart und trocken« auf Holländisch heiße und findet, die Übersetzung klänge wie eine Halsentzündung. Claire antwortet:
RR »Ja, wenn man so eine erotische Sprache wie Deutsch spricht, dann muss einem Holländisch wirklich ganz schrecklich vorkommen!« Zum ersten Mal lächeln sie einander an, sie haben eine Ebene gemeinsamen Humors gefunden. Sicher spüren sie bald auch eine rätselhafte Anziehung und die besondere Energie dieses Abends. Die Gesellschaft von Claire führt dazu, dass Arthur überraschend freundlich zur Kellnerin ist und das Fleisch lobt, obwohl es hart und trocken war.
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..Abb. 33.3 Arthur und Claire kommen sich beim Cannabis-Rauchen näher (© Universum Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Claire kommt auf Arthurs ursprünglichen Plan für den Abend zu sprechen und ist von seinem schwarzen Humor wie von seiner Absicht, das Letzte in seinem Leben, das Sterben, perfekt machen zu wollen, unfreiwillig fasziniert. Um einen Schritt in seine Erfahrungswelt zu machen, mischt sie ihre Cola mit seinem Wein, den sie pur nicht mag. Die Erklärung lautet augenzwinkernd, sie wolle Arthur leichter aushalten. Dieser plant weitere schräge Mixturen. Als sie plötzlich sagt, dass sie nicht glauben könne, dass er morgen sterben wird, antwortet er betroffen, dass er es auch kurz vergessen habe. Der Zuschauer gewinnt den Eindruck, Arthur begreife in diesem Moment, dass es hier nicht nur darum geht, eine junge Frau vom Suizid abzuhalten, sondern dass diese umgekehrt in der Lage sein könnte, ihn selbst zu retten. Als Arthur sich traut, sie nach ihren Motiven für den Suizid zu fragen, verlässt sie fluchtartig das Lokal. Er findet sie draußen an einem Kanal sitzend wieder – weit ist sie nicht gelaufen. Arthur entschuldigt sich für die verfrühte Frage und stellt fest, dass sie ihre Namen gar nicht kennen. Er nennt seinen, kann sie aber erst wieder versöhnen, als er einen Witz erzählt über schlechtes Timing. In der folgenden Szene geht Arthur mit in einen Coffeeshop (. Abb. 33.3), um Cannabis zu rauchen, allerdings mit großen Vorbehalten: Kontrollverluste sind ihm offenbar unheimlich. Etwas hat sich jedoch verändert: Nicht nur bestimmt wieder Claire, wohin es geht, er versucht auch nicht mehr, sie zu bevormunden. Als er später high ist, lächelt er zum ersten Mal aufrichtig und wirkt gelöst. Arthur hat früher selbst Musik gemacht, vor allem Folk Music – das ist auch Claires Lieblingsmusik. Er kommt zu dem Schluss:
RR »Der ganze Tag war so scheiße, und jetzt geht’s mir super, seit ich das geraucht habe.«
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Claire fragt nach, ist sie doch beteiligt am Verlauf des Abends:
RR »Vorher war es den GANZEN Abend scheiße, oder.« – »Nein, überhaupt nicht. Aber ich möchte nicht blöd herumflirten, weißt du. Wäre ziemlich lächerlich in meiner Situation.« Claire stimmt ihm zu und flirtet zurück:
RR »Für mich auch … Weil ich diesen schrecklichen Rudi-Carrell-Akzent spreche.« Die Musik wechselt von Reggae zu sanfter Gitarrenmusik und unterstreicht die veränderte Atmosphäre zwischen ihnen. Arthur öffnet sich:
RR »Ich bin so froh, dass ich dich getroffen habe. Du lachst mich jetzt aus, es ist total blöd, was ich sage, aber du bist für mich wie ein Engel, der mich abholt. Voll der Scheiß, was ich jetzt rede, aber wenn man Drogen nimmt, darf man einen Blödsinn reden, o.k.? Ich meine, du musst dir mal überlegen, wie Menschen normalerweise sterben, die sterben total jämmerlich, die sind im Krankenhaus, an irgendwelchen Schläuchen hängen die oder sitzen in zertrümmerten Autos nach einem Verkehrsunfall. Oder im Supermarkt fallen sie um, und sterben an einem Herzinfarkt, und ich darf hier sitzen. Das ist so groß, das ist wie ein 6er im Lotto. Das ist viel besser natürlich als ein 6er im Lotto, entschuldige. Das ist das Beste, was mir passieren kann. Ich kann super sterben morgen.« Claire umarmt ihn, mit Tränen in den Augen, ist sie doch mit einer Schuld beladen, von der der Zuschauer noch nichts ahnt. Sie gehen danach tanzen, wieder leidet Arthur unter heftiger Atemnot. Claire findet eine Apotheke, wohin sie sich mit einer Rikscha fahren lassen (. Abb. 33.1, Filmplakat); sie haben nun das bunte, quirlige Amsterdam verlassen – mit der weiteren Annäherung beider ordnet sich die Stadtkulisse zunehmend ihrem reicher werdenden inneren Erleben unter. Arthur fragt sie, wie und wo sie lebe und erfährt, dass sie in einer Kleinstadt zuhause ist und eine 5jährige Tochter hat. Als er ihr rät, dass sie in jedem Fall zu ihrer Tochter müsse, gibt sie ihm recht und verabschiedet sich – so wie immer, wenn das Gespräch an die Gründe für ihren geplanten Suizid rührt. Sie läuft zum Busbahnhof in der Nähe. Arthur folgt ihr erschrocken, doch nachts fährt auch in Holland kein Bus. Claire lässt ihre plötzliche Wut mit Tritten gegen einen Mast und mehreren »Fuck!«Rufen raus. Arthur setzt sich zu ihr auf einen Zeitungsstapel, entschuldigt sich und wechselt sicherheitshalber das Thema. Das Gespräch wird wieder leichter, ironisch in seinem Umgang mit Sterben und Tod – es dreht sich nun um die Liste der Dinge, die Arthur definitiv nach seinem Tod nicht vermissen wird. Eine zweite Liste mit wertvollen Dingen hat er, aus der Absicht heraus, sie zu verdrängen, nicht angelegt. Claire bietet ihm an, er könne sie nun auf die erste Liste schreiben – sie möchte wissen, wie er zu ihr steht. Natürlich befindet sie sich auf der anderen Liste mit den zu vermissenden Dingen. Claire schaut erfreut, überrascht, und sagt, das sei doch gut. Sollte ihm das nicht einen Grund mehr geben, länger am Leben zu bleiben? Doch Arthur findet es lediglich »blöd«, sich nun auch von ihr verabschieden zu müssen. Das nächste Ziel ihres Roadtrips ist eine leere Bar, die wie aus Raum und Zeit gefallen zu sein scheint. Claire schlägt Arthur vor, seinen Plan aufzugeben und fragt ihn nach dem Abschied von seiner Familie. Doch weder seine Frau noch sein Sohn reden noch mit ihm.
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Sein Sohn sei
RR »Fotograf, er arbeitet so viel wie nötig, er raucht viel Gras … Er glaubt, ich habe ihm sein Leben ruiniert … Ich habe ihm die Frau ausgespannt … Er wollte sie heiraten, er hat sie mir vorgestellt, ich habe mich verliebt … Dann habe ich meine Familie verlassen für sie.« Nun sei sie weg wie alle seine Frauen. Claire, kurz fassungslos, fragt nach, ob er wirklich sterben wolle, ohne sich zu verabschieden. Arthur reagiert kalt und gereizt:
RR »Das musst du nicht sagen. Zu mir. Du fährst vom Land in die Stadt, lässt deine Tochter zurück und willst dich umbringen. Du sitzt ein bisschen im Glashaus. Ja. Also bitte nicht mit Steinen werfen.« – »Sei einfach still.« – »Entschuldige. Du wolltest dich gar nicht umbringen. Wer so laut die Musik aufdreht, will sich nicht umbringen, der will gerettet werden. So ein Prinzessinnenreflex. Da soll der Prinz kommen. Auf einem Schimmel. Und soll einen rausholen. Aber wer klopft an die Tür? Ich blöde alte Sau.« Sein Selbstbild ist offenbar, was junge Frauen angeht, mittlerweile bescheidener geworden – sein Lächeln kann nur unzureichend verbergen, wie sehr ihn das frustriert. Als sie aufsteht, entschuldigt er sich sofort für den »schlechten Witz«. Daraufhin zeigt sie ihm Zeitungsartikel, die von ihr und ihrer Tochter handeln: Bei einem Autounfall vor einem Jahr, Claire saß am Steuer, ist die Kleine ums Leben gekommen. Arthur begreift, dass Claire keinen vermeintlich leichtfertigen Grund hatte, sich umzubringen. Er schämt sich für sein ignorantes Verhalten, ist erschüttert. Claire bezeichnet seine Familienprobleme als lächerlich und bleibt dabei: Versöhnen und verabschieden muss er sich, bevor er stirbt. Fast konkurrieren sie darum, wer mehr Grund für sein vorgezogenes Lebensende hat und wer besser vorbereitet ist – Claire greift ihn an, weil er sie lange nicht ernst genommen hat, Arthur kann nicht mit ihren berechtigten Fragen zu seinem bisherigen Leben umgehen. Die distanzierte, kühle Art über seine familiären Probleme zu reden, verdeckt nur ungenügend, wie viel Schmerz und Schuld für ihn damit verbunden sind. Vor dem Barmann bezeichnet er sich selbst als »feige« – begreift er zum ersten Mal die große Last, unter der Claire lebt, während er seine Probleme in Teilen sehr wohl lösen könnte. Arthur sagt ihr noch, sie solle die Artikel irgendwann wegwerfen, dann verlässt sie die Bar, er läuft ihr diesmal nicht hinterher. Unterdessen ruft sein Sohn an: Arthur erklärt, er sei in Amsterdam und werde hier morgen in einer Klinik sterben. Ob sie sich versöhnen könnten. Man hört den Sohn schwer atmen, ahnt erstickte Tränen, dann legt er auf. Claire fährt derweil noch nicht heim, sie biegt ab zu einer Bank am Wasser. Ganz dicht steht sie an der Kante, dem Grat, dem Abgrund. Sie schließt die Augen, weint leicht, schwankt. Dann lässt sie die Zeitungsartikel ins Wasser gleiten. Entscheidet sie erst in diesem Moment, nicht Suizid zu begehen, sich ihrem neuen Leben und allen Konsequenzen zu stellen? Spürt sie zum ersten Mal die Kraft dazu in sich? Auf dem Weg zurück hört sie Klaviermusik aus der Bar – Arthur spielt die irische Volksweise »Oh Danny Boy«, die vom Tod und Abschiednehmen handelt. Diesmal fallen keine Worte, die Musik verbindet sie, Claire beginnt zu singen, er spielt weiter, hat zurückgefunden zu einer alten Leidenschaft, der Musik. Diesmal ist keine Sprache, kein Witz zur Verständigung nötig, beide lächeln einander an, das genügt. Der nächste Morgen. Den kurzen Rest der Nacht haben sie in seinem Hotelzimmer verbracht, sie weckt ihn vorsichtig, er springt entsetzt auf, »Scheiße« ist sein erstes Wort, muss er doch in 40 Minuten
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in der Klinik sein und ist noch nicht einmal gewaschen. Claire ist verwirrt, fassungslos, dass er immer noch sterben will.
RR »Glaubst du, nur weil du Krebs hast, können dir alle Menschen egal sein?!« Doch er ist wie ferngesteuert, voller Angst vor dem qualvollen Erstickungstod und fixiert auf seinen Plan. Sie findet ihn feige und reagiert hilflos. Arthur schüttelt ihr förmlich die Hand. Mit einem ernsten »Nice to meet you« verabschiedet er sich von Claire und fährt in die Klinik. Die Situation macht ihn so sprachlos, dass die deutsche, die eigene Sprache nicht mehr reicht, er wechselt ins noch distanziertere Englisch. Die Katharsis, die Claire in der vergangenen Nacht erlebt hat, scheint spurlos an ihm vorüber gegangen zu sein, die Nacht für ihn ohne Bedeutung. Vor der Klinik trifft er seinen Freund, raucht mit ihm eine Zigarette, steigt aber nicht aus dem Wagen. Er denkt an die vergangene kurze Nacht. Als der Arzt ihn fragt, ob er noch etwas draußen (also: am Leben) bleiben will, wendet Arthur das Auto und fährt zurück zum Hotel. Um einen Stau zu umgehen, rennt er sogar den Rest der Strecke. Doch als er, völlig erledigt, doch ohne jegliche Atemnot (!) am Hotel ankommt, hat sie es bereits verlassen. Fast verschläft Claire die Abfahrtszeit des Busses – als sie einsteigt, entdeckt sie den erschöpften, gefasst wirkenden Arthur in der letzten Reihe. Sie kann es kaum glauben, während ihn seine eigene Courage zu irritieren scheint – sein Blick ist ausdruckslos, als sei er selbst fassungslos ob seiner Entscheidung. Auch hier fällt das angemessene Sprechen so schwer, dass sie ins Englische wechseln, so, als würden sie sich nicht kennen. Ohne (schwarzen) Humor geht es auch jetzt nicht. Ob sie aufs Land fahre, und ob es dort schön sei, fragt Arthur sie. Claire antwortet:
RR »Nein, langweilig. Schlechtes Wetter. Sehr deprimierend. Nach einer Woche würden Sie sich möglicherweise selbst umbringen.« – »Das ist der perfekte Urlaubsort für mich.« Beide lächeln, sie sehr glücklich, weiterhin ungläubig. Nach einer Pause fragt Arthur, nun wieder auf Deutsch, wie lange man brauche, um holländisch zu lernen. Für ein halbes Jahr (vermutlich seine Lebenserwartung) rentiere sich das vielleicht. Ihr Gespräch endet vorerst mit dem schwierigsten holländischen Wort: schip beschuit (Schiffszwieback). Arthur übt es und der Bus fährt in den Sonnenaufgang und den Beginn von Arthurs restlichem Leben hinein.
Schuld, Leid und Krankheit – Suizidmotive Arthur Arthur wirkt bereits in den ersten Filmszenen mit seiner Direktheit äußerst unsympathisch, kalt und zynisch. Mag sein, dass seine Situation ihn rücksichtsloser agieren lässt, doch hat man als Zuschauer nicht den Eindruck, er sei früher wesentlich großzügiger und umgänglicher gewesen. Er hält zunächst Distanz, beobachtet das (Amsterdamer) Leben vom Hotelfenster aus, während er wie ein Ausgestoßener wirkt. Die Absicht, jederzeit die Kontrolle zu behalten und unabhängig nur nach den eigenen Regeln zu leben, ist zentral für sein Handeln und, neben der Angst vor dem qualvollen Ersticken, das entscheidende Motiv, sich für die Inanspruchnahme von Sterbehilfe zu entscheiden. Auch seinem befreundeten Arzt vertraut er kaum, er erwartet »Garantien« für ein schmerzfreies, rasches Ende, die er ihm gleichzeitig nicht glauben kann. Arthur stellt einen Anspruch an seinen Tod, gut will er ihn machen – doch wie sieht es mit dem Anspruch an sein Leben aus?
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Neben der beruflichen Leistung geraten Menschlichkeit und familiäre Bindungen völlig aus dem Blickfeld, scheinen Beziehungen keine Bedeutung für ihn zu haben, nicht mal vor einer Affäre mit der Verlobten seines Sohnes schreckt er zurück. Seine wiederholten Versuche, zum Schluss noch einmal Kontakt zu seinem Sohn aufzunehmen, zeigen, dass ihm eigentlich etwas liegt an David und er den Zustand ihrer Beziehung so kurz vor seinem Tod als untragbar empfindet. Er schiebt den Abschied bis ganz zum Schluss hinaus, aus Unfähigkeit, seinen Gedanken und Gefühlen vorher angemessen Ausdruck zu verleihen. Was ist schief gegangen in ihrer Beziehung? Der Sohn hat offenbar väterliche Vorstellungen nicht erfüllt, gleichzeitig beneidet Arthur ihn womöglich um einige Freiheiten, die sein Sohn sich nimmt. Führt David ein erfülltes Leben? Hat er eine Familie? Das erfahren wir nicht. Arthurs Beziehungsproblematik zeigt sich deutlich, als David ihn in der kleinen Bar zurückruft: Ohne eine Einleitung oder Frage danach, wie es seinem Sohn geht, berichtet Arthur ihm im ersten Satz, dass er morgen in einer Klinik sterben wird und endet mit der Bitte um Versöhnung. Sein geschockter Sohn ringt um Fassung, dann legt er auf. Was hat Arthur erwartet? Dass sein Sohn keine Gefühle mehr hat für ihn, sein Sterben sachlich hinnimmt und ihm die Absolution erteilt? Nein, Arthur versteht in dieser Szene nichts von Gefühlen und verantwortungsvollem Verhalten als Vater. Auch Claire gegenüber ist er anfangs wenig empathisch. Im ersten Lokal bevormundet und provoziert er sie, später in der Bar unterstellt er ihr, noch bevor er die wahren Hintergründe kennt, sie habe sich gar nicht wirklich umbringen wollen. Zu seinen Gefühlen für sie hat er nur im bekifften Zustand Zugang, sonst kontrolliert oder ignoriert er sie. Auch die für ihn eigentlich so wichtige Nacht und die begonnene Beziehung zu Claire hindern ihn zunächst nicht daran, am nächsten Morgen an seinem Sterbewillen festzuhalten, auch diese Beziehung für unwichtig zu halten. Claire ist sein personifizierter Kontrollverlust, der Angst macht, vertrauen kann er ihr längst nicht so leicht. Gefühle sind für Arthur generell ein schwieriges Thema: Ob Angst oder Einsamkeit – alles wird versteckt hinter zynischen Bemerkungen, Respektlosigkeiten, einer Maske aus Unverletzlichkeit und schwarzem Humor. Dem Zuschauer bleibt oft das Lachen im Hals stecken, es kommt aber, wie beabsichtigt, auch keine Rührung auf, wiewohl die Bestürzung bleibt. Auch stellt sich die Frage, warum er es mit dem Sterben eiliger hat als nötig – seinem Arzt sagt er, er habe nichts mehr vor. Niemand, an dem er hängt, keine letzten Wünsche – sein Leben muss schon vor der Diagnose leer gewesen sein. So ist ein Grund für seinen zügigen Sterbewunsch auch die Angst, im Sterben (wie im Leben) alleine gelassen zu sein – ahnt er wohl, dass sein Verhalten in den letzten Jahren kaum Anlass gibt, etwas Anderes zu erhoffen. Schuldgefühle zeigen sich nicht direkt, sind aber unter der Oberfläche zu erahnen. Ihm hilft in Extremsituationen der Alkohol: Das erste Glas Wein bereits im Flugzeug, gefolgt von einem in der Klinik – auch den Rest des Abends trinkt er. Seine anhaltende Nüchternheit, selbst mit und nach dem Joint, spricht für eine erworbene Trinkfestigkeit. Die gelebte, rigorose Unabhängigkeit und der geplante Suizid sind folglich weniger Ausdruck seines radikalen Wunsches nach Selbstbestimmtheit als eher Folge seiner Einsamkeit: entstanden aus der Unfähigkeit, stabile Beziehungen zu begründen und angemessen mit Gefühlen wie Angst und Bedürftigkeit umzugehen. Auch weitere sinnstiftende Faktoren, wie seine frühere Liebe zur Musik, haben ihre Kraft verloren. Die wenigen Gründe, am Leben zu bleiben, erfahren wir nicht, er verdrängt sie. Vermutlich ist diese Liste auch wesentlich kürzer als die andere mit den überflüssigen Dingen, womöglich steht (neben seinem Sohn?) überhaupt nur Claire darauf. Doch ist gerade diese Liste letztlich entscheidend für die Wende in seinem Leben und die Abkehr vom Suizid.
Claire Über Claire erfahren wir weniger als über Arthur. Auch wenn sie zu Beginn ihrer Bekanntschaft eher stark und unverletzlich zu sein scheint, zeigt sie im Gegensatz zu ihm offener ihre Gefühle: Sie ist tem-
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peramentvoll, zeigt ihre Wut (an der Rezeption oder als Arthur ihr die Tabletten wegnimmt), sie kann sich durchsetzen (im Lokal bekommt sie entgegen seiner Annahme einen Tisch, sie ignoriert seine Versuche, sie zu bevormunden), zeigt Tränen und lächelt öfter als er. Doch droht sie an ihrer Schuld zu zerbrechen: Sie fuhr den Wagen, in dem ihre Tochter tödlich verunglückte. Details darüber, in welchem Ausmaß sie tatsächlich die Verantwortung für den Unfall trug, ob sie zu schnell fuhr, die Tochter nicht angeschnallt war oder sie in einer Gefahrensituation nicht rasch genug oder falsch reagiert hat, erfahren wir nicht. Doch unabhängig von den Fakten ist für Claire ihre Schuld eindeutig erwiesen. In ihrem Heimatort war sie, wie sie Arthur erzählt, eine Zeitlang sogar eine »Berühmtheit«, wurde also ständig öffentlich konfrontiert mit ihrem Verlust und ihrer tief empfundenen Schuld. Das spricht nicht für ein stärkendes, stabiles und empathisches soziales Umfeld. Auch sie dürfte, zumindest in dieser konkreten Situation, einsam sein, nicht die nötige Unterstützung erhalten haben. Ein Weiterleben unter dieser Last scheint ihr nicht zu gelingen, womöglich hat sie ihr Recht auf Glück, Liebe und Unterstützung ihrer Ansicht nach verwirkt, dient der Suizid so auch der Selbstbestrafung. Sie leidet unter dem Verlust der Tochter, der Trauer, der Schuld, der Scham. Claire flüchtet daher regelmäßig vor Arthurs Fragen nach dem Hintergrund ihres geplanten Suizids. Was könnte sie sonst am Leben halten – ein Beruf, ein Sinn, ihre Familie, der Vater des Kindes? Wir wissen es nicht, erfahren nichts von ihren »Listen«. War der Suizid lange im Voraus geplant oder eine eher spontane Entscheidung? Claire macht grundsätzlich den Eindruck, sehr wohl die innere Stärke und die persönlichen Ressourcen zu haben, mit existenziellen Krisen umgehen zu können – vielleicht war ihr Suizidversuch tatsächlich nur eine akute Überforderungsreaktion. Man spürt wesentlich mehr Lebensenergie in ihr als bei Arthur, der resigniert zu haben scheint. Auch Beziehungen sind ihr wichtiger als ihm, zumindest kann sie seine Weigerung, sich angemessen von seiner Familie zu verabschieden, nicht akzeptieren.
»Ich kann schwimmen.« – »Ich auch.« – Wie sie einander helfen Neben allen Unterschieden ihrer konkreten Lebenssituationen, ihrer Charaktere und der Motive für den Suizid gibt es Ebenen, auf denen sie eine Beziehung aufbauen können. Zum einen befinden sie sich in der gleichen Situation, Suizid ist für sie kein abstraktes, womöglich moralisch zu beurteilendes Thema, sondern sie begegnen sich auf Augenhöhe, aus einer existenziellen Krise heraus. Dennoch hinterfragen sie die Gründe des anderen, sein Leben beenden zu wollen – Arthur glaubt zunächst (aus der Arroganz seiner größeren Lebenserfahrung heraus) an einen eher banalen Liebeskummer, Claire dagegen ist unklar, warum er es so eilig hat mit dem Sterben, wirkt er doch nicht krank. Dieses Zweifeln an den Motiven des Anderen öffnet sie füreinander und bringt eine gewisse Lebensenergie zurück, auch wenn sie diese zunächst nicht für sich selbst nutzen können, sondern dafür aufwenden, dem Anderen die Bedeutung seines Lebens vor Augen zu führen. Sie fühlen sich spontan füreinander verantwortlich: er dafür, sie von ihrem Plan abzuhalten, Claire sich zumindest für seinen letzten Abend. Dass sie die Gründe für das Sterbenwollen des Anderen hinterfragen, ermöglicht ihnen auch wieder eine größere Distanz zu ihren eigenen Motiven und eröffnet eine andere Sichtweise auf die eigene Lebenssituation, ob nicht auch diese anders als bisher einzuschätzen sei. Die Entscheidung für den radikalen, scheinbar einzig möglichen Ausweg aus der Lebenskrise ist womöglich doch nicht so unumkehrbar, wie zunächst angenommen. Hinzu kommt das Empfinden, jemandem wichtig zu sein, am Scheideweg ernst genommen zu werden, mehr oder weniger offen über Tod, Sterbehilfe und Schuld sprechen zu können. Nur ein anderer Suizidaler kann sie in ihrer Not erreichen, nur den nehmen sie ernst. Obwohl Arthur ein Misanthrop zu sein scheint, als er Claire kennenlernt, handelt er sofort entschieden: Nicht nur nimmt er ihr die Tabletten weg und vernichtet sie, er hält sie auch erfolgreich davon ab, sich neue zu besorgen – warum ist sie ihm so wichtig? Offenbar löst sie etwas aus in ihm – er kann Verantwortung übernehmen und wenigstens ihr Leben retten. Arthur zeigt hier eine selbstlose Aus-
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dauer und ein Verantwortungsbewusstsein, wie vielleicht selten in seinem Leben. Und das instinktiv, ohne nachzudenken. Claire geht er damit zunächst vor allem auf die Nerven, denn er verhindert die Durchführung ihres Plans, aber es berührt sie auch, dass sie diesem Fremden so wichtig ist. Ihre Kommunikation dagegen verläuft zunächst holprig, sind sie zwar durch die Situation nah verbunden, doch gleichzeitig einander völlig fremd. Unter normalen Umständen würden sie niemals freiwillig einen Abend miteinander verbringen – dennoch fühlen sie sich voneinander angezogen: Arthur von ihrer Jugend, ihrer Tragik, ihrer Entschlossenheit und Kreativität; Claire ist überrascht von seiner Selbstironie, die der Situation jegliche Schwere nimmt und das zuerst entstandene Bild des scheinbar Überlegenen unterläuft. Zunächst scheint der Humor der ernsten Situation nicht angemessen zu sein, doch ist er eher ein Symbol für die menschliche Freiheit, einer Krise zu trotzen – Freud beschreibt das in seinem Aufsatz »Der Humor«: »Der Humor ist nicht resigniert, er ist trotzig, er bedeutet nicht nur den Triumph des Ichs, sondern auch den des Lustprinzips, das sich hier gegen die Ungunst der realen Verhältnisse zu behaupten vermag« (Freud 2017, S. 255).
Der Humor entspricht also vor allem einer Haltung dem Leben und seinen Herausforderungen gegenüber, er schafft Distanz. Beide verstecken ihre Gefühle und ihre Angst, ihre Einsamkeit und ihr Leiden am Leben zunächst hinter einer Burgmauer aus Unverletzlichkeit; der Graben ist mit (schwarzem) Humor und Ironie gefüllt, die Distanz ermöglichen zu den eigenen Gefühlen, der Situation und dem Anderen, der so vertraut und zugleich so fremd ist. Gleichzeitig bildet der Humor aber auch eine Brücke zueinander, macht er eine Annäherung möglich, denn zunächst wissen beide nicht, wie sie miteinander und ihrer Todesnähe umgehen sollen. Die ironischen Sätze helfen oft, das stockende Gespräch wieder in Gang zu bringen, auch nationale Klischees über Holländer und Österreicher werden gerne bemüht, leiten Aggressionen in weniger persönliche Bahnen. Ihre Annäherung verläuft nicht linear. Arthur rührt mit seinen Fragen oft an für sie Unaussprechliches, an das Eingeständnis ihrer Schuld, woraufhin sie glaubt sich zurückziehen zu müssen und er das Gespräch neu anknüpfen muss. Es ist wie ein Tanz mit unbekannter Choreographie, ein sich Herantasten – beide sind verschlossen, sprechen (noch) nicht gerne offen über Privates, wobei Arthur zunächst ehrlicher wirkt im Schildern seiner familiären Situation – das soll jedoch vor allem weiteres Nachfragen verhindern. Beide verbindet die Angst, ihre entstehende Beziehung könnte das zu sehr belasten. Gerade in den sprachlosen Situationen kommen ihnen ihr Humor und ihre Fähigkeit zur Selbstdistanz zu Hilfe: so werden Gespräche und Begegnungen (wieder) möglich, auf neutralerem Boden, gereizte Stimmungen schwächen sich ab, das gemeinsame Lachen schafft Nähe. Und: Der Humor verhindert das Aufkommen von Rührseligkeit, so wie der ganze Film die Balance hält zwischen der Tragik des Todes und der Leichtigkeit des Lebens. Aus dem Spannungsfeld von Leben und Sterben, Fremdheit und Nähe (sprachlich, national, persönlich), aufkommenden Gefühlen und Schuld sowie Leid entsteht eine Energie, die sie letztlich dem Leben wieder näher bringt. Ihre Gefühle und ihre empfundene Verantwortung füreinander lassen neue Perspektiven entstehen und bilden den Kontrapunkt zu Angst, Einsamkeit und Schuld, scheinen andere Auswege aus der Krise zu ermöglichen, bringen eine unerwartete Lebendigkeit zurück. Claire ist überrascht, was sie auslöst in ihm, spürt durch die Begegnung wieder ihre eigene Kraft, auch ihre Bedeutung für andere Menschen – so kann sie letztlich ihre Lebenskrise überwinden und das Weiterleben ertragen. Für Arthur ist sie der personifizierte Kontrollverlust, doch er überlässt sich ihm, spürt zum ersten Mal wieder das Leben, Gefühle, die Freude an Musik und daran, was ein Mensch einem anderen geben
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und ihm bedeuten kann. Das gibt ihm die Kraft und die Hoffnung auf ein lebenswertes restliches Leben, egal, wie lange es dauert. Beide richten den Fokus nun weniger auf sich selbst, sondern auf den anderen und ihre empfundene Verantwortung für ihn. Indem sie einander helfen, können sie sich vielleicht eines Tages selbst verzeihen.
Philosophische Überlegungen zum Suizid am Beispiel von »Arthur & Claire« Suizid kann in verschiedenen Lebenskrisen als der einzige Ausweg betrachtet werden – wie bei Claire aus einem Leiden an Schuld und Tod, das auf die Dauer des Lebens unerträglich schwer zu sein scheint. Kraft und neues Vertrauen können hier durch das Erleben echter Gemeinschaft wiedergewonnen werden, sobald die Scham ausgedrückt und die Sprachlosigkeit aufgebrochen werden kann. Bei Arthur geht es dagegen um eine unheilbare Krankheit, deren Folgen er nicht ertragen kann und will. Bei der gesellschaftlich so wichtigen Frage nach dem Ermöglichen der Sterbehilfe, in welcher Form auch immer, werden implizit Annahmen gemacht, die kaum hinterfragt zu werden scheinen: Erste Annahme: Ärzte können den Verlauf einer Krankheit und die Lebenserwartung genau vorhersagen. Ihnen wird zwar ungern die Begleitung des eigenen Sterbeprozesses anvertraut (Ärzte scheinen aus dieser Perspektive vor allem ein Interesse daran zu haben, Leben künstlich und damit qualvoll zu erhalten). Sehr wohl aber wird ihnen zugetraut, alles über den künftigen Ablauf des eigenen Sterbens und die Dauer des verbleibenden Lebens zu wissen, obwohl das eigentlich niemand kann. So erwartet Arthur beispielsweise das qualvolle Ersticken, kann aber ohne Atemnot gegen Ende des Films quer durch Amsterdam rennen. Zweite Annahme: Bei der Diagnose einer tödlich verlaufenden Krankheit gibt es nur 2 Alternativen – entweder entwürdigendes und langes Leiden zu erdulden oder selbst deutlich vorher das eigene Leben per Sterbehilfe zu beenden. Die Frage nach einer Sterbekunst wird selten gestellt, Palliativmedizin wird oftmals nicht zugetraut, einen Sterbeprozess erträglich zu machen. In diesem Zusammenhang stellt sich außerdem die Frage – ohne hier die Qualen eines Sterbenden relativieren zu wollen – warum das Leiden oder die Abhängigkeit von anderen Menschen an sich schon würdelos sein sollen. Welches Menschenbild verbirgt sich hier? Sind wir doch auch als Gesunde immer wieder auf Hilfe angewiesen und erleben Leid. Meist verfügen wir über ein uns stützendes soziales Umfeld – warum soll diesem das eigene Sterben nicht zumutbar sein, warum wird es da unwürdig? Kann und sollte nicht gerade eine Gemeinschaft ein würdevolles Sterben ermöglichen? Arthur entscheidet sich gerade deshalb für Sterbehilfe, weil er eine liebevolle Nähe nicht erfahren konnte. Und revidiert seine Entscheidung, als sich das ändert. Dritte Annahme: Unser Leben gehört uns ebenso allein wie unser Sterben. Dabei haben wir uns das Leben selbst nicht gegeben, es ist uns gegeben worden, ohne dass wir einen Einfluss hatten auf Zeitpunkt, Ort oder Umstände. Und: Haben wir nicht auch, wie Claire es betont, eine Verantwortung für andere? Gehört uns die Entscheidung über Art und Zeitpunkt unseres Todes also wirklich ganz allein? Wie autonom können und wollen wir sein? Ist nicht das Leben wie der Tod letztlich unvorhersehbar und das, wie auch im Fall von Arthur und Claire, zum Glück? Arthur hat, entgegen seiner Annahme, noch Vieles zu erledigen – sich mit seiner Familie zu versöhnen, Verantwortung zu übernehmen, Liebe und Sinn zu erfahren. Gerade das gelingt ihm in der Phase seines Lebens, die er abkürzen wollte. Vierte Annahme: Die einzige Freiheit, die bei der Diagnose einer unheilbaren Krankheit bleibt, ist die Wahl der Todesart. Doch dazwischen liegt noch ein Leben, das mit der Diagnose längst noch nicht vorbei ist. Es bleibt die Frage nach einem guten, sinnerfüllten Lebensende. Darauf hat der Mensch
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eindeutig einen Einfluss. Der Tod an sich gibt keine Würde, keine Autonomie, nur das Leben kann es. Und dessen Verlauf ist offen, wie der Film eindringlich zeigt. Um mit Heraklit zu sprechen, einem Philosophen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts: Alles fließt, weder der Fluss, in den wir steigen, noch wir bleiben dieselben (vgl. Hackemann 2016). Auch im Film finden wichtige Gespräche immer wieder am Wasser statt, trifft Claire dort vermutlich gegen Ende des Films den Entschluss, ihr Leben weiter zu führen. Wasser und Leben sind beide frei, dauernd veränderlich und kaum zu kontrollieren. Diese Offenheit gilt es zu gestalten, auch im Sterben eröffnen sich entscheidende Räume von Autonomie, Freiheit und die Möglichkeit, Neues anzufangen, dem Leben eine neue Wende zu geben. Für Hannah Arendt, Philosophin und politische Theoretikerin (1906–1975), wird unsere Gebürtlichkeit zur zentralen Kategorie, die dem Menschen das Anfangen möglich, ja zur Aufgabe macht. Sie beschreibt in der Vita Activa, einem ihrer Hauptwerke von 1958, wie die Tatsache, dass wir Geborene sind, also selbst ein radikaler Anfang in der Welt, uns ermöglicht, die Initiative zu ergreifen, zu handeln, damit selbst immer wieder anzufangen (Arendt 2007). Gerade Lebenskrisen, die einen radikalen Bruch unseres gewohnten Lebens darstellen, fordern einen Neuanfang. Diese handelnde, aktive Reaktion auf die Krise macht erst Freiheit möglich, denn diese ist für Arendt keine Eigenschaft, die dem Menschen selbstverständlich zukommt, sondern die nur ist, wenn sie sich im spontanen Handeln verwirklicht, wir uns handelnd in den Verlauf der Welt einschalten, ihren Kreislauf unterbrechen und das Vorgefundene aktiv infrage stellen und verändern. Die Bedingtheiten unserer Existenz sind der Ausgangspunkt und der von uns gemachte Anfang die Form, mit ihnen zu brechen. Gerade aus dem Gefühl der Unfreiheit, der Ausweglosigkeit einer Lebenssituation entsteht die Notwendigkeit des Anfangs, nicht nur als Freiheit VON, sondern gerade als Freiheit ZU etwas. Nicht umsonst spielt der Film am 1. Januar, als ein neues Jahr seinen Anfang nimmt. Auch für den Psychiater und Begründer der Logotherapie Viktor E. Frankl (1905–1997) existiert Freiheit nur, wenn der Mensch sie ergreift und verwirklicht. Nicht nur in einem seiner Hauptwerke, der Ärztlichen Seelsorge, erschienen 1946, beschäftigt er sich mit dem Thema Suizid, sondern zentrales Motiv seiner Arbeit und seines Lebens war, der Sinn-Leere mit seiner Sinn-Lehre zu begegnen. Für Frankl ist ein Leben in keiner Situation sinnlos, gerade die scheinbar ausweglosen Lebenskrisen fasst er als Herausforderung auf, als Aufgabe, die sich dem Menschen stellt und der er mit einer angemessenen Haltung zu begegnen hat. Frankl stellt darüber hinaus infrage, dass ein Mensch überhaupt objektiv entscheiden kann, seine Krise sei ausweglos, Suizid damit der einzige Ausweg – die Überzeugung bleibt subjektiv, denn, und der Film belegt seinen Satz: »keiner kann im Voraus wissen, ob gerade seine Überzeugung auch objektiv ist und zu Recht besteht oder aber bereits durch das Geschehen der nächsten Stunden Lügen gestraft wird, jener Stunden, die er unter Umständen nicht mehr erlebt« (Frankl 2018, S. 99).
Und: »auch im Leben wird kein Problem dadurch gelöst, dass man das Leben wegwirft« (Frankl 2018, S. 100).
Für Frankl ist das Kämpfen, nicht der Ausgang des »Spiels« entscheidend, gerade aus der Haltung, mit der man ihm begegnet, kann der »Erfolg« und damit der Sinn entstehen. Mit dem Philosophen Friedrich Nietzsche ist er der Auffassung, dass wer ein Warum zum Leben hat, also einen Sinn sieht, auch (fast) jedes Wie erträgt. Er betont, genau wie der Film, die Offenheit der Zukunft, die immer erst gestaltet werden muss, nie festgelegt ist. Für Frankl ist wie für Arendt das Handeln, die Reaktion auf
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„Wenn Du denkst es geht nicht mehr” (Rilke)
eine Krise entscheidend – der Sinn entsteht aus konkreten Antworten auf konkrete Lebensfragen. Und selbst, wenn kaum mehr körperliche Freiheit bleibt, können Einstellungswerte verwirklicht werden: »Es geht um Haltungen wie Tapferkeit im Leiden, Würde auch noch im Untergang und im Scheitern« (Frankl 2018, S. 93).
Das bedeutet, dass Würde nicht objektiv von einer Situation abhängt, sondern von der Reaktion darauf. Für Arthur und Claire hat sich das ganze Leben zu einem Zeitpunkt gewendet, als sie es für beendet hielten – doch ihre Begegnung zeigt ihnen eine Aufgabe, einen Sinn, auch füreinander da zu sein und gibt ihnen die Kraft, die Zukunft zu gestalten. Und auch wenn man einen Sinn bezweifelt, der hinter allem liegt, bleibt das Kämpfen zentral, wie für den französischen Philosophen Albert Camus (1913–1960). So führt er in seinem Werk »Der Mythos von Sisyphos« von 1942 aus, dass für ihn ein Sinn, der das Universum trägt und rechtfertigt, unsichtbar, also praktisch für den Menschen nicht existent ist. Das Leben ist absurd – die Welt lässt den Menschen in seinem Suchen nach Gott, einem Halt, Sinn, Gerechtigkeit und Antworten allein, nur der Tod ist gewiss. Folglich ist für Camus die einzig relevante philosophische Frage die des Selbstmords, als mögliche Reaktion auf die Absurdität des Lebens. Doch er lehnt es ab, aufzugeben – gibt es für uns keine Sicherheit, müssen wir sie miteinander, solidarisch im Kampf gegen das Absurde zu schaffen versuchen, soweit es uns möglich ist. Dieser Kampf, die Revolte wie Camus es nennt, auch gegen den Tod, gibt erst die echte Freiheit, nicht die Resignation und das Aufgeben. »Die einzige Freiheit, die ich kenne, ist die des Geistes und des Handelns« (Camus 2001, S. 76).
Uns entsteht so die Aufgabe, das Leben voll auszuschöpfen, intensiv zu leben, das Absurde nicht gewinnen zu lassen. Diese Freiheit ist, nachdem wir uns von allen Illusionen getrennt haben, immer da, wir haben immer die Wahl, uns einer Krise mit einer bestimmten Haltung zu stellen, selbst wenn wir keine Hoffnung haben, sie zu überleben. Erst die Auflehnung gegen das unausweichliche Schicksal und den Tod gibt dem Leben seinen Wert – es gilt nur das, was erlebt und getan wird. Der Mensch überschreitet sich in der Liebe und der Solidarität, so erst wird ein neuer Entwurf des Lebens und der Menschheit möglich. Und: Nachdem das Leben absurd und damit radikal unsicher ist, ist auch immer ein guter Ausgang möglich, gemeinsam und solidarisch mit anderen – dafür ist dieser Film ein gutes Beispiel.
Literatur Arendt H (2007) Vita Activa oder vom tätigen Leben. Piper, München Camus A (2001) Der Mythos des Sisyphos. Fischer, Hamburg Frankl V (2018) Ärztliche Seelsorge – Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. dtv, München Freud S (2017) Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten/Der Humor. Fischer, Frankfurt/M. Hackemann M (Hrsg) (2016) Die Vorsokratiker – Von Thales bis Demokrit. Anaconda, Köln
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Arthur & Claire (2017)
Originaltitel
Arthur & Claire
Erscheinungsjahr
2017
Land
Deutschland, Österreich, Niederlande
Drehbuch
Miguel Alexandre, Josef Hader
Regie
Miguel Alexandre
Hauptdarsteller
Josef Hader, Hannah Hoekstra
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Astrid Kathrein
„Der Mensch beginnt nicht erst beim Abitur“ Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Selbstdefinition durch Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 Leistungsdruck in Bildungseinrichtungen und dessen (psychosomatische) Auswirkungen . . . . . . . 517 Das ungelebte Leben der Eltern und ihrer Kinder . . . . . . 518 Im Zwiespalt von Anpassung und Selbstentfaltung . . . . . 520 In der Isolation: Ablehnung und Einsamkeit . . . . . . . . . . 521 In der Resignation: Ausweglosigkeit und (Sinn‑)Verlust . . 524 Frage der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 (Aus‑)Weg in das eigene Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_34
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Filmplakat Tod eines Schülers. (© ZDF. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Tod eines Schülers (1981) Astrid Kathrein
In der sechsteiligen ZDF-Serie Tod eines Schülers (Drehbuch: Robert Stromberger, Regie: Claus Peter Witt) steht der Suizid des Abiturienten Claus Wagner aus Darmstadt im Mittelpunkt des Geschehens. Die Figur des Protagonisten ist zwar fiktiv, verkörpert aber reale Probleme, die noch heute viele Menschen betreffen. Die Fernsehspielreihe wurde erstmals zu Beginn des Jahres 1981 wöchentlich ausgestrahlt und im selben Jahr mit der Goldenen Kamera ausgezeichnet. Aufgrund der signifikant angestiegenen Suizidraten nach der Erstausstrahlung, besonders unter den 15- bis 19-Jährigen, korrelierend mit den Einschaltquoten, wurde bei der Wiederholung im Herbst 1982 ein Kommentar des evangelischen Theologen und Soziologen Prof. Dr. Klaus-Peter Jörns am Ende jeder Folge hinzugefügt. Schmidtke und Häfner (1986) führen den Anstieg auf das Lernen am fiktiven Modell, also auf die Nachahmung von vor allem ähnlichen Modellen, zurück (vgl. Albert Bandura: Lernen am Modell). Dies zeigt sich daran, dass es sich in der Serie um einen 18- bzw. 19-jährigen Protagonisten handelt (die Altersangaben differieren), und der Anstieg primär 15- bis 19-Jährige, Männer mehr als Frauen, betraf. Die zweite Ausstrahlung hatte einen schwächeren Effekt, allerdings waren auch die Einschaltquoten geringer. Zwei weitere vom ZDF in Auftrag gegebene Gutachten bestätigten den Zusammenhang zwar nicht, dennoch wurde die Serie erst im Jahr 2009, zum Tod von Robert Stromberger, wieder gesendet sowie auf DVD veröffentlicht (Jürgens 2017; Macho 2018, S. 155 f.; Spiegel Online 1986; . Abb. 34.1, Filmplakat). Als Besonderheit der Serie gilt der mehrperspektivische Blick auf die Ereignisse anstelle der Erzählung eines einzelnen Handlungsstranges. Umgesetzt wird dies dadurch, dass in den sechs Folgen jeweils eine Person oder Personengruppe mit ihrem Erleben in den Mittelpunkt gestellt wird. Es handelt sich dabei um subjektive Perspektiven folgender Personen: in Folge 1 Kommissar Löschner, der den Fall Claus Wagner untersucht; in Folge 2 die Eltern von Claus; in Folge 3 die Lehrer und Lehrerinnen; in Folge 4 die Mitschüler und Mitschülerinnen; in Folge 5 die Freundin von Claus, Inge Reitz. Folge 6 bringt schließlich Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt von Claus selbst. Am Anfang und Ende jeder Folge wird die Begräbnisszene eingeblendet, womit sich der Kreislauf der Handlung bzw. des Lebens schließt. Durch diese Filmdramaturgie bleiben Widersprüchlichkeiten bestehen und Fragen, insbesondere nach der Schuld, offen – der Zuschauer/die Zuschauerin wird zum Nachdenken über die Zusammenhänge angeregt (Jäschke und Block 1981). Dementsprechend wird die Handlung im Anschluss nur kurz skizziert, um darauf aufbauend zentrale Themen anhand konkreter Szenen aufzugreifen. Aufgrund des Potenzials der Serie (wie von zahlreichen anderen Filmen), eine Auseinandersetzung mit den besprochenen und weiteren Themen anzuregen, kann diese gezielt im Schulunterricht, in der Erwachsenenbildung, in der Therapie (in Form der Filmtherapie; vgl. Teischel 2007, 2017) bzw. allgemein zur Selbsterfahrung eingesetzt werden.
Handlung Claus Wagner (Till Topf) wurde als einziger Sohn am 17. August 1961 geboren und lebt mit seinen Eltern, Horst Wagner (Günter Strack) und Yvonne Wagner (Eva Zlonitzky), die das französische Lokal La Chambrette betreiben, in Darmstadt. In der Serie wird der Zeitraum von etwas mehr als einem Jahr vor dem Abitur dargestellt, in dem für Claus das Ziel, einen für das Medizin- oder Psychologiestudium ausreichenden Numerus clausus zu erlangen, im Vordergrund steht. Dieses Ziel ist besonders für die Eltern, vor allem für den Vater, von großer Bedeutung. Dass Claus auch andere Wünsche als gute Schulleistungen hat, zeigt sich beim Kennenlernen einer Frau, Inge Reitz (Ute Christensen), die älter ist als er (sie 25, er 18) und bereits im Arbeitsleben steht. Er
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„Der Mensch beginnt nicht erst beim Abitur“
bricht den Besuch der Gervinus-Schule ab, zieht bei den Eltern aus, in Inges Wohnung ein und versucht, sich mit verschiedenen Jobs über Wasser zu halten, jedoch ohne dabei Zufriedenheit zu finden. Seine Eltern zeigen sich gegenüber Inge distanziert, da sie ihrer Ansicht nach maßgeblich an der persönlichen Veränderung ihres Sohnes beteiligt ist und ihn vom Streben nach einem bestmöglichen Numerus clausus abbringt. Letztlich kehrt Claus wieder in das Elternhaus zurück und nimmt zur Freude seiner Eltern den Schulbesuch mit dem Ziel des Abiturs an einer anderen Schule, der Kaup-Schule, wieder auf. Dass sich Claus, der an der Gervinus-Schule sehr geschätzt wurde, nun an der Kaup-Schule mit seinem ausgeprägten Ehrgeiz sehr unbeliebt macht, sehen seine Eltern nicht. Für sie steht die erfolgreiche Schullaufbahn ihres Sohnes an oberster Stelle. Ihr eigenes Leben, wie die Herzschwäche der Mutter, spielt hingegen nur eine Nebenrolle. Die Eltern treten vor allem mit ihren Forderungen an ihren Sohn heran sowie mit ihren Sorgen, wenn er von ihren Vorstellungen abweicht. An den Abenden teilen sie Claus zur musikalischen Unterhaltung der Lokalgäste auf der Hammondorgel ein. Sie ahnen nichts von der stillen Verzweiflung ihres Sohnes. Dementsprechend blicken sie Kommissar Löschner (Hans-Helmut Dickow) fassungslos an, als er ihnen mitten in der Nacht die Nachricht überbringt, dass der erst 19-jährige Claus Suizid auf den Bahngleisen begangen hat. Während sie in ihm die Erfüllung ihrer Erwartungen gesehen haben, ist der Zug für Claus abgefahren.
Selbstdefinition durch Leistung Nach dem Alltagsverständnis ist Leistung eine Anstrengung der einzelnen Person, die von der Gesellschaft belohnt wird. Besonders bei Betrachtung von Leistung als ein derart individuelles Phänomen kann sie subjektiv und auch für andere eine so hohe Bedeutung erlangen, dass sie als Teil des Selbst erlebt wird und einen großen Einfluss auf das Selbstwertgefühl hat. Das ausbleibende Erbringen einer Leistung geht demzufolge oft mit Gefühlen von Versagen und Schuld einher. Allerdings lässt sich eine Leistung letztlich immer nur als ein Zusammenwirken beschreiben, etwa in Form der einzelnen Arbeitsschritte, die als kollektive Arbeit ein Produkt oder eine Dienstleistung ergeben. Leistung existiert zudem nicht an sich, sondern ist vielmehr das Ergebnis von Zuschreibungen und Bewertungen: Was wird als mehr oder weniger große Leistung anerkannt (Verheyen 2018)? Sind Eltern sehr leistungsorientiert, erwarten sie oft auch von ihren Kindern eine hohe Leistungsbereitschaft. Die Kinder wiederum tendieren dazu, das elterliche Wertesystem zu übernehmen. So meint Claus’ Vater:
RR »Überzeugung hin, Überzeugung her. Wer ab einem gewissen Alter nicht lernt, sich zu arrangieren, ist letztlich auch ein Versager. Das Leben hat keinen Respekt vor der Dummheit. Und wenn sie noch so charaktervoll ist!« Denn, so der Vater weiter:
RR »Es gibt keine Zeugnisse für Aufrichtigkeit. So lobenswert sie ist. Anständigkeit wird nicht zensiert, in der Schule so wenig wie im Beruf. Was du brauchst, ist ein Zeugnis, mit dem du studieren kannst. Aus. Und das kriegst du von deinen Lehrern« (Folge 2). Das Leben stellt er als hart und schonungslos dar, mitmenschliche Werte sind zweitrangig. Dementsprechend erfüllt es den Vater mit Stolz, seinen Sohn auf dem Weg zum Abitur und zum Medizinstudium zu sehen. Er erzählt den Gästen im Lokal von seinem tüchtigen Sohn, steigert also seinen eigenen Selbstwert durch die Leistung seines Sohnes, während Claus dadurch zunehmend seine Stabilität, sein Glück und letztlich sein Leben verliert.
Tod eines Schülers (1981)
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Leistung kann durch Belohnung bzw. Bestrafung, z. B. durch Vergabe von Noten, sowie durch das Verhalten der anderen als (Selbst‑)Wert vermittelt und dadurch ein Teil des Selbstkonzeptes werden. Sowohl der Umgang der Erwachsenen mit sich selbst im Sinne eines Modellverhaltens als auch das Verhalten gegenüber den Kindern und Jugendlichen spielt hier eine Rolle. Das Kind kann für gute Noten mehr Zuneigung erhalten, hingegen Ablehnung erfahren, wenn es in den Augen der Eltern versagt. Noten werden als Machtinstrument, als Disziplinierungsmaßnahme eingesetzt, um (junge) Menschen auf Kosten ihrer Entfaltung an vorgegebene Kategorien anzupassen. So fällt auch der Notendurschnitt von Claus nach seinem Engagement für die Ablösung des Mathematik-Lehrers Oberstudienrat Zindelmann – dazu noch später – drastisch schlechter aus. Neben den Noten in der Schule erfährt Claus auch zu Hause vonseiten seines Vaters ein Bestrafungs-Belohnungs-Prinzip. Für ein Abitur, das Claus bestmöglich ablegen soll, stellt ihm der Vater ein neues Motorrad von jenem Geld, das er für seine Ausbildung angespart hat, in Aussicht. Er lockt seinen Sohn mit bestimmten Annehmlichkeiten, um ihn nach seinen Vorstellungen formen zu können. Dadurch erschwert oder verhindert er sogar Claus’ Selbstentfaltung. Die Mutter übt weniger offensiv Druck auf Claus aus, jedoch ist Leistung auch für sie von großer Bedeutung. Nach ihrer Ansicht ist ihr Sohn wieder zur Vernunft gekommen, sie wirkt sichtlich erleichtert, als er, nachdem er die erste Schule abgebrochen und eine Zeitlang bei Freundin Inge gewohnt hat, nach Hause zurückkehrt. Er wolle nun an der Kaup-Schule das Abitur ablegen. Da das Schuljahr bereits begonnen hat und er drei Monate Lernstoff aufholen muss, steht er unter noch größerem Druck als zuvor. Der Mutter ist sehr wohl bewusst, dass sich durch den Wohnungswechsel nicht plötzlich alles zum Guten wenden wird, da sie gegenüber ihrem Mann meint, dass sich Claus verändert habe. Der Vater äußert sich in dieser Szene jedoch lediglich erneut über die hohe Bedeutung von Leistung, während Claus neben ihm zunehmend bedrückter wirkt:
RR »Es gibt kein Rezept, das Leistung ersetzt. Wer mehr leistet, kann mehr, und wer mehr kann, hat mehr« (Folge 2). Solche äußeren Erwartungen können internalisiert, also zu den eigenen werden (Mentzos 2010, S. 42 ff.; vgl. Elias 1978, S. 312: der »gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang«). So steht Claus in dieser Szene vom Esstisch, an dem er und seine Eltern zuvor gemeinsam saßen, auf, entfernt sich mit gesenktem Kopf und stimmt der Aussage des Vaters auf Nachfrage leise zu. Seine Antwort ist in Folge 2, aus der Perspektive der Eltern, nur vom Flur aus hörbar, da er den Essraum bereits verlassen hat. Es lässt sich lediglich erahnen, dass er in sein Zimmer geht. Dieses Detail und vor allem sein wahres Empfinden werden erst in Folge 6 sichtbar: Er wirft sich im Zimmer auf das Bett, vergräbt sein Gesicht in die Kleider des geöffneten Koffers – er ist nach dem Auszug bei Inge soeben wieder zu Hause angekommen – und weint verzweifelt.
Leistungsdruck in Bildungseinrichtungen und dessen (psychosomatische) Auswirkungen Stresszustände, Schlafstörungen und hohe Suizidraten unter Schülern und Schülerinnen, wie in China oder Japan, zeigen die Problematik des Leistungsdrucks in der Schule. Der Wettbewerb um die Plätze an den besten Schulen und Universitäten prägt den Alltag von Kindern und Jugendlichen; ausgezeichnete Leistungen sind die obersten Ziele der Eltern. Bildung wird ausschließlich aus dem Blickwinkel der Wettbewerbsfähigkeit betrachtet. Die Entfaltung eigener Potenziale und Wünsche und vor allem das Glück des Kindes sind nachrangig, die Schüler und Schülerinnen fühlen sich unter anderem aufgrund ihrer Erschöpfung ohnmächtig, sich zur Wehr zu setzen (Schubert 2010; Wagenhofer et al. 2013,
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„Der Mensch beginnt nicht erst beim Abitur“
S. 29 f.). Die Bedingungen in Deutschland scheinen zwar trotz des Numerus clausus weniger inhuman zu sein. Dennoch schränken Aufnahmeprüfungen, die zunehmend eingeführt werden, und Eingangsphasen, deren positive Absolvierung für die Fortsetzung des Studiums erforderlich ist, den Freiraum ein, um die passende Studienrichtung finden und ohne (übermäßigen) Druck studieren zu können. Die Themen Leistungsdruck, Wettbewerb (am Arbeitsmarkt) und damit verbundene existenzielle Ängste bis zum Burn out sind somit nach wie vor, fast vierzig Jahre nach der Erstausstrahlung der ZDFProduktion Tod eines Schülers, hochaktuell (Neckel und Wagner 2013). In der Serie wird deutlich, dass der Leistungsdruck und damit einhergehende (psychosomatische) Auswirkungen alle Beteiligten des (Schul‑)Systems – Schüler/Schülerinnen, Lehrer/Lehrerinnen und auch Eltern – erfassen. Mit seinem Bestreben, die leistungsschwächeren Schüler und Schülerinnen zu unterstützen, stößt Oberstudienrat Zindelmann bei jenen mit großer Leistungsorientierung auf Widerstand, da sie befürchten, den Anforderungen des Abiturs aufgrund des von ihnen wahrgenommen Rückstandes im Lehrstoff nicht gewachsen zu sein. Nachdem Herr Zindelmann bereits mehrmals aufgrund von Magenbeschwerden, die häufig bei Nervosität und Stresszuständen vorkommen (Leiß 2017; Plab 2016, S. 143), im Krankenstand gewesen ist, gerät er noch mehr in die Enge. Der Direktor der Gervinus-Schule erkennt zwar den Rückstand im Lehrstoff. Allerdings gibt er dies vor den Schülern und Schülerinnen nicht zu, weil er befürchtet, dass diese künftig (in seinen Augen zu viel) Mitsprachrecht bei der (Ab‑)Wahl der Lehrenden erhalten könnten. Zudem fehlen ihm die Mittel für die Einstellung weiterer Lehrkräfte. Letztlich verlieren die Schüler und Schülerinnen ihren Kampf um Selbst- und Mitbestimmung, der Lehrer bleibt, sie fühlen sich ohnmächtig. Diese Ohnmacht trägt ebenso wie Versagensangst zu psychosomatischen Beschwerden von Schülern und Schülerinnen bei. Eine Form, dem Leistungsdruck standzuhalten und der Angst zu begegnen, ist für Claus die Einnahme von Beruhigungstabletten. Sein Hausarzt versucht, ihn zu mehr Gelassenheit und zum Absetzen des Medikaments zu bringen. Dass er es jedoch überhaupt verschrieben hat, weist darauf hin, dass auch er Teil des Leistungssystems ist. Letztlich wird der innere Druck durch ein Medikament nur unterdrückt, wodurch dieser schließlich auf eine andere Art und Weise, etwa in Form von Gewalt und Drogenkonsum, an die Oberfläche treten kann (Maaz 2017; Teischel 2014, Kap. 3). Auf der Strecke bleibt somit die Solidarität, die in einem System, in dem sich alle bekämpfen, nicht gestärkt werden kann. Das Leistungssystem baut auf unmenschlichem, nämlich leistungsorientiertem, Verhalten auf, wird durch selbiges aufrechterhalten und sogar noch verstärkt.
RR »Die einzigen, die Mut zum Protest haben, werden zu Feinden«, so Jörns im Schlusskommentar zur dritten Folge und wenn diese schließlich alle von der Bühne gehen, funktioniert das System wieder reibungslos.
Das ungelebte Leben der Eltern und ihrer Kinder Kinder sollen oft jene Wünsche ihrer Eltern erfüllen, die sie für sich selbst in ihrem Leben nicht umgesetzt haben (Jörns 1981). Das Kind, insbesondere wenn es das einzige ist wie Claus für seine Eltern, scheint ein Ersatz für ihr eigenes (ungelebtes) Leben zu sein. Claus’ Vater meint, er hätte mehr gewollt als Gastwirt zu sein, nämlich gerne Abitur gemacht und studiert. Zudem trägt das selbstgeführte Lokal durch das Angebot von französischen Spezialitäten die Handschrift seiner aus Süd-Frankreich stammenden Frau. Der Vater kommt also nach seinem eigenen Empfinden zu wenig zur Geltung, daher soll nun Claus jenen Weg gehen, den er sich selbst gewünscht hat. Als Alternative zum Abitur sieht er nur eine Hotelfachausbildung, womit Claus in die Fußstapfen seines Vaters treten könnte, wenngleich dieser in seinem Beruf nicht zufrieden ist. Dadurch blieben die Wünsche des Vaters zwar auch ungelebt, allerdings wäre zumindest die Wehmut über das Scheitern geteilt.
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Die Delegation eigener Wünsche vonseiten der Eltern an die Kinder ist eine Form der Selbst-Objektivierung, das heißt, dass Teile des Selbst mittels äußerer Objekte personifiziert werden (Mentzos 2010, S. 46 ff., 294 f.). Jene Möglichkeiten, die sie selbst nicht lebten und/oder für sie nicht vorhanden waren, sollen sich im Kind realisieren, wodurch dieses zu einer Verlängerung der Eltern wird:
RR »Wo der Vater aufhört und wo eine unbezweifelte Existenz des Sohnes – und übrigens auch der Frau – anfängt, das ist nicht leicht auszumachen«, so Jörns im Schlusskommentar zur zweiten Folge. Claus versucht, sich gegenüber seinem Vater abzugrenzen, und entgegnet diesem:
RR »Ich bin nicht deine Selbstverwirklichung. Ich bin ich!« (Folge 2) Für eine solche Selbst-Objektivierung spricht, dass der Vater bei der Überbringung der Nachricht über den Tod seines Sohnes seine emotionale Stabilität verliert. Dieser sollte seinen Ausbildungswunsch erfüllen und war ein externalisierter Teil des väterlichen Selbst, der durch den Suizid wegbricht (Mentzos 2010, S. 49, 294 f.). Am Ende bleibt sowohl das Leben der Eltern als auch jenes der Kinder ungelebt, da weder die Vorstellungen der Eltern über ihr eigenes Leben in den Kindern nachgeholt werden können noch die Kinder die Möglichkeit erhalten, ihren eigenen Weg zu gehen. Die hohe Bedeutung der Erfüllung des elterlichen Wunsches durch das Kind bewirkt, dass Menschen, die die Umsetzung dieses Wunsches behindern könnten, als Feinde gelten. So ist Inge, die Freundin von Claus, für seine Eltern diese »Person« (Folge 2), die in ihrem Lokal den Tisch für andere Gäste »blockiert« (Folge 6), im übertragenen Sinn auch das Leben ihres Sohnes, da sie ihn in seinem Streben nach Leistung ablenken würde. Die Eltern verleihen ihrer Ablehnung Nachdruck, indem sie Inge nicht beim Namen nennen und sich ihr gegenüber abfällig äußern. Die Eltern reden Claus ins Gewissen, verlangen von ihm Anpassung und Leistung, nämlich die Fokussierung auf das Abitur und das Medizinstudium, während Inge ihn in seinem Erwachen zum Leben unterstützt.
RR »Es gibt so etwas wie ein Selbstwertgefühl, und das ist mehr wert als Wohlverhalten für ein paar Punkte. Ich glaube, ihm wurde immer nur eingeredet, dass ohne Numerus clausus für ihn nichts läuft. Und schon gar nicht ohne Abitur«, so Inge zu Claus’ Vater, der vehement seine gegenteilige Meinung vertritt:
RR »Er wird das Abitur machen. Das sollten Sie wissen. Wie er es macht, das ist seine Sache. Aber er wird es machen!« Inge wiederum verteidigt Claus:
RR »Er wird in Kürze achtzehn! Und der Mensch beginnt nicht erst beim Abitur. Sollten Sie mal drüber nachdenken.« Der Vater spricht in dieser Szene (Folge 2) davon, dass Claus Medizin oder Psychologie studieren will, Inge hingegen sieht darin ein Sollen. Kommt das Leistungsstreben von Claus aus seinem Selbst oder ist es eine Pflicht, um dem Vater zu genügen? Für letzteres spricht, dass die elterliche Freude vor allem dem leistenden Kind gilt. In einer Szene (Folge 6) wird gezeigt, wie Claus noch spätabends über seinen Büchern sitzt und die Mutter in sein Zimmer kommt. Er nehme nur Baldrian ein, so über das Medikament auf seinem Schreibtisch, das seine Mutter mit neugierigem und fragendem Blick in die Hand nimmt. Vor allem aber möchte sie wissen (eigentlich spricht sie von »wir«, d. h. sie sieht sich als Einheit mit dem Vater und nicht als
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Person mit einer eigenen Meinung), ob er das Abitur mit einem guten Numerus clausus schaffen werde. Claus bestätigt dies, äußert aber gleichzeitig seine Wut, dass der Vater den Gästen im Lokal vom geplanten Medizinstudium erzähle. Mit dem Abitur mache Claus niemanden glücklicher als ihn, so die Mutter. Er ist nun wieder, nachdem er sich letztlich doch für das Abitur entschieden hat, zum Vorzeigekind geworden, das allerdings nicht seiner selbst wegen geliebt wird. Während die väterliche Hoffnung auf einen Sohn mit Abitur und Studium wächst, schwindet die Hoffnung von Claus auf sein eigenes Leben.
Im Zwiespalt von Anpassung und Selbstentfaltung Im Unterschied zu Claus’ Vater, der die Leistung eindeutig in den Vordergrund stellt, verkörpert die Mutter eine ambivalente Haltung. Einerseits hat Leistung eine hohe Bedeutung für sie, andererseits meint sie, als sie die Nervosität ihres Sohnes vor dem Abitur wahrnimmt:
RR »Wenn man den jungen Leuten schon das Zeugnis der Reife gibt, dann sollte man ihnen fairerweise auch die Zeit zum Reifen lassen« (Folge 2). In der Person von Claus spielt die Ambivalenz in Form der Bewegung zwischen Anpassung, also dem Erfüllen der Vorgaben, einerseits und Selbstentfaltung, dem Verfolgen eigener Wünsche und Ziele, andererseits eine zentrale Rolle. Rebellion steht ebenso der Anpassung entgegen und kann eine Reaktion auf äußere Forderungen sein. So wehrt sich Claus gegen die Ansprüche seines Vaters, und zwar nicht nur hinsichtlich der Schule, sondern auch gegen die von ihm geforderte Mithilfe im Lokal. Er soll den Vater bei Umbauarbeiten im Lokal unterstützen, entscheidet sich aber für den zweiwöchigen Urlaub mit Inge, in den auch sein Geburtstag fällt. Claus will die Vielfalt, die das Leben bietet, kennenlernen, wofür sein Vater kein Verständnis zeigt. Es handelt sich hier eher um Rebellion als um Selbstentfaltung, da mehr Widerstand sichtbar ist, als dass Claus seine Kraft für die Verwirklichung seiner Wünsche einsetzt. Zudem scheint er zu diesem Zeitpunkt noch wenig Kenntnis von seinen eigenen Wünschen und Zielen zu haben. Dies dürfte vor allem der bis dahin gelebten Anpassung geschuldet sein. Sehr wohl nimmt er sein Gefühl von Freiheit und Wohlbefinden wahr, nachdem er die Schule ein Jahr vor dem Abitur abgebrochen hat:
RR »Ich fühle mich im Augenblick sauwohl! Ich habe mich noch nie im Leben derart sauwohl gefühlt! Ohne die Zwänge, ohne die Rückgratverkrümmung jeden Morgen … Ich will einfach jetzt mal leben!« (Folge 2) Claus’ Rebellion ist jedoch keineswegs immer ein Aufbegehren gegen den Leistungsdruck, sondern soll gerade auch dem Erbringen von guten Leistungen dienen. Hier ist seine Protestaktion gegen Oberstudienrat Zindelmann in der Gervinus-Schule einzuordnen, den er aufgrund seiner vielen krankheitsbedingten Fehlzeiten und des dadurch entstandenen Rückstandes im Lehrplan als Hindernis sieht, einen für das Medizinstudium ausreichend guten Notenschnitt beim Abitur erzielen zu können. Allerdings äußert er sich auch kritisch und überzeugt zu den negativen (gesundheitlichen) Auswirkungen des Leistungssystems. Jedenfalls will Claus die Situation nicht einfach hinnehmen, sondern Demokratie in Form des Mitsprachrechts im Schulsystem leben und dementsprechend seinen Unmut hinsichtlich des für ihn unzulänglichen Unterrichts von Herrn Zindelmann kundtun. Während Claus sich auflehnt und seine Wut äußert, bleiben andere jedoch still. So hat sich Claus für seinen Mitschüler Jürgen eingesetzt, der in der Schule Schwierigkeiten hat. Dieser hingegen widerspricht seinem Vater Dr. Köhler nicht, der sich zuvor bei Herrn Zindelmann für eine bessere Note seines Sohnes stark gemacht hat und nun für den Verbleib des Lehrers plädiert. Bei seinem Vater, der durch einen Bericht in der Lokalzeitung von der Protestaktion erfährt, stößt Claus zudem auf Unverständnis. Anstatt seine Wut
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in eine schöpferische Kraft zu verwandeln, setzt er dem Gefühl, abgelehnt und mit seinem Anliegen alleingelassen zu werden, eine Form von Zerstörung entgegen. Er überwirft sich mit seinem Umfeld, schmeißt die Schule hin, zieht aus seinem Elternhaus aus und bei Inge ein. Nun soll der Spaß im Leben in den Vordergrund rücken. Im Gegensatz zu Claus’ Eltern, die Anpassung verkörpern, steht Freundin Inge mehr für das Ausleben eigener Bedürfnisse und Wünsche, somit für Selbstentfaltung. Sie sei früher selbst von ihren Eltern bevormundet worden. Claus befindet sich im Zwiespalt dieser beiden Existenzformen. Einerseits verfolgt er einen sehr guten Schulabschluss und will den Eltern gefallen, andererseits spürt er im Zusammensein mit Inge seine Sehnsüchte jenseits von Leistung: gemeinsam einen Urlaub zu verbringen, intime körperliche Nähe zu erfahren. Die Zeit, in der Claus nach seinem Schulabbruch bei Inge wohnt und verschiedene Jobs annimmt, sieht er als Zeit, sich selbst auszuprobieren. Als ihn sein Vater eines Abends in der Diskothek Hot-Pot, wo Claus vorübergehend am Synthesizer einer Band auftritt, besucht und zur Rückkehr an die Schule überreden möchte, gibt Claus dem Vater zu verstehen:
RR »Das vorprogrammierte Leben hat gestern gestimmt. Sorry« (Folge 2). Er informiert sich auch über alternative Ausbildungsmöglichkeiten, jedoch legt ihm ein Berater nahe, dass er ohne Abitur keine Chance haben würde. Daher motiviert er ihn, die Schule abzuschließen, denn:
RR »Wir leben heute in einer Leistungsgesellschaft und da wird eben unter vielen der Bessere ausgewählt« (Folge 6). Letztlich scheitert Claus bei seinem Ausbruchsversuch, indem er sich vom Leben mit Inge, die für seine Suche nach Selbstentfaltung steht, wieder entfernt. Er kehrt ins Elternhaus zurück und unterwirft sich erneut dem geforderten Leistungsanspruch. An der Kaup-Schule möchte er nun beweisen, dass er trotz Rückstand aufgrund des verspäteten Einstiegs ins Schuljahr ausgezeichnete Leistungen erbringen kann; dass er kein Versager ist, wie es Inge bei der Befragung von Kommissar Löschner beschreibt. Es ist eine Rückkehr zu etwas Altbekanntem – Anpassung macht weniger Angst als das Wagnis, den eigenen Weg zu gehen, besonders, wenn hierfür die Ermutigung von anderen fehlt.
In der Isolation: Ablehnung und Einsamkeit Dem Leistungsdruck ausgesetzt zu sein und eigene Wünsche zu unterdrücken, kann Einsamkeit, Verzweiflung bis zu einem Gefühl von Ausweglosigkeit mit sich bringen, ohne dass dies für das Umfeld sichtbar wird. Claus’ Eltern glauben nicht an einen »Freitod« (Folge 1) ihres Sohnes, denn es habe keinen Grund dafür und kein Problem gegeben. Schließlich sei er einer der Besten in der Schule gewesen – wozu habe er sich denn dann geplagt, wenn er nicht mehr leben wollte? Außerdem habe wieder alles gestimmt zwischen ihnen und Claus, nachdem er ins Elternhaus zurückgekommen und zur Schule gegangen ist. Eher sehen sie die Trennung von Freundin Inge ein halbes Jahr zuvor als einen Anlass für seine Tat. Die Aussagen und das Verhalten der Eltern weisen besonders auf ihre fehlende Sensibilität für die Nöte ihres Sohnes hin. Sie halten den Schulerfolg für einen entscheidenden Grund, leben zu wollen und glücklich zu sein. Claus’ Suizid macht jedoch deutlich, dass es sich für gute Noten allein nicht zu leben lohnt. Im Rahmen eines Drogendeals, in den Claus unwissend durch Mitschüler Kai gerät, wird er von mehreren Seiten in die Enge getrieben. Auf der einen Seite stehen die Lehrer, die ihm mit dem Verweis von der Schule, jedenfalls mit der Gefährdung des Abiturs, drohen. Hinzu kommt die Enttäuschung, dass Kai die ungerechtfertigten Anschuldigungen gegenüber Claus nicht verhindert. Eine weitere Front bilden die Mitschüler und Mitschülerinnen, die ihn dafür, dass er beim Verhör durch die Kriminalpolizei die Wahrheit über Kai ausgesprochen hat, noch mehr verachten. Claus habe nämlich kein schulisches Problem gehabt, so der Vertrauenslehrer in der Befragung von Kommissar Löschner, son-
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..Abb. 34.2 Claus im Abseits auf dem Pausenhof (© ZDF. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
dern Schwierigkeiten in der Klassengemeinschaft. Er sei strebsam, introvertiert und ein Einzelgänger gewesen und habe sich von Streitigkeiten ferngehalten. Dies steht im Gegensatz zu seiner früheren Protestaktion gegen Herrn Zindelmann in der Gervinus-Schule und seiner dortigen Beliebtheit als Kurssprecher, an die sich Claus’ früherer Freund Jürgen erinnert. Er habe sich dort für die Klasse eingesetzt. An der Kaup-Schule hingegen wird er wiederholt gemobbt: Die Mitschüler und Mitschülerinnen wenden sich auf dem Pausenhof von ihm ab (. Abb. 34.2), lassen das Stundenprotokoll aus seiner Mappe verschwinden, laden ihn nicht zur Abiturfeier ein. Auf der Klassenfahrt nach Rom zwischen schriftlichem und mündlichem Abitur verwehren ihm alle den Zutritt in ihr Zugabteil, bis er schließlich in Heidelberg aussteigt. Während Claus seinen Ärger früher nach außen ableiten konnte, indem er sich lautstark für Recht und Gerechtigkeit einsetzte, baut sich nun der Druck durch seine Anpassung und Zurückhaltung im Inneren auf. Die Bekanntgabe seines Todes in der Aula der Schule macht die Mitschüler und Mitschülerinnen – bei aller Ablehnung zu Claus’ Lebzeiten – dann doch sprachlos. Nicht nur innerhalb der Klasse und bei den Lehrpersonen, sondern auch vonseiten seiner Eltern erlebt Claus keinen Rückhalt. Im Rahmen der Protestaktion gegen Oberstudienrat Zindelmann hält er als Kurssprecher eine Rede vor den versammelten Eltern, Lehrenden, Schülern und Schülerinnen und erntet dafür große Aufmerksamkeit sowie Applaus. Dennoch stimmen – mit Ausnahme einer nicht näher gezeigten Person – alle für den Verbleib des Lehrers, inklusive seiner Eltern. Auch jene Eltern, die zuvor Kritik am Leistungsdruck in der Schule und die Problematik der hohen Suizidraten unter Jugendlichen geäußert haben, verstummen nun in ihrer Anpassung. Als Claus’ Vater sein Unverständnis bezüglich der Protestaktion kundtut, verteidigt sich Claus:
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RR »Ehrlich Vater, weißt du, was da gegen mich gelaufen ist in der Schule? Weißt du das wirklich? Wie die mich da cool und zynisch fertiggemacht haben. Ausgepunktet. Hast du überhaupt jemals meine Partei ergriffen, ohne zu sagen: ›Besser gewesen wäre, wenn‹? Bist du auch nur ein einziges Mal in die Schule gegangen und hast dich für mich eingesetzt? Einfach aus Überzeugung?« (Folge 2) Claus fühlt sich von seinem Vater im Stich gelassen und auch sonst gibt es nur wenige Szenen echter Freundschaft. Eine zumindest teilweise Ausnahme ist Mitschüler Erich, den Claus regelmäßig auf seinem Moped vom Bahnhof Darmstadt Ost zur Schule mitnimmt. Claus erhält nach Bekanntgabe des Ergebnisses im schriftlichen Deutsch-Abitur, bei dem er angeblich das Thema verfehlt hat, zwar Zuspruch von Erich, während die anderen Genugtuung über seinen Misserfolg empfinden. Allerdings wird er auch von ihm nicht über das Stattfinden der Abiturfeier auf dem Darmstädter Heinerfest informiert. Letztlich hat Erich also wie die anderen zu wenig Rückgrat, um hinter Claus zu stehen. Alle Betroffenen des Schulsystems sind im Grunde ohnmächtig und bekämpfen sich in dieser Ohnmacht gegenseitig. Solidarität ist im Leistungssystem allenfalls von geringem Wert; im Vordergrund steht das Bemühen um den eigenen und nicht um den gemeinsamen Vorteil. Auch Claus und Inge leben im Zwiespalt von Miteinander und Einsamkeit, da sie einander viel mehr brauchen, als dass sie eine reife Beziehung führen. Das Zusammensein ermöglicht Inge, mehr Abstand zu ihrem früheren Freund Eddie zu finden. Claus wiederum kann sich leichter vom Elternhaus ablösen und sich als erwachsener Mann fühlen. Mit seinen noch unklaren Lebensvorstellungen schließt er sich jedoch häufig Inges Meinung an. Sie stützen sich gegenseitig, sind aber für sich nicht stabil genug, um einander im So-Sein begegnen zu können. Bei Inge überwiegt die Angst vor Nähe, indem sie Claus nach intimen Stunden wegschickt und schließlich eine Beziehung zu einem anderen Mann eingeht, und bei Claus gewinnt letztlich der Leistungsanspruch. Dennoch sucht Claus auch nach seinem Auszug immer wieder Inges Nähe. So kommt er zu Weihnachten – er hat Bereitschaftsdienst beim Roten Kreuz – in ihre Wohnung, um ihr eine Stereoanlage zu schenken. Diese solle eine Wiedergutmachung für jene Kosten sein, die während des Zusammenwohnens anfielen und die er mit seinen Jobs nach dem Schulabbruch nicht oder nur teilweise bezahlen konnte. Bereits zuvor spielen mitgebrachte Kassetten immer wieder eine wichtige Rolle. Sie blickt ihn liebevoll an, dann läutet die Türklingel. Inge ist in Eile, da sie bereits das Taxi gerufen hat, mit dem sie zu ihrer kleinen Nichte fährt. Claus sieht dem Taxi traurig hinterher. Kurz vor seinem Suizid findet Claus auch zu Inge keinen Zugang mehr. Seit ein paar Monaten trifft sie sich mit einem anderen Mann, wobei Claus, so Inge in der Befragung von Kommissar Löschner, davon gewusst habe. Wie früher, wenn Inge während ihres Zusammenseins mit anderen Männern flirtete, wird seine Eifersucht auf der Leinwand sichtbar. In den letzten sechs bis acht Wochen sei Claus nicht mehr zu ihr gekommen, da sie dies aufgrund ihres neuen Freundes für keine gute Idee gehalten habe. Am Ende der sechsten Folge wird in mehreren aufeinanderfolgenden Szenen noch einmal die Gesamtheit von Claus’ Ablehnungs- und Einsamkeitserfahrungen gezeigt. Diese treiben ihn in jene Enge, der er letztlich im Suizid zu entkommen versucht. Selbst nach seinem Tod wird Claus’ Einsamkeit spürund sichtbar, da er keinen Abschiedsbrief in seinem Zimmer hinterlässt. Die letzte niedergeschriebene Botschaft bleibt oft nachhaltig in der Welt der Hinterbliebenen bestehen, sodass der Suizid zum »Ausdruck des Selbst« werden kann (Etkind 1997, S. 2; zit. nach Macho 2018, S. 95). Das Zimmer von Claus jedoch wirkt aufgeräumt und bewohnt, es gibt keine ungewöhnlichen Spuren. Überraschenderweise befindet sich am Grab ein Kranz mit dem Schleifentext »Deine Freunde. Letzter Gruß«, ebenso jeweils ein Kranz von der Belegschaft der beiden Schulen. Wer gehört(e) zu diesen Freunden angesichts der Ablehnung, die Claus zu spüren bekam?
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In der Resignation: Ausweglosigkeit und (Sinn‑)Verlust Ist die Leistungserfüllung Teil des Selbst, kommt das Nichterbringen von Leistung einem (teilweisen) Selbst-Verlust gleich. Mit allen Mitteln versucht Claus seine Abiturnote zu retten, etwa mit den vom Hausarzt verschriebenen Beruhigungstabletten, die seine Prüfungsangst verringern sollen. Aufgrund seiner Übelkeit während des Abiturs bittet er seinen Arzt um ein Attest und er erhebt bei der Schulleitung, schließlich auch beim Regierungspräsidium, Einspruch gegen die Beurteilung des schriftlichen Deutsch-Abiturs. Allerdings wird der Einspruch abgelehnt, außerdem erhält er vom Arzt lediglich beschwichtigende Worte, sich nicht so sehr unter Druck setzen zu lassen. Somit muss Claus zur mündlichen Prüfung antreten. Besonders der Direktor der Kaup-Schule, der Claus aufgrund seines verspäteten Einstiegs nicht oder kaum zutraute, den Rückstand aufzuholen, zeigt sich hier voller Genugtuung. Im Rahmen seiner Befragung der Eltern findet Kommissar Löschner in Claus’ Zimmer das Kuvert, das den ablehnenden Brief des Regierungspräsidiums enthielt, nun aber geöffnet und leer auf dem Schreibtisch liegt. Claus nimmt also die vernichtende Nachricht, sein Abiturziel nicht schaffen zu können, auf den Weg in den Suizid mit. Seine Eltern haben keine Kenntnis vom Einspruch und damit auch nicht vom inneren Drama ihres Sohnes. Diese innere Spannung wird am Ende der sechsten Folge mit filmdramaturgischen Mitteln hervorgehoben: Zunächst sitzt Claus, nachdem er den Brief des Regierungspräsidiums mit der Ablehnung seines Einspruches gelesen hat, alleine im Wald, zwischen den Bäumen ist das Passieren eines Zuges hör- und sichtbar. Dann wird Claus am Darmstädter Heinerfest, wo auch die Abiturfeier stattfindet, gezeigt. Er bewegt sich an diesem Abend allein durch den Tumult des Vergnügungsparks fort, es wird das Auseinanderbrechen eines Lebkuchenherzens gezeigt – ist es sein Herz, das (endgültig) bricht? Während hier das Umfeld noch deutlich erkennbar ist, wird in der folgenden Szene Claus’ Tunnelblick fokussiert. Wie in Trance nähert er sich der Bahnschranke, die sich schließt (. Abb. 34.3). Claus zieht sich in die eigene innere Welt und damit aus der realen äußeren Welt zurück, wie auf einen Ausgang zusteuernd, der einerseits Hoffnung auf Erleichterung verspricht, andererseits der letzte Ausweg am Gipfel seiner Verzweiflung zu sein scheint. Nach dem Passieren des Zuges und dem Öffnen der Schranke überquert er die Gleise, geht die Straße entlang und tritt auf eine Brücke, die über die Bahngleise hinweg führt. Dort bleibt Claus stehen, er zerreißt den Brief des Regierungspräsidiums und lässt die Papierstücke auf einen unter der Brücke durchfahrenden Zug hinabfallen. Damit fällt auch seine letzte Hoffnung zu Boden, er verlässt die Brücke. Es sei Claus nicht nur darum gegangen, sich zu töten – das wäre mit einer Tabletteneinnahme einfacher gewesen als durch den Sprung vor den Zug –, sondern er habe sich selbst zerstören wollen, beschreibt Kommissar Löschner in der ersten Folge die Suizidhandlung. Erwin Ringel (1986, S. 67 ff.) bringt eine solche Tendenz zur Selbstzerstörung in Zusammenhang mit der fehlenden Möglichkeit, Aggressionen aufgrund von Frustration und Ohnmacht nach außen zu richten bzw. in eine andere Kraft zu verwandeln. Diese Selbstaggression sieht er als einen wichtigen Aspekt des von ihm so benannten präsuizidalen Syndroms, das laut ihm vor dem Suizid beobachtet werden kann. Die Erwartung von Leistung, so Jörns im Kommentar zu Folge 4,
RR »diese an ein Ziel und nicht an ihn selbst gebundene Wertschätzung wälzt sich in seinem Empfinden über ihn wie die Lokomotive, vor die er sich dann wirft, hinter der er mit seinem getöteten Leben als Vorwurf liegenbleibt, buchstäblich auf der Strecke.« Demnach wird Claus von den Ansprüchen der anderen überfahren. Der Suizid ist auch ein Verlust für die Hinterbliebenen. »In tiefer Trauer. Deine Eltern«, so deren Schleifentext auf dem Grabkranz. Ist es auch die Trauer der Eltern über sich selbst, also über das Ver-
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..Abb. 34.3 Claus vor der sich schließenden Bahnschranke (© ZDF. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
säumnis, die Not ihres Sohnes zu erkennen? Vor seinem Grabe stehend, wirken sie verloren und ratlos. Sowohl das Leben von Claus als auch ihr eigenes bleibt ungelebt, da sie ihre Vorstellungen, die Claus hätte realisieren sollen, mit ihrem Sohn begraben müssen.
Frage der Schuld In seiner Grabesrede, die in jeder Folge gezeigt wird, stellt der Pastor die Frage nach dem Grund für Claus’ Suizid. Er weist auf den verlorenen Glauben der jungen Menschen an die Zukunft hin, kritisiert das »Ellbogendenken« und die »Zufälligkeiten eines Numerus clausus«, denen sie unterliegen. Letztlich sind es viele Einflüsse, die einen Menschen in tiefe Verzweiflung bringen können, somit handelt es sich nicht um ein bestimmtes Ereignis im Leben der einzelnen Person:
RR »Das Leben läuft nicht einspurig ab. Es sind die Verflechtungen vieler Spuren, die einen Menschen in die Irre führen. Was wissen wir voneinander?«
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Diese Einflüsse sind zum Teil unergründlich, dementsprechend stößt Kommissar Löschner auf das fehlende Motiv:
RR »Da haben einige einen Grund, sich mit sich selbst zu unterhalten. Aber das ist weder Vorschrift noch strafbar im Unterlassungsfall« (Folge 1). Es haben also mehrere Personen einen Anteil an den Geschehnissen, dessen sie sich mehr oder weniger bewusst sind. Aus diesem Grund äußert sich Jörns im Schlusskommentar zur ersten Folge kritisch gegenüber der Suche nach einem oder mehreren Schuldigen, denn die Frage nach dem Warum bleibe antwortlos. Daraus lässt sich ableiten, dass die Rezeption der Serie Tod eines Schülers kein ursächlicher und vor allem nicht der einzige Grund für eine Nachahmung sein kann. Laut Macho (2018, Kap. 3) geht der Diskurs über Ansteckung und Nachahmung von Suizidhandlungen auf die Erfahrungen mit Pest- und Cholera-Epidemien zurück. Wesentlich ist, wie, und nicht, dass der Suizid thematisiert wird. Auch Émile Durkheim (1973, S. 148) meint, dass die Elimination von Berichten über den Suizid vermutlich nicht flächendeckend suizidverhindernd wäre:
RR »Die Stärke der kollektiven Anfälligkeit würde sich nicht ändern, denn der moralische Zustand der Gruppen würde sich dadurch nicht ändern.« Der vieldiskutierte Nachahmungseffekt (oder Werther-Effekt aufgrund der erhöhten Suizidrate nach der Veröffentlichung von J. W. v. Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther) ist viel mehr als Zeichen zu sehen, dass ein Mensch bereits auf brüchigem Boden steht. In einer solchen Situation kann das Modell für die Suizidhandlung, wie Claus in der Serie, zum Verbündeten werden und Halt versprechen. Schuldzuweisungen führen in die Sackgasse und versperren den Blick auf den Sinn des Suizids. Sehr wohl aber soll Verantwortung übernommen und reflektiert werden, was dazu beigetragen hat, dass ein Mensch an seiner eigenen Verzweiflung ums Leben kam und was daraus fürs Leben gelernt werden kann (Braun 1981). Das Enttabuisieren des Suizids hat präventive Wirkung, da dadurch die Hemmschwelle für Gefährdete sinkt, über ihre Verzweiflung und suizidalen Gedanken zu sprechen. Es führt sie aus der Einsamkeit hinein in soziale Beziehungen, die Halt im Leben geben können (Myrell 1981).
(Aus‑)Weg in das eigene Leben Der Sinn des Suizids ist mit Blick auf die Person und ihre Situation zu ergründen, wenngleich oft schwierig zu erfassen. Dieser kann in der Möglichkeit liegen, der inneren Zerrissenheit zwischen dem Leben eigener Wünsche und der Erfüllung äußerer (Leistungs‑)Ansprüche zu entkommen (Jörns 1981 und Kommentar zur Folge 1).
RR »So widersinnig es klingt: Wer an Suizid denkt, sucht nicht den Tod, sondern einen verzweifelten Ausweg zum Leben. Und je größer die seelische Not ist, umso eher können auch widersinnige Wege sinnvoll erscheinen. Das ist das fehlende Motiv und hat mit freiem Willen nichts zu tun.« Demnach kann eine Person weniger das Leben an sich ablehnen, sondern das Leben unter den aktuellen Bedingungen und daher eine laut Myrell (1981) von Wilhelm Feuerlein so bezeichnete parasuizidale Pause – also eine Unterbrechung, jedoch keine Auslöschung des Lebens – suchen. Jeder Mensch ist hier aufgerufen, aufmerksam für die Nöte der anderen zu sein sowie die eigene Not zur Sprache zu bringen. Zur Stärkung des Lebensmutes trägt bei, wenn die Person in ihrem So-Sein gewürdigt und ein Miteinander anstatt eines Gegeneinanders gelebt wird. Dafür müssen Menschen Geborgenheit finden
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können, anstatt das Grundgefühl haben zu müssen, »ohne Haut zu sein« (Folge 6). In Form eines dicken Felles hingegen verbirgt die Haut Gefühle, es kann also keine wirkliche Nähe erfahren werden, »nichts mehr unter die Haut gehen« (Folge 6). Zugleich ermöglicht die Haut gerade die Verbindung zu anderen, somit ist der Ausgleich zwischen Abgrenzung und Verbundenheit anzustreben. Zudem soll das Leben, so Jörns in seinem Kommentar zur fünften Folge, nicht nur einem Zweck untergeordnet werden, da dessen Unerfüllbarkeit ein Gefühl von Sinnlosigkeit mit sich bringe. Leistung sei zwar von Bedeutung, aber sie mache nicht den Wert eines Lebens, eines Menschen aus und sei nicht der einzige Zweck im Leben. Abgesehen vom rechten Maß tragen vor allem Aufgaben, die dem Interesse und den Fähigkeiten der Person entsprechen, zu ihrer Lebensfreude bei (Jörns 1981). Dass das Leben eine große Fülle bietet, ist besonders in der Schlussszene der sechsten Folge, in der Claus’ Grabstein gezeigt wird, hörbar: Vögel zwitschern, Insekten summen und zirpen. Diese Fülle ist, mit und ohne Abitur, einfach durch das Da-Sein (er‑)lebbar – sofern das Leben nicht fremdbestimmt bleibt, sondern Selbstentfaltung im solidarischen Miteinander ermöglicht wird.
Literatur Braun SW (1981) Wer ist schuld am Tod von Claus Wagner? Annäherung an ein Tabu. In: ZDF (Hrsg) Materialien zu ZDFFernsehprogrammen: Robert Stromberger, Tod eines Schülers. Wilhelm Goldmann, München, S 9–11 Durkheim É (1973) Der Selbstmord. Luchterhand, Neuwied Elias N (1978) Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Zweiter Band (Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation). Suhrkamp, Frankfurt am Main Jäschke T, Block E (1981) »… Schritt für Schritt an der Realität orientiert …«. Gespräch mit dem Autor Robert Stromberger. In: ZDF (Hrsg) Materialien zu ZDF-Fernsehprogrammen: Robert Stromberger, Tod eines Schülers. Wilhelm Goldmann, München, S 103–114 Jörns K-P (1981) Sich sein Leben nehmen. Suizid als Geschehen und Aufforderung. In: ZDF (Hrsg) Materialien zu ZDF-Fernsehprogrammen: Robert Stromberger, Tod eines Schülers. Wilhelm Goldmann, München, S 12–24 Jürgens F (2017) Klassiker der TV-Geschichte »Tod eines Schülers«: Als ZDF ein Tabu brach. Neue Osnabrücker Zeitung. https://www.noz.de/deutschland-welt/medien/artikel/917199/tod-eines-schuelers-als-zdf-ein-tabu-brach. Zugegriffen: 17. Jan. 2019 Leiß O (2017) Ulcera duodeni et ventriculi. In: Köhle K, Herzog W, Joraschky P, Kruse J, Langewitz W, Söllner W (Hrsg) Uexküll Psychosomatische Medizin. Theoretische Modelle und klinische Praxis. Elsevier, München, S 909–918 Maaz H-J (2017) Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft. C.H.Beck, München Macho T (2018) Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne. Suhrkamp, Berlin Mentzos S (2010) Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuer Perspektiven. Fischer, Frankfurt am Main Myrell G (1981) Erklärung – Vorbeugung – Hilfe. Was weiß die Suizidforschung heute? In: ZDF (Hrsg) Materialien zu ZDFFernsehprogrammen: Robert Stromberger, Tod eines Schülers. Wilhelm Goldmann, München, S 133–157 Neckel S, Wagner G (Hrsg) (2013) Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft. Suhrkamp, Berlin Plab K (2016) Psychoanalytische Psychosomatik. Eine moderne Konzeption in Theorie und Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Ringel E (1986) Das Leben wegwerfen? Reflexionen über Selbstmord. Herder, Wien Schmidtke A, Häfner H (1986) Die Vermittlung von Selbstmordmotivation und Selbstmordhandlung durch fiktive Modelle. Die Folgen der Fernsehserie »Tod eines Schülers«. Nervenarzt 57:502–510 Schubert V (2010) Leistungsdruck in der Schule. Vergleichende Beobachtungen zu Japan, Deutschland und den USA. In: Böhme G (Hrsg) Kritik der Leistungsgesellschaft. Edition Sirius, Bielefeld, S 25–37 Spiegel Online (1986) Selbstmord. Tod nach Muster. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13520197.html. Zugegriffen: 17. Jan. 2019 Teischel O (2007) Die Filmdeutung als Weg zum Selbst. Einführung in die Filmtherapie. Books on Demand, Norderstedt Teischel O (2014) Krankheit und Sehnsucht – Zur Psychosomatik der Sucht. Hintergründe, Symptome, Heilungswege. Springer VS, Berlin Teischel O (2017) Trauerspiel – Einführung in die existenzielle Filmtherapie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Verheyen N (2018) Die Erfindung der Leistung. Hanser, Berlin Wagenhofer E, Kriechbaum S, Stern A (2013) Alphabet. Angst oder Liebe. Ecowin, Salzburg
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„Der Mensch beginnt nicht erst beim Abitur“
Originaltitel
Tod eines Schülers
Erscheinungsjahr
1981
Land
Deutschland
Drehbuch
Robert Stromberger
Regie
Claus Peter Witt
Hauptdarsteller
Till Topf, Günter Strack, Eva Zlonitzky, Ute Christensen, Hans-Helmut Dickow
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Felicitas Auersperg
„Smells like teen spirit“? Die mediale Darstellung einer ohnmächtigen Generation Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Ohnmachtsgefühl als markantes Merkmal einer Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 Der Soundtrack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 Die Thematisierung von Jugendsuizid in den Medien . . . . 542 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_35
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Filmplakat Tote Mädchen lügen nicht. (© Netflix. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Tote Mädchen lügen nicht (2017) Felicitas Auersperg
Handlung
Die sich langsam drehenden Räder einer Kassette, die Erinnerungen an verstohlen ausgetauschte Mixtapes hinaufbeschwören, verwandeln sich vor schwarzem Hintergrund in kreisende Fahrradreifen. In den Pedalen stecken Basketballschuhe, die unermüdlich treten und auf diese Weise in ein Gewimmel von kleinen Kritzeleien führen, die so sehr und generationenübergreifend für das Dasein als Teenager stehen, dass erst beim Anblick der Skizze eines Smartphones zwischen stilisierten Rosen, Popcornbehältern und Sternchen klar wird, dass die gerade beginnende Serie »Tote Mädchen lügen nicht« heute und nicht in den späten 1980er- oder 1990er-Jahren angesiedelt ist (. Abb. 35.1, Filmplakat). Das nostalgische Intro lässt scheinbar endlose Nachmittage in staubigen Kinderzimmern vor dem inneren Auge auferstehen, an denen Trägheit und nervöse Ungeduld so eng aneinander liegen. Die einsetzende, sanfte Akustikgitarre bietet einen irreführenden Hintergrund für den Text des Eingangssongs, in dem eine namenlose, entsetzliche, aber zugleich unwiderstehliche Kraft, die damit droht, den Sänger zu verschlingen, in heiterem Ton besungen wird. Irritierend ist nicht nur die vordergründige Leichtigkeit der Melodie, die mit düsteren Inhalten kokettiert, sondern auch das Fehlen einer sonst in diesem Film- und auch Musikgenre zentralen und treibenden Kraft: der Wut. Sie wird dem Teenager nicht aus der Seele gebrüllt wie von Kurt Cobain (Nirvana) oder Chris Cornell von Soundgarden, die Verzweifelten mit ihrer Musik und der eigenen Sinnsuche eine Stimme verliehen; sie wird auch nicht wie von Pearl Jam oder den Pixies mit scheinbar unzerstörbarer Hoffnung und Unbeugsamkeit zu kreischenden Gitarren geheult. Ohne dieses Aufbegehren, ohne jede Angriffslust, die für die »Teen Angst« der 1990er-Jahre, die in »Tote Mädchen lügen nicht« unentwegt zitiert wird, so typisch war, bleibt der Eindruck von Hilflosigkeit und lähmender Ohnmacht. Bereits nach wenigen Takten sehen wir zum ersten Mal Hannah Baker, die Hauptprotagonistin der Serie – auf einem an einen Schulspind geklebten Foto. Auf dem Bild ist eine attraktive Jugendliche abgebildet, die mit großen, dunkelblauen Augen versonnen, vielleicht nachdenklich, direkt in die Kamera blickt. Um die Aufnahme herum kleben Plastikblumen und Notizzettel mit ausgefransten Rändern, auf denen scheinbar sehnsüchtige, aber doch seltsam oberflächlich anmutende Nachrichten an die offenkundig Verstorbene zu lesen sind. Aus dem Off ist ihre Stimme zu hören:
RR »Ich bin’s, live und in Stereo. Keine Wiederkehr, keine Zugabe und diesmal auch absolut keine Forderungen. Nimm dir was zu knabbern und mach’s dir gemütlich, denn ich werde dir jetzt die Geschichte meines Lebens erzählen« Hannah Baker klingt gelassen, abgeklärt, ja sogar selbstironisch. Auch in diesen ersten Sätzen ist keine Wut erkennbar, dafür wird klar, mit welcher Selbstverständlichkeit Selbstinszenierung ein Teil des Lebens, ja sogar des Todes für die Dargestellten ebenso wie die Rezipienten zu sein scheint. Kühl wird das Erlebte, das Erlittene, kommentiert, analysiert und spöttisch, scheinbar unbeteiligt zur Schau gestellt. Vor dem als Denkmal inszenierten Schulspind schießen zwei Mädchen gerade ein Selfie, das sie mit dem Hashtag #niemalsvergessen versehen, als ein unscheinbarer Halbwüchsiger in grauem T-Shirt, der sie beobachtet, endlich so etwas wie Betroffenheit vermittelt. Seine Trauer ist leise, aber seine Bewegungen und Blicke vermitteln die bedrückende Schwere und paralysierende Taubheit, die den Verlust einer nahestehenden Person begleiten können. Clay, der für den Rest der Serie von mal tröstlichen, mal unheilvollen Trugbildern von Hannah, in die er verliebt war, verfolgt wird, versucht zu begreifen, wie
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„Smells like teen spirit“? Die mediale Darstellung einer ohnmächtigen Generation
es dazu kommen konnte, wie es wahr sein kann, wovon die ganze Schule seit Monaten spricht: Hannah Baker, die ihn liebevoll, aber auch ein wenig herablassend, »Helmchen« genannt hatte, hat sich umgebracht. Noch sind kaum Details bekannt, aber die Jugendliche hat eine ebenso wirkungsvolle wie perfide und bedrückende Art gefunden, sich zu erklären: Auf 13 selbst besprochenen Kassettenseiten, die sie an vermeintlich für ihren Tod verantwortliche Mitschüler verschickt hatte, bevor sie sich zu Hause die Pulsadern aufschnitt, erzählt sie ihre Geschichte und versucht, die Gründe für ihre Entscheidung nachvollziehbar zu machen. Die Serie »Tote Mädchen lügen nicht« versucht in 13 Folgen zu 50–60 Minuten die Reaktionen der Beteiligten nach einem Jugendsuizid einzufangen. Neben den oft unbeholfenen Versuchen der Schule, Präventionsangebote zu machen und sich gleichzeitig aus der Verantwortung zu ziehen, beobachten die Zuseher ratlos zurückgebliebene Mitschüler, die zwischen Betroffenheit und Sensationslust nach Möglichkeiten suchen, weiter zu leben. Unterschiedliche Arten nahestehender Hinterbliebener zu trauern, sind in all ihren Facetten qualvoll mit anzusehen. Die eindringliche schauspielerische Leistung der Darsteller der Eltern von Hannah ist kaum zu ertragen. Von Gram gebeugt erweckt ihre Mutter den Eindruck, plötzlich unter ihrer Last zusammenzubrechen. Ihre eingefallenen Wangen und dunklen Schatten unter den aufgerissenen, hoffnungslosen Augen lassen die vielen schlaflosen Nächte und ewigen Grübeleien erahnen, die sie seit dem Tod ihrer Tochter begleiten. Als sie vor dem Spind ihrer Tochter steht, zu dem sie ein linkischer Lehrer führt, wird sichtbar, was in der bisherigen Darstellung der Generation ihrer Tochter fehlt: Wut. Trotzig sieht sie den Lehrer an und fragt aufgebracht: »Sie hat ja gar keine Aufkleber oder Bilder drin hängen. Warum hat sie keine Aufkleber? Warum, warum ist das so?« Ihre Entrüstung über eine vermeintliche Banalität lässt ihren Schmerz und ihre Enttäuschung darüber, dass ihr nicht mehr von ihrer Tochter bleibt, erahnen. Fehlende Aufkleber oder Bilder werden zu einer entgangenen Chance auf Erklärungen, auf Nähe zur Verstorbenen, auf Antworten zu Fragen, für die es jetzt zu spät ist. Stirbt jemand, kann jedes zurückbleibende Artefakt für die Hinterbliebenen gleichermaßen ein unerträglicher Stich ins Herz der an das Verlorene erinnert, und etwas, wonach sie ständig fiebrig jagen, um Nähe zu schaffen, sein. Nach einem Suizid bleibt zusätzlich das Bedürfnis danach, aufschlussreiche, bis dahin verborgene Informationen aufzudecken, die die Tat erklären und das Erleben der Verstorbenen begreifbar machen. Der Vater von Hannah wirkt gefasster, er packt die Schulbücher seiner Tochter zusammen und wehrt müde den Hinweis seiner Frau auf den Anwalt, der inzwischen eingeschalten wurde, ab. Es scheint, als müsste er die Verarbeitung des Todes seines Kindes aufschieben, um seine Frau zu stützen. Als Szenenübergang wird »Love will tear us apart« von Joy Division eingesetzt. Der kühle, basslastige New Wave Song, dessen Sänger Ian Curtis sich kurz nach seinem Erscheinen erhängt hatte, scheint tatsächlich die perfekte musikalische Untermalung für die emotionale Kälte und Müdigkeit der Auftaktfolge dieser Serie zu sein, die mit schmerzhafter Präzision den Suizid aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, ohne dabei zu glorifizieren. Was bleibt, ist Ohnmacht. Als Clay einen dick in Verpackungsmaterial eingewickelten Schuhkarton vor seiner Tür findet, in dem sich kindlich mit Filzstift und blauem Nagellack bemalte Kassetten befinden, muss er zunächst eine Möglichkeit finden, diese Relikte aus vergangenen Zeiten abzuspielen (. Abb. 35.2). Auf die Frage nach »seinem Radio-Dings« antwortet Clays Vater mit leuchtenden Augen seine »Boom-Box« wäre in der Werkstatt, um sich gleich darauf mit einem Stirnrunzeln danach zu erkundigen, wie es heute in der Schule gewesen sei. Im Gegensatz zu anderen Teenager-Formaten werden Eltern hier nicht als verantwortungsvolles und verlässliches, ein wenig langweiliges Sicherheitsnetz, das in Notsituationen immer vor dem Fall schützt, dargestellt, sondern sie wirken ebenso verwirrt, überfordert und egozentrisch wie ihr Nachwuchs, dem sie eigentlich Halt bieten sollten. Sie lehnen die klassische Elternrolle ab und versuchen, allzu hierarchische Verhältnisse zu vermeiden. Was als Beziehung auf Augenhöhe beabsichtigt ist, führt bei allen Beteiligten sichtlich zu Überforderung und Verwirrung. Hannahs Stimme, die wir bereits aus der Anfangsszene kennen, hallt durch die Werkstatt von Clays Vater. Wie erstarrt hört Clay zu, bis die Stimme des inzwischen verstorbenen Mädchens erklärt, es würde nun von seinem Tod erzählen:
Tote Mädchen lügen nicht (2017)
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..Abb. 35.2 Clay starrt auf eine von Hannah besprochene Kassette. (© Netflix. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
RR »Und wenn du diese Kassetten hörst, dann bist du einer der Gründe dafür.« Als Hannah beginnt, die Regeln ihres »Spieles« zu erklären, wird Clay von seiner Mutter unterbrochen, deren vermeintliche Kontroll- und Überwachungsversuche er irritierend findet. Auf ihre Fragen nach seiner Beziehung zu Hannah versichert er, das Mädchen kaum gekannt zu haben. Seine Mutter weiß zwar, dass die beiden zusammen in einem Kino gearbeitet haben, belässt es aber, möglicherweise erleichtert dabei. Mithilfe eines gestohlenen Walkmans hört Clay sich Hannahs Instruktionen auf einer Parkbank mit beeindruckender Aussicht auf ein ruhiges, schiefergraues Gewässer an. Hannahs Zuhörer sollen nicht nur alle 13 Kassettenseiten anhören, nein, sie sollen sie danach auch noch an andere mutmaßlich Schuldige weitergeben und bestimmte, auf einer Stadtkarte eingezeichnete, bedeutsame Orte (»oldschool, wie früher«, sagt Hannah) besuchen. Hannah Baker hat Vorkehrungen getroffen: Sollte sich einer ihrer Empfänger weigern, die Kassetten weiter zu geben, so würde eine vertrauenswürdige Person eine Kopie davon öffentlich machen. Keine besonders verlockende Aussicht für die Jugendlichen, die, wie im Laufe der Serie schnell deutlich wird, ein Leben völlig losgelöst von ihren Eltern und anderen Aufsichtspersonen führen. Dieses Leben ist, so wie es von Hannah auf den Kassetten geschildert wird, geprägt von Mobbing, sozialem Ausschluss, sexuellen Übergriffen, Substanzmissbrauch und dem verzweifelten Wunsch »dazu« zugehören. Im Laufe der 13 Folgen und der Kassetten, die sich Clay mit zunehmender Verzweiflung anhört, werden zahlreiche schockierende Geheimnisse der Schüler der »Liberty High School« aufgedeckt. Durch die zwei Stränge der Erzählung – ein Strang führt durch die Ereignisse nach Hannahs Tod und begleitet Clays Versuche, ihren Tod zu verstehen, der andere führt durch Hannahs Berichte durch die Monate vor ihrem Selbstmord – zeigen sich Ungereimtheiten und Widersprüche in Hannahs Darstellung und es eröffnen sich verschiedene Perspektiven auf ihre Geschichte. In Clays Erinnerungen wirkt Hannah wie eine selbstbewusste, ein wenig ein-
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schüchternde junge Frau, während sie selbst sich als eingeschüchtert und eher kindlich beschreibt. Durch die aufeinanderfolgenden und miteinander kontrastierenden gezeigten Versionen ihrer Person wird eindrücklich dargestellt, wie sehr unsere Wahrnehmung abhängig von Beziehungsstrukturen und Selbstkonzepten ist. Die Jugendlichen in »Tote Mädchen lügen nicht« scheinen beinahe mühelos von einer Identität in die nächste zu schlüpfen und abhängig von der Erzählerperspektive zeigt sich das Selbstverständnis der Dargestellten oder die Sicht Außenstehender auf dieselbe Person. Ihr Selbst wirkt wie ein niemals enden wollendes Projekt, für das es keine Bedienungsanleitung gibt. Erwachsene stehen weder als Vorbild noch als Abgrenzungsmöglichkeit zur Verfügung und die Jugendlichen sind bei den Versuchen ihrer Identitätskonstruktion alleine. Alleine, aber nicht sich selbst überlassen, denn die Abhängigkeit von all ihren Interaktionsprozessen und der Bewertung durch ihre Umwelt macht »das Unternehmen Selbstfindung« zu einer Sisyphusarbeit. Kaum wirkt es, als wäre zumindest ein Aspekt der Identität gesichert, ein winziger Teil des Projektes abgeschlossen, wird er durch die Dynamik zwischen Eigenem und dem Fremden zu Fall gebracht. Jeder Impuls von außen kann zutiefst verunsichern und das Ich gefährden. Diese dem Jugendalter eigene Vulnerabilität wird in der Serie »Tote Mädchen lügen nicht« überzeugend eingefangen.
Hannahs Beweggründe Wummernde Bässe dringen aus einem hell erleuchteten Haus. Im Garten stehen Grüppchen unbeschwerter, lachender Jugendlicher, die einander zuprosten. Clay nähert sich auf dem Rad Hannahs erster und einziger Party und beobachtet, selbst noch unbemerkt, mit der diesen Situationen eigenen Mischung aus Vorfreude und Unsicherheit seine Mitschüler. Aus dem Off ertönt Hannah Bakers gelassene Stimme:
RR »Es war nur eine Party. Ich wusste nicht, dass es der Anfang vom Ende sein sollte.« Clay streift seinen klobigen Fahrradhelm (dem er seinen Spitznamen »Helmchen« zu verdanken hat) ab und streicht sich verstohlen durch die Haare, während er Hannahs Zuhause betritt. In Hannahs Erzählung wird er zunächst nur am Rande eine Rolle spielen. Sie ist gerade gemeinsam mit ihren Eltern in eine neue Stadt gezogen und versucht, noch vor dem Ende der Sommerferien soziale Kontakte zu knüpfen. Bei ihrer ersten Party lernt sie Justin Foley kennen, den Sportstar der Liberty High und die erste Person, der Hannah in ihren Kassetten die Mitschuld an ihrem Tod zuschreibt. Mit einem koketten Blick über seine unbekleidete Schulter nach einem Gerangel vor dem Haus in das eine Bewässerungsanlage involviert war, zieht der großflächig tätowierte und dadurch in der noch heil scheinenden amerikanischen Jugendidylle merkwürdig deplatziert wirkende Justin das Mädchen sofort in seinen Bann. Justin ist der erste von elf Jugendlichen, die von Hannah für ihren Verzweiflungstod zur Rechenschaft gezogen werden. Die Zuseher lernen über Hannahs Kassetten den bedrückenden Alltag an der Liberty High kennen, der streckenweise an einen Politthriller erinnert: Erpressung, Mobbing, Drogen, Gerüchte und Stalking stehen an der Tagesordnung. Hannah ist, ebenso wie ihre Schulkolleginnen, mehrfach sexuellen Belästigungen ausgesetzt. Die Mädchen werden mit Listen, die verstohlen durch die Bankreihen gereicht werden, wie bei einer Kundenbewertung im Internet beurteilt. Die mit dieser empörenden Objektivierung verbundenen Konflikte führen dazu, dass Freundschaften in die Brüche gehen und Hannah sich isoliert und als Ziel von Spötteleien alleine durch den Schulalltag kämpfen muss. Besonders beklemmend sind nicht nur die offenbar selbstverständlichen anzüglichen Bemerkungen und die körperlichen Übergriffe, sondern auch die Resignation, mit der sie konstatiert werden. Auch hier zeigt die Serie »Tote Mädchen lügen nicht« mit erschreckender und brutaler Ironie die Ohnmacht und Hilflosigkeit der dargestellten Generation. Als Hannah die Vergewaltigung ihrer völlig weggetretenen und wehrlosen Freundin Jessica beobachtet, während deren Freund Justin Foley weinend vor der Tür wartet, schafft sie es nicht, ihr Versteck im Kleiderschrank zu verlassen und einzuschreiten.
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RR »Ich musste irgendetwas tun, ich musste ihn stoppen. Aber meine Füße waren wie aus Blei.« Während die Geräusche einer Party in das Zimmer dringen, ausgelassenes Gelächter und Musik zu hören sind, wälzt sich Bryce, ein Mitschüler, dessen finanzielle Möglichkeiten und sportliche Fähigkeiten ihn für Lehrer wie Schüler nahezu unantastbar machen, auf die bewusstlose Jessica und missbraucht sie, um sofort danach das Zimmer zu verlassen und weiter zu feiern. Regen trommelt an die Fenster, als Hannah sich aus ihrem Versteck traut, weinend eine Decke über ihre Freundin breitet und sich fragt, wie sie und Justin mit der Schuld, die Vergewaltigung nicht verhindert zu haben, leben sollen.
RR »Ich konnte keinen Schritt mehr gehen oder war zu schwach, um es überhaupt nur zu versuchen.« Als Justin seiner Freundin Jessica vorschlägt, über den Inhalt der Kassetten zu reden, durch die sie von ihrer Vergewaltigung erfährt, schüttelt diese weinend den Kopf und flüchtet sich in seine Arme. Statt wütend darüber zu sein, was ihr widerfahren ist, statt Justin Vorwürfe zu machen, weil er sie nicht gegen seinen Freund Bryce verteidigt hat, klammert sich Jessica verzweifelt an diesen flüchtigen Moment der Geborgenheit. Sie ist noch nicht bereit, sich mit ihrer Vergewaltigung auseinanderzusetzen und stellt ihr Bedürfnis nach Ruhe und Sicherheit in den Vordergrund. Die Episode von Jessicas Vergewaltigung endet mit dem Song »My life in rewind« von den Eagulls, in dem Reue und der verzweifelte Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, besungen werden. Hannahs über die Episoden zunehmende Hoffnungslosigkeit wird von Minute zu Minute größer und bereits nach Jessicas Vergewaltigung scheint es, als würde sie sich ihrem vermeintlichen Schicksal, ihrem viel zu frühen Tod, ergeben. Sie wirkt wie losgelöst von ihrer Umwelt, verloren im Tagesgeschehen ihrer Familie und Schulkameraden. Zu der großen Schuld, die sie meint an Jessicas Vergewaltigung mitzutragen, kommt eine weitere Katastrophe, mit der Hannah zu kämpfen hat: Eine Mitschülerin, die Hannah nach der Party mit dem Auto nach hause bringt, überfährt ein Stopp-Schild, das für den folgenden Verkehr nun nicht mehr sichtbar ist. Prompt kommt es zu einem tödlichen Unfall, für den Hannah sich nun ebenfalls mitverantwortlich fühlt. Inzwischen ist die Jugendliche sicher: Ihr Leben wird sich nicht mehr zum Guten wenden. Wie um die Zuseher vom Gegenteil zu überzeugen, beginnt die nächste Folge der Serie mit einem sonnigen Tag und einem humorvollen Gespräch zwischen Hannah und ihren Eltern, die finanzielle Sorgen haben, aber entschlossen sind, sich nicht unterkriegen zu lassen. Hannah bietet an, einen größeren Geldbetrag für ihre Mutter auf die Bank zu bringen und einen Moment lang wirkt es so, als ginge es bergauf für die Familie Baker. Als auch noch Clay anruft, für den Hannah Gefühle hegt, wirken die trügerisch fröhlichen Akkorde des Songs »Oh! Starving« (von Car Seat Headrest) wie der langersehnte Hoffnungsschimmer nach einer Reihe entsetzlicher, aufreibender Episoden der Serie. Doch ebenso wie der ausgesprochen düstere Text des Liedes lässt schon die nächste Szene, in der Hannah das Kuvert mit dem Geld ihrer Eltern auf dem Autodach vergisst, erahnen, dass ihr noch weitere Erlebnisse bevorstehen, die sie in dem Gedanken bestärken werden, dass ihr Leben wertlos ist.
RR »Ich hatte den Eindruck, dass ich jeden enttäuscht hatte. Egal, was ich tat. Mir drängte sich immer mehr der Gedanke auf, dass die anderen ein besseres Leben hätten, wenn es mich nicht gäbe. Und wie sich das anfühlt? Es fühlt sich nach gar nichts an. Wie ein tiefes, endloses, leeres Nichts.« Geplagt von Schuldgefühlen geht Hannah nach einem Streit mit ihren Eltern aus dem Haus und irrt dunkle Straßen entlang. Aus dem Off erklingt Hannahs Stimme, die vernichtend anmerkt, dass jene, die nun im Nachhinein nach Warnsignalen suchen würden, nichts fänden. Das sei ja das Beängstigende.
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..Abb. 35.3 Hannah Baker weint kurz vor ihrem Tod in einem leeren Kinosaal. (© Netflix. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Auf ihrem Spaziergang hört das durch die Dunkelheit stapfende Mädchen plötzlich Stimmen und Musik. Ein schwacher, warmer Lichtstrahl trifft ihr Gesicht. Als die Jugendliche den Garten von Bryce, dem Vergewaltiger von Jessica betritt, kann sie zunächst nicht glauben, sich selbst und auch Jessica nach so kurzer Zeit wieder auf einer Feier zu finden. Doch bevor sie darüber nachdenken kann, winkt sie die offensichtlich betrunkene, fröhliche Jessica zu einem Whirlpool, in dem sie gemeinsam mit Schulkollegen Pizza essen und unter den Sternen plantschen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlt sich Hannah wohl und sicher, was in Anbetracht der Tatsache, dass sie sich in Unterwäsche im Whirlpool eines Vergewaltigers aufhält überrascht und sicherlich auf die große seelische Belastung, die oft mit erhöhtem Risikoverhalten einhergeht, hinweist. Nach kurzer Zeit sitzt sie alleine Bryce gegenüber, der sich ihr langsam nähert, während er sie mit Komplimenten überhäuft. Als Hannah gehen möchte, hält er sie fest und zieht sie in den Whirlpool zurück. Er vergewaltigt die sprachlose, widerstandslose Hannah, die mit leeren Augen über der Beckenkante hängt und, als es vorbei ist, durchnässt und immer noch wortlos den Rückweg antritt.
RR »Ich weiß, du denkst wahrscheinlich, dass ich mehr hätte tun können oder mehr hätte tun müssen, aber ich hatte die Kontrolle verloren und in dieser Situation fühlte ich mich, da fühlte ich mich, als wäre ich schon tot.« Zu Hause angekommen, entkleidet sich das Mädchen und blaue Flecken, die an die Gewalt, die ihr angetan wurde, gemahnen, werden auf ihrer Haut sichtbar. Hannah setzt sich an ihren Schreibtisch und beginnt mit den Vorbereitungen für die Dokumentation ihres Leids. Sie ergibt sich ihrer Hoffnungslosigkeit und ist sich sicher, dass das Leben sich ihrer Kontrolle entzieht. Die heimeligen, bunten Details ihres Kinderzimmers bilden einen grausamen Kontrast zu Hannahs Verzweiflung und Resignation (. Abb. 35.3).
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Die Reaktionen der dargestellten Eltern Hannahs Hand wandert im Geschäft ihrer Eltern zu den Rasierklingen. Ihr Gesicht wirkt durch die frisch geschnittenen Haare offener, regelmäßiger. Ihre Mutter streicht dem Mädchen über die Schulter und wünscht ihr einen schönen Tag. Nichts deutet darauf hin, dass sie ihre Tochter schon wenige Stunden später tot mit geöffneten Pulsadern in der Badewanne finden wird. Besonders verstörend an der Serie »Tote Mädchen lügen nicht« ist genau diese Unvorhersehbarkeit, die den Zusehern schmerzlich bewusst macht, wie leicht das Unglück, die Verzweiflung anderer Menschen übersehen werden kann. Gleichzeitig zeigt sie, dass auch Kinder und Jugendliche durchaus in der Lage sind, ihre Sorgen, Ängste und Nöte gut zu verheimlichen und sie durch Krisen gehen, von denen ihre Eltern unter Umständen nie erfahren. Am Tag nach ihrer Vergewaltigung sitzt Jessica mit ihrer Familie beim Abendessen. Seelenruhig erzählt sie von ihren Erfolgen beim Sporttraining und stimmt ihrem Vater scheinbar unbeschwert zu, als er sie dazu ermahnt, Tag für Tag ihr Bestes geben zu müssen. Im Laufe der Serie wird sie Schnapsflaschen unter ihrem Bett verstecken, um der überwältigenden Verzweiflung, die sie verspürt, zumindest für wenige Momente zu entkommen. Unbemerkt von ihren Eltern. Die Serie vermittelt eindrucksvoll einen Einblick in den Alltag amerikanischer Jugendlicher, der von großem Leistungsdruck, sozialen Ängsten, Mobbing und Süchten geprägt zu sein scheint. Ohne großen Aufwand gelingt es ihnen, diese Facetten ihres Lebens vor ihren Eltern zu verbergen, die, wohl unbewusst, jeder Konfrontation damit ohnehin aus dem Weg gehen. Die in der Serie porträtierten Erwachsenen wirken überfordert mit ihrem eigenen Leben, der Realität ihrer Kinder und dem Tod von Hannah Baker. Die Schüler suchen nicht nach der Hilfe von Erwachsenen und den Zusehern wird der Eindruck vermittelt, dass von ihnen auch kein Beistand zu erwarten wäre. Für jugendliche, vulnerable Rezipienten kann dies eine gefährlich entmutigende Botschaft sein, die sie davon abhält, in Krisen Unterstützung von Eltern, Lehrern oder anderen Erwachsenen einzufordern. Erst in den letzten Minuten der letzten Episode sucht Jessica die Hilfe ihres Vaters, dessen fassungsloses Gesicht die Ahnungslosigkeit und Hilflosigkeit der dargestellten Eltern zeigt. Sie können ihre Kinder nicht beschützen. Als der Direktor und der Vertrauenslehrer der Liberty High bei einer Elternversammlung über Jugendsuizid aufklären, wird die kindliche Ohnmacht der Eltern besonders deutlich sichtbar: Wie eine Schulklasse sitzen sie mit betroffenen, trotzigen Gesichtern zusammen, versuchen die Situation zu erfassen und die Implikationen von Hannahs Tod für ihre eigenen Kinder zu begreifen. Ihre Weigerung, die Erwachsenenrolle und ein hierarchisches Verhältnis zu ihren Kindern anzunehmen, ist ein Versuch, ältere Familienstrukturen und den autoritären Erziehungsstil vorangegangener Generationen hinter sich zu lassen. Damit verbieten sie aber ironischerweise ihrem Nachwuchs auch Aspekte des Kind-Seins wie Rebellion und Unbeschwertheit. Mit der mangelnden Bereitschaft erwachsen zu werden, Grenzen zu setzen und die Gefahr, sich unbeliebt zu machen, einzugehen, entsteht Verunsicherung bei allen Beteiligten. In der Serie umschiffen sowohl Eltern als auch Kinder soweit als möglich schwierige Gespräche – ihr SmallTalk-Geplänkel erinnert streckenweise an unbehagliche soziale Verpflichtungen ohne Fluchtmöglichkeit. Als Hannahs Mutter unangekündigt zur Versammlung stößt, faucht sie die anderen an:
RR »Wenn Sie wirklich wissen wollen, wieso, dann schlage ich vor, Sie fragen ihre eigenen Kinder.« Olivia Baker, deren Trauer durch die schauspielerische Leistung von Kate Walsh bestürzend, ja beinahe unerträglich fühlbar wird, scheint sich mit unerbittlichem Kampfgeist am Leben zu halten. Statt in ihrer Verzweiflung zu versinken, sucht sie wütend nach den Gründen für den Tod ihrer einzigen Tochter und bereitet eine Klage gegen die Schule vor, die in ihren Augen nicht ausreichend zur Prävention von Mobbing beigetragen hat. Kurz davor vor Schmerz den Verstand zu verlieren, macht sie weder vor anderen Eltern noch vor Hannahs Klassenkameraden Halt und verliert sich in endlosen Rekapitulationen der Geschehnisse. Als sie bemerkt, wie sehr auch Clay und andere der früheren Freunde ihrer Tochter
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leiden, scheint sich für Olivia nach und nach ein Weg in die Stabilisierung ihres Lebens zu eröffnen. Ihr Mann, Andrew Baker, trauert leiser, zurückhaltender. Er versucht, seine Frau zu unterstützen, ihre gemeinsame Apotheke vor dem Bankrott zu bewahren und den schrecklichen Verlust seiner Tochter zu verarbeiten.
Die Reaktionen der dargestellten Schüler Blitzblaue Collegejacken, Liebesbriefchen am Valentinstag, Cliquen in nach verkochtem Spinat riechenden Speisesälen – auf den ersten Blick erinnert das Leben an der Liberty High an die unzähligen bereits dagewesenen Teenagerkomödien aus Amerika von »Breakfast Club« über »American Pie« bis zu »Girls Club«. Nur geht es an der Liberty High nicht um die Überwindung sozialer Unterschiede, anzüglichen Klamauk oder die Bedeutung des richtigen Nagellacks für die Zugehörigkeit zu einer Peer Group, sondern um das Überleben in einer extrem feindlichen Umgebung ohne jede Unterstützung. »Fressen oder gefressen werden« könnte das Motto der High School sein, deren Schüler vor nichts zurückschrecken, um sich zu schützen und ihren Lebensstil vor ihren Eltern zu verbergen. Auf der einen Seite ist es wichtig für sie, den hedonistischen Teil ihres Lebens vor den von Leistungen und merkwürdig verstaubt wirkenden scheinheiligen moralischen Idealen besessenen Erwachsenen geheim zu halten, auf der anderen Seite sind sie besonders darum bemüht, ihre Sorgen und Ängste für sich zu behalten. Die Jugendlichen scheinen entsetzliche Angst davor zu haben, ihre Eltern enttäuschen zu können, ob nun mit ihrer sexuellen Orientierung oder einer schlechten Schularbeit. Wo in früheren filmischen Darstellungen des Jugendalters häufig Rebellion und Auflehnung thematisiert sind, sehen wir in 13 reasons why den starken Wunsch nach Angepasstheit und Anerkennung, der die dargestellten Kinder daran hindert, Unzulänglichkeiten und psychische Belastungen mit ihren Erziehungsberechtigten zu teilen. Die Befürchtung, nicht so zu sein, wie die Eltern es sich wünschen, sich nicht so glücklich zu fühlen, wie die Eltern es verdienen, verhindert ehrliche Gespräche genauso wie der Eindruck, dass Erwachsene die Lebenswelt der Jugendlichen weder erfassen noch verkraften können. Ihre Einmischungen, so wird den Zusehern vermittelt, würden nur zu einer Verkomplizierung der ohnehin brisanten Lage führen, die sich die Schüler gerne ersparen möchten. Als Hannah Baker, eine von ihnen, sich das Leben nimmt, sind alle Kinder und Jugendlichen der Liberty High betroffen. An den Wänden werden Plakate mit Suizidhotlines aufgehängt, besorgte Eltern versuchen beim Abendessen ungeschickt mehr über das Leben ihrer erschreckend fremden Kinder zu erfragen und in Schulveranstaltungen werden Themen wie Suizid und Mobbing bearbeitet, wobei allen Beteiligten klar zu sein scheint, dass diese Interventionen ins Leere laufen und nicht zur Lebensrealität der Schüler passen.
RR »Es ist mehr als ’ne Woche her. Vielleicht sollten wir weitermachen«, ruft ein etwa 15-jähriger Junge mit Trilbyhut auf dem Kopf, als eine Lehrerin routiniert eine Auswahl an Präventionsangeboten herunterbetet. Er macht klar, dass er sich nicht mit dem, wie er sagt, zweifellos tragischen Suizid beschäftigen möchte, sondern es Zeit ist, den normalen Schulalltag wieder aufzunehmen, der für viele bestimmt eine tröstliche und sichere Struktur bietet. Im Gegensatz zu ihm können zumindest elf andere Jugendliche nicht »weitermachen«. Ihnen wird von der Verstorbenen selbst Mitschuld an ihrem Tod zugeschrieben, wodurch erhebliches Leid für sie entsteht. Die Empfänger der Kassetten werden von Hannah in dieselbe Ohnmacht gezwungen, die sie selbst empfunden haben muss: Sie verdammt ihre Zuhörer dazu, tatenlos und stumm nachzuhören, wie die Tragödie sich entwickelt und welchen Anteil sie daran gehabt haben. Neben den belastenden Schuldgefühlen haben die Zuhörer auch noch mit den Aufdeckungen zu kämpfen, die Hannah über ihre Kassetten teilt. Das verstorbene Mädchen scheut nicht davor zurück, intime Geheimnisse ihrer Klassenkolleginnen zu verraten und konfrontiert auf diesem Weg Jessica mit ihrer Vergewaltigung, Clay mit seiner Feigheit und nebenbei outet sie Courtney, die bisher nicht den Mut dazu finden konnte, als homosexuell (. Abb. 35.4).
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..Abb. 35.4 Courtney ist überfordert mit Hannahs Tod und den darauf folgenden Enthüllungen. (© Netflix. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Im Laufe der Serie wird deutlich, dass die vielschichtigen Charaktere alle mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Justin leidet unter seiner drogensüchtigen Mutter und seinem gewalttätigen Stiefvater, Clay hatte offenbar schon früher depressive Phasen, die medikamentös behandelt werden mussten, selbst der stumpfe Vergewaltiger Bryce wird als wohlstandsverwahrloster einsamer Sohn ein wenig nahbarer. Der Grundtenor der Serie scheint zu sein, dass alle Schüler mit zahlreichen Problemen konfrontiert sind und niemand, egal wie beliebt, attraktiv oder auch unsichtbar er sein mag, davon verschont bleibt. Trotzdem schaffen es einige in der Serie porträtierten Schüler schließlich Hilfe zu suchen und anzunehmen. Als Jessica sich ihrer Vergewaltigung, dem Verlust ihrer ehemaligen besten Freundin und ihrer beginnenden Alkoholkrankheit stellt, die Spirituosenflaschen aus den Verstecken ihres Kinderzimmers holt und sie wegschüttet, ist eine Schlüsselszene der Serie 13 reasons why geschaffen. Während sie die Kontrolle über ihr Leben zurückerobert, ist sich Hannah, die parallel dazu bei der Vorbereitung ihrer Kassetten gezeigt wird, sicher:
RR »Das Leben ist unvorhersehbar und Kontrolle ist nur eine Illusion.« In der medialen Diskussion der Serie wird in erster Linie Hannah Bakers Verzweiflungstat und ihre Folgen für jugendliche Rezipienten thematisiert. Die Entwicklung der anderen Charaktere, von denen einige beweisen, dass es sich lohnt, um Unterstützung zu bitten und sich Schwierigkeiten zu stellen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, wird dabei vernachlässigt. Besonders schwer an seiner vermeintlichen Schuld an Hannahs Selbstmord trägt Alex Standall, der Sohn eines sehr strengen Polizisten und einer chronisch erschöpften Krankenschwester. Sein Beitrag an Hannahs Leid beschränkt sich auf eine auf den ersten Blick harmlose Liste, in der er ihr »den besten Hintern der Schule« zuspricht. Diese Liste führt allerdings zum Zerwürfnis zwischen Jessica, die eifersüchtig ist, und Hannah, die durch die Liste zur Zielscheibe für Spötteleien und Anzüglichkeiten
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wird. Der ohnehin melancholische und sehr nachdenkliche Alex hält dem Druck, der aus allen schulischen und familiären Belastungen gemeinsam mit seinen immensen Schuldgefühlen entsteht, nicht stand und schießt sich mit einer der Waffen seines Vaters in den Kopf. Die erste Staffel der Serie endet damit, dass Alex auf der Intensivstation liegt und sein Überleben ungewiss bleibt.
Reaktionen der Schule Die Liberty High School dient nicht nur als Kulisse der Serie, sondern spielt für den Alltag der dargestellten Jugendlichen eine große Rolle, bietet sie doch die Struktur und Bedingungen der ihnen widerfahrenen Widrigkeiten. Vor Hannahs Selbstmord fällt das Schulpersonal in erster Linie durch seine Abwesenheit auf. Die Serie vermittelt das Bild einer riesigen Schule, in der Lehrer und Schüler kaum miteinander in Berührung kommen und in der nur signifikante SchülerInnen wie der Footballstar, die Schulsprecherin oder der Herausgeber der Schülerzeitschrift erkannt und gefördert werden. Alle anderen Kinder und Jugendlichen scheinen durch ein Raster zu fallen, das möglicherweise ein Produkt der Überforderung der Lehrer ist. Unvermögen und Hilflosigkeit sind auch in dieser Gruppe dargestellter Personen die vorherrschenden vermittelten Eindrücke. Als Hannah Baker kurz vor ihrem Tod Hilfe bei ihrem Vertrauenslehrer Mr. Porter sucht, ist sein Unbehagen so greifbar, dass Hannah ihn sofort entlarvt:
RR »Sie wollen nicht darüber reden, richtig?« Trotzdem versucht sie unter Tränen über ihre Vergewaltigung zu sprechen. Hannahs zaghafte Bemühungen sich verständlich zu machen, werden von Mr. Porter mit seinen drängenden, sehr direktiven Nachfragen im Keim erstickt. Hannah fühlt sich noch nicht bereit, über Details zu sprechen und sie hat Hemmungen, den Namen ihres Vergewaltigers zu nennen. Mr. Porter erklärt, dass sie, wenn sie weder den Namen ihres Angreifers nennt noch sicher sei, ob sie Anklage erheben würde, nur eine Option hätte:
RR »Das soll nicht unsensibel klingen, aber Sie könnten versuchen, darüber hinwegzukommen.« Hannah reagiert ungehalten und schließlich resigniert, als Mr. Porter ihr vorschlägt »einfach loszulassen«. Als sie aus dem Büro des Vertrauenslehrers stürmt, bleibt sie vor dessen Tür stehen, um ihm Zeit zu geben, ihr hinterher zu laufen. Er kommt nicht. Zu Ultravox’ »Vienna« resümiert Hannah ihren Eindruck von den Bemühungen ihrer Umwelt, ihr Leid zu erkennen oder ihr Vorhaben zu verhindern:
RR »Einige waren bemüht. Niemand war bemüht genug. Nicht mal ich selbst. Es tut mir leid.« Damit endet Kassette 13, die Mr. Porter gewidmet ist und Hannah verlässt die Schule, während im Hintergrund der New Wave Song »Vienna« über Bedeutungslosigkeit und Vergänglichkeit langsam von seinem minimalistischen, leisen Opening zu seinem an Walzer erinnernden opulenten Finale anschwillt. Mit unbewegtem Gesicht, über das langsam Tränen rollen, sitzt Hannah in der Badewanne und schneidet sich schließlich, vor Schmerz keuchend, die Pulsadern auf. Das Badewannenwasser färbt sich rot, während sie auf den Tod wartet und ihr Atem stockend langsamer wird.
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Ohnmachtsgefühl als markantes Merkmal einer Generation Hannahs Kassette endet mit dem leidenschaftslosen Eingeständnis, dass auch sie nicht bemüht genug war, um ihr eigenes Leben zu retten. Die Hauptfigur der hier beschriebenen Serie scheint im Verlauf der 13 Folgen wie in einem träge fließenden Fluss auf ihren Tod zu zutreiben, ohne dabei auch nur daran zu denken, um Hilfe zu schreien. Die Antriebs- und Hoffnungslosigkeit, die sie zu empfinden scheint, ist typisch für Depressionserkrankungen. Dennoch ist es erstaunlich, dass nicht nur sie, sondern ihre ganze Umgebung sich wie in einer antiken Tragödie dem scheinbar gottgewollten Lauf der Dinge fügt. Wie entsteht diese unendliche Duldsamkeit, die Bereitschaft alle Missstände so zu akzeptieren, wie sie nun einmal sind? Die Jugend der dargestellten Generation ist von der größten Wirtschaftskrise seit dem Börsencrash von 1929, dem fortschreitenden Sterben unserer Umwelt und der umfassendsten jemals dagewesenen sozialen Vernetzung bei gleichzeitig immer stärker werdender Vereinsamung geprägt. Menschliche und politische Katastrophen gehören so sehr zur Tagesordnung, dass viele vor wenigen Jahren noch undenkbare, skandalöse Vorkommnisse heute nur mehr mit einer hochgezogenen Augenbraue quittiert werden. Eine aus diesen Entwicklungen entstehende Abgebrühtheit oder Hoffnungslosigkeit zu vermuten, ist naheliegend. Zudem sind die Protagonisten der Serie, ebenso wie viele ihrer Rezipienten noch minderjährig, was ihren Handlungsspielraum im juristischen, finanziellen und vor allem autonomen Sinne zusätzlich schmälert. Trotzdem werden Hannah und ihren Freunden viele Freiheiten gelassen. Sie scheinen ihr Leben selbstverantwortlich und ohne Leitung zu bestreiten, sind aber letztlich immer an die Strukturen der Erwachsenenwelt gebunden. Ihnen wird also die Freiheit zugemutet, alleine mit Problemen wie Sucht, Missbrauch, Verleumdung, Mobbing, Stalking und Depression zu kämpfen, gleichzeitig verfügen sie aber nie über den Handlungsspielraum, den Erwachsene hätten, um diese Schwierigkeiten zu bearbeiten. Zusätzlich scheinen die dargestellten Kinder zu versuchen, die Verantwortung für ihre Eltern zu übernehmen. Immer wieder gelingt es ihnen, ihre Nöte vor ihren Eltern zu verbergen, wobei der Eindruck entsteht, dass sie nicht so sehr sich vor Konsequenzen, sondern besonders ihre Eltern vor unliebsamen Entdeckungen schützen wollen. Die Auflage an die Jugendlichen zu funktionieren und glücklich über die vermeintlich so angenehm hierarchielose Beziehung zu ihren Eltern zu sein, ist an und für sich schon eine Zumutung. Das Fehlen jeglicher Rebellion nicht mehr erstaunlich, sondern eine aus den Umständen entstehende Notwendigkeit und Einschränkung. Die Aufforderung zu der völlig eigenständigen Entscheidungsfindung in prekären Situationen keine Freiheit, sondern Überforderung. Den Kindern und Jugendlichen der Serie 13 reasons why wird eine Freiheit auferlegt, zu deren Bewältigung ihnen weder Werkzeuge noch Handlungsskripte zur Verfügung stehen. Das Regelwerk, dass das Zusammenspiel zwischen Kindern und Erwachsenen reguliert, scheint außer Kraft gesetzt zu sein, gleichzeitig sind alle Beteiligten angestrengt darum bemüht, der bilderbuchhaften Idealvorstellung von »Familie« zu genügen. Doch weder die pädagogisch wertvollen Brettspiele zur Erweiterung des Wortschatzes noch die glutenfreien Porridgemischungen mit regional angebautem Obst am Frühstückstisch können über die durch den Soundtrack der Serie so eindringlich transportierte Verzweiflung und Angst hinwegtäuschen, die unausgesprochener, aber ständig spürbarer Teil des Familienlebens bleibt. Mithilfe der eingesetzten Musik, die sehr häufig den Kontrast zwischen heiterer Akustikgitarre und verstörendem Text als Stilmittel nützt, werden diese Widersprüche zwischen süßlich bunter Oberfläche und chaotischer, bestürzender Realität aufgegriffen. Die dargestellten Jugendlichen sollen sich zwar in Eigenregie um ihre Probleme kümmern wie Erwachsene, da sie aber noch nicht erwachsen sind und es ihnen somit an Handlungsspielraum für die Erwachsenenbühne fehlt, ist ein ständiges Scheitern vorprogrammiert. Die sich so zwangsläufig wiederholende Erfahrung der Hilflosigkeit könnte zu einem Gefühl der Ohnmacht und der Resignation führen. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbarer, warum Hannah, Clay und die anderen große Strecken der Serie über sehr passiv wirken. Hannah findet mit ihrem Selbstmord vermeintlich zu ein wenig Handlungsfähigkeit. Mit ihrer Weigerung, sich diesen
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in höchstem Maße unfairen Spielregeln zu unterwerfen, entzieht sie sich ihrer ambivalenten Situation. Diese Interpretation ist vielleicht die größte Schwäche der hier beschriebenen Serie, könnte sie doch vulnerablen Zusehern vermitteln, der sogenannte »Freitod« wäre eine akzeptable Möglichkeit, sich nicht nur die Unbilden des Lebens zu ersparen, sondern dabei allen unliebsamen Peinigern auch noch einen gehörigen Denkzettel zu verpassen. Hannahs Selbstmord ist ein gewaltsamer Versuch, Handlungsfähigkeit zu gewinnen, wo vermeintlich keine ist und gleichzeitig ein hochaggressiver Racheakt, der ihre Hinterbliebenen mit großer Wahrscheinlichkeit deren ganzes Leben quälen wird. In Hannahs Schuldzuweisungen zeigt sich jene Wut und Aggression, für die sie im Leben keine Worte findet.
Der Soundtrack Beinahe durchwegs positive Rezensionen erntete der Soundtrack der Serie »Tote Mädchen lügen nicht«, der unter der Leitung von Season Kent zusammengestellt wurde. Die liebevoll ausgewählten Musikstücke dienen nicht nur als Rahmen der Handlung und als subtiler Ausblick auf den weiteren Verlauf der Geschichte. Mit ihrer Hilfe wird die Komplexität des dargestellten Themas getroffen und sie werden genützt, um die emotionale Gestimmtheit der Protagonisten sowie den Grundton der gesamten Erzählung zu kommentieren. Statt wie in vielen anderen Fernsehformaten nur als Hintergrundbegleitung zu fungieren, werden hier Songs eingesetzt, die der Geschichte mehr Tiefgang und Facettenreichtum verleihen. Erst die musikalische Untermalung der Serie macht so schwer darstellbare Emotionen wie Resignation und Ohnmacht greifbar, die für die Serie »13 reasons why« von zentraler Bedeutung sind. Die Entscheidung, junge und weniger bekannte KünstlerInnen mit einem sehr spezifischen Genre des 1980er-Jahre Pop in die Playlist einzubinden, war sicherlich ökonomisch sinnvoll, macht sie doch die Serie auf diese Weise für mehrere Generationen attraktiv. Gleichzeitig ist die strenge Einschränkung auf die eher depressive, oft minimalistische und kühle Synthesizermusik von Depeche Mode, The Cure oder Ultravox ein klares Bekenntnis zum manchmal beinahe mechanisch wirkendem Stimmungsbild der ersten Staffel der Serie. Eine eklektischere Auswahl an Musikstücken hätte nie in so großer Deutlichkeit den im letzten Absatz beschriebenen Eindruck von kalter Hoffnungslosigkeit entstehen lassen können.
Die Thematisierung von Jugendsuizid in den Medien RR »Tote Mädchen lügen nicht ist eine fiktionale Serie mit heiklen Themen aus dem realen Leben. Wir blicken auf sexuelle Übergriffe, Drogenmissbrauch, Selbstmord und mehr. In dem diese schwierigen Themen beleuchtet werden, hoffen wir, dass unsere Zuschauer angeregt werden und ins Gespräch kommen. Solltest du selbst mit den angesprochenen Themen zu tun haben, ist das vielleicht nicht das richtige für dich. Am besten kuckst du diese Serie nur mit einem Erwachsenen.« Mit diesen von ihren Protagonisten vorgetragenen Worten beginnt die 2018 erschienene zweite Staffel der Serie 13 reasons why, die jeder Folge den Hinweis auf eine Suizidhotline und eine eigens eingerichtete Website vorausschickt. Diese Einführung lässt erahnen, wie kontrovers die Serie nach ihrem Erscheinen diskutiert wurde und unter welchem Druck Netflix stand, Stellung zu den Vorwürfen von besorgten Eltern, Kinderärzten, Psychologen und Wissenschaftlern zu beziehen. Seit Jahrzehnten wird der Effekt von öffentlichkeitswirksamen Darstellungen von Suizid diskutiert. Trotz der allgemeinen Auffassung, dass sie zu Nachahmungstaten inspirieren könnten und deshalb vermieden werden sollten, wird in wissenschaftlichen Publikationen die inkonsistente Datenlage thematisiert (z. B. Ferguson 2018). Zarin-Pass et al. (2018) berichten von Beobachtungen in Notaufnahmen, denen zufolge in den Monaten nach der Veröffentlichung von 13 reasons why einige junge Patienten eingeliefert wurden,
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die sich von der Serie inspirieren ließen. Manche von ihnen hatten Listen mit 13 Gründen für ihren Selbstmord hinterlassen, andere glichen ihr Erscheinungsbild dem von Hannah Baker an (Zarin-Pass et al. 2018). Da Rosa et al. (2019) untersuchten die Stimmung jugendlicher Zuseher in Abhängigkeit von der Serie »Tote Mädchen lügen nicht«. Sie konnten feststellen, dass 23,7 % der Befragten sich schlechter fühlten, nachdem sie der Serie gesehen hatten. Dieser Effekt war insbesondere bei jenen Jugendlichen zu beobachten, die schon zuvor häufiger und intensivere negative Gefühle als andere Personen in der Stichprobe von über 7000 Jugendlichen verspürten. Hong et al. (2018) stellten in Interviews mit Jugendlichen, die in psychiatrischen Notaufnahmen vorstellig wurden, fest, dass Jugendliche, die die Serie gesehen hatten, sie zu einem gewissen Grad mit ihrem eigenen Suizidalitätsrisiko in Verbindung brachten. Außerdem konnten sie beobachten, dass insbesondere Personen, die eher zu Depressionen neigen, sich auch eher mit Hannah Baker identifizierten. Die Untersuchung von technologiebasierten Plattformen zur Krisenberatung zeigt, dass sie unmittelbar nach der Veröffentlichung der Serie deutlich häufiger frequentiert wurden als zuvor (z. B. Thompson et al. 2019). Auch eine Analyse von Google Trends zeigt, dass suizidbezogene Suchanfragen zunahmen (Ayers et al. 2017). Cooper et al. (2018) bestätigten, dass ein Anstieg an versuchten Selbstmorden mit der Ausstrahlung der Serie »Tote Mädchen lügen nicht« an einem Kinderspital verzeichnet wurde. In allen erwähnten Studien werden, wie es von Wissenschaftlern erwartet wird, Limitationen der eigenen Arbeit, also zum Beispiel methodische Mängel angeführt. Die Autoren weisen darauf hin, dass sie nur Ergebnisse eines einzigen Krankenhauses miteinbezogen haben, erklären, dass die Suchanfragen auch absichtslos erfolgt sein können und liefern unterschiedliche Interpretationsweisen ihrer Ergebnisse. In der Psychologie gilt die Empfehlung, von der Formulierung von Kausalzusammenhängen abzusehen, ist die menschliche Psyche doch zu komplex, um alle sie betreffenden Einflüsse zu überblicken. Gerade diese Komplexität setzt nicht nur große Vorsicht in der Interpretation wissenschaftlicher Ergebnisse, sondern ebenso große Vorsicht in der Behandlung und Diagnose psychischer Erkrankungen voraus. Dieses Maß an Respekt vor der menschlichen Psyche sollte vielleicht gerade in der Thematisierung von Suiziden ebenso eingehalten werden – nur weil die Ergebnisse, die eine Gefährdung nahelegen, nicht eindeutig sind, bedeutet das nicht, dass der »Werthereffekt« vernachlässigt werden darf. Die Serie »Tote Mädchen lügen nicht« hat zweifellos Stärken: Die behutsame (!) Thematisierung von Suizid kann für betroffene Hinterbliebene entlastend sein. Sie kann dazu beitragen, dass Menschen in Krisen auf Hilfsangebote aufmerksam werden und sehen, dass sie nicht alleine sind, sondern viele Jugendliche wie Erwachsene schwierige, traurige und belastende Zeiten erleben und es schaffen, sie zu überwinden. Die psychosoziale Aufklärung, die in Schulen heute leider keinen großen Raum einnimmt, kann der Glorifizierung des sogenannten »Freitods« entgegenwirken und dazu beitragen, dass psychische Erkrankungen entstigmatisiert werden. Die Darstellung von Hannah Baker, ihrer Familie und ihren Freunden hat viele Kinder und Jugendliche in ihren Bann gezogen. Sicherlich auch, weil sie so drastisch ist und durch die Mystifizierung des Verbotenen noch an Attraktivität gewonnen hat. Es gilt also, herauszufinden, was die Serie so spannend für ihre Zielgruppe macht, um die Reichweite der Serie nicht einzuschränken. Eine zahmere Version von 13 reasons why hätte vermutlich nicht zu der großen medialen Aufmerksamkeit geführt, die die Serie mit der expliziten Darstellung von Hannah Bakers Selbstmord erzielt hat. Damit wären auch die Chancen, wichtige Inhalte zu vermitteln, geschmälert worden. Gleichzeitig ist es notwendig, auf die in der Literatur beschriebenen Effekte Rücksicht zu nehmen. Der schmale Grat zwischen Aufklärung und Überforderung kann leider nur für generalisierte Gruppen ausbalanciert werden, da die individuelle Gemütslage der Rezipienten offenkundig eine wichtige Rolle spielt. Personen, die ohnehin vulnerabel sind, könnten durch die erschütternden Inhalte der Serie zusätzlich belastet oder sogar zu Nachahmungstaten inspiriert werden. Gelingt es, den beschriebenen Spagat zu schaffen, könnten Serien und Filme, die psychische Erkrankungen thematisieren, eine niederschwellige Möglichkeit sein, Ängsten entgegen zu wirken und für seelische Belastungen zu sensibilisieren. Vielleicht gilt das ganz besonders für die Darstellungen von Kindern und Jugendlichen, denen häufig unterstellt wird, zu jung für seelischen Schmerz zu sein.
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„Smells like teen spirit“? Die mediale Darstellung einer ohnmächtigen Generation
Die Brisanz des Themas und die hier dargestellten unterschiedlichen Ergebnisse und Perspektiven machen es geradezu zwingend notwendig, sich auf entemotionalisierte und gerade deshalb nützliche wissenschaftliche Ergebnisse zu verwandten Themenkreisen zu beziehen. Nachdem die Möglichkeit der Nachahmung eine so wichtige Rolle in der Diskussion der Darstellung von Suiziden spielt, ist ein Seitenblick in die psychologische Erforschung von an Modellen orientieren Lernprozessen naheliegend. Mithilfe einer einfachen experimentellen Anordnung konnte Bandura bereits in den 1960er-Jahren zeigen, dass zumindest Anteile unseres Verhaltens über die Beobachtung anderer in ähnlichen Situationen erklärbar sind. Selbstverständlich wird nicht alles, was wir bei unseren Mitmenschen beobachten können, übernommen. Letztlich sind die Internalisierung und auch die Ausübung beobachteter Verhaltensweisen davon abhängig, zu welchem Ergebnis sie für die beobachtete Person geführt haben. Scheinen sie Erfolg zu versprechen, als angemessen akzeptiert oder gar belohnt zu werden, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Nachahmung eher, als wenn sie Ablehnung und unerwünschte Resultate hervorbringen. Auch die wahrgenommene Ähnlichkeit zur ausführenden Person ist ausschlaggebend: Eignet sie sich zur Identifikation, so lädt sie zur Nachahmung ein (Bushman und Huesmann 2006). Hannah Baker, die intelligent, witzig und schön ist, aber trotzdem nahbar dargestellt wird, ist eine wunderbare Identifikationsfigur: Sie scheint so etwas wie die beste Version des normalen Teenagers zu verkörpern, nicht zuletzt, weil ihre seelische Belastung nur sehr subtil und dezent inszeniert ist. Diese Darstellung hat den Vorteil, dass sie keine Stigmatisierung psychischer Erkrankung nahelegt. Zugleich entsteht so aber auch der Eindruck, dass Hannah vernünftig und nachvollziehbar handelt, dass also der Entschluss, Selbstmord zu begehen, der Entschluss einer gesunden und entscheidungsfähigen Person ist. Untersuchungen zum Suizid legen aber das Gegenteil nahe: Sie zeigen, dass Suiziden zumeist unermesslicher Leidesdruck vorausgeht, der sich in psychischen Erkrankungen manifestiert. In suizidalen Krisen erleben Betroffene eine kognitive Einengung, die es ihnen unmöglich macht, ihre Perspektiven ruhig und differenziert zu betrachten und Auswege aus ihrem Leid zu finden. Diese Perspektiveneinschränkung wird in der Serie »13 reasons why« kaum thematisiert und dadurch scheint Hannah in den frei gewählten und so beinahe heroischen Tod zu gehen. Der Begriff des »Freitodes« suggeriert, dass Menschen mit dieser letzten verzweifelten Handlung Kontrolle über das eigene Leben und Sterben beweisen. Tatsächlich könnte der Suizid auch als absolute Unfreiheit dargestellt werden, ist er doch der Beweis dafür, dass Leidensdruck so allesbestimmend werden kann, dass er sämtliche Möglichkeiten des Weiterlebens aussichtlos erscheinen lässt. Statt sich über ihr Leid, über ihre Peiniger hinwegzusetzen, wählt Hannah einen in hohem Maße aggressiven Akt, der sich aber in erster Linie auf sie statt auf ihre Umgebung richtet. Sie gestattet ihren belastenden Erfahrungen, ihr Leben nicht nur zu bestimmen, sondern ihm sogar ein Ende zu setzen und gibt so ihren eigenen Handlungsspielraum gänzlich auf.
Literatur Ayers JW, Althouse BM, Leas EC, Dredze M, Allem JP (2017) Internet searches for suicide following the release of 13 Reasons Why. JAMA Intern Med 177(10):1527–1529 Bushman BJ, Huesmann LR (2006) Short-term and long-term effects of violent media on aggression in children and adults. Arch Pediatr Adolesc Med 160(4):348–352 Cooper JR, Townsend M, Bard D, Wallace R, Gillaspy S, & Deleon S (2018) Suicide attempt admissions from a single children's hospital before and after the introduction of Netflix series 13 Reasons Why. Journal of Adolescent Health 63(6):688–693 Ferguson CJ (2018) 13 reasons why not: a methodological and meta-analytic review of evidence regarding suicide contagion by fictional media. Suicide and life-threatening behavior Hong V, Ewell FCJ, Magness CS, McGuire TC, Smith PK, King CA (2018) 13 Reasons Why: viewing patterns and perceived impact among youths at risk of suicide. PS 70(2):107–114 Da Rosa GS, Andrades GS, Caye A, Hidalgo MP, de Oliveira MAB, Pilz LK (2019) Thirteen Reasons Why: The impact of suicide portrayal on adolescents’ mental health. J Psychiatr Res 108:2–6
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Tote Mädchen lügen nicht (2017)
Thompson LK, Michael KD, Runkle J, Sugg MM (2019) Crisis Text Line use following the release of Netflix series 13 Reasons Why Season 1: time-series analysis of help-seeking behavior in youth. Prev Med Rep 14:100825 Zarin-Pass M, Plager P, Pitt MB (2018) 13 things pediatricians should know (and do) about 13 Reasons Why. Pediatrics 141(6):e20180575
Originaltitel
13 reasons why
Erscheinungsjahr
2017 (Staffel 1)
Land
USA
Drehbuch
Brian Yorkey, Elizabeth Benjamin, Diana Son, Nic Sheff
Regie
Kyle Patrick Alvarez, Carl Franklin, Helen Shaver, Jessica Yu, Tom McCarthy, Gregg Araki
Hauptdarsteller
Katherine Langford, Dylan Minnette, Kate Walsh
Verfügbarkeit
Netflix
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Paolo Raile
Die Gravitation des Selbstmords Die Protagonisten der Serie und ihre Suizidalität . . . . . . 550 Der Abschiedsbrief und das Fazit zur Serie . . . . . . . . . . 559 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Poltrum, B. Rieken, O. Teischel (Hrsg.), Lebensmüde, todestrunken, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60522-6_36
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Filmplakat Gravity. (© Starz! Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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»Menschen nehmen sich das Leben, töten sich, machen Schluss, bringen sich um – überall und zu jeder Zeit. Es ist keine neue und ebenso wenig eine vorübergehende Erscheinung, sondern vielmehr eine Konstante in unserem Alltag. Seit jeher gibt es Menschen, die ihrem Leben selbst ein Ende setzen und ihr Umfeld verstört und ratlos zurücklassen« (Blask 2009).
Es gibt meiner Meinung nach kaum einen passenderen Einstieg in diese schwere Thematik, als sich zu vergegenwärtigen, dass der Selbstmord keine Modeerscheinung oder ein Phänomen der Moderne ist, sondern eine Konstante in unserem Alltag. Jedes Jahr nehmen sich 800.000 Menschen weltweit oder etwa 15 Personen pro 100.000 Einwohner im deutschsprachigen Raum das Leben (Eurostat 2018; Jiménez 2014). Der Abschluss des erfolgten Suizids ist, mit den Worten des Existenzialisten Jean-Paul Sartre, der infinitesimale Augenblick, in dem die Person zur Vergangenheit wird und sich mit der eigenen Geschichte vereint (. Abb. 36.1, Filmplakat). Das Für-Sich – das menschliche Subjekt/das eigene Bewusstsein – wird zum An-Sich – ein Objekt in der Welt/das, was außerhalb des Bewusstseins ist (Sartre 1991, S. 229 ff.). Doch bleibt beim Suizid auch etwas in der Gegenwart bzw. im Leben zurück: Familie, Freunde und andere Personen, die vom ultimativen Abschied berührt werden. Ein Beispiel für eine solche Berührung anderer Personen ist der Abschiedsbrief eines 20-jährigen Briten, der sich nach dem Beziehungsende im Dezember 2016 das Leben nahm. Diese Worte des Abschieds, die er auf Facebook veröffentlichte, wurden binnen weniger Tage über 16.000 Mal geteilt, erhielten 36.000 Likes und wurden 10.000 Mal kommentiert (Havis 2016). Dass diese Bekundungen weitere Suizidhandlungen auslösen können, ist spätestens seit Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers bekannt, der auch die Namensvorlage für den sogenannten Werther-Effekt darstellt. Diesen Begriff prägte der Soziologe David Phillips im Jahr 1974, als er statistisch nachwies, dass mediale Berichte von Suiziden zu kurzfristigen Anstiegen der Suizidrate in der Bevölkerung führen. Diese Erkenntnis führte wiederum zu Änderungen diverser Pressekodizes, nach denen Berichterstattungen über Selbsttötungen allenfalls zurückhaltend und detailarm erfolgen sollten. Dies gilt im Übrigen auch für fiktive Suizide in Kriminalfilmen, Beziehungsromanen oder anderen Büchern, Filmen oder Serien, in denen der Suizid detailliert dargestellt wird. Wichtig bei der Entscheidung über die Publikation solcher Berichterstattungen oder fiktiven Handlungen ist die Medienwirkung auf die Bevölkerung (Ziegler und Hegerl 2002, S. 42–47). Eine Fernsehserie, die sich dem Thema Suizid widmet, muss deshalb zwischen mehreren Positionen balancieren. Einerseits gilt es, diese Medienwirkung, also den Werther-Effekt, der Serie auf die Bevölkerung zu berücksichtigen bzw. zu vermeiden. Des Weiteren gibt es einen edukativen Charakter der Serie, in diesem Fall die implizite Aufklärung der Zuseherinnen und Zuseher über Suizide, deren Hintergründe, Motive und Auswirkungen; zuletzt kommt auch dem Unterhaltungswert der Serie eine hohe Bedeutung zu, der sich in Zuschauerzahlen messen lässt und in der Regel das Hauptkriterium der Produzenten darstellt, wenn es um die Frage der Fortsetzung geht. Eine dieser wenigen Serien, die diese Gratwanderung wagen und sich primär mit dem Thema Suizid befassen, war kommerziell jedenfalls nicht sehr erfolgreich und wurde bereits nach einer Staffel mit zehn halbstündigen Folgen eingestellt. Zunächst unter dem Arbeitstitel Suicide for Dummies für den US-amerikanischen Sender Starz produziert, wurde die Comedy- und Dramaserie schließlich wöchentlich vom 23. April bis zum 25. Juni 2010 als Gravity in den USA ausgestrahlt. Im deutschsprachigen Raum wurde die Serie bislang nicht veröffentlicht, zumal es auch keine synchronisierte Version gibt, sondern lediglich das englische Original (IMDB 2010). Der folgende Beitrag ist dieser kurzen, aber facettenreichen Serie gewidmet. Der Hauptteil handelt von den Darstellungen und Analysen der Protagonisten der Serie aus unterschiedlichen psychothera-
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..Abb. 36.2 Die Selbsthilfegruppe während einer Sitzung. (© Starz! Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
peutischen Perspektiven. Diese Kapitel sind wegen des begrenzten Platzes im Buch eher knapp gehalten, sollen aber unterschiedliche Blickwinkel auf die Suizidalität und die individuellen Hintergründe liefern und jeder einzelnen Person ausreichend Platz bieten. Damit wird der edukative Aspekt der Serie hervorgehoben, die nicht nur die Suizide, sondern oftmals auch den Rahmen der suizidalen Handlungen und zumindest Ausschnitte der jeweiligen Leben der Protagonisten zeigt. Am Ende steht ein kurzer Beitrag zu den Abschiedsbriefen, die nach einem Suizid oftmals einen großen Einfluss auf die Umgebung haben; damit schließt sich dann der Kreis zur Einleitung und der Tatsache, dass auch die Darstellungen fiktiver Suizide einen Einfluss auf die Umgebung haben, in diesem Fall auf die Zuschauer und die Leserinnen und Leser dieses Beitrags.
Die Protagonisten der Serie und ihre Suizidalität Bevor die einzelnen Charaktere vorgestellt werden, skizziere ich in groben Zügen die Rahmenhandlung der Serie: In Gravity treffen einander sieben Personen mehr oder weniger regelmäßig in einer Selbsthilfegruppe für Menschen, die einen Selbstmordversuch überlebt haben, und unternehmen auch außerhalb des Therapieraumes (. Abb. 36.2) gelegentlich etwas zusammen. In dem Rahmen entwickeln sich Beziehungen zwischen Protagonisten, und manche versuchen – mehr oder weniger aktiv – ihr Leben zu verändern. Allen gemein ist der Wunsch zu leben. Dieser ist jedoch nicht zu jeder Zeit bzw. in jeder Episode gleichstark, und es kommt trotz allem bei manchen Gruppenteilnehmern im Laufe der Serie zu suizidalen Gedanken und Handlungen. Eine Person wird in den unteren Abschnitten nicht explizit angeführt, obwohl er eine der Hauptfiguren der Serie ist: Detective Christian Miller. Er ist ein spielsüchtiger, leicht hypochondrischer und nicht immer gesetzestreuer New Yorker Cop, der einzelne Mitglieder der Gruppe immer wieder kon-
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taktiert und dabei betont, dass Suizid in New York City eine strafbare Handlung ist. Er erzählt unter anderem, dass er als Kind seine erhängte Mutter fand und sie fotografierte – er trägt bis heute ein Foto der hängenden Frau bei sich. Bis zuletzt ist jedoch unklar, in welchem Verhältnis er tatsächlich zu ihr, zur Thematik oder den anderen Personen steht und welche Rolle er in der Serie einnimmt, zumal er kein echter Polizist sein dürfte und verschiedene Ausweise diverser polizeilicher Behörden besitzt. Obwohl er als durchaus komplexer und etwas cholerischer Charakter dargestellt wird, dessen Analyse nicht uninteressant wäre, wird er hier nicht weiter behandelt, da er in keiner Szene der Serie suizidal ist. Nachfolgend werden nun die einzelnen Protagonisten in den Unterkapiteln kurz vorgestellt und ihre Suizidalität sowie die Hintergründe aus der Perspektive jeweils unterschiedlicher psychotherapeutischer Schulen betrachtet.
Robert Collingsworth – Ohne Liebe kein Leben (Personzentrierte Psychotherapie) Die Serie Gravity beginnt ihre erste Episode mit Robert. Er verabschiedet sich von seiner Mutter in der Kirche, diese wünscht ihm noch eine sichere Reise, und er fährt mit seiner älteren Mercedeslimousine, dem Navigationsgerät folgend, zur Küste. Statt jedoch anzuhalten, sieht er sich noch das Foto einer jungen Dame an, lächelt und fährt ungebremst über die hohe Klippe. Das Auto schlägt im Pool eines Kreuzfahrtschiffes unterhalb der Klippe ein – und Robert überlebt (Ep. 1 – 00:00–02:03). Er nimmt nach der Entlassung aus dem Krankenhaus an der Selbsthilfegruppe teil und erzählt davon. Jorge meint, dass es wohl das Romantischste ist, das er je gehört hat; sich umzubringen, um bei der verstorbenen Frau zu sein. In der Sitzung wird ihm die ebenfalls neue Teilnehmerin Lily als »Buddy« zugewiesen – sie sollen aufeinander aufpassen. Nach der Sitzung geraten sie draußen prompt aneinander im doppelten Sinn: Aus einem Streit wird Sex vor einem Gartentor (Ep. 1, 09:13–13:20). Kurz darauf ist er beim Priester und bittet ihn hierfür um Vergebung. Der Geistliche antwortet, dass er schlafen darf, mit wem er will; er ist ja nun nicht mehr verheiratet. Robert entgegnet, dass er vor Gott immer verheiratet sein wird. Der Priester widerspricht: Der Tod seiner Frau ist nun zwei Jahre her, und er soll sein Leben endlich fortsetzen. Am Ende meint er noch, dass Suizid eine Sünde ist, und verlässt den Beichtstuhl (Ep. 1, 16:30–18:02). In den nächsten Episoden entwickelt er langsam Gefühle für Lily, kann sie jedoch nicht zulassen. Am Ende der vierten Episode ist er zwei Zentimeter davon entfernt, sie zu küssen, überwindet diese »Distanz« aber nicht. Er sagt zu ihr, er ist froh, dass sie existiert und dass es für ihn so schwer ist, offen zu sein, seit seine Frau gestorben ist. Er bleibt in derselben Distanz, bis er schließlich ergänzt, dass er nun gehen wird, und bezeichnet sie als Kumpel (Ep. 4, 21:35–23:58). Etwas später besucht er das Grab seiner Ex-Frau und erzählt ihr, dass er versucht hat, sich umzubringen, um bei ihr zu sein. Er sagt, dass er weiß, dass sie ihm mitgeteilt hat, er soll weitergehen, sich neu verlieben und glücklich werden. Er möchte, dass sie ihm ein Zeichen gibt, damit er seine Vorstellung von der Ewigkeit mit ihr aufgeben kann und sein Leben fortführen kann – da läutet sein Handy: Lily ist dran (Ep. 5, 11:46–13:03). Sie verbringen den Tag zusammen. Am Abend sind sie in seiner Wohnung, küssen einander und schlafen miteinander (Ep. 5, 23:13–25:20). In der letzten Episode isst Carla Nüsse und erleidet einen anaphylaktischen Schock. Detective Miller bringt sie zum Auto; Robert läuft ihnen nach und ruft ihr zu:
RR »Carla, tell Samantha, I love her, Okay? Tell her, I love her« (Ep. 10, 14:39–14:41). Lily hört das, ist sichtlich verletzt und möchte ihn nicht mehr sehen. Erst am Abend kann Robert ihr das erklären: Er wollte die Worte als Abschiedsworte ausrichten lassen. Er möchte nicht mehr sterben, um bei seiner Ex-Frau zu sein, sondern möchte leben, um mit Lily zusammen zu sein (Ep. 10, 24:48–26:25).
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Aus der Sicht der Personzentrierten Psychotherapie entsteht Spannung durch eine Inkongruenz zwischen dem Erlebten und dessen Integration in das Selbstkonzept. Die Aktualisierungstendenz ist jene menschliche Grundeigenschaft, die ihm hilft, das Selbstkonzept anzupassen und sich zu entwickeln. Diese hat eine entfaltende, aber auch eine erhaltende Funktion (Stumm und Keil 2014, S. 5–18). In einer Krise ist das Verhältnis der beiden Funktionen wie bei einem Autofahrer, der in der Gefahrensituation mit ganzer Kraft auf beide Pedale steigt. Ein wichtiges Erlebnis kann nicht in das Selbstkonzept integriert werden, und das Scheitern führt zur massiven Belastung und schließlich – in Roberts Fall nach zwei Jahren – zum Suizid-Versuch (Keil 2002, S. 356). Das Erlebte ist in Roberts Fall der Tod seiner Frau und das Geschieden- bzw. Getrennt-Sein von ihr, das seinem Selbstkonzept der ewigen Bindung, der »eternal Relationship«, widerspricht und nicht integriert werden kann. Die erhaltende Funktion hält an diesem Selbstkonzept fest, sodass er schließlich den Suizid wählt, um es umzusetzen. Die Änderung geschieht durch das Herstellen einer guten Beziehung sowie die Hilfe bei der Neuorientierung (Keil 2002, S. 357). Beides erfährt Robert in der Beziehung zu Lily, von der er sich verstanden fühlt und die ihm Neues zeigt. Die dadurch aktivierte entfaltende Funktion der Aktualisierungstendenz führt schließlich dazu, dass er sein Selbstkonzept anpassen, sich von seiner Ex-Frau verabschieden, auf Lily einlassen und schließlich auch glücklich werden kann.
Lily Champagne – Reden ist Silber, Schweigen ist Gold (Integrative Gestalttherapie) Nach dem Intro der ersten Episode sieht man Lily in einer Parfümerie stehen, in der sie offenbar Stilberaterin ist und von einer Kundin gefragt wird, welche Farbe am besten passt. Sie tut so, als ob sie taub wäre und gestikuliert etwas unfein gegenüber der Kundin, die verärgert weggeht, was Lily amüsiert. Danach ist sie im Supermarkt einkaufen, lächelt einem gutaussehenden fremden Mann zu und ist etwas enttäuscht, als er sie nicht einmal ansieht. Zu Hause versorgt sie ihre Katze, isst einen Schokoladekuchen und bricht in Tränen aus. Sie legt sich auf das Sofa und sagt:
RR »Now I lay me down to sleep, I pray to Lord my soul to keep, if I die before I wake, I pray the lord my soul to take« (Ep. 1, 05:50–06:07). Interessant an diesem Reim ist das Fehlen eines Wortes: Im Original lautet die dritte Zeile des alten englischen Kindergebets »if I should die before I wake«; aus dem Konjunktiv »wenn ich sterben sollte« wird also die definitivere Form »wenn ich sterbe«. Diese Auslassung fällt kaum auf, wenn man nicht die nächsten Bilder sieht: Die Zutaten des Kuchens – Eier, Kuchenmehl und schließlich eine leere Dose mit vormals 20 Tabletten Codeine 500 mg. In den nächsten Szenen erfährt sie im Traum sinnliche Zuwendung von einem unerkennbaren Mann und wacht kurz darauf im Krankenhaus wieder auf (Ep. 1, 02:27–07:54). In den nächsten Episoden nimmt sie an der Selbsthilfegruppe teil, kommt dabei Robert näher und verliebt sich schließlich in ihn. Sie erzählt jedoch niemandem aus der Gruppe von ihrem Selbstmordversuch. Erst in der neunten Episode erzählt sie Robert erstmals von den Hintergründen: Es beginnt damit, dass sie Make-Up verkaufte – sie veränderte damit das Leben der Kundinnen. Sie selbst lebte hingegen lange Zeit unverändert und wie mechanisch. Ihre Mutter ist früh verstorben, ihr Vater hat sie dafür beschuldigt und sonst kaum wahrgenommen, sie hatte eine Katze, keine Freunde, hatte nie eine Beziehung und sogar die Masturbation brachte keine Resultate. Sie fühlte kaum etwas, aber sie liebte Schokoladekuchen. Als sie während des Suizidversuchs kurzzeitig tot war, sah sie keine Verwandten, und das machte sie traurig, weil sie hoffte, ihre Mutter zu sehen. Stattdessen erfuhr sie Zuneigung und verliebte sich im Leben nach dem Suizidversuch in Robert, weswegen sie nun sehr glücklich ist und ihm das auch sagen kann (Ep. 9, 15:28–20:12).
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..Abb. 36.3 Lily Champagne. (© Starz! Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Im vorherigen Beitrag über Robert wird ein konkretes Ereignis als Auslöser des Suizidversuchs beschrieben. Bei Lily scheint das Leben hingegen bis zum Suizidversuch einigermaßen stabil zu laufen; die Frage »Warum gerade jetzt?« (. Abb. 36.3) bleibt unbeantwortet. Der Gestalttherapeut Fritz Perls schreibt über Neurosen und in diesem Kontext von fünf Schichten, die helfen können, die Hintergründe und den Zeitpunkt besser zu verstehen: Die erste Schicht ist jene der Klischees; bedeutungsloses Austauschen von Symbolen mit unbekannten Personen, ein höflicher Gruß oder ein Blick, wie bei Lilys misslungenem Kontaktversuch im Supermarkt. In der zweiten Schicht befinden sich Rollen und soziale Als-ob-Schichten. In Lilys Fall ist dies beispielsweise ihre Rolle als Verkäuferin in der Drogerie und die damit verbundenen Interaktionen. Perls bezeichnet diese Schicht als synthetische Schicht, beschreibt diese als Synthese zwischen Existenz und Antiexistenz, und stellt die Frage, was übrigbleibt, wenn man die Rollen entfernt. In der dritten Schicht liegt die Antiexistenz – das Nichts, die Leere, die bleibt, wenn alle Rollen entfernt wurden. Lilys Gefühl der Leere zu Hause, wo sie keine soziale Rolle einnimmt, passt sehr gut in diese Beschreibung. Die vierte Schicht nennt Perls die Schicht des Todes, in der wir die Leere fühlen, uns zusammenziehen und implodieren. Geraten wir mit dieser Leblosigkeit in Berührung, bzw. nehmen wir sie wahr, dann kommt es zur Explosion, in der wir mit unserem wahren Selbst in Verbindung stehen. Als sich Lily zu Hause wahrnimmt und in Kontakt mit ihrem unglaublich einsamen Selbst tritt, das keine Hoffnung mehr hat, führen diese überwältigenden Gefühle schließlich zum Suizidversuch – der Explosion. Im Sinne von Perls ist die Explosion aber auch jene Phase, in der neue Strukturen entstehen können – Schicht 5 (Perls 1974, S. 63 f.). Lily ändert ihr Leben in den Wochen und Monaten nach dem Suizidversuch, baut neue (Lebens‑)Strukturen auf, macht sich selbstständig und verliebt sich zum ersten Mal in ihrem Leben.
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Carla Glick – Sicherheit bis zum Untergang (Individualpsychologie) In der zweiten Episode erinnert sich Carla an ihren Suizidversuch. Sie sitzt mit ihrem Ehemann gemeinsam am Esstisch und küsst ihn. Er sagt ihr, dass sie jeden Tag schöner wird, und sie erwidert, dass sie glücklich ist, ihn gefunden zu haben. Etwas später erhält sie ein Kompliment von einer anderen Dame über ihre Haare und lächelt. Danach schneidet sie Käse und sieht eine kleine Maus in ihrer Küche, der sie prompt ein Stückchen Käse gibt, sie einfängt und dann vor die Türe setzt mit dem Hinweis, dass sie frei ist und jederzeit wiederkommen kann. In der nächsten Szene sitzt sie in der Küche. Ihr Mann kommt gerade heim und sagt, dass er früh dran ist. Sie hält sich einen Revolver in den Mund, woraufhin er erschrickt und laut »nein« ruft. Sie meinte, dass das richtig ist – immerhin war der Laminat teuer – und schießt sich seitlich in den Kopf. Sie sieht noch die Maus am Teppich vorbeilaufen, und er ruft die Rettung (Ep. 2, 08:29–10:21). Nach der Gruppensitzung trifft sie Lily am Gang und unterhält sich mit ihr. Lily sagt zu Carla, dass ihr Leben so sicher ist – wie eine einzige große Routine. Sie soll etwas ändern; das Gegenteil von dem tun, was sie sonst immer macht (Ep. 2, 10:21–11:00). Daraufhin erzählt sie ihrem Mann nach zwölf Ehejahren erstmals, dass sie allergisch auf Nüsse ist, nichts riechen oder schmecken und keine Kinder bekommen kann. Auf Nachfrage seinerseits erklärt sie ihm, dass sie ihm das bisher nicht erzählt hat, weil sie befürchtete, dass sie sonst keine gute Ehefrau mehr ist. Dann setzt sie nach und eröffnet ihm, dass ihr Leben langweilig ist. Er entgegnet, dass es perfekt ist – sie korrigiert ihn und meint, perfekt langweilig. Auf ihre Frage, ob er nun die Scheidung möchte, entgegnet er nur, dass er sie liebt und möchte, dass sie ihm alles erzählt. Daraufhin meint sie, dass sie etwas Aufregendes erlebt hat – sie hat eine Schabe zertreten. Dabei lacht sie auffällig schrill (Ep. 2, 14:10–16:13). In einer späteren Szene geht sie mit ihrem Mann eine Straße entlang, tritt auf die Fugen zwischen den Steinplatten des Gehwegs und sagt dabei lachend immer wieder zu sich:
RR »Step on a crack, break your mother’s back« (Ep. 2, 19:10–19:14). Sie wird immer lauter und springt auf die Fugen, dann läutet das Handy – ihre Mutter ruft an. Sie erschrickt, fragt die Mutter, ob es ihr gut geht, und ändert die Fußhaltung, sodass sie keine Fugen mehr berührt. Die Mutter fragt sie bloß, ob Carla mit ihrem Mann zur Mutter zum Essen kommen will. Sie antwortet, dass sie das natürlich will, und legt auf. Sie gestikuliert panisch mit dem Christuskreuz, woraufhin ihr Mann meint, dass das nur ein Zufall war. Sie widerspricht ihm klar und betont, dass ein geordnetes Leben deshalb der einzige Weg ist; das Schicksal herauszufordern, führt zu keinem guten Ende. Ihr Mann kontert, sagt, dass das Schicksal ihr Freund ist, und zitiert den indischen Spirituellen Deepak Chopra, der meinte, dass das Sein im Hier und Jetzt das ultimative Herausfordern des Schicksals ist. Sie ist erleichtert, lacht und küsst ihn (Ep. 2, 19:03–20:55). In der Serie wird zwar nicht erwähnt, wie Carla aufgewachsen ist, doch folgt man dem Individualpsychologen Alfred Adler, so ist die Erziehung eines Kindes stets der Versuch, ihm aus seiner eigenen Unsicherheit herauszuhelfen. Elterliche Interventionen sollen dem Kind also (Lebens‑)Wege ebnen, auf denen es Sicherheit gewinnen kann (Adler 1927, S. 75). Auch im Erwachsenenalter setzt sich dies fort. Der Mensch befindet sich in einem beständigen Gefühl der Minderwertigkeit und versucht durch das zielgerichtete eigene Handeln mehr Sicherheit zu erreichen (Adler 1933, S. 68). Carlas Weg der Sicherung wird anfangs skizziert: Sie ist die ultimativ brave und angepasste Person; perfekte Tochter und Ehefrau mit einer perfekten Routine ohne jedwede Abweichung. Wer nie aneckt oder etwas probiert/ riskiert, setzt sich nie neuen Gefahren aus und erzeugt dadurch das Gefühl beständiger Sicherheit. Doch durch das Verharren in der permanenten Sicherung verliert sie die Möglichkeit der Entwicklung in Richtung einer Plus-Situation (ebd., S. 157). Carlas Gefühl der extremen Langeweile ist in diesem Kontext ein Ausdruck dieser fehlenden Entwicklungsmöglichkeit; doch kann sie aus Angst vor Veränderung und der damit einhergehenden Unsicherheit in neuen Situationen nichts dagegen tun. Erst
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Lilys Intervention, die in der Terminologie Adlers als Ermutigung bezeichnet wird (ebd., S. 172), sowie die Reaktionen ihres Ehemannes helfen Carla, etwas Neues zu wagen und sich zu verändern.
Jorge Sanchez – Zu klein oder zu groß? (Psychoanalyse) Jorge erzählt in seiner Sitzung von seinem Suizid-Versuch. Die Rückblende beginnt in einer Akt-Szene, in der er mit einer Frau schläft, die verschiedene Stellungen probiert, offensichtlich nicht erregt ist/ wird und schließlich entnervt aufgibt. Der Grund: Sein Penis ist zu klein, sie fühlt nichts. Sie mag ihn sehr, aber so kann sie ihn nicht mehr sehen – und geht. In der nächsten Szene ist er bei der Arbeit. Der Vorarbeiter teilt mit, dass das Gebäude gesprengt wird und sich alle davon fernhalten sollen. Jorge geht hinein, setzt sich zu einer Säule, nimmt einen Rosenkranz in die Hand und betet, während das Gebäude um ihn herum einstürzt (Ep. 3, 00:44–02:27). Am selben Abend tritt Jorge erstmals als Kabarettist auf einer kleinen Bühne in einem Lokal auf und reißt Witze über kleine Penisse. Er kommt beim Publikum gut an und erhält danach die Visitenkarte einer jungen Dame; darauf steht »Dr. Joyce Allen – Penisvergrößerungen« (Ep. 3, 14:52–18:14). Er folgt dem Angebot am nächsten Tag und lässt sich beraten. Sie empfiehlt, neben der Verlängerung um zwei Zoll eine Verdickung um 200 % bei einem Maximum von 900 %. Er besteht auf 900 % (Ep. 3, 21:11–22:25). In der letzten Szene steht er nackt auf dem Bett; eine Frau versucht ihn oral zu befriedigen – und bleibt stecken. Die Polizei kommt und muss sie mit Hilfsmitteln befreien lassen (Ep. 3, 24:25–25:30). Tagsüber hilft er gelegentlich Lily bei ihrem Second-Hand-Geschäft, abends steht er als Kabarettist auf der Bühne und reißt nunmehr Witze über zu dicke Penisse. Die Kellnerinnen sind von den Erzählungen beeindruckt und testen ihn. Die erste fühlt während des Sex’ aufgrund der Dicke weniger Erregung als vielmehr Schmerz (Ep. 9, 00:42–01:59). Auch die zweite testet ihn und kommt zum selben Resultat (Ep. 9, 05:56–06:40). Er genießt beide mit einer gewissen Schadenfreude und befiehlt ihnen, dass sie sagen sollen, dass es weh tut, was sie auch tun. Während die beiden Kellnerinnen sich über Schmerzen austauschen, kommt eine dritte Angestellte und meint, dass es ihr nicht dick genug sein kann. Tatsächlich genießt sie den Beischlaf mit ihm sehr; er sichtlich weniger (Ep. 9, 12:27–13:10). Dennoch sieht er sie wieder und sie liegen gemeinsam im Bett. Sie möchte ihn oral befriedigen, was er aufgrund der früheren Erfahrung strikt ablehnt. Dann eröffnet er ihr, dass er immer nur wahre Liebe und eine Beziehung anstrebte und den Penis nur vergrößern ließ, damit der kein Hindernis mehr ist – er wollte nie eine Sexmaschine sein. Für sie fühlt er außerdem nichts, deshalb schickt er sie fort. Zuletzt ist er dennoch unzufrieden, da er nicht das erreicht hat, was er gerne hätte, zumal der Penis für die meisten Frauen offenbar zu dick ist (Ep. 9, 20:15–22:55) Die häufige Erwähnung des Wortes Penis führt uns direkt zum Klischeebild von Sigmund Freuds Psychoanalyse. Die psychoanalytische Betrachtung des Suizids ist jedoch weit komplexer und wurde von Freud selbst mehrfach geändert. Ein wichtiger Beitrag hierzu ist sein Text über Trauer und Melancholie; darin unterscheidet er diese am Außen und Innen. Bei der Trauer ist die Welt arm und leer; bei der Melancholie ist es das Ich selbst. Freud geht von einer frühkindlichen narzisstischen Kränkung aus, die infolge einer aktuellen Kränkung dazu führt, dass sich die libidinöse Besetzung eines Objekts von diesem löst, aber auf kein anderes Objekt übertragen werden kann, sondern ins Ich zurückgezogen wird und dort das Ich mit dem Objekt identifiziert. Das führt dazu, dass das Ich wie das verlassene Objekt beurteilt wird. Die aggressive sadistische Neigung gegen das Objekt, von dem die Kränkung ausging, wird so zur Aggression gegen sich selbst, zur Selbstmordneigung (Freud 1917, S. 427 ff.). Jorge wird durch die Abweisung der jungen Dame zu Beginn massiv gekränkt. Die starke Zuneigung zu ihr und die damit nun verbundene Wut über die Abweisung kann er jedoch nirgends auslassen; sie zieht sich ins Ich zurück und führt zu einer starken Aggression gegen sich selbst, die soweit führt, dass er sich selbst vernichten möchte. Nach dem Suizidversuch möchte er sein Leben ändern, wird Komiker (Freud spricht in diesem Kontext vom Humor als reife Form der Abwehr) und lässt seinen Penis vergrößern. Dadurch erhält er nun die Möglichkeit, seinen Ärger bzw.
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die sadistische Neigung an den Kellnerinnen auszulassen, was ihn offensichtlich mehr befriedigt als der Akt selbst. Am Ende trifft er dann auf eine Frau, die er mit seinem Penis nicht verletzen kann. Damit ist die sadistische Befriedigung dahin; er weist sie ab und ärgert sich über sich selbst. Ob er seine Kränkung so überwinden kann, bleibt fraglich; dies werden wir mangels Fortsetzung der Serie wohl auch nicht mehr erfahren.
Adam Rosenblum – Familientragödien (Systemische Familientherapie) Adam (. Abb. 36.4 rechts) sieht in einer Sitzung der Selbsthilfegruppe das Shirt von Robert und wird vom Golf-Emblem an seine Kindheit erinnert. Er zeigt in einer Rückblende einem blinden Therapeuten den Mittelfinger, woraufhin ihn seine Mutter ermahnt. Der Vater versteht das Verhalten seines Sohnes nicht. Er betont, dass er verfeindete Staaten dazu bringt, miteinander zu sprechen – die Mutter ergänzt, dass er es bei seinem eigenen Sohn aber nicht schafft. Der Vater rechtfertigt sich, dass er jede Woche mit dem Sohn golfen geht, woraufhin die Mutter meint, dass sie dachte, dass das Sprechen beim Golfen verboten ist. Der Therapeut mischt sich ein und betont den Lösungsweg: Grenzen, Disziplin und Medikamente. Adam erwidert jedoch, dass er keine Medikamente einnehmen möchte, sondern lieber einen Hund hätte. Er sieht den Blindenhund des Therapeuten und fragt, ob er denn einen bekommt, wenn er sich auch die Augen aussticht. Szenenwechsel: Einige Jahre später steigen seine Eltern in ihr Auto und möchten losfahren. Der Kofferraum ist aber nicht ganz geschlossen, also sieht der Vater nach und findet seinen mittlerweile 17-jährigen Sohn bewusstlos im Kofferraum mit einer Menge verschiedenfarbiger Tabletten (Ep. 4, 01:31–03:04). Im Laufe der Episoden nähert er sich Shawna an, und die beiden beginnen eine Liebesbeziehung. Er lädt sie zu seinen Eltern ein, die sichtlich wenig Freude mit ihrer Anwesenheit haben. Er provoziert die Eltern, bezeichnet sie absichtlich sofort als Girlfriend, erinnert sie an ihre Tampon-Werbung mit dem provokanten Zusatz in die Richtung seines Vaters, dass dieser Tampon-Werbungen liebt. Dieser ist wenig erfreut und stellt Shawna zur Rede, um eine erneute Kofferraum-Situation zu vermeiden, woraufhin diese ungläubig fragt, ob er den Suizidversuch seines Sohnes tatsächlich als Kofferraum-Situation bezeichnet (Ep. 5, 16:27–18:30). Er sieht sie nun öfter, begleitet sie zu Beratungseinheiten und macht immer wieder sexuelle Anspielungen, die sie mit seiner offensichtlichen Jungfräulichkeit kontert, woraufhin er beschämt wegsieht (Ep. 8, 08:57–11:06). Nach einer Therapiesitzung sagt er ihr, dass sie ihn ins Badezimmer folgen soll, wo er zum ersten Mal mit ihr schläft (Ep. 8, 14:43–16:34). Der Suizid als Kommunikationsmittel ist neben dem Suizid als existenzieller Ausdruck eines Menschen einer der beiden grundlegenden Aspekte, die im Lehrbuch der systemischen Therapie beschrieben werden. Diese Handlung kann als sehr heftige Form von Botschaft an einen oder mehrere signifikante Menschen gesehen werden. Einer der skizzierten Suizidformen ist jener mit einer starken Bezogenheit auf nahe Personen, denen man einen Denkzettel verpassen möchte. Beim Suizid geht es auch oft darum, das Familiensystem definitiv zu verlassen (Schweitzer und von Schlippe 2014, S. 196 f.). Gerade bei Adam spielen die Familie und insbesondere die mangelnde Kommunikation in derselben eine große Rolle. Der Suizid(‑Versuch) als Kommunikationsmittel und Ausstieg aus dem rigiden und disziplinorientierten familiären System erfüllt hier gleich zwei wesentliche Funktionen. Durch die Beziehung mit Shawna kann er jedoch beides auch ohne den Suizid erreichen. Mit ihr kann er sich unterhalten; er fragt sie auch nicht, ob sie seine Freundin, sondern ob sie sein Life Coach sein möchte. Bei ihr entkommt er auch seiner Familie; er belügt sogar seine Mutter, um nicht daheim, sondern bei Shawna sein zu können. Es scheint ihm jedenfalls gut zu tun, und er wirkt in allen Episoden, in denen er mit Shawna zusammen ist, lebensfroh.
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..Abb. 36.4 Shawna Rollins und Adam Rosenblum. (© Starz! Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Shawna Rollins – Das Ende der Modelkarriere (Logotherapie und Existenzanalyse) Shawnas (. Abb. 36.4 links) Rückblick sehen wir in der Erzählung von Adam während des Essens mit seinen Eltern. Er beginnt damit, dass es ein Mittwoch war und ihr Geburtstag. Das Telefon läutet, und ihr Agent meldet sich. Sie wollen sie für ein »Where are they now«-Special einladen – ein deutliches Signal dafür, dass ihre Zeit als Darstellerin und Model vorbei ist. Sie entdeckt eine sichtbare Vene am Unterarm, nimmt anschließend eine Rasierklinge in die Hand und schneidet sich den Unterarm auf (Ep. 5, 18:32–19:37). Shawna arbeitet seit ihrem Suizidversuch nicht mehr als Model und Darstellerin, sondern als Life Coach und empfängt Klientinnen beispielsweise in einem Café. Auch Adam ist einmal anwesend und mischt sich in die Beratung ein, woraufhin die Klientin zwar geht, aber von ihm begeistert ist und Shawna ebenso (Ep. 8, 08:57–11:06). Etwas später schlafen sie miteinander (Ep. 8, 14:43–16:34), und sie scheint nicht nur beruflich eine neue Zukunft gefunden zu haben, sondern auch in der Beziehung zu Adam. Der Existenzanalytiker und Logotherapeut Viktor Frankl schreibt in diesem Kontext davon, dass der Mensch nach einem Sinn im Leben strebt. Wenn er diesen nicht sieht, dann pfeift er aufs Leben – unabhängig davon, ob es ihm äußerlich gut geht oder nicht (Frankl 2015, S. 44–47). Frankl beschreibt zudem vier Bereiche des Sinns: den Sinn des Lebens, den Sinn des Leidens, den Sinn der Arbeit und den Sinn der Liebe (Frankl 2009, S. 156 f.). Von Shawnas Leben wird nicht viel gezeigt. Die bisherigen Informationen lassen jedoch darauf schließen, dass sie zum Zeitpunkt des Anrufs ihren Sinn primär in ihrer Arbeit sieht – der Tätigkeit als Model und Darstellerin. Eine Beziehung dürfte sie zu dem Zeitpunkt nicht führen, und der Anruf nimmt ihr dann auch noch die Arbeit – was übrigbleibt, bezeichnet Frankl als noogene Neurose (ebd., S. 20), als tiefgreifendes Sinnlosigkeitsgefühl oder existenzielle Frus-
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tration, die in Shawnas Fall in einer offensichtlich ungeplanten, spontanen Reaktion zum Suizidversuch führt. Zumindest der Sinn der Arbeit wird im Laufe der Serie durch die neue Berufung als Life Coach und der Sinn der Liebe in der (Liebes‑)Beziehung zu Adam erfüllt.
Dogg McFee – Ein kleiner Fehler mit großen Folgen (Verhaltenstherapie) Dogg sitzt seit seinem Suizidversuch vor 20 Jahren im Rollstuhl und leitet die Selbsthilfegruppe. Er wirkt durchgehend stabil, sodass er in der sechsten Episode beschließt, nach Rücksprache mit seiner Ärztin die Medikamente abzusetzen, da er keine Schmerzen mehr hat und denkt, dass auch die Suizidgedanken nun weg sind. Sie fragt ihn, wie er sich fühlt, und er antwortet, dass er ewig nichts mehr gefühlt hat und deswegen die Medikamente absetzen möchte – sie akzeptiert seine Entscheidung (Ep. 6, 01:30–02:25). Er plant als Gruppenleiter immer wieder gemeinsame Aktivitäten mit seiner Gruppe. Einmal spielen er und die restliche Gruppe Baseball gegen eine andere Gruppe im Park und verlieren das Spiel. Das löst etwas in ihm aus. In einer Rückblende sieht man Dogg in einem Caravan sitzen, der vor einem Bahngleis parkt. Davor war er zu Hause; im Fernsehen laufen die Sportnachrichten. Er hat bei einem wichtigen Spiel einen Ball nicht richtig gefangen und dadurch seinem Team die Chance auf den Meistertitel verwehrt. Der Kommentator kritisiert Dogg mehrfach scharf, woraufhin dieser ausrastet und eine Flasche Whiskey in den Fernseher wirft. Dann ist er wieder im Auto, sieht sich ein Foto von seiner Frau und seinem Sohn an, küsst es und hört den Zug kommen, der schließlich das Auto rammt und stehen bleibt. Dann endet die Rückblende, und man sieht Dogg im Rollstuhl vor dem Bahnübergang sitzen, an dem er sich damals das Leben nehmen wollte. Es kommt abermals ein Zug, und wieder versucht er auf die Gleise zu kommen, rutscht jedoch mit dem Rollstuhl im Kies und schafft es nicht rechtzeitig. Die Gruppe ist schockiert, als sie das erfährt, und er erklärt, dass das Verlieren des Baseballspiels ihn wieder zurück an diesen schwierigen Ort brachte. Er sagt, dass er seither nicht mehr mit seiner Frau gesprochen und auch seinen Sohn ewig nicht mehr gesehen hat. Lily schlägt spontan vor, zu einem Spiel seines ehemaligen Teams zu gehen. Dogg weigert sich zunächst, doch sie setzt sich durch (Ep. 6, 10:45–13:50). Beim Spiel werden sie prompt angepöbelt, woraufhin er dazwischen geht. Sie erkennen ihn und beginnen sofort, ihn zu beschimpfen, und meinen, dass sie nur seinetwegen damals die Meisterschaft verloren haben. Da mischt sich ein jüngerer Mann ein und zählt auf, was Dogg für das Team geleistet hat. Sie wären ohne ihn niemals auch nur in die Nähe der Meisterschaft gekommen. Dann stellt sich heraus, dass es sein Sohn ist. Dogg ist jedoch nicht erfreut, ihn zu sehen, und sagt ihm, dass er ihn zwar liebt, aber nicht in seinem Leben sein kann, weil er den Weg der Rechtschaffenden verlassen hat (Ep. 6, 18:27–21:25). Am Ende der Episode nimmt er wieder seine Tabletten (Ep. 6, 25:21–25:58). Der Weg vom Problem zur Lösung ist nicht immer einfach. Umso häufiger wird in der evidenzbasierten Ausbildung, beispielsweise in der Kognitiven Verhaltenstherapie, die Bedeutung dieses Wegs hervorgehoben. Dieser besteht aus mehreren Schritten, die nacheinander gegangen werden sollen: Zunächst muss die IST-Situation geklärt werden (Kanfer und Schmelzer 2005, S. 119 ff.). Dogg hat zunächst ein Alkoholproblem (das wird mit der Whiskey-Flasche und einer Aussage seines Sohnes angedeutet) und kann die Kritik nach diesem einen Fehler nicht länger ertragen. Er versucht sich daher das Leben zu nehmen. Schritt zwei ist die Suche nach Zielen und Alternativen (ebd., S. 126 ff.). Doggs Ziel ist es, nicht mehr suizidal zu sein; er will davon loskommen. Im dritten Schritt werden Lösungen gesucht. Dabei werden empirisch erprobte Heilungswege beschritten, wie die Systematische Desensibilisierung bei der Behandlung von Phobien (ebd., S. 129 ff.). In Doggs Fall wird auf eine medikamentöse Therapie sowie weitere Maßnahmen wie regelmäßige therapeutische Gespräche und die Gründung der Selbsthilfegruppe zurückgegriffen. Leider wird nicht gezeigt, welches Medikament eingesetzt wird, jedoch wird es mit hoher Wahr-
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scheinlichkeit eines sein, das zur Behandlung von Depressionen und Suizidalität angewendet wird. Schritt vier ist die praktische Umsetzung der Lösungsschritte (ebd., S. 134). Dogg nimmt die Medikamente 20 Jahre lang, bevor er sie absetzt; dann gerät jedoch alles aus den Fugen, und er erkennt, dass er sie doch braucht, und nimmt sie wieder. Das führt zu Schritt fünf – der Erfolgsbeurteilung (ebd., S. 135 ff.). Durch die therapeutischen Maßnahmen und insbesondere die regelmäßige Einnahme der Medikamente kann er sein Ziel erreichen und hat keine Suizidgedanken mehr. In der letzten Phase wird der Patient in die Selbstständigkeit entlassen (ebd., S. 138 ff.). Dogg kann seine Medikamente weiterhin selbstständig einnehmen und die Selbsthilfegruppe leiten. Solange Dogg seine Medikamente nicht wieder absetzt, kann er, wie die 20 Jahre zuvor, weiterhin ohne Suizidgedanken leben.
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Der Abschiedsbrief und das Fazit zur Serie In der zweiten Episode wird der Abschiedsbrief eines ehemaligen Mitglieds der Selbsthilfegruppe vorgelesen, der am Ende der ersten Episode von einem hohen Gebäude springt. Dogg hält den Brief in der Hand und fragt, wer ihn vorlesen möchte. Adam meldet sich und liest den Anfang des Briefes laut vor:
RR »Adam, give the letter back to Dogg« (Ep. 2, 06:40–06:50). Adam gibt den Brief zurück, und Dogg liest weiter:
RR »Why did the chicken kill himself? To get to the other side« (Ep. 2, 07:01–07:10). Werte Leser: Wenn Sie sich jetzt fragen, was das für ein absolut dämliches Beispiel für einen Abschiedsbrief sein soll, dann kann ich Ihnen nur zustimmen – es ist nun mal trotz des schweren Themas eine Comedyserie, die wohl auch wegen des Werther-Effekts allzu starke Gefühle bei den Zuschauern vermeiden möchte. Leider gibt es kein anderes Beispiel in der Serie. Liest man sich jedoch aktuelle Fachliteratur sowie einige Abschiedsbriefe durch, die über diverse Kanäle veröffentlicht werden, dann findet man gewisse Elemente, die in den meisten Abschiedsbriefen enthalten sind und in der Regel für einen oder mehrere konkrete Adressaten bestimmt sind. Sie werden nur von rund einem Viertel aller Suizidopfer hinterlassen und werden in der Suizidologie als authentische letzte Botschaften betrachtet, deren Analyse dabei hilft, die präsuizidale Verfassung besser zu verstehen. Dies soll dazu führen, dass die Suizidgefährdung künftig besser erkannt werden soll (Eisenwort et al. 2007, S. 672 ff.). Als Übertragungsweg wird dabei zumeist nicht die Post genutzt, sondern entweder das Hinterlassen des Briefes in unmittelbarer Nähe zum Ort des Suizids oder das Versenden über moderne Kommunikationskanäle bis hin zum Veröffentlichen auf Facebook, Twitter oder anderen Plattformen. Inhalte sind häufig Erklärungen, Rechtfertigungen oder gar Schuldzuweisungen (z. B. die Anklage im Abschiedsbrief von Michele 2017); ebenso gibt es regelmäßig Inhalte, die einen testamentarischen Charakter haben oder zumindest in die Zukunft der Hinterbliebenen weisen und in Form von Wünschen verfasst werden. Wie in einem Abschiedsbrief vom Musiker und Blogger Johannes Korten: »Wenn ich einen letzten Wunsch hätte, dann wäre es der hier: Schaut in jeder Situation gemeinsam nach vorn. Seit achtsam mit euch selbst und dann aufeinander. Macht die Welt im Großen wie im Kleinen wieder zu einem guten Ort. Lebt den Gedanken, dass das gemeinsam im Miteinander möglich ist, weiter. […] Vielleicht bekommt mein Dasein dann doch noch einen Sinn« (Korten 2016).
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Zusammengefasst: Die Serie Gravity handelt von mehreren Personen, die sich aus den verschiedensten Gründen umbringen wollten und auch jeweils individuell damit umgehen. Sie ändern ihr Leben, finden eine neue Liebe oder erkennen zumindest, dass sie ihre Medikamente benötigen, um stabil und nicht suizidal zu sein. Die Serie weckt keine großen Emotionen und enthält manche erzwungenen KomikElemente, die Handlungsstränge eher ins Lächerliche ziehen; das ist möglicherweise auch der Vermeidung der übermäßigen Berührung der Zuschauer geschuldet. Sie ist dennoch sehenswert, wenn man sich für die verschiedenen Formen des Suizids und deren Hintergründe interessiert und dabei auf eher leichte Unterhaltung statt auf schwere Fachbücher setzt. In diesem Sinne hoffe ich in diesem Beitrag etwas von beidem vermittelt zu haben.
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Gravity (2010)
Originaltitel
Gravity
Erscheinungsjahr
2010
Land
Vereinigte Staaten
Drehbuch
Jill Franklin, Eric Schaeffer, Dan Pasternack, Daniel Hank
Regie
Eric Schaeffer
Hauptdarsteller
Krysten Ritter, Ivan Sergei, Eric Schaeffer, Rachel Hunter et al.
Verfügbarkeit
DVD in englischer Sprache erhältlich