Lebenskunst und Gotteslob in Israel: Anregungen aus Psalter und Weisheit f|r die Theologie 9783161563331, 9783161577888, 3161563336

English summary: The volume contains various articles by Hermann Spieckermann covering wisdom literature, the Psalms and

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Titel
Vorwort
Inhalt
Lebenskunst und Gotteslob
I. Lebenskunst zwischen Kairos und Krisis: Die Weisheit
1. Bildung – Gottesfurcht – Gerechtigkeit. Die Prologe der Weisheitsbücher
2. Lebenskunst als Wegkunde. Proverbien
3. Die Satanisierung Gottes. Hiob
4. Suchen und Finden. Kohelet
5. Der betende Weise. Jesus Sirach
6. Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand. Sapientia Salomonis
7. Theologie als Philosophie. Das vierte Makkabäerbuch
II. Gotteslob zwischen Nacht und Tag: Der Psalter
1. Gott und die Nacht. Gottes Welt und das Chaos
2. Der theologische Kosmos des Psalters. Gottes Thron in der Welt des Betens
3. Rede Gottes und Wort Gottes. Die Entdeckung der Antwort Gottes im Gebet
4. Schweigen und Beten. Von stillem Lobgesang und zerbrechender Rede im Psalter
5. Hymnen im Psalter. Ihre Funktion und ihre Verfasser
6. Lob Gottes aus dem Staube. Psalm 103 als Quintessenz der Theologie des Gotteslobes
7. Lieben und Glauben. Psalm 116 als Schüssel zur Theologie des Gebetes
III. Alttestamentliche Theologie als Gotteslob und Lebenskunst
1. Das heutige Bild der Religionsgeschichte Israels. Eine Herausforderung alttestamentlicher Theologie?
2. Yhwh gehört die Welt. Religionsgeschichtliche Voraussetzungen alttestamentlicher Theologie
3. Gott im Gleichnis der Welt. Die weisheitliche Wurzel alttestamentlicher Theologie
4. Schöpfung, Gerechtigkeit und Heil. Der Horizont alttestamentlicher Theologie
5. Der nahe und der ferne Gott. Das Spannungsfeld des Gotteslobes
6. Gott und Mensch am Markt. Das Spannungsfeld der Lebenskunst
7. Der Retter ist nah. Die Verheißung alttestamentlicher Theologie
Literatur
Bibelstellen
Sachregister
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Lebenskunst und Gotteslob in Israel: Anregungen aus Psalter und Weisheit f|r die Theologie
 9783161563331, 9783161577888, 3161563336

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Forschungen zum Alten Testament Herausgegeben von Konrad Schmid (Zürich) • Mark S. Smith (New York) Hermann Spieckermann (Göttingen)

91

ARTI BUS

Hermann Spieckermann

Lebenskunst und Gotteslob in Israel Anregungen aus Psalter und Weisheit für die Theologie

Mohr Siebeck

H E R M A N N SPIECKERMANN, geboren 1950; 1969-1975 Studium der Ev. Theologie und Altorientalistik in Münster und Göttingen; 1982 Promotion; 1987 Habilitation; 1989-1992 Professor für Altes Testament und altorientalische Religionsgeschichte in Zürich; 19921999 in Hamburg; seit 1999 Professor für Altes Testament in Göttingen.

Unveränderte Studienausgabe 2018. ISBN 978-3-16-156333-1 ISSN 0940-4155 (Forschungen zum Alten Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar.

978-3-16-157788-8 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 © 2014 Mohr Siebeck Tübingen, www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Guide-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.

Den Weggefährten Erik Aurelius Reinhard Feldmeier Reinhard Gregor Kratz

Vorwort Die dreimal sieben Studien über Weisheit, Psalter und alttestamentliche Theologie haben die von Reinhard Feldmeier und mir verfasste biblische Gotteslehre (Der Gott der Lebendigen, Tübingen 2 0 1 1 ) vorbereitet und begleitet. Gleichwohl haben die Beiträge ihre Eigenständigkeit. Lebenskunst und Gotteslob erweisen sich als die beiden Brennpunkte, die den Beziehungsreichtum zwischen Gott, Mensch und Welt im Alten Testament elliptisch bündeln. Von diesen Brennpunkten aus kann alttestamentliche Theologie Schwerpunkte setzen sowie Verheißung und Gefahrdung der Relation von Gott zu Mensch und Welt erkunden. Neben neuen stehen schon einmal publizierte Studien. Sie haben allerdings eine so eingehende Bearbeitung erfahren, dass es nicht mehr sinnvoll war, alle einst gewählten Titel unverändert zu lassen. Die Bearbeitung wird vielleicht Unwillen bei denen hervorrufen, die die eine oder andere Studie schon einmal gelesen haben. Ich sah mich indessen außerstande, korrigierte und neu gewonnene Einsichten unberücksichtigt zu lassen. Zudem hat sich der Gedanke aufgedrängt, durch Neubearbeitung und neue Beiträge ein Ganzes zu schaffen, welches Weisheit und Psalter auf ihre Bedeutung für die Theologie des Alten Testaments hin befragt. Meinen Mitherausgebern der „Forschungen zum Alten Testament", Prof. Dr. Mark S. Smith und Prof. Dr. Konrad Schmid, bin ich dankbar, dass sie die Aufnahme des Bandes in die Reihe befürwortet haben. Die bewährte Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern des Verlags, namentlich mit Dr. Henning Ziebritzki, war wieder eine Freude. Zur Vorbereitung des Bandes haben in Göttingen viele beigetragen. Den entscheidenden Part hat Sabrina Bastemeyer übernommen. Ich verdanke ihr nicht allein die sorgfältige Vorbereitung der Druckfassung und die Anfertigung der Register. Sie hat die Beiträge auch inhaltlich mit kritischem Blick und klugem Rat verbessert. Allen gilt mein großer, ihr mein besonderer Dank.

Göttingen, Ostern 2 0 1 4

Hermann Spieckermann

Inhalt Vorwort

Lebenskunst und Gotteslob

VII

1

I. Lebenskunst zwischen Kairos und Krisis: Die Weisheit 1. Bildung - Gottesfurcht - Gerechtigkeit Die Prologe der Weisheitsbücher

41

2. Lebenskunst als Wegkunde Proverbien

55

3. Die Satanisierung Gottes Hiob

80

4. Suchen und Finden Kohelet

93

5. Der betende Weise Jesus Sirach

116

6. Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand Sapientia Salomonis

141

7. Theologie als Philosophie Das vierte Makkabäerbuch

165

II. Gotteslob zwischen Nacht und Tag: Der Psalter 1. Gott und die Nacht Gottes Welt und das Chaos

187

2. Der theologische Kosmos des Psalters Gottes Thron in der Welt des Betens

197

X

Inhalt

3. Rede Gottes und Wort Gottes Die Entdeckung der Antwort Gottes im Gebet

217

4. Schweigen und Beten Von stillem Lobgesang und zerbrechender Rede im Psalter

232

5. Hymnen im Psalter Ihre Funktion und ihre Verfasser

247

6. Lob Gottes aus dem Staube Psalm 103 als Quintessenz der Theologie des Gotteslobes

270

7. Lieben und Glauben Psalm 116 als Schüssel zur Theologie des Gebetes

286

III. Alttestamentliche Theologie als Gotteslob und Lebenskunst 1. Das heutige Bild der Religionsgeschichte Israels Eine Herausforderung alttestamentlicher Theologie?

303

2. Yhwh gehört die Welt Religionsgeschichtliche Voraussetzungen alttestamentlicher Theologie

324

3. Gott im Gleichnis der Welt Die weisheitliche Wurzel alttestamentlicher Theologie

343

4. Schöpfung, Gerechtigkeit und Heil Der Horizont alttestamentlicher Theologie

361

5. Der nahe und der ferne Gott Das Spannungsfeld des Gotteslobes

381

6. Gott und Mensch am Markt Das Spannungsfeld der Lebenskunst

398

7. Der Retter ist nah Die Verheißung alttestamentlicher Theologie

418

Literatur

439

Bibelstellen

472

Sachregister

495

Lebenskunst und Gotteslob 1. Weisheit als

Lebenskunst

Ihr saht den weisen Salomon Ihr wisst, was aus ihm wurd! Dem Mann war alles sonnenklar. Er verfluchte die Stunde seiner Geburt Und sah, dass alles eitel war. Wie groß und weis war Salomon! Und seht, da war es noch nicht Nacht, Da sah die Welt die Folgen schon: Die Weisheit hatte ihn so weit gebracht Beneidenswert, wer frei davon!

Diese Verse sind eine Erinnerung an Israels Weisheit. Sie ist im SalomonSong von Bertold Brechts Dreigroschenoper zu finden. 1 Danach besteht Salomos Weisheit in unbestechlicher, schonungsloser Skepsis gegenüber sich selbst, den Menschen, der Welt, von Gott gar nicht zu reden. Weisheit lehrt sehen, wie die Dinge wirklich sind. Und sie sind schlecht. Weisheit nährt nicht die Lebenslust, sondern die Todessehnsucht: „Er verfluchte die Stunde seiner Geburt". Das hat Salomo nach alttestamentlicher Überlieferung nicht getan. Brecht hat seinem weisen Salomo Züge von Jeremia und Hiob verliehen (vgl. Jer 20,14; Hi 3,1), die an diesen Stellen nicht fern von der hier propagierten Skepsis sind. Wer nach Brecht durch die Weisheit kognitiv ausgenüchtert worden ist, mag realistisch sein, aber nicht glücklich. „Beneidenswert, wer frei davon!" Es ist evident, dass der in der Bibel leidlich bewanderte Brecht 2 für seinen Salomon-Song bei Kohelet in die Schule gegangen ist, ein Buch, das sich wie andere unter der weisheitlichen Autorität Salomos birgt. Kohelet zählt zu den jüngsten Schriften des Alten Testaments. Trotz der in dem Buch zuweilen zu findenden Aufforderungen zur Lebensfreude ist es kaum verfehlt, in ihm die Optionen der Weisheit erschöpft zu sehen. Weisheit kann nur noch im Ausnahmefall und ohne überwältigende Evidenz Erkenntnisquelle und Lebenshilfe sein. Das ist konsequent in einem Wahr1

BRECHT ( 1 9 2 8 ) 1 9 6 8 : 7 9 f.

2

V g l . MELCHINGER 1 9 7 5 ; KIEBUZINSKA/PETERSEN 2 0 1 2 .

2

Gotteslob und Lebenskunst

nehmungshorizont, in d e m Gott nicht mehr ansprechbar ist, sondern aus v e r s c h l o s s e n e n Sphären deterministisch und unberechenbar agiert. Ehe W e i s h e i t bei K o h e l e t zur skeptischen Lebensbilanz g e w o r d e n ist, hat sie in Israel bereits Jahrhunderte lang Lebenskunst gelehrt. Lebenskunst ist ein aus der hellenistisch-römischen Zeit entlehnter Terminus, der N a c h d e n k e n und Lehre über die g e l i n g e n d e L e b e n s w a h l und die entsprechende Lebensführung z u erfassen sucht. 3 Trotz aller Unterschiede der W e l t - und Lebensdeutungen, die i m altorientalischen und mediterranen Kulturraum bestehen, wird hier der Terminus Lebenskunst auch für Israels W e i s h e i t als s a c h g e m ä ß betrachtet. Israel ist über die gut tausend Jahre hin, aus d e n e n alttestamentliche Weisheitsschriften bezeugt sind, integraler Bestandteil beider Kulturräume g e w e s e n . D i e Einfluss ausübenden Zentren haben sich in dieser Zeit mehrfach geändert, ein k o m p l e x e r Prozess, d e m w e d e r lineare noch m o n o k a u s a l e Rekonstruktionen gerecht werden. 4 Israel hat an der W e i s h e i t Ä g y p t e n s und M e s o p o t a m i e n s 5 - die Berechtigung des Terminus W e i s h e i t für die entsprechenden Literaturen einmal vorausgesetzt - partizipiert und im Zeitalter d e s H e l l e n i s m u s o f f e n k u n d i g an der W e i s h e i t s l i e b e der Griechen und Römer, der Philosophie. 6 A u c h die W e i s -

3 Zur Weisheit als Lebensform in der antiken Philosophie vgl. DlHLE 1990; HADOT 1995. 4 Einen guten Einblick in den Stand der Weisheitsforschung gibt WITTE 2012. 5

V g l . BRUNNER 1 9 5 7 ; DERS. 1 9 8 8 ; WLLKE 2 0 0 6 : 1 - 1 3 7 ; ALSTER 1 9 9 7 ; DERS. 2 0 0 5 ;

LAMBERT

1960;

DENNING-BOLLE

1992;

OSHIMA

2014;

nützliche

Überblicke

in:

D A Y / G O R D O N / W I L L I A M S O N 1 9 9 5 ; PERDUE 2 0 0 8 . 6

Zur Geschichte des Begriffes Philosophie und seiner Entwicklung in der Antike vgl.

BIEN/GORLER/HADOT/KRANZ 1989; HADOT 1999: 2 5 - 2 9 . N a c h sporadischem G e b r a u c h

im 5. Jahrhundert v. Chr. gewinnt der Begriff erst durch Piaton im 4. Jahrhundert v. Chr. begriffliche Schärfe. Rückblickend bezeichnet Aristoteles Denker des 6. Jahrhunderts als Philosophen, die in den griechischen Kolonien Kleinasiens beheimatet waren: Thaies, Anaximander, Anaximenes, Pythagoras, Xenophanes. Dies verdient Beachtung, weil der kleinasiatische Raum, der schon lange eine wichtige Brückenfunktion zwischen Orient und Okzident wahrgenommen hat (vgl. WEST 1997), nun auch den Kontakt zwischen griechischer und jüdischer Weisheit(sliebe) fördert. Spätestens seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. - einer Zeit, in der die autoritativen jüdischen Weisheitsschriften wie das in seinen Anfängen sehr viel ältere Proverbienbuch noch literarisch im Werden waren - ist der Ruf jüdischer Weisheit auch in Kleinasien präsent gewesen. Der Bericht des Peripatetikers Klearchus von Soloi über die Begegnung seines Lehrers Aristoteles während einer Bildungsreise in Kleinasien zwischen 348-345 v. Chr. mit einem weisen Juden aus Coelesyrien (hier wahrscheinlich Phönizien) ist deshalb nicht überraschend. Nach Klearchus attestiert Aristoteles dem Juden: 'EM.tivikö xfj öiaXeKKp |iövov, aXXa Kai xfj yuxfj (Josephus, Contra Apionem I 180, nach Niese 1955: 33) „er war ein Grieche nicht nur der Sprache, sondern auch der Seele nach". Das wechselseitige Interesse ist durch die Beiden eigenen ao|j.(iaiov Kapxepiov TOÜ 'IouSaiou dv8pö^ ev xrj 6iaixr| Kai aaxppocnjvriv (Josephus, Contra Apionem I 182, nach Niese 1955: 33) „die konsequente und bewundernswerte Beharrlichkeit des Juden in der Lebensführung und die Besonnenheit" nachhaltigen Eindruck. Man kann nicht ausschließen, dass die Geschichte erfunden ist. Aber sie passt allemal in die Zeit. Schließlich konnte man im 1. Jahrhundert n. Chr. in jeder namhaften Bibliothek verifizieren, ob Josephus seinen Gewährsmann Klearchus von Soloi korrekt zitiert hat. Zu den Beziehungen zwischen hellenistischer und jüdischer Weisheit vgl. ZELLER 1 8 8 1 : 2 4 2 - 4 1 8 ; HENGEL 1 9 7 3 : 1 9 6 - 4 6 3 ; COLLINS 1 9 9 7 ; f ü r d e n w e i t e r e n H o r i z o n t v g l . KAISER 2 0 0 3 ; DERS. 2 0 0 7 ; DERS. 2 0 1 0 . 7

V g l . WEIGL 2 0 1 0 .

8

Zum Versuch, dies an einem Exemplar der so genannten babylonischen Hiob-

l i t e r a t u r z u z e i g e n , v g l . SPIECKERMANN ( 1 9 9 8 ) 2 0 0 1 ; v g l . f e r n e r UEHLINGER 2 0 0 7 . 9

V g l . HEMPEL/LANGE/LICHTENBERGER 2 0 0 2 ; GOFF 2 0 0 7 ; M A R T T I L A / P A J U N E N 2 0 1 3 .

10

Vgl. COLLINS 1997b: 239^104.

4

Gotteslob und Lebenskunst

drückliche Zeugen. 11 In diesem Buch verdient die offenkundig gesuchte Nähe von Weisheit und Gebet besondere Aufmerksamkeit.

2. Weisheit und Gebet Diese Nähe ist nicht in der Gemeinde von Qumran entdeckt worden. Ihre Anfänge reichen in die nachexilischen Stadien der Entstehung der autoritativen biblischen Schriften zurück. Die Liaison von Weisheit und Gebet ist den mit hoher Wahrscheinlichkeit aus vorexilischer Zeit stammenden Texten des Alten Testaments noch fremd. Tatsächlich ist in den aus älterer Zeit stammenden weisheitlichen Schriften und Gebeten der Unterschied offenkundig. Dominieren in der Weisheit diskursive Redeformen (Sentenz, Frage, Monolog, Dialog), sind es im Psalter die unterschiedlichen Redeformen direkter Kommunikation mit Gott (Klage, Bitte, Dank, Lob). Der Unterschied der Redeformen unterstreicht den Unterschied der Inhalte. Sind es in der Weisheit kognitive Erkundungen des Menschen, wie er in der Welt seinen Lebensweg coram Deo finden kann, sind es im Psalter existentielle Schlüsselsituationen, in denen Betende das für das Leben in Not und Glück Entscheidende von Gott erwarten und erfahren oder sein Tun in Vergangenheit und Gegenwart bangend und preisend bedenken. Die in Weisheit und Psalter praktizierte und aktivierte Gottesbeziehung ist unterschiedlicher Art. Die weisheitliche Erkundung des Lebensweges, auch wo sie speziellen Lebenssituationen gilt, verfolgt kognitive Ziele. Der Mensch will von Gott gesetzte Ordnung erkennen, die ihm Orientierung für sein Leben in der Welt gibt. Betende hingegen suchen Hilfe von dem Gott, der Not wendet, sei sie selbst verschuldet oder von Anderen verursacht, und spenden Gott Dank und Lob dafür, dass er die Seinen nicht den lebensfeindlichen Mächten ausliefert. Der Gott der Psalmen schenkt nicht Einsicht in Ordnung, sondern ist als Retter nahe allen, die ihn anrufen (Ps 86,5-7; 145,18 f.), weil seine Güte bis an den Himmel reicht (Ps 36,68; 119,88 f.). Der Ordnung stiftende Gott und der aus Güte rettende Gott sind freilich nicht zwei verschiedene Götter, sondern es ist der eine Gott, der in unterschiedlichen Bereichen des Lebens wirkt. So sehr sich diese unterscheiden und in ihnen die Gottesbeziehung eine unterschiedliche Funktion wahrnimmt, so sehr gilt zugleich, dass Gott in der Weisheit wie im Psalter Grund und Gegenüber der Welt und des Menschen ist. Versteht sich dies für das Gebet von selbst, gilt es in gleicher Weise für die weisheitliche Erkundung der Lebenskunst im Alten Testament. Deshalb treten unter dem 11

Zu den genannten Qumrantexten vgl.

GARCÍA MARTÍNEZ/TIGCHELAAR

2 0 5 ; CHARLESWORTH 1 9 9 7 ; CHARLESWORTH/NEWSOM 1 9 9 9 ; N I T Z A N 1 9 9 4 .

1997:

146-

Lebenskunst und Gotteslob

5

Druck jüdischer Identitätsschärfung seit dem Exil und der daraus resultierenden Zunahme der literarischen Produktivität die unterschiedlichen Traditionskreise, in denen alttestamentliche Schriften wachsen, zunehmend miteinander in Beziehung. Gebete finden Eingang in Geschichtswerke, Prophetie und Weisheit, während weisheitliche Redeformen und Reflexionen auch die Welt des Betens bereichern. 12 Lebenskunst und Gotteslob sind zum Titel dieses Buches geworden, weil das Zusammenkommen dieser beiden Bereiche in einem aufschlussreichen theologischen Reflexionsprozesses erreicht worden ist. Dabei sind Lebenskunst und Gotteslob die beiden Brennpunkte einer Ellipse, die exemplarisch für das Ganze der Gott-Welt-Mensch-Beziehung zu stehen vermag. Gott will nicht Gott sein ohne Beziehung zu seiner Schöpfung und seinem gottebenbildlichen Geschöpf. Weder bleibt die Schöpfung gut noch gelingt dem gottebenbildlichen Geschöpf die Lebenskunst, wenn der Mensch vom Dank und Lob gegenüber dem Schöpfer loskommen will und Herrschaft aus Selbstbezüglichkeit anstrebt. Wer Gott nicht will, macht nicht die Lebenskunst autonom, sondern das Leben gottlos. Ist Gottesbeziehung aber nicht mehr Ursprung und Gabe des Lebens, bleibt Lebenskunst nicht mehr dankbare Erschließung und Pflege des Beziehungsreichtums zwischen Schöpfer, Schöpfung und Geschöpf, sondern reduziert sich auf die Selbstbezüglichkeit. Es gibt keinen gebietenden Grund mehr, Mensch und Welt um Gottes willen zu achten. Wo der auf seine Autonomie fixierte Mensch das Ende der Gottesbeziehung erstrebt, ist das Ende der Lebenskunst im Sinne umfassender kognitiver Welterschließung und theonom gegründeten Lebenswandels unausweichlich. Das Ende solcher Lebenskunst ist in theologischer Sicht der Tod des Lebens. Die fundamentale Bedeutung der Gottesbeziehung für Welt und Mensch in jüdisch-christlicher Sicht soll in dem Begriffspaar Lebenskunst und Gotteslob festgehalten werden. Nur in dieser Kombination hat der Begriff Lebenskunst theologischen Erkenntniswert. Dies muss mit aller Deutlichkeit betont werden, denn schließlich hat der Begriff im philosophischen Milieu des Hellenismus und der römischen Kaiserzeit eine Prägung erfahren, die seinen theologischen Gebrauch als problematisch erscheinen lassen könnte. Der Stoiker Seneca (gestorben 65 n. Chr.) mag als Beispiel dienen. Ars vivendi „Lebenskunst", ein Synonym für die Philosophie überhaupt, 13 gerät bei ihm nachgerade in Rivalität zur Sphäre des Göttlichen.

12

Die in diesem Satz angedeuteten Entwicklungen sind äußerst komplex; zu verschiedenen Aspekten des Themas vgl. FELDMEIER/SPIECKERMANN 2011: 430-439; GÄRTNER 2 0 1 2 ; KLEIN 2 0 1 4 ; WLLKE 2 0 1 4 . 13 Vgl. Seneca, Epistulae morales 85,19-41 (REYNOLDS 1965: 292-297); 94,46-60 (REYNOLDS 1965: 375-378); 9 5 , 7 - 1 4 (REYNOLDS 1965: 383-385); 1 1 7 , 8 - 1 0 . 2 0 - 2 4 . 3 2 -

3 3 (REYNOLDS 1 9 6 5 : 4 9 6 f. 4 9 9 f. 5 0 2 ) .

6

Gotteslob und Lebenskunst

(10) ...Idem philosophia rebus omnibus: 'non sum hoc tempus acceptura quod vobis superfuerit, sed id vos habebitis quod ipsa reiecero'. (11) Totam huc converte mentem, huic adside, hanc cole: ingens intervallum inter te et ceteros fiet; omnes mortales multo antecedes, non multo te dii antecedent. Quaeris quid inter te et illos interfuturum sit? diutius erunt. At mehercules magni artißcis est clusisse totum in exiguo; tantum sapienti sua quantum deo omnis aetas patet. Est aliquid quo sapiens antecedat deum: ille naturae beneficio non timet, suo sapiens. (12) Ecce res magna, habere inbecillitatem hominis, securitatem dei. Incredibilisphilosophiae vis est ad omnem fortuitam vim retundendam... (10) ...Genauso erwidert die Philosophie allen Dingen: ,Ich bin nicht gewillt, die Zeit anzunehmen, die ihr übrig habt, sondern ihr werdet die haben, die ich selbst als überflüssig abtrete.' (11) Richte Deine ganze Einstellung auf diese, sitze bei ihr, verehre sie: eine riesige Kluft wird zwischen Dir und den übrigen entstehen; allen Sterblichen wirst Du viel voraushaben, nicht viel werden Dir die Götter voraushaben. Du fragst, welcher Unterschied zwischen Dir und ihnen bestehen wird? Sie werden länger dasein. Aber beim Herkules, es ist das Werk eines großen Künstlers, das Ganze in etwas Kleinem einzuschließen; dem Weisen bietet seine Lebenszeit Raum für so viel wie einem Gott die Ewigkeit. Es gibt etwas, was der Weise einem Gott voraushat: jener empfindet durch die Wohltat der Natur keine Furcht, der Weise durch die eigene. (12) Sieh, es ist eine große Sache, die Schwäche eines Menschen und zugleich die Unbesorgtheit eines Gottes zu besitzen. Unglaublich ist die Kraft der Philosophie, jede Macht des Schicksals unschädlich zu machen... 1 4

Fast klingt diese Aufforderung, sich ganz der Philosophie zu widmen, wie das Pendant zur Verheißung der Weisheit an die sie Liebenden in Prov 8,17 und SapSal 6,12-19, dass sie die ihr entgegen gebrachte Liebe erwidern werde. Doch der Unterschied zwischen der stoischen Philosophie des Seneca und der jüdischen Weisheit ist an diesem Punkt unüberbrückbar. Der Weise ist nach Seneca denen, die nicht weise sind, unendlich fern, während er den Göttern nahe, ihnen sogar voraus ist. Denn der Weise ist der magnus artifex „große Künstler", der in seiner kurzen Lebenszeit kraft der Philosophie die securitas „Unbesorgtheit" eines Gottes erlangen kann, die dem Gott naturae beneficio „durch die Wohltat der Natur" zufallt. Der Weise schafft sich das beneficium seines Lebens selbst, er macht philosophiae vis „die Kraft der Philosophie" zu der seinen und damit omnis fortuita vis „jede zufallige Gewalt", welche nichts anderes als die Macht des Schicksals ist, unschädlich. Nie würde die jüdische Weisheit, die in SapSal 8,6 als unvergleichlich große TEXVTTK; „Künstlerin" gepriesen wird, mit dem Weisen verschmelzen und ihm eine Kraft zuführen, die mit der Macht des Schicksals, ein ohnehin seltener und unheimlicher Gast in der alttestamentlichen Weisheit, rivalisieren könnte. Bei Seneca hat der Weise sein Heil (salus) selbst in der Hand, wenn er mit aller Entschlossenheit die Torheit (stultitia) abstößt und dem Vertrauen schenkt (credere),

14

Seneca, ep. 53,10-12 nach REYNOLDS 1965: 142 f.; Übersetzung weitgehend nach RAUTHE 1986: 9.11; vgl. auch Seneca, ep. 31,6-11 (REYNOLDS 1965: 90 f.).

Lebenskunst und Gotteslob

1

was von weisen Männern gefunden worden ist. 15 Philosophie als ars vivendi verdankt sich nicht den Göttern, sondern muss erstritten und erlitten werden, gegen die Torheit, gegen die eigene Trägheit und Selbstgefälligkeit, schließlich gegen das Schicksal. Dem Menschen sind kraft der Philosophie diese Einsicht und die entsprechende ars vivendi möglich - auch die ars moriendi, nämlich als freier Entschluss, aus dem Leben zu scheiden. Eine solche Distanz von Gottesbeziehung und Lebenskunst ist dem Alten Testament fremd. In den Gebeten des Psalters ist es Jahrhunderte hindurch nie strittig gewesen, dass Leben nur da gelingen kann, wo Gott sein Angesicht leuchten lässt. Es ist Gottes rettende und heilsame Gegenwart, die dem Unheil wehrt, nicht des Menschen eigene Kraft, auch nicht seine Hingabe an die Weisheit. Der rettende Gott ist das theologische Zentrum der Gebete in der Mannigfaltigkeit der Lebenssituationen, für die sie komponiert worden sind. Unter ihnen hat das Gott dargebrachte Lob einen besonderen Rang. Nicht sind Klage und Bitte, die quantitativ im Psalter dominieren und den Mangel der Gottesnähe artikulieren, das Fundament des Psalters, dem das Gotteslob im Falle erfahrener Rettung allererst zuwüchse. Vielmehr umfangt das Gotteslob jede Form des Betens, auch Klage und Bitte. Beide wären grund- und ziellos, wenn sie nicht um den Grund des Menschen in der Beziehung zu Gott wüssten. Klage und Bitte wollen aus dem Gottesmangel und der Gottesnot zurück in die heilsame Gottesnähe, ohne die niemand leben, geschweige denn zur Lebenskunst gelangen kann.

3. Lebenskunst zwischen Kairos und Krisis Die theologische Vorordnung des Gotteslobes hätte es nahe gelegt, das Buch mit den Studien zu den Psalmen zu eröffnen. Die Entscheidung ist jedoch bewusst zugunsten der Erkundung der Lebenskunst in den Schriften der Weisheit gefallen. Es soll auf diese Weise vermieden werden, die weisheitlichen Schriften zu schnell und zu generell in die Nähe des Gotteslobes im Psalter zu rücken. Die Theologie der Weisheit, zu der die begleitende Skepsis nicht allein in Gestalt der Bücher Hiob und Kohelet, sondern bereits im Proverbienbuch über die gesamte Erstreckung seiner Entstehung hin immer hinzugehört, hat bis in die nachexilische Zeit eine Distanz nicht nur zur Theologie der Tora und der Propheten, sondern auch zu der des Gotteslobes gewahrt. Dies ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass gedanklicher Austausch unter den Traditionen ausgeschlossen gewesen wäre, wohl aber in dem Sinne, dass weisheitliche Theologie die eindeutige Nähe

15

Vgl. Seneca, ep. 58,9, Text nach REYNOLDS 1965: 155.

8

Gotteslob und Lebenskunst

zu Redeformen und Inhalten anderer autoritativer Traditionskreise offenkundig gemieden hat. Der Grund dafür ist am ehesten in dem bewusst erfahrungsorientierten, induktiven Zugang weisheitlicher Theologie zu erkennen. Ihr theologischer Eros ist auf den Erkundungswegen in der Welt unterwegs: die Beschaffenheit der Wege selbst prüfend und die beobachtend, die die Wege zu gehen und Ziele zu erreichen versuchen. Es ist die Grundüberzeugung weisheitlicher Theologie, dass solche Wegkunde zugleich Gotteskunde ist oder zur Gotteskunde werden kann. Weisheit kennt den Kairos der konkreten Erfahrung. Dieser lädt zur Verallgemeinerung und damit zur Erkenntnis der den konkreten Erfahrungen immanenten Regelhaftigkeit und zugleich zum findigen Aufspüren der transzendenten Stiftung dieser Ordnung durch Gott ein. Die persönliche Applikation derjenigen, die dieses Zusammenspiel von Erfahrung und Erkenntnis in den Sentenzen studieren, bedarf ebenfalls des Kairos. Niemand wird durch die bloße Tatsache des Lesens klug. Der Lesende muss verstehen: tua res agitur. Es geht in dem, was du hörst oder liest, um dich selbst, deine eigene Lebenserfahrung, deinen Lebensweg, deine Lebenskunst. Deshalb werden die Weisen zu werbenden und mahnenden Lehrern; oder sie lassen die personifizierte Weisheit selbst zu Wort kommen und sie mit Autorität sagen, wie es um die Grundsätze der Lebenskunst bestellt ist. Die Kairoi erkenntnisträchtiger Erfahrungen warten überall auf die, die neugierig auf den Wegen dieser Welt unterwegs sind, denn die Ordnung selbst lädt durch die ihr eingestifteten Kairoi zum Staunen ein. Der Staunende aber ist der Erkenntnis auf der Spur. So erkenntnisfreundlich die Ordnung dieser Welt ist, so notwendig hat die Neugier der Erkenntnissucher immer die Skepsis zur Seite. Denn unternehmen die Weisen ihre Erkenntnissuche auch in einer Welt, der sie zutrauen, die beste aller möglichen zu sein, 16 sind sie nicht blauäugig oder gar blind gegenüber den Störungen der guten Ordnung. Sie werden von ihnen kritisch wahrgenommen und in den Sentenzen bedacht. In der Regel stellt die stabile Asymmetrie von guter Ordnung und ihren Störungen die positive Weltsicht nicht in Frage. Doch es ist gewiss kein Zufall, dass es die Weisen sind, die von Gott gewirkter existentieller Not und universaler Undurchschaubarkeit göttlichen Handelns in paradigmatischen Texten wie dem Hiob- und Koheletbuch Raum geben und kritisches Fragen, ja selbst die Krisis des Verhältnisses von Gott und Mensch zu ihrer eigenen Sache machen. Pointiert kann man von weisheitlicher Theologie sagen, dass sie Lebenskunst sein will zwischen dem Kairos des allenthalben von Gott ermöglichten Erkennens und der erahnten oder erlittenen Krisis, dass eben

16

Vgl. LEIBNIZ, Essais de théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l'homme et

l ' o r i g i n e d u m a l ( 1 7 1 0 ) I § 7 - 8 n a c h LEIBNIZ 1 9 8 5 : 2 1 6 - 2 2 1 .

Lebenskunst und Gotteslob

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dieser Gott dem Erkennen undurchschaubar und notvoll Grenzen setzen kann und manchmal setzt.

4. Die Prologe von Proverbienbuch, Jesus Sirach und Sapientia Salomonis Die sieben Studien zur Weisheit gehen der dargelegten Sicht mit der gebotenen Behutsamkeit nach. Zwar verfolgen sie diesen Zweck, wollen aber zugleich der inhaltlichen Komplexität der Schriften Raum geben und auf Akzente hinweisen, die für die weisheitliche Reflexion der jeweiligen Schrift charakteristisch sind. Die getroffene Auswahl weisheitlicher Schriften bildet ein Ensemble, das in dieser Zusammenstellung nirgendwo im Judentum autoritative Geltung erlangt hat. Die Auswahl repräsentiert jedoch angemessen die beiden Hauptzweige des Judentums um die Zeitenwende, den hebräischen im Umkreis des Zweiten Tempels und den hellenistischen, wie er vor allem in Alexandrien und vielleicht auch in Antiochien Gestalt gewonnen hat. Insofern steht die Auswahl für werdende Kanones und nicht für einen Kanon, also für Diversität und unterschiedliche Optionen, wie das, was weisheitlich gedacht wird, gesagt werden kann. Der Darstellung der Weisheitsschriften steht ein Beitrag über die Prologe der drei Bücher Proverbien, Jesus Sirach und Sapientia Salomonis voran. Die Prologe dienen offenkundig der Intention, in positiv-kritischer Weise Wesen und Wirken weisheitlicher Theologie programmatisch zu erfassen. Sie stammen aus unterschiedlichen Epochen der nachexilischen Zeit. Der Prolog des Proverbienbuches (Prov 1,1-9), der älteste unter ihnen, eröffnet eine Schrift, die selbst eine Jahrhunderte währende, wahrscheinlich bis in die Anfänge der Königszeit zurückreichende Geschichte gehabt hat. In diesem Prolog wird man der Fülle ansichtig, was unter Weisheit über ein halbes Jahrtausend in Israel verstanden worden ist. Der Prolog bietet ein üppiges Begriffscluster, das offensichtlich keine definitorische Schärfe anstrebt. Vielmehr wird Weisheit - schon dieser Begriff ist im Blick auf die vorhandene Nomenklatur und adressierte Literatur ein Kompromiss - als Phänomen terminologisch umkreist, um die zugehörigen Aspekte so vollständig wie möglich zu versammeln. Man kann sie unter den Begriff der Lebenskunst, den der Prolog wie alle hier behandelten Schriften nicht kennt, dem aber gerade wegen seines verfremdenden hermeneutischen Potentials erschließende Kraft zugetraut werden darf, angemessen zusammenfassen. Der Prolog des Proverbienbuches hat Gestalten und Gehalte im Blick, die alle etwas mit Bildung im Sinne der entscheidenden Lebensaufgabe, nämlich der Einübung in die Lebenskunst, zu tun haben: lebenslange Bildung für lehrende Gebildete, die immer Lernende

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bleiben, wie für Bildungshungrige, die die Einübung ins Hören und Beherzigen als Voraussetzung des Erkenntnisgewinns nicht scheuen und deshalb die Lebens- und Lerngemeinschaft der Gebildeten suchen. Diese Agierenden geben der Lebenskunst Gestalt. Ihr Gehalt manifestiert sich in konkreten Fallbeispielen vom Königshof und aus dem Alltag, aus der Beobachtung der Welt und aus der Welt in den Köpfen der Toren wie der Weisen, aber auch in umgreifenden Ordnungen, gefasst unter Begriffe wie Recht und Gerechtigkeit, sogar - freilich noch nicht in der älteren Weisheit Tora. Gerade bei Tora ist die Frage unausweichlich, ob ein spezifisch weisheitlicher Inhalt intendiert ist oder eine Anknüpfung an die bekannte Tora des Mose gesucht wird. Die Erwähnung der Tora gehört im Prolog des Proverbienbuches zu einer theologisch gewichtigen Ergänzung (Prov 1,7-9), die Yhwh-Furcht und Tora als Ursprung und Inhalt der Weisheit apostrophiert. Diese Ergänzung eröffnet Perspektiven, die die Prologe des Jesus Sirach (Kap. 1) und der Sapientia Salomonis (1,1-15) - letztere zugleich im Rückbezug auf den Siraciden - aufnehmen. Beide rücken je einen weisheitlichen Schwerpunkt ins Zentrum: Jesus Sirach die Liebe zu Gott in Verbindung mit der Gottesfurcht, die Sapientia Salomonis die Liebe zur Gerechtigkeit. Die unterschiedlichen theologischen Akzentsetzungen dieser drei Prologe dokumentieren die Spannweite alttestamentlicher Weisheit, ihrer Adressatenkreise und Zielsetzungen.

5. Das Buch der Proverbien Die Weisheitsschriften, die im Folgenden analysiert werden, sind in unterschiedlicher Zahl in die kanonisierten jüdischen und christlichen Schriftensammlungen aufgenommen worden. Hier werden sie nach der wahrscheinlichen Folge ihrer Entstehung behandelt. Die Folge ist von Hiob bis zum vierten Makkabäerbuch - auch unter Berücksichtigung der Unsicherheiten der Datierung und der zeitlichen Erstreckung der Entstehungszeit einzelner Bücher - weitgehend unstrittig. Anders verhält es sich beim Proverbienbuch. Ist es auch im Kern allemal die älteste Weisheitsschrift des Alten Testaments mit Anfangen in der älteren Königszeit, lässt sich nicht mit gleicher Sicherheit sagen, wann das Buch seine hebräische Endgestalt erlangt hat. Wahrscheinlich ist es erst in spätpersischer Zeit geschehen, so dass man im Proverbienbuch selbst - und zwar in allen seinen Teilen - die Geschichte alttestamentlicher Weisheit parallel zur Entstehung anderer alttestamentlicher Weisheitsschriften wie dem Hiobbuch und der Einflussnahme weisheitlichen Denkens auf andere alttestamentliche Traditionen verfolgen kann. Die Fortsetzung der Weisheitstheologie des hebräischen

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Proverbienbuches ist in seiner griechischen Übersetzung dokumentiert, die wiederum eigene Akzente gegenüber der hebräischen Vorlage setzt. Der Beitrag über das Proverbienbuch kann diese reiche und in weiten Teilen noch nicht hinreichend erforschte Geschichte nur partiell nachzeichnen. Er macht vor allem den Versuch, die in den Sentenzen bezeugte Themenfülle als eine Wegkunde zu systematisieren, die das alttestamentliche Verständnis der Lebenskunst plastisch werden lässt. Dazu gehört auch das Bemühen, zu verstehen, wieso die Weisheit im Proverbienbuch nicht allein die Vermittlung von Erfahrung und Erkenntnis leistet, sondern zur Mittlerin zwischen Gott, Welt und Mensch wird. Der Verweis auf ägyptische Vorbilder ist wichtig, vermag aber nicht das Entscheidende zu erklären. Es liegt in der Selbstrelationierung Gottes. Die personale Relation zwischen Gott und Weisheit in Prov 1-9, vor allem in Prov 8, wird zum Vor-Wort der Welt- und Wegkunde, die die folgenden Sentenzensammlungen bieten. Das Vor-Wort macht deutlich, dass es bei der Lebenskunst nicht nur um Erkenntnis geht, sondern dass Liebe im Spiel ist: zwischen Gott und der Weisheit, zwischen der Weisheit und den Erkenntnishungrigen und deshalb auch zwischen den Menschen und Gott. Die Rede der Weisheit in Prov 8 ist ein indirektes Lob des Schöpfergottes, an dessen Schluss klimaktisch die Menschen in das besondere Verhältnis von Gott und Weisheit hinein genommen werden, ein ergötzendes Spiel, das alle Beteiligten genießen (Prov 8,30 f.). Spielerisch bewirkt die Weisheit das Ergötzen Gottes, welches mit ihrem eigenen Ergötzen an den Menschen unlöslich verbunden ist. Spielerisch ist Weisheit ganz bei Gott und ganz in der Welt. Hier suchen und finden sich liebevoll, welche aus Liebe zusammengehören (Prov 8,17). So hat die jüdische Weisheitsliebe ihre eigene Kontur und verschmilzt nicht mit der Weisheitsliebe der Griechen, der Philosophie. Dieser positiven Funktion der personifizierten Weisheit tritt freilich eine andere zur Seite. Wie man es in einer Weisheitsschrift erwartet, redet Gott im Proverbienbuch nicht. Aber die personifizierte Weisheit redet nicht nur zur Lebenskunst und Liebe ermunternd, sondern auch werbend für die eigene Person. Zwar ist ihre Rede in Prov 8 ein indirektes Lob des Schöpfers, nicht zuletzt aber auch ein Selbstlob. Selbstlob ist hier durchaus Symptom einer Krisis. Gottes Schöpfungshandeln eo ipso macht seinen Willen zur Verbindung mit der Welt nicht mehr hinreichend transparent. Gott bedarf der Weisheit als Hermeneutin, weil sein Wirken und Wollen in der von ihm geschaffenen Welt an Selbstevidenz verloren hat. Die Weisheit unternimmt das werbende Selbstlob um Gottes willen - vielleicht um Fragen, Klagen und Anklagen zu entkräften, wie sie die Bücher Hiob und Kohelet, aber auch manche aus weisheitlichem Milieu stammende Psalmen bezeugen.

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6. Die Bücher Hiob und Kohelet Unter diesem Betracht hat das Hiobbuch nach dem Proverbienbuch seinen richtigen Platz. Auch literargeschichtlich könnte es keine bessere Stelle finden. Zwar kommt Hiob an die Erstreckung der Entstehung des Proverbienbuches nicht heran, doch hat auch die Formung dieses Buches etwa vom 6. bis zum 4. Jahrhundert v. Chr. gedauert und damit die letzten Phasen der Profilierung des Proverbienbuches begleitet. Ein impliziter Austausch zwischen beiden Büchern über Leistung und Grenze weisheitlicher Erkenntnis Gottes und der Welt ist wahrscheinlich. Diese Annahme fuhrt sogleich zu der Frage, inwiefern das Hiobbuch als eine Krise der aufs Ganze gesehen positiven Sicht der alttestamentlichen Weisheit, wie sie im Proverbienbuch dokumentiert ist, verstanden werden kann. Angesichts der wahrscheinlichen Erstreckung der Entstehung des Hiobbuches ungefähr über zwei Jahrhunderte hin ist die These, in ihm manifestiere sich eine zeitlich fixierbare und geschichtlich zu plausibilisierende Krise der Weisheit, womöglich ausgelöst durch einschneidende soziale Veränderungen, unwahrscheinlich. Im Blick auf das Hiobbuch - und dasselbe wird sich später für das Koheletbuch ergeben - kann man nicht von einer bestimmten Krise reden. Zur Unterscheidung von situativ oder sozial verstandener Krise sollte man besser von Krisis sprechen, verstanden als jederzeit mögliche Gefahrdung des Welt und Gott verbindenden Erkenntnisoptimismus der Weisen. Der induktive Weg von der Welterkenntnis zur Gotteserkenntnis wäre naiv, wäre nicht am Wegesrand die potentielle Krisis zu finden, die sich als Korrektiv in Skepsis, aber auch in einer die Fundamente erschütternden paradigmatischen Infragestellung aktualisieren kann. Für die derart verstandene Krisis ist charakteristisch, dass sie nicht eine bestimmte existentielle oder soziale Krise abbildet, sondern viele Krisen zu einem kritischen, jederzeit aktualisierbaren Diskurs verarbeitet. Die Option des kritischen Korrektivs bietet das Proverbienbuch in vielen Beispielen; die Option der fundamentalen Infragestellung durchdenkt und durchleidet das Hiobbuch in mehreren Anläufen, deren Korrelierung mit dem Proverbienbuch weiterer Erforschung bedarf. Im Beitrag zu Hiob werden die wichtigsten Stadien der Buchwerdung und damit zugleich der Elaborierung des kritischen Diskurses analysiert. Es wird deutlich, dass das Hiobbuch trotz seiner Entstehung über ungefähr zwei Jahrhunderte hin thematisch eine beachtliche Geschlossenheit hat. Die Erzählung in Hi 1-2 und 42,7-17, zuweilen als schlichte Überlieferung vom auch im Leiden an seiner Frömmigkeit festhaltenden Hiob gedeutet, erweist sich als theologisch abgründige Novelle über die Perversion des Segens in den Fluch durch die sinistere Kollaboration von Gott und Satan. Sie ist die Grundlage für die Aufweitung der Novelle durch den

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Dialog Hiobs mit seinen drei Freunden, in welchem Gottes Wandlung zu Hiobs Feind zum zunehmend umkämpften Streitpunkt wird. Hiob wendet sich schließlich von den Freunden ab und Gott zu (Hi 29-31), der als Einziger Klärung schaffen kann. Diesem anklagend vor Gott stehenden Hiob tritt Gott in der Grundfassung des Dialogteils mit seinen Reden in Hi 3 8 41 entgegen. Im Hiob zurückweisenden Selbstlob führt Gott Macht und Wohlordnung seiner Schöpfung ins Feld. Die ausbleibende Erwähnung der Menschen ist ebenso irritierend wie das lancierte argumentum e silentio, der Rebell Hiob möge sein Geschick nicht verabsolutieren, sondern es im Lichte der kosmischen Evidenz überwältigender Schöpfermacht neu bedenken. Die Reden im Dialogteil und diejenigen Gottes bedienen sich der Sprache der Klage und des Lobes, ohne Klage- und Lobgebete des Psalters zu imitieren. Die Anklage, geleitet von dem teils explizit, teils implizit formulierten Vorwurf der Feindschaft Gottes, dominiert in Hiobs Reden, während die Klagen des Psalters in der Hoffnung auf den rettenden Gott gründen. Wo jedoch Gott zum Feind wird, trägt diese Hoffnung nicht mehr. Sie bleibt allenfalls als Paradoxon präsent, weil für Hiob auch der Feindgott alternativlos Gott bleibt (Hi 16; 19,21-27). Hat schon die Klage im Hiobbuch gegenüber dem Psalter ihr eigenes Profil, ist der Unterschied zwischen dem Lob im Psalter und im Hiobbuch noch deutlicher. Wo die Freunde und sogar Hiob zu hymnischer Diktion finden, drohen Form und Inhalt auseinander zu brechen. 17 Das Gotteslob will in diesem Buch nicht gelingen. In kleiner Form gelingt es einmal: ausgerechnet im Mund des geschlagenen Hiob (Hi 1,21). In großer Form begegnet es in den abschließenden Gottesreden; doch da fallt es schwer, vom Gelingen zu sprechen. Im Unterschied zum Proverbienbuch redet Gott im Hiobbuch. Nach der Anklage Hiobs in Hi 29-31 kann Gottes Dialog mit dem Satan am himmlischen Hof, der seit Hi 1 - 2 seine abgründige Wirkung entfaltet, nicht das letzte Wort sein. Gottes Antwort an Hiob erfolgt in Hi 38-41. Das Gotteslob gehört eigentlich in den Mund derjenigen, die als Beschenkte den Geber der guten Gaben preisen wollen. In Prov 8 ist das Selbstlob der Weisheit immerhin indirekt auch ein Lob des Schöpfergottes, in das die spielende Weisheit die Menschen hineinzieht. Im Hiobbuch ist dieses Spiel verloren. Die Weisheit ist nicht bei den Menschen, sondern allein bei Gott, nicht als Person, sondern als den Menschen fernes Schöpfungswerk (Hi 28). Ihnen ist sie nur zugänglich als bedrohliche Gottesfurcht, die im Meiden des Bösen besteht (Hi 28,28). Gottesfurcht und Meiden des Bösen: Beides gehört zu den Charakterisierungen Hiobs am Anfang des Buches (Hi 1,1), welche Gott allererst auf den Gedanken bringen, seinen Knecht in Satans Hand auszuliefern und derart zu ergründen, wie es um den Charak17

V g l . SPIECKERMANN 2 0 1 2 .

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ter seines Knechtes bestellt ist (1,8; 2,3)- Satans Hand ist von Gottes Hand in der Hiobnovelle nicht zu unterscheiden. Weise loten im Hiobbuch aus, was es bedeutet, wenn die Optionen der Weisheit, die allesamt im gelingenden Zusammenspiel von Gott, Weisheit, Welt und Mensch gründen, erschöpft sind. An die Stelle der Lebenskunst tritt die Lebensverachtung (Hi 7,16; 9,21; 42,6). Schon das jüngste hebräische Stratum des Hiobbuches, die Elihureden (Hi 32-37), und dann umfassend und entschlossen die griechische Version versuchen, diesen Abgrund zu überbrücken und die Schrift ins theologisch Sag- und Tragbare zurückzuholen. 18 Doch der Abgrund, in den die Weisen im Hiobbuch zu schauen wagen, lässt sich nicht verdecken. Bei Kohelet, einem für alttestamentliche Verhältnisse erstaunlich geschlossenen Buch des 3. Jahrhunderts v. Chr., spricht wie in der überkommenen Tradition des Proverbienbuches weder Gott selbst noch wird er angeredet. Dabei wäre das rechte von Gott kommende Wort zur Situation der Weisheit, wie sie in dem Buch diagnostiziert wird, durchaus wünschenswert. Aber im Unterschied zum Hiobbuch wird es nicht einmal mehr erwartet. Dem Buch Kohelet ist der aus dem Hiobbuch bekannte dramatische Diskurs paradigmatischer existentieller Krisis fremd. Das Buch kennt auch keinen Dialog. Vielmehr ist es ein aus mehreren Gedankengängen bestehender Monolog, der von einer beherrschenden Problemkonstellation geprägt wird. Gott, fraglos der Schöpfer der Welt, ist in seinem Wollen und Wirken undeutlich geworden. Es besteht der Verdacht, dass er gerade diese Undurchschaubarkeit will. Weisheit aber lebt von der kognitiven Zugänglichkeit Gottes und von den in der Welt zu findenden Erkenntniswegen zu ihm. Beides ist im Buch Kohelet nicht mehr erkennbar. Der für die Weisheit konstitutive Zusammenhang von Suchen und Finden ist zerbrochen (Koh 3,6.10-15). Gottes Ewigkeit umfängt nicht mehr des Menschen Zeit. Vielmehr erleidet dieser die Ewigkeit der Welt als Schauplatz der ewigen Wiederkehr des undurchschaubar Gleichen (Koh 1,4.10) und die ambivalente Gabe der Ewigkeit im Herzen (Koh 3,11). Sie macht dem Menschen schmerzlich bewusst, dass er in Gottes Werk und Wirken keinen Einblick bekommt, aber die ihm eingestiftete ständige Suche nach Einsicht nicht aufgeben kann. Der im Blick auf Gott und Welt erkenntnislose Lebensweg führt zum „Haus der Ewigkeit", dem Grab (Koh 12,5). Finden und Nichtwissen-Können gehören zusammen (Koh 11,1-6). Das will verstanden und ertragen sein. Erkenntnisfreude kennt Kohelet nicht mehr, auch keine das Leben tragende und gestaltende Gottesfurcht (Koh 3,14; 8,12-14), wohl aber Freude als Gabe Gottes, eine zufallende Erfahrung des Guten in aller Mühsal (Koh 3,13), die kraftvoll ergriffen und auf dem Weg zum Tode genossen sein will (Koh 9,7-10). Die Welt ist nicht mehr der Ort der 18

V g l . FELDMEIER/SPIECKERMANN 2 0 1 1 :

168-175.

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Weisheit, sondern der Nichtigkeit. Diese gibt im ganzen Buch den Ton an (Koh 1,2); sie ist es, die die Weisheit, zum „Wertevergleich" mit der Torheit nötigt (Koh 1,16-18; 2,12-17), eine Erkundung, die kein Weiser des Proverbienbuches unternommen hätte. Die Krisis der Weisheit bei Kohelet ist eine andere als bei Hiob. Ist es bei Hiob die paradigmatisch existentielle Krisis der Weisheit, ist es bei Kohelet die paradigmatisch transzendentale Krisis. Beide begleiten die affirmative Weisheit im Alten Testament. Werden auf Hiob implizit eher Antworten im Psalter versucht, ist Kohelet als spezifisch weisheitliche Herausforderung verstanden und implizit in den Schriften des Jesus Sirach und der Sapientia Salomonis zurückgewiesen worden.

7. Das Buch des Jesus Sirach Das Buch des Jesus Sirach ist wie Kohelet in hebräischer Sprache verfasst. Jesus Sirach verfolgt im 2. Jahrhundert v. Chr. freilich einen anderen Zweck. Das Buch ist in hellenistischer Zeit ein bewusstes Zeugnis hebräisch-jüdischer Weisheit. Man kann es geradezu eine Summe jüdischer Theologie nennen. Die offenkundige Sympathie, die Jesus Sirach dem söper „Schriftgelehrten" in seiner Darstellung zuteil werden lässt (Sir 38,24-39,11), und die Übereinstimmung dieser Charakterisierung mit seinem eigenen Werk legen es nahe, dass er sich selber als solcher verstanden hat und dass er allein dem schriftgelehrten Weisen zutraut, die jüdische Religion angemessen zu erfassen. 19 Der hebräische Jesus Sirach ist womöglich das älteste vormakkabäische Dokument für die bewusste Verbindung der jüdischen Religion mit den autoritativen Schriften in der schon erkennbaren Dreiteilung nach Tora, Propheten und Weisheit (Sir 38,34-39,3), freilich noch ohne die begriffliche Trias „Gesetz, Propheten und die anderen Schriften der Väter", von der der Enkel ein halbes Jahrhundert später Gebrauch macht (Prolog des Enkels 8-10). Es ist bemerkenswert, dass diesem Buch außer seiner Bedeutung für die Profilierung hebräisch-jüdischer Religion dieselbe Funktion auch für das hellenistische Judentum zugewachsen ist, und zwar ganz im Sinne der authentischen Bewahrung der hebräischen Tradition durch das hellenistische Judentum. Dafür war das längst in Angriff genommene Unternehmen der Übersetzung der seinerzeit autoritativen Schriften des Judentums ins Griechische, die Septuaginta, die unentbehrliche Voraussetzng gewesen. 20 In ihrem Gefolge hat der Enkel des Jesus Sirach die vom Großvater realisierte " Z u m Bild des Schriftgelehrten bei Jesus Sirach vgl. STADELMANN 1980; MARBÖCK 1 9 9 5 : 2 5 - 5 1 ; REITEMEYER 2 0 0 0 : 2 6 6 - 3 4 5 ; JÄGER 2 0 0 4 : 3 0 5 - 3 1 7 . 20

V g l . HANHART 1 9 9 9 :

67-79.110-133.151-193.

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Gesamtschau der jüdischen Religion als Markstein theologischer Selbstvergewisserung erkannt (Prolog des Enkels 1-14) und diese durch seine Übersetzung auch dem griechischsprachigen Judentum, längst die Mehrheit in seiner Zeit, zugänglich gemacht. Der Enkel hat mit seiner Übersetzung gewiss auch die Absicht verfolgt, diese Summe der jüdischen Religion als Argumentationspotential gegen Kohelet, gegen die blühende Apokalyptik und nicht zuletzt gegen die Hellenisierung des Judentums denen verfügbar zu machen, die die Religion der Väter auch in der hellenistischen Welt zu bewahren suchten. Die Fülle der Themen lässt bei Jesus Sirach wie beim Proverbienbuch den Eindruck mangelnder Durchschaubarkeit aufkommen. Weniger kompliziert als beim Proverbienbuch hat auch das Sirachbuch eine Entstehungsgeschichte hinter sich, die noch genauerer Erforschung harrt. Bei Jesus Sirach ist die Zunahme der Redeformen auffällig. Unter ihnen verdienen die Gebete besondere Beachtung: Sir 15,9 f.; 16,16; 17,10.25-29; 18,28; 23,1-6; 36,1-17; 38,9.14.34; 39,5 f.12-35; 4 2 , 1 5 ^ 3 , 3 3 ; 44-50 zusammen mit 51,1-12 und das Selbstlob der Weisheit in 24,1-22. Vor allem das Gotteslob prägt das Profil dieser Weisheitsschrift entscheidend, freilich in eigenen Formen, die weisheitliche Reflexion und hymnische Diktion miteinander verbinden. Hier geschieht umfassend, was bisher nicht geschehen ist. Eine Weisheitsschrift macht von den Redeformen des Psalters eigenständigen Gebrauch. 21 Bei Jesus Sirach finden Lebenskunst und Gotteslob zusammen. Dieses Zusammenkommen ist nicht allein der Tatsache geschuldet, dass man bei Jesus Sirach die wachsende Dreiteilung der autoritativen Schriften verfolgen kann, in deren Gefolge auch die Psalmen immer größere Bedeutung gewinnen. Bei Jesus Sirach sind es jedoch noch nicht die Psalmen, die für die „anderen Schriften der Väter" stehen. Der schriftgelehrte Weise führt lieber Weisheitstexte wie Sentenzen und Gleichnisse für den dritten Teil der autoritativen Schriften an (Sir 39,2 f.). Doch ist es für die Schrift des Siraciden geradezu typisch, dass er die Grenze zwischen Weisheit und Gebet verwischt, weil er die autoritativen Korpora der Weisheit und der Psalmen bereits in enger Nachbarschaft vorfindet und diese Nähe durch sein eigenes Werk noch einmal deutlich unterstreichen will. Der intensive Gebrauch der hymnischen Diktion hat bei Jesus Sirach theologische Notwendigkeit, weil er seine Summe jüdischer Theologie nicht ohne die Kenntnis der Schöpfungs- und Geschichtspsalmen hätte realisieren können. Hier hat er gelernt, Schöpfung als Weltdeutung und die Geschichte seines Volkes als Paradigma göttlichen Handelns in der Welt zusammenzufuhren. Er selbst leistet den Schritt, diesen universalen Horizont auf die Unterweisung in der individuellen Lebenskunst zu beziehen. Es geschieht 21

Vgl.

REITEMEYER

2000.

Lebenskunst

und

Gotteslob

17

unter der umfassenden Vorstellung der Gottesfurcht, die als cantus firmus das ganze Buch durchzieht (Sir 1 f.; 6,36; 10,19-24; 15,1; 16,1 f.; 19,1820.24; 21,6.11; 23,27; 25,12; 33,1; 37,12). Gottesfurcht ist Liebe (Sir 7,29 f.; 34,14-19) zu dem weisen Gott, der seiner Weisheit in ZionJerusalem eine Heimstatt gegeben hat. Von diesem Zentrum der Welt aus vermittelt die Weisheit allen, die es wissen wollen, die Kunde vom jüdischen Gott, Urheber und Erhalter der guten Schöpfung sowie Ursprung und Ziel der Lebenskunst (Sir 24; 39,12-35; 42,15-43,33). 22 Das Judentum weiß mehr über ihn als die Welt. Natürlich ist es niemandem untersagt, an der Weisheit der jüdischen Schriften und Schriftgelehrten zu partizipieren und in einem Lehrhaus (yesibä, Sir 51,29) die wahre Lebenskunst zu lernen. Obwohl Gottes Erbarmen der ganzen Schöpfung sichtbar ist (Sir 16,16), lädt Jesus Sirach die Welt nicht ein, sondern allein die eigenen Glaubensgenossen, soweit sie der hebräischen Sprache kundig sind. 23 Sie sollen um Grundlage und Grundsätze der eigenen Religion wissen und dadurch Gewissheit erlangen, dass Gottesfurcht, Halten der Gebote und Gebet das unerschütterliche Fundament des Judentums sind, auf dem nur die stehen, die dies ins Zentrum ihres Lebens stellen. Damit gehört die hymnische Affirmation der Evidenz von Gottes Handeln in der Schöpfung und an Israel, welche von Sir 42,15 an den ganzen letzten Teil des Werkes klimaktisch beherrscht, aufs engste zusammen. Israel und Welt gewinnen ihre Nähe nicht aus reflektierter Welterfahrung, sondern aus dem Zeugnis der autoritativen Schriften. Unter ihnen hat Jesus Sirach im Lehrhaus besonders intensiv die Psalmen studiert und stimmt mit ihrer hymnischen Gewissheit der Zusammengehörigkeit von Welt und Israel überein. Zugleich weiß er aus den autoritativen Schriften, was gegen die platonische Distanzierung von Gott und Schöpfung, gegen Kohelets Undurchschaubarkeit Gottes und gegen die apokalyptische Erwartung der Herrschaft Gottes vor allem jenseits dieser Welt zu sagen ist. Es ist das Verdienst des Enkels, dass er diese Selbstvergewisserung des hebräischen Judentums mit großem Erfolg auch in das hellenistische Judentum getragen hat. Die Weisheit ge-

22

Diese Stellenangaben sollen nur auf die elementare theologische Architektur des Buches hinweisen. Viele weitere Texte sind dafür von Bedeutung, vor allem das Väterlob in Sir 4 4 - 5 0 . Es ist aufschlussreich, dass in Sir 24,23 die Weisheit mit dem „Buch des Bundes des höchsten Gottes", nämlich dem durch Mose auferlegten „Gesetz" identifiziert wird. Die göttliche Urheberschaft unterstreicht die Bedeutung der Tora, doch ihre Charakterisierung im Kontext ist ganz und gar weisheitlich. Zur Tora kommt in Sir 24,32 f. die begriffliche Trias Bildung (naiSeia), Lehre (öiöaaKaXia) und Prophezeiung (7tpoaeßf|