Der elohistische Psalter: Untersuchungen zu Komposition und Theologie von Ps 42-83 3161483561, 9783161578489, 9783161483561

Claudia Süssenbach beschäftigt sich mit der Komposition und Theologie des sogenannten elohistischen Psalters (Ps 42-83).

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung
1.1 Der gattungsgeschichtliche Ansatz und seine Problematik
1.2 Die Frage nach Kompositions- und Sammlungsprozessen innerhalb des Psalters
1.2.1 Forschungserträge im englischsprachigen Raum
a) Gerald H. Wilson
b) Michael D. Goulder
c) Weitere Ansätze
d) Kritische Stimmen
1.2.2 Forschungserträge im deutschsprachigen Raum
1.2.2.1 Der redaktionskritisch orientierte Ansatz
a) Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger
b) Christoph Rösel
1.2.2.2 Der formkritisch orientierte Ansatz
a) Claus Westermann
b) Matthias Millard
1.2.3 Ergebnisse
2. Methodische Konsequenzen und Vorüberlegungen
2.1 Zum Verhältnis von synchroner und diachroner Fragestellung
2.2 Zum Begriff der „Komposition“
2.3 Zum Phänomen der Stichwortverbindungen
2.4 Zur Funktion und Wirkung von Psalmenverkettungen
3. Fragestellung, Vorgehensweise und Gliederung der Arbeit
II. Strukturelle Hinweise zum Wachstum des Psalters
1. Die Schlussnotiz Ps 72,20
2. Der Gebrauch der Gottesnamen
3. Die Überschriften
4. Die Doppelüberlieferungen
5. Der elohistische Psalter als ursprünglich eigenständige Komposition
III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen
1. David als Beter und Dichter der Psalmen
1.1 Die Überschriftennotiz לדוד
1.2 Die biographischen Überschriften
2. Prolog: Ps 50–51
2.1 Psalm 50
2.2 Psalm 50 als Knotenpunkt des elohistischen Psalters
2.3 Psalm 51
2.4 Psalm 51 in seinem Kontext
3. Verrat und Verfolgung: Ps 52–55
3.1 Psalm 52
3.2 Psalm 53
3.3 Psalm 54
3.4 Psalm 55
3.5 Zusammenfassung: Entstehung und theologisches Profil der Psalmengruppe Ps 52–55
3.6 Die in Ps 52–55 erzählte David-Geschichte
4. Die Frage nach dem Wort Gottes: Ps 56–60
4.1 Psalm 56
4.2 Psalm 57
4.3 Psalm 58
4.4 Psalm 59
4.5 Psalm 60
4.5.1 Psalm 60 und seine Interpretationen
a) Jesaja 63,1–6
b) Psalm 108
c) Die biographische Überschrift von Psalm 60
4.6 Zusammenfassung: Entstehung und theologisches Profil der Psalmengruppe Ps 56–60
4.6.1 Zuflucht bei Gott: Ps 57 und 59
4.6.2 Zuflucht bei Gott – im Vertrauen auf sein Wort: Ps 56; 57 und 59
4.6.3 Zuflucht bei Gott – im Vertrauen auf sein Wort? Die Infragestellung von Ps 60
4.6.4 Der aufgefangene Schrei nach Recht und Gerechtigkeit: Ps 58
5. Zuflucht bei Gott: Ps 61–64
5.1 Psalm 61
5.2 Psalm 62
5.3 Psalm 63
5.4 Psalm 64
5.5 Zusammenfassung: Entstehung und theologisches Profil der Psalmengruppe Ps 61–64
6. Der Lobpreis der Königsherrschaft Gottes: Ps 65–68
6.1 Psalm 65
6.2 Psalm 66
6.3 Psalm 67
6.4 Psalm 68
6.5 Zusammenfassung: Entstehung und theologisches Profil der Psalmengruppe Ps 65–68
6.6 Der übergreifende Zusammenhang von Ps (61) 62–68
7. Der leidende Gerechte: Ps 69–71
7.1 Psalm 69
7.2 Psalm 70
7.3 Psalm 71
7.4 Zusammenfassung: Entstehung und theologisches Profil der Psalmengruppe Ps 69–71
7.4.1 Die Verbindungslinien zwischen Ps 69; 70 und 71
7.4.2 Die Verbindungslinien zwischen Ps 69–71 und Ps 35–41
a) Ps 70 und Ps 40,14–18
b) Ps 69 und Ps 40A
c) Ps 70/71 und Ps 35
d) Ps 70/71 und Ps 38
e) Weitere Berührungspunkte
7.4.3 Ps 69–71 als Brücke zum ersten Davidpsalter
8. Die messianische Hoffnungsvision: Ps 72
8.1 Psalm 72
8.2 Psalm 72 im Kontext seiner Nachbarpsalmen
9. Zusammenfassung: Die Komposition der zweiten Davidpsalmengruppe
9.1 Entstehung und Wachstum der zweiten Davidpsalmengruppe
9.2 Der Spannungsbogen von Ps (50) 51–72
IV. Die Gruppe der Asafpsalmen
1. Themen und Motive
1.1 Chaoskampf und Schöpfung
1.2 Heilsgeschichte
a) Auszug
b) Wüstenwanderung
c) Bund
d) Landnahme
e) Zion und David
1.3 Gericht
a) Gericht über Israel
b) Gericht über die Frevler
1.4 Vertrauen
1.5 Der Gottesname
2. Die Komposition der Asafpsalmengruppe
2.1 Der Spannungsbogen von Ps 73–83
2.2 Zum historischen Ort der Komposition
3. Zur Position von Ps 50
V. Die Gruppe der Korachpsalmen
1. Themen und Motive
1.1 Zion
a) Der Gottesberg
b) Die Gottesstadt
c) Der Tempel
1.2 Das Königtum Gottes
1.3 Gott als Zuflucht
1.4 Die Chaosmächte
1.5 Die Völker
a) Die Völker als Feinde
b) Die Völker als Verehrer Gottes
1.6 Der Gottesname
2. Die Komposition der ersten Korachpsalmengruppe
2.1 Der Spannungsbogen von Ps 42–49
2.2 Zum historischen Ort der Komposition
3. Ps 84–85.87–88: Ein Anhang zum elohistischen Psalter
VI. Zusammenfassung und Ausblick
1. Zusammenfassung: Die Komposition des elohistischen Psalters
2. Ausblick: Die Komposition des Psalters
Literaturverzeichnis
Register
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Namenregister
Sachregister
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Der elohistische Psalter: Untersuchungen zu Komposition und Theologie von Ps 42-83
 3161483561, 9783161578489, 9783161483561

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Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe Herausgegeben von Bernd Janowski (Tübingen) • Mark S. Smith (New York) Hermann Spieckermann (Göttingen)

7

Claudia Süssenbach

Der elohistische Psalter Untersuchungen zu Komposition und Theologie von Ps 42-83

Mohr Siebeck

geboren 1 9 7 0 ; Studium der evangelischen Theologie in Bielefeld (Bethel), Münster und Hamburg; 2 0 0 2 Promotion in Göttingen; Pastorin der Nordelbischen EvangelischLutherischen Kirche. C L A U D I A SÜSSENBACH,

ISBN 3-16-148356-1 978-3-16-157848-9 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISSN 1611 -4914 (Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2005 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Druckpartner Rübelmann GmbH in Hemsbach auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Schaumann in Darmstadt gebunden.

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Oktober 2002 an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommen. Die nach Abschluss der Arbeit erschienene Literatur konnte aufgrund anderer Verpflichtungen leider nur noch in Ausnahmen berücksichtigt werden. Die Studie ist das Ergebnis einer langjährigen Beschäftigimg mit der wunderbaren Welt der Psalmen, zu der ich vor allem durch meinen Doktorvater Prof. Dr. Hermann Spieckermann angeregt wurde. Ihm gebührt vor allen anderen mein Dank, denn ohne ihn wäre diese Arbeit niemals entstanden. Das Wachsen des Manuskripts und manche Selbstzweifel hat er mit seiner Freundlichkeit und seinem Humor sowie mit viel TDn und nDN begleitet. Ihm gilt zusammen mit Prof. Dr. Bernd Janowski und dem Verlag Mohr Siebeck auch mein Dank für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Forschungen zum Alten Testament. Danken möchte ich an dieser Stelle auch Prof. Dr. Reinhard G. Kratz für die Übernahme des Zweitgutachtens. Ein solch umfangreiches Promotionsprojekt ist ohne finanzielle Unterstützung kaum durchzuführen. Gewährt wurde mir diese Unterstützung durch ein Graduiertenstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung, für das ich mich an dieser Stelle ebenfalls herzlich bedanken möchte. Mein Dank gilt weiterhin Pastor i.R. Jürgen Stäcker, der die Mühe des Korrekturlesens mit der ihm eigenen Umsicht und Sorgfalt auf sich genommen hat. Last but not least möchte ich meiner Familie für ihre langjährige Begleitung danken. Meinen Eltern und Schwiegereltern für ihre Anteilnahme und treue Babysitter-Dienste, meinem Mann Dirk für seine Kochkünste, die unsere Familie haben überleben lassen, und meiner Tochter Mirjam für ihre unerschütterliche Fröhlichkeit. Ihr ist diese Arbeit gewidmet. Sterley, Ostern 2005

Claudia Süssenbach

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung

1

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung 1.1 Der gattungsgeschichtliche Ansatz und seine Problematik 1.2 Die Frage nach Kompositions- und Sammlungsprozessen innerhalb des Psalters 1.2.1 Forschungserträge im englischsprachigen Raum

1 2

a) Gerald H. Wilson b) Michael D. Goulder c) Weitere Ansätze d) Kritische Stimmen

7 8 8 9 12 15

1.2.2 Forschungserträge im deutschsprachigen Raum

16

1.2.2.1 Der redaktionskritisch orientierte Ansatz a) Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger b) Christoph Rösel 1.2.2.2 Der formkritisch orientierte Ansatz a) Claus Westermann b) Matthias Miliard

17 17 29 32 32 33

1.2.3 Ergebnisse

37

2. Methodische Konsequenzen und Vorüberlegungen 2.1 Zum Verhältnis von synchroner und diachroner Fragestellung 2.2 Zum Begriff der „Komposition" 2.3 Zum Phänomen der Stichwortverbindungen 2.4 Zur Funktion und Wirkung von Psalmenverkettungen

38 39 40 42 43

3. Fragestellung, Vorgehensweise und Gliederung der Arbeit

46

II. Strukturelle Hinweise zum Wachstum des Psalters

48

1. Die Schlussnotiz Ps 72,20

49

2. Der Gebrauch der Gottesnamen

50

3. Die Überschriften

58

4. Die Doppelüberlieferungen

63

5. Der elohistische Psalter als ursprünglich eigenständige Komposition.... 64

VIII

Inhaltsverzeichnis

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

66

1. David als Beter und Dichter der Psalmen 1.1 Die Überschriftennotiz TIY? 1.2 Die biographischen Überschriften

66 66 69

2. Prolog: Ps 50-51 2.1 Psalm 50 2.2 Psalm 50 als Knotenpunkt des elohistischen Psalters 2.3 Psalm 51 2.4 Psalm 51 in seinem Kontext

75 75 85 87 97

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52-55 3.1 Psalm 52 3.2 Psalm 53 3.3 Psalm 54 3.4 Psalm 55 3.5 Zusammenfassung: Entstehung und theologisches Profil der Psalmengruppe Ps 52-55 3.6 Die in Ps 52-55 erzählte David-Geschichte

99 99 104 112 115

4. Die Frage nach dem Wort Gottes: Ps 56-60 4.1 Psalm 56 4.2 Psalm 57 4.3 Psalm 58 4.4 Psalm 59 4.5 Psalm 60 4.5.1 Psalm 60 und seine Interpretationen

130 130 138 144 148 155 162

a) Jesaja 63,1-6 b) Psalm 108 c) Die biographische Überschrift von Psalm 60

4.6 Zusammenfassung: Entstehung und theologisches Profil der Psalmengruppe Ps 56-60 4.6.1 Zuflucht bei Gott: Ps 57 und 59 4.6.2 Zuflucht bei Gott - im Vertrauen auf sein Wort: Ps 56; 57 und 59 4.6.3 Zuflucht bei Gott - im Vertrauen auf sein Wort? Die Infragestellung von Ps 60 4.6.4 Der aufgefangene Schrei nach Recht und Gerechtigkeit: Ps 58 5. Zuflucht bei Gott: Ps 61-64 5.1 Psalm 61 5.2 Psalm 62 5.3 Psalm 63 5.4 Psalm 64

127 128

162 163 164

165 165 166 168 169 172 172 176 182 189

Inhaltsverzeichnis

5.5 Zusammenfassung: Entstehung und theologisches Profil der Psalmengruppe Ps 61-64

IX

194

6. Der Lobpreis der Königsherrschaft Gottes: Ps 65-68 6.1 Psalm 65 6.2 Psalm 66 6.3 Psalm 67 6.4 Psalm 68 6.5 Zusammenfassung: Entstehung und theologisches Profil der Psalmengruppe Ps 65-68 6.6 Der übergreifende Zusammenhang von Ps (61) 62-68

199 199 208 216 222

7. Der leidende Gerechte: Ps 69-71 7.1 Psalm 69 7.2 Psalm 70 7.3 Psalm 71 7.4 Zusammenfassung: Entstehung und theologisches Profil der Psalmengruppe Ps 69-71 7.4.1 Die Verbindungslinien zwischen Ps 69; 70 und 71 7.4.2 Die Verbindungslinien zwischen Ps 69-71 und Ps 35-41

243 244 256 258

a) Ps 70 und Ps 40,14-18 b) Ps 69 und Ps 40A c)Ps 70/71 und Ps 35 d)Ps 70/71 undPs38 e) Weitere Berührungspunkte

7.4.3 Ps 69-71 als Brücke zum ersten Davidpsalter

238 242

267 267 268 269 270

271 272 272

273

8. Die messianische Hoffiiungsvision: Ps 72 8.1 Psalm 72 8.2 Psalm 72 im Kontext seiner Nachbarpsalmen

277 277 286

9. Zusammenfassung: Die Komposition der zweiten Davidpsalmengruppe 9.1 Entstehung und Wachstum der zweiten Davidpsalmengruppe 9.2 Der Spannungsbogen von Ps (50) 51-72

290 290 295

IV. Die Gruppe der Asafpsalmen 1. Themen und Motive 1.1 Chaoskampf und Schöpfung 1.2 Heilsgeschichte

299 301 301 302

a) Auszug b) Wüstenwanderung c) Bund d) Landnahme e) Zion und David

303 304 306 308 309

X

Inhaltsverzeichnis

1.3 Gericht a) Gericht über Israel b) Gericht über die Frevler

1.4 Vertrauen 1.5 Der Gottesname

314 316 317

319 321

2. Die Komposition der Asafpsalmengruppe 2.1 Der Spannungsbogen von Ps 73-83 2.2 Zum historischen Ort der Komposition

325 325 338

3. Zur Position von Ps 50

343

V. Die Gruppe der Korachpsalmen 1. Themen und Motive l.lZion a) Der Gottesberg b) Die Gottesstadt c) Der Tempel

1.2 Das Königtum Gottes 1.3 Gott als Zuflucht 1.4 Die Chaosmächte 1.5 Die Völker a) Die Völker als Feinde b) Die Völker als Verehrer Gottes

1.6 Der Gottesname

345 346 346 346 347 349

350 352 353 355 355 357

359

2. Die Komposition der ersten Korachpsalmengruppe 2.1 Der Spannungsbogen von Ps 42-49 2.2 Zum historischen Ort der Komposition

361 361 373

3. Ps 84-85.87-88: Ein Anhang zum elohistischen Psalter

376

VI. Zusammenfassung und Ausblick

381

1. Zusammenfassung: Die Komposition des elohistischen Psalters ..381 2. Ausblick: Die Komposition des Psalters 384 Literaturverzeichnis

395

Register Stellenregister Namenregister Sachregister

406 406 413 414

Kapitel I

Einleitung 1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung „Das gattungsgeschichtliche Verständnis der Psalmen ist heute nahezu ohne Alternative."1 Mit diesen Worten eröffnet P.H.A. Neumann die 1976 von ihm herausgegebene Forschungsdokumentation. Und in ähnlicher Weise erklärt J. Becker in seinem bereits 1975 veröffentlichten Forschungsüberblick: „Wir beginnen mit der formgeschichtlichen Methode, weil sie als Basismethode der Psalmenexegese zu gelten hat."2 In diesen beiden kurzen Zitaten spiegelt sich die prägende und alles bestimmende Bedeutung, die die von Hermann Gunkel begründete und von Sigmund Mowinckel modifizierte Gattungsforschung innerhalb der Psalmenexegese des 20. Jahrhunderts erlangt hat. In der Tat überwand Gunkel mit seiner Frage nach der immer wiederkehrenden Verwendung der Psalmen, dem „Sitz im Leben", die Aporien der bis dahin dominierenden historisch interessierten Auslegung, die sich um die kaum lösbare Aufgabe bemühte, die Psalmen auf bestimmte Personen und Begebenheiten hin zu deuten.3 Die Suche nach dem gemeinsamen „Sitz im Leben" mündete in die Klassifizierung der Einzelpsalmen in verschiedene Gattungen. Wurde nach Verbindungen zwischen den einzelnen Texten gefragt, so in erster Linie mit dem Ziel, den gemeinsamen „Sitz im Leben" von Psalmen derselben Gattung zu rekonstruieren. So war es zwar durchaus das Ziel Gunkels, den Zusammenhang, der zwischen den einzelnen Psalmen besteht, aufzuzeigen: „Nun ist es aber ein unverbrüchlicher Grundsatz der Wissenschaft, daß nichts ohne seinen Zusammenhang verstanden werden kann. Es wird demnach die eigentliche Aufgabe der Psalmenforschung sein, die Verbindung zwischen den einzelnen Liedern wieder aufzufinden, die von der Überlieferung nicht oder nur zu einem gewissen Teil geboten werden."4

Er war jedoch der Auffassung, dass dieser Zusammenhang bei der vorliegenden Anordnung im Psalter weitgehend verloren gegangen ist, und verfolgte 1

P.H.A. NEUMANN, Zur neueren Psalmenforschung, Darmstadt 1976, 2. J. BECKER, Wege der Psalmenexegese (SBS 78), Stuttgart 1975, 12. 3 Vgl. u.a. B. DUHM, Psalmen, KHAT 14, Tübingen 19222, XX. 4 H. GUNKEL / J. BEGRICH, Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels, (1933=) Göttingen 19854. 2

2

1. Einleitung

somit das Ziel, die Psalmen wieder nach Gattungen zu reorganisieren. Dieses Programm führte dazu, dass einige Kommentare die Psalmen nicht nach der biblischen Reihenfolge auslegten, sondern nach formgeschichtlich eingeteilten Gruppen.5 An die Seite des gattungsgeschichtlichen Ansatzes traten in den sechziger, verstärkt in den achtziger und neunziger Jahren des zurückliegenden Jahrhunderts andere Methoden und Zugänge. So werden zum einen Vorgehensweisen aus dem Bereich der Literaturwissenschaft für die Psalmenexegese fruchtbar gemacht und erprobt. Zum anderen tritt die von der Gattungsforschung vernachlässigte Frage nach den Sinnanreicherungen, die der Einzelpsalm durch seinen Kontext erfährt, und in Verbindung damit nach den diesen Zusammenstellungen zugrunde liegenden Redaktionsprozessen zunehmend ins Blickfeld des exegetischen Interesses. Sowohl der gattungsgeschichtliche Ansatz und seine spezifische Problematik als auch die angedeutete Neuorientierung sollen im Folgenden dargestellt werden. 1.1 Der gattungsgeschichtliche Ansatz und seine Problematik

Die fundamentale, nach wie vor gültige Einsicht Gunkels gegenüber seinen Vorgängern dürfte darin bestehen, dass es sich bei den Psalmen um Gebrauchstexte handelt, die nicht die Erfahrungen konkreter Einzelpersonen, sondern die kollektive Lebenswirklichkeit Israels widerspiegeln und somit für eine beständige Wiederverwendung geschaffen sind. Um diese Texte zu verstehen, ist es notwendig, danach zu fragen, bei welchen Gelegenheiten sie gesungen wurden („Sitz im Leben"). Diese Frage beantwortet Gunkel zunächst sehr allgemein dahingehend, dass die Psalmen in den Gottesdienst im weitesten Sinne gehören: „Die literarischen Erzeugnisse urwüchsiger Zeiten und Kreise unterscheiden sich von denen entwickelter Völker dadurch, daß sie nicht wie diese fast allein auf dem Papier denkbar sind, sondern dem wirklichen Leben der Menschen entstammen und in ihm ihren Sitz haben: da singen die Frauen, dem heimkehrenden, siegreichen Heer entgegenziehend, das triumphierende Siegeslied; da wird über der Bahre des Entschlafenen, etwa von der zünftigen Leichensängerin, das erschütternde Leichenlied angestimmt; oder der Prophet läßt seine Donnerstimme vor der versammelten Gemeinde, vielleicht im Vorhof des Heiligtums erschallen. Man sieht an solchen Beispielen, [...] daß die Gattungen eines urtümlichen Schrifttums nach den verschiedenen Gelegenheiten des Lebens unterschieden werden müssen, aus denen sie hervorgegangen sind."6

5

So z.B. die Kommentare von W. STAERK, Lyrik. Psalmen, Hoheslied und Verwandtes,

SAT 3/1, Göttingen 19202; E. KÖNIG, Die Psalmen, Gütersloh 1927; R. ABRAMOWSKI, Das

Buch des betenden Volkes (BAT), Stuttgart 1938-39. 6

H . GUNKEL / J. BEGRICH, Einleitung, 10.

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

3

Um eine Ordnung in das Dickicht der vielfältigen Einzeltexte zu bringen, fasst Gunkel diejenigen Psalmen mit einem gemeinsamen „Sitz im Leben", mit einer gemeinsamen Formensprache und mit gemeinsamen Gedanken und Stimmungen zu „Gattungen" zusammen. Diese bilden den Rahmen, in dem der Einzelpsalm als Vertreter seiner Gattung ausgelegt wird. Hinsichtlich seiner Thesen zum „Sitz im Leben" der Psalmen sieht sich Gunkel jedoch zu einer Einschränkung bzw. Präzisierung gezwungen. Die Verortung der Psalmen im gottesdienstlichen Geschehen setzt eine uneingeschränkte Akzeptanz des Kultes voraus. Es ist jedoch kaum zu übersehen, dass einige Psalmen an dieser Stelle eine eindeutig kritische Haltung einnehmen. Nach Auffassung Gunkels treten die Psalmisten hier das Erbe der Prophetie an: „Die bedeutsamste Wirkung der Propheten [...] ist diese gewesen, daß die Psalmisten von ihren erhabenen Vorbildern gelernt haben, den äußeren Gottesdienst gering zu schätzen."7

Infolge dieses Erbes haben sich die ursprünglich aufs engste mit dem Kult verbundenen Psalmen von eben diesem gelöst und sind unabhängig von jeder äußerlichen gottesdienstlichen Handlung zur „geistlichen Dichtung" geworden. Mit diesem Vorgang ging allerdings auch eine Auflösung der Gattungen einher: „Sobald aber die Lösung der Gattung vom Boden des Kultus vollzogen ist, kann zwar die Macht des geprägten Stils im Verein mit der lebendigen Vergegenwärtigung der Feier, von der sie ausgegangen ist, noch eine Zeit lang die Einheit der Gattung erhalten. Allmählich aber wird sie verfallen und sich damit Formen und Stoffen öffnen, deren Einmischung in der Zeit des strengen Stils unmöglich gewesen wäre."8

An diesem Punkt trennen sich die Wege Gunkels und seines bedeutendsten Schülers Sigmund Mowinckel. Anders als sein Lehrer verortet dieser nicht nur die Psalmengattungen im Kult, sondern auch die überlieferten Einzeltexte. In diesem Zusammenhang rekonstruiert er ein „Thronbesteigungsfest Jahwäs"9, das den „Sitz im Leben" für viele Psalmen bildet. In der Weiterfuhrung der Ansätze von Gunkel und Mowinckel kam es in den folgenden Jahrzehnten gerade hinsichtlich des „Sitzes im Leben" zu zahlreichen Differenzierungen. Neben dem Thronbesteigungsfest wurde eine Vielzahl von weiteren Festen (re-)konstruiert. Eine zunehmende Differenzierung fand auch in Bezug auf die einzelnen Gattungen statt. So entstanden Gattungen wie „Krankenpsalm", „Gebet des unschuldig Angeklagten", „Asylpsalm", „Bußpsalm", „Zionspsalm", „Geschichtspsalm", „Schöpfungspsalm", „Torahpsalm", „imperativischer Hymnus", „partizipialer Hymnus", um nur 7

A.a.O., 29f. A.a.O., 398. 9 Vgl. S. MOWINCKEL, Psalmenstudien II. Das Thronbesteigungsfest Jahwäs und der Ursprung der Eschatologie, SVSK.HF 1921/6, Kristiania 1922. 8

4

I. Einleitung

einige Beispiele zu nennen. Auf der anderen Seite gab es jedoch auch die von Claus Westermann initiierte Gegenbewegung, die Gattungen auf die beiden Grundmuster „Klage" und „Lob" zu reduzieren.10 Einen weiteren Weg beschreitet Hans-Joachim Kraus, der von der 1978 erschienenen 5. Auflage seines Psalmenkommentars an die Gattungsbezeichnungen Gunkels durch Bezeichnungen, die im Psalter selbst begegnen, ersetzt und dementsprechend zu den Gattungen „Loblied" (r6nn), „Gebetslied" (nban), „Königslied" ('tvxn t?»1?), „Zionslied" (p'S Ttf), Lehrdichtung und Liturgie kommt." Auf die eigentliche Kommentierung hat diese Neuorientierung jedoch wenig Einfluss ausgeübt. Der gattungs- bzw. formgeschichtliche Ansatz von Gunkel und Mowinckel stellt ohne Zweifel einen entscheidenden Beitrag zum besseren Verständnis der hundertfunfzig so verschiedenartigen Einzeltexte des masoretischen Psalters dar. Er unterliegt aber auch spezifischen Schwierigkeiten und Grenzen.12 So steht die einseitig gattungsgeschichtlich orientierte Psalmenexegese in der Gefahr, bei der Suche nach der zugrunde liegenden Gattung das individuelle sprachliche und theologische Profil des einzelnen Psalms einzuebnen bzw. zu übersehen.13 Bereits 1971 hat M. Weiss grundlegende Bedenken gegen den gattungsgeschichtlichen Ansatz formuliert, die in diesem Zusammenhang bedenkenswert sind. Gegen eine einseitige Konzentration auf Gattungsmuster, Formsprache und Stilelemente verweist Weiss auf das individuelle, eigentümliche Gepräge jeder Dichtung. Das Wesentliche bei der Sinnerfassung eines Gedichts ist nicht „das Auffinden der Genesis der Stilelemente aus der unpersönlichen Vorratskammer, sondern das Aufdecken ihrer neuen Organfunktion im persönlichen Werk [...], nicht der Hinweis auf Quellen, Parallelen, sondern allein die Berücksichtigung der Art ihrer Bearbeitung, besser: ihrer Verarbeitung im konkreten Einzelstück. Die ursprünglichen oder die überkommenen Themata, Stoffe und Motive sind nichts als Rohstoff, in den der Dichter seinen Odem bläst 10

Vgl. C. WESTERMANN, Lob und Klage in den Psalmen, Göttingen 19836. Vgl. H.J. KRAUS, Psalmen 1-59, BK XV/1, Neukirchen-Vluyn 19896, 40. 12 Zur Begrenztheit und Problematik des Ansatzes von Gunkel und Mowinckel vgl. auch den gleichnamigen Abschnitt bei E. ZENGER, Psalmenforschung nach Hermann Gunkel und Sigmund Mowinckel, in: A. Lemaire / M. Sasbe (Hrsg.), Congress Volume Oslo 1998 (VT.S 80), Leiden 2000, 399-435; sowie die Kurzfassung dieses Aufsatzes in BiKi 56 (2001), 8-15. 13 Vgl. die in seiner Formulierung der Eckdaten einer kanonischen Psalterexegese implizierte Kritik von E. ZENGER: „Der Einzelpsalm [...] muß zunächst einmal in seinem sprachlichen und theologischen Eigenprofil wahrgenommen werden. Gegenüber der einseitig form-, gattungs- und kultgeschichtlich orientierten Psalmenexegese, die stärker an der typischen Gestalt des Psalms interessiert ist, kommt es darauf an, die individuelle Gestalt des Psalms zu erfassen. Die Frage nach der bzw. den einen Psalm prägenden Gattung bzw. Gattungen und nach deren ursprünglicher institutionellen Verortung wird damit nicht suspendiert, aber sie ist nur eine Voraussetzung, um Intention, Funktion und Theologie des vorliegenden Psalmtextes zu erfassen." (Kanonische Psalmenexegese und christlich-jüdischer Dialog, in: E. Blum (Hrsg.), Mincha (FS R. Rendtorff), Neukirchen-Vluyn 2000, 246). 11

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

5

und aus dem er in seinem Ebenbild schafft, indem er das Erfundene und Vorgefundene zu seiner nun mehr unauswechselbaren Gestalt transformiert. Dabei kann freilich die Kontinuität zur Erhellung der Diskontinuität behilflich sein. Das Übernommene mag als Nebenton mittönen."14

Insbesondere die Reduzierung auf wenige Grundgattungen kann nicht mehr leisten, als die grobe inhaltliche Tendenz eines Textes anzuzeigen, und birgt damit eine Einseitigkeit in sich, die eher schadet als nützt. Um dieser Gefahr zu begegnen, wurde in der formgeschichtlichen Forschung einerseits das Spektrum der Gattungen in der oben beschriebenen Weise immer weiter ausdifferenziert, eine Sisyphusarbeit, die - wenn man sie auf die Spitze treiben und allen Texten gerecht werden will - letztlich zu einer Aufteilung der Psalmen auf hundertfunfzig verschiedene Gattungen fuhren müsste. Eine andere mögliche Reaktion besteht darin, den Text, der sich in seiner Individualität den idealtypischen Mustern der postulierten Gattung nicht recht unterordnen mag, entweder diesen Mustern gefugig zu machen oder aber eben diese Individualität abzuwerten. So werden vom Gattungsmuster abweichende Eigenheiten nicht selten als unpassende bzw. störende Glossierungen, Zersetzimg der Gattung oder als epigonale und bescheidene Kunst qualifiziert.15 Um einen Text zu erhalten, der der angenommenen Gattung wirklich entspricht, stellt z.B. Gunkel häufig einzelne Verse um (u.a. bei Ps 63; 67; 81) oder ergänzt willkürlich Verse bzw. Versteile (z.B. den Refrain in Ps 46,4). Ebenso teilt er 14 M. WEISS, Die Methode der „Total-Interpretation". Von der Notwendigkeit der Struktur-Analyse für das Verständnis der biblischen Dichtung, in: G.W. Anderson et al. (Hrsg.), Congress Volume. Uppsala 1971 (VT.S 22), Leiden 1972, 94. Vgl. in diesem Kontext auch seine grundsätzliche Kritik zum gattungsgeschichtlichen Ansatz: „Ist die Art, in der die [...] herrschende ,Form- und Gattungsgeschichte' gehandhabt wird, nicht schon dogmatisch festgelegt? Ist es nicht die Methode per se, die eine prinzipielle Erwägung fordert? Mir scheint, jedenfalls, eine radikale Revision der herkömmlichen Methode von Nöten, zunächst [...] weil ihre Grundlagen nicht klar umrissen, sondern verschwommen sind; zum anderen - weil sie das Geschaffene als Gewordenes zu begreifen und durch Rekonstruktion (oft eher: Konstruktion) seines hypothetischen, überhaupt nicht unproblematischen Werdegangs verständlich zu machen sucht, also mit nichten die literarische Schöpfung als solche in den Blick fasst; zum dritten - weil sie das einzelne, in seinem So-Sein einmalige Sinngebilde verflacht und verallgemeinert dadurch, dass sie es nur als Schachfigur auf einem vorgefundenen (nicht selten: vorerfundenen) Denkmuster, als Füllsel in einem ,historischen' oder ,typologischen' System ansieht [...]." (88). 15 Vgl. z.B. die Kommentierung von H. GUNKEL zu Ps 1: „Der Psalm ist sicherlich nur ein bescheidenes Kunstwerk: Gedanken und Ausdruck bewegen sich in ausgefahrenen Gleisen." (Die Psalmen, HK II/2, Göttingen 19264, 3); zu Ps 25: „Das Ganze ist ziemlich farblos, mehr eine fromme Kunstübung als ein persönlicher Erguß." (a.a.O., 107); oder zu Ps 63: „Der überlieferte Text macht den Eindruck der Zusammenhangslosigkeit; ,die Fügung der Glieder' erscheint oft lahm und wie ,ausgerenkt' [...]. Eine Reihe dieser Anstöße werden durch Textänderungen zu beheben sein [...]. Die Gattungsforschung, welche die gebräuchlichen Motive und Ausdrucksformen und ihr übliches Verhältnis zueinander kennen lehrt, leistet bei der Wiederherstellung wertvolle Hilfe." (a.a.O., 266).

6

I. Einleitung

Psalmen, die als Texteinheit überliefert sind, in mehrere Texte auf (u.a. Ps 19; 27), ohne der Frage nachzugehen, warum die möglicherweise ursprünglich eigenständigen Textteile zusammengefugt wurden und welche Funktion und theologische Bedeutung diese Einheit hat. Auf Grund des einseitigen Interesses an den hinter den Texten stehenden Gattungsmustern werden die im Psalter begegnenden Doppelüberlieferungen (Ps 14 // 53; Ps 40,14—18 // 70; Ps 108 // Ps 57,8-12 + 60,7-14) nicht einzeln kommentiert und somit kleine, aber bedeutsame Text- und damit Aussagedifferenzen nivelliert.16 Problematisch in der konkreten Durchfuhrung erweist sich auch die Rekonstruktion der verschiedenen kultischen „Sitze im Leben" der einzelnen Psalmengattungen. Da biblische Hinweise außerhalb des Psalters fehlen, müssen die postulierten Feste und gottesdienstlichen Abläufe aus vagen und verstreuten Andeutungen in den Psalmen selbst und unter Verweis auf altorientalische Parallelen erschlossen werden. Wenn auch die entsprechenden Überlegungen als reine Hypothesen noch durchaus akzeptabel sein mögen, so wird diese Vorgehensweise jedoch endgültig dann fragwürdig, wenn die so (re)konstruierten Feste und Rituale zum Verstehensschlüssel für die konkrete Auslegung der einzelnen Psalmen werden. Wie bereits im vorausgehenden Abschnitt angedeutet, widmet der gattungsgeschichtliche Ansatz dem Psalter als Buch und den zugrunde liegenden Sammlungsprozessen vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Dabei fällt auf, dass es z.B. in der von Gunkel / Begrich verfassten Einleitung in die Psalmen eine gewisse Diskrepanz zwischen den durchaus vorhandenen Einzelbeobachtungen und deren Auswertung gibt. So wird hier der elohistische Psalter als Vorstufe des Psalters beschrieben, die wiederum aus drei Teilsammlungen besteht. Ebenso wird auch die Zusammenordnung von kleineren Psalmengruppen durch Angaben wie „Mizmor", „Maskil" etc. in den Überschriften erkannt.17 Was jedoch die Auswertung dieser Beobachtungen angeht, üben sich die Autoren in einer bezeichnenden Zurückhaltung, die deutlich macht, wie wenig diese Fragestellungen im Mittelpunkt des Interesses stehen. Über den Versuch von F. Delitzsch, eine gedankliche Verwandtschaft sowie verbindende Stichworte zwischen nebeneinander stehenden Psalmen nachzuweisen, urteilen Gunkel / Begrich kurzerhand: „In Fällen wie den angeführten [die Abfolge von Ps 34 und 35; Ps 50 und 51 sowie Ps 55 und 56 - Erg. d. Verf.] wird man die Berechtigung und die Beweiskraft dieser Argumente nicht verkennen können. Fraglich ist nur, ob man mit dem Prinzip wirklich restlos durch den Psalter hindurchkommt. Die Gefahr der Willkür liegt nahe bei der Herausstellung einer gedanklichen 16

So heißt es z.B. zu Ps 14 kurz „vgl. Ps 53" (H. GUNKEL, Die Psalmen (HKII/2), Göttingen 19264, 47). Ebenso verweist umgekehrt H.-J. KRAUS unter Ps 53 „siehe zu Psalm 14" (Psalmen I, 554). 17

Vgl. H. GUNKEL / J. BEGRICH, Einleitung, 447ff.

I. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

1

Verwandtschaft wie beim Aufeuchen der angeblich verbindenden Stichworte. [...]. Verknüpfung durch Stichworte und Ähnlichkeiten ist daher wohl in einzelnen Fällen anzuerkennen, dem Ganzen des Psalter gegenüber aber versagt das Prinzip."18

Insgesamt kommen Gunkel / Beglich zu der ebenso resignierten wie undifferenzierten Feststellung: „Das Ergebnis, daß sich kein einheitliches Prinzip ftlr die überlieferte Aufeinanderfolge erkennen läßt, wohl aber verschiedene Gesichtspunkte bei der Zusammenstellung einzelner Psalmen nachweisbar sind (Ähnlichkeiten bestimmter Gedanken, Übereinstimmung in besonderen Stichworten, Gemeinsamkeit der Verfasser, Gleichheit der Überschriften), drängt zu dem Schlüsse, daß das Psalmbuch seinen gegenwärtigen Zustand einem verwickelten Entstehungszusammenhang verdankt, bei welchem nicht nur an Zusammenfassung verschiedener Teilsammlungen zu denken ist, sondern auch an Umstellungen, die ohne Rücksicht auf die Grenzen der alten Teilsammlungen erfolgt sind."19

Dass dieses Urteil in der Psalmenforschung jedoch nicht das letzte Wort behalten konnte, machen neuere, insbesondere in den letzten zwanzig Jahren entwickelte Ansätze und Zugänge zum Psalter deutlich, die im folgenden Abschnitt näher beleuchtet werden sollen. 1.2 Die Frage nach Kompositions- und Sammlungsprozessen innerhalb des Psalters Auf die wichtigen Anregungen und Impulse, die die neuere Psalmenforschung durch die Literaturwissenschaft erhalten hat, und die sich daraus ergebenden Erschließungswege (wie z.B. Strukturanalysen, poetologische Untersuchungen, Metaphernforschung, Rezeptionsästhetik, Rezeptionsgeschichte) kann im Rahmen dieser Arbeit nicht ausfuhrlicher eingegangen werden.20 Im Mittelpunkt dieses Abschnittes sollen vielmehr die neueren Forschungserträge21 zu der zunehmend an Bedeutung gewinnenden Frage nach der Komposition des Psalters stehen.22 Das Desinteresse des gattungsgeschichtlichen Ansatzes an dieser Fragestellung ist in neuerer Zeit einem wachsenden Interesse am Psalmenbuch als Textganzes und seiner Entstehung gewichen. Welche Ziele haben die Redaktoren des Psalters bei ihrer Tätigkeit verfolgt? Wie ist dieser Prozess vonstatten gegangen? Wer sind die Kreise, die den Psalter geschaffen haben, und für welche Adressaten war er bestimmt? Und auf der Ebene des Einzeltextes: Welche Sinnanreicherungen erhält der einzelne Psalm, wenn man ihn als Teiltext einer größeren Sammlung betrachtet? Dies sind nur eini18

A.a.O., 435. A.a.O., 436. 20 Vgl. hierzu z.B. den kurzen und instruktiven Überblick bei B. WEBER, Psalm 77 und sein Umfeld. Eine poetologische Studie, Weinheim 1995,2-29. 21 Zu früheren Ansätzen und Überlegungen zu diesem Thema vgl. u.a. den Forschungsüberblick bei K. KOENEN, Jahwe wird kommen, zu herrschen über die Erde. Ps 90-110 als Komposition (BBB 101), Weinheim 1995, 9-30. 22 Zur Definition des Begriffs „Komposition" vgl. Kap. 1.2.2 in dieser Arbeit. 19

8

I. Einleitung

ge der Fragestellungen, die für eine ganze Reihe neuerer Arbeiten leitend geworden sind und mit denen sich auch die vorliegende Arbeit beschäftigen wird. Während es im englischsprachigen Raum erste umfangreichere Antwortversuche bereits in den achtziger Jahren gab, sind die wesentlichen Ansätze in Deutschland erst rund zehn Jahre später entstanden. 1.2.1 Forschungserträge im englischsprachigen Raum a) Gerald H. Wilson Den im englischsprachigen Raum23 wichtigsten und umfassendsten Beitrag zum Verständnis der Komposition des Psalters dürfte Gerald H. Wilson geleistet haben.24 Seiner Auffassung nach ist der Psalter in seiner Endgestalt ein planvoll geordnetes Werk.25 Besondere Bedeutung misst Wilson der Einteilung des Psalters in fiinf Bücher und in Verbindung damit denjenigen Psalmen zu, die sich an den Rändern der einzelnen Bücher befinden.26 Dies gilt insbesondere für die Königs-Psalmen.27 Demnach fuhrt Ps 2 das Thema des Bundes Gottes mit David ein, in Ps 41 versichert sich der König seiner Gewissheit um die Treue Gottes, Ps 72 bezieht auch die Nachkommen Davids in den Bund mit ein und Ps 89 schließlich beklagt das Ende des Bundes. Während die ersten drei Bücher des Psalters also primär mit dem davidischen Bund und dessen Scheitern beschäftigt sind, tritt im vierten und fünften Buch an die Stelle des menschlichen Königtums die Verkündigung des weltumspannenden Königtums Gottes.28 Ps 1 bildet das Vorwort und die Einfuhrung für den Psalter als Ganzes. Hier wird der Leser mit der entsprechenden hermeneutischen Brille ausgestattet, durch die betrachtet der Psalter ebenso wie die Torah zur Offenbarung des Willens Gottes wird, die studiert und meditiert werden will.29 Dieser Einleitung steht mit den Halleluja-Psalmen 146-150 ein Schlusswort gegenüber, das eine vergleichbare Funktion hat wie die Schlussdoxologien am Ende der einzelnen Psalmenbücher.30 Insgesamt ist der Psalter von zwei Rah23 Einen Überblick über den Stand vor allem der englischsprachigen Forschung sowie eine Zusammenfassung des allgemeinen Forschungskonsenses und der umstrittenen Fragen bietet N. WHYBRAY, Reading the Psalms as a Book (JSOT.S 222), Sheffield 1996,15ff. 24 G.H. WILSON, The Editing of the Hebrew Psalter (SBL.DS 76), Chico 1985; Evidence of Editorial Divisions in the Hebrew Psalter, VT 34 (1984), 337-352; The Use of Royal Psalms at the „Seams" of the Hebrew Psalter, JSOT 35 (1986), 85-94; The Shape of the Book of Psalms, Int46 (1992), 129-142. 25

26 27 28

Vgl. G.H. WILSON, Editing, 199.

Vgl. a.a.O., 199ff, vgl. auch ders., Shape, 130f. Vgl. G.H. WILSON, Use of Royal Psalms. Vgl. G.H. WILSON, Editing, 209FF.

29

Vgl. a.a.O, 204ff.

30

Vgl. G.H. WILSON, Shape, 132f.

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

9

men geprägt, die einander überschneiden31 Der erste Rahmen („royal covenantal frame") umfasst Ps 2; 72 und 89 und wird durch Ps 144 bis in das fünfte Psalmenbuch hinein ausgedehnt. Der zweite Rahmen („wisdom frame") bezieht sich vor allem auf die beiden letzten Bücher (Ps 90 + 91; 106; 145), erfahrt jedoch insbesondere durch Ps 1 und 73 eine Erweiterung nach vorn. Da die Redaktoren bei ihrer Arbeit außer der Schlussnotiz in Ps 72,20 keine ausdrücklichen Spuren und Hinweise hinterlassen haben,32 versucht Wilson deren Vorgehensweise mit Hilfe impliziter Indizien zu ermitteln. Im ersten Teil des Psalters (Ps 1-89) werden Psalmengruppen durch die in den Überschriften enthaltenen Autoren- und Gattungsangaben zusammengebunden.33 Diese Technik findet sich im zweiten Teil (Ps 90-150) nicht, hier wird das Ende bzw. der Beginn von Gruppen durch Psalmen angezeigt, die mit einer Aufforderung zum Lob (ibbn) bzw. zum Dank ( n i n ) beginnen.34 Was das Wachstum des Psalters angeht, so kommt Wilson auf Grund seiner Auswertung der Handschriften von Qumran zu dem Ergebnis, dass die dort abweichende Reihenfolge der Psalmen im letzten Drittel des Psalters ein Indiz dafür darstellt, dass in der Zeit der Entstehung der Qumran-Handschriften nur der Bereich von Ps 1-89 bereits weitgehende Stabilität erreicht hatte, während der hintere Teil noch durchaus in Veränderung begriffen war.35 Wilson entwickelt jedoch keine weiteren Thesen zu möglichen Vorstufen des Psalters. Er unterscheidet nur zwischen verschiedenen kleinen Teilsammlungen und der Endgestalt des Psalters, insgesamt geht es ihm mehr um die Beschreibung dieser Endgestalt als um den Prozess ihrer Entstehung. b) Michael D. Goulder Die einzigen umfassenden Studien im englischsprachigen Raum zu den den Bereich des elohistischen Psalters konstituierenden Gruppen der Korach-, David- und Asafpsalmen hat Michael D. Goulder vorgelegt.36 Allerdings zeichnen sich die Arbeiten Goulders nicht nur durch ihren Umfang und die ausfuhrliche Analyse der betreffenden Einzeltexte, sondern auch durch einige im Kontext der übrigen Psalmen- und Psalterforschung eher exotisch wirkende Thesen aus. Goulders Selbstverständnis lässt sich gut an folgendem Zitat aus dem Vorwort seiner Arbeit zu den Asafpsalmen ablesen: 31

Vgl. a.a.O., 133f. Vgl. G.H. WILSON, Editing, 139. 33 Vgl. a.a.O., 155ff, dazu auch Kap. II.3. 34 Vgl. a.a.O„ 190, ders., Shape, 131. 32

35

36

V g l . G . H . WILSON, Editing, 93FF.

Vgl. M.D. GOULDER, The Psalms of the Sons of Korach (JSOT.S 20), Sheffield 1982; The Prayers of David (Psalm 51-72). Studies in the Psalter, II (JSOT.S 102), Sheffield 1990; The Psalms of Asaph and the Pentateuch. Studies in the Psalter, III (JSOT.S 233), Sheffield 1996.

10

I. Einleitung

„Karl Popper approved the proposing of,baroque' hypotheses: the more extravagant the detail, the more easily falsified, and the more helpful towards the final truth."37

In der Tat muten die Versuche Goulders, den „Sitz im Leben" der verschiedenen Psalmen und Psalmengruppen zu rekonstruieren, teilweise als extravagante Ausschweifungen einer barocken Phantasie an. Aus den vagen und fur unterschiedliche Interpretationen offenen Andeutungen der Texte werden Schlussfolgerungen gezogen, die ein Detailwissen über die kultischen Abläufe und Vollzüge im alten Israel suggerieren, das auch der modernen Bibelwissenschaft nicht zur Verfügung steht. Auch wenn der Wunsch, den garstigen Graben der Geschichte zu überspringen, sicherlich verständlich und letztlich die Triebkraft allen exegetischen Bemühens ist, stellt Goulder sich mit seinen Thesen an den Rand des wissenschaftlichen Diskurses.38 Das ist bedauerlich, da zumindest seine Einzelanalysen durchaus interessante Beobachtungen enthalten. Im Folgenden sollen die Ansätze Goulders in Kürze dargestellt werden. Seine Thesen werden in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht weiter verfolgt. In Bezug auf die Korachpsalmen geht Goulder davon aus, dass diese Psalmengruppe im Nordreich des achten Jahrhunderts für den Gebrauch während des Herbstfestes am Heiligtum in Dan von den hier beheimateten Korachitern komponiert wurde. Die beiden Korachgruppen Ps 42-49 und Ps 84-85.87-89 stellen dabei zwei unterschiedliche Versionen desselben Zyklus dar. Letztere stammen aus der Zeit der Omriden im 9. Jahrh., erstere dagegen aus der Zeit der assyrischen Invasion um 730 v. Chr. Die Erfahrung der Zerstörung vieler galiläischer Städte führte dazu, dass Ps 84-85 durch die dunkleren Ps 42-44 abgelöst wurden und dass Ps 48 an die Stelle von Ps 87 trat. Die Reihenfolge der beiden Psalmengruppen ist insofern bedeutsam, als die betreffenden Texte in eben dieser Abfolge an den einzelnen Abenden während des Herbstfestes gesungen wurden. In beiden Gruppen wird das von Goulder postulierte Fest mit einem Wallfahrtspsalm (Ps 42; 84) eröffnet. Am zweiten Tag folgt ein Tag der Klage, dem Ps 44 bzw. 85 zugeordnet ist. Die weiteren Riten des Herbstfestes und ihre Beziehung zu den Korachpsalmen rekonstruiert Goulder folgendermaßen: „On 15th Bui the king was re-consecrated, riding out in his armour, enthroned to administer divine law, married to a new wife to sire princes who will govern his empire (Ps. 45). On 16th God's victory over the waters, and over his earthly enemies, was celebrated with a great bonfire (Ps. 46). On 17th the ephod was carried in procession into the Dan temple (Ps. 47). On 18th was the celebration of God's inviolable city, Dan, with a circumambulation of the city (first with Ps. 87, later with Ps. 48). On 19th a dire warning was issued to Israel's enemies

37

M.D. GOULDER, Psalms of Asaph, 10. Dem entspricht, dass die Ansätze Goulders in der in diesem Kapitel vorgestellten neueren Literatur zur Psalterforschung entweder gar nicht (z.B. C. Rösel) oder nur am Rande (z.B. M. Miliard) aufgegriffen werden. 38

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

\1

(Ps. 49). On 20th a representative priest was beaten and led down into an underground chamber, ,cast away among the dead', there to pray in the dark and terror for God's mercy on his people (Ps. 88). Finally, on 21st there was a triumphal march past, with shouting of the nunn and Hallelujahs; God triumphed over Rahab in creation and he dominates the other gods - he will see his people to success in the coming year (Ps. 89.2-3,6-19)." 3 '

Seine Arbeit zum zweiten Davidpsalter bezeichnet Goulder selbst als „the most absorbing and most scandalous of my studies".40 Seine Untersuchung zeichnet sich dadurch aus, dass er die Entstehungszeit der betreffenden Texte im Gegensatz zum überwiegenden Teil der modernen historisch-kritischen Psalmenforschung in der Lebens- und Regierungszeit Davids vermutet. Auch wenn nicht David selbst der Verfasser der Texte ist, so doch zumindest eine Person seines näheren Umfeldes, wie z.B. ein Hofdichter, Priester oder einer seiner Söhne. In der Anordnung der Psalmen 51-72 spiegelt sich die Chronologie ihrer Entstehung bzw. eine Sequenz von Ereignissen aus dem Leben Davids. Konkret stellen Ps 51-72 eine Antwort auf die in 2. Sam 11 bis 1. Kön 1 geschilderten Ereignisse dar. Die deutlichsten Hinweise ergeben sich dabei nach Auffassung Goulders aus Ps 51; 60; 68 und 72. Ps 51 bezieht sich entsprechend den Angaben der biographischen Überschrift auf die Schulderfahrung Davids nach dem Tod Urias, Ps 60 auf die Flucht Davids vor seinem Sohn Absalom nach Mahanajim, Ps 68 auf seinen Sieg über Absalom und Ps 72 schließlich auf die Salbung Salomos zum König. Die übrigen Psalmen haben weniger eindeutige Bezugspunkte, Ps 52-59 lassen sich jedoch als eine Serie von Gebeten eines Priesters verstehen, der David auf seiner Flucht aus Jerusalem begleitete. Ps 61-67 antworten auf Ereignisse während Davids Aufenthalt in Mahanajim, Ps 69-71 reagieren auf die Aufstände von Scheba und Adonija. Die gesamte Gebetssequenz hatte ihren „Sitz im Leben" in einer Prozession während des Herbstfestes, bei der sich die Gemeinschaft die Erfahrungen ihrer zentralen Königsgestalt vergegenwärtigt. An den Stellen, die in den Psalmen durch „Sela" markiert sind, wurden dabei Passagen aus 2. Sam und 1. Kön rezitiert. Erstaunlich ist allerdings, dass das unerschütterliche Vertrauen Goulders in die Tradition bei den biographischen Überschriften ein jähes Ende findet. Zwar gesteht Goulder den Verfassern der Überschriften ein größeres Wissen zu als heutigen Lesern und Auslegern, aber dennoch hält er - abgesehen von Ps 51 und 72 - die meisten Überschriften fur „late guesses, and mostly wrong".41 So kann sich die Psalmenexegese glücklich schätzen, dass sie nun mit Hilfe Goulders, dessen Wissen offensichtlich nicht nur das seiner Fach39

M.D. GOULDER, Psalms of Asaph, 180. M.D. GOULDER, Prayers of David, 9. 41 A.a.O., 25. Diesem geringen Zutrauen zum Informationsweit der Überschriften entspricht, dass Goulder z.B. auch das Überschriftenelement DnOD in Ps 56-60 ignoriert und stattdessen Ps 56-59 und Ps 60-64 zusammenordnet. 40

12

I. Einleitung

kollegen, sondern auch die Kenntnisse der Verfasser der Überschriften deutlich übersteigt, um die wahren Hintergründe der Psalmen 51-72 im Bilde ist. Eine weitere Bereicherung seines alttestamentlichen Grundwissens erfahrt der Leser schließlich durch Goulders Studie zu den Asafpsalmen. Der Verfasser vertritt die Auffassung, dass diese Psalmengruppe um 720 v. Chr. als Antwort auf die assyrische Bedrohung im Heiligtum in Bethel zusammengestellt und später, in exilischer Zeit mit einigen kleineren Zusätzen und Änderungen auch in den Jerusalemer Kult übernommen wurde. Wie die Korach- und Davidpsalmen verortet Goulder auch die Asafpsalmen im Kontext des Herbstfestes: „Psalm 50 saw the people called to gather for the feast, and rebuked for their sins. Psalms 73 and 74 were laments led by the king over the national ruin, before the festival began. Psalm 75 accompanied the royal reconsecration for the nation's defence, and Psalm 76 celebrated God's power in battle. Thus far the psalmody followed the same pattern as the Korah psalms. Thereafter the present crisis asserted itself in a sequence of less triumphal psalms. Psalm 77 reveals an all-night vigil for the king, in which he found a religious solution to the present trials in the Exodus story, and he expounds this to the people, with suitable admonitions, in Psalm 78. Psalms 79 and 80 urge God to act before it is too late. With Psalm 81 we turn to the traditional rejoicing for New Year, but the gladness is pathetically forced. Psalm 81 itself breaks down into a rebuke for past faithlessness. Psalm 82 is a blustering removal from the harshness of the present to the imagined reversals of eternity; Psalm 83 shows us finally exactly who was involved, and when and where."42

Darüber hinaus kommt Goulder zu dem Ergebnis, dass die Asafpsalmen einen Grundriss der Geschichte Israels von der Bedrückung in Ägypten an bis hin zum davidisch-salomonischen Reich enthalten. Die Varianten, die dieser Grundriss gegenüber der Darstellung des Pentateuchs enthält, fuhren Goulder zu der Annahme, dass in und mit den Asafpsalmen die älteste Geschichtstradition Israels vorliegt, die sich von hier aus zum Pentateuch weiterentwickelte. Auf diesem Hintergrund entwickelt Goulder die These, dass sich die gängigen Sigla der Pentateuchforschung (J, E, D, P) mit den drei biblischen Familien der Söhne Asafs (= E), Korachs (= J und D) und Merari (= P) identifizieren lassen, und gelangt so zu einem mit diesen Personengruppen verbundenen Wachstumsmodell des Pentateuchs.43 c) Weitere

Ansätze

Einen querschnittartigen Überblick über die Forschungserträge der letzten Jahre bzw. Jahrzehnte gib ein von J. Clinton McCann herausgegebener Sammelband44, in dem nahezu alle namhaften englischsprachigen Forscher, die auf 42

M.D. GOULDER, Psalms of Asaph, 175f. Entsprechend ist der zweite Teil der Studie (S. 190-341) der Entstehung des Pentateuchs gewidmet. 44 Vgl. J.C. MCCANN (Hrsg.), The Shape and Shaping of the Psalter (JSOT.S 159), Sheffield 1993. 43

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

13

dem Feld der Psalterforschung tätig sind, mit einem Beitrag vertreten sind. So beschäftigt sich James L. Mays wie schon in früheren Veröffentlichungen vor allem mit den Torah-Psalmen und entfaltet seine Sicht des Psalters als Weisung („instruction").45 Diesen Charakter hat der Psalter nicht erst durch die Voranstellung von Ps 1 durch die Endredaktion erhalten. Vielmehr enthalten auch ein Großteil älterer Psalmen dieses pädagogische Potential und Interesse. Walter Brueggemann antwortet in seinem Beitrag auf die von Mays gestellte Eingangsfrage: „Is it possible and useful to read a psalm as part of the book of Psalms, to understand it under the directives furnished by the book as a whole?", indem er der Sichtweise Mays seine Interpretation des Psalters als eines fortschreitenden, theologisch reflektierenden Prozesses von der Klage und Anklage durch Glaube und Vertrauen hin zu Lob und Dank gegenüberstellt.46 In Hinblick auf eben diese Frage Mays reagiert Roland E. Murphy mit einer gewissen Zurückhaltung.47 Er mahnt die Formulierung und Begründung eindeutiger Kriterien an und verweist auf den bleibenden Wert einer historischkritischen Interpretation von Einzelpsalmen. David M. Howard gibt in einem ersten Artikel einen Überblick über den Anfang der neunziger Jahre aktuellen Stand der Forschung, in einem zweiten erprobt er - ausgehend von einer Dreiteilung des vierten Psalmenbuchs (Ps 90-94; Ps 95-100; Ps 101-106) - die kontextuelle Lektüre von Ps 90-94.48 Wilson reflektiert in einem ersten Aufsatz die Chancen und Fallen der neuen Sichtweise des Psalters.49 Obwohl er davon überzeugt ist, dass der Psalter, und insbesondere die letzten beiden Bücher (Ps 90-150), das Resultat einer systematischen und theologisch motivierten Zusammenstellung von Einzelpsalmen und Psalmengruppen ist, warnt er vor vorschnellen und unzulänglich begründeten Arbeitshypothesen. In einem weiteren Aufsatz vertieft er seine oben beschriebenen Überlegungen zu den unterschiedlichen, den Psalter strukturierenden Rahmungen.50 45 Vgl. J.L. MAYS, The Question of Context in Psalm Interpretation, in: J.C. McCann (Hrsg.), Shape and Shaping, 14-20; vgl. auch ders., The Place of the Torah-Psalms in the Psalter, JBL 106 (1987), 3-12. 46 Vgl. W. BRUGGEMANN, Response to James L. Mays, ,The question of Context', in: J.C. McCann (Hrsg.), Shape and Shaping, 29-41; vgl. auch ders., Bounded by Obedience and Praise: The Psalms as Canon, JSOT 50 (1991), 63-92. 47 Vgl. R.E. MURPHY, Reflections on Contextual Interpretation of the Psalms, in: J.C. McCann (Hrsg.), Shape and Shaping, 21-28. 48 Vgl. D.M. HOWARD, Editorial Activity in the Psalter: A State-of-the-Field Survey; A Contextual Reading of Psalms, 90-94, in: J.C. McCann (Hrsg.), Shape and Shaping, 52-70. 108-123. 49 Vgl. G.H. WILSON, Understanding the Purposeful Arrangement of Psalms in the Psalter: Pitfalls and Promise, in: J.C. McCann (Hrsg.), Shape and Shaping, 42-51. 50 Vgl. G.H. WILSON, Shaping the Psalter: A Consideration of Editorial Linkage in the Book of Psalms, in: J.C. McCann (Hrsg.), Shape and Shaping, 72-82.

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I. Einleitung

Der Beitrag von Patrick D. Miller weist die Beziehungen zwischen Ps 1 und 2 und ihre Funktion als Einleitung in den Gesamt-Psalter nach.51 Der Herausgeber des Aufsatzbandes, J. Clinton McCann, nimmt schließlich die Anregungen von Wilson auf und untersucht die Psalmen an den Rändern der einzelnen Bücher.52 Er kommt zu der Einsicht, dass das Ziel der ersten drei Psalmenbücher darin besteht, eine theologische Antwort auf die durch die Katastrophe des Exils und das Ende des davidischen Königtums entstandenen Fragen zu geben. Eine gemeinsame Problematik der hier beschriebenen Ansätze besteht darin, dass die betreffenden Autoren primär auf der synchronen Ebene arbeiten. Ihr Interesse gilt der Denkbewegung und theologischen Intention des Psalters in seiner vorliegenden Endgestalt. Dabei übersehen sie häufig - und dies gilt insbesondere für Wilson - dass diese Endgestalt nicht in einem Zuge durch die Aneinanderreihung vieler Einzeltexte bzw. Psalmengruppen entstanden ist, sondern einen langen, von unterschiedlichen Intentionen und Zielvorgaben geleiteten Prozess durchlaufen hat.53 Um die theologische Intention der Endgestalt zu ermitteln, bedarf es einer nachgehenden Analyse dieses Prozesses und der damit verbundenen Veränderungen und Verschiebungen. Auf diesem Hintergrund sind stark schematisierende Aussagen, wie z.B. die These, dass sich die ersten drei Bücher des Psalters mit dem Scheitern des davidischen Bundes auseinandersetzen, während in den letzten beiden Büchern die Verkündigung des Königtums Gottes an die Stelle des menschlichen Königtums tritt, problematisch. Auch wenn eben diese thematische und gedankliche Konstellation im Psalter durchaus eine wichtige Rolle spielt, lässt sie sich in ihrer Abfolge nicht eindeutig auf den ersten und zweiten Teil des Psalters verteilen. Vielmehr findet sie sich - wie sich zeigen wird - bereits in einzelnen Teilsammlungen und Vorstufen des Psalters. 51

Vgl. P.D. MILLER, The Beginning of the Psalter, in: J.C. McCann (Hrsg.), Shape and Shaping, 83-92. 52 Vgl. J.C. MCCANN, Books I—III and the Editorial Purpose of the Hebrew Psalter, in: ders. (Hrsg.), Shape and Shaping, 93-107, vgl. auch ders., Psalm 73: A Microcosm of Old Testament, in: K.G. Hoglund u.a. (Hrsg.), The Listening Heart. Essays in Wisdom and the Psalms. FS R.E. Murphy (JSOT.S 33), Sheffield 1987, 247-257; The Psalms as Instruction, Interp. 46 (1992), 117-128. 53 Die Problematik dieser einseitig synchronen Sichtweise wird u.a. in J.C. McCANNs Aufsatz zu den ersten drei Psalmenbüchern deutlich (Books I—III). In seinen Ausführungen zu Buch III (Ps 73-89) widmet er der Tatsache, dass durch dieses Buch die Grenze des elohistischen Psalters verläuft keine Aufmerksamkeit. Es ist jedoch ein sehr fragwürdiges Unterfangen, sich auf die Suche nach der theologischen Intention des dritten Psalmenbuchs zu begeben, ohne dabei zwischen den je eigenen Intentionen und Interessen der zum Bereich des elohistischen Psalters gehörigen Asafpsalmen (Ps 73-83) und denen der folgenden, an den elohistischen Psalter angehängten Gruppe der Korachpsalmen (Ps 84-85.87-88), zu differenzieren.

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

\5

d) Kritische Stimmen Insbesondere unter den o.g. Autoren sind hinsichtlich der neuen Fragestellung auch kritische und zur Vorsicht mahnende Stimmen laut geworden. So warnt Murphy angesichts einer Fülle von möglichen, interpretatorisch relevanten Kontexten vor drohender Anarchie und fordert die Formulierung eindeutiger Kriterien ein.54 Wilson macht die Beobachtung, dass viele Arbeiten, die sich mit der Anordnung von Einzelpsalmen oder Psalmengruppen beschäftigen, mit einer Arbeitshypothese beginnen, die dann die gesamte Untersuchung leitet und bestimmt.55 Seiner Auffassung nach kann es nur eine angemessene Ausgangshypothese geben, nämlich die vorsichtige Annahme, dass die vorliegende Anordnung der Texte das Ergebnis einer gezielten, redaktionellen Tätigkeit ist und dass das Ziel dieser Tätigkeit durch sorgsame Analyse der sprachlichen und thematischen Verbindungslinien zwischen den einzelnen Psalmen und Psalmengruppen ermittelt werden kann.56 Eine weitere Schwierigkeit, die mit der ersten in enger Verbindung steht, sieht Wilson darin, dass viele Untersuchungen eine ausfuhrliche, tiefergehende Analyse der Einzelpsalmen und ihrer sprachlichen, thematischen und theologischen Beziehungen untereinander vermissen lassen.57 Die bislang ausführlichste kritische Auseinandersetzung mit den neueren Ansätzen zum Verständnis der Komposition des Psalters hat Norman Whybray vorgelegt.58 Mit Blick auf die Thesen der o.g. Autoren untersucht Whybray das Vorkommen der Themen „Weisheit", „Torah", „Königtum" und „Opfer" im Psalter. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass es eine systematische und zielgerichtete Redaktion des Psalters entlang einer dieser thematischen Linien nicht gegeben habe. Erkennbar sei lediglich eine deutliche Entwicklung von der Klage hin zum Lob, innerhalb derer Whybray dem zentralen Ps 73 als Anweisung zur Überwindung der Klage und den Jahwe-König-Psalmen im vierten 54

Vgl. R.E. MURPHY, Reflections on Contextual Interpretation, 27f. Als Beispiel für diese Vorgehensweise nennt Wilson u.a. M.D. GOULDERS Untersuchung [The Fourth Book of the Psalter, JTS 26 (1975), 269-289] der Anordnung der Psalmen im vierten Psalmenbuch (Ps 90-106), die von vornherein davon ausgeht, dass diese Sammlung zu liturgischen Zwecken, genauer gesagt für das von Mowinckel vor allem anhand dieser Psalmen rekonstruierte Herbstfest, geschaffen wurde. Goulder macht die Beobachtung, dass sich innerhalb der Gruppe Ps 90-106 Jahwe-König-Psalmen (Ps 93; 97; 99) und Psalmen, die das Singen eines „neuen Liedes" thematisieren (Ps 96; 98), abwechseln. Ausgehend von der Annahme, dass das Herbstfest acht Tage dauerte, entwickelt er daraufhin die These, dass diese wechselnde Anordnung innerhalb der 17 Psalmen des vierten Psalmenbuchs sich möglicherweise dadurch erklaren lässt, dass die Texte abwechselnd im Morgen- und Abendgebet gebraucht wurden, vgl. G.H. WILSON, Understanding, 45f. 56 Vgl. a.a.O., 48. 57 Vgl. ebd. 58 Vgl. N. WHYBRAY, Reading the Psalm as a Book (JSOT.S 222), Sheffield 1996. 55

16

I. Einleitung

Buch als Vorboten des Lobpreises eine besondere Rolle zuzugestehen bereit ist. Des Weiteren sind alle Hypothesen über den Prozess der Buchwerdung des Psalters Whybrays Auffassung nach spekulativ. Was sich lediglich sagen lässt, ist, dass dieser Prozess sehr komplex und langwierig und auf verschiedenen Stufen von unterschiedlichen Interessen geleitet war. Abschließend kommt Whybray zu folgendem Urteil: From an early period - long before the final redaction - the psalms must already have been ,silently' reinterpreted by the faithful, by means of a partly unconscious symbolic exegesis, and in various ways in accordance with different spiritual convictions and needs. There is evidence that in a few instances such reinterpretation was effected in the form of textual additions; but for the most part such reinterpretation was achieved, as it is today, by ,silent' means. There is no evidence of the thorough and systematic changes that would have been necessary if the Psalter were to become the expression of a single theology. The stages by which it took its present shape lie mainly beyond our knowing."59

Whybray wirft insbesondere Wilson, aber auch anderen Forschern vor, dass sie ihre Entwürfe allzu großflächig zeichnen und den Inhalten der Einzelpsalmen zu wenig Aufmerksamkeit widmen.60 Dieser Vorwurf ist zwar in Teilen durchaus berechtigt, er trifft aber letztendlich auch Whybray selbst. Seine Kritik geht ebenso wenig ins Detail wie die Ausfuhrungen der betreffenden Autoren. Auch wenn die von Whybray in aller Kürze untersuchten Themen (Weisheit, Torah, Königtum, Opfer) einen zentralen Stellenwert haben, kann eine solch verkürzte und einseitige Herangehensweise nicht die hinreichende Grundlage liefern, um die Frage nach der Buchwerdimg des Psalters als unbeantwortbar abzutun. Wenngleich der vorliegenden Endgestalt des Psalters in der Tat ein langwieriger und komplexer Prozess zugrunde liegt, lässt sich über das Wie und das Warum dieses Weges sicherlich mehr aussagen als das ebenso unbestimmte wie unbefriedigende Urteil, dass es sich dabei um „silent reinterpretation"61 gehandelt habe. Dazu bedarf es jedoch in der Tat eines genaueren Blicks auf die einzelnen Texte. Diesen Weg haben insbesondere FrankLothar Hossfeld und Erich Zenger eingeschlagen, auf deren Arbeiten im Folgenden unter anderen näher eingegangen werden soll. 1.2.2 Forschungserträge im deutschsprachigen Raum Im deutschsprachigen Raum ist die Hinwendung zu der Frage nach der Buchwerdung des Psalters insbesondere mit den Namen und Arbeiten von FrankLothar Hossfeld und Erich Zenger, Matthias Miliard und Christoph Rösel verbunden. Die Ansätze vor allem dieser Autoren sollen in diesem Abschnitt nä-

59 60 61

A.a.O., 124. A.a.O., 120. A.a.O., 119.124.

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

17

her vorgestellt werden.62 Obwohl die einzelnen Zugänge viele Berührungspunkte aufweisen, gibt es spezifische Unterschiede insbesondere in der Vorgehensweise und Methodik, so dass es sich nahe legt, in diesem Zusammenhang verallgemeinernd zwischen einem redaktionskritisch und einem formkritisch orientierten Ansatz zu unterscheiden. 1.2.2.1 Der redaktionskritisch orientierte Ansatz a) Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger dürften mit ihren zahl- und umfangreichen Arbeiten63 den im deutschsprachigen Raum bisher wohl entscheidendsten Beitrag zur Erhellung der Buchwerdung des Psalters geleistet haben. Auch die vorliegende Arbeit verdankt den Forschungserträgen dieser beiden Exegeten sowohl hinsichtlich der Methodik als auch in Hinblick auf die einzelexegetischen Ergebnisse viele wichtige und grundlegende Einsichten. Hossfeld / Zenger widmen sich in ihren Publikationen intensiv der redakti62 Neben diesen hier näher dargestellten Arbeiten sind in den letzten Jahren diverse andere, allerdings weniger umfassende Publikationen zu dieser Fragestellung erschienen, vgl. u.a. C. BARTH, Concatenatio im ersten Buch des Psalters, in: B. Benzing u.a. (Hrsg.), Wort und Wirklichkeit. Teil 1. FS E.L. Rapp, Meisenheim 1976, 30-40; J. REINDL, Weisheitliche Bearbeitung von Psalmen. Ein Beitrag zum Verständnis des Psalters (VT.S 32), Leiden 1980, 333356; N. LOHFINK, Psalmengebet und Psalterredaktion, ALw 34 (1992), 1-22; C. LEVIN, Das Gebetbuch der Gerechten. Literargeschichtliche Beobachtungen am Psalter, ZThK 90 (1993), 355-381; K. KOCH, Der Psalter und seine Redaktionsgeschichte, FS W. Beyerlin (HBS 1), 1994, 243-277; J. VAN OORSCHOT, Der ferne deus praesens des Tempels. Die Korachpsalmen und der Wandel der israelitischen Tempeltheologie, in I. Kottsieper / J. van Oorschot / D. Römheld / H.M. Wahl (Hrsg.), „Wer ist wie du, HERR, unter den Göttern?", FS. O. Kaiser, Göttingen 1994, 416-430; K. KOENEN, Jahwe wird kommen, zu herrschen über die Erde. Ps 90-110 als Komposition (BBB 101), Weinheim 1995; R.G. KRATZ, Die Tora Davids. Psalm 1 und die doxologische Fünfteilung des Psalters, ZThK 93 (1996), 1-34. Insbesondere neuere Monographien zu einzelnen Psalmen beziehen die Frage nach dem Kontext der bearbeiteten Texte verstärkt in ihre Überlegungen mit ein, vgl. u.a. G. BRUNERT, Psalm 102 im Kontext des Vierten Psalmenbuchs (SBB 30), Stuttgart 1996; B. WEBER, Psalm 77 und sein Umfeld. Eine poetologische Studie (BBB 103), Weinheim 1995; J. SCHROETEN, Entstehung, Komposition und Wirkungsgeschichte des 118. Psalms (BBB 95), Weinheim 1995; F. VAN DER VELDEN, Psalm 109 und die Aussagen zur Feindschädigung in den Psalmen (SBB 109), Stuttgart 1997; T. HIEKE, Psalm 80 - Praxis eines Methodenprogramms. Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung mit einem gattungskritischen Beitrag zum Klagelied des Volkes (ATSAT 55), St. Ottilien 1997. Einen einseitig synchronen Ansatz verfolgt G. BARBIERO, Das erste Psalmenbuch als Einheit. Eine synchrone Analyse von Psalm 1-41, Österreichische Biblische Studien 16, Frankfurt 1999, vgl. hierzu die Darstellung und Würdigung von E. ZENGER, Die Psalmen im Psalter, 452f. 63 Vgl. beispielhaft die bisher erschienenen Kommentierungen: Die Psalmen I, Psalm 1-50 (NEB), Würzburg 1993; Psalmen 51-100 (HThK.AT), Freiburg i.Br. - Basel - Wien 2000; Die Psalmen II, Psalm 51-100 (NEB), Würzburg 2002, sowie die zahlreichen im Literaturverzeichnis dieser Arbeit unter den Namen der beiden Autoren aufgeführten Aufsätze.

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1. Einleitung

onsgeschichtlichen Untersuchung des Psalters. Sie gehen davon aus, dass es sich bei der Zusammenstellung der Psalmen um wohldurchdachte, planvoll angelegte Kompositionen handelt. Die Psalmen wurden so zusammengestellt, dass sie sich gegenseitig beleuchten und ergänzen und somit Horizonte aufscheinen lassen, die sie als einzelne Texte nicht haben64. Dabei unterscheidet Zenger im Wesentlichen folgende Vorgehensweisen bzw. Techniken zur Schaffung von formal und inhaltlich strukturierten Psalmenkompositionen:65 a. die inhaltlich relevante iuxtapositio, d.h. die die Zusammenordnung von thematisch oder gattungstypisch verwandten Psalmen; b. die gezielte redaktionelle concatenado, d.h. die Verkettung von Psalmen durch punktuelle Bearbeitung;66 c. die gezielte Schaffung von Psalmen für ihren literarischen Zusammenhang; d. die Aneinanderreihung von Psalmen nach einem formgeschichtlich relevanten Muster; e. die makrostrukturell auffallende Positionierung von Einzelpsalmen; f. die Verbindung von Psalmen und Psalmengruppen durch gemeinsame Überschriften. Was die Analyse und Auslegung der Einzelpsalmen angeht, so bedeutet dies, dass die beobachteten literarhistorischen Differenzierungen darauf untersucht werden müssen, ob diese Zusätze nur punktuelle Erweiterungen darstellen oder ob sie nicht vielmehr den Entstehungsprozess einzelner Psalmensammlungen bis hin zum Psalter widerspiegeln. Dabei ist gleichzeitig danach zu fragen, ob sich auf diesem Wege auch die theologischen Leitideen der einzelnen Wachstumsstufen und ihre Trägergruppen ermitteln lassen.67 Diesen Ansatz hat Zenger zu einer Methodenlehre der kanonischen Psalmenauslegung präzisiert und in vier Thesen gefasst:68

64

Allerdings weisen die Autoren in ihren Arbeiten immer wieder ausdrücklich daraufhin, dass jeder Einzelpsalm zunächst als in sich geschlossener Text zu lesen und zu interpretieren ist, vgl. u.a. E . ZENGER, P s a l m e n f o r s c h u n g , 4 1 9 . 4 2 4 . 65

Vgl. E. ZENGER, Psalmenforschung, 419ff; Die Psalmen im Psalter, 455. Zum Phänomen der Stichwortverkettung oder concatenatio vgl. auch den Aufsatz von C. BARTH (Concatenatio), der nach dem Kommentar von F. DELITZSCH (Biblischer Commentar über die Psalmen, Leipzig 1867) zu den Pionierarbeiten des 20. Jahrhunderts auf diesem Gebiet gehört. 66

67

68

Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, P s a l m e n 1 - 5 0 , 2 3 f .

Vgl. E. ZENGER, Was wird anders bei kanonischer Psalmenauslegung?, in: F.V. Reiterer (Hrsg.), Ein Gott, eine Offenbarung. FS N. Füglister, Würzburg, 1991, 397ff.

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

19

1. Die Beziehungen eines Psalms zu seinen Nachbarpsalmen sind zu beachten. Dabei ist zu prüfen, ob die Stichwortbeziehungen zwischen benachbarten Psalmen Zufall sind, ob sie der Auslöser waren, die betreffenden Texte nebeneinander zustellen, oder ob sie erst sekundär von den Redaktoren geschaffen wurden. 2. Die Stellung eines Psalms in der jeweiligen (von der Redaktion intendierten) kompositioneilen Einheit ist zu erwägen. Dabei ist zu fragen, ob die für eine bestimmte Psalmengruppe herausgearbeitete Leitidee auch das Verständnis der in der Komposition stehenden Einzelpsalmen mitbestimmt oder gar verändert. 3. Die Psalmenüberschriften sind als Deutehorizont mitzulesen. So wird z.B. der durch die biographischen Überschriften vor allem in Leidenssituationen gezeichnete David zur Hoffnung stiftenden Identifikationsfigur für den Psalmenleser und -beter. Gleichzeitig erhalten die mit David verbundenen Psalmen eine messianische Perspektive, insofern mit „David" hier sowohl der zukünftige Davidide und damit der Messias als auch Israel als messianisches Volk gemeint sind. 4. Die innerbiblischen Bezüge und Wiederaufnahmen eines Psalms sind mitzuhören. Dies gilt zunächst für die semantischen Bezüge innerhalb des Psalmenbuches, darüber hinaus aber auch für Anspielungen und Wiederaufnahmen innerhalb des Alten und schließlich auch des Neuen Testaments. Anders als es der Begriff der „kanonischen Psalmenauslegung" auf den ersten Blick vermuten lässt, wird dabei jedoch nicht die Endgestalt des Textes unhistorisch betrachtet, sondern mit den Methoden der Redaktionskritik auf ihr Werden und Entstehen hin untersucht. Diachrone Fragen treten somit in den Vordergrund. Welche Psalmen lagen den Redaktoren vor? Worin besteht der Eigenanteil der Redaktoren? Wie wurden die redaktionellen Kompositionen sekundär überarbeitet, und in welcher chronologischen Reihenfolge wurden sie zusammengestellt? Die auf dem Hintergrund dieser Fragestellungen von Hossfeld / Zenger vorgetragenen Analysen zur Redaktion des gesamten Psalmenbuches können im Rahmen dieser Einleitung nicht vollständig und in Einzelheiten dargestellt werden. Einige für den Ansatz des Autorenduos grundlegende Annahmen sollen an dieser Stelle jedoch in Kürze genannt werden. Hinsichtlich des Wachstums des Psalters gehen Hossfeld / Zenger von dem heuristischen Prinzip aus, dass die Abfolge der Teilsammlungen auch ihrem Alter entspricht, d.h. dass der erste Davidpsalter (Ps 3-41) die älteste Sammlung des Psalters darstellt. Eine entscheidende Rolle innerhalb der Untersuchungen spielt die Hypothese von einer an der Redaktion des Psalters maßgeblich beteiligten „Armenredaktion" und einer die Theologie des Psalters in weiten Teilen prägenden „Ar-

20

I. Einleitung

menperspektive".69 Was den „Sitz im Leben" des Psalters angeht,70 so ist Zenger der Überzeugung, dass dieser zumindest in seiner überlieferten Endgestalt nicht etwa das „Kultliederbuch" des Zweiten Tempels darstellte. Das insgesamt stark weisheitlich imprägnierte Buch enthält zwar zahlreiche tempeltheologische Motive und Bezüge, das Interesse am Tempelkult an sich ist jedoch nicht sehr ausgeprägt. Der Tempel ist Erscheinungsort JHWHs und Versammlungsort für Israel und die Völker, teilweise begegnet er auch als bloße Metapher für den Schutz Gottes, nach dem der Beter sucht. Vielmehr erhielt der Psalter seine Endgestalt in weisheitlichen Kreisen, die „in gewisser Distanz zur Tempelaristokratie und deren hellenisierenden Tendenzen"71 standen und die durch eine Verbindung von Torah-Weisheit (vgl. Ps 1; 147; 148), Eschatologie (vgl. Ps 2; 149) und Armenfrömmigkeit (vgl. Ps 146; 149) den Psalter als ein „Volksbuch der eschatologischen (bzw. apokalyptisierenden) Lebensweisheit"72 gestalteten. Seine Funktion kann dahingehend beschrieben werden, dass „der Psalter selbst das Heiligtum [ist], in dem Gott gesucht und gelobt werden soll und von dem Gottes Segen und Rettung ausgehen können".73 Dieses Heiligtum steht jedoch weder in Opposition zum Jerusalemer Tempel noch stellt es seine Substituierung dar, sondern hat vielmehr Anteil an dessen Verheißungen. Die Ergebnisse der von Hossfeld / Zenger erarbeiteten Analysen zu dem für die vorliegende Untersuchimg relevanten Textbereich des elohistischen Psalters lassen sich im Überblick wie folgt skizzieren: Die Gruppe der Korachpsalmen wird als in sich geschlossene Teilgruppe mit den kollektiven Gemeindegebeten Ps 44—48 im Zentrum und den Individualgebeten Ps 42 /43 und 49 als Rahmen beschrieben.74 Anders als bei der im 69 Vgl. u.a. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, „Selig, wer auf die Armen achtet"; Psalm 1-50, 14FF. Zu den Charakteristika der sog. Armenpsalmen vgl. die Definition von F.-L. HOSSFELD, Die beiden Davidsammlungen, 66. 70 Vgl. E. ZENGER, Psalmenforschung, 430ff. 71 A.a.O., 433. 72 A.a.O., 434. 73 A.a.O., 435. 74 Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalm 1-50, 15f. In seinem Aufsatz zur redaktionsgeschichtlichen Bedeutung der Korachpsalmen von 1995 beschreibt E. ZENGER die Kompositionsstruktur von Ps 42-49 ausführlicher: „In formaler Hinsicht bildet die Juxtaposition der Einzelpsalmen eine theologisch-programmatische Komposition, die mit Ps 42/43 als individuellem Lied der Sehnsucht nach der Begegnung mit dem Ziongott beginnt, dessen Verborgenheit bzw. dessen verstoßendes Handeln beklagt wird. Diese individuelle Klage verschärft sich im folgenden 44. Psalm zur kollektiven Anklage des sein Volk verwerfenden Gottes. Auf diese mehrfache Klage antworten dann die vier Psalmen 45-48 mit ihrer Proklamation des die Bewohner der Gottesstadt und die um sie herum wohnenden „Töchter Judas" rettenden, ja die ganze Erde bzw. Völkerwelt befriedenden Ziongottes. Diese sich hymnisch steigernde Proklamation der Königsherrschaft des Ziongottes, die in Ps 45 und 46 mit Zitaten direkter Gottesrede unterstrichen wird, schlägt dann in Ps 49 abrupt in die weisheitlich imprägnierte indi-

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

21

ersten Teilband der im Rahmen der Neuen Echter Bibel erschienenen Kommentierung von Ps 1-50 übernehmen die Autoren bei ihrer umfassenden Untersuchung von Ps 51-100 (HThK.AT) zur Beschreibung der verschiedenen Teilgruppen den vor allem von M. Miliard entwickelten formgeschichtlichen Ansatz.75 Für den Bereich des zweiten Davidpsalter ermitteln sie damit die Abfolge: Bitte (Ps 51) - Klage (Ps 52-55) - Bitte (Ps 56-60) - Vertrauen (Ps 61-64) - Lobpreis / Dank (Ps 65-68) - Klage (Ps 69-71) - Bitte (Ps 72). Innerhalb der Gruppe der Asafpsalmen wiederholt sich nach Auffassung von Hossfeld / Zenger zweimal der gleiche Kompositionsbogen: Lehre (Ps 73 bzw. Ps 78, Sprecher: Ich) - Klage (Ps 74 bzw. Ps 79-80, Sprecher: Wir) Orakel / Antwort Gottes (Ps 75-76 bzw. Ps 81-82) - Klage (Ps 77 bzw. 83, Sprecher: Ich). Die im Textbereich des elohistischen Psalters älteste, in exilischer Zeit entstandene Sammlung liegt nach Analyse der Autoren mit den Psalmen 52.5457.59.61-68 vor. Diese Textgruppe ist stark von Kriegsmetaphorik geprägt. „Von Ps 52 bis Ps 64 wird ein dramatischer Ansturm von Feinden gegen das betende Ich dargestellt, wobei der zunehmenden Bedrohung des Beters eine in der Psalmenanordnung sichtbar werdende Steigerung des Vertrauens des Beters in die rettende Macht seines Gottes entspricht. Ps 64 verheißt das Ende der Bedrohung, worauf dann ab Ps 65 der hymnische Lobpreis folgt, der mit Ps 68 in einem großen Siegesfest endet."76

Dabei sind die Texte durch die folgenden charakteristischen Merkmale geprägt:77 1. Die Psalmen sind zions- und tempeltheologisch geprägt und verraten ein starkes kultisches Interesse. 2. Eine wichtige Rolle spielen Metaphern, die JHWH als „Zuflucht" und „Schutzburg" beschreiben. 3. Das Verhältnis des Beters zu seinem Gott ist von einer InnerlichkeitsSemantik bestimmt. Dabei ist die erstrebte Nähe zu Gott jedoch nicht kultisch vermittelt, sondern zielt auf eine Gottesbegegnung, die zwar nicht im Tempel geschieht, aber einer solchen entspricht. In der tempellosen Zeit des Exils wäre somit eine Tempelfrömmigkeit entstanden, die die erhoffte Gottesnähe mit Tempelmetaphern zum Ausdruck bringt: „Das Herz und die Seele sind nun der Ort, an dem Gott einwohnt, inmitten einer feindlichen Welt."78 viduelle Vergänglichkeitsklage des 49. Psalms um, der freilich kompositionell als gezielt gesetzter Abschlußpsalm (keine Gottesanrede!) der Teilgruppe 42-49 zu lesen ist." (Zur redaktionsgeschichtlichen Bedeutung der Korachpsalmen, in: E. Zenger / K. Seybold (Hrsg.), Neue Wege der Psalmenforschung, FS W. Beyerlin (HBS 1), Freiburg u.a. 1994, 175-198 [182f]). 75

76

V g l . F.-L. HOSSFELD / E . ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 2 8 .

A.a.O., 29. Ebd. 78 Ebd. 77

22

I. Einleitung

Im 5. Jh. v. Chr. wurde die Sammlung Ps 52-68* zum Davidpsalter Ps 51-72 ausgebaut und durch die Angabe ~n~6 und durch die biographischen Überschriften ausdrücklich davidisiert. Mit Ps 51 und Ps 69-72 erhielt die Sammlung einen auf David hin transparenten Anfang und Schluss, bei deren Gestaltung die entsprechende Redaktion auf die in spätvorexilischer Zeit entstandene Sammlung Ps 3-41 zurückgrifF (insbesondere auf Ps 35-41). Verantwortlich für diese Erweiterung sind nach Auffassung von Hossfeld / Zenger die asafitischen Theologen, auf die auch die Asafkomposition Ps 50.73-83 zurückgeht. Die Asafiten, die in der unter ihrem Namen gesammelten Psalmengruppe die Geschichte Israels vom Exodus an über das Exil bis hin zum kommenden Gericht bedenken, lassen in Ps 78,70-72 zum ersten Mal im Psalter ein Interesse an David als dem Knecht Gottes erkennen. Auf sie geht die explizite Davidisierung der Sammlung Ps 52-68* durch die Hinzufügung der auf David bezogenen Überschriften sowie die implizite Davidisierung durch die Vorschaltung von Ps 51, die Einfügung von Ps 53 und die Schaffung von Ps 69-72 zurück. Die Verklammerung mit der Asafkomposition erfolgte durch die Einfügung von Ps 58 (JHWH als Richter - typisches Thema der Asafpsalmen) und 60 (Volksklage als Ankündigung der Asafpsalmen 74; 79; 80). Ebenfalls im 5. Jh. v. Chr. wurde die Asaf-David-Komposition durch die Gruppe der Korachpsalmen (Ps 42-49) erweitert. Diese Gruppe verbindet individuelle Gebete, die die räumliche und existenzielle Gottesferne (Ps 42 / 43) und das Todesschicksal des Menschen (Ps 49) bedenken, mit kollektiven Gebete (44.45-48), die die Exilserfahrung und messianische Königshoffhungen mit der vorexilischen Tempel- und Zionstheologie vermitteln. Diese Thesen zur Entstehung und zum theologischen Profil des elohistischen Psalters und seiner Teilsammlungen werden in den folgenden Kapiteln im Einzelnen kritisch zu prüfen sein. Hinsichtlich der Methode und der Vorgehensweise von Hossfeld / Zenger sollen jedoch bereits an dieser Stelle einige kritische Anmerkungen erfolgen, aus denen dann entsprechende Schlussfolgerungen für die methodischen Vorüberlegungen der vorliegenden Arbeit gezogen werden können. Zum einen ist hier die nach Auffassung von Hossfeld / Zenger den Psalter prägende Armentheologie und in Verbindung damit die von ihnen insbesondere für den Bereich des ersten, aber auch für Teile des zweiten Davidpsalters und die Gruppe der Asafpsalmen postulierte Armenredaktion zu nennen. Es ist das unbestreitbare Verdienst der sozialgeschichtlich orientierten Bibelauslegung, dass diese der schon immer bestehenden Option Gottes für die Armen nachgeht und damit das Bewusstsein gerade wohlstandsgewöhnter Mitteleuropäer für diese einseitige Parteinahme Gottes schärft. Gerade die so selbstverständlich in Gottesdienst und Stundengebet integrierten Psalmen erhalten

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

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unter dieser Perspektive einen guten Teil ihrer Schärfe und Brisanz zurück, über die wohlklingende Psalmengesänge nur allzu leicht hinwegtäuschen. Die wiederholten Hinweise auf die bleibende Aktualität der einzelnen Psalmen gehören zu den vielen unverzichtbaren und hilfreichen Erträgen der Untersuchungen und Kommentierungen der beiden Autoren. Dennoch bietet gerade die These von einer bzw. mehreren an der Entstehung des Psalters konstitutiv beteiligten Armenredaktionen Anlass zu einigen Anfragen. Zunächst ist hier ein grundsätzliches Problem zu nennen, auf das Miliard in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Hossfeld / Zenger hinweist: Für die Beschreibung einer nachexilischen Armenredaktion fehlt nach wie vor eine sozialgeschichtliche Untersuchung, die die Geschichte einer derartigen Bewegung in der persischen Zeit auch mit Material außerhalb des Psalters belegt und nachzeichnet.79 Weiterhin gehört es zu den prägenden Charakteristika der Psalmen, dass die Beschreibungen der Situation des Beters bzw. der Beter von einer großen Offenheit gekennzeichnet sind, die es ermöglicht, die Texte mit unterschiedlichsten Lebensumständen in Verbindung zu bringen.80 Dementsprechend ist auch in den Psalmen, in denen das Phänomen „Armut" oder „Elend" thematisiert wird, die Darstellung eher allgemein gehalten. Anders als z.B. in der prophetischen Sozialkritik werden die genaueren Umstände des Arm- und Elendseins nicht näher ausgeführt,81 so dass die Entscheidung, ob es sich hierbei um einen materiellen Mangel bzw. eine Existenz am Rande der Gesellschaft oder vielmehr um eine allgemeine, als defizitär erlebte Befindlichkeit handelt, 79

Vgl. M. MILLARD, Von der Psalmenexegese zur Psalterexegese. Anmerkungen zum Neuansatz von Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger, in: BI4 (1996), 322. 80 Dieses Phänomen beschreibt nach wie vor treffend M. LUTHER in seiner Vorrede auf den Psalter: „Und ein jglicher, in wasserley Sache er ist, Psalmen und wort drinnen findet, die sich aufF seine Sachen reimen, und im so eben sind, als weren sie allein umb seinen willen also gesetzt, Das er sie auch selbs nicht besser setzen noch finden kan noch wünschen mag." (WDB 10,1, 98-105, 103). Moderne, rezeptionsästhetische Ansätze sprechen in diesem Zusammenhang von den „Leerstellen" in den Psalmen, vgl. z.B. D. ERBELE-KUSTER: „Die Beschreibung der Not des Beters ist einerseits so konkret formuliert, dass sie sich nicht in Allgemeinplätzen verliert, und andererseits kann sie nicht mit nur einer historischen Situation identifiziert werden. In der exegetischen Diskussion wurde bereits mehrfach darauf verwiesen, dass die Beschreibung der Notsituation mehrdimensional ist, was innerhalb der gattungsgeschichtlichen Forschung als Problem betrachtet wurde. Die Rede von der Leerstelle veranschaulicht demgegenüber, dass dieses Phänomen in der Feindbeschreibung gerade die Voraussetzung dafUr bildet, dass die Psalmen eine fortwährende Aneignung erfahren." (Lesen als Akt des Betens. Eine Rezeptionsästhetik der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2001, 142). 81 Vgl. u.a. Jes 29,20f; 58,5ff; Jer 5,26ff; Ez 22,27ff; Am 2,6ff; 5,1 lff; Mi 6,9ff, wo konkrete Vergehen der Reichen und Mächtigen gegen die Armen und Elenden genannt werden, wie z.B. Rechtsbeugung, Enteignung, Pfändung, die zu sozialen Missständen wie Hunger, Obdachlosigkeit und Schuldsklaverei führen.

24

I. Einleitung

oftmals kaum möglich ist.82 Dem entspricht, dass die Bewertung der Aussagen über die „Armen" im Psalter in der Forschung nach wie vor sehr unterschiedlich eingeschätzt wird.83 Hier sind die unterschiedlichsten Positionen zu finden, von der Annahme einer „Armenpartei", die den gottlosen Reichen in Israel im Kampf gegenüber steht, über eine spirituelle Deutung der Armut, die „die Liebe zur demütigen und kleinen Existenz in der Stille, die Bereitschaft zum Leiden um Gottes willen"84 bezeichnet, bis hin zur völligen Ablehnung einer wie auch immer gearteten Armenbewegung oder Armenspiritualität. Was die Vorgehensweise zum Nachweis der postulierten Armentheologie bzw. -redaktion angeht, so drängt sich nicht selten der Eindruck auf, dass die entsprechenden Thesen bei Hossfeld / Zenger zur hermeneutischen Brille werden, durch die betrachtet auch Texte zu „Armenpsalmen" werden, in denen das einschlägige Vokabular wie die Begriffe )rnx - „arm", 1:1; - „elend", bn - „gering" überhaupt nicht oder nur mit vergleichsweise geringer Belegfrequenz begegnet. Der oftmals geringen Quantität der Belege messen Hossfeld / Zenger entsprechend eine außerordentlich hohe Qualität und Bedeutung bei. Die vielschichtigen Inhalte der Einzeltexte werden demzufolge häufig ebenso auf eine einzige, isolierte Sinndimension reduziert und festlegt, wie dies auch der gattungsgeschichtliche Ansatz tut. Diese Reduktion wird u.a. in der Analyse und Auslegung der Schlussgruppe des zweiten Davidpsalters (Ps 69-72) deutlich. Zwar haben die betreffenden Texte durchaus die Gruppe der Armen und Elenden im Blick (vgl. Ps 69,30.33f; 70,6; 72,2.4.12-14), die einseitige Betonung dieses Aspektes fuhrt jedoch dazu, dass andere wichtige Sinngehalte85 ausgeblendet werden und die Bedeutung dieser Psalmengruppe vor allem auf eine „armentheologisch orientierte Vernetzung der beiden Davidpsalter"86 beschränkt wird. Diese Einschätzimg ist nicht falsch, aber einseitig. Sie übersieht wichtige theologische Themen und Aussagen dieser Psalmengruppe, auf die in der vorliegenden Untersuchung näher einzugehen sein wird. 82 Dieses Problem räumt sogar R. ALBERTZ ein: „Schwierig wird die Sache da, wo sich ein einzelner als ,elend und arm' o.ä. (Ps 40,18 = 70,6; 86,1; 109,22 vgl. 25,16; 69,30) Gott vorstellt, um ihn zum Eingreifen zu bewegen. Hier könnte nur die allgemeine Hilfsbedürftigkeit angesprochen sein, und da hierzu zuweilen Selbstbezeichnungen als ,Fromme' parallel stehen, könnte man sie auch als Ausdruck frommer Selbstdemütigung deuten." (Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Teil 2: Vom Exil bis zu den Makkabäern, Göttingen 1992, 569f). 83 Vgl. den Forschungsüberblick von N. LOHFINK, Von der ,Anawim-Partei' zur ,Kirche der Armen'. Die bibelwissenschaftliche Ahnentafel eines Hauptbegriffs der .Theologie der Befreiung', Bib 67 (1986), 153-176. 84 A.a.O., 166. 85 Vgl. dazu die Auslegung von Ps 69-72 in Kap. III.7 und 8. 86

F.-L. HOSSFELD, D a v i d s a m m l u n g e n , 6 5 ; vgl. a u c h F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, P s a l -

men 51-100, 268.280.

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

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Weiterhin fuhrt das nachhaltige Interesse der Autoren an der Armentheologie und -redaktion dazu, dass man sich als kritischer Leser des Eindrucks kaum erwehren kann, dass eben dieses Interesse bei manchen literarkritischen Differenzierungen die Mutter der Entscheidung ist.87 In seinem Vergleich der beiden Davidsammlungen Ps 3-41 und 51-72 entwickelt Hossfeld eine Typologie der Armenpsalmen: „Innerhalb der vielen Klagelieder des Einzelnen bilden die Armenpsalmen eine spezifische Untergruppe. Diese Untergruppe ist durch drei Merkmale gekennzeichnet: 1. Die geläufige Kommunikationssituation der Klagelieder des Einzelnen hat die Dreieckstruktur von Beter, Gott und Feinden. Diese Dreieckstruktur wird in den Armenpsalmen zu einem Vierecksverhältnis erweitert, worin der Beter in Beziehung tritt zu Gott, dann zu den Feinden und auf implizit angedeutete oder explizit ausgedrückte Weise zu einer Gruppe der Gerechten oder auch Armen, der sog. In-Group, die Gruppe, zu der der Beter sich zugehörig fühlt. 2. In den Armenpsalmen leidet der Beter nicht an spezifischen individuellen Nöten, diese sind zwar nicht ausgeschlossen, aber sie werden auf jeden Fall erweitert durch ein Leiden an überindividuellen gesellschaftlichen Zuständen. Wegen der schlechten gesellschaftlichen Zustände fühlt sich der Arme isoliert und trägt deswegen seine Einsamkeit und Gefährdung vor Gott. 3. Die älteren und durchaus möglich vorexilischen Annenpsalmen, wie die Psalmen 4; 1114; 52; (53); 54-55, sind traditionsgeschichtlich betrachtet mit Beziehungen, sowohl zur vorexilischen bis exilischen Prophetie als auch zur älteren Weisheit, ausgestattet und verraten darüber hinaus noch eine gewisse Anbindung an den Jerusalemer Tempel."88

Die Lektüre der Arbeiten von Hossfeld / Zenger zeigt, dass die Autoren mit diesen an sich schon recht weit gefassten Kriterien recht großzügig umgehen.89 So scheinen alle Psalmen, die das zweite und / oder dritte der genannten Kriterien erfüllen, von vornherein als Armenpsalmen „verdächtig" zu sein, auch wenn das erste Merkmal, die Zuordnung zu einer In-Group, nicht gegeben ist. Exemplarisch kann dies anhand der Psalmengruppe Ps 52-55 deutlich gemacht werden, die Hossfeld als Gruppe von Armenpsalmen beschreibt.90 So 87 So z.B. im Falle der konstruiert wirkenden Aussonderung von V.9-10 aus Ps 76. Es ist nicht einsichtig, warum das in Ps 76,9-10 geschilderte richterliche Eingreifen Gottes vom Himmel her in Spannung zu seinem kriegerischen Handeln vom Zion aus stehen soll. 88

89

F.-L. HOSSFELD, Davidsammlungen, 66.

Es ist bemerkenswert, dass selbst der einer sozialgeschichtlichen Bibellektüre verpflichtete R. ALBERTZ die Kriterien für die Ausgrenzung von Armenpsalmen wesentlich enger fasst und empfiehlt, von solchen Texten auszugehen, „die 1. zu den Kleinkultgattungen gehören, die 2. singulare oder plurale Gruppenbezeichnungen (Arme, Gerechte etc.) aufweisen, die 3. Hinweise auf einen sozialen Konflikt erkennen lassen und die 4. Elemente eschatologischer Prophetie besitzen". Als Armenpsalmen bezeichnet er auf diesem Hintergrund auch lediglich Ps 9/10; 35; 69; 70; 109; 140. In die Rekonstruktion der Frömmigkeit religiöser Unterschichtszirkel will er außerdem die prophetischen Liturgien Ps 12; 14; 75 und 82 einbeziehen (Religionsgeschichte Israels, 571). 90 Vgl. F.-L. HOSSFELD, Davidsammlungen, 66. In HThK findet sich diese Klassifizierung dagegen nicht.

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I. Einleitung

scheint der Beter von Ps 52 zwar sich selbst durchaus zu den „Gerechten" - V.8) und „Getreuen" (D^Ton - V.ll) zu zählen, von einer sozial benachteiligten Gruppe der Armen oder Elenden ist jedoch nicht die Rede. Auch ein Leiden des Beters an „überindividuellen gesellschaftlichen Zuständen" (vgl. Kriterium 3) lässt sich nur mit Phantasie oder - wie in der Kommentierung von Ps 52 durch Hossfeld geschehen91 - durch den Vergleich mit Ps 4 aus dem Abschnitt Ps 52,3-6 herauslesen. Allerdings ist es fraglich, ob die als „starker Held" bezeichnete feindliche Einzelperson ohne weiteres mit den „Mächtigen" aus Ps 4,3 in eins gesetzt werden kann. Insgesamt ergibt sich der Eindruck, dass die Profilierung von Ps 52 als Armenpsalm nicht aus dem Text heraus, sondern nur durch den Vergleich mit den ebenfalls als Armenpsalmen charakterisierten Ps 4; 11-14 gelingt.92 In Hinblick auf die Abweichungen von Ps 53 gegenüber seinem Doppelgänger Ps 14 stellt Zenger in seiner Kommentierung des Psalms fest, dass Ps 53 gerade die Armenperspektive von Ps 14 nicht übernimmt.93 Wenn Ps 5255 von den Redaktoren dezidiert als Gruppe von Armenpsalmen zusammengestellt worden sein sollte, wäre eine Veränderung an dieser Stelle erstaunlich und wenig sinnvoll, zumal wenn der redaktionell eingefügte Ps 53 tatsächlich dazu dienen sollte, den ersten und zweiten Davidpsalter miteinander zu verbinden. In Bezug auf Ps 54 ist in der Kommentierung von Hossfeld / Zenger von einer spezifischen Armenperspektive nicht die Rede.94 Wie bei Ps 52 gelingt auch für Ps 55 der Nachweis einer besonderen armentheologischen Prägung nur im Vergleich mit anderen Texten (Ps 4; 11; 12; 52).95 Demnach sind das Leiden des Beters an der lebensbedrohlichen Macht der Rede seiner Feinde, das in vergleichbarer Weise auch in den Armenpsalmen begegnet, sowie die unheilvollen Zustände in der Stadt (V.1012) für Hossfeld hinreichend Grund, auch Ps 55 als Armenpsalm zu verstehen. Von einer Zugehörigkeit des Beters zu einer In-Group der Gerechten oder Armen und Elenden ist jedoch auch hier nicht die Rede, zumal wenn man die Erwähnung des Gerechten in V.23 mit Hossfeld als ironisches Zitat im Munde des feindlich gesinnten Freundes versteht. Auf diesem Hintergrund erscheint eine Beschreibung von Ps 52-55 als eine Gruppe von Armenpsalmen als forciert und kaum angemessen. Ein weiteres grundsätzliches Problem des Ansatzes von Hossfeld / Zenger ergibt sich durch die stark literar- und redaktionskritisch orientierte Arbeits91

92

V g l . F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 6 2 .

Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 78f. 94 Vgl. a.a.O., 87ff. 95 Vgl. a.a.O., 99f. 93

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

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weise der beiden Exegeten. Eine Psalmenauslegung, die sich nicht der Gefahr der Beliebigkeit aussetzen will, muss ohne Zweifel historisch vorgehen. Sie muss nach der Entstehungsgeschichte von Einzeltexten und Psalmensammlungen fragen, um so die Aussageintention und das theologische Profil der Redaktoren bzw. Kompositoren, die an diesem Entstehungsprozess beteiligt waren, herausarbeiten zu können. Die klassischen Kriterien der Literarkritik, wie z.B. Doppelungen oder Spannungen, die bei fortlaufenden Erzähltexten durchaus schlüssig sind, haben allerdings in poetischen Texten, in denen Doppelungen als Parallelismus membrorum Stilmittel sind, als Hinweise für die Textgenese nur eingeschränkten Erkenntniswert.96 Weiterhin kann man in Gebetstexten nicht ohne weiteres einen logisch stringenten Gedankengang voraussetzen. So kann z.B. die Not des Beters in ein und demselben Psalm sehr unterschiedlich dargestellt werden (Verfolgung, Krankheit, wilde Tiere). Literarkritische Konsequenzen mit dem Ziel redaktionsgeschichtlicher Rekonstruktionen können daraus jedoch nicht unbedingt abgeleitet werden. Ahnliches gilt für das bekannte Phänomen des Stimmungsumschwungs von der Klage hin zum Lob, das in vielen Klagepsalmen begegnet und das die meisten Exegeten - so auch Hossfeld / Zenger97 - nicht literarkritisch als Bruch oder Spannung deuten und redaktionsgeschichtlich erklären, sondern als Teil des Gebetsprozesses verstehen. Aus diesen Gründen sollten Thesen zur Schichtung eines Psalms oder auch einer Psalmensammlung nur mit großer Vorsicht geäußert werden Auch wenn Hossfeld / Zenger an diesem Punkt mehr Zurückhaltung und Sensibilität an den Tag legen als manch andere Exegeten, sind ihre literarktitischen Thesen im Einzelfall nicht immer überzeugend.98 Vielmehr drängt sich oftmals der Eindruck auf, dass die von den Autoren postulierten redaktionsgeschichtlichen Modelle erst bestimmte literarkritische Entscheidungen nach sich ziehen bzw. notwendig machen.99 Als Beispiel kann hier die Bewertung von Ps 52,6 dienen.100 Die Beobachtung, dass V.6 gegenüber den vorausgehenden Versen keine neuen Informationen über das Verhal96

Vgl. M. MILLARD, Psalmenexegese, 315. Vgl. F.-L. HOSSFELD, Von der Klage zum Lob - die Dynamik des Gebets in den Psalmen, BiKi 56 (2001), 16-20. 98 Dem entspricht die Beobachtung, dass Hossfeld / Zenger in verschiedenen Untersuchungen zu demselben Psalm zu unterschiedlichen literarkritischen Ergebnissen kommen (vgl. hierzu auch die kritischen Anmerkungen von M. MILLARD, der auf unterschiedliche Resultate verschiedener Untersuchungen zu Ps 2 und Ps 15 hinweist, Psalmenexegese, 317ff). Dieser Umstand kann natürlich einerseits als Hinweis auf die exegetische Beweglichkeit dieser beiden Forscher geweitet werden, macht jedoch auch plastisch die Unsicherheit literarkritischer Entscheidungen deutlich. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die literarkritischen Vorschläge verschiedener Kommentatoren zu ein und demselben Psalm vergleicht. Ähnlich wie bei Datierungsfiagen scheint die Zahl der Hypothesen hier oftmals nahezu unerschöpflich. 99 Vgl. auch Anm. 87. 97

100

Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100,69f.

28

1. Einleitung

ten des hier Angeklagten bietet, dürfte kaum eine hinreichende Begründung für die literarkritische Aussonderung des Verses darstellen, da ein solches Umkreisen eines Gedankens in immer neuen Anläufen in den Psalmen durchaus nicht ungewöhnlich ist. Vielmehr scheint die Beobachtung, dass der Ausdruck „Worte des Verschlingens" in Ps 52,6 eine inhaltliche Parallele in der Formulierung „Auffressen meines Volkes in Ps 53,5 hat, die eigentliche Grundlage für die Aussonderung von Ps 52,6 und die entsprechende redaktionsgeschichtliche Folgerung zu bilden, dass dieser Vers als redaktionelle Klammer zu Ps 53 eingefugt wurde. Dieses Beispiel macht deutlich, dass sich in Verbindung mit der Frage nach der Berechtigung und Plausibilität literarkritischer Entscheidungen und entsprechenden redaktionsgeschichtlichen Folgerungen gleichzeitig auch das Problem der Bewertung von Stichwortverbindungen zwischen benachbarten Psalmen stellt. Gemäß des von Zenger entwickelten Programms einer kanonischen Psalmenauslegung ist jeweils zu prüfen, ob solche Stichwortbeziehungen Zufall sind, ob sie der Auslöser waren, die betreffenden Texte nebeneinander zustellen, oder aber ob sie erst sekundär von den Redaktoren geschaffen wurden. Es ist jedoch fraglich, ob eine solche Prüfung tatsächlich eindeutige Ergebnisse erbringen kann. Sicherlich gibt es durchaus Beispiele, zu deren Erklärung man mit großer Wahrscheinlichkeit von redaktioneller Tätigkeit ausgehen kann.101 Häufiger sind die betreffenden Stichworte jedoch aufs engste mit dem sie umgebenden Text und dessen Sinngehalt verzahnt, so dass sie sich nur durch sehr gewagte literarkritische Operationen herauslösen und als redaktionelle Einfügung beschreiben lassen. Die Bereitschaft, mit der Hossfeld / Zenger dennoch Stichwortverbindungen als redaktionell bewerten, erscheint dementsprechend sehr hoch. Bewertet man eine Stichwortentsprechung nicht als redaktionell, verbleiben zur Erklärung die beiden Möglichkeiten, dass es sich um einen bloßen Zufall handelt oder aber dass die Entsprechung den Anlass zur Zusammenstellung der betreffenden Texte bildet. Manch neuere Arbeit, die sich dem Programm einer kanonischen Psalmenauslegung verpflichtet fühlt, suggeriert hier mit umfassenden und akribischen Auflistungen von Stichwortverbindungen eine Planmäßigkeit, die sich entweder nur durch eine annähernd jeden Halbvers betreffende redaktionelle Tätigkeit oder aber durch die göttliche Inspiration der Psalmendichter erklären lässt.102 Hier ist die Frage nach der Signifi101

So z.B. im Falle der Ps 50 und 51 verbindenden Opferkritik, die über die Stichworte

nnt - „Schlachtopfer" und r6ll/ - „Brandopfer" (Ps 51,18; vgl. Ps 50,8) redaktionell in Ps 51 eingetragen wird, vgl. Kap. III. 1. 102 Durch eine solche akribische Darstellung der Verkettung von Nachbarpsalmen zeichnet sich u.a. die umfangreiche Arbeit von G. BARBIERO aus (Das erste Psalmenbuch als Einheit. Eine synchrone Analyse von Psalm 1-41, Frankfurt 1999). Vgl. hierzu auch die allerdings sehr pauschale Kritik von N. WHYBRAY: „One method that has been employed in recent re-

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

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kanz und Valenz der beobachteten Stichwort- und Motiwerkettungen zu stellen, die sich sinnvoll nur auf dem Hintergrund einer Analyse des inhaltlichen und theologischen Profils der jeweiligen Einzeltexte beantworten lässt.103 b) Christoph Rösel Ein weiterer, sehr umfassender Beitrag zu der in den letzten Jahren zunehmend behandelten Frage nach der Entstehung des Psalters ist die Dissertation von Christoph Rösel.104 Mit der Sammlung Ps 2-89 wählt der Verfasser dabei ein Wachstumsstadium als Gegenstand seiner Untersuchung, das zwischen der Entstehung kleinerer Teilsammlungen und dem Abschluss der vorliegenden Endgestalt des Psalters liegt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die bereits vor über 100 Jahren von J.W. Rothstein vorgetragene These einer messianischen Redaktion von Ps 2-89. Nach einem kurzen Gang durch die Geschichte der Psalmenforschung des 20. Jahrhunderts kommt Rösel zu der methodischen Schlussfolgerung, dass sich das Wachstum des Psalters nur dann angemessen erfassen lässt, wenn Strukturbeobachtungen durch die Analyse einzelner Psalmen unter insbesondere literarkritischen, redaktions- und traditionsgeschichtlichen Fragestellungen ergänzt werden. Dementsprechend beginnt die Untersuchung nach einem Einleitungskapitel mit Beobachtungen zur Makrostruktur des Psalters. Anknüpfend an bisherige Forschungsergebnisse (Westermann, Wilson) bietet Rösel eine umfassende Darstellung und Auswertung der strukturellen und formalen Hinweise auf ein search to demonstrate editorial purpose in the Psalter is the study of concatenations [...]. As far as purely verbal links are concerned, there is no doubt that such are to be found between pairs and even small groups of psalms. However, given the large element of constantly repeated common vocabulary in the Psalter and in view of the probability that the psalmists were accustomed to compose by drawing on a common stock of pre-fabricated poetical lines, many if not most of these supposed links can probably be put down to coincidence or are for other reasons devoid of editorial significance." (Reading, 121). 103 An diesem Punkt beweisen insbesondere die neueren Überlegungen von E. ZENGER die notwendige Sensibilität: „Der Vorwurf, der gegen die neue Forschungsrichtung [gemeint ist die Psalterexegese im Sinne einer Betrachtung der Einzelpsalmen in ihrem größeren literarischen Kontext - Erg. der Verf.] erhoben wird, daß vielfach Bezüge zwischen Einzelpsalmen und zwischen Psalmgruppen als relevant herausgestellt werden, die weder von den Autoren noch von den Redaktoren geschaffen wurden, trifft das neue Projekt zumindest dann nicht, wenn die Stichwort- und Motiwerkettungen nicht zum Ausgangspunkt der Argumentation gemacht werden und wenn Kriterien der Gewichtung erarbeitet sind (vgl. die neuere Intertextualitätsforschung). Daß es zwischen Nachbarpsalmen Gemeinsamkeiten gibt, die zunächst einmal mit gattungstypischen Sprachmustern oder mit allgemeiner theologischer Topik zusammenhängen und nicht auf einen kontextuellen Gestaltungswillen zurückgeführt werden dürften, muß unbedingt beachtet werden." (Die Psalmen im Psalter, 455). 104 C. RÖSEL, Die messianische Redaktion des Psalters. Studien zu Entstehung und Theologie der Sammlung Psalm 2-89, Stuttgart 1999.

30

I. Einleitung

mehrstufiges Wachstum des Psalters. Dabei werden Beobachtungen zum Gebrauch der Gottesnamen im elohistischen Psalter, zur Ordnung der Überschriften, zur Schlussnotiz Ps 72,20, zu den Doppelüberlieferungen innerhalb des Psalters sowie zur Verteilung der Gattungen, thematischen Schwerpunkten und sprachlichen Besonderheiten beschrieben und ausgewertet. Ausgehend von den durch die Strukturbeobachtungen gewonnenen Ergebnissen entwickelt Rösel ein Modell der Entstehung des Psalters, das Ps 2-89 als eine von verschiedenen Wachstumsstufen des Psalters und damit als ehemals eigenständige Sammlung nachweist. Innerhalb dieses Rahmens bildete der auch für die vorliegende Untersuchung relevante Bereich des elohistischen Psalters (Ps 42-83) eine erste klar abgrenzbare Teilsammlung. Den Kernbestand dieser Sammlung bildete der zweite Davidpsalter (Ps 51-72). Um diese Gruppe wurde mit den die Tempelzerstörung und die Abwendung Gottes von seinem Volk beklagenden Asafpsalmen 50.73-83 ein Rahmen gelegt, durch den die individuellen Klagegebete des Königs David in die mit der Frage nach dem Schicksal der Gemeinschaft befasste Asaf-Sammlung einbezogen wurden. Die Erweiterung der David-Asaf-Sammlung durch die Korachpsalmen ist nach Auffassung Rösels möglicherweise mit der elohistischen Redaktion von Ps 42-83 identisch. Auf diese Weise erhielt die nun bestehende Sammlung des elohistischen Psalters einen zionstheologisch geprägten Anfang, wobei sich die Volksklage Ps 44 eng mit den Volksklagen der Asafpsalmen berührt und die Verbindung von individuellen und kollektiven Gebeten in Ps 42-49 mit der Kombination eben dieser Elemente in der David-Asaf-Sammlung übereinstimmt. Der so entstandene elohistische Psalter wurde zunächst durch den Anhang Ps 84.85.87 und in einem weiteren Schritt durch die Davidpsalmen 3-41 erweitert. Bedenkenswert in diesem Zusammenhang sind die Überlegungen Rösels, die hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden können und die ihn im Gegensatz zu Hossfeld / Zenger zu der Annahme eines stärker mit der Redaktionsgeschichte des gesamten Psalters verzahnten Wachstums von Ps 3-41 gelangen lassen. Die Sammlung Ps 3-87 wurde schließlich durch die gezielte Positionierung von Ps 2,1-9 und 88/89 gerahmt und zum messianischen Psalter ausgebaut. In einem Exkurs über das Verhältnis zur Chronik weist Rösel die stärkere Nähe des zweiten Teils des Psalters zur chronistischen Geschichtsschreibung nach und kommt in Verbindung mit den aus den Strukturbeobachtungen gewonnenen Unterscheidungen zwischen Ps 2-89 und Ps 90-150 zu der Schlussfolgerung, dass Ps 90-150 eine spätere Erweiterung zu Ps 2-89 darstellt. In einem weiteren Arbeitsschritt widmet sich der Autor der Frage, nach welchen inhaltlichen Kriterien die Sammlung von Ps 2-89 gestaltet wurde. Im Sinne seiner Arbeitshypothese von einem messianischen Interesse der Redaktoren von Ps 2-89 analysiert er dabei vor allem die Belege der Wurzel nE?o im

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

31

Psalter (Ps 2,2; 18,51; 20,7; 28,8; 45,8; 84,10; 89,21.39.52; 105,15; 132,10.17). Diese Einzelanalyse kommt zu dem Ergebnis, dass sich acht der zwölf Belege dieser Wurzel im Psalter auf den Textbereich Ps 2-41 und 84— 89 und damit auf diejenigen Texte konzentrieren, die bei der Zusammenstellung der Sammlung Ps 2-89 zu dem bereits vorliegenden elohistischen Psalter ergänzt wurden. Im Hintergrund der Salbungsvorstellung steht an allen acht Stellen die Salbung bei der Amtseinsetzung des Königs. Der Messiastitel wird in den betreffenden Psalmen vor allem im Zusammenhang der erlebten bzw. erbetenen Hilfe Gottes für den königlichen Gesalbten genannt. Von den acht Stellen in Ps 2-41.84—89 wurden nach der Analyse des Verfassers fünf durch eine Redaktion ergänzt, die nur punktuell in den Psalm eingriff. Fest in der Grundschicht des Textes verankert sind nur die Belege in Ps 89, so dass Rösel zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die Ergänzungen in Ps 2; 18; 20; 28; 84 und der Abschluss der gesamten Sammlung durch Ps 89 auf dieselbe Redaktion zurückgehen. Die Exegese von Ps 18 und 89 kommt zu dem Ergebnis, dass die Salbungsvorstellungen im Psalter unlösbar mit der Davidtradition verbunden sind. Dementsprechend stellt Rösel in Kapitel 4 seiner Untersuchung die Frage, welche Entwicklungen die im Psalter begegnenden Davidtraditionen erkennen lassen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich mit den verschiedenen Stationen des Wachstums des Psalters auch das Davidbild verändert. Der Hinweis auf die Person Davids in den Überschriften ( t n b ) und die biographischen Situationsangaben in Ps 51-72 gehen demnach auf die Redaktion zurück, die Ps 50-83 zusammenstellte. Die Rettungserfahrungen des königlichen Beters David werden für die Redaktoren des elohistischen Psalters zum Hoffnungszeichen für das Israel der exilisch - nachexilischen Zeit. In ihrer Schilderung Davids knüpfen die Redaktoren dabei an die Funktion des Königs als Beter im vorexilischen Tempelkult an. In Ps 2-89 stehen die gewichtigen Aussagen über David nicht mehr nur in den Überschriften, sondern im Text der Psalmen selbst. David ist nun nicht mehr in erster Linie der königliche Beter, sondern der von Gott erwählte und gesalbte König und Gründer der Dynastie, dessen Vollmacht sich im Kampf gegen die Feinde erweist. Erst mit der Wiederherstellung des Königtums wird sich das Schicksal des Volkes zum Guten wenden. In den auf Ps 2-89 folgenden Redaktionsstufen des Psalters wurde das Davidbild durch neue Akzentsetzungen erweitert und umgedeutet. Die spezifisch königlichen Motive treten in den Hintergrund, stattdessen wird David zunehmend zum Vorbild der Torah-Frömmigkeit. Die Ergebnisse der Untersuchungen zur Makrostruktur, zu einzelnen Texten und zur Entwicklung der Davidtradition münden in Kapitel 5 in eine Darstellung der Redaktion von Ps 2-89, in der zusammenfassend die Eingriffe der Redaktoren auf den Ebenen der Einzelpsalmen, der Psalmengruppen und Teil-

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I. Einleitung

Sammlungen sowie der Großsammlungen beschrieben werden. Die Frage nach dem „Sitz im Leben" des messianischen Psalters beantwortet Rösel abschließend in einer Verhähnisbestimmung von Einzelpsalm und Sammlung. Während die meisten Psalmen als Einzeltexte Gebete bzw. „Antwort Israels" (Gerhard von Rad) auf die Erfahrung des Handelns Gottes sind, werden sie als Sammlung zur Anrede Gottes an Israel und gewinnen den Charakter der Unterweisung. Entsprechend schlägt der Verfasser die Bezeichnung der Sammlung Ps 2-89 als „davidisches Erbauungs- und Gebetbuch" vor. Die Redaktoren dürften seiner Auffassung nach im Umfeld der Kultsänger des Zweiten Tempels zu suchen sein. Die vielfaltigen Ergebnisse der Studie von Christoph Rösel stellen für die weitere Forschung zur Entstehung des Psalters eine unverzichtbare Grundlage dar. Auch die vorliegende Arbeit profitiert insbesondere von den verschiedenen, sehr übersichtlich dargestellten Strukturbeobachtungen sowie von den Einsichten zur Entwicklung der Davidtradition im Psalter. Auf die einzelnen Ergebnisse wird dabei in den einzelnen Kapiteln näher einzugehen sein. Zur Vorgehensweise der Arbeit ist indessen kritisch anzumerken, dass der Nachweis der von Rösel zu Recht postulierten messianischen Redaktion noch mehr Substanz erhalten hätte, wenn der Autor sich bei seiner Arbeit am Einzeltext nicht nur auf die Belege der Wurzel nt?o und die entsprechenden Einzelverse konzentriert, sondern darüber hinaus auch den theologischen Denkbewegungen der von ihm näher untersuchten Texten in ihrer Ganzheit etwas mehr Aufmerksamkeit gewidmet hätte. Dies gilt umso mehr, als Rösels Interesse nicht nur den Redaktionsprozessen an sich, sondern auch deren theologischen Intentionen und Programmen gilt.105 In diesem Zusammenhang wäre auch eine stärkere Einbeziehung derjenigen Psalmen sinnvoll und wünschenswert gewesen, in denen die Thematik des irdischen Königtums unabhängig vom Vorkommen der Wurzel ntPD begegnet. Angesichts des weiten Textrahmens von Ps 2-89 dürfte dies im Rahmen eines Dissertationsvorhabens jedoch kaum zu leisten sein. 1.2.2.2 Der formkritisch orientierte Ansatz a) Claus Westermann Im deutschsprachigen Raum rückte die Frage nach der Komposition des Psalters vor allem mit dem 1962 erschienenen Aufsatz von Claus Westermann „Zur Sammlung des Psalters"106 ins Blickfeld des Interesses. Ausgehend von 105

Der Frage nach dem theologischen Profil des messianischen Psalters geht Rösel ausdrücklich in Kap. 5.2 seiner Untersuchung nach. 106 Theologia Viatorum VIII (1962), 278-284, wieder abgedruckt in: Forschung am Alten Testament. Gesammelte Studien (TB 24), 1964, 336-343 (auf diese Ausgabe beziehen sich die angegebenen Seitenzahlen).

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

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den Sammlungen der Threni und der Hodajot von Qumran gelangt Westermann zu der These, „dass auch dem Psalter mindestens teilweise sachlich einheitliche Sammlungen zugrunde liegen."107 Von hier aus bestimmt er innerhalb des Psalters die Gruppe der Wallfahrtspsalmen 120-134 als eine ehemals selbstständige Sammlung und gelangt zu der Auffassung, dass der vor dieser Sammlung stehende Ps 119 seinerseits eine Vorstufe des Psalters abschloss, die mit Ps 1 begann. „Dieser Rahmen wiederum bezeugt ein wichtiges Stadium auf dem Traditionsweg des Psalters, in dem der Psalter als Sammlung nicht mehr primär kultische Funktion hatte, sondern sich auf dem Weg gesetzesfrommer Überlieferung bewegte. Die Psalmen sind Gotteswort geworden, das gelesen, studiert, meditiert wird."108 Bei seinen weiteren Überlegungen stützt Westermann sich auf die grundlegenden Kriterien der Gattungsforschung, nämlich die Unterscheidung der beiden Grundtypen Klage und Lob sowie die Differenzierung zwischen Psalmen des Einzelnen und Psalmen der Gemeinschaft. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Klage des Einzelnen vor allem in der ersten Hälfte des Psalters findet, während größere Gruppen von Lobpsalmen nur in der zweiten Hälfte begegnen. Außerdem enthalten alle Gruppen von Davidpsalmen primär Psalmen des Einzelnen, während sich die Psalmen der Gemeinschaft vor allem auf die Gruppen der Korach-, Asaf- und Wallfahrtspsalmen konzentrieren. Des Weiteren verweist Westermann auf die Rahmung der Sammlungen des ersten Davidpsalters und des elohistischen Psalters durch die beiden Königspsalmen 2 und 89. b) Matthias Miliard Gut dreißig Jahre später geht Matthias Miliard mit seiner ausfuhrlichen Studie zur Komposition des Psalters den von Westermann eingeschlagenen Weg einer formgeschichtlich orientierten Antwort auf die Frage nach der Gestaltwerdung des Psalters weiter.109 Ausgehend von den Kategorien der Formgeschichte der Einzelpsalmen (Teil I) entwickelt Miliard auf synchroner Ebene eine formgeschichtliche Beschreibung verschiedener durch Überschriften konstituierter Psalmengruppen (Teil II). Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die in vielen Klage- und Dankliedern zu beobachtende Bewegung von der Klage zum Lob, häufig durch ein Orakel unterstrichen, sich auch in der Anordnung zahlreicher Psalmen findet. Zwar lassen sich verschiedene Typen von Kompositionen unterscheiden, nämlich Wallfahrtspsalmengruppen, Klagekompositionen und Clusteranordnungen, dies sind jedoch nur Varianten eines Grundtyps, der sich aus Klage - Orakel - Danklied / Hymnus zusammensetzt.110 107

A.a.O., 337. A.a.O., 339. 109 Vgl. M. MILLARD, Die Komposition des Psalters. Ein formgeschichtlicher Ansatz (FAT 9), Tübingen 1994. 110 Vgl. a.a.O., 162ff. 108

34

I. Einleitung

Diese Grundform wurde nach Auffassung Millards auch auf der Makroebene als Anordnungsprinzip beibehalten, d.h. bei der Zusammenstellung von Kompositionen zu größeren Einheiten und bei der Gesamtanlage des Psalters. Die für die vorliegende Arbeit bedeutsamen Psalmengruppen der Korachund Asafpsalmen sowie des zweite Davidpsalters stehen dabei beispielhaft für die drei von Miliard unterschiedenen Kompositionstypen. Die Korachpsalmen 42-49 stellen ebenso wie die Wallfahrtspsalmen 120-134 eine Wallfahrtspsalmengruppe dar.111 Charakteristisch für diese Gruppe ist eine Einleitung, in der sich das Thema der Wallfahrt ankündigt (Ps 42/43), auf die in den Psalmengruppen mit Pluralkern eine sog. Themenklage folgt (Ps 44). Mit Ps 45 folgt ein Einschub im Singular, danach markiert ein Orakelelement (Ps 46,11) den Umschwung von der Klage zum Hymnus. Ziel und Höhepunkt ist ein Hymnenteil, der das Zionsmotiv aus der Einleitung aufnimmt (Ps 46-48), den Abschluss der Gruppe bildet ein weisheitlich geprägter Psalm (Ps 49). Als Beispiel für eine Klagekomposition kann die Sammlung der Asafpsalmen dienen. Hier unterscheidet Miliard zwischen zwei Kompositionsbögen: Ps 73-77 und 78-83. Beide Teilgruppen beginnen mit weisheitlich geprägten Psalmen (Ps 73 und 78), an die sich Themenklagen über die Zerstörung des Heiligtums anschließen (Ps 74 und 79; 80). Ps 75 / 76 und 81 / 82 deutet Miliard als das Gericht ankündigende Orakelpsalmen, auf die mit Ps 77 und 83 retardierende Elemente folgen, die vom Lob wieder zurück in die Klage fallen.112 Der dritte Kompositionstyp, die Clusteranordnung von Psalmen, zeichnet sich durch die Aneinanderreihung von Psalmen derselben Gattung aus. Zu diesem Typ gehört der zweite ebenso wie der erste Davidpsalter. Im Bereich des zweiten Davidpsalters identifiziert Miliard einen einleitenden Klagecluster (Ps 51-64), in dem eine Gruppe individueller Klagelieder zusammengestellt wurde. Es folgt mit Ps 65-68 eine Hymnus-Danklied-Gruppe. Die vier Texte der Schlussgruppe (Ps 69-72) haben auf der Ebene der Ausgestaltung der Psalmenbücher großkontextuelle Funktion."3 Den dritten Teil seiner Studie widmet Miliard der Frage nach der Entstehung des Psalters. Ausgehend von äußeren Hinweisen auf ein Wachstum des Psalters (Doppelüberlieferungen, häufigerer Gebrauch der Gottesbezeichnung •Ti^N in Ps 42-83; Schlussnotiz Ps 72,20) bestimmt er den elohistischen Psalter als erste beschreibbare Vorstufe des heute vorliegenden Endtextes.114 Um das Profil dieser Vorstufe genauer beschreiben zu können, nimmt der Autor insbesondere die Nahtstellen zwischen den drei großen Psalmengruppen der Korach-, David- und Asafpsalmen in den Blick (Ps 49-52; 68-73). Beide Nahtstellen sind seiner Auffassung nach von einer distanzierten Haltung zum 111

Vgl. Vgl. 113 Vgl. 114 Vgl.

112

a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O.,

63ff. 89ff. 115fr. 169ff.

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

35

Opfer und von Bitten, das zerstörte Jerusalem wieder aufzubauen, geprägt. Insgesamt zeichnen sich alle drei Psalmengruppen durch eine starke Orientierung auf Jerusalem hin aus. Während die Korachpsalmen die Wallfahrt nach Jerusalem thematisieren, beklagen die Asafpsalmen die Zerstörung des Tempels. Den historischen Ort der Komposition des elohistischen Psalters findet Miliard in der Diaspora in der Zeit des zerstörten und noch nicht wiederaufgebauten Tempels: „In der Zeit, in der der zentrale Gottesdienst in Jerusalem nicht mehr stattfindet, entsteht eine Sammlung von Gebeten, die eine Ersatzfunktion für diesen Gottesdienst einnimmt. So leistet der elohistische Psalter in der Situation des Exils zuerst und vor allem die Orientierung der jüdischen Gemeinschaft auf ihren Gott: Er erinnert an die Wallfahrt zum Tempel, beklagt dessen Zerstörung und vermittelt eine Hoffnung auf ein künftiges Eingreifen Gottes."115

Der Ausbau dieser ersten Vorstufe des Psalters erfolgte nach Auffassung Millards in persischer Zeit."6 Die erste Ergänzung des elohistischen Psalters bildete demnach die zweite Korachpsalmengruppe (Ps 84-89). Anders aber als z.B. Rösel betrachtet Miliard Ps 89 nicht als Abschluss einer weiteren, selbstständigen Vorstufe des Psalters, sondern als retardierendes Moment innerhalb eines weiter gefassten Spannungsbogens, der auf die Jahwe-König-Psalmen zielte und mit einem der Hymnen Ps 96-100 abschloss. Erst hier, in den Jahwe-König-Psalmen wird der bereits in den Asafpsalmen angekündigte Hymnus vollzogen. Auch im vorderen Bereich ist der Psalter in persischer Zeit erweitert worden. Miliard denkt dabei an eine Vorstufe des ersten Psalmenbuches, die ihren Anfang im Bereich von Ps 11-13 hatte. Im Vergleich zum elohistischen Psalter wird der Grundton des Psalters in persischer Zeit freudiger, die BClage wandelt sich zunehmend zum Lob. Die Komposition umspielt Themen der Wallfahrtsliturgie, aber in einem nachkultischen Zusammenhang: „Der Psalter ist also einerseits in persischer Zeit Ersatz für die Wallfahrt, doch andererseits wirkt er mit der Umspielung der Wallfahrtsthemen wie ein Propagandabuch der Wallfahrt. Er tritt an die Stelle des Gottesdienstes, aber er weckt auch Sehnsucht nach ihm."117

Da nach Auffassung Millards eindeutige diachrone Hinweise auf weitere Vorstufen fehlen, beschäftigt er sich abschließend mit der Ebene der vorliegenden Endgestalt des Psalters.118 Die in persischer Zeit bereits angelegten Tendenzen werden durch den weiteren Ausbau des Psalters ausgeweitet und präzisiert. Der masoretische Psalter ist ein nachkultisches Wallfahrtsliederbuch, zentrale und verbindende Themen sind das Königtum Gottes und die Torah. David bleibt auch in der spätesten Phase der Komposition des Psalters der Gewährsmann der Psalmen und hat die Funktion einer Integrationsfigur. „Der 115

A.a.O., 188. Vgl. a.a.O., 188ff. 117 A.a.O., 209. 118 Vgl. a.a.O., 213ff. 116

36

1. Einleitung

Gottesdienst ohne Tempel zu Davids Zeit gibt das Vorbild ab für die Wendung zu Gott in der Situation, in der der Tempel zwar als Zentralheiligtum anerkannt ist, aber faktisch unerreichbar ist.'"" Die Funktion der Endgestalt des Psalters benennt Miliard abschließend als „Lehrbuch des Gebetes": „Er hilft dem klagenden Einzelnen zur Anrede Gottes in seiner Not, er erinnert an die Nöte anderer und die vergangene Hilfe Gottes, er weckt damit die Hoffnung auf die Wendung auch der eigenen Not und führt den Beter schließlich zum Gotteslob der Gemeinde."120

Miliard hat sich mit seinem Versuch einer formgeschichtlichen Beschreibung des gesamten Psalters ein mehr als ehrgeiziges Ziel gesetzt. Einerseits stellt diese Inblicknahme des ganzen Psalters und nicht nur bestimmter Teilsammlungen zweifelsohne eine der Stärken seiner Arbeit dar, gleichzeitig liegt hier jedoch auch einer der Schwachpunkte.12' Der weitgesteckte Textrahmen, in den zusätzlich diverse Beispiele außerhalb des Psalters einbezogen werden,122 fuhrt dazu, dass die einzelnen Psalmen nur sehr selektiv wahrgenommen werden können. Die Argumentation stützt sich in der Regel nur auf einzelne Verse und verliert dabei das literarische und theologische Profil des Textes als Ganzem aus dem Auge.123 Insgesamt stellt sich trotz einer Fülle wichtiger Detailbeobachtungen die Frage nach der Tragfähigkeit und Effizienz einer Formgeschichte der Psalmengruppen überhaupt. In seinen methodischen Vorüberlegungen distanziert sich Miliard ausdrücklich von einer „normierenden Formgeschichte",124 die aus den vorliegenden Texten einen ihnen zugrunde liegenden Idealtypus rekonstruieren will, und verschreibt sich selbst einer „beschreibenden Formgeschichte". Der von ihm gefundene, aus der Abfolge Klage - Orakel - Danklied / Hymnus bestehende Grundtyp stellt jedoch eben solch einen Idealfall dar, so dass auch Miliard eine Fülle von Ausnahmen in Kauf nehmen muss.125 119

A.a.O., 232. A.a.O., 250. 121 Zur Kritik an Miliard vgl. auch die Rezension von R. ALBERTZ, ThLZ 121 (1996), 143ff; H. SPIECKERMANN, Psalmen und Psalter. Suchbewegungen des Forschens und Betens, in: F. Garcia Martinez / E. Noort (Hrsg.), Perspectives in the Study of Old Testament and Early Judaism (VT.S 73), Leiden 1998, 140ff; C. RÖSEL, Redaktion, 12ff. 122 So das Gebet und Lied der Hanna (1. Sam If), die Sammlung der Threni, Jesaja 40-55; die Psalmen Salomos, das Achtzehn-Bitten-Gebet, die Hodajot von Qumran. Uneingeschränkt positiv zu würdigen ist in diesem Zusammenhang auch die intensive Einbeziehung der rabbinischen Auslegungstradition, deren Kenntnis Miliard seinem Judaistik-Studium verdankt und die in der alttestamentlichen Wissenschaft bisher nur am Rande wahrgenommen wird. 123 Dieses Problem wird beispielhaft bei Millards Bewertung von Ps 78 deutlich, vgl. hierzu die Kritik in Kap. IV.2.1, Anm. 86. 124 M. MILLARD, Komposition, 47ff. 125 Vgl. u.a. sein eigenes Urteil in der Zusammenfassung zur Formgeschichte der Psalmengruppen: „Dabei zeichnete sich die Folge von Klage-Orakel-Hymnus/Danklied als Anord120

1. Fragestellungen der gegenwärtigen Psalmenforschung

37

Es stellt sich aber die Frage, wieweit der Ansatz trägt, wenn der Idealtypus in der konkreten Textgestalt so gut wie nie zu finden ist. Der formgeschichtliche Ansatz arbeitet vor allem mit den drei Gattungstypen Klage/Bitte, Lob/Dank und Hymnus. Dies sind jedoch vom konkreten Gattungsexemplar weit abstrahierte Größen, die schon bei der Bestimmung des einzelnen Psalms an Grenzen stoßen und dessen inhaltliche bzw. theologische Feinheiten nivellieren. Dies gilt umso mehr für Kompositionsbögen. Wenn z.B. im zweiten Davidpsalter ein Großteil der Komposition als „Klagecluster" (Ps 51-64) beschrieben wird, auf den mit Ps 65-68 eine „Hymnus-Danklied-Gruppe" folgt, dann stellt dies eine Verkürzung des Profils insbesondere der Gruppen Ps 52-55; 56-60 und 61-64 dar. Insgesamt bietet der Ansatz zwar ein einprägsames und übersichtliches Raster, das die Fülle der Einzeltexte und Psalmengruppen strukturiert und damit „handhabbar" macht. Mehr als eine grobe Orientierung kann er jedoch kaum leisten. Um das theologische Profil der verschiedenen Psalmengruppen genauer erfassen zu können, bedarf es eines differenzierteren Blicks auf die Einzeltexte. Problematisch wird die Vorgehensweise Millards weiterhin in dem Moment, in dem er die synchrone Beschreibung der Psalmengruppen zur Grundlage einer diachronen Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des Psalters macht. Hier kann bei aller gebotenen Zurückhaltung und Vorsicht auf literarkritische und redaktionsgeschichtliche Überlegungen und Analysen nicht verzichtet werden. Was die konkreten Thesen Millards zum Wachstum des Psalters angeht, so dürfte seine Auffassung vom elohistischen Psalter als der ältesten Vorstufe durchaus zutreffend sein.126 Anders liegen die Dinge jedoch hinsichtlich seiner Rekonstruktion einer bis in den Bereich der JHWH-KönigPsalmen 96-100 reichenden, in persischer Zeit entstandenen Ausbaustufe. Hier scheint das Postulat einer Grundbewegung in den Psalmensammlungen von der Klage hin zum Lob die Grundlage der diachronen Hypothesenbildung zu sein. Demgegenüber hat spätestens die Studie von Christoph Rösel umfassend nachgewiesen, dass das Ende einer den Textbereich der beiden großen Sammlungen des ersten Davidpsalters und des elohistischen Psalters umfassenden Ausbaustufe bei dem von Miliard als retardierendes Moment beurteilten Ps 89127 gelegen haben dürfte. 1.2.3 Ergebnisse Am Ende dieses Überblicks zu den wichtigsten Forschungspositionen der letzten Jahre zur Frage nach der Komposition des Psalters lässt sich feststellen, dass sich trotz erheblicher Divergenzen hinsichtlich der Vorgehensweise und nungsprinzip ab, wobei ein Element von Fall zu Fall fehlen, aber auch erheblich erweitert sein kann." (A.a.O., 162). 126 Vgl. hierzu Kap. II.5 127 Vgl. M. MILLARD, Komposition, 200.

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1. Einleitung

der Einzelergebnissen ein erster, vorläufiger Forschungskonsens abzeichnet, der sich folgendermaßen umreißen lässt: 1. Der Psalter ist keine zufallige Aneinanderreihung von beziehungslos nebeneinander stehenden Einzeltexten, sondern stellt ein strukturiertes, absichtsvoll komponiertes Ganzes, kurz gesagt ein Buch, dar. 2. Der Endgestalt des Psalters liegt ein komplexer, langwieriger Prozess zugrunde, in dessen Verlauf verschiedene Teilsammlungen, die ihre je eigene Entstehungsgeschichte haben, zusammengestellt und verbunden wurden. Hinsichtlich des konkreten Ablaufs dieses Prozesses divergieren die Meinungen, ein Konsens besteht jedoch dahingehend, dass das stark hymnisch geprägte letzte Drittel des Psalters sich erst in der Spätphase der Entstehungsgeschichte konstituiert hat. 3. Besondere Bedeutung für die Erfassung der theologischen Intention des Psalters in seiner Endgestalt, aber auch in seinen verschiedenen Wachstumsstationen, haben diejenigen Einzeltexte, die sich vor allem am Rand der einzelnen Teilsammlungen befinden (diskutiert werden insbesondere Ps 1; 2; 72; 73; 89; 146-150). 4. Auch wenn viele Einzelpsalmen ihren ursprünglichen „Sitz im Leben" im Kult haben, wird im Allgemeinen davon ausgegangen, dass der Psalter als Buch seine Funktion nicht primär als „Gesangbuch des Zweiten Tempels" hatte, sondern vielmehr der Unterweisung, Erbauung und Meditation von Einzelnen ebenso wie von Gruppen dient.

2. Methodische Konsequenzen und Vorüberlegungen Wer die Frage nach der Anordnung der Psalmen stellt, der erhält von der jüdischen Tradition einige eindeutige Warnungen mit auf den Weg.128 So bekam Rabbi Josua ben Levi, als er die richtige Anordnung der Psalmen herstellen wollte, eine Stimme vom Himmel zu hören: Weck die Schlafenden nicht auf! Und Rabbi Eleazar lehrte, dass die Psalmen nicht in ihrer richtigen Anordnung stehen, damit der Mensch diese nicht kennt. Würde er sie nämlich kennen, könnte er Tote auferwecken und Wunder vollbringen. Deswegen sei die Kenntnis der rechten Anordnung allein Gott vorbehalten. Da die vorliegende Arbeit nicht die Absicht hat, eine andere, „richtigere" Anordnung der Psalmen herzustellen, sondern sich mit der bestehenden durchaus zufrieden gibt, soll diese Frage nun doch gewagt werden. Zur Absicherung dieses Unterfangens bedarf es jedoch zunächst einiger methodischer Vorüberlegungen, die ihre Konsequenzen aus den Ergebnissen der oben dargestellten Forschungspositionen ziehen. 128

Vgl. Midrasch Tehellim 3,2.

2. Methodische Konsequenzen und Vorüberlegungen

39

2.1 Zum Verhältnis von synchroner und diachroner Fragestellung

Auch wenn die Frage nach der Komposition des Psalters eine zentrale Fragestellung der Psalmenforschung geworden ist, so ist doch die Debatte nach der angemessenen methodischen Erschließung dieses Forschungsfeldes noch längst nicht abgeschlossen. Diejenigen Ansätze, die sich einer synchronen Beschreibung von Psalmengruppen und Kompositionsbögen verschreiben, stehen dabei gewissermaßen auf der sicheren Seite. Auf diesem Wege gibt es viele thematische, motivliche und sprachliche Verbindungslinien zu entdecken und zu beschreiben, theologische Leitideen von z.B. durch Überschriften abgrenzbaren Gruppen lassen sich darstellen. Allerdings lässt sich auch die Gefahr einer gewissen Beliebigkeit bei solch einer einseitig synchronen Vorgehensweise kaum umgehen. Dies gilt insbesondere für die Bewertung von Stichwortverbindungen innerhalb einer Psalmengruppe bzw. Teilsammlung. Hier bedarf es der diachronen Frage nach dem Entstehungsprozess solch einer Sammlung sowie den theologischen Intentionen ihrer Träger, um zwischen signifikanten und weniger signifikanten oder sogar zufalligen Verbindungen zu unterscheiden. Der Psalter in seiner vorliegenden Endgestalt trägt allenthalben sichtbare Spuren des Wachstums (Doppelüberlieferungen, unterschiedlicher Gebrauch des Gottesnamens, Schlussnotiz Ps 72,20).129 Der Versuch, den Psalter als Einheit zu lesen, und die damit verbundene Frage nach der theologischen Intention und Botschaft dieser Einheit kann dementsprechend nicht von der Frage nach dem der Endgestalt des Psalters zugrunde liegenden Prozess getrennt werden. Wer diesem Prozess und damit auch den sich verändernden Leitideen der an ihm beteiligten Verfasser und Redaktoren auf die Spur kommen will, muss zwangsläufig diachron fragen und diesen Spuren des Wachstums auf den Grund gehen.130 Allerdings tut jeder, der diesen Weg beschreitet, gut dar129

Vgl. hierzu Kap. II. C . UEHLINGER vergleicht das Verhältnis von synchroner und diachroner Fragestellung mit den archäologischen Methoden der Oberflächenuntersuchung, die Scherben und Kleinartefakte sammelt und analysiert, den antiken Teil aber intakt lässt und der Ausgrabung, die den Hügel Schicht für Schicht abträgt (Antiker Teil, lebendiges Stadtviertel. Das Psalmenbuch als Sammlung von Einzeldichtungen und als Großkomposition, BiKi 56 (2001), 174-177). Von diesem Vergleich aus gelangt Uehlinger zu einem anschaulichen Bild der Entstehung des Psalters: „So stellt sich das Wachstum des Psalters [...] als ein sehr komplexer Prozess lebendiger Überlieferung dar. Viele Epochen haben daran mitgearbeitet und dabei ihre - auch heute noch erkennbaren - Spuren hinterlassen. Die massivsten Spuren liegen, so scheint mir, in den Einzelpsalmen, die zum Teil weit in die Geschichte Judas zurückreichen und gewissermaßen die Fundamente des Psalters bilden. Spätere Generationen haben die Häuser ihrer Ahnen und Vorbewohner übernommen und sie durch mehr oder weniger massive Um- und Anbauten ihren eigenen Bedürfhissen angepasst. Nicht jedes Haus erfüllt denselben Zweck oder bietet denselben Komfort, aber alle sind Spiegel ihrer Bewohnerinnen. Nach und nach entstanden einzelne Wohnviertel und Gassen, die sich wiederum erst in einem längeren Prozess zu einem 130

40

I. Einleitung

an, sich die Grenzen, die seinem Fragen durch die zeitliche Distanz von mehr als zwei Jahrtausenden gesetzt sind, bewusst zu machen. Mehr als Hypothesen mit unterschiedlichen Graden der Wahrscheinlichkeit werden nicht möglich sein. So ist z.B. die mit dem Fortschreiten des Wachstumsprozesses geringer werdende Gestaltungsfreiheit der Redaktoren bei allen Gedankenmodellen zur Entstehung des Psalters in Rechnung zu stellen. Während die Redaktoren bei der Zusammenstellung von kleineren Psalmengruppen oder Teilsammlungen, wie z.B. den Asaf- oder Korachpsalmen, noch einen denkbar großen Freiraum hatten, um bestimmte, differenzierte theologische Leitideen zu verfolgen, wurde dieser mit dem zunehmenden Wachstum des Psalters immer kleiner. So unterlag z.B. die Zusammenstellung des elohistischen Psalters aus den Teilsammlungen der Korach-, David- und Asafpsalmen bereits bestimmten, durch den verschiedenartigen Charakter dieser Teilsammlungen bedingten Einschränkungen. Dass die Redaktoren sich dabei nachhaltige Eingriffe in den Textbestand versagt haben, zeigt eben dieser - trotz diverser Brückenschläge - nach wie vor sehr unterschiedliche Charakter der einzelnen Sammlungen.131 Das so entstandene spezifische Profil des elohistischen Psalters wiederum bildete die Vorgabe für die nächste, größere Ausbaustufe, den sog. messianischen Psalter (Ps 2-89), hinter die die betreffenden Redaktoren nicht zurück konnten. Die gestalterischen Möglichkeiten der Redaktoren - insbesondere der Endredaktoren - waren dementsprechend beschränkt und reduzierten sich im Wesentlichen auf die Verbindungsstellen zwischen den Teilsammlungen132 und auf die Festlegung von deren Reihenfolge.133 2.2 Zum Begriff der „Komposition " Mit der Frage nach dem Eigenanteil und den gestalterischen Möglichkeiten der Redaktoren eng verknüpft ist die Frage, welches Grundmodell dem Prozess der Entstehung des Psalters sinnvollerweise zugrunde gelegt werden kann. In der Literatur findet sich hier eine durchaus disparate Begrifflichkeit. größeren, organischen Ganzen zusammenschlössen, ohne dass ihre Nachbarschaft immer auch strikte ideologische Übereinstimmung und Kohärenz erfordert hätte. In der Hasmonäerzeit scheint das Häuser- und Gassennetz dann eine Konsistenz angenommen zu haben, die große Neubauten fortan unmöglich machte (zu viel Altes hätte man dafür abreißen müssen...)." (177). 131 Vgl. hierzu die folgenden Kap. III, IV und V. 132 Dementsprechend ist es durchaus sinnvoll, wenn M. MILLARD ein besonderes Augenmerk auf die „Nahtstellen" an den Rändern der einzelnen Psalmengruppen richtet, vgl. Komposition, 173 ff. 133 Die Annahme von Hossfeld / Zenger, dass die Abfolge der Psalmensammlungen dem historische Wachstum des Psalters entspricht, ist entsprechend mit Vorsicht zu betrachten. In erster Linie dürfte sich in der vorliegenden Reihenfolge die theologische Leitidee der Gesamtkomposition („von der Klage zum Lob") spiegeln.

2. Methodische Konsequenzen und Vorüberlegungen

41

So ist z.B. die Rede von der „Sammlung", der „Redaktion" oder der „Komposition" des Psalters. Auch wenn diese Begriffe teilweise eher unreflektiert bzw. nahezu synonym verwendet werden, werden hier doch unterschiedliche Nuancen in der Sichtweise des Entstehungsprozesses des Psalters deutlich. Während die Rede von der „Sammlung" des Psalters insbesondere die absichtsvolle Nebeneinanderordnung von Einzelpsalmen in den Blick nimmt, betonen diejenigen Forscher, die von der „Redaktion" des Psalters sprechen, vor allem die sekundäre Bearbeitung vorgefundener Grundpsalmen im Zuge ihrer Zusammenstellung. Beide Vorgehensweisen, sowohl die Zusammenstellung von Einzelpsalmen als auch deren sekundäre Bearbeitung, sind jedoch zwei Aspekte ein und desselben Vorgangs. Auf dem Hintergrund der dargestellten Forschungsergebnisse, insbesondere der Arbeiten von Hossfeld / Zenger, lässt sich folgendes Grundmodell von der Entstehung des Psalters bzw. seiner Vorstufen zeichnen: 1. Phase: Zusammenstellung von Einzelpsalmen auf Grund von inhaltlichen und thematischen Gemeinsamkeiten unter einer bestimmten theologischen Leitidee zu kleineren Psalmengruppen. Die bestehenden Gemeinsamkeiten, die sich u.a. in Stichwortverbindungen konkretisieren, können dabei durch punktuelle Bearbeitung verstärkt werden. Die theologische Leitidee des Redaktors gewinnt in diesen punktuellen Bearbeitungen (sekundäre Stichwortverbindungen) und darüber hinaus vor allem in der Abfolge der Psalmen Gestalt. 2. Phase: Zusammenstellung von Psalmengruppen zu Teilsammlungen (z.B. Asaf- und Korachpsalmen, erster und zweiter Davidpsalter). Dabei können bestehende Kleingruppen durch weitere Psalmen ergänzt werden, auch redaktionelle Erweiterungen einzelner Psalmen im Sinne einer die Teilsammlung zusammenbindenden Leitidee sind möglich. In diese Phase dürfte im Wesentlichen die Setzung der Angaben zur Liedart in den Überschriften als Lesehilfe gehören.134 3. Phase: Zusammenstellung von Teilsammlungen zu größeren Einheiten bzw. Vorstufen des Psalters wie z.B. zum elohistischen Psalter (Ps 42-83) oder zum messianischen Psalter (Ps 2-89). Da der Textbestand der einzelnen Teilsammlungen zu diesem Zeitpunkt offensichtlich bereits als feststehend und unantastbar gilt, konzentrieren und beschränken sich die Gestaltungsmöglichkeiten der Redaktoren vor allem auf die Verbindungsstellen zwischen den Teilsammlungen. Hier können bereits bestehende Einzeltexte gezielt platziert werden oder aber auch Psalmen eigens für einen bestimmten Ort geschaffen werden (so z.B. Ps 1).

134 Dies gilt zumindest für den Bereich des sog. messianischen Psalters (Ps 2-89). Zur Funktion der Überschriften vgl. Kap. II.3.

42

I. Einleitung

Entsprechend diesem Modell wird die vorliegende Arbeit vorwiegend den Begriff der „Komposition" des Psalters bzw. seiner Teilsammlungen und Vorstufen verwenden. Dieser Begriff erscheint als besonders geeignet, da er sowohl den Charakter des Prozesses der Buchwerdung des Psalters bzw. seiner Teilsammlungen und Vorstufen als auch das Ergebnis dieses Vorgangs beschreibt. Er charakterisiert diesen Prozess als ein gestaltetes und absichtsvolles Unterfangen, in dem ein größeres Ganzes aus verschiedenen, bereits bestehenden Teilen geschaffen wird. Außerdem wird das Ergebnis dieses Weges als eine zusammengehörige, in sich geschlossene Einheit mit einem bestimmten und bestimmbaren thematisch-theologischen Charakter qualifiziert und benannt.135 Zwischen den beiden Modellen der Sammlung auf der einen und der Redaktion des Psalters auf der anderen Seite nimmt das Reden von der „Komposition des Psalters" eine vermittelnde und verbindende Position ein, da es primär von einer sammelnden und ordnenden Tätigkeit der Redaktoren136 ausgeht, aber gleichzeitig auch mit gestaltenden Eingriffen in den Textbestand von Einzeltexten und Psalmengruppen rechnet. 2.3 Zum Phänomen der Stichwortverbindungen Mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen der sammelnden und der bearbeitenden Tätigkeit der Redaktoren eng verbunden ist das Problem der Beurteilung von Stichwortverbindungen.137 Ist eine solche Verbindung die Konsequenz thematischer und theologischer Gemeinsamkeiten zwischen benachbarten Psalmen und dementsprechend mit ausschlaggebend für die Zusammenstellung der Texte, oder ist sie vielmehr das Ergebnis eines gezielten redaktionellen Eingriffs? Diese Frage wird im Einzelfall nicht immer eindeutig zu entscheiden sein. Hier ist im Zweifelsfall die Beschränkung auf die reine Beobachtung und theologische Bewertung sinnvoller als eine allzu schematische Zuweisung zu einer bestimmten Redaktion (wie z.B. der Armenredaktion bei Hossfeld / Zenger, vgl. 1.2.2.1). A. Aejmelaeus hat in ihrer traditionsgeschichtlichen Arbeit gezeigt, dass Psalmensprache in hohem Maße traditionell geprägt ist.138 Insbesondere die Bitten der Klagelieder des Einzelnen enthalten eine in hohem Maße konventi135

Der Begriff „Komposition" wird hier also anders und weiter gefüllt als bei M. MILLARD, der unter dem Stichwort „Kompositionsmodell" nur die Schaffung von einzelnen Psalmen speziell für einen bestimmten Ort in einem größeren Kontext versteht (Von der Psalmenexegese zur Psalterexegese, 325f). 136 Konsequenterweise mttsste man bei diesem Sprachgebrauch von „Komponisten" statt von „Redaktoren" sprechen. Da dieser Begriff jedoch eher musikalische Assoziationen freisetzt und die Frage der musikalischen Gestaltung der Psalmen hier nicht zur Diskussion steht, wird in dieser Arbeit weiterhin von den „Redaktoren" die Rede sein. 137 Vgl. hierzu auch die Auseinandersetzung mit Hossfeld / Zenger in Kap. 1.1.2.2.1. 138 Vgl. A. AEJMELAEUS, The Traditional Prayer in the Psalms (BZAW 167), Berlin u.a. 1986.

2. Methodische Konsequenzen und Vorüberlegungen

43

onelle Sprache, die zwangsläufig dazu fuhrt, dass die betreffenden Texte, unabhängig von ihrer Anordnung, zahlreiche Stichwortverbindungen aufweisen. Dies bedeutet, dass insbesondere in Psalmengruppen und Kompositionen mit Texten einer Gattung, wie es z.B. im ersten oder zweiten Davidpsalter der Fall ist, eine intensivere einzelexegetische Arbeit notwendig ist. Hier reicht der Verweis auf Stichwortverbindungen nicht aus, um die Vorgehensweise und die Leitideen der Redaktoren zu ermitteln. Vielmehr bedarf es einer möglichst genauen Wahrnehmung des differenzierten theologisch-inhaltlichen Profils der einzelnen Texte, um an diesem Punkt zu genaueren Einsichten zu gelangen. 2.4 Zur Funktion und Wirkung von Psalmenverkettungen Eine Untersuchung der Buchwerdung des Psalters kann sich jedoch nicht nur mit der Arbeits- und Vorgehensweise der Redaktoren und den dazugehörigen diachronen Abläufen beschäftigen. Neben der Frage nach der Intention und theologischen Botschaft der Endgestalt des Psalters bzw. einzelner Teilsammlungen und Vorstufen sind auch die Funktion und die zusätzlichen Sinn- und Aussagedimensionen in den Blick zu nehmen, die durch die kompositionelle Arbeit der Redaktoren in Hinblick auf einzelne Psalmen und Psalmengruppen entstanden sind. Hier sind die in der Forschung bisher vergleichsweise wenig beachteten Anregungen von N. Lohfink hilfreich.139 Seiner Auffassung nach wurde der Psalter bereits von den Endredaktoren als Meditations- und Erbauungsbuch der persönlich-individuellen Frömmigkeit geschaffen und zur Zeit Jesu in eben dieser Funktion verwendet.140 Diese Bestimmung des „Sitzes im Leben" des Psalters wird durch das Phänomen der Stichwortverbindungen gestützt.141 Diese Stichwortbezüge in Verbindung mit inhaltlichen Zusammenhängen dienen als Meditationshilfe, deren Funktion und Wirkung sich nach Lohfink folgendermaßen skizzieren lässt: a) Weiterleitung des Meditierenden von einem Psalm zum anderen142 Als Beispiel nennt Lohfink hier u.a. Ps 32 und 33. Ps 32 endet mit dem Lobaufruf: „Freuet euch JHWHs und seid fröhlich, ihr Gerechten, und jauchzet, alle mit geradem Herzen" (32,11), Ps 33,1 schließt inhaltlich fast wie ein Parallelvers an: „Jauchzet, ihr Gerechten, über JHWH, den Geraden ziemet das Lob."

139

Vgl. N. LOHFINK, Psalmengebet und Psalterredaktion, ALw 34 (1992), 1-22. Hier stützt sich Lohfink vor allem auf die von N. FÜGLISTER vorgetragenen Thesen, vgl. ders., Die Verwendung und das Verständnis der Psalmen und des Psalters um die Zeitenwende, in: J. Schreiner (Hrsg.), Beiträge zur Psalmenforschung. Psalm 2 und 22, Würzburg 1988,319-394. 140

141

Vgl. N . LOHFINK, Psalmengebet, 7.

142

Vgl. a.a.O., 8ff.

44

I. Einleitung

b) Interpénétration der Aspekte, d.h. Aufsprengung der einzelnen Aussagen und Verstehensebenenm Zur Illustration führt Lohfink Ps 1-3 an. Diese drei ihrer Gattung und ihrem direkten Aussagen nach sehr unterschiedlichen Texte sind durch verschiedene Stichwortbezüge miteinander verbunden, so dass sie in ihrer Unterschiedlichkeit ineinander geschoben sind. Der Gerechte und der Gottlose (Ps 1), der erwählte König und die gegen ihn rebellierenden Nationen (Ps 2) und der Verfolgte und seine Feinde (Ps 3) sind durch die Stichwortverkettung der Texte nicht mehr disparate Größen. „Die Grenzen zwischen der Torheit gottloser Individuen, dem Aufbegehren der Nationen gegen den Geschichtsplan Gottes, der Verfolgung der Gerechten in Israel selbst verschwimmen. Ebenso die zwischen dem Gerechten, Gottes Gesalbten und dem ungerecht Verfolgten."144

Weiterhin beobachtet Lohfink Sinnveränderungen durch die Zuordnung einzelner Psalmen zu bestimmten Nachbartexten. Er unterscheidet dabei zwei Arten der Verkettung: a) Psalmenverkettung als dialogische Dramatisierung145 Als Beispiel dienen hier Ps 137 und 138. Auf den Verzicht auf das Gotteslob „fern, auf fremder Erde" in Ps 137,4 antwortet Ps 138 mit dem Lob JHWHs „angesichts der Götter" (Ps 138,1). Ziel dieses Lobpreises ist die Vorbereitung des auf der ganzen Erde zu erwartenden Jahwelobes aller „Könige der Welt". Ausgelöst wird dieses Lob sowie die Bekehrung der Völkerkönige, weil sie sehen und erkennen, dass Gott den Niedrigen helfend und erbarmend ansieht. Der Klage und dem Vergeltungswunsch, dass die Kinder Babels gepackt und am Felsen zerschmettert werden sollen, setzt Ps 138 eine messianisch-hoffiiungsstarke Gegenposition gegenüber, ohne die Aussagen von Ps 137 zu nivellieren.

b) Psalmenverkettung als neue Subjektunterlegung146 Zur Konkretisierung untersucht Lohfink Ps 22-26, insbesondere den Spannungsbogen von Ps 22-24. Das am Ende von Ps 22 anklingende Thema der eschatologischen Bekehrung der Völker stellt demnach das Oberthema für die durch Stichwortentsprechungen verbundenen Ps 22; 23 und 24 dar. Auf diesem Hintergrund kann das Bekenntnis in Ps 23,1 „Mein Hirte ist JHWH" als Glaubensbekenntnis eines Neubekehrten verstanden werden. „Dieser ist sich dessen sicher, daß er sich, von seinem neuen göttlichen Hirten geleitet, auf den (durchaus gefährlichen) Weg begeben kann, der ihn an einen Ort führt, wo ihm der Tisch gedeckt und der Becher gefüllt wird. Dieser Ort ist der Tempel Jahwes (23,6), von dessen Betreten dann sofort Ps 24 handeln wird. Das paßt - wenn Singular und Plural im Psalter längst begonnen haben, einander zu überlagern - durchaus in die am Ende von Ps 22 eröffnete Perspektive der eschatologischen Bekehrung der Völker. Man wird zumindest sagen können, daß dies infolge der Verkettung der beiden Psalmen eine der angebotenen Verständnismöglichkeiten für Ps 23 ist. Das Thema der , Völkerwallfahrt' könnte beim Weg durch die finstere Schlucht anklingen. Die noch nicht zum Gott Israels bekehrten Völker wären die Feinde des Psalms."147

143

Vgl. a.a.O., 11 ff. A.a.O., 12. 145 Vgl. a.a.O., 13f. 146 Vgl. a.a.O., 15ff. 147 A.a.O., 17. 144

2. Methodische Konsequenzen und Vorüberlegungen

45

Auch wenn insbesondere das letzte Beispiel etwas gezwungen wirkt und der Aspekt der neuen Subjektunterlegung m.E. durchaus auch unter der Rubrik „Interpénétration der Aspekte" subsumierbar wäre, sind die Beobachtungen und die daraus resultierenden, von Lohfink beschriebenen Kategorien außerordentlich hilfreich, um die Zusammenhänge zwischen Einzelpsalmen und die dadurch entstehenden Sinndimensionen zu erfassen. Sie stellen eine wichtige und sinnvolle Ergänzung des von Zenger entwickelten Methodenprogramms der kanonischen Psalmenauslegung dar. Die vorliegende Arbeit wird versuchen, auf diesem Weg weitere Schritte zu gehen. Auf dem Hintergrund der dargestellten Forschungsergebnisse und der in diesem Kapitel vorgestellten Überlegungen ergeben sich für die weitere Arbeit folgende Maßgaben: 1. Die thematischen, motivlichen und sprachlichen Beziehungen eines Psalms zu seinen Nachbarpsalmen sind zu beachten. Dabei sind die Reihenfolge der Texte und der sich daraus ergebende Spannungsbogen zu analysieren und auszuwerten. Bestehende Stichwortverbindungen sind durch einzelexegetische Arbeit auf ihre Signifikanz für die theologische Leitidee der jeweiligen Einzeltexte hin zu befragen. Weiterhin ist zu prüfen, ob die bestehenden Stichwortbeziehungen zwischen benachbarten Psalmen der Auslöser waren, die betreffenden Texte nebeneinander zustellen, ob sie erst sekundär von den Redaktoren geschaffen wurden oder ob sie vielmehr bloßer Zufall sind. 2. Die Funktion der beobachteten Verbindungslinien ist zu ermitteln. Dabei ist zu fragen, inwieweit diese der Meditationshilfe dienen und inwieweit sich hierdurch zusätzliche oder andere Sinndimensionen fur den Einzeltext ergeben. In Hinblick auf die übergeordnete Psalmengruppe oder Teilsammlung ist die Frage zu stellen, ob sich anhand der beobachteten Verbindungslinien eine übergreifende, die Einzeltexte zusammenbindende theologische Leitidee ermitteln lässt. In diesem Zusammenhang sind auch die Auswirkungen der für eine bestimmte Psalmengruppe herausgearbeiteten Leitidee auf das Verständnis der in der Komposition stehenden Einzelpsalmen zu bedenken. 3. Die Psalmenüberschriften sind als zweifacher Deutehorizont mitzulesen. Zum einen ist zu fragen, inwieweit die Überschriften Einzeltexte durch gemeinsame Elemente zu Einheiten zusammenschließen, die im Zusammenhang gelesen werden sollen. Zum anderen ist die Funktion insbesondere der Personenangaben und der biographischen Elemente in den Überschriften zu prüfen. Inwieweit dienen diese als Identifikationsangebot, als Andeutung eines narrativen Rahmens, zur Entwicklung einer messianischen Perspektive etc.? 4. Diachrone Überlegungen sind in die Analyse einzubeziehen. So ist die Frage nach einer relativen, inneren Chronologie der Zusammenfügung der Einzelpsalmen und Psalmengruppen zu stellen. Lässt sich ermitteln, ob und

46

I. Einleitung

welche Psalmen und Zusätze redaktionell hinzugefügt wurden? In diesem Zusammenhang ist zu prüfen, inwieweit sich durch diese Ergänzungen Verschiebungen hinsichtlich der Sinnakzente und der theologischen Intention der betreffenden Psalmengruppen und Teilsammlungen ergeben.

3. Fragestellung, Vorgehensweise und Gliederung der Arbeit Die am Ende des vorangehenden Abschnitts vorgestellten Thesen sollen in der vorliegenden Arbeit anhand des sog. elohistischen Psalters (Ps 42-83) erprobt werden. Zum einen zeigt der Blick in die Forschungsgeschichte, dass eine umfassende Untersuchung zu diesem Bereich des Psalters noch aussteht. Zum anderen erscheint dieser Bereich zu diesem Zweck besonders geeignet, da er sich durch den spezifischen Gebrauch der Gottesnamen vom übrigen Psalter abhebt, so dass sich die Vermutung nahe legt, dass Ps 42-83 eine ursprünglich eigenständige Komposition darstellt.148 Insbesondere die Autorenzuweisungen der Überschriften geben Anlass zu der Annahme, dass in diesem Bereich unterschiedliche Teilkompositionen zusammengefügt wurden. Entsprechend bietet sich dieser Teil des Psalters besonders dafür an, sowohl die beschriebenen synchronen als auch diachronen Fragestellungen zu erproben. Die methodischen Vorüberlegungen haben gezeigt, dass insbesondere im Bereich des zweiten Davidpsalters eine einzelexegetische Erarbeitung des Textbestandes notwendig ist, um hinsichtlich der Vorgehensweise und der theologischen Leitideen der Redaktoren Aussagen treffen zu können, die über die Klassifizierung dieses Textbereiches als Clusteranordnung von Psalmen derselben Gattung hinausgehen.149 Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit im Rahmen der Untersuchung des zweiten Davidpsalters den übergreifenden Überlegungen zur Komposition dieses Textabschnittes eine ausführliche Exegese der Einzeltexte vorangestellt werden. Bedingt durch diese Herangehensweise bildet die Analyse der Komposition des zweiten Davidpsalters den Schwerpunkt dieser Arbeit (Kap. III). Für die Teilkompositionen der Korach- und Asafpsalmen wird dagegen auf eine einzelexegetische Erarbeitung verzichtet. Durch verschiedene, bereits vorliegende Arbeiten zu diesen beiden Bereichen dürfte es als gesichert gelten, dass sowohl die Korach- als auch die Asafpsalmen aus einem gemeinsamen traditionsgeschichtlichen Hintergrund stammen und zahlreiche inhaltlich-thematische Verbindungslinien aufweisen.150 Aus diesem Grund werden in den entsprechenden Kapiteln 148

Die These einer ursprünglichen Eigenständigkeit von Ps 42-83 soll in Kap. II genauer begründet werden. 149 Vgl. hierzu die Kritik an Miliard in Kap. 1.1.2.2.2. 150 Vgl. u.a. G. WANKE, Die Zionstheologie der Korachiten (BZAW 97), Berlin u.a. 1966; K.J. ILLMAN, Thema und Tradition in den Asaf-Psalmen, Abo 1976; P. SCHELLING, De A-

3. Fragestellung, Vorgehensweise und Gliederung der Arbeit

47

(Kap. IV und V) die diese Psalmen prägenden und sie verbindenden Themen und Motive überblickartig dargestellt und ausgewertet und in einem weiteren Arbeitsschritt der den beiden Kompositionen zugrunde liegende Spannungsbogen beschrieben. Die drei zentralen Kapitel zum elohistischen Psalter werden gerahmt durch ein sich an diese einleitenden Überlegungen (Kap. I) anschließendes Kapitel, das durch Strukturbeobachtungen zum Wachstum des Psalters die ursprüngliche Eigenständigkeit des elohistischen Psalters nachweist (Kap. II), sowie durch eine Zusammenfassung der Ergebnisse und einen Ausblick auf die Komposition des Gesamtpsalters (Kap. VI).

safpsalmen. Hun samenhang en achtergrond, Kampen 1985; H.P. NASUTI, Tradition Historyand the Psalms of Asaph, Atlanta 1988.

Kapitel II Strukturelle Hinweise zum Wachstum des Psalters Es kann als Konsens der Forschung gelten, dass das Psalmenbuch einen mehrstufigen Wachstumsprozess durchlaufen hat, der in der Struktur des Psalters in nach wie vor greifbaren Spuren zu erkennen ist.1 Diese Spuren konkretisieren sich teilweise in Brüchen und Widersprüchen, die der Erklärung bedürfen und die gleichzeitig wichtige Hinweise auf den Verlauf eben dieses Wachstumsprozesses liefern. So setzt die Notiz Ps 72,20 einen Schlussstrich unter die „Gebete Davids", obwohl im hinteren Teil des Psalters durchaus noch weitere Davidpsalmen folgen. Besonders im vorderen Teil des Psalters bleiben die Namensangaben in den Überschriften über viele Psalmen hinweg gleich, so dass unterschiedliche Psalmengruppen entstehen, bei denen sich die Annahme nahe legt, dass sie ursprünglich eigenständige Sammlungen bzw. Kompositionen gebildet haben. In Korrespondenz mit diesen durch verschiedene Namensangaben gekennzeichneten Abschnitten, aber in Widerspruch zu der Einteilung des Psalters in fünf Bücher2 verläuft die Grenze des sog. elohistischen Psalters. Während alle anderen Psalmen fast ausschließlich den Gottesnamen JHWH verwenden, begegnet in Ps 42-83 vorwiegend die zum Eigennamen gewordene Gattungsbezeichnung Elohim. Weiterhin werden einige Psalmen bzw. Psalmenteile doppelt überliefert. Dieses Phänomen macht zumindest auf den ersten Blick die Annahme wahrscheinlich, dass diese Texte von unterschiedlichen Sammlern in unabhängig voneinander existierende Teilkompositionen aufgenommen worden sind. Diese Beobachtungen bedürfen der Erklärung und Auswertung, um zu einem differenzierteren Modell des Wachstums des Psalters und damit verbunden zu einer genaueren Einschätzung zu gelangen, auf welcher Ebene dieses Prozesses der für diese Arbeit in besonderem Maße relevante Bereich des elohistischen Psalters anzusiedeln ist.

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Vgl. Kap. 1.1.2.3. Die Einteilung des Psalters in fünf Bücher dürfte allerdings eine späte Gliederung darstellen, die erst im Rahmen der Endredaktion des Psalters erfolgte und sich am Vorbild des Pentateuchs orientiert, vgl. Kap. VI.2. 2

1. Die Schlwsnotiz Ps 72,20

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1. Die Schlussnotiz Ps 72,20 Bedauerlicherweise haben sich die Redaktoren des Psalters nur sehr sparsam zu Wort gemeldet. Nur an einer Stelle, in der Schlussnotiz Ps 72,20, findet sich ein expliziter Hinweis auf ihre Tätigkeit. Ihre Bemerkung „Zu Ende sind die Gebete Davids, des Sohnes Isais" wirkt mit Blick auf die zahlreichen Davidpsalmen, die im Weiteren noch folgen (u.a. Ps 108-110; 138-145) allerdings wenig überzeugend. Dieser Umstand lässt sich jedoch durch das sukzessive Wachstum des Psalters erklären. Der Verfasser der Notiz hatte eine Vorstufe des Psalters vor Augen, die die späteren, kleineren Gruppen von Davidpsalmen wie z.B. Ps 108-110.138-145 noch nicht umfasste. Auf diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Psalmen bzw. Psalmensammlungen eben diesem Verfasser vorlagen und welche Funktion die von ihm stammende Notiz hat. Gegen die Annahme, dass die Notiz als Abschluss einer Komposition Ps 3-72 bzw. einer alle Davidpsalmen umfassenden Sammlung Ps 3 41.51-72 diente,3 spricht die elohistische Ausrichtung von Ps 42-83. Diese Prägung ließe sich dann nur durch eine Bearbeitung erklären, die nach Anfügung der Asafpsalmen stattgefunden und nur die Hälfte der nun bestehenden Komposition berührt hätte. Dieses Modell erscheint jedoch wenig sinnvoll. Vielmehr ist anzunehmen, dass der elohistische Psalter ursprünglich eine eigenständige Einheit bildete, so dass sich die Schlussnotiz Ps 72,20 zunächst nur auf die Davidpsalmen 51-72 bezogen haben dürfte. Sinnvoll ist solch eine Notiz jedoch nur dann, wenn im Anschluss daran etwas Neues und Anderes folgt, das auch als solches deutlich markiert werden soll. Entsprechend legt sich die Schlussfolgerung nahe, dass Ps 72,20 die Funktion einer Grenzziehung zwischen den Davidpsalmen 51-72 und den Asafpsalmen 73-83 hat und auf die Redaktoren zurückgeht, die diese beiden Psalmengruppen miteinander verbunden haben.4 Das Fehlen einer vergleichbaren Notiz am Ende der Korachpsalmen deutet darauf hin, dass diesen Redaktoren die Gruppe der Korachpsalmen 42-49 noch nicht vorgelegen hat. Eine erste Vorstufe des elohistischen Psalters hätte somit aus der David-Asaf-Sammlung bestanden. Diese Annahme wird durch die enge Verklammerung zwischen diesen beiden Kompositionen, die durch den einzelnen, dem zweiten Davidpsalter vorangestellten Asafpsalm 50 bedingt ist, unterstützt. Die Schlussnotiz Ps 72,20 markiert jedoch nicht nur das Ende des zweiten Davidpsalters, sondern behält auch auf der Wachstumsstufe des sog. messianischen Psalters (Ps 2-89) ihr Recht. Auch in diesem Stadium sind noch im3 Von einer die ersten beiden Psalmenbücher umfassenden Sammlung geht z.B. G.H. WILSON aus (Editing, 208). 4 So auch C. RÖSEL, der in diesem Zusammenhang auf die vergleichbare Funktion der ebenfalls redaktionellen Notizen Hi 31,40b; Jer 48,47; 51,64 verweist (Die messianische Redaktion, 52f).

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II. Strukturelle Hinweise zum Wachstum des Psalters

mer mit Ps 72 die Gebete Davids zu Ende. Auf diesem Hintergrund erscheint die These Rösels, dass Ps 72,20 möglicherweise den Anstoß dazu gab, den ersten Davidpsalter vor und nicht hinter den elohistischen Psalter zu setzen, sinnvoll.5 Neben der Funktion der Schlussnotiz Ps 72,20 ist jedoch auch ihr Inhalt beachtenswert. Die vorausgehende Komposition wird hier als „Gebete Davids" bezeichnet. Da im Text der so bezeichneten Psalmen David an keiner Stelle erwähnt wird, ist diese Bezeichnung nur dann sinnvoll, wenn die Überschriften zum Zeitpunkt der Schaffung von Ps 72,20 zumindest schon die Angabe in 1 ? enthielten.6 Weiterhin fällt auf, dass David als „Sohn Isais" und nicht etwa als König bezeichnet wird. Dem entspricht, dass die biographischen Situationsangaben in den Überschriften des zweiten Davidpsalters die durch sie gekennzeichneten Psalmen - mit Ausnahme von Ps 51 und 60 - vor allem in der Zeit der Verfolgung Davids durch Saul und damit vor der Erlangung der Königswürde verorten. Der Bedeutung des durch die Schlussnotiz Ps 72,20 und die biographischen Überschriften gezeichneten Davidbildes sowie seiner Entstehung und Weiterentwicklung wird in Kap. IUI näher nachzugehen sein.

2. Der Gebrauch der Gottesnamen Die Bezeichnung von Ps 42-83 als „elohistischer Psalter" und die damit verbundene These einer elohistischen Redaktion, die in eben diesem Bereich den Gottesnamen JHWH (mir) durch die allgemeinere Gottesbezeichnung Elohim (DTISN) ersetzt hat, gehört seit den Beobachtungen von W. Gesenius, H. Ewald und F. Delitzsch zum Gebrauch der Gottesnamen im Psalter zu den Grundbegriffen der Psalmenforschung, die weitgehende Akzeptanz genießen.7

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Vgl. a.a.O., 54. Vgl. hierzu ausführlicher Kap. in. 1.1 7 Vgl. W. GESENIUS, Thesaurus Philologicus Criticus Linguae Hebraeae et Chaldaeae Veteris Testamenti I, Leipzig 1835, 97f; H. EWALD, Die Dichter des Alten Bundes II. Die Psalmen, Göttingen 1839, 191f; F. DELITZSCH, Symbolae ad psalmos illustrandos isagogicae, Leipzig 1846, 2ff. Die These von einer nachträglichen elohistischen Redaktion wurde dabei vor allem von Ewald vertreten, während Delitzsch davon ausging, dass die Bevorzugung von OTI^N auf die Verfasser der Psalmen zurückgeht. In seltenen Fällen findet sich jedoch auch die genau entgegengesetzte These einer jahwistischen Redaktion von Ps 1-41; 84-150. So bemerkt z.B. G.H. WILSON nach Auswertung des statistischen Befunds: „The really striking feature of these data is not so much the reduced occurence of the name YHWH in the ,Elohistic Psalter' as it is the almost complete elimination of Elohim as a designation for the God of Israel elsewhere. Could this be evidence of a concerted effort to eradicate the more ambiguous term in favor of the more particularistic YHWH?" (Editing, 196f). 6

2. Der Gebrauch der Gottesnamen

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Die Annahme einer nachträglichen elohistischen Redaktion wird in vielen Kommentaren als so selbstverständlich vorausgesetzt, dass häufig in den Übersetzungen DTibN durch das Tetragramm ersetzt wird.8 Und in der Tat lässt sich die Dominanz der Gottesbezeichnung Elohim durch einige Zahlen eindrucksvoll belegen:9 Von den 365 Belegen für D T 6 N im Psalter begegnen 245 in Ps 42-83. Dieser Befund wird noch deutlicher, wenn man nur diejenigen Stellen in den Blick nimmt, an denen DTibx absolut und als Eigenname und nicht etwa mit Suffix, im Status Constructus oder generisch im Sinne einer Bezeichnimg göttlicher Wesen verwendet wird. Von den insgesamt 206 Belegen für als Eigenname entfallen 189 auf Ps 42-83. Von den übrigen siebzehn Belegen entfallen allein sechs auf Ps 108, der aus den bereits vorliegenden elohistischen Textfragmenten Ps 57,8-12 und 60,7-14 zusammengesetzt wurde. Vier Belege finden sich in Ps 84, der sich unmittelbar an den elohistischen Psalter anschließt und überleitende Funktion haben dürfte.10 Gegen die These einer elohistischen Redaktion spricht jedoch die Tatsache, dass auch in Ps 42-83 der Gottesname JHWH immerhin 45-mal begegnet. Die Kritik an dieser These hat bereits Ende des 19. Jahrhunderts B. Jacob eindrücklich formuliert: „Denn wenn wirklich der ,Redactor' die Absicht hätte, den einen Gottesnamen gänzlich zu vermeiden, so hätte er dies auch - da es wahrlich keine große Kunst ist - fertig gebracht und ihn nicht 43 mal stehen gelassen. Man stelle sich doch die Redaktoren nicht immer als so sträflich einsichtslos, ungeschickt und lttderlich arbeitend vor, wie sie darnach hätten sein müssen. Man traue ihnen doch wenigstens die Akribie und Gewissenhaftigkeit der späteren Masoreten zu. Redewendungen endlich wie: ,trotzdem' hat sich der andere Gottesname öfter ,behauptet' [...] sind nichts als mythologische Verschleierungen unserer Unwissenheit, womit man die Tücke des Objekts in die Kritik einführt. Wir möchten gern wissen, wie es ein Wort oder Vers oder Psalm macht, sich trotz des Redactors zu .behaupten' [...].""

Diese berechtigten Einwände Jacobs wurden bisher weitgehend übergangen. Erst in jüngerer Zeit gibt es detailliertere Bemühungen, sich mit dem 8

So z.B. bei H. GUNKEL, Psalmen oder bei H.-J. KRAUS, der das Problem, dass in Ps 4283 durchaus auch der Gottesname JHWH begegnet, schlicht ignoriert: „In den Ps 42-83 fällt die konsequente Setzung des Gottesnamens crn^N auf." (Psalmen I, 9). Entsprechend finden sich in den textkritischen Erläuterungen der Psalmenübersetzungen regelmäßig Formulierungen wie: „Umsetzungen von DTlb« zu m i T sind im elohistisch redigierten Teil des Psalters erforderlich" (Psalmen 1,472). 9 Die hier angeführten Zahlen sind der umfangreichen statistischen Aufstellung von C. RÖSEL (Die messianische Redaktion, 21 ff) entnommen. 10 Vgl. C. RÖSEL, Die messianische Redaktion, 24. In einigen anderen Fällen lässt sich vermuten, dass jeweils Zitate aus dem elohistischen Psalter vorliegen. So zitiert nach Auflassung Rösels Ps 36,8 aus 57,2 und 61,5, Ps 7,12 aus 75,8, Ps 86,14 aus 54,4f, Ps 144,9 aus 57,8f und 33,2f (vgl. a.a.O.). 11 B. JACOB, Beiträge zu einer Einleitung in die Psalmen IV, ZAW 18 (1898), 99-119 (100), Anm. 1.

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IL Strukturelle Hinweise zum Wachstum des Psalters

spezifischen Gebrauch von D T 6 N und nirr in Ps 42-83 ernsthafter auseinanderzusetzen. Zu nennen sind hier vor allem die Untersuchungen von Miliard, Rösel und Hossfeld / Zenger.12 Miliard analysiert einige Einzelfalle der Verwendung des Tetragramms in Ps 42-83 sowie von absolutem D T 6 N außerhalb dieses Bereiches. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass Ps 42-83 weder einer elohistischen noch einer jahwistischen Redaktion unterzogen wurden, sondern dass die differenzierte Verwendung der Gottesnamen Ausdruck einer inhaltlichtheologischen Tendenz ist. In besonderem Maße wird diese Tendenz in der Namenstheologie der Asafpsalmen greifbar: „Der Name Gottes ist damit innerhalb des elohistischen Psalters also durchaus bekannt, aber er ist trotzdem verborgen: Es gibt ein Geheimnis um den Gottesnamen. Man muss diesen Namen suchen. [...] Das Zurücktreten des Gottesnamens ist die Darstellung seiner gegenwärtigen Machtlosigkeit, das Aussprechen des Gottesnamens erwartet Gottes künftige Macht."13

Zu einem Zielpunkt kommt diese Namenstheologie außerhalb des elohistischen Psalters in den JHWH-König-Psalmen. Das Königtum JHWHs ist die Antwort auf die offene Frage, mit der Ps 42-83 endet. JHWH ist nicht nur König über die anderen Götter, er ist auch der alleinige Gott, der absolute Elohim. In seinem Fazit gelangt Miliard zu der Auffassung, dass sich der Sprachgebrauch in Ps 42-83 teilweise mit dem klassischer elohistischer Pentateuchtexte deckt: „Der Sprachgebrauch ist einerseits Teil einer hier nicht ausgeführten Religions- und Traditionsgeschichte. [...] Paradigmatisch ist aber eine inhaltsorientierte Verwendung von DTI^N und n i r p in Gen 22: Die dunkle Seite der Erzählung von der Versuchung Abrahams wird bis zum Eingreifen des Engels mit der Gottesbezeichnung DTI^N erzählt, beim Eingreifen des Engels V. 11 und Ausklang verwendet die Geschichte den Gottesnamen m n \ " 1 4

Rösel dagegen geht von mehreren redaktionellen Bearbeitungen von Ps 42-83 aus. Nach einer detaillierten Auswertung der Belege für mn1 in Ps 42-83 gelangt Rösel zu der These, dass zunächst eine konsequent arbeitende Redaktion in einem Arbeitsgang den ursprünglichen Gottesnamen mn1 durch DTI^X ersetzte. In verschiedenen weiteren Bearbeitungen, die z.T. in den Kontext übergreifender Redaktionen gehören, wurde dann an einigen Stellen das Tetra-

12 Vgl. M. MILLARD, Zum Problem des elohistischen Psalters. Überlegungen zum Gebrauch von niii 1 und crnbN im Psalter, in: E. Zenger (Hrsg.), Der Psalter in Judentum und Christentum (HBS 18), Freiburg 1998, 75-110; C. RÖSEL, Die messianische Redaktion, 2Iff; F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, The So-Called Elohistic Psalter: A New Solution for an Old Problem, in: B.A. Strawn / N.R. Bowen (Hrsg.), A God So Near. FS P.D. Miller, Winona Lake 2003, 35-51. 13 M. MILLARD, Zum Problem des elohistischen Psalters, 93. 14 A.a.O., 97f.

2. Der Gebrauch der Gottesnamen

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gramm wieder eingefügt.15 Hinsichtlich der Frage nach der Motivation der elohistischen Redaktion greift Rösel die Überlegungen von Mays auf, wonach diese Revision im Kontext einer monotheistischen Tendenz steht, die gegenüber JHWH, dem Nationalgott Israels, mit Elohim verstärkt den transzendenten Gott der ganzen Welt in den Blick nimmt.16 In der durch das Exil ausgelösten Krise will die elohistische Redaktion zu der Vergewisserung beitragen, „dass der Gott Israels trotz des Verlustes von Land und Tempel den Göttern der Völker überlegen war."17 Auch Hossfeld / Zenger widmen in ihren Überlegungen zum elohistischen Psalter dem Vorkommen von mrp nach Psalmengruppen geordnet erhöhte Aufmerksamkeit. Dabei geben sie, wie Miliard, dem Versuch, die einzelnen Belege in einem Psalm durch stilistische und inhaltliche Gründe zu erklären, den methodischen Vorrang vor literar-, redaktions- oder gar textkritischen Lösungen. Auf diesem Wege gelangen die Verfasser in Hinblick auf das Vorkommen des Gottesnamens zu folgender These: „The sheer quantity of these occurrences as well as their dispersion throughout this material should dictate that simplistic explanatory models for the Elohistic Psalter - such as the substitution of the generic term Elohim for the original proper name YHWH with the occasional reinfiltration of the proper name - or the model of a consistent avoidance of YHWH through a particular group of psalms are best avoided. The frequent use of the generic term Elohim along with the less frequent, but purposefully-used name for God, YHWH, is not indicative of a secondary redaction, but an expression of theological thinking that typically reveals itself only as a theological tendency in these texts."18

Diese Tendenz hat ihren Niederschlag in markanter Weise in der Gottesnamentheologie der Asafpsalmen und in der flächendeckenden Verteilung des Eigennamens JHWH in diesem Bereich gefunden. In den Korachpsalmen (Ps 42-49) wurde der Gottesname dagegen vornehmlich als Traditionsgut übernommen bzw. geduldet. Der bevorzugte Gebrauch von Elohim ist Ausdruck einer „gravitation toward monotheism"19, bei der der Gattungsname zum Eigennamen wird. Außerdem betont der Einsatz von Elohim zum einen die Distanz und Transzendenz Gottes, zum anderen - insbesondere im Kontext der Rede von den Völkern - seine Universalität. Hinsichtlich der zeitlichen Ansetzimg halten es Hossfeld / Zenger für möglich, dass die elohistische Tendenz an die vorexilisch zu verortenden elohistischen Texte des Pentateuchs anknüpft.

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So gehen die Belege für Hin 1 in Ps 55,23; 64,11 und 69,32.34 nach Auffassung C. RÖSELs auf eine mögliche Torah-Redaktion, Ps 78,21; 79,5 auf die messianische Redaktion des Psalters zurück, vgl. Die messianische Redaktion, 33. 16 A.a.O., 36. "Ebd. 18 F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, The So-Called Elohistic Psalter, 50. 19 A.a.O., 51.

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IL Strukturelle Hinweise zum Wachstum des Psalters

Alle drei hier dargestellten Ansätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie insbesondere die Belege für den Gottesnamen nur durch eine verstärkte Reflexion der Einzelfalle zu erklären versuchen. Allerdings kann Rösel das Vorkommen des Tetragramms häufig nur mühsam durch literar- und redaktionskritische Überlegungen begründen. Die Annahme einer Redaktion, die den gesamten Bereich Ps 42-83 dahingehend überarbeitet hat, dass sie konsequent den Gottesnamen mir durch dti^n ersetzt hat sowie einer weiteren Redaktion, die an einigen Stellen wiederum gezielt den JHWH-Namen eingetragen hat, ist zwar durchaus denkbar, stellt aber ein sehr kompliziertes Modell dar, zumal die Motivation für zwei solch gegensätzliche Bearbeitungen nicht deutlich ist. Von solch umfassenden, mehrere Teilkompositionen betreffenden Bearbeitungen kann man erwarten, dass sie noch weitere Spuren bzw. deutlichere Leseanweisungen hinterlassen. Demgegenüber dürfte die Deutung des differenzierten Gebrauchs der Gottesnamen in Ps 42-83 als Ausdruck einer theologischen Tendenz, wie sie von Miliard und Hossfeld / Zenger bevorzugt wird, in die richtige Richtung weisen. Allerdings kann die Suche nach inhaltlichen Gründen für die Verwendung des Tetragramms an einzelnen Stellen schnell in den Verdacht der Beliebigkeit geraten, zumal sich die gefundenen Gründe nur schwer systematisieren und auf einen theologischen Nenner bringen lassen.20 Deutlich weniger Aufmerksamkeit als den einzelnen Belegen für den Gottesnamen rurr widmen die genannten Untersuchungen der spezifischen Verteilung dieser Belege. Hier ergeben sich jedoch einige interessante und möglicherweise weiterführende Beobachtungen: Wirklich flächendeckend ist die Verteilung der Belege des Tetragramms nur in der Teilkomposition der Asafpsalmen. Obwohl auch in diesem Bereich durchaus die Gottesbezeichnung Elohim dominiert, wird in jedem Asafpsalm der JHWH-Name mindestens einmal erwähnt.21 Eine Ausnahme, für die es 20 Vgl. etwa das Urteil zum zweiten Davidpsalter bei F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER: „This investigation of the second Davidic Psalter brought to light several regularities that can explain the occurrence of yhwh despite the existing Elohistic tendency throughout this section. First, we discover the intentional parallel, yhwh//'Ihym, in Pss 55:16; 56:10; 58:6; 68:16,26; 70:1,5. This parallel maintains the memory of yhwh, and ensures that Elohim's connection to the proper name does not get lost. Second, related to this intentional parallel is the interest in the proclaimed name yhwh, as we have come upon it in Ps 54:6b. Third, there is the differentiation in the perspective of or relationship to God: 'lhym for those far away, the enemies, and transgressors; but yhwh for those who are near and righteous (see Pss 5:10-12 [a corroborating parallel from the first Davidic Psalter]; 55:22; 64:10). Fourth, various combinations of God's name occur with other terms for God, whereby old terms are taken over an are adapted to the Elohistic tendency (Pss 59:5; [68:20]; 71:5, 16). In case of Ps 71:1, we have become aware of the intertwining with non-Elohistic-oriented psalms that has caused the infiltration of the Tetragrammaton into the Elohistic Psalter." (The So-Called Elohistic Psalter, 45). 21 Ps 50,1; 73,28; 74,18; 75,9; 76,12; 77,12 (Kurzform ¡V); 78,4.21; 79,5; 80,5.20; 81,11.16; 83,17.19.

2. Der Gebrauch der Gottesnamen

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jedoch plausible inhaltliche Gründe gibt, bildet lediglich Ps 82. Die subtile Hintergründigkeit dieses Psalms beruht darauf, dass der eine Elohim über die vielen Elohim der Völker 2x1 Gericht sitzt und in diesem Gericht die Kriterien für wahre Göttlichkeit aufstellt.22 Die gleichmäßige Verteilung des Tetragramms ist Teil und Ausdruck der spezifischen Namenstheologie der Asafpsalmen, deren Zielperspektive darin besteht, dass auch die Feinde Gottes, die den Namen Gottes verhöhnen (Ps 74), einst diesen Namen suchen und erkennen werden, dass der Gott, dessen Name JHWH ist, der höchste Gott auf Erden ist (Ps S3).23 Anders als bei den Asafpsalmen kann jedoch in Hinblick auf den zweiten Davidpsalter und die Korachpsalmen 42-49 von einer flächendeckenden Verteilung der mir - Belege nicht die Rede sein. Vielmehr lassen sich hier auffallige Schwerpunkte beobachten. So finden sich von den acht Belegen innerhalb der Gruppe der Korachpsalmen sieben in den drei in besonderem Maße von der Zionstheologie und der Vorstellung vom Königtum Gottes geprägten Psalmen 4Ö-48.24 Im zweiten Davidpsalter bilden Ps 54-60 mit acht Belegen für den Gottesnamen einen ersten Schwerpunkt nach den rein elohistischen Psalmen 51-53. Es folgt in Ps 61-67 ein vorwiegend elohistischer Block, in dem einzig in Ps 64,11 das Tetragramm begegnet. Ps 68 als Schlusspsalm dieser Gruppe Ps 61-68 dagegen belegt mit fünf Vorkommen des JHWHNamens einen der Spitzenplätze innerhalb des elohistischen Psalters. Es fallt auf, dass dieser Psalm eine Fülle weiterer Gottesbezeichnungen und Gottesvorstellungen variiert25 und auf diese Weise JHWH, den Gott Israels, gegenüber den Göttern der Völker profiliert.26 Eine besondere Konzentration des JHWH-Namens findet sich schließlich mit zehn Belegen in der Schlussgruppe des zweiten Davidpsalters Ps 69-71(72), die zahlreiche Verbindungslinien zum Ende des ersten Davidpsalters aufweist (Ps 35-41).27 Auf dem Hintergrund dieser Beobachtungen ergibt sich eine erste Arbeitshypothese, die im Verlauf der näheren Untersuchung des elohistischen Psal22 Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER: „Psalm 82 is not about the historical revelation of YHWH to his people, but about his superior divinity in comparison with the other doomed gods." (The So-Called Elohistic Psalter, 48). 23 Vgl. hierzu ausführlicher Kap. IV. 1.5. 24 Der achte Beleg findet sich in Ps 42,9. Nach Auffassung von F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER handelt es dabei um einen redaktionellen Eintrag, „which in its own way transforms the ,law' of parallelism, and connects the proper name with a Variation on the Korahite divine appellation .Living God' (Pss 42:2; 84:2), namely, ,God of my life'." (The So-Called Elohistic Psalter, 49). 25 So wird Gott nicht nur mit DTI^X oder ¡"11 iT angesprochen, sondern auch mit den entsprechenden Kurzformen b s und ¡V sowie mit den Titeln ' ' H S - „Herr" und "HE? „Schaddaj" bzw. „der Allmächtige". 26 Vgl. hierzu näher die Auslegung von Ps 68 in Kap. III.6.4. 27 Vgl. Kap. III.7.4.2. Die Häufung von Belegen des JHWH-Namens in Ps 69-71 beobachtet auch M. MILLARD (Zum Problem des elohistischen Psalters, 91).

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11. Strukturelle Hinweise zum Wachstum des Psalters

ters im Folgenden genauer überprüft werden soll.28 Gegen Rösel ist Miliard und Hossfeld / Zenger dahingehend zuzustimmen, dass die Bevorzugung der Gottesbezeichnung Elohim in Ps 42-83 nicht auf eine eigenständige Redaktion zurückgeht, die den gesamten Bereich der bereits bestehenden Komposition Ps 42-83 in einem Zuge elohistisch, d.h. im Sinne einer Ersetzung des Tetragramms durch die Gottesbezeichnung überarbeitet hätte. Vielmehr dürfte die Verwendung der allgemeineren Gattungsbezeichnung Elohim Ausdruck eines theologischen Denkens sein, das den universellen Machtanspruch des Gottes Israels betont.29 Ob und inwieweit dieses Denken in den drei Teilkompositionen der Korach-, David- und Asafpsalmen noch in anderer Form zum Ausdruck kommt, wird die weitere Analyse in den folgenden Kapiteln zeigen. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Bevorzugung von Elohim in allen Fällen bereits auf die Verfasser der Psalmen zurückgeht.30 Hier wird es je nach Entstehungshintergrund und Aussageabsicht der einzelnen Texte durchaus Unterschiede gegeben haben. Spätestens die Redaktoren, die die einzelnen Gruppen der Korach-, David- und Asafpsalmen durch die Aufnahme und Bearbeitung bereits bestehender Psalmen und die Schaffung neuer Texte gestaltet und diesen Kompositionen ein bestimmtes theologisches Profil verliehen haben, dürften hier für eine gewisse Einheitlichkeit gesorgt haben. Einen besonderen Akzent innerhalb ihrer Komposition haben dabei die Redaktoren der Asafpsalmen gesetzt, indem sie ihre spezifische Namenstheologie und in Verbindung damit den JHWH-Namen gleichsam wie ein Netz über diese Gruppe 28 Es wäre sicher sinnvoll, neben den Belegen für den JHWH-Namen auch alle Vorkommen von ÜTlSs sowie die anderen im Bereich von Ps 42-83 verwendeten Gottesbezeichnungen, insbesondere den Titel ' H X - „Herr" genauer zu untersuchen. Da der Gebrauch der Gottesbezeichnungen aber nicht im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen soll, ist dies im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich, vgl. jedoch in aller Kürze die Beobachtungen von M. RÖSEL: „Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass auch in den Psalmen zwei Grundmuster für die Verwendung des Titels .Herr' zur Benennung JHWHs gesehen werden können. Besonders S HK wird in Klagen und Bitten benutzt und ist dann durchgängig mit ,mein Herr' zu übersetzten. Wie in zwischenmenschlicher Kommunikation oder bei den Reaktionen von Propheten auf Visionen wird ' H S als höfliche Anrede an den Mächtigen benutzt, von dem der Beter sich Hilfe erwartet. Dem entsprechend findet sich oft "IUI? .Knecht' als Selbstbezeichnung des Sprechers. Außerhalb von direkten Ansprachen an Gott wird der Herrentitel beinahe ausschließlich in Zusammenhängen benutzt, die die Macht der Gottheit über irdische Herren oder die Schöpfung betonen." (Adonaj - warum Gott „Herr" genannt wird (FAT 29), Tübingen 2000, 201) 29 Die Bevorzugung von Elohim lässt sich kaum durch eine beginnende Scheu vor dem Missbrauch oder dem Aussprechen des Gottesnamens JHWH erklären, vgl. C. RÖSEL: „Noch die jüngsten Teile des Psalters gebrauchen ganz unbefangen Hin1. Die elohistische Redaktion steht jedoch wesentlich näher am Anfang als am Ende des Wachstums des Psalters. Nur so wird verständlich, warum sie sich auf Ps 42-83 beschränkt. Deshalb kann sie nicht in einer Linie mit der beginnenden Vermeidung des Gottesnamens in spätbiblischer Zeit gesehen werden." (Die messianische Redaktion, 35.). 30 So die These von F. DELITZSCH, Symbolae, 5-22.

2. Der Gebrauch der Gottesnamen

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legten. Die Konzentration der Belege des Tetragramms im zweiten Davidpsalter und in den Korachpsalmen auf bestimmte, begrenzte Bereiche lässt vermuten, dass die Namenstheologie der Asafpsalmen in Form der pointierten Setzung des JHWH-Namens im Laufe der weiteren Zusammenstellung der Teilkompositionen zunächst zur David-Asaf-Gruppe und schließlich zum elohistischen Psalter in eben diese Bereiche mit eingetragen wurde. Im zweiten Davidpsalter konkretisiert sich diese gezielte Eintragung des Gottesnamens insbesondere in der Parallelisierung von c n b x und mir, wobei mrp in der Regel an zweiter Stelle steht (Ps 55,17; 56,11; 58,7; 68,17.27; 69,14; 70,2.6).31 Diese Parallelisierung betont entsprechend der programmatischen Formulierung Ps 50,1 zu Beginn der David-Asaf-Sammlung die Identität des einen und einzigen Gottes mit dem Gott Israels. Die Frage, warum sich außer in der mit dem ersten Davidpsalter in Verbindung stehenden Schlussgruppe Ps 69-7132 insbesondere in den ersten beiden Teilgruppen Ps 52-55 und 56-60 besonders viele Belege des JHWH-Namens finden, wird in der Analyse des zweiten Davidpsalters (Kap. III) genauer zu klären sein. Im Bereich der ersten Korachpsalmengruppe findet die Intention der asafitischen Namenstheologie in den drei auf das Königtum Gottes ausgerichteten Psalmen 46—48 eine folgerichtige Aufnahme und Fortsetzung. Besonders häufig begegnet das Tetragramm hier in Kombination mit etablierten göttlichen Titeln (nisns n u r in Ps 46,8.12; 48,9; jr1?» in Ps 47,3). Hinsichtlich der Frage, in welchem historischen Kontext die Bevorzugung der Gottesbezeichnung Elohim zu verorten ist, können an dieser Stelle nur Vermutungen geäußert werden. Denkbar und sinnvoll erscheint es, von einer Situation auszugehen, in der die Frage nach dem Verhältnis Israels zu den anderen Völkern und damit zu anderen Göttern einen besonderen Stellenwert innehatte. Diese Frage hat Israel von seinen Anfangen an begleitet. Während es in der Auseinandersetzung mit der kanaanäischen Umwelt und ihren Gottesvorstellungen jedoch darauf ankam, trotz der bereitwilligen Übernahme kanaanäischen Gedankengutes mit seinem Eigennamen JHWH auch die Eigenständigkeit des Gottes Israels zu betonen, verweist die elohistische Tendenz auf einen anderen Blickwinkel: Es geht darum, von Elohim, von Gott schlechthin zu reden, nicht primär im Sinne einer Verhältnisbestimmung zu anderen Göttern, sondern in dem Bewusstsein, dass es nur den einen und einzigen Gott gibt, der die ganze Welt regiert und dessen Lob es zu verkünden gilt. Solch eine Betonung der Universalität Gottes setzt ein ausgeprägtes monotheistisches Denken voraus, das in dieser Form - so die Einsicht der neue-

31

V g l . C . RÖSEL, D i e m e s s i a n i s c h e Redaktion, 2 7 ; F . - L . HOSSFELD / E. ZENGER, T h e S o -

Called Elohistic Psalter, 42FF. 32 Zur Verbindung von Ps 69-71 zum ersten Davidpsalter vgl. Kap. III.7.4.2 und 7.4.3.

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IL Strukturelle Hinweise zum Wachstum des Psalters

ren Monotheismusforschung33 - jedoch erst in exilisch-nachexilischer Zeit denkbar ist. Neben der Universalität Gottes unterstreicht der elohistische Sprachgebrauch aber auch die Transzendenz und Entzogenheit Gottes und damit seine dunkle und rätselhafte Seite.34 Als eine Erfahrung der Ferne und Entzogenheit Gottes hat Israel die Zerstörung Jerusalems und des Tempels und die Zeit des Exils erlebt. Zahlreiche Psalmen im Bereich des elohistischen Psalters sind Ausdruck und Spiegel dieser Erfahrung (Ps 44; 60; 66; 74; 78; 79; 80), so dass sich auch auf diesem Hintergrund nahe legt, die elohistische Tendenz mit der Exilszeit als Ausgangspunkt in Verbindung zu bringen. Dabei ist es denkbar, dass diese Tendenz an die elohistischen Texte des Pentateuchs anknüpft.35 Abschließend lässt sich feststellen, dass der spezifische Gebrauch der Gottesnamen bzw. die Bevorzugung der Gottesbezeichnung Elohim in Ps 42-83 dahingehend gedeutet werden muss, dass diese Psalmen eine ursprünglich eigenständig existierende Komposition bildeten. Es wird hier ein theologisches Denken sichtbar, das sich in dieser Form in anderen Bereichen des Psalters nicht findet. Diese Beschränkung lässt sich sinnvoll nur durch eine ursprüngliche Selbstständigkeit des elohistischen Psalters erklären. Die Tatsache, dass sowohl die Sammlung des ersten Davidpsalters (Ps 3-41) als auch spätere Wachstumsstufen des Psalters jenseits von Ps 89 den elohistischen Sprachgebrauch nicht weitergeführt haben, sondern den Gottesnamen JHWH bevorzugen, weist darauf hin, dass der elohistische Psalter die erste, sicher abgrenzbare Vorstufe des Psalters bildete, die später sowohl nach vorn als auch nach hinten durch weitere Sammlungen und Einzelpsalmen ergänzt wurde.

3. Die Überschriften Auf der Suche nach einem Ordnungsprinzip innerhalb des Psalters fallt das Auge des Betrachters schnell auf die Überschriften der Psalmen. Hier lassen sich am ehesten Hinweise über den Prozess und die Zielrichtung der Zusam33

Zur Übersicht vgl. W.H. SCHMIDT, Art. Monotheismus II, TRE 23, 237-248. Vgl. die Ausführungen von F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER ZU den Motiven der elohistischen Tendenz, (The So-Called Elohistic Psalter, 51) sowie die oben zitierten Ausführungen von M. MLLLARD, Zum Problem des elohistischen Psalters, 97f. 35 In diese Richtung weisen auch die Überlegungen von F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, a.a.O. Es ist im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht möglich, die forschungsgeschichtlich umstrittene Frage nach der Entstehungszeit und geistigen Heimat dieser Pentateuchtexte zu diskutieren. Ebenso wenig ist es möglich, wenngleich sicherlich wünschenswert, das Verhältnis dieser Texte zu den elohistischen Texten des Psalters genauer zu klären, da es dazu einer genaueren Analyse der betreffenden Pentateuchabschnitte bedürfte, die hier nicht zu leisten ist. 34

3. Die Überschriften

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menstellung der Einzeltexte zu größeren Einheiten erwarten. Ein nicht unerhebliches Problem ergibt sich jedoch dadurch, dass die Bedeutung insbesondere der technischen Termini wie z.B. RISJD1? oder D R D D in der Forschung nach wie vor nicht überzeugend geklärt ist.36 Ahnliches gilt für die mit b eingeführten Namensangaben, deren Funktion, Herkunft und Bedeutung ebenfalls umstritten ist.37 Dennoch lassen sich unabhängig von dem genauen Sinn der einzelnen Elemente aus der Verteilung der einzelnen Bestandteile im Psalter und aus der Zusammensetzung der Überschriften wichtige Rückschlüsse hinsichtlich des Wachstums des Psalters ziehen. So lässt sich z.B. beobachten, dass sich Eigennamen und technische Begriffe vor allem in den Überschriften der Psalmen von Ps 3-89 finden. Während sich in Ps 90-150 zahlreiche Psalmen ohne Überschrift und insbesondere ohne Namensangabe finden,38 ist dies im Bereich von Ps 3-89 eher die Ausnahme. Hier lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden genannten Bereichen ermitteln, die Rösel in seiner Untersuchung in zahlreichen, instruktiven Tabellen belegt.39 Seine wichtigsten Beobachtungen sollen hier in Kürze dargestellt werden: Selbst wenn man von den biographischen Situationsangaben absieht, enthalten die Überschriften im zweiten Davidpsalter (Ps 51-72) die höchste durchschnittliche Anzahl von Überschriftenelementen (3,7 Bestandteile), während das fünfte Psalmenbuch im Schnitt deutlich weniger Elemente (1,8) aufweist, die sich zudem auf die beiden kleineren Gruppen von Davidpsalmen (Ps 108-110; 138-145) sowie die Wallfahrtspsalmen (Ps 120-134) beschränken. Den größten Reichtum an Überschriften - auch im Vergleich zum ersten Davidpsalter (Ps 3-41) - weist der für die Untersuchung relevante Bereich des elohistischen Psalters (Ps 42-83) auf. Dieser Befund lässt sich eindrücklich anhand der Überschriften der Doppelüberlieferung Ps 14 = Ps 53 illustrieren: Ps 14,1: -n-6 n ^ o b Ps 53,1: n n b b^too nbno bv nsio1? Während im zweiten Davidpsalter abgesehen von Ps 71f alle Überschriften drei bis fünf Elemente enthalten, schwankt die Länge der Überschriften im ersten Davidpsalter erheblich. Die kürzesten Überschriften enthalten nur die 36

Zu umfassenderen Erklärungsversuchen vgl. u.a. H.-J. KRAUS, Psalmen I, 14-29; H. SEIDEL, Musik in Altisrael. Untersuchungen zur Musikgeschichte und Musikpraxis Altisraels anhand biblischer und außerbiblischer Texte (BEAT 12), Frankfurt a.M. u.a. 1989; B. BAYER, The Titles of the Psalms. A renewed investigation of an old problem, Yuval 4 (1982), 29-123. 37 Vgl. hierzu auch Kap. III. 1.1 38 Als Namensangaben finden sich hier Mose (Ps 90), David (Ps 101; 103; 108-110; 122; 124; 131; 133; 138-145), Salomo(Ps 127). 39 Vgl. C. RÖSEL, Die messianische Redaktion, 47ff.

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II. Strukturelle Hinweise zum Wachstum des Psalters

Namensangabe i n b und konzentrieren sich in Ps 14-17; 23-37, die längsten weisen dagegen vier bis fünf Elemente auf und finden sich im Bereich von Ps 3-13. Aus diesem Befund zieht Rösel die plausible Schlussfolgerung, dass kurze bzw. fehlende Überschriften auf die späte Einfügung eines Psalms bzw. von Psalmengruppen in die Gesamtkomposition des Psalters schließen lassen. Die ältesten Teile des Psalters verfugen zugleich über die komplexesten Überschriften. Dabei steht der erste Davidpsalter, dessen unterschiedlich lange Überschriften auf ein mehrstufiges Wachstum hindeuten, diachron betrachtet zwischen dem elohistischen Psalter als ältester und ehemals eigenständiger Komposition und dem Bereich Ps 90-150. Das am deutlichsten ins Auge fallende strukturierende Prinzip ist die Zusammenbindung von nebeneinander stehenden Psalmen durch gleiche Namensangaben in den Überschriften. Auf diese Weise lassen sich verschiedene Davidgruppen (Ps 3 ^ 1 ; 51-71; 108-110; 138-145), zwei Korachgruppen (Ps 42-49; 84f.87f) und eine Asafgruppe (Ps 73-83) unterscheiden. Eine hinsichtlich der Überschriften geschlossene Gruppe stellen dabei allerdings nur die Asafpsalmen dar, obgleich auch hier auffallt, dass es mit Ps 50 einen weiteren, von dieser Gruppe isolierten Asafpsalm gibt, der durchaus eine inhaltliche Nähe zu den übrigen Texten mit dieser Überschrift aufweist.40 Innerhalb der beiden größeren Gruppen der Davidpsalmen haben die völlig überschriftlosen Ps 10 und 33 sowie Ps 66; 67 und 71, bei denen die Angabe fehlt, einen gewissen Sonderstatus. Bei Ps 10 lässt sich das Fehlen der Überschrift ähnlich wie bei dem einzigen überschriftlosen Psalm innerhalb der Korachgruppe (Ps 43) leicht durch den engen Zusammenhang dieser Psalmen mit ihren unmittelbaren Vorgängern erklären.41 In Hinblick auf Ps 33; 66f; 71 wird im Verlauf der weiteren Untersuchung zu klären sein, ob diese Psalmen auch mit den vorangehenden Texten eine Einheit bilden oder ob sie erst später in bereits bestehende Sammlungen eingefügt wurden.42 Problematisch ist ebenfalls der Status der zweiten Korachgruppe (Ps 84f.87f), deren Zusammenhang durch einen einzelnen Davidpsalm (Ps 86) unterbrochen wird. Ähnlich wie bei dem einzelnen Asafpsalm 50 liegt auch bei dieser vergleichsweise kleinen Gruppe die Vermutung nahe, dass sie ursprünglich mit den inhaltlich verwandten, übrigen Korachpsalmen (Ps 42-49) eine zusammenhängende Sammlung bildete. Da Ps 84f.87f außerhalb des elohistischen Psalters stehen, 40

Auf das Verhältnis zwischen Ps 50 und den übrigen Asafpsalmen wird in Kap. III.2.3 näher einzugehen sein. 41 Ps 10 bildet mit Ps 9 ein alphabetisches Akrostichon, Ps 43 ist mit Ps 42 durch einen gemeinsamen Refrain verbunden. 42 Vgl. hierzu Kap. III.6.5 und 7.4.1. Auf Ps 33 kann im Zusammenhang dieser Untersuchung nicht näher eingegangen werden. Es ist jedoch denkbar, dass Ps 33 als theologisches Kompendium erst für seinen jetzigen Platz im ersten Davidpsalter geschaffen wurde, vgl. H.P. MATHYS, Dichter und Beter. Theologen aus spätalttestamentlicher Zeit, OBO 132, Freiburg / Schweiz - Göttingen 1994, 25 lff.

3. Die Überschriften

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ist es jedoch kaum einsichtig, warum ein Redaktor diesen Zusammenhang zerstören und nur einen Teil der Sammlung in seine Komposition hätte aufnehmen sollen. Sinnvoller erscheint demgegenüber die Annahme, dass Ps 84f.87f einen Nachtrag zum elohistischen Psalter darstellen. Möglicherweise wurden die entsprechenden Namensangaben in den Überschriften auf Grund der bestehenden inhaltlichen Verbindungen mit Ps 42-49 im Zuge dieser Anfügung ergänzt.43 Ein weiteres, weniger offensichtliches Verweissystem bilden die Angaben zur Liedart innerhalb der Psalmenüberschriften. Insbesondere innerhalb des elohistischen Psalters lassen sich kleinere, einer gemeinsamen Liedart zugewiesene Psalmengruppen unterscheiden. So werden z.B. Ps 52-55 als b'OE'O oder Ps 56-60 als DJ"DO bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist noch einmal näher auf die Untersuchungen von Wilson zur Redaktion des Psalters einzugehen. Wilson kommt zu dem Ergebnis, dass die Zuweisung zu verschiedenen Personen und die Angabe von Gattungen in den Überschriften dazu dienen, Psalmen zu Gruppen zusammenzubinden bzw. Einschnitte zwischen solchen Gruppen zu markieren.44 Deutliche Einschnitte zwischen Psalmengruppen werden dabei in den ersten drei Büchern des Psalters (Ps 1-89) durch Wechsel bei den Namensangaben angezeigt, die weitestgehend mit der Büchereinteilung korrespondieren.45 Zu Kleingruppen zusammengebunden werden Einzelpsalmen durch Zuweisung zu gleichen Liedarten. Besonders deutlich wird diese Gruppenbildung im Bereich des zweiten Davidpsalters. Hier lassen sich drei zusammenhängende Kleingruppen mit jeweils wechselnden Angaben zur Liedart unterscheiden: Ps 52-55: bofro Ps 56-60: Droo Ps 62-68: "ilDTD (hier werden Ps 65-68 noch einmal besonders eng durch die Bezeichnung als "Pt? aneinandergebunden). Darüber hinaus lassen sich auch in den übrigen Bereichen des elohistischen Psalters ähnliche Gruppenbildungen beobachten. So werden Ps 47-51 sowie Ps 75-77 als HOTO bezeichnet, Ps 42-45 werden durch die Angabe b'OffD zusammengebunden. Auch im Bereich des ersten Davidpsalters lassen sich vergleichbare Gruppenbildungen feststellen (Ps 3-6; 19-24; 29-31; 38-41), die jedoch alle mit 43

Vgl. hierzu ausführlicher Kap. V.3 sowie C. RÖSEL, Die messianische Redaktion, 43f. Vgl. G.H. WILSON, Editorial Divisions, 337; Editing, 155ff. 45 Der erste Davidpsalter (Ps 3-41) korrespondiert mit dem ersten Psalmenbuch. Das zweite Psalmenbuch beginnt mit der ersten Gruppe der Korachpsalmen (Ps 42-49) und endet mit dem zweiten Davidpsalter (Ps 51-71) bzw. dem einzelnen Salomopsalm 72. Das dritte Psalmenbuch wird durch die Gruppe der Asafpsalmen (Ps 73-83) eröffnet, vgl. G.H. WILSON, Editorial Divisions, 339. 44

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II. Strukturelle Hinweise zum Wachstum des Psalters

der Liedart notD bezeichnet werden. Die größte Vielfalt bei den Lied- bzw. Gattungsangaben findet sich also im Bereich des elohistischen Psalters, insbesondere im zweiten Davidpsalter. Diese Vielfalt reduziert sich im ersten Davidpsalter auf den Begriff miD, der hier ein deutliches Übergewicht erhält.46 Jenseits des dritten Psalmenbuches werden die Angaben zur Liedart ebenso wie die Zuweisung zu bestimmten Personen deutlich weniger.47 Eine besondere Aufgabe haben die Angaben zur Liedart nach Auffassung Wilsons an den Stellen, an denen ein Autorenwechsel einen Einschnitt markiert. Sie dienen hier dazu, abrupte Übergänge zu glätten: „At each point of disjuncture indicated by author-change, the occurrence of the same genre categories in consecutive headings spans the gap, softens the harshness of transition and binds the whole more closely together".48

Im Bereich des elohistischen Psalters kommt diese Technik z.B. beim Ubergang von den Korachpsalmen zum zweiten Davidpsalter zum Einsatz. Diese beiden Teilkompositionen, die zusätzlich durch den einzelnen Asafpsalm 50 voneinander getrennt sind, werden durch die Bezeichnung von Ps 47-51 als "HOIO verbunden. Beide Kompositionen werden durch die unterschiedlichen Personenzuweisungen als jeweils eigenständige Größen sichtbar, die durch die verbindende Angabe zur Liedart gleichzeitig innerhalb des größeren Kontextes des elohistischen Psalters den Charakter einer zusammengehörigen Einheit erhalten. In vergleichbarer Weise wird der Übergang von den Asafpsalmen (Ps 73-83) zur zweiten Korachgruppe (Ps 84f.87f) durch die beide Bereiche verbindende Angabe ~)10TD in Ps 82-85 geglättet.49 Auffallig ist jedoch, dass an der Nahtstelle zwischen dem zweiten Davidpsalter und der Teilkomposition der Asafpsalmen eine solche Vorgehensweise nicht festzustellen ist. Der deutliche Einschnitt durch den zweifachen Autorenwechsel (vgl. Ps 72,1 noblffS) bleibt unverbunden und korrespondiert mit der durch die Schlussnotiz Ps 72,20 („Zu Ende sind die Gebete Davids, des Sohnes Isais") nachhaltig angezeigten und benannten Grenzziehung. Hinsichtlich der Frage, zu welchem Zeitpunkt innerhalb der relativen Chronologie der Entstehung des Psalters das beschriebene System von Trennimg und Zusammenordnung entstanden ist, macht Wilson keine näheren An46 Von den 39 Psalmen des ersten Davidpsalters tragen 22 eine Überschrift, die die Bezeichnung HDtO enthalt. Dieser Befund erhält erhöhtes Gewicht dadurch, dass die Überschriften von 10 Psalmen in diesem Bereich überhaupt keine Angaben zur Liedart enthalten (Ps 11; 14; 25-28; 34-37), hinzukommen Ps 10 und 33 ohne jegliche Überschrift. 47 Von den 29 Angaben zur Liedart in Ps 90-150 bildet die Angabe n i b l / o n "VE? (Ps 120-134) die größte Gruppe, gefolgt von 11 Belegen für TIOTD. 48 G.H. WILSON, Editorial Divisions, 347, vgl. ders., Editing,163ff. 49 Eine solche Glättung erscheint durchaus sinnvoll, wenn die Korachpsalmen 84f.87f tatsächlich einen Anhang bzw. Nachtrag zu der ursprünglich eigenständigen Komposition des elohistischen Psalters darstellen, vgl. hierzu Kap. V.3.

4. Die Doppelüberlieferungen

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gaben. Es legt sich jedoch nahe, die Zusammenordnung von Einzelpsalmen zu kleineren Gruppen durch die Angabe von Liedarten, wie z.B der Gruppe Ps 62-68 durch die Bezeichnung als HDtD, auf der Ebene der Zusammenstellung von Teilkompositionen aus kleineren Psalmengruppen (Phase 2, vgl. Kap. 1.2.2) anzusiedeln. In diesen Kontext dürfte auch die Zuweisung zu bestimmten Personen gehören.50 Die Schaffung von Ubergängen zwischen einzelnen Teilkompositionen durch übergreifende Angaben zur Liedart dürfte demgegenüber erst in eine spätere Phase der Entstehung größerer Einheiten, wie etwa des elohistischen Psalters, aus einzelnen Teilkompositionen fallen (Phase 3, vgl. Kap. 1.2.2). Die hier dargestellten Ergebnisse der Untersuchungen Wilsons sollen bis auf weiteres als Grundlage der weiteren Arbeit dienen. Allerdings reicht die bloße Orientierung an den Überschriften nicht aus, um die Struktur und den Entstehungsprozess des Psalters als Ganzem oder auch nur seiner Teilsammlungen umfassend zu klären.51 Es wird im weiteren Verlauf zu prüfen sein, ob die formale Zusammenordnung von Einzelpsalmen zu Kleingruppen durch bestimmte Personenzuweisungen und Angaben zur Liedart durch inhaltliche bzw. thematische Verbindungslinien bestätigt wird.

4. Die Doppelüberlieferangen Einen weiteren wichtigen Hinweis auf ein mehrstufiges Wachstum des Psalters stellen die verschiedenen Doppelüberlieferungen innerhalb des Psalters dar. Dabei fällt auf, dass die in der Regel in diesem Zusammenhang genannten Texte (Ps 14 = 53; Ps 40,14-18 = 70; Ps 57,8-12 + 60,7-14 = 108) allesamt einen Bezugspunkt zu dem in besonderer Weise zur Debatte stehenden Bereich des elohistischen Psalters haben. Die Doppelüberlieferung Ps 14 = 53 stellt den einzigen Fall im Psalter dar, in dem ein vollständiger, in sich geschlossener Psalm an einer anderen Stelle wiederholt wird. Im Fall von Ps 40,14-18 = 70 wird zu klären sein, ob hier ein in sich geschlossener Psalm erweitert wurde, oder ob es sich bei Ps 70 um ein Bruchstück des umfassenderen Ps 40 handelt. Dabei werden weitere Verbindungslinien, die zwischen den diese beiden Texte umgebenden Psalmen festzustellen sind, in die Überlegungen einzubeziehen sein. Der Gebrauch der Gottesbezeichnung c n b x in Ps 108 macht deutlich, dass dieser Psalm eine Aufnahme von Ps 57,8-12 und 60,7-14 aus dem elohistischen Psalter darstellt. Bereits ein flüchtiger Blick auf den so entstandenen neuen Psalm zeigt, dass dadurch, dass jeweils der 50 Zum Phänomen der Davidisierung einzelner Psalmen und des Psalters als Ganzem sowie zu den insbesondere im Bereich des zweiten Davidpsalters in den Überschriften begegnenden biographischen Situationsangaben vgl. Kap. III.l. 51 Vgl. hierzu auch die Kritik bei C. RöSEL, Die messianische Redaktion, 51.

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11. Strukturelle Hinweise zum Wachstum des Psalters

zweite Teil der Vorlagen übernommen wird, der Aspekt der Klage völlig zugunsten des Lobes zurücktritt. Für das Phänomen der Doppelüberlieferungen legen sich zwei unterschiedliche Erklärungsmodelle nahe: a) Die Doppelüberlieferungen sind dadurch begründet, dass der Psalter aus unabhängig von einander überlieferten Teilsammlungen entstanden ist. Unterschiedliche Redaktoren haben unterschiedliche Sammlungen zusammengestellt und quasi aus Versehen, da sie die jeweils anderen Sammlungen nicht kannten, einig Psalmen doppelt überliefert. Gegen diese Annahme spricht jedoch die Tatsache, dass Ps 108 die Gottesbezeichnung „Elohim" aus Ps 57 und 60 übernimmt. Hieraus lässt sich folgern, dass dem Redaktor zumindest der elohistische Psalter bereits vorlag.52 b) Die genannten Doppelüberlieferungen lassen zahlreiche Abweichungen und Varianten erkennen, die sich nicht allesamt durch die unzuverlässige hebräische Texttradition erklären lassen.53 Vielmehr haben diese Varianten einen derart spezifischen und aussagekräftigen Charakter, dass sich die Vermutung nahe legt, dass sie dazu dienen, die verschiedenen, in der Tat teilweise unabhängig voneinander entstandenen Bereiche des Psalters miteinander zu verzahnen und gerade durch die Abweichungen bestimmte, inhaltlich-theologische Akzente zu unterstreichen. Diese These, dass die Funktion der Doppelüberlieferungen primär in der Verbindung der einzelnen Bereiche des Psalters, insbesondere des elohistischen Psalters mit dem vorderen und hinteren Drittel des Psalmenbuches besteht, wird im weiteren Verlauf der Untersuchung zu überprüfen sein. Dazu bedarf es einer eingehenderen Analyse der betroffenen Psalmen und der Differenzen zwischen den jeweiligen Textfassungen.54

5. Der elohistische Psalter als ursprünglich eigenständige Komposition Die dargestellten Beobachtungen lassen die Schlussfolgerung zu, dass der Textbestand des sog. elohistischen Psalters (Ps 42-83) ursprünglich eine eigenständige Komposition bildete.55 Die offensichtliche Dominanz der Gottes52

Vgl. hierzu C. RÖSEL, der zu Recht darauf hinweist, dass diese Annahme von der Prämisse ausgeht, „dass ein Redaktor den selben Text nicht zweimal in eine Sammlung aufgenommen hätte" bzw. dass der Psalter eine Sammlung darstellt, „die ihren Benutzern verschiedene Einzeltexte zur Verfugung stellen soll" (Die messianische Redaktion, 56). 53 Gegen H.-J. KRAUS, der die Doppelüberlieferungen im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Qualität und Zuverlässigkeit des masoretischen Textes diskutiert (Psalmen I, 4). 54 Vgl. hierzu die Analyse von Ps 53; 60 und 70 in Kap. III.3; 4; 7. 55 So auch C. RÖSEL, Die messianische Redaktion, 82FF; M. MILLARD, Komposition, 169FF.

5. Der elohistische Psalter als ursprünglich eigenständige Komposition

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bezeichnung Elohim gegenüber dem Tetragramm in nur diesem Teil des Psalters lässt sich am sinnvollsten erklären, wenn dieser Bereich ursprünglich eine selbstständige Komposition bildete, die erst später mit anderen Teilkompositionen verbunden bzw. sukzessive erweitert wurde. In den Zusammenhang der Verbindung einzelner Teilkompositionen dürften auch die verschiedenen Doppelüberlieferungen gehören. Die Tatsache, dass alle Doppelüberlieferungen einen Bezugspunkt zum elohistischen Psalter haben, legt die Annahme nahe, dass dieser Teil den Kernbestand des Psalters darstellt, zu dem andere Kompositionen hinzugefügt wurden. Der elohistische Psalter seinerseits wird durch die Namensangaben in den Überschriften in die drei Abschnitte der Korach-, David- und Asafpsalmen gegliedert. Das bereits auf den ersten Blick erkennbare unterschiedliche inhaltliche und theologische Profil dieser drei Gruppen lässt vermuten, dass es sich hierbei um drei Teilkompositionen handelt, die ebenfalls ihre je eigene Vorgeschichte haben. Einen Einblick in den Prozess der Zusammenfugung dieser drei Kompositionen gewährt die Schlussnotiz Ps 72,20, die ihren Ort in der Verbindung der Asafpsalmen mit den Davidpsalmen 51-72 haben dürfte. Rösel hat in seiner Untersuchung zum messianischen Psalter die These begründet, dass der elohistische Psalter zunächst durch die zweite Korachpsalmengruppe (Ps 84f.87f) und in einem weiteren Schritt durch die Davidpsalmen 3-41 erweitert wurde. Die so entstandene Vorstufe des Psalters erhielt durch Ps 2 und 89 eine messianische Rahmung. Auf diesen Prozess und das Wachstum des Psalters über Ps 89 hinaus wird in dem Ausblick in Kapitel VI.2 näher einzugehen sein. Im Folgenden wird es zunächst darum gehen, die Entstehung und insbesondere das theologisch-inhaltliche Profil des als ursprünglich eigenständige Komposition nachgewiesenen elohistischen Psalters näher zu beleuchten.

Kapitel III

Die zweite Gruppe der Davidpsalmen Mit 22 von 42 Einzelpsalmen stellt der zweite Davidpsalter (Ps 51-72) die umfangreichste Komposition des elohistischen Psalters dar. Durch unterschiedliche Angaben zur Liedart in den Überschriften wird diese komplexe Einheit in vier bzw. fünf Abschnitte unterteilt: Ps 52-55: "rafro Ps 56-60: anno Ps 62-68: H O T D (hier werden Ps 65-68 noch einmal besonders eng durch die Bezeichnung als "Vtf aneinandergebunden) Ps 69-71: ohne Angabe zur Liedart Zusätzlich wird die gesamte Komposition durch einen Einleitungs- und einen Schlusspsalm (Ps 51 bzw. 72) gerahmt. Bevor nun die einzelnen Kleingruppen auf ihre Entstehung und ihr theologisches Profil hin untersucht werden, soll zunächst in einem einleitenden Abschnitt der besonderen Rolle Davids als Beter und Dichter der mit seinem Namen verbundenen Psalmen nachgegangen werden.

1. David als Beter und Dichter der Psalmen 1.1 Die Überschriftennotiz "in1?

In der Regel wird das b in der Überschriftennotiz als Lamed-auctoris gedeutet und in entsprechenden Übersetzungen mit „ein Psalm / ein Lied etc. von David" wiedergegeben. Neuere Untersuchungen1 haben jedoch gezeigt, dass die Deutung der Überschriftennotiz D"6 als Verfasserangabe eine spätere Entwicklung darstellt und die Notiz ursprünglich die Funktion einer Lese- und Interpretationshilfe hatte. Gegen ein Verständnis von als Autorenangabe sprechen vor allem folgende Gründe:2 1 Vgl. insbesondere M. K L E E R , „Der liebliche Sänger der Psalmen Israels". Untersuchungen zu David als Dichter und Beter der Psalmen (BBB 108), Bodenheim 1996, 78ff; C. R ö S E L , Die messianische Redaktion, 161ff. 2 Vgl. hierzu auch die ausführliche Diskussion bei M. KLEER, Der liebliche Sänger, 78ff sowie bei C. R Ö S E L , Die messianische Redaktion, 161.

1. David als Beter und Dichter der Psalmen

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1. In den Psalmenüberschriften werden noch andere Angaben mit b eingeführt, insbesondere die nur schwer deutbare Angabe die in der Regel mit „für den Chormeister" wiedergegeben wird und sicherlich keine Verfasserangabe darstellt. 2. Eine Verfasserangabe mit b findet sich im Alten Testament nur in den Psalmen und in Texten, die von diesen abhängig sind (Jes 38,9; Hab 3,1; Hld 1,1). 3. Die Notiz ^vb in Ps 102,1 zeigt, dass es grundsätzlich möglich ist, die Formel als b-ethicus im Sinne von „Gebet für einen Armen" zu verstehen. 4. In diese Richtung weist auch die Notiz nabvib in der Überschrift von Ps 72. Die Schlussnotiz Ps 72,20 („Zu Ende sind die Gebete Davids, des Sohnes Isais.") schreibt David die Autorenschaft über die vorangehenden Psalmen und damit auch über Ps 72 selbst zu. Der entsprechende Redaktor hat somit zumindest das b in nobtf b nicht als b-auctoris, sondern im Sinne von „für Salomo" oder „in Hinblick auf Salomo" verstanden. In vergleichbarer Weise wie nobE'b ist auch die Notiz 11 "6 zu deuten. Die Angabe weist den Leser bzw. Beter an, sich bei der Lektüre des betreffenden Psalms die Gestalt Davids und ihr wechselvolles Schicksal zu vergegenwärtigen. Er soll sich vorstellen, ebenso wie er selbst habe auch David diesen Psalm in einer not- oder auch freudvollen Situation seines Lebens gebetet. Die Notiz 11-6 bezeichnet somit David nicht als den Verfasser, sondern als den Beter der entsprechenden Psalmen.3 Der Leser bzw. Beter erhält auf diese Weise ein Identifikationsangebot, das es ihm ermöglicht, sich in eine Schicksalsgemeinschaft mit David als dem Paradigma gläubiger Existenz in Israel zu stellen.4 Erleichtert bzw. ermöglicht wird diese Identifikation vor allem durch diejenigen Psalmen, deren Überschriften neben der Notiz ~tnb auch eine biographische Situationsangabe enthalten,5 die angibt, mit welcher konkreten Situation im Leben Davids der jeweilige Psalm in Verbindung gebracht werden soll. Auf diesem Hintergrund erscheint es plausibel und wahrscheinlich, dass die biographischen Situationsangaben nicht - wie in der Forschung zumeist 3 Dieser Gebrauch der Konstruktion b + Eigenname entspricht der Verwendung dieser Formel im Bereich der Korach- und Asafpsalmen. Die Angaben f]DN und m p " , n i ? dürften ursprünglich ebenfalls keine Verfasserangabe, sondern am ehesten eine Art Registraturvermerk im Sinne von „für den Gebrauch / den Dienst des N.N." darstellen. Asaf bzw. die Asafiten und die Söhne Korachs bzw. Korachiter gelten somit nicht als die Verfasser, sondern als die Beter, die die mit ihren Namen verbundenen Psalmen im Kult verwenden, vgl. auch C. RÖSEL, Die messianische Redaktion, 162. 4

5

V g l . M . KLEER, D e r liebliche Sänger, 80FF.

Zu diesen biographischen Situationsangaben vgl. ausführlicher den folgenden Abschnitt Kap. III. 1.2.

68

III. Die zweite Gruppe der

Davidpsalmen

angenommen - eine spätere Hinzufügung darstellen6, sondern vielmehr den Ausgangspunkt für die Davidisierung weiterer Psalmen bildeten. Ein Leser bzw. Beter, der durch die Psalmen mit biographischen Situationsangaben in den Überschriften gelernt hat, wie die beschriebene Identifikation „funktioniert", ist am ehesten in der Lage, dieses System auch auf andere Psalmen zu übertragen, auch wenn diese - sozusagen als Kurzfassung - nur die Notiz ~tnb und keine weitere biographische Verortung aufweisen.7 Was die Entstehungszeit der Überschriftennotiz in dem beschriebenen Verständnis angeht, so verweist M. Kleer zu Recht auf die Exilszeit.8 Die Orientierung an einer bedeutenden Persönlichkeit aus einer besseren Vergangenheit ist insbesondere in Krisenzeiten dazu geeignet, identitäts- und hoffnungsstiftend zu wirken. Ahnlich wie die Psalmen misst auch das deuteronomistische Geschichtswerk, das seine Gestalt und theologische Prägung in weiten Teilen während des Exils erhielt, David eine hohe Bedeutung als Maßstab und Vorbild zu. Es liegt auf der Hand, dass der Weg vom Verständnis Davids als Beter bestimmter Psalmen hin zu der Auffassung, David sei der erste Beter überhaupt und damit der Autor dieser Texte gewesen, nicht allzu weit ist. Greifbar wird diese Sichtweise insbesondere in der Schlussnotiz Ps 72,20, mit der der Davidpsalter von den folgenden Asafpsalmen abgesetzt wird und die die vorangehenden Psalmen als „Gebete Davids" und somit David als deren Verfasser charakterisiert. Zum Dichter und Sänger der Psalmen wird David auch durch die Übernahme von Ps 18 in 2. Sam 22.9 Die dort unmittelbar auf den Psalm folgenden „letzten Worte Davids" (2. Sam 23,1-7) und die Charakterisierung Davids in diesem Zusammenhang als den „Lieblichen in den Gesängen Israels" (2. Sam 23,1) lassen David auch als den Verfasser des Psalms erscheinen. Diese ausdrückliche Davidisierung von Ps 18 durch die Einordnung in die in 6 Auch M. KLEER unterscheidet die beiden Redaktionsvorgänge voneinander und geht davon aus, dass es sich bei den biographischen Situationsangaben um spätere Hinzufügungen handelt (Der liebliche Sänger, 86), vgl. hierzu die Kritik von C. RÖSEL, Die messianische Redaktion, 169, Anm. 78. 7 Vgl. C. RÖSEL: „Das einfache i n b ist dabei als Abkürzung der ausführlicheren Form mit Situationsangabe zu verstehen. Denn erst nachdem einige Psalmen Überschriften mit i n 1 ? und Situationsangabe erhalten hatten, konnte auch das in sich für den Leser der Psalmen zunächst rätselhafte ~inb als Hinweis auf David verwendet werden. Nachdem sich jedoch dieses Verständnis erst einmal durchgesetzt hatte, genügte für den durch die ausführlichen Situationsangaben geschulten Leser das bloße "Tnb, um die beabsichtige Verbindung mit dem Schicksal Davids herzustellen." (Die messianische Redaktion, 170). 8 Vgl. M. KLEER, Der liebliche Sänger, 82f. 9 Zum Verhältnis von Ps 18 und 2. Sam 22 und zur Einordnung dieses Textes in die Davidbiographie vgl. die Analyse bei M. KLEER, Der liebliche Sänger, 11-77 .

1. David als Beter und Dichter der Psalmen

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den Samuelbüchern erzählte Biographie Davids dürfte eine deutliche Rückwirkung auf das Verständnis der Psalmen im Psalter gehabt haben, so dass die Notiz ~inb nun auch hier als Autorenangabe gedeutet wurde. In späterer Zeit konnten dann auch andere bedeutende Persönlichkeiten wie die Weisen Heman (Ps 88,1) und Etan (Ps 89,1) oder Mose, der „Mann Gottes" (Ps 90,1), als Verfasser einzelner Psalmen herangezogen werden, um die entsprechenden Texte an ihrer Autorität teilhaben zu lassen.10 1.2 Die biographischen Überschriften Insgesamt dreizehn Psalmenüberschriften im Psalter enthalten eine Angabe, die den jeweiligen Psalm mit einer Situation aus dem Leben Davids verbindet (Ps 3; 7; 18; 34; 51; 52; 54; 56; 57; 59; 60; 63; 142). Mit acht Belegen lässt sich dabei eine besondere Konzentration von Situationsangaben in dem für die vorliegende Untersuchung relevanten Bereich des zweiten Davidpsalters feststellen. Dieser Befund legt die Annahme nahe, dass das Phänomen der biographischen Überschriften seinen Ursprung im Bereich des zweiten Davidpsalters hat." Diese These wird dadurch gestützt, dass sich die Überschriften von Ps 3; 34 und 142 auf Ereignisse beziehen, die auch in den Überschriften des zweiten Davidpsalters erwähnt werden,12 so dass sich die Schlussfolgerung nahe legt, dass die Überschriften dieser drei Psalmen erst zu einem späteren Zeitpunkt in Anlehnung an die Situationsangaben im zweiten Davidpsalter ergänzt wurden.13 Die Überschriften von Ps 7 und 18 unterscheiden sich von den übrigen biographischen Angaben dadurch, dass sie nicht mit einem durch 3 eingeleiteten Infinitiv constructus beginnen, sondern mit einem "ittfN-Satz

10

Vgl. J.L. KUGEL: „For a moment arrived in the life of every biblical text when the fact of its being ,hallowed by tradition' was no longer sufficient for Jews to treat it as sacred; it had to be of special provenance, communicated by one of God's chosen servants known form Israel's history." (Topics in the History of the Spirituality of the Psalms, in: A. Green (Hrsg.), Jewish Spirituality. From the Bible through the Middle Ages, London 1986, 113-144 (135). 11 Die Erklärung von M. KLEER (Der liebliche Sänger, 84) und E. ZENGER (Korachpsalmen, 194) zur Konzentration der Situationsangaben im zweiten Davidpsalter ist nicht recht überzeugend. Ihrer Auffassung nach wurde der zweite Davidpsalter im Vergleich mit dem ersten für die Setzung solcher Angaben wegen seiner Kriegs- und Verfolgungsperspektive als geeigneter empfunden. Demgegenüber ist jedoch festzustellen, dass auch im ersten Davidpsalter zahlreiche Texte eine vergleichbare Verfolgungsperspektive oder andere Leidens- und Notsituationen erkennen lassen, die durchaus Anknüpfungspunkte für eine Verbindung mit Stationen aus dem Leben Davids bieten (vgl. z.B. Ps 4-6; 11-13; 22; 31), vgl. auch die Kritik bei C. RÖSEL, Die messianische Redaktion, 160. 12 Ps 3 und 63 werden auf die Flucht Davids vor Absalom bezogen, Ps 34 und 56 auf die Flucht Davids zu den Philistern nach Gat und Ps 57 und 142 auf Davids Flucht in eine Höhle. 13 So auch C. RÖSEL, Die messianische Redaktion, 165f und mit Blick auf Ps 3 und 34 M. KLEER, Der liebliche Sänger, 92.

70

III Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

gebildet sind.14 Kleer hat in seiner Untersuchung nachgewiesen, dass die Überschrift von Ps 18 ihr Vorbild in 2. Sam 22,1 hat und die Überschrift von Ps 7 wiederum von Ps 18,1 abgeleitet ist.15 Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, dass die biographischen Überschriften erst an das Ende der Entwicklung der Psalmenüberschriften gehören, ist anzunehmen, dass diese bereits zu einem Zeitpunkt entstanden sind, als in den Psalter außer der Gruppe der Davidpsalmen 51-72* keine weiteren Davidpsalmen integriert waren.16 Erst nachdem der Psalter zur Sammlung Ps 2-89 angewachsen war und es somit in diesem Komplex eine weitere David-Komposition (Ps 3-41) gab, wurden die Situationsangaben vereinzelt auch auf den ersten Davidpsalter und noch später auf Ps 142 ausgeweitet. Die Angaben der biographischen Überschriften beziehen sich auf die David-Erzählungen der Samuelbücher. Da sie die entsprechenden Erzählungen nur andeuten, setzen sie voraus, dass diese dem Leser bzw. Beter bekannt sind. Die Vorgehensweise der Autoren der biographischen Überschriften lässt sich als assoziativ charakterisieren.17 Motivliche und allgemeine, inhaltliche Parallelen, aber auch konkrete Stichwortverbindungen sind der Anlass, einen konkreten Psalm einer bestimmten Daviderzählung zuzuordnen, ohne dass dabei feste Regeln erkennbar würden.18 In der Forschung sind in Hinblick auf die biographischen Überschriften verschiedene Interpretationsmodelle vorgeschlagen worden. B.S. Childs nimmt vor allem die Funktion der Angaben auf der Textebene in den Blick und spricht in diesem Zusammenhang von „inner-biblical interpretation" oder „proto-midrashic exegesis"19. E. Slomovic sieht in ähnlicher Weise die biographischen Überschriften auf einer Entwicklungslinie mit der Methode des „connective midrash", wie sie sich in der rabbinischen Literatur findet.20 Ein solches Verständnis der Situationsangaben der Psalmenüberschriften ist sicherlich sinnvoll, wenn man von einer sehr weit gefassten Bestimmung des

14

Zur Form und Konstruktion der biographischen Angaben vgl. die Analyse bei B.S. CHILDS, Psalm Titles and Midrashic Exegesis, JSST 16 (1971), 137-150 (138) und C. RÖSEL, Die messianische Redaktion, 164. 15

16

V g l . M . KLEER, D e r liebliche Sänger, 3 4 . 8 7 .

Vgl. C. RöSEL, Die messianische Redaktion, 169. Vgl. M. KLEER, Der liebliche Sänger, 115. 18 Vgl. M. KLEER, a.a.O.; B.S. CHILDS, Psalm Titles, 148. Zu den Verbindungslinien zwischen den einzelnen Psalmen und den entsprechenden Erzählungen vgl. die ausführliche Darstellung in der Einzelauslegung der jeweiligen Psalmen (Kap. III.2-5) und die dort angegebenen Literaturverweise. 19 B.S. CHILDS, Psalm Titles, 148f. 20 E. SLOMOVIC, Towards an Understanding of the Formation of Historical Titles in the Book of Psalms, ZAW 91 (1979), 350-380 (352ff). 17

I. David als Beter und Dichter der Psalmen

71

Begriffs „Midrasch" ausgeht.21 Eine solche weite Begriffsbestimmung bietet z.B. G. Stemberger, wenn er Midrasch allgemein als Auslegung eines biblischen Textes oder eines biblischen Ereignisses beschreibt.22 Eine ähnliche Definition gibt J.L. Kugel: „At bottom midrash is not a genre of interpretation but a interpretative stance, a way of reading the sacred text, and we shall use it in this broad sense"23.

Versteht man Midrasch in diesem weiten Sinne, können die biographischen Überschriften sicher als Proto-Midrasch beschrieben werden. Geht man demgegenüber z.B. mit L. Teugels davon aus, dass ein Text nur dann als Midrasch verstanden werden kann, wenn dieser ein explizites Zitat aus der hebräischen Bibel und einen Kommentar zu diesem Zitat enthält,24 dann muss man zu dem Ergebnis kommen, dass der Begriff „Proto-Midrasch" für eben dieses Phänomen kaum angemessen ist. Will man die biographischen Überschriften dennoch als eine Form der innerbiblischen Auslegung und damit als Wegbereiter für die rabbinische Auslegungstradition beschreiben, so dürfte es sinnvoller sein, mit M. Fishbane von haggadischer Auslegung statt von Midrasch zu sprechen.25 In jedem Fall besteht die Stärke der von den genannten Forschern gewählten Zugänge zum Phänomen der biographischen Überschriften darin, dass damit deutlich wird, dass es eine Entwicklungslinie von dieser Form innerbiblischer Exegese hin zur späteren umfangreichen Historisierung der Psalmen in der rabbinischen Auslegung gibt.26 Zwischenstation auf diesem Weg ist die Ausweitung der Davidisierung in der Septuaginta und in Qumran. So ergänzt die Septuaginta in dreizehn weiteren Überschriften die Angabe tö> AauiS so21

Weder Childs noch Slomovic geben in den genannten Aufsätzen eine Definition des Begriffe „Midrasch". 22 Vgl. G. STEMBERGER, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 19928,232f. 23 J.L. K U G E L , T W O Introductions to Midrash, in: G.H. Hartman / S . Budick (Hrsg.), Midrash and Literature, New Haven 1986, 91. 24 Vgl. L. TEUGELS, Midrash in the Bible or Midrash on the Bible? Critical Remarks about the Uncritical Use of a Term, in: G. Bodendorfer / M. Millard (Hrsg.), Bibel und Midrasch, Tübingen 1998,43ff. 25 M. FISHBANE bezieht sich dabei in Hinblick auf die Psalmenüberschriften auf das hermeneutische Prinzip pmOD der rabbinischen Auslegung, das er folgendermaßen definiert: „Every pericope which is found near another may be interpreted with respect to it." (Biblical Interpretation in Ancient Israel, Oxford 1985, 399, vgl. auch 403ff). 26 Vgl. hierzu u.a. H.D. PREUSS, Die Psalmenüberschriften in Targum und Midrasch, ZAW 71 (1951), 44-54; E. SLOMOVIC, Towards an Understanding, 352ff; G. BODENDORFER, Zur Historisierung des Psalters in der rabbinischen Literatur, in: E. Zenger (Hrsg.), Der Psalter in Judentum und Christentum (HBS 18), Freiburg i.Br. u.a. 1998, 215-234; J.M. BASSLER, A Man for All Seasons. David in Rabbinic and New Testament Literature, Intp. 40 (1986), 156-169.

72

III. Die zweite Gruppe der

Davidpsalmen

wie diverse Situationsangaben, die sich jedoch formal und inhaltlich von den Notizen des masoretischen Textes unterscheiden.27 Eine markante davidische Prägung erhielt der Psalter in Qumran durch Ps 151A, der in der Psalmenrolle 1 lQPsa gefunden wurde und der das hebräische Gegenstück zu Ps 151 LXX bildet.28 Der in der 1. Person Singular verfasste Psalm zeigt David als den Psalmendichter und -sänger, der mit seinen Worten und Gesängen das Ziel verfolgt, Gott die Ehre zu geben. Dabei wird durch die Schlussstellung von Ps 151A die Autorenschaft Davids in Hinblick auf die gesamte Rolle bzw. die darin enthaltenen Psalmen unterstrichen. Ein ebenfalls in der Psalmenrolle llQPs" enthaltenes, in der Forschung als „David's Composition" (DavComp) bezeichnetes Prosastück beschreibt zudem David als den Verfasser von 3600 Psalmen und 450 Liedern, der damit sogar Salomo übertrifft, dem nach 1. Kön 5,12 „nur" 4005 Dichtungen zugeschrieben werden. Ein anderes Interpretationsmodell der biographischen Überschriften, das den Blick vor allem auf den Leser und dessen Umgang mit diesen Angaben richtet, bietet der durch die moderne Literaturwissenschaft angeregte rezeptionsästhetische Ansatz, wie er z.B. von D. Erbele-Küster vertreten und dargestellt wird.29 In Anlehnung an das Modell des impliziten Lesers von W. Iser deutet Erbele-Küster David, der in den Psalmenüberschriften als „expliziter Beter" genannt wird, als „impliziten, paradigmatischen Leser", der eine erste „identitätsstiftende Leserfiktion" darstellt, die es dem Beter ermöglicht, seine Erfahrungen durch Verknüpfung mit Situationen aus dem Leben Davids zu deuten. Umgekehrt erhalten die Erzählungen der Samuelbücher durch die Psalmen einen neuen Interpretationsrahmen.30 Als ein letztes Interpretationsmodell sei der Ansatz von J. van Oorschot genannt, der in Aufnahme der von E. Würthwein geprägten Terminologie die David zugewiesenen und mit einer biographischen Situationsangabe versehenen Psalmen analog zu den Liedern des Hohenliedes als „Rollenlieder" bzw. „Rollendichtungen" beschreibt.31 Kennzeichen solcher Rollenlieder ist eine 27

Während sich die Situationsangaben des MT auf das Leben Davids, wie es in den Samuelbüchern dargestellt wird, beziehen, können die Überschriften der LXX David z.B. auch mit dem Exil oder der nachexilischen Zeit in Verbindung bringen oder neben David auch Jeremia und Ezechiel als Verfasser nennen (z.B. Ps 64; 70; 95), vgl. hierzu die ausfuhrliche Darstellung bei D. ERBELE-KÜSTER, Lesen als Akt des Betens: eine Rezeptionsästhetik der Psalmen (WMANT 87), Neukirchen-Vluyn 2001, 86ff; C. RÖSEL, Die messianische Redaktion, 167ff; A. PIETERSMA, David in the Greek Psalms, VT 30 (1980), 213-226. 28 Vgl. hierzu sowie zu den „Kompositionen Davids" die Analyse von M. KLEER, Der liebliche Sänger, 204ff und die dort angegebene Literatur. 29

30

V g l . D . ERBELE-KÜSTER, L e s e n als A k t d e s B e t e n s , 53FF.

Vgl. a.a.O. Vgl. J. VAN OORSCHOT, Nachkultische Psalmen und spätbiblische Rollendichtung, ZAW 106 (1994), 69-86. 31

1. David als Beter und Dichter der Psalmen

73

exemplarische Einzelgestalt, die Orientierung ermöglicht und zur Identifikation einlädt. Der betende David der Psalmenüberschriften wird zum Vorbild und Orientierungspunkt für die Adressaten. Gemeinsam ist den hier in aller Kürze vorgestellten Interpretationsmodellen, dass sie den David der Psalmenüberschriften als paradigmatischen Sänger und Beter der Psalmen verstehen, der zur Identifikation einlädt und Betern nachfolgender Generationen Deutungsmuster für ihre eigene Gegenwartserfahrung bietet. Dabei ist David jedoch nicht nur Beispiel für den in Not geratenen oder schuldig gewordenen Einzelnen, sondern auch für das in seiner Existenz und Identität bedrohte Volk.32 In Verbindung mit der Notiz ~tnb ordnen die biographischen Überschriften die entsprechenden Psalmen in die Lebensgeschichte Davids ein. Paradoxerweise besteht die Auswirkung der konkreten Angaben der Situation, in der David die einzelnen Psalmen betete, nicht etwa darin, dass die Psalmen nun ausschließlich auf diese Situationen festgelegt wären, sondern vielmehr in einer Ausweitung der Möglichkeit, diese Texte auf unterschiedliche, individuelle Lebenssituationen zu übertragen.33 Der Leser bzw. Beter erlebt und erlernt paradigmatisch, in welchen Situationen und Stimmungslagen die einzelnen Psalmen gesprochen bzw. wieder verwendet werden können. In diesem Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, dass die biographischen Überschriften David nicht primär als mächtigen und siegreichen König zeichnen (die meisten Überschriften weisen in die Zeit vor Davids Königtum), sondern vor allem als den Verratenen und Verfolgten, als den Trauernden und Schuldigen.34 Auf diese Weise erhalten gewöhnliche Menschen aller 32 Dies gilt bereits auf der Ebene des zweiten Davidpsalters Ps 51-72, aber umso mehr nach Voranstellung des einzelnen, an das Volk als Ganzes gerichteten Asafpsalms 50. Durch seine engen Bezüge zu Ps 51 (vgl. Kap. III.2) lädt dieser Psalm dazu ein, die folgenden Individualpsalmen auch mit Blick auf das Schicksal des Volkes zu lesen. 33 Vgl. E. BALLHORN: „Der Davidstitel ist gewissermaßen ein ,Anwendungsparadigma' für die Psalmen, denn auf diese Weise wird die Lücke zwischen der offenen Metaphernsprache der Psalmen und den konkreten Situationen des eigenen Lebens paradigmatisch geschlossen. [...] Es ist ein Paradox, daß gerade über die Bindung von allgemeinen' Psalmen an ganz bestimmte Situationen aus dem Leben Davids diese Psalmen auf das jeweils unterschiedliche und individuelle Leben der vielen Beter adaptibel werden. Die Davidisierung gibt ein Beispiel für die Anwendung auf die jeweils konkrete Situation." („Um deines Knechtes David willen" (Ps 132,10). Die Gestalt Davids im Psalter, BN 76 (1995), 16-31 [24]). 34 Dieser Befund widerspricht der These von F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, nach der die ausdrückliche Davidisierung von Psalmen auf die Asafiten zurückgeht und ihren Anknüpfungspunkt in der Erwähnung Davids in Ps 78,70-72 hat (Psalmen 51-100, 30). Ps 78,70-72 spricht David als den Hirten und damit als den König des Gottesvolkes an und eben nicht wie die biographischen Überschriften - als den Leidenden und Verfolgten. Die Überschriften zeichnen also ein deutlich anderes Bild als der Asafpsalm 78 und dürften somit auch kaum auf die Asafiten zurückgehen, sondern bereits auf einer früheren Stufe des Wachstums des elo-

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Zeiten ein Identifikationsangebot: „As David, so every man!"35 In den Nöten und Ängsten, Freuden und Hoffnungen Davids können sie ihre eigenen Erfahrungen wiedererkennen und zu der Zuversicht gelangen, dass Gott sie - wie David - aus aller Gefahr erretten wird. Da die Angaben der biographischen Überschriften äußerst knapp gehalten sind und der narrative Kontext nur angedeutet wird, entsteht ein Interpretationsraum, der dem Leser bzw. Beter genug Freiheit lässt diesen Raum mit eigenen Farben und Requisiten auszustatten. Mit Hilfe der eigenen Imagination können die biblischen Erzählungen und die eigene, persönliche Geschichte in Beziehung gesetzt werden. Auf diese Weise beschreitet der Leser bzw. Beter einen spirituellen Erfahrungsweg, er erhält auf dem Hintergrund von Psalm und Erzählung Deutungs- und Handlungsmuster, mit denen er sein Leben, seine eigenen Erfahrungen interpretieren und bewältigen kann.36 Den theologiegeschichtlichen Rahmen, in dem solche Deutungsmuster möglich und notwendig wurden, dürfte die exilische und nachexilische Zeit bilden. Van Oorschot beschreibt die Grunderfahrung dieser Zeit wie folgt: „Mit der äußeren Zerschlagung von Tempel und Eigenstaatlichkeit wird das Fern-sein Gottes zur Grunderfahrung, in der seine kultisch erlebbare Nähe die fragwürdige Ausnahme bildet. Dem Kultus gelingt es nicht mehr, aus der gestörten Ordnung über die Klage hin zu einer grundlegend neuen Heilserfahrung zu verhelfen. Er bekommt vielmehr die Aufgabe, ein Leben im Angesicht der Bedrohung durch Feinde oder Sünde möglich zu machen. Die nachkultische Kulterfahrung schließt damit das Erlebnis der Unangemessenheit ein. So verwundert es nicht, daß nachkultische Psalmen zusätzliche Elemente der Vergewisserung und der Unterweisung aufnehmen. Es gilt die verlorengegangene Gewißheit der Gerechtigkeit Gottes zuhistischen Psalters bzw. des zweiten Davidpsalters entstanden sein. Zu den Differenzen des Davidbildes der Überschriften und der Psalmcorpora vgl. das Ergebnis der Analyse von E. BALLHORN: „Während der David der biographischen Angaben in den Überschriften als Individuum in den verschiedensten Situationen seines Lebens, noch dazu in Bedrängnis und Sünde, dargestellt wird, so ist das Rekurrieren auf David in den Psalmencorpora von einem ganz anderen Gesichtspunkt bestimmt: die historische, individuelle Person David wird fast gleichgültig, sie wird nur noch zu einer Chiffre für die Verheißung Gottes. Nicht mehr David ist hier der Handlungsträger, sondern Gott selbst. [...] Beide Davidsbilder - der Mensch David in den verschiedenen Situationen der Bedrängnis und der David der Dynastieverheißung, die fast schon mythische Figur der Vergangenheit - sind fast nicht zur Deckung zu bringen, so unterschiedlich sind sie." (Um deines Knechtes David willen, 29). 35 G.H. WILSON, Editing, 173. 36 Vergleichbare Ansätze finden sich auch in der modernen kirchlichen Praxis, z.B. in der biblischen Meditation der ignatianischen Exerzitien oder im Bibliodrama. Hier wird unter Zuhilfenahme von gestalterischen und imaginativen Übungen das therapeutische und pädagogische Potential biblischer Texte mittels Identifikation fruchtbar gemacht, damit Menschen neue Deutungs- und Handlungsmuster erhalten. Besondere Bedeutung bekommen solche spirituellen Erfahrungswege in Zeiten der Krise und Infragestellung, vgl. hierzu H. RADECK, Ignatianische Exerzitien und Bibliodrama. Ein hermeneutischer Strukturvergleich, Stuttgart 1998.

2. Prolog: Ps 50-51

75

rückzugewinnen. Die fragwürdigen Ordnungen Jahwes müssen neu ins Bewußtsein gerückt werden. Als Teil dieser Ergänzung des nachexilischen Kultes ist auch die Rollendichtung anzusprechen [...]".37

Die vorbildliche Einzelgestalt der Rollendichtung erhält in dieser Zeit die Aufgabe als Glaubenszeuge, „die Adressaten durch Lehre und Ermahnung in grundlegende Lebens- und Glaubenshaltungen einzuführen"38. Inwieweit David im zweiten Davidpsalter nicht nur in den Einzeltexten, sondern auch auf der Ebene der Gesamtkomposition als solch eine vorbildliche Einzelgestalt in Erscheinung tritt und in welcher Form sich dabei die Einzelpsalmen und ihre narrativen Kontexte gegenseitig auslegen, wird in den Einzelanalysen der folgenden Abschnitte (Kap.III.2 — 8) näher zu beleuchten sein.

2. Prolog: Ps 50-51 Dem mit Ps 51 beginnenden zweiten Davidpsalter (Ps 51-72) ist mit Ps 50 ein einzelner Asafpsalm vorangestellt. Es ist zu vermuten, dass die Funktion dieses einzelnen Asafpsalms darin besteht, den zweiten Davidpsalter mit der folgenden Gruppe der Asafpsalmen zu verklammern.39 Bereits bei flüchtiger Lektüre fallt auf, dass Ps 50 und 51 durch das Thema des rechten Opfers miteinander verbunden sind. Des Weiteren sind die beiden Texte durch die Angabe „Mizmor" in den Überschriften aufeinander bezogen. Diese Beobachtungen legen es nahe, Ps 50 und 51 im Zusammenhang zu lesen, obwohl beide Texte durch ihre Überschriften unterschiedlichen Personen zugeordnet werden. Dabei wird die genauere Analyse zeigen, ob es neben den genannten noch weitere Verbindungslinien zwischen den beiden Psalmen gibt. 2.1 Psalm 50

1 Mizmor in Hinblick auf Asaf. Der Gottherr40, Gott, JHWH, spricht und ruft die Erde vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang. 37 J.VAN OORSCHOT, Nachkuitische Psalmen, 72f. Unter „Kultus" versteht van Oorschot dabei in Anlehnung an F. Stolz eine „lebensschaffende, ordnungssetzende und sinnstiftende Kraft" (a.a.O., nach F. STOLZ, Psalmen im nachkultischen Raum (ThST 129), Zürich 1983, 7). 38 A.a.O., 80. 39 Zur Position und Funktion von Ps 50 an dieser Stelle vgl. auch Kap. IV.3. 40 So die Übersetzung von M. BUBER (Das Buch der Preisungen. Verdeutscht von Martin Buber, Gerlingen 195810), die die auffällige Dreifachtitulierung Gottes angemessen zum Ausdruck bringt.

76

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

2 Von Zion her, der Krone der Schönheit, erstrahlt Gott. 3 Es kommt unser Gott und schweigt nicht, Feuer frisst vor ihm her, und rings um ihn stürmt es gewaltig. 4 Er ruft den Himmeln oben zu und der Erde, zu richten sein Volk. 5 Versammelt mir meine Frommen41, die meinen Bund schlössen beim Schlachtopfer. 6 Es verkünden die Himmel seine Gerechtigkeit, ja, Gott selbst ist Richter. Sela. 7 Höre, mein Volk, ich will sprechen, Israel, ich will dich ermahnen. Gott, dein Gott bin ich. 8 Nicht wegen deiner Schlachtopfer klage ich dich an, deine Brandopfer sind mir immerfort vor Augen. 9 Ich will nicht nehmen aus deinem Haus den Stier, aus deinen Hürden die Böcke. 10 Denn mein ist alles Wild des Waldes, die Tiere in den Bergen zu Tausend42. 11 Ich kenne alle Vögel der Berge43, und das Getier des Feldes ist mein eigen. 12 Hätte ich Hunger, bräuchte ich es dir nicht zu sagen, denn mein ist der Erdkreis und was ihn erfüllt. 13 Soll ich das Fleisch essen von Rindern und das Blut von Böcken trinken? 14 Opfere Gott Dank und erfülle dem Höchsten deine Gelübde. 15 Und rufe zu mir am Tag der Bedrängnis, ich will dich erretten, und du wirst mich ehren. 16 Und zum Frevler spricht Gott: Was zählst du meine Satzungen her und fuhrst meinen Bund im Munde? 17 Aber du hasst Zurechtweisung und wirfst meine Worte hinter dich. 41

Während der masoretische Text eine direkte Gottesrede überliefert, lesen Septuaginta und Peschitta: „Versammelt ihm seine Frommen, die seinen Bund schlössen beim Schlachtopfer". 42 Septuaginta und Peschitta lesen im Sinne von „Rind", denkbar ist auch die Lesart b« m n - „Gottesberge" (vgl. Ps 36,7), für die es jedoch keine Textzeugen gibt. 43 Septuaginta, Peschitta und Targum weisen mit • , Ot? - „Himmel" oder DUO - „Höhe" eine leichtere Lesart auf.

2. Prolog: Ps 50-51

11

18 Wenn du einen Dieb siehst, so hast du Gefallen an ihm44, und mit Ehebrechern ist dein Teil. 19 Deinen Mund sendest du aus mit Bösem, und deine Zunge spinnt ihre Ränke. 20 Sitzt du45, redest du gegen deinen Bruder, über den Sohn deiner Mutter bringst du Schande. 21 Dieses hast du getan, und ich sollte schweigen? Denkst du, ich sei ganz wie du? Ich klage dich an und lege es dir vor Augen. 22 Bedenkt dies wohl, die ihr Gott vergesst, damit ich nicht zerreiße, und da ist kein Retter. 23 Wer Dank opfert, der ehrt mich, und wer den Weg (dorthin) macht46, den lasse ich schauen das Heil Gottes. Der Aufbau von Ps 50 lässt sich folgendermaßen darstellen:47 V.l-6: Theophanie V.7-23: Gottesrede V.7-15: Erster Teil der Gottesrede zum Thema „Opfer" V. 16-22: Zweiter Teil der Gottesrede zum Thema „Praktisches Verhalten angesichts der Satzungen Gottes" V.23: Schlussfolgerung Ps 50 beginnt in V.l mit einer auffalligen Dreifachtitulierung Gottes und der expliziten Nennung des Gottesnamens JHWH. Diese direkte Zusammenstellung des Gottesnamens mit der Gattungsbezeichnung Elohim ist im elohistischen Psalter einzigartig. Eine vergleichbare Anrede Gottes begegnet so nur noch in Jos 22,22 im Zusammenhang einer schwurähnlichen Anrufung Gottes 44

Septuaginta, Peschitta und Targum leiten statt von n m - „Gefallen haben" von „laufen" ab: „Wenn du einen Dieb siehst, so läufst du mit ihm". Der Aussagegehalt ist jedoch vergleichbar. 45 Der textkritische Apparat der BHS schlägt vor n ^ n - „Schändliches" statt 3B>n - „du sitzt" zu lesen. Mit Blick auf den Parallelismus membrorum ist dies eine sinnvolle Lesart, für die es jedoch keine Textzeugen gibt. 46 Septuaginta und Peschitta lesen Dt? - „dort", der textkritische Apparat schlägt die Lesart ~|~n Dm im Sinne von „wer rechtschaffen / vollkommen wandelt" vor. 47 Hinsichtlich des Aufbaus von Ps 50 herrscht in der Forschung ein weitgehender Konsens, vgl. H.-J. KRAUS, P s a l m e n I, 5 2 6 ; F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, P s a l m 1 - 5 0 , 3 0 8 ;

P. CRAIGIE, Psalms 1-50 (WBC 19), Waco 1983, 363; M. GIRARD, Les Psaumes. Analyse structurelle et interprétation, Montréal - Paris 1984, 401f; E.S. GERSTENBERGER, Psalms. Part 1. With an Introduction to Cultic Poetry (FOTL 14), Grand Rapids 1988, 207; A.A. ANDERSON, The Book of Psalms I. Introduction and Psalms 1-72, Grand Rapids 1972, 381.

78

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

zum Zeugen. Ahnlich wie in Jos 22,22 dürfte auch in Ps 50,1 die Häufung der Gottesnamen auf die besondere Würde des Augenblicks und die hohe Bedeutsamkeit der nun folgenden Worte hinweisen. Auch wenn die Konstruktion d t 6 n bx nicht mit „Gott der Götter" wiederzugeben ist,48 zielt die Häufung der Namen auf eben diese Aussage: JHWH ist der Gott schlechthin, alle denkbaren Gottesnamen bezeichnen allein diesen einen Gott.49 Die eigentliche Theophanieschilderung in V.2f wird in V.l eingeleitet durch die Beschreibung des die ganze Erde in ihrer horizontalen Ausdehnung von Ost nach West50 umfassenden Rufens JHWHs. Diese internationale Ausrichtung (vgl. Ps 47,2; 48,11; 49,2), vor allem aber der Bezug auf den Zion und seine Schönheit (vgl. Ps 48,3) schaffen eine Verbindung zu den vorangehenden Korachpsalmen 42-49.51 Der erste Teil der Theophanieschilderung in V.2 mit dem Element des Erstrahlens Gottes (vgl. Dtn 33,2) erweckt im Kontext von V.l (Aufgang der Sonne) den Eindruck eines Erscheinens Gottes mit Sonnenaufgang.52 Insgesamt erinnert die Theophanieschilderung stark an das Erscheinen JHWHs am Sinai.53 Auf diese Weise erhält die in V.7-23 folgende Gottesrede eine Digni48

Darauf weisen H.J. KRAUS, Psalmen I, 530 sowie F.L. HOSSFELD, PS 50 und die Verkündigung des Gottesrechts, in: FS N. Füglister, Würzburg 1991, 83-101 (88 [Anm 14]) hin, anders dagegen M. DAHOOD, Psalms I. 1-50 (AncB 16), Garden City 1966, 306. 49 Vgl. F.-L. HOSSFELD, Verkündigung des Gottesrechts, 88. Mit dieser Aussage am Beginn der David-Asaf-Sammlung wird somit programmatisch die Identität von JHWH und Elohim festgestellt. 50 P. CRAIGIE weist zu Recht daraufhin, dass die Angabe 1N3D 11? tf DtV rntDO nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Ausdehnung des Sprechens JHWHs (vom Morgen bis zum Abend) beschreibt (Psalms 1-50, 364f). 51 Auffällig ist besonders die Verbindung zwischen Ps 48 und 50 (neben den genannten gemeinsamen Motiven findet sich in Ps 48,12 auch die für Ps 50 so wichtige Gerichtsthematik). Diese Verbindungslinien sprechen für die These, dass die Redaktion, die die Sammlung der Korachpsalmen mit dem zweiten Davidpsalter bzw. der David-Asaf-Sammlung zusammengestellt hat, ursprünglich Ps 50 direkt an Ps 48 angeschlossen hat und dass Ps 49 erst nachträglich in diesen Zusammenhang eingetragen wurde, um die hoffnungsvolle Perspektive von Ps 42-48 zu korrigieren. Es ist ebenfalls denkbar, dass auf diese Redaktion auch Ps 50,2 mit seiner Bezugnahme auf den Zion zurückgeht. Die Anklänge der Theophanieschilderung, die durchaus auch ohne V.2 verständlich ist, an die Theophanie am Sinai lässt die Ortsangabe „Zion" zumindest ungewöhnlich erscheinen. Allerdings weisen auch andere Asafpsalmen ein besonderes Interesse am Zion als Wohnstätte Gottes auf (Ps 74,2; 76,3; 78,68), wenngleich auch nicht mit einem vergleichbaren Gewicht wie in den Korachpsalmen (vgl. Kap. V.l.l). 52 Auf diese Verbindung weist P. CRAIGIE hin (Psalms 1-50, 365). Seine Folgerung, dass Ps 50 eine Liturgie im Rahmen eines Bundeserneuerungsfestes darstellt, die in einem Gottesdienst in der Morgendämmerung ihren Platz hatte (364), dürfte jedoch etwas gewagt sein. 53 Auf diese enge Verbindung zur Sinaitheophanie macht N.H. RLDDERBOS aufmerksam: „Von den Theophanien im A.T. gilt gewöhnlich - sofern wir den Begriff,Theophanie' nicht zu weit fassen - : Gott erscheint, um handelnd einzugreifen, um seine Feinde zu vernichten,

2. Prolog: Ps 50-51

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tät, die der des Offenbarungsgeschehens am Sinai entspricht.54 V.4 bildet zusammen mit V.lb einen Rahmen um die eigentliche Theophanieschilderung in V.2-3. Ging es in V.lb um die horizontale Reichweite des Rufens JHWHs, so wird in V.4 die Vertikale von Himmel und Erde in den Blick genommen. Der gesamte Kosmos in seiner Höhe und Weite wird zum Zeugen des Gerichtes Gottes (V.4b) berufen.55 Die Theophanieschilderung findet in V.5 ihr Ziel im Aufruf Gottes zur Versammlung. Aufgerufen sind „seine Frommen", eine in den Psalmen häufig gebrauchte Bezeichnung56 für das Volk (Ps 79,2; 85,9; 148,14) bzw. die Kultgemeinde (Ps 30,5; 52,11; 149,1). Der Aufruf zur Versammlung in V.5 hat zusammen mit der Formulierung m t ^bv Tp-D Ti"D immer wieder zu umfangreichen und phantasievollen Spekulationen über den „Sitz im Leben" von Ps 50 Anlass gegeben. In der Regel wird Ps 50 dabei auf dem Hintergrund eines sog. „Bundeserneuerungsfestes" gedeutet.57 Es kann hier nicht der Raum sein, diese These und ihre Implikationen ausführlich zu diskutieren. Auch wenn der Gedanke an ein Bundeserneuerungsfest „nicht ohne Anziehungskraft"58 ist, lässt sich im Alten um sein Volk zu befreien. In Ps 50 erscheint Gott nicht, um handelnd einzugreifen, sondern, um zum Volke zu sprechen; so verhielt es sich auch bei der Sinaitheophanie. Ferner: in Ps 50 wird der Bund zwischen Gott und Israel nachdrücklich betont. Gott wird ,unser Gott' genannt (V.7), Israel heißt ,sein Volk' (V.4), ,mein Volk' (V.7); m a steht sowohl in V.5 wie in V.16" (Die Theophanie in Ps 50,1-6, in: OTS 15, 1969, 217). F.L. HOSSFELD weist darauf hin, dass das Theophanieelement Feuer (V.3) aus der jehowistischen Sinaitheophanie bekannt ist (Ex 19,18), während der Topos „fressendes Feuer" sich in der Schilderung der Horebtheophanie (Dtn 5,25; 4,1 lf.24; 9,3) und in der priesterschriftlichen Sinaitheophanie (Ex 24,17) findet (Verkündigung des Gottesrechts, 90). 54 N.H. RIDDERBOS geht davon aus, dass der Sprecher von Ps 50 den Anspruch vertritt, dass seine Botschaft von so großer Wichtigkeit sei, „dass ihre Übermittlung soviel bedeutet wie eine Wiederholung des Offenbarungsgeschehens am Sinai" (Theophanie, 213). Noch weiter geht H. GESE, wenn er von einer Konkurrenz der Offenbarung der herkömmlichen Sinaitorah zur Zionstorah in Ps 50 spricht, die jedoch nicht derart verstanden werden kann, „als solle nun Ps 50 die Sinaiüberlieferung ersetzen oder auch nur in den Hintergrund drängen, vielmehr will Ps 50 die in der Zionsoffenbarung nun sich voll enthüllende Wahrheit auch der alten Sinaioffenbarung darstellen" (Psalm 50 und das alttestamentliche Gesetzesverständnis, in: Alttestamentliche Studien, 1991, 158). 55 F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „die Absicht JHWHs, sein Volk zu richten, keine von vorneherein gegen Israel gerichtete Tendenz besitzt" (Psalmen 1-50, 313). 56 Von den 32 Belegstellen im Alten Testament finden sich 25 im Psalter, vgl. H. RlNGGREN, Art. TOn, ThWAT III. 57 Einen recht ausführlichen Forschungsüberblick hierzu gibt H.-J. KRAUS, Psalmen I, 527ff. Auch in neuerer Literatur hält sich die Hypothese von einem Bundeserneuerungsfest, so z.B. P. CRAIGIE, Psalmen, 363f; A.A. ANDERSON, Psalms I, 381. 58

N.H. RIDDERBOS, Theophanie, 221.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Testament kein wirklicher Nachweis für ein solches Fest finden. Die in diesem Zusammenhang gern herangezogene Stelle Dtn 31,9-13 spricht von einer Gesetzeslesung, aber nicht von einem Akt der Bundeserneuerung.59 Hossfeld ist zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, dass das zeitneutrale Partizip Tnb die Handlung nicht notwendig in der Vergangenheit verortet. Es zeigt somit auch nicht notwendig eine regelmäßige Bundeserneuerungsfeier an, sondern „verweist auf einen aktuellen besonderen Verpflichtungsakt"60. Wie in V.4 werden auch in V.6 die Himmel als Zeugen benannt, die dafür bürgen, dass da, wo Gott selbst der Richter ist, Gerechtigkeit herrscht. Sein Richten zielt nicht auf Strafe, sondern auf die Wiederherstellung einer gestörten Ordnung.61 Die Ps 50 dominierende Form der Gottesrede dürfte ein Erbe der Prophetie sein.62 Besonders die Asaf-Psalmen, zu denen Ps 50 gehört, machen von der Form der Gottesrede intensiven Gebrauch (Ps 50; 75; 81; 82).63 Dies bedeutet jedoch nicht, wie die weitere Untersuchung zeigen wird, dass der Verfasser bzw. der Sitz im Leben von Ps 50 im Kontext der Prophetie gesucht werden muss.64 59

Vgl. hierzu L. PERLITT, Bundestheologie im Alten Testament (WMANT 36), Neukir-

c h e n - V l u y n 1969, 1 1 5 - 1 2 8 . 60 F.-L. HOSSFELD, Verkündigung des Gottesrechts, 91 f. Hossfeld kommt zu dem Ergebnis, dass es von V.5 her näher liegt, „einen nachexilischen Verpflichtungsakt auf das mosaische Gesetz an einem bestimmten Herbstfest im Nachvollzug von Ex 24 als Modell der kultischen Versammlung von Ps 50 zu nehmen" (a.a.O.). 61 Vgl. zu I3D2? im Sinne von „die gestörte Ordnung einer (Rechts-) Gemeinschaft wiederherstellen" G. LLEDKE, Art. ÜBE?, THAT II, 1001. 62 Zur Verbindung zwischen den Gottesreden im Psalter und in der Prophetie vgl. R.J. TOURNAY, Voir et entendre dieu avec les Psaumes ou la liturgie prophétique du seconde temple à Jérusalem, Paris 1988; H. SPŒCKERMANN, Rede Gottes und Wort Gottes in den Psalmen, in: K. Seybold / E. Zenger (Hrsg.), Neue Wege der Psalmenforschung (HBS 1), Freiburg - Basel -Wien, 1995; K. KOENEN, Gottesworte in den Psalmen. Eine formgeschichtliche Untersuchung, Neukirchen 1996; F.-L. HOSSFELD, Das Prophetische in den Psalmen. Zur Gottesrede der Asafpsalmen im Vergleich mit der des ersten und zweiten Davidpsalters, in: F. Diedrich / B. Willmes (Hrsg.), Ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil (Jes 45,7). Studien zur Botschaft der Propheten (FS Ruppert), Würzburg 1998, 83-101. 63 Zum Element der Gottesrede in den Asafpsalmen vgl. Kap. IV. 1.3. 64 Der Sitz im Leben der Asafpsalmen wurde im Gefolge von S. Mowinckel von vielen Forschern in der Kultprophetie gesucht, vgl. dazu den Forschungsüberblick bei F.-L. HOSSFELD, Das Prophetische in den Psalmen, 223ff. Hossfeld selbst kommt in seiner Untersuchung der Gottesrede in den Asafpsalmen zu dem Ergebnis, „dass die Asafpsalmen unter anderem wahrlich das Erbe der vorexilisch-exilischen Prophetie antreten, nicht als Kultpropheten und Vertreter einer etablierten Institution, sondern als Theologen mit eigenständigem Bemühen um Prophetie und Geschichte Israels" (243). Auch H. SPIECKERMANN geht

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Der erste Teil der Gottesrede (V.7-15) beginnt mit einem Höraufruf, der in seiner Konstruktion einem weisheitlichen Muster entspricht65 (vgl. Hiob 13,17; 15,17; 32,10), während die inhaltliche Füllung dtn Vorbilder hat (Dtn 5,1; 6,4). In jedem Fall erhält dieser Teil der Gottesrede auf diese Weise eher einen didaktisch-belehrenden als einen anklagend-richtenden Ton.66 Die Selbstvorstellungsformel „Gott, dein Gott, bin ich" spielt auf die Sinai- bzw. Horebtheophanie mit Dekalogverkündigung an (Ex 20,2; Dtn 5,6). Auch wenn als Ortsangabe der Zion genannt ist (V.2), schwingt im gesamten Psalm die Szenerie der Sinai- und Horebtheophanie (V.2+3) mit der Dekalogverkündigung (V.7b) deutlich mit und verleiht der Gottesrede ihre Würde und Bedeutsamkeit. Die nun folgende Opferkritik zielt nicht auf eine generelle Verdammung der Opferpraxis. Die Kritik wird in V.8 mit einer Art Grundsatzerklärung eröffnet, die zunächst einmal klarstellt, dass die Schlacht- und Brandopfer, etwas salopp gesagt, nicht das Problem sind. Dem entspricht, dass nach V.5 auch der Bundesschluss beim Schlachtopfer stattfindet. Ein gänzlich anderes Bild vermittelt dagegen V.9, wonach Gott die Annahme von Opfertieren grundsätzlich verweigert. Dieser offensichtliche Widerspruch wird jedoch in V.10 aufgelöst: Die Kritik betrifft nicht das Darbringen von Opfern an sich, sondern eine innere Haltung der Opfernden, die davon ausgeht, Gott etwas schenken zu können, dessen er bedarf. Gegen diese Haltung entfaltet V. 10-13 eine Schöpfungstheologie (vgl. Ps 24; 104), die deutlich macht, dass man etwas, was Gott ohnehin gehört, nicht als Gabe darbringen kann. Dabei betonen V. 10-11, dass es sich um einen allumfassenden Anspruch Gottes handelt, der alle Tiere von den Wald- bis zu den Haustieren, von den Vögeln bis zum Feldgewürm betrifft. Ferner zielt die Kritik in besonders bissiger Weise auf eine allzu anthropomorphe Vorstellung von Gott, die davon ausgeht, dass dieser der Nahrung bedürfe (V. 12f). Die Kritik von V.8-13 mündet in die Weisung von V.14f. Ob die Aufforderung in V.14a (wörtlich „schlachte als Opfer Gott eine Toda") ein Opfer im Sinne des in Lev 7,12ff beschriebenen Dankopfers als Sonderform des Mahlopfers meint,67 oder ob sie vielmehr metaphorisch, im Sinne von „Lobpreis als

davon aus, dass „Nachahmung prophetischer Denk- und Redeweise und keine authentischen Erinnerungen" Ps 50 prägen (Rede Gottes, 159), vgl. hierzu ausfuhrlicher Kap. IV. 1.3. 65 Vgl. F.-L. HOSSFELD, Verkündigung des Gottesrechts, 86. 66 "[2 n-PVNl in V.7 sollte daher auch nicht mit „ich zeuge gegen dich", sondern eher im Sinne von „ich will dich ermahnen" wiedergegeben werden, so auch F.-L. HOSSFELD, Verkündigung des Gottesrechts, 86. 67 So die Auffassung von H. GESE, Psalm 50, 161ff.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Opfer darbringen" verstanden werden will,68 ist letztlich zweitrangig. V.14b15 zeichnen das Bild einer Notsituation, in der der Mensch angewiesen ist, seine Klage vor Gott zu bringen. Zur Klage gehört aber konstitutiv das Gelübde hinzu, Gott im Falle der Rettung eine Toda darzubringen.69 Entscheidend ist, dass diese Toda, ob mit oder ohne materielles Opfer, sich als lobpreisende Antwort auf Errettung aus der Todessphäre, als Dank und Bekenntnis, aber niemals als menschliche Gabe oder Leistung versteht.70 Die Toda ist Ausdruck einer Grundhaltung, die sich allein auf die Gnade Gottes angewiesen weiß und in ihm den Geber aller Dinge sieht (hierzu passt die Sichtweise von V. 10-12). Dass es an dieser Grundhaltung im Volk offensichtlich mangelt, kritisiert V.8-13. Dieser erste Teil der Gottesrede entfaltet somit eine Anthropologie, nach der der Mensch in erster Linie begnadeter Mensch ist. Diese Anthropologie bewegt sich ganz in den Bahnen klassischer Tempeltheologie.71 So kann auch nicht die Rede davon sein, dass Ps 50,7-15 das Anliegen der prophetischen Opferkritik einfach übernimmt.72 Kritikpunkt der Propheten ist vor allem das Auseinanderfallen von Kultus und sozialem bzw. gemeinschaftsgerechtem Verhalten (vgl. Mi 6,6-8; Jes 1,10-17; Am 5,21 ff).73 Ps 50,7-15 nimmt demgegenüber das Thema Opferkritik an sich auf, begründet es aber mit den beschriebenen tempel- bzw. psalmentheologischen Grundüberzeugungen. Der Beginn des zweiten Teils der Gottesrede (V. 16-22) wird durch die Redeeinleitung in V. 16a deutlich markiert. Diese Redeeinleitung, die aus dem umgebenden Parallelismus membrorum herausfallt, wird häufig für eine sekundäre Einfügung gehalten, die die nun folgende Kritik zu Gunsten des ge-

68

In diese Richtung tendieren eher HJ. HERMISSON, Sprache und Ritus im altisraelitischen Kult. Zur „Spiritualisierung" der Kultbegriffe im Alten Testament (WMANT 19), Neukirchen-Vluyn 1965, 34FF; und im Gefolge H.-J. KRAUS, Psalmen I, 534. 69 Zu den konstitutiven Elementen der Klage vgl. H. GUNKEL / J. BEGRICH, Einleitung in die Psalmen, 212ff. 70 Zu den Charakteristika der Toda vgl. H. GESE, Psalm 50, 163. 71 Sieht man mit H. SPIECKERMANN den Zielpunkt der Tempeltheologie im „Lob des gnädigen Gottes aus dem Mund des begnadeten Menschen" (Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen, Göttingen 1989, 262), so kann man V.14f geradezu als Kurzzusammenfassung der Tempeltheologie verstehen. 72 H. GUNKEL begründet seine Sichtweise von Ps 50 als „Nachahmung prophetischer Denk- und Redeweise" u.a. mit der prophetischen Opferkritik, die seiner Auffassung nach Thema des Psalms ist: „Prophetisch ist auch der Gegenstand, über den der Psalmist handelt: wie ein Arnos oder Jesaja spricht er über die Opfer, die dem Volk die eigentliche Religion zu sein scheinen, und die doch Jahve verschmäht" (Einleitung in die Psalmen, 214). 73 Vgl. dazu H.J. HERMISSON, Sprache und Ritus, 138f. Es kann jedoch nicht geleugnet werden, dass durch den ethischen Teil der Gottesrede (V.löff) auch die ethische Ausrichtung der prophetischen Kritik mitschwingt.

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samten Volkes auf die Gruppe der Frevler beschränken will.74 In jedem Fall erhält die nun folgende Kritik durch diese Einleitung mit ihrer Qualifizierung der Adressaten als Frevler75 eine besondere Radikalität. Dem entspricht, dass sich der Ton gegenüber dem eher belehrend-mahnenden Charakter des ersten Redeteils nun deutlich in Richtung Anklage und Warnung verschärft (vgl. besonders V.21f). Im Allgemeinen sind die Frevler in den Psalmen diejenigen, die in ihrem Übermut nicht mit Gott rechnen (z.B. Ps 10,3-11).76 Das Bild, das V.löff entwirft, ist jedoch ein anderes: Der Mensch, der hier beschrieben wird, ist durchaus ein Mensch, der mit Gott rechnet, er führt das Gesetz Gottes beständig im Mund, gleichsam wie der Gerechte aus Ps 1, der Tag und Nacht über der Torah murmelt. Der Vorwurf, den JHWH gegen ihn erhebt, besteht darin, dass sein Handeln in Diskrepanz zu seinem Reden steht, dass er sich zwar zur Torah Gottes bekennt, aber nicht nach ihr lebt, kurz, dass er sich nach außen den Anstrich eines Frommen gibt, in Wirklichkeit aber - so die Anrede - ein Frevler ist. V.17 formuliert die Kritik in Anlehnung an die weisheitliche Maxime, Zucht zu lieben und nicht zu hassen (Spr 5,12; 12,1). Auffällig in V. 16-17 ist die Verbindung von typisch weisheitlichen Formulierungen (s/Eh, IDIO) und typisch deuteronomistischen Begriffen (D^pn, n n a , D n m ) . V. 18-20 konkretisieren die Anklage auf dem Hintergrund des Dekalogs.77 V.18 greift das Diebstahls- und Ehebruchsverbot auf. Dabei lautet der Vorwurf nicht, dass der Frevler tatsächlich Diebstahl oder Ehebruch begeht, sondern dass er Sympathie mit solchen Tätern hat. Ahnlich wie bei der Opferkritik des ersten Teils geht es auch hier um die innere Haltung, nicht um ein rein äußerliches Tun bzw. Nicht-Tun. Besonders breiten Raum nimmt der Bereich des Falschzeugnisverbotes ein, auf das sich V.19 und 20 beziehen. Während V.19 noch recht allgemein den Tatbestand der üblen Nachrede beschreibt,

74

So B. DUHM, Die Psalmen erklärt, Tübingen 1899 (19222), 208. Im Gefolge von Duhm

e b e n s o F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, P s a l m 1 - 5 0 , 3 0 8 ; H.-J. KRAUS, P s a l m e n I, 5 2 6 ; E.S.

GERSTENBERGER, Psalms I, 209. Demgegenüber hat M. GIRARD überzeugend nachgewiesen, dass V.16a aufgrund seiner parallelen Stellung zu V.l und 7 eine wichtige Funktion für die Gesamtstruktur von Ps 50 hat und somit als ursprünglich anzusehen ist (Psaumes 1, 407f). 75 Mit dem Singular V&~) dürfte nicht eine bestimmte einzelne Person gemeint sein, sondern der Frevler im Allgemeinen, der Frevler schlechthin, vgl. auch Ps 37. 76

77

V g l . H. RINGGREN, Art. L?EH, T h W A T VII.

Dass im Hintergrund von V.l8-20 die Gebote des Dekalogs stehen, ist Konsens der Forschung, vgl. F.-L. HOSSFELD, Verkündigung des Gottesrechts, 97; H. GESE, Psalm 50, 166; H.-J. KRAUS, Psalmen I, 536; G. RAVASI, II libro dei Salmi I, 1-50, Bologna 1981, 909; P. CRAIGIE, Psalms 1-50, 366; anders dagegen E.S. GERSTENBERGER: „ [...] Psalm 50 does not presuppose a specific Decalogue as a fixed piece of catechism but draws on a Decalogue tradition of ethical and cultic norms" (Psalms I, 209).

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

wird V.20 konkret78; die verbalen Angriffe richten sich demnach sogar gegen engste Familienmitglieder. V.21 fasst das Gesagte bestätigend zusammen. Gott kann nicht mehr schweigen, denn sein Schweigen würde die bereits in V.12f anklingende Gleichsetzung von Mensch und Gott fördern. In V.21 cd wird noch einmal das Ziel der Gottesrede, Ermahnung und Lehre, benannt. Die Schlussmahnung V.22 kombiniert weisheitliche und prophetische Elemente: Die Aufforderung zur Einsicht (N3 i m ) in V.22a nimmt ein weisheitliches Anliegen auf. Der Vorwurf, Gott zu vergessen, der in der Bezeichnung der Adressaten als „Gott-Vergessende" ( N I B X TIDE?) impliziert ist, entstammt der prophetischen Anklage (vgl. Hos 2,15; 8,14; Jer 2,32; 13,25). Auch die Drohung in V.22b greift auf Elemente prophetischer Verkündigung zurück; hier klingt das Bild vom Löwen JHWH an, der seine Beute im Gericht zerreißt (Am 3,4.8.12; Hos 5,14). V.23 fungiert als Zusammenfassung beider Redeteile. In zwei Partizipialkonstruktionen werden die angemessenen Verhaltensweisen vor Gott auf den Punkt gebracht: Die erste Konstruktion fasst den Kult in der Formel „Dankopfer" ( m i n nnr) und die darin begründete und in V.14f ausgeführte Verheißung in dem Begriff „Ehre" (~nro) zusammen. Die zweite Partizipialkonstruktion bündelt den ethischen Teil der Gottesrede mit dem Weg-Motiv weisheitlicher Lehre und verheißt dem Gehorsamen die Erfahrung, das „Heil Gottes" zu schauen. Die Analyse von Ps 50 hat gezeigt, dass sich der Verfasser des Psalms kaum einer bestimmten theologischen Richtung zuordnen lässt. Um sein Anliegen zu vermitteln, bemüht er Themen und Motive der Prophetie79, der deuteronomistischen Schule80 sowie Weisheit81. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Verfasser im Kreis der Propheten, Deuteronomisten oder Weisen zu suchen ist. Sobald es nämlich um die Entwicklung eines positiven Gegenentwurfs (V.14f.23) zu der geübten Kritik geht, erweist sich der Verfasser als Vertreter der Psalmen- bzw. Tempeltheologie par excellence:82 Wer in der Not zu Gott ruft, der wird Rettung erfahren, den wird Gott seine Hilfe sehen las78

Die von H.-J. KRAUS in V. 20 vorgenommene Konjektur (Psalmen I, 526) ist unnötig, mit F.-L. HOSSFELD (Verkündigung des Gottesrechts, 97) sollte 3B>n iterativ im Sinne von Jedes Mal, wenn du an einer öffentlichen Sitzung teilnimmst, dann ..." verstanden werden. 79 Vgl. vor allem die Form der Gottesrede, das Thema der Opferkritik in V.8-13 und die prophetischen Elemente der Schlussmahnung V.22. 80 Vgl. die Zusammenstellung der Motive Theophanie (V.l-6) und Dekalog (V. 18-20) in Anlehnung an Dtn 5 und Ex 19f, das Motiv Bund und Bundesschluss (V.5), den Höraufruf in V.7 und die starke Orientierung an Ethos und Dekalog. 81 Vgl. die mahnend-belehrende Ausrichtung besonders von V.7-15.21, das Thema der Zucht (V.17) und die Aufforderung zur Einsicht in V.22. 82 Vgl. H. SPECKERMANN, Rede Gottes, 160f.

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sen; wer sich so als begnadeter Mensch erfahrt, wird Gott seiner Bestimmung gemäß im Dankopfer loben und ihm damit die Ehre geben, die ihm gebührt. Warum aber entwirft der Psalmist dieses Szenario einer Gottesrede in Anlehnung an die Sinai- bzw. Horebtheophanie, warum bemüht er das Thema der prophetischen Opferkritik und die deuteronomisch-deuteronomistisch geprägte Kritik am Umgang mit dem Gesetz? Prophetie und deuteronomisch-deuteronomistische Reflexion sind diejenigen Strömungen, die nach den Ereignissen von 587 v. Chr. mit Recht die Grundlage weiteren theologischen Nachdenkens bilden können. Wenn der Verfasser von Ps 50 Formen, Themen und Motive dieser beiden Strömungen aufnimmt, so geht es ihm darum, einen Beitrag zur in der Exilszeit umstrittenen Schuldfrage zu leisten und Schuldeinsicht zu bewirken.83 Und so wirkt Ps 50, wenn man ihn im direkten Anschluss an die Gruppe der Korachpsalmen 42-49 liest,84 wie ein Gegenentwurf zu Ps 44. Während Ps 44 Gott anklagt, er habe sein Volk verstoßen (V.10), stellt in Ps 50 Gott sein Volk vor Gericht. Während Ps 44 in Opposition zur deuteronomistischen Sichtweise die Unschuld des Volkes beteuert (V.18f), bekennt sich Ps 50 zu eben dieser prophetischen und deuteronomistischen Sichtweise, die die Schuld an der Katastrophe des Exils allein beim Volk sieht, und benennt diese Schuld sehr konkret. Dabei geht Ps 50 jedoch in der beschriebenen spezifisch psalmentheologischen Denkweise über die Frage nach der Schuld hinaus. Mit dem oben kurz skizzierten Gegenentwurf schafft der Verfasser des Psalms die Basis für eine neue gelingende Gottesbeziehung. Dass dabei der Klage, wie sie sich in Ps 44 manifestiert, nicht ihr grundsätzliches Recht abgesprochen wird (und im Horizont der Psalmen- bzw. Tempeltheologie auch nicht abgesprochen werden kann), darauf verweist V.15a, der geradezu zur Klage aufruft. Für die Datierung ergeben sich somit als terminus post quem die Ereignisse des Jahres 587 v. Chr. Die Opferkritik in V.8-15 setzt jedoch eine lebendige und funktionierende Opferpraxis voraus, so dass man hinsichtlich der Entstehung von Ps 50 doch eher in die Zeit des Zweiten Tempels, d.h. in frühnachexilische Zeit verwiesen ist. 2.2 Ps 50 als Knotenpunkt des elohistischen Psalters „Ich will dich zurechtweisen..." - Ps 50 und die Korachpsalmen 42-49: Ps 50 markiert durch die Zuordnung zu Asaf in der Überschrift einen deutlichen Neuansatz gegenüber der Gruppe der Korachpsalmen 42-49. Dennoch bleibt Ps 50 durch die Gattungsbezeichnung „Mizmor" mit dieser Gruppe locker verbunden. Diese Verbindung wird unterstützt durch den für die Ko83 84

Vgl. a.a.O. Vgl. hierzu Kap. V.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

rachpsalmen so wichtigen Bezug auf den Zion und seine Schönheit (vgl. Ps 48,3; 50,2) und die internationale Ausrichtung der Texte (vgl. Ps 47,2; 48,11; 49,2; 50,1). Inhaltlich kann Ps 50 als ein Gegenentwurf zu dem für die Gruppe der Korachpsalmen zentralen Ps 44 gelesen werden, der der Anklage Gottes durch das Volk in Ps 44 die Anklage des Volkes durch Gott entgegensetzt. „ Und rufe zu mir am Tag der Not... " - Ps 50 als Prolog zum zweiten Davidpsalter: Wie die Analyse von Ps 50 gezeigt hat, geht es dem Dichter des Psalms um die wahre Gottesverehrung. Er will seine Adressaten einweisen in eine Haltung, in der sich der Mensch in seiner Not als ganz und gar angewiesen auf das rettende und gnädige Handeln Gottes begreift. Wer nicht auf eine vordergründige Opferpraxis und einen heuchlerischen Torahgehorsam baut, sondern Gott den Dank und die Ehre gibt, die ihm gebührt, der kann begründete Hoffnung haben, seine Hilfe und Zuwendung zu erfahren. In seiner jetzigen Position vor dem Beginn des zweiten Davidpsalters (Ps 51-72) kann Ps 50 somit als Leseanweisung und Verstehenshilfe für diese Psalmengruppe gedeutet werden. Angesichts der Anbindung dieser Psalmen an die Idealgestalt Davids, kann der Beter, der in Ps 51-72 begegnet, als der Prototyp jener Existenzweise coram Deo verstanden werden, die der Dichter von Ps 50 entwirft. In Zeiten der Not setzt er sein Vertrauen und seine Hoffnung auf Gott (vgl. Ps 52,10; 54,3.6; 55,17f.23; 56,4; 57,3f; 59,10; 61,3; 62,6-9; 64,2f; 69,14f; 71,lf), und nach erfahrener Hilfe erfüllt er seine Gelübde und erweist Gott den ihm gebührenden Dank und Lobpreis (vgl. Ps 65,2; 66,13f.20; 69,3 lf). „Höre, mein Volk..." - Ps 50 als Rahmenpsalm der David-Asaf-Sammlung (Ps 50-83): Seine jetzige Position und damit seine Funktion als Prolog zum zweiten Davidpsalter bekam Ps 50 jedoch vermutlich erst durch die Zusammenstellung dieser Psalmengruppe mit den Asafpsalmen 73-83. Auf der Ebene des vorliegenden Endtextes bildet der einzelne Asafpsalm 50 zusammen mit Ps 73-83 einen Rahmen um den zweiten Davidpsalter. Auf diese Weise wird die individuelle Perspektive des zweiten Davidpsalters in die auf das Schicksal des Volkes ausgerichteten Themen- und Fragestellungen der Asafpsalmengruppe und des gesamten elohistischen Psalters eingebunden. Um das theologische Profil dieser Rahmung genauer bestimmen zu können, bedarf es einer genaueren Untersuchung der Gruppe der Asafpsalmen (Kap. IV). In diesem Zusammenhang wird auch auf die Frage nach der Zugehörigkeit von Ps 50 zu dieser Psalmengruppe genauer einzugehen sein (Kap. IV.3). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Ps 50 zwei thematische Schwerpunkte hat, die diesen Psalm zu einem Knotenpunkt innerhalb des elohistischen Psalters werden lassen. Die Gerichtsthematik, die sich in der Kritik an Opfer-

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praxis und ethischem Verhalten expliziert und in der sich die Erfahrung des Exils und damit die Frage nach der Schuld niederschlägt, schafft die Verbindungslinie zu den Gruppen der Korach- und Asafpsalmen. Seine Bedeutung als Lese- und Vestehenshilfe für den zweiten Davidpsalter erhält Ps 50 dagegen vor allem durch das positive Gegenbild des Gott in der Not anrufenden und seine Gelübde erfüllenden Menschen, das V.14f.23 entwirft. 2.3 Psalm 51 1 Für den Chormeister. Mizmor in Hinblick auf David, 2 als zu ihm kam Natan, der Prophet, nachdem er eingegangen war zu Batseba. 3 Sei mir gnädig, Gott, nach deiner Güte85, nach der Fülle deiner Barmherzigkeit wische ab meine Verbrechen. 4 Gründlich wasche mich rein von meiner Schuld und von meiner Sünde reinige mich. 5 Denn meine Verbrechen kenne ich wohl, und meine Sünde ist vor mir immerdar. 6 An dir allein habe ich gesündigt, und das Schlechte in deinen Augen habe ich getan, auf dass du gerecht bist in deinem Reden86 und rein bist in deinem Richten. 7 Siehe, in Schuld bin ich geboren, und in Sünde hat mich empfangen meine Mutter. 8 Siehe, an Wahrheit hast du Gefallen im Verborgenen, und im Geheimen tust du mir Weisheit kund. 9 Entsündige mich mit Ysop, und ich werde rein, wasche mich, und ich werde weißer als Schnee. 10 Lass mich hören87 Freude und Wonne, und es werden jauchzen die Gebeine, die du zerschlagen hast. 11 Verbirg dein Angesicht vor meinen Sünden, und all meine Schuld wische ab. 12 Ein reines Herz schaffe mir, Gott, und einen beständigen Geist erneuere in meinem Inneren. 13 Verstoße mich nicht von deinem Angesicht, und deinen heiligen Geist nimm nicht von mir. 85 Einige Handschriften haben hier den Intensitäts-Plural "pion - „gemäß deiner großen Güte" (vgl. LXX). 86 Einige Textzeugen, darunter die Septuaginta, haben statt des ungewöhnlichen Infinitiv qal das Nomen - p i a i a - „in deinen Worten". 87 Die Peschitta liest hier 'WaiPri - „lass mich satt werden" statt "WD^n - „lass mich hören".

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

14 Bringe zurück zu mir die Freude deiner Hilfe, und mit einem willigen Geist stütze mich. 15 Ich will lehren die Verbrecher deine Wege, und die Sünder werden zurückkehren zu dir. 16 Rette mich aus Blutschuld, Gott, Gott meines Heiles, so wird jubelnd preisen meine Zunge deine Gerechtigkeit. 17 Herr, meine Lippen tue auf, und mein Mund wird verkündigen deinen Ruhm. 18 Denn du hast keinen Gefallen an Schlachtopfern, und wollte ich Brandopfer bringen, so willst du sie nicht88. 19 Das Schlachtopfer Gottes ist ein zerbrochener Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz, Gott, verachtest du nicht. 20 Tue Gutes nach deinem Wohlgefallen an Zion, baue die Mauern Jerusalems. 21 Dann wirst du Gefallen haben an Schlachtopfern der Gerechtigkeit, an Brandopfern und Ganzopfern, dann werden sie opfern auf deinem Altar Stiere. Hinsichtlich des Aufbaus von Ps 51 werden in der Forschung sehr unterschiedliche Vorschläge gemacht.89 Die hier vorgeschlagene Gliederung90 orientiert sich an den beiden thematischen Schwerpunkten des Psalms, Vergebung und Neuschöpfimg: V.l-2:

Überschrift

V.3-11: Bitte um Vergebung V.3—4: Bitte um Reinigung (nno - DÜD - nnts) V.5—8: Bekenntnis von Sünde und Schuld V.9-11: Bitte um Reinigung (inD - Dnn - nno) 88

Septuaginta und Peschitta lesen hier 3. Pers. Sg. Häufig zu finden ist die Auffassung, Ps 51 variiere die Elemente eines Klagepsalms: Anrufung Gottes (V.3-4), Schuldbekenntnis als Notschilderung (V.5-8), Bitte um Vergebung und Erneuerung als Bitte um ein Ende der Not (V.9-14), Lobgelübde (V.15-19), Liturgischer Anhang (V.20-21), vgl. W.H. SCHMIDT, Individuelle Eschatologie im Gebet. Psalm 51, in: K. Seybold / E. Zenger (Hrsg.), Neue Wege der Psalmenforschung. FS W. Beyerlin (HBS 1), Freiburg u.a.1994, 345-360 (345f); E.S. GERSTENBERGER, Psalms I, 211. Eine ähnliche Gliederung, jedoch ohne Bezug auf das Schema eines Klagepsalms, schlägt auch H.-J. KRAUS vor (Psalmen I, 540). M. GIRARD gliedert Ps 51 in zwei Hauptteile (V.3-9 und 10-21), vgl. ders., Les Psaumes redécouverts. De la structure au sens (Ps 51-100), Québec 1994, 14ff. 90 Vgl. auch E. ZENGER, Ich will die Morgenröte wecken. Psalmenauslegungen, Freiburg Basel - Wien 1991, 184; G. RAVASI, Salmi II, 28. Zur konzentrischen Anordnung der Verben der Reinigung in V.3-4 und 9-11 vgl. auch F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 46. 89

2. Prolog: Ps 50-51

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V. 12-19: Bitte um Neuschöpfung V.12-14: Bitte um ein reines Herz (nb) und einen beständigen Geist

(nn)

V.15: Lehrversprechen V. 16-17: Bitte um Ermöglichung des Lobes V. 18-19: Das rechte Opfer: ein zerbrochener Geist ( n n ) und ein zerschlagenes Herz (nb) V.20-21: Liturgischer Anhang - Wiederherstellung Jerusalems und des Opferdienstes Das Überschriftenelement, das die Anbindung an Ps 50 herstellt, ist die Bezeichnung von Ps 51 als „Mizmor" (HQTQ). Die biographische Überschrift verortet Ps 51 im Kontext der Erzählung von der Zurechtweisung Davids durch Natan nach seinem Ehebruch mit Batseba und dem Mord an Urija (2. Sam 11,1-12,25). Diese Verbindung legt sich nahe aufgrund des dem Psalm und der Erzählung gemeinsamen Themas von Schuld und Sünde. Der Psalmist wie auch der David der Erzählung sind sich ihrer Schuld bewusst und bitten Gott um Vergebung. Darüber hinaus lassen sich Stichwortverbindungen zwischen beiden Texten feststellen:91 David bekennt gegenüber Natan: „Ich habe gesündigt gegen JHWH" (mir1? TiNDn - 2. Sam 12,13), der Psalmist spricht zu Gott: „An dir allein habe ich gesündigt" (TiNtsn "pnb Ps 51,6). Ebenfalls in V.6 bekennt der Psalmist: „Und das Schlechte in deinen Augen habe ich getan" (Ttfew " p r m mm). Diese Wendung begegnet auch in der Anklage Natans gegen David: „...zu tun das Böse in seinen (JHWHs) Augen" ( i r m m n nwvb-2. Sam 12,9). Ps 51 ist auf diese Weise mit dem moralischen Tiefpunkt schlechthin in der Existenz der Idealgestalt David verknüpft. Der Beter, der seine eigene Schuld mit den Worten dieses Psalms vor Gott bringt, kann zu der Hoffnung gelangen, dass ein aufrichtiges Schuldbekenntnis Gnade in den Augen Gottes findet und einen Neuanfang ermöglicht. Die Bitte um Reinigung in V.3-4 beginnt mit einer Anrufung des Gottes, der sich am Sinai als der barmherzige und gnädige Gott offenbart hat, „der Schuld und Verbrechen und Sünde vergibt" (Ex 34,6f). Diese Trias von Verbrechen, Schuld und Sünde (vvio, py und nxon) nimmt auch der Psalmist auf und verweist damit auf die Vielschichtigkeit seiner Schuldverstrickung. Dabei bezeichnet vefs „nicht die Gesinnung, sondern das Verbrecherische einer Tat"92, ytf D ist ein „rechtlicher terminus technicus für gerichtlich zu ahn91

Vgl. M. KLEER, Der liebliche Sänger, 94; B.S. CHILDS, Psalm Titles, 145; E. SLOMOVIC, Formation of Historical Titles, 370f. 92

R. KNIERIM, Art. VWB, T H A T II, 4 9 3 .

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

ahndende Verbrechen"93. Wer ytfD begeht, „rebelliert nicht einfach gegen JHWH oder bäumt sich gegen ihn auf, sondern er bricht mit ihm, nimmt ihm das Seine weg, raubt, unterschlägt es, vergreift sich daran"94. ¡11/ ist ein Begriff der Bewegung, der das Abweichen vom geraden Weg der Gottesbeziehung beschreibt.95 Die im Alten Testament häufigste Bezeichnung für Sünde nxtan beschreibt die Verfehlung eines aufgegebenen Ziels.96 Auch wenn diese Trias formelhaft ist und die Menge aller Verfehlungen ausdrückt, stellen diese drei Begriffe keine Synonyme dar, die beliebig austauschbar sind. Sie beschreiben und qualifizieren das Thema Sünde auf je eigene Weise.97 Dieser Trias der Sünde wird eine Trias der Reinigung gegenübergestellt (nno, Dna, nnc). Der Beter erlebt sich als durch seine Schuld durch und durch beschmutzt und bittet Gott, dass er seine Verbrechen abwischt, wie man einen Fleck abwischt98, dass er seine Schuld auswäscht, wie man Kleider auswäscht99 und ihn in einer kultischen Zeremonie von seiner Sünde reinigt100. Er erfährt, gleichsam am eigenen Leib, dass Sünde nicht nur Auswirkung auf diejenigen hat, gegen die sie begangen wird, sei es Gott oder Menschen, sondern auch auf den Täter zurückwirkt. Dass das Sündenbekenntnis nicht Voraussetzung für die Bitte um Vergebung ist, wird an der Struktur von Ps 51 deutlich. Erst mit V.5, nach der einleitenden Bitte, beginnt das Bekenntnis. Schon die erste Aussage (V.5) zeigt deutlich, dass der Beter nicht erst zur Erkenntnis seiner Schuld geführt werden muss, sondern sich seiner Sündhaftigkeit ganz und gar bewusst ist.101 Seine Sünde ist immer vor ihm, sie erhebt sich wie eine hohe, bedrückende Mauer, die unüberwindlich scheint (V.5b).102 An dieser Stelle wird der Machtcharakter der Sünde deutlich. Das Zentrum und die theologische Spitze des Bekenntnisses V.5-8 findet sich in den beiden Aussagen von V.6. Die Formulierung „An dir allein habe ich gesündigt" dürfte die entscheidende Verbindungsstelle sein (vgl. 93 94 95

96

A.a.O., 491. A.a.O., 493. Vgl. R. KN1ERIM, Art. J1V, T H A T II.

Vgl. R. KNIERIM, Art. riNDn, THAT I. Vgl. a.a.O., 547. 98 Vgl. L. ALONSO-SCHÖKEL, Art. n n o , ThWAT IV. 99 Vgl. G. ANDRE, Art. d m , ThWAT IV. 100 Vgl. H. RINGGREN, Art. m D , ThWAT III. 101 Es ist anzunehmen, dass hier eine Anspielung auf Hiob 13,23 vorliegt, wo Hiob mit dem gleichen Vokabular (VUS, nXDn, V P ) Gott auffordert, ihn seine Verbrechen und Sünden wissen zu lassen. Der Beter von Ps 51 mit seinem uneingeschränkten Schuldbekenntnis stellt somit ein Gegenbild zu dem Gott anklagenden Hiob dar. 102 Zur Bedeutung von ~m im Sinne von „das sich vor einem Erhebende" vgl. W. GESENIUS, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, 17. Aufl., 482. 97

2. Prolog: Ps 50-51

91

2. Sam 12,13), die dazu geführt hat, dass Ps 51 durch seine Überschrift mit der Erzählung 2. Sam 12 verbunden wurde. In 2. Sam 12,13 bekennt David seine Schuld an Urija mit den Worten „Ich habe an JHWH gesündigt" und verleiht damit der Einsicht Ausdruck, dass die unrechte Tat am Menschen Sünde an Gott ist (vgl. Gen 39,9; Spr 14,31).103 Die Formulierung „damit du gerecht bist" (pnsn ¡yob) findet sich noch an zwei weiteren Stellen im Alten Testament (Jes 43,26; Hiob 40,8).104 In beiden Fällen steht sie im Kontext einer Gottesrede, in der Israel bzw. Hiob polemisch zum Rechten mit Gott aufgefordert werden. Wenn diese Worte nun aus dem Mund des Beters von Ps 51 kommen, so leistet er damit die uneingeschränkte Anerkennung der Gerechtigkeit Gottes, zu der Israel bzw. Hiob nach Aussage von Jes 43,26 bzw. Hiob 40,8 nicht bereit oder in der Lage sind105. Er kann dies, weil er weiß, dass die Gerechtigkeit Gottes nicht eine Gerechtigkeit ist, die den Tod des Sünders will (vgl. Ez 18,32), sondern die Gerechtigkeit des gnädigen und barmherzigen Gottes (vgl. V.3). Die Aussage von V.7 hat maßgeblich mit zur Entwicklung von Augustins Erbsündenlehre beigetragen. Der Psalm will in V.7 jedoch keine erbbiologische Begründung geben, die die Sünde erklärt und ihren Ursprung distanzierend in eine ferne Vergangenheit verlegt. Vielmehr findet hier die Überzeugung Ausdruck, dass es gemäß der Einsicht, dass das Trachten des menschlichen Herzens böse ist „von Jugend a u f (Gen 8,21), keine Zeit der Unschuld gibt, in der der Mensch noch nicht auf die Gnade Gottes angewiesen wäre.106 Die tiefe Erkenntnis seiner selbst und seiner Schuldhaftigkeit, zu der der Beter in V.5-8 kommt, verdankt er jedoch nicht seiner eigenen Reflexion, sondern 103 F. C R Ü S E M A N N weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass das christlich-protestantische Sünden- und Gnadenverständnis dazu neigt, das „allein" überzubetonen: „Bei der starken christlichen Konzentration auf die Frage von Schuld und Vergebung im Verhältnis Gott - Mensch tritt die Schuld gegen andere Menschen oft merkwürdig zurück. Vergibt Gott, und er allein, alle Schuld, kann man offenbar von den Opfern leichter absehen" (Gegen dich allein habe ich gesündigt!?: Sozialgeschichtliche Bibelauslegung zu Ps 51, JK 57 (1996), 425-430 [426]). Interessant in diesem Kontext ist die jüdische Auslegung von N.P. L E V I N S O N , der darauf hinweist, dass das Bekennen von Schuld allein noch keine Versöhnung bewirkt, sondern der Wiedergutmachung, der Wiederherstellung der gestörten Ordnung bedarf. Da David aber an Urija nichts wiedergutmachen kann, ist nun Gott allein der Verletzte, „der Gläubiger, gegen den sich David versündigt hat, denn der eigentliche Leidtragende ist nicht mehr" (Psalm 51. Schuld und Sühne, in: Zeichen der Zeit 39 (1985), 227-231 [229]). 104 Besonders auffällig ist die Verbindung zu Jes 43,26. Dort findet sich dieselbe SündenTrias wie in Ps 51,3f sowie die Opferthematik, die auch am Ende von Ps 51 (V.18ff) in den Blick kommt. 105 Vgl. hierzu auch H. S P I E C K E R M A N N , Psalmen und Psalter. Suchbewegungen des Forschens und Betens, VT.S 73 (1998), 137-153 (151f). 106 Vgl. W.H. S C H M I D T , Eschatologie, 3 5 1 .

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

allein Gott, der im Geheimen Weisheit kund tut (vgl. Hiob 38,36) und Einsicht in die Wahrheit (nos) ermöglicht. Die erneute Bitte um Reinigung (V.9-11) beginnt mit einer Anspielung auf die rituelle Reinigung der vom Aussatz Befallenen und Geheilten (Lev 14) sowie der durch Berührung mit Toten unrein Gewordenen (Num 19). Die Frage, ob hier tatsächlich an einen kultisch vermittelten Akt gedacht ist, ist sekundär. Entscheidend ist die theologische Aussage, dass der Beter seine Sünde als ansteckend und tödlich erlebt und die Befreiung von dieser Krankheit und diesem Tod allein von Gott (die Aufforderung richtet sich an Gott, nicht an einen Priester) erwartet.107 In ähnliche Richtung weist auch die Bitte, dass Gott den Beter waschen und weißer machen möge als Schnee (V.9b). Hier klingt ein prophetisches Wort aus Jes 1,18 an: „Wenn eure Sünden karmesinrot sind, können sie dann weiß wie Schnee werden?". Wenn der Beter begehrt, sogar noch weißer als Schnee zu werden, dann ist hier ein Sein angestrebt, das alle bisher erfahrene Wirklichkeit übersteigt und das so allein Gott herbeifuhren kann. Die Spannung, in der sich der Psalmist dabei vor seinem Gott befindet, kommt eindrücklich in V.10 zum Ausdruck. Der Gott, der die Gebeine des Beters im Gericht zerschlagen hat, ist gleichzeitig der Gott, der heilsame Freude und Wonne108 schenkt. Der Gedanke, dass Gott sein Angesicht verbirgt (V.ll), hat sonst in den Psalmen den Charakter einer Klage109 (z.B. Ps 13,2; 44,25), die oft mit dem Wunsch verbunden ist, das Angesicht Gottes wieder zu schauen (z.B. Ps 42,3). Hier bezieht sich das Verbergen des Angesichts jedoch auf die Sünde, so dass der Beter ein Absehen Gottes von dieser erhoffen kann.110 Die Bitte in V.llb schlägt mit dem Bild vom Ab- bzw. Auswischen der Schuld den Bogen zurück zur Eingangsbitte in V.3. So von Gott durch und durch gereinigt, kann der Beter die Bitte um einen Neuanfang wagen (V. 12-19). In Anlehnung an Verheißungen des Ezechielbuches (Ez 36)111 formuliert er seine Hoffnung auf eine dauerhaft veränderte Zukunft in der Bitte um ein reines Herz und einen beständigen, erneuerten Geist (V.l). Dabei nimmt er die prophetische Erwartung, die sich auf das ganze Volk Israel bezieht, als Bitte für sich als Individuum auf.112 Der Psalmist ist 107

Vgl. E. ZENGER, Morgenröte, 186.

108

E. HAAG (Psalm 51, TThZ 96 (1987), 169-198) sieht den traditionsgeschichtlichen Hintergrund von V.10 in der Heilsprophetie, die die Reaktion der Erlösten auf die Rettung durch Jahwe mit dem Begriffspaar „Freude" (nnoiP) und „Wonne" (¡1171?) beschreibt (Jes 35,10; 51,3.11; Sach 8,19), vgl. 185f. 109 Vgl. J. REINDL, Das Angesicht Gottes im Sprachgebrauch des Alten Testaments, Leipzig 1970, 236. 1,0 Vgl. a.a.O., 93. 111 Die Abfolge der Gedanken Reinigung von Sünde als Unreinheit und Neuschöpfung findet sich auch in Ez 36. 112

Vgl. W.H. SCHMIDT, Eschatologie, 354.

2. Prolog: Ps 50-51

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sich bewusst, dass trotz aller Sündenvergebung eine wirkliche, substantielle Veränderung seines Selbst nur durch eine Neuschöpfung möglich ist; das alte Herz und der alte Geist sind dazu nicht in der Lage."3 Dementsprechend ist es nur konsequent, dass er hier jenes Verbum (sna) verwendet, das vor allem bei Deuterojesaja und in der Priesterschrift begegnet und das allein dem schöpferischen Handeln Gottes vorbehalten ist und auf diese Weise göttliches und menschliches Tun, Schöpfer und Schöpfung unterscheidet.114 „Herz" (ab) und „Geist" ( n n ) sind „nach alttestamentlicher Auffassung zwei einander ergänzende Bezeichnungen für die Wesensmitte des Menschen"115, für den Menschen in seiner Ganzheit. Das Herz ist dabei der Sitz des Verstehens und der Einsicht, das „Organ", mit dem der Mensch sich für Gott öffnet, auf Gott hört (vgl. die Bitte Salomos um ein hörendes Herz in 1. Kön 3,9).116 Der Geist ist das Zentrum der Lebenskraft und des Willens, von der Geistgabe Gottes hängen Leben und Tod ab (vgl. Ps 104,29f).117 In einer aussagekräftigen Spannung zu der Bitte in V.ll, Gott möge sein Angesicht vor den Sünden des Beters verbergen, bittet der Psalmist in V.13 nun, Gott möge ihn (als Person) nicht von seinem Angesicht verstoßen. Dass der Beter sich danach sehnt, in der lebenspendenden Gegenwart Gottes zu bleiben, darauf verweist auch seine Bitte, Gott möge seinen heiligen Geist nicht von ihm nehmen. Wenn Gott seinen heiligen Geist in ihm wirken lässt, dann wird ein Leben nach der im Heiligkeitsgesetz verkündeten Maxime „Seid heilig, wie ich, euer Gott, heilig bin!" (Lev 19,2) möglich.118 V.14 lenkt mit einem Rückblick in die Vergangenheit („bringe zurück") den Blick in die Zukunft. Der Neuanfang kann nur mit der Unterstützung durch einen willigen, zustimmenden Geist gelingen und Früchte tragen. Dass es sich bei der in V.9-14 erbetenen Neuschöpfung um eine unverfügbare Gabe Gottes handelt, zeigt die durchgängige Bittstruktur (Jussive bzw. Imperative) in diesem Teil an. 113 Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER: „ES ist also nichts Geringes, um was der Beter hier angesichts seiner leidvollen Erfahrung mit seinem ,bloßen' Mensch-Sein bittet: Er bittet darum, dass Gott ihm ein ,reines Herz' schaffen möge (V 12a), damit er die Lebensordnungen, ja das Gottgeheimnis voll erfassen kann. Und noch mehr bittet er um einen ,neuen Geist' (V 12b), damit er das mit dem Herzen Erkannte auch wirklich konsequent (,beständiger / fester Geist': V 12b) und mit Hingabe, ja mit Liebe (.williger Geist': V 14b) tun kann." (Psalmen 51-100, 53). 114 Vgl. W.H. SCHMIDT, Art. «03, THAT I. Schmidt verweist darauf, dass Deuterojesaja das Verbum nicht nur - wie die Priesterschrift - auf die Schöpfimg am Anfang bezieht, sondern auch auf das künftige Werk Gottes (338). V.12 dürfte also an die Verwendung von bei Deuterojesaja anknüpfen. 115 116 117

118

E. HAAG, P s 51, 186. Vgl. H.-J. FABRY, Art. ± > , T h W A T IV. Vgl. S. TENGSTRÖM, Art. n n , T h W A T VII.

Vgl. E. ZENGER, Morgenröte, 188.

94

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Diese Erfahrung der Gnade Gottes kann nicht bei sich selbst bleiben, sie drängt nach Mitteilung, und so gelobt der Beter in V.15, dass er diejenigen, die in ihrer Sünde verharren,119 die Wege Gottes lehren will. Die angemessene Interpretation der Bitte um Rettung aus Blutschuld 120 ( D , Q N ) in V.16a ist in der Forschung umstritten. Beachtet man, dass nach alttestamentlicher Auffassung vergossenes Blut auf dem Schuldigen lastet (Spr 28,17), an seinen Händen (Jes 1,15; 59,3) und an seiner Kleidung haftet (1. Kön 2,5) und so eine Gefahrensphäre um den Schuldigen bildet, so passt die Bitte um Rettung aus nroi gut in die Reihe der Bitten um Reinigung. Wie auch immer die konkrete Schuld des Beters aussehen mag, sie haftet an ihm wie Schmutz (vgl. V.4) oder eben Blut.121 Das Lobgelübde in V.17 ist nicht im Ton unerschütterlicher Gewissheit gesprochen (wie z.B. in Ps 52,11), sondern bleibt ganz in der syntaktischen Struktur der Bitte. Auch den Lobpreis, zu dem der Mensch bestimmt ist, kann der Psalmist in Ps 51 nicht aus eigener Kraft anstimmen, auch hier ist er auf das schenkende und gnädige Handeln Gottes angewiesen. Das Thema der Opferkritik in V.18f wirkt im Kontext des vorausgegangenen Gedankengangs ungewöhnlich. Das ungleich größere Gewicht, das dieses Thema in dem benachbarten Ps 50 (Stichwortverbindung nnt - Ps 50,5.8.14.23; 51,18.19.21; n"?ll/ - Ps 50,8; 51,18.21; no - Ps 50,9; 51,21) hat, macht die Annahme wahrscheinlich, dass es sich bei V.18f um einen Anhang in Form einer nachgeschobenen Begründung ("O) der Bitte um Ermöglichung des Lobpreises (V.17) handelt, der Ps 51 im Zuge der Zusammenstellung mit Ps 50 zugewachsen ist.122 Dabei ist allerdings nicht zu übersehen, dass der Redaktor von V.18f trotz der neuen Thematik in der Argumentation ganz dem Gedankengang von Ps 51 verpflichtet bleibt. In Anlehnung an die zentrale 119

In V.15 werden zur Kennzeichnung der Sünder die gleichen Begriffe wie im Bekenntnis (V.5) des Beters verwendet. 120 Zu den Vorschlägen, D-'Cn allgemein als „Schuld" oder als „Tod" zu verstehen vgl. E.R. DALGLISH, Psalm Fifty-One in the Light of Near Eastern Patternism, Leiden 1962, 178f. 121 Auffällig ist, dass der Psalmist im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit nicht von „meiner" Schuld (vgl. V.3.4.5.11), sondern allgemein von „Blutschuld" spricht (diese Beobachtung macht E. HAAG, Ps 51, 190). Eine gewisse Plausibilität hat auf diesem Hintergrund der Vorschlag von E. WÜRTHWEIN, in der Formulierung DTlbx CTONO eine sekundäre Einfügung zu sehen, die im Kontext der biographischen Verankerung im Leben Davids durch die Überschrift (V.2) entstanden ist und diese Verankerung unterstützen soll, vgl. ders., Bemerkungen zu Psalm 51, in: K. Seybold / E. Zenger (Hg.), Neue Wege der Psalmenforschung (HBS 1), Freiburg - Basel - Wien 1994, 381f; im Anschluss an Würthwein M. KLEER, Der liebliche Sänger, 95. Eine einleuchtende Erklärung für diese Einfügung liefert E . R . DALGLISH, wenn er darauf hinweist, dass die alttestamentliche Überlieferung immer wieder Davids Furcht, in Blutschuld zu geraten, betont (vgl. 1. Sam 25,26.31.33; 2. Sam 3,28.29; 1. Kön 2,5; 2,31-33), vgl. ders. Psalm Fifty-One, 179. 122 Vgl. H. SPIECKERMANN, Psalmen und Psalter, 147.

2. Prolog: Ps 50-51

95

Aussage von Ps 51,12 formuliert er hier den Gedanken, dass das Gott wohlgefällige Opfer in einem zerbrochenen Geist und einem zerbrochenen und zerschlagenen Herz besteht. Auf diese Weise entsteht eine der Rahmung in V.34 und 9-11 entsprechende Rahmung in V.12 und 19 (n1?, nn). 123 Im Anschluss an die Bitte um Ermöglichung des Lobpreises (V.17) begründet und qualifiziert V.18f diesen Lobpreis als den der Erfahrung der Sündenvergebung und Neuschöpfung entsprechenden Dank. In V.19 formuliert der Beter, nun nicht mehr in der Form der Bitte, sondern in der Form der Aussage, die Hoffnung und das Vertrauen, dass ein an seiner Schuld zerbrochener Mensch nicht umsonst auf die Gnade Gottes hoffen wird (vgl. Ps 34,19; Jes 61,1). Der zerbrochene Geist und das zerbrochene und zerschlagene Herz sind also nicht etwa ein Sühnopfer, sondern in der Gedankenfolge von V. 17-19 ein Dankopfer.124 Unerwartet kommen in V.20 der Zion und Jerusalem in den Blick. Ging es zuvor um das Verhältnis eines „Ichs" zu Gott, so kommt nun die Gemeinschaft ins Spiel. Es ist anzunehmen, dass es sich bei V.20f um eine redaktionelle Hinzufugung handelt125, deren Verfasser die Absicht hatte, das drohende Missverständnis zu korrigieren, dass die opferkritischen Aussagen von V.18f als grundsätzliche Ablehnung des Kultes zu verstehen seien. Gott wird durchaus wieder Gefallen haben an Opfern der Gerechtigkeit, und zwar dann, wenn er sein Wohlgefallen an Zion durch den Wiederaufbau der Stadtmauern Jerusalems erwiesen hat. Dabei geht es jedoch nicht nur um den bloßen Aufbau der Stadtmauern als Verteidigungsanlage, sondern vielmehr um den Aufbau Jerusalems als Gottesstadt. Die Aussagen in V.20f dürften sich an den Heilserwartungen der exilischen und nachexilischen Prophetie orientieren.126 Besonders die jesajanische Schule prägte die Hoffnung auf einen Wiederaufbau 123 Vgl. die oben vorgeschlagene Gliederung. Die parallele Struktur der beiden Teile V.311 und V. 12-19 spricht nach Auffassung von F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER dafür, V.18f als zum Primärpsalm dazugehörig zu verstehen (Psalmen 51-100,45f). Allerdings wird man auch einem Redaktor durchaus die Fähigkeit zutrauen können, seine Erweiterungen in enger Anlehnung an den Gedankengang und die Sprache des ihm vorliegenden Primärtextes zu formulieren 124 Die Deutung von F.-L. HOSSFELD / E. ZENOER, dass der gerettete Beter „sich selbst als den an Herz und Geist erneuerten Menschen" als Dankopfer übergibt (Psalmen 51-100, 54f), stellt eine gewisse Verharmlosung der Aussage von V.19 dar, da sie übersieht, dass in V. 19 eben nicht wie in V.14 von einem „reinen Herzen" und einem „neuen, beständigen Geist" die Rede ist. 125

V g l . u.a. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 4 8 ; H.-J. KRAUS, P s a l m e n I,

540; E. HAAG, Ps 51, 169; W.H. SCHMIDT, Eschatologie, 358. Anders dagegen M. GIRARD, Psaumes redécouverts, 27f; R. Mosis, Die Mauern Jerusalems. Beobachtungen zu Ps 51, in: J. Hausmann / H.-J. Zobel (Hrsg.), Alttestamentlicher Glaube und Biblische Theologie, FS H. Preuß, Stuttgart 1992, 201-215. 126

V g l . E. HAAG, PS 5 1 , 1 9 5 ; F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 5 5 f .

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

der Gottesstadt als Zeichen einer neuen Heilszeit (Jes 49,16ff; 54,1 lf; 58,12; 60,10; 61,4; 62,7), in der Gott im Tempel auch wieder Schlacht- und Brandopfer annimmt (Jes 56,7; 60,7). Diese Hoffnung auf eine neue Zeit entspricht der Hoffnung auf Neuschöpfung in V. 12-19. Der Redaktor weiß sich also durchaus dem grundlegenden Gedankengang des Primärpsalms verpflichtet. Weiterhin trägt die Ergänzung V.20f dazu bei, dass das „Ich" des Psalms auch als das kollektive Ich des Volkes verstanden werden kann. Dieses kollektive Ich erbittet von Gott die Sündenvergebung. Die so neugeschaffenen Menschen sind die idealen Einwohner der neugeschaffenen Gottesstadt.127 Diese Sichtweise legt sich jedoch auch schon durch die Aufnahme traditionsgeschichtlicher Vorgaben aus der Verkündigung Ezechiels, die sich an das Volk als Ganzes richtet, nahe. Mit dem Motiv der Gottesstadt ergeben sich Verbindungslinien sowohl zu den Asaf- als auch zu den Korachpsalmen. So entspricht dem Leiden der Asafpsalmen an der Zerstörung Jerusalems (Ps 74; 79) die Hoffnung auf den Wiederaufbau der Mauern der Gottesstadt. Das Interesse an der Gottesstadt als Ort der Gegenwart und des Wohlgefallens Gottes (Ps 51,20) ist jedoch ebenso ein zentrales Thema der Gruppe der Korachpsalmen (Ps 46; 48). Dem entspricht, dass Ps 50-51 mit Ps 47-49 durch das gemeinsame Überschriftenelement „Mizmor" miteinander verbunden werden. Innerhalb des zweiten Davidpsalters ergibt sich mit dem Gedanken der Hilfe Gottes für Zion und des Wiederaufbaus Jerusalems eine Brücke zu Ps 69 (V.36).128 Ps 51 nimmt verschiedene Gedanken und Motive der exilischen und frühnachexilischen Prophetie, vor allem aber aus Ez 36, auf. Gerade Ez 36,16-28 dürfte nun aber auf die Redaktoren der Endgestalt des Ezechielbuches zurückgehen,129 so dass nicht nur Ez 36,16-28 in einem gewissen Abstand zur Verkündigung des Exilspropheten Ezechiel entstanden sein dürfte, sondern erst 127 Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER: „Die durch die Sündenvergebung neugeschaffenen Menschen sind in der Tat,Idealbewohner' des ,neuen' Jerusalems. Und umgekehrt gilt: Die Erneuerung des Zion als Mittelpunkt der Schöpfung beginnt mit der Neuschöpfung seiner Bewohner. In der Tat: Wo Sünder sich von JHWH neu schaffen lassen, wird das Gottesvolk erneuert; wenn dies auf dem Zion und von ihm her geschieht, wird Jerusalem zur Stadt der Gerechtigkeit." (Psalmen 51-100, 56). 128 Die Analyse von Ps 69 wird jedoch zeigen, dass dieser Gedanke in Ps 69 enger mit dem übrigen Text verbunden ist, als es in Ps 51 der Fall ist. Es ist dementsprechend denkbar, dass Ps 5l,20f auf diejenige Redaktion zurückgeht, die Ps 69 bzw. die Schlussgruppe Ps 69-71 geschaffen hat (vgl. Kap. III.7) und die auf diese Weise den neu entstandenen Schluss und den Anfang des zweiten Davidpsalters verbinden wollte. 129 Vgl. R. RENDTORFF, Ez 20 und 36,16ff. im Rahmen der Komposition des Buches Ezechiel, in: J. Lust (Hrsg.), Ezekiel and his Book. Textual and Literary Criticism and their Interrelation (BEThL LXXIV), 1986, 260-265.

2. Prolog: Ps 50-51

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recht Ps 51. Für die Datierung von Ps 51 legt sich also die nachexilische Zeit nahe. Die Nachträge in V.18f und V.20f setzen einen bestehenden Opferkult voraus,130 so dass hinsichtlich der Endgestalt von Ps 51 an die Zeit nach der Wiedererrichtung des zweiten Tempels zu denken ist. 2.4 Psalm 51 in seinem Kontext Die Stellung von Ps 51 am Beginn des zweiten Davidpsalters: Durch die Anbindung an die Person Davids in der Überschrift wird Ps 51 eindeutig der Gruppe der Davidpsalmen 51-71 (72) zugeordnet und hat als erster Psalm dieser Gruppe per se eine einleitende Funktion. Diese Funktion wird dadurch unterstrichen, dass Ps 51 durch die Angabe zur Liedart in der Überschrift (Mizmor) von den folgenden Psalmen 52-55, die als „Maskil" bezeichnet werden, abgerückt wird. Die auf Ps 51 folgenden Davidpsalmen zeichnen grob gesprochen - das Bild eines unschuldig Verfolgten und Leidenden, der seine Klage vor Gott bringt (Ps 52-64) und nach erfahrener Rettung Gott im Lobpreis die ihm gebührende Ehre gibt (Ps 65-68). Dieses Bild wird durch die biographischen Überschriften, die die Psalmen mit dem Leben Davids verbinden, noch verstärkt.131 Durch Ps 51 und seine biographische Überschrift wird dieses Szenario korrigiert.132 Die biographische Überschrift von Ps 51 fallt insofern aus dem Rahmen, als sie mit der Königszeit Davids verbunden ist, während die Überschriften in Ps 52-68 die jeweiligen Psalmen innerhalb der Zeit der Verfolgung Davids durch Saul verorten. Auf dem Hintergrund von Ps 51 und seiner Überschrift ist der David der Psalmen 52-64 nicht mehr der ungerecht Verfolgte, sondern der Schuldiggewordene, der seine Verfolgung selbst auf sich gezogen hat. Auf der Ebene des Endtextes ergibt sich damit ein eindrücklicher Spannungsbogen. Demnach ist die in Ps 51 erbetene Sündenvergebung und Neuschöpfung nicht ohne weiteres zu haben. Der Weg bis zur Vergebung der Sünden (Ps 65,3) ist weit, er führt erst über die Erfahrung von Verfolgung und Leid an sein Ziel. Aber, und das ist entscheidend, er kommt an sein Ziel, denn „ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz" wird Gott nicht gering achten (Ps 51,19). Ausdruck dieses zerbrochenen und zer130 M . MILLARD geht davon aus, dass in V.20f von einem zukünftigen Opfergottesdienst die Rede ist und datiert Ps 51 dementsprechend in die Zeit vor der Errichtung des Zweiten Tempels und der Wiederaufnahme des Opfergottesdienstes (Komposition, 174f). Die entscheidende Frage von V. 18-21 ist jedoch die Frage nach Gott wohlgefälligen Opfern. Diese Frage ist nur dann sinnvoll, wenn es auch einen Opfergottesdienst gibt, der in Frage gestellt werden kann. Allerdings ist angesichts der eschatologischen Dimension von V.20f mit F.-L HOSSFELD / E. ZENGER in der Tat vor einem vordergründig historischen Verständnis dieser letzten beiden Verse zu warnen (Psalmen 51-100, 48). Trotzdem setzt jedoch zumindest V.18f einen bestehenden Opferkult voraus. 131 Vgl. hierzu die Einzelauslegung der biographischen Überschriften in Kap. III.3-8. 132 Vgl. M. KLEER, Der liebliche Sänger, 11 lff.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

schlagenen Herzens sind die Psalmen 52-64, mit ihnen bringt David Gott das ihm wohlgefällige Opfer dar. Nach erfahrener Sündenvergebung gibt er schließlich Gott die ihm gebührende Ehre (Ps 65-68). Die beschriebene, durch Ps 51 und seine biographische Situierung durch die Überschrift bedingte Verschiebung in der Gesamtausrichtung des zweiten Davidpsalters macht die Annahme wahrscheinlich, dass Ps 51 dieser Psalmengruppe erst zu einem relativ späten Zeitpunkt, als diese in ihrem Grundbestand bereits vorlag, als Einleitung vorangestellt wurde.133 Ps 50 und 51 als doppelter Prolog des zweiten Davidpsalters: Es hat sich gezeigt, dass Ps 50 und 51 vor allem durch die gemeinsame Opferthematik eng miteinander verbunden sind. Bei dieser Feststellung sollte jedoch nicht nur der Aspekt der Opferkritik wahrgenommen werden, die in Ps 51,18 gegenüber Ps 50,8 im Sinne einer völligen Ablehnung radikalisiert wird, um dann in Ps 51,21 wieder entschärft zu werden. Entscheidender für den Gesamtzusammenhang des zweiten Davidpsalters dürfte vielmehr die Beobachtung sein, dass Ps 51,19 die abschließende Aufforderung zum Dankopfer aus Ps 50,23 konkretisiert und definiert, was ein angemessenes Dankopfer ist, nämlich ein zerbrochener Geist und ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz. Liest man Ps 51 im Kontext von Ps 50, so ergeben sich dabei, je nachdem, ob man das Ich von Ps 51 als individuelles oder als kollektives Ich versteht, unterschiedliche Akzente. Deutet man das Ich von Ps 51 als individuelles Ich, so kann Ps 51 als das Gebet eines Menschen gelesen werden, der in der inneren Haltung lebt, in die Ps 50 einweist. Versteht man dieses Ich jedoch als ein kollektives, so wird Ps 51 zum Schuldbekenntnis des von Gott in Ps 50 angeklagten Volkes. Der seine Sünde und Schuld bekennende David wird zum Vorbild für das Volk. David ist Israel, und Israel ist David. Wenn Israel nach der Erfahrung des Exils wie David zur Einsicht in seine Schuld kommt, kann es wie David auf Gottes Vergebung und eine grundlegende Neuschöpfung hoffen - das dürfte auf der Ebene der Endgestalt des elohistischen Psalters, vor allem nach Voranstellung der Korachpsalmen 42-49, die entscheidende 133

M. KLEER (Der liebliche Sänger, 94) und in Folge F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER (Psalmen 51-100, 30f) gehen davon aus, dass die Redaktion, die die Asafpsalmen 73-83 mit Ps 52-68 zusammenstellte, auch Ps 50-51 und Ps 69-72 hinzufügte (zur Kritik an dieser These vgl. Kap. III.9.1, Anm.8). Dieser These entspricht die Beobachtung, dass insbesondere Ps 51,18-21 Berührungspunkte mit Ps 69 aufweisen. Die weiteren Untersuchungen werden jedoch zeigen, dass die Psalmengruppe Ps 69-71 in den Kontext der Verbindung des elohistischen Psalters mit dem ersten Davidpsalter gehören (vgl. Kap. III.7). Ob daraus die Schlussfolgerung zu ziehen ist, dass auch Ps 51 oder zumindest Ps 51,18-21 auf dieser vergleichsweise späten Redaktionsstufe zu verorten ist, wird am Ende des Durchgangs durch den zweiten Davidpsalter zu klären sein (vgl. Kap. III.9).

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52—55

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Botschaft der Psalmen 50 und 51 als doppeltem Prolog des zweiten Davidpsalters sein. Auf diesem Fundament von Schuldeinsicht und -bekenntnis behält auch die Klage ihr Recht, die Israel nun wiederum in Identifikation mit David ab Ps 52 vor Gott bringen kann. Abschließend sei bemerkt, dass die Möglichkeit, Ps 51 sowohl individuell als auch kollektiv zu verstehen, diesen Psalm zu einem idealen Übergang von der auf das Volk ausgerichteten Perspektive der Korachpsalmen 42-49 und des Asafpsalms 50 hin zu der individuellen Ausrichtung des zweiten Davidpsalters macht. Diese Zweidimensionalität sowie die beobachteten Verbindungslinien zu den Asaf-, insbesondere aber zu den Korachpsalmen können als ein weiterer Hinweis darauf gewertet werden, dass zumindest Ps 51,20f zu einer vergleichsweise späten Redaktionsstufe des elohistischen Psalters gehören.

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52-55 Nach den als Einleitung bzw. Prolog zum zweiten Davidpsalter fungierenden Psalmen 50 und 51 bilden Ps 52-55 eine erste Kleingruppe, die durch die gemeinsame Bezeichnung als „Maskil" in den jeweiligen Überschriften zusammengebunden werden. Im Folgenden sollen diese vier Psalmen sowohl als Einzeltexte wie auch als zusammenhängende Sinneinheit untersucht werden. 3.1 Psalm 52

1 Für den Chormeister. Ein Maskil in Hinblick auf David, 2 als Doeg, der Edomiter kam und Saul berichtete und zu ihm sprach: Gekommen ist David zu dem Haus Achimelechs. 3 Was rühmst du dich des Bösen, du starker Held? Die Güte Gottes134 (währt) den ganzen Tag. 4 Verderben sinnst du, deine Zunge ist wie ein geschärftes Schermesser, du Trug-Tuender.

134 Die Septuaginta passt V.3b inhaltlich an V.3a an und ersetzt "IDn - „Güte" durch das graphisch verwandte Don - „Unrecht", vergleichbar verfährt die Peschitta und liest Ton"1?« - „gegen den Frommen" (vgl. H.-J. KRAUS, Psalmen I, 550; A. ANDERSON; Psalms 1,404). Es besteht jedoch kein Grund, vom masoretischen Text abzuweichen (vgl. W. BEYERLIN, Der 52. Psalm. Studien zu seiner Einordnung (BWANT 111), Stuttgart 1980, 5 lf; F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 60). V.3b bildet eine Kontrastaussage zu V.3a und formuliert das Vertrauen des angefochtenen Beters in die Güte und Fürsorge Gottes. Eine vergleichbare Kombination von Anklage des Gegners und Vertrauensaussage findet sich in Ps 11,1.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

5 Du liebst das Böse mehr als das Gute, die Lüge mehr als gerechte Rede. Sela. 6 Du liebst all die Worte des Verderbens, du trügerische Zunge. 7 Doch Gott wird dich zerstören für allezeit, er wird dich packen und dich herausreißen aus dem Zelt und wird dich entwurzeln aus dem Land der Lebenden. Sela. 8 Und es werden schauen die Gerechten und schaudern, und über ihn werden sie lachen.135 9 Seht den Mann. Er macht nicht Gott zu seiner Zuflucht. Vielmehr vertraut er auf seinen großen Reichtum, sucht Zuflucht in seinem Verderben. 10 Ich aber bin wie ein üppiger Ölbaum im Hause Gottes, ich vertraue auf die Güte Gottes immer und ewig. 11 Ich will dir danken auf ewig, denn du hast gehandelt, und ich will hoffen auf deinen Namen, denn er ist gut gegenüber deinen Frommen. Folgende Gliederung legt sich für Ps 52 nahe:136 V.l-2: Überschrift V.3-6: Die Anklage „Du" V.3: Einfuhrende These V.4—6: Anklagepunkte V.7-9: Die Folgen V.7: Das Handeln Gottes V.8-9: Die Reaktion der Gerechten V. 10-11: Die Reaktion des Beters „Ich" Die biographische Überschrift setzt Ps 52 in Bezug zu dem Verrat des Edomiters Doeg an David und dem Priester Achimelech (1. Sam 22, 6—23). Hintergrund dieses Verrats ist die in 1. Sam 21,2-10 erzählte Begebenheit, nach der David auf der Flucht vor Saul nach Nob zu dem Priester Achimelech kommt, der ihm die Schaubrote und das Schwert Goliaths überlässt. Doeg wird Zeuge dieses Vorgangs und verrät ihn an Saul, ohne jedoch daraufhinzuweisen, dass 135 Die Peschitta bietet für V.8 einen weitgehend anderen Text im Sinne von „Und es werden sehen die Gerechten und sich freuen, und sie werden auf Gott vertrauen". 136 Vgl. auch G. RAVASI, Salmi II, 70. Denkbar und sinnvoll ist auch eine Gliederung anhand der Sprechrichtung: V.3-7: Rede des Psalmisten an den Gegner, V.8-9: Schilderung der Reaktion der Gerechten im Er-Stil, V. 10-12: Ich-Rede des Sprechers, vgl. F.-L. HOSSFELD /

E. ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 6 1 .

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52—55

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Achimelech nicht wusste, dass David sich auf der Flucht vor Saul befand. Daraufhin lässt Saul Achimelech und die übrigen Priester und Bewohner von Nob von Doeg töten. Auch wenn es zwischen Ps 52 und den entsprechenden Erzählungen des ersten Samuelbuches keine konkreten sprachlichen Verbindungen gibt, bilden die geschilderten Begebenheiten und insbesondere die Gestalt Doegs einen plastischen Hintergrund für die Charakterisierung des „Helden" (V.3) von Ps 52. Im eigentlichen Korpus von Ps 52 markiert bereits der einleitende V.3 die zentralen Positionen des Psalms. Die herausfordernde Frage „Was rühmst du dich des Bösen, Held?" legt den Ton für die Gesamtheit des Psalms fest. Hier klagt nicht ein unschuldig Verfolgter Gott sein Leid (vgl. u.a. Ps 55), ebenso wenig stellt er die verzweifelte Frage, warum es den Frevlern gut ergeht (vgl. u.a. Ps 73).137 Vielmehr wird der Gegner offensiv angesprochen und voller Ironie als Held ( n a i ) bezeichnet. Der Beter begibt sich ohne lange Vorrede in die direkte Konfrontation. Von einer inneren Verunsicherung des Beters kann nicht die Rede sein. Sein Vertrauen in die Güte Gottes (TDn) ist ungebrochen, das macht die Aussage in V.3b deutlich, die dem sich des Bösen rühmenden Helden thetisch entgegengesetzt wird. Entsprechend der Diktion des einleitenden Verses werden in dem nun folgenden Abschnitt V.4-6 dem Angeredeten die Anklagepunkte in kurzen Sätzen entgegengeschleudert. Dabei wird der Angeklagte weniger eines frevelhaften Handelns als vielmehr eines bösartigen Gebrauchs seiner Zunge bezichtigt. Dass die menschliche Zunge jedoch eine gefahrliche Waffe ist, ist die Überzeugung nicht nur von Ps 52, sondern weiter Teile des Alten Testaments, insbesondere der Weisheit (vgl. Jer 9,2.7; Hi 5,21; Ps 57,4; Spr 12,17-22; 18,21).138 Dementsprechend wird die Zunge des Angeredeten mit einem geschärften Schermesser verglichen (e/abo nvn - V.4) und als trügerisch bezeichnet ( n o i a - V.6), sein Reden als Lüge (nptf - V.5) und als Worte des Verderbens - V.6) qualifiziert. Der innerhalb der Struktur der Anklage V.4-6 zentrale V.5 bringt die Dinge auf den Punkt: Entgegen dem Lebensideal der Weisheit (Spr 14,6) liebt der Angeklagte nicht das Gute (ni D) und die gerechte Rede (pnü i m ) , sondern das Böse (in) und die Lüge (Tptf). 137 Daher ist auch eine Beschreibung von Ps 52 als Klagepsalm, wie z.B. H. GUNKEL sie vornimmt (Psalmen, 228), unangemessen; ähnlich auch J. JEREMIAS, der Ps 52 als Nachbildung einer Klageliturgie versteht (Kultprophetie und Gerichtsverkündigung in der späten Königszeit (WMANT 35), Neukirchen-Vluyn 1970, 120) oder in jüngster Zeit M. MLLLARD, der Ps 52 in einen sog. Klagecluster Ps 51-64 einordnet (Komposition, 116). 138 Die Zunge symbolisiert im AT ebenso wie in der altorientalischen Umwelt die Redefähigkeit des Menschen, seine Sprache und deren Macht. „Die ständige Art und Weise des Redens eines Menschen sind Ausdruck seiner Charaktereigenschaften oder werden in antiker Sicht geradezu mit ihnen identifiziert" (B. KEDAR-KOPFSTEIN, Art. ThWAT IV). Vgl. auch G. RAVASI, Salmi II, 71.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Auffällig sind die beiden Titel („Trug-Tuender" und „trügerische Zunge"), mit denen der Psalmist sein Gegenüber belegt. Diese beiden Titel verweisen nicht auf ein einmaliges Tun, sondern sie beinhalten eine Wesensaussage, das heißt, sie legen den Angeklagten ein für allemal fest. V.7 beschreibt die Konsequenzen, die auf den frevelhaften Redner warten. So wie sein Reden und Tun zerstörerisch sind, wird auch (DJ) Gott ihn zerstören. Den Leser des vorliegenden Endtextes, der Ps 50 als Vorwort zum 2. Davidpsalter oder zumindest als unmittelbaren Kontext von Ps 52 wahrgenommen hat, wird diese Konsequenz kaum überraschen, denn er weiß, sozusagen aus dem Munde Gottes selbst, dass dieser angesichts trügerischer Rede nicht schweigen wird (Ps 50,19ff). Aber auch ohne diesen Kontext kommt hier die ungebrochene weisheitliche Überzeugung vom Zusammenhang von Tun und Ergehen zum Ausdruck. Innerhalb des Alten Testaments ist es vor allem das Buch der Sprüche, das die selbstzerstörerischen Folgen trügerischen Redens mahnend beschwört (vgl. Spr 6,12-15; 12,13ff). Diese Folgen bestehen darin, dass Gott den Frevler aus seinem Machtbereich herausreißt bzw. entwurzelt. Wenn in diesem Zusammenhang vom Zelt (bnN) die Rede ist, dürfte hiermit weniger das Wohnzelt, als vielmehr der Tempel gemeint sein (vgl. Ps 15,1; 27,6; 61,5).139 Für dieses Verständnis spricht zumindest V.10, in dem der Beter sich selbst als üppigen Ölbaum im Hause Gottes beschreibt. Während der Gerechte in der Sphäre des Tempels und damit Gottes verweilt, wird der Frevler aus eben dieser Sphäre verbannt. Ahnliches gilt für die Vorstellung, dass Gott den Frevler aus dem Land der Lebenden (D^n f i x ) entwurzeln werde. Das Land der Lebenden bildet den Gegensatz zum Totenreich (vgl. Jer 11,19; Ez 32,23ff; Ps 27,13; 116,9), das außerhalb des Machtbereiches JHWHs liegt.140 Der frevelhafte Redner wird also herausgerissen aus diesem Machtbereich Gottes und zwar von Gott selbst. Die V.8-9 beschreiben die Reaktion der Gerechten auf das Ergehen des Angeklagten. Die Aussage, dass die Gerechten die Geschehnisse sehen und sich furchten, ist dabei nicht nur schönes Wortspiel (WV] und liCp?]), sondern Beschreibung des Wesens der Gerechten. Im Gegensatz zum Frevler rechnen sie mit dem Eingreifen Gottes, sie verstehen das Ergehen des im Psalm Angeklagten als Handeln und Machterweis Gottes, auf den die einzig angemessene Reaktion die Gottesfurcht ist. Das Lachen der Gerechten darf dabei sicher nicht als Schadenfreude interpretiert werden.141 Vielmehr ist es die Haltung des Frevlers, der seine Zuflucht nicht bei Gott, sondern bei seinem Reichtum 139

Gegen G. RAVASI, der davon ausgeht, dass es hier um das Herausreißen aus dem Familien- und Stammesverband, dessen Symbol das Zelt ist, geht (Salmi II, 75). 140 Vgl. M. OTTOSSON, Art. p x II.3., ThWAT I. 141 Gegen die Deutung von F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 68. Die Schadenfreude wird in Spr 24,17 ausdrücklich sanktioniert.

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52-55

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sucht, die in den Augen der Gerechten als geradezu lächerlich, ja verrückt erscheinen muss (vgl. Hi 22,19; Ps 107,42). Der in V.3 ironisch als ~)i23n (Held) Angesprochene wird in V.9 als "Qjn (Mann) bezeichnet. Der Ausdruck "]3}n beschreibt in der Regel einen Mann, der in einer engen Beziehung zu Gott steht,142 d.h. er dürfte in diesem Kontext ähnlich wie die Anrede in V.3 ironisch gemeint sein. Dass der in V.3-6 beschriebene Frevler reich ist und in diesen seinen Reichtum sein Vertrauen setzt, ist eine neue, über das bisher Gesagte hinausgehende Information, die jedoch ganz auf der Linie weisheitlichen Denkens liegt. „Wer auf seinen Reichtum vertraut, der wird fallen, aber wie Laub werden die Gerechten sprossen" (Spr 11,28) - diese weisheitliche Grundüberzeugung könnte man als Kurzzusammenfassung von Ps 52 bezeichnen.143 In V.10 kommt nun erstmals das „Ich" des Anklägers explizit in den Blick. Er selbst vertraut nicht auf die Größe seines Reichtums, sondern auf die Güte (~ton) Gottes und beschreibt sich als üppigen Ölbaum ( p m rrr). Mit diesem wiederum durch die Weisheitsliteratur (vgl. Ps 1,3; 92,13; Spr 11,28, aber auch die ägyptische Lehre des Amenemope) geprägten Vergleich des Gerechten mit einem Baum entwirft der Beter ein Gegenbild zu dem aus dem Land der Lebenden entwurzelten Frevler. Dem instabilen, vergänglichen Frevler (vgl. Ps 1,4) wird die standfeste Verwurzelung im Vertrauen auf die Güte JHWHs entgegengestellt. Verstärkt wird das Bild dadurch, dass der Beter sich nicht mit irgendeinem Baum vergleicht, sondern mit dem Ölbaum, der zwar nur langsam wächst, aber auch besonders dauerhaft ist. Die Vertrauensaussage in V.lOb schlägt den Bogen zurück zu der Eingangsthese in V.3b. Es ist die Güte Gottes (TDn), die freundliche Zuwendung Gottes zum Menschen, die dem Psalmisten die Gewissheit gibt, dass der Zusammenhang von Tun und Ergehen in Kraft bleibt, und die damit Äquivalent für die Gerechtigkeit Gottes ist. In dieser Gewissheit kann er darauf harren, dass die in V.7f noch im Imperfekt beschriebenen Konsequenzen tatsächlich über den frevelhaften Redner hereinbrechen. Dem abschließenden Lobpreis in V.ll zufolge setzt der Psalmist seine Hoffnung auf den Namen Gottes. Der Name (De?) erscheint hier beinahe als eine eigenständige Größe, durch die Gott handelnd in die Welt eingreift (vgl. auch Ps 20,2f). In der Psalmentheologie steht der Name (DTTF) für die Gegen142 Vgl. H. KOSMALA, Art. INJ, ThWAT I. Diese Bedeutungsnuance übersieht W. BEYERLIN, wenn er den Ausdruck als „Endpunkt eines Depotenzierungsprozesses" beschreibt, „in dem der dem Anschein nach gefährlich potente gibbör als gescheiterter und erledigter gaebaer entlarvt wird" (52. Psalm, 56). Richtig ist jedoch die von Beyerlin angedeutete Beobachtung, dass die beiden Bezeichnungen 113371 und ~l3?ri einen Rahmen um die Geschehnisse von V.3-9 bilden, die man in der Tat als einen Depotenzierungsprozess bezeichnen kann. 143 Vgl. auch W. BEYERLIN, 52. Psalm, 22f.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

wart und Ansprechbarkeit Gottes im Tempel.144 Gleichzeitig erinnert die Gegenwart des Namens jedoch auch daran, dass Gott selbst für den Menschen unverfugbar bleibt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der stark weisheitlich geprägte Ps 52 von einem ungebrochenen Vertrauen in die Geltung des Tun-ErgehenZusammenhangs gekennzeichnet ist.145 Von einer Krise der Weisheit, wie sie in späterer Zeit z.B. in Ps 49, Ps 73 oder bei Hiob und Kohelet greifbar wird, ist in Ps 52 nichts zu spüren. Man wird daher von einer vorexilischen Entstehung des Psalms ausgehen können.146 Ein zentrales Thema ist die Macht und die Gewalt der Sprache, um die der Psalmist weiß, die für ihn aber keine wirkliche Gefahrdung darstellt. Sein Vertrauen in das eingreifende Handeln Gottes ist das Fundament, auf dem er steht und das ihm ermöglicht, dem Bösen, das ihm begegnet, ins Gesicht zu schauen und es direkt anzusprechen. 3.2 Psalm 53

1 Für den Chormeister. Nach (der Weise) „Machalat". Ein Maskil in Hinblick auf David. 2 Es spricht der Narr in seinem Herzen: „Gott ist nicht da!" Sie handeln verderbt und sie tun abscheuliches Unrecht. Es ist keiner da, der Gutes tut. 3 Gott schaut aus den Himmeln herab auf die Menschenkinder, um zu sehen, ob es einen Verständigen gibt, einen, der nach Gott sucht. 4 Ein jeder ist abtrünnig, (alle) zusammen sind verdorben, es ist keiner da, der Gutes tut, da ist auch nicht ein einziger. 5 Haben denn keine Erkenntnis die Übeltäter, die, die mein Volk verzehren, wie sie Brot verzehren? Gott rufen sie nicht an. 6 Da trifft sie ein gewaltiger Schrecken, wie noch kein Schrecken war,

144

Vgl. hierzu die Ausführungen von H. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 228fF, sowie zur dtn-dtr. Dtf-Theologie die Studie von T.N.D. METTINGER, The Dethronement of Sabaoth. Studies in the Shem and Kabod Theologies, ( C B . O T 18), Lund 1982. 145 Gegen W. BEYERLIN, der davon ausgeht, dass der Psalmist angesichts des Phänomens des gottlosen Reichen unter der Anfechtung leidet, dass der Tun-Ergehen-Zusammenhang nicht mehr in Geltung ist (52. Psalm, 87ff). 146

V g l . F . - L . H O S S F E L D / E . ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 6 5 .

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52-55

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denn Gott zerstreut die Gebeine dessen, der dich belagert.147 Du machst sie zuschanden, denn Gott hat sie verworfen. 7 Käme doch vom Zion Hilfe für Israel! Wenn Gott wendet das Geschick seines Volkes, wird jauchzen Jakob, wird sich freuen Israel. Ps 53 lässt sich folgendermaßen strukturieren:148 V.l: Überschrift V.2-5: Das verderbliche Handeln des bn: V.2: These: Innere Haltung und Handeln des bn] V.3-4: Richterliche Untersuchung durch Gott V.5: Klage V.6: Das Geschick des b i : V.7: Schlussbitte Ps 53 beginnt mit einer grundsätzlichen Aussage über die innere Haltung und das Wesen des bnj.149 Damit ist das Thema des Psalms benannt: Handeln und Geschick des bm. Kennzeichen des bn: ist die Leugnung der Wirksamkeit Gottes. Sein Wahlspruch „Gott ist nicht da" ( d t i ^ n px), der in Ps 10,4 wortgleich im Munde der Frevler (ytsh) begegnet, beinhaltet nicht die Leugnung der Existenz Gottes - dies wäre ein für das Alte Testament unmöglicher Gedanke - , sondern ist Ausdruck einer Haltung, die das Wirken und Eingreifen Gottes in dieser Welt bestreitet. Ähnlich wie der nicht näher bezeichnete Angeklagte in Ps 52 ist der 'sai in Ps 53 ein Mensch, der nicht mit Gott rechnet (vgl. Ps 52,9). Gefangen in dieser Täuschung erweist er sich als das Gegenteil eines Weisen, nämlich als Narr, der das die Ordnung der Welt erhaltende Handeln Gottes nicht erkennt. Aber nicht nur Gottlosigkeit ist ein Charakteristikum des bn:, sondern ebenso sein verderbliches Handeln als Ausdruck und Konsequenz dieser Gottlosigkeit: Wo kein Gott ist, da ist auch kein gutes Handeln.150 Dabei bezeichnet das Verbum nnt? (hiph.) ein schuldhaftes, dem 147

Die Septuaginta liest äv$QamaeB(TX(üv Cpn) - „Heuchler" statt "[in. Vgl. auch F.-L. HOSSFELD/E. ZENGER, Psalmen 51-100. 149 J. MARBÖCK hat daraufhingewiesen, dass b m nur in den seltensten Fällen angemessen mit „Tor" wiedergegeben werden kann. Die genauere Bedeutung muss vielmehr aus dem jeweiligen Kontext erhoben werden (vgl. Art. 1.2., ThWAT V). Für den Kontext von Ps 53 schlägt Marböck den weisheitlichen Terminus „Narr" vor (a.a.O., 180). 150 Im Zusammenhang mit dieser ethischen Dimension der Gottlosigkeit des b m ist die Herleitung dieses Terminus durch R.A. BENNETT interessant (Wisdom Motifs in Psalm 14 = 53; näbäl and 'esäh, in: BASOR 220 (1975), 15-21). Bennett geht davon aus, dass „this group 148

106

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

göttlichen Willen zuwiderlaufendes Tun, das die Beziehung zu Gott zerstört (vgl. Gen 6,12; Zef 3,7; Jes 1,4).151 Die in V.2 geäußerte These wird nach V.3f durch das richterliche Urteil Gottes bestätigt. Das Bild vom prüfenden Herabschauen Gottes aus dem Himmel begegnet in ähnlicher Weise auch in Ps 11,4; 33,13-15; 102,20. Der „Sitz im Himmel" ermöglicht Gott den Überblick über die gesamte Menschheit (DIN Die vertikale Blickrichtung ermöglicht die horizontale Übersicht. Der suchende Blick Gottes richtet sich auf den Verständigen als das Gegenbild des bn:, der sich seinerseits durch das „Suchen Gottes" (•TibirnN Eh~i) auszeichnet. Dem Ausschau-Halten Gottes entspricht die Suchbewegung des Verständigen. Da der Ausschau-haltende Gott jedoch nicht fündig wird, konstatiert V.4 zusammenfassend, dass alle vom Guten zurückgewichen (HD) und verdorben sind wie sauer gewordene Milch (n'pN)152. Die These von V.2 ist bestätigt: Es ist keiner da, der Gutes tut. V.5 fasst die vorangehende Beschreibung des Wesens und Handelns des in einer klagenden Frage zusammen und nennt gleichzeitig den Grund für dieses Handeln. Die beschriebenen Menschen haben keine Erkenntnis (vgl. die zentrale Stellung des weisheitlichen Verbums S/T1 am Beginn des Verses) und rufen Gott nicht an. Mit zwei Partizipialkonstruktionen identifiziert V.5 dabei den bn] mit den „Übeltätern" (¡IN ^bvo) und denen, „die mein Volk verzehren" (,os/ ^DN). Der Ausdruck „mein Volk" weist daraufhin, dass sich der Psalmist als Repräsentant des Volkes versteht.153 Die totale und umfassende Destruktivität des Handelns der Übeltäter bringt der Vergleich des Brotessens zum Ausdruck. Sie vernichten das Volk mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sie ihr Brot essen.154 Das Bild vom Verzehren des Volkes kann sowohl für Fremdvölker, die Israel verzehren (Ps 79,7; Jer 10,25), als auch mit besonderem Blick auf die Elenden und Armen (Mi 3,3; Hab 3,14; Spr 30,14) gebraucht werden.155

of words has a history dating back into the tribal league period, where its most pervasive connotation is that of a sacral infraction which threatens the unity and well-being of the entire community" (17). Das Nein zu Gott ist immer auch ein Nein zur Gemeinschaft. 151 Vgl. J. CONRAD, Art. nntf II.2., ThWAT VII. 152 nbx Nifal begegnet nur noch in Hiob 15,16 und wird meist vom Arabischen her als „sauer werden" (wie Milch) bzw. „verdorben sein" gedeutet. 153 F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER gehen davon aus, dass der Sprecher von V.5 Gott selbst ist (Psalmen 51-100, 83f). Gegen diese Deutung spricht jedoch die Tatsache, dass von Gott in V.5 in der 3. Person Singular die Rede ist. 154 H. GUNKEL deutet den Vergleich dahingehend, dass die Frevler das Volk „so gefühllos und gleichgültig, wie man Brot ißt", vernichten (Psalmen, 233). 155 Die Frage, ob in Ps 53,5 mit „mein Volk" speziell die Gruppe der Armen gemeint ist, muss im Vergleich zu der Doppelüberlieferung Ps 14 geklärt werden.

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52-55

107

Es besteht zwischen V.4 und 5 eine Spannung: Wenn alle Menschen verdorben sind (V.4), wie kann dann in V.5 noch zwischen einer Gruppe der Opfer und einer Gruppe der Täter unterschieden werden?156 Einige Ausleger lösen diese Spannung auf, indem sie die Totalität der Aussage in V.4 als hyperbolische Verallgemeinerung qualifizieren.157 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer genau sich hinter der als bai bezeichneten Menschengruppe verbirgt. Viele Ausleger gehen mit großer Selbstverständlichkeit davon aus, dass hier eine innerisraelitische Gruppierung gemeint ist.158 Demgegenüber ist jedoch festzuhalten, dass V.3 eben nicht von den Söhnen Israels, sondern sehr allgemein von den Menschensöhnen (DTK '"in) spricht. Dass darunter nun wiederum nicht einfach die Fremdvölker im Gegensatz zu Israel verstanden werden dürfen, darauf weist zu Recht M. Buber hin.159 Der Psalm ist an dieser Stelle offen, und eben diese Offenheit macht seine theologische Tiefe aus. Täter und Opfer sind nicht klar und eindeutig zu identifizieren. Der „Riß zwischen dem gottgetreuen und dem abtrünnigen Element"160, von dem Buber spricht, geht durch die Menschheit ebenso wie durch das Volk Gottes wie durch den einzelnen Menschen. Der nur schwer übersetzbare161 V.6 schildert in konstatierenden („prophetischen") Perfekta das visionär geschaute Geschick der in V.2-5 beschriebenen Menschengruppe.162 So unklar die Aussagen von V.6 im Einzelnen auch sein mögen, zentral ist in dieser Beschreibung das Motiv des Gottesschreckens ( i n s n n a - vgl. u.a. Ex 15,16; Dtn 2,25), der diese Menschen überfallt. Die 156

Diese Frage stellt sich umso mehr in Hinblick auf die Doppelüberlieferung Ps 14, wo in V.5 ausdrücklich von den Gerechten die Rede ist. 157

V g l . z . B . F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER in H i n b l i c k a u f P s 14 ( P s a l m e n 1 - 5 0 , 102); H.

GUNKEL spricht von einer „Übertreibung der Leidenschaft" (Psalmen, 232). 158 Dies gilt insbesondere für Ausleger, die Ps 53 bzw. 14 im Kontext einer durch die prophetische Sozialkritik inspirierten Armentheologie verstehen (Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalm 1-50,102, Psalmen 51-100, 83f; H.-J. KRAUS, Psalmen 1,247; J. JEREMIAS, Kultprophetie, 115). 159 Vgl. M. BUBER, Recht und Unrecht: Deutung einiger Psalmen, Gerlingen 1994, 18f. 160 M. BUBER, Recht und Unrecht, 22. Erstaunlicherweise geht Buber davon aus, dass Ps 14 = 53 den „Riß" zwischen den „Angefaulten" und dem „heiligen Rest" innerhalb des Gottesvolkes verortet. Er distanziert sich von dieser Sichtweise, indem er feststellt: „Ein später Psalmendeuter wie ich kommt nicht, wie der Psalmist, mit einer schlichten Zweiteilung Israels zurecht, ebensowenig wie er mit einer solchen Zweiteilung der Menschenwelt zurechtkäme. Er sieht den Riß zwischen dem vergewaltigenden und dem vergewaltigten, dem gottgetreuen und dem abtrünnigen Element nicht bloß quer durch jedes Volk, sondern auch quer durch jede Gruppe im Volk, ja quer durch jede Seele gehen" (ebd.). Diese Perspektive, die Buber für sich beansprucht, ist m.E. bereits im Psalm angelegt. 161 Vgl. hierzu die Rekonstruktionsversuche bei F.-L. HOSSFELD/E. ZENGER, Psalmen 5 1 100, 74; H.-J. KRAUS, Psalmen I, 246; M. MILLARD, Komposition, 117; sowie die Übersicht bei G. RAVASI, Salmi II, 84. 162 Vgl. hierzu in Hinblick auf Ps 14,5 J. JEREMIAS, Kultprophetie, 115.

108

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

bm-Menschen, die gemäß ihrem Wahlspruch (V.2) nicht mit dem Eingreifen Gottes rechnen, erleben plötzlich und unerwartet163 einen Schrecken, den es so für sie noch nie gab (iriD rrrnNb). Um das spezifische Profil von Ps 53 zu erfassen, ist an dieser Stelle ein Vergleich mit seinem Doppelgänger Ps 14 notwendig. Auf die Bedeutung dieser Doppelüberlieferung als Indiz für ein mehrstufiges Wachstum des Psalters aus verschiedenen Teilsammlungen wurde bereits in Kap. II.4 eingegangen. Die Tatsache, dass Ps 14 und 53 neben vielen Gemeinsamkeiten auch spezifische Unterschiede aufweisen, ist dabei ein Hinweis auf die unterschiedliche theologische Perspektive der beiden Teilsammlungen, in die diese beiden Texte integriert worden sind. Eine Gegenüberstellung der beiden Psalmen kann also zu einer genaueren Erfassung der Intention der Kleingruppe Ps 5255 und damit des zweiten Davidpsalters beitragen. Dabei fallen vor allem folgende Unterschiede auf:164 Im Vergleich zu Ps 14,1b (n'rby) qualifiziert Ps 53 mit biy (V.2b) das Handeln der „Narren" bzw. „Toren" noch nachdrücklicher und eindeutiger als Unrecht. Ps 53,4a verwendet das Verbum 3D; (gegenüber HD; in Ps 14,3a). Die Wurzel 310 beschreibt jedoch nicht nur das Abweichen vom Guten, sondern enthält darüber hinaus den Aspekt der Hinterhältigkeit (vgl. Ps 78,56; Jes 59,13).165 Die deutlichste Abweichung lässt sich jedoch in der Passage Ps 14,5f / 53,6 feststellen. Während Ps 14,5f die Gegenwart Gottes bei dem Gerechten (pmä) und bei dem Armen (^y) in den Mittelpunkt seiner Vision vom Geschick der Übeltäter stellt, spricht Ps 53,6 von der Vernichtung eines Belagerers ("pn). Hossfeld geht davon aus, dass Ps 53 gezielt an seine jetzige Position zwischen den ursprünglich zusammengehörigen Psalmen 52 und 54 gesetzt wurde, um den ersten und zweiten Davidpsalter miteinander zu verklammern. Er versteht Ps 14 als „Armenpsalm" und sieht die Einfügung des Doppelgängers Ps 53 als Teil einer „armentheologisch ori-

163

Auf die für die Frevler unerwartete Plötzlichkeit des Eingreifens Gottes dürfte die Parhinweisen - so auch J. JEREMIAS, Kultprophetie, 115. 164 Vgl. zum Folgenden auch die ausführlichen Gegenüberstellungen bei F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 75ff; C. RÖSEL, Die messianische Redaktion, 57ff; M. MILLARD, Komposition, 116f. Neben den dargestellten Unterschieden fällt auf, dass Ps 14 nicht konsequent - wie es außerhalb des elohistischen Psalters eigentlich zu erwarten wäre den Gottesnamen JHWH, sondern auch die Gottesbezeichnung Elohim (V.la.2b.5b) verwendet. Allerdings findet man auch in anderen, vergleichbaren Formulierungen außerhalb des elohistischen Psalters die Gottesbezeichnung Elohim (zu V.la vgl. Ps 3,3; 10,4; 115,2; zu V.2b vgl. Ex 18,15; 1. Sam 9,9; 1. Chr 21,30). V.5b verwendet möglicherweise die Gottesbezeichnung Elohim um hier der Behauptung der Abwesenheit Gottes durch den bm in V.la bewusst die Behauptung der Anwesenheit Gottes bei den Gerechten entgegenzusetzen, vgl. C. RÖSEL, Die messianische Redaktion, 58. tikel

165

V g l . F. REITERER, Art. 31D, T h W A T V .

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52-55

109

entierten Vernetzung der beiden Davidpsalter"166. Dabei scheint Hossfeld jedoch zu übersehen, dass Ps 53 die armentheologische Perspektive von Ps 14,5f eben gerade nicht übernimmt, sondern vielmehr durch Motive ersetzt, die aus der Vorstellungswelt des JHWH-Krieges stammen.167 Demgegenüber kommt Miliard in seiner Analyse der unterschiedlichen Ausrichtung von Ps 14 und 53 zu dem m. E. sehr viel sinnvolleren Ergebnis, dass die Kriegsmotivik aufgrund des Kontextes von Ps 52 und 54, die durch ihre Überschriften der Verfolgungszeit Davids zugewiesen werden, in Ps 53 Eingang gefunden hat.168 Das Motiv der Belagerung verbindet Ps 53, der keine eigene biographische Überschrift hat, mit den Ereignissen, die in 1. Sam 21-23 geschildert werden und in deren Kontext Ps 52 und 54 durch ihre Überschriften gestellt werden. Nach 1. Sam 23,7ff zieht David nach der Episode des Verrats durch den Edomiter Doeg, mit der Ps 52 verbunden ist, in die Stadt Keila, wo er von Saul belagert wird (1. Sam 23,8). Er entkommt jedoch in die Wüste Sif, woraufhin er nun wiederum von den Sifitern an Saul verraten wird (l.Sam 23,19ff). Mit dieser Begebenheit wird Ps 54 durch seine Überschrift in Beziehung gesetzt. Durch die biographischen Überschriften von Ps 52 und 54 entsteht somit eine Art Erzählraum, der es dem schriftkundigen Hörer bzw. Leser nahe legt, Ps 53 mit den in 1. Sam 23,7ff geschilderten Ereignissen um die Belagerung Davids in der Stadt Keila in Verbindung zu bringen.169 Sollte diese Annahme, dass die Textabweichung in Ps 53,6 gegenüber Ps 14,5f durch die in 1. Sam 23,7-13 geschilderten Ereignisse inspiriert ist, zutreffend sein, so ergäbe sich die Konsequenz, dass Ps 53 erst vergleichsweise spät in seinen jetzigen Kontext gelangt ist.170 Zumindest Ps 52 und 54 müs166 F.-L. HOSSFELD, Die unterschiedlichen Profile der beiden Davidsammlungen Ps 3—41 und Ps 51-72, in: E. Zenger (Hrsg.), Der Psalter in Judentum und Christentum (HBS 18), Freiburg u.a., 1998, 59-73 (65). 167 Vgl. M . MILLARD, Komposition, 1 1 7 ; H . - P . MÜLLER, Art. I N S II.2., ThWAT VI. 168 Vgl. M. MILLARD, Komposition, 117. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt auch J.F.D. CREACH, wenn er schreibt: „It is at least possible that Psalm 53 has been reworked with the literary context of David 2 in mind, further aiding the creation of a series of Psalms (Pss. 52-55) that denounce the wicked" (Yahweh as Refuge and the Editing of the Hebrew Psalter, Sheffield 1996, 84). In seiner gegenüber dem Beitrag von 1998 (Davidsammlungen) jüngeren Kommentierung zu Ps 53 verweist allerdings auch Hossfeld auf diese Verbindungslinien zwischen Ps 53,6 und Ps 52; 54, vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 78f. 169 Es muss jedoch eingeräumt werden, dass weder der masoretische Text noch die Versionen von Septuaginta, Peschitta und Targum noch die rabbinische Auslegung mit ihrem intensiven Interesse an einer Verortung der einzelnen Psalmen im Leben Davids diese Verbindungslinie ziehen. 170 Dem entspricht, dass im Gefolge von B. DUHM (Psalmen) im Allgemeinen davon ausgegangen wird, dass Ps 53 den gegenüber Ps 14 sekundären Text bietet, vgl. H . - J . KRAUS, Psalmen I, 246; J. JEREMIAS, Kultprophetie; M. MILLARD, Komposition, 116f; F.L. HOSSFELD / E . ZENGER, Psalmen 51-100, 78f. C. RÖSEL geht dagegen davon aus, dass

110

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

sen zu diesem Zeitpunkt schon in ihrer jetzigen Form inklusive der biographischen Überschriften vorgelegen haben. Hierfür sprechen auch die zahlreichen Bezüge zwischen Ps 52 und 54, die vermuten lassen, dass diese beiden Text ursprünglich in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander standen. Es stellt sich also die Frage, warum Ps 53 mit seinen signifikanten Abweichungen gegenüber Ps 14 in diesen Zusammenhang eingefugt wurde. Hier erscheint die bereits genannte These Hossfelds, nach der die Einfügung von Ps 53 der Vernetzung des zweiten mit dem ersten Davidpsalters dient, im Grundsatz sinnvoll. Eine vergleichbare Verbindungsstelle liegt in Ps 70 = Ps 40,14-18 vor. Während Ps 70 und seine Nachbarpsalmen (vgl. Kap. Iü.7.4) eine Brücke zum Ende des ersten Davidpsalters schlagen, hat Ps 53 eine vergleichbare Funktion in Hinblick auf die erste Psalmengruppe Ps 3-14. Die beiden Teilkompositionen des ersten und zweiten Davidpsalters werden auf diese Weise an ihrem Anfang und an ihrem Ende miteinander verknüpft.171 Dabei macht aber insbesondere die Abweichung von Ps 53,6 gegenüber Ps 14,5f auch das eigenständige theologische Profil des zweiten gegenüber dem ersten Davidpsalter deutlich. Während sich in Ps 14,5f die beiden die Teilkomposition von Ps 3-14 prägenden Themen der Zuflucht-Suche bei Gott und der Klage über die strukturelle Gewalt gegen die Armen widerspiegeln,172 fangt Ps 53,6 die auf die Person Davids ausgerichtete Verfolgungsperspektive des zweiten Davidpsalters ein. Warum Ps 53 trotz seiner Berührungspunkte mit den in 1. Sam 23,7-13 geschilderten Begebenheiten keine biographische Überschrift aufweist, muss allerdings offen bleiben. Möglicherweise wollte der Redaktor, der Ps 53 im Rahmen der Zusammenstellung des elohistischen Psalters mit dem ersten Davidpsalter in seinen jetzigen Kontext einfügte, in die durch die Verknüpfung von Überschriften und Einzelpsalmen erzählte Davidgeschichte des zweiten Davidpsalters nicht noch nachhaltiger eingreifen, als es durch die Einfügung eines zusätzlichen Textes ohnehin schon geschehen war.

Ps 14 und 53 beide auf eine gemeinsame, allerdings nicht mehr rekonstruierbare Vorlage zurückgehen (Die messianische Redaktion, 60). 171 Die These C. RöSELs von einer gemeinsamen Vorlage zu Ps 14 und 53 (vgl. Anm. 170) ließe sich dahingehend erweitern, dass beide Varianten im Zuge der Zusammenstellung des elohistischen Psalters mit dem ersten Davidpsalter in ihren jetzigen Kontext eingefügt wurden, um die beschriebene Verknüpfung zu ermöglichen. Dieser Annahme steht jedoch entgegen, dass Ps 14 sehr eng mit der Psalmengruppe 3-14 verwoben ist (V.l vgl. Ps 10,4; V.2 vgl. Ps 11,4; V.2 vgl. Ps 12,2; V.7 vgl. Ps 3,5.9). Auf diesem Hintergrund ist zu vermuten, dass Ps 14 die Vorlage fllr Ps 53 lieferte und aufgrund seiner in den Kontext von Ps 52-55 passenden Inhalte und Themen in der beschriebenen Überarbeitung in den zweiten Davidpsalter aufgenommen wurde. 172 So das Ergebnis der Analysen von F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER zu Ps 3-14, vgl. Psalmen 5 1 - 1 0 0 , 78.

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52-55

111

Unabhängig von einer möglichen Inspiration durch 1. Sam 23,7ff entwirft V.6 mit dem Motiv des Gottesschreckens und mit dem Bild des die Gebeine zerstreuenden (niDHV HD - vgl. Ps 141,7) und verwerfenden (DSD) Gottes die Vision eines in der Geschichte gegenwärtigen und machtvoll handelnden Gottes. Dass diese Vision nicht nur eine Hoffnung, sondern die sichere Gewissheit des Beters beschreibt, bringt das prophetische Perfekt, in dem diese Sätze gesprochen sind, zum Ausdruck. Während Ps 14,5f im Vergleich Gott sehr viel verhaltener als „im Geschlecht des Gerechten" (p'HS i n n ) und als „Zuflucht" (nono) beschreibt, hält Ps 53,6 dem gottverneinenden Reden und Handeln des das nachdrückliche Bekenntnis zu einem wirkmächtig in die Geschichte eingreifenden Gott entgegen. Durch die sich in V.7 aussprechende Sehnsucht nach der Hilfe Gottes für Israel vom Zion her erhält der Psalm eine neue, zusätzliche Dimension. Ihren eigentlichen und ursprünglichen Ort dürfte diese Schlussbitte im Rahmen der Komposition Ps 3-14 haben, um die sie zusammen mit Ps 3,9b eine Klammer bildet.173 Im Kontext des zweiten Davidpsalters knüpft V.7 an die in Ps 51,20 formulierte Bitte um die Wiederherstellung Zions an. Die kollektive Ausrichtung von V.7 wirkt angesichts der insgesamt individuellen Perspektive der Psalmengruppe 52-55 ungewöhnlich, passt aber zu dem reflektierenden, von individuellem Erleben unabhängigen Charakter von Ps 53. Die Vision eines vom Zion ausgehenden Gottesgerichts, das Israel von feindlicher Bedrückung befreit und das Gottesvolk wiederherstellt,174 hält die Hoffnung auf ein machtvolles und heilbringendes Handeln Gottes fest. Diese Hoffnung entspricht dem durch die Redaktion in beschriebener Weise neu gestalteten V.6. Zusammenfassend lässt sich Ps 53 als weisheitliche Reflexion über das Wesen und das Ergehen des bm beschreiben. Aufgrund der Nähe von V. 1 zu Hos 4,lf; Zef 3,7 und von V.4 zu Mi 3,3; Hab 3,14 schlägt Zenger für den Grundbestand von Ps 14 (V.lb-5) eine spätvorexilische Datierung vor, V.6 schreibt er einer exilischen, V.7 einer nachexilischen Armenredaktion zu.175 Die Entstehung der Variante Ps 53 dürfte dagegen erst auf der Ebene der Zusammenstellung des elohistischen Psalters mit dem ersten Davidpsalter zu verorten sein.176

173 F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER gehen davon aus, dass Ps 3,9b und 14,7 auf eine nachexilische Armenredaktion zurückgehen, die angesichts der gesellschaftlichen Zerklüftung Israels und der Bedrohung durch äußere Feinde die Restitution des Gottesvolkes vom Zion her erbittet, vgl. dies., „Selig, wer auf die Annen achtet" (Ps 41,2). Beobachtungen zur GottesvolkTheologie des ersten Davidpsalters, in: JBTh 7 (1992), 21-50; Psalmen 1-50, 100. 174 Zu der Formulierung mntP HIE? - „die Wende wenden" vgl. Dtn 30,3; Am 9,14; Joel 4,lf; Ps 126,1.4. 175

176

V g l . F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, P s a l m e n 1 - 5 0 , 9 9 f .

Vgl. hierzu den Ausblick in Kap. VI.2.

112

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

3.3 Psalm 54

1 Für den Chormeister. Mit Saitenspiel. Ein Maskil in Hinblick auf David, 2 als die Sifiter kamen und zu Saul sagten: Siehe, David hält sich bei uns verborgen. 3 Gott, durch deinen Namen hilf mir, und mit deiner Macht schaffe mir Recht. 4 Gott, höre mein Gebet, lausche den Worten meines Mundes. 5 Denn Fremde177 sind aufgestanden gegen mich, und Gewalttätige trachteten nach meiner Seele, sie haben Gott nicht vor Augen. Sela. 6 Siehe, Gott ist mir Helfer, mein Herr unter denen, die meine Seele stützen. 7 Es kehre zurück das Böse auf meine Feinde, in deiner Treue vernichte sie.178 8 In Freiwilligkeit will ich dir Opfer bringen, will preisen deinen Namen, JHWH, denn er ist gut. 9 Denn aus aller Bedrängnis hat er mich herausgerissen, und auf meine Feinde hat mein Auge herabgesehen. Der Aufbau von Ps 54 lässt sich wie folgt bestimmen: V . l - 2 : Überschrift V.3-4: Bitte unter Hinweis auf den Namen (Dtf): Elohim V.5: Klage: Die Feinde

177

Das Targum und einige hebräische Handschriften lesen wie in Ps 86,14 • , "H (Vermessene) statt D'H. Diese Lesart erscheint in Zusammenhang mit den parallel stehenden (Gewalttätige) sinnvoller. M. DAHOOD verweist jedoch darauf, dass sich die Zusammenstellung von D'HT und auch in Jes 25,2-3.5 findet und hält aus diesem Grund zu Recht an der masoretischen Lesart fest (Psalms II, 24), ebenso G. RAVASI, Salmi II, 94f. Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund von D'HT vgl. auch die Anmerkungen von D. DHANARAJ, Theological Significance of the Motif of Enemies in Selected Psalms of Individual Lament, Glückstadt 1992, 124f. 178 Das Ketiv der ersten Verbform in V.7 kann als Langform der Präformativkonjugation (21KT - „es wird zurückkehren) oder - unterstützt durch die Lesart des Targum - als Jussiv (niE^ - „es soll zurückkehren") der Wurzel 3127 Qal gelesen werden. Das Qere und die Septuaginta lesen eine entsprechende Form im Hifil („zurückkehren lassen"), die Peschitta schließlich weist einen Adhortativ im Hifil (nn,E?n) auf und interpretiert die Verbform als eine Bitte an Gott. Das in V.7 formulierte Vertrauen in die Wirksamkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs kommt am besten in der Jussiv-Formulierung des Ketiv zum Ausdruck, so dass dieser Lesart - zumal angesichts des folgenden Imperativs - der Vorzug zu geben ist.

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52-55

113

V.6-7: Vertrauensäußerung V.8-9: Gelübde und Danklied unter Hinweis auf den Namen (DE*): JHWH Die biographische Überschrift (V.2) setzt Ps 54 in Beziehung zu den in 1. Sam 23,14—28 erzählten Ereignissen. Als David sich während seiner Flucht vor Saul in der Wüste Sif verbirgt, wird sein Aufenthaltsort von den Sifitern an Saul verraten. Kurz bevor Saul und seine Gefolgsleute David ergreifen können, werden sie durch die Meldung eines plötzlichen Einfalls der Philister jedoch zum Abzug gezwungen. Die Anbindung von Ps 54 an diese Ereignisse ist schon deshalb sinnvoll, weil sich der Beter ähnlich wie David in einer lebensbedrohlichen Notlage befindet. Diese allgemeine Parallele wird intensiviert durch die Stichwortentsprechung zwischen Ps 54,5 (•'tpa: ltipa - „[Gewalttätige] trachten nach meiner Seele") und 1. Sam 23,15 (ltfa: DK üpzb „[Saul zog aus,] um nach seiner Seele zu trachten"). Der Gewissheit des Beters hinsichtlich seiner Rettung entspricht die Erfahrung der tatsächlichen Rettung, die David in 1. Sam 23,26f erlebt. Der eigentliche Psalm beginnt mit einer zweifachen Anrufung Gottes (V.3.4), verbunden mit der Bitte um Hilfe (V.3) und Erhörung (V.4). Träger der erbetenen göttlichen Hilfe - dies macht auch die Anrufung Gottes mit „Elohim" am Anfang von V.3 und 4 deutlich - ist für den Beter der Gottesname ( D E ? ) , in dem sich die Weltbezogenheit und Ansprechbarkeit Gottes manifestiert.179 Der Beter erfleht jedoch nicht nur die göttliche Hilfe und Rettung, sondern ruft Gott als den Richter an, der ihm Recht verschaffen soll (pi). Dabei steht die göttliche „Macht" ( m n : ) als Medium des göttlichen Richtens in Parallele zu „Name" (D3) als dem Träger göttlicher Hilfe. Auf der Ebene des Endtextes der Psalmengruppe 52-55 steht dabei die m m (Macht) Gottes am Beginn von Ps 54 in einer aussagekräftigen Antithese zu dem trügerischen i n j (Held) am Beginn von Ps 52. Auf die Anrufung Gottes folgt in V.5 die mit "O eingeleitete Begründung dieses Bittrufes. Dabei charakterisiert der Beter seine Gegner als o n t (Fremde) und als c s n y (Gewalttätige), die sich gegen ihn erheben. Auch wenn über die Gefuhlslage des Beters (im Vergleich z.B. mit Ps 55) wenig ausgesagt wird, wird hier deutlich, dass dieser sich gegenüber seinen Gegnern unterlegen fühlt, sich nicht auf Augenhöhe mit diesen befindet. Die Feinde ihrerseits haben Gott nicht vor Augen ( D T I B X lots> üb D~i)3b), d.h. sie rechnen nicht mit dem Handeln Gottes in ihrem Gesichtsfeld, in ihrer Wirklichkeit.180 Letzteres Kennzeichen haben sie mit den Gegnern aus Ps 52 und 53 gemeinsam, die sich ebenfalls durch diese Form des praktischen Atheismus auszeich179

Vgl. hierzu H. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 288FF. D. DHANARAJ erkennt in der Dialektik zwischen Gott und den Feinden zu Recht den Ziel- und Höhepunkt des Abschnittes V.3-5 (Theological Significance, 117). 180

114

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

nen. Besonders eng ist dabei die Verbindung zu Ps 52,9a, wo ebenfalls die Wurzel verwendet wird.181 Anders als seine Gegner rechnet der Beter jedoch fest mit dem Eingreifen Gottes, dies macht die Vertrauensäußerung in V.6f deutlich. Eine solche direkte Gegenüberstellung des Nicht-Vertrauens des Gegners mit dem Vertrauen des Beters findet sich in ähnlicher Weise auch in Ps 52,9f. Der Beter beschreibt Gott als seinen Helfer ("iry) und als die Stütze ("[DD) seiner Seele (tfQ]). Dem gewalttätigen Trachten der Feinde nach der tföJ des Beters (V.5) setzt dieser Gott als Stütze eben dieser seiner tf D: entgegen. Dabei verwendet er Termini, die Gottes Fürsorge für die Armen und Elenden beschreiben ("III/ - vgl. 2. Kön 14,26; Hi 29,12; Ps 72,12; 118,7; 10,14; "[DD - vgl. Ps 41,3; 37,17; 119,116; 145,14).182 In diesem Vertrauen formuliert der Beter in V. 7 ganz im Sinne des Tun-Ergehen-Zusammenhangs die Hoffnung, dass sich das Böse, das seine Feinde ihm selbst zugedacht hatten, auf diese zurückwenden möge.183 Dabei macht V.7b deutlich, dass es die Treue und Beständigkeit Gottes (DON) ist, die dem Beter Anhalt für sein Vertrauen gibt. Diese ist neben seinem l o n (Güte, Gnade) das herausragende Wesensmerkmal Gottes in den Psalmen184 und Manifestation seiner Gerechtigkeit. V.8-9 richten den Blick in die Zukunft. Der Beter gelobt, ein Dankopfer in Freiwilligkeit ( n m ) zu bringen. Nach Kraus liegt hier eine feste Opferterminologie vor (vgl. Ez 46,12; Esr 3,5; 2. Chr 31,14), „die offensichtlich eine Abkehr von magisch-mechanistischen Opfervorstellungen impliziert und der Spontaneität menschlicher Gefühle Raum gibt"185. Diese Sichtweise entspricht der Opferkritik von Ps 50, die sich gegen ein vordergründiges Opferverständnis wendet. In der vorliegenden Endgestalt des elohistischen Psalters (und vermutlich bereits auf der Vorstufe der David-Asaf-Komposition Ps 50-83) begegnet somit in Ps 54 in der Idealgestalt Davids ein Beter, der sich ganz und gar angewiesen weiß auf das rettende Handeln Gottes und somit in der Haltung lebt, in die Ps 50 einweisen will. Durch den erneuten Bezug auf den Na181 Es fällt auf, dass V.5 der einzige dreigliedrige Vers des Psalms ist, während alle anderen Verse zweigliedrig sind. Es ist denkbar, dass in V.5c eine Erweiterung vorliegt, die im Kontext der Zusammenstellung von Ps 52 und 54 hinzugefügt wurde - anders dagegen H.-J. KRAUS, Psalmen I, 555. 182 Vgl. auch K. SEYBOLD, Psalmen, 219; E. LIPINSKI, Art. II.2, ThWAT VI;

D . P . WRJGHT / J. MILGROM, Art. "[ÖD II, T h W A T V . 183

Auf der Ebene des Endtextes der Sammlung Ps 52-55 ergibt sich hier durch eine Stichwortverbindung zu Ps 53,7, wo ebenfalls das Verbum DIE? verwendet wird, eine weitere Interpretationsmöglichkeit für Ps 53,7. Wenn Gott das Geschick seines Volkes wendet, so bedeutet dies, dass sich das Böse, das innere und äußere Feinde gegen das Gottesvolk ersonnen haben, gegen diese selbst wenden wird. 184 Vgl. H. SPECKERMANN, Heilsgegenwart, 290f. 185 H.-J. KRAUS, Psalmen 1,557.

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52-55

115

men (Dtf) in V.8b, dem der Lobpreis des Beters gilt, entsteht zusammen mit V.3a ein Rahmen um den Psalm, der deutlich macht, dass es eben die Theologie des Namens ist, in die die Aussagen von Ps 54 eingebettet sind und die das Zentrum des Psalms ausmacht. Weiterhin verbindet der Hinweis auf den Namen zusammen mit der Formel nits "O Ps 54 mit Ps 52,11. Während in Ps 52,11 jedoch nur die Hoffnung auf den Namen Gottes formuliert wird, wird dieser Name in Ps 54,8 innerhalb des zweiten Davidpsalters zum ersten Mal genannt. Im abschließenden V.9 konstatiert der Beter zusammenfassend die Befreiung aus aller Bedrängnis. Seinem uneingeschränkten Vertrauen gibt er an dieser Stelle noch einmal dadurch Ausdruck, dass er die Rettung im prophetischen Perfekt als bereits geschehen beschreibt. Der Gedanke, dass das Auge des Beters seine Feinde besieht, ist dabei Ausdruck des Triumphes, den der ganz und gar auf Gottes Eingreifen vertrauende Beter erfährt. Die Verhältnisse haben sich umgekehrt (vgl. V.5). Nun ist der Beter der Überlegene, der auf die Feinde hinabsieht.186 Auch an dieser Stelle ergibt sich eine Verbindung zu Ps 52, wo die Gerechten das Ergehen des Frevlers ähnlich wie in Ps 54,9 sehen (nxn) und als Machterweis Gottes erfahren und verstehen. Für die Datierung von Ps 54 gibt es nur wenige eindeutige Anhaltspunkte. Die profilierte Namenstheologie, in der sich das Vertrauen in die Präsenz und Ansprechbarkeit Gottes artikuliert, verweist den Psalm jedoch in den Kontext der vorexilischen Tempeltheologie. Für eine vorexilische Datierung spricht auch die in V.7 formulierte, ungebrochene Überzeugung von der Wirksamkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs.187 3.4 Psalm 55 1 Für den Chormeister. Mit Saitenspiel. Ein Maskil in Hinblick auf David. 2 Vernimm, Gott, mein Gebet, und verbirg dich nicht vor meinem Flehen. 3 Achte auf mich und erhöre mich, ich streife umher mit meiner Klage, und ich bin verstört188 4 wegen der Stimme des Feindes, wegen der Bedrängnis des Frevlers, denn sie wälzen auf mich Unheil, und im Zorn feinden sie mich an.189 186

Vgl. hierzu auch D. DHANARAJ, Theological Significance, 120. Für eine vorexilische Datierung sprechen sich auch F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER aus (Psalmen 51-100, 89), anders dagegen H.-J. KRAUS, der die Namenstheologie des Psalms für nachdeuteronomisch hält (Psalmen I, 556). 188 Zu den seltenen Verbformen in V.3b vgl. die Auslegung zu V.3. 189 Das genauere Verständnis von V.4 wird durch einige sprachliche Schwierigkeiten erschwert: n p y ist ein hapax legomenon; H.-J. KRAUS denkt an einen Aramäismus für r n u 187

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

5 Mein Herz bebt in meiner Mitte, und Todesschrecken sind auf mich gefallen. 6 Furcht und Zittern kommen zu mir, und es bedeckt mich Entsetzen. 7 Und ich sprach: Hätte ich doch Flügel wie eine Taube, ich wollte fliegen und Wohnung nehmen. 8 Siehe, ich wollte in die Ferne fliehen, wollte übernachten in der Wüste. Sela. 9 Eilen wollte ich zu meinem Bergungsort, vor dem reißenden Wind, vor dem Sturm. 10 Verderbe, mein Herr, spalte ihre Zunge, 190 denn ich sehe Gewalttat und Streit in der Stadt. 11 Tag und Nacht umkreisen sie diese auf ihren Mauern, und Unrecht und Mühsal (sind) in ihrer Mitte. 12 Verderben (ist) in ihrer Mitte, und es weichen nicht von ihrem Markt Bedrückung und Betrug. 13 Ja, nicht der Feind verhöhnt mich - ich würde es ertragen nicht mein Hasser hat über mich großgetan - ich würde mich vor ihm verbergen - , 14 sondern du bist es, ein Mensch meinesgleichen, mein Freund und mein Vertrauter, 15 die wir miteinander süße Gemeinschaft pflegten, im Hause Gottes wandelten wir im Getümmel 191 . „Bedrängnis" (Psalmen I, 560); K. SEYBOLD liest npVSD - „wegen des Geschrei" (Psalmen 221), ebenso F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 95; L D ^ (hi. von DIO - „wan-

ken") ist in der Verbindung mit )1N - „Unheil" nur schwer verständlich, die Septuaginta liest iißxkivav (= 1D"1) an kfia - „sie wandten mir zu". Das Verbum der masoretischen Lesart hat seinen Ort vor allem im Kontext des Chaoskampf-Motivs, d.h. der Bedrohung der Ordnung Gottes durch das Chaos (vgl. A. BAUMANN, Art. Bio III.l., ThWAT IV). In diese Richtung dürfte auch die in V.4b vorliegende, im Deutschen kaum wiedergebbare Formulierung weisen. Das durch die Feinde drohende Unheil erlebt der Beter als auf ihn einstürzende Chaosfluten . 190 Hinsichtlich des Textbestandes von V.lOa werden in der Literatur die verschiedensten Änderungsvorschläge gemacht (vgl. u.a. H. GUNKEL, Psalmen, 240; H.-J. KRAUS, Psalmen I, 560; M. DAHOOD, Psalms II, 33; K. SEYBOLD, Psalmen, 221). In Betracht gezogen werden dabei im wesentlichen eine vom masoretischen Text abweichende Punktierung von v b l und ibD, sowie - als wirklich gravierender Eingriff in den Konsonantenbestand - die Ersetzung von ' n n durch DJna - „ihre Kehle" (vgl. Gunkel; Kraus). Der masoretische Text ist jedoch problemlos übersetzbar und verständlich. Es sollte daher am masoretischen Text festgehalten werden, auch wenn der Inhalt der Bitte in V. 10a für das subjektive Empfinden mancher Ausleger scheinbar nicht recht in den Kontext passt. Dies gilt umso mehr, da es keine Textzeugen gibt, die diese Änderungsvorschläge unterstützen. 191 Die Bedeutung des hapax legomenon ist umstritten. H. GUNKEL (Psalmen, 240) und im Gefolge H.-J. KRAUS (Psalmen I, 560) lesen stattdessen EFANA - „mit Beben";

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52-55

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16 Es falle der Tod über sie her192, sie sollen hinabsteigen zur Scheol lebendig, denn Bosheit ist bei ihrem Aufenthaltsort, in ihrer Mitte. 17 Ich, zu Gott rufe ich, und JHWH wird mir helfen. 18 Abends und morgens und mittags klage ich und stöhne ich. Und er hat meine Stimme gehört, 19 er hat befreit in Frieden meine Seele aus dem Angriff auf mich, denn viele waren gegen mich. 20 Gott möge hören und ihnen antworten193, er, der thront von Urzeit an, Sela, denn es gibt keinen Wechsel für sie, und sie fürchten Gott nicht. 21 Er hat seine Hände erhoben gegen seine Freunde194, er hat entweiht seinen Bund. 22 Glatt sind die Butterworte195 seines Mundes, aber Angriff ist sein Herz, weicher sind seine Worte als Öl, aber sie sind gezückte Schwerter. 23 „Wirf auf JHWH deine Last, und er wird dich versorgen, er lässt es auf ewig nicht zu, dass der Gerechte wankt." 24 Du selbst, Gott, wirst sie hinabstürzen in die Brunnentiefe der Grube, die Männer der Bluttat und des Betruges, sie werden nicht erreichen die Hälfte ihrer Tage. Ich aber vertraue auf dich. M. KRIEG (Todesbilder, 240) schlägt i m - „eine Weile" vor. Plausibler erscheint jedoch die Lösung von M. DAHOOD (Psalms II, 34) und K. SEYBOLD (Psalmen, 221), die unter Hinweis auf die parallele Stellung von zu 11D, die sich ähnlich auch in Ps 2,lf und 64,3 findet, zu der Bedeutung „Unruhe", „Getöse (einer Menge)" kommen (vgl. auch die Vorstellung in Ps 42,5). 192 Mit Qere ma[X]•,tff', in zwei Worte zu trennen - „der Tod soll über sie herfallen" (vgl. auch H.-J. KRAUS, P s a l m e n 1 , 5 6 0 ; F.-L. HOSSFELD/E. ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 9 5 ) . 193

Die Versionen von Septuaginta und Peschitta deuten die zweite Verbform in V.20a als Hifil von niy II - „erniedrigen". 194 Die masoretische Lesart Vp*?B3 - „gegen seine Friedenszustände" und dürfte als Partizip von Dbvi - „Frieden halten" zu punktieren und im Sinne von „gegen seine Vertrauten" wiederzugeben sein (vgl. Ps 7,5). 195 nkDnD ist hapax legomenon.

118

III- Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Ps 55 lässt sich nur schwer gliedern, die einzelnen Abschnitte sind eng miteinander verzahnt. Eine gewisse Struktur ergibt sich jedoch durch die drei Verwünschungen der Feinde in V.l 0.16.24:196 V.l:

Überschrift

V.2-3a:

Bitte um Erhörung

V.3b-10a: Erste Reflexion Klage: Die Bedrohung des Ichs durch die Feinde (V.3b-6) Lösungsmöglichkeit (Irrealis): Flucht in die Wüste (V.7-9) Verwünschung der Feinde (V.lOa) V.10b-16: Zweite Reflexion Klage: Die Bedrohung der Stadt durch die Feinde (V.10b-12) Klage: Der Freund ist der Feind (V.l3-15) Verwünschung der Feinde (V.l6) V. 17-20: Hoffnung auf Erhörung und Errettung V.21-24: Dritte Reflexion Erneute Klage angesichts des treulosen Freundes (V.21-23) Verwünschung der Feinde und Vertrauensäußerung (V.24) Ahnlich wie Ps 54 beginnt auch Ps 55 in V.2-3a mit den klassischen Elementen eines Klage- bzw. Bittgebetes, Anrufimg Gottes und Bitte um Erhörung. Erste Reflexion (V.3b-10a): In den folgenden Versen (3b-6) beschreibt der Beter seine Seelenlage angesichts der Bedrohung durch nicht näher identifizierte Feinde. Er ist geplagt von einer inneren und äußeren Unruhe197, die in einer hörbaren Klage198 zum Ausdruck kommt. Der Psalmist sieht sich konfrontiert mit Feinden, die er als Gottlose (ytsh) qualifiziert und die ihn mit einer Sphäre des 196

Zur Gliederung von Ps 55 vgl. auch M. KRIEG, Todesbilder im Alten Testament oder „Wie die Alten den Tod gebildet" (AThANT 73), Zürich 1988, 286ff. 197 Das Verbum "PIK von i n „frei umherschweifen" (V.3b) ist im vorliegenden Kontext durchaus sinnvoll, die u.a. bei H.-J. KRAUS (Psalmen I, 560) und K. SEYBOLD (Psalmen, 221) angeführten Änderungsvorschläge sind unnötig, vgl. hierzu auch G. RAVASI, Salmi II, 113. 198 Die Grundbedeutung von rpt2? enthält nach H.-P. MÜLLER (Die hebräische Wurzel IT», in: VT 19, 1969, 361-371) ein „akustisches Moment von gesteigerter Heftigkeit" (370). Hieraus ergibt sich die Frage, ob die mit TPt?3 T I N in Verbindung stehende Form noTW nicht, wie bei den meisten Kommentatoren (vgl. u.a. H.-J. KRAUS, Psalmen I, 560; G. RAVASI, Salmi II, 113; K. SEYBOLD, Psalmen, 220; U. BAIL, Vernimm, Gott, mein Gebet. Ps 55 und Gewalt gegen Frauen, in: H. Jahnow u.a., Feministische Hermeneutik und Erstes Testament, Stuttgart - Berlin - Köln 1994, 67-84, [70]) von Din, sondern von der Wurzel n o n - stöhnen abgeleitet werden sollte. Für diese Annahme spricht auch die Tatsache, dass sich in V.l8 ebenfalls die Verbindung von (Tt? und n o n findet.

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52-55

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Unheils umgeben. Er erlebt die Bedrohung durch die Feinde als eine Bedrohung zum Tode (V.5), die Kräfte des Verderbens, „Todesschrecken" (nio niQ-'N), „Furcht" (nNT), „Zittern" ( i m ) , „Entsetzen" (nis'pa) wirken wie Dämonen,199 die den Beter überfallen (vgl. die Verben "pöl, NI3) und eine Decke (vgl. HDD) des Grauens über ihn breiten. Ein Gegenbild zu dieser Szenerie entwerfen V.7-9. Der Psalmist wünscht sich Flügel wie eine Taube (V.7), um dem Schrecken, der ihn umgibt, entfliehen zu können. Der Bewegung des auf den Beter fallenden Schreckens wird die Bewegung eines auffliegenden Vogels entgegengestellt. Mit dieser Aufund-davon-Bewegung wird jedoch auch das Motiv des Sich-Niederlassens verbunden.200 Der Fluchtort, an den sich der Psalmist wünscht, ist die Wüste201 - ein Ort, der in den alttestamentlichen Texten eine sehr ambivalente Konnotation hat. Einerseits ist die Wüste ein Ort der Gefahr, des Chaos und der Anfechtung, der im Gegensatz zu den sicheren Städten und Dörfern steht.202 Andererseits ist sie ein „Asyl für Ausgestoßene und Flüchtlinge"203, hierher fliehen Hagar, Mose, David oder Elija. Hier begegnen sie Gott bzw. seinen Boten, erhalten Nahrung, Stärkung und Wegweisung. Dass die Wüste für den Beter vor allem diese Bedeutung eines Schutzraumes hat, macht die Rede von einem „Bergungsort" ( u b ö D ) in V.9 deutlich, zu dem der Psalmist vor den Stürmen der Anfeindungen seiner Gegner fliehen will. Mit dem Bild des reißenden Windes wird der Bogen zurückgeschlagen zu den Chaosmotiven in V.4—6. Dass der Beter jedoch nicht ernsthaft erwogen hat, sich in eine konkrete, reale Wüste zu begeben,204 darauf verweist neben dem Satzgefüge des Irrealis in V.7-9 das Bild der Taube. Die im Alten Testament prominenteste Taube dürfte die der Fluterzählung sein (vgl. Gen 8,6ff). Westermann deutet diese Episode als den Versuch, „ein Tier in einer Situation der Not ausfuhren zu lassen, was der Mensch selbst nicht tun kann"205. Die Flucht in die Wüste ist 199

Vgl. M. KRIEG, Todesbilder, 290. Vgl. die Zusammenstellung von „fliegen" (^IV) und „Wohnung nehmen" (piff) in V.7 sowie von „fliehen" ( p m ) und „übernachten in der Wüste" ( u n o n p1?) in V.8. 201 U. BAIL beschreibt in ihrer Analyse von Ps 55 die Wüste zutreffend als Gegenraum. Bezugspunkt ist für sie dabei primär die Stadt als Raum der Gewalt (vgl. V. 10-12), dem die Wüste als Gegenraum gegenüber gestellt wird (Vernimm, Gott, mein Gebet, 73). M.E. sollte jedoch ebenso der oben beschriebene Spannungsbogen zu V.3b-6 gesehen werden. 202 Vgl. S. TALMON, Art. - D I D IV.2., ThWAT IV. 203 A.a.O., 678. 204 Gegen H.-J. KRAUS, der davon ausgeht, dass der Psalmist „ernstlich erwogen habe, sich in die Wüste zu begeben" (Psalmen I, 562). 205 C. WESTERMANN, Mensch, Tier und Pflanze in der Bibel, in: B. Janowski / U. Neumann-Gorsolke / U. Gleßmer (Hrsg.), Gefährten und Feinde des Menschen. Das Tier in der Lebenswelt des Alten Israel, Neukirchen-Vluyn 1993, 93. 200

120

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

für den Psalmisten keine reale Möglichkeit, sondern eine fiktive Gegenbewegung zu dem auf ihn einstürzenden Chaos, hin zu einem ebenso fiktiven Zufluchtsort. Dass die Fiktion keinen wirklichen Trost bietet, zeigen die folgenden Verse, die die Klage mit gleichbleibender Intensität fortführen. Mit der Bitte um die Zerstörung der Sprachgewalt der Feinde wendet sich der Beter in V.lOa erneut an Gott (vgl. V.2). Das Thema der Sprachgewalt der Feinde wird innerhalb von Ps 55 in V.22 erneut aufgegriffen. Zweite Reflexion (V. 10b-16): Statt mit einem Bergungsort sieht sich der Beter konfrontiert mit einem Ort der Gewalt. In V.10b-12206 zeichnet er das Bild einer Stadt207 mit Mauern und Marktplatz, die von Gewalttat (oon), Streit (an), Unrecht (¡IN), Mühsal (bav), Verderben (nun), Bedrückung (-¡n) und Trug (rioio) beherrscht ist. Dass diese Herrschaft eine umfassende ist, die die Stadt ganz und gar durchdringt, macht die Vielzahl der Begriffe deutlich, mit denen die Misstände auf vergleichsweise engem Raum beschrieben werden. Die für eine Stadt wichtigen Orte, die eine Stadt erst zur Stadt machen, Mauern (V.ll) und Marktplatz (V.12), werden exemplarisch als von Gewalt und Unrecht besonders infiziert beschrieben. Ahnlich wie die Kräfte des Verderbens (vgl. V.4-6), die den Psalmisten bedrohen, werden auch die Begriffe der Gewalt in V.10b-12 personifiziert: Gewalttat und Streit umkreisen die Stadt auf ihren Mauern (V.ll); Bedrückung und Betrug weichen nicht von ihrem Markt (V.12). Die Aufgabe von Wächtern, die eine Stadt Tag und Nacht auf den Mauern umkreisen, besteht normalerweise darin, Ausschau nach potenziellen äußeren Feinden zu halten und so den Innenraum der Stadt zu schützen und den Bewohnern ein Leben in Sicherheit zu ermöglichen (vgl. 2. Kön 9,17ff; Ez 33,6). Die Wächter der vom Psalmisten beschriebenen Stadt heißen jedoch „Gewalttat" und „Streit", der Schutzraum Stadt verliert seine Funktion, wird pervertiert. Im Gegenüber zu dem vorangehenden Abschnitt V.7-9 entsteht eine eigentümliche Spannung, die U. Bail als „Topographie der Gewalt(erfahrung)"208 beschreibt. Die eigentlich lebensfeindliche Wüste wird für den Beter zum Zufluchtsort, der Schutzraum Stadt zum Ort der Gefahrdung. 206

Vgl. zu diesem Abschnitt die instruktive Analyse von U. BAIL (Vernimm, Gott, mein Gebet, 71f). 207 G. RAVASI geht davon aus, dass mit der Stadt Jerusalem gemeint ist (Salmi II, 115f). Dagegen ist anzumerken, dass die vom Beter beschriebene Stadt keineswegs näher identifiziert wird. Es ist nicht von der „Stadt Gottes" (vgl. Ps 46,5) oder dem „Berg Zion" (vgl. Ps 48,3) geschweige denn von Jerusalem die Rede. Nichts desto trotz bietet der Text gerade angesichts der intensiven Identifikation des Beters mit der Stadt (vgl. u.a die Stichwortverbindung ¡IN in V.4 und 11 sowie m p n in V.5 und l l f ) die Möglichkeit, V.10b-12 im Sinne einer „relecture" bzw. Neuinterpretation (vgl. u.a. J. BECKER, Israel deutet seine Psalmen, SBS 18, Stuttgart 1966) auf Jerusalem, die Stadt schlechthin, zu beziehen. 208 U. BAIL, Vernimm, Gott, mein Gebet, 71.

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52—55

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Ähnlich wie schon in V.7-9 schließt der Beter in V.13 eine weitere Reflexion im Irrealis an. Obgleich der Beter, wenn man den vorangehenden Versen Glauben schenken darf, die Bedrohung durch seine Feinde als denkbar massiv erlebt, qualifiziert er diese als noch ertragbar, ja fast normal. Der Irrealis in V.13 macht deutlich: Es kommt noch schlimmer. Es gibt einen Aspekt in der Notsituation des Beters, der alles bisher Geschilderte in den Schatten stellt. Dieser Aspekt der Not des Psalmisten wird im Folgenden ausgeführt. Es sind nicht die nicht näher identifizierten Feinde, die den Beter verhöhnen ( f p n pi.) und die gegen ihn großtun (b~n hi.), sondern es ist ein konkreter Freund ("'DI'PN), ein ansprechbares Gegenüber (vgl. den Wechsel von der dritten zur zweiten Person Singular in V.14).209 Dieser Freund bzw. die Beziehung zwischen ihm und dem Beter wird in V.14f beschrieben. Der Freund ist ein Mensch von gleichem Rang wie der Beter selbst (,3~)S/3 tfnx)210 und dessen Vertrauter ( " " S / T D ) . Wie eng und wie bedeutungsvoll die Beziehung zu dem Freund in den Augen des Psalmisten ist, macht ihre Qualifizierung als „süße Gemeinschaft" (~!1D p T t o i H I T ) in V.15a deutlich. Ihren Ausdruck findet diese „süße Gemeinschaft" in der gemeinsamen Teilnahme am kultischen Geschehen im Tempel (V.15b, vgl. Ps 42,5). Der Beter muss jedoch erfahren, dass diese Gemeinschaft im Hause Gottes zerbrochen ist. Auf diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass er in der nun folgenden Verwünschung (V.16) dem Ort der denkbar größten Gottesgegenwart den Ort der denkbar größten Gottesferne, die Scheol, entgegensetzt. Er selbst hat die Bedrohung durch die Feinde als ein Überfallenwerden durch den Tod erlebt (vgl. V.5b) und erwartet bzw. wünscht diesen nun ein Ergehen, das ihrem Tun entspricht. Im Hintergrund dieser Verwünschung dürfte die Vorstellung von einem Gottesgericht stehen, wie es in Num 16,30-33 in Bezug auf die Rotte Korachs geschildert wird.2" Nach der langen Klagepassage (V.3b-16) schlägt der Psalmist in den folgenden Versen (17-20) einen Lösungsweg ein, der in eine deutlich andere Richtung geht als die bisher geäußerten Wunschvorstellungen (V.7-9.13). Dieser Weg wird in einer knapp formulierten These vorgestellt (V.17). Anrufung Gottes und Hilfe Gottes korrespondieren miteinander (vgl. Ps 50,15), bilden eine Einheit, derer sich der Beter gewiss ist. Die parallele Nennung der Gottesnamen Elohim und JHWH unterstreicht dabei zum einen die Identität dieser beiden Größen (vgl. Ps 50,1), zum anderen wird durch die Nennung des 209 Zum Problem der treulosen Freunde als Sondergruppe der Feinde, vgl. O. KEEL, Feinde und Gottesleugner, 132ff; G. RAVASI, Salmi II, 116ff. 210 Vgl. hierzu E. JENNI, Pleonastische Ausdrücke für Vergleichbarkeit (Ps 55,14; 58,5), in: K. Seybold / E. Zenger (Hrsg), Neue Wege der Psalmenforschung, FS W. Beyerlin

( H B S 1), F r e i b u r g u . a . 1 9 9 4 , 2 0 1 - 2 0 6 . 211

V g l . H . - J . KRAUS, P s a l m e n I, 5 6 3 ; G . RAVASI, S a l m i II, 1 1 8 .

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

JHWH-Namens in V.17b die in V.17a konstatierte Ansprechbarkeit Gottes nachdrücklich betont. Wie sehr der Psalmist von der Einheit von Anrufimg und Hilfe Gottes überzeugt ist, wird in V. 18b. 19a deutlich, wo Erhörung und Errettung als bereits geschehen geschildert werden. Die Abfolge der in diesem Zusammenhang genannten Gebetszeiten von Abend, Morgen und Mittag spiegelt eine kultische Zählung aus nachexilischer Zeit wider (vgl. Ex 12,18; Lev 15,5-11; Dan 8,14), nach der der Tag mit dem Vorabend beginnt212. Der einigen Auslegern als schwer verständlich anmutende Text in V.19213 beschreibt zwei Dimensionen des rettenden Handelns Gottes. Die eine beinhaltet - wie zu erwarten - die Rettung vor dem Angriff der Vielzahl der Feinde; die andere, die interessanterweise an erster Stelle genannt wird, bezieht sich auf die innere und äußere Befindlichkeit des Beters. Dieser wird in einen Zustand des Dlbe?, also des Friedens und des Heilseins, versetzt. In V.20 begegnet erneut das Motiv des Hörens und Antwortens Gottes. In Spannung zu der Erhörungs- und Rettungsgewissheit in V. 18b. 19a spricht der Psalmist hier nur von einer Hoffnung. Garant für diese Hoffnung ist der Gott, der von Urzeit an thront (cnp 3En)214. Der Beständigkeit und Unveränderlichkeit Gottes, die in der Partizipialkonstruktion Dlp 3En zum Ausdruck kommt, entspricht allerdings auch eine Unveränderlichkeit im Wesen der Feinde - in diese Richtung zumindest dürfte die schwer verständliche Aussage in V.20b zielen.215 212 Vgl. H . NIEHR, Art. 3 H 7 , T h W A T VI, 3 6 3 ; F.-L. HOSSFELD / E . ZENGER, P s a l m e n 5 1 100, 101.

213

Vgl. die Änderungsvorschläge u.a. bei H. GuNKEL (Psalmen, 241) und H.-J. KRAUS (Psalmen I, 560), die c r m • l n~ip 'O - „denn es nahen sich mir Bogenschützen" lesen oder bei M. DAHOOD (Psalms II), der b'sallem liest und „making payment for my life" übersetzt. H.-J. KRAUS entdeckt im Gefolge von H. GUNKEL (vgl. Psalmen, 238) innerhalb von V.19 eine Bruchstelle, „die das Lied in zwei inhaltlich verschiedene Teile zerfallen läßt" (Psalmen I, 561). Demnach schließt ^ B l QlbtSO iilD den ersten Teil ab. Die Annahme, dass V. 19ab24 den „Rest eines hier fälschlich hineingekommenen Gedichtes" (Gunkel) bilden, begründet Kraus vor allem mit der eigenwilligen Deutung, dass entsprechend seinem Änderungsvorschlag in V.19ab neue Personen („Bogenschützen") eingeführt werden und dass in V.20 arabische Stämme genannt seien. Verzichtet man jedoch auf diese durch keine Textzeugen belegbaren Korrekturen, ist der Text durchaus nicht „sinnlos und entstellt" (H.-J. KRAUS, Psalmen I, 560). Für die Einheitlichkeit der beiden angeblich so unterschiedlichen Lieder V.2a19aa und 19ab-24 spricht demgegenüber das gemeinsame Vokabular (HOTD in V.12 corr 24; njy in V.3 corr 20; DÒttf in V.19a corr 21; nio in V.4 corr 23) sowie der Wunsch nach einem vorzeitigen Tod fllr die Feinde (V. 16.24). 214 Für D l p 3ET ist auch die Obersetzung „Bewohner des Ostens" denkbar, die jedoch eine neue, kaum einzuordnende Größe in den Text einführen würde. Für diese Lesart votieren F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER und werten diese Formulierung als „ein Indiz für den Lebenskontext des Beters" (Psalmen 51-100,101). 215 Dieses vollständige und unveränderliche Durchdrungensein der Feinde von ihrer Gottlosigkeit beschreibt ähnlich auch Ps 53.

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52-55

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Dritte Reflexion (V.21-24): Am Ende von V.20 befindet sich der Beter in einer Situation, die geprägt ist von einer Erhörungshoffhung — aber nicht von einer Erhörungsgewissheit - und von einer illusionslosen Klarheit über das unveränderliche Wesen der Feinde. Auf diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass der Beter trotz der vorangehenden Vertrauensäußerung wieder zurückkehrt zur Klage. Es liegt nahe, anzunehmen, dass die Freundklage in V.21-24 ursprünglich eine Einheit mit V. 13-15 bildete.216 Dennoch ist eine Umordnung der V.2124, wie Krieg sie vollzieht,217 m.E. nicht sinnvoll. Vielmehr sollte die sich im vorliegenden Endtext ergebende Spannung ernst genommen und theologisch ausgewertet werden. Eine glatte und eindeutige Wende von der Klage hin zu Äußerungen uneingeschränkten Gottvertrauens und der Proklamation der geschehenen Rettung ist für den Psalmisten, wie er uns zumindest auf der Endtextebene begegnet, nicht möglich. Auch wenn er sich den klassischen Weg der Vergewisserung „Anrufung Gottes - Erhörung - Rettung" immer wieder selbst vor Augen führt (vgl. V.2f.l7-20a), scheint er sich seiner Sache doch nicht sicher zu sein.218 Zu tief sitzt der Schmerz über den Verrat des Freundes, darauf verweisen in ihrer jetzigen Position die V.21-24. Dieser hat — so die Anklage - Hand angelegt gegen seine Freunde und den Bund219 zwischen sich und dem Beter verletzt. Um das Wesen des heuchlerischen Freundes zu beschreiben, verwendet der Psalmist ein sehr aussagekräftiges Bild: „Glatt sind die Butterworte seines Mundes, aber Angriff ist sein Herz, weicher sind seine Worte als Öl, aber sie sind gezückte Schwerter". Den weichen, fließenden, Nahrung und Wohlstand symbolisierenden Bildern von Butter und Öl werden die scharfkantigen, destruktiven Bilder von Angriff und gezückten Schwertern entgegengestellt. In vergleichbarer Weise wird die zerstörerische Macht des Wortes auch am Beginn der Psalmengruppe 52-55 in Ps 52,4—6 beschrieben. Den Inhalt der vordergründig schönen Worte des zum Feind gewordenen Freundes zitiert V.23.220 Die weisheitliche Sentenz (vgl. Ps 37,5), die eine Ü216

S o K. SEYBOLD, Psalmen, 222; M. KRIEG, Todesbilder, 2 8 7 .

217

Vgl. M. KRIEG, Todesbilder, 2 8 7 .

218

Es mag eine Überinterpretation des Textes sein, aber man kann zumindest die Frage stellen, ob mit dem Verlust der Gemeinschaft im Tempel (V.15) für den Beter auch die Möglichkeit der Gottesvergewisserung im Tempel hinfällig geworden ist. 219 O. KEEL weist zu Recht darauf hin, dass dieser Bund nicht unbedingt im rechtlichen Sinne zu verstehen ist: „Es ist eine ganzheitliche, ganzmenschliche, ein persönliches Mitgefühl und einen ganz persönlichen Einsatz einschließende Größe" (Feinde und Gottesleugner, 134). 220 Viele Ausleger deuten V.23 als Heilsorakel oder Selbstermutigung des Beters (vgl. H.J. KRAUS, Psalmen I, 564; W. BEYERLIN, Rettung, 24; M. KRIEG, Todesbilder, 2 8 8 f ) . O. KEEL

hat jedoch überzeugend nachgewiesen, dass V.23 ähnlich wie Ps 22,8f - wo ebenfalls ein verbum dicendi fehlt - als Zitat der Worte des feindlichen Freundes zu verstehen ist (Feinde

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

berzeugung beschreibt, die eigentlich auch die des Beters ist (vgl. V. 17-19), ist im Munde des verräterischen Freundes zum Hohn geworden, zu einem zynischen Angriff auf das Glaubensfundament des Beters und zu dem Versuch, diesen - entgegen der vordergründigen Aussage von V.23 - doch ins Wanken zu bringen. Auf diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass am Ende des Psalms eine weitere Verwünschung der Feinde steht (vgl. V.10.16). Wie schon in V.16 wünscht der Beter seinen Feinden erneut einen frühzeitigen Tod. Alt und lebenssatt zu sterben wie Abraham (Gen 25,8) oder Hiob (Hi 42,17), ist Ausdruck des Segens Gottes und Ziel des alttestamentlichen Menschen. Der vorzeitige Tod dagegen wird gefurchtet und gilt als Zeichen des göttlichen Gerichts (Ps 102,25). Auch hier ergibt sich eine Verbindung zu Ps 52, wo die Folge trügerischen Redens und Handelns in ähnlicher Weise als ein Entwurzeltwerden aus dem Land der Lebenden (vgl. Ps 52,7) beschrieben wird. Das letzte Wort in Ps 55 hat eine kurze, fast trotzig anmutende Vertrauensaussage, die nun jedoch einen langen Weg durch die Klage hindurch hinter sich hat und dem Beter längst nicht so selbstsicher über die Lippen kommt wie z.B. die Eingangsthese in Ps 52,3b. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mit Ps 55 am Ende der Kleingruppe Ps 52—55 ein in jeder Beziehung vielschichtiger Text steht. Auch wenn die Auswirkungen der Bedrohung auf den Beter sehr bilderreich und anschaulich geschildert werden, bleiben die Feinde an sich doch eher gesichtslos. Ein konkretes Profil erhält nur der verräterische Freund,221 auf den somit auch die Aufmerksamkeit des Hörers bzw. Lesers gelenkt wird. Die Waffen dieses zum Feind gewordenen Freundes sind vor allem seine trügerischen Worte. Dieses Thema der Sprachgewalt des Feindes hat Ps 55 mit Ps 52 gemeinsam. Auch wenn es durchaus möglich ist, Ps 55 als sinnvolle, in sich geschlossene Einheit zu lesen, bleibt festzustellen, dass die in der Klage beschriebenen unterschiedlichen Aspekte der Bedrohung (durch Feinde, innerhalb einer durch Gewalt und Unrecht gefährdeten Stadt, durch einen verräterischen Freund) und Gottesleugner, 143f). Zu diesem Urteil kommen u.a. auch G. RAVASI, Salmi II, 122; U. BAIL, Vernimm, Gott, mein Gebet, 75; K. SEYBOLD, Psalmen, 224; F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 102. 221 Es ist daher nicht verwunderlich, dass die rabbinische Auslegung diesem Freund große Aufmerksamkeit widmet und ihn, indem sie ihn mit Ahitofel identifiziert, zum Ausgangspunkt einer Verortung des Psalms im Kontext des Aufstandes Absaloms (vgl. 2. Sam 15-18) macht, vgl. hierzu A. CH. FEUER / N. SCHERMAN / M. ZLOTOWUZ (Hrsg.), A New Translation with a Commentary Anthologized from Talmudic, Midrashic and Rabbinic Sources. The Art Scroll Tanach Series, Tehillim / Psalms I - II, Brooklyn 19913, 689ff.

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52-55

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nicht zwangsläufig einen inneren Zusammenhang bilden. Es ist durchaus denkbar, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass der Psalm ursprünglich nur einen dieser Aspekte der Not beklagte. Blickt man von Ps 55 als dem Endpunkt der Psalmengruppe Ps 52-55 zurück auf die vorangehenden Psalmen und ihre biographische Verortung, so fällt auf, dass sich zwischen den verschiedenen Aspekten der Bedrohung in Ps 55 und den vorausgehenden Psalmen Berührungspunkte ergeben: In Ps 52 klagt der Beter einen Menschen an, der durch die Überschrift mit dem Edomiter Doeg identifiziert wird und der sich vor allem durch trügerisches Reden auszeichnet. Herausragendes Wesensmerkmal des verräterischen Freundes in Ps 55 sind dessen trügerische Worte. Die Beschreibung seines Redens in Ps 55,22: „Glatt sind die Butter(worte) seines Mundes, aber Angriff ist sein Herz, weicher sind seine Worte als Öl, aber sie sind gezückte Schwerter" ließe sich ebenso als äußerst zutreffende Qualifizierung der verräterischen Worte Doegs in 1. Sam 22,9f verstehen. Dieser sagt zwar vordergründig die Wahrheit, indem er beschreibt, was Achimelech David Gutes getan hat, verschweigt jedoch, dass Achimelech nicht wusste, dass David sich auf der Flucht vor Saul befand. Damit werden seine Worte zu „gezückten Schwertern", für Achimelech und die Priester von Nob im wahrsten Sinne des Wortes (vgl. 1. Sam 22,18f). In Bezug auf Ps 53 wurde die These vertreten, dass sich die Textveränderung von Ps 53,6 gegenüber Ps 14,5f an den in 1. Sam 23,7-13 geschilderten Ereignissen der Belagerung der Stadt Keila durch Saul inspiriert. Nach 1. Sam 23,7-13 sind die Bürger der Stadt Keila bereit, David, der sich in der Stadt aufhält, an Saul auszuliefern. Besonders schwerwiegend wird dieser Verrat aufgrund der Tatsache, dass David die Stadt zuvor aus der Hand der Philister befreit hatte (1. Sam 23,5). In Ps 55,10-12 berichtet der Psalmist von einer Stadt, in der Unrecht, Gewalt und Betrug herrschen. Diese Darstellung lässt sich durchaus als nähere Beschreibung der verräterischen Stadt Keila verstehen. Ps 54 wird durch seine Überschrift in Beziehung gesetzt zu der Erzählung 1. Sam 23,14-28, nach der David, als er sich während seiner Flucht vor Saul in der Wüste Sif verbirgt, von den Sifitern an Saul verraten wird. Das Motiv der Wüste als Bergungsort vor den Feinden findet sich ebenfalls in Ps 55,7-9. Die Möglichkeit der Flucht in die Wüste wird in Ps 55 im Irrealis beschrieben. Dem entspricht, dass David nach l.Sam 23,14ff in der Wüste Sif keinen wirklichen, dauerhaften Bergungsort findet, da die Sifiter ihn verraten. Diese Berührungspunkte geben Anlass zu der Vermutung, dass ein ursprünglicher Kernbestand von Ps 55 mit Blick auf Ps 52-54 derart erweitert wurde, dass sich Ps 55 nun als zusammenfassender Rückblick auf die Ereignisse von 1. Sam 21-23 und damit auch auf Ps 52-54 lesen lässt. Der ursprüngliche Grundpsalm dürfte in V.2-6.17-20.24 vorliegen. Diese Verse

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

bilden ein in sich verständliches Klagelied des Einzelnen mit den für diese Form typischen Kennzeichen: Anrufimg Gottes und Bitte um Erhörung (V.23a); Notschilderung (V.3b-6); Vertrauensbekenntnis (V. 17-20); Verwünschung der Feinde und erneutes Vertrauensbekenntnis (V.24). Der Anlass für die Bearbeitung und Erweiterung dieses Grundbestandes dürfte die durch innere und äußere Unruhe gekennzeichnete Ausgangssituation des Psalms (vgl. das Motiv des klagenden Umherstreifens in V.3) gewesen sein. In einer ähnlichen Situation befindet sich David in 1. Sam 21—23. Auf der Flucht vor Saul streift er mit seinen Männern umher und muss immer wieder seinen Aufenthaltsort wechseln (vgl. 1. Sam 21,11; 22,1.5; 23,13). Der Redaktor, der die Endgestalt von Ps 55 geschaffen hat, hat seine Bearbeitung durch verschiedene Stichwortverbindungen (nono in V.12 corr 24; DlbE? in V.19a corr 21; mo in V.4 corr 23) mit dem Grundbestand verzahnt. Die einzelnen Themen seiner Bearbeitung (Wüste - Stadt - Freund) hat er durch das Motiv der Verwünschung der Feinde, das er aus V.24 aufgenommen hat, miteinander verbunden (vgl. V. 10a. 16). Auf diese Weise ist eine neue Einheit entstanden, die auch als solche lesbar ist. Hinsichtlich der Datierung von Ps 55 ergibt sich auf diesem Hintergrund die Konsequenz, dass Ps 55 in seiner jetzigen Gestalt erst zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt entstanden sein kann, als die Gruppe Ps 52-54 (inklusive der biographischen Überschriften) bereits als Einheit vorlag. Angesichts der zur Entstehung von Ps 53 vorgestellten These, nach der Ps 53 erst im Zuge der Verbindung des bereits abgeschlossenen elohistischen Psalters mit dem ersten Davidpsalter in seinen jetzigen Kontext eingefügt wurde, ergeben sich in Hinblick auf Ps 55 zwei mögliche Modelle: 1. Im Zuge der Zusammenstellung von Ps 52 und 54 wurde der Grundbestand von Ps 55 zunächst mit Blick auf diese beiden Texte durch V.7-9.1316.21-23 erweitert und mit diesen zu einer Einheit verbunden. Nach der Einfügung von Ps 53 wurde auch Ps 55 durch eine weitere Bearbeitung um den Abschnitt V. 10-12 erweitert. 2. Ps 55 wurde in seiner jetzigen Gestalt erst im Zuge der Einfügung von Ps 53 als zusammenfassender Rückblick auf die neu entstandene Trias Ps 52; 53 und 54 geschaffen und ebenfalls in den zweiten Davidpsalter bzw. in den bereits vorliegenden elohistischen Psalter eingefügt. Die abschließenden Überlegungen zur Entstehung und zum Wachstum des zweiten Davidpsalters (Kap. III.9.1) werden zeigen, dass dieses Modell die größere Plausibilität hat.

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52-55

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3.5 Zusammenfassung: Entstehung und theologisches Profil der Psalmengruppe Ps 52-55 Die Analyse der Psalmengruppe Ps 52-55 hat gezeigt, dass Ps 52 und 54 vermutlich ursprünglich in direkter Nachbarschaft zueinander standen.222 Diese Annahme wird durch zahlreiche sprachliche, motivliche und thematische Verbindungslinien zwischen Ps 52 und 54 gestützt. In beiden Psalmen begegnen Feinde, die nicht mit dem Eingreifen Gottes in der Welt rechnen (Ps 52,9; 54,5), ein Beter, der auf eben dieses Eingreifen hofft und dessen Vertrauen in die Wirksamkeit des Zusammenhangs von Tun und Ergehen ungebrochen ist (Ps 52,10; 54,6f) sowie ein Gott, der durch seinen Namen handelt und dem Beter hilft (Ps 52,11; 54,3.8). Das uneingeschränkte Vertrauen in den TunErgehen-Zusammenhang und der Bezug auf den Tempel und den Tempelkult (vgl. Ps 52,10; 54,8) lassen vermuten, dass beide Psalmen in vorexilischer Zeit entstanden sind. Entsprechend der zur Entstehung von Ps 53 und 55 vorgestellten Thesen dürften diese beiden Psalmen erst im Zuge der Verbindung des elohistischen Psalters mit dem ersten Davidpsalter entstanden bzw. in ihren jetzigen Kontext eingefugt worden sein. Unabhängig von der Anbindung an die Person Davids und an die in 1. Sam 21-23 berichteten Ereignisse kann die Kleingruppe Ps 52-55 in ihrer vorliegenden Endgestalt als eine weisheitliche Reflexion223 über das Ergehen der Gottlosen mit einer zunehmenden Bewegung hin zur Klage verstanden werden. Dabei nehmen in Ps 52 und 53 die Beschreibung des Wesens und des Handelns des Gottlosen breiten Raum ein. Während der Ton in Ps 52 von der Ironie und der Emotionalität der direkten Konfrontation des Beters mit dem von ihm angeklagten frevelhaften Redner geprägt ist, tritt der Psalmist in Ps 53 gleichsam einen Schritt zurück und reflektiert ebenso illusionslos wie tiefgründig das Wesen des Gottlosen, den er als bnj qualifiziert. Derartig desillusioniert ändert sich in Ps 54 die Perspektive des Beters. War in Ps 52 der trügerisch redende und handelnde Mensch das angesprochene „Du", wendet sich der Psalmist in Ps 54 an Gott. Neben die reflektierende Beschreibung tritt nun zunehmend die Klage, die Anrufung des Gottesnamens nimmt zunehmend Raum ein. Insgesamt begegnet der Gottesname (DE?) bzw. seine konkrete Nennung in Form des Tetragramms in Ps 52-55 ausschließlich im Kontext von Hoffnungs- und Vertrauensaussagen, die mit der Ansprechbarkeit und der persönlichen Fürsorge Gottes für den Beter rechnen (Ps 52,11; 54,3.8; 55,17.23). Mit dem zentralen Thema der Sprachgewalt des Feindes schlägt 222

Zu diesem Schluss kommen auch W. BEYERLIN, 52. Psalm, 120ff; P. AUFFRET, Voyez de vos yeux. Étude structurelle de vingt Psaumes dont le Psaume 119 (VT.S 48), Leiden 1993, 17f; F.-L. HOSSFELD, Davidsammlungen, 64f. 223 Darauf verweist auch die Ps 52-55 gemeinsame Gattungsangabe b'OÈ'O - „Weisheitslied" in den Überschriften.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Ps 55 den Bogen zurück zu Ps 52. Gleichzeitig wird nun die Klage über die Auswirkungen des unheilvollen Handelns der Feinde auf den Beter zum alles beherrschenden Thema. Wenn Ps 55 und damit die Gruppe Ps 52-55 dennoch mit einer Vertrauensaussage endet (Ps 55,24), so kommt diese dem Beter weniger eindeutig und sicher über die Lippen als die Eingangsthese in Ps 52,3b. Das besondere Profil und die Bewegung der Sammlung Ps 52-55 wird jedoch noch sehr viel deutlicher, wenn man Ps 52-55 als Blick in das Innere des von Saul verfolgten und verratenen David liest und versteht. Die Geschichte, die Ps 52-55 als eine Art „geistliches Tagebuch"224 zu den Ereignissen von 1. Sam 21-23 erzählt, soll im Folgenden nachgezeichnet werden. 3.6 Die in Ps 52-55 erzählte David-Geschichte Wie gesehen, begegnet in Ps 52 ein sehr selbstbewusster Beter, der auf die Wirksamkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs vertraut und die Konfrontation mit dem Bösen, das ihm begegnet, nicht scheut. Dieses Bild passt zu dem jungen David, wie ihn die Erzählung in 1. Sam 21f, mit der Ps 52 durch die biographische Überschrift verbunden wird, beschreibt. David steht erst am Anfang seiner Flucht vor Saul, er ist sich seiner Sache sicher und nimmt sich mit List das, was er braucht (vgl. 1. Sam 21,4—10). Die Erzählung in l.Sam 21f lässt hinsichtlich des Verhaltens Davids einige Fragen offen, die Ps 52 aus den Innenperspektive heraus klärt.225 So ist nach der Darstellung von 1. Sam 21 f das Vorgehen Davids durchaus nicht über alle Zweifel erhaben. Zum einen belügt er Achimelech, indem er behauptet, er sei im Auftrag Sauls unterwegs (l.Sam 21,3), zum anderen unterlässt er es, Doeg zu beseitigen bzw. Achimelech zu warnen, als er jenen entdeckt und wird so mitschuldig an dem Massaker an den Priestern von Nob (vgl. 1. Sam 22,22). Gegen den möglichen Vorwurf, dass David selbst ein Betrüger ist, stellt Ps 52 klar, dass als „trügerische Zunge" und „Trug-Tuender" (Ps 52,4.6) nur deijenige bezeichnet werden kann, der in boshafter Absicht lügt oder einen Teil der Wahrheit verschweigt. Da man David jedoch solch eine niedere Gesinnung nicht vorwerfen kann vielmehr scheint er Achimelech nicht in Gewissenskonflikte bringen zu wollen - ist er über jeden Verdacht erhaben. Hinsichtlich der Frage, warum David Doeg nicht aus dem Weg geschafft hat, wenn er dessen verräterische Absicht ahnte, verweist Ps 52 auf das Vertrauen Davids, dass Gott selbst seinen Widersacher vernichten werde (V.7). Im Vergleich zu Ps 52 begegnet in Ps 53 eher ein nachdenklicher, desillusionierter David, der sich der Verderbtheit der „Menschenkinder" bewusst ist. Als David in 1. Sam 23,12 von Gott erfahrt, dass die Bürger der Stadt Keila 224

So eine - wie mir scheint - sehr zutreffende Formulierung von M. KLEER (Der liebliche Sänger, 113). 225 Vgl. zum Folgenden auch M. KLEER, Der liebliche Sänger, 96FF.

3. Verrat und Verfolgung: Ps 52-55

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bereit sind, ihn an Saul auszuliefern, ist dies bereits der zweite Verrat, den er erleben muss. Nach dem Verrat durch den Edomiter Doeg und dem daraus folgenden Massaker an den Priestern von Nob wollen ihn nun sogar die Bewohner der Stadt Keila, die David vor dem Angriff der Philister gerettet hatte, an Saul ausliefern. Angesichts der Erfahrung und des Wissens, dass „es keinen gibt, der Gutes tut, auch nicht einen" (Ps 53,4), vertraut David allein auf das machtvolle Eingreifen und Handeln Gottes. In Ps 54 sieht sich David jedoch noch einem dritten Verrat ausgesetzt. Seine Erkenntnis, dass alle „Menschensöhne" verdorben sind (Ps 53,4), wird bestätigt. Nicht nur ein Fremder wie der Edomiter Doeg verrät ihn, sondern seine eigenen Landsleute, die Sifiter, werden wie Fremde (Ps 54,5) zu Verrätern. Aus dem selbstbewussten, den Gegner anklagenden David in Ps 52 wird nun zunehmend ein klagender David, der der Hilfe und Unterstützung durch seinen Gott bedarf. Nach 1. Sam 23,14-28 verdankt David seine Rettung einem plötzlichen Einfall der Philister, der Saul zum Abzug zwingt. Im Licht von Ps 54 wird der Eindruck, dass die Bewahrung Davids ihren Grund in einem glücklichen politischen Zufall hat, jedoch korrigiert. Nach Ps 54 ist es allein Gott, der in seiner Treue (nos) aus aller Bedrängnis befreit (V.9). Umgekehrt macht die Erzählung in 1. Sam 23,14-28 aber auch deutlich, dass sich das in Ps 52-55 immer wieder beschworene und erhoffte Eingreifen und Handeln Gottes durch konkrete Menschen wie dem Boten, der Saul die Nachricht vom Einfall der Philister bringt, in durchaus weltlichen Ereignissen vollzieht.226 Mit Ps 55 begegnet am Schluss der Psalmengruppe 52-55 ein David, der die Erfahrung einer andauernden Flucht und des fortgesetzten Verrats in einer eindringlichen Klage vor Gott bringt. Seinen Weg gleichsam zurückgehend erkennt er, dass die Wüste nur eine irreale Fluchtmöglichkeit darstellt, denn auch dort lauert - nach Ps 54 und 1. Sam 23,14—28 - der Verrat. Die scheinbar sichere Stadt ist von Unrecht und Betrug durchdrungen und bietet auch keinen Zufluchtsort. Ebenso haben sich die sanften Worte des angeblichen Freundes als trügerisch erwiesen.227 Von dem selbstbewussten Beter des 52. Psalms scheint an diesem Punkt nur noch wenig übrig geblieben zu sein. Der David des 55. Psalms ist von einer inneren und äußeren Unruhe gekennzeichnet (V.3b) und erlebt die Bedrohung durch seine Gegner als eine Bedrohung zum Tode (V.5). Durch den langen Weg der Klage hindurch gelangt David am 226

Vgl. hierzu auch M. KLEER, Der liebliche Sänger, 98f. Bezieht man die Aussagen über den zum Feind gewordenen Freund in Ps 55 über die Brücke von Ps 52 auf den Edomiter Doeg, ergibt sich hier eine gegenüber der Erzählung in 1. Sam 2 lf neue Interpretation, die Doeg zu einem Freund Davids macht, was den Verrat noch schwerer wiegen lässt. Dem entspricht, dass 1. Sam 21,8; 22,9 Doeg als Aufseher über die Knechte Sauls beschreibt, also als einen Menschen, der - wie Ps 55,14 es ausdrückt - gleichen Ranges ist wie David. 227

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Ende von Ps 55 jedoch zu Vertrauensaussagen (V.20a.24c), die letztlich der Eingangsthese in Ps 52,3b („Die Güte Gottes währt allezeit") entsprechen und doch von anderer Qualität sind, weil sie eben diesen langen Weg hinter sich haben. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kleingruppe Ps 52-55 und die Erzählungen in 1. Sam 21-23 sich gegenseitig interpretieren. Der Leser bzw. Hörer von Ps 52-55 wird eingeladen, den Weg des verfolgten und immer wieder verratenen David aus der Innenperspektive heraus betend mitzuvollziehen. Dies bedeutet nun allerdings nicht, dass Ps 52-55 unverrückbar auf die in 1. Sam 21-23 beschriebene Situation festgelegt sind. Vielmehr bieten sie Betern aller Zeiten, die sich verraten und der Gewalt, insbesondere der Sprachgewalt feindlich gesinnter Menschen, ausgesetzt fühlen, eine Möglichkeit an, ihre Erfahrung in Worte zu fassen und sich zusammen mit David zu einem neuen Vertrauen und einer neuen Hoffnung auf das Eingreifen Gottes durchzuringen.

4. Die Frage nach dem Wort Gottes: Ps 56-60 Eine weitere Kleingruppe innerhalb des zweiten Davidpsalters bilden die Psalmen 56-60, die durch die Charakterisierung als „Miktam" in ihren jeweiligen Überschriften zusammengebunden werden. Eine besonders enge Verbindung erhalten dabei Ps 57; 58 und 59 durch die Notiz nrnm bx, - „Vernichte nicht", die sich in der Überschrift dieser drei Psalmen findet. 4.1 Psalm 56 1 Für den Chormeister. Nach „Taube der fernen Götter". In Hinblick auf David. Ein Miktam, als ihn die Philister in Gat ergriffen. 2 Sei mir gnädig, Gott, denn Menschen stellen mir nach, den ganzen Tag bedrängen sie mich kämpfend. 3 Meine Feinde stellen mir nach den ganzen Tag, ja, viele sind es, die mich bekämpfen... 228. 4 (Am) Tag, (da) ich mich fürchte: Ich, auf dich vertraue ich. 5 Auf Gott, ich preise sein Wort, auf Gott vertraue ich,

228 DUO ist nicht mit dem Text verbunden. Eine Übersicht über die verschiedenen Interpretationsvorschläge, die jedoch alle unbefriedigend bleiben, gibt G. RAVASI, Salmi II, 137f. Es sollte daher auf eine Obersetzung verzichtet werden.

4. Die Frage nach dem Wort Gottes: Ps 56-60

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ich furchte mich nicht: Was kann Fleisch mir antun? 6 Den ganzen Tag kränken229 sie meine Worte, gegen mich (ist) all ihr Sinnen zum Bösen. 7 Sie greifen an, sie lauern, sie, meine Fußspuren beobachten sie, denn sie trachten nach meiner Seele. 8 Trotz des Frevels - (soll es) Rettung für sie (geben)?230 Im Zorn stürze Völker hinab, Gott. 9 Mein Umherirren mögest du aufzeichnen, du, sammle meine Tränen in deinem Schlauch. (Stehen sie) etwa nicht in deinem Buch? 10 Dann werden meine Feinde zurückweichen Am Tag, (da) ich rufe: Dies weiß ich, dass Gott für mich ist. 11 Auf Gott, ich preise das Wort, auf JHWH, ich preise das Wort, 12 auf Gott vertraue ich, ich furchte mich nicht: Was kann ein Mensch mir tun? 13 Auf mir, Gott, (liegen) deine Gelübde, ich will dir Dankopfer darbringen. 14 Denn du hast meine Seele vom Tod errettet, ja, meine Füße vor dem Straucheln, um zu wandeln vor dem Angesicht Gottes im Licht des Lebens. Die Struktur von Ps 56 stellt sich wie folgt dar: V.l: Überschrift Erster Teil der Klage (V.2-5) V.2-3: Bitte um Hilfe und Beschreibung der Notlage V.4-5: Vertrauensäußerung

229 Die Septuaginta liest hier kßSeXvovovro „verabscheuen", die Fassung der Peschitta legt es nahe, an die Wurzel zu denken. Es sollte jedoch am masoretischen Text festgehalten werden, da dieser in sich verständlich ist, vgl. hierzu auch G. RAVASI, Salmi II, 139. 230 Der masoretische Text in V.8a ist nur schwer verständlich, Septuaginta und Peschitta lesen pN statt ¡IN. Da Rekonstruktionsversuche ohne Eingriffe in den Konsonantenbestand nicht auskommen (vgl. z.B. H.-J. KRAUS, der ü b s - „beobachten" statt tabs - „retten" liest, im Sinne von:,Auf ihren Frevel achte!", Psalmen I, 566), sollte der masoretische Text beibehalten und als rhetorische Frage verstanden werden, vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psal-

m e n 5 1 - 1 0 0 , 108.

132

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Zweiter Teil der Klage (V.6-12) V.6-8: Beschreibung der Feinde V.9-12: Vertrauensäußerung Dankgelübde (V. 13-14) Ps 56 wird durch seine Überschrift mit dem Aufenthalt Davids in Gat (1. Sam 21,11-16) in Verbindung gebracht.231 Seine Flucht vor Saul führt David in das Gebiet der Philister, die er zuvor so erfolgreich bekämpft hat. Diese haben nicht vergessen, dass David eine nicht geringe Anzahl Philister auf dem Gewissen hat (vgl. 1. Sam 21,12). Die Furcht Davids, von der innerhalb der Daviderzählungen allein an dieser Stelle (1. Sam 21,13) die Rede ist, ist also mehr als berechtigt. In einer ähnlichen Ausgangssituation befindet sich auch der Beter von Ps 56. In V.9 ist vom Umherirren (~m) des Beters die Rede, in V.4 spricht dieser von seiner Furcht (NTN), um sich dann im Vertrauen auf Gott zur Furchtlosigkeit durchringen zu können (V.5.12). Eine interessante Stichwortentsprechung ergibt sich durch das Verbum bbil (bbn II pi. - „loben" in Ps 56,5.11; bbn III hitpo. - „wahnsinnig sein, sich wahnsinnig stellen" in 1. Sam 21,14). Das eigentliche Gebet beginnt in V.2a mit einer kurzen Anrufung Gottes und der Bitte um Gnade, die in V.2b.3 durch einen Hinweis auf die Feinde des Beters begründet wird. Es fallt auf, dass V.3 die entscheidenden Stichworte aus V.2 (IXE? - nachstellen; Drn bs - den ganzen Tag; nnb - bekämpfen) aufnimmt und variiert. Dabei entsteht eine eigentümliche Spannung durch die unterschiedliche Bezeichnung der Gegner in den beiden sonst nahezu inhaltsgleichen Aussagen in V.2b und V.3. Während V.3 entsprechend dem übrigen aggressiven, kriegerischen Vokabular (r)NE'; nnb; frib) von den Feinden 231 Vgl. hierzu M. KLEER, Der liebliche Sänger, 99; B.S. CHILDS, Psalm Titles, 146; E. SLOMOVIC, Historical Titles, 372. Rätselhaft bleibt die genauere Bedeutung des Überschriftenelements D ' p m ü b « m r bv. Die mit bv zusammengesetzten Elemente einer Psalmenüberschrift werden gewöhnlich als eine Art Melodieangabe gedeutet (vgl. hierzu H.-J. KRAUS, Psalmen I, 26). Eine Übersetzung nach dem masoretischen Text mit „Taube der Verstummung unter Femen" erscheint jedoch wenig sinnvoll. Eine Übersicht über die unterschiedlichen Änderungsvorschläge findet sich bei U. WINTER, Die Taube der fernen Götter in Ps 56,1, in: O. KEEL, Vögel als Boten (OBO 14), Freiburg - Göttingen 1977, 37-78. Winter selbst schlägt eine nur die Vokale betreffende Konjektur vor und ändert 0*7« in P^K, defektive Schreibweise von e r b « (Götter). Die Deutung des sich daraus ergebenden Ausdrucks „Taube der fernen Götter" bleibt jedoch schwierig. Winter deutet die Taube als Symbol der Götter-Boten und weist den kanaanäischen Hintergrund des Ausdrucks nach. Demnach würde die Melodieangabe der Überschrift von Ps 56 auf ein Lied verweisen, das das Motiv der durch eine Taube der fernen Gottheit geschickten Botschaft besingt (vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51100, 106.112). Letztendlich muss die Interpretation dieser Notiz, wie die so vieler anderer auch, aber wohl offen bleiben.

4. Die Frage nach dem Wort Gottes: Ps 56-60

133

( m i t f ) spricht, werden die Gegner in V.2b als Em«, also als hinfallige Menschenwesen (vgl. auch in V.5 und DIN in V.12) qualifiziert. Es scheint, dass der Psalm aus einer Position heraus gesprochen wird, in der der Beter schon darum weiß, dass seine scheinbar so mächtigen Feinde nichts anderes sind als eben solche wie Gras dahinschwindende Menschenwesen (vgl. Ps 103,15; Jes 51,12; Hi 14,l).232 In diese Richtung weist auch die nun folgende Vertrauensaussage in V.4f, die durch ihre Gestaltung mit poetischen Mitteln233 ein besonderes Gewicht erhält. Dabei beschreiben die chiastisch angeordneten Verben n t n - riDnx (V.4) // T i n m - n~pn xb (V.5) eine Art Kausalschema: Die Furcht vor den Feinden fuhrt zum Vertrauen auf Gott, das Vertrauen auf Gott wiederum zur Furchtlosigkeit.234 Dass Gott der einzige Grund für jegliches Vertrauen ist, wird schon durch das zweifache DTibxa in V.5 deutlich. Garant für das in Gott gegründete Vertrauen scheint jedoch sein Wort zu sein, dessen Lobpreis das Zentrum des beschriebenen Chiasmus bildet.235 Auf diesem Hintergrund erscheinen die Feinde nur noch als "ifcn, als sterbliches und hinfälliges Fleisch (vgl. Hi 34,14f; Ps 78,39; Jes 40,6f).236 Dennoch scheint die Frage in V.5b nicht nur rhetorischen Charakter zu haben. Das Bekenntnis des Vertrauens ist nicht endgültig, in V.6ff kehrt der Beter zurück zur Klage und beschreibt erneut das Tun der Feinde. Diese entstellen in verleumderischer und böswilliger Absicht die Worte des Beters. Wie 232 Vgl. hierzu G. RAVASI: „II violento, nonostante il suo apparire bellicoso, è in realtà un vile, un 'enos, un 'adam, è «essere mortale», «essere di terra», «essere di carne» (vv.2.5.12)" (Salmi II, 137). 233 Vgl. die Alliterationen nionx "pbx MN KTN (V.4); Tinton e r r ò Na (V.5) sowie die chiastisch angeordneten Verben furchten - vertrauen (V.4) // vertrauen - nicht fürchten (V.5). 234 Vgl. hierzu auch D. DHANARAJ, Theological Significance, 167f. 235 H. SPIECKERMANN hat überzeugend aufgezeigt, dass in nachexilischer Zeit die Vorstellung vom Wort Gottes - in den Psalmen inspiriert und beeinflusst durch den deuteronomistischen Traditionsbereich, die vorexilische Gerichtsprophetie und die deuterojesajanische Heilsprophetie - es ermöglichte, die wirkmächtige Präsenz Gottes in die jeweilige Gegenwart zu vermitteln: „Gegenüber dem impliziten Anspruch der Gottesrede, auf den gegenwärtigen Zustand durch Gerichts- oder Verheißungswort unmittelbar Einfluß zu nehmen, eröffnet die anfängliche Theologie des göttlichen in den Psalmen eine Dimension der wirkmächtigen Präsenz Gottes, die am göttlichen Wortereignis in Vergangenheit und Gegenwart exemplifiziert werden und daraus zugleich Hoffnung auf zukünftiges Wortgeschehen schöpfen kann" (H. SPIECKERMANN, Rede Gottes und Wort Gottes in den Psalmen, in: K. Seybold / E. ZENGER (Hrsg.), Neue Wege der Psalmenforschung (HBS 1), Freiburg - Basel - Wien 1994, 168). Dieses Verständnis des göttlichen ~ m dürfte m.E. für den vorliegenden Text sehr viel sinnvoller sein als die Annahme eines priesterlichen Heilsorakels, wie W. BEYERLIN sie vorschlägt (vgl. Rettung der Bedrängten, 25f; zur Kritik an Beyerlin vgl. auch D. DHANARAJ, Theological Significance, 178ff). 236 „So sind für "itya kennzeichnend seine Geschöpflichkeit und seine unbedingte Abhängigkeit von Gott, sowie sein irdisches Wesen, seine Schwäche, Unzulänglichkeit und Vergänglichkeit" (N.P. BRATSIOTIS, Art. nfrn, ThWAT I, 862).

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III Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Jäger lauern sie dem Beter auf und verfolgen seine Spur237. Auch wenn es in dieser zweiten Beschreibung der Notlage keine wortgleichen Wiederholungen aus dem Abschnitt V.2-3 gibt, ist die Sinnrichtung eine ähnliche. Die Begriffe INE? („nachstellen") und m i t f (von TIE? - „beobachten", „schauen") in V.2-3 liegen auf einer gedanklichen Linie mit TU („angreifen"), ¡DU („lauern") und 1 3pl/ natf („Fußspuren beobachten") in V.7238. Sie beschreiben eine Szenerie, in der der Beter wie ein gejagtes Tier die Gefahr ahnend, aber nicht wissend, wo genau die gelegten Fallen sich befinden, seinen Feinden wehrlos ausgeliefert ist. Sein Leben ist bedroht, so die zusammenfassende Aussage von V.7b. Dass der Beter das Tun und Trachten der Feinde als eine umfassende und übermächtige Bedrohung erlebt, macht der Bezug auf die Völker (D^I/)239 in der nachdrücklichen Bitte in V.8 deutlich. Wenn er in V.8b den göttlichen Völkerrichter anruft, geraten die zuvor beschriebenen Feinde in die Rolle der Israel bedrohenden Völker. Die Bedeutung, die für das Volk Israel als Ganzes die Bedrohung durch die Völker hat, haben für den Einzelnen die Feinde. So wie die Existenz Israels durch äußere Feinde in Gestalt der Völker gefährdet ist, ist die Existenz des Einzelnen durch seine Feinde bedroht. Die Grenze zwischen Individuum und Kollektiv ist fließend, der Einzelne repräsentiert das Geschick des Ganzen und umgekehrt.240 An diesem Höhepunkt der Feindklage kehrt der Beter mit V.9 zurück zum Bekenntnis seines Vertrauens zu Gott. Dieses Vertrauen formuliert er in zwei aussagekräftigen Bildern. Gott hat sein Elend nicht nur gesehen, sondern er hat es aufgezeichnet in seinem 237

Vgl. hierzu auch O. KEEL, Feinde und Gottesleugner, 104ff. Vgl. hierzu auch D. DHANARAJ, Theological Significance, 169. 239 Zu den verschiedenen Änderungs- und Deutungsvorschlägen hinsichtlich des Bezuges

238

auf die Völker vgl. die Übersicht bei G. RAVASI, Salmi II, 140f; F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER,

Psalmen 51-100, HOf; D. DHANARAJ, Theological Significance, 173ff. 240 Vgl. hierzu den oftmals überraschenden Wechsel von Singular und Plural gerade in poetischen Texten (vgl. z.B. Ps 44; 66; 108). Die nachträgliche Kollektivierung und Nationalisierung von Individualpsalmen ist ein oft beobachtetes Phänomen (vgl. hierzu u.a. J.BECKER, Israel deutet seine Psalmen). Becker bewertet V.8b auf diesem Hintergrund als redaktionelle Neuinterpretation mit kollektivierender Tendenz (Israel deutet seine Psalmen, 64). Es ist denkbar, dass der Wunsch nach Vernichtung der Völker in V.8b im Zuge der Zusammenstellung mit der Volksklage Ps 60 eingefügt wurde bzw. dass in diesem Zusammenhang ein ursprüngliches DTU (Mächtige) in • , Dy (Völker) verändert wurde (vgl. Kap. III.4.6.3). In ähnliche Richtung weisen die Überlegungen von F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, die angesichts der Beobachtung, dass auch Ps 57 und 59 eine Völkerperspektive enthalten, davon ausgehen, dass V.8 „auf jene redaktionelle Hand zurückgeht, die den Cluster der Klage- und Bittgebete Ps 52-59* zusammengestellt bzw. die den Davidpsalter Ps 51-72 geschaffen hat" (Psalmen 51100, 111). Dennoch ist das Motiv der Bedrohung durch die Völker bzw. des göttlichen Völkerrichters durchaus auch auf der Ebene des Einzelpsalms sinnvoll und verständlich, da auf diese Weise die Massivität der Gefährdung des Beters betont wird, vgl. hierzu auch G. RAVASI, Salmi II, 140f.

4. Die Frage nach dem Wort Gottes: Ps 56-60

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Buch. Diese Vorstellung von einem Buch des Lebens und der Geschichte findet sich in nahezu allen späteren Überlieferungen des Alten Testaments (Ex 32,32; Jes 4,3; Dan 7,10; 12,1; Mal 3,1; Ps 69,29; 87,6; 139,16); sie ist Ausdruck des unauslöschlichen Gedächtnisses Gottes.241 Seine Notlage kennzeichnet der Beter mit dem Begriff der für gewöhnlich das unstete Leben der Nomaden beschreibt.242 Dieses erste Bild wird mit dem zweiten durch ein Wortspiel verbunden (13 - „Umherirren", INJ - „Schlauch"). Wie ein Beduine das lebensnotwendige Wasser sorgsam in einem Schlauch verwahrt, so bewahrt Gott die Tränen des Beters. Beide Bilder gehören in den Vorstellungsbereich vom richtenden und Gerechtigkeit schaffenden Handeln Gottes. Das Wissen, dass bei Gott alles sorgsam verwahrt ist und nicht in Vergessenheit gerät, ist dem Beter Trost und Anlass zu der Gewissheit, dass seine Feinde von ihm weichen werden, wenn er nur Gott anruft (V.lOa). Dieses Wissen kann im Alten Testament jedoch auch ganz anders erlebt werden. Im vorliegenden Psalm Ausdruck einer unendlichen Wertschätzung gegenüber dem Leid, erfahrt Hiob dieses alles wahrnehmende und registrierende Beobachten Gottes als eine Art Inquisition, vor der es kein Entrinnen gibt (Hi 7,17-20; 10,5-8; 13,25-27). Mit V.lOb nimmt der Beter das Vertrauensbekenntnis aus V.4-5 auf und variiert es in signifikanter Weise. Die Gegenüberstellung beider Bekenntnisse macht Gemeinsamkeiten und Veränderungen deutlich: V.4-5:

V.10-12: [Dann werden meine Feinde zurückweichen,]

(Am) Tag, (da) ich mich fürchte: Ich, auf dich vertraue ich. Auf Gott, ich preise sein Wort,

am Tag, (da) ich rufe. Dies weiß ich, dass Gott für mich ist. Auf Gott, ich preise das Wort, auf JHWH, ich preise das Wort,

auf Gott vertraue ich, ich fürchte mich nicht: Was kann Fleisch mir tun?

auf Gott vertraue ich, ich fürchte mich nicht: Was kann ein Mensch mir tun?

241

Vgl. G. RAVASI, Salmi II, 133f: „In questo monumentale libro-mastro della storia Dio raccoglie tutti i debarim, cioè le parole e le anzioni dell' umanità. [...] Nel libro di Dio sono segnati i nomi degli amici intimi, i giusti in communione con lui (Es 32,32; MI 3,16; Rm 9,3), sono registrati anche gli ^comunicati', gli oppressori e i persecutori (Sai 69,29; Ap 13,8) e le lacrime che essi fanno versare (v.9 del nostro salmo), sono annotati i segreti progetti di Dio su di noi (Sai 139,16; cf. Sai 87), sono elencate le nostre miserie (Ger 17,1) e i nostri splendori (Ap 20,12), ma soprattutto è inscritto il nostro destino definitivo e perfetto (Is 4,3; Dn 12,1; Le 10,20)". 242 Vgl. G. RAVASI, Salmi II, 132.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Die auffälligsten Varianten enthält der einleitende Teil des Bekenntnisses. Mit einem Wortspiel N " P N - ich fürchte mich (V.4) / i O p N - ich rufe (V.lOb) macht der Beter deutlich, was sich für ihn verändert hat. Mit der Erkenntnis, dass sein Leiden bei Gott aufgehoben ist, weicht die Furcht und gibt dem Wissen (y-p) Raum, dass Gott für ihn ist. Gott wird alle Not wenden, wenn der Beter ihn nur anruft.243 Eine weitere Variante besteht in der scheinbaren Geringfügigkeit eines fehlenden Suffixes.244 Es ist nicht mehr „sein Wort" (V.5), dem Lobpreis zuteil wird, sondern das Wort schlechthin.245 Das Wort ist zu einer eigenständigen Größe geworden, die jedoch unlösbar mit Gott verbunden bleibt - darauf verweist allein schon die Tatsache, dass in diesem kurzen Abschnitt insgesamt viermal die Gottesbezeichnung „Elohim" bzw. der Gottesname „JHWH" vorkommen. Der in V.5 so zentrale Lobpreis des Gotteswortes wird auch in V.l 1 aufgenommen und zusätzlich mit einem expliziten Bezug auf JHWH wiederholt. Das, was in einigen Kommentaren als ,jahwistische Glosse"246 bewertet wird, gibt dem Vertrauensbekenntnis V.10b-12 einen neuen, zusätzlichen Akzent: Der Gott, bei dem alles Leid aufgehoben ist, der Gott, der anrufbar und ansprechbar ist, ist JHWH, der sich am Sinai seinem Volk bekannt gemacht hat. Die abschließende Frage des Vertrauensbekenntnisses, die im Gegenüber zu V.5 nun jedoch endgültig zu einer rhetorischen Frage wird, spricht statt von („Fleisch") von DIN („Mensch") und betont damit in variierender Form erneut die Geschöpflichkeit des Menschen, sein Genommensein von der Erde (nons) und damit seine Hinfälligkeit. Der Beter, der in dieser Weise den Weg von der Furcht zum Vertrauen gegangen ist, bekundet im abschließenden Abschnitt V.l3-14 seinen Wunsch, Gott Gelübde und Dankopfer darzubringen. Damit erweist er sich als ein Mensch, der ganz in der inneren Haltung lebt, in die Ps 50 als Prolog zum zweiten Davidpsalter einweisen will. In seiner Not ruft er zu Gott, erfahrt Rettung (vgl. Ps 50,15) und gibt Gott in Gelübden und Dankopfern die ihm gebührende Ehre (vgl. Ps 50,14.23). Die in V.l4 gegebene Begründung ("D) fasst die Erfahrung des Beters und die Ursache seines Dankes pointiert in dem 243

Diese Erkenntnis entspricht der Maxime des den zweiten Davidpsalter rahmenden Ps 50 (vgl. V.15). 244 Der textkritische Apparat der BHS und in Folge der größte Teil der Übersetzungen und Kommentatoren ergänzen unter Berufung auf V.5 dieses Suffix, vgl. u.a. H.-J. KRAUS, Psalm e n I, 566; G . RAVASI, S a l m i II, 126. 245

Vgl. hierzu H. SPIECKERMANN, Rede Gottes und Wort Gottes, 169ff. Vgl. G. RAVASI, Salmi II, 142; K. SEYBOLD, Psalmen, 227. Der Vergleich mit dem parallelen Abschnitt V.4-5 legt die Vermutung nahe, dass V.l lb auf jene Redaktion zurückgeht, die die beiden Teilkompositionen der Asafpsalmen und des zweiten Davidpsalters zusammengestellt und dabei die spezifische Namenstheologie der Asafpsalmen in den zweiten Davidpsalter mit eingetragen hat (vgl. Kap. II.2 und IV. 1.5). 246

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Kontrastschema von Tod und Leben zusammen. Dabei ist es sicher nicht nur die Rettung vor dem bedrängenden Tun der Feinde, sondern ebenso auch der Weg von der Furcht hin zum Vertrauen, den der Beter als Rettung aus dem Machtbereich des Todes247 und Ermöglichung eines Wandeins im Licht des Lebens (vgl. Hi 33,30) erfahren hat. So bleibt das Bild von der Bewahrung der Füße vor dem Straucheln ganz im Bild des von seinen Jägern gehetzten und verfolgten Wildes (vgl.V.2f.7) und lässt sich gleichzeitig im Sinne von Ps 73,2 als eine Bewahrung vor dem Irrewerden an Gott und seiner Gerechtigkeit verstehen.248 Hinsichtlich der Frage nach der Entstehungszeit von Ps 56 liefert der Psalm selbst nur wenige Anhaltspunkte.249 Angesichts der zentralen Rolle, die das Wort ( i m ) Gottes in diesem Text spielt, liegt es jedoch nahe, an die nachexilische Zeit zu denken.250 Diese Datierung wird jedoch dadurch näher eingegrenzt, dass die Entstehung des Grundbestandes des an der Biographie Davids orientierten vorderen Teils des zweiten Davidpsalters (Ps 51-60*), zu dem Ps 56 konstitutiv hinzugehört, wohl in frühnachexilischer Zeit zu verorten ist (vgl. Kap.m.9.1).

247 Zur Todesmetaphorik im Alten Testament vgl. M. KRIEG, Todesbilder im Alten Testament (AThANT 73), Zürich 1988. 248 Es fällt auf, dass V.14 ähnlich formuliert ist wie Ps 116,8f. Dementsprechend werten der textkritische Apparat der BHS und diesem folgend einige Kommentatoren (u.a. K. SEYBOLD, Psalmen, 227) den Hinweis auf die Bewahrung der Füße vor dem Straucheln als eine Glosse, die durch Ps 116,8 inspiriert ist. M.E. ist die Abhängigkeit jedoch eher andersherum zu sehen. Dafür spricht allein schon die Tatsache, dass Ps 116,8 die gegenüber Ps 56,14 längere Formulierung enthält. Die Aussage in Ps 116,8ab „mein Auge vor den Tränen" findet sich in Ps 56,14 nicht und dürfte eine Anspielung auf Ps 56,9 darstellen. Wenn Ps 116 in seiner Endgestalt dem Verfasser von Ps 56 bereits vorgelegen hätte, stellt sich des Weiteren die Frage, warum die Redaktoren des zweiten Davidpsalter ihrerseits Ps 116 nicht in den Zusammenhang von Ps 56-60 oder zumindest in den unmittelbaren Kontext des zweiten Davidpsalters integriert haben. Ps 116, der die dankbare Reaktion des Menschen auf die erfahrene Rettung durch Gott pointiert als Lieben und Glauben charakterisiert (vgl. hierzu H. SPIECKERMANN, Lieben und Glauben: Beobachtungen in Psalm 116, in: M. Weippert / S. Timm, Meilenstein, FS für H. Donner, Wiesbaden 1995), ließe sich ohne weiteres als die in Ps 56,13 angekündigte Todah lesen und verstehen. Letztendlich bleiben diese Überlegungen jedoch spekulativ. In jedem Fall lässt sich feststellen, dass die Septuaginta die thematische Verbindung zwischen Ps 56 und Ps 116 aufgegriffen und verstärkt hat, indem sie Ps 116 unterteilt hat in Ps 114 ( = 116,1-9 MT, vgl. Ps 56) und Ps 115 (= 116,10-19 MT). 249 Vgl. H.-J. KRAUS, Psalmen I, 566: „Über Ort und Zeit des Bittliedes ist nichts Näheres auszumachen"; F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 111: „Eine genauere Situierung und Datierung des Psalms ist nicht möglich." 250 Vgl. hierzu Anm. 237 bzw. H. SPIECKERMANN, Rede Gottes und Wort Gottes, 167ff.

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4.2 Psalm 57 1 Für den Chormeister. „Vernichte nicht". In Hinblick auf David. Ein Miktam, als er vor Saul in die Höhle floh. 2 Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig, denn bei dir hat Zuflucht gesucht meine Seele, und im Schatten deiner Flügel will ich Zuflucht suchen, bis vorüber ist das Verderben. 3 Ich will rufen zu Gott, dem Höchsten, zu dem Gott, der [die Sache] vollführt über mir. 4 Er wird senden vom Himmel und mich retten, es verhöhnt, der mir nachstellt. Sela. Senden wird Gott seine Güte und Treue.251 5 Meine Seele, inmitten von Löwen will ich mich niederlegen, zu solchen, die Menschenkinder verschlingen. Ihre Zähne sind Spieße und Pfeile und ihre Zunge ein scharfes Schwert. 6 Erhebe dich über die Himmel, Gott, über die ganze Erde deine Herrlichkeit! 7 Ein Netz legten sie meinen Schritten, sie beugten nieder meine Seele252. Sie hoben vor mir eine Grube aus, sie fielen mitten hinein. Sela. 8 Fest ist mein Herz, Gott, fest ist mein Herz, ich will singen und spielen. 9 Wach auf, meine Ehre, wach auf, Harfe und Leier, ich will die Morgenröte wecken.

251 In V.4 dürfte das Versgefuge durcheinander geraten sein. Das Versstück 4c „Senden wird Gott seine Güte und Treue" ist jedoch nicht als sekundäre Hinzufügung auszuscheiden (so H.-J. KRAUS, Psalmen I, 570; G. RAVASI, Salmi II, 156f), sondern hat seinen ursprünglichen Platz vermutlich direkt im Anschluss an V.4a. Diese Annahme legt sich durch die Beobachtung nahe, dass die zentralen Aussagen des Psalms auch an anderer Stelle jeweils am Anfang des Verses zweimal genannt werden (V.2 „Erbarme dich"; V.8 „Fest gegründet"; V.9 „Wache auf). Auf dem Hintergrund dieser Umstellung ist es dann auch sinnvoll - wie in den meisten Kommentaren vorgeschlagen (vgl. u.a. H.-J. KRAUS im Gefolge von H. Gunkel, Psalmen I, 570; G. RAVASI, Salmi II, 157; K. SEYBOLD, Psalmen, 229) - •'tfDl aus V.5a zu V.4 hinzuzuziehen. Es ergibt sich somit für V.4 folgende rekonstruierte Fassung: „Er wird senden vom Himmel und mich retten. Senden wird Gott seine Güte und Treue. Es verhöhnt, der nach meiner Seele trachtet. Sela." 252 Die Übersetzung folgt der Lesart der LXX, die hier 3. Pers. PI. 'ttfQJ 1QQD - „sie beugten nieder meine Seele" statt 3. Pers. Sg. - „er beugte nieder meine Seele" liest.

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10 Ich will dich preisen unter den Völkern, Herr, ich will dir spielen unter den Nationen. 11 Denn groß bis zum Himmel ist deine Güte und bis zu den Wolken deine Treue. 12 Erhebe dich über die Himmel, Gott, über die ganze Erde deine Herrlichkeit! Psalm 57 lässt sich wie folgt gliedern:253 V.l:

Überschrift

V.2-4: Bitte um Gnade und Vertrauensbekenntnis V.4: Güte und Treue V.5: Beschreibung der Notlage V.6: Anrufung V.7: Beschreibung der Notlage V.8-11: Dank- und Loblied V. 11: Güte und Treue V.l2: Anrufung Der in der biographischen Überschrift von Ps 57 erwähnte Aufenthalt Davids in einer Höhle lässt sich sowohl mit 1. Sam 22, lf als auch mit 1. Sam 24,1-23 in Verbindung bringen.254 Aussagekräftige Anknüpfungspunkte ergeben sich jedoch vor allem in Hinblick auf 1. Sam 24,1-23. Ähnlich wie in Ps 56 gibt es auch hier eine etwas eigenwillige, doppeldeutige Stichwortverbindung. Das Nomen ^ID findet sich in Ps 57,2 in der Bedeutung „Flügel" und in 1. Sam 24,5 in der Bedeutung „Zipfel"/„Saum". Weiterhin gibt es einige gedankliche Verbindungen zwischen Psalm und Erzählung. In Ps 57,5 klagt der Psalmist über seine verleumderischen Gegner, deren Zähne Speere und Pfeile und deren Zunge ein scharfes Schwert seien (vgl. zu diesem Bild auch Ps 52,4; 55,22). In ähnlicher Weise muss David sich Saul gegenüber gegen falsche Verdächtigungen zur Wehr setzen („Warum hörst du auf die Worte der Menschen, die sagen: Siehe, David sucht dein Unglück?" - 1. Sam 24,10). So wie die Gegner den Schritten des Beters Netze legen (Ps 57,7), stellt Saul David nach („Aber du [Saul] stellst meinem Leben nach, um es mir zu nehmen" - 1. Sam 24,12). Und schließlich ist das sprichwörtliche Bild von der Grube, 253 Zur Doppelüberlieferung von Ps 57,8-12 in Ps 108,2-6 vgl. Kap. II.4 sowie die Ausführungen zur Aufnahme von Ps 60,7-14 in Ps 108,7-14 in Kap. III.4.5. 254 Vgl. hierzu auch M. KLEER, Der liebliche Sänger, lOOf; E. SLOMOVIC, Historical Titles, 372f.

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die die Feinde dem Beter gegraben haben und in die sie selber hineinfallen (Ps 57,7), ein durchaus treffendes Resümee der in l.Sam 24,1-23 berichteten Begebenheit: Der Verfolger ist dem Verfolgten plötzlich und unerwartet ausgeliefert. Wie Ps 56 beginnt auch Ps 57 mit einer — allerdings zweifachen - Anrufung Gottes O^n), die an die Gnade und das Erbarmen Gottes appelliert.255 Diese Anrufung wird begleitet und begründet durch das Bekenntnis des Beters, dass er seine Zuflucht bei Gott bzw. im Schatten seiner Flügel sucht. Das Bild von den Zuflucht gewährenden Flügeln Gottes (vgl. Ps 17,8; 36,8; 61,5; 63,8; 91,4) ist eng mit den mit dem Wortfeld non - „Zuflucht suchen"256 verknüpften Vorstellungen vom Königtum Gottes257 verbunden und hat somit seinen Ursprung und seine Heimat in der theologischen Konzeption der Tempeltheologie.258 Der Anknüpfungspunkt für dieses Bild findet sich u.a. sicher in den Erfahrungen im Tempelbereich.259 J.F.D. Creach sieht darüber hinaus jedoch insbesondere für den übergeordneten Vorstellungsbereich von der Zuflucht bei Gott einen entscheidenden Bezugspunkt in den Eigenarten und Gegebenheiten der Landschaft Palästinas: „Rocks and cliffs provided shade and shelter as well as retreat from enemies"260. Gerade auf diesem Hintergrund erhält der Interpretationsraum, der durch die Verknüpfung des Motivs der Zuflucht bei Gott mit der Verortung von Ps 57 in der Höhle En Gedi durch die biographische Überschrift entsteht, eine besondere Aussagekraft. Die beiden Elemente interpretie255

Zur Bedeutung der Bitte ''inn vgl. auch F. LINDSTRÖM, Suffering and Sin, 143ff. In dieses Wortfeld gehören nach J.F.D.CREACH u.a. Begriffe wie z.B. m i S D - „Bergfeste"; 3JE7D - „(sichere) Anhöhe"; "IIS - „Fels"; po - „Schild" bzw. die mit Wurzeln wie nt33 - „vertrauen"; brp - „harren", „warten"; nip - „harren", „hoffen"; n a n - „warten"; ~ino - „verbergen" verbundenen Begriffe (Yahweh as Refuge, 22ff). 257 Vgl. hierzu J.F.D.CREACH, Yahweh as Refüge: „It seems relatively clear that to speak of Yahweh as refuge was a way ancient Israel described the auspices of Yahweh's rule as a king" (73). Zum Wortfeld nDn - „Zuflucht suchen" vgl. a.a.O., 22. 258 Zu der Vorstellung Gottes als dem himmlischen König, der im Raum des Tempels gegenwärtig ist, vgl. auch T.N. METTINGER, In search of God, 123ff. 259 Dabei weist O. KEEL (Welt der altorientalischen Bildsymbolik, 170) zu Recht darauf hin, dass sich die „Flügel Gottes" wohl eher auf die Tempeldecke als Manifestation des Himmels und weniger auf die über die Lade ausgeschwungenen Flügel der Cherubim beziehen (so H.-J. KRAUS, Psalmen I, 571), da diese in den Psalmen keine Schutzfunktion haben, sondern als Träger Jahwes erscheinen (Ps 18,11; 80,2; 99,1). 260 J.F.D. CREACH, Yahweh as Refuge, 63. Weiterhin geht Creach davon aus, dass die Vorstellung von der Zuflucht bei Gott und insbesondere die Rede von Gottes Flügeln in enger Verbindung zu dem Bild eines seine Jungen mit ausgebreiteten Flügeln schützenden Vogels steht (vgl. Dtn 32,11). Auf diesen Zusammenhang macht auch O. KEEL aufmerksam und verweist auf zahlreiche ägyptische Darstellungen, in denen vogelgestaltige Götter dem König durch ihre ausgebreiteten Flügel Schutz zuteil werden lassen (Welt der altorientalischen Bildsymbolik, 170f), vgl. auch F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51 -100, 124f. 256

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ren sich gegenseitig: Die Höhle, die David Schutz vor seinen Verfolgern bietet, wird zum Sinnbild für die Zuflucht bei Gott. Gleichzeitig wird jedoch deutlich, dass David seinen Schutzraum letztendlich allein bei Gott sucht. Ohne die Zuflucht bei Gott ist die Zuflucht in der Höhle nutz- und wirkungslos. Der Adressat der Anrufung aus V.2 wird in V.3 noch präziser bekannt gemacht. Der Psalmist nennt ihn ¡rby, den Höchsten - eine Bezeichnung, die mit dem vom Jerusalemer Tempel aus das Chaos bekämpfenden Schöpfergott verbunden ist (vgl. Gen 14,18ff).261 Dieser ist ein Gott (btD, Nton und pv (vgl. u.a. Ps 51,41), weist aber alle Schuld von sich. Anders als der Beter von Ps 51 ist er sich keiner Verfehlung bewusst, der Angriff der Feinde ist in seinen Augen völlig unbegründet. Dementsprechend wendet sich der Beter an den im Tempel thronenden JHWH, Gott Zebaoth, ,

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den Herrn der himmlischen Heerscharen und Garanten der kosmischen Ordnung.289 Wo ein offensichtlich Unschuldiger verfolgt wird, ist diese Ordnung bedroht. Der doppelte Weckruf m i y (V.5b) und nirpn (V.6) erinnert den Herrn und Richter der Welt JHWH Zebaoth an seine Aufgabe, dem unschuldig Verfolgten zu seinem Recht zu verhelfen, und fleht sein wirkmächtiges Eingreifen herbei. Die Nennung des JHWH-Namens als Erweiterung der ebenfalls als Eigenname (status absolutus!) gebrauchten Gottesbezeichnung (ni*02J) CPnbx dürfte wohl durch den parallelen Titel „Gott Israels" inspiriert sein, der die explizite Nennung des Namens des Gottes Israels nahe legt. Mit der Anrede als JHWH, Gott Zebaoth und als Gott Israels ist Gott angesprochen als der Herr der Welt und damit auch als der Retter und Bewahrer Israels vor seinen äußeren Feinden aus den Völkern (D"1!!). Es ist anzunehmen, dass das Motiv des Gerichts über die Völker in V.6.9.12 und 14 auf eine sekundäre, nationalisierende Überarbeitung zurückgeht.290 Trotz solch einer möglichen und wahrscheinlichen Überarbeitung kann der Psalm als Ganzes jedoch nach wie vor als Klage eines Einzelnen gelesen und verstanden werden. Indem sich der Beter an JHWH Zebaoth als den Retter und Bewahrer Israels wendet, gibt er seiner Hoffnung Ausdruck, dass Gott ihn vor seinen Feinden ebenso schützen möge, wie er Israel vor seinen äußeren Feinden bewahrt hat.291 Umgekehrt kann allerdings auch die Gemeinschaft aus dem Vertrauen und der Rettungserfahrung des Einzelnen Zuversicht angesichts kollektiver Unheilserfahrungen gewinnen. Mit V.7 ändern sich die Bilder, mit denen der Psalmist seine Feinde beschreibt. Statt mit kriegerischen Angreifern vergleicht er diese nun mit kläffenden Hunden, die die Stadt durchstreifen.292 Dieses Bild hat einen durchaus ambivalenten Charakter. Einerseits galten Hunde in Israel als gefahrlich, ja 289

Zur Bedeutung und theologischen Heimat des Titels „JHWH Zebaoth" vgl.

T . N . D . METTINGER, In search o f G o d , 1 2 3 - 1 5 7 . 290

So die Auffassung von J. BECKER, Israel deutet seine Psalmen, 59f, vgl. auch K. SEYBOLD, Psalmen, 235; F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 142f. Sollte diese Annahme zutreffend sein, dann dürfte diese nationalisierende Überarbeitung im Zuge der Zusammenstellung mit Ps 60 erfolgt sein (vgl. Kap. II.3), vgl. auch F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, die davon ausgehen, dass die Fremdvölkerperspektive von derjenigen Redaktion in Ps 59 eingetragen wurde, die den zweiten Davidpsalter mit der Asafkomposition Ps 73-83 verbunden und in diesem Zusammenhang auch Ps 60 eingefügt hat (a.a.O.). 291 In diese Richtung weist auch die Interpretation von D. DHANARAJ (Theological Significance, 192f), der das Völker-Motiv jedoch als konstitutives Element des vorliegenden Psalms versteht und eine nationalisierende Überarbeitung, wie Becker sie vermutet, ablehnt. 292 Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER: „ES handelt sich um jene Massen von Pariahunden, die keine Haustiere sind, sondern im Umfeld der Städte hausen. Den größten Teil des Tages liegen sie schlafend herum und am Abend, bei Einbruch der Nacht, beginnen sie ihre Streifzüge und ziehen rudelweise von Abfallhaufen zu Abfallhaufen - ihr bedrohliches Geheule hört man bis weit in die Städte hinein." (Psalmen 51-100, 149).

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sogar als von Dämonen besessen.293 Dieses Verständnis klingt an, wenn der Beter in V.8 das verleumderische Reden der Feinde in bewährter und bekannter Weise (vgl. Ps 52,4; 55,22; 57,5) mit Schwertern vergleicht. Zugleich werden als „Hunde" jedoch auch Menschen bezeichnet, die als unrein (im Kontext der Kultprostitution - vgl. Dtn 23,19), verachtenswert und unbedeutend gelten (vgl. 1. Sam 24,25; 2. Sam 16,9).294 Dieser Konnotation entspricht die Aussage in V.9, dass JHWH über die Feinde des Beters nur lachen und spotten kann (vgl. Ps 2,4).295 Diese vermutlich auch auf eine sekundäre, nationalisierende Überarbeitung zurückgehende Aussage in V.9296 lässt den Angriff der Feinde auf den Beter als einen Angriff auf die Souveränität und Herrschaft Gottes erscheinen. Wie vergeblich dieses Ansinnen ist, zeigt die Reaktion JHWHs. Ebenso wie ein Angriff auf Gott selbst lächerlich ist, wird aber auch dem Treiben der Feinde gegen den Beter kein Erfolg beschieden sein. Dieser weiß sich unter dem Schutz des Gottes, dessen Stärke (ltu - V.10) auch den mächtigsten Feinden (CPTU - V.4) entgegensteht. Das entsprechende Vertrauensbekenntnis in V.10 nimmt den für den gesamten Psalm zentralen Begriff des Schutzes (SJfr) aus V.2 wieder auf. Das Bekenntnis zu Gott als einer Schutzburg (nwo) ist eng mit dem Wortfeld nDn - „Zuflucht suchen" verbunden, das auch in Ps 57 eine entscheidende Rolle spielt. Als geistige Heimat der Grundschicht von Ps 59 erweist sich somit - in ähnlicher Weise wie für Ps 57 - die Konzeption der Tempeltheologie,297 wie sie in vorexilischer Zeit begegnet. Ganz im Sinne eben dieser Sprach- und Gedankenwelt spricht der Psalmist in V.ll von seinem „Gott der Güte" ( n o n TibN), der ihn ins Recht setzt und ihn hinabschauen lässt auf seine Feinde. Von einer eigentümlichen Spannung sind die nun folgenden Vernichtungswünsche gegen die Feinde (V. 12-14) geprägt.298 Einerseits fordert der Beter Gott auf, diese zu zerstreuen (lov:n), 293

Vgl. hierzu O. KEEL, Welt der altorientalistischen Bildsymbolik, 77. Vgl. hierzu M.E. TÄTE, Psalms 51-100. 295 Liest man Ps 59 im Kontext und in direkter Folge von Ps 58, bekommt dieser Aspekt auf dem Hintergrund der Aussagen über die Vergänglichkeit der Frevler in Ps 58 ein noch stärkeres Gewicht. 296 Wenn V.9 auf eine nationalisierende Überarbeitung von Ps 59 im Kontext der Zusammenstellung des zweiten Davidpsalters mit der Asafkomposition Ps 73-83 zurückgeht, dann dürfte auch der Gebrauch des Tetragramms in V.9 auf diesen Vorgang zurückgehen und Ausdruck der spezifischen Namenstheologie der Asafpsalmen sein (vgl. Kap. IV. 1.5), die im Zuge eben dieser Zusammenstellung Eingang in den zweiten Davidpsalter gefunden hat (vgl. Kap. 294

II.2). 297

Vgl. hierzu Anm. 256-258. Diese Spannung lässt sich erklären und auflösen, wenn man V.12.14bc einer nationalisierenden Überarbeitung zurechnet, vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 150; K. SEYBOLD, Psalmen, 235. Die hier vorgestellte Auslegung versucht jedoch den vorliegenden Endtext und die darin enthaltene Spannung theologisch auszuwerten. 298

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niederzustürzen (iDTUm) und zu vernichten (nbri), andererseits steht am Beginn des Abschnitts - gleichsam als Vorsatz - die Bitte, die Feinde nicht zu töten. Die Begründung dieser Bitte, „damit sie mein Volk nicht vergessen" ("QU lrDE^-Dj), bildet zusammen mit V.14b den interpretatorischen Rahmen für den gesamten Abschnitt V.12-14. Die Feinde sollen durch die Macht Gottes ihre Macht verlieren und vernichtet werden. Anders als in dem vorangehenden Ps 58 hat diese Vernichtung ihr Ziel jedoch nicht darin, dass der Gerechte Genugtuung erfährt (Ps 58,11), sondern vielmehr in der Ermöglichung von Erkenntnis (in 1 - V.14). Ahnlich wie die Völker in Ps 46,9-11 aufgefordert werden, die Taten Gottes zu schauen, um ihn daraufhin als Richter der Welt bzw. der Völker anzuerkennen, sollen die Feinde aus ihrer Entmachtung die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen und erkennen, „dass Gott Herrscher ist in Jakob bis an die Enden der Erde". Damit aber wird eine Begrenzung der Vernichtung notwendig. Eine interessante Verbindung zu Ps 58 ergibt sich durch die Vokabel nnn, die sich in Ps 58,5 in der Bedeutung „Gift" und in Ps 59,14 in der Bedeutung „Zorn" findet. Der aufmerksame Hörer bzw. Leser wird durch diese Stichwortverbindung an die Schlange erinnert, die in Ps 58 Sinnbild für den mangelnden Willen zu Einsicht und Erkenntnis ist. Eben diese Erkenntnis soll den Feinden in Ps 59 trotz des vernichtenden Zornes Gottes oder gerade durch diesen ermöglicht werden. Eingebettet in den beschriebenen didaktischen Rahmen wird in V.13 noch einmal das frevelhafte Treiben der Feinde benannt (vgl. V.8). Es sind ihre verlogenen Worte, die - so die Hoffnung des Beters auf sie selbst zurückfallen mögen (vgl. Ps 57,7). Die Beschreibung der Feinde als kläffende Hunde aus V.7 wird in V.15 wiederholt und in V.16 weiter ausgemalt, so dass der Akzent nun verstärkt auf deren nächtlichem Umherstreunen liegt. Diese bedrohliche Szenerie, in der kläffende Hunde auf der Suche nach Futter die ganze Nacht hindurch die Stadt durchstreifen, bildet die Kontrastfolie für das in V.17f folgende, den Psalm abschließende Lobgelübde des Beters. Gegen die Bedrohung der Nacht will er am Morgen sein Loblied anstimmen. Das Motiv des Morgens als Zeit der göttlichen Hilfe und Rettung verbindet Ps 59,17f mit dem Lobgelübde in Ps 57,8-11. Verstärkt wird diese Verbindung durch die Stichworte Tttf - „singen" (Ps 57,8; 59,17) und nor - „spielen" (Ps 57,8.10; 59,18). War es im ersten Teil JHWH, der im Anschluss an das Bild der Hunde (V.7) den Feinden mit Lachen und Spotten begegnete, so ist es nun der Beter, der seinen Feinden sein Vertrauen in die Stärke (tu) und Güte (non) Gottes entgegensetzt.299 Erneut wird das zentrale Motiv der Schutzburg (n32?o) aufgenommen. Der Kehrvers V.18 (par. V.10) erhält durch das Wortspiel motN "p^N - „[...] dir 299

Vgl. die parallele Stellung von nnxi in V.9 und MN1 in V.17, dazu auch D . Theological Significance, 197f.

DHANARAJ,

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will ich spielen" gegenüber motfN "pbx - „[...] an dich will ich mich halten" (V.IO) einen neuen Akzent. Während V.IO noch von der Anspannung und Unsicherheit der Auseinandersetzung mit den Feinden geprägt ist, weicht diese Anspannung in V.18 einem Dank- und Freudenlied an den „Gott der Güte", der in diesem Psalm das letzte Wort behält.300 4.5 Psalm 60 1 Für den Chormeister. Nach „Lilie des Zeugnisses". Ein Miktam. In Hinblick auf David. Zum Lehren, 2 als er stritt gegen Aram-Naharajim und gegen Aram-Zoba und als umkehrte Joab und schlug Edom im Salztal, zwölftausend Mann. 3 Gott, du hast uns verstoßen, du bist in uns eingebrochen, du hast gezürnt, stelle uns wieder her. 4 Du hast erbeben lassen die Erde, du hast sie gespalten; heile ihre Risse, denn sie wankt. 5 Du hast dein Volk Schweres sehen lassen, du hast uns trinken lassen Taumelwein. 6 Du hast gegeben denen, die dich furchten, ein (Feld-) Zeichen, damit sie fliehen können vor dem Bogen. Sela. 7 Damit gerettet werden deine Lieblinge, hilf mit deiner Rechten und antworte uns. 8 Gott hat gesprochen in seinem Heiligtum: Ich will frohlocken, ich will verteilen Sichern, und das Tal von Sukkot will ich ausmessen. 9 Mein ist Gilead und mein ist Manasse, und Efraim ist der Schutz meines Hauptes, Juda mein Herrscherstab. 10 Moab ist mein Waschbecken, auf Edom werfe ich meinen Schuh, Philistäa, jauchze mir zu301.

300 H.-J. KRAUS weist darauf hin, dass es immer noch an einer zureichenden Erklärung fehlt, wie die Varianten von V.18 gegenüber V.IO zu verstehen sind (Psalmen I, 580). Die Tatsache, dass V.18 morx statt moiJN liest, dürfte ihren Grund vermutlich darin haben, dass hier durch redaktionelle Tätigkeit mit dem Verbum not eine Stichwortverbindung zu dem inhaltlich und motivlich eng verwandten Ps 57 (V.8.10) geschaffen wurde. Auf diese Weise ergibt sich neben der Anbindung an Ps 57 die beschriebene aussagekräftige Akzentverschiebung. 301 Viele Ausleger (vgl. u.a. H.-J. KRAUS, Psalmen II, 585f; U. KELLERMANN, Erwägungen zum historischen Ort von Psalm LX, VT 28 (1978), 56-65 (57); G. RAVASI, Salmi II, 225) bevorzugen hier die leichtere Lesart von S und Ps 108,10 und lesen ntfbB S/vnnx

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

11 Wer wird mich bringen zu einer befestigten Stadt, wer geleitet mich nach Edom? 12 Hast nicht du, Gott, uns verstoßen und ziehst nicht aus, Gott, mit unseren Heeren? 13 Wohlan, sei uns Hilfe gegen den Feind, denn nichtig ist Menschenhilfe. 14 Mit Gott werden wir Machttaten vollbringen, und er, er wird unsere Feinde zertreten. Durch das als solches deutlich gekennzeichnete Gotteswort (vgl. die Redeeinleitung in V.8a) zerfallt Ps 60 in drei Teile, so dass sich folgende Gliederung ergibt: V.l-2: Überschrift V.3-7:

Gott hat verstoßen ... V.3-5: Klage V. 6-7: Vertrauen und Bitte

V.8-11: Gott hat gesprochen ... V.12-14: Gott hat verstoßen ... V.12: Klage V.13-14: Bitte und Vertrauen Anders als der Großteil der Ausleger302 versteht die hier vorgeschlagene Gliederung V. 11 als Bestandteil der Gottesrede. Auch wenn in den Psalmen der Wechsel zwischen „Wir" und „Ich" nicht zwangsläufig einen Sprecherwechsel anzeigt und gerade Passagen in „Ich"-Form häufig im Sinne eines kollektiven Ichs zu verstehen sind, fallt doch auf, dass abgesehen von dem zweifelhaften V.ll in den Redepassagen des Volkes konsequent die 1. Pers. PI. gebraucht wird. Der Grund dafür, dass V.l 1 in der Regel nicht als Teil der Gottesrede gesehen wird, dürfte darin liegen, dass die in diesem Vers formulierten Fragen im Munde Gottes eher befremdlich wirken.303 Es mag in der Tat ungewöhnlich sein, dass Gott nach Geleitschutz für seinen Weg nach Edom fragt.

(„über Philistäa will ich jauchzen"). Es sollte jedoch an der schwierigeren, aber durchaus verständlichen Lesart des masoretischen Textes festgehalten werden. 302 Der überwiegende Teil der Auslegungen sieht in dem Sprecher von V.l 1 einen Repräsentanten des Volkes und lässt die Gottesrede dementsprechend mit V.10 enden. Eine Ausnahme bilden hier lediglich die Untersuchungen von G.S. OGDEN, Psalm 60: Its rhetoric, form and function, JSOT 31 (1985), 83-94 und E.S. GERSTENBERGER, Psalms I, 239fF. 303 Vgl. z.B. die Argumentation von F . - L . HOSSFELD / E . ZENGER: „ZU der in V 8-10 so betont gezeichneten Aktivität JHWHs würde es wenig passen, wenn JHWH dann in V 11 um ein Weggeleit (durch wen?) bittet." (Psalmen 51-100, 158).

4. Die Frage nach dem Wort Gottes: Ps 56-60

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Nicht mehr ganz so ungewöhnlich erscheint diese Frage jedoch, wenn man die von G.S. Ogden aufgezeigte Verbindung zwischen Ps 60 und Jes 63,1-6 in die Interpretation einbezieht.304 Diese Verbindung soll am Ende der Analyse von Ps 60 nachgezeichnet werden. Ps 60 wird durch seine Überschrift in Beziehung gesetzt zu den siegreichen Schlachten Davids, wie sie in 2. Sam 8,1—18 geschildert werden.305 Der entscheidende Grund für diese Verbindung dürfte in der Erwähnung der Regionen Moab, Edom und Philistäa (Ps 60,10.11) liegen, die auch im Abschnitt 2.Sam 8,1-18 eine prominente Rolle spielen. Weiterhin liegt mit dem Verbum ~no pi. - „messen" (Ps 60,8; 2. Sam 8,2) eine Stichwortentsprechung vor. Es fallt jedoch auf, dass die Überschrift von Ps 60 eine Auseinandersetzung Davids mit Aram-Naharajim erwähnt, von der in 2. Sam 8,1-18 nichts berichtet wird. Hier dürfte eine Anspielung auf 2.Sam 10 vorliegen. Nach einem Sieg Joabs und Abischais gegen die Ammoniter und Aramäer sammeln sich die Aramäer wieder und Hadad-Eser fuhrt die Aramäer jenseits des Stromes ( i m n nnuo m s - 2. Sam 10,16) zum Kampf heraus. Als David davon erfahrt, versammelt er ganz Israel und schlägt die Aramäer vernichtend. Der erste Klageteil (V.3-7) beginnt mit einer Anrufung Gottes (V.3a), um dann ohne Umschweife in einer Trias von drei Perfektformen auf den Punkt zu bringen, was die Gemeinde bedrängt: Gott hat die Seinen verstoßen (mt), er ist in sie wie in eine Schlachtreihe eingebrochen (fna) und ist in Zorn entbrannt (fps).306 Im Gegensatz zu anderen Klageliedern des Volkes, die ihre Klage bzw. Anklage gegen Gott in ähnlicher Weise artikulieren (vgl. z.B. Ps 44,10.24; 74,1; 79,5; 80,5.13; 85,6), wird in Ps 60 die Tatsache des Verstoßen-Seins lediglich festgestellt. Die klagende Gemeinde fragt weder nach Grund und Dauer des göttlichen Zorns noch setzt sie sich - wie z.B. in Ps 44,18f.21 - gegen eine mögliche Anklage Gottes zur Wehr.307 Dass nicht allein das Volk Israel Opfer des göttlichen Zorns geworden ist, sondern die ganze Erde ( f i x ) macht der folgende V.4 deutlich. Gott, von dem in den Psalmen sonst ausgesagt wird, dass er die Kräfte des Chaos gebannt und die Erde fest gegründet hat (vgl. u.a. Ps 24,2; 89,12; 104,5), hat die Erde

304

Vgl. hierzu G.S. OGDEN, Ps 60, 91f. Vgl. M. KLEER, Der liebliche Sänger, 102ff; B.S. CHILDS, Psalm Titles, 146; E. SLOMOVIC, Historical Titles, 374; R.J. TOURNAY, Psaumes 57, 60 et 108, 6ff. 306 Gleichermaßen einleuchtend wie erhellend vergleicht G.RAVASI diese Trias mit dem „Veni, vidi, vici" Caesars: „Come la celebre sequenza dei perfetti di Cesare Veni, vidi, vici comprime la rapidità della vittoria, il suo carattere ineluttabile e logico, così i tre perfetti di questa dichiarazione [...] esprimono la tragicità della situazione e la sua radice teologica" (Salmi 11,219). 307 Vgl. M. EMMENDORFFER, Der ferne Gott, 165f. 305

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

eben diesen Chaosmächten preisgegeben, wenn er sie erbeben und wanken308 lässt, so dass sie Risse zeigt. Diesem zerstörerischen Gerichtshandeln Gottes stellt die betende Gemeinde in V.3 und 4 jeweils Bitten entgegen, die auf einer gemeinsamen gedanklichen Linie liegen. Gott ist in die Gemeinde eingebrochen und hat die Erde gespalten, beiden hat er Schaden zugefügt, der der Wiederherstellung (ub mitfn - V.3) bzw. Heilung (rrnatf nan - V.4) bedarf.309 Nach dem Blick auf die Erde bzw. den Kosmos in V.4 kehrt die Klage in V.5 wieder zurück zum Volk. Das Volk seines Bundes, das ausdrücklich als „dein Volk" (~|Di?) benannt wird, hat Gott Schweres bzw. Hartes (ntfp) erfahren lassen. Er hat ihm Taumelwein (i"6mn p ) zu trinken gegeben. Das Bild des Taumelweins als Ausdruck des Gerichtshandelns Gottes310 betont wie die vorangehenden Bilder in V.3.4 den alles erschütternden und ins Wanken bringenden Charakter des göttlichen Zorns. Mit V.6 ändert sich der Ton des Psalms deutlich. Der kriegerische Gott, der nach V.l zerstörend in die Reihen seines eigenen Volkes eingebrochen ist, bleibt noch immer Kriegsherr, jedoch unter deutlich anderen Vorzeichen. Denen, die ihn fürchten, hat er ein Feldzeichen errichtet, unter dem sich die der Schlacht Entronnenen sammeln und Schutz suchen können311 vor dem feindlichen Bogen312. In Erinnerung an dieses rettende Handeln Gottes kann die betende Gemeinde, die sich trotz aller gegenteiliger Erfahrung noch immer als Gottesfürchtige (TNJT - V.6) und Lieblinge Gottes ("p-TT - V.7)313 versteht, 308

„Das Erdbeben wurde wohl als elementare Bedrohung erlebt, durch die die Auflösung aller Ordnung in das urzeitliche Chaos in nächste Nähe gerückt wurde." (A. BAUMANN, Art. BIO, THWATIV, 730). 309 M. EMMENDÖRFFER weist zu Recht daraufhin, dass Klage und Bitte in V.3 und 4 komplementär aufeinander bezogen sind und erst zusammen genommen eine Einheit bilden (Der ferne Gott, 165). 310 Der Ausdruck r 6 m n findet sich außer in Ps 60 nur noch in Jes 51,17.22 (DO n b y i n n - Taumelbecher). In ein vergleichbares traditionsgeschichtliches Umfeld gehören jedoch auch Jer 25,15.17 und Ps 75. 311 Vgl. hierzu H.J. FABRY, Art DJ, ThWAT V, 468ff. Von den 21 atl. Belegen des Nomens D3 begegnen 15 Belege in der prophetischen Literatur und zwar gleichermaßen in Gerichtsworten (Jes 5,26; 13,2; 18,3; 30,17; 31,9; Jer 4,6.21; 50,2; 51,12.27) wie auch Heilsworten (Jes 11,10.12; 33,23; 49,22; 62,10). Es ist dementsprechend zu vermuten, dass die Kreise, die hinter Ps 60 stehen, in das Umfeld der späten Prophetie gehören. 312 M. EMMENDÖRFFER macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass offen bleibt, ob es sich hierbei um den Bogen Gottes oder den eines nicht genannten Feindes handelt (Der ferne Gott, 168f). 313 Vgl. hierzu H.-J. ZOBEL, Art. T T , ThWAT III, 474fF. Das Nomen T T ist im Alten Testament nur achtmal belegt, als Objekte der Liebe JHWHs werden genannt der Stamm Benjamin (Dtn 33,12), das Volk Israel (Ps 60,7; Jer 11,15; 12,7) und ein Einzelner (Ps 127,2). Mit der Bezeichnung „Liebling JHWHs" ist die Vorstellung von Sicherheit, Schutz und Schirm für den Einzelnen wie für das ganze Volk Israel verbunden.

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um erneute Hilfe und Rettung bitten (V.7). Diese Hilfe kann nur durch das machtvolle Eingreifen der Rechten ("iro"') Gottes (vgl. u.a. Ex 15,6.12; Ps 44,4; 89,14; 138,7) geschehen. Mit der Bitte um Antwort314 endet der erste Klageteil V.3-7. Die Betenden befinden sich in einer mehr als spannungsreichen Situation. Sie selber sind zum Opfer des kriegerischen Gerichtshandelns Gottes geworden und können doch nur denselben Kriegsherrn um Hilfe und Wiederherstellung anrufen. Im folgenden Abschnitt V.8-11 hat nun Gott selbst das Wort. Erinnert (vgl. die Perfekt-Form i m ) und zitiert wird eine Gottesrede, die in „seinem Heiligtum" ( l E H p n ) ergangen ist. Der bisherigen Darstellung (V.3-7) entsprechend, präsentiert sich Gott in dieser Rede ebenfalls als siegreicher Kriegsheld. Nachdem er sich selbst zum Siegesjubel aufgefordert hat (V.8), kündigt er in der Sprache der Landnahme315 die Verteilung des gewonnenen, im Folgenden angeführten Besitzes an. Dabei repräsentieren Sichern, Sukkot316, Gilead, Manasse und Efraim die Gebiete des Nordreiches und Juda das Südreich. Diese Gebiete gehören dem göttlichen Krieger wie eine Waffenrüstung, Efraim ist sein Schutzhelm und Juda sein Herrscherstab (V.9).317 Die traditionell feindlichen Gebiete von Moab und Edom(vgl. u.a. Ex 15,14; 1. Sam 14,47; 2. Sam 8,2.14; Jes 11,14) werden zum „Waschbecken" (in Anspielung auf die geographische Lage Moabs am Toten Meer) bzw. zur göttlichen „Schuhablage"318 (V.10) degradiert. Philistäa schließlich - der traditionelle Feind an der Meeresküste seit den Zeiten Sauls und Davids - wird dazu aufgefordert, in den göttlichen Jubel einzufallen ( , vmnn). Die Karte, die in diesen Versen vom göttlichen Landbesitz gezeichnet wird, entspricht den Grenzen Israels in den glorreichen Zeiten des davidischen 314 Es ist unverständlich, warum ein Großteil der Ausleger den Imperativ 1J2V1 mit „und erhöre uns" wiedergibt (vgl. u.a. H.J. KRAUS, Psalmen II, 585; K. SEYBOLD, Psalmen, 236; U. KELLERMANN, Psalm LX, 57; M. EMMENDÖRFFER, Der ferne Gott, 162). Eine Übersetzung mit „und antworte uns" entspricht sehr viel eher dem Anklagecharakter des Abschnitts V.3-7 wie auch dem Antwortcharakter des in V.8-10 folgenden Gotteswort (vgl. u.a. M.E.

TÄTE, P s a l m s 5 1 - 1 0 0 , 1 0 0 ; G . RAVASI; S a l m i II, 2 0 9 ; F . - L . HOSSFELD / E . ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 152). 315

Zu pbn-verteilen vgl. u.a. Num 26,53; Jos 18,10; 19,51. Zur Nennung von Sichern und Sukkot vgl. die Ausführungen von F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER: „In jedem Fall hatte die Nennung dieser beiden Ortsnamen seit dem Verlust dieser Region durch den Untergang des Nordreichs starke .emotionale' Konnotationen. Diese zur Zeit der Entstehung und Wiederverwendung des Orakels immer noch unter fremder Vorherrschaft stehenden Orte (und die um sie herum liegenden Regionen) wird JHWH zurückerobern - und seinem Volk als Lebensraum zurückgeben." (Psalmen 51-100, 163). 317 Vgl. hierzu die Ausführungen und Abbildungen bei F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 163 ff. 318 Zum Werfen des Schuhs als Akt der Besitzergreifung vgl. die Hinweise bei H.J. KRAUS, Psalmen II, 589. 316

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III Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Großreiches. Selbst die Vasallenstaaten Moab, Edom und Philistäa werden zu diesem Besitz hinzugezählt. Aber so kraftvoll und optimistisch das Bild auch sein mag, das Gott hier von sich und seinem Handeln entwirft, bei seinen Adressaten verfehlt es doch die erwünschte Wirkung. Auf die Frage, wer den göttlichen Kriegsherrn auf seinem Feldzug nach Edom begleitet, antwortet die betende Gemeinde nicht etwa mit neuer Hoffnung und Zuversicht, sondern stellt vielmehr skeptische Gegenfragen. Die Frage aus V.ll wird an den Fragesteller zurückgegeben - der doppelten „Wer"-Frage (-,o) in V.ll entspricht die doppelte Anrede Gottes mit D T 6 N in V.12. Die Gegenfragen in V.12 knüpfen an die Erfahrung des Verstoßenseins an, die bereits in V.3 beschrieben wurde (vgl. das Verb mr in beiden Versen). Die Fragesteller haben Gott durchaus als Kriegsherrn erlebt, aber eben als einen, der nicht mit ihren Heeren auszieht (V.12b - vgl. Ps 44,10), sondern sich vielmehr gegen sie gewandt hat. Diese Erfahrung ist stärker als das siegesgewisse Gotteswort. Die Anklage, dass Gott sein Volk verstoßen hat, bleibt bestehen und wird durch die erneute Wiederholung verstärkt (V.12a). Mit der Imperativ-Form nnn, die angesichts des Kontextes gleichermaßen eine Aufforderung an Gott wie auch eine Selbstermunterung der betenden Gemeinde darstellt, wird in V.13 dennoch zu einer Bitte übergeleitet, die in V.14 schließlich in ein Bekenntnis der Zuversicht mündet. Wenn trotz allem Gott um Hilfe (mrs/) gegen den Feind gebeten wird, so liegt der Grund in der der Prophetie, aber ebenso auch den Psalmen vertrauten Erkenntnis, dass alle menschliche Hilfe nichtig und trügerisch (Nlty) ist (vgl. Jes 31,1; Ps 118,8f; 146,3f). Nach dem Vorangegangenen dürfte es also weniger das positive Wissen um die Verlässlichkeit der göttlichen Heilszusage, als vielmehr diese Negativerkenntnis sein, die zu dem Vertrauensbekenntnis in V.14 fuhrt. Wenn Menschenhilfe nichtig ist, dann gibt es - trotz aller gegenteiligen Erfahrung keine andere Alternative, als auf das machtvolle Handeln Gottes zu hoffen. Auch wenn das Geschehen, auf das die betende Gemeinde zurückblickt, das Gotteswort in V.8-10 offensichtlich Lügen straft, kann und will sie nicht anders, als Gott bei genau diesem Wort zu nehmen. So steht am Ende dieses Psalms, dem das Eintreten Gottes für sein Volk so zweifelhaft geworden ist, dass selbst ein Gotteswort nicht ausreicht, diese Zweifel zu zerstreuen, das Bekenntnis, dass eben dieser Gott allein die Feinde zertreten wird.319 Mit der 319 M. EMMENDÖRFFER (Der ferne Gott, 173) weist zu Recht daraufhin, dass im Gegensatz zu den Aussagen von Ps 44,6, nach denen die Beter mit Hilfe JHWHs die Feinde niedertreten werden, in Ps 60,14 allein Gott der Handelnde ist. Der Vergleich dieser beiden Aussagen macht die Radikalität der angesichts der vorangegangenen Anklage erstaunlichen Vertrauensäußerung deutlich. Auch wenn durchaus auch von eigenen Machttaten ( ' m riEW)) die Rede ist, bleibt doch das entscheidende Tun, die Niederwerfung der Feinde, Gott vorbehalten. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass sich mit eben diesen Machttaten (^Tl), die die betende Gemeinde mit Gottes Hilfe zu tun hofft, eine Stichwortverbindung zu Ps 59,12 ergibt.

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betonten Voranstellung von • , n'?N in V.14a wird das Vertrauensbekenntnis rückgebunden an die einleitende Anklage Gottes in V.3 und das Gotteswort in V.8, an deren Beginn jeweils ebenso prononciert diese Gottesbezeichnung steht. Anklage und Hoffnung ruhen gleichermaßen auf dem einen Gott, der in seinem Heiligtum gesprochen und seine Herrschaft über die Feinde Israels verkündet hat. Hinsichtlich der Datierung von Ps 60 konzentrieren sich die Vorschläge innerhalb der neueren Exegese zunehmend auf die exilische bzw. nachexilische Zeit.320 Für eine Entstehung in exilischer Zeit spricht neben der grundlegenden, sich in Ps 60 artikulierenden Erfahrung des Verstoßenseins durch Gott vor allem die prominente Rolle, die Edom in dem Psalm spielt. Die in V. 10.11 zum Ausdruck kommende antiedomitische Haltung resultiert nach U. Kellermann aus dem Verrat der Edomiter, die in der Situation von 587 v. Chr. als ursprüngliche Verbündete Zedekias auf die Seite der Babylonier wechselten.321 Die Kreise, in denen Ps 60 entstanden ist, dürften im Umfeld der Prophetie zu suchen sein. Hierfür sprechen neben der Wiedergabe des Gotteswortes in V.10-11 die prophetischen Motive in V.5.6 und 13. Dabei legen die skeptisch-kritischen Aussagen von Ps 60 die Vermutung nahe, dass sich diese Kreise möglicherweise in Auseinandersetzung befanden mit einer für ihre Begriffe allzu vorschnellen und optimistischen Heilsprophetie. Gleichzeitig weist Ps 60 eine gewisse Nähe zu den Asafpsalmen 73-83 auf. Diese Nähe entsteht vor allem durch das Element der Gottesrede in V.8-11 (vgl. Ps 75,3ff; 81,7ff; 82,2fi), aber auch durch die Klage bzw. Anklage, dass Gott sein Volk verstoßen habe (vgl. Ps 74,1; 77,8ff) bzw. diesem zürnt (vgl. Ps 79,5; 80,5) sowie durch das Motiv des Taumelbechers (vgl. Ps 75,9). In einem ähnlichen Kontext wie in Ps 60,14 ist hier von der Vernichtung der Feinde durch die Macht d ^ n a ) Gottes die Rede. 320 Für die Exilszeit plädieren u.a. M.E. TÄTE (Psalms 51-100, 104); G. OGDEN (Psalm 60, 91); U. KELLERMANN (Psalm LX, 64) und mit Vorsicht H.-J. KRAUS (Psalmen II, 587). Für eine nachexilische Entstehung spricht sich M. EMMENDÖRFFER (Der ferne Gott, 164) aus. Eine Differenzierung hinsichtlich der Entstehung der einzelnen Psalmenteile schlagen K. SEYBOLD (Psalmen, 237) sowie F.-L. HOSSFELD/E. ZENGER (Psalmen 51-100, 159ff) vor. Demnach stellt die aus V.8-14 bestehende, aus spätvorexilischer Zeit stammende Primärgestalt des Psalms ein Bittgebet angesichts eines bevorstehenden Feldzuges gegen Edom dar, das ein aus der Zeit Joschijas stammendes Orakel (V.8-10) aufnimmt. Dieses vorexilische Königsgebet wurde in nachexilischer Zeit durch Vorschaltung von V.3—7 zu einer Volksklageliturgie erweitert. Diese Entstehungshypothese beruht allerdings im Wesentlichen auf der Einschätzung, dass V.3-7 und V . l l - 1 4 unterschiedliche Not- und Konfliktsituationen (V.3—7: allgemeine, umfassende Not; V.l 1-14: Konflikt Juda - Edom) voraussetzen. Dieses angebliche unterschiedliche Profil von V.3-7 und V.l 1-14 ist jedoch hinfällig, wenn man V.l 1 - wie hier vorgeschlagen - mit zum Gotteswort V.8ff hinzurechnet. Von einem zweistufigen Wachstum (V.8-10 Primärpsalm; V. 3-7.11-14) geht auch G. RAVASI (Salmi II, 212ff) aus. 321 Vgl. U. KELLERMANN, Psalm LX.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

4.5.1 Psalm 60 und seine Interpretationen a) Jesaja 63,1—6 Wie angekündigt, soll am Ende dieses Durchgangs durch Ps 60 das Augenmerk auf die von Ogden aufgezeigte Verbindung zwischen Ps 60 und Jes 63,1-6 gerichtet werden322 Dieses zur Botschaft Tritojesajas gehörige Orakel kann als Antwort auf die Klage von Ps 60 gelesen werden. In dem als Wechselrede zwischen einem nicht näher definierten Sprecher und JHWH gestalteten Orakel wird beschrieben, wie der triumphierende Kriegsherr JHWH in roten Kleidern von Edom bzw. Bosra zurückkehrt. Befragt nach dem Rot seines Gewandes erklärt JHWH, dass er allein, ohne einen Helfer (V.5) die Völker zertreten hat, wie man die Kelter tritt. Die Verbindungslinien zwischen Ps 60 und Jes 63,1-3 bestehen in einigen signifikanten Stichwortentsprechungen und formalen Parallelen. Zum einen sind beide Texte als Wechselrede zwischen Gott und einem Sprecher bzw. einer Gemeinschaft von Sprechern gestaltet. Der Wer (,D)-Frage in Ps 60,11 entspricht die Wer-Frage in Jes 63,1. In beiden Fragen spielt Edom eine entscheidende Rolle. Dabei hat der Verfasser von Jes 63,1-6 die befestigte Stadt ("iiso) aus Ps 60,11 aufgenommen und als die ähnlich klingende edomitische Stadt Bosra ( m m o ) interpretiert. Auf der Ebene der Stichwortentsprechungen fallt auf, dass die abschließende Bitte in Ps 60,13 von nichtiger Menschenhilfe (DIN nyitfn) spricht, während in der Selbstvorstellung JHWHs in Jes 63,1 davon die Rede ist, dass JHWH mächtig ist zu helfen (iTEhnb m - vgl. auch Jes 63,5). Als ein weiterer Terminus für „Hilfe" begegnet die Wurzel in/ in beiden Texten (Ps 60,13; Jes 63,5). Die Vertrauensäußerung in Ps 60,14 formuliert die Hoffnung, dass Gott die Feinde der Beter zertreten (DD1) werde. Dieses im AT seltene Verb323 begegnet auch in Jes 63,6. Wichtige gemeinsame Motive sind außerdem der Zorn Gottes, der sich in Ps 60 gegen sein eigenes Volk richtet (V.3), in Jes 63 indessen gegen die Völker (V.3.6), sowie das Motiv der Trunkenheit, die in Ps 60 ebenfalls das Volk Gottes trifft (V.5), in Jes 63 jedoch die Völker (V.6). K. Koenen geht in seiner Untersuchung zu Tritojesaja davon aus, dass Jes 63,1-6 ebenso wie Jes 59,15b-20 auf den Redaktor des Tritojesajabuches zurückgeht, der mit diesen beiden Texten eine Klammer um die Heilsankündigung der Kapitel 60-62 legen wollte.324 Es fällt auf, dass Jes 59,15b-20 in ähnlicher Weise wie Ps 60 von dem Kriegsherrn JHWH und dessen Waffenrüstung spricht. Es ist dementsprechend gut denkbar, dass der Verfasser dieser 322

Vgl. hierzu G.S. OGDEN, Ps 60,91 f. Neben den beiden hier behandelten Stellen findet sich die Wurzel D13 lediglich in Ps 44,6; Prov 27,7; Jes 14,19.25; Jer 12,10). 324 Vgl. K. KOENEN, Ethik und Eschatologie im Tritojesajabuch. Eine literarkritische und redaktionsgeschichtliche Studie (WMANT 62), Neukirchen-Vluyn 1990, 83ff. 323

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beiden Rahmentexte bei Tritojesaja Ps 60 vor Augen hatte und insbesondere Jes 63,1-6 als eine Art Antwort auf die Anklage von Ps 60 verfasst hat. In Ps 60 antwortet die betende Gemeinde auf die Siegesgewissheit des göttlichen Kriegsherrn und dessen Frage, wer ihn auf seinem Zug nach Edom begleitet, mit skeptischer Zurückhaltung und dem Vorwurf, dass Gott sie verstoßen habe und eben nicht mit ihren Heeren auszieht. Dieser Skepsis setzt Jes 63,1-6 die Beschreibung der triumphalen Rückkehr JHWHs von eben diesem Kriegszug nach Edom entgegen, den dieser - obgleich allein und ohne Unterstützung (V.5) - erfolgreich beendet hat. Die Bitte, mit der Ps 60 endet, hat JHWH erfüllt. Er hat die Feinde seines Volkes zertreten (Jes 63,3.6). b) Psalm 108 Eine ähnlich hoffnungsvoll korrigierende Rezeption hat Ps 60 in der aus Ps 57,8-12 und 60,7-14 bestehenden Neukomposition Ps 108 erfahren.325 Dabei lässt die Verwendung der Gottesbezeichnung D T 6 X in Ps 108 keinen Zweifel daran, dass dieser Psalm eine weitgehend wörtliche Aufnahme von Ps 57,812 und 60,7-12 aus dem elohistischen Psalter darstellt.326 Der so entstandene Davidpsalm schlägt eine Brücke zum zweiten Davidpsalter und verknüpft das entstehungsgeschichtlich spätere fünfte Psalmenbuch (Ps 107-150) mit dem elohistischen Psalter. Die Auswahl und Anordnung der Textpassagen spiegelt dabei die Verschiebung des Schwerpunktes im hinteren Bereich des Psalters von der Klage hin zum Lob wider. An die Stelle der einleitenden Klage (Ps 60,3-5) tritt nun der Hymnus aus Ps 57,8-12, der die Güte (non) und Treue (DON) Gottes besingt. Die Intention des so entstandenen Ps 108 wird deutlich im Kontext der Psalmen 109 und 110,327 mit denen Ps 108 durch die gemeinsame Anbindung an die Person Davids sowie das Überschriftenelement „Mizmor" zu einer Einheit verbunden ist. Als Einleitung und Eröffnung des gesamten fünften Psalmenbuchs gibt Ps 107 auch der Kleingruppe Ps 108— 110 das Thema vor: Lobpreis der Güte (non) JHWHs (vgl. Ps 107,8.15.21. 31), die sich als Rettung inmitten tödlicher Bedrohung erweist.328 Dement325

Zum Verhältnis dieser drei Psalmen vgl. auch R.J. TOURNAY, Psaumes 57, 60 et 108: Analyse et Interprétation, in: RB 96 (1989), 5-26; M. EMMENDÖRFFER, Der ferne Gott, 173ff; H. SPIECKERMANN, Rede Gottes, 164ff; C. RÖSEL, Die messianische Redaktion, 66f. 326 Die übernommenen Textpassagen Ps 57,8-12; 60,7-14 wurden nur an wenigen Stellen behutsam angeglichen, vgl. hierzu den Vergleich bei C. RÖSEL, Die messianische Redaktion, 66f. 327 Zum theologischen Profil der Kleingruppe Ps 108-110 und deren Rolle innerhalb der eschatologisch-theokratischen Konzeption des fünften Psalmenbuchs vgl. E. ZENGER, Komposition und Theologie des 5. Psalmenbuchs 107-145, BN 82 (1996), 97-116. 328 Ps 107 und 108 sind durch eben diese beiden zentralen Stichworte Güte ( t o n Ps 107,1.8.15.21.31.43; Ps 108,5) und Rettung (vehn - Ps 107,13.19; 108,7.13) eng miteinander verbunden.

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III. Die zweite Gruppe der

Davidpsalmen

sprechend beginnt Ps 108 mit dem Lobpreis der Güte und Treue Gottes vor allen Völkern. Dass dieser Lobpreis jedoch nicht einer naiven Gottesseligkeit entspringt, sondern durch die Klage und die Erfahrung des Verstoßenseins hindurchgegangen ist, machen die aus Ps 60 übernommenen Verse 7-14 und der sich anschließende Klagepsalm 109 deutlich. Dabei fuhren die individuelle Perspektive von Ps 108,2-4 und Ps 109 sowie das Gotteswort an die Person des Königs in Ps 110 und nicht zuletzt die Anbindung an die Person Davids dazu, dass auf der Ebene des Endtextes der König als Repräsentant des Volkes als Sprecher der Komposition Ps 108-110 erscheint. Dieser erfahrt nicht nur das Verstoßensein seines Volkes (Ps 108,12), sondern auch die Verleumdung und falschliche Anklage seiner Person (Ps 109). In dieser Situation wird dem König durch das Gotteswort in Ps 110 die Übernahme der Weltherrschaft durch JHWH und seine Inthronisation zur Rechten Gottes angekündigt. Damit erhält auch das „uneingelöste Wort des göttlichen Kriegsherrn"329 aus Ps 108,8-11 eine erneute Bestätigung. Die gegenüber der Heilszusage Gottes skeptische Perspektive, die innerhalb des zweiten Davidpsalters in Ps 60 trotz der in Ps 60,14 anklingenden Hoffnung das Übergewicht behält, wird in der Komposition Ps 108-110 aufgenommen und korrigiert. Gegen Skepsis und Depression wird das Lob des Weltkönigs JHWH unter den Völkern angestimmt. Der Herrschaftsanspruch, den Gott in Ps 60,8-10 par. 108,8-10 formuliert, hat Bestand, „es wird ihn nicht reuen" (Ps 110,4). c) Die biographische Überschrift von Psalm 60 Das Ziel einer korrigierenden Interpretation dürfte auch die Anbindung von Ps 60 an die in 2. Sam 8,1-18 geschilderten Ereignisse durch die biographische Überschrift in V.lf haben. Auf den ersten Blick scheint diese Anbindung wenig glücklich. Die Erzählungen, in deren Kontext Ps 60 seiner Überschrift nach zu lesen ist, berichten von Zeiten, in denen David und damit Israel von einem Sieg zum nächsten eilte. In 2. Sam 8,14 heißt es ausdrücklich, dass JHWH David überall half, wohin er zog. Diese Darstellung entspricht den in Ps 60 beschriebenen Erfahrungen denkbar wenig. Gerade in dieser Diskrepanz liegt aber die korrigierende Wirkung der biographischen Überschrift. Der schriftkundige Hörer bzw. Leser weiß, wie die Dinge für David ausgingen, „als er stritt gegen Aram-Naharajim und gegen Aram-Zoba", und kann daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass das Gotteswort in Ps 60,8-11 entgegen der Skepsis von Ps 60 kein leeres Wort ist, sondern tatsächlich eingetroffen ist. Unter der Herrschaft der Idealgestalt David hat Gott dem abschließenden Vertrauensbekenntnis von Ps 60 entsprechend gehandelt und die resignierenden

329

So der treffende Titel, mit dem M. EMMENDÖRFFER seine Auslegung von Ps 60 überschreibt (Der ferne Gott, 162).

4. Die Frage nach dem Wort Gottes: Ps 56-60

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Aussagen des Psalms Lügen gestraft. Umgekehrt verändert sich im Licht von Ps 60 jedoch auch das David-Bild der entsprechenden Erzählungen in den Samuelbüchern. Der strahlende Sieger David erscheint mit Ps 60 im Mund als ebenso von Zweifeln und Entmutigung geplagt wie viele Israeliten in exilischnachexilischer Zeit. Des Weiteren zeigt sich, dass David seine Siege über Moab, Edom und Philistäa nicht aus eigener Kraft errungen hat, sondern der eigentlich Handelnde Gott war. ER war es, der entsprechend dem Vertrauensbekenntnis in Ps 60,14 die Feinde zertreten hat, David war nur ausführendes Organ des göttlichen Heilswortes. Die verschiedenen Neuinterpretationen in Jes 63,1-6; Ps 108 und in der biographischen Überschrift zu Ps 60 zeigen, wie sehr Ps 60 anscheinend den Nerv seiner Zeit getroffen hat. Dies macht auch das innerhalb der Psalmenüberschriften einzigartige Element nabb - „zum Lehren" deutlich. Mit seiner Zurückhaltung und Skepsis war offensichtlich gerade dieser Psalm dazu geeignet, die Zuverlässigkeit der Zusage Gottes trotz allem zu vermitteln. 4.6. Zusammenfassung: Entstehung und theologisches Profil der Psalmengruppe Ps 56-60 4.6.1 Zuflucht bei Gott: Ps 57 und 59 Die Analyse der Psalmengruppe Ps 56-60 hat gezeigt, dass es insbesondere zwischen Ps 57 und 59 enge thematische Berührungspunkte gibt, die hier noch einmal in Kürze zusammengefasst werden sollen. Eine erste Parallele besteht in der Darstellung der Gegner. Ihr Reden wird als verleumderisch und lügnerisch beschrieben (vgl. Ps 57,5b; 59,8.13), eine entsprechende Stichwortverbindung liegt mit dem Begriff „Schwert" ( m n - Ps 57,5b; 59,8) vor. Des Weiteren beschreiben beide Psalmen die Rolle, die Gott für den Beter spielt, in der Sprache der in die Konzeption der Tempeltheologie gehörigen Vorstellung von Gott als Zuflucht (HDn - Ps 57,2; f a n b m - Ps 57,2; Ps 59,2; üifco - Ps 59,10.17.18; po - Ps 59,12; DUO - Ps 59,17). In eben diesen Kontext der vorexilischen Tempeltheologie verweist auch der für beide Psalmen zentrale Begriff des non („Güte" - vgl. Ps 57,4.11 in Verbindung mit n o s - „Treue"; Ps 59,11.17.18) Gottes. Darüber hinaus spielt in beiden Psalmen das Lob Gottes am Morgen (Ps 57,9; 59,17), das sich im Singen (Ps 57,8; 59,17) und Spielen (Ps 57,8.10; 59,18) des Beters ausdrückt, eine wichtige Rolle. Als weitere Gemeinsamkeit ist schließlich festzuhalten, dass in beiden Psalmen der Weckruf m i v begegnet. In Ps 57,9 richtet sich dieser an den dem Beter von Gott verliehenen m a , in Ps 59,5 dagegen an Gott selbst. Insgesamt lässt sich sagen, dass beide Psalmen eine ähnliche Sichtweise des Verhältnisses zwischen dem Beter und seinem Gott entwickeln. Obgleich von verleumderischen Feinden bedrängt, hält der Beter im Vertrauen auf die Güte

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

(~ion) Gottes an der Überzeugung fest, dass er allein bei Gott Zuflucht und Schutz findet. Im Wissen darum, dass Gott als der Herrscher der Welt dem Treiben der Feinde eine Grenze setzen wird, sieht er in der Nacht der Gefahr und des Unheils dem Rettung bringenden Morgen entgegen und bekennt singend und spielend sein Vertrauen auf Gott. Auf diesem Hintergrund legt sich die Vermutung nahe, dass Ps 57 und 59 ursprünglich eine Einheit bildeten, in die erst zu einem späteren Zeitpunkt Ps 58 eingefugt wurde. Dabei gibt die Tatsache, dass Ps 58 keine biographische Überschrift hat, zu der Annahme Anlass, dass Ps 58 erst in den Zusammenhang von Ps 57 und 59 eingefugt wurde, als diese bereits über eine biographische Überschrift verfugten. 4.6.2 Zuflucht bei Gott - im Vertrauen auf sein Wort: Ps 56; 57 und 59 Mit Ps 56 verbindet das Duo Ps 57 und 59 vor allem die Art der Darstellung der Feinde. Ahnlich wie in Ps 57 und 59 wird das Treiben der Feinde auch in Ps 56 mit Bildern aus dem Bereich der Jagd und des Kampfes beschrieben (V.2.3.7 - vgl. Ps 57,4.7; 59,4). Eine weitere, formale Gemeinsamkeit dieser Psalmen besteht darin, dass alle drei durch kehrversähnliche Wiederholung zentraler Gedanken strukturiert werden (Ps 56,4f // lOff; Ps 57,6 // 12; Ps 59,7 // 15. 10 // 18). Dabei fällt auf, dass in Ps 57 und 59 die entscheidende Wiederholung, die den Kehrvers erst zum Kehrvers macht, erst am Ende des jeweiligen Psalms nach dem Lobgelübde steht. Angesichts dieser Tatsache kann zumindest die Frage gestellt werden, ob Ps 57,12 und Ps 59,18 nicht auf einen Redaktor zurückgehen, der durch die Schaffung dieser formalen Gemeinsamkeit die drei Psalmen enger aneinander binden wollte. Als Eröffnung und Einleitung in die Trias von Ps 56; 57 und 59, aber letztendlich auch in die Kleingruppe von Ps 56-60, beschreibt Ps 56, insbesondere durch seinen Kehrvers, exemplarisch den Weg von der Furcht über die Anrufung Gottes hin zum Vertrauen auf Gott. Dabei wird die Bedrohung durch die Feinde und die Angst des Verfolgten keineswegs verharmlost. In dem Wissen, dass das Elend des Beters bei Gott aufgehoben ist (Ps 56,9) und dass die göttliche Zusage, das Wort, Gültigkeit hat trotz aller Bedrohung, wird aus der lebensbedrohlichen Gefährdung durch die Feinde jedoch das nichtige Treiben nichtiger Menschenwesen. Dadurch, dass Ps 56 das Thema des Gottvertrauens so deutlich in den Mittelpunkt stellt, bildet Ps 56 außerdem eine ideale Brücke hin zu der Psalmengruppe 52-55, die in Ps 55,24 mit einem nur mühsam ausgesprochenen Vertrauensbekenntnis endet. Ps 56; 57 und 59 im Licht ihrer biographischen Überschriften: Die biographischen Überschriften von Ps 56; 57 und 59 verweisen die drei Psalmen in die Zeit der Flucht Davids vor Saul. Alle drei beziehen sich auf Episoden, in denen David durch List und Geschicklichkeit seinen Gegnern entkommen kann.

4. Die Frage nach dem Wort Gottes: Ps 56-60

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Auf diesem Hintergrund legt sich die Annahme nahe, dass Ps 56; 57 und 59 von ein und demselben Redaktor zusammengestellt und mit biographischen Überschriften versehen worden sind. Der engen motivlichen und thematischen Verbindung von Ps 57 und 59 hat der Redaktor dadurch Rechnung getragen, dass er beide Psalmen durch ihre Überschrift innerhalb der Auseinandersetzung Davids mit Saul verortet. Dabei verstärkt der Hinweis auf die Höhle in der Überschrift von Ps 57 den beiden Psalmen gemeinsamen Bildbereich der Zuflucht und des Schutzes. Die Verbindung mit den nächtlichen Aktionen Sauls gegen David durch die Überschrift von Ps 59 intensiviert wiederum die ebenfalls beiden Psalmen gemeinsame Metaphorik von Nacht und Morgen, Dunkel und Licht. Die biographische Überschrift von Ps 56 interpretiert den Psalm als Ausdruck der inneren Verfassung Davids während der in 1. Sam 21,11-16 geschilderten Ereignisse. Auch wenn die Erzählung in 1. Sam 21,11—16 durchaus von der Furcht Davids weiß (V.13), entwirft sie doch eher das Bild eines listigen, mit allen Wassern der Schauspielkunst gewaschenen David, der sich wahnsinnig stellt, um dem König von Gat zu entkommen. Demgegenüber begegnet in Ps 56 ein David, der - gezeichnet von den Nachstellungen seiner Gegner - sich nur mühsam von der Furcht zum Vertrauen auf das Wort, die Zusage Gottes durchringen kann. Wenn es David gelingt, durch List und Verstellungskunst seinen Feinden zu entrinnen, dann nur, weil er im Augenblick der Not auf Gott vertraut und sich in seiner Furcht an ihn wendet - so die Überzeugung des Redaktors, der Ps 56 durch seine Überschrift in den Horizont der in 1. Sam 21,11-16 beschriebenen Episode gestellt hat. Aber auch Ps 56 erscheint seinerseits auf dem Hintergrund von 1. Sam 21,11-16 in einem neuen Licht. Der Grund für die Furcht des Beters, der im Psalm eher unbestimmt bleibt, erhält nun eine klarere Kontur. Die Knechte des Königs von Gat erinnern sich sehr genau daran, dass von David erzählt wird, er habe Zehntausende ihrer Landsleute erschlagen (l.Sam 21,12). David hat also allen Anlass, sich vor der Rache der Philister zu furchten. Dementsprechend hat der David, der Ps 56 betet, mehr als genug Grund zu einer sehr existenziellen Furcht. Auch Ps 57 präsentiert sich durch seine biographische Überschrift als Einblick in die Innenwelt Davids während der in 1. Sam 24,1-23 geschilderten Ereignisse. Der David der Erzählung in 1. Sam 24 verhält sich gleichermaßen tollkühn wie großmütig, indem er sich, von Saul unbemerkt, in die unmittelbare Nähe seines Verfolgers begibt und dennoch auf die Möglichkeit verzichtet, diesen zu töten. Was in der Erzählung nur anklingt, nämlich dass David Angst empfindet („Aber danach geschah es, da schlug dem David das Herz [...]" - 1. Sam 24,6), wird in Ps 57 sehr viel eindeutiger zum Ausdruck gebracht. Gegenüber der Erzählung macht der Psalm deutlich, dass sowohl der Mut wie der Großmut Davids nicht aus ihm selbst erwachsen, sondern ihren inneren Grund in Davids Vertrauen auf Gott haben. Wer sich im Wissen um

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III. Die zweite Gruppe der

Davidpsalmen

die Güte und Treue Gottes und seine eigene Tina-Begabung anschickt, die Morgenröte zu wecken (Ps 57,9), der kann seinem Gegner auch mit der heldenhaften Souveränität begegnen, die David Saul gegenüber an den Tag legt. Umgekehrt lässt jedoch auch die Erzählung die Aussagen des Psalms in einem neuen Licht erscheinen. Die Erzählung macht deutlich, dass sich David nicht nur gegen Saul und seine Leute, sondern auch gegen seine eigenen Männer zur Wehr setzen muss. Diese legen ihm nahe, Saul zu töten - ein Ansinnen, das von David energisch zurückgewiesen wird (1. Sam 24,Ii). Zu den Gegnern des Psalmisten, zu den Löwen, die ihn umringen, gehören also auch Menschen seiner unmittelbaren Umgebung. Ein ähnliches Bild ergibt sich auch durch die biographische Überschrift von Ps 59. Der Erzählung in 1. Sam 19,9-17 zufolge kann David sein Leben aufgrund seiner eigenen Geistesgegenwart (V.10) und der List seiner Frau Michal (V.llff) retten. Demgegenüber macht auch hier der Psalm deutlich, dass David in Wirklichkeit seine Rettung seinem unerschütterlichen Vertrauen auf Gott verdankt. Nicht weil er sich an den Ratschlag seiner Frau (V.l 1), sondern vielmehr an Gott, seine Stärke (Ps 59,10), hält, kommt er mit dem Leben davon. Wenn der David des Ps 59 seine Gegner als kläffende Hunde beschreibt, über die JHWH lacht und spottet, dann wird deutlich, dass selbst ein denkbar mächtiger Gegner wie der König seine Macht gegenüber demjenigen verliert, der in Gott seine Stärke findet. Und so wird aus dem Morgen, an dem Saul David töten will (1. Sam 19,11), im Psalm der Morgen, an dem David jubelnd die Güte seines Gottes verkündet (Ps 59,17). Auf der anderen Seite erhält der Wunsch von Ps 59,13, die Lüge der Gegner möge auf diese zurückfallen, durch die Erzählung plastische Gestalt. In dem Betrug Michals an ihrem Vater Saul (1. Sam 19,17) fällt dessen offensichtliche Lüge gegenüber Jonathan (1. Sam 19,6) auf ihn selbst zurück. 4.6.3 Zuflucht bei Gott - im Vertrauen auf sein Wort? Die Infragestellung von Ps 60

Im Kontext der Individualpsalmen 56; 57 und 59 wirkt die Volksklage von Ps 60 auf den ersten Blick eher ungewöhnlich.330 Auch die biographische Überschrifit fallt gegenüber den Situationsangaben von Ps 56; 57 und 59 aus dem Rahmen, da sie nicht auf eine persönliche Notsituation im Leben Davids verweist, sondern vielmehr auf nationale, militärische Ereignisse. Aus diesen Beobachtungen legt sich die Schlussfolgerung nahe, dass die biographische Überschrift von Ps 60 nicht von demselben Autor stammt wie die von Ps 56; 57 und 59.331 330 Auf die Eigenständigkeit von Ps 60 als Volksklagelied innerhalb von Ps 54-64 weist auch M. MlLLARD, Komposition des Psalters, 117f hin. 331 Zu diesem Ergebnis kommt auch M. KLEER, Der liebliche Sänger, 108f.

4. Die Frage nach dem Wort Gottes: Ps 56-60

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Aber nicht nur die Form, sondern auch die skeptische Grundhaltung des Psalms steht in einer deutlichen Spannung zu den Vertrauensaussagen, auf die Ps 56; 57 und 59 jeweils hinauslaufen. Diese Spannung besteht insbesondere zwischen Ps 56 als dem Anfang und Ps 60 als dem Schluss der Psalmengruppe. Gegen das Vertrauen in das Wort in Ps 56 steht in Ps 60 die Infragestellung der im Heiligtum ergangenen Rede Gottes. Damit wird die individuelle Erfahrung, dass Gott demjenigen, der auf ihn vertraut, Hilfe und Schutz bietet, auf die harte Probe der nationalen Katastrophe Israels von 587 v. Chr. gestellt. Der Kern von Ps 60 (V.3-14) kommt dabei zu dem Ergebnis, dass diese Erfahrung eben jener Probe nicht standhält. Ein anderes, hoffnungsvolleres Bild ergibt sich jedoch durch die biographische Überschrift von Ps 60. Hinsichtlich des Wachstums der Psalmengruppe Ps 56-60 ergibt sich damit die Schlussfolgerung, dass Ps 60 wohl erst zu einem späteren Zeitpunkt mit Ps 56; 57 und 59 verbunden worden ist. Dabei gibt die beobachtete Nähe von Ps 60 zu Themen und Motiven der Asafpsalmen zu der Vermutung Anlass, dass Ps 60 im Kontext der Zusammenstellung des zweiten Davidpsalters mit der Komposition der Asafpsalmen in seinen jetzigen Zusammenhang eingefügt wurde.332 Ein weiterer Redaktor, der die Infragestellung von Ps 56; 57 und 59 durch Ps 60 wohl als zu krass empfunden hat, hat sodann in einem nächsten Schritt durch die Schaffung einer biographische Überschrift diese Infragestellung abgemildert und Ps 60 formell an die anderen drei Psalmen angeglichen. Es ist gut denkbar, dass im Zuge dieser Zusammenstellung von Ps 60 mit Ps 56; 57 und 59 auch die kollektivierende und nationalisierende Perspektive in Ps 56,8b und 59,6.9.12.14 eingefugt wurde, um durch das Motiv des göttlichen Gerichts über die Völker eine Verbindungslinie zwischen dem individuellen Blickwinkel von Ps 56; 57 und 59 und der kollektiven Ausrichtung von Ps 60 zu schaffen. Die Bedrohung des einzelnen Beters durch individuelle Gegner und die Bedrohung des Volkes Israel durch äußere Feinde haben die gleiche Qualität und sind austauschbar. Dementsprechend kann auch die individuelle Erfahrung des Schutzes und der Hilfe bei Gott zur Hoffnung und Ermutigung für das hoffnungslose und entmutigte Volk werden.333 4.6.4 Der aufgefangene Schrei nach Recht und Gerechtigkeit: Ps 58 Es wurde bereits festgestellt, dass die enge Verbindung zwischen Ps 57 und 59 sowie die Tatsache, dass Ps 58 über keine biographische Überschrift verfügt, die Annahme nahe legen, dass ebenso wie Ps 60 auch Ps 58 erst zu ei-

332

333

S o a u c h d i e A u f f a s s u n g v o n F . - L . H O S S F E L D / E . ZENGER ( P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 3 1 . 1 6 7 ) .

Eine vergleichbare Funktion hat auch Ps 73 für die Gruppe der Asafpsalmen. Ps 73 beschreibt in individueller Perspektive einen Prozess der Krisenbewältigung, der paradigmatisch auch für die Gemeinschaft gilt, vgl. Kap. IV.2.1.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

nem vergleichsweise späten Zeitpunkt in seinen jetzigen Kontext eingefugt worden ist. Wie bei Ps 60 konnte auch für Ps 58 eine traditionsgeschichtliche Nähe zu den Asafpsalmen, insbesondere zu Ps 82, festgestellt werden. Dementsprechend legt sich die Schlussfolgerung nahe, dass Ps 58 ebenso wie Ps 60 im Zuge der Verbindung des zweiten Davidpsalters mit der Komposition der Asafpsalmen mit Ps 56; 57 und 59 zusammengestellt wurde.334 An einer biographischen Verortung im Leben Davids hatte die entsprechende Redaktion, auf die die Einfügung von Ps 58 zurückgeht, offensichtlich kein Interesse.335 Dennoch hat sie Ps 58 durch das Überschriftenelement nntfn bü - „Vernichte nicht" eng mit Ps 57 und 59, die ebenfalls mit diesem Element versehen sind, verbunden. Diese Formulierung (nntfn bx) findet sich im Alten Testament zweimal in einem Kontext, in dem es darum geht, dass JHWH sein Volk trotz seiner offensichtlichen Widerspenstigkeit verschonen möge (Dtn 9,26: „Und ich [Mose] betete zu JHWH und sprach: Herr, JHWH, vernichte nicht dein Volk und Erbteil ..."; Jes 65,8: „So spricht JHWH: Wie sich Saft in der Traube findet, und man sagt: Vernichte sie nicht, denn ein Segen ist in ihr! - so will ich tun um meiner Knechte willen ..."). Des Weiteren findet sich diese Bitte um Verschonung in 1. Sam 26,9, d.h. innerhalb der Parallelerzählung zu der Episode in der Höhle von En Gedi, auf die Ps 57 bezogen ist. Hier verbietet David mit den Worten inrpntfn bx - „Vernichte ihn nicht" Abischai, Saul zu töten.336 Sowohl Ps 57 wie Ps 59 werden auf je eigene Art dieser Bitte um Verschonung, die sie in ihrer Überschrift tragen, gerecht. Ps 57 ist durch seine Anbindung an 1. Sam 24,1-23 in einen Kontext gestellt, in dem es um Davids großmütigen Verzicht auf Rache geht. Ps 59 spricht zwar durchaus von der Vernichtung der Feinde (V.14a), aber dieser Wunsch steht unter dem Vorsatz „Töte sie nicht!" (V.12) und zielt auf die Erkenntnis der Feinde, „dass Gott Herrscher ist in Jakob bis an die Enden der Erde". Wenn Ps 58 unter der Überschrift nntfn bti - „Vernichte nicht" in diesen Kontext von Ps 57 und 59 eingebettet wird, so wird der Schrei nach Vergeltung, der in diesem anstößigen und hoch emotionalen Psalm laut wird, keineswegs verharmlost. Er behält seine Radikalität, bleibt aber nicht unkom-

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Zu diesem Ergebnis kommen auch F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 31. Dem entspricht die Beobachtung, dass nachträglich in den zweiten Davidpsalter eingefügte Texte wie auch Ps 53 oder Ps 69-72 (vgl. Kap. III.7 und 8) keine biographischen Überschriften aufweisen. Eine Ausnahme bildet Ps 60, dessen Überschrift jedoch auf eine spätere, von der Zusammenstellung des zweiten Davidpsalters mit der Asafpsalmengruppe unabhängigen Redaktion zurückgehen dürfte (vgl. oben Kap. III.4.5 und 4.6.3). 336 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass Midrasch Tehillim Ps 58 mit eben dieser Erzählung in 1. Sam 26 in Verbindung bringt, vgl. The Midrasch on Psalms, übers. durch W.G. BRAUDE, New Häven 1959 (Yale Judaica Series 13), 503f. 335

4. Die Frage nach dem Wort Gottes: Ps 56-60

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mentiert und wird aufgefangen durch den Willen zur Verschonung. 337 Neben dem Überschriftselement verbindet das Bild der Löwen in dem vermutlich sekundären Vers 7 Ps 58 mit Ps 57. Der Beter bzw. der Redaktor legt mit dieser Bitte - ohne dass das Aggressionspotential des Psalms dadurch gemindert würde - das Gericht über die Frevler in die Hände Gottes. Damit nimmt er eine Haltung ein, die der des Beters von Ps 57 und 59 durchaus vergleichbar ist. Er erwartet Hilfe allein von Gott und macht gleichzeitig unmissverständlich deutlich, dass diese Hilfe in der Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit besteht. Dennoch stellt sich die Frage, welche Rolle die Redaktion Ps 58 in dem Gesamtgefüge von Ps 56-60 zugedacht hat. Im Zusammenhang der Auslegung von Ps 58,2 wurde bereits die Vermutung geäußert, dass möglicherweise in der Deutung dieser Redaktion in Ps 58 nicht nur menschliche Machthaber, sondern durchaus Götter auf der Anklagebank sitzen. Diese Annahme wird umso wahrscheinlicher, wenn Ps 58 im Zuge der Zusammenstellung des zweiten Davidpsalters mit der Gruppe der Asafpsalmen in seinen jetzigen Kontext eingefügt wurde. Die entsprechende Redaktion hätte dann mit dem Göttergericht von Ps 82 im Hinterkopf die anklagenden Fragen von Ps 58,2f nicht nur auf menschliche, sondern auch auf göttliche Wesen bezogen. Betrachtet man Ps 58 aus diesem Blickwinkel heraus, dann besteht die entscheidende Aussage des Psalms in der These, dass ein wahrer Gott sich an der Frage messen lassen muss, ob in seinem Herrschaftsbereich Recht und Gerechtigkeit herrschen und „der Gerechte Frucht findet". Mit dieser Frage begegnet jedoch letztendlich auch die theologische Mitte der Kleingruppe von Ps 56-60. Auf unterschiedliche Weise thematisieren alle fünf Psalmen das Verhalten Gottes gegenüber dem Beter angesichts seiner Feinde. Während Ps 57 und 59 voller Zuversicht auf Hilfe und Zuflucht bei Gott hoffen, stellen Ps 56 und 60 auf unterschiedliche Weise die Frage nach der Gültigkeit des göttlichen Wortes. Auf der Ebene des vorliegenden Endtextes stellt sich die Psalmengruppe Ps 56-60 somit als eine konzentrisch aufgebaute Komposition dar, die mit Ps 58 eine aussagekräftige Mitte enthält. Nur ein Gott, der Recht und Gerechtigkeit aufrechterhält und dafür Sorge trägt, dass der Gerechte Frucht findet und die Frevler vergehen, kann den Anspruch erheben, D T 6 N - Gott genannt zu werden. Der Schrei nach Recht und Gerechtigkeit in Ps 58, der für manche empfindlichen christlichen Ohren anstößig klingen mag, ist eingebettet und aufgefangen in dem doppelten Bekenntnis zu dem rettenden und Zuflucht gewährenden Handeln Gottes (Ps 57 und 59), das seinerseits umgeben ist von 337

Vgl. auch M. KLEER, Der liebliche Sänger, 102. Diese Einbettung von Ps 58 zwischen Ps 57 und 59 entspricht dem von N. LOHFINK (Psalmengebet und Psalterredaktion, 13f) beobachteten Phänomen der dialogischen Dramatisierung, vgl. auch Kap. 1.2.4.

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5. Zuflucht bei Gott: Ps 61-64

der Frage nach der Gültigkeit des göttlichen Wortes. Auf engstem Raum zeigt sich so innerhalb dieser kleinen Komposition, wie vielschichtig Psalmentheologie sein kann. Im Zusammenspiel von Frage, Antwort und Gegenfrage entfaltet sie sich als Theologie im Diskurs, als Theologie in Auseinandersetzung, ohne Scheu vor Widersprüchen. Das alles geschieht in Anbindung an die Person und das Leben Davids. Das vielschichtige und schillernde Bild, das die Erzählungen der Samuelbücher von dieser Gestalt entwerfen, bietet einen idealen Anknüpfungspunkt für diese Form des theologischen Nachdenkens.

5. Zuflucht bei Gott: Ps 61-64 Auf der Ebene des Endtextes ist mit Ps 61 ein gewisser Einschnitt innerhalb des zweiten Davidpsalters erreicht. Im Gegensatz zu den vorangehenden Texten enthält die Überschrift dieses Psalms keine Angabe zur Liedart. Es wird zu prüfen sein, inwieweit Ps 61 durch das Fehlen dieser Angabe innerhalb des zweiten Davidpsalters einen Sonderstatus erhält und wie sich dieser beschreiben lässt. Dennoch fallt auf, dass es zwischen Ps 61 und der Psalmengruppe Ps 62-64, die durch das Element „Mizmor" (Psalm) in den jeweiligen Überschriften zusammengebunden wird, enge sprachliche und gedankliche Berührungspunkte gibt, die es nahe legen, Ps 61 trotz der fehlenden Angabe zur Liedart als Teil dieser Kleingruppe zu verstehen. 5.1 Psalm 61 1 Für den Chormeister. Zum Saitenspiel. In Hinblick auf David. 2 Höre, Gott, mein Schreien, merke auf mein Gebet. 3 Vom Ende der Erde rufe ich zu dir, da kraftlos ist mein Herz. Auf den Fels, der mir zu hoch ist, leite mich. 4 Denn du warst eine Zuflucht für mich, ein starker Turm vor dem Feind. 5 Ich will Gast sein in deinem Zelt auf ewig, ich will Zuflucht suchen im Schutz deiner Flügel. Sela. 6 Denn du, Gott, hast gehört meine Gelübde, du hast gegeben das Erbe derer, die deinen Namen fürchten. 7 Tage zu den Tagen des Königs fuge hinzu, seine Jahre seien wie von Geschlecht zu Geschlecht. 8 Er throne ewig im Angesicht Gottes, Güte und Treue bestelle, sie mögen ihn behüten. 9 So will ich singen deinem Namen allezeit, um zu erfüllen meine Gelübde Tag für Tag.

5. Zuflucht bei Gott: Ps 61-64

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In Hinblick auf die Struktur von Ps 61 ergibt sich folgende Zweiteilung: V.l: Überschrift V.2-5: Klage V.2-3: Höre, Gott... V.4—5: Zuflucht bei Gott V.6-9: Gelübde V.6: Gelübde - Name V.7-8: Bitte für den König V.9: Name - Gelübde Der Beter von Ps 61 kommt direkt und ohne Umschweife zur Sache. Er appelliert an Gott, sein Gebet, das er als „lautes Geschrei" ( n n von j n - „gellend schreien") qualifiziert, zu hören. Den Standort, von dem aus er zu seinem Gott ruft, beschreibt der Psalmist als am „Ende der Erde" ( f i x nspo) gelegen. Er wählt damit eine Ortsbestimmung, mit der sich ein weiter Interpretationsraum eröffnet. Die Metaphorik der folgenden Verse (4f) verweist den Psalm in den traditionsgeschichtlichen Kontext der Jerusalemer Tempeltheologie. Insbesondere der Wunsch des Beters, auf ewig Gast zu sein im Zelt Gottes, d.h. im Tempel (vgl. Ps 15,1; 27,5) macht deutlich, dass die Not des Beters darin besteht, dass er sich eben nicht an diesem Ort der Zuflucht gewährenden Gegenwart Gottes befindet. Dabei ist es gleichgültig, ob er sich nur außerhalb Jerusalems in einem weit entfernten Teil des Landes oder gar außerhalb des Landes befindet, entscheidend ist die Ferne vom Tempel, die für den Psalmisten gleichbedeutend ist mit einem Entferntsein von der Gegenwart Gottes.338 Ein etwas anderes Verständnis dieser Ortsangabe legt der Verweis des Beters auf die Kraftlosigkeit seines Herzens (V.3a) nahe. Die Selbstverortung am „Ende der Erde" kann demnach als Hinweis auf einen Zustand äußerster Lebensbedrohung am Rande der Unterwelt und damit des Todes gedeutet werden.339 Diese beiden Interpretationen schließen sich jedoch keineswegs gegenseitig aus, sondern sie sind vielmehr begründet in der Offenheit der verwendeten Metapher,340 die einerseits sehr konkret als ein topographisches Entfernt338

In diese Richtung verweist die Deutung von H.-J. KRAUS, Psalmen II, 592. Vgl. K. SEYBOLD, dessen Auslegung jedoch insgesamt einen deutlichen Bezug des Psalms zum Tempel (Asyl, Rechtshilfe) voraussetzt (Psalmen, 24 lf); M. DAHOOD, Psalms II, 339

84f; G. RAVASI, Salmi II, 2 3 5f; F. LINDSTRÖM, S u f f e r i n g and Sin, 4 0 3 ; P. RIEDE, Im N e t z d e s

Jägers. Studien zur Feindmetaphorik der Individualpsalmen (WMANT 85), NeukirchenVluyn 2000, 361. 340 Diese Offenheit wird häufig übersehen bzw. nicht ausgeweitet, was dazu fuhrt, dass die tempelbezogene und die metaphorische, tempelunabhängige Auslegungsrichtung gegeneinander ausgespielt werden, vgl. hierzu den Forschungsüberblick bei F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 170f. Hossfeld / Zenger selbst vertreten eine rein metaphorische Auslegung,

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

sein vom Tempel, andererseits aber ebenso als Beschreibung einer nicht näher bestimmten existentiellen Notlage verstanden werden kann.341 Wie bereits angedeutet, ist V.4f geprägt von einer in der Jerusalemer Tempeltheologie beheimateten, mit dem Wortfeld non - „Zuflucht suchen"342 verbundenen Metaphorik, mit deren Hilfe der Psalmist seine Abhängigkeit vom Schutz Gottes zum Ausdruck bringt.343 In diese Richtung weist bereits die Bitte in V.3b, Gott möge den Beter auf den Felsen geleiten, der ihm zu hoch ist. Dieser weiß, dass der sichere Ort auf dem Felsen aufgrund seiner eigenen Kraftlosigkeit (V.3a) unerreichbar ist. In der Gedanken- und Vorstellungswelt der Tempeltheologie dürfte mit diesem Felsen der Berg Zion gemeint sein, der als Wohnstätte JHWHs fest gegründet in der Tiefe der chaotischen Unterwelt und gleichzeitig hoch in den Himmel hinaufragend als Schnittpunkt und Begegnungsort zwischen Himmel und Erde fungiert.344 In eben diese Gedankenwelt gehört auch die Bezeichnung Gottes als starker Turm (ri? b~no), die wohl durch die Wehr- und Schutztürme von Stadtmauern und Festungsanlagen inspiriert ist.345 Als solch eine für Feinde uneinnehmbare Festung kann z.B. in Ps 48,13f auch der Tempel auf dem Zion beschrieben werden. In Erinnerung daran, dass Gott sich für ihn als Zuflucht (nono) und als solch ein starker Turm erwiesen hat (man beachte die Perfekt-Form in V.4), äußert der Psalmist die Absicht, in der ebenso der Wunsch wie das Versprechen zum Ausdruck kommen, auf ewig (n^oby) im Bereich des Tempels als Gast in Gottes Zelt346 zu weilen und seine Zuflucht zu suchen im Schutz seiner Flügel ("inD3 die in V.3.5 keinen Tempelbezug entdecken kann (a.a.O., 171). Vgl. demgegenüber jedoch die umfassendere Einschätzung von M.E. TATE: „Geographical separation, that forces one to live his or her life in alien surroundings, far from home, friends, and familiar social groups, is usually lived in great anxiety and spiritual stress. The life of an exile is typically a , fainting one', lived at the ,edge of the earth'." (Psalms 51-100, 114). Eine vergleichbare Verbindung des Themas der topographischen Ferne vom Tempel mit dem Motiv der existentiellen Bedrohung durch die Feinde des Beters findet sich auch in Ps 42/43. 341 Diese Offenheit prädestiniert Ps 61, der seinen ursprünglichen Ort sicherlich in der vorexilischen Tempeltheologie hatte, geradezu für eine Deutung hin auf die Situation des Exils. 342 Zum Wortfeld HDn vgl. Kap. III.4.2, Arnn. 30. 343 Vgl. J.F.D. CREACH, Yahweh as Refuge, 44ff. Zur Bedeutung der Zufluchts-Metaphorik in Ps 61 vgl. auch F. LINDSTRÖM, Suffering and Sin, 401ff; M.E. TÄTE, Psalms 51100, 114. 344 Vgl. J.D. LEVENSON, Sinai and Zion: An Entry into the Jewish Bible; New York 1985, 122. Sowohl O. Keel (Welt der altorientalischen Bildsymbolik, 159f) als auch J.F.D. Creach (Yahweh as Refuge, 28. 62f) weisen darauf hin, dass die Rede vom sicheren Felsen ebenso auch die Gegebenheiten der Landschaft Israels mit ihren z.T. hohen, allein stehenden Felsen, die als natürliche Burgen dienten, im Blick haben dürfte. 345

346

Vgl. M . E . TÄTE, P s a l m s 5 1 - 1 0 0 , 114.

Zu b n x - „Zelt" als Bezeichnung des Tempels, die insbesondere die gastfreundliche und schützende Funktion dieses Ortes zum Ausdruck bringt, vgl. Ps 15,1; 27,5.

5. Zuflucht bei Gott: Ps 61-64

175

~pDJD).347 Obgleich eng mit den vorangehenden Gedanken verbunden ("O), ist mit V.6 innerhalb des Psalms ein Wendepunkt erreicht. Der Beter vertraut darauf, dass Gott seine Gelübde gehört hat (Perfekt!)348 und dass er teilhat am Erbe derer, die in ihrem Leben mit der Wirksamkeit des in seinem Namen gegenwärtigen Gottes rechnen. Zusammen mit V.9 bildet V.6 durch die chiastisch angeordneten Schlüsselbegriffe „Gelübde" (TO) und „Name" (De?) einen Rahmen um den zweiten Teil (V.6-9) von Ps 61. Weil Gott seine Gelübde gehört hat, will der Psalmist diese Gelübde Tag für Tag erfüllen, indem er den Namen Gottes allezeit im Lobpreis besingt (V.9). Etwas überraschend begegnet innerhalb dieses Rahmens in V.7-8 die Bitte für den König, die den durch die Stichworte „meine Gelübde" und „dein Name" gegebenen syntaktischen und inhaltlichen Zusammenhang von V.6 und 9 unterbricht.349 Es ist anzunehmen, dass diese Bitte erst nachträglich - vermutlich mit Blick auf Ps 72350 - eingefugt wurde. Auf der Ebene des vorliegenden Endtextes wünscht der Beter dem König im Geiste der Nathansverheißung (2. Sam 7) ein langes Leben (V.7) und die Beständigkeit seiner Regentschaft (V.8). In diesem Sinne bittet er Gott, er möge die Botschafter seiner freundlichen Zuwendung non („Güte") und noN („Treue") bestellen, damit sie den König behüten. Diese gleichsam personifizierten Größen haben auch an anderer Stelle die besondere Aufgabe, den König zu schützen und zu leiten (Ps 21,8; 89,25; Prov 20,28). Es fällt auf, dass der zweite Teil von Ps 61 sehr stark von einer temporal orientierten Begrifflichkeit durchzogen ist (D10"1 - „Tage"; mit? - „Jahre"; ~n - „Geschlecht"; D^IU - „ewig"; ~tvb - „allezeit"), die auf eine Ausdehnung der Zeit hin angelegt ist. Demgegenüber dominieren im ersten Teil (V.2-5) räumliche Motive ( p x n nspo - „vom Ende der Erde"; m s - „Fels"; „Turm"; bnx - „Zelt"), die die Sicherheit und Beständigkeit des Tempels in den Blick nehmen.351 Die schützende Gegenwart Gottes in seinem Haus, dem 347

Vgl. hierzu die Ausführungen zu Ps 57,2. G. RAVASI qualifiziert die Verbformen in V.6 als „perfetto di confidenza, espressione sintattica e stilistica della fede" (Salmi II, 240). 349 Hinsichtlich der Bitte V.7-8 sind in der Forschung unterschiedliche Erklärungsmodelle vorgeschlagen worden. So sehen einige Ausleger in V.7-8 eine nachträgliche Einfügung, vgl. 348

H. GUNKEL, Psalmen, 261 ; F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, die V.7-8 im Zusammenhang jener

übergreifenden Redaktion sehen, die den messianischen Psalter (Ps 2-89) geschaffen hat (Psalmen 51-100, 173). Andere Kommentatoren plädieren seit S. MOWINCKEL (The Psalms in Israel's Worship I, 226) dafür, in dem Beter einen König zu sehen, so u.a. M. DAHOOD, Psalms II, 83f; B.WEBER, Psalm LXI - Versuch einer hiskianischen Situierung, VT 43 (1993), 265-268. Demgegenüber geht H.-J. KRAUS davon aus, „daß in den Formularen des Heiligtums gelegentlich die Fürbitte für den König ein Bestandteil der Gebete war" (Psalmen II, 592) und verweist in diesem Zusammenhang auf mesopotamische Paralleltexte. 350 Vgl. hierzu die ausführlicheren Überlegungen in Kap. III.5.5. 351 Vgl. G. RAVASI: „Allo spazio dei w . 3-4 subentra il tempo, alla stabilità spaziale di Sion si sostituisce la stabilità della dinastia, alla presenza di Dio nell'area sacra, la bajit, la

176

III Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Tempel, und die Treue gegenüber seiner Verheißung für das Haus Davids gehören zumindest im vorliegenden Endtext von Ps 61 eng zusammen. Auch wenn die Wünsche für den König ursprünglich ihren Ort im Hofzeremoniell hatten und einem konkreten, regierenden König und nicht dem erhofften, zukünftigen Messias galten, klingt hier eine messianische Perspektive an. Gerade in exilischer, aber auch in späterer Zeit konnte ein Gebet wie Ps 61 mit seiner topographischen Metaphorik, seiner Sehnsucht nach der lebenspendenden Gegenwart Gottes im Tempel und der darin integrierten Bitte um eine beständige Regentschaft des Königs dazu geeignet sein, die Hoffnung auf eine Rückkehr zum Zion und einen zukünftigen König, der wie die Idealgestalt David „im Angesicht Gottes" (V.8) regiert, zum Ausdruck zu bringen. Was die Datierung von Ps 61 angeht, so legt es sich nahe, angesichts der beobachteten Verankerung des Textes in der Sprach- und Gedankenwelt der Jerusalemer Tempeltheologie von einer vorexilischen Entstehung des Primärpsalms V.2-6.9 auszugehen. 5.2 Psalm 62

1 Für den Chormeister. Nach Jedutun. Ein Psalm in Hinblick auf David. 2 Ja, zu Gott (ist) Stille meine Seele, von ihm (kommt) meine Hilfe. 3 Ja, er ist mein Fels und meine Hilfe, meine Burg, ich werde nicht zu sehr wanken. 4 Bis wann wollt ihr einstürmen auf einen (einzelnen) Mann, wollt morden352 ihr alle, wie eine eingestoßene Wand, eine umgestürzte Mauer. 5 Ja, von seiner Höhe353 haben sie beschlossen, (ihn) zu vertreiben, sie lieben den Trug, mit ihrem354 Mund segnen sie, aber im Inneren fluchen sie. Sela.

,casa' del tempio, si accompagna ora la presenza di Dio nella storia sacra, cioè nella bajit, ,casato' davidico." (Salmi II, 237f). 352 Die im textkritischen Apparat der BHS vorgeschlagene Lesart l S i m - „anrennen" (vgl. H.-J. KRAUS, Psalmen II, 595; K. SEYBOLD, Psalmen, 244) passt zwar gut in den Kontext, ist aber durch keine Handschrift belegt. Es sollte daher an der schwierigeren Lesart des masoretischen Textes festgehalten werden (vgl. M.E. TATE, Psalms 51-100,118). 353 Die etwas unklare Lesart des masoretischen Textes (inxtSO - „von seiner Höhe") kann im Sinne der LXX als „hohe Stellung" (rißr/- hebr.: inst^D) verstanden werden. 354 Die Lesart des MT r S 2 - „mit seinem Mund" ergibt keinen Sinn, mit den Versionen von Septuaginta, Peschitta und Targum sollte hier lCDS - „mit ihrem Mund" gelesen werden.

5. Zuflucht bei Gott: Ps 61-64

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6 Ja, zu Gott sei still meine Seele, denn von ihm (kommt) meine Hoffnung. 7 Ja, er ist mein Fels und meine Hilfe, meine Burg, ich werde nicht wanken. 8 Bei Gott (ist) mein Heil und meine Ehre, der Fels meiner Kraft, meine Zuflucht ist bei Gott. 9 Vertraut auf ihn zu jeder Zeit, Volk, schüttet aus vor ihm euer Herz. Gott ist eine Zuflucht für uns. Sela. 10 Ja, Windhauch sind die Adamskinder, Trug die Menschenkinder. Auf der Waage schnellen sie empor, (leichter) als Windhauch allesamt. 11 Vertraut nicht auf erpresstes Gut, auf Raub setzt nicht nichtige Hoffnung, Reichtum, wenn er wächst, hängt nicht das Herz daran. 12 Eines hat geredet Gott, dieser Zwei habe ich gehört: dass Macht ist bei Gott, 13 und bei dir, Herr, ist Güte, denn du, ja du vergiltst einem jeden gemäß seinem Tun. Der kunstvoll gestaltete und strukturierte Aufbau von Ps 62 lässt sich folgendermaßen darstellen: V.l:

Überschrift

V.2-8: Vertrauensäußerung V.2-3: Kehrvers: Ja, zu Gott ist Stille meine Seele... V.4—5: Das trügerische Treiben der Feinde V.6-7: Kehrvers: Ja, zu Gott sei still, meine Seele... V.8: Vertrauensbekenntnis: Fels meiner Macht V.9-13: Belehrung V.9: Vertraut... V.10: Das trügerische Wesen des Menschen V. 11: Vertraut nicht... V.l2-13: Zahlenspruch: Macht ist bei Gott Der erste Teil von Ps 62 (V.2-8) beginnt mit einem für den gesamten Psalm grundlegenden Bekenntnis des Vertrauens (V.2f), das ahnen lässt, dass dem

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Stillschweigen, das die Seele des Psalmisten nunmehr bestimmt, eine Zeit beträchtlicher Unruhe vorausgegangen ist (vgl. u.a. Ps 42/43; 73). Ursprung und Ziel der gewonnenen inneren Ruhe ist allein Gott, das macht die Partikel "IN, die im Verlauf des Psalms sechsmal, jeweils zu Beginn eines Verses, begegnet und die die Qualität eines Leitwortes besitzt,355 deutlich. Diese Partikel hat gleichermaßen affirmative (,ja"; „gewiss") wie restriktive Bedeutung („nur"; „allein") und bringt in dieser Doppeldeutigkeit die Gewissheit und Eindeutigkeit zum Ausdruck, mit der sich der Beter zu Gott als seiner alleinigen Hilfe (Til/ltf1) bekennt. Wie in Ps 61 ist das Bekenntnis in V.3 durch Bilder bestimmt, die der in der Jerusalemer Tempeltheologie beheimateten Zuflucht-Metaphorik entstammen.354 Sowohl i m („Fels") als auch nifco („Burg")357 haben als sichere Zufluchtsorte vor den Angriffen des Feindes eine militärische Konnotation.358 Die Aussage, dass der Beter nicht wanken werde (DlDN xb) zeigt, dass der entscheidende Vergleichspunkt jedoch in der unerschütterlichen Standfestigkeit, die den Felsen ebenso wie die Burg auszeichnet, besteht. Gott hat sich in der Erfahrung des Psalmisten als ein Zufluchtsort erwiesen, der jeder Erschütterung standhält. Die folgende Schilderung des Treibens der Feinde (V.4-5) ist gleichzeitig auch eine Beschreibung der Befindlichkeit des Beters. Diese Selbstdarstellung ist geprägt von einer Metaphorik, die der vorangehenden Qualifizierung Gottes als Fels und als Burg in subtiler Weise entspricht. Auch wenn die entsprechenden Begriffe nicht explizit genannt werden, beschreibt der Beter auch sich selbst, ähnlich wie Gott, implizit als eine Festung. Angesichts der Gegner, die wie eine feindliche Armee gegen die Mauern dieser Festung anstürmen (11 n - V.4), kann jedoch von der Sicherheit und Standfestigkeit, die er bei Gott findet, in Hinblick auf seine eigene Person keine Rede sein. Er selbst gleicht einer eingestoßenen Wand (MOl ~Tp3) und einer umgestürzten Mauer ( m m n Tn). Das Handeln der Feinde wird in bewährter und bekannter Weise (vgl. Ps 52,4f; 55, 22) als Lug und Trug (ntn) beschrieben. Vordergründig sprechen sie Segenswünsche gegenüber dem Beter aus, während sie ihn in ihrem Innersten verfluchen. 355

Vgl. K. SEYBOLD, Psalmen, 244. Vgl. J.F.D. CREACH, Yahweh as Refuge, 25ff. 357 Der Begriff 31170 bezeichnet eine sichere Anhöhe und wird ebenso zur Beschreibung einer von Menschenhand konstruierten Befestigungsanlage (Jes 2 5 , 1 2 ) wie auch einer natürlichen, zur Verteidigung geeigneten Anhöhe (Jes 3 3 , 1 6 ) verwandt, vgl. J.F.D. CREACH, Yahweh as Refuge, 27. Auch wenn der Tempel in Ps 62 nicht explizit erwähnt wird, dürften insbesondere die fiir die Begriffe eines altorientalischen Menschen massiven und mächtigen Tempelanlagen auf dem Zion den Anhalts- und Ausgangspunkt für die Beschreibung Gottes als 33E?D bilden, vgl. auch O. KEEL, Welt der altorientalischen Bildsymbolik, 158f. 358 Vgl. G. RAVASI, Salmi II, 246f. 356

5. Zuflucht bei Gott: Ps 61-64

179

In Anbetracht dieses bedrohlichen, da nur schwer zu durchschauendenTreibens seiner Gegner und im Wissen um seine eigene Hinfälligkeit greift der Psalmist in V.6f zurück auf das Bekenntnis zu Gott als seinem fest gegründeten Felsen und seiner uneinnehmbaren Burg. Indem er die Vertrauensaussage, die er seinem Gebet als Grundthese vorangestellt hat (V.2-3), aufnimmt, variiert er diese gleichzeitig in signifikanter Weise. Das Substantiv r r o n („Stillschweigen") wird durch die entsprechende Imperativ-Form ( 1 on) ersetzt, so dass aus dem Bekenntnis eine Selbstermutigung (vgl. Ps 42,6.12) wird. Weiterhin ist in V.6 statt von „Hilfe" Onui»1 - V.2) von „Hoffnung" Onipn) die Rede. Das Vertrauensbekenntnis hat auch im Angesicht der Feinde noch Bestand; eine nachhaltige Infragestellung des Vertrauens zu Gott, wie es z.B. in Ps 44 oder Ps 60 spürbar wird, ist in Ps 62 nicht erkennbar. Aber dennoch ist die Erschütterung durch den Ansturm der Feinde nicht spurlos an dem Beter vorbeigegangen. Seine Seele befindet sich nicht in einem Zustand der Ruhe, sondern muss erst wieder zur Ruhe finden. Er bedarf zuerst der Hoffnung, um dann Hilfe und Rettung von Gott erwarten zu können.359 Umso nachdrücklicher fallt daraufhin das den ersten Teil des Psalms abschließende Vertrauensbekenntnis in V.8 aus. Die chiastisch konstruierte Aussage360 benennt und bekennt in der Sprache der Jerusalemer Tempeltheologie, dass die innere „Befestigungsanlage" des Beters, die durch das Treiben der Feinde vom Einsturz bedroht ist (V.4), ihre Standfestigkeit allein durch Elohim zurückerhält. Bei ihm allein ist s/tf1 (Heil), er gibt dem Beter l i m (Ehre) und macht ihn damit zu einem Menschen seiner Nähe.361 Er ist der mächtige Fels 0?y ms - vgl. Ps 61,4; 59,10.18) und Ort der Zuflucht (nono). Diese Erfahrung und Einsicht kann und will der Psalmist nicht für sich behalten. Er wendet sich dementsprechend im zweiten Teil des Psalms (V.9-13) mit dem Appell, Gott zu jeder Zeit zu vertrauen362, an die Gemeinschaft des Volkes (Oy)363. Mit der Aufforderung, das Herz auszuschütten ("[DE?) vor Gott, 359 Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENOER: „SO sehr gilt, daß Gott die Rettung ist (wie V 7 in Wiederaufiiahme von V 3 betont), so ist diese Rettung eben doch nur im Modus der Hoffnung (von seiten des Menschen) und im Wort der Verheißung (von Seiten Gottes) da." (Psalmen

51-100,184). 360 Die Randpositionen dieses Chiasmus wird durch „Elohim" besetzt, den Mittelteil bilden in Zweierpaaren die Attribute „Heil" und „Ehre" sowie „mächtiger Fels" und „Zuflucht", vgl.

M . E . TÄTE, P s a l m s 5 1 - 1 0 0 , 121. 361 Zu dem im theologischen Denksystem der Tempeltheologie fest verankerten Thema der MD-Begabung des Menschen vgl. H. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 275ff. 362 Das Verbum ntsa (vertrauen) beschreibt für gewöhnlich „a faith stance and the choice of Yahweh as a source of security", J.F.D. CREACH, Yahweh as Refuge, 32. 363 Die Deutung von K. SEYBOLD setzt das „Volk" mit den Gegnern des Psalmisten gleich und versteht unter dem Appell, das Herz auszuschütten vor Gott, die Aufforderung an die Gegner, ihre Anklagen vorzubringen (Psalmen, 245f). Gegen diese Sichtweise ist einzuwenden, dass sich Seybold in seiner Auslegung an dieser Stelle wohl doch zu sehr von seiner An-

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

will er die Angeredeten zur bedingungslosen und uneingeschränkten Offenheit gegenüber ihrem Gott ermutigen (vgl. Ps 42,5). 364 D a s abschließende Bekenntnis des ersten Teils, dass „Zuflucht ist bei Gott" (V.8), hat Gültigkeit nicht nur für den Beter allein, sondern ebenso auch für das ganze Volk (V.9c). 365 D a s s mit der Aufforderung, das Herz auszuschütten vor Gott, auch das Motiv der göttlichen Prüfung und Durchleuchtung des Inneren (vgl. Ps 7,10; 17,3) anklingt, 366 wird in der weisheitlichen R e f l e x i o n über das W e s e n des Menschen in V . 1 0 deutlich. Der Mensch ist nichts als ein vergänglicher Windhauch (bnn - vgl. Ps 39,6f; Hi 7,16; Koh 1,2; 6,12), 367 wird er auf der Waage des Richtergottes gewogen, so wird er als z u leicht befunden 368 . Mit dieser Darstellung entwirft der Psalmist ein aussagekräftiges Kontrastbild. A u f der einen Seite stehen die Metaphern „Fels" und „Burg", auf der anderen „Windhauch" und „Trug"369. Der unerschütterlichen, Sicherheit garantierenden Standfestigkeit Gottes wird die Hinfälligkeit und Leichtigkeit des Menschen gegenübergestellt. A u c h w e n n sich aufgrund der Stichwortentsprechung durch 3TD („Trug") in V . 5 . 1 0 die Vermutung nahe legt, dass sich die Aussagen von V . 1 0 auf die Feinde des Beters beziehen, deutet die sehr allgemein gehaltene Rede v o n den DIN " n bzw. t^N den Menschenkindern, daraufhin, nähme eines Sakralverfahrens im Tempelasyl als „Sitz im Leben" von Ps 62 leiten lässt. Zur Kritik an dieser von Seybold vertretenen These vgl. die grundsätzliche Kritik bei F.L. HOSSFELD / E. ZENGER, 181. 364 Vgl. G. RAVASI: „II cuore ,che si scioglie' (Is 1,15; Gb 30,16) 6 un'intensa metafora destinata ad illustrare la totale apertura e trasparenza dell'uomo davanti alio sguardo giusto e

remuneratore di Dio (Sal 7,10; 17,3)" (Salmi II, 256). 365

V.9 ist gerahmt durch die beiden Schlüsselbegriffe nDZl („vertrauen") und PIDnO („Zuflucht"). Obwohl es zwischen beiden Begriffen eine enge Verbindung gibt, verfügen beide Wurzeln über eine je eigene Bedeutungsnuance, die J.F.D. CREACH wie folgt beschreibt: „Häsä denotes trust by means of a metaphor rooted in a concrete experience of taking cover (form the elements). Thus, in context the nature of that , cover' may be defined further as ,Yahweh's wings' or the protection of Yahweh's tent'. Bätah designates the same stance in life, but with the nuance of an inner, .spiritual' trust" (Yahweh as Refuge, 33). 366

Vgl. HJ. KRAUS, Psalmen II, 598. Vgl. K. SEYBOLD, Art. BAN, ThWAT II, 334ff. Der Begriff BAN begegnet vor allem in späteren Schichten der alttestamentlichen Überlieferung, von den 73 Belegen des Nomens entfallen allein 41 Belege auf Kohelet. Der älteste, sicher datierbare Beleg ist Jes 30,7. Der Begriff hat „eine Affinität zur Situation des Klagenden" (a.a.O., 338) und beschreibt die Nichtigkeit und Vergänglichkeit des Menschen und seines Tuns. 368 Das Motiv der Waage findet sich auch in der altägyptischen Vorstellung vom Totengericht bzw. vom Abwägen des Herzens des Toten, vgl. O. KEEL, Welt der altorientalischen Bildsymbolik, 62f. 369 Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER: „Während b a n ,Hauch' den Menschen bezeichnet, insofern er in sich und an sich ,nichtig' und vergänglich ist, bezeichnet 3t3 ,Trug' seine .Nichtigkeit' und .Wertlosigkeit' für andere, also seine von seinem menschlichen Wesen herrührende Unzuverlässigkeit." (Psalmen 51-100, 186). 367

5. Zuflucht bei Gott: Ps 61-64

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dass sich der Beter selbst von diesem grundsätzlichen Urteil durchaus nicht ausnimmt. Auch er selbst ist nichts als bnn („Windhauch"). Wenn er trotzdem die Hoffnung haben kann, auf der Waage nicht emporzuschnellen (vgl. V.10), so allein aus dem Grund, dass er sich festgemacht hat bei Gott, dem Fels seiner Macht (V.8). Dementsprechend setzt der Psalmist in V. 11 seinen Appell an die Gemeinde aus V.9 fort. Die Warnung, nicht auf Reichtum und Raub zu vertrauen, stellt das Gegenstück zu der Aufforderung zum Vertrauen auf Gott in V.9 dar und bildet mit dieser zusammen einen Rahmen um die allgemeine Lehraussage in V.10. Das Vertrauen auf durch Unrecht erworbenes Gut (ptfl? - bn) ist ebenso vergänglich und nichtig (bnn), wie es der Mensch nach dem Urteil von V.10 selbst ist, und Reichtum (bTi) ist, selbst wenn er wächst, zu zerbrechlich, als dass man daran sein Herz hängen sollte (vgl. Ps 52,9). Dem weisheitlichen Duktus des zweiten Teils entsprechend formuliert V.12f in der Form eines weisheitlichen Zahlenspruchs370 (vgl. Prov 6,16f; 30, 15f) die Einsicht dieses zweiten Teils und damit des gesamten Psalms. Dabei beruft sich der Psalmist auf ein Wort Gottes, durch das er zu der Erkenntnis gelangt ist, dass zwei grundlegende Eigenschaften das Wesen Gottes bestimmen, gemäß denen Gott am Menschen handelt. Die eine Eigenschaft ist Gottes souveräne Macht (TS/) , die ihn zum Herrn und Richter der Welt macht, die andere ist seine Güte ("ton), mit der er sich dem Menschen freundlich zuwendet. Es fällt auf, dass von der zweiten Eigenschaft Gottes, seinem non, innerhalb der direkten Anrede an Gott gesprochen wird, die innerhalb von Ps 62 an dieser Stelle (V.13a) zum ersten Mal begegnet.372 Die Nähe und freundliche Zuwendung Gottes zu den Menschen können in den Augen des Psalmisten nicht anders und besser zum Ausdruck gebracht werden als durch die direkte und vertraute Anrede an Adonaj.373 371

370

Vgl. B. WEBER, PS 62,12-13: Kolometrie, Zahlenspruch und Gotteswort, in: BN 65

( 1 9 9 2 ) , 44—46. 371

Der Begriff TV hat in Bezug auf Gott einen durchaus ambivalenten Bedeutungsgehalt. Zum einen beschreibt er die majestätisch-überwältigende Macht Gottes, die sich in der Schöpfung und in der Geschichte erweist (vgl. u.a. Ps 66,3; 74,13; 93,1). Zum anderen wird mit TV das hilfreich-schützende Handeln Gottes insbesondere am Einzelnen zum Ausdruck gebracht (vgl. u.a. Ps 59,10; 61,4; 62,8), vgl. A.S. VAN DER WOUDE, Art. TTV, THAT II, 252ff. Obwohl - wie gesehen - in Ps 62 das Bekenntnis zum Zuflucht gewährenden Handeln Gottes und die damit verbundene Metaphorik eine herausragende Rolle spielen, ist es sinnvoller, TV in V. 12b im Sinne der souveränen, richterlichen Macht Gottes zu verstehen. Diese Deutung legt sich durch den unmittelbaren Kontext von V.10 und V.13, der auf das richterliche Handeln Gottes verweist, nahe. 372 Auf diesen feinen Unterschied innerhalb der Formulierung von V.12b.l3a macht zu Recht C. WESTERMANN aufmerksam (Ausgewählte Psalmen, 114). 373 Dem entspricht, dass gerade die Anrede Gottes mit ' n s - „mein Herr" in den Psalmen dazu verwendet wird, um die persönliche Beziehung des Beters zu seinem Gott und die Bitte

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Abschließend ist festzustellen, dass sich für die Datierung von Ps 62 nur wenige konkrete Anhaltspunkte ergeben. Einerseits wird der Text weitgehend durch die Bilder der in der vorexilischen Tempeltheologie beheimateten Zufluchts-Metaphorik bestimmt. Andererseits verweist jedoch die kritische Sicht des Menschen und seine Bewertung als bnn in den Kontext der späteren Weisheit, so dass auch an eine nachexilische Entstehungszeit gedacht werden kann. 5.3 Psalm 63

1 Ein Psalm in Hinblick auf David, als er in der Wüste Juda war. 2 Gott, mein Gott bist du, ich suche dich, es hat gedürstet nach dir meine Seele, geschmachtet hat nach dir mein Leib, im trockenen und lechzenden Land ohne Wasser. 3 So habe ich dich im Heiligtum geschaut, um zu sehen deine Macht und Herrlichkeit. 4 Denn besser ist deine Güte als Leben, meine Lippen werden dich loben. 5 So will ich dich segnen mein Leben lang, und in deinem Namen erheben meine Hände. 6 Wie an Mark und Fett werde satt meine Seele, und [mit] Lippen des Jubels jauchzt mein Mund, 7 wenn ich deiner gedenke auf meinem Lager und während der Nachtwache nachsinne über dich. 8 Denn du warst mir Hilfe, und im Schatten deiner Flügel will ich jubeln. 9 Gehangen hat meine Seele an dir, mich hat gehalten deine Rechte. 10 Sie aber, die zum Verderben suchen meine Seele, sie werden hineingehen in die Tiefen der Erde. 11 Man wird ihn374 preisgeben der Hand des Schwertes, Beute der Schakale werden sie sein.

um Zuwendung zum Ausdruck zu bringen, vgl. M. RÖSEL, Adonaj - Warum Gott „Herr" genannt wird (FAT 29), Tübingen 2000, 193ff. 374 Das Suffix der 3.Pers. Sg. ist nur dann sinnvoll, wenn es auf den König in V.12 bezogen wird, vgl. M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 128. Diese Deutung ist jedoch im Kontext eines Abschnitts, in dem es um das Ergehen der Feinde geht, schwierig. Es legt sich daher nahe, dem Korrekturvorschlag der BHS zu folgen und entsprechend dem Sinnzusammenhang IB'HT - „man gibt sie preis" zu lesen, vgl. H.-J. K R A U S , Psalmen II, 600. Allerdings gibt es für diese Lesart keine Textzeugen.

5. Zuflucht bei Gott: Ps 61-64

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12 Doch der König möge sich freuen in Gott, rühmen möge sich jeder, der bei ihm schwört, denn es wird verstopft werden der Mund der Redner der Lüge. Die Struktur von Ps 63 lässt sich nur schwer bestimmen. Die hier vorgeschlagene Gliederung orientiert sich an dem zentralen Stichwort E?D3 (Seele), das zu Beginn jedes neuen Abschnitts begegnet (V.2.5.10):375 V.l:

Überschrift

V.2-9:

Die Seele des Beters V.2-5: Die dürstende Seele V.6-9: Die gesättigte Seele

V.l0-12: Das Ergehen der Feinde V.12: Der König Mit Ps 63 liegt der innerhalb des zweiten Davidpsalters letzte Psalm mit einer biographischen Überschrift vor. Diese Überschrift ist sehr allgemein gehalten, sie verweist Ps 63 in den Kontext eines nicht näher bestimmten Aufenthalts Davids in der Wüste Juda. Dieser Angabe lassen sich vor allem zwei Episoden aus dem Leben Davids zuordnen, zum einen die Erzählung von David und Abigail (1. Sam 25), zum anderen die Geschichte von der Flucht Davids vor seinem aufständischen Sohn Abschalom (2. Sam 15-17). Die Erwähnung des Königs in Ps 63,12 lässt jedoch vermuten, dass der Verfasser der Überschrift eher ein Ereignis aus der Königszeit Davids im Blick hatte, so dass es sich nahe legt, an die in 2. Sam 15-17 berichteten Begebenheiten zu denken.376 Entscheidender Anknüpfungspunkt dürfte dabei die Selbstverortung des Psalmisten gleich zu Beginn des Kernpsalms „im trockenen und lechzenden Land ohne Wasser*' (V.2) sein, die sich auf die Flucht Davids in die Wüste (2. Sam 15,23.28; 16,2) hin deuten lässt. Des Weiteren berichtet der Beter davon, dass er Gott im Heiligtum geschaut hat, um seine Macht und Herrlichkeit zu sehen (V.3). Das Heiligtum bzw. die Lade spielt auch für den fliehenden David eine wichtige Rolle. Als er Zadok mit der Lade nach Jerusalem zurückschickt, hofft er darauf, JHWH werde ihn die Lade und das Heiligtum wiedersehen lassen (2. Sam 15,25). Das Treiben der Feinde wird in Ps 63,10 dahingehend bestimmt, dass sie dem Beter nach dem Leben trachten ("'B'D: lE?p:r). Mit denselben Worten beschreibt David das Tun seines Sohnes Abschalom (2. Sam 16,11). Nach Ps 63,11 werden die Feinde der Hand des Schwertes preis-

375

Vgl. A.R. CERESKO, A Note on Psalm 63: A Psalm of Vigil, ZAW 92 (1980), 435; M.E.TATE, Psalms 51-100, 125; F.-L. HOSSFELD/E. ZENGER, Psalmen 51-100,194f. 376 Vgl. M. KLEER, Der liebliche Sänger, 106ff.

184

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

gegeben werden. Dieses Schicksal klingt auch in dem Bericht über den Sieg der Anhänger Davids über das Heer Abschaloms (2. Sam 18,6-8) an, wenn es heißt, dass der Wald mehr vom Volk fraß, als das Schwert an jenem Tag gefressen hatte. Ps 63 beginnt mit dem grundlegenden Bekenntnis des Beters zu seinem Gott (nnx ,!?N).377 Auf diesen seinen Gott, auf dieses „Du" hin ist der Beter ausgerichtet mit seiner ganzen Existenz. Nach ihm sucht er (nntf)378, nach ihm dürstet (NDS) seine Seele (E?D:), nach ihm schmachtet (noo) sein Leib. Der Psalmist entwirft in diesem Eingangsvers das Bild eines „im trockenen und lechzenden Land ohne Wasser" verdurstenden Menschen und bringt mit dieser eindrücklichen Metaphorik (vgl. Ps 42,2f; 143,6f) die existenzielle Dimension seiner Gottessehnsucht zum Ausdruck.379 Die Begegnung mit Gott ist für ihn so lebenswichtig wie der Schluck Wasser für den Verdurstenden in der Wüste. Die Selbstverortung des Beters im „trockenen und lechzenden Land ohne Wasser" erinnert an die topographische Metaphorik von Ps 61,3. Wie in Ps 61 kann diese Ortsangabe auch hier als Hinweis auf einen Zustand äußerster Lebensbedrohung verstanden werden (vgl. V.10).380 Solch eine Situation kann in der dualistischen Weltsicht der Tempeltheologie, aus der Ps 63 ebenso wie seine unmittelbaren Nachbarpsalmen lebt, jedoch nur darauf zurückzufuhren sein, dass Gott seine Zuwendung und Gegenwart entzogen und den Beter der Sphäre des Todes überlassen hat.381 Und so ist es nur konsequent, dass der Psalmist in dieser Situation auf eine Gottesbegegnung im Heiligtum (V.3) als dem Ort der Leben ermöglichenden Gegenwart Gottes (vgl. Ps 61,5) hofft. Die zeitlichen Verhältnisse sind an diesem Punkt nicht ganz eindeutig. Auch wenn die Aussage von V.3 im Perfekt formuliert ist, klingt dennoch auch die Hoffnung auf eine zukünftige, visionäre 377 Zum Apellativum "'bs „mein Gott" und dem Bekenntnis ¡"IHN 'ÒN „mein Gott bist du" vgl. H. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 277f. 378 Das Verbum "IN27 begegnet vor allem in der Weisheitsliteratur (vgl. Prov 1,28; 7,15; 8,17; 13,24; Hi 7,21; 8,5; 24,5) und meint „eine intensive Gottsuche durch Nachdenken und

mit lebenspraktischer A b s i c h t " (F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 1 9 6 ) . 379

Zum Motiv des Dorstens nach Gott vgl. L. RUPPERT, Dürsten nach Gott. Ein psalmistisches Motiv im religionsphänomenologischen Vergleich, in: J. Zmijewski (Hrsg.), Die alttestamentliche Botschaft als Wegweisung. FS H. Reinelt, Stuttgart 1990, 237-251. G. RAVASI spricht in diesem Zusammenhang von einer „spiritualità della sete" und verweist auf Am 8,11 (Salmi II, 276). 380

381

Vgl. F. LINDSTRÖM, Suffering and Sin, 407.

Vgl. F. LINDSTRÖM: „Concerning the poem's interpretation of suffering in a broader perspective, it is evident that it implies the temple theological ,dualistic' understanding of life, with its conception of the two spheres of power in competition with one another. Existence in the sphere of Death necessarily presupposes the absence of YHWH and his saving sphere of power. This life-threatening situation is possible only by YHWH removing his saving presence" (Suffering and Sin, 408).

5. Zuflucht bei Gott: Ps 61-64

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Gottesschau (nrn) an. Ahnlich wie in dem motivlich und thematisch eng verwandten Ps 42/43 dürfte auch hier die Erinnerung an eine frühere Erfahrung im Bereich des Tempels (vgl. Ps 42,5.7) das Vertrauen auf eine erneute Begegnung mit der Gegenwart Gottes ermöglichen. Wie diese Gottesschau genau vonstatten geht, ob sie von bestimmten gottesdienstlichen Riten begleitet wird oder eher ein individuelles, inneres Erleben darstellt, wird offen gelassen.382 Konkretisiert wird diese Erfahrung jedoch in der Hinsicht, dass sich der Psalmist auf zwei Attribute Gottes beruft, die im Konzept der Jerusalemer Tempeltheologie eine zentrale Rolle spielen, auf die Macht (TV)383 und die Herrlichkeit (lUD) Gottes. In der Gottesschau im Tempel erhofft er, sich seiner Teilhabe an der Macht und Herrlichkeit Gottes vergewissern zu können.384 Welch hohen, alles andere übersteigenden Stellenwert die freundliche Zuwendung Gottes, sein non, für den Beter hat, macht das an die Grenzen des Alten Testaments fuhrende Bekenntnis von V.4, nach dem Gottes Güte besser ist als Leben (vgl. Ps 73,26), deutlich.385 Diese Einsicht und die Hoffnung stiftende Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott im Tempel fuhren geradewegs hinein in das Lob Gottes. Mit lobenden Lippen (V.4b) und erhobenen Händen (V.5b) will der Psalmist Gott sein Leben lang rühmen und in diesem Lobpreis seinem Gott, der ihm Anteil gegeben hat an seiner Macht und Herrlichkeit, eben diese Gabe zurückerstatten.386 Ahnlich wie in Ps 61,9 geschieht dieses Lob in Ausrichtung auf den Namen (Dtf) Gottes, in dem dieser ansprechbar und damit gegenwärtig ist (vgl. Ps 54,3.8). Mit V.6 gerät erneut die Seele (E?B:) des Beters in den Blick. Nun ist allerdings nicht mehr von der dürstenden (V.2), sondern von der gesättigten Seele die Rede. Die Gemeinschaft mit Gott ist für den Psalmisten, der im Tempel Gottes Macht und Herrlichkeit geschaut hat (V.3), so köstlich und belebend wie ein sättigendes Festmahl (vgl. Ps 36,9; Jes 25,6). „Mark" (nbn) und 382

Vgl. M.E. TATE: „The visionary experience of the verb ntn (,to see /have a vision') is not described in detail, and doubtless differed in form and degree among worshipers. The experience may have involved some sort of rite using fire, smoke, and the blowing of a Horn (cf. Exod 19), or it may have been more verbal and mental, combined with the rich symbolism of the temple, producing an internalized apprehension of the divine presence." (Psalms 5 1 100,127). 383 Der Rekurs auf die Macht (TS/) Gottes verbindet Ps 63 mit Ps 61,4 und Ps 62,8.12. 384 Vgl. F. LINDSTRÖM, Suffering and Sin, 412. 385 Vgl. G. VON RAD: „Der bündige Satz .deine Gnade ist besser als Leben' (Ps 63,4) lässt erkennen, was für eine tiefgreifende Umordnung aller Lebenswerte sich hier vollzogen hat, denn das Leben und seine Steigerung durch Jahwes Segen war sonst für Israel zu allen Zeiten der Güter höchstes. Dieses Auseinanderhalten von Gnade und Leben war etwas völlig Neues in Israel; es bedeutete die Entdeckung des Geistlichen als einer Wirklichkeit jenseits der Hinfälligkeit des Körperlichen." (Theologie des Alten Testaments 1,416). Zur Bestimmung des Menschen zur Rückgabe des von Gott erhaltenen T Q 3 im Gotteslob vgl. H. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 261.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

„Fett" (¡EH) als die besten und gehaltvollsten Speisen, die bei der Darbringung des Opfers allein Gott zukommen (vgl. Lev 7,23), sind als wahrhaft göttliche Speisen Ausdruck und Symbol des Überflusses, den deijenige genießen kann, der in der Gegenwart Gottes lebt.387 Diese Köstlichkeit eines Lebens in Gemeinschaft mit Gott kommt dem Beter zum Bewusstsein, wenn er - offensichtlich schlaflos - auf seinem Nachtlager388 seine Gedanken auf Gott ausrichtet. Die Ruhe der Nacht389 ist wie kein anderer Zeitraum geeignet, das heilvolle Handeln Gottes zu vergegenwärtigen (~Dr)390 und zu meditieren (mn)391. Die Erinnerung daran, dass Gott ihm zur Rettung und Hilfe (nmry) geworden ist, lässt den Beter, der sich im Schutzbereich seines Gottes, im Schatten seiner Flügel392 (V.8) weiß, erneut in Jubel ausbrechen. Dieses Ineinander von Gottesschau und Lobpreis, von Heilsvergegenwärtigung und Jubel prägen den gesamten ersten Teil (V.2-9) des Psalms. Im erneuten Rekurs auf 387

F. ASENSIO weist darauf hin, dass das Wortpaar „Mark" (nbn) und „Fett" (JEH) dem Wortpaar „Macht" (W) und „Herrlichkeit" (1133) in V.3 entspricht (Teología bíblica de un tríptico - Salmos 61, 62 y 63, EstB 21 (1962), 11-125 [114]). 388 J.W. Me KAY geht davon aus, dass Ps 63 seinen Ort hatte in einem „act of vigil at a sanetuary in which the suppliant watched and waited for God to come with the dawn and deliver him from his troubles" (Psalms of Vigil, ZAW 91 (1979), 229-247 [229]), vgl. auch A.R. CERESKO, A Note on Psalm 63: A Psalm of Vigil, ZAW 92 (1980), 435-436. Auch wenn der Tempel als Ort der Gottesbegegnung in Ps 63 eine herausragende Rolle spielt, gibt es keinen Hinweis darauf, dass die in V.7 angedeutete Szenerie notwendigerweise im Tempel stattfindet (vgl. auch F. LINDSTRÖM, SufFering and Sin, 410). Diese Engführung ist umso erstaunlicher angesichts der Tatsache, dass McKay eine Festlegung der von ihm behandelten Psalmen z.B. auf bestimmte Feste bzw. Königsrituale oder die Situation eines Angeklagten am Abend vor seinem Gerichtsverfahren ansonsten ablehnt (vgl. a.a.O., 245). 389 F. LINDSTRÖM betont in seinen Ausführungen zu Ps 63 den Aspekt der Bedrohung und die Nähe der Nacht zur Dunkelheit der Sheol und des Todes (Suffering and Sin, 410). Im vorliegenden Kontext scheint die Zeit der Nacht jedoch eher positiv besetzt zu sein, vgl. Ps 4,5; 16,7; 77,7; 119,55. 390 Vgl. W. SCHOTTROFF, Art. "DT, THAT I: „Im Psalter findet sich zkr als Wort für die vertrauensvolle Hinwendung zu Jahwe, wie sie die Beter von Klage- und Danklied für sich bekunden (Ps 42,7; 63,7; 77,4; 119,55; vgl. auch Jes 64,4; Jon 2,8 und Jer 20,9), insbesondere für das vergegenwärtigende Gedenken an Jahwes Heilshandeln [...]. Solches Gedenken kann wohl kaum als Reflex kultdramatischer Vergegenwärtigung des Vergangenen verstanden werden [...], sondern ist erinnerndes und lobendes Aufgreifen des Vergangenen in echter Erkenntnis des zeitlichen Abstandes, aber um seiner aktuellen Gegenwartsbedeutung willen [...]" (516f). 391 Das Verbum Hin meint das halblaute, murmelnde Meditieren, es kann sonst auch für das Gurren der Taube (Jes 38,14) oder das Knurren des Löwen über seiner Beute (Jes 31,4) gebraucht werden. In Verbindung mit 13Í begegnet m n außer in Ps 63,7 auch in Ps 77,12f; 143,5, vgl. A. NEGOITA, Art. m n , ThWAT II. 392 Zum Bild der Zuflucht und Schutz gewährenden Flügel Gottes vgl. die Ausführungen zu Ps 57,2 sowie F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 198f. Dieses Bild verbindet Ps 63 mit Ps 61,5.

5. Zuflucht bei Gott: Ps 61-64

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die Seele des Psalmisten fasst V.9 das Verhältnis zwischen dem Beter und seinem Gott zusammen und schließt damit den ersten Teil des Psalms ab. Der Beter bzw. seine Seele „hängt an" (pm) Gott. Dieser Ausdruck bezeichnet in Gen 2,25 die Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau; im Deuteronomium dient er dazu, die ungeteilte Hingabe an Gott und seine Gebote zu beschreiben (vgl. u.a. Dtn 4,4; 11,22; 30,20). Dass diese Hingabe auch ein Moment der nachgehenden Beharrlichkeit enthält, wird im Buch Ruth deutlich, wo das Verbum dazu verwendet wird, um eine Treue zu beschreiben, die sich nicht abweisen lässt (vgl. Ruth 1,14; 2,8.21.23). Dieser starken Bindung entspricht auf der anderen Seite das machtvolle Eintreten Gottes für den, der sich zu ihm hält.393 „Gehalten hat mich deine Rechte" (V.9b) - so die Formulierung, mit der für gewöhnlich der Beistand Gottes für den Bedrängten, insbesondere auch den König, zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Jes 41,10; 45,1; Ps 18,36; 89,22).394 Der zweite Teil des Psalms (V.10-12) wendet sich den bis dahin noch nicht erwähnten Feinden des Beters zu. Die Seele (E?Q)) des Beters, die sich nach der Gegenwart Gottes sehnt (V.2) und allein durch diese gesättigt wird (V.6), ist durch Feinde bedroht, die sie „zum Verderben" (nNlttfb) suchen. Doch der Psalmist ist sich nun, am Ende seiner Zwiesprache mit Gott gewiss, dass sie ihn nicht herausreißen können aus dem Machtbereich Gottes, sondern vielmehr selbst verschwinden werden in den „Tiefen der Erde" (nrnnn JHNn), d.h. in dem Machtbereich, zu dem sie gehören, dem Machtbereich des Todes, der Scheol (V.lOb, vgl. Ps 55,16).395 Anders als der Beter, den die rechte Hand Gottes hält (V.9), sind sie diesem Machtbereich ausgeliefert, sie werden der Hand des Schwertes (3~in ,~p) preisgegeben. Ahnlich überraschend wie in Ps 61 begegnet auch am Ende von Ps 63 der König (V.12a).396 Es ist gut denkbar, dass das Motiv des Königs ebenso wie in Ps 61 erst sekundär in Ps 63 eingetragen wurde. Für diese Vermutung spricht die Tatsache, dass V.12a die Schilderung des Ergehens der Feinde, die in V.10 beginnt und erst mit V.12b beendet wird, unterbricht. Dabei weist die Bitte bzw. Hoffnung, dass sich der König freuen möge in Gott, in eine ähnliche 393 Unter Hinweis auf die Braut- und Hochzeitsmetaphorik der Prophetie (vgl. Jes 54; 62; Ez 16) beschreibt G. RAVASI die enge Beziehung zwischen Gott und Beter: „Nella fede mistica due persone, Dio e il fedele, sono come due esseri uniti inscindibilmente nello stesso essere, nello stesso amore così da costituire quasi ,una sola carne' (Gn 2,24)" (Salmi II, 281). 394 Vgl. H.-J. FABRY, Art. p o \ ThWAT III, 662f. 395 Vgl. F. LINDSTRÖM, Suffering and Sin, 407f. 396 Wie im Fall von Ps 61 wurden auch für Ps 63 hinsichtlich der Bitte für den König unterschiedliche Erkläningsmodelle in der Forschung vertreten, die entweder davon ausgehen, dass der Sprecher des Psalms ein König ist (Mowinckel; Dahood) oder dass die Fürbitte für den König fester Bestandteil einiger Tempelliturgien war (Kraus), zur Diskussion vgl. M.E. TATE, Psalms 51-100, 125f.

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III. Die zweite Gruppe der

Davidpsalmen

Richtung wie die Bitte um ein langes Leben für den Regenten in Ps 61,7f.397 Weniger eindeutig sind jedoch die Bezüge in V.12ab. Es stellt sich die Frage, ob der Schwur, von dem hier die Rede ist, sich auf Gott oder den König bezieht. Beide Möglichkeiten sind sinnvoll und aus anderen Zusammenhängen her belegbar. Das Schwören im Namen Gottes ist Ausdruck eines Glaubensund Vertrauensbekenntnisses zur Herrschaft JHWHs als dem einen Gott Israels und der damit verbundenen Absage an die Götter der Völker (vgl. Dtn 6,13; Jer 12,16; Jes 19,18).398 Der Schwur beim König (vgl. 1. Sam 17,5; 25,26; 2. Sam 15,21) spricht diesen als Statthalter Gottes, d.h. als Garanten von Recht und Gerechtigkeit im Namen Gottes, und als Mittler zwischen Gott und Volk an.399 In beiden Fällen geht es somit darum, dass sich der Schwörende uneingeschränkt dem Machtbereich Gottes unterstellt. Die Aussage, dass jeder sich rühmen möge, der bei ihm schwört, lässt sich damit als Definition und Charakterisierung der Gruppe der JHWH-Gläubigen verstehen, die ihre Zuflucht in eben diesem Machtbereich suchen.400 Dieses Verständnis wird unterstützt durch Ps 64, wo es ebenfalls im Schlussvers des Psalms (V.ll) in einer vergleichbaren Formulierung heißt, dass alle sich rühmen mögen, die aufrichtigen Herzens sind. Wer sich nicht zum Gott Israels hält, nicht in seinem Namen, sondern gar in irgendeinem anderen Namen schwört, der kann im Weltbild des Psalmisten nur ein Lügner sein, der somit in das Lager der Feinde gehört.401 Und so nimmt V.12b den Faden aus V.l 1 wieder auf und stellt fest, dass eben diesen Lügnern das Maul gestopft werden wird, so dass der Lobpreis der Gerechten umso klarer erklingen kann. Hinsichtlich der Frage nach Entstehungszeit und -ort von Ps 63 ist anzunehmen, dass die Grundfassung ebenso wie Ps 61, mit dem ihn zahlreiche sprachliche und gedankliche Gemeinsamkeiten verbinden, in den Kontext der vorexilischen Jerusalemer Tempeltheologie gehört. Auch für Ps 63 gilt, was für die bisher untersuchten Psalmen mit einer biographischen Überschrift galt: Die Begebenheit aus dem Leben Davids, auf die die Überschrift verweist, und der entsprechende Psalm interpretieren sich gegenseitig. Aus der Bitte für den König (Ps 63,12) wird durch die Überschrift das Gebet des bedrohten und in Not geratenen König David. Die Gewissheit des Beters, dass die, die sein Verderben suchen, selbst dem Verderben anheim 397

Vgl. H.-J. KRAUS, Psalmen II, 603. Vgl. G. RAVASI, Salmi II, 284. 399 Vgl. H.-J. KRAUS, Psalmen II, 603; G. RAVASI, Salmi II, 284. 400 Vgl. G. RAVASI: „«Tutti coloro che giurano in lui, cioè in Dio» potrebbe essere una definizione teologica e poetica proprio per indicare tutta l'assemblea dei credenti in Jahweh, cioè degli israeliti" (Salmi II, 284). 401 Zur Charakterisierung der Feinde als Lügner vgl. u.a. Ps 52,4f; 55,22; 59,13. 398

5. Zuflucht bei Gott: Ps 61-64

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gegeben werden (V.lOf), erhält durch den Bezug auf die Erzählung vom Aufstand Abschaloms eine Bestätigung. Der aufständische Sohn wird am Ende Opfer seiner eigenen Revolte (vgl. 2. Sam 18,14f). Umgekehrt wird durch Ps 63 ein Aspekt der Erzählung verstärkt, der zwischen Verrat und Kriegsgetümmel leicht aus dem Blick gerät. Den David der Erzählung beschäftigt mehr als der Angriff auf seine Königswürde die Frage, ob er die Gunst und Gnade JHWHs verloren hat. So wird die Frage, ob JHWH ihn die Lade und den Tempel wiedersehen lässt, zum Kriterium dafür, ob er noch Gunst (¡n) findet in den Augen Gottes (2. Sam 15,25). Als der Benjaminiter Schimi ihn verflucht und beschimpft, wertet David dies als ein Fluchen im Auftrag JHWHs. Er lässt die Verwünschungen über sich ergehen und äußert lediglich die Hoffnung, dass JHWH dennoch seine Schuld ansehen und ihm Gutes zuwenden werde (2. Sam 16,10-12). Diese Haltung bringt besonders zugespitzt auch Ps 63,4 in der Einsicht zum Ausdruck, dass Gottes Güte besser ist als Leben. An einem anderen Punkt wirkt der Psalm gegenüber der Erzählung korrigierend. Diese betont die Absicht Davids, das Leben seines aufständischen Sohnes zu schonen (vgl. 2. Sam 18,5) und seine Trauer, als Abschalom trotz seiner ausdrücklichen Anordnung getötet wird (vgl. 2. Sam 19,1-5). In dem Vorwurf seines Befehlshabers Joab, dass er den Einsatz seiner Gefolgsleute nicht wert schätzt (vgl. 2. Sam 19,6f), klingt eine Kritik an, die diese nachsichtige Haltung als Schwäche bewertet. Demgegenüber macht Ps 63 im Munde Davids deutlich, dass dieser durchaus nicht diejenigen liebt, die ihn hassen, und die hasst, die ihn lieben (vgl. 2. Sam 19,7), sondern vielmehr seinen Feinden die ihnen angemessene Vergeltung wünscht (V. 10-12). 5.4 Psalm 64 1 Für den Chormeister. Ein „Mizmor" in Hinblick auf David. 2 Höre, Gott, meine Stimme in meiner Klage, vor dem Schrecken des Feindes mögest du mein Leben bewahren. 3 Du mögest mich verbergen vor dem Rat der Bösen, vor dem Getümmel der Übeltäter, 4 die geschärft haben wie ein Schwert ihre Zunge, sie haben gespannt ihre Pfeile [zu] bitterer Rede, 5 um zu schießen in Verstecken [auf] einen Schuldlosen, unvermutet schießen sie auf ihn und furchten sich nicht. 6 Sie machen sich stark in einem bösen Wort, sie sinnen darauf, Fallen zu verbergen und sagen: „Wer wird sie sehen?" 7 Sie sinnen auf Freveltaten: „Wir haben vollendet ein ersonnenes Ansinnen." Aber das Innere eines Mannes und das Herz sind unergründlich.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

8 Da traf sie Gott mit einem Pfeil, unvermutet war ihre Verwundung. 9 Und sie brachten sich selbst durch ihre Zunge zu Fall,402 es schütteln sich alle, die sie sehen. 10 Und es fürchteten sich alle Menschen, und sie machten kund das Tun Gottes, und sein Werk verstanden sie. 1 lEs freue sich der Gerechte in JHWH und er möge Zuflucht suchen bei ihm, und es mögen sich rühmen alle, die aufrichtigen Herzens sind. Die Struktur von Ps 64 lässt sich wie folgt beschreiben: V.l:

Überschrift

V.2-3:

Einleitender Hilferuf: Höre, Gott... V.4-7: Das Treiben der Feinde (¡ib6, pn, DiNna) V.8-9a: Gottes Gericht über die Feinde (pn, Dixna, ¡iB>b) V.9b-11: Die Reaktion der Gerechten: Einsicht und Gotteslob Wie Ps 61 beginnt auch Ps 64 mit einem Appell an Gott (DTibN yotff), er möge die Klage des Beters hören. Die zur Bezeichnung dieser Klage verwendete Wurzel rrfr beschreibt dabei weniger den durch punktuelles Leid und Unheil bedingten Aufschrei, als vielmehr die leise, geflüsterte Rede, in deren Hintergrund ein „intellektuelles" Leiden an der Undurchschaubarkeit und Unberechenbarkeit der Welt steht.403 Die hierzu parallel formulierte Bitte, Gott möge das Leben des Psalmisten vor dem Schrecken des Feindes bewahren, macht deutlich, dass es um eine Angelegenheit auf Leben und Tod geht. Der Feind ist keine eindeutig benennbare Person oder Personengruppe, sondern eine unüberschaubare und damit unberechenbare Menge. Die Begriffe HD und n t f n begegnen auch in Ps 55,15, wo sie die freundschaftliche Gemeinschaft sowie das „festliche Treiben"404 und Gedränge (vgl. Ps 42,5) im Hause Gottes beschreiben. Was dort über einen positiven, die Gemeinschaft Gleichgesinnter zum Ausdruck bringenden Klang verfugt, hat hier jedoch die Qualität einer bedrängenden Bedrohung für den Beter, vor der - so sein Wunsch - Gott ihn verbergen möge.

402 Das Suffix des Verbs (3. Pers. Sg. mask.) ist nur dann sinnvoll, wenn es sich antizipatorisch auf Jlt?1? (Zunge) bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet dann: Und sie brachten sie [die Zunge] über sich selbst zu Fall, ihre Zunge", vgl. M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 131 (Note 9.b.). 403

404

Vgl. F.-L. HOSSFELD/E. ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 2 0 7 .

So die Übersetzung der Zürcher Bibel in der Fassung von 1996.

5. Zuflucht bei Gott: Ps 61-64

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An diese Eingangsbitte schließt sich in V.4-7 eine Schilderung des Treibens der Feinde an, die sich diverser, bereits bekannter Motive bedient. So ist in V.4 von der Sprachgewalt der Feinde die Rede (vgl. Ps 52,4; 55,22; 57,5; 59,8). Ihre Zunge ist scharf wie ein Schwert, ihre bitteren Worte gleichen in den Bogen gespannten Pfeilen, mit denen sie auf den Schuldlosen (on) schießen. Neben diese militärischen Bilder tritt ein Motiv aus dem Bildbereich der Jagd405; die Feinde sinnen darauf, Fallen zu verbergen (V.6). Kennzeichen dieses Tuns, das sich durch die gesamte Beschreibung hindurchzieht, ist dabei die Heimlichkeit und Unberechenbarkeit, mit der all dies geschieht. Wie „Heckenschützen"406 schießen die Gegner ihre Pfeile unvermutet (DNna - V.5) und ohne Warnung, sie selbst halten sich in Verstecken (CPinDD — V.5) auf, und die Fallen, die sie stellen, sind verborgene Fallen (¡OD - V.6). Sie sind sich ihrer Sache vollkommen sicher und furchten sich nicht (INT 1 "' XBI V.5b). In der klassischen Haltung des Gottlosen, der nicht mit dem Eingreifen Gottes rechnet (vgl. Ps 59,8; 73,11), fragen sie in Hinblick auf ihre Anschläge: „Wer wird sie sehen?" Dem unberechenbaren, aber umso genauer geplanten Handeln der Feinde entspricht auf der formalen Ebene die durchdachte und subtile sprachliche Gestaltung dieses Teils. Zu nennen sind hier die Klangfiguren in V.4 (-Il?-i;n), V.5 Oia" t6l 1HT) und V.7 (»pni? osn [...] ffl?ir). Die in V.7 formulierte Quintessenz des zweiten Teils (V.4—7) fasst das Treiben der Gegner zusammen, das als nbiu (Freveltaten) gebrandmarkt wird, und stellt der Vollkommenheit und Vollendung (Dn - V.5) des Gerechten407 die Vollendung (non) der verbrecherischen Pläne der Feinde gegenüber. In einer weisheitlichen Sentenz (V.7b) formuliert der Psalmist die Einsicht, zu der ihn die beschriebenen Erfahrungen geführt haben: Das Innere, das Herz des Menschen ist unergründlich (vgl. Jer 17,9).408 Diese Verborgenheit der innersten Gedan-

405

Vgl. hierzu O. KEEL: „Wo in den Pss auf die Jagd angespielt wird, handelt es sich fast ausnahmslos um die Jagd mit Gruben, Fallen, Netzen und Schlingen. Stärker als im offenen Kampf mit der Lanze oder in der Verfolgungsjagd, die etwas von einem Wettlauf zwischen Mensch und Tier an sich hat, kommt in diesen Jagdarten die überlegene List des Menschen zum Ausdruck, gegen die aufzukommen das Tier nicht die geringste Chance hat." (Altorientalische Bildsymbolik, 78). Auf diese chancenlose Unterlegenheit des Gejagten zielt die Darstellung in V.6 hin, vgl. auch die Ausführungen bei F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51100, 208. 406

Vgl. K. SEYBOLD, Psalmen, 251. Das Attribut DD im Sinne von „unschuldig", „integer", „vollkommen" wird so ziemlich allen Helden des Alten Testaments von Noah (Gen 6,9) über Abraham (Gen 17,1) und Jakob (Gen 25,27) bis hin zu Hiob (Hi 1,1) zugeschrieben. 408 F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER verstehen diesen Kommentar als Teil der zitierten Rede der Feinde (Psalmen 51-100, 209). Angesichts des weisheitlichen Charakters des Gesamt407

192

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

ken und die Unergründlichkeit des menschlichen Herzens werden in vergleichbarer Weise auch in Ps 62 in den Blick genommen (vgl. V.5b.9a). Die Wende, die im Anschluss an diese Einsicht in V.8-9a beschrieben wird, könnte man als eine Konkretisierung von Jer 17,9f verstehen: „Trügerisch ist das Herz, mehr als alles, und unheilbar ist es. Wer kennt sich mit ihm aus? Ich, der Herr, bin es, der das Herz erforscht und die Nieren prüft, und zwar um einem jeden zu geben nach seinen Wegen, nach der Frucht seiner Taten."

So entspricht das Ergehen der Feinde ihrem Tun bis ins Detail hinein. Sie, die mit den Pfeilen ihrer Worte auf den Unschuldigen schießen (V.4b), werden nun selbst vom Pfeil Gottes getroffen. Ihre Verwundung kommt ebenso unvermutet (Dixns) wie ihre eigenen Attentate für den davon Betroffenen (V.5b), und ihre wie ein Schwert geschärfte Zunge (V.4a) bringt sie selbst zu Fall. Es ist unter den Auslegern immer wieder diskutiert worden, ob dieses Eingreifen Gottes als bereits geschehen zu verstehen ist, so dass der Psalmist auf diese Ereignisse zurückblickt,409 oder ob der Beter hier seine Wünsche formuliert, deren Erfüllung aber noch aussteht.410 Hierzu ist zu sagen, dass Ps 64 wohl kaum die konkrete Erfahrung eines bestimmten Menschen reflektieren will.411 Vielmehr wird in diesem weisheitlich geprägten Psalm eine allgemein gültige Erkenntnis darüber formuliert, wie Menschen an Menschen handeln und wie Gott darauf reagiert, oder kurz gesagt, über den Zusammenhang von Tun und Ergehen412. Auf diesem Hintergrund ist die Frage, ob das Handeln Gottes bereits geschehen ist oder noch aussteht, kaum angemessen. Der abschließende Teil des Psalms (V.9b-11) schildert in einer Art „Chorschluss" die Reaktion derer, die Zeugen dieses Geschehens werden. Das Schütteln des Kopfes ist ein Zeichen des Entsetzens (vgl. Jer 18,6), vor allem aber eine Geste des Hohns und der Verachtung, wie sie z.B. der Gerechte in Ps 22,8 und 109,25 oder das zerstörte Jerusalem nach Klgl 2,15 erlebt. Diejenigen, die dachten, dass niemand sie selbst und ihre Anschläge sehen würde psalms bzw. der weisheitlich geprägten Grundhaltung des Sprechers (die im Übrigen auch Hossfeld / Zenger beobachten) ist diese Deutung jedoch wenig sinnvoll. 409 Diese Sichtweise, für die die Narrativformen in V.B und 9 sprechen, vertreten u.a. A. WEISER, Psalmen II, 312f; H.-J. KRAUS, Psalmen II, 606f. 410 So H. GUNKEL, Psalmen, 270; K. SEYBOLD, Psalmen, 250f; M.E. TÄTE geht mit Mowinckel (Psalms in Israel's Worship I, 219f) sogar davon aus, dass selbst die Attacken der Feinde noch nicht stattgefunden haben und dass der Psalm schon vor der eigentlichen Gefahr Gott um Schutz bitten will (Psalms 51-100, 132). 411 Dem entspricht, dass das „Ich" des Beters nach der einleitenden Anrufung Gottes in V.2-3 vollkommen in den Hintergrund tritt. 412 Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER: „Die Auseinandersetzung ist also letztlich ein Kampf zwischen Chaos und Kosmos [...], dessen Ausgang für ,alle Menschen' Bedeutung hat - nicht zuletzt im Blick auf die ,Gottesfurcht' als Prinzip der .Einsicht' in die Weltwirklichkeit und in die aktive Präsenz Gottes in dieser Welt (V 10)." (Psalmen 51-100, 205).

5. Zuflucht bei Gott: Ps 61-64

193

(V.6), werden nun von allen gesehen. Auf diesen Anblick reagieren „alle Menschen" (DIN bo) mit der Gottesfurcht, die die „Feinde" vermissen lassen (V.5). Die Gottesfurcht, die Vertrauensbindung an Gott, die mit dem Eingreifen und Handeln Gottes rechnet, ist aber bekanntlich der Anfang der Weisheit (Prov 1,7; 9,10). Und so resultiert aus der Gottesfurcht die Einsicht (bsto) in das Werk Gottes, eine Einsicht, die nicht bei sich selbst bleibt, sondern nach einem öffentlichen Bekenntnis ("»:) verlangt. Dass Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis weitergegeben, weitererzählt werden wollen und müssen, ist aber eine der Grundüberzeugungen alttestamentlicher, insbesondere weisheitlicher Theologie (vgl. Ex 13,8; Dtn 26,5-9; Hi 15,18; Ps 48,14).413 In V.l 1 wird abschließend dem Ergehen der Übeltäter (¡IN ^bvü — V.3) die Freude des Gerechten ( p ' H S ) gegenübergestellt. Dieser möge sich in JHWH freuen, so wie sich nach Ps 63,12 der König in Gott freuen möge. Verbunden mit der Freude des Gerechten ist der Lobpreis aller, die aufrichtigen Herzens sind (ab n i r bs). Ähnlich wie die Formulierung in bo in Ps 63,12 dürfte auch der Ausdruck ab n r bs eine Gruppenbezeichnung darstellen, die die JHWH-Treuen im Gegenüber zu den Feinden bzw. Gottlosen beschreibt. Diese JHWH-Treuen zeichnen sich dadurch aus, dass ihr Herz eben nicht unergründlich (V.7), sondern aufrichtig414 ist. Der Wunsch, dass der Gerechte seine Zuflucht suchen möge (riDn) bei Gott, setzt Ps 64, der ansonsten nicht von der mit dem Wortfeld nDn verbundenen Sprach- und Vorstellungswelt geprägt ist, in Beziehung zu seinen Nachbarpsalmen 61-63. Auf diese Weise wird die Vorstellung vom gottesfürchtigen Gerechten der Weisheit mit der Konzeption des bei Gott seine Zuflucht suchenden Beters der Tempeltheologie verbunden. Hinsichtlich der Datierung von Ps 64 ergeben sich hieraus kaum konkrete Anhaltspunkte. Die fast schon mechanistische Vorstellung vom Funktionieren des Tun-Ergehen-Zusammenhangs legt es jedoch nahe, den Text weisheitlich denkenden Kreisen der vorexilischen Zeit zuzuschreiben. 413 Für gewöhnlich findet man in den Psalmen im Kontext des Gedankens der Bestimmung des Menschen zum Gotteslob: „JHWH öffnet die Lippen seiner Gläubigen und diese verkünden sein Lob (Hiillah, Ps 51,17). Das Lob Gottes verkünden ist dasselbe wie ihm Ehre zu geben (Jes 42,12), seine Wunder zu besingen (Ps 40,6, 71,17) und seine Größe zu verkünden (Ps 71,19)" (F. GARCIA-LÓPEZ, Art.DJ, ThWAT V, 199). Die weisheitliche Prägung von Ps 64 legt es jedoch nahe, "UJ stärker in dem oben beschriebenen Sinne zu verstehen, vgl. G. RA VASI: „Potremmo dire che il «racconto» delle «opere» di Dio è la migliore confessione della propria fede com attestano i passi del cosidetto «credo storico» [...]" (Salmi II, 298). 414 Das Adjektiv "iE*1 in übertragener Bedeutung findet sich besonders häufig in der Psalmen- und Weisheitssprache: Ps 33,1; 107,7.42; 111,1; 112,2.4; 140,14; Hi 1,1; 1,8; 2,3; 8,6; Prov 2,7.21; 3,32; 8,9; 11,3.6.11; 12,6.15; 14,9.11; 20,11). Für die Psalmen ist besonders der erweiterte Ausdruck nb "nET - „die aufrichtigen Herzens" charakteristisch: Ps 7,11; 11,2; 32,11; 36,11; 94,15; 97,11, vgl. G. LLEDTKE, Art.ni?1, THATI.

194

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

5.5 Zusammenfassung: Entstehung und theologisches Profil der Psalmengruppe Ps 61-64 Mit Ps 61-64 liegt eine Psalmengruppe vor, die eng ineinander verzahnt ist.415 Jeder der vier Einzeltexte ist mit seinen drei Nachbarn durch gemeinsame Stichworte, Themen und Motive verbunden. Es legt sich daher die Vermutung nahe, dass die Psalmengruppe 61-64 von einer Hand zusammengestellt wurde. Die Verbindungslinien, die in der Einzelauslegung bereits angedeutet wurden, sollen hier noch einmal zusammenfassend dargestellt werden. Zunächst gilt es jedoch, das Augenmerk erneut darauf zu richten, dass die Überschrift von Ps 61 keine Angabe zur Liedart enthält, so dass nur Ps 62-64 durch die gemeinsame Bestimmung als „Mizmor" zusammengebunden werden. Diese drei Psalmen sollen also gemäß der Leseanweisung der Überschriften auf der Ebene des Endtextes als zusammengehörige Einheit verstanden werden. Diese Einheit lässt sich dahingehend beschreiben, dass die beiden weisheitlich geprägten Psalmen 62 und 64 einen Rahmen um den innerhalb des zweiten Davidpsalters letzten Psalm mit einer biographischen Überschrift (Ps 63) bilden. Sowohl Ps 62 als auch Ps 64 widmen der Darstellung des Treibens der Feinde einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit. In beiden Psalmen wird die damit verbundene Bedrohung als sehr massiv geschildert. Wie eine Armee stürmen die Feinde in Ps 62 gegen den Beter an (V.4), in Ps 64 bilden sie eine unüberschaubare und damit unberechenbare Menge (V.3). Besonderes Kennzeichen der Gegner ist ihr trügerisches und böswilliges Reden. Während ihr Mund Segensworte spricht, verfluchen sie in ihrem Inneren (Ps 62,5), ihre Worte gleichen scharfen Schwertern und in den Bogen gespannten Pfeilen (Ps 64,4). Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen formuliert der Psalmist in beiden Psalmen eine weisheitliche Einsicht in das Wesen des Menschen. Nur Windhauch und Trug ist der Mensch, der - auf der Waage des richtenden Gottes gewogen - als zu leicht befunden wird (Ps 62,10), sein Inneres und sein Herz sind für den Beter unergründlich (Ps 64,7). Trotz oder gerade angesichts dieser Erkenntnis sucht und findet der Beter in beiden Psalmen seine Zuflucht (non) bei Gott (Ps 62,8.9; 64,11). Ebenso ungebrochen kommt in beiden Texten das Vertrauen in das Funktionieren des Tun-Ergehen-Zusammenhangs zum Ausdruck. So endet Ps 62 mit dem Bekenntnis, dass Gott jedem gemäß seinem Tun vergilt (V.13), nach Ps 64 erfahren die Feinde eine Vergeltung, die bis ins Detail hinein ihrem eigenen schändlichen Treiben entspricht (V.8f). 415 F. ASENSIO hat zu Recht auf das gemeinsame theologische Profil der Psalmen 61; 62 und 63 aufmerksam gemacht, die er als „triptico" bezeichnet (Theologfa biblica de un triptico, IIIS)- Auch wenn sich Asensio bei seiner Bewertung dieser Psalmen als in sich geschlossene Kleingruppe nicht an den Psalmenüberschriften orientiert, stellt sich die Frage, warum er Ps 64, der insbesondere mit Ps 62 und 63 eng verbunden ist, nicht in seine Überlegungen mit einbezieht.

5. Zuflucht bei Gott: Ps 61-64

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Mitten in dieser zweifachen Auseinandersetzung mit den „Strukturen des Bösen", wie sie in der Gestalt der Feinde begegnen, hat Ps 63 mit seiner Suche nach Heilsvergegenwärtigung und -vergewisserung seinen Platz. Mit Ps 62 verbindet Ps 63 die prominente Stellung der Seele (E?DL) des Beters, die in beiden Psalmen in der Situation der Not nach Ausrichtung hin auf Gott sucht (Ps 62,2.6; 63,2.6.9). Des Weiteren beschreiben beide Psalmen Macht (TU) und Güte (non) als die grundlegenden Eigenschaften Gottes, auf die der Beter seine Hoffnung setzt. In Ps 62 begegnen Macht und Güte in der in Form eines weisheitlichen Zahlenspruchs formulierten Quintessenz des Gesamtpsalms (V.12f). Nach Ps 63,3 besteht das Ziel der Gottesschau im Tempel darin, Gottes Macht (hier zusammen mit seiner Herrlichkeit) zu sehen. Gleichzeitig wird Gottes iDn in der zentralen Aussage von V.4 zum höchsten Gut erklärt. Auch zwischen Ps 63 und 64 ergeben sich Verbindungslinien, die sich allerdings vor allem auf die Schlussverse beider Texte konzentrieren. So endet Ps 63 mit der Hoffnung, dass sich der König freuen möge in Gott (V.12). Eben diese Freude in Gott wünscht Ps 64,11 dem Gerechten. Aus dem König, den die Überschrift von Ps 63 mit der Idealgestalt David identifiziert, wird so in der nach zeitloser Allgemeingültigkeit suchenden Sprach- und Gedankenwelt der Weisheit der Gerechte schlechthin. Des Weiteren sprechen beide Psalmen vom Lobpreis bzw. Sich-Rühmen der JHWH-Treuen. Nach Ps 63 ist solch ein JHWH-Treuer jeder, der bei Gott bzw. beim König schwört (V.12), während Ps 64 in weisheitlicher Terminologie alle zu dieser Gruppe zählt, die aufrichtigen Herzens sind (V.ll). Was die Genese dieser auffälligen Entsprechungen zwischen den Schlussversen von Ps 63 und 64 angeht, so legt sich die Vermutung nahe, dass der vermutlich sekundäre Vers Ps 63,12a in Anlehnung an Ps 64,11 formuliert wurde. Der entsprechende Redaktor hat mit diesem Halbvers somit eine Brücke geschaffen, die Anfang (vgl. Ps 61,7-8) und Ende (vgl. Ps 64,11) der Psalmengruppe Ps 61-64 verbindet. Eine Gemeinsamkeit, die Ps 62-64 teilen, ist die Erwartung, dass das Ergehen der Feinde ihrem schändlichen Treiben entsprechen wird. Während Ps 62 sehr allgemein davon spricht, dass Gott einem jeden gemäß seinem Tun vergelten wird (V.13b), sind die Aussagen von Ps 63 und 64 konkreter. Nach Ps 63,10f werden die Feinde hineingehen in die Tiefen der Erde, d.h. sie werden zurückkehren in den Machtbereich des Todes, dem sie in den Augen des Beters auch entstammen. Noch anschaulicher ist die Schilderung von Ps 64,8f, die von einer bis ins Detail hineinreichenden Entsprechung zwischen dem Tun und dem Ergehen der Feinde ausgeht. Es kann nicht völlig ausgeschlossen werden, dass das Fehlen einer Angabe zur Liedart in Ps 61 auf einen Fehler bzw. ein Versehen in der weiteren Textund Überlieferungsgeschichte von Ps 61 bzw. der Psalmengruppe Ps 61-64 zurückgeht. Wahrscheinlicher erscheint es jedoch, dass dieses Fehlen darauf

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

hinweist, dass Ps 61 über seine Rolle als Eröffnungspsalm der Gruppe Ps 6164 hinaus einen übergeordneten Bezug hat. Sucht man innerhalb des zweiten Davidpsalters nach weiteren Psalmen ohne Angabe zur Liedart, so stößt man auf Ps 69-72. Innerhalb dieser Schlussgruppe fallt insbesondere der Königspsalm Ps 72 ins Auge. Die Bitte um ein langes Leben für den König in Ps 72,15 entspricht der vermutlich sekundären Königsbitte in Ps 61,7-8. Diese Entsprechung lässt vermuten, dass Ps 61,7-8 in Hinblick auf Ps 72 formuliert wurde. Durch die gemeinsame Königsthematik und den Verzicht auf eine Angabe zur Liedart in den jeweiligen Überschriften entsteht mit Ps 61 und 72 eine königstheologische Rahmung um den zweiten Teil des zweiten Davidpsalters. Damit ergibt sich gleichzeitig ein gewisser Einschnitt innerhalb der Gesamtkomposition bzw. auf deren biographischer Ebene. Während Ps 52-59 mit Blick auf die Zeit der Verfolgung Davids durch Saul gelesen werden sollen, zeigt Ps 61 an, dass die nun folgenden Psalmen auf die Zeit der Königsherrschaft David zu beziehen sind. Dieser Bezug wird unterstützt durch die biographische Überschrift von Ps 63 und die in diesem Psalm ebenfalls sekundäre Königsthematik.416 Eine weitere, ebenfalls durch V.7-8 begründete, übergreifende Bedeutung von Ps 61 ergibt sich in Hinblick auf den ersten Davidpsalter. In der Mitte des ersten Davidpsalters stehen mit Ps 20 und 21 zwei Bitt- bzw. Dankgebete für den König. Zu diesen beiden Psalmen bilden Ps 61 und 63 mit ihren auf den König bezogenen Erweiterungen ein Pendant. Der erste und zweite Davidpsalter sind somit nicht nur am Anfang (durch Ps 14 und 53 - vgl. Kap. III.3.2) und am Ende (durch Ps 3 5 ^ 1 und 69-71 - vgl. Kap. III.7.4) miteinander verknüpft, sondern auch in ihrer Mitte.417 Trotz der fehlenden Angabe zur Liedart und der dadurch angezeigten übergeordneten Funktion von Ps 61 ist die enge Verbindung dieses Psalms zu Ps 62-63 und dabei insbesondere zu Ps 63 nicht zu übersehen. So verwenden beide Psalmen eine topographische Metaphorik, um die Ausgangssituation des Beters zu beschreiben. Während sich der Beter von Ps 61 am „Ende der Erde" (V.3) verortet, spricht Ps 63 vom „trockenen und lechzenden Land ohne Wasser" (V.2). Für beide Psalmen spielt der Tempel als Ort der schützenden und Leben ermöglichenden Gegenwart Gottes eine zentrale Rolle. Der Beter von Ps 61 sehnt sich nach dem „Zelt" Gottes (V.5), in Ps 63 erinnert sich der

416 Es ist anzunehmen, dass nicht nur die Königsthematik sondern auch die biographische Überschrift in Ps 63 sekundärer Natur ist und dazu dient, eine Verbindung des zweiten Teil des zweiten Davidpsalters (Ps 61-72) zu den beiden ersten, biographisch orientierten Gruppen Ps 52-55 und 56-60 zu schaffen, vgl. Kap. III.9. 417 Diese Verbindung ist jedoch weniger offensichtlich und hat dementsprechend auch deutlich weniger Gewicht als die durch die Doppelüberlieferungen Ps 14 = Ps 53 und Ps 40,14-18 = Ps 70 konstituierten Verbindungsstellen am Anfang und am Ende der beiden Davidpsalter.

5. Zuflucht bei Gott: Ps

61-64

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Psalmist an die Gottesschau im „Heiligtum" und hofft auf eine erneute Gottesbegegnung. In diesen Kontext gehört auch die in der Jerusalemer Tempeltheologie beheimatete Metapher vom Schutz bzw. Schatten „deiner Flügel", die ebenfalls in beiden Texten begegnet (Ps 61,5; 63,8). Weiterhin spielt in beiden Psalmen das Lob Gottes als Antwort auf die erfahrene Heilsvergewisserung, insbesondere in Gestalt des Lobes des Namens Gottes, eine zentrale Rolle (Ps 61,9; 63,5). Die herausragendste Gemeinsamkeit von Ps 61 und 63 ist jedoch die Bitte für den König jeweils am Ende des Psalms (Ps 61,7f; 63,12), mit der der Beter diesem ein langes Leben in der Gegenwart Gottes wünscht. Neben diesen Bezügen zu Ps 63 weist Ps 61 jedoch auch einige signifikante Stichwortentsprechungen auf, die ihn mit seinem unmittelbaren Nachbarn Ps 62 verbinden. Für beide Psalmen ist die in der Konzeption der Jerusalemer Tempeltheologie beheimatete, mit dem Wortfeld HDn verbundene Metaphorik, die Gott als Zuflucht des Beters beschreibt, prägend. Dementsprechend wird Gott in beiden Texten als n u („Fels" - Ps 61,3; 62,3.7) und als nono („Zuflucht" - Ps 61,4.5; 62,8.9) angesprochen. Eine weitere Stichwortverbindung liegt mit der Wurzel nbvi („erfüllen", „vollenden") vor, die jeweils im letzten Vers beider Psalmen begegnet (Ps 61,9; 62,13). Weiterhin ist festzustellen, dass Ps 61; 62 und 63 dadurch zusammengebunden werden, dass alle drei ~ion („Güte" - Ps 61,8; 62,13; 63,4) und TV („Macht" - Ps 61,4; 62,8.12; 63,3) als grundlegende Eigenschaften Gottes beschreiben. Abschließend ist auf die Rahmung hinzuweisen, die die Kleingruppe Ps 61-64 durch den die beiden Eckpsalmen 61 und 64 einleitenden Aufmerksamkeitsruf „Höre, Gott" ( d t 6 n HUDE' - Ps 61,2 bzw. d t 6 n i/otf - Ps 64,2) erhält. Dieser Ruf bzw. diese Bitte schafft jedoch nicht nur einen Rahmen, sondern markiert gleichzeitig den Anfangs- und Endpunkt eines für die Gruppe Ps 61-64 beschreibbaren Spannungsbogens. Zu Beginn von Ps 61 bittet der Beter Gott, sein lautes, verzweifeltes Schreien zu hören; in Ps 64,1 ist aus diesem Schreien eine leise, reflektierende Rede geworden. Damit ist der Blick auf die Psyche und innere Befindlichkeit des Beters gelenkt. Den Weg vom verzweifelten Aufschrei hin zur eher distanzierten Reflexion beschreiben Ps 62 und 63. Der Beter, dessen Herz kraftlos ist (Ps 61,3) und der einer eingestoßenen Wand und einer umgestürzten Mauer gleicht (Ps 62,4), erfährt Gott als seinen sicheren Felsen und seine uneinnehmbare Burg (Ps 62,3.7). Seine unruhige, dürstende Seele (Ps 62,6; 63,2) gelangt zum Schweigen (Ps 62,2) und wird gesättigt (Ps 63,3), weil sie an Gott hängt, wie ein Mann an seiner Frau hängt (Ps 63,9, vgl. Gen 2,25). In dieser Haltung der inneren Ruhe kann er trotz der bleibenden Bedrohung durch feindlich gesinnte Menschen (Ps 64,2-7) deren unaufhaltsamen Fall konstatieren (Ps 64,8-9) und die Gerechten und Menschen mit aufrichtigem Herzen zur Freude auffordern.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Jenseits dieses voranschreitenden Spannungsbogens418 und über diesen hinaus bilden die vier Psalmen 61-64 eine durch vielfaltige Bezüge eng ineinander verwobene Komposition, die eine differenzierte Weltsicht entwirft. Demnach ist das Wesen des Menschen an sich unberechenbar und unstet wie der Windhauch. Der Mensch kann zum größten Feind des Menschen werden, bloße Worte können die Wirkung tödlicher Waffen erhalten. Diesem Machtbereich des Bösen steht jedoch die Schar der Gerechten und Gottesfurchtigen, die aufrichtigen Herzens sind, gegenüber. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie auch in Zeiten der Not ihre Zuflucht allein bei Gott suchen, vorzugsweise im Tempel als dem prädestinierten Ort für die erhoffte Gottesbegegnung und Heilsvergewisserung. Prototyp dieser Gerechten ist der König, der durch ein langes Leben im Angesicht und damit in der Nähe Gottes zur Hoffnungsgestalt für den Einzelnen und das Volk wird. Gott wiederum handelt an den Menschen durch zwei seiner grundlegenden Eigenschaften, seine souveräne, richterliche Macht und seine rettende und helfende Güte. Dementsprechend vergilt er jedem nach seinem Tun. Der Gerechte aber, der Zuflucht und Rettung bei seinem Gott gefunden hat, antwortet auf diese Erfahrung in der einzig angemessenen Form, nämlich mit dem Gotteslob. Was die Position von Ps 61-64 innerhalb des zweiten Davidpsalters angeht, so lässt sich sagen, dass die für diese Gruppe so zentrale ZufluchtsMetaphorik einen Anknüpfungspunkt bildet, der Ps 61-64 mit der vorausgehenden Kleingruppe Ps 56-60 verbindet (vgl. insbesondere Ps 57 und 59). 418 Auch F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER beschreiben einen Ps 61-64 zugrunde liegenden Geschehensbogen. Ihrer Auffassung nach will die Anordnung von Ps 61-64 „die Ereignisstruktur eines Krieges" nachzeichnen: „Ps 61 markiert den Beginn des Angriffs der Feinde gegen den Beter, in Ps 62 setzen die Feinde zum entscheidenden Vernichtungsschlag gegen den Beter an (die Stadtmauer steht kurz vor dem Einsturz), Ps 63 verkündet die entscheidende Wende im Kampfgeschehen (Ankündigung der Niederlage der Feinde: Ps 63,11) und Ps 64 .schaut' im prophetischen Perfekt die Niederlage der Feinde, die Gott selber als Krieger herbeiführt. Kontrastiv zu dieser Kriegsdimension, für deren richtige Deutung wichtig ist, daß der Beter selbst nicht Krieg führt, sondern Ziel eines massiven Angriffskrieges ist (Ps 61-64 läßt erkennen: Es ist ein Krieg mit Worten der Verleumdung und Einschüchterung!), verläuft in Ps 6164 eine Linie von Aussagen wachsender Intimität der Beziehung zwischen dem Beter bzw. seiner ,Seele' und ,seinem' Gott." (Psalmen 51-100, 176). Dazu ist anzumerken, dass jeder in Hinblick auf Ps 61-64 eruierte Spannungs- bzw. Geschehensbogen aus den Einzelpsalmen selektiv (und damit willkürlich?) nur einzelne Aspekte aufgreift (z.B. geht es in Ps 64 nicht nur um die Niederlage der Feinde, vielmehr nimmt auch die Schilderung ihres Angriffs breiten Raum ein). Der oben beschriebene Spannungsbogen hat gegenüber der Darstellung von Hossfeld / Zenger den Vorteil, dass er im Text durch die beiden Aufmerksamkeitsrufe in Ps 61,2 und 64,2 als solcher markiert wird. Um der komplexen Kompositionsstruktur von Ps 61-64 gerecht zu werden, müssen im Übrigen die vielfältigen Bezüge wahrgenommen werden, die jeder Einzelpsalm zu seinen drei Nachbarn hat. Hierzu ist das Modell eines voranschreitenden Geschehensbogens allein jedoch nicht ausreichend.

6. Der Lobpreis der Königsherrschaft Gottes: Ps 65-68

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6. Der Lobpreis der Königsherrschaft Gottes: Ps 65-68 Auf der Ebene des vorliegenden Endtextes des zweiten Davidpsalters werden die Psalmen 65-68 durch die in den jeweiligen Überschriften begegnende Angabe ~PE? - „Lied" zu einer Einheit zusammengebunden. Neben dieser Angabe begegnet jedoch auch in allen vier Überschriften die Bezeichnung "HOtD „Psalm", durch die eine Verbindung zu der vorangehenden Psalmengruppe (61) 62-64 geschaffen wird. Dementsprechend legt es sich nahe, nicht nur Ps 65-68 als zusammengehörige Einheit zu verstehen, sondern im Anschluss an die Leseanweisung der Überschriften auch den übergreifenden Zusammenhang von Ps (61) 62-68 in den Blick zu nehmen. 6.1 Psalm 65 1 Für den Chormeister. Ein Psalm in Hinblick auf David. Ein Lied. 2 Für dich ist Stillschweigen419 Lobpreis, Gott auf dem Zion, und dir erfüllt man Gelübde420. 3 Der Gebet erhört, zu dir kommt alles Fleisch. 4 Die Reden der Verfehlung421 sind stärker als ich, unsere Verbrechen, du, du kannst sie vergeben.

419 Der in der Lesart des masoretischen Textes zum Ausdruck kommende Gedanke, dass die Stille in den Lobpreis Gottes führt, findet sich gleichermaßen in der jüdischen wie auch in der christlichen Mystik (vgl. hierzu die Übersicht bei G. RAVASI, Salmi II, 31 lf). Dennoch weist Ravasi zu Recht darauf hin, dass sich diese Idee in den Texten des Alten Testaments selbst nicht finden lässt (a.a.O.). Gerade in den Psalmen drängt der Lobpreis in die Öffentlichkeit und will laut und deutlich vernehmbar sein (im Kontext von Ps 65 vgl. u.a. Ps 66,2.8; 68,4f). Auf diesem Hintergrund legt es sich nahe, der Fassung der Septuaginta zu folgen und rrpn (Part. fem. qal von HDT - „gleichen") statt ¡TOT zu lesen, b HÖT hat die Bedeutung „entsprechen", „sich geziemen", so dass die Formulierung in V.2 dann im Sinne von „Dir entspricht / gebührt Lobpreis..." zu verstehen wäre. Obwohl also die Septuaginta vermutlich die ursprünglichere Lesart bewahrt hat, bedarf auch die masoretische Fassung der Auswertung. Diese Lesart dürfte unter Einfluss von Ps 62,2 im Zuge der Zusammenstellung der Psalmengruppen 61-64 und 65-68 entstanden sein. Sie verstärkt die durch das ÜberschriftElement „Mizmor" gegebene Verbindung zwischen den beiden genannten Psalmengruppen. 420

Die Singular-Form wird hier als Kollektiv verstanden. Der Ausdruck n23S/ , " m lässt sich auf den ersten Blick besser mit „Angelegenheiten der Verfehlung", im Sinne eines verfehlten, sündhaften Tuns übersetzen. Die bisherige Untersuchung hat jedoch gezeigt, dass im Bereich des zweiten Davidpsalters der sünd- und schuldhafte Charakter falschen, trügerischen Redens immer wieder eine wichtige Rolle spielt (vgl. Ps 52,4ff; 55,22; 57,5; 59,8; 62,5; 64,4). Auf diesem Hintergrund ist eine wörtliche Wiedergabe mit „Reden der Verfehlung" durchaus sinnvoll. 421

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

5 Glücklich der, den du erwählt hast und nahen lässt, der wohnen darf in deinen Höfen. Wir wollen uns sättigen an dem Guten deines Hauses, am Heiligen deines Tempels. 6 Furchtbares in Gerechtigkeit antwortest du uns, Gott unserer Rettung, Zuversicht aller Enden der Erde und der fernen Meere, 7 der die Berge festigt in seiner Macht, sich umgürtet mit Heldenkraft, 8 der besänftigt das Brausen der Meere, das Brausen ihrer Wogen, das Tosen der Völker. 9 Es fürchteten sich die Bewohner der Enden (der Erde) vor deinen Zeichen, die Pforten des Morgens und des Abends lässt du jubeln. 10 Du hast dich des Landes angenommen und lässt es überströmen, mit vielem machst du es reich: Der Bach Gottes ist voll Wasser, du richtest ihr Getreide her, ja, so richtest du es her, 11 seine Furchen zu tränken, zu ebnen seine Schollen, mit Regenschauern machst du es weich, sein Gewächs segnest du. 12 Du hast gekrönt das Jahr mit deiner Güte, und deine Pfade triefen vor Fett. 13 Es triefen die Auen der Wüste, und mit Jubel gürten sich die Hügel. 14 Es bekleiden sich die Weiden mit Viehherden, und die Täler hüllen sich in Korn, sie jauchzen sich zu, ja, sie singen. Die Gliederung von Ps 65 ergibt sich aus den drei im Psalm beschriebenen göttlichen Wirkungsbereichen Tempel, Kosmos und Land: V.l: V.2-5: V.6-9:

Überschrift Der Tempel: Gott erhört Gebete und vergibt Sünden Der Kosmos: Gott garantiert die Bändigung der Chaosmächte und die Ordnung seiner Schöpfung V.10-14: Das Land: Gott bringt Regen und garantiert Fruchtbarkeit Bereits der einleitende Vers von Ps 65 macht deutlich, wer der Protagonist des vorliegenden Textes ist. Es geht um Gott, genauer gesagt um „Gott auf dem Zion". Diesem göttlichen Gegenüber, diesem „Du"422, sowie dem Tempel als 422

Vgl. hierzu das zweimalige, betont vorangestellte "jb in V.2.

6. Der Lobpreis der Königsherrschaft

Gottes: Ps 65-68

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dem Ort seiner Gegenwart ist der gesamte erste Teil (V.2-5) von Ps 65 gewidmet. Durch die Anrede Gottes als „Gott auf dem Zion" kommt die Kulisse des Tempels in den Blick, innerhalb derer alles, was in den nun folgenden Zeilen beschrieben wird, vom Lobpreis über die Erfüllung von Gelübden und Gebetserhörung bis hin zur Sündenvergebung, seinen angemessenen Ort hat. Zunächst wird in einem ersten Schritt jedoch benannt, was Gott zusteht, nämlich Lobpreis (r6nn) und die Erfüllung von Gelübden ( n i ) . Dabei erhält der Lobpreis in der Lesart des masoretischen Textes eine ungewöhnliche Näherbestimmung. Für den Gott auf dem Zion ist auch das Schweigen des Beters ein Lobpreis. Diese Deutung wird erst von Ps 62 her verständlich. Für den Beter von Ps 62 ist das auf Gott hin ausgerichtete Schweigen gleichbedeutend mit einem Zustand der inneren Ruhe und des Geborgenseins bei Gott. Dieser Zustand ist jedoch durch das mörderische Treiben der Feinde gefährdet. Erst der Weg hindurch durch Klage und Selbstermutigung (V.6) führt den Beter des 62. Psalms zurück zu dieser inneren Ruhe, gewissermaßen einer Ruhe nach dem Sturm. Bereits diese Ruhe, dieses Stillschweigen, das aus der Vergewisserung der Gegenwart Gottes hervorgegangen ist, ist nach Ps 65,2 (MT) Lobpreis. In diesem Schweigen hat alles weitere, stimmhafte Lob seinen Ursprung und Grund. In einem zweiten Schritt (V.3f) geht es um das Handeln Gottes an den Menschen. Gott wird angesprochen als „Hörer des Gebets" (V.3), zu dem „alles Fleisch" kommt. Obwohl sich der Begriff r 6 s n („Gebet") vorwiegend im Bereich der Klage (vgl. Ps 55,2; 61,2; Hiob 16,17; Jes 38,5) findet, ist er nicht hierauf beschränkt, sondern begegnet vereinzelt auch im Kontext von Lob und Dank (vgl. Neh 11,17; Hab 3,1).423 Der Ausdruck liso ba („alles Fleisch") bezeichnet für gewöhnlich die Gesamtheit aller Menschen (vgl. Gen 7,21; Gen 9,11; Da 4,12) und hat oftmals - so auch hier in Verbindung mit V.4 - den Beiklang von Sündhaftigkeit und Vergänglichkeit (vgl. Gen 6,12; Hiob 34,15; Jes 40,6). Besonders häufig begegnet diese Formulierung in Zusammenhang mit dem Motiv einer eschatologischen Völkerwallfahrt zum Zion (Jes 40,5; 49,26; 66,23; Sach 3,10-13), so dass zumindest zu fragen ist, ob dieser Gedanke nicht auch in V.3 mitklingt.424 Es fallt auf, dass der Zusammenhang von Gebetserhörung und Gelübdeerfullung nicht nur im vorliegenden ersten Psalm der Kleingruppe Ps 65-68, sondern auch jeweils im Eingangspsalm der Gruppen Ps 61-64, Ps 56-60 sowie in Ps 50 als der Einleitung zum gesamten zweiten Davidpsalter thematisiert wird (vgl. Ps 50,14f; 56,12f; 61,2.9). 423

Vgl. M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 140f; E.S. GERSTENBERGER, Art. bbs,

THWAT VI,

614. 424

S o a u c h M . E . TÄTE, P s a l m s 5 1 - 1 0 0 , 1 4 1 ; F . - L . HOSSFELD / E . ZENGER, P s a l m e n 5 1 -

100,215.

202

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Der „Hörer des Gebets" ist gleichzeitig der Gott, der ¡11/ („Verfehlung") und S/Eto („Verbrechen") vergeben kann.425 In V.4 kommt zum ersten Mal das Ich des Beters in den Blick. Er spricht von der Last der Vergehen, die stärker und mächtiger (nm) geworden sind als er selbst. Diese Einsicht in den Machtcharakter der Sünde entspricht der Haltung, die in Ps 51 als dem zweiten Teil der Einleitung in den zweiten Davidpsalter zum Ausdruck kommt. Der Beter spricht jedoch nicht nur von seinen eigenen Vergehen, sondern auch von der Schuld der Gemeinschaft, die allein Gott vergeben kann. Das Verbum nDD gehört zu den Schlüsselbegriffen der Priesterschrift und ihr nahe stehender Literatur.426 Innerhalb des Psalters begegnet TDD jedoch nur an drei Stellen (Ps 65,4; 78,38; 79,9) und ist hier „gleichbedeutend mit dem Entfernen, Abwischen, Bedecken, Nicht-Gedenken, der Austilgung und Versiegelung von Sünde und Schuld"427. Auch wenn dies der Bezug zum Tempel in Ps 65,2-5 nahe zu legen scheint, ist "IDD an diesen Stellen anders als im priesterschriftlichen Kontext nicht mit einer rituellen Sühnehandlung verbunden. In seiner Darstellung der nDD-Aussagen außerhalb von P und der ihr nahe stehenden Literatur weist B. Janowski darauf hin, dass diese Aussagen von der Grundproblematik des Seins des Menschen coram Deo bestimmt sind: „Da es in den genannten Texten durchweg um Situationen geht, in denen aufgrund rechtlicher, moralischer oder religiöser Verschuldung das Leben des einzelnen / der Gemeinschaft verwirkt ist, bezieht sich das (erbetene, gewährte oder abgelehnte) Sühnehandeln Gottes jeweils auf eine exzeptionell kritische Situation, in der es nicht um einen Teilaspekt menschlichen Seins, sondern um das Sein des Menschen selbst geht. Diesen Bezug des göttlichen SDHandelns zur Situation des Menschen zwischen Leben und Tod lassen die einzelnen Belege in verschiedener Hinsicht (terminologisch/sachlich) erkennen: so wird Vergebung - soweit sie nicht abgelehnt wird (Jes 22,14; 1 Sam 3,14) - erfahren /erbeten als Errettung vom Tode (Jes 6,7), als Wiedererlangung der Gottesnähe (Ps 65,2-5), als Lebensrettung des barmherzigen Gottes (Ps 78,38; 79,8f), als »Heilung« durch Gott (2 Chr 30,18-20), als »Rache« Gottes an dem lebensbedrohlichen Tun der Feinde (Dtn 32,43; Ps 79,6-12; vgl. Jer 18,19-23) oder erwartet als Verwirklichung des endzeitlichen Heilszustandes (Jes 27,9; Ez 16,63; Dan 9,24). Die Vergebung Gottes ist Erweis seines Heilshandelns am Menschen, aber Preisgabe an den Tod, wo sie abgelehnt wird."428

Dass die Frage nach der Vergebung Gottes für den Psalmisten von ganz und gar existenzieller Bedeutung ist, macht der Glückwunsch an denjenigen deutlich, den Gott erwählt hat, um ihn in den Höfen seines Tempels und damit in

425

Zu den Begriffen py und vgl. die Auslegung zu Ps 51,3ff. Vgl. B. JANOWSKI, Sühne als Heilsgeschehen. Studien zur Sühnetheologie der Priesterschrift und zur Wurzel KPR im Alten Orient und im Alten Testament (WMANT 55), Neukirchen 1982. 427 A.a.O., 134. 428 A.a.O., 135. 426

6. Der Lobpreis der Körtigsherrschaft Gottes: Ps 65-68

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seiner Gegenwart wohnen zu lassen (V.5a).429 Dabei beschreibt die Trias der Verben "inn („erwählen"), n p pi. („nahen lassen") und ptf („wohnen") einen Zustand denkbar größter Nähe zu Gott. Glücklich genannt wird deijenige, den Gott erwählt hat, wie er sein Volk Israel zum Eigentum, zum Königreich von Priestern erwählt hat (vgl. Ex 19,5f), den Gott nahen lässt, wie er Aaron und seine Söhne herannahen lässt im Zelt der Begegnung (vgl. Ex 40,12.14), und der die Höfe Gottes und damit den erwählten Wohnsitz Gottes im Tempel auf dem Zion (vgl. Ps 68,17) gleichsam als „Mitbewohner Gottes" bewohnen darf.430 Sündenvergebung, so das Fazit dieses ersten Teils von Ps 65, bedeutet (erneute) Anteilgabe an der Gegenwart Gottes, wie sie in besonderer Weise im Bereich des Tempels erfahrbar wird. Dieses Leben in der Nähe Gottes kann ähnlich wie auch in Ps 63,6 in dem Bild eines Festmahles beschrieben werden, bei dem sich die betende und bittende Gemeinschaft am „Guten" (niü) des Hauses Gottes sättigt (V.5b). Der zweite Teil des Psalms (V.6-9) verlässt den Bereich des Tempels und wendet sich dem Kosmos zu. Stand im ersten Abschnitt das Handeln Gottes an den Menschen seiner Gegenwart im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, so geht es nun um die ordnenden und bewahrenden Schöpfungstaten Gottes. Dabei stellt V.6 eine Art Bindeglied zwischen den beiden Teilen dar. Das Antworten Gottes (py) entspricht seinem Hören (yot?) in V.3. Weiterhin begegnet hier noch einmal das „Wir" der Sprecher, von dem im weiteren Verlauf des Psalms von nun an nicht mehr die Rede sein wird. Die Antworten Gottes beschreibt der Psalmist als furchtbar (niiOi:) und gerecht (ptü). Die furchtbaren Antworten bzw. Taten Gottes zeichnen sich für gewöhnlich dadurch aus, dass sie bei den Feinden Gottes Schrecken und Entsetzen auslösen (vgl. Ps 46,9f; 48,5f), auf der Seite der Gerechten und der im wahrsten Sinne des Wortes Gottesfürchtigen jedoch den Gott gebührenden Lobpreis (vgl. V.2; Ps 66,3; 145,6).431 Wenn auf diesem Hintergrund von der Gerechtigkeit ( p i s ) Gottes die Rede ist, so klingt dabei sicherlich das richtende Handeln Gottes an. Seine Bezeichnung als „unsere Rettung" (nue''1) und als „Zuversicht aller Enden der Erde" (f mono) verweist jedoch vor allem auf den helfenden und rettenden Aspekt der Gerechtigkeit Gottes. Mit der Ausweitung der Perspektive hin zu den „Enden der Erde" und den „fernen 429 Die prominenteste 'HtfX-Formulierung im Psalter dürfte diejenige in Ps 1,1, dem Prolog des Psalters, sein. Wie im vorliegenden Kontext geht es auch bei diesem Glückwunsch um eine Frage von Leben und Tod, nämlich die Entscheidung für den Weg der Gottlosen, der vergeht, oder den Weg des Gerechten, den Gott kennt. Ein weiterer Glückwunsch im Zusammenhang mit der Frage der Vergebung von Schuld und Sünde findet sich auch in Ps 32,1 f. 430 Zum Zusammenhang von menschlichem und göttlichem Wohnen vgl. Dtn 33,12; Sach 8,3.8, vgl. hierzu auch M. GÖRG, Art. p t f , ThWAT VII. 431 Vgl. M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 142.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Meeren" (D'pm D"1) kommt das universale Handeln Gottes am und im Kosmos in den Blick (vgl. Hi 28,24; Jes 40,28; 45,22). Mit den klassischen Motiven der ChaoskampfVorstellung wird Gott im Folgenden (V.7f) im hymnischen Partizipialstil432 als Garant für das Gegründetsein der Erde und die Stabilität der sie durchwirkenden Ordnung beschrieben. Der Gott des Zion ist gleichzeitig der Bewahrer und Erhalter der Schöpfung, der den Bergen pars pro toto für den gesamten Erdkreis Festigkeit und Beständigkeit verleiht (vgl. Ps 89,12; 96,10; 104,5). Er ist der Chaoskämpfer, der den urzeitlichen Fluten eine Grenze setzt, indem er ihr Brausen besänftigt (vgl. Ps 89,10). Mit dem Brausen der Wasserfluten ausdrücklich parallel gesetzt wird das Tosen der Völker als die geschichtliche Manifestation des urzeitlichen Chaos (vgl. Jes 17,12f).433 Diesen bedrohlichen chaotischen Mächten setzt Gott seinen r o („Macht") und seine m i m („Heldenkraft") entgegen, mit der er sich umgürtet wie ein Kriegsherr mit seinen Waffen. Dem Eindruck des bewahrenden und erhaltenden Handelns Gottes kann sich niemand entziehen. Selbst die Bewohner der entferntesten Enden der Erden antworten auf die Zeichen (nniN) Gottes mit der einzig angemessenen Reaktion, der Gottesfurcht. Mit den Stichwortentsprechungen 1NT,,1 (V.9) nmm: (V.6) und rnsp (V.9) - pN-Msp (V.6) schlägt der Psalmist in V.9 den Bogen zurück zu V.6 und schafft so eine Rahmung dieses zweiten Teils von Ps 65. Die ungewöhnliche Aussage, dass Gott die Pforten (•,NU1D) des Morgens und des Abends jubeln lässt, hat eine gleichermaßen räumliche wie zeitliche Dimension. Der Jubel über die Taten Gottes durchdringt demnach den ganzen Erdkreis, vom Morgen- bis zum Abendland, und währt den ganzen Tag, vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. Mit V.10 verlässt der Psalmist den hymnischen Partizipialstil und kehrt zurück zur direkten Anrede Gottes.434 Während die Perspektive des zweiten Teils 432

Vgl. hierzu die Untersuchung von F. CRÜSEMANN, Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel, Neukirchen-Vluyn 1969, 81ff.201. Zur Kritik an Crüsemann vgl. H. SPIECKERMANN, Alttestamentliche „Hymnen", in: W. Burkert / W. Stolz (Hrsg.), Hymnen der Alten Welt im Kulturvergleich (OBO 131), Freiburg - Göttingen 1994, 10 lf. 433 Zur Abhängigkeit des Völkerkampf- vom Chaoskampfinotiv vgl. J. DAY, God's conflict with the dragon and the sea. Echoes of a Canaanite myth in the Old Testament, Cambridge 1985, 88ff. Vgl. dort auch die Kritik an G. WANKE, der eine Abhängigkeit des Völkerkampfmotivs vom Chaoskampfinotiv ablehnt (Die Zionstheologie der Korachiten, Berlin 1966, 74ff). 434 Dieser Wechsel vom Partizipialstil der 3. Person zur 2. Person der Anrede und das damit verbundene Nebeneinander von partizipialem und anredendem Hymnus kann nicht zwangsläufig als Hinweis auf zwei unterschiedliche Formen („partizipialer Hymnus" einerseits und „Jahwe-anredender Hymnus eines Einzelnen" andererseits) verschiedener Herkunft gedeutet werden (so die Auffassung von F. CRÜSEMANN, Studien, 285ff; und im Anschluss daran S. SCHROER, Psalm 65 - Zeugnis eines integrativen JHWH-Glaubens?, in: Ugarit Forschung 22 (1990), 285-301 [292]). Dieses Nebeneinander findet sich in den alttestamentli-

6. Der Lobpreis der Königsherrschaft Gottes: Ps 65-68

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des Psalms der universalen Weite des Kosmos gilt, konzentriert sich der Blick im dritten Teil (V. 10-14) auf das Land, genauer gesagt auf den Ackerboden. S. Schroer hat in ihrer Untersuchung zu Ps 65 überzeugend aufgezeigt, dass V. 10-14 Gott in der Tradition kanaanäischer Hymnen als Wettergott und Regenbringer ansprechen und beschreiben.435 Demnach ist die kanaanäische Vorstellung vom Kampf Baals gegen den Meeresgott Jam und den Gott der Sommerdürre, Mot, eng mit dem Thema der Fruchtbarkeit des Landes verbunden. Zum Zeichen seines Sieges über Jam und Mot und seiner Rückkehr aus deren Bereich schickt der Wolkenreiter und Blitzeschleuderer Baal den Frühregen und verleiht dem Land Fruchtbarkeit.436 Es geht in V.10-14 jedoch nicht nur um die Ermöglichung einer rein funktionalen Fruchtbarkeit des Landes. Betont wird vielmehr, dass der Gott, der das feste Gegründetsein der Welt und den Bestand ihrer Ordnung garantiert (vgl. V.6-9), auch für die Erde bzw. das Land Sorge trägt. Er hat sich des Landes angenommen (nps), wie er sich des Menschen angenommen hat (vgl. npö in Ps 8,5), er lässt es überströmen und macht es überreich (V.10). Der Gedanke von einem Leben in Fülle steht auch hinter der Vorstellung vom Bach Gottes.437 Durch diesen Bach bzw. Kanal Gottes (:6B D T 6 N ) fließt der Regen durch das Himmelsfirmament (vgl. Hi 38,25), um die Erde zu befeuchten und Wachstum zu ermöglichen. Die Erwähnung des Zion in V.2 legt es nahe, bei der Rede vom Gottesbach ebenso auch an das in der Jerusalemer Tempeltheologie beheimatete Motiv vom Tempelstrom, der Leben ermöglicht (Ez 47,9, vgl. auch Ps 46,5; Jes 33,21), zu denken. Mit diesem Wasser richtet Gott das Getreide her, wobei das Verbum ¡13 hifil, ähnlich wie auch in V.7 mit Blick auf die Berge, eher eine Bestandsgarantie als einen schöpferischen Akt als solchen beschreibt.438 Diese Bestandsgarantie wird in V. 11 konkretichen Psalmen (vgl. u.a. Ps 16; 18; 23; 93) ebenso wie in der Gebetsliteratur des übrigen Alten Orients und kann nicht zum Ausgangspunkt für literarkritische bzw. redaktionsgeschichtliche Hypothesen gemacht werden, vgl. H. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 26, Anm. 17. 435 Dazu zeigt S. SCHROER die Parallelen zwischen Ps 65 und einem Abschnitt des KeretEpos (KTU 1.16 III 1-17) auf (Psalm 65 - Zeugnis eines integrativen JHWH-Glaubens, 292ff). In Frage zu stellen ist jedoch ihr Fazit, dass V.10-14 „mit einiger Wahrscheinlichkeit ein Stück eines alten kanaanäischen Baal-Regen-Hymnus ist" (a.a.O., 294). Die Tatsache, dass Ps 65 kanaanäische Vorstellungen und Motive aufnimmt und sich zu eigen macht, lässt nicht automatisch auch die Schlussfolgerung zu, dass es eine konkrete Vorlage gab, die der Verfasser von Ps 65 übernommen hat. Vielmehr ist anzunehmen, dass der Autor sich hier einer Tradition bedient, die zum altorientalischen Gemeingut gehört und diese frei variiert, vgl. auch F.-L. HOSSFELD/E. ZENGER, Psalmen 51-100, 218. 436 In diesem Zusammenhang weist S. SCHROER auf Ps 46,1-5; 74,13-15; 104,5-13; Hi 36,27-32 hin, wo der Zusammenhang von Chaoskampf, Bewässerung und Fruchtbarkeit ebenfalls zu finden ist (Psalm 65 - Zeugnis eines integrativen JHWH-Glaubens, 295f). 437 Vgl. O. KEEL, Welt der altorientalischen Bildsymbolik, 122. 438 Vgl. K. KOCH, Art. ThWAT IV, 104.

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siert und veranschaulicht. Wie ein sorgsamer Bauer tränkt Gott die Furchen des Landes und ebnet eingetrocknete Schollen ein, indem er sie mit Regenschauern weich macht. Die Folgen dieses segensreichen (vgl. ~pa in V.llb) Handelns Gottes werden in V. 12-14 beschrieben. Gott krönt das Jahr mit seiner Güte (miD). Der Begriff knüpft an das Gute (miD) an, das nach V.5 der Mensch erfährt, dem Gott Anteil an seiner Gegenwart im Tempel gewährt. Der Gedanke der Krönung des Jahres dürfte - im Gegensatz zum heutigen Sprachgebrauch - weniger eine Vollendung im Sinne eines „krönenden Abschlusses" implizieren als vielmehr einen Akt der Einsetzung und des Anfangs. So wie der König durch die Krönung in sein Herrscheramt eingesetzt und der Mensch durch seine Krönung mit Ehre und Hoheit zur Verwaltung der Schöpfung (Ps 8,6f) befähigt wird, ermöglicht die Güte Gottes Fruchtbarkeit und Wachstum in Fülle im landwirtschaftlichen Jahr. Da, wo Gott, der das Land besucht (vgl. Ps 18,11; 68,5.34; Jes 40,3-5), seine Spuren hinterlässt, herrscht Überfluss, wird der Ackerboden fett (]EH) und schwer. Selbst die sonst ausgetrocknete Wüste ( i m o ) wird fruchtbar und grün. In immer neuen Bildern beschreibt der Psalmist die aufblühende und fruchtbringende Natur als eine gleichsam personifizierte Größe.439 Die Hügel gürten sich mit Jubel, die Weiden bekleiden sich mit Viehherden und die Täler hüllen sich in Korn. Wie in einer Art Wechselgesang jauchzen sie einander zu (ll/ynn,)44° und geben in ihrem Lobgesang dem Regen und Segen spendenden Gott die Ehre, die ihm gebührt (vgl. V.2 LXX). Die Denkbewegung von Ps 65 schlägt einen sehr großzügigen Bogen, der auf den ersten Blick befremdlich wirken mag. Der Weg fuhrt vom sündenvergebenden Gott auf dem Zion zum den Kosmos erhaltenden Chaoskämpfer und schließlich hin zum göttlichen Ackerbauern, der Regen und damit Fruchtbarkeit bringt. Schroer hat in ihrer bereits zitierten Untersuchung auf die enge Verbindung der Motive „Chaoskampf' und „Fruchtbarkeit in der Natur" hingewiesen (vgl. Anm. 436), so dass der Zusammenhang zwischen dem zweiten (V.6-9) und dritten Teil (V.10-14) des Psalms einsichtig wird. Ahnlich wie in dem in diesem Zusammenhang gern zitierten Ps 29 hat sich Israel auch im vorliegenden Ps 65 ohne Bedenken und Ressentiments im mythologischen „Gemischtwa439 Vgl. hierzu die Auslegung von E. ZENGER: „SO verwandelt sich die (in der Trockenheit) trauernde Erde in eine festlich gekleidete, schöne Frau (V.13-14), deren Anblick und Erleben fasziniert: Sie hat den Bußsack ausgezogen und sich mit Jubel gegürtet [...]" (Ich will die Morgenröte wecken: Psalmenauslegungen, Freiburg - Basel - Wien 1991, 73). 440 Das Bild eines chorischen Wechselgesangs, das sich durch den hitpael von i m ergibt, beschreibt G. RAVASI: „L'uso della forma hitpael per il verbo der trionfo (jitrö'a'ü) suggerisce l'idea del canto a cori alternati o meglio in rimando reciproco: i prati, le valli, tutta la natura si fondono in una sinfonia mirabile e ben articolata" (Salmi II, 321).

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renladen" seiner kanaanäischen Nachbarn bedient und seinem Gott JHWH einige Attribute zugeschrieben, die ursprünglich Baal zu eigen waren.441 Wie aber steht es mit der Anbindung des ersten Teils (V.2-5) von Ps 65? Die „eigentümlich gebaute Introduktion"442 ist nicht so eigentümlich, der Wechsel der Thematik in V.6 nicht so abrupt,443 wie einige Ausleger meinen. Zusammengebunden werden der erste und der zweite Teil des Psalms durch die Stichwortverbindung ^o nn3 („stärker bzw. kräftiger als ich") in V.4 und n m n („Heldenkraft") in V.7. Die „Reden der Verfehlung", die der Beter als stärker und mächtiger als sich selbst bezeichnet, haben einen Machtcharakter, die dem der Chaosfluten (V.8) gleichkommt. Der Psalmist ist von ihnen bedroht, so wie die gute Ordnung Gottes immer wieder durch die Chaosmächte gefährdet ist. Allein die m m , die Heldenkraft Gottes, kann diesen Mächten, ob Chaoswasser, Völker oder eben menschliche Verfehlung und Schuld, begegnen. Und hier zeigt sich auch, dass der Psalmist in Ps 65 nicht einfach nur die Eigenschaften des kanaanäischen Baal auf JHWH überträgt. Der Gott, der die Chaosmächte bezwingt und Sünde und Schuld vergibt, ist eben kein anderer als der Gott auf dem Zion (V.2), der den Seinen Anteil gibt am Guten seines Hauses (V.5). Für die Datierung von Ps 65 ergeben sich nur wenige Anhaltspunkte.444 Es ist fraglich, ob der in V.3.6.9 anklingende Universalismus tatsächlich im Sinne einer Nähe zur Theologie und zur Zeit Deutero- oder gar Tritojesajas interpretiert werden kann.445 Dieser Universalismus dürfte seine Begründung und seinen Ursprung vielmehr in der in Ps 65 und der gesamten Psalmengruppe 65-68 zum Ausdruck kommenden Vorstellung vom Königtum Gottes (vgl. Kap. III.6.5) haben. Auch wenn die Konturen des rezipierten älteren Traditionsgutes (vgl. V.10-14) noch gut erkennbar sind, weist der Sprachgebrauch doch eher auf eine nachexilische Entstehung hin. Zu nennen sind hier z.B. das nur in (nach)exilischen Psalmen begegnende Substantiv rron („Stillschweigen" - vgl. Ps 22,3; 39,3; 62,2), der vor allem in priesterschriftlichen Texten und bei Ezechiel begegnende Begriff nun (Hof) oder die eng mit Sprache und Theologie der Priesterschrift verbundene 441 S. SCHROER nennt Ps 65 auf diesem Hintergrund zu Recht ein „Zeugnis eines integrativen JHWH-Glaubens" (300f). 442 F. CRÜSEMANN, Studien zur Formgeschichte, 201. 443 Vgl. K. SEYBOLD, Psalmen, 253. 444 Dementsprechend hüllt sich ein Großteil der Kommentatoren an diesem Punkt in Schweigen bzw. bemerkt - wie H.-J. KRAUS - lapidar: „Eine Datierung des Psalms (oder nur eines Teils des Psalms) ist kaum möglich" (Psalmen II, 610). 445 Diese Auffassung vertritt G. RAVASI: „Se prescindiamo per ora dall'ipotesi di coloro che vedono nel carme un collage di ftammenti diversi, l'impressione globale sembra essere quella di una composizione che respira il clima post-esilico (Secondo e Terzo Isaia) di stampo universale" (Salmi II, 303).

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Theologie der Priesterschrift verbundene Wurzel TDD.446 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Septuaginta gegenüber dem masoretischen Text eine Überschrift bietet, die den Psalm mit Jeremia, Ezechiel und der Rückkehr aus dem Exil in Verbindung bringt. 6.2 Psalm 66

1 Für den Chormeister. Ein Lied. Ein Psalm. Jauchzt Gott zu, alle Welt. 2 Besingt die Ehre seines Namens, richtet auf die Ehre seines Lobpreises. 3 Sprecht zu Gott: Wie furchtbar sind deine Taten! Ob der Fülle deiner Macht schmeicheln dir deine Feinde. 4 Alle Welt soll sich niederwerfen vor dir und dir singen, sie sollen singen deinem Namen. Sela. 5 Geht und schaut die Taten Gottes, furchtbar ist sein Tun an den Menschenkindern. 6 Er wandelte das Wasser zu trockenem Land, den Strom durchschreiten sie zu Fuß, dort wollen wir uns freuen an ihm. 7 Der herrscht in seiner Heldenkraft ewig, seine Augen, die Nationen bewachen sie, die Empörer können sich nicht erheben gegen ihn. Sela. 8 Segnet, Völker, unseren Gott, und lasst hören die Stimme seines Lobpreises. 9 Der unsere Seelen ins Leben gesetzt hat und nicht zugab, dass unser Fuß wanke. 10 Fürwahr, du hast uns geprüft, Gott, du hast uns geläutert, wie Silber geläutert wird. 11 Du hast uns ins Fangnetz447 gebracht, du hast Bedrängnis448 auf unsere Hüften gelegt.

446

Hinsichtlich der Frage nach der Entstehungszeit von Ps 65 sind in diesem Kontext die Überlegungen von H. SPIECKERMANN interessant, nach denen die Frage nach der Schuld des Einzelnen wie auch der Gemeinschaft (vgl. V.4) in vorexilischer Zeit kein zentrales Thema der Psalmentheologie war, sondern vielmehr erst in exilischer und nachexilischer Zeit einen zentralen Stellenwert erhielt (Heilsgegenwart, 246f). 447 Der Parallelismus legt es nahe, m i S D nicht im Sinne von „Bergfeste" (illlSD II), sondern im Sinne von r n i ä ö I („Netz"-vgl. Ez 12,13; 17,20) zu verstehen. 448 Die Herkunft des hapax legomenon npSMD ist unklar, die Lesart der Septuaginta legt es jedoch nahe, ilpmo (Wurzel pis - bedrängen, in die Enge treiben) statt npino zu lesen, so dass sich die Bedeutung „Bedrückung", „Enge" ergibt.

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12 Du hast Menschen fahren lassen über unseren Kopf, wir sind hineingeraten in Feuer und Wasser. Aber du führtest uns hinaus zu reichem Überfluss.449 13 Ich komme in dein Haus mit Brandopfern, ich erfülle dir meine Gelübde, 14 zu denen sich aufgetan haben meine Lippen und (die) geredet hat mein Mund in meiner Not. 15 Brandopfer von Fettschafen bringe ich dir dar zusammen mit Rauch von Widdern, ich richte zu Rinder mit Böcken. Sela. 16 Geht, hört, ich will erzählen, alle, die (ihr) Gott furchtet, was er getan hat an meiner Seele. 17 Zu ihm rief mein Mund, und Erhöhung war unter meiner Zunge. 18 Frevel war, wenn ich hinschaute, in meinem Herzen: Der Herr wird es nicht hören. 19 Doch wahrlich, Gott hat es gehört, er hat geachtet auf die Stimme meines Gebetes. 20 Gesegnet sei Gott, der nicht abwandte mein Gebet und seine Güte von mir. Mit Ps 66 und 67 begegnen innerhalb des zweiten Davidpsalters die beiden einzigen Texte, die nicht durch ein entsprechendes Überschriftselement mit der Person Davids verbunden sind. Dieser Umstand bedarf einer näheren Auswertung (vgl. hierzu Kap. III.6.5). Für Ps 66 legt sich folgende Gliederung nahe, die sich am Wechsel der sprechenden Personen (V.l-12: „Wir"; V. 13-20: „Ich") sowie an den den Text strukturierenden Imperativen orientiert: V.l-12:

„ Wir"

a) V.l-4 V.l-2: Aufforderung: „Jauchzt..."; „Besingt..."; „Richtet auf..."; „Sprecht..." V.3-4: Gott ist der Herr des Kosmos b) V.5-7 V.5: Aufforderung: „Kommt und schaut..." V.6-7: Das heilvolle Handeln Gottes 449

So die durchaus verständliche Lesart des masoretischen Textes, im Kontext von V. 11 passender erscheint jedoch die Lesart von Septuaginta, Peschitta und Targum n n n b - „in die Weite".

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

c) V.8-12 V.5: Aufforderung: „Segnet..." V.9-12: Das unheilvolle Handeln Gottes V. 13-20: „Ich"

a) V. 13-15: Gelübdeerfüllung b) V. 16-20 V.16: Aufforderung: „Kommt und hört..." V. 17-19: Das heilvolle Handeln Gottes V.20: Benediktion: „Gesegnet sei..." Die Zweiteilung von Ps 66 in einen kollektiv und einen individuell geprägten Teil hat die formgeschichtlich orientierte Psalmenforschung in Ps 66 zwei ursprünglich eigenständige Teile entdecken lassen. Demnach gilt V.l-12 als Hymnus und V. 13-20 als Danklied eines Einzelnen.450 Es wird zu prüfen sein, ob solch eine strikte Differenzierung, die z.B. bei Westermann dazu fuhrt, dass er beide Teile separat von einander behandelt,451 sinnvoll und dem Textbefund angemessen ist. Der erste Teil von Ps 66 (V.l-12) lässt sich wiederum in drei Abschnitte gliedern, deren Beginn jeweils durch einen oder mehrere Imperative (V.lf.5.8) markiert wird. Der erste dieser drei Abschnitte beginnt mit einer Aufforderung zum Lobpreis, die sich an „die ganze Welt" (p~iNn bD) richtet. Auch wenn im Folgenden vor allem das Heilshandeln Gottes an seinem Volk Israel Erwähnung findet (vgl.V.6.10-12), so deutet sich hier mit dem Aufruf an „die ganze Welt", der zusammen mit demselben Ausdruck in V.4 einen Rahmen um den ersten Abschnitt (V.l—4) bildet, doch eine universelle Perspektive an. Dieses Heilshandeln Gottes ist nicht nur bedeutsam für Israel, sondern für den gesamten Kosmos, der mit dem vierfachen Imperativ „Jauchzt..." (limn), „Besingt..." (not), „Richtet auf..." (lO1^), „Sprecht..." (nox) aufgefordert wird, dem Herrn der Welt die ihm zustehende Reverenz zu erweisen. Eine zentrale Rolle spielt dabei der n n a („Herrlichkeit") Gottes, auf den sich beide Imperative in V.2 beziehen. Die Welt, die Gott mit der Fülle seiner Herrlichkeit ausgestattet und der er damit Anteil an seinem ureigensten Wesen gegeben hat, ist aufgerufen, Gott eben diese Gabe im Lobpreis zurückzuerstatten. Eine besonders konzentrierte Form erhält dieser Gedanke in der Kombination der beiden psalmentheologischen Schlüsselbegriffe 1133 („Herrlichkeit") und Dtf 450 Vgl. HJ. KRAUS, Psalmen II, 616; C. WESTERMANN, Ausgewählte Psalmen, 134f; F. CRÜSEMANN, Studien zur Formgeschichte, 176.228. 451 Zu Ps 66,1-12 vgl. C. WESTERMANN, Ausgewählte Psalmen, 154t; zu Ps 66,13-20 vgl. a.a.O., 134f.

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(„Name")452 in V.2a. In seinem Namen manifestiert sich ebenso wie in seiner Herrlichkeit die Nähe und Gegenwart Gottes: „Sein Name (Dtf) und seine Herrlichkeit (iina) stehen für das, was Jahwe selbst ist und gibt: Anteil an sich selbst schenkender, nahbarer Gott"453. Eingeleitet durch den Imperativ •ti'pn1? n o x wird der Kosmos zum Sprechen eines diesem Gott angemessenen Lobpreises aufgefordert, dessen Form und Inhalt in V.3f vorgegeben ist. Zur Sprache kommen die furchtbaren (iOU) Taten Gottes, die auch in Ps 65 (V.6.7) begegnen und die Ausdruck seiner Majestät und Macht sind. Die Fülle dieser Macht ist derartig groß und erschreckend, dass selbst seine Feinde Gott schmeicheln. Doch nicht nur die Feinde, sondern alle Welt ( f i x n bD - im Rückgriff auf V.l) soll sich vor der Majestät Gottes niederwerfen und ihm singen. Mit den Stichworten p a n bD („alle Welt"), not („singen"), üE> („Name") nimmt der dem Kosmos in den Mund gelegte Hymnus die zentralen Stichworte aus der entsprechenden Einladung zum Lobpreis in V.lf auf. Der zweite Abschnitt (V.5-7) des ersten Teils von Ps 66 beginnt ebenfalls mit zwei Imperativen, die jedoch nicht zum Lobpreis auffordern, sondern zum Gehen und Betrachten der Taten Gottes. Die bereits in dem in V.3f zitierten Hymnus erwähnten furchtbaren Taten Gottes sollen nun genauer unter die Lupe genommen werden. Diese Taten werden eingegrenzt, es geht nun nicht mehr um das Handeln Gottes am Kosmos (wie z.B. in Ps 65,6-9), sondern um sein „Tun an den Menschenkindern" (DIN "n). Die in V.6 geschilderten Ereignisse engen den Focus noch weiter ein, es geht um das Rettungshandeln Gottes an Israel im Exodusgeschehen. Gleichzeitig erhält dieses Handeln, das durch V.5b als ein „Tun an den Menschenkindern" qualifiziert wird, eine universale Bedeutung, die allen Menschen gilt. Es legt sich nahe, bei der Erwähnung des Stromes ( i m ) in V.6 an den Jordan und damit an den in Jos 3,14—17 geschilderten Durchzug durch den Jordan zu denken.454 Demgegenüber ist jedoch festzuhalten, dass der Jordan im gesamten Alten Testament niemals -im genannt wird.455 Gerade in der Psalmensprache gibt es eine Reihe von Belegen, die wie im vorliegenden Fall "in: parallel zu D1 („Meer") setzen und dabei weniger einen Fluss als vielmehr Ströme bzw. Strömungen innerhalb des Meeres im Blick haben (vgl. Ps 24,2; 93,3f; Jon 2,4). Auf diesem Hintergrund ist es also sinnvoller, in Hinblick auf V.6a allgemein an den Durchzug

452

Zu dieser Kombination vgl. auch Ps 29,2; 72,19; 96,8; 1. Chr 16,29. H. SP1ECKERMANN, Heilsgegenwart, 288. 454 So H.-J. KRAUS, Psalmen II, 617; ders., Gilgal - ein Beitrag zur Kultusgeschichte Israels, VT I, 1951, 181-199. 455 Auf diesen Umstand hat in der Auseinandersetzung mit der Position von Kraus zu Recht F. CRÜSEMANN aufmerksam gemacht (Studien zur Formgeschichte, 179f). 453

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

durch das Schilfmeer zu denken.456 In V.6b fallt die Partikel DE? und der Wechsel zur 1. Pers.Pl. auf. Die Aussage „dort wollen wir uns freuen an ihm" muss nicht zwangsläufig eine reale, physische Anwesenheit der Gemeinde am Ort des Durchzugs voraussetzen.457 Vielmehr geht es um einen Akt der Vergegenwärtigung mittels Identifikation, durch den die Grenzen von Zeit und Raum aufgehoben werden. Die Gemeinde, die in und mit Ps 66 des Exodusgeschehens gedenkt, befindet sich kraft dieser Vergegenwärtigung genauso an den Ufern des Schilfmeeres wie ihre Vorfahren, die das Wasser realiter trockenen Fußes durchschritten.458 Ziel und Wirkung dieses vergegenwärtigenden Gedenkens ist die Freude an Gott, der sich in seiner Rettungstat am Schilfmeer als der Herr der Geschichte erwiesen hat, wie der im hymnischen Partizipialstil konstruierte V.7 weiter ausfuhrt. Seine Herrschaft währt ewig, von seinem himmlischen Thronsitz aus beobachtet er alle Nationen (vgl. Ps 33,13; 53,3; 113,5f) und wacht über die von ihm eingesetzte Ordnung. Das Treiben potenzieller Empörer bzw. chaotischer Mächte wird auf diese Weise schon im Keim erstickt.459 Die beiden Imperative in V.8 markieren den Beginn des dritten Abschnitts (V.8-12) des ersten Teils von Ps 66. Die Völker werden aufgefordert, Gott zu segnen (imn) und einzustimmen in den Lobpreis (nbnn), zu dem in V.2 der ganze Kosmos aufgerufen wurde. Die in V.9-12 geschilderten Taten Gottes beziehen sich jedoch wie schon im vorangehenden Abschnitt weniger auf die Völker als vielmehr auf das eine Volk Israel, das sich nach dem heilvollen (V.6) nun das unheilvolle Handeln seines Gottes vergegenwärtigt. Die Partizipialkonstruktion in V.9 verbindet diesen Teil zunächst mit der vorausgehenden Passage (vgl. V.7) und stellt der folgenden Schilderung der Prüfungen Gottes das Bekenntnis voran, dass Gott die betende Gemeinde errettet hat, indem er nicht zugab, „dass unser Fuß wanke". Das Wanken (Bio) der Füße 456

So auch F. CRÜSEMANN, der in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam macht, dass auch der Begriff nb^bu in V.5 am ehesten auf das Schilfineerwunder hindeutet. In drei von sieben Belegen im AT wird das Wort, das nur in nachexilischen Texten begegnet, auf dieses Ereignis angewandt (Ps 103,7; 77,13; 78,11 - vgl. Studien zur Formgeschichte, 180, Anm. 1). 457 Von dieser Voraussetzung geht H.-J. KRAUS aus, der Ps 66,1-12 im Kontext eines in Gilgal lokalisierten Festes zur Erinnerung an den Durchzug verortet (Gilgal, 181ff). 458 Eine ähnliche Gleichsetzung von Vergangenheit und Gegenwart findet sich z.B. in Dtn 26,5-9: „Ein umherirrender Aramäer war mein Vater und er zog nach Ägypten hinab und hielt sich dort als Fremder auf,.... Und die Ägypter misshandelten uns, unterdrückten uns und legten uns harte Arbeit auf. Da schrieen wir zu JHWH, dem Gott unserer Väter...". Vgl. hierzu auch die Darstellung bei M . E . TÄTE, Psalms 5 1 - 1 0 0 , 1 4 9 ; F.-L. HOSSFELD/E. ZENGER, Psalmen 51-100, 224. 459 F. CRÜSEMANN weist daraufhin, dass hier „ganz schwach" das Motiv der Erhebung der Völker gegen JHWH anklingt (Studien zur Formgeschichte, 181). Verstärkt wird dieser Anklang durch das Stichwort r n i 3 l (Heldenkraft), das - wie gesehen - im vorangehenden Ps 65 ebenfalls im Kontext des Chaos- bzw. Völkerkampfmotivs begegnet (vgl. V.7f).

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Gottes: Ps 65—68

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gilt für gewöhnlich als Sinnbild für drohende Todesgefahr (vgl. Ps 94,18; 112,6; 121,3). Im vorliegenden Zusammenhang wird durch das Stichwort b n („Fuß") zudem eine Brücke zu den in V.6 geschilderten Ereignissen geschlagen. Als das Volk Israel zu Fuß das Schilfmeer durchschritt, bewahrte Gott sie und ließ ihren Fuß nicht wanken. Diese Erfahrung ist der grundlegende Vorsatz, unter dem alle anderen Erfahrungen, auch die des Unheils, stehen. Welche konkreten Ereignisse sich hinter der bildreichen Darstellung in V. 10-12 verbergen, bleibt jedoch unbestimmt. Der Bezug auf das Exodusgeschehen in V.6 und der im Kontext dieser Tradition zentrale Begriff Nir hi. („herausfuhren") legen es nahe, auch V. 10-12 auf den Auszug aus Ägypten bzw. auf die Nöte und Prüfungen der Wüstenwanderung hin zu deuten.460 Die im Zusammenhang der Notschilderung gebrauchten Bilder sind jedoch weniger mit der Exodus-Tradition verbunden, sondern finden sich vielmehr bevorzugt bei Jeremia, Ezechiel und Deuterojesaja mit Blick auf das Exil.461 So begegnet z.B. der Gedanke der Prüfung und Läuterung in Jer 6,27ff; 9,6 und Jes 48,10. Der Ausdruck m i s o , der sich in den Psalmen sonst nur im Sinne von „Bergfeste" findet (vgl. Ps 18,3; 31,3; 71,3; 91,2), wird in der im vorliegenden Kontext sinnvolleren Bedeutung „Fangnetz" insbesondere bei Ezechiel als Bild für das Exil gebraucht (Ez 12,13; 17,20). Die nächste Parallele zu der in V.12a zum Ausdruck kommenden Vorstellung stellt ebenfalls mit Blick auf das Exil Jes 51,23 dar. Mit dem Bild von „Feuer und Wasser" in V.12ab klingt noch einmal der Gedanke der Läuterung und Reinigung (vgl. Num 31,23)462 an, der in vergleichbarer Weise sonst nur noch in Jes 43,2 belegt ist. Diese Vielzahl der Bezüge lässt es sinnvoll erscheinen, V. 10-12 als eine Erinnerung an die nachhaltige Erschütterung der nationalen Identität Israels durch die Exilszeit zu deuten. Wie schon bei der Herausführung aus Ägypten hat sich Gott jedoch erneut als Retter erwiesen und sein Volk in einem zweiten Exodus auch aus dem Exil herausgeführt (Nir hi.) - so die abschließende Deutung von V.12c, die die in den vorangegangenen Versen angedeutete Unheilsgeschichte auf diese Weise zum Bestandteil der Heilsgeschichte deklariert. Mit V.13 beginnt der zweite, durch eine individuelle Perspektive bestimmte Hauptteil (V. 13-20) von Ps 66. Ein nicht näher identifizierbarer Einzelner berichtet von seiner Absicht, seine in Zeiten der Not getanen Gelübde im Tempel zu erfüllen. Dieser Gedanke der Gelübdeerfüllung verbindet Ps 66,13f mit seinem unmittelbaren Nachbarn Ps 65,2 und innerhalb des Gesamtzu460

S o u . a . H . - J . KRAUS, P s a l m e n II, 6 1 9 ; M . E . TÄTE, P s a l m s 5 1 - 1 0 0 , 1 5 0 ; G . RAVASI,

Salmi II, 338ff. 461 Vgl. hierzu die Darstellung und Kritik an Kraus bei F. CROSEMANN, Studien zur Formgeschichte, 183. 462 Vgl. O. KEEL, Altorientalische Bildsymbolik, 164.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

sammenhangs von Ps 61-68 mit Ps 61,9. Die Fülle der Opfergaben, die der Beter darbringen will (V.15), zeugt gleichermaßen von der Dringlichkeit der vorausgegangenen Notsituation wie auch von der Tiefe der sich nun einstellenden Dankbarkeit.463 Nachdem so das Anliegen des Beters deutlich geworden ist, wendet sich dieser in V.16 mit einer doppelten Aufforderung (ob „Geht!"; ll/otf - „Hört!") an die Gemeinschaft. An dieser Stelle wird die Verbindungslinie zwischen den scheinbar so unterschiedlichen Teilen V.l-12 und V. 13-20 greifbar. Das Dank- bzw. Loblied des Einzelnen bleibt nicht bei sich selbst, sondern sucht die Gemeinschaft. Es will öffentlich Zeugnis ablegen von erfahrener Errettung und so das Gottvertrauen stiften, das auch in Zukunft mit der helfenden Gegenwart Gottes rechnet.464 Eine strikte Trennung zwischen gemeinschaftlichen und individuellen Belangen ist dementsprechend weder möglich noch erwünscht. Die Erfahrungen des Einzelnen sind immer auch von Bedeutung für die Gemeinschaft, da sie dazu beitragen können, die Wege und das Handeln Gottes zu erschließen. Auf formaler Ebene wird diese Korrespondenz durch den doppelten Imperativ in V.16 unterstützt, der an die Aufforderung in V.5 ( a b - „Geht!"; mm - „Und schaut!") anknüpft und auf diese Weise die Heilserfahrung des einzelnen Beters auf eine Ebene mit dem in V.6 beschriebenen Heilshandeln Gottes an Israel stellt. Aufgerufen sind in V.16 alle, die Gott fürchten (DTibx ,N-p bD), d.h. alle, die den furchtbaren Taten Gottes (V.3.5) mit der einzig angemessenen Reaktion, der Gottesfurcht, begegnen. Ihnen will der Beter von seiner persönlichen Rettungserfahrung erzählen, auf die er in V. 17-19 zurückblickt. Wie genau die Notsituation aussah, in der sich der Beter befand, wird nicht ausgeführt. An erster Stelle steht vielmehr der Hilferuf, zu dem sich sein Mund geöffnet hat (vgl. V.14). Diesem Hilferuf an die Seite gestellt ist jedoch der Lobpreis (Don - Erhöhung), 463 Die Schlussfolgerung von H.-J. KRAUS, dass es sich bei dem Beter um einen „begüterten Mann" handelt (Psalmen II, 619), bleibt wohl doch etwas zu sehr an der Oberfläche des Textes. 464 Auf diese Eigenschaft der individuellen Dankpsalmen weist J. O'Brien hin. In ihrem Vergleich der Inschriften punischer bzw. phönizischer Votiv-Stelen mit den individuellen Dankliedern des Alten Testaments kommt sie zu dem Ergebnis, dass das Charakteristikum der Danklieder des Einzelnen darin besteht, dass diese sich anders als die inhaltlich vergleichbaren Votiv-Stelen an die Öffentlichkeit der Gemeinschaft wenden: „[...], while both genres call for public acknowledgement, they address different primary audiences. The votive stelae, while calling for the community's acknowledgment, are nonetheless addressed to the deity and seek to demonstrate the faithfulness of the one fulfilling his vow; [...] The psalms, however are community-directed. [...] The votive stele, as an individual gift to the god, served a singular purpose. Commissioned by an individual whose name is inscribed upon it, the stele joined thousand of others in the El-Hofra favissa. The thanksgivingpsalm, fashioned for communal worship, served the needs of countless worshipers." (J. O'BRIEN, Because God Heard My Voice: The Individual Thanksgiving Psalm and Vow-Fulfillment, in: K.G. Hoglund (Ed.), The Listening Heart, FS R.E. Murphy (JSOT.S 58), Sheffield 1987, 281-298 [291]).

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der dem Beter bereits auf der Zunge liegt. Der Weg von der Klage zum Lob wird hier innerhalb des Parallelismus membrorum auf ein Minimum beinahe bis hin zur Gleichzeitigkeit reduziert. Es fallt auf, wie nachdrücklich in diesem Abschnitt der somatische und damit der worthafte Charakter des Gebetes betont wird. So werden alle an diesem Wortgeschehen beteiligten Körperteile explizit genannt (Lippen V.14; Mund - V. 14.17; Zunge - V.17), statt einfach nur von „Gebet" ist von der „Stimme meines Gebetes" (Tiban blp - V.19) die Rede. Das Gebet, die Anrufung Gottes in der Not, ist ebenso hörbares, stimm- und worthaftes Ereignis wie der in diesem Psalm ebenso betonte, gesungene Lobpreis (V.2.4.8). Der „Stimme seines Lobpreises" (inbnn b)p — V.8) entspricht die „Stimme meines Gebetes" (Tibsn bip - V.19). Der Sinn der folgenden Aussage in V.18 bleibt, wenn man auf Textveränderungen verzichten will,465 unsicher. Es ist zu vermuten, dass der Beter hier erinnernd seinen Zweifel bekennt, der ihn dazu führte, in seinem Herzen zu denken, dass Gott ihn bzw. sein Gebet nicht hören würde. Ungewöhnlich ist jedoch, dass dieser Kleinglaube als Frevel (|1N) bezeichnet wird.466 Der nächste Vers (19) zeigt jedoch, dass der Psalmist eines besseren belehrt wurde. Trotz seiner Zweifel hat Gott seine Stimme gehört, er hat sein Gebet nicht abgewandt und damit seinen TDn, d.h. seine Ansprechbarkeit und gnädige Zuwendung erwiesen (V.20). Diesem Gott gilt die Benediktion in V.20, die nicht nur den zweiten Teil von Ps 66 (V. 13-20), sondern, indem sie der Aufforderung in V.8 „Segnet, Völker, unseren Gott" entspricht, auch den gesamten Psalm zum Abschluss bringt. Die deutlichsten Hinweise auf die Entstehungszeit von Ps 66 ergeben sich aus V. 10-12. Die Nähe der hier formulierten Gedanken zur exilischen Prophetie und die Andeutung einer positiven Wendung der Not in V.12c lassen die Schlussfolgerung zu, dass Ps 66 in frühnachexilischer Zeit entstanden ist. Der Psalm reflektiert die Erfahrung von heilvollem und unheilvollem Handeln Gottes in der Geschichte Israels. Die Besonderheit des Textes besteht dabei in der Verbindungslinie, die zwischen dieser Erfahrung der Gemeinschaft und der des Einzelnen gezogen wird. Spieckermann hat darauf hingewiesen, dass 465

Einen solchen Änderungsvorschlag, der zwar das Verständnis des Textes erhellt, aber durch keine Textzeugen belegbar ist, macht H. GUNKEL, wenn er statt des masoretischen Textes p x THON - „Einst dachte ich im Herzen" liest (Psalmen, 279). 466 Vgl. K. SEYBOLD, Psalmen 258. Der Begriff ¡IN beschreibt allgemein formuliert den „Schaden und Verderben bringenden Mißbrauch von Macht" (K.H. BERNHARDT, Art. ¡IX, ThWAT I, 154). In den individuellen Klagepsalmen werden die Feinde des Beters als Täter von |1N beschrieben. Wie die Untersuchung der entsprechenden Texte gezeigt hat, zeichnet sich ihr Tun dadurch aus, dass sie sich zusammenrotten (Ps 56,6; 59,4; 64,3), ihre frevelhaften Pläne sorgfältig verbergen (Ps 64,7) und insbesondere ihre frevelhaften Worte als Waffe gegen den Frommen verwenden (Ps 59,13; 64,4), vgl. a.a.O., 157.

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bis zu der nationalen Katastrophe des Exils die Heilsgeschichte kaum ein Thema für die Psalmen- bzw. Tempeltheologie darstellte.467 Deren Aufmerksamkeit galt in vorexilischer Zeit vor allem dem Einzelnen und seinem Geschick. Dementsprechend boten die Klage und das Lob des Einzelnen erste Anknüpfungspunkte, um die Erschütterung des Exils zur Sprache zu bringen und erste Schritte auf dem Weg der Geschichtsreflexion zu gehen (vgl. u.a. die Zusammenstellung von Ps 57,8-12 und 60,7-14 in Ps 108). Diese Anknüpfung an die Erfahrung des Einzelnen spiegelt sich auch in Ps 66 wider. Hier wird ein Gedankengang gewagt, der zunehmend an Weite gewinnt. Der Gott, der sich dem Einzelnen in seiner Not gnädig zuwendet, ist derselbe Gott, der sein Volk aus der Bedrängnis hinausfuhrt und dessen befreiendes Handeln bedeutsam ist für alle Welt. Der Herrlichkeit seines Namens gebührt der Lobpreis des Einzelnen ebenso wie der des einen Volkes Israel und schließlich aller Völker. Auffällig in diesem Zusammenhang ist, dass die theologiegeschichtliche Entwicklungslinie von der Erfahrung des Einzelnen hin zum Blick auf die Völker in Ps 66 in umgekehrter Reihenfolge vollzogen wird. 6.3 Psalm 67

1 Für den Chormeister. Mit Saitenspiel. Ein Psalm. Ein Lied. 2 Gott sei uns gnädig und segne uns, er lasse leuchten sein Angesicht über uns, Sela, 3 dass man erkenne auf Erden deinen Weg, bei allen Völkern deine Rettung. 4 Preisen sollen dich die Völker, Gott, preisen sollen dich die Völker alle. 5 Es sollen sich freuen und jubeln die Nationen, denn du richtest die Völker mit Recht468 und die Nationen auf Erden leitest du. Sela. 6 Preisen sollen dich die Völker, Gott, preisen sollen dich die Völker alle. 7 Das Land hat seinen Ertrag gegeben, es segne uns Gott, unser Gott. 8 Es segne uns Gott, und es sollen ihn fürchten alle Enden der Erde.

Vgl. H. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 157ff. Die Septuaginta ergänzt hier b s n DDE>n und nimmt am Anfang der neuen Verszeile DD&n wieder auf, so dass sich für V.5 der Wortlaut ergibt: „Es sollen sich freuen und jubeln die Nationen, denn du richtest den Erdkreis mit Gerechtigkeit. Du richtest die Völker mit Recht und die Nationen auf Erden leitest du. Sela". 467 468

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Wie Ps 66 kommt auch Ps 67 ohne einen Hinweis auf die Person Davids in der Überschrift aus. Für den Grundbestand des Textes (V.2-8) legt sich folgende, konzentrisch angelegte Gliederung nahe:469 V.2-3: Segensbitte und universale Gotteserkenntnis V.4: Kehrvers: Aufruf zum universalen Lobpreis V.5: Begründung: Gott richtet die Erde V.6: Kehrvers: Aufruf zum universalen Lobpreis V.7-8: Ernte, Segensbitte und universale Gottesfurcht Wer sich dem von W. Beyerlin überschwänglich als „Brillanten unter den Psalmen des Psalters"470 bezeichneten 67. Psalm nähert, kommt nicht umhin, sich zunächst einem grundlegenden Übersetzungsproblemen zu widmen, bevor er sich an der „Vielfalt des Feuers"471 in diesem Edelstein erfreuen kann. So ist allen anderen Fragen voran zu klären, wie die Verbformen in V.2.7-8 zu verstehen sind. Sind die Präformativkonjugationen in diesen Versen im Sinne eines Durativs oder vielmehr jussivisch wiederzugeben? Oder anders gesagt: Wird der Segen, um den es hier geht, als schon erfahren vorausgesetzt, oder muss er erst noch erbeten werden?472 Beyerlin hat dieser Frage in seiner ausfuhrlichen Studie zu Ps 67 einen Großteil seiner Aufmerksamkeit gewidmet473 und kommt zu der Entscheidung, dass die Präformativkonjugationen in V.2.7-8 - nach Umpunktierung der Jussiv-Form "INP: (V.2b) und unter Annahme einer defektiven Schreibweise - präsentisch zu lesen sind. Die jussivische Punktierung des Konsonantentextes ("W) ist nach Auffassung Beyerlins auf eine Interpretation der Masoreten zurückzufuhren, die den Text gegen die ursprüngliche Intention des Psalmisten an den ihnen vertrauten Wortlaut des aaronitischen Segens (Num 6,24ff) angeglichen haben. Diese Sichtweise erscheint durchaus nachvollziehbar und plausibel, aber auch etwas umständlich. Das Denkmodell, dass der Verfasser von Ps 67 die ihm vorgegebene Tradition des aaronitischen Segens zwar aufgenommen, aber indikativisch variiert habe, nur damit später die Masoreten die Intention des Verfassers gründlich missverstehend diese Variation wieder aufheben, schlägt einige argumentative Haken, die durchaus nicht notwendig sind. Beyerlin weist zu Recht darauf hin, dass die einzige Affirmativkonjugation des Psalms (V.7a) im Sinne einer 469 Vgl. auch die Überlegungen zum Aufbau von Ps 6 7 bei F - L . HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 234f. 470 W. BEYERLIN, Im Licht der Tradition: Psalm LXVII und CXV: ein Entwicklungszusammenhang, S VT 45, Leiden 1992, 50. 471 Ebd. 472 Zur Darstellung und Diskussion dieser Problematik vgl. F.-L. HOSSFELD / E . ZENGER, Psalmen 51-100, 230ff; M.E.TATE, Psalms 51-100, 154f. 473 Vgl. W. BEYERLIN, Psalm LXVII, 6ff.

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rückblickenden und konstatierenden Aussage ernst genommen werden muss. Seine Schlussfolgerung, dass sich daraus in Verbindung mit den genannten Präformativkonjugationen eine „schwierige Textauffassung" ergibt, „bei welcher zuerst (!) erfleht und erbeten wird, was wenige Atemzüge hernach als gewährt und gegeben vorausgesetzt wird, ohne daß dieses Mit- und Nebeneinander ersichtlich vermittelt sein würde"474, ist jedoch nicht einsichtig. Erfleht bzw. erbeten wird nicht eine gute Ernte, sondern sehr viel allgemeiner und umfassender der Segen Gottes. Das in V.7a angeführte Faktum, dass das Land seinen Ertrag gegeben hat, ist ein Zeichen, das zu der Hoffnung Anlass gibt, dass Gott die Gemeinde auch in Zukunft segnen wird.475 Dieses Zeichen gibt jedoch keinen Grund zu der Annahme, dass Israel nun - wie es die indikativische Übersetzung Beyerlins nahe legt - dauerhaft im Besitz dieses Segens ist.476 Wenn der Segen Gottes in einer guten Ernte greifbar und erfahrbar geworden ist, so kann dies sicherlich Anlass zum Dank sein,477 aber ebenso auch Anlass zu der Bitte um zukünftigen Segen. Dementsprechend hält sich die Anstrengung, derer es bedarf, um sich im „Dickicht der dann schwierigen Textauffassung"478 herumzuschlagen, in überschaubaren Grenzen. Es ist an diesem Punkt durchaus möglich und auch sinnvoll, mit den Masoreten „durch dick und dünn zu gehen"479 und an der jussivischen Punktierung von "W (V.2b) und damit auch an der entsprechenden jussivischen Wiedergabe der übrigen Präformtivkonjugationen in V.2.7-8 festzuhalten.

474

W. BEYERLIN, Psalm LXVII, 10. Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER: „Die Fruchtbarkeit der Erde ist eben nur ein Aspekt des göttlichen Segens fllr unsere Erde; dieser darf aber nicht darauf eingegrenzt werden. [...] Der bereits erfahrene Segen der Erde ist gewissermaßen das Fundament, auf dem die Segensbitten und die Zukunftsvision des übrigen Psalms aufruhen." (Psalmen 51-100, 235). 476 Vgl. hierzu auch die Kritik an der Position Beyerlins von B. WEBER: „In 7a wird, quasi als Verstehenshintergrund, die Information nachgereicht, dass eine gute Ernte eingebracht, d.h. Segen erfahren wurde (vgl. Ps lxv 10). Daraus eröffnet sich in 7b die Bitte um erneuten Segen für das kommende Erntejahr. In 8 wird diese Bitte - darin identisch mit 2-3 und sich darauf rückbeziehend - ins Allgemeine geweitet wiederholt, mit einer Abzweckung verbunden (wie 3) und - darin über 2-3 hinausführend und 4-6 aufnehmend - das ,uns' universal geöffnet." (Psalm LXVII: Anmerkungen zum Text selbst und zur Studie von W. Beyerlin, VT 43 (1993), 559-566 [562]). 477 Entsprechend lässt die Aussage in V.7a für H. GUNKEL allein die Schlussfolgerung zu, dass es sich bei Ps 67 um ein Danklied des Volkes handeln muss. Da nach seinem Verständnis am Anfang eines Dankliedes aber niemals eine Bitte stehen kann - denn dann würde es sich um ein Klagelied handeln - kann er sich nicht anders als durch einen Eingriff in den Text helfen. Gunkel korrigiert in V.2 zu 1331"! und versteht die anderen Verben als Impf. cons. (Psalmen, 280f). Zur Kritik an Gunkel vgl. auch H.-J. KRAUS, Psalmen II, 621. 475

478 479

W. BEYERLIN, Psalm LXVII, 10. Ebd.

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Nachdem in diesen Vorbemerkungen bereits einige der zentralen Themen von Ps 67 angeklungen sind, ist es an der Zeit, den kunstvollen Schliff des „Brillanten" etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Ps 67 beginnt mit demjenigen Motiv, mit dem sein Vorgänger Ps 66 endet (V.20), mit dem Motiv des Segens. In freier Anspielung auf den aaronitischen Segen (Num 6,24ff)480 erbittet die betende Gemeinschaft im Eingangsvers die wirkmächtige und Leben ermöglichende Gegenwart Gottes in ihrer Mitte.481 Wenn es in Num 6,27 heißt, dass die Priester mit den vorausgehenden Worten des aaronitischen Segens den Namen Gottes auf die Söhne Israels legen (CE?) sollen, dann wird deutlich, was Segen seinem tiefsten Sinn nach bedeutet: das sich in seinem Namen manifestierende Dasein und Dabeisein Gottes bei den Menschen. Dass die Bitte um den Segen Gottes jedoch kein Selbstzweck ist, macht V.3 deutlich. Vielmehr weist das Heil, das Israel von seinem Gott erfahrt, über sich hinaus, es soll für alle Völker (D,n) zum Anhalt und Anstoß werden, den Gott Israels zu erkennen (u~P) und anzuerkennen. Besonderen Nachdruck erhält diese Begründung dadurch, dass Gott von nun an (V.3-6) nicht mehr in der dritten, sondern in der direkten Anrede der zweiten Person angesprochen wird. Gegenstand der Erkenntnis und damit auch Grund und Ursache für die Anerkenntnis ist der Weg ("jn) Gottes. Worin dieser Weg besteht, wird in der Parallelaussage im zweiten Stichos von V.3 deutlich. Es ist seine Rettung (nuiE?1), sein helfendes und befreiendes Handeln an seinem Volk Israel, das 480

Vgl. K. SEYBOLD, Der aaronitische Segen: Studien zu Numeri 6,22-27, NeukirchenVluyn 1977. Dabei wird im wesentlichen die sechsgliedrige Formel des aaronitischen Vorbildes auf drei Glieder verkürzt, und die einzelnen Elemente werden umgestellt. Des Weiteren wird der Segen nicht in der direkten Anrede der 2. Pers. Sg. zugesprochen, sondern von der betenden Gemeinschaft für sich selbst (1. Pers. PI.) erbeten. Eine weitere Abweichungen gegenüber der Vorlage Num 6,24ff besteht darin, dass in Ps 67,2 nicht die Präposition bx, sondern nK verwendet wird. Diese Variante führt W. BEYERLIN zu der Annahme, dass der Ausdruck ISFIN umpunktiert und von dem Nomen IIS (Pflugscharen) abgeleitet werden müsse, so dass sich für V.2 folgende Übersetzung ergibt: „Jahwe segnet uns gnädiglich, zeigt sein Wohlwollen, was unsere Pflugscharen betrifft" (Psalm LXVII, 34ff). Auch wenn diese Deutung zweifelsohne zu dem Ernte-Motiv in V.7 passt und dieses in signifikanter Weise verstärken würde, ist doch festzuhalten, dass die Vorstellung, dass Gott sein Angesicht leuchten lässt, durchgängig personalen Größen gilt (vgl. Ps 4,7; 31,17; 80,4.8.20; 119,135). Vgl. hierzu auch die Kritik bei B. WEBER, Psalm LXVII, 562, sowie bei F.-L HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100,232f. 481 Vgl. hierzu die Ausführungen von F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER: „Der Segen Gottes bewirkt gewissermaßen, daß jeder all das erhält, was er zum Leben braucht, und daß alle dies in innerer und äußerer Ruhe genießen können. Anders als das Rettungshandeln, das in besonderen Ereigniskonstellationen erfahren wird, erweist sich das Segenshandeln Gottes in den Räumen und Zeiten des alltäglichen Lebens, und zwar im Leben der Gemeinschaft und im Leben des einzelnen. Etwas überspitzt könnte man sagen: Das Segenshandeln Gottes zielt auf einen heilvollen Zustand von Natur und Gesellschaft." (Psalmen 51-100, 238).

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als „eine sichtbare Spur des Heils"482 allen Völkern eine umfassende, da nicht nur intellektuelle, sondern von Erfahrung und Erleben getragene Erkenntnis Gottes ermöglicht. Dieser Gedanke, dass das rettende und befreiende Handeln Gottes an Israel die Nationen zur Erkenntnis und Anerkenntnis Gottes fuhren werde, findet sich innerhalb des Alten Testaments in vergleichbarer Weise in der prophetischen Tradition, insbesondere bei Deuterojesaja.483 Gerade für diesen Propheten der Exilszeit ist das Heilshandeln Gottes in Gestalt der Zerschlagung der babylonischen Herrschaft durch die Perser und der Rückführung Israels aus dem Exil der notwendige und hinreichende Grund, dass die Völker den Gott Israels als den alleinigen, in der Geschichte wirkenden Gott anerkennen können und müssen (vgl. Jes 43,8ff; 45,20ff; 52,10). Auch wenn diese Konzeption in Ps 67 in abstrahierter Gestalt begegnet und die konkreten geschichtlichen Fakten nur noch von Ferne im Begriff der „Rettung" (ni/ltf1) anklingen, ist doch deutlich, dass Ps 67 an dieser Stelle von den theologischen Grundgedanken Deuterojesajas gelernt hat. So wie es Aufgabe des einzelnen Beters ist, der erfahrenen göttlichen Rettung und Hilfe im Lobpreis zu entsprechen (vgl. u.a. Ps 52,11; 54,8; 57,10), so sollen auch die Völker (D'oy) auf die ihnen zuteil gewordene Gotteserkenntnis im lobenden Bekenntnis ( m 1 hi - V.4.6) antworten. Eingebettet in diese doppelte Anweisung zum universalen Lobpreis begegnet in V.5 das strukturelle und inhaltliche Zentrum von Ps 67.484 Zur Erkenntnis und zum Lob hinzu treten die Freude (nots?) und der überschwängliche Jubel ( j n ) der Nationen (D,ON). Auffallig und überraschend ist jedoch, dass der nun angeführte Grund und Gegenstand dieser Freude nicht in der bereits in V.2 beschriebenen Segnung Israels besteht, sondern neu definiert wird. Es ist vielmehr die richterliche Herrschaft Gottes über alle Völker auf Erden, die Anlass gibt zum Jubel. Beyerlin hat in seiner Studie zu Ps 67 ebenso ausführlich wie überzeugend aufgezeigt, dass auch die Vorstellung, dass Gott die Völker mit Recht (nfe^o) richtet (DDE'), ihren Ursprung in der theologischen Gedankenwelt Deuterojesajas hat.485 Die von Beyerlin angeführten Texte aus dem Umkreis dtjes. Theologie (Jes 2,2-4; 42,1-4; 51,4b-5) lassen deutlich werden, dass die mit der Wurzel taatf verbundenen Aussagen ein Handeln JHWHs bezeichnen, durch das eine Rechtsordnung hergestellt wird, die nicht primär auf ein Strafgericht 482

H.-J. KRAUS, Psalmen II, 622. Den umfassenden Einfluss deuterojesajanischen Gedankengutes auf Ps 67 hat W. BEYERLIN in den traditionsgeschichtlichen Erwägungen seiner Studie zu Ps 67 nachgewiesen (Psalm LXVII, 17ff). 484 Zu dieser Bewertung vgl. auch W. BEYERLIN, Psalm LXVII, 11; M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 155; G. RAVASI, Salmi II, 350f; F.-L. HOSSFELD/E. ZENGER, Psalmen 51-100, 236. 483

485

V g l . W . BEYERLIN, P s a l m L X V I I , 23FF.

6. Der Lobpreis der Königsherrschaft Gottes: Ps 65-68

221

aus ist, sondern „auf einen Zustand der in Ordnung gebrachten Verhältnisse"486 zwischen den Völkern auf Erden. Die Verbindung mit der Näherbestimmung ufero, das dem akkadischen misaru entspricht, verweist dabei auf die Einflüsse altorientalischer Rechtsbräuche,487 nach denen ein König nach dem Antritt seiner Herrschaft eine Rechtsordnung erlässt, die von Barmherzigkeit geprägt auf eine Erleichterung und Verbesserung der Verhältnisse im Herrschaftsbereich abzielt. Wenn also nach Ps 67,5 die Völker Anlass zu Freude und Jubel haben, dann aus dem Grunde, dass Gott unter ihnen in eben dieser Weise eine dauerhafte Ordnung schafft, die frei von Konflikten und Spannungen einem Zustand des Heils, des Dlbtf entspricht. Die abschließenden V.7-8 schlagen den Bogen zurück zum Beginn von Ps 67 und dem Thema des Segens. Mit der Feststellung in V.7a, dass das Land seinen Ertrag gegeben habe, wird ein neuer Gedanke eingeführt, der Ps 67 mit Ps 65,10-14 verbindet. Offensichtlich wertet der Psalmist das Faktum einer guten Ernte als Indiz für den bereits ergangenen Segen Gottes und als Hoffnungszeichen für weitere, zukünftige Segnung. Der Gedanke, dass die Fruchtbarkeit des Landes Folge und Zeichen des göttlichen Segens ist, begegnet in vergleichbarer Weise im Umfeld priesterlicher Theologie (vgl. Lev 26,3—4) sowie in der dieser Tradition nahe stehenden Verkündigung Ezechiels (vgl. Ez 34,27).488 In beiden Zusammenhängen ist der Ertrag des Landes nicht nur Ausweis des Segens, sondern ist gleichzeitig verbunden mit einem Zustand umfassenden Friedens für Israel.489 Dieser Gedankengang wird in Ps 67 aufgenommen und unter Rückgriff auf dtjes. Vorstellungen entfaltet bzw. weiterentwickelt. Die in der Fruchtbarkeit des Landes sichtbare Segnung Israels führt die Völker zur Erkenntnis und Anerkenntnis Gottes, der für alle Welt eine Rechtsordnung herbeifuhrt, die einen universalen Frieden, der gleichermaßen für Israel wie für die Völker gilt, ermöglicht. Dieser Zustand des Friedens ist eine Hoffnung, kein Besitz. Deshalb ist die zweifache, fast beschwörende Bitte um Segen in V.7b und 8a durchaus angemessen. Der letzte Halbvers (8b) nennt dementsprechend noch einmal die Voraussetzung für die Erfüllung der in Ps 67 entworfenen Vision: Ihn, unseren Gott (V.7b), den Gott Israels, sollen fürchten alle Enden der Erde (p~iN , odx bs - vgl. Ps 65,6.9). In struktureller Parallele zu V.3 führt V.8b den dort formulierten Gedanken zu

486

Vgl. a.a.O., 29. Vgl. a.a.O, 29ff; F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100; 239f. 488 Vgl. a.a.O., 15f. 489 Vgl. Lev 26,6: „Und ich werde Frieden im Lande geben, dass ihr euch niederlegt und niemand sei, der euch aufschreckt; und ich werde die bösen Tiere aus dem Lande vertilgen, und das Schwert wird nicht durch euer Land gehen"; Ez 34,28: „Und sie werden nicht mehr den Nationen zur Beute sein, und die wilden Tiere der Erde werden sie nicht mehr fressen; sondern sie werden in Sicherheit wohnen, und niemand wird sie aufschrecken". 487

222

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Ende: Aus der Erkenntnis Gottes folgt die Gottesfurcht als die angemessene und folgerichtige Reaktion des Glaubens. Was die Datierung von Ps 67 angeht, so lässt die beschriebene Nähe zur Theologie und Gedankenwelt Deuterojesajas die Schlussfolgerung zu, dass Ps 67 frühestens während des Exils, vermutlich jedoch erst in frühnachexilischer Zeit entstanden sein dürfte. 6.4 Psalm 68

1 Für den Chormeister. In Hinblick auf David. Ein Psalm. Ein Lied. 2 Es erhebt sich Gott, es zerstieben seine Feinde, und es fliehen seine Hasser vor seinem Angesicht. 3 Wie Rauch verweht, verwehst du (sie), wie Wachs zerfließt vor dem Feuer, so vergehen die Frevler vor dem Angesicht Gottes. 4 Aber die Gerechten freuen sich, jubeln vor dem Angesicht Gottes und jauchzen in Freude. 5 Singt Gott, spielt seinem Namen, erhöht den, der dahinfahrt durch Wüsten490, mit „JH - (das ist) sein Name" - und jubelt vor ihm. 6 Vater der Waisen, Anwalt der Witwen, Gott ist in seiner heiligen Wohnung. 7 Gott, der die Verlassenen nach Hause zurückbringt, der die Gefangenen ins Glück491 fuhrt, nur die Widerspenstigen bleiben in der Dürre. 8 Gott, als du auszogst vor deinem Volk, als du durch die Wüste schrittest, Sela,

490

Das Wort m i y bezeichnet im masoretischen Text für gewöhnlich Wüsten- und Steppenregionen (vgl. Jes 33,9; Jer 17,6; 50,12). Die für den vorliegenden Zusammenhang häufig vorgeschlagene Übersetzung „der dahin fährt auf Wolken" (vgl. u.a. H.-J. KRAUS, Psalmen II, 632f; M. DAHOOD, Psalms 51-100, 136; G.RAVASI, Salmi II, 377) deutet den Text unter Hinweis auf die Austauschbarkeit von b und p auf dem Hintergrund ugaritischer Parallelen. Auch wenn es durchaus wahrscheinlich ist, dass die kanaanäische Vorstellung von Baal als dem Gewittergott und Wolkenfahrers im Hintergrund von V.5 steht, legt der unmittelbare Kontext von V.5 mit seinen Anspielungen auf die Wüste und den Sinai (V.7.8.9) die Annahme nahe, dass dieser Gottestitel hier im Sinne eines „Wüstenfahrers" neu gedeutet wird (vgl. auch J. JEREMIAS, Königtum Gottes, 74, Anm. 29; M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 163, note 5.C.). 491

n n t f i a a ist ein hapax legomenon, die Wurzel 7&D weist auf den Gedanken des Gelingens oder Glückhabens hin. Die LXX übersetzt mit sv dvigeip - „mit Tapferkeit". Zur Diskussion vgl. M.E. TÄTE, Psalms 51-100,163 (7.c.).

6. Der Lobpreis der Königsherrschaft Gottes: Ps 65-68

223

9 bebte die Erde, auch die Himmel troffen vor Gott - das ist der vom Sinai vor Gott, dem Gott Israels. 10 Einen Regen der Freigebigkeit gössest du aus, Gott, dein Erbe, als es erschöpft war, hast du es aufgerichtet. 11 Deine Schar492 ließ sich nieder darin, du versorgtest in deiner Güte den Armen, Gott. 12 Der Herr gibt sein Wort, Freudenbotinnen - ein großes Heer. 13 Die Könige der Heere fliehen, fliehen, und die Schöne493 des Hauses wird die Beute verteilen. 14 Wenn ihr zwischen den Hürden bleibt...494 Die Flügel der Taube sind bedeckt mit Silber und ihr Gefieder mit grünlichem Gold. 15 Als der Allmächtige Könige zerstreute dort, schneite es auf dem Zalmon. 16 Gottesberg, Baschansberg, Berg vieler Gipfel, Baschansberg: 17 Warum blickt ihr neidisch, Berge vieler Gipfel, zum Berg, den Gott zum Wohnsitz begehrt hat? Ja, JHWH wohnt (dort) auf ewig. 18 Wagen Gottes, vielmal tausend und abertausend, der Herr (ist) unter ihnen, der (vom) Sinai495 im Heiligtum. 492

Zur Übersetzung von ¡vn mit „Schar", „Gemeinschaft" vgl. 2. Sam 23,13. Für das rätselhafte Wort n u legen sich zwei Erklärungs- und Interpretationsmöglichkeiten nahe. Geht man von einer Ableitung von HU I - „sich aufhalten", „wohnen" aus, so legt es sich nahe, mit H.-J. KRAUS (Psalmen II, 627) einige Änderungen vorzunehmen und 01331 statt rmi sowie pb/T (pu. 3. Pers. Sg. mask.) statt pbnn zu lesen. Dann ergibt sich die Übersetzung: „Auf der Flur des Hauses wird Beute verteilt". Bei einer Ableitung von nu II (Nebenform von HN3 - schön, lieblich sein) gelangt man zu der oben wiedergegebenen Übersetzung: „Die Schöne des Hauses wird die Beute verteilen". Die Aussage kann dann als Anspielung auf Ri 5,29f gedeutet werden (vgl. M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 164 [note 13.b.]). Eine weitere Interpretationsmöglichkeit besteht darin, die „Schöne des Hauses" als Metapher für Israel als Nation im Sinne einer Alternativformulierung zu „Tochter Zion" (vgl. Jer 6,2) zu deuten (vgl. J.P. LE PEAU, Psalm 68: An Exegetical and Theological Study, Iowa 1981,119). 494 Diese schwer verständliche Formulierung kann als Warnung vor Bequemlichkeit (vgl. Gen 49,14; Ri 5,16), durch die die Teilhabe am Sieg verspielt wird, gedeutet werden, vgl. J. JEREMIAS, Königtum, 71 (Anm. 12); M.E. TÄTE (Psalms 51-100, 178) und O. KEEL (Vögel als Boten, 30) lesen V.14a als Konzessivsatz und deuten die Aussage in dem Sinne, dass, obwohl sich das Volk wie Rüben in Ri 5,16 faul und bequem verhalten hat, Gott den Sieg über die Feinde errungen hat. 493

224

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

19 Du zogst empor zur Höhe, du hast Gefangene gemacht, du hast Gaben genommen von den Menschen, auch (von) Abtrünnigen - um zu wohnen JH, Gott. 20 Gesegnet sei der Herr Tag für Tag, er trägt uns, der Gott unserer Hilfe. Sela. 21 Gott ist für uns ein Gott der Hilfen, und bei JHWH, dem Herrn, (gibt es) Auswege aus dem Tod. 22 Ja, Gott wird zerschmettern das Haupt seiner Feinde, den Haarscheitel dessen, der in seiner Schuld wandelt. 23 Der Herr hat gesprochen: Aus Baschan werde ich zurückbringen, zurückbringen aus den Tiefen des Meeres, 24 damit du deinen Fuß schlägst496 im Blut, die Zunge deiner Hunde an den Feinden ihren Teil haben. 25 Sie sahen deinen Einzug, Gott, den Einzug meines Gottes, meines Königs ins Heiligtum. 26 Voran gingen die Sänger, hinterher die Saitenspieler, inmitten der paukeschlagenden Mädchen. 27 In Versammlungen segnet Gott, JHWH, (ihr) von der Quelle Israels. 28 Da (ist) Benjamin, (zwar) klein, (doch) ihr Herrscher, die Fürsten Judas, ihre lärmende Schar497, die Fürsten Sebulons, die Fürsten Naftalis. 29 Entboten hat498 dein Gott deine Macht, erweise dich mächtig, Gott, der du gewirkt hast für uns 30 von deinem Tempel über Jerusalem. Dir sollen Könige Tribut bringen. 31 Drohe dem Schilftier, der Schar der Starken unter den Kälbern der Völker, 495 Es dürfte hier eine verkürzte Aufnahme des Gottestitels T D nt - „der vom Sinai" aus V. 9 vorliegen, vgl. auch M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 166 (note 18.c.); J. JEREMIAS, Königtum, 72 (Anm. 16). 496 Die Versionen von Septuaginta, Peschitta und Targum legen es nahe, statt p n o n hier f m n - „damit du deinen Fuß badest im Blut" (vgl. Ps 58,11) zu lesen. 497 Das kaum verständliche Wort D n o n wird entweder von einem auf die Wurzel DJ~l „steinigen" zurückgehenden Nomen HDJn - „Steinhaufen" abgeleitet und im Sinne eines Haufens von Menschen gedeutet, oder aber von akk. rigmu - „Ruf, „Geschrei" (einer Menge), vgl. M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 168 (28.d.). HALIV bevorzugt letzteren Vorschlag. 498 Die Versionen ersetzen die Perfekt-Form des masoretischen Textes durch den Imperativ und ändern I T l b x zu DTI^N, so dass sich die Übersetzung ergibt: „Entbiete, Gott, deine Macht...". Demgegenüber stellt die Fassung des masoretischen Textes jedoch die schwierigere Lesart dar, an der - wie die Auslegung zeigen wird - festgehalten werden sollte.

6. Der Lobpreis der Königsherrschaft Gottes: Ps 65-68

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niedertretend auf Silberstücken499, er hat Völker zerstreut, die an Kriegen sich freuen. 32 Sie kommen (mit) Bronzestücken aus Ägypten, Kusch bringt eilends Gaben seiner Hände zu Gott. 33 Ihr Königreiche der Erde, singt Gott, spielt dem Herrn. Sela. 34 Dem, der über die Himmel fahrt, die Himmel der Urzeit, siehe, er gibt seine Stimme, Stimme der Macht. 35 Gebt Gott die Macht, über Israel seine Hoheit und seine Macht in den Wolken. 36 Furchtbar (bist du), Gott, von deinem Heiligtum aus, der Gott Israels, er gibt Macht und Stärke dem Volk. Gesegnet sei Gott. „Es gibt im Psalter wohl kaum ein Lied, das in seiner Textverderbnis und Zusammenhanglosigkeit den Interpreten vor so große Aufgaben stellt wie Ps 68".500 Diese wenig ermutigenden Worten, mit denen H.-J. Kraus seine Kommentierung zu Ps 68 einleitet, beschreiben zutreffend die Problematik des vorliegenden Textes. Selbst da, wo das Textverständnis nicht durch hapax legomena erschwert wird, sondern der Sinn der Worte eindeutig ist, erscheint der Gesamtsinn der Satzgefüge teilweise kaum verständlich (vgl. V.13.14.31). Mindestens ebenso problematisch wie die Frage nach dem Sinn einzelner Verse ist jedoch auch die Frage nach dem Gesamtgefüge des Psalms. Handelt es sich um eine mehr oder minder zusammenhanglose und zufallige Sammlung von Sentenzen, die einer Vielzahl anderer Texte und Lieder unterschiedlicher Herkunft entstammen,501 oder gibt es so etwas wie einen oder auch mehrere gedankliche rote Fäden, die Ps 68 durchziehen?502 Es wird im Rahmen der 499 Das einzig sichere Wort in dieser Zeile ist ^DD - Silber, so dass der oben angegebene Versuch einer Wiedergabe des masoretischen Textbefundes erhebliche Verständnisschwierigkeiten aufwirft. Nimmt man in Anlehnung und Aufnahme des Parallelismus membrorum zwei vergleichsweise kleine Eingriffe in den Textbestand vor ( o m n n - Hitp. perf. statt DDiriD, sowie eine Umvokalisierung von 'STS zu ,Si13), so gelangt man zu folgender Übersetzung: „Er hat niedergetreten, die Wohlgefallen haben an Silber, er hat Völker zerstreut, die an Kriegen sich freuen". Eine vergleichbare Änderung schlägt H.-J. KRAUS vor, allerdings im Sinne eines Imperativs: „Tritt nieder, die Wohlgefallen haben am Silber" (Psalmen II, 626.628). 500

501

H.J. KRAUS, P s a l m e n II, 6 2 8 .

Vgl. u.a. W.F. ALBRIGHT, A Catalogue of Early Hebrew Lyrick Poems (Psalm 68), HUCA 23 (1950-51), l^JO; H. SCHMIDT, Psalmen (HAT 1,15) Tübingen 1934, 127. 502 Der Zusammenhang zwischen den einzelnen Abschnitten ergibt sich dabei durch den gemeinsamen Sitz im Leben. Als „Sitz im Leben" schlägt S. MOWINCKEL das sog. Thronbe-

226

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

vorliegenden Untersuchung nicht möglich sein, alle Felsspalten und Steilwände dieses „Mont Blanc de l'exégèse"503 zu erkunden. Viele Fragen werden offen bleiben müssen. Im Sinne der Zielrichtung dieser Arbeit wird es daher primär darum gehen, Ps 68 in seiner vorliegenden Endgestalt als Teil der Psalmengruppe Ps 65-68 zu begreifen und die thematischen und formalen Bezüge zu den übrigen Psalmen dieser Kleingruppe zu beschreiben, um so der theologische Zielrichtung dieses Kompositionsbogens etwas genauer auf die Spur zu kommen. Die angedeuteten textlichen und inhaltlichen Probleme von Ps 68 erschweren auch eine sinnvolle Strukturierung des Textes. Die im Folgenden vorgeschlagene Gliederung versucht, die inhaltlichen, begrifflichen und formalen Entsprechungen innerhalb des Textes wahrzunehmen und sich an diesen zu orientieren.504 V.l:

Überschrift

Grundsatzaussage V.2-4: Das Handeln Gottes an den Frevlern V.5-7:

Der Lobpreis des Wüstenfahrers V.5: „Singt... ", „spielt... " Wüstenfahrer V.8-11 : Das heilsgeschichtliche Handeln Gottes an Israel V.l2-15: Gottes Wort über seinen Sieg über die Feinde V.l6-19: Der Berg Gottes Grundsatzaussage: V.20-21: Gottes Rettung und Hilfe V.20: „ Gesegnet sei... " V. 22-24: Gottes Wort über seinen Sieg über die Feinde V.25-28: Prozession zum Lobpreis Gottes V.29-32: Die Macht Gottes und der Tribut der Völker V.33-36: Aufforderung zum kosmischen Lobpreis V.33: „Singt... ", „spielt... " V.34: Himmelsfahrer V.36: „Gesegnetsei... " Die einleitende Grundsatzaussage zum Handeln Gottes an den Frevlern in V.2-4 beginnt mit einer Schilderung des Erscheinens Gottes zum Gericht, die steigungsfest vor (Der achtundsechzigste Psalm, Oslo 1953, 18ff); A.WEISER geht von der Existenz eines Bundeserneuerungsfestes in Israel aus und verortet hier auch Ps 68 (Psalmen II, 328); J. GRAY plädiert für das Herbstfest (A Cantata of the Autumn Festival: Psalm LXVIII, JSS 22 (1977), 2-26). 503 So die Formulierung von A. CAQUOT, Le Psaume 68, RHR 177 (1970), 147-182 (147). 504 Einen Überblick über die unterschiedlichen in der Forschung gemachten Gliederungsvorschläge bietet M.E. TÄTE, Psalms 51-100,172f.

6. Der Lobpreis der Königsherrschaft Gottes: Ps 65—68

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geprägt ist von den Formulierungen und Vorstellungen des sog. Ladespruchs, wie er in Num 10,35 überliefert ist. Mit der Adaption von Num 10,35 in V.2 klingt nicht nur die Vorstellung von der Gegenwart Gottes bei seinem erwählten Volk in und mit der Lade an, sondern die gesamte Situation und Szenerie der Wüstenwanderung mit ihren Entbehrungen und Gefahren. Wenn jedoch Gott sich erhebt (ülp), dann fliehen seine Feinde wie verschreckte Soldaten angesichts eines übermächtigen Gegners. Das Bild von den wie durch die Gewalt eines kräftigen Sturmes zerstiebenden Feinden wird in V.3 fortgeführt. Ahnlich wie z.B. in Ps 1,4 oder Ps 58,8f wird dabei die Vergänglichkeit und Unbeständigkeit der Frevler (D^yizn) betont, wenn es heißt, dass diese vor Gott wie Rauch verwehen (vgl. Ps 37,20) und wie Wachs zerfließen (vgl. Ps 97,5). Den Feinden Gottes gegenübergestellt werden die Gerechten ( c p n i l V.4). Dem Vergehen der Frevler vor dem Angesicht Gottes (cns) entsprechen die Freude und der Jubel der Gerechten vor eben diesem Angesicht. Diese Gegenüberstellung des Schicksals von Frevlern und Gerechten in V.3f gibt dem einleitenden Abschnitt V.2-4 den Charakter einer allem weiteren vorangestellten Grundsatzerklärung,505 wie sie in Hinblick auf den Psalter als Ganzes in ähnlicher Weise in Ps 1 begegnet.506 Die Freude und der Jubel der Gerechten finden ihren Ausdruck in der Aufforderung, Gott zu singen und seinem Namen zu spielen, mit der der zweite Abschnitt (V.5-7) beginnt. Diese Aufforderung zum Lobpreis Gottes verbindet Ps 68 mit den übrigen Texten der Psalmengruppe 65-68, eine vergleichbare Betonung des Namens (DE?) findet sich insbesondere in Ps 66,2.4. Der Gott, zu dessen Lobpreis Ps 68,5a aufruft, wird im Folgenden näher charakterisiert. So wird er als derjenige bezeichnet, „der durch Wüsten dahinfahrt" (V.5b). Wie bereits angedeutet (vgl. Anm. 490) dürfte im Hintergrund dieses Ausdrucks die kanaanäische Vorstellung von Baal als dem Gewittergott bzw. „Wolkenfahrer" stehen. Der vorliegende Text deutet diese Vorstellung jedoch in spezifischer Weise um, indem er unmissverständlich deutlich macht, dass hier von JH(WH) und nicht von Baal die Rede ist (vgl. V.5c). Vor allem aber macht er aus dem „Wolkenfahrer" einen „Wüstenfahrer" und interpretiert diesen Titel somit in Hinblick auf die Geschichtserfahrung Israels, konkret auf die Zeit der Wüstenwanderung. Dem Gott, der sich seinem Volk in der Wüste als Wettergott offenbart (vgl. Ex 19) und der seinem Volk während der Zeit der Wüstenwanderung Schutz und Geleit gewährt hat (vgl. das Zitat des Lade505 U . CASSUTO spricht in diesem Zusammenhang von einem „great principle of history" (Psalm 68, in: Ders., Biblical and Oriental Studies I, 1973,254). 506 F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER gehen davon aus, dass das „Präludium" V.2-4 sekundär dem eigentlichen Grundpsalm vorangestellt wurde. Es folgt „den weitgesteckten Interessen eines späten Redaktors, der Num 10 und im Psalter sowohl Ps 1 wie Ps 97 im Blick hat". (Psalmen 51-100, 249).

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

spruchs Num 10,35 in V.2), ist der Titel des „Wüstenfahrers" in Anlehnung an das Vorbild des „Wolkenfahrers" Baal angemessen. Eine weitere Charakterisierung des Gottes, dessen Lobpreis V.5-7 singt, findet sich in V.6. Hier wird Gott als Vater der Waisen und Anwalt der Witwen beschrieben. Diese Zuwendung zu den Schwachen und Schutzlosen ist ein Charakteristikum JHWHs, das in nahezu allen Bereichen des Alten Testaments (vgl. Dtn 10,18; Jer 49,11; Hos 14,3; Mal 3,5; Ps 10,14; 76,10; 146,9) betont wird. Auf einer ähnlichen Linie liegen auch die Aussagen in V.7ab.Während Gott den Weg der Frevler und Gotteshasser wie Rauch verweht (V.2f), gibt er den Verlassenen eine Heimat und fuhrt Gefangene hinaus ins Glück, d.h. verschafft ihrem Lebensweg Bestand. Seinen Ursprungs- und Erfahrungsort hat dieses bewahrende und Leben ermöglichende Handeln in Gottes „heiliger Wohnung" (JU/D EHp - V.6b), d.h. im Tempel. Mit der einschränkenden Aussage in V.7c, dass nur die Widerspenstigen in der Dürre und damit in lebensfeindlicher Umgebung zurückbleiben, nimmt der Psalmist noch einmal den Faden von V.2-3 auf und betont auf diese Weise erneut den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Gerechten und Frevlern. Mit Beginn des nächsten Abschnittes (V.8-11) vollzieht sich ein Wechsel von der hymnischen Rede über Gott hin zur direkten Anrede in der 2.Pers.Sg. Die Anklänge an die Zeit der Wüstenwanderung (V.2.7) werden in den folgenden Versen weitergeführt und verstärkt. In den Worten von V.8-9 klingen Formulierungen und Vorstellungen an, die in ähnlicher Weise auch in Ri 5,45 (sog. Deboralied) begegnen.507 Allerdings sind in Ps 68,8 an die Stelle der Ortsangaben „Seir" und „Edom" die Begriffe „Volk" (av) und „Wüste" (¡ICET) getreten. Offensichtlich ist die Frage, woher Gott kommt, sekundär bzw. durch den Einschub „das ist der vom Sinai" (TD nt - V.9) hinreichend geklärt. Das Interesse des Psalmisten besteht vielmehr darin, einen eindeutigen Bezug zum geschichtlichen Handeln Gottes, konkret zu seiner Fürsorge für sein Volk während der Zeit der Wüstenwanderung herzustellen. Der Auszug Gottes vor seinem Volk ist nach V.9a begleitet von Erdbeben und kräftigen Regengüssen. Erdbeben und Regenschauer sind zusammen mit Sturm, Feuer, Blitz und Donner die klassischen Begleitumstände des göttlichen Erscheinens (vgl. Ex 19,16-18; 20,18; 1. Kön 19,11-13; Ps 18,8-16; 77,18f).508 V.10 nimmt das Motiv des Regens auf und deutet den Regen als einen Teil der Fürsorge Gottes, wie sie bereits im vorangehenden Abschnitt (V.5-7) angesprochen wurde. So wie sich Gott um die Schwachen und Schutzlosen 507

Zu den unterschiedlichen Theorien hinsichtlich des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen beiden Texten vgl. J.P. LE PEAU, Psalm 68, 96f. 508 Vgl. J. JEREMIAS, Theophanie, 7ff. Auch wenn die Elemente Sturm und Feuer in V.811 nicht erwähnt werden, so klingen diese doch in V.3 in der Beschreibung des Handelns Gottes an den Frevlern mit an.

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kümmert (V.6f), trägt er auch Sorge für die Fruchtbarkeit des Landes. Was das Thema der göttlichen Fürsorge für die Fruchtbarkeit des Landes angeht, so hat Israel hier ebenso von seinen altorientalischen Nachbarn gelernt wie hinsichtlich der Ausgestaltung von Theophanieschilderungen überhaupt.509 Ähnlich wie in Ps 65,10-14 wird Gott auch in Ps 68,10 in der Tradition insbesondere kanaanäischer Hymnen bzw. Beschwörungen des Wolkenreiters (vgl.V.5) und Blitzeschleuderers Baal als Wettergott und Regenbringer angesprochen.510 Gleichsam wie eine Warnung vor möglichen Missverständnissen verweist jedoch V.9 darauf, dass hier nicht etwa von Baal, sondern allein von dem Gott Israels, dem Gott vom Sinai, die Rede ist. Wenn V.10 von der Sorge Gottes für die Fruchtbarkeit des Landes spricht, dann nicht wie die kanaanäischen Vorbilder im Sinne eines sich alljährlich, zyklisch wiederholenden Vorgangs, sondern vielmehr mit Blick auf das konkrete historische Ereignis des Einzuges in das verheißene Land. Der Begriff nbm (Erbe) dürfte sich auf das verheißene Erbland (vgl. u.a. Num 34,2; Dtn 26,1; Jos 13,7; Jer 3,19; Ps 79,1) beziehen.511 Dem erschöpften Land schenkt Gott Regen, richtet es damit auf (]1D) und gibt ihm durch Fruchtbarkeit den Bestand, der notwendig ist, damit seine Schar (irrt) das Land in Besitz nehmen und sich darin niederlassen kann. In diesem Zusammenhang fallen einige weitere Parallelen zu Ps 65 ins Auge. So wie in Ps 65,12 die Gewährung von Regen und Wachstum als Resultat der Güte (mito) beschrieben wird, qualifiziert der Psalmist in V.l 1 die göttliche Fürsorge für den Armen, d.h. für denjenigen, der sich ganz und gar auf Gott angewiesen weiß,512 als nnia - „Güte". Weiterhin begegnet das in V.lOb und IIb zentrale Verbum ¡13 in Ps 65,10b in einem vergleichbaren Kontext. An dieser Stelle ist die Rede davon, dass Gott durch das Wasser des Gottesbaches das Getreide, d.h. die Ernte herrichtet.

509 Zu den Einflüssen der religiösen Umwelt Israels auf die Ausgestaltung alttestamentlicher Theophanieschilderungen vgl. die Untersuchung von J. JEREMIAS, Theophanie, 73FF. 510 Vgl. hierzu die bereits zitierte Studie von S. SCHROER, Psalm 65 - Zeugnis eines integrativen JHWH-Glaubens, 292ff, sowie O. KEEL, Welt der altorientalischen Bildsymbolik, 189ff. 511 Mit ilbm kann neben dem Land aber ebenso auch das Volk als Erbteil JHWHs gemeint sein (vgl. u.a. Dtn 9,26.29; Jes 19,25; Ps 33,12; 74,2). Da sich die Ortsangabe nn in der Formulierung „deine Schar ließ sich nieder darin" (V.l 1) auf i~Dm zurückbezieht, legt sich jedoch die Annahme nahe, dass im vorliegenden Kontext das verheißene Land gemeint ist. 512 Der Begriff ^l/ („der Arme") dürfte im vorliegenden Kontext als Metapher für das Volk Israel als Gemeinschaft, die sich ganz und gar auf die Fürsorge und das Wohlwollen Gottes als dem eigentlichen Besitzer des Landes angewiesen weiß, gebraucht sein, vgl. hierzu die Erläuterungen bei M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 177f; F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalm 51-100, 252f.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Mit V.12 beginnt eine der wirklich rätselhaften Passagen (V. 12-15) des vorliegenden Psalms. Ohne weiteren Übergang wird ein Spruch Gottes zitiert, der wohl die Verse 12b-14 umfasst. Berichtet wird von einem Sieg Gottes über Könige und ihre Heere (V. 13a. 15). Die Botschaft dieses Sieges wird von einem großen Heer von Freudenbotinnen verbreitet. Die Identität dieser Freudenbotinnen bleibt unklar. Sollte jedoch die von O. Keel vorgeschlagene Deutung513 der Tauben in V.14 als Botenvögel, die am Ende einer siegreichen Schlacht entlassen werden, um die frohe Botschaft vom Sieg zu verbreiten, zutreffend sein, legt sich die Annahme nahe, dass auch mit den Freudenbotinnen in V. 12b eben jene Tauben gemeint sind.514 Mit der schwer verständlichen Aussage über die Verteilung von Beute in V.14 und der Warnung vor bequemer Tatenlosigkeit in V.14a dürften wohl Anspielungen auf den Bericht über den Sieg Deboras und Baraks über den Kanaanäer Sisera im sog. Deboralied (Ri 5,2-31, vgl. insbesondere 5,29f und 5,16) vorliegen.515 Der Hinweis, dass es während des Sieges Gottes über die feindlichen Könige auf dem Zalmon schneite (V.15), kann im Sinne einer Metapher für das göttliche Gerichtshandeln verstanden werden. Das Naturphänomen Schnee wäre demnach eine Waffe Gottes, mit der er die feindlichen Heere zerstreut (vgl. Hi 38,22f).516 Der Berg Zalmon in V.15 liefert auch das Stichwort für den folgenden Teil (V. 16-19). Es geht im Folgenden ebenfalls um Berge, genauer gesagt um Gottesberge. Vorgestellt und angeredet wird in V.16 zunächst der Baschansberg, ein offensichtlich großes und mächtiges Gebirge mit vielen Gipfeln, das als Gottesberg charakterisiert wird. Die Gegend von Baschan gilt in der alttestamentlichen Überlieferung als Heimat von fetten Kühen, starken Bullen und Löwen (vgl. Dtn 32,14; 33,22; Ez 39,18; Am 4,1; Ps 22,13) sowie als Inbegriff von Höhe und Erhabenheit (vgl. Jes 2,13; Jer 22,20). Dennoch hat Gott dieses privilegierte Gebirge nicht zu seinem Wohnsitz erwählt, darauf verweist die Frage in V.17, die das Baschansgebirge als eine personifizierte, von Eifersucht und Neid beherrschte Größe anspricht.517 Die Frage, welchen Berg Gott stattdessen zu seinem Wohnsitz begehrt hat, bleibt jedoch offen, auch wenn in V.17b affirmativ betont wird, dass JHWH dort auf ewig (ns:1?) wohnt. Ursprünglich mag sich hinter diesem auserwählten Berg der Tabor 513

V g l . O . KEEL / U . WINTER, V ö g e l als B o t e n , 34FF.

514

So auch die Interpretation von M.E. TÄTE, der zu Recht darauf hinweist, dass diese Deutung den Vorteil hat, dass das Femininum „Taube" ( m r ) die weiblichen Freudenboten (Part. pi. fem. von erklären würde. 515

V g l . M . E . TÄTE, P s a l m s 5 1 - 1 0 0 , 1 7 8 f ; G. RAVASI, S a l m i II, 383FF; O. KEEL / U . WIN-

TER, Vögel als Boten, 28FF. 516 Vgl. M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 179f; O. KEEL/U. WINTER, Vögel als Boten, 17f. 517 Dass die Frage in V.17 dem in V.16 beschriebenen Baschansgebirge und nicht etwa anderen, nicht näher identifizierten Bergen gilt, lässt sich aus der Anrede mit B'Mai D n n ,3erge vieler Gipfel", die auch in V.16 begegnet, schließen.

6. Der Lobpreis der Königsherrschaft Gottes: Ps 65-68

231

verborgen haben,518 in späterer Zeit dürfte man aber in diesem Berg im Sinne einer „relecture" bzw. Neuinterpretation (vgl. V.30) den Zion entdeckt haben (vgl. Ps 76,3; 78,68; 132,13f).519 Den Aufzug zu dem erwählten Wohnsitz beschreiben V. 18-19. Begleitet von unzähligen himmlischen Heerscharen zieht Gott empor zu seinem Heiligtum. Der Hinweis auf die mitgefiihrten Gefangenen und die erhaltenen Gaben macht deutlich, dass Gott hier als Sieger vorgestellt wird, der nach gewonnener Schlacht zurückkehrt und seinen Thronsitz einnimmt. Anders als in der kanaanäischen Tradition, nach der Baal seinen Sieg über seine Gegner Jam und Mot und in Folge davon den Aufstieg zu seinem himmlischen Thron jedes Jahr aufs neue vollziehen muss, ist der Sieg JHWHs jedoch ein einmaliges geschichtliches Ereignis - das machen die vorausgehenden Abschnitte V.8-11.12-15 hinreichend deutlich.520 Dass es der Helfer aus den Zeiten der Wüstenwanderung und Landnahme ist, der in sein Heiligtum einzieht, darauf verweist in V.18b auch die erneute Bezugnahme auf den Sinai (vgl. V.9). Und wenn auf der Ebene des vorliegenden Endtextes dieses Heiligtum mit dem Tempel auf dem Zion identifiziert wird (vgl. V.30), so wird durch eben diesen Hinweis auch klar, dass der Gott vom Zion kein anderer ist als der vom Sinai.521 Nachdem Gott als Sieger über seine Feinde zu seinem erwählten Wohnsitz zurückgekehrt ist, ist es Zeit für eine erneute Grundsatzaussage (V.20-21). Diese Grundsatzaussage zieht die zusammenfassende Konsequenz aus dem bisher Geschilderten und bildet gleichzeitig die Basis für alle weiteren Aussa518 Diese u.a. von S. MOWINCKEL (Der achtundsechzigste Psalm, 42F) und H.-J. KRAUS (Psalmen II, 630FF) vertretene These wird vor allem durch die Bezüge zwischen Ps 68 und dem Debora-Lied begründet. Die in Ri 5 besungene Überlieferung von der Schlacht gegen Sisera ist auf dem Tabor lokalisiert. Dort sammelt sich das israelitische Heer, um gegen Sisera in den Kampf zu ziehen (Ri 4,12.14; 5,13). Die angegebenen Autoren ziehen daraus die Konsequenz, „daß Ps 68 Kultvorgänge und Kulttraditionen des altisraelitischen Heiligtums auf dem Thabor enthält" (H.-J. KRAUS, Psalmen II, 632), vgl. auch J. GRAY, Cantata of the Autumn Festival, 5. 519 Zur Vorstellung vom Wohnen ( p t f ) Gottes und der damit verbundenen Konzeption von der Gegenwart Gottes im Tempel vgl. M. GÖRG, Art. p t f , ThWAT VII, 1344ff; T.N.D.

METTINGER, D e t h r o n e m e n t , 90FF; H . SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 1 6 5 - 2 2 5 . 520 Vgl. H.-J. KRAUS: „Nicht mythische .Taten' bilden den Glanz seiner königlichen (25b) Epiphanie, sondern das Heilsgeschehen: Auszug - Sinai - Landgabe." (Psalmen II, 635). 521 Vgl. J. JEREMIAS ZU V.18f: „In diesen Versen brechen alle räumlichen Schranken zusammen. Der Zion, in seiner äußeren Größe wenig eindrucksvoll (V.16) und zu bestimmter geschichtlicher Stunde mit der Ladeüberführung von Jahwe als Wohnsitz gewählt, freilich nun ,für immer' (V.17) - dieser Zion wird zum himmlischen Heiligtum. Der in ihn einziehende, von seinen unzähligen himmlischen Heerscharen begleitete Himmelsgott aber ist kein anderer als der unter der Erschütterung von Himmel und Erde als Helfer in der Wüste und in den Kämpfen der Frühzeit erfahrene ,Der vom Sinai' (V.9; Ri 5,5). Sinai, Zion und Himmel fließen im Heiligtum ineinander." (Königtum Gottes, 77).

232

III Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

gen. Gott hat sich in den Taten der Vergangenheit als ein Gott der Hilfe (nintf-1 - V.20b; nis/tfio - V.21a) erwiesen. Anders als die Götzenbilder der Umwelt, deren Statuen man umherträgt, ist er ein Gott, der sein Volk trägt wie ein Adler seine Jungen (V.20b, vgl. Ex 19,4; Dtn 32,11).522 Das Motiv der Rettung und Hilfe (Wurzel 1?ET) verbindet Ps 68,20f mit den beiden Nachbarpsalmen 65 (vgl.V.6) und 67 (vgl.V.3). Selbst von dem letzten Feind, dem Tod (niD - V.21b), kann Gott befreien.523 Hier klingt die Gegnerschaft zwischen dem kanaanäischen Baal und seinem Gegenspieler Mot, dem Herrn der Unterwelt, an. Die prononcierte Setzung des Gottesnamens JHWH lässt dabei jedoch keinen Zweifel daran, dass es JHWH und eben nicht Baal ist, der in seinem geschichtlichen Rettungshandeln dem Machtbereich des Todes und der Unterwelt eine Grenze gesetzt hat. Diesem Gott gilt und gebührt die Segnung, die in der liturgischen Formel in V.20a formuliert wird und die einen angemessenen Abschluss der Schilderung des siegreichen Aufzuges Gottes zu seinem Wohnsitz bildet. Diese Form der abschließenden Benediktion schlägt eine Brücke zwischen Ps 68 (vgl. auch V. 36) und Ps 66,20. Die folgenden Verse (22-24) sprechen die Gewissheit aus, dass Gott auch in der Zukunft alle seine Feinde überwinden und zerschmettern wird. Zur Begründung und Bestätigung wird erneut (vgl. V.12) ein Gotteswort zitiert (V.23-24). In diesem Gotteswort werden zunächst Baschan als Symbol denkbar höchster Höhe (vgl. V.16) und die Tiefe des Meeres gegenübergestellt. Gott ist der Herr der Welt, seine Gegenwart durchdringt auch den entferntesten Winkel der Erde (vgl. Ps 139,7-9), nichts und niemand kann sich seinem Zugriff entziehen (V.23). Nicht ganz eindeutig bestimmbar ist dabei, wen oder was Gott zurückbringt (mtf hi.). Es kann sich ebenso um das zerstreute Volk Israel wie um die entkommenen Feinde handeln. Auf dem Hintergrund der Aussage in V.13a, dass die Könige der Heere fliehen, scheint die letztere Möglichkeit wahrscheinlicher. Sinn und Zweck dieses Handelns Gottes besteht darin, dass das in V.24 angesprochene „Du", d.h. die betende Gemeinde 522 Vgl. Jes 46,3-7: „Hört auf mich, Haus Jakob und aller Überrest des Hauses Israel, die ihr von Mutterleibe an (mir) aufgeladen, von Mutterschoße an (von mir) getragen worden seid! Und bis in (euer) Greisenalter bin ich derselbe, und bis zu (eurem) grauen Haare werde ich selbst (euch) tragen. Ich, ich habe es getan, und ich selbst werde heben, und ich selbst werde tragen und erretten. Mit wem wollt ihr mich vergleichen und gleichstellen und mich ähnlich machen, dass wir uns gleichen? Sie, die Gold aus dem Beutel schütten und Silber mit der Waage abwiegen, dingen einen Goldschmied, dass er einen Gott daraus macht. Sie beugen sich, ja, sie werfen sich nieder. Sie heben ihn auf die Schulter, tragen ihn (umher) und setzen ihn nieder auf seine Stelle, und er steht da, von seinem Platz weicht er nicht. Auch schreit man zu ihm, aber er antwortet nicht, hilft ihm nicht aus seiner Not". 523 G. RAVASI macht in diesem Zusammenhang zu Recht auf die Abhängigkeit des Begriffs niNUin - Auswege (V.21b) von dem klassischen Verbum des Exodus KIT („hinausgehen") aufmerksam (Salmi II, 39 lf).

6. Der Lobpreis der Königsherrschaft Gottes: Ps 65-68

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bzw. Israel, blutige Rache an den Feinden nehmen kann. Ein vergleichbares aggressives und martialisches Sprach- und Gedankengut findet sich in Ps 58,11. Der nächste Abschnitt (V.25-28) schildert aus der Perspektive eines einzelnen Berichterstatters eine Prozession anlässlich des Einzugs Gottes als König ins Heiligtum (Enpa - vgl. V.18). Diese Schilderung korrespondiert mit der Beschreibung des Aufzuges Gottes zu dem von ihm erwählten Wohnsitz in V. 16-19. Waren es dort die zahlreichen himmlischen Heerscharen, die den Aufzug begleiteten, so ist es nun die musizierende Schar von Sängern, Saitenspielern und paukeschlagenden Mädchen (V.26). Diese Festversammlung (nibnpo) Israels ist aufgerufen, Gott - entsprechend der Benediktion in V.20 - zu segnen. Vier Stämme werden als Teilnehmer dieser Festprozession besonders herausgehoben, Benjamin, Juda, Sebulon und Naftali. Es ist denkbar, dass Benjamin und Juda stellvertretend für den Süden und Sebulon und Naftali für den Norden stehen. Angesichts der verschiedenen, bereits erwähnten Berührungspunkte zwischen Ps 68 und dem Deboralied fallt jedoch auf, dass gerade Sebulon und Naftali diejenigen Stämme sind, die auch im Deboralied positiv hervorgehoben werden (Ri 5,18. vgl. auch Ri 4,6). Der betonte Einschub, dass Benjamin trotz seiner geringen Größe Herrscher ist über Israel, verweist auf 1. Sam 9,21 und die Salbung des Benjamiters Saul zum König. Sollte hier also eine Anspielung auf Saul als den ersten König Israels vorliegen, dann liegt es nahe, den Hinweis auf Juda als eben solch eine Anspielung auf David als den zweiten und bedeutendsten König zu deuten.524 Versteht man die vorangehenden Teile von Ps 68 im wesentlichen als Rückblick auf das heilsgeschichtliche Handeln Gottes an seinem Volk Israel, den Sieg über seine Feinde und den königlichen Aufzug zu seinem erwählten Wohnsitz, so ist es durchaus sinnvoll, zu Beginn des folgenden Abschnitts (V.29-32) in V.29a an der Lesart des masoretischen Textes festzuhalten (vgl. Anm. 498). V.29a hätte somit die Qualität einer Grundsatzaussage, wie sie in vergleichbarer Weise in V.20-21 begegnet. Gott hat in der Vergangenheit durch sein eigenes Wirken auch die Macht seines Volkes erwiesen. Dieser Gedanke mag ungewöhnlich erscheinen, entspricht aber der abschließenden Aussage in V.36, dass Gott Macht und Stärke dem Volk gibt. Auf dem Hintergrund dieses Vorsatzes bittet V.29b um weitere, zukünftige Machterweise Gottes. Ausgangs- und Ursprungsort dieser Machterweise ist nach V.30a der Tempel über Jerusalem. Das bis dahin schon einige Male erwähnte Heiligtum (V.6.18.25) wird hier nun eindeutig verortet, es ist kein anderes als der Tempel in Jerusalem. Es ist gut denkbar, dass dieser Bezug auf Jerusalem auf eine nachexilische Jerusalemer Rezeption des Psalms zurückgeht. Der Gedanke,

524

Vgl. M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 182f.

234

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

dass die Könige Gott Tribut bringen (V.30b.32), hat seinen Anknüpfungspunkt innerhalb von Ps 68 in V.19, wo bereits von Gaben die Rede war, die Gott nach seinem Sieg über seine Feinde beim Aufzug zu seinem Wohnsitz erhält. Hier klingt das Motiv der Völkerwallfahrt zum Zion an, wonach die Völker in Jerusalem Weisung empfangen bzw. ihren Reichtum dorthin bringen (vgl. Jes 2,2-4; Mi 4,1-3; Jes 60,1-7; Hag 2,6-9). Hinter dem „Schilftier" und der „Schar der Starken unter den Kälbern der Völker" (V.31) dürfte sich zunächst die Vorstellung von chaotischen Mächten verbergen; denkbar bzw. wahrscheinlich ist aber auch, dass diese Chaosmächte mit konkreten Gegnern identifiziert wurden. So legt es sich nahe, hinsichtlich des „Schilftieres" an Ägypten, die Großmacht am Nil, zu denken, die auch an anderer Stelle mit dem zerbrechlichen Schilfrohr (vgl. Jes 19,6; 36,6; Ez 29,6) oder dem Meeresungeheuer Rahab (vgl. Jes 30,7; 51,9; Ps 87,4) in Verbindung gebracht wird. Diese Deutung wird auch durch die ausdrückliche Erwähnung von Ägypten in V.32 unterstützt. Die schwer verständliche Aussage in V.31b (vgl. Anm. 499) scheint darauf abzuzielen, dass Gott die feindlichen Völker, die sich an Kriegen freuen, zerstreut. Noch einmal wird daraufhin hervorgehoben, dass die besiegten Gegner, namentlich Ägypten und Kusch, Gaben bringen, um dem siegreichen Gott ihre Ehrerbietung zu erweisen (V.32).525 Ganz im Sinne dieser zu erweisenden Ehrerbietung rufen die abschließenden Verse 33-36 die Königreiche der Erde auf, Gott ihren Lobpreis darzubringen. Die Aufforderung, Gott zu singen ("TE>) und zu spielen (not), schlägt den Bogen zurück zu der gleichen Aufforderung am Beginn des Psalms (V.5). Wie in V.5 ist auch in V.34 in diesem Zusammenhang von dem „Fahren" (331) Gottes die Rede. Allerdings geht es nun nicht mehr um den „Wüstenfahrer" und die geschichtliche Dimension seines Handelns an Israel, sondern um die Zeit und Raum transzendierende Macht des Himmelsfahrers und Weltenherrschers. Das zentrale Stichwort dieses Abschnittes ist der Begriff „Macht" (w), der hier insgesamt viermal begegnet.526 In einer kleinen „Theologie der Macht Gottes" wird in den letzten Versen von Ps 68 dieser grundlegende Wesenszug Gottes in seinen verschiedenen Facetten beleuchtet. Der Hinweis auf die „Stimme der Macht" (tv blp - V.34b) spricht noch einmal den Gott der Gewittertheophanie (vgl. V.2f.5.8) und damit das kanaanäische Erbe der Gewittergottheit Baal an. Während die Bitte in V.29b an die Macht Gottes appelliert und damit seine Macht zum Ausweis seiner Ansprechbarkeit erklärt, verweist nur wenige Verse später die Rede von seiner „Macht in den Wolken" (•''pntfn in/ - V.35b) auf die gleichzeitige Entzogenheit Gottes. Dennoch ist es gerade auch seine Macht, an der Gott seinem Volk Anteil 525

Dass Kusch zu den Verehrern JHWHs gehören wird, erwarten Zeph 3,10; Jes 18,7, von Ägypten sprechen Jes 19, 23ff; Sach 14, 16ff. 526 Darüber hinaus findet sich dieses Stichwort noch zweimal in V.29.

6. Der Lobpreis der Königsherrschaft Gottes: Ps 65-68

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schenkt - das zumindest erhofft die abschließende Aussage in V.36, wenn es heißt, dass der Gott Israels Macht und Stärke dem Volk gibt. Die angemessene Reaktion der Beschenkten auf diese Anteilgabe ist die Rückgabe der Macht, die Gott ohnehin zu eigen ist, im Lobpreis, zu dem V. 33 und 35 nachdrücklich auffordern. Der Ort, an dem Gott seine Macht gewährt und an dem dementsprechend auch der Lobpreis seinen Platz hat, kann kein anderer sein als der Tempel (V.36), der Schnittpunkt, in dem sich Himmel und Erde berühren. Der Begriff „Macht" (W) ist jedoch nicht nur ein zentrales Stichwort für Ps 68, sondern ebenso auch für die gesamte Psalmengruppe 65-68. Diese Vokabel, sowie ihr nahe stehende Begriffe wie CD („Macht" bzw. „Kraft") oder m m („Heldenkraft") finden sich auch in Ps 65 und 66.527 In den mit diesem Vokabular bezeichneten Bedeutungshorizont gehört auch die Charakterisierung Gottes bzw. seiner Taten als „furchtbar" (N~m), die sich außer in V.36 des vorliegenden Psalms auch in Ps 65,6 und 66,5 findet. Die Ps 68 abschließende Benediktion ( D T D N - ] N N ) bildet innerhalb des Psalms ein Gegenüber zu V.20. Darüber hinaus bildet das Motiv des Segens die entscheidende Brücke zwischen den einzelnen Texten der Psalmengruppe 65-68, so dass diese Segensformel auch als Abschluss dieser Kleingruppe verstanden werden kann.528 Was die Datierung von Ps 68 angeht, so haben die erwähnten Berührungen des Psalms insbesondere mit dem Deboralied dazu gefuhrt, dass Ps 68 in der Forschung bevorzugt mit Kultvorgängen und Kulttraditionen eines altisraelitischen Heiligtums auf dem Berg Tabor in Verbindung gebracht529 und somit als sehr alt eingestuft wurde.530 Diese Annahme wird durch die Beobachtung, dass der Psalm immer wieder Bezug auf Vorstellungen nimmt, die der kanaanäischen Mythologie entstammen, unterstützt. Demgegenüber ist jedoch mit J. Jeremias festzuhalten, dass das hohe Alter einzelner Motive und Traditionen nicht zwangsläufig auf ein ebenso hohes Alters des Psalms schließen lässt.531 Die Analyse von Ps 68 hat gezeigt, dass die Aufnahme älteren Überlieferungsgutes stets mit spezifischen, aussagekräftigen Veränderungen und Neu527

Im einzelnen: W - Ps 66,3; m - Ps 65,7; m i n : - Ps 65,7; 66,7. So auch die Deutung von M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 185. 529 Vgl. S. MOWINCKEL, Der achtundsechzigste Psalm 42ff; H.-J. KRAUS, Psalmen II, 63Off; O. KEEL / U. WINTER, Vögel als Boten, 19 (Anm. 1 - vgl. dort auch die Auseinandersetzung mit den Positionen von Mowinckel und Kraus); M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 174; J.GRAY, Cantata of the Autumn Festival, 5. 530 So gehen z.B. S. MOWINCKEL (Der achtundsechzigste Psalm, 72) und H.-J. KRAUS (Psalmen II, 632f) von einer Entstehung des Psalms in der Zeit Sauls aus. W.F. ALBRIGHT (Catalogue of Early Hebrew Lyric Poems, 9f) und J. GRAY (Cantata of the Autumn Festival, 5f) schlagen eine Datierung in salomonischer Zeit vor. 531 Vgl. die Ausführungen von J. JEREMIAS zur Datierung von Ps 68 (Königtum Gottes, 79ff). 528

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

interpretationen verbunden ist. Dieser Aufnahme- und Veränderungsprozess lässt sich unter zwei Überschriften darstellen: Vom Mythos zur Geschichte Ps 68 zeigt, was das Erbe der kanaanäischen Nachbarn angeht, wenig Berührungsängste, aber dafür umso mehr den Willen zu einer eigenständigen und z.T. eigenwilligen Aneignung. So kann der Gott vom Sinai durchaus die Rolle des Wolkenfahrers Baal übernehmen, aber mit der charakteristischen Korrektur, dass aus dem „Wolkenfahrer" der „Wüstenfahrer" JHWH wird (V.5), der seinem Volk in dem einmaligen geschichtlichen Ereignis der Wüstenwanderung Schutz und Geleit gewährt. Auch das Amt des Regen- und Fruchtbarkeitsgottes übernimmt JHWH in Ps 68, 9ff bereitwillig von Baal, allerdings mit dem Sinn und Zweck, in der genannten geschichtlichen Situation das seinem Volk verheißene Land als Wohn- und Lebensraum zu bereiten und herzurichten. Und wenn schließlich JHWH wie Baal nach dem Sieg über seine Gegner zu seinem Thronsitz zurückkehrt (V. 16-19), dann kann es angesichts des vorausgehenden Kontextes mit seinen geschichtlichen Bezügen keinen Zweifel daran geben, dass dieser Sieg anders als der Baals nicht jedes Jahr aufs Neue errungen werden muss, sondern vielmehr einmalig und unwiderruflich ist. Damit jeder Zweifel, jede mögliche Verwechslung ausgeschlossen bleibt, betont der Psalmist, wann auch immer er Gedanken und Vorstellungen seiner kanaanäischen Nachbarn aufnimmt, ausdrücklich, dass eben nicht von Baal, sondern allein von JHWH, dem Gott vom Sinai (V.9.18) bzw. dem Gott Israels (V.9), die Rede ist. In diesem Zusammenhang ist auf den auffalligen Befund einzugehen, dass in Ps 68 besonders häufig der Gottesname JHWH bzw. die Kurzform JH begegnet (V.5.17.19.21.27). Neben dem Tetragramm und der für den elohistischen Psalter typischen Gottesbezeichnung Elohim verwendet der Psalm weitere Titel, wie ' n s - „Herr" (V. 12.18.20.21.23.33), ntf - „Schaddaj" bzw. „der Allmächtige" (V.15). Hinzu kommen weitere namensähnliche Charakterisierungen wie „Wüsten- bzw. Himmelsfahrer" (V.8. 34), „Vater der Waisen" (V.6), „Anwalt der Witwen" (V.6), „Der vom Sinai" (V.9.18), „Gott unserer Hilfe" (V.20.21), „König" (V.25), „Gott Israels" (V.9.22). Durch diese Vielfalt von Namen, Titeln und Charakterisierungen verleiht der Psalmist den in Ps 68 besungenen, vielfaltigen Gesichtern Gottes, seinen unterschiedlichen Handlungs- und Erfahrungsweisen Ausdruck. Der Gott, zu dessen Lobpreis Ps 68 auffordert, sorgt als Wettergott für die Fruchtbarkeit des Landes und kümmert sich als Wüstenfahrer um die Geschicke seines Volkes, insbesondere um die Witwen und Waisen. Er ist der Gott vom Sinai, aber ebenso der vom Zion (s.u.), er ist JHWH, der Gott Israels und gleichzeitig der König der Welt, der die Völker unterwirft und beherrscht.

6. Der Lobpreis der Königsherrschaft Gottes: Ps 65-68

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Vom Sinai zum Zion

Es hat sich gezeigt, dass sich das Interesse insbesondere der ersten Hälfte von Ps 68 auf das geschichtliche Handeln Gottes konzentriert. Es geht hier um den Gott „vom Sinai", der sich erhebt (V.2) und auszieht vor seinem Volk (V.8), um diesem auf seinem Weg aus Ägypten bis ins verheißene Land als Retter und Helfer (V.20f) beizustehen. Dieser aktiv handelnde und eingreifende Gott zerschmettert seine Gegner, ganz gleich, ob es sich um feindliche Könige (V.13) oder die Frevler schlechthin handelt, und verschafft den Schwachen Gerechtigkeit (V.6f). In der zweiten Hälfte von Ps 68 ändert sich jedoch die Perspektive.532 Nach seinem Zug durch die Wüste und seinem Sieg über die feindlichen Mächte wird Gott sesshafit und nimmt Wohnung auf seinem erwählten Berg, dem Zion (V. 16-19.25-32). Dennoch ist dieser Gott, der in seinem Tempel über Jerusalem „auf ewig" (V.17) wohnt und im Kultus gegenwärtig und erfahrbar ist (V.29-28), derselbe Gott wie der vom Sinai. Der Gott, vor dem Könige fliehen (V.13), ist derselbe, dem Könige Tribut bringen (V.30) und Königreiche lobsingen (V.33); der Helfer Israels ist der universale Herrscher über den Kosmos. Diese Identität ist es, die in Zeiten der Not die Hoffnung ermöglicht, dass Gott sich auch in Zukunft als machtvoller Retter erweisen wird, der seinem Volk Israel Anteil gibt an seiner Macht (V.36). Es ist anzunehmen, dass diese auf den Tempel und das Wohnen Gottes ausgerichtete Perspektive auf Verfasserkreise zurückgeht, die der Jerusalemer Tempeltheologie nahe stehen. Auch wenn davon ausgegangen werden muss, dass ein solch umfangreicher und komplexer Text wie Ps 68 nicht in einem Zug entstanden ist, lassen sich mögliche ältere Vorstufen nicht mehr sicher rekonstruieren.533 Das insbesondere in V.30-32 anklingende Motiv der Völkerwallfahrt zum Zion und damit verbundener Tributzahlungen der Könige sowie die Nähe von V.3 zu Ps 1 weisen darauf hin, dass Ps 68 seine Endgestalt erst in nachexilischer Zeit erhalten hat. In seiner jetzigen Gestalt ist Ps 68 ein Jerusalemer Psalm, der die in der Geschichte bewährte Königsherrschaft Gottes auf dem Zion feiert und daraus die Zuversicht gewinnt, dass sich diese Königsherrschaft auch in Zukunft bewähren wird. 532

Zu dieser Verschiebung der Perspektive vgl. J.P. LE PEAU, Psalm 68, 244FF. So zieht z.B. J. JEREMIAS eine ursprünglich im Nordreich beheimatete Vorstufe, die insbesondere die erste Hälfte des Psalms geprägt hat, in Erwägung (Königtum, 79ff). F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER rechnen mit „einem in sich abgerundeten Grundpsalm V 8-32, der jahwistisch orientierte Nordreichüberlieferung mit Jerusalemer Tempeltheologie verschmilzt und grob in die vorexilische, vielleicht die spätere Königszeit des 7. und 6. Jh. einzuordnen ist. Die erste asafitische Bearbeitung durch Anfügung des äußeren Rings (V 5-7.33-36) stammt aus exilischer Zeit; davon abgesetzt ist das Präludium in nachexilischer Zeit anzusetzen." (Psalmen 51-100, 250). Dieses Entstehungsmodell übersieht zum einen die nachexilischen Motive in V.3-32, zum anderen ist fraglich, ob die Verfasser von V.5-7.33-36 so eindeutig mit den Asafiten identifiziert werden können, wie Hossfeld / Zenger suggerieren. 533

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

6.5 Zusammenfassung: Entstehung und theologisches Profil der Psalmengruppe Ps 65-68 Es bedarf sicherlich keiner größeren exegetischen Anstrengungen, um zu der Einsicht zu gelangen, dass mit Ps 65-68 eine Psalmengruppe vorliegt, die von einer durch und durch hymnischen Grundbewegung geprägt ist.534 Gerade im Gegenüber zu den vorausgehenden Texten des zweiten Davidpsalters ist die deutliche Verschiebung von der Klage hin zum Lob kaum zu übersehen. Dies wird schon durch die zahlreichen Belege des entsprechenden LobpreisVokabulars535 hinreichend deutlich. Es ist jedoch zu fragen, wie diese hymnische Grundbewegung im Einzelnen gestaltet ist. Wie sind die sprachlichen und inhaltlichen Verbindungslinien zwischen den einzelnen Psalmen beschaffen? Welche Eigenschaften und Handlungsweisen Gottes sind Gegenstand des Lobes, und wie werden sie zur Sprache gebracht? Nach der Untersuchung der Einzeltexte der Psalmengruppe 65-68 ist es nun möglich, hinsichtlich dieser Fragen etwas genauere Angaben zu machen. So hat sich gezeigt, dass sich die Psalmen der Kleingruppe Ps 65-68 zum einen mythologischer Vorstellungen und Deutungsmuster bedienen, wenn sie die Eigenschaften und Handlungsweisen Gottes beschreiben. Gegenstand des Lobpreises ist u.a. die Sorge Gottes für das dauerhafte Gegründetsein der Erde und die Stabilität der sie durchwirkenden Ordnung. Dieses ordnende Handeln wird insbesondere in Ps 65,7-8 mit den klassischen Motiven der Chaoskampfvorstellung dargestellt. Anklänge an die Chaoskampfvorstellung finden sich ebenfalls in Ps 68,31, auch wenn die dort erwähnten chaotischen Mächte vermutlich mit konkreten geschichtlichen Gegnern gleichgesetzt wurden. Auf mythologisches Gedankengut greift auch die Beschreibung Gottes als Regenbringer und Garanten für Fruchtbarkeit und eine gute Ernte zurück. Ausführlich entfaltet wird diese Vorstellung in Ps 65,10-14; sie begegnet aber auch in Ps 68,10-11. Beide Psalmen verwenden in ihrer Darstellung der Fürsorge Gottes für die Fruchtbarkeit des Landes die Begriffe miD - „Güte" und ¡13 „aufrichten", „herrichten". Das Motiv von Fruchtbarkeit und guter Ernte begegnet darüber hinaus auch in Ps 67,7. Eine weitere Tradition, die Israel aus 534 Auf die hymnische Prägung der Psalmen 65-68 verweist F.-L. HOSSFELD in seinem Vergleich der beiden Davidsammlungen (Profile der beiden Davidsammlungen, 69), M. MlLLARD beschreibt Ps 65-68 als Hymnus-Danklied-Gruppe (Komposition, 121fl). Miliard geht in diesem Zusammenhang zwar auf die Bezüge zu den vorangehenden Klageliedern ein, verzichtet aber - wie auch Hossfeld - auf weitergehende Details zum Profil der Gruppe Ps 65-68. 535 r ò n n - „Lobpreis": Ps 65,2; 66,2.8; IDT - „singen" / „spielen": Ps 66,2.4; 68,5.33; •vtf - „singen" / „spielen": Ps 65,14; 68,5.33; v n - Jauchzen": Ps 65,14; 66,1; n"T - „preisen": Ps 67,4.6; not? - „sich freuen" Ps 66,6; 67,5; 68,4; j n - ,jubeln": Ps 67,5; ybV „frohlocken": Ps 68,4.5.

6. Der Lobpreis der Königsherrschaft Gottes: Ps 65-68

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dem mythologischen Erbe seiner Umwelt übernommen hat, ist die mit der Tradition vom Kampf Gottes gegen die Mächte des Chaos eng verbundene Schilderung des Erscheinens Gottes.536 Das Erscheinen Gottes, die Theophanie, ist aber ein entscheidendes und prägendes Moment für den Gedankengang von Ps 68 (V.2-4.8-9). Eine andere Gemeinsamkeit, die vor allem Ps 66 und 68 verbindet, ist die Bezugnahme auf die geschichtlichen Erfahrungen Israels. So thematisiert Ps 66 sowohl die zentrale Heilserfahrung des Exodusgeschehens (V.6) als auch die ebenso nachhaltige Unheilserfahrung des Exils (V. 10-12), in der sich Gott letztendlich jedoch auch als Retter und Helfer erwiesen hat. Ps 68 bezieht sich in weiten Teilen (V.2-4.8-11) auf die für Israel prägende Zeit der Wüstenwanderung und Landgabe. Auch wenn nur Ps 68 Gott explizit als König anspricht (V.25), so ist der Lobpreis des Königtums Gottes doch der zentrale Grundgedanke, der die gesamte Psalmengruppe 65-68 zusammenbindet. J. Jeremias hat in seiner Untersuchung zum Königtum Gottes in den Psalmen aufgezeigt, dass Israel die Vorstellung vom universalen Königtum Gottes von seinen kanaanäischen Nachbarn übernommen und mit seinen eigenen partikularen Geschichtserfahrungen verbunden hat.537 Die Prädikation Gottes als König der Welt war wie kaum eine andere dazu geeignet, der Überzeugung von einer die Welt in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität durchwaltenden Ordnung Ausdruck zu geben. Da Israel die Entmachtung des Chaos durch JHWH nicht als Sieg in einem wie auch immer gearteten Götterkampf beschreiben konnte, musste es das mythische Königtum Gottes mit Hilfe seiner eigenen partikularen Geschichts- und Heilserfahrungen begründen. Dadurch, dass diese geschichtlichen Erfahrungen als Begründung der universalen Gottesherrschaft verwendet wurden, verloren sie jedoch den Charakter des Partikularen und erhielten stattdessen die Qualität urzeitlicher und universalgültiger Ereignisse. Auf diesem Hintergrund lässt sich der Spannungsbogen, in dem die Rede vom Königtum Gottes in Ps 65-68 Gestalt gewinnt, zusammenfassend nachvollziehen. Während Ps 65 die Herrschaft Gottes mit den mythologischen Vorstellungskategorien von Chaoskampf und Ermöglichung von Fruchtbarkeit beschreibt, dominieren in Ps 66 die heilsgeschichtlichen Motive Exodus und Exil. Liest man beide Psalmen im Zusammenhang, so ergibt sich die von Jeremias beschriebene Verbindung von Mythos und Geschichte. Diese Verbindung wird wesentlich dadurch unterstützt, dass in beiden Texten die für eine Beschreibung der Herrschaft Gottes über die Welt zentralen Stichworte 536 Zum Einfluss der Chaoskampftradition auf die alttestamentlichen Theophanieschilderungen vgl. J. JEREMIAS, Theophanie, 90 ff.l56f. 537 Vgl. hierzu die zusammenfassende Darstellung bei J. JEREMIAS, Königtum Gottes, 149ff.

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III Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

„Macht" (na - Ps 65,7 bzw. w - Ps 66,3), „Heldenkraft" ( m m - Ps 65,7; 66,7) und „furchtbar" (N~m - Ps 65,6; 66,3.5) begegnen. In beiden Psalmen spielen die Völker die Rolle einer potenziellen Bedrohung für das Königtum Gottes (Ps 65,8).538 Da jedoch jede Empörung gegen die göttliche Herrschaft chancenlos ist (Ps 66,7), haben die Völker keine andere Wahl, als die Macht Gottes im Lobpreis anzuerkennen (Ps 65,9; 66,lb-4.8). Die Qualität einer Einheit erhalten Ps 65 und 66 darüber hinaus durch die tempeltheologische Perspektive, die den ersten Teil von Ps 65 (V.2-5) und den zweiten Teil von Ps 66 (V. 13-20) prägt. Durch diese beiden Abschnitte entsteht eine Rahmung, die die individuelle Erfahrung der Gebetserhörung durch den in seinem Haus auf dem Zion gegenwärtigen und ansprechbaren Gott thematisiert. Dabei lässt sich Ps 66,13-20 als Erfüllung und Einlösung des Ps 65 thetisch vorangestellten Grundsatzes verstehen, nach dem dem Gott auf dem Zion, der Gebete erhört, Lobpreis und die Erfüllung von Gelübden gebührt (V.2). Universelle Herrschaft über die Welt und Zuwendung zum betenden Individuum sind somit die Charakteristika des Gottes, zu dessen Lobpreis Ps 65 und 66 aufrufen. Mit Ps 67 ändert sich der Focus der Psalmengruppe 65-68. Die Völker, die in Ps 65 und 66 als potenzielle, aber letztendlich doch machtlose Aufrührer gegen die Königsherrschaft Gottes galten, kommen nun verstärkt in den Blick. Das Königtum Gottes wird in Ps 67 nicht explizit begründet, sondern als gegeben vorausgesetzt. Zentrales Thema ist nun die Erkenntnis und Anerkenntnis eben dieses Königtums durch die Völker. Ermöglicht wird diese Einsicht der Völker zum einen dadurch, dass diese das Heilshandeln Gottes an seinem Volk Israel sehen (Ps 67,2-3), zum anderen durch die heilvolle und heilsame Ordnung, mit der Gott die Nationen leitet und regiert (Ps 67,5). In dieser von den Gedanken Deuterojesajas geprägten Szenerie sind die Völker nicht mehr Teil und Ausweis der chaotischen Mächte, die die gute Ordnung Gottes bedrohen, sondern sie werden vielmehr selbst Teil dieser Ordnung, die ihnen ebenso wie Israel zum Guten dient. Die so zur Erkenntnis der Königsherrschaft Gottes gelangten Völker können und sollen in den Lobpreis Israels einstimmen (Ps 67,4.6). Diese zuversichtliche Stimmung, die Ps 67 durchzieht, wird in Ps 68 nur bedingt weitergeführt. Dieser vielschichtige Schlusspsalm wirft am Ende der Psalmengruppe 65-68 noch einmal zusammenfassend ein Licht auf die Komplexität ihres Grundthemas. Die Verbindung von Mythos und Geschichte findet hier im Epitheton des „Wüstenfahrers" (V.5) einen besonders konzentrierten Ausdruck. Der Gott Israels ist der unangefochtene 538

Insbesondere in Ps 66 ist die Rolle der Völker allerdings durchaus ambivalent. Wie gesehen, begegnet hier durchaus auch der Gedanke, dass das Befreiungshandeln Gottes an Israel auch für die Völker Grund und Ursache ist, den Lobpreis Gottes anzustimmen. Trotzdem behalten die Völker den Status potenzieller Empörer, so dass offen bleibt, ob ihr Lobpreis auf freiwilliger Gotteserkenntnis oder auf der Unterwerfimg durch die Macht Gottes beruht.

6. Der Lobpreis der Königsherrschaft Gottes: Ps 65—68

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Herrscher der Welt. Er ist „der vom Sinai", der aufbricht zum Gericht über seine Feinde (V.2-3.15.22.31) und nach gewonnenem Kampf seinen Wohnsitz nimmt auf dem Zion (V.16-19 - vgl. Ps 65,2). Er ist der, der sich als ein Gott der Rettung und Hilfe erwiesen hat (V.20f - vgl. Ps 66,6.9). So wie er sein Volk in der Vergangenheit auf dem Zug durch die Wüste geleitet hat, wird er auch in Zukunft seinem Volk Anteil an seiner Macht gewähren (V.36). Und er ist schließlich der, der für die Schutzlosen und Schwachen (V.6-7) genauso Sorge trägt wie für die Fruchtbarkeit des Landes (V.10 - vgl. Ps 65,10-14). Erfahrbar ist die Gegenwart dieses machtvollen Königs im Festkult des Tempels (V.25-28 - vgl. Ps 65,5; 66,13). Die Völker haben in Ps 68 eine ambivalente Rolle. Sie sind Teil der chaotischen Mächte, die die Herrschaft Gottes bedrohen (V.13.15.19.22-24.31), müssen aber letztendlich doch die Königsherrschaft Gottes anerkennen und ihm huldigen (V.30.32-33). Dass das Lob Gottes als dem König der Welt das unübersehbar verbindende Motiv der Psalmengruppe 65-68 darstellt, wurde bereits erwähnt. Seine besondere Gestalt gewinnt dieses Lob in Ps 65-68 im Segen.539 Dabei entspricht dem Segen Gottes für das Land (Ps 65,11) und das Volk (Ps 67,2.7.8) der Aufruf an die derartig Beschenkten, nun ihrerseits Gott zu segnen (Ps 66,8.20; 68,20.27.36). Besonders ins Auge fallt die sowohl Ps 66 als auch Ps 68 abschließende Benediktionsformel DTibs "¡nn - „Gesegnet sei Gott" (Ps 66,20; 68,36), die diese beiden durch die Rede vom heilsgeschichtlichen Befreiungshandeln Gottes geprägten Psalmen noch enger aneinander bindet. Abschließend ist die Frage nach dem Wachstum der Psalmengruppe 65-68 zu stellen. Wie bereits angemerkt, findet sich in den Überschriften von Ps 66 und 67 kein Hinweis auf die Person Davids. Dieser Umstand bedarf einer Erklärung, die allerdings kaum in den Inhalten dieser beiden Psalmen zu finden sein dürfte.540 Eine mögliche Begründung liegt in der Annahme, dass diese beiden Texte erst zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt in den vorliegenden Zusammenhang eingefugt wurden, als zumindest für den Redaktor die Anbindung bestimmter Psalmen an die Person Davids bereits als autoritativ und nicht ohne weiteres erweiterbar galt.541 Das Ziel des Redaktors hätte dem539 Auf die Konzentration der Segenssprüche in Ps 65-68 weist auch F.- L. HOSSFELD hin, wobei er diese Häufung als eine der auffälligen Differenzen zum ersten Davidpsalter benennt (Profil der beiden Davidsammlungen, 69). 540 Die Erklärung von M. MILLARD, dass das Fehlen der David-Überschrift in Ps 67 inhaltliche Gründe habe, „da Ps 67 mit seiner performativen Sprache als pluralischer Segenspsalm die liturgische Kompetenz bei aller Hochbewertung Davids in den Psalmen doch eindeutig übersteigt", ist wenig überzeugend. Zum einen scheint es mir nicht angemessen zu sein, in Hinblick auf Ps 67 von einer „performativen Sprache" zu sprechen, zum anderen übersieht Millard, dass auch in der Überschrift von Ps 66 ein Hinweis auf die Person Davids fehlt. 541 Von einer sekundären Einfügung von Ps 66 und 67 in die Sammlung des zweiten Davidpsalters geht auch C. RÖSEL aus (Messianische Redaktion, 42f).

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

nach darin bestanden, durch die Einfügung von Ps 66 und 67 dem Aspekt des Lobpreises in dem in weiten Teilen durch das Element der Klage geprägten zweiten Davidpsalter ein stärkeres Gewicht zu geben.542 Die Annahme einer solchen redaktionsgeschichtlichen Hypothese allein aufgrund einer fehlenden Personenangabe in der Überschrift ist jedoch problematisch, zumal beide Überschriften die integrierenden Angaben zur Liedart durchaus enthalten. Im Gegensatz zu Ps 58 und 60, die ebenfalls als sekundär eingefügte Texte bestimmt wurden und die sich thematisch und sprachlich deutlich von ihrem unmittelbaren Umfeld abheben, sind Ps 66 und 67 eng mit den beiden Rahmenpsalmen 65 und 68 verbunden. Das Fehlen der Personenzuweisung in den Überschriften von Ps 66 und 67 bleibt somit als ein Problem, für das es keine eindeutige und überzeugende Lösung gibt, bestehen.543 Was die Entstehung der Psalmengruppe Ps 65-68 angeht, ist dementsprechend bis auf weiteres davon auszugehen, dass die Gruppe von einer Hand zusammengestellt und mit der vorangehenden Psalmengruppe (61) 62-64 verbunden wurde. An dieser Stelle ist nun noch einmal die Frage nach dem Gesamtzusammenhang von Ps (61) 62-68 zu stellen. 6.6 Der übergreifende Zusammenhang von Ps (61) 62—68

Wie zu Anfang bereits erwähnt, werden die beiden Psalmengruppen (61) 6264 und 65-68 durch die ihnen gemeinsame Gattungsbezeichnung HDTD (Psalm) in den Überschriften miteinander verbunden. Dem gedanklichen Zusammenhang, der dieser formalen Verbindung entspricht, soll nun abschließend nachgegangen werden. Die Untersuchung der Psalmengruppe 61-64 hat gezeigt, dass insbesondere Ps 61; 62 und 63 in der Gedankenwelt der vorexilischen Jerusalemer Tempeltheologie verankert sind. Eine wichtige Gemeinsamkeit dieser Texte besteht darin, dass ihnen der Tempel als der Ort gilt, an dem sich Himmel und Erde berühren und an dem der in Not geratene Beter, der seine Zuflucht allein bei Gott sucht, auf eine Begegnung mit Gott und die daraus resultierende Heilsvergewisserung hoffen kann. Der Tempel bzw. der Zion als Wohnsitz Gottes und Ort seiner Gegenwart spielt - wie gesehen - auch in Ps 65-68 eine wich542 Ausgangspunkt für diese Einfügung wären die beschriebenen sprachlichen und thematischen Gemeinsamkeiten gewesen, aufgrund derer Ps 66 und 67 dem Redaktor als geeignete Ergänzung zu Ps 65 und 68 erschienen. Diese bestehenden Gemeinsamkeiten hätte der entsprechende Redaktor durch gezielte redaktionelle Eingriffe verstärkt. Zu denken wäre dabei etwa an das Motiv der Ernte in Ps 67,7, das möglicherweise erst sekundär in Hinblick auf Ps 65,14 eingefügt wurde. Eine Bearbeitung könnte möglicherweise auch in Ps 66,1 vorliegen, wo durch die Wurzel —, jauchzen" eine Anbindung an Ps 65,14 geschaffen wird. 543 Lässt die Tatsache, dass Hossfeld / Zenger auf dieses Problem in ihrer Kommentienmg mit keiner Zeile eingehen, auf eine gewisse Ratlosigkeit der beiden Autoren hinsichtlich dieser Frage schließen?

6. Der Lobpreis der Königsherrschafi Gottes: Ps 65-68

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tige Rolle. Als prägendes Element der Gruppe Ps 61-64 hat sich in diesem Zusammenhang die Rede von Gott in der Sprache der Zuflucht-Metaphorik erwiesen. J.F.D. Creach hat in seiner Untersuchung dieser Metaphorik nachgewiesen, dass die Charakterisierung Gottes als „Zuflucht" bzw. „Burg", „Fels", „Turm" usw. eng verbunden ist mit der Vorstellung vom Königtum Gottes544. Gerade die genannten Begriffe, die in Ps 61-64 gehäuft begegnen, setzen Assoziationen von Festigkeit, Standhaftigkeit und Wehrhaftigkeit frei, die dem ordnenden und die Mächte des Chaos überwindenden Handeln Gottes als dem königlichen Herrscher der Welt entsprechen. Der rote Faden, der sowohl die Psalmengruppe 65-68 als auch den Gesamtzusammenhang von Ps 61-68 durchzieht, ist also in der Vorstellung vom Königtum Gottes zu suchen. Darauf verweist auch die zentrale Stellung, den die Rede von der „Macht" (TV, na) Gottes in beiden Psalmengruppen innehat. Das, was in Ps 61-64 in bildhafter Sprache jedoch nur anklingt, wird in Ps 65-68 im kraftvollen Hymnus besungen. Der Lobpreis der JHWH-Treuen, zu dem Ps 63,12 und 64,11 auffordern, wird in Ps 65-68 vielstimmig vollzogen. Der Gott, der zu Beginn von Ps 61 und 64 eindringlich aufgerufen wird, das Gebet des Psalmisten zu hören, hat sich tatsächlich als Hörer des Gebets (Ps 65,3; 66,19) erwiesen. Er, der die Mächte des Chaos überwunden und sich in der Geschichte Israels als Retter und Helfer erwiesen hat, bewahrt auch den einzelnen Beter vor der Übermacht seiner Feinde. Die Vorstellung von der Königsherrschaft Gottes ist dank ihrer universellen Ausrichtung in besonderem Maße dazu geeignet, auch die Erfahrung des Einzelnen zu umschließen. Weil Gott sich als der König und Herrscher des Kosmos erwiesen hat, der der Welt und ihrer Ordnung Festigkeit und Bestand verleiht, kann auch das in Not geratene Individuum darauf vertrauen, dass dieser Gott seinem Leben Sicherheit und Bestand gewährt, oder, kurz gesagt, dass er sich als sichere Zuflucht erweisen wird.

7. Der leidende Gerechte: Ps 69-71 Es fallt auf, dass die Überschriften der letzten vier Psalmen des zweiten Davidpsalters (Ps 69-72) keine Angaben zur Liedart enthalten, geschweige denn, dass sie durch eine gemeinsame Bezeichnung diese Texte zu einer eigenständigen Gruppe zusammenbinden. Somit stellt sich die Frage, ob diese vier Psalmen als jeweils eigenständige, voneinander unabhängige Anhänge an den eigentlichen Kern des zweiten Davidpsalters (Ps 51-68) zu verstehen sind, 544

Vgl. J.F.D. CREACH, Yahweh as Refuge, 50ff.

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III Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

oder ob es trotz der fehlenden Zusammenbindung durch die Überschriften motivliche und thematische Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gibt. Diese Frage soll im Folgenden die Einzelanalyse der entsprechenden Texte klären. 7.1 Psalm 69

1 Für den Chormeister. Nach „Lilien". In Hinblick auf David. 2 Hilf mir, Gott, denn es stehen die Wasser mir bis zur Kehle. 3 Ich bin versunken in tiefem Schlamm, es gibt keinen Grund, ich bin geraten in Wassertiefen, und die Flut spült mich fort. 4 Ich bin erschöpft von meinem Rufen, es brennt meine Kehle, es sind ermattet meine Augen, da ich harre auf meinen Gott. 5 Zahlreicher als die Haare meines Hauptes sind, die mich grundlos hassen. Mächtig sind meine Verderber, meine lügnerischen Feinde. Was ich nicht geraubt habe, das soll ich erstatten. 6 Gott, du, du kennst meine Torheit, und meine Verschuldungen sind vor dir nicht verborgen. 7 Es sollen nicht beschämt werden durch mich, die auf dich hoffen, Herr, JHWH der Heerscharen. Es sollen nicht in Schande geraten durch mich, die dich suchen, Gott Israels. 8 Denn um deinetwillen trage ich Schmach, es bedeckt Schande mein Angesicht. 9 Entfremdet bin ich meinen Brüdern und ein Fremder den Söhnen meiner Mutter. 10 Denn der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt, und die Schmähungen deiner Schmäher sind auf mich gefallen. 11 Ich weinte beim Fasten - meine Seele545 , und es wurde mir zur Schmähung. 12 Ich nahm als mein Gewand einen Sack und wurde ihnen zum Gespött. 545 Die Septuaginta legt es nahe, statt des nur schwer verständlichen Textes hier HDTN1 ,ich zerschlug" zu lesen.

7. Der leidende Gerechte: Ps 69-71

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13 Es reden über mich, die im Tor sitzen, und die Lieder der Weintrinker. 14 Ich aber - mein Gebet (gilt) dir, JHWH, zur Zeit des Wohlgefallens, Gott, in deiner großen Güte antworte mir mit der Treue deiner Hilfe. 15 Reiße mich aus dem Schlamm, dass ich nicht versinke, dass ich entrissen werde denen, die mich hassen, und aus den Wassertiefen, 16 dass mich nicht fortspüle die Wasserflut und nicht verschlinge die Tiefe und nicht verschließe über mir der Brunnen seinen Mund. 17 Antworte mir, JHWH, denn gut ist deine Güte, nach deinem großen Erbarmen wende dich mir zu. 18 Und verbirg nicht dein Angesicht vor deinem Knecht, denn mir ist angst, antworte mir bald. 19 Nahe meiner Seele, löse sie aus, um meiner Feinde willen kaufe mich frei. 20 Du, du kennst meine Schmach, meine Scham und Schande546 , vor [deinen Augen] sind alle meine Widersacher. 21 Schmach hat mein Herz zerbrochen und ist unheilbar; ich hoffte auf Mitleid - aber da war keins und auf Tröster - doch ich fand [sie] nicht. 22 Und sie gaben in meine Speise Gift, und für meinen Durst geben sie mir Essig zu trinken. 23 Es werde ihr Tisch vor ihnen zur Falle und „ihre Opfer"547 zur Schlinge. 24 Verdunkelt werden sollen ihre Augen, dass sie nicht sehen, und ihre Hüften lass immerfort wanken. 546

H.-J. KRAUS (Psalmen II, 641) und andere Ausleger schlagen in Hinblick auf das Metrum und den Parallelismus membrorum hier eine Umstellung nach V.21 vor, so dass sich für V.20f. folgender Wortlaut ergibt: „Du, du kennst meine Schmach, vor [deinen Augen] sind alle meine Widersacher. Schmach hat mein Herz zerbrochen, unheilbar sind meine Scham und Schande. Ich hoffte auf Mitleid - aber da war keins - und auf Tröster - doch ich fand [sie] nicht". Allerdings ist diese Lesart durch keinen Textzeugen belegt. 547 Die Lesart des masoretischen Textes (Plural-Form von 017© - „Frieden") ist kaum verständlich. Die Versionen von Septuaginta und Peschitta leiten von DI^E? - „Vergeltung" ab, die des Targum von - „Heilsopfer". Letztere Deutung erscheint angesichts des Parallelismus membrorum am sinnvollsten, vgl. H.-J. KRAUS, Psalmen II, 641; F.-L. HossFELD / E . ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 2 6 2 .

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

25 Gieß aus über sie deinen Grimm, und die Glut deines Zornes erreiche sie. 26 Ihr Lagerplatz möge veröden, in ihren Zelten sei kein Bewohner. 27 Denn du548 - den du selbst geschlagen hast, verfolgen sie, und vom Schmerz deiner Durchbohrten erzählen sie549 . 28 Lege Schuld auf ihre Schuld, dass sie nicht gelangen in deine Gerechtigkeit. 29 Sie mögen ausgelöscht werden aus dem Buch des Lebens, und mit den Gerechten sollen sie nicht aufgeschrieben werden. 30 Ich aber bin elend und leidend, deine Hilfe, Gott, schütze mich. 31 Ich will preisen den Namen Gottes im Lied, ihn erhöhen im Dank. 32 Das gefällt JHWH besser als ein Rind, ein Stier mit Hörnern und Klauen. 33 Gesehen haben es die Elenden, sie freuen sich, die ihr Gott sucht, es lebe auf euer Herz! 34 Denn es hört auf die Armen JHWH, und seine Gefangenen verachtet er nicht. 35 Es sollen ihn preisen Himmel und Erde, die Meere und alles, was sich darin regt. 36 Denn Gott wird Zion helfen und die Städte Judas aufbauen, und sie werden sich dort niederlassen und es in Besitz nehmen. 37 Und die Nachkommen seiner Knechte werden es erben, und die seinen Namen lieben, werden darin wohnen. Was den Aufbau von Ps 69 angeht, so legt sich folgende, an der Wiederholung zentraler Stichwörter orientierte Gliederung nahe:550

548 Hier dürfte es sinnvoller sein, mit Septuaginta und Peschitta nx (nota accusativi) statt nnx zu lesen. 549 Die von Septuaginta und Peschitta angedeutete Lesart rSD"1 - „sie fügen hinzu" stellt eine Vereinfachung des Textes dar, die das Wortspiel übersieht, das durch die Lesart des masoretischen Textes ^ B O - „erzählen") in Verbindung mit V. 29 ("1BDD - „aus dem Buch") entsteht, vgl. M.E. TÄTE, Psalms 50-100,191 (note 21b). 550 Vgl. hierzu auch die ausführliche Darstellung bei F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100,262ff.

7. Der leidende Gerechte: Ps 69-71

V.l:

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Überschrift

Teil A: V.2-14a V.2-5: Die Macht der Bedrohung CTO („Wasser") Tivats („ich bin versunken") n b i s o („tiefer Schlamm") D'O •'pOl/O („Wassertiefen") ^ntstf nbzw („die Flut spült mich fort")

V.6-13: Schmach und Schande l!2?rp b s („es sollen nicht beschämt werden") n e n n („Schmach") HD^D („Schande")

Teil B: V. 14-30 V. 14-19: Bitte um Antwort und Hilfe D'ti („Schlamm") nV3DN bü („dass ich nicht versinke") CTO 'pQVD („Wassertiefen") CTO nbn© MDtSE'n („dass mich nicht fortspüle die Wasserflut")

V.20-22: Schmach und Schande T l S i n („meine Schmach") Tilpa („meine Scham") Tiobs („meine Schande")

V.23-30: Gottes Gericht über die Feinde Teil C: V.31-37 V.31-35: Lob und Dank V.36-37: Hoffnung für den Zion und Juda Psalm 69 beginnt mit einer Bitte um Errettung aus einer Situation, die der Beter als ausweglos erlebt. Er schildert seinen Zustand als den eines Ertrinkenden, der hilflos gewaltigen Wasserfluten (nbritf) ausgeliefert ist (vgl. Ps 42,8; Jon 2,6). Das Wasser steht ihm schon bis zur Kehle, und seine Füße finden auf schlammigem Grund keinen festen Halt mehr. Diese plastische Rede von den Beter bedrohenden Chaoswassern als Ausweis der der guten Ordnung Gottes feindlich gegenüberstehenden Todesmächte entspricht dem Denk- und Vorstellungshorizont der vorexilischen Tempeltheologie.551 Einen wortwörtli551

Vgl. F. LINDSTRÖM, Suffering and Sin, 343.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

chen Anknüpfungspunkt für diese in Ps 69 sicherlich metaphorisch gemeinte Redeweise findet sich in dem Bericht über die Gefangenschaft des Propheten Jeremia in einer schlammigen Zisterne (Jer 38,6). Die weitere Untersuchung wird zeigen, dass es zwischen dem Schicksal und Erleben dieses Propheten und dem Beter des vorliegenden Psalms einige auffällige Parallelen gibt. Der Eindruck der Ausweglosigkeit der Situation des Psalmisten wird dadurch verstärkt, dass der beschriebene Zustand offensichtlich schon über einen längeren Zeitraum hin anhält. Seine Kehle brennt, und seine Augen sind ermattet (V.4). Offenbar vergeblich hat er Gott angerufen und Ausschau gehalten nach seiner Hilfe. Der Beter muss befurchten, dass Gott ihm seine lebenspendende Gegenwart entzogen hat, so dass den tödlichen Mächten der Gegenwelt wie einer unaufhaltsamen Flut Tür und Tor geöffnet sind. Entsprechend übermächtig erlebt er auch seine konkreten Feinde (V.5). In einem maßlos erscheinenden Vergleich versteigt sich der Klagende zu der Aussage, dass seine Feinde zahlreicher seien als die Haare seines Hauptes. Wie so oft in der Individualklage gehört es zum Wesen der Feinde, dass sie Lügen verbreiten (vgl. Ps 52,5f; 59,13; 64,4f) und den Beter grundlos (Dm) verfolgen. Ungewöhnlich in diesem Zusammenhang ist, dass die lügnerische Anklage konkretisiert wird. Der Psalmist wird des Raubes bezichtigt und aufgefordert, das angeblich Geraubte zu erstatten. Dass jener diesen Vorwurf weit von sich weist, wird paradoxerweise gerade durch das Schuldbekenntnis in V.6 nachdrücklich unterstrichen. Der Beter weiß sehr wohl um seine Schuld vor Gott, die zum menschlichen Sein coram Deo dazugehört (vgl. Ps 51,7; 130,3; 143,2). Diese Torheit (nbiN) und Verschuldung (noE'N) ist jedoch die einzige Schuld, derer er sich bewusst ist; gegenüber den Menschen seiner Umgebung, die ihn verfolgen, weiß er sich vollkommen schuldlos.552 Im folgenden Vers (V.7) verändert sich die Blickrichtung des Psalmisten. Es geht nun nicht mehr um seine eigene notvolle Befindlichkeit, sondern um deren Auswirkung auf andere fromme Gottessucher. Der Beter versteht sich als ein exemplarisch Leidender, dessen Erfahrung unschuldigen Leidens und scheinbarer Gottverlassenheit die Hoffnung all derer gefährdet, die Gott vertrauen. Dementsprechend gilt sein Bitten nicht nur ihm und seinem eigenen Leben, vielmehr wird sein Schicksal zum Lern- und Erfahrungsort für ande-

552

Auf den Umstand, dass das Schuldbekenntnis in V.6 im Kontext von V.5 die Funktion einer indirekten Unschuldsbeteuerung hat, hat F. LINDSTRÖM hingewiesen: „Consequently, the petitioner here declares that all the suffering which has plagued him is only the result of his loyalty to his God. He has been completely blameless toward his social neighbourhood, which now rises up in their aggressive hostility. [...] Thus, the confession of sin in the passage in question functions negatively: I am completely without guilt before my enemies, I am sinless coram hominibus." (Suffering and Sin, 342).

7. Der leidende Gerechte: Ps 69-71

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re.553 Auffällig ist, dass Gott in diesem auf den ersten Blick auf das Individuum ausgerichteten Kontext mit dem alten, im Tempel beheimateten Namen JHWH Zebaoth angesprochen wird. Dieser Name, der JHWH als den in der Geschichte agierenden und regierenden König der Welt beschreibt, hat ebenso wie der erst in jüngeren Psalmen begegnende Titel „Gott Israels" (bN-ifer - V.7) eine auf Israel und die Heilsgeschichte ausgerichtete Konnotation.554 Ein neues Licht auf die wahren Hintergründe des Leidens des Psalmisten wirft V. 10. Hier wird deutlich, dass dieser umgetrieben wird vom Eifer für das Haus Gottes, d.h. den Tempel. Im Selbstverständnis des Beters führt dieser Eifer dazu, dass die Schmähungen (niDin) seiner Gegner, die eigentlich JHWH selbst gelten, auf ihn, den ergebenen Diener Gottes, zurückfallen. Hier deutet sich der ungewöhnliche Gedanke an, dass der Psalmist für Gott, ja an der Stelle Gottes leidet (nDin Tixfr: l^bv - V.8).555 In jedem Fall ist es keine wie auch immer geartete Schuld, aufgrund derer er Schmach und Schande tragen muss, sondern allein seine uneingeschränkte Hingabe an Gott. Diesen Gedanken eines Leidens um Gottes willen formuliert in vergleichbarer Weise auch der Prophet Jeremia (Jer 15,15). Wenn in V.l lf die Rede davon ist, dass der Beter fastet und einen Sack als Bußgewand anlegt, dann dürfte er dies dementsprechend nicht um einer eigenen Verschuldung willen tun, sondern eben um des Hauses Gottes willen (vgl. Joel 1,8-14; Sach 7,3-14). Die Konsequenz seines Handelns ist Einsamkeit sowie der Hohn und Spott seiner Umgebung - eine Erfahrung, die angesichts seiner Gerichtsbotschaft auch Jeremia macht (Jer 20,7f). Selbst den Menschen seiner nächsten Nähe, seinen Brüdern, gilt er als Fremder (V.9). „Im Tor" der Stadt, dem öffentlichen Versammlungsplatz (vgl. Gen 19,1; 2. Sam 19,8; Ruth 4,11) redet man über ihn, sogar die Zecher und Weintrinker machen ihn zum Gegenstand ihrer Lieder (V.l 3). Der nächste, von der Bitte um Antwort und Hilfe geprägte Abschnitt (V.l4-19) beginnt mit der nachdrücklichen Versicherung, dass trotz aller Anfeindungen das Gebet des Psalmisten allein JHWH gilt (vgl. die prononcierte Stellung des JHWH-Namens in der Mitte von V.l4a). In der bekannten Spra553 Vgl. H.-J. KRAUS: „Hart vor der Grenze des stellvertretenden Leidens weiß der Beter sich an einem Ort, an dem seine Lebenswende zu einem Zeugnis, zu einer beispielhaften Darstellung für andere werden soll" (Psalmen II, 643). 554 Zur Herkunft und Bedeutung des Namens „JHWH Zebaoth" vgl. die umfangreiche Darstellung bei T.N.D. METTINGER, In search of God, 123ff. F. LINDSTRÖM weist daraufhin, dass dieser Name ebenso wie der Titel „Gott Israels" im Rahmen der Individualklage, in der Gott eher als „mein Gott" oder „Gott meiner Rettung" angesprochen wird, ungewöhnlich ist. Die Verwendung dieser beiden Titel deutet Lindström auf einer Linie mit der von ihm in V . 7 13.19-29.33-37 ausgemachten Überarbeitung des Textes, die durch eine kollektivierende Tendenz geprägt ist (Suffering and Sin, 340). 555 Vgl. H.-J. KRAUS, Psalmen II, 643.

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111. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

che und Tradition der Tempeltheologie appelliert der Beter an die Güte ("ton) und Treue (nox) Gottes und bittet damit um Zuwendung und Antwort auf sein bisher vergebliches Rufen (V.4). Dabei ist er sich dessen bewusst, dass es für diese Antwort einen in Gottes Augen rechten Zeitpunkt, die „Zeit des Wohlgefallens" (¡im ny), gibt.556 In dieser den Abschnitt Y. 14-19 einleitenden Bitte klingt die dem leidenden und verfolgten Gottesknecht von JHWH gegebene Zusage an: „Zur Zeit des Wohlgefallens antworte ich dir, und am Tag des Heils helfe ich dir" (Jes 49,8). Konkretisiert wird diese Bitte um Antwort und Hilfe in Bildern, die bis ins Detail hinein der Notschilderung in V.2-3 entsprechen.557 Gott möge den bedrängten Beter den Todesmächten entreißen, die ihn wie gefräßige Ungeheuer zu verschlingen drohen (vgl. V.16: ^ybnn bx „dass mich nicht verschlinge"; ms n t o ''bv naxn bx - „dass nicht verschließe über mir der Brunnen seinen Mund"). Dass der Psalmist seine menschlichen Feinde als Repräsentanten eben dieser Todesmächte versteht, macht die parallele Stellung von "NIE* („meine Hasser") und D,0 ''pos/o („Wassertiefen") deutlich. Diese Bedrohung kann er nur als einen Entzug der Gegenwart Gottes deuten und bittet dementsprechend erneut um eine Antwort ("'Uy - V.17a. 18b), die ihm die Gewissheit gibt, dass Gott seine Not sieht. Noch einmal behaftet er JHWH bei seiner Güte (non) und darüber hinaus bei seinem großen Erbarmen (üm). Mit den für die Psalmentheologie zentralen Stichworten "ton (V.14.17), noN (V.14) und a m (V.17) klingt hier von ferne die grundlegende Wesensbeschreibung Gottes an, wie sie in der sog. Gnadenformel (vgl. Ex 34,6; Joel 2,13; Jon 4,2; Ps 86,15; 103,8; 145,8; Neh 9,1)558 formuliert wird. Die Bitte, Gott möge sich dem Beter zuwenden (mo - V.17b) und sein Angesicht nicht verbergen ("pia m o n bxi - V.18a) bedient sich des in den Psalmen weit verbreiteten Motivs vom Angesicht Gottes.559 Wem Gott sein Angesicht zuwendet bzw. leuchten lässt (vgl. Ps 21,7; 31,17; 67,1), der kann sich eines gelingenden Lebens im Schutz und in der Gegenwart Gottes gewiss sein. Verbirgt Gott jedoch sein Angesicht bzw. wendet es ab (vgl. Ps 30,8; 44,25; 88,15; 104,29), so ist dies gleichbedeutend mit dem Verlust seiner helfenden und rettenden Nähe. Wenn Gott sich von seinen Getreuen abwendet, haben die Todesmächte freie Bahn, es droht Lebensgefahr. Dementsprechend endet der Abschnitt in V.19 mit einer Aneinanderreihung von drei Imperativen

556 Vgl. G. RAVASI: Dio apparirà 'et rasón, nel «tempo della benevolenza», nel kairós, il tempo fissato e preciso definito dall'amore di Dio e del suo esaudimento [...]" (Salmi II, 422). 557 Zu den Stichwortentsprechungen vgl. die Gliederung zu Beginn des Abschnitts. 558 Zum Begriff „Gnadenformel" und zu Entstehung und Stellenwert der entsprechenden Formulierung innerhalb des Alten Testaments vgl. H. SPIECKERMANN, Barmherzig und gnädig ist der Herr..., ZAW 102 (1990), 1-18. 559 Vgl. hierzu die umfassende Monographie von J. REINDL, Das Angesicht Gottes im Sprachgebrauch des Alten Testaments, Leipzig 1970.

7. Der leidende Gerechte: Ps 69-71

251

OtS'DJ bht n m p ; nbNJ; ' n s ) , die Gott nachdrücklich zum Einschreiten auffordern. Insbesondere in den Verben bid („auslösen") und m s („freikaufen") wird implizit der Herrschafts- und Besitzanspruch, den die dunklen Mächte bereits über den Beter erheben, deutlich. Der erste Begriff findet sich in Hinblick auf Gott vor allem bei Deuterojesaja und beschreibt JHWH als den Anwalt der Armen, Witwen und Waisen, der zweite ist das klassische Verbum des Exodus, mit dessen Hilfe die Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten formuliert wird.560 Der folgende Abschnitt (V.20-22) beginnt wie V.6-13 mit einem Hinweis auf das Wissen und Erkennen Gottes (ns/T nnN). Dieser formalen Gemeinsamkeit der beiden Teilabschnitte entspricht die Dominanz des Vokabulars, das um das Thema der Schmach und Schande des Beters kreist, in beiden Teilen.561 Die Erfahrung von Schmach und Schande hat das Herz des Psalmisten gebrochen, seinen Zustand beschreibt er in Anspielung auf Jer 15,18 als unheilbar (V.21). Er hoffte auf Mitleid und Tröstung562 und erhält statt eines erquickenden Mahles unter wohlmeinenden Freunden (vgl. 2. Sam 3,35; 12,17; Hi 42,11) vergiftete und ungenießbare Speisen (V.22). Auf diese erneute Klage folgt in V.23-30 ein umfangreicher Abschnitt mit Fluch- und Strafwünschen gegen die Feinde, der ähnlich breiten Raum in Anspruch nimmt wie die Schilderung der Notsituation des Beters. Es fallt auf, dass das Ergehen, das der Psalmist seinen Gegnern wünscht, seinen eigenen leidvollen Erfahrungen entspricht.563 So knüpft V.23 nahtlos an V.22 an. Wie der Beter statt Trost und Mitleid nur trügerische und ungenießbare Speisen erhält, so soll auch den Feinden der vor ihnen gedeckte Tisch zur Falle564 wer560 Vgl. J.J. STAMM, Art. "jni, THAT I; ders., Art. m s , THAT II; G. RAVASI, Salmi II, 422, sowie die Erläuterungen bei F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER: „Während das Verb ,auslösen' aus dem Bereich des Sippenrechts stammt und die Befreiung eines Verwandten aus der Schuldsklaverei bezeichnet, ist das Verbum ,freikaufen' ein ursprünglich handelsrechtlicher Begriff und meint den Erwerb eines Gegenstandes oder auch den Freikauf eines Gefangenen, um den Gegenstand oder die befreite Person in die eigene Hausgemeinschaft aufzunehmen, weil man diesen Gegenstand für wertvoll oder diesen Menschen für besonders liebenswert hält." (Psalmen 51-100, 276). 561 Zu den Stichwortentsprechungen vgl. die Gliederung zu Beginn des Abschnitts. 562 Das Motiv der Tröstung (DIU - pi.) begegnet in den Psalmen eher selten (Ps 23,4; 69,21; 71,21; 86,17; 119,76.82). Sehr viel höher ist die Belegfrequenz jedoch bei Deuterojesaja (achtmal) und in den Klageliedern (sechsmal), vgl. H. SIMIAN-YOFRE, Art. Dm, ThWAT V. Es ist anzunehmen, dass diese Vorstellung erst in der Exilszeit unter dem Einfluss eben dieser beiden Schriften Einzug in die Psalmen gehalten hat. 563 Vgl. hierzu auch die Strukturbeobachtungen bei L.C. ALLEN, The Value of Rhetorical Criticism in Psalm 69, JBL 105 (1986), 577-598 (580). 564 Im Hintergrund dieser Metapher dürfte die bei der Vogeljagd gebräuchliche Klappnetzfalle stehen. Die Fleischstücke des Opfermahles wären demnach die Köder, die den Mechanismus der Falle des göttlichen Gerichts auslösen, die über den Gegnern des Beters zusam-

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

den. Während die Augen des Klagenden nur ermattet sind (V.4), sollen ihre Augen verdunkelt werden, so dass sie nichts mehr sehen können. Der Erfahrung des Psalmisten, keinen festen, sicheren Grund mehr unter den Füßen zu spüren (V.3), entspricht sein Wunsch, dass die Hüften seiner Gegner immerfort wanken mögen (V.24). Die Glut des göttlichen Zornes, die die Feinde treffen möge (V.25), hat ihr Gegenüber und ihren Grund in dem Eifer um das Haus Gottes, der den Beter verzehrt (V.10). So wie dieser Einsamkeit und Entfremdung von seinen nächsten Angehörigen erfahren hat (V.9), so sollen auch seine Widersacher die Leere und Einsamkeit eines verödeten Zeltlagers erleben. Eine Art Zusammenfassung des Wunsches nach einem ihrem Tun entsprechenden Ergehen der Gegner stellt V.28 dar. Der Gott, der die Torheit und die Verschuldungen des Beters und aller Menschen kennt (V.6), möge ihrer Schuld ( D ) I V ) weitere Schuld (¡11/) hinzufugen und das Schlechte, das sie begangen haben, mit Schlechtem beantworten. Sie, die die Schmach und Schande des Psalmisten in weinseligen Liedern festzuhalten trachten (V.13), sollen aus dem Buch des Lebens (vgl. Ex 32,32; Jes 4,3; Dan 7,10; 12,1; Mal 3,1; Ps 56,9; 87,6; 139,16), in dem allein das Tun und Ergehen der Menschen festgehalten ist, ausgelöscht werden.565 Das, was dem Beter am Herzen liegt, ist eine klare und eindeutige Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern, Gerechten und Ungerechten, Frommen und Frevlern. Seine Feinde sollen keinen Zugang haben zu der heilsamen Sphäre der Gottesgemeinschaft (npnn V.28b).566 Sie sollen nicht zusammen mit den Gerechten ( D ^ n s ) im Buch des Lebens aufgeschrieben werden (V.29b), wo ihr Name ewig Bestand hätte, sondern ihr Schicksal soll dem Schicksal derer gleichen, von denen es in Jer 17, 13 heißt: „Und die von mir abweichen, werden in die Erde geschrieben werden [...]". Im Zentrum dieses ganz auf die Vergeltung gegenüber den Feinden abzielenden Abschnitts steht mit V.27 eine Aussage, in der die Leidenserfahrung des Beters in einer ungewöhnlichen Formulierung zusammenfassend beschrieben wird. Die Schuld der Gegner besteht darin, dass sie den bereits von Gott Geschlagenen verfolgen (V.27a) und vom Schmerz der Durchbohrten Gottes erzählen (V.27b). Eine Interpretation des Leidens als eines Geschlamenschlägt, vgl. hierzu die Ausführungen und Abbildungen bei F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 277f. 565 Zur Vorstellung vom Buch des Lebens vgl. auch die Auslegung zu Ps 56,9. 566 Vgl. hierzu G. VON RAD: „ [...] eine Erörterung der zahlreichen Belege, in denen NPIS in Verbindung mit der Präposition 3 auftritt, legen den Gedanken nahe, daß n p t s auch merkwürdig räumlich verstanden worden zu sein scheint; etwa wie ein Bereich, ein Kraftfeld, in das Menschen einbezogen und dadurch zu besonderen Taten ermächtigt werden. [...] Wenn angesichts von Feinden gebetet wird, laß sie nicht kommen in deine Gerechtigkeit' (Ps. 692s), so scheint tatsächlich np"tx in einem fast räumlichen Sinn als ein dem Menschen heilsamer Kraftbereich verstanden zu sein." (Theologie des Alten Testaments I, 388).

7. Der leidende Gerechte: Ps 69-71

253

genseins (HD:) durch Gott findet sich in keiner anderen der Individualklagen des Psalters.567 Häufig anzutreffen ist diese Vorstellung jedoch insbesondere in der Prophetie Jeremias (Jer 5,3; 14,19; 33,5) und Tritojesajas (Jes 57,15.17; 60,10) mit Bezug auf das exilierte Volk. Auch die Rede von „deinen (d.h. Gottes) Durchbohrten" ("pbbn) lässt sich auf dem Hintergrund von V.34, in dem „seine (d.h. Gottes) Gefangenen" angesprochen sind, am sinnvollsten auf das Volk in der Situation des Exils beziehen (vgl. Jes 22,2; Jer 14,18; Klgl 2,12). Die Grenze zwischen der Leiderfahrung des Einzelnen und des Kollektivs scheint an dieser Stelle zu verschwimmen. F. Lindström stellt in seinen Ausfuhrungen zu Ps 69 zu Recht die Frage, ob eine Formulierung wie V.27 ohne das Wissen um den „Schmerzensmann" in Jes 53 überhaupt möglich gewesen wäre.568 Mit dieser Gestalt, in deren Person sich die schmerzlichen Erfahrungen Israels im Exil konzentrieren, teilt der Klagende aus Ps 69 neben dem Erleben von Schmach und Verachtung (Jes 53,3; vgl. auch Jes 50,6f) eben genau das in V.27 beschriebene Bewusstsein, ein von Gott Geschlagener und Durchbohrter zu sein (vgl. Jes 53,4f). Der Abschluss des Abschnitts V.23-30 lenkt den Blick wieder zurück zum Ich des Beters (V.30). Dieser bezeichnet sich zusammenfassend als elend (UV) und leidend (ntflD) und formuliert die Hoffnung und Bitte, dass Gott ihn schützen möge. Mit V.31 verändert sich der Ton des Psalms. Auf die breit angelegte Klage folgt gemäß dem Duktus der Klage des Einzelnen das Lobgelübde. Der Psalmist will den Namen Gottes im Lied (~PE?) preisen und im Dank (min) erhöhen. Angesichts der in V.10 erwähnten engen Bindung des Beters an den Tempel mutet die in V.32 anklingende Opferkritik befremdlich an. Ganz im Geiste von Ps 50,8ff und 51,18f bekennt dieser hier, dass Gott sein Lied besser gefallen werde als ein Tieropfer (vgl. das Wortspiel von und nie?). Mit V.33f wird zusätzlich zu der Person des Beters und der Gruppe seiner Feinde ein weiterer Personenkreis eingeführt, die Elenden (cpny - V.33a) und Armen ( D ) L L K - V.34a). Dabei deutet jeweils der Parallelismus eine genauere Charakterisierung der so bezeichneten Kreise an. Es handelt sich offensichtlich um die Frommen, die Gott suchen (V.33b), und um „seine Gefangenen" (V.34b) - ein Begriff, mit dem für gewöhnlich das exilierte Volk Israel bezeichnet wird (vgl. Ps 79,11; 102,21; Jes 42,7; 49,9). So legt sich die Annahme nahe, dass im vorliegenden Kontext mit den Elenden und Armen weniger eine materiell und sozial unterpreviligierte Schicht innerhalb Israels gemeint ist, als vielmehr diejenigen frommen Israeliten, die als Vertreter des wahren Gottesvolkes an und in der Situation des Exils leiden. Diese Gruppe, zu der auch der Psalmist sich zählt (vgl. V.30), kann die Hoffnung und die ,

567 568

,

Vgl. F. LINDSTRÖM, Suffering and Sin, 335. Vgl. a.a.O, 336.

254

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Gewissheit haben, dass Gott ihre Klagen (vgl. V.4) hören wird. Die Verängstigten (vgl.V.18b) können sich freuen und das Herz der vom Rufen nach Gott Erschöpften (V.4) kann wieder aufleben. Aber nicht nur der Beter will Gott preisen (bbii), sondern der gesamte Kosmos mit Himmel, Erde und Meeren ist aufgefordert, Gott den ihm gebührenden Lobpreis darzubringen. Die Begründung hierfür ist in den abschließenden Versen 36-37 formuliert. Gott wird Zion helfen und die zerstörten Städte Judas aufbauen, und eine kommende Generation wird das Land erben und wieder bewohnen. Zwischen dieser eindeutig nationalen Perspektive und den individuellen Nöten des Beters, wie sie in V.2-30 beschrieben werden, gibt es höchstens eine mittelbare Verbindung. Auf diesem Hintergrund wurde immer wieder vermutet, dass es sich zumindest bei V.36-37 um das Ergebnis einer kollektivierenden Neuinterpretation handelt,569 die die Befreiung aus dem Exil und einen Neuanfang Gottes mit seinem Volk im Land erhofft. Das Profil dieses national ausgerichteten Abschlusses von Ps 69 wird besonders im Vergleich mit dem mit Ps 69 eng verwandten Ps 102 deutlich.570 Anders als in Ps 69 nehmen hier die kollektivierenden Passagen einen sehr viel breiteren Raum ein (Ps 102,13-23.25b-29). Es fällt auf, dass es zwischen beiden Psalmen sowohl bei der Darstellung der Notsituation des Beters im individuellen Klageteil als auch hinsichtlich der Perspektive der sekundären Zusätze bezeichnende Übereinstimmungen gibt. Wie in Ps 69 leidet auch der Klagende in Ps 102 unter dem Spott seiner Feinde (Ps 69,12f; 102,9), er ist einsam und verlassen (Ps 69,9; 102,7f) und bittet, ermattet von seinem vergeblichen Rufen nach Gott (Ps 69,4; 102,6), um schnelle Erhörung und Hilfe (Ps 69,17f; 102,2f). Mit dieser Notsituation eines Individuums wird in Ps 102 wie in Ps 69 die Hoffnung auf die Wendung der Notlage des exilierten Volkes durch Gottes Eingreifen verbunden. In beiden Psalmen explizit verheißen und erhofft werden die Wiederherstellung Zions (Ps 69,36; 102,14.17) und eine Nachkommenschaft, die das Land erben und in Zukunft bewohnen wird (Ps 69,37; 102,19.29). Darüber hinaus finden sich in Ps 102 folgende Motive: a) Gott hört die Klage seines gefangenen Volkes (V.18.21); b) Gott hat in der Schöpfung seine Königsherrschaft erwiesen (V.13.26ff); c) Die Völker versammeln sich am Zion, um Gott anzuerkennen und ihm zu dienen (V. 16.22f). Während letzteres Motiv in Ps 69 nicht begegnet, klingen die beiden anderen außerhalb des nationalen Anhangs V.36f zumindest an. So ist in Ps 69,24 569 Vgl. u.a. J. BECKER, Israel deutet seine Psalmen, 45ff; F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 268f., im Anschluss an N. TILLMANN („Das Wasser bis zum Hals!" Gestalt, Geschichte und Theologie des 69. Psalms (MThA 20), Altenberge 1993, 135); K. SEYBOLD, Psalmen, 270. 570 Zum Vergleich von Ps 69 und Ps 102 vgl. J. BECKER, Israel deutet seine Psalmen, 47f; L.C.ALLEN, Rhetorical Criticism, 591 ff.

7. Der leidende Gerechte: Ps 69-71

255

wie in Ps 102,21 von den „Gefangenen" die Rede, die Gott nicht verachtet bzw. deren Stöhnen er hört. In Ps 69,35 werden Himmel, Erde und Meer aufgefordert, in den Lobpreis Gottes einzustimmen. Dieser Gedanke ist eng mit dem Vorstellungskomplex von der Königsherrschaft Gottes verbunden (vgl. Ps 96,11-13; 97,1; 98,7-9). J. Becker hat in seiner Untersuchung kollektivierender Neuinterpretationen in den Psalmen daraufhingewiesen, dass eben dieser Vorstellungskomplex gerade in der Ausprägung des Motivs des kosmischen Jubels eine bedeutende Rolle in der theologischen Konzeption Deuterojesajas spielt, wenn es um das Thema der Befreiung aus dem Exil geht (vgl. Jes 42,10-13; 44,23; 49,13).571 Betrachtet man V.36-37 als redaktionelle Erweiterung, deren Verfasser sich den Hoffnungen und Erwartungen Deuterojesajas verpflichtet fühlt, so wird man auch V.35 zu diesem Nachtrag hinzurechnen müssen. Allerdings wäre diese Erweiterung semantisch und strukturell sehr eng mit ihrem Kontext verbunden. Der letzte Vers des LobpreisAbschnittes V.31-37 ist mit dem ersten Vers durch das Stichwort DTF („Name") verknüpft, und die Erwähnung der Knechte Gottes ( n n y ) in V.37 greift zurück auf den leidenden Knecht (tny) in V.18, so dass dieser zum Paradigma der JHWH-Treuen bzw. des leidenden Gottesvolkes wird. Des Weiteren verrät nicht nur die in V.35-37 formulierte, mit der Vorstellung von der Königsherrschaft Gottes verknüpften Hoffnung auf Rückkehr zum Zion eine gewisse Nähe zur deuterojesajanischen Theologie, sondern auch die Darstellung des Leidens des Psalmisten, das in weiten Teilen an die Leiden des Gottesknechts erinnert. Ebenso verweist die Einführung der Personengruppe der Armen und Elenden in V.33f, die auch als die Gefangenen Gottes qualifiziert werden, auf die Situation und den Erfahrungshintergrund des Exils. So lässt sich zusammenfassend feststellen, dass Ps 69 zum einen Motive einer vorexilischen, in der Tempeltheologie beheimateten Individualklage (Chaos-Motiv; Bitte, das Angesicht nicht zu verbergen) enthält, zum anderen aber auch die beschriebenen Themen und Motive, die sich nur auf dem Hintergrund des Exils verstehen lassen. Da diese Themen und Motive den gesamten Text durchdringen und nicht etwa nur auf die Schlussverse beschränkt sind, ist es jedoch fraglich, ob eindeutig zwischen einer vorexilischen Grundschicht und einer bzw. mehreren Bearbeitungsstufen unterschieden werden kann.572 Vielmehr dürfte der gesamte Psalm erst in nachexilischer Zeit ent571

Vgl. J. BECKER, Israel deutet seine Psalmen, 48. Zur Verbindung der Vorstellung vom Königtum Gottes mit dem Thema der Befreiung aus dem Exil bei Deuterojesaja vgl. auch T.N.D. METTINGER, In search of the hidden structure: YHWH as King in Isaiah 40-55, in: C.C. Broyles / C.A. Evans (Hrsg.), Writing and Reading the Scroll of Isaiah, Leiden - New Y o r k - K ö l n 1997, 148ff. 572 Mit einer Bearbeitungsschicht, die von V.34 bis 37 reicht, rechnet J. BECKER (Israel deutet seine Psalmen, 45f), von einer nachexilischen Ergänzung in V.36-37 geht auch M.E.

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

256

standen sein. Er greift zurück auf das Weltbild und die Frömmigkeit der vorexilischen Tempeltheologie und versucht auf dieser Grundlage, die Erfahrung des Exils aus einer individuellen Perspektive heraus zu verarbeiten. Dabei beginnt die Grenze zwischen Individuum und Kollektiv zu verschwimmen. Der leidende Gerechte, der Züge des verfolgten Propheten Jeremia, aber auch des deuterojesajanischen Gottesknechts trägt und der wegen seines Eifers für JHWH verschmäht und verachtet wird, steht stellvertretend für das Volk. 7.2 Psalm

70

1 Für den Chormeister. In Hinblick auf David. Zum Gedenken. 2 Gott, mich zu retten, JHWH, mir zur Hilfe, eile! 3 Es sollen beschämt und enttäuscht werden, die nach meiner Seele trachten, es sollen zurückweichen und zuschanden werden, die Gefallen haben an meinem Unglück. 4 Umkehren sollen wegen ihrer Schande, die sagen: Haha, Haha!

TÄTE (Psalms 51-100, 192) aus, K. SEYBOLD sieht in V.35-37 „Nachträge von Benutzern des Psalms" (Psalmen, 270). Nach der Analyse von F. LINDSTRÖM gehen sogar V.6-13.1929.33-37 auf eine redaktionelle, exilisch-nachexilische Bearbeitung zurück (Suffering and Sin, 333ff). Ein ähnliches Modell schlagen F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER im Anschluss an N. TILLMANN („Das Wasser bis zum Hals!") vor. Die Autoren unterscheiden zwischen einem vorexilischen, von der Chaos-Wasserfluten-Metaphorik geprägten Grundpsalm (V.2-5.14cd19.31) und einer V.6-14ab.20-30.32-34 umfassenden armentheologischen Erweiterung. Ein zweiter redaktioneller Zusatz, der in Verbindung mit dem ebenfalls redaktionellen Schluss Ps 51,20f steht, liegt nach Auffassung von Hossfeld / Zenger außerdem in V.35-37 vor (vgl. Psalmen 51-100, 268f). Gegen ein solches Entstehungsmodell spricht das beschriebene Entsprechungsverhältnis, in dem die Wünsche des Beters gegen die Feinde (V.23-29) zu seinem eigenen in V.2-22 geschilderten leidvollen Erleben stehen. Die nach dem Modell von Hossfeld / Zenger zur Erweiterungsschicht gehörigen Verwünschungen gegen die Feinde wären demnach in enger Anbindung an die Notschilderungen der Grundschicht formuliert worden. Diese Annahme ist zwar durchaus möglich, sinnvoller erscheint es jedoch, angesichts dieser Verbindungslinien davon auszugehen, dass der Psalm von einer Hand geschaffen wurde. Weiterhin ist gegen das von Hossfeld / Zenger vorgeschlagene Modell einzuwenden, dass die von den Autoren beobachtete Orientierung der Fortschreibung am Jeremiabuch (a.a.O.) sich durchaus auch in der postulierten Grundschicht finden lässt (V.3.15). Für die Annahme, dass Ps 69 eine kohärente, planvoll zusammengestellte Einheit darstellt, sprechen auch die zahlreichen Verbindungslinien von Ps 69 zu Ps 70/71 sowie zur Psalmengruppe Ps 35-41 und die sich daraus ergebenden redaktionsgeschichtlichen Überlegungen, die unten in Kap. III.7.4 genauer dargestellt und erläutert werden. Von der literarischen Einheitlichkeit des Textes gehen auch L.C. ALLEN (Rhetorical Criticism, 585), M. KRIEG (Todesbilder, 265), G. RAVASI (Salmi II, 408) und H.-J. KRAUS (Psalmen II, 641) aus.

7. Der leidende Gerechte:

Ps

69-71

257

5 Es sollen frohlocken und sich freuen in dir alle, die nach dir trachten, und es sollen immerfort sagen: „Groß ist Gott", die dein Heil lieben. 6 Ich aber bin elend und arm, Gott, eile zu mir! Meine Hilfe und mein Retter bist du, JHWH, zögere nicht! Der auffällig kurze, aber eindringliche Psalm lässt sich folgendermaßen gliedern: V.2: Bitte um Hilfe V.3—4: Das Ergehen der Feinde V.5: Das Ergehen der Frommen V.6: Bitte um Hilfe Innerhalb des zweiten Davidpsalters zeichnet sich Ps 70 durch seine Kürze und Prägnanz aus, in der die Dringlichkeit des Hilferufes des Beters plastisch zum Ausdruck kommt. Der Text hinterlässt den Eindruck eines tiefen Stoßseufzers, gesprochen in einer kurzen Atempause inmitten von Not und Verfolgung. Dass der Sprecher des Psalms keine Zeit zu verlieren hat und ein schnelles Einschreiten Gottes notwendig ist, macht die einleitende Bitte in V.2 und ihr Pendant in V.6 deutlich (nttfin - „eile!"; "insn bs - „zögere nicht!").573 Gott gilt dem Psalmisten als Hilfe (HL/ - V.2.6) und Retter (bxi V.2; D'PO - V.6), sich selbst bezeichnet er, wie auch der Beter von Ps 69, als elend und arm (jrnNl - V.6, vgl. Ps 69,30.33f). Die Not des Klagenden besteht darin, dass seine Gegner ihm nach dem Leben trachten (V.3b) und sich an seinem Unglück, das nicht näher beschrieben wird, erfreuen (V.3d.4b). Insbesondere letzteres Motiv, das durch das Zitat des Hohngelächters (V.4b) anschaulich gemacht wird, verbindet Ps 70 mit seinem unmittelbaren Vorgänger Ps 69, dessen Beter sich ebenfalls dem Spott seiner Feinde ausgeliefert sieht (Ps 69,12f). Eine besonders enge Anbindung an Ps 69 ergibt sich darüber hinaus durch die Verwendung der Wurzeln tPln und übn, die den Zustand von Scham und Schande zum Ausdruck bringen. Während diese Begriffe in Ps 69 573 Der rahmende Charakter von V.2 und 6 wird durch die Stichwortaufnahmen „eile doch" und „meine Hilfe", sowie durch die zweifache Gottesanrede in beiden Versen deutlich. Dabei macht die Parallelisierung von „Elohim" und „JHWH" zum einen die Identität beider Größen deutlich, zum anderen stellt die Setzung der allgemeineren Bezeichnung „Elohim" an erster Stelle und des eher auf das persönliche Gottesverhältnis abzielenden Gottesnamens JHWH an zweiter Stelle eine Intensivierung des Hilferufes dar, vgl. F.-L. HOSSFELD /

E. ZENGER, Psalmen 5 1 - 1 0 0 , 287.

258

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

vor allem das Erleben und Empfinden des Psalmisten beschreibt (Ps 69,8.20f), begegnet es in Ps 70 mit umgekehrtem Vorzeichen. Nun sind es die Gegner, die angesichts ihres schmählichen Verhaltens gegenüber dem Beter selbst beschämt und zuschanden werden sollen (V.3f). Dem Verhalten und Ergehen der feindlichen Spötter wird in V.5 das der Frommen antithetisch gegenübergestellt. Anders als diese, die dem Psalmisten nach dem Leben trachten ( ^ B l ^ p n o - V.3b), trachten sie allein nach Gott (-ptfpao - V.5b). Auch ihre Rede wird wörtlich zitiert (V.5c). Statt aus höhnischem Gelächter besteht diese jedoch aus dem Lobpreis der Größe Gottes. Sie haben ihren Gefallen nicht am Unglück ihrer Mitmenschen, sondern lieben vielmehr die rettende Hilfe Gottes ("|ni?iE" - V.5d). Entsprechend stehen der Scham und Schande der Gegner ihre Freude und Frohlocken (V.5a) gegenüber. Im Kontext von Ps 69 lassen sich die derart glücklich Gepriesenen mit der Gruppe der Elenden und Armen identifizieren, wie sie in Ps 69,33f dargestellt werden. Diese Annahme legt sich zum einen dadurch nahe, dass der Psalmist, der sich selbst offensichtlich zu den in V.5 beschriebenen Frommen zählt, sich in V.6 als elend und arm bezeichnet. Zum anderen werden auch in Ps 69 die Elenden und Armen gleichzeitig als Gottessucher qualifiziert (Ps 69,7.33), denen zugesagt wird, dass sie sich freuen dürfen (Ps 69,33). Was die zeitliche Einordnung angeht, bietet der Text selbst kaum Anhaltspunkte. Es ist durchaus denkbar, dass es sich um ein Gebetsformular aus vorexilischer Zeit handelt. Allerdings legen die Kürze des Textes und die zahlreichen Berührungspunkte mit Ps 69 und 71 sowie der Psalmengruppe 35-41 die Vermutung nahe, dass der Ps 70 als eine Art Kompendium speziell für seinen jetzigen Kontext geschaffen wurde (vgl. Kap. III.7.4). 7.3 Psalm 71

1 Bei dir, JHWH, suche ich Zuflucht, ich will nicht beschämt werden auf ewig. 2 In deiner Gerechtigkeit mögest du mich befreien und mich erretten. Neige zu mir dein Ohr und hilf mir! 3 Sei mir eine Felsenwohnung574, (dahin) zu kommen immerfort hast du geboten575, um mir zu helfen, denn mein Fels und meine Burg bist du. 574

Die Versionen von Septuaginta und Targum sowie einige hebräische Handschriften lesen hier wie in Ps 31,3 tll/D - „Zuflucht" statt pi/O. Da die masoretische Lesart aber gerade im Kontext der V.3 beherrschenden Zufluchts-Metaphorik die schwierigere darstellt, sollte daran festgehalten werden. 575 Die Septuaginta liest hier wie Ps 31,3 nniSO rrnb - „ein befestigtes Haus" statt , n in -pon N131?. Hinter der schwierigen Lesart des masoretischen Textes dürfte die Absicht stehen, den Vers durch das zentrale Stichwort T o n - immerfort (Ps 69,24; 70,5; 71,6.14))

7. Der leidende Gerechte: Ps 69-71

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4 Mein Gott, rette mich aus der Hand des Frevlers, aus der Faust des Schurken und Gewalttäters. 5 Denn du bist meine Hoffnung, Herr, JHWH, meine Zuversicht von Jugend an. 6 Auf dich habe ich mich gestützt von Mutterleib an, vom Schoß meiner Mutter hast du mich getrennt576, dir gilt mein Lobpreis immerfort. 7 Wie ein Zeichen bin ich geworden für viele, aber du bist meine mächtige Zuflucht. 8 Voll sei mein Mund deines Lobes, den ganzen Tag deines Ruhmes. 9 Verwirf mich nicht in der Zeit des Alters, wenn meine Kraft schwindet, verlass mich nicht. 10 Denn es redeten meine Feinde über mich, und die meiner Seele nachstellen, ratschlagten miteinander: 11 „Gott hat ihn verlassen, verfolgt und ergreift ihn, denn da ist keiner, der rettet." 12 Gott, sei nicht fern von mir, mein Gott, eile mir zur Hilfe. 13 Es sollen beschämt werden, dahinschwinden, die meine Seele anfeinden, es sollen sich hüllen in Schmach und Schande, die mein Unglück suchen. 14 Ich aber werde immerfort harren und vermehren all dein Lob. 15 Mein Mund wird erzählen von deiner Gerechtigkeit, den ganzen Tag von deiner Hilfe, denn ich verstehe nicht die Schreibkunst577. 16 Ich komme [mit] den Großtaten des Herrn JHWH, ich erinnere an deine Gerechtigkeit allein. 17 Gott, du hast mich gelehrt von meiner Jugend an, bis jetzt verkünde ich deine Wunder. 18 Und auch bis zum Alter und Greisentum, Gott, verlass mich nicht, mit dem Kontext zu verbinden, vgl. M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 209 (3.b.); C. RÖSEL, Die messianische Redaktion des Psalters, 62. 576 Die Septuaginta liest hier statt des unsicheren hapax legomenon ,Tn von nn (MT) „abschneiden, abtrennen" 'TW - „mein Schutz". 577 Die Bedeutung von nnBD ist unsicher, die Form begegnet so nur an dieser Stelle im masoretischen Text. Einige Septuaginta-Handschriften lesen yQatmwrtii;, andere TTQayßaTsit;. Zu dem hier vorgeschlagenen Versuch einer Wiedergabe vgl. M.E. TÄTE, Psalms 51-100,210 (note 15.a.); K. SEYBOLD, Psalmen, 273.

260

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

damit ich verkünde deine Macht dem Geschlecht, jedem, das kommen wird, deine Großtat. 19 Und deine Gerechtigkeit, Gott, [reicht] bis zur Höhe, der du Großes getan hast. Gott, wer ist dir gleich? 20 Der du uns578 hast sehen lassen viel Not und Unglück, du wirst uns579 wieder beleben, und aus den Tiefen der Erde wirst du mich wieder herauffuhren. 21 Du wirst mehren meine Ehre, und du wirst um mich sein, mich zu trösten. 22 Auch ich will dich preisen mit Harfenspiel, deine Treue, mein Gott, ich will dir singen mit der Leier, Heiliger Israels. 23 Jubeln werden meine Lippen, denn ich will dir singen, und meine Seele, die du losgekauft hast. 24 Auch meine Zunge, den ganzen Tag soll sie murmeln über deine Gerechtigkeit: Fürwahr, es sind beschämt worden, fürwahr, es sind enttäuscht worden, die mein Unglück suchen! Es dürfte nur schwer möglich sein, ftir Ps 71 eine eindeutige und klar erkennbare Struktur herauszuarbeiten. Eine Bewegimg von der Klage hin zum Lobversprechen, wie sie in vielen Individualklagen zu finden ist, lässt sich im vorliegenden Psalm zumindest nicht in dieser zielgerichteten Form erkennen. Vielmehr sind Klage und Lob eng ineinander verwoben.580 Diese enge Verklammerung mag ihren Grund in der besonderen Perspektive des Psalmisten haben, der mit dem Blick des Alters auf einen langen Glaubensweg zurückschaut, auf dem er immer wieder Gottes Hilfe und Gerechtigkeit erfahren hat. Diese Erfahrung gibt ihm die Möglichkeit, Klage und Lob, Bitte und Vertrauensbekenntnis nebeneinander zu stellen.581 Dennoch lässt sich innerhalb des Psalms eine gewisse Verteilung von thematischen Schwerpunkten feststellen. So ist für den ersten Teil (V.l-12) die Bitte um Hilfe und Errettung prägend. 578

Einige der Versionen lesen hier mit Qere Suffix 1. Pers. Sg. Die weitere Auslegung wird jedoch zeigen, dass die kollektive Perspektive des Ketib im vorliegenden Kontext durchaus sinnvoll ist, vgl. auch F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 291f. 579 Vgl. Anm. 578. 580 F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER sprechen in diesem Zusammenhang zu Recht vom collagenartigen Charakter des Textes, vgl. Psalmen 51-100,292f. 581

V g l . M . E . TÄTE, P s a l m s 5 1 - 1 0 0 , 2 1 1 .

7. Der leidende Gerechte: Ps 69—71

261

Wichtige Schlüsselbegriffe sind hier die Wurzeln bu: - „befreien", „retten" (V.2.11); Dbs - „erretten" (V.2.4); vw - „helfen" (V.2.3.12). Im zweiten Teil (V.l 4—24) dominiert dagegen der verkündigende Lobpreis der Gerechtigkeit Gottes. Zentrale Begriffe neben npns - „Gerechtigkeit" (V. 15.16.19.24) sind hier die Wurzeln IDD - „erzählen" (V.15); not - „erinnern" (V.16); "HJ „verkünden" (V.17.18). Diese beiden Hauptteile des Textes werden durch die Thematik von Jugend und Alter miteinander verbunden. Entsprechend der jeweiligen inhaltlichen Schwerpunkte wird Gott im ersten Teil als Hoffnung und Zuversicht von Jugend an (V.5f) und im zweiten Teil als Lehrer von Jugend an (V.17) angesprochen. Beide Male ist damit die Bitte des Beters verbunden, dass Gott ihn auch im Alter nicht verlassen möge (V.9.18). Zusätzlich wird der Psalm durch das auch für die beiden vorangehenden Psalmen 69 und 70 wichtige Motiv von Scham und Schande strukturiert. Er beginnt mit der Bitte, dass der Beter nicht auf ewig beschämt werde (V.l), und endet mit der Feststellung, dass die Gegner des Beters beschämt worden sind (V.24). Zwischen diesen beiden inhaltlichen Polen und gleichzeitig zwischen den beiden Hauptteilen des Textes steht in V.l3 die Hoffnung und Bitte des Psalmisten, dass statt seiner selbst eben diese seine Gegner beschämt werden mögen. Aus diesen Beobachtungen ergibt sich folgender Versuch einer schematischen Darstellung: V. 1-12: Bitte um Hilfe und Rettung V. 1: Der Beter ist beschämt worden (tSM3) V.5f: Gott ist Hoffnung und Zuversicht des Beters von Jugend an V.9: Bitte, Gott möge den Beter auch im Alter nicht verlassen V.13: Die Feinde mögen beschämt werden V.14-24: verkündigender Lobpreis der Gerechtigkeit Gottes V.17: Gott hat den Beter gelehrt von Jugend an V. 18: Bitte, Gott möge den Beter auch im Alter nicht verlassen V.24: Die Feinde sind beschämt worden (ttfin) Nach der masoretischen Überlieferung verfügt Ps 71 über keine eigene Überschrift, die Septuaginta allerdings ordnet den Text den David-Psalmen zu und bringt ihn mit den „Söhnen Jonadabs" und den „ersten Gefangenen" in Verbindung. Auch wenn es sich bei dieser Überschrift um einen sekundären Zusatz handeln dürfte, ist es durchaus denkbar, dass diese ungewöhnliche Zuweisung eine zutreffende Erinnerung an den Entstehungshintergrund des

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Psalms bewahrt. So verweist die Zuschreibung an die „ersten Gefangenen" auf die Zeit der ersten Deportation der judäischen Oberschicht nach Babylonien nach der Belagerung Jerusalems 598 v. Chr. Die Erwähnung der „Söhne Jonadabs" lässt an die Prophetie Jeremias denken, der die Treue der Söhne Jonadabs bzw. der Rechabiter gegenüber den Geboten ihres Vaters Jonadab positiv würdigt und der Untreue Judas gegen das Gesetz JHWHs gegenüberstellt (vgl. Jer 35). Neben dieser Verbindung zur Verkündigung Jeremias in der Überschrift der Septuaginta finden sich auch im eigentlichen Text von Ps 71 - ähnlich wie in Ps 69 - Aussagen, die sich mit der Person und dem Geschick dieses Propheten in Beziehung bringen lassen. Der erste Teil von Ps 71 (V.l-12) beginnt mit einer breit angelegten Bitte um Hilfe und Errettung (V.l-4).582 Dabei spricht der Beter Gott mit den bekannten, in der Jerusalemer Tempeltheologie beheimateten Bildern (HU, vbü - „Fels"; m i s o - „Burg") als seine Zuflucht (nDn - V.l, vgl. Ps 61-64) an und behaftet ihn bei seiner Gerechtigkeit (npis -V.2). Worin genau die Notlage des Psalmisten besteht, bleibt wie so häufig in der Klage des Einzelnen offen, wie in Ps 69 und 70 scheint seine Situation jedoch mit der Erfahrung von Scham und Schande (oblS/1? ntfnx bs - V.l) verbunden zu sein. Seine Gegner bezeichnet er mit dem typisch weisheitlichen Terminus S/Eh als Frevler. Über diese eher allgemeine Beschreibung hinaus qualifiziert er sie als Schurken (bwd) und Gewalttäter (poin) und rückt damit ihre kriminelle Energie verstärkt in den Mittelpunkt. Die Bitte des Psalmisten an Gott, ihn aus der Hand dieser Menschen zu retten (V.4), hat eine gewisse Parallele in der vergleichbaren Zusage JHWHs an den klagenden Propheten Jeremia (vgl. Jer 15,21: „Und ich werde dich aus der Hand der Bösen befreien und dich aus der Faust der Gewalttätigen erlösen."). Seine Bitte um Hilfe begründet (,D) der Beter in V.5f mit dem Bekenntnis, dass JHWH seine Hoffnung (nipn) und Zuversicht (nano) von Jugend an ist. 582

Dabei entspricht Ps 71,1-3 nahezu wortwörtlich Ps 31,2-4 (zu den Abweichungen vgl. C. RÖSEL, Redaktion, 61f; F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 294). Es dürfte schwierig sein zu entscheiden, zu welchem Psalm die betreffenden Verse ursprünglich gehören. Der Gebrauch des Gottesnamen JHWH in Ps 71,1 kann nicht zwangsläufig dahingehend gedeutet werden, dass diese Verse hier sekundär eingetragen wurden (so C. RÖSEL, Redaktion, 62). F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER weisen darauf hin, dass die Bitte um Rettung durch JHWHs Gerechtigkeit in Ps 71,2 dahingehend variiert worden ist, dass die Imperative aus Ps 31,2f durch Präformativkonjugationen ersetzt worden sind. Diese Ersetzung durch Präformativkonjugationen ist jedoch eine relativ späte Erscheinung, die der Abschwächung des direkten Imperativs dient (vgl. Psalmen 51-100,294, im Anschluss an A. AEJMELAEUS, Traditional Prayer, 49). Es ist also anzunehmen, dass der Verfasser von Ps 71 die entsprechenden Verse aus Ps 31 übernommen und variiert hat. Anders als im Fall der Doppelüberlieferung Ps 70 = Ps 40,14-18 lässt sich hinsichtlich der Entsprechungen zwischen Ps 71 und 31 jedoch keine übergreifende redaktionelle bzw. kompositorische Bedeutung erkennen.

7. Der leidende Gerechte: Ps 69-71

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Diese Erfahrung hat Gültigkeit vom frühesten Zeitpunkt seines Lebens an; folgt man der etwas unsicheren Lesart des masoretischen Textes, dann bezeichnet der Psalmist Gott in V.6b sogar als seinen Geburtshelfer (vgl. Ps22,10f). Den Gedanken einer intensiven Gottesbeziehung von Mutterleib an findet man - allerdings z.T. unter negativen Vorzeichen - auch in den Konfessionen Jeremias (Jer 15,10; 20,14.17f, vgl. auch 1,5). In Erinnerung an die Zuverlässigkeit und Beständigkeit der Hilfe Gottes kann der Beter dementsprechend auch die Dauerhaftigkeit seines Lobpreises, der Gott immerfort (Ton) gilt, bekennen. Gewisse Verständnisschwierigkeiten bereitet die Aussage in V.7a, in der sich der Beter selbst als „ein Zeichen für viele" beschreibt. Der Begriff nsio bezeichnet ein Wunder oder außergewöhnliches Ereignis, das aus dem Rahmen des Alltäglichen fallt. A. Weiser versteht V.7a dahingehend, dass der Psalmist ein Wahrzeichen geworden ist, „an dem Gottes Walten, seine Macht und Hilfe ,fiir viele' sichtbar in Erscheinung tritt"583. Diese positive Deutung scheint im vorliegenden Kontext des Vertrauensbekenntnisses durchaus angemessen. In der Regel bezieht sich der Terminus jedoch eher auf Warnzeichen, die die Aufgabe haben, die Feinde Gottes zu erschrecken (Ex 7,3; Dtn 6,22; 1. Kön 13,3) oder die eine besondere Strafe bzw. einen Fluch Gottes signalisieren (Dtn 28,46). Auf diesem Hintergrund ließe sich V.7 dahingehend deuten, dass die Umgebung des Beters dessen Notsituation als ein Zeichen für die Strafe Gottes versteht, während dieser selbst - sich gegen diese Interpretation abgrenzend - auf seinem Vertrauen auf Gott beharrt, indem er ihn erneut (vgl. V.l) seine „mächtige Zuflucht" (tu , Dno) nennt.584 V.8 knüpft dementsprechend an V.6b an, der Psalmist findet seine Aufgabe und seinen Lebensinhalt (vgl. V.14—24) im fortgesetzten (Drn bn) Lobpreis Gottes. Im folgenden Vers erfahrt der Leser bzw. Hörer ein im Kontext der um Zeit und Situation übergreifende Allgemeingültigkeit bemühten Psalmen ungewöhnliches Detail aus der Lebenssituation des Psalmisten. Offensichtlich schwinden seine Kräfte, er ist nicht mehr jung, sondern sieht sich zunehmend mit der Schwäche des Alters konfrontiert. Er, der seit frühester Jugend sein Vertrauen allein auf Gott gesetzt hat (V.5f), fürchtet nun, dass diese lebenslange Gottesbeziehung im Alter keinen Bestand mehr haben könnte, und bittet

583

584

A. WEISER, Psalmen II, 339.

Zur Diskussion vgl. auch M.E. TÄTE, der zu Recht für eine gewisse Offenheit der Interpretation plädiert: „Perhaps, however, we should not draw the lines of meaning too sharply. The verse may mean that the suppliant continues with unshaken trust in God regardless of how the ,many' (v 7a; the people of the community) choose to interpret the situation. Some members of the community would have seen the suppliant as a ,sign' of God's providential care; others would have understood his or her condition as a divine judgement. A ,sign' is subject to the interpretation of the viewer" (Psalms 51-100,214).

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Gott, ihn nicht zu verlassen. Gerade das Alter ist für den Menschen des Alten Testaments die Zeit, in der sich erweist, ob er ein Gott wohlgefälliges Leben gefuhrt hat oder nicht. Ein glückliches Alter im Vollbesitz der Kräfte gilt als Ausweis eines gesegneten Lebens in der Gegenwart und unter dem Schutz Gottes (vgl. Ps 103,5; Gen 15,15; Hi 5,26). Ein Alter in Schwachheit und Leiden dagegen ist ähnlich wie Krankheit Ausdruck des Fluches und der Strafe Gottes. Anlass und Auslöser für diese Sorge des Beters, dessen Lebensbilanz auf dem Spiel steht, sind das Treiben und Reden seiner Feinde. Diese behaupten, dass Gott ihn verlassen habe (V.l 1), und wollen diesen angeblichen Entzug der Gottesgegenwart und das dadurch entstehende Machtvakuum nutzen, um ihre gegen den Psalmisten gerichteten Pläne zu verwirklichen. Auf dieses Urteil, dass Gott ihr Opfer verlassen habe und dass da keiner sei, der rettet (b^D ps), antwortet der derart Bedrängte mit der entsprechenden Bitte, dass Gott eben nicht fern sein ("'JOD p m n sondern ihm zur Hilfe eilen möge (V.12). Mit dieser Bitte, die dem einleitenden Abschnitt V.l-4 entspricht, kommt der erste, um die Motive der göttlichen Hilfe und Rettung kreisende Teil des Textes zum Abschluss. Im folgenden Vers sieht der klagende Beter ab von seiner eigenen Notlage und wendet sich dem Schicksal der Gegner zu, das seinem Wunsch nach seinem eigenen (vgl. V.l) entsprechen soll. Es fallt auf, dass der gesamte Abschnitt über die Feinde (V.l0-13) enge Berührungspunkte mit dem vorausgehenden Ps 70 aufweist. Deren Unternehmungen werden in beiden Texten als ein Trachten nach der Seele des Beters beschrieben OtfSJ ^ p n o - Ps 70,3; •'tfBJnoitf - Ps 71,10), das jeweils mit der wörtlichen Wiedergabe ihres Redens konkretisiert wird (Ps 70,4b; 71,11). Der bedrängte Beter reagiert auf dieses Treiben in beiden Psalmen mit der Bitte an Gott, ihm zur Hilfe zu eilen (Ps 70,2; 71,12), sowie mit dem Wunsch nach Beschämung der Feinde, wobei jeweils die beiden zentralen Wurzeln und übs (Ps 70,3; 71,13) begegnen. Im Zusammenhang dieser Beschämungsbitte werden die Gegner an beiden Stellen als solche beschrieben, die das Unglück ( w i ) des Beters suchen (Ps 71,13) bzw. daran Gefallen haben (Ps 70,3). Der Wunsch des Psalmisten, dass nicht er (V.l), sondern seine Feinde beschämt werden mögen, findet sich in vergleichbarer Weise auch in der Klage Jeremias (Jer 17,18). Mit V.l4 beginnt der zweite Hauptteil des Psalms, in dessen Mittelpunkt primär der verkündigende Lobpreis der Gerechtigkeit Gottes steht, während die Notsituation des Psalmisten zunehmend in den Hintergrund tritt. In der Spannung zwischen dem durch das Reden und Treiben der Feinde ausgelösten Zweifel an der Gegenwart Gottes und dem von Jugend an eingeübten und bewährten Vertrauen auf seine Hilfe will der Beter ausharren (brr - V.l4a). Dabei hilft ihm das beständige Loben Gottes, in dem er sich dessen Gerechtigkeit (npnu - V.l5.16.19.24), Hilfe (rwitfn - V.15), Großtaten ( n n i a i - V.16.18), Wunder (niN^S] - V.17) und Macht (mir - V.18) vergegenwärtigt. Die in

7. Der leidende Gerechte: Ps 69-71

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V.14—19 dominierenden Verben (¡p 1 - „vermehren"; ~iQO - „erzählen"; TD? „erinnern", - „verkünden") umschreiben Vorgänge, durch die der Psalmist das Wirken und Wesen Gottes in seine gegenwärtige, von Not und Verzweiflung geprägte Situation hineinholt und für sich und für die Öffentlichkeit bestätigt. Er, den Gott von Jugend an gelehrt hat (V.17), ist aufgrund seiner lebenslangen Gottesbeziehung wie kaum ein anderer geeignet, die in Dtn 6,2025 beschriebene katechetischen Aufgabe zu erfüllen und kommende Geschlechter, aber vielleicht auch Gott selbst, an die wunderbaren Gottestaten zu erinnern. Zentrales Stichwort in diesem Zusammenhang ist die Gerechtigkeit (npui) Gottes. Die parallele Stellung von npTS und nyitfn - „Hilfe" in V.15 macht deutlich, dass der Beter unter Gerechtigkeit das rettende und befreiende Handeln Gottes versteht.585 Darauf, dass der Beter dabei nicht nur das Heilshandeln Gottes in seinem eigenen, persönlichen Leben im Blick hat, verweisen die Begriffe n n m („Großtaten") und niN^BJ („Wunder"), die in den Psalmen vor allem im Kontext der Rede vom Königtum Gottes, das sich in seinem machtvollen Handeln in der Geschichte Israels konkretisiert, begegnen (vgl. Ps 75,1; 96,3; 106,2.7.22; 107,8.15.21.31; 145,4.5.12; 150,2). Auch wenn das geschichtliche Handeln Gottes nicht explizit benannt wird, scheint es an dieser Stelle doch mitzuklingen.586 Ähnlich wie der Exkurs zur Heilsgeschichte in Ps 22,4-6 dürften diese Anspielungen auch hier die Funktion haben, das Vertrauen und die Hoffnung des Beters zu bestärken. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die kollektive Perspektive von V.20ab als durchaus sinnvoll.587 Die Erfahrungen des Beters, der sich die Heilstaten seines Gottes vergegenwärtigt hat, und die der Gemeinschaft verschmelzen hier endgültig miteinander. An den hymnischen Lobpreis in V.19 schließt sich entsprechend das Vertrauensbekenntnis an, dass Gott das (exilierte) Volk ebenso wieder beleben wird (lrTin 3lt?n), wie er den Beter wieder aus den Tiefen der Erde herauffuhren wird (,3l?i7n nitpn). Der Gott, dessen Gerechtigkeit bis zur Höhe (DHC - V.19) reicht, wird den auf ihn Hoffenden aus den Tiefen der Unterwelt, d.h. aus der Sphäre des Todes erretten; er, der Großes ( m b u - V.19) getan hat, wird die Größe bzw. Ehre (Tib-n - V.20) 585 Zum Begriff der Gerechtigkeit Gottes vgl. G. VON RAD: „Schon das Deboralied spricht von den .Gerechtigkeitserweisen Jahwes' ( m i r DlpTH) und meint damit seine Heilstaten in der Geschichte. [...] Damit ist aber, ungeachtet aller Variabilität der Aussagen von Jahwes Gerechtigkeit, eine Vorstellung ausgesprochen, die für Israel konstitutiv war: Jahwes Gerechtigkeit war keine Norm, sondern Taten, und zwar Heilserweisungen." (Theologie des Alten Testaments I, 384). 586 Vgl. G. RAVASI, Salmi II, 456f. 587 Vg. H.-J. KRAUS: „20a könnte aus dem Mund des geübten Sängers (vgl. 17) durchaus als Hinweis auf Jahwes Heilshandeln an Israel verstanden werden" (Psalmen II, 653). Ein vergleichbarer, allerdings ausführlicherer Rückblick auf die Unheilsgeschichte Israels („Not und Unglück" - V.20a) findet sich auch in Ps 66,10-12.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

des Psalmisten mehren. Die in der Übersetzung von V.20 mit „wieder" wiedergegebene Verbform 3lt?n (von 312? - „sich wenden", „zurückkehren") macht deutlich, dass der Beter eine Art Umkehr Gottes erwartet und erhofft. Selbst wenn Gott tatsächlich, wie es die Reden seiner Feinde (V.l 1) und seine eigenen Ängste (9.12.18) nahe legen, seine Gegenwart entzogen haben sollte, so wird Gott sich ihm aufs Neue zuwenden und ihm nahe sein, um ihn zu trösten (Dm - V.21).588 Anders als der Beter in Ps 69, der vergeblich auf Tröster (D'omo - Ps 69,21) hofft, vertraut der Psalmist auf die Tröstung durch seinen Gott. Die letzten Verse (V.22-24) des Psalms formulieren erneut das Versprechen, Gott zu loben und zu preisen. Der mit der Verkündigung der Wunder Gottes von Jugend an vertraute Beter beherrscht auch den gesungenen Lobpreis zum Harfen- und Leierspiel (V.22f). Dieser Lobpreis gilt zum einen seinem persönlichen Gott (T6N - V.22), dessen Treue (nos) der Psalmist von Jugend an erfahren hat, zum anderen aber auch dem Heiligen Israels (E?Hp bs-iisr). Dieser Titel, der vor allem bei Deuterojesaja begegnet, zeigt den Eigentumsanspruch Gottes über Israel an (Jes 45,11; 54,5). Seine Heiligkeit demonstriert Gott sowohl in seinem Straf- als auch in seinem Erlösungshandeln an Israel (Jes 5,16; 41,14; 47,4).589 Auf das Befreiungshandeln Gottes bezieht sich auch der in der theologischen Deutung des Exodus beheimatete Begriff m a - „loskaufen" (V.23), der auch in Ps 69,19 begegnet. Während der Beter in Ps 69 Gott angstvoll um die Auslösung und den Loskauf seiner Seele bittet, kann die Seele des Psalmisten in Ps 71,23 bereits im Vertrauen auf ihre Errettungjubeln und Gott preisen. Der abschließende V.24 nimmt erneut das zentrale Stichwort der Gerechtigkeit Gottes auf und schlägt damit einen Bogen zurück zum Anfang des Psalms (V.2). Noch einmal begegnet auch das Motiv von Scham und Schande. Der Beter, der zu Beginn seiner Klage an die Gerechtigkeit Gottes appelliert, weil er furchtet, auf ewig beschämt zu werden, ist nun zu der Einsicht und dem Vertrauen gelangt, dass eben aufgrund dieser Gerechtigkeit nicht er, sondern allein seine Feinde, die sein Unglück suchen, beschämt und enttäuscht werden (vgl. Ps 70,3). Insgesamt lässt sich sagen, dass Ps 71 vor allem durch die Vorstellungen der vorexilischen Tempeltheologie geprägt ist. Hierauf verweisen insbesondere die im ersten Teil des Psalms begegnende Zufluchts-Metaphorik (V.l-3) sowie das Denken in Machtbereichen, das klar zwischen dem Machtbereich Gottes und dem der Feinde unterscheidet (V.4.10-12.20). Dennoch lassen es der in der Exegese immer wieder beobachtete formelhafte Charakter des Tex588

Zum Motiv der Tröstung und zu seiner Verortung in der Theologie Deuterojesajas vgl. die Ausführungen zu Ps 69,21 (Anm. 562). 589 Vgl M.E. TÄTE, Psalms 51-100,217.

7. Der leidende Gerechte: Ps 69-71

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tes,590 Anklänge an die Sprache Deuterojesajas (V.21.22) sowie Bezüge zur Person Jeremias und schließlich die kollektive Perspektive von V.20ab wahrscheinlich erscheinen, dass zumindest die vorliegende Endfassung von Ps 71 erst in exilischer bzw. frühnachexilischer Zeit entstanden ist.591 Auf diesen Zeitraum verweist auch die Überschrift, die Ps 71 in der Fassung der Septuaginta trägt. 7.4 Zusammenfassung: Entstehung und theologisches Profil der Psalmengruppe Ps 69-71 7.4.1 Die Verbindungslinien zwischen Ps 69; 70 und 71 Die Untersuchung von Ps 69; 70 und 71 hat gezeigt, dass es zwischen diesen drei benachbarten Psalmen zahlreiche sprachliche, motivliche und thematische Berührungspunkte gibt, obwohl die Texte nicht - wie bei den übrigen Psalmengruppen des zweiten Davidpsalters - durch eine gemeinsame Gattungsangabe in den Überschriften zusammengebunden werden. Warum trotz der offensichtlichen Gemeinsamkeiten diese Zusammenbindung durch die Gattungsangabe fehlt, wird noch genauer zu klären sein. Zunächst ist in diesem Zusammenhang auf das Fehlen einer eigenständigen Überschrift zu Ps 71 einzugehen. Der textkritische Apparat der BHS macht darauf aufmerksam, dass einige Handschriften Ps 71 mit Ps 70 verbinden und als eine Einheit lesen. In der Tat legen es die zahlreichen sprachlichen und inhaltlichen Verbindungslinien gerade zwischen diesen beiden Texten nahe, Ps 71 ähnlich wie andere überschriftslose Psalmen (vgl. Ps 10; 33; 43) als Fortsetzung des vorausgehenden Textes oder zumindest im engen Zusammenhang mit diesem zu verstehen.592 Die Gemeinsamkeiten zwischen Ps 70 590 Vgl. u.a. das Urteil von K. SEYBOLD: „Auffallend konventionell und typisiert sind Stil und Sprache: Formelhafte Sätze fügen sich zu Gebetsbitten eines ,Vertrauenspsalms'" (Psalmen, 273); G. RAVASI: „Infatti il carme sembra quasi uno scritto antologico tutto intessuto com'è di reminiscenze e forse anche di citazioni" (Salmi II, 440). 591 Vgl. hierzu die Bewertung von M.E. TATE: „The conditions of the post-exilic communities generally justified the use of the language of crisis, especially for individuals who felt themselves trapped in unconstructive and oppressive life-situations. We must also allow for the conventionalization of metaphors, in which the language comes to be 'stock metaphors', words and expressions which form a code lacking the direct references of earlier usages. The speakers in this group of psalms link their own salvation with that of the nation (see Pss 69:36-37; 102:13-23) and to the creative-saving works of Yahweh (see Pss 22:28-32; 35:2328; 102:24-29). [...] The terrible disturbance of the exile and the continuing domination of the people of Yahweh by foreign powers was viewed as having cosmic dimensions, upsetting the underlying world order and requiring an intervention and 'putting right' by Yahweh, the creator, sustainer, and world judge" (Psalms 51-100,212f). 592

V g l . G. H. WILSON, Editing,

173FF; C. RÖSEL, D i e m e s s i a n i s c h e Redaktion,

F.-L. HOSSFELD/E. ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 3 0 0 .

61;

268

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

und 71 und darüber hinaus mit Ps 69 sollen nun noch einmal zusammenfassend dargestellt und ausgewertet werden. Die Übereinstimmungen zwischen Ps 70 und 71 betreffen insbesondere das Gottes- und Feindesbild, das der Beter jeweils entwirft. So spricht der Psalmist in beiden Texten unter Verwendung der Wurzeln ~i\v (Ps 70,2.6; 71,12); bsi (Ps 70,2; 71,2.11); toba (Ps 70,6; 71,2.4) Gott als seine Hilfe und Rettung an. Das Treiben der Feinde wird in beiden Psalmen dahingehend beschrieben, dass sie nach der Seele des Beters trachten ("•E7E33 ^ p n o - Ps 70,3; ^ a : nDltf - Ps 71,10) und dessen Unglück (Tim) suchen (Ps 71,13) bzw. daran Gefallen haben (Ps 70,3). Konkretisiert wird dieses Ansinnen jeweils durch die wörtliche Wiedergabe ihres Redens (Ps 70,4b; 71,11). Die daraus resultierende Notlage wird in beiden Gebeten als derart bedrängend erlebt, dass der Beter seinen Gott bittet, ihm zur Hilfe zu eilen (ntfin Tnryb - Ps 70,2; 71,12). Die Hoffnung des Psalmisten, dass seine Gegner beschämt und enttäuscht werden mögen, bildet eine Art Rahmung der Einheit Ps 70/71, wobei der in Ps 70,3 formulierte Wunsch (Jussiv) in Ps 71,24 als bereits erfüllt vorgestellt wird (Perfekt) und Anlass für den Lobpreis des Beters ist. Hier findet sich schließlich eine letzte Gemeinsamkeit zwischen Ps 70 und 71: Anlass und Gegenstand des Lobpreises ist in beiden Psalmen die Größe bzw. die großen Taten Gottes 0>-n - Ps 70,5; 71,19). Mit Ps 69 verbindet Ps 70/71 vor allem das Motiv von Schmach, Scham und Schande, das durch die Wurzeln tfn (Ps 69,7.20; 70,3.4; 71,1.13.24), übn (Ps 69,7.8.20; 70,3; 71,13), nen (Ps 70,3; 71,24) und «pn (Ps 69,8.10.11.20. 21; 71,13) repräsentiert wird. Während der Beter in Ps 69 vor allem selbst Beschämung und Schande erleidet, erhofft Ps 70/71 eben diese Erfahrung auch für die Feinde. Eine weitere Gemeinsamkeit aller drei Psalmen 69-71 ist der intensive Gebrauch der Beständigkeit und zeitliche Ausdehnung beschreibenden Partikel T o n (immerfort - Ps 69,24; 70,5; 71,3.6.14). Daneben fallen noch einige Berührungspunkte zum einen zwischen Ps 69 und 70 und zum anderen zwischen Ps 69 und 71 ins Auge. So beschreiben Ps 69 und 70 die Frommen in vergleichbarer Weise als Gottessucher (Ps 69,7. 33; 70,5) und als elend und arm (jrnxi w - Ps 69,30.33f; 70,6). Ps 69 und 71 werden durch das Motiv der Gerechtigkeit Gottes ( n p t s - Ps 69,28; 71,15. 16.19.24), die in den Psalmen eher ungewöhnliche Wurzel Dm („trösten" - Ps 69,21; 71,21) und die Vorstellung vom Loskaufen ( m s - Ps 69,19; 71,23) der bedrängten Seele durch Gott miteinander verbunden. 7.4.2 Die Verbindungslinien zwischen Ps 69-71 und Ps 35-41 Es fallt auf, dass es nicht nur unter den einzelnen Psalmen der Schlussgruppe des zweiten Davidpsalters zahlreiche sprachliche und motivliche Berührungspunkte gibt, sondern auch mit der Schlussgruppe des ersten Davidpsalters Ps 35-41. Neben der Doppelüberlieferung Ps 40,14-18 = 70,2-6 lassen sich Ge-

7. Der leidende Gerechte: Ps 69-71

269

meinsaxnkeiten insbesondere mit Ps 35; 38 und 40A feststellen. Diese Verbindungslinien sind von besonderem Interesse in Hinblick auf die für die Entstehung der beiden Teilpsalter Ps 3-41 und 42-83 verantwortlichen Redaktionsprozesse. Es stellt sich die Frage, in welche Richtung die Abhängigkeit zwischen den beiden Schlussgruppen des ersten und zweiten Davidpsalters verläuft. Hat Ps 35—41 die Zusammenstellung von Ps 69-71 motiviert oder umgekehrt, oder hat gar eine Hand beide Psalmengruppen geschaffen, um eine Verklammerung der beiden Davidsammlungen zu erreichen?593 Zur Klärung dieser Frage bedarf es einer genaueren Darstellung und Auswertung der Gemeinsamkeiten zwischen Ps 35—41 und 69-71. a) Ps 70 und Ps 40,14-18 Eine erste, sofort ins Auge fallende Verbindungslinie besteht in der weitgehenden Identität von Ps 70 mit Ps 40,14—18. Angesichts dieser Doppelüberlieferung stellt sich die Frage, ob Ps 70 tatsächlich ursprünglich als eigenständiger Text existiert hat oder ob es sich um ein Bruchstück eines umfassenderen Psalms handelt. Hier geben einige signifikante Abweichungen von Ps 70 gegenüber Ps 40,14—18 Aufschluss.594 Die wesentlichen Unterschiede zwischen Ps 40,14-18 und 70 betreffen die Gestaltung und Funktion der Rahmenverse Ps 40,14.18 bzw. 70,2.6. Der gegenüber Ps 70,2 zusätzliche Imperativ n m in Ps 40,14 stellt ein Verbindung des zweiten Teils von Ps 40 (V.14—18) zum ersten Teil (V.l-13) her, indem er ]l2n („Wohlgefallen") aus V.9 aufnimmt. In Ps 70 bilden V.2 und 6 eine Rahmung um den Gesamtpsalm, die durch den hinsichtlich der Abfolge parallelen Gebrauch der Gottesnamen (Elohim JHWH) und die in beiden Versen begegnende Bitte um Eile (ntrhn) entsteht. Diese Rahmung entfallt in Ps 40,14—18, was durchaus sinnvoll und verständlich ist, da der entsprechende Abschnitt hier nicht eigenständig vorliegt, sondern in ein größeres Ganzes integriert wird. So wird der Gottesname JHWH durch die persönliche, Vertrauen bekundende Anrede T6N - „mein Gott" ersetzt und an die Stelle des Imperativs ^b nitfin • , n'?N tritt die Aussage ntfrp ' n s - „der Herr denkt an mich", durch die wiederum eine Anbindung an den ersten Teil des Psalms entsteht (vgl. V.6: - p m t f n o - „deine Gedan-

593 Dass die Berührungspunkte zwischen Ps 35-41 und 69-71 keine Zufallsprodukte sind, sondern dem Ziel dienen, den ersten und zweiten Davidpsalter, die durch die Korachpsalmen voneinander getrennt sind, enger zusammenzubinden, dürfte unstrittig sein, vgl. M. MILLARD,

Komposition, 123; F.-L. HOSSFELD, Davidsammlungen, 64ff; F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER,

Psalmen 51-100, 30f.284f; C. RÖSEL, Redaktion, 65f. 594 Eine umfassende Darstellung und Auswertung dieser Abweichungen findet sich bei G. BRAULIK, Psalm 40 und der Gottesknecht (fzb 18), Würzburg 1975, 197ff, vgl. auch C. RÖSEL, Redaktion, 61 ff, sowie den Forschungsüberblick bei F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER,

Psalmen 51-100, 282ff.

270

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

ken"). Der auffällige Gebrauch von ' n s in Ps 40,18 könnte möglicherweise durch das häufige Vorkommen dieses Titels in Ps 35, zu dem ebenfalls eine enge Verbindung besteht, inspiriert sein. Ps 40,15 zeigt gegenüber Ps 70,3 die Tendenz zu einer erläuternden Erweiterung des Textes, wobei ~trp aus der vergleichbaren Stelle in Ps 35,26 nachgetragen worden sein könnte.595 Durch die Verwendung der Wurzel DDE? („sich entsetzen") in Ps 40,16 anstelle von 312? in Ps 70,4 entsteht hinsichtlich der Wünsche des Beters gegen seine Feinde eine inhaltliche Differenzierung, während mit UD1 - „es sollen zurückweichen" und UlE?1 - „es sollen umkehren" in Ps 70,3.4 ein synonymer Parallelismus vorliegt. Die Variante von -|ril/ltfn in Ps 40,17 gegenüber -¡TOlt^ in Ps 70,5 bleibt ohne Auswirkung auf den Sinngehalt des Textes, möglicherweise stellt der Gebrauch von "]nuiE?n eine Angleichung an Ps 40,11 dar, wo dieselbe Form begegnet. Die Auswertung der Varianten von Ps 40,14—18 gegenüber Ps 70 hat gezeigt, dass sich diese Unterschiede am sinnvollsten durch einen Redaktionsprozess erklären lassen, durch den Ps 40,14-18 = 70 mit dem vermutlich ursprünglich eigenständigen Ps 40A (V.l-13) verbunden wurde. Ps 70 dürfte also als eigenständiger Text existiert haben, der als Vorlage für Ps 40,14-18 diente.596 b) Ps 69 und Ps 40A

Auf eine weitere Verbindungslinie zwischen den Psalmengruppen 35-41 und 69-71 wird der Betrachter aufmerksam, wenn er Ps 70 sowohl im Kontext der Doppelüberlieferung Ps 40,14—18 als auch seines Nachbarn Ps 69 liest. Unter diesem Blickwinkel zeigt sich, dass es enge Berührungspunkte auch zwischen Ps 69 und Ps 40A (V.l-13) gibt.597 So wird vor allem die Notlage des Beters mit ähnlichen Motiven und Begriffen beschrieben. Während der Psalmist in Ps 69 klagt, dass er im Schlamm (jr - V.3; CD - V.15) versunken ist und keinen Grund mehr unter den Füßen spürt, berichtet der Beter in Ps 40,3 davon, dass Gott ihn aus dem Schlamm (jrn trtao) herausgeführt und seine Schritte befestigt hat.598 In Ps 69,5 ist die Rede davon, dass die Feinde des Beters zahlreicher sind als die Haare seines Hauptes. Mit demselben Vergleich 595 596

So auch G. BRAULIK, Psalm 40, 198; C. RöSEL, Redaktion, 63. Zu diesem Ergebnis kommen auch die Analysen von G. BRAULK, Psalm 40, 196, und

C. RÖSEL, Redaktion, 65, vgl. auch M. MLLLARD, Komposition, 57f; F.-L. HOSSFELD /

E. ZENGER, Psalmen 51-100,284. 597 Vgl. hierzu auch die Auflistung der Stichwortentsprechungen bei G. BRAULK, Psalm 40, 126ff. Ein Großteil der dort aufgeführten Entsprechungen gehört jedoch zum geprägten Vokabular der Psalmensprache und verbindet Ps 40 auch mit anderen Texten des Psalters. 598 Der Ausdruck |P - „Schlamm" begegnet innerhalb des Alten Testaments nur in Ps 40,3 und 69,3.

7. Der leidende Gerechte: Ps 69-71

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beschreibt der Psalmist in Ps 40,13 die Vielzahl seiner Leiden. Eine weitere auffällige Gemeinsamkeit beider Texte ist die Gegenüberstellung von Opfer und Lobpreis. Sowohl in Ps 69 als auch in Ps 40 kündigt der Beter an, dass er Gott im Lied (Ttf - Ps 69,31; tznn mtf - Ps 40,4)599 loben und preisen will. Dieses Dankopfer, das im Loblied die Gerechtigkeit Gottes vor der Gemeinschaft verkündet (vgl. Ps 40,10f), ist nach Überzeugung beider Psalmen Gott wohlgefälliger als jede Form von Tieropfern (Ps 69,32; 40,7). c) Ps 70/71 und Ps 35 Eine Reihe von z.T. wörtlichen Entsprechungen verbinden die in dieser Analyse als Einheit verstandenen Psalmen 70/71 mit Ps 35, dem Eröffnungspsalm der Gruppe Ps 3 5-41.600 Zu nennen ist vor allem der Wunsch des Beters nach Beschämung seiner Feinde (Ps 35,4.26; 70,3; 71,13.24). Die größte Nähe weisen dabei die Formulierungen in Ps 35,4 und 70,3 auf. Sowohl Ps 35 als auch Ps 70 zitieren das höhnische Lachen (nxn n s n - Ps 35,21.25; 70,4) der Feinde des Beters einerseits und den Lobpreis der Frommen ( b i r T o n nox"1 • t 6 n / m i r - Ps 35,27; 70,5) andererseits. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass beide Zitate in Ps 35 in einer ausfuhrlicheren Form vorliegen. Das Lachen der Feinde wird in Ps 35,21 ergänzt durch den Ausruf „Unser Auge hat es gesehen!" sowie der Lobpreis Gottes durch die Näherbestimmung „der Gefallen hat am Heil seines Knechtes". Hinsichtlich der Frage nach dem Abhängigkeitsverhältnis zwischen Ps 35 und 70 lässt sich hieraus möglicherweise die Schlussfolgerung ziehen, dass in Ps 70 die ursprünglichen, da kürzeren Formulierungen vorliegen, die sekundär für Ps 35 übernommen wurden.601 In Ps 35 und 71 reagiert der Psalmist auf das Reden der Feinde mit der Bitte, dass Gott nicht fern sein möge von ihm Oioo prnn bs d t i S n / ' n x - Ps 35,22; 71,12). In beiden Psalmen will der Beter im Lobpreis die Unvergleichlichkeit Gottes verkündigen (-|1D3 •'D m n ^ N / mm - Ps 35,10; 71,19). Er betont, dass seine Zunge den ganzen Tag von der Gerechtigkeit Gottes murmeln wird (Ps 35,28; 71,24). Des Weiteren werden Ps 35 und 70/71 durch den zentralen Schlüsselbegriff npnu (Gerechtigkeit - Ps 35,24.27.28; 71,2.15.16. 19.24) und durch die Qualifizierung des bzw. der Frommen als arm und elend (Ps 35,10; 70,6) miteinander verbunden.

599

Abgesehen von der Verwendung in den Überschriften und in dem feststehenden Ausdruck EHn T t f findet sich der Begriff "VE? in den Psalmen nur selten (Ps 28,7; 137,3.4). 600 Vgl. G. B r a u l i k , Psalm 40, 207 ff; C. RöSEL, Redaktion, 64f. 601 Gegen G. B r a u l k , der davon ausgeht, dass Ps 40,14-18 = Ps 70 von Ps 35 abhängig ist (Psalm 40,207ff).

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

d) Ps 70/71 und Ps 38 Vergleichbare wörtliche Entsprechungen lassen sich auch zwischen Ps 38 und 70/71 feststellen.602 So werden auf formaler Ebene Ps 38 und 70 durch das gemeinsame Überschriftenelement "pntnb - „zum Gedenken" miteinander verbunden. Parallelen finden sich auch in der näheren Bestimmung der Feinde, die als Menschen beschrieben werden, die nach der Seele des Beters trachten (''tfa: ''tffpDD - Ps 38,13; 70,3) und sein Unglück suchen (Tim ^ p n o / •"tfn- Ps 38,13; 71,13.24). Auf dieses Treiben der Gegner reagiert der Psalmist mit einer dreifachen Bitte, in der er Gott ersucht, nicht fern von ihm zu sein (,3DD p m n DTI^N / - Ps 38,22; 71,12), ihn nicht zu verlassen Ontyn bx - Ps 38,23; 71,9.18) und ihm zur Hilfe zu eilen (Tnryb ntfin Ps 38,23; 70,2; 71,12). Es fallt auf, dass sich diese Bezüge in Ps 38 auf die Verse 13 und 22f konzentrieren, während sie in Ps 70/71 stärker über den Text verstreut sind. Hinsichtlich der Frage der Abhängigkeit legt sich aufgrund dieser Beobachtung die These nahe, dass die Formelsummarien in Ps 38,13.22f als sekundär anzusehen sein dürften. Die Annahme, dass verschiedene, über den Text verteilte Formeln zu einer Kombination zusammengezogen werden, hat eine größere Plausibilität als die Vermutung, dass ein geschlossener Zusammenhang ohne zwingenden Grund aufgeteilt wird.603 e) Weiter Berührungspunkte Einige weitere, wenn auch weniger signifikante thematische Verbindungslinien, denen hier noch in Kürze nachgegangen werden soll, sind zwischen Ps 69 und 35, zwischen Ps 69 und 38 und schließlich zwischen Ps 71 und 40A zu beobachten. Ps 69 und Ps 35: Die Berührungspunkte zwischen Ps 69 und 35 betreffen vor allem die Darstellung der Feinde, deren Attacken gegen den Beter als grundlos (o:n - Ps 35,7.19; 69,5; npw - Ps 35,19; 69,5) beschrieben werden. Sie erheben falsche Anklagen gegen den Psalmisten (Ps 35,11; 69,5) und bedenken diesen mit Schmähungen, Lästerungen und Gespött (Ps 35,15; 69, 1013). Im Gegenzug setzt der Beter in beiden Psalmen seine Hoffnung auf Gott als den Retter der Armen und Elenden (D'irnx; DMiy - Ps 35,10; 69, 33f). Ps 69 und Ps 38: Die Gemeinsamkeiten dieser beiden Texte beziehen sich insbesondere auf die Schilderung der Art und Qualität der Notlage des Beters. Dieser beklagt in beiden Psalmen seine Erschöpfung und seinen körperlichen Verfall (Ps 38,3-10; 69,4), sowie die schmerzliche Entfremdung von Freunden und Verwandten (Ps 38,11; 69,9). Obwohl in beiden Texten der Psalmist 602

Diese Entsprechungen haben dazu geführt, dass die Qumranfragmente (4QPsa, frag.g) Ps 38 und 71 miteinander kombinieren, vgl. G.H. WILSON, Editing, 13lf. 603 Zur Argumentation vgl. G. BRAULIK, Psalm 40, 209.

7. Der leidende Gerechte: Ps 69—71

273

sein Leiden auf den grundlosen Hass (Tptf - Ps 38,20; 69,5) seiner zahlreichen Feinde ( i m - Ps 38,20; 69,5) zurückführt, ist er sich gleichzeitig seiner eigenen Sündhaftigkeit bewusst (Ps 38,4f.l9; 69,6). Trotz seiner akuten Notlage harrt (brr - Ps 38,16; 69,4) der Beter auf Gott und hofft auf seine Antwort (mv - Ps 38,16; 69,17). Ps 71 und Ps 40A: Nicht nur zwischen Ps 69 und Ps 40A gibt es auffällige Bezüge, sondern auch zwischen Ps 40A und Ps 71, dem zweiten Nachbarn von Ps 70, auch wenn diese Stichwortentsprechungen sicherlich weniger signifikant sind. So steht im Mittelpunkt beider Psalmen der Lobpreis des Gottes (nbnn - Ps 40,4; 71,6.8.14), den der Beter als seine Rettung und Zuversicht ( n c a o - Ps 40,5; 71,5) erfahren hat. Gegenstand des Lobpreises sind die Gerechtigkeit (np-ts - Ps 40,10.11; 71,2.15.16.19.24) und die Wunder (nxba: Ps 40,6; 71,17) Gottes, die der Beter erzählen bzw. aufzählen (~ISD - Ps 40,6; 71,15) und verkünden (~nj - Ps 40,6; 71,17) will. Dieser Lobpreis erfüllt den Mund ( ^ - Ps 40,4; 71,8) des Beters und lässt seine Lippen (T)Dtf - Ps 40,10; 71,23) überfließen. 7.4.3 Ps 69-71 als Brücke zum ersten Davidpsalter Die Übersicht über die zahlreichen sprachlichen und thematischen Verbindungslinien zwischen den beiden Schlussgruppen des ersten und zweiten Davidpsalters hat gezeigt, dass diese beiden Bereiche des Psalters denkbar eng miteinander verzahnt sind. Dabei ließ sich jedoch nur in einigen Fällen klären, in welche Richtung die Abhängigkeit verläuft. Festzuhalten ist, dass Ps 40,1418 abhängig ist von dem ursprünglich eigenständigen Ps 70. Ebenso dürften die besprochenen Formulierungen in Ps 35,21.27 und 38,13.22f im Anschluss an vergleichbare Aussagen in Ps 70 und 71 gebildet worden sein. Im Übrigen lässt sich lediglich feststellen, dass die Psalmen 35, 38 und 40 mit jedem einzelnen der untereinander wiederum eng verbundenen Psalmen 69-71 diverse Berührungspunkte aufweisen, ohne dass eindeutig und sicher nachweisbar wäre, welcher Text jeweils als Vorbild und Vorlage gedient hätte. Vielmehr legt sich die Annahme nahe, dass die beiden Psalmengruppen 35—41 und 6971 redaktionell stark überarbeitet wurden, um die beiden Davidsammlungen miteinander zu verknüpfen. In diesem Zusammenhang ist auf die These von Hossfeld / Zenger einzugehen, nach der die Komposition Ps 69-71 eine gezielte Nachgestaltung des Schlussteils des ersten Davidpsalters (Ps 40-41) darstellt. Im Hintergrund dieser These steht die Auffassung der Autoren, dass „der Psalter von Ps 3 her grosso modo von Anfang an in Teilgruppen gewachsen ist"604. Demnach ist 604 F.-L. HOSSFELD, Davidsammlungen, 71, vgl. auch E. ZENGER: „Das uns vorliegende Psalmenbuch ist in mehreren ,Schüben' entstanden, und zwar durch Aneinanderreihung von

274

III Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

die Sammlung des ersten Davidpsalters (Ps 3-41*) bereits in spätvorexilischer Zeit entstanden. Die in exilischer Zeit entstandene Sammlung Ps 52-68* wurde im 5. Jh. von einer armentheologisch orientierten Redaktion unter Rückgriff auf die Schlussgruppe des ersten Davidpsalters (Ps 35-41) durch Ps 51 und Ps 69-71 erweitert.605 Es stellt sich jedoch die Frage, warum eine Redaktion, die nach der These von Hossfeld / Zenger daran interessiert war, die Sammlungen Ps 3-41* und Ps 52-68* unabhängig von ihrer Anbindung an die Person Davids606 inhaltlich miteinander zu verbinden, Ps 52-68* nicht direkt mit Ps 3-41 zu einem großen, zusammenhängenden Davidpsalter zusammengestellt, sondern statt dessen Ps 52-68* nur mit der Gruppe der Asafpsalmen zu einer eigenständigen Sammlung verbunden hat, um die später dann noch die Korachpsalmen 42-49 und 84—88* gelegt wurden. Demgegenüber scheint mir die Annahme sinnvoller, dass zunächst ein Grundbestand des zweiten Davidpsalters ohne Ps 69-71 mit der Gruppe der Asafpsalmen verknüpft und in einem zweiten Schritt durch die Korachpsalmen 42-49 zum elohistischen Psalter (Ps 42-83*) erweitert wurde. Die Einfügung von Ps 69-71 wäre dann auf einer weiteren, späteren Redaktionsstufe zu verorten, nämlich der Zusammenstellung des elohistischen Psalters (Ps 42-83*) mit dem ersten Davidpsalter (Ps 3-41*). Hier nun wurden Ps 69—71 mit dem Ziel und der Funktion eines Brückenschlags zwischen den beiden eigenständigen Sammlungen in ihren jetzigen Kontext eingefügt. Dieser Brückenschlag wurde notwendig, da nun auch Ps 3-41* durch entsprechende Angaben in den Überschriften mit der Person Davids in Verbindung gebracht wurde. Da es aber der entsprechenden Redaktion offensichtlich nicht möglich erschien, die bestehenden Sammlungen aufzulösen und die beiden Davidpsalmengruppen direkt hintereinander zu stellen, griff sie auf die Möglichkeit zurück, beide Gruppen jeweils an ihrem Anfang und an ihrem Ende miteinander zu verknüpfen. Am Anfang der beiden Davidpsalter übernimmt die Doppelüberlieferung Ps 14 = 53 diese Funktion,607 am Ende insbesondere die Doppelüberlieferung Ps 40,14-18 = 70, aber auch die weiteren beschriebenen Verbindungslinien zwischen Ps 35-40 und Ps 69-71. In diesem Zusammenhang ist noch einmal auf die fehlenden Gattungsangaben in den Überschriften von Ps 69-71(72) hinzuweisen. Im Allgemeinen Teilsammlungen, die teilweise ihre je eigene Entstehungsgeschichte haben. Als Faustregel kann gelten: Die Abfolge der Teilsammlungen im jetzigen Psalmenbuch entspricht auch ihrem Alter" (Einleitung in das Alte Testament, 250). 605 Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 30f.284f, sowie die früheren Überlegungen bei F.-L. HOSSFELD, Davidsammlungen, 64ff. 606 Nach Auffassung von F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER wurde Ps 3—41 später als der zweite Davidpsalter, nämlich erst im Zuge der Zusammenstellung von Ps 3-41 und Ps 42-83 sowie Ps 84-88 zum messianischen Psalter (Ps 2-89) davidisiert, vgl. Psalmen 51-100, 32f. 607 Vgl. hierzu die Ausführungen in Kap. III.3.2.

7. Der leidende Gerechte: Ps 69-71

275

werden die Psalmen der einzelnen Kleingruppen innerhalb des zweiten Davidpsalters (Ps 52-55; 56-66; 61-64; 65-68) durch eine gemeinsame Gattungsangabe in der Überschrift zusammengebunden. Die Tatsache, dass diese Vorgehensweise in Ps 69-71 trotz der offensichtlichen sprachlichen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten nicht durchgehalten wird, ist ein Indiz dafür, dass hier eine andere Redaktion am Werk war als bei der Zusammenstellung der übrigen Psalmengruppen des zweiten Davidpsalters. Dieser Redaktion, deren Interesse also offensichtlich darin bestand, den ersten und zweiten Davidpsalter über die „Schneise" der Korachpsalmen hin zu verbinden, dürfte somit Ps 69; 70 und 71 zusammengestellt haben. Möglicherweise geht der kurze Ps 70, der die Dreiecksbeziehung Gott - Fromme Frevler in knappen Stereotypen zusammenfasst, auf die Hand dieser Redaktion zurück und stellt eine Art Summarium des theologischen Anliegens dar, das diese mit dem Brückenschlag zwischen erstem und zweitem Davidpsalter zum Ausdruck bringen wollte. Für diese Vermutung spricht auch die Tatsache, dass nahezu jede Formulierung in Ps 70 über Ps 40,14-18 hinaus eine Parallele in Ps 69 und 71 bzw. 35 und 38 hat. Die grundlegende Verbindung zwischen erstem und zweitem Davidpsalter gelingt dadurch, dass eben diese Redaktion Ps 70 mit geringfügigen Änderungen an den bereits bestehenden Ps 40A anfügt. Um diese Verknüpfung zwischen den beiden Davidpsaltern zu verstärken, wurden zum einen Ps 35; 38; 40A und zum anderen 69 und 71 punktuell überarbeitet,608 so dass die beschriebenen sprachlichen und thematischen Berührungspunkte entstanden. Ps 71 platzierte die Redaktion am Ende des zweiten Davidpsalters, da durch die Altersthematik ein geeigneter Anknüpfungspunkt und Abschluss der biographischen Linie (vgl. Ps 51-63) entsteht. Dadurch, dass Ps 71 keine eigene Überschrift erhält, wird er besonders eng an Ps 70 herangerückt. Ps 70/71 werden so zum Gebet des alternden David, Ps 72 schließlich erscheint als sein Wunsch und sein Vermächtnis für seinen Sohn Salomo. Die Thematik von Krankheit und Krankenlager macht Ps 41 im ersten Davidpsalter zu einem Pendant zu Ps 71, das sich ebenfalls gut aus dem Mund des alternden und kranken David (vgl. 1. Kön 1,1-4) verstehen lässt. Sowohl der erste als auch der zweite Davidpsalter entwerfen in ihrer jeweils letzten Psalmengruppe das Bild des unschuldig verfolgten und leidenden 608

F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER gehen davon aus, dass Ps 71 insgesamt von deijenigen, armentheologisch orientierten Redaktion erst geschaffen wurde, die Ps 69-72 zusammengestellt hat (Psalmen 51-100, 285). Diese Sichtweise ist erstaunlich, da Ps 71 keine dezidiert armentheologischen Aussagen enthält. In den von Hossfeld / Zenger in diesem Zusammenhang angeführten Versen 9.18.20 lässt sich nur schwer eine armentheologische Perspektive erkennen, es sei denn, man versteht das Alter als ein typisches Kennzeichen der Armen und Elenden.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Gerechten. Dieser wird von Feinden grundlos (Ps 35,7.19; 38,20; 69,5) bedrängt, die nach seinem Leben trachten (Ps 38,13; 40,15; 70,3; 71,10) und sein Unglück suchen (Ps 40,15; 70,3; 71,13). Er scheint in gewisser Weise eine Person des öffentlichen Lebens zu sein, zumindest wird sein Eifer für Gott öffentlich wahrgenommen (Ps 40,10f; 69,10.13; 71,18), sein Schicksal hat für seine Umgebung zeichenhaften Charakter (Ps 40,4; 69,7; 71,7). Dieser Eifer wiederum trägt ihm Spott (Ps 35,15.21; 40,16; 69,12f; 70,4), falsche Anklagen (Ps 35,11; 69,5) und Einsamkeit (Ps 38,12; 69,9) bis hin zu akuten körperlichen Leiden (Ps 38,6-8; 69,4) ein. Der betende Gerechte, der sich selbst zu der Gruppe der Armen und Elenden zählt (Ps 35,10; 40,18; 69,30.33f; 70,6),609 nimmt seine Notlage als akute Lebensbedrohung wahr. In ihm aufsteigende Zweifel an der Gültigkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs finden zumindest in der Schlussgruppe des ersten Davidpsalters ihren Ausdruck und ihre Antwort in den weisheitlich geprägten Psalmen 36; 37 und 39. Dennoch erblickt der Beter beider Psalmengruppen in Gott seine Hilfe und Rettung (Ps 35,3.9; 40,11.14.18; 70,2.6; 71,2.12) und bittet ihn, entgegen dem Urteil seiner Gegner nicht fern von ihm zu sein (35,22; 38,22; 71,12). Dabei appelliert er an Gottes helfende Gerechtigkeit (35,24.28; 40,10.11; 69,28; 71,2.15.16.19.24) und vergegenwärtigt sich im Lobpreis die Größe und die Wundertaten Gottes (Ps 40,6; 71,16f). Es hat sich gezeigt, dass die Darstellung der Person des Beters und seines Leidens sowie der Unternehmungen der Feinde an den verfolgten Propheten Jeremia, wie er in den sog. Konfessionen begegnet, und an die Gestalt des Gottesknechts bei Deuterojesaja erinnert. Ps 69-71, aber auch Ps 35-41, sind jedoch durch die Überschriftennotiz "inb mit der Person Davids verbunden. Dem Leser des zweiten Davidpsalters ist insbesondere durch die Psalmengruppen 52-55 und 56-60 mit ihren biographischen Situationsangaben hinlänglich bekannt, dass David zahlreichen Leidens- und Verfolgungserfahrungen ausgesetzt war und sich in diesen Situationen in seinem Vertrauen auf Gott bewährt hat. Er ist auf diese Weise zu einem Ideal und Vorbild geworden, an dem sich das Individuum in seinen persönlichen Leid- und Unheilserfahrungen orientieren kann. Durch die Nähe des Beters in Ps 69-71 zur Gestalt des leidenden Gerechten, wie er sich z.B. in der Person Jeremias oder des deuterojesajanischen Gottesknechts konkretisiert, erhält auf der Ebene des vorliegenden Endtextes des zweiten Davidpsalters auch David die Züge eben 609 Trotz dieses sowohl in Ps 35-41 als auch in Ps 69-71 vorhandenen Gruppenbewusstseins stellt jedoch die von F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER vorgetragene Deutung von Ps 69-72 als „armentheologische Schlußkomposition des zweiten Davidpsalters" (Psalmen 51-100, 301) bzw. von Ps 35-41 als „umfassende Existenzdeutung des Armen" („Selig, wer auf die Armen achtet", 34) eine Reduktion der beiden Schlussgruppen des ersten und zweiten Davidpsalters und ihres theologischen Profils auf nur einen Aspekt unter anderen dar.

8. Die messianische Hoffnungsvision: Ps 72

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dieses leidenden Gerechten. Es hat sich gezeigt, dass dieser insbesondere in Ps 69 und 71 mit seinem Leiden, aber auch mit seiner Hoffnung und seinem Vertrauen auf Gott stellvertretend für das exilierte Volk steht. So wie der Gottesknecht in der deuterojesajanischen Verkündigung zur Identifikationsfigur für das Volk wird,610 wird nun auch David in Ps 69-71 zum Vorbild und Hoffnungsträger nicht nur für den Einzelnen, sondern für das ganze Volk.

8. Die messianische Hoffnungsvision: Ps 72 8.1 Psalm 72 1 Für Salomo. Gott, deine Rechtsvorschriften gib dem König und deine Gerechtigkeit dem Königssohn. 2 Er richte dein Volk in Gerechtigkeit und deine Elenden nach dem Recht. 3 Es mögen die Berge Heil tragen für das Volk und die Hügel - in Gerechtigkeit611. 4 Er schaffe Recht den Elenden des Volkes, helfe den Söhnen des Armen und zermalme den Unterdrücker. 5 Sie sollen dich furchten612 vor der Sonne und vor dem Mond von Geschlecht zu Geschlecht. 6 Er komme herab wie Regen auf die gemähte Flur, wie Regengüsse, die die Erde tränken. 7 Es bringe Frucht in seinen Tagen der Gerechte und Fülle des Heils sei, bis kein Mond mehr ist.

610 Zur kollektiven Deutung der Gestalt des Gottesknechts vgl. H. HAAG, Der Gottesknecht bei Deuterojesaja, Darmstadt 1985, 138ff. 611 Die Versionen von Septuaginta, Peschitta und Vulgata verzichten dem Kontext gemäß auf die Präposition 2. 612 Die Plural-Form des Verbs im masoretischen Text lässt sich nur auf das Volk als Subjekt beziehen. Da der Focus der vorausgehenden Verse auf das Verhältnis Gott - König gerichtet ist, erscheint solch eine unvermittelte Verschiebung des Blickwinkels hin auf das Verhältnis Gott - Volk eher ungewöhnlich. Die Septuaginta liest hier xai ov(inagfievei = ~p~)N,1 (von "[TN - „lang leben", „verlängern"). Die in dieser Lesart zum Ausdruck kommende Bitte um ein langes Leben für den König passt in den vorliegenden Kontext und entspricht der vergleichbaren Bitte in V.17. Der Gedanke, dass das Leben des davidischen Königs bzw. seiner Nachkommenschaft so lange währen möge wie Sonne und Mond, findet sich auch in Ps 89,37f.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

8 Er herrsche von Meer zu Meer und vom Strom bis an die Enden der Erde. 9 Vor ihm sollen sich beugen die Steppenbewohner, und seine Feinde sollen den Staub lecken. 10 Die Könige von Tarschisch und den Küstenländern sollen Gaben bringen, die Könige von Scheba und Seba sollen Tribut entrichten. 11 Es sollen sich niederwerfen vor ihm alle Könige, alle Völker sollen ihm dienen. 12 Denn er rettet den Armen, der um Hilfe schreit, und den Elenden, für den es keine Hilfe gibt. 13 Er erbarme sich des Schwachen und Armen, und den Seelen der Armen helfe er. 14 Aus Bedrückung und Gewalt löse er ihre Seele aus, und kostbar sei ihr Blut in seinen Augen. 15 Er möge leben, und man gebe ihm von dem Gold Schebas und man bete immerfort für ihn, jeden Tag wünsche man ihm Segen613. 16 Es sei Korn in Fülle614 im Land, auf dem Gipfel der Berge rausche wie der Libanon seine Frucht

613 F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER weisen zu Recht daraufhin, dass nicht ganz deutlich wird, wer in V.15 das Subjekt der Verbformen jrpl - „und er gebe" sowie b b s m - „und er bete" ist. Hossfeld / Zenger nehmen als Subjekt aller Verbformen in V.15 den König und als Empfänger der Gabe bzw. des Gebetes den Armen aus V. 12-14 an, im Sinne von: „Er (der König) soll leben, und er (der König) soll ihm (dem Armen) von dem sabäischen Gold weitergeben, und er (der König) soll für ihn (den Armen) immerfort beten, und jeden Tag soll er (der König) ihn (den Armen) segnen!" (Psalmen 51-100, 306f). Diese Deutung hat durchaus eine gewisse Plausibilität, im Kontext von V.10 erscheint es jedoch wahrscheinlicher, dass auch in V.15 der König der Empfänger des sabäischen Goldes ist. Weiterhin ist anzunehmen, dass im Kontext eines Bittgebetes für den König (vgl. V.l - so auch die formgeschichtliche Einordnung von Hossfeld / Zenger, a.a.O., 310) der Empfänger von Gebet und Segen auch der König ist. Die hier wiedergegebene Übersetzung entscheidet sich daher für ein unbestimmtes, allgemeines Subjekt, vgl. u.a. H.-J. KRAUS, Psalmen II, 655; K. SEYBOLD, Psalmen, 276. 614 1 3 DOS ist hapax legomenon; nach ägyptisch pss und ugaritisch pd „Teil, Zuteilung, d.i. Fülle" (HAL 892).

8. Die messianische Hoffhungsvision: Ps 72

279

und es gedeihen [die] aus der Stadt615 wie das Gras des Landes. 17 Es bleibe sein Name auf ewig, vor der Sonne wachse sein Name. Und es sollen sich in ihm Segen wünschen, glücklich preisen ihn alle Völker. 18 Gesegnet sei JHWH, Gott, der Gott Israels, der allein Wunder tut! 19 Und gesegnet sei der Name seiner Herrlichkeit auf ewig, und die ganze Erde sei erfüllt von seiner Herrlichkeit! Amen, Amen. 20 Zu Ende sind die Gebet Davids, des Sohnes Isais. Was den Aufbau von Ps 72 angeht, so legt sich folgende Gliederung nahe, die sich an der parallelen Beschreibung der Aufgaben des Königs in V.l-11 und 12-17 orientiert616: V.la:

Überschrift

V.lbc-4 // 12-14: Der König als Garant für Recht und Gerechtigkeit V.5-7 // 15-17ab: Der König als Garant für die Fruchtbarkeit des Landes V.8-11 // 17cd: Der König als Garant des Völkerfriedens V.18-19: V. 20:

Benediktion: Gesegnet sei JHWH... Schlussnotiz

Die kurze Überschrift (no^tf1?) bringt Ps 72 in Verbindimg mit Salomo, eine Angabe, die zumindest der Verfasser der Schlussnotiz V.20 nicht im Sinn einer salomonischen Autorenschaft, sondern einer Widmung „für Salomo" verstanden hat. Der Redaktor wollte diesen letzten Psalm des zweiten Davidpsalters als Gebet bzw. Vermächtnis des alten David an seinen Sohn Salomo, den 615 Die wiedergegebene Lesart des masoretischen Textes ist kaum verständlich. Dagegen passt die im textkritischen Apparat der BHS vorgeschlagene Änderung l"VOl/l p s 1 - „und es gedeihe seine Ähre" zwar gut in den Kontext, ist aber durch keinen Textzeugen belegt. Will man aus diesem Grund an dem Begriff „Stadt" festhalten (so auch die LXX), legt sich eine Deutung in dem Sinne nahe, dass die Bewohner der Städte gedeihen und sich vermehren wie das Gras des Landes, vgl. M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 221, note 16.c. Nach diesem Verständnis ermöglicht der für Recht und Gerechtigkeit sorgende König nicht nur das fruchtbare Gedeihen des Landes, sondern dadurch, dass er sich der Armen und Elenden annimmt, auch das Blühen und Gedeihen der Menschen im Land. 616 Eine vergleichbare Gliederung - allerdings ohne die Unterteilung von V.17 - schlagen B. JANOWSKI (Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff

[ S B S 165], Stuttgart 1997, 4 8 0 u n d F.-L. HOSSFELD / E . ZENGER ( P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 3 1 0 f )

vor.

280

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Königssohn im buchstäblichen Sinne (vgl. V.lc), verstanden wissen.617 In Verbindung mit Ps 71, der sich ausdrücklich als das Gebet eines alten Menschen ausweist (vgl. Ps 71,9.17f), wird auf diese Weise die biographische Linie des zweiten Davidpsalters (vgl. die biographischen Situationsangaben in Ps 51; 52; 54; 56; 57; 59; 60; 63) zu einem sinnvollen Ende geführt. Darüber hinaus ergeben sich einige Anknüpfungspunkte zwischen der Regentschaft Salomos, wie sie in 1. Kön 3-10 geschildert wird, und dem Bild des idealen Königs, wie es Ps 72 entwirft. So bittet der Psalmist Gott um die Gabe von Recht und Gerechtigkeit für den König, damit er das Volk nach eben diesen Prinzipien richten könne (Ps 72, lf). Mit vergleichbarer Intention bittet Salomo in seinem Traum in Gibeon Gott um ein hörendes Herz, um das Volk gerecht richten und zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können (1. Kön 3,9). Diese Bitte wird ihm von Gott erfüllt, und seine Fähigkeit, gerechtes Gericht zu halten, wird geradezu sprichwörtlich (vgl. 1. Kön 3,28; 10,9). Weiterhin bittet der Psalmist um ein langes Leben für den König (Ps 72,5.17). Diese Gabe wird Salomo von Gott im Traum zugesagt, obwohl oder weil er gerade darum nicht gebeten hat (1. Kön 3,14). Auch das in Ps 72,3.6f.l6 erhoffte Wohlergehen des Landes wird als unter der Herrschaft Salomos gegeben vorausgesetzt (vgl. 1. Kön 4,20; 5,4f). Ebenso bietet die Ausdehnung des salomonischen Reiches, wie sie in 1. Kön 5,1-4 beschrieben wird, einen Anknüpfungspunkt für die in Ps 72,8 erhoffte weltumspannende Herrschaft des Königs. Des Weiteren entsprechen die Berichte in l.Kön 5,1; 10, 24f über Tributgaben und Geschenke der Völker an Salomo der Vision in Ps 72,8-11, nach der die Völker der Welt dem König dienen und ihre Könige Tributgaben bringen sollen. Insbesondere mit der Bezugnahme auf das Gold Schebas in Ps 72,15 dürfte eine redaktionelle Anspielung auf den in 1. Kön 10 beschriebenen Besuch der Königin von Scheba und die großen Mengen Gold, mit denen diese Salomo beschenkt (1. Kön 10,10), vorliegen. Der Hörer bzw. Leser, der durch die Leseanweisung der Überschrift angewiesen ist, die dargestellten Verbindungslinien zwischen dem in Ps 72 entworfenen Bild des idealen Königs und der Herrschaft Salomos zu ziehen, kann sich auf diese Weise in die Zuversicht einüben, dass die in Ps 72 formulierte Erwartung nicht bloße Utopie ist, sondern einen Anhalt an der Realität hat. Wenn es in Israel mit Salomo schon einmal einen König gab, der dem Ideal von Ps 72 so weitgehend entsprach, dann gibt es berechtigten Anlass zu der Hoffnung, dass es solch einen König in Zukunft wieder geben wird. Der erste Abschnitt des Psalms (V.lbc-4) beginnt mit einer an Gott gerichteten Fürbitte für den König. Erbeten werden die Gaben von Recht (USTFD) und Gerechtigkeit (nplü) für den König. Profitieren sollen von diesen Gaben 617 Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 316f; M. KLEER, Der liebliche Sänger, 84f; M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 222f.

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die Elenden (D,ns/) und Armen (D^mx). Diese Bitte bewegt sich ganz in den Denkkategorien der im Alten Orient allgemein verbreiteten Königsideologie,618 nach der der König als Statthalter der Gottheit auf Erden die Aufgabe hat, die der Welt eingestiftete, göttliche Ordnung gegen die Mächte des Chaos zu bewahren und den Schwachen zu ihrem Recht zu verhelfen. Dabei kommt jedoch bereits in V.lbc eine Eigenheit des alttestamentlichen gegenüber dem altorientalischen Königsverständnis zum Tragen, auf das E. Zenger unter Verweis auf die Untersuchungen von J. Assmann hinweist.619 Während es z.B. nach ägyptischer Vorstellung in den Aufgabenbereich des Königs fiel, entsprechende Gesetze und Rechtsbestimmungen zu erlassen, um die Maat, die göttliche Weltordnung zu verwirklichen, tritt in Ps 72 Gott selbst in dieser Funktion an die Stelle des Königs.620 Dementsprechend ist in V.l von „deinen (d.h. Gottes) Rechtsvorschriften" (-pDStfo) und „deiner (d.h. Gottes) Gerechtigkeit" (~[np"ts) die Rede.621 Ebenso macht auch die Näherbestimmung der auf diese Weise Regierten als „dein (d.h. Gottes) Volk" und „deine (d.h. Gottes) Elenden" in V.2 deutlich, dass der eigentliche und wahre König seines Volkes allein Gott ist. Dennoch ist die Aufgabe und Funktion des irdischen Königs, wie sie Ps 72 beschreibt, nicht zu unterschätzen. An ihm ist es, die D^DStfo, die konkrete Rechtsordnung, an der sich alles gesellschaftliche Handeln zu orientieren hat, durchzusetzen und zu bewahren. Er soll das Volk Gottes in Gerechtigkeit richten (V.2a), wobei die Parallelität der Begriffe Gerechtigkeit (npis) und Heil (Dlbtf) in V.3 deutlich macht, dass mit nptiä eine sehr 618

Zu den Grundzügen der altorientalischen Königsideologie vgl. die Ausführungen bei

F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 51-100, 307ff.317ff, sowie O. LORETZ, Die Königs-

psalmen. Die altorientalisch-kanaanäische Königstradition in jüdischer Sicht 1 (UBL 6), Münster 1988. Die Einflüsse assyrischer Krönungshymnen auf Ps 72 hat M. ARNETH untersucht, vgl. ders., „Sonne der Gerechtigkeit." Studien zur Solarisierung der Jahwe-Religion im Lichte von Psalm 72 (BZAR 1), Wiesbaden 2000. 619 Vgl. E. ZENGER, „So betete David für seinen Sohn Salomo und für den König Messias". Überlegungen zur holistischen und kanonischen Lektüre des 72. Psalms, in: JBTh 8 (1993), 67f. 620 J. ASSMANN spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verschiebung der soziopolitischen Handlungssphäre Recht und Gerechtigkeit in die theo-politische Sphäre. Dabei entsteht der radikal neue Gedanke, Gott selbst zum Gesetzgeber zu machen. Gott tritt in dieser Funktion an die Stelle der altorientalischen Könige. [...] Auch wenn - wie in Mesopotamien und Ägypten - der Sonnengott als Herr der Gerechtigkeit, d.h. als Richter und Retter auftritt, überlässt er doch die Stiftung positiver Gesetze dem König und seinen Beamten. Der alles entscheidende Schritt Israels bestand darin, die Gerechtigkeit aus der sozialen und politischen in die theologische Sphäre zu transponieren und dem unmittelbaren Willen Gottes zu unterstellen." (Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, München 1992, 64f). 621 Die prominente Stellung, die der Begriff der Gerechtigkeit bzw. der Gerechtigkeit Gottes am Beginn von Ps 72 erhält, verbindet diesen Text mit seinem Nachbarn Ps 71, dessen zweiter Teil (V.l4-24) vor allem dem Lobpreis eben dieser Gerechtigkeit Gottes gilt.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

viel umfassendere Größe beschrieben wird als eine bestimmte gesellschaftliche Norm.622 Wenn es in V.3 heißt, dass die Berge Heil und die Hügel Gerechtigkeit tragen mögen, so klingt hier eine kosmische Dimension an, nach der Gerechtigkeit nicht nur den Menschen gilt, sondern auch das Land in einen Zustand der Fülle und des Wohlergehens versetzt (vgl. V.6f.l6).623 Dieses Motiv findet sich innerhalb des Alten Testaments vor allem im Jesajabuch (vgl. Jes 32,16; 45,8; 61,11). Die auf eine derart umfassende Gerechtigkeit ausgerichtete Fürsorgepflicht des Königs gilt insbesondere den Armen und Elenden (V.2.4). Die parallele Stellung von „dein Volk" und „deine Elenden" in V.2 deutet darauf hin, dass die Gruppenbezeichnung der Elenden und Armen hier auf das Gottesvolk als Ganzes bezogen wird.624 Neben dem zentralen Stichwort der Gerechtigkeit ist es diese explizite Aufmerksamkeit für die Armen und Elenden, die Ps 72 mit seinen Nachbarpsalmen 69-71 verbindet (vgl. Ps 69,30.33f; 70,6). Die folgenden Verse (V.5-7) vertiefen die in V.3 bereits anklingende kosmische Dimension der Herrschaft des mit Recht und Gerechtigkeit ausgestatteten Königs. In das Bild einer fruchtbaren, von Sonne und Mond beschienenen und vom Regen getränkten Landschaft werden die Wünsche für den König platziert. Sonne und Mond als die Gestirne, die den kontinuierlichen Wechsel von Tag und Nacht anzeigen, repräsentieren die unendliche Ausdehnung der Zeit. Wenn dem König ein langes Leben mit bzw. im Angesicht von Sonne und Mond gewünscht wird, so klingt hier eine zeitliche Perspektive an, die das gewöhnliche Maß menschlichen Lebens übersteigt. Eine vergleichbare Formulierung in Ps 89,37f bezieht sich explizit auf David und seine Nachkommenschaft, so dass sich die Schlussfolgerung nahe legt, dass sich der Psalmist in V.5 nicht einfach nur der Sprach- und Vorstellungskategorien des im Alten Orient üblichen und verbreiteten Hofstils bedient, sondern konkret 622

Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER: „Das ,Recht' (Dfitf D) ist ein fester, allgemein gültiger Rahmen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und wirkt als eine Norm, an der sich das Handeln orientieren muss und nach dem es als legal bzw. als illegal beurteilt und gegebenenfalls bestraft wird. .Gerechtigkeit' (p"tü) ist demgegenüber eine viel umfassendere Größe. Sie ist das Ideal eines Zusammenlebens, das dem einzelnen das Optimum seiner Lebenserfüllung schenkt. Sie ist eine Leitvorstellung, die zugleich das Wohlergehen des Ganzen im Blick hat." (Psalmen 51-100, 320). 623 Mit B. RENAUD kann man dieses Verständnis von nplü durchaus in die Nähe des Begriffs und Motivs des göttlichen Segens rücken (vgl. Ps 24,5), vgl. ders., De la bénédiction du roi à la bénédiction de Dieu (Ps 72), Bibl 70 (1989), 305-326 (315f). 624 Auch wenn die „Armen und Elenden" zumindest in nachexilischer Zeit nicht mehr eine primär soziale, sondern eine religiöse Kategorie darstellen und als Vertreter des angefeindeten und angefochtenen wahren Israels gelten, bleibt die konkret soziale Dimension dieser Größen gerade im Kontext der Rede vom Königtum bestehen. Es ist die ureigenste Aufgabe des Königs, die göttliche Gerechtigkeit zur Geltung zu bringen, indem er den Armen und Elenden, den Besitzlosen und Unterdrückten einer Gesellschaft zu ihrem Recht verhilft.

8. Die messianische Hoffnungsvision: Ps 72

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die Nathansverheißung vom ewigen Bestand der davidischen Dynastie (2. Sam 7,16) im Blick hat. V.6 vergleicht die Person des Königs bzw. seine Herrschaft mit dem Regen, der es der Erde ermöglicht, ihren Ertrag zu bringen. Dementsprechend wird in den Tagen seines Regierens der Gerechte (p'HS) Frucht bringen und Fülle des Heils (Dl1?!!? m ) herrschen (V.7). Wie schon in V.l-4 verschmelzen auch hier das Wohlergehen von Natur und menschlicher Gesellschaft. Die Vorstellung, dass der König aufgrund seiner Verbindung zur Gottheit auch für die Fruchtbarkeit der Natur verantwortlich ist, ist im Alten Orient durchaus verbreitet.625 Betrachtet man Ps 72 jedoch nicht nur als Einzeltext, sondern in seiner Funktion als Schlusstext des zweiten Davidpsalters, so fällt auf, dass das Thema Regen und Fruchtbarkeit der Erde innerhalb dieser Teilsammlung schon an anderer Stelle, nämlich in Ps 65-68, eine wichtige Rolle spielt. Allerdings ist es dort nicht der König, sondern Gott selbst, der in Anlehnung an die kanaanäische Mythologie als Regenbringer und Garant von Fruchtbarkeit beschrieben wird (vgl. Ps 65,10-14; 67,7; 68,10).626 Hier ergibt sich eine signifikante Verbindung zwischen Ps 72 und der Psalmengruppe Ps 65-68, die gleichzeitig mit einer ebenso signifikanten Veränderung verbunden ist. Wenn also am Ende des zweiten Davidpsalters die Person des Königs an die Stelle Gottes tritt, so deutet sich hier eine Akzentverschiebung an, die der näheren Auswertung und Erläuterung bedarf (vgl. Kap. III.8.2). Der Abschnitt V.8-11 ist dem Verhältnis zwischen dem König und den Völkern gewidmet. Selbst seine Feinde (V.9) müssen die Herrschaft dieses durch Recht und Gerechtigkeit herrschenden Königs anerkennen und ihm huldigen. Dabei nimmt der Text Bezug auf verschiedene andere, prophetische Verheißungen. So zitiert der Psalmist, wenn er in V.8 die erhoffte Ausdehnung des Herrschaftsbereiches des Königs beschreibt, Sach 9,10b. Bedeutsam für das Verständnis von Ps 72 ist dabei jedoch nicht nur das explizite Zitat, sondern der gesamte Kontext von Sach 9,9f, der mit diesem Zitat mitklingt.627 625

Vgl. hierzu z.B. den von M. Arneth mit Blick auf Ps 72 ausführlich analysierten und ausgewerteten „Krönungshymnus Assurbanipals" (SAA 111,1 1, Z.20), vgl. ders., „Sonne der Gerechtigkeit", 57ff. 626 R. KESSLER weist in diesem Zusammenhang daraufhin, dass die Übertragung der Herrschergewalt Gottes über die Fruchtbarkeit des Landes auf den König auch jenseits des Sprachstils der Königsideologie reale Anhaltspunkte hat. So trägt der König durchaus Verantwortung für das Gedeihen der Ernte, z.B. indem er wie David den Ursachen einer Hungersnot auf den Grund geht und diese beseitigt (vgl. 2. Sam 21,1-14) oder indem er wie Josef als Bevollmächtigter des Pharao politische Maßnahmen ergreift, um eine Hungersnot zu verhindern (vgl. Gen 41,14-57), vgl. ders., Gott und König, Grundeigentum und Fruchtbarkeit, ZAW 108 (1996), 214-232 (225ff). 627 Vgl. E. ZENGER, „SO betete David...", 69f.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Auch die Herrschaft des dort erwarteten Königs ist auf mbtf (Heil, Frieden Sach 9,10a, vgl. Ps 72,3.7) ausgerichtet. Erreicht wird diese Herrschaft jedoch nicht durch die gewaltsame Unterwerfung der Völker (vgl. Ps 2; 110), sondern vielmehr durch den Verzicht auf alle Kriegswerkzeuge und Machtsymbole wie Streitwagen und Kriegspferd. Dieser Friedenskönig aus Sach 9 ist nicht der strahlende, mit Glanz und Reichtum ausgestattete Held (vgl. Ps 45), sondern ist selbst ein Elender, ein Übertragen auf den Zusammenhang von Ps 72 bedeutet dies, dass der König Richter und Retter der Armen sein kann, weil er selbst ein Armer ist. Weniger harmonische Töne schlägt V.9 an, wenn es heißt, dass die Feinde des Königs sich vor ihm beugen und den Staub lecken sollen.628 Diese stärker auf Unterwerfung als auf freiwillige Anerkenntnis abzielende Vision dürfte auf die Passage Mi 7,14-17 anspielen, in der Gott aufgefordert wird, sein Volk als königlicher Hirte zu weiden, damit die Völker zitternd und bebend seine Herrschaft anerkennen.629 Eine Art Völkerwallfahrt aus den entlegendsten Ländern der Erde scheint auch V.10 vor Augen zu haben. Die in V.10 genannten Orte legen es nahe, in diesem Zusammenhang an die in Jes 60 verheißene Völkerwallfahrt zum Zion zu denken. Aber auch im unmittelbaren Kontext von Ps 72 findet sich das Motiv von Königen, die aus fernen Ländern Gaben als Tributleistung bringen (vgl. Ps 68,30.32). Allerdings gelten die beschriebenen Gesten der Unterwerfung und Ehrerbietung in Ps 68 ebenso wie in Jes 60 nicht dem König, sondern Gott bzw. der „Tochter Zion" als der Geliebten des königlichen Gottes JHWH. Den Grund für die Huldigung der Völker liefert der folgende Abschnitt V. 12-14. Eingeführt mit einem begründenden "O, beschreiben diese Verse den König parallel zu V.l-4 erneut als Retter der Armen und Elenden. Im Vergleich zu V . l ^ ruht die Betonung in V. 12-14 jedoch verstärkt auf der persönlichen Anteilnahme des Königs am Geschick der Armen und Elenden. Er hört ihren Hilfeschrei (V.12) und erbarmt sich ihrer (V.13); ihr Blut, d.h. ihr Leben ist ihm kostbar. Das rettende Handeln des Königs wird hier in einer Terminologie beschrieben, die in den Psalmen sonst für das Reitlings- und Erlösungshandeln Gottes gegenüber dem klagenden Beter verwendet wird (im unmittelbaren Kontext von Ps 72 vgl. bs: - „retten": Ps 70,2; 71,2.11; „helfen": Ps 69,1.14.30.36; 71,3; 'PN: - „auslösen": Ps 69,19).630 Als Sachwal628

Vgl. zu diesem Motiv die bei O. KEEL wiedergegebenen ikonographischen Darstellungen aus ägyptischen Grabkammern (Welt der altorientalischen Bildsymbolik, 282ff). 629 Plausibel erscheint die Erklärung hierzu von E. ZENGER: „Dieses Gebet, das die Geschichte Israels und die der Völkerwelt eschatologisch zusammenbindet, soll als eingespielter Kontext' in Erinnerung halten, dass der eigentliche König der Völker JHWH als der gemeinsame Gott Israels und der Völker ist." („So betete David...", 70). 630 Zu V.14b vgl. Ps 116,15: Kostbar ist in den Augen JHWHs der Tod seiner Frommen.

8. Die messianische Hoffhungsvision: Ps 72

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ter und Vollstrecker der Gerechtigkeit Gottes auf Erden übernimmt der König diese Aufgabe der Fürsorge, die als Erlösung aus Bedrückung und Gewalt konkretisiert wird (V.14a). Der Abschnitt V.15-17ab beschäftigt sich erneut mit dem Thema der Fruchtbarkeit des Landes (vgl. V.5-7). Wie in V. 5-7 wird auch hier dieser Gedankengang eingeleitet durch den Wunsch eines langen Lebens für den König (V.15, vgl. V.5). Die Verbindung der Ausdrücke satf nnro ib-jrri „man gebe ihm von dem Gold Schebas"; "PDn Hl/3 bborpl - „man bete immerfort für ihn"; i m m r r o r r r b n - , j e d e n Tag wünsche man ihm Segen", die die Aufgabe der Untertanen des Königs beschreiben, macht deutlich, dass auch die in V.10 erwähnten Tributgaben, auf die in V.15a rückgreifend Bezug genommen wird, Ausdruck der Fürbitte und des Segenswunsches für den König sind. Durch den Segen wird „mit dem wirksamen Wort des Wunsches dem König Dlbtf und nptü" 631 zugeführt. Der so gesegnete König ist seinerseits ein Segen für das Land. Während V.6 den Fruchtbarkeit ermöglichenden Regen mit dem Wirken des Königs in Verbindung brachte, nimmt V. 16 die Folgen dieser Fruchtbarkeit in den Blick. Das Korn gedeiht in Fülle, selbst die Berggipfel sind von Getreide bedeckt, das der Wind wie die Wälder des Libanon zum Rauschen bringt. V.17ab knüpft noch einmal an V.5.15 und den Wunsch nach einem langen Leben für den König an. Allerdings ruht der Akzent dieses Mal auf dem königlichen Namen, d.h. auf seinem Thronnamen als der Zusammenfassung seines Regierungsprogramms.632 So wie die Frucht des Landes soll auch der Name des Königs wachsen vor der Sonne.633 V.17cd nimmt noch einmal die Völker in den Blick (vgl. V.8—11). Im Namen des seinerseits gesegneten Königs (vgl. V.15) sollen sich alle Völker Segen wünschen. Sie, die sich nach V.8-11 dem König unterwerfen und ihm Tributgaben bringen sollen, werden ihrerseits von der Regierung dieses Königs profitieren. Die Anspielung auf die Abrahamsverheißung Gen 12,3 weist dem König eine herausragende Rolle innerhalb der mit Abraham begonnenen Geschichte zwischen Israel und den Völkern zu. Entsprechend der Zusage an Abraham, dass aus ihm Könige hervorgehen werden (Gen 17,6), tritt der König das Erbe Abrahams an;634 in ihm erneuert 631

H.-J. KRAUS, Psalmen II, 661.

632

Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 3 2 6 .

633

Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER: „Möglicherweise spielt V 17ab auf den ägyptischen Brauch an, den Thronnamen des neu inthronisierten Königs rituell auf die Blätter des IschedBaumes zu schreiben, um ihn so auf .magische' Weise an der Vitalität dieses heiligen Baumes teilhaben zu lassen." (a.a.O., 327). 634 Vgl. G. RAVASI: „Le nazioni riconosceranno la beatitudine del re di Sion perché in lui la presenza efficace de Dio è all"opera. D'altra parte l'allusione alla benedizione di Abramo fa sì che il re de Gerusalemme sia visto come l'erede legittimo della storia della salvezza solennemente inaugurata con Abramo" (Salmi II, 487).

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

und bewahrt Gott seine Verheißung, nach der Israel und die Völker zusammengeführt werden sollen.635 Die Ps 72 abschließenden Verse 18-19 bleiben dem Thema des Segens treu. Allerdings gilt diese Benediktion nun nicht mehr dem König, sondern JHWH Elohim, dem Gott Israels. Auf diese Weise wird die in V.l bereits anklingende theozentrische Ausrichtung des Psalms vom Ende her noch einmal verstärkt. Auch wenn der Text primär um die Person und das Wirken des Königs kreist, wird hier doch deutlich, dass seine Herrschaft ganz und gar im Dienste der Königsherrschaft Gottes steht, der allein Wunder tut und dessen Herrlichkeit die Erde erfüllt. Der erste Teil der Segensformel (V.l8) spricht JHWH als den Gott Israels an, der in der Geschichte seines Volkes Wunder (nrnbai) wirkt.636 Der zweite Teil (V.19) preist in der Sprache und Vorstellungswelt der Jerusalemer Tempeltheologie die in seinem - in V.l8 bewusst eingefügten - Namen (Dtp) und in seiner Herrlichkeit ( 1 1 3 2 ) manifest werdende Gegenwart Gottes. Dass V.18f zu den sog. Schlussdoxologien gehört, die durch ihre Stellung jeweils am Ende von Ps 41; 72; 89 und 106 die Fünfteilung des Psalters begründen und dementsprechend ihren Ort und ihre Bedeutung auf der Ebene der Schlussredaktion des Psalters haben, dürfte unstrittig sein. Dieser Tatsache soll an anderer Stelle noch ausführlicher nachgegangen werden (vgl. Kap. VI.2). Was jedoch den vorliegenden Kontext des zweiten Davidpsalters angeht, so fällt auf, dass das Thema des Segens und insbesondere die abschließende Segensformel in V.18f Ps 72 mit der Psalmengruppe 6568 verbindet. Die Formulierung •TI'PN "|nn - „Gesegnet sei Gott" schließt nicht nur Ps 72, sondern auch Ps 66 und 68 ab, so dass hier eine enge Beziehung zwischen dem Schlusspsalm und der vorletzten Psalmengruppe des zweiten Davidpsalters entsteht.637 8.2 Psalm 72 im Kontext seiner

Nachbarpsalmen

Diese letzte Beobachtung passt in das Bild, das sich durch die Untersuchung von Ps 72 ergeben hat. Auch an anderen Stellen konnten dabei auffallige Verbindungslinien zwischen Ps 72 und Ps 65-68 festgestellt werden, die hier noch einmal zusammenfassend dargestellt werden sollen. Zum einen ist hier das Thema der Fruchtbarkeit des Landes zu nennen, das sowohl in Ps 65,10-14 und 67,7 als auch in Ps 72,6f.l6 begegnet. Zum ande635

Vgl. E . ZENGER, „SO betete David...", 69. Im Kontext von Ps 72 entsteht hier durch das Stichwort „Wunder" eine Verbindungslinie zu Ps 71,17. 637 Auf diesem Hintergrund kann die Frage gestellt werden, ob das Phänomen der sog. Schlussdoxologie, die die einzelnen „Bücher" des Psalters abschließt, seinen Ursprungsort nicht hier am Ende des zweiten Davidpsalters hat und von dort aus für die übrigen Teilbereiche des Psalters übernommen wurde. 636

8. Die messiartische Hoffimngsvisiort: Ps 72

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ren widmen sowohl Ps 65,9; 66,1-4.8; 67,3-6.8 und 68,30.32f als auch Ps 72,8-11.17c.d dem Verhältnis zu den Völkern ihre Aufmerksamkeit. Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es zwischen Ps 65-68 und Ps 72 jedoch eine signifikante Akzentverschiebung. Während in Ps 65-68 Gott als Regenbringer und Garant von Fruchtbarkeit gilt, wird eben diese Wirkungsweise in Ps 72 dem König zugesprochen. Ebenso gelten die Unterwerfungsgesten, die Tributgaben und der anerkennende Lobpreis der Völker in Ps 65-68 allein Gott, in Ps 72 dagegen dem König. Liest man Ps 65-68 und Ps 72 als eine zusammengehörige Einheit, so drängt sich der Eindruck auf, dass hier grundlegende Aufgaben und Würden des göttlichen Königs auf den irdischen König übertragen werden. Die Grenze zwischen dem Königtum Gottes und dem irdischen Königtum, die in den Einzelpsalmen für gewöhnlich sehr genau gewahrt bleibt, scheint hier durchlässig zu werden. Sollte die alttestamentliche Rede vom Königtum, die immer sehr genau zwischen Gott und König und damit zwischen Gott und Mensch zu unterscheiden wusste, mit dieser Psalmenkomposition ihren Prinzipien untreu werden? Angesichts dieser Frage sollten folgende Erwägungen nicht unbeachtet bleiben: 1. Durch die theozentrische Ausrichtung der Benediktion V.18f, die Ps 72 mit Ps 66 und 68 verbindet, wird die Königsorientierung von Ps 72 an die Theozentrik der Psalmengruppe 65-68 rückgebunden. Der König steht im Dienste Gottes, dessen Herrlichkeit die ganze Erde durchdringt (V.19). Die beiden Handlungsweisen Recht und Gerechtigkeit, durch die der König diesen Dienst erfüllt, sind Gaben Gottes. Er ist der wahrhaft Handelnde, der Gott Israels, der allein Wunder tut (V.18). 2. Die jüngere Auslegungsgeschichte von Ps 72 ist durch die Frage bestimmt, ob der Text messianisch zu verstehen sei oder nicht.638 Die religionsgeschichtlich orientierte Forschung hat gegenüber der kirchlichen, aber auch der jüdischen Deutung639 des Psalms auf den idealen König der Endzeit hin die gemein-altorientalische Prägung von Ps 72 betont und den „Sitz im Leben" im Kontext von Inthronisation und Königsjubiläen verortet. Die Wünsche und Erwartungen des Textes gelten dementsprechend dem real existierenden König und nicht einer erhofften, zukünftigen Heilsgestalt. In der Tat dürfte die Grundfassung von Ps 72 ihren Ort in vorexilischer Zeit haben, als es in Israel noch ein Königtum gab, das den entsprechenden Hoftheologen Anhalt und Anlass für die Formulierung einer solch glanzvollen Vision bot. Die erwähnten Bezüge zur Prophetie Deuterosachaijas und Tritojesajas, zu der nachexili638

Einen kurzen Überblick über die Auslegungsgeschichte von Ps 72 bietet E. ZENGER, „So betete David...", 57FF. 639 Vgl. u.a. Midrasch Tehellim zu Ps 72,1: „Deine Richtersprüche verleihe dem König. Damit ist der König Messias gemeint, wie es heißt: »Und es wird eine Rute aus dem Stamm Isai ausgehen ... und er richtet mit Gerechtigkeit die Armen« (Jes 11,1.4)".

288

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

sehen Heilsankündigung Mi 7,14-17640 sowie zu der ebenfalls nachexilisch zu datierenden Abrahamsverheißung Gen 12,3 legen es jedoch nahe, von einer nachexilischen Bearbeitung dieser Grundfassung auszugehen, die mit V.811.15.17cd die universale Dimension des Königtums in den Psalm eingetragen haben dürfte.641 Die insbesondere in exilisch-nachexilischer Zeit entstandene Hoffnung auf eine zukünftige Heilsgestalt, deren Herrschaft von Frieden und Gerechtigkeit und einer universalen Ausdehnung geprägt ist, hat ihre Spuren in Ps 72 hinterlassen, indem sie einen durch den altorientalischen Hofstil ohnehin vorhandenen Verheißungsüberschuss aufnahm und intensivierte. Wenn auch schon die vorexilische Königsideologie von einem konkreten, gegenwärtigen König eine durch Recht und Gerechtigkeit geprägte Ausübimg seines Amtes und eine besondere Fürsorge für die Armen und Elenden erwartete, so sind gerade diese Eigenschaften und Handlungsweisen kennzeichnend auch für den messianischen Herrscher, wie er u.a. in Jes 9,1-6; 11,1-5 oder Jer 23,5f beschrieben wird. Durch die universale, auf eine zukünftige Heilszeit ausgerichtete Dimension der Nachträge in V.8-11.17cd erhalten auch die übrigen Aussagen von Ps 72 einen Klang, in dem die Hoffnungen der klassischen messianischen Weissagungen des Alten Testaments mitschwingen.642 Das aber bedeutet, dass die Redaktion, der Ps 72 seine jetzige Stellung als Schlusspsalm des zweiten Davidpsalters verdankt, diesen Text als eine messianische Hoffnungsvision gelesen haben dürfte. Unter diesem Blickwinkel er640

641

V g l . F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 314.

Von einer vorexilischen Grundfassung und einer V.8-11.15.17cd umfassenden Erweiterungsschicht gehen auch M. ARNETH, „Sonne der Gerechtigkeit", 29ff, sowie F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER (Psalmen 51-100, 312ff) aus, vgl. auch die dort dargestellten literarkritischen Beobachtungen. Die Erweiterungen gehen nach Auffassung von Hossfeld / Zenger auf diejenige Redaktion zurück, die den messianischen Psalter Ps 2-89 geschaffen hat. Gegen diese Annahme ist jedoch einzuwenden, dass die beiden von der messianischen Redaktion als Rahmen an den Anfang und das Ende ihrer Komposition gesetzten Königspsalmen 2 und 89 die Völkerthematik nicht in der Weise thematisieren, wie es in Ps 72,8-11.15.17cd der Fall ist. Diese beiden Psalmen sind vielmehr durch das Thema des Vater-Sohn-Verhältnisses zwischen Gott und König (Ps 2,7; 89,39.52) sowie das Thema der Überlegenheit des Königs über seine Feinde bzw. den Verlust dieser Überlegenheit geprägt (vgl. C. RÖSEL, Die messianische Redaktion, 90). Diese thematischen Schwerpunkte finden sich wiederum in Ps 72 in dieser Form nicht. Die Erweiterungsschicht V.8-11.15.17cd dürfte dementsprechend eher auf die Redaktion zurückgehen, die den zweiten Davidpsalter Ps 51-72 in seiner Grundgestalt (d.h. ohne Ps 53; 58; 60; 69-71) geschaffen hat. 642 Vgl. H.-J. KRAUS: „Die wirksamen Wunschworte [des Ps 72 - Ergänzung d. Verf.] tendieren hin zu einer Erwartung, zu einer Heilshoflhung, die im Alten Testament auch in den messianischen Weissagungen hervortritt. Auch wenn sich die Wünsche des Ps 72 nach Form und Gattung von den Weissagungen erheblich unterscheiden, so tritt doch auch in ihnen die prophetische Schau hervor. Prophetie sieht die Weltwirklichkeit im letzten Licht Gottes. Der Sänger des Ps 72 schaut einen König, der so herrscht und hilft, wie der Gott Israels es nach dem Zeugnis des Alten Testaments getan hat und tut." (Psalmen II, 662).

8. Die messianische Hoffnungsvision: Ps 72

289

scheint jedoch die Überschreitung der Grenze zwischen himmlischem und irdischem Königtum, die durch die Zusammenstellung von Ps 65-68 und Ps 72 entsteht, weniger gravierend. Verfugte schon der gewöhnliche König über eine gewisse Anteilgabe am Wesen Gottes,643 so gilt dies umso mehr für den erwarteten und erhofften messianischen Herrscher. Dieser ist Teil der universalen Herrschaft Gottes und erhält beinahe uneingeschränkten Anteil am Wesen und Wirken Gottes (vgl. Jes 9,1-6). So ist es dann auch nicht verwunderlich, wenn diese zukünftige Idealgestalt im Duktus von Ps 65-68 und 72 Aufgaben und Wirkungsweisen Gottes übernimmt, indem er die Fruchtbarkeit des Landes garantiert und für die Völker, die in ihm die Herrschaft Gottes anerkennen, zum Segen wird. Obwohl es also zahlreich Bezüge zwischen Ps 65-68 und Ps 72 gibt, wird die Abfolge dieser Psalmen durch Ps 69-71 unterbrochen. Auch mit diesen drei Psalmen ist Ps 72 durch Stichwort- und Themenbezüge verbunden. Zu nennen sind hier das besondere Interesse an der Gruppe der Armen und Elenden und die nachdrückliche Betonung der Gerechtigkeit Gottes. Sehr viel auffälliger und aussagekräftiger sind jedoch die beobachteten thematischen Parallelen zwischen Ps 72 und der Psalmengruppe 65-68. Angesichts dieser Parallelen legt sich die Vermutung nahe, dass Ps 72 ursprünglich direkt auf Ps 65-68 folgte und Ps 69-71 erst später, wohl im Zuge der Zusammenstellung des elohistischen Psalters mit dem ersten Davidpsalter (Ps 3-41), eingefugt wurden (vgl. Kap. III.7.4.3). Durch die Einfügung dieser Psalmen, in deren Mittelpunkt das Ergehen des leidenden Gerechten steht, ergibt sich auch in Hinblick auf Ps 72 eine nicht unbedeutende Akzentverschiebung. Die Gestalt des messianischen Königs und die des leidenden Gerechten, in dessen Geschick sich auch das Schicksal des exilierten Volkes widerspiegelt, werden hier in unmittelbare Nähe zueinander gerückt. Der in Ps 72 erhoffte König wird seiner der altorientalischen Königsideologie entsprechenden Hoheit und Pracht weitgehend entkleidet und nimmt Züge eben dieses leidenden Gerechten an. In diesem spannungsvollen Zusammenspiel von Ps 69-72 entspricht der erwartete Herrscher am ehesten dem Bild der messianischen Weissagung Sach 9,9f, auf die auch Ps 72,8 anspielt und in der der König als arm, hilfsbedürftig und ganz und gar auf die Hilfe Gottes angewiesen erscheint.

643

Nach Ps 21,6 verleiht Gott dem König Anteil an seinem Wesen, indem er ihm Hoheit ("Tin) und Pracht ( T i n ) verleiht, vgl. H. SPECKERMANN: „Kleidet sich Jahwe nach Ps 104,1 in Tin und " n n , so gibt er nach Ps 21,6 gleichsam Herrschergewänder an den König ab, indem er nun ihm ~nn und H i n anlegt." (Heilsgegenwart, 214).

290

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

9. Zusammenfassung: Die Komposition der zweiten Davidpsalmengruppe Im Folgenden sollen die zu den einzelnen Kleingruppen des zweiten Davidpsalters gemachten Beobachtungen hinsichtlich ihrer Entstehung und ihres theologischen Profils zusammengefasst und ausgewertet werden, um so ein Gesamtbild des Wachstums und der verschiedenen theologischen Aussageebenen des zweiten Davidpsalters zu ermitteln. Zu diesem Zweck sollen zunächst in einem ersten Abschnitt (1.9.1) die einzelnen Schritte des Wachstums des zweiten Davidpsalters nachgezeichnet werden. In einem zweiten Abschnitt (1.9.2) werden sodann noch einmal auf synchroner Ebene die einzelnen Stationen des inhaltlichen Spannungsbogens des vorliegenden Endtextes von Ps 51-72 nachvollzogen. 9.1 Entstehung und Wachstum der zweiten Davidpsalmengruppe Neben den durch gemeinsame Angaben zur Liedart in den Überschriften konstituierten Kleingruppen (Ps 52-55; 56-60; 61-64; 65-68) können im zweiten Davidpsalter zwei Teilbereiche oder Blöcke unterschieden werden: 1. In der ersten, aus den Kleingruppen Ps 52-55 und 56-60 bestehenden Hälfte des zweiten Davidpsalter bilden Psalmen mit biographischen Überschriften einen Schwerpunkt (Ps 52; 54; 56; 57; 59; 60). Es ist anzunehmen, dass dieser an der Biographie Davids orientierte Teil (zunächst ohne Ps 53; 55; 58; 60) von einer Hand zusammengestellt wurde. Zu diesem Zweck wurden bereits vorhandene, teilweise vorexilische Texte (Ps 52; 54; 57; 59) aufgrund inhaltlicher und sprachlicher Gemeinsamkeiten, die zusätzlich redaktionell verstärkt wurden,644 zusammengestellt und mit biographischen Angaben versehen, die diese Texte mit Situationen existenzieller Gefahrdung im Leben der Idealgestalt David verbinden. Die so entstandene, aus fünf Psalmen (Ps 52; 54; 56; 57; 59) bestehende Komposition diente in frühnachexilischer Zeit645 der Meditation und Erbauung sowie der Einweisung in grundlegende Glaubens- und Lebenshaltungen. Zusammen mit David als dem exemplarisch Leidenden und Verfolgten kann der Beter bzw. Leser einen spirituellen Erfahrungsweg beschreiten, der ihn durch Leid, Verfolgung und Zweifel hindurch zu wachsender Zuversicht und Vertrauen auf Gott fuhrt. 644 Vgl. z.B. die Entsprechung von Ps 52,11 und 54,8b oder die vermutlich in Anlehnung an Ps 56,4f// 1 Off geschaffenen Kehrverse in Ps 57,6 //12 und Ps 59,10 //18. 645 Eine frühere zeitliche Ansetzung dieser Komposition - etwa in exilischer Zeit (so F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER mit Blick auf die gesamte Grundfassung des zweiten Davidpsalters, vgl. Psalmen 51-100, 29f) - dürfte angesichts von Ps 56, der anders als die übrigen Texte kaum in vorexilischer Zeit datiert werden kann (vgl. Kap. III.4.1), aber konstitutiver Bestandteil der Komposition ist (vgl. Kap. III.4.6.2) kaum möglich sein.

9. Zusammenfassung: Die Komposition der zweiten

Davidpsalmengruppe

291

2. Die Kleingruppen 61-64 und 65-68, die durch eine gemeinsame Angabe zur Liedart (~PE>) verbunden werden, bilden einen zweiten Teilbereich, der durch die Vorstellung vom Königtum Gottes sowie durch eine deutliche Bewegung von der Klage hin zum Lob geprägt ist. Auch hier wurden bereits vorhandene Texte aufgrund thematischer und sprachlicher Gemeinsamkeiten, die redaktionell verstärkt wurden,646 zu zwei Kleingruppen mit einer jeweils eigenständigen Kompositionsstruktur, die jedoch auch einen übergreifenden Spannungsbogen erkennen lässt, zusammengestellt. Dabei dürfte die erste Kleingruppe (Ps 61-64), die vor allem aus vorexilischen Texten besteht, bereits im Exil (sowohl in zeitlicher als auch in örtlicher Hinsicht) entstanden sein. In einer inneren und äußeren Exilssituation (vgl. Ps 61,3; 63,2) ermöglicht der Rückgriff auf die aus dem Bereich der persönlichen Frömmigkeit647 stammende Erfahrung der Zuflucht bei Gott einen Weg der Krisenbewältigung. Trotz der Zerstörung des Tempels behält offensichtlich die in der Jerusalemer Tempeltheologie beheimatete Zufluchts-Metaphorik ihre Tragkraft und kann in tempelloser Zeit zum Ersatz für das eigentliche Heiligtum werden. Auch wenn der Tempel der ersehnte Ort der Gegenwart Gottes bleibt (Ps 61,5; 63,5), kann nun auch das Innere des Beters bzw. seine Seele, die Stille bei Gott sucht (Ps 62,2.6), die an Gott hängt (Ps 63,9), nach Gott dürstet (Ps 63,2) und sich an ihm sättigt (Ps 63,6), zum Ort der Gottesbegegnung werden. Aus dieser tragenden Erfahrung der persönlichen Gottesbeziehung können Ermutigung, Erkenntnis und neue Hoffhungsperspektiven auch für die Gemeinschaft erwachsen (vgl. den Appell an das „Volk" in Ps 62,9-13). Anders als Ps 61-64 dürften die Psalmen der zweiten Kleingruppe erst in frühnachexilischer Zeit entstanden sein. Die sich bereits in exilischer Zeit ankündigende Verknüpfung von persönlichen Erfahrungen mit Belangen der Gemeinschaft wird intensiviert, die Heilserfahrung des Einzelnen wird zum Deutungsmuster für das Handeln Gottes an seinem Volk (Ps 66). Angesichts der nationalen Unheilserfahrung wird ein deutlicheres Sünden- und Schuldbewusstsein als in vorexilischer Zeit spürbar (Ps 65,3f). In einer Zeit, in der der Wiederaufbau des Tempels zumindest in greifbare Nähe rückt bzw. bereits erfolgt ist, ist auch eine eindeutige Ausrichtung auf Zion und den Tempel wieder möglich (vgl. Ps 65,2 als Eingangsvers der Gruppe Ps 65-68 sowie

646

Vgl. z.B. die Formulierung von Ps 63,12a in Anlehnung an Ps 64,11, das vermutlich in Hinblick auf Ps 65,14 in Ps 67,7 eingefügte Motiv der Ernte oder die Anbindung von Ps 66,1 an Ps 65,14 durch die Wurzel l i n - Jauchzen" sowie das in Ps 65-68 besonders häufig begegnende Motiv des Segens, insbesondere die Ps 66 und 68 abschließende Benediktionsformel (Ps 66,20; 68,36). 647 Zur Bedeutung der „persönlichen Frömmigkeit" für die Bewältigung der Exilserfahrung vgl. R. ALBERTZ, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, ATD.E 8/2, Göttingen 1992,413ff.

292

III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Ps 65,5; 66,13; 68,17.25f.30). Das durch die Katastrophe des Exils erschütterte Vertrauen in das heilsgeschichtliche Handeln Gottes an seinem Volk erhält ein neues Fundament dadurch, dass durch die Verbindung von Mythos und Geschichte auch die Heilsgeschichte die Qualität urzeitlicher und universalgültiger Ereignisse gewinnt (Ps 65 und 66; Ps 68). In der Rede und Vorstellung vom Königtum Gottes kommt zum einen das wiedererlangte Vertrauen in die Macht des Gottes Israels, aber auch das Wissen um die potenzielle Bedrohung dieser Herrschaft zum Ausdruck. Mit der Erfahrung fremder Oberherrschaft bzw. des Daseins in der Diaspora kommt zunehmend auch die Frage nach dem Verhältnis zu den Völkern in den Blick (Ps 67; 68,30.321). Durch die Verbindung der Kleingruppen Ps 61-64 und 65-68 entstand in nachexilischer Zeit eine Psalmenkomposition, in der bereits im Kleinen die Grundbewegung des Gesamtpsalters von der Klage zum Lob vollzogen wird. In einem nächsten Redaktionsschritt wurden Ps 52-59* und Ps 61-68 zur Grundfassung des zweiten Davidpsalters verbunden,648 wobei der hintere Bereich in Anlehnung an den vorderen Teil durch entsprechende Überschriften ausdrücklich davidisiert wurde. Die so entstandene Komposition wurde durch Ps 51 mit einem Prolog und durch Ps 72 mit einem Schluss versehen. Diese beiden Rahmenpsalmen sind durch ihre Überschriften aufeinander bezogen. Ps 72 ist fiir Salomo gesprochen, in der Überschrift von Ps 51 klingt der Beginn der Beziehung Davids zu Salomos Mutter Batseba an. Durch die Voranstellung von Ps 51 erfährt die theologische Ausrichtung des so entstandenen zweiten Davidpsalters eine nicht unwesentliche Korrektur. Auf dem Hintergrund von Ps 51 und seiner Überschrift ist der David der Psalmen 52-64 nicht mehr der ungerecht Verfolgte, sondern der Schuldiggewordene, der seine Leiden selbst auf sich gezogen hat. Die Themen von Schuld und Schuldeinsicht rücken nun zunehmend in den Vordergrund. Mit Ps 72 erhält die Komposition eine messianische Hoffnungsperspektive. Während also Ps 51 vor allem den biographisch orientierten Teilbereich Ps 52-59* im Blick hat, fuhrt Ps 72 den zweiten Teil und dabei insbesondere die durch die Vorstellung vom Königtum Gottes geprägte Gruppe Ps 65-68 zum Ziel. Im Zuge der Anfügung von Ps 72 648 F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER gehen dagegen von einer Zusammenstellung des Grundbestandes des zweiten Davidpsalters in einem Zuge aus. Dieser Grundbestand der ältesten, ihrer Auffassung nach in exilischer Zeit entstandenen Sammlung umfasste die Psalmen 52.5457.59.61-68 (Psalmen 51-100, 29). Gegen diese These spricht jedoch die Konzentration der biographischen Überschriften in der ersten Hälfte des zweiten Davidpsalters. Diese Konzentration lässt sich am sinnvollsten erklären, wenn die betreffenden Psalmen zunächst eine Einheit bildeten, die dann mit anderen ebenfalls ursprünglich eigenständigen Kompositionen zusammengestellt wurde. Es ist nicht einsichtig, warum eine Redaktion, die bereits einen Ps 52.54-57.59.61-68 umfassenden Grundbestand des zweiten Davidpsalters vorliegen hatte, jenseits von Ps 60 nur noch einen einzigen Text (Ps 63) mit einer biographischen Oberschrift versehen haben sollte.

9. Zusammenfassung: Die Komposition der zweiten Davidpsalmengruppe

293

dürften auch die mit der Königsthematik befassten Erweiterungen Ps 61,7-8 und Ps 63,12 sowie die Überschrift Ps 63,1 formuliert worden sein. Die so entstandene, vergleichsweise umfangreiche Komposition des zweiten Davidpsalters (Ps 51-72*) hatte ihren Sitz im Leben wohl kaum im nachexilischen Gottesdienst des Zweiten Tempels, sondern - ähnlich wie schon der biographisch orientierte Teilbereich Ps 52-59* - im Bereich der privaten Frömmigkeit, wo sie der Erbauung und Meditation diente. Als der in seinem Grundbestand vorliegende zweite Davidpsalter mit der Gruppe der Asafpsalmen verbunden wurde, wurden die typisch asafitische Themen (vgl. Kap. IV.l) behandelnden Texte Ps 58 und 60 in den vorderen Bereich des zweiten Davidpsalters eingefügt. In einer Zeit, in der manch frühnachexilische Hoffnung auf schnelle Restauration und Konsolidierung der Verhältnisse enttäuscht ist, tragen die Asafiten in den für ihren Geschmack wohl von allzu viel Gewissheit und Zuversicht der persönlichen Frömmigkeit geprägten biographischen Teil des zweiten Davidpsalters ihre Frage nach der Gültigkeit des göttlichen Wortes und nach den Kriterien wahrer Göttlichkeit ein. Eben diese Kriterien sind von Bedeutung auch für die zunehmend wichtiger werdende Verhältnisbestimmung gegenüber den Völkern und ihren Göttern. Nur ein Gott - so die in Ps 58, aber auch in Ps 82 formulierte Botschaft der Asafiten - , der Recht und Gerechtigkeit aufrechterhält und dafür Sorge trägt, dass der Gerechte Frucht findet und die Frevler vergehen, kann den Anspruch erheben, DTI'PK - Gott genannt zu werden. Vermutlich wurden im Zuge der Einfügung von Ps 58 und 60 auch Ps 56 (V.8b) und 59 (V.6.9.12.14) durch eine entsprechende kollektivierende und nationalisierende Perspektive erweitert, um durch das Motiv des göttlichen Gerichts über die Völker eine Verbindungslinie zwischen dem individuellen Blickwinkel von Ps 56; 57 und 59 und der kollektiven Ausrichtung insbesondere von Ps 60 zu schaffen. Da die Asafiten also insbesondere den vorderen Teil des zweiten Davidpsalters bearbeitet haben, ist es kaum verwunderlich, dass sie vor allem in diesen Bereich auch ihre spezifische Namenstheologie bzw. ihren spezifischen Gebrauch des Gottesnamens eingetragen haben.649 Entsprechend ihrer programmatischen Formulierung Ps 50,1 betonen sie die Identität des einen und einzigen Gottes mit dem Gott Israels, indem sie in einzelnen Versen die allgemeine Gottesbezeichnung DTi^N und den Gottesnamen Hin1 ausdrücklich parallel setzen, wobei das Tetragramm in der Regel an zweiter Stelle steht (Ps 55,17; 56,11; 58,7). Darüber hinaus verwenden die Asafiten den Gottesnamen in den sekundären Versen Ps 56,6.9 und unterstreichen durch die Einfügung des Tetragramms in Ps 54,8 die in Ps 54 ohnehin angelegte Namenstheologie. 649 Zur Verteilung der Belege des Tetragramms im zweiten Davidpsalter vgl. Kap. II.2, zur Namenstheologie der Asafiten vgl. Kap. IV. 1.5.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

Ein explizit mit ihrem eigenen Namen verbundenes Vorwort haben die Asafiten der David-Asaf-Komposition mit Ps 50 vorangestellt. Die Ps 50 dominierende, sich in der Kritik an Opferpraxis und ethischem Verhalten explizierende Gerichtsthematik schlägt einen Bogen zu den stark mit der Schuldfrage befassten Asafpsalmen 73-83. Durch diese Rahmung wird die vor allem individuell ausgerichtete Perspektive des zweiten Davidpsalters in die kollektive Orientierung der Asafpsalmengruppe eingebettet und integriert. Diese Integration geschieht insbesondere dadurch, dass Ps 50 durch die enge Verknüpfung mit Ps 51 letzteren für eine kollektive Lesart öffnet.650 Versteht man das Ich von Ps 51 als ein kollektives Ich, so wird Ps 51 zum Schuldbekenntnis des von Gott in Ps 50 angeklagten Volkes. Der in Ps 51 seine Schuld bekennende David wird zum Vorbild für das Volk. Wenn Israel nach der Erfahrung des Exils wie David zur Einsicht in seine Schuld kommt, kann es wie dieser auf Gottes Vergebung und eine grundlegende Neuschöpfung hoffen. Zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt, als der elohistische Psalter als eigenständige Komposition bereits vorlag, wurden im Zuge der Zusammenstellung mit dem ersten Davidpsalter Ps 53 und Ps 69-71 mit dem Ziel in den zweiten Davidpsalter eingefügt, die beiden Gruppen der Davidpsalmen über den „Graben" der ersten Korachpsalmengruppe hinweg an ihrem Anfang und ihrem Ende miteinander zu verknüpfen.651 Vermutlich wurde auch Ps 55 erst 650 Die Verbindung zwischen Ps 50 und 51 ist insbesondere durch das gemeinsame Thema der Opferkritik bedingt. Wahrend diese Thematik in Ps 50 fest im Text verankert ist, wirkt sie im Duktus von Ps 51 jedoch eher ungewöhnlich. Ob die betreffenden Verse Ps 51,18-19 auf die asafitische Redaktion zurückgehen, die Ps 50 dem zweiten Davidpsalter vorangestellt hat, kann jedoch nicht eindeutig entschieden werden (vgl. hierzu die Ausführungen in Kap. III.2.3). Die in jedem Fall sekundären Verse Ps 51,20-21 dürften im Zusammenhang einer übergreifenden Redaktion entstanden sein, die u.a. auch in Ps 69,35-37; Ps 102,14-23.29 und

P s 147 greifbar wird (vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Psalmen 5 1 - 1 0 0 , 4 8 f ) . 651

F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER gehen ebenfalls davon aus, dass Ps 53 und Ps 69-71 erst nachträglich in ihren jetzigen Kontext eingefügt wurden und der Verknüpfimg mit dem ersten Davidpsalter dienen. Allerdings schreiben sie die Einfügung von Ps 53; 69-71 ebenso wie die von Ps 51 und 72 den Asafiten zu, die Ps 52-68* mit den Asafpsalmen 50.73-83 verknüpft haben. Diese hätten dabei inhaltlich auf die bereits bestehende Sammlung des ersten Davidpsalters (Ps 3-41) zurückgegriffen (vgl. Psalmen 51-100, 30f). Diese Annahme wäre allerdings nur dann sinnvoll, wenn die Asafiten das Ziel gehabt hätten, die David-Asaf-Sammlung mit dem ersten Davidpsalter zu einer Sammlung zusammenzustellen. Dem steht jedoch entgegen, dass auch nach dem Modell von Hossfeld / Zenger die Verknüpfung mit dem ersten Davidpsalter erst erfolgte, als der elohistische Psalter bereits als eigenständige Sammlung bzw. Komposition vorlag (vgl. Psalmen 51-100, 32f). Es stellt sich somit die Frage, warum die Asafiten in die eigenständige, noch ohne die Korachpsalmen existierende Komposition der David-Asaf-Psalmen (Ps 50-83*) Texte einfügt haben sollten, die diese mit einer anderen, ebenfalls separat existierenden Sammlung verbinden. Demgegenüber erscheint es sinnvoller, davon auszugehen, dass Ps 53 (und 55) sowie Ps 69-71 erst in den zweiten Davidpsalter eingefügt wurden, als dieser bzw. der gesamte elohistische Psalter (inklusive der zweiten Ko-

9. Zusammenfassung: Die Komposition der zweiten Davidpsalmengruppe

295

im Kontext der Einfügung von Ps 53 als zusammenfassender Rückblick auf Ps 52-54 geschaffen und in den zweiten Davidpsalter eingefügt. Durch die nachträgliche Einfügung von Ps 53; 58 und 60 in den biographischen Teil des zweiten Davidpsalters war dieser Bereich erheblich angewachsen, so dass sich eine Teilung in zwei Kleingruppen bzw. Kompositionsbögen nahe legte. Diese Teilung wurde zum einen durch die unterschiedlichen Angaben zur Liedart in den Überschriften markiert, zum anderen eben durch Ps 55, der als zusammenfassender Rückblick und Interpretationshilfe in Hinblick auf die erste Kleingruppe Ps 52-54 (55) fungiert. 9.2 Der Spannungsbogen von Ps (50) 51-72 Abschließend soll nun noch einmal auf synchroner Ebene der Spannungsbogen des zweiten Davidpsalters in seiner vorliegenden Endgestalt mit seinen einzelnen Stationen abgeschritten werden. Der Leser bzw. Beter, der den zweiten Davidpsalter durch den „Vorhof' von Ps 50 betreten hat, hat zum einen den hermeneutischen Schlüssel in die Hand bekommen, die nun folgenden Individual-Psalmen auch in Hinblick auf die Erfahrungen und das Schicksal des Volkes zu lesen, zum anderen ist er eingewiesen in die grundsätzliche Lebens- und Gebetshaltung, nach der Gott denjenigen retten wird, der ihn am Tage der Not anruft (Ps 50,15). Mit dem schuldiggewordenen David, der trotz oder gerade angesichts seiner Schuld in genau dieser Haltung lebt und betet (Ps 51,19), beschreitet der Leser nun einen Weg durch Leid und Verfolgung hindurch zu wachsender Zuversicht. Mit der Kleingruppe Ps 52-55 führt dieser Weg jedoch zunächst zunehmend hinein in die Klage. Aus dem selbstbewussten David, der die Konfrontation mit dem Bösen, das ihm begegnet, nicht scheut (Ps 52), wird zunehmend ein angesichts der Verderbtheit der „Menschenkinder" (Ps 53) desillusionierter Klagender, der der Hilfe und Unterstützung durch seinen Gott bedarf (Ps 54). Seine Erfahrung einer andauernden Flucht und fortgesetzten Verrates bringt dieser Verfolgte in einer eindrücklichen und umfangreichen Klage (Ps 55) vor seinen Gott. In der zweiten Kleingruppe (Ps 56-60) begegnet auf der Ebene der biographischen Überschriften nach dem verratenen und verfolgten David nunmehr ein David, der sich mit List und Geschicklichkeit seinen Gegnern zu entziehen weiß. Aus der Innenperspektive des „geistlichen Tagebuchs" heraus, das die entsprechenden Psalmen darstellen, wird jedoch deutlich, dass sich der von den Nachstellungen seiner Feinde gezeichnete David nur mühsam von der Furcht zum Vertrauen auf das Wort, die Zusage Gottes

rachpsalmengruppe Ps 84-88*) mit dem ersten Davidpsalter zum sog. messianischen Psalter Ps 2-89 verbunden wurde, vgl. auch Kap. III.7.4.3.

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

durchringen kann. Wenn es David gelingt, durch List und Verstellungskunst seinen Gegnern zu entrinnen, dann nur, weil er im Augenblick der Not auf Gott vertraut und sich in seiner Furcht an ihn wendet (Ps 56). Obgleich von verleumderischen Feinden bedrängt, hält er im Vertrauen auf die Güte Gottes an der Überzeugung fest, dass er allein bei Gott Zuflucht und Schutz findet. Im Wissen darum, dass Gott als der Herrscher der Welt auch dem Treiben seiner Feinde eine Grenze setzen wird, sieht er in der Nacht der Gefahr und des Unheils dem Rettung bringenden Morgen entgegen und bekennt singend und spielend sein Vertrauen auf Gott (Ps 57; 59). In diesem Vertrauen auf Gott hat der Mut, aber auch der Großmut Davids gegenüber seinen Gegnern ihren Ursprung und inneren Grund. Eingebettet und aufgefangen in das Bekenntnis zu dem rettenden und Zuflucht gewährenden Handeln Gottes (Ps 57; 59) ertönt in Ps 58 der Schrei nach Recht und Gerechtigkeit. Nur ein Gott, der Recht und Gerechtigkeit aufrechterhält und dafür Sorge trägt, dass der Gerechte Frucht findet und die Frevler vergehen, kann den Anspruch erheben, D T 6 N - Gott genannt zu werden. Die Volksklage Ps 60 ruft am Ende der Kleingruppe Ps 56-60 und in der Mitte des zweiten Davidpsalters noch einmal in Erinnerung, dass diese Komposition trotz ihrer primär individuellen Perspektive auch eine kollektive und nationale Dimension hat. Gegen das in Ps 56 erlangte Vertrauen auf das Wort in Ps 56 steht in Ps 60 die Infragestellung der im Heiligtum ergangenen Rede Gottes. Damit wird die individuelle Erfahrung, dass Gott demjenigen, der auf ihn vertraut, Hilfe und Schutz bietet, auf die harte Probe der nationalen Katastrophe Israels von 587 v. Chr. gestellt. Diese Infragestellung wird jedoch gleichzeitig durch die biographische Überschrift von Ps 60 korrigiert. David begegnet nun nicht mehr als der von Saul und seinen Verbündeten Verfolgte, sondern als siegreicher Feldherr, der trotz Fragen und Zweifeln mit der Hilfe Gottes erfolgreich „gegen Aram-Naharajim und gegen Aram-Zoba" (Ps 60,1) streitet. So wie Gott die Gültigkeit seines Wortes Ps 60,8-11 gegenüber David bewiesen hat, wird er dessen Gültigkeit auch in Zukunft gegenüber seinem Volk beweisen. Der Leser bzw. Beter, der nunmehr in der Mitte des zweiten Davidpsalters angelangt ist, befindet sich in einer eigentümlichen Spannung von Vertrauen und Zweifel. Die nun folgende Psalmengruppe Ps 61-64 beschreibt den Weg aus dieser Spannung heraus zu einer größer werdenden Ruhe und Gelassenheit. Der David dieser Sequenz ist trotz seiner mittlerweile erlangten königlichen Würde noch immer Verrat und Verfolgung ausgesetzt (Ps 63,1). Sein Herz ist kraftlos (Ps 61,3), er gleicht einer eingestoßenen Wand und einer umgestürzten Mauer (Ps 62,4). In dieser Situation erfahrt er Gott als seinen sicheren Felsen und seine uneinnehmbare Burg (Ps 62,3.7). Seine unruhige, dürstende Seele (Ps 62,6; 63,2) gelangt zum Schweigen (Ps 62,2) und wird gesättigt (Ps 63,3). In dieser Haltung der inneren Ruhe kann er trotz der bleibenden Bedrohung durch feindlich gesinnte Menschen deren unaufhaltsamen Fall

9. Zusammenfassung: Die Komposition der zweiten

Davidpsalmengruppe

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konstatieren und die Gerechten und Menschen mit aufrichtigem Herzen zur Freude auffordern (Ps 64). Diese Freude kann ihren Ausdruck nur im Lobpreis Gottes finden, zu dem Ps 63,12 und Ps 64,11 auffordern. Vielstimmig vollzogen wird dieser Lobpreis in Ps 65-68. Gott, der zu Beginn von Ps 61 und 64 eindringlich aufgerufen wird, das Gebet des Psalmisten bzw. Davids zu hören, hat sich tatsächlich als Hörer des Gebets (Ps 65,3; 66,19) erwiesen. Er, der die Mächte des Chaos überwunden und in der Geschichte Israels als Retter und Helfer gehandelt hat, bewahrt auch den einzelnen Beter vor der Übermacht seiner Feinde und gibt seinem Leben Sicherheit und Bestand. Stärker als die individuellen Belange kommen in der Kleingruppe Ps 65-68 jedoch noch einmal die Themen der Gemeinschaft in den Blick. Der Gott, der sich für David als sichere Zuflucht erwiesen hat, wird sich auch für sein Volk als eine solche erweisen. So wie er sich in seinem heilsgeschichtlichen Handeln in der Vergangenheit als Rettung und Hilfe für sein Volk offenbart hat (Ps 66; 68), wird er auch in Zukunft Sorge für dieses Volk tragen und ihm Anteil an seiner Macht gewähren (Ps 68,36). Konkrete Gestalt gewinnt diese Sorge als FürSorge unter anderem in der Fruchtbarkeit des Landes (Ps 65,10-14; 67,7; 68,10f), das seinen Bewohnern reichlich Nahrung schenkt und so zu einer guten Wohnstätte wird. Die Völker haben in diesem System eine ambivalente Rolle. Sie sind Teil der chaotischen Mächte, die die Herrschaft Gottes bedrohen (Ps 65,8; 66,7; 68,13.15.19.22-24.31), müssen letztendlich aber doch diese Königsherrschaft Gottes erkennen und anerkennen und ihm im Lobpreis huldigen (Ps 65,9; 66,1^1.8; 67; 68,30.32-33). Anders, als es die Aufforderungen und Ankündigungen von Ps 65-68 erwarten lassen, wird dieser Lobpreis jedoch nicht etwa in der Schlussgruppe Ps 69-72 vollzogen. Vielmehr intensivieren diese vier Psalmen eine bereits im ersten Teil des zweiten Davidpsalters angelegte Dimension, indem sie noch einmal das Bild des unschuldig verfolgten und leidenden Gerechten aufnehmen. Dieser wird von Feinden grundlos (Ps 69,5) bedrängt, die nach seinem Leben trachten (Ps 70,3; 71,10) und sein Unglück suchen (Ps 70,3; 71,13). Er stellt eine Person des öffentlichen Lebens dar, zumindest wird sein Eifer für Gott öffentlich wahrgenommen (Ps 69,10.13; 71,18), und sein Schicksal hat für seine Umgebung zeichenhaften Charakter (Ps 69,7; 71,7). Dieser Eifer wiederum trägt ihm Spott, falsche Anklagen (69,5.12f; 70,4) und Einsamkeit bis hin zu akuten körperlichen Leiden (Ps 69,4.9) ein. Dennoch erblickt er in Gott seine Hilfe und Rettung (Ps 70,2.6; 71,2.12) und appelliert an Gottes helfende Gerechtigkeit (Ps 69,28; 71,2.15.16.19.24). Diese Darstellung rückt den Beter in Ps 69-71 in die Nähe der Gestalt des leidenden Gerechten, wie er sich z.B. in der Person Jeremias oder des deuterojesajanischen Gottesknechtes konkretisiert. Auf der Ebene des vorliegenden Endtextes des zweiten Davidpsalters erhält somit auch David die Züge eben dieses leidenden Gerechten. Insbesondere in Ps 69 und 71 steht dieser mit seinem Leiden, aber auch mit

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III. Die zweite Gruppe der Davidpsalmen

seiner Hoffnung und seinem Vertrauen auf Gott stellvertretend für das exilierte Volk. So wie der Gottesknecht in der deuterojesajanischen Verkündigung zur Identifikationsfigur für das Volk wird, wird nun auch David in Ps 69-71 endgültig zum Vorbild und Hoffnungsträger nicht nur für den Einzelnen, sondern für das ganze Volk. Ps 72 schließlich stellt im Spannungsbogen des Endtextes des zweiten Davidpsalters das Vermächtnis des alternden David (Ps 71) an seinen Sohn Salomo dar und entwirft die Hoffnung auf eine zukünftige messianische Heilsgestalt, deren Herrschaft als Abbild der in Ps 65-68 verkündigten Königsherrschaft Gottes von Frieden, Gerechtigkeit und einer universalen Ausdehnung geprägt ist.

Kapitel IV

Die Gruppe der Asafpsalmen Im Gegensatz zu den unter dem Namen Davids gesammelten Psalmen wurde den Asafpsalmen in der Forschung schon immer als einer zusammengehörigen Einheit Beachtung und exegetische Aufmerksamkeit geschenkt. Während die Frage nach formalen und thematischen Ordnungsprinzipien in Hinblick auf andere Teilgruppen des Psalters erst in jüngerer Zeit in den Blick kommt und im Detail umstritten ist,1 gibt es einen weitgehenden Konsens darüber, dass die zwölf Psalmen, die durch die Überschrift ^ONb verbunden werden, über formale und inhaltliche Gemeinsamkeiten verfugen. Diese lassen den Schluss zu, dass diese Texte einen gemeinsamen traditionsgeschichtlichen Hintergrund haben und vermutlich auf einen gemeinsamen Sammler- und Verfasserkreis zurückgehen. Es kann im Rahmen dieses Überblickkapitels keine ausführliche Darstellung der Forschungsgeschichte zu den Asafpsalmen erfolgen.2 In aller gebotenen Kttrze lassen sich die Ansätze der neueren Forschung jedoch wie folgt darstellen: M.J. Buss geht davon aus, dass verschiedene Asafpsalmen nordisraelitischer Herkunft sind und vermutet, dass diese sich einer protodtn levitischen Tradition verdanken. Dementsprechend datiert er bis auf die exilischen Texte Ps 74 und 79 alle Asafpsalmen in vorexilische Zeit. Der Sinn und Zweck der Sammlung dürfte seiner Auffassung nach in der religiösen Unterweisung des Volkes gelegen haben.3 Für K.J. Illman hat die gemeinsame Zuweisung zu Asaf durch die entsprechende Überschriftennotiz keine Relevanz. Sein Interesse gilt vielmehr den terminologischen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Asafpsalmen. Obwohl er einige Verbindungslinien feststellt, die ihre Heimat in der Jerusalemer Tempeltheologie haben, zieht er letztendlich die Schlussfolgerung, dass keine gemeinsame Tradition im Hintergrund dieser Texte steht. Nach einem Vergleich der Asafpsalmen mit dem chronistischen Bericht über die Asafiten kommt er zu dem Ergebnis, dass es auch hier zwar durchaus Ähnlichkeiten, aber keine eindeutige Verbindungslinie gibt.4 H.P. Nasuti nimmt den Ansatz von M.J. Buss auf und kommt aufgrund einer ausführlichen linguistischen Analyse der Texte zu dem Ergebnis, dass hinter den Asafpsalmen eine mit Institutionen wie Kultprophetie, Lade und Heiliger Krieg in Beziehung stehende ephraimitische Tradition steht. Hinsichtlich der zeitlichen Verortung rechnet er mit einer langen Entwicklung seit den Regierungszeiten der Reformkönige Hiskia und Josia bis

1

Vgl. Kap. 1.1.2. Vgl. hierzu den umfangreicheren Überblick bei P. SCHELLING, Asafspsalmen, 9fF; oder bei H.P. NASUTI, Tradition History, 25ff. 3 Vgl. M.J. Buss, The Psalms of Asaph and Korah, JBL 82 (1963), 382-392. 4 Vgl. K.J. ILLMAN, Thema und Tradition in den Asafpsalmen, Abo 1976. 2

300

IV. Die Gruppe der Asafpsalmen

hinein in die nachexilische Zeit der Chronik und danach.5 P. Schelling gelangt aufgrund seiner Untersuchung der den Asafpsalmen gemeinsamen Themen, Motive und Traditionen zu der Auffassung, dass die Autoren bzw. Editoren dieser Sammlung unter den levitischen Kultsängern zu suchen sind. Aufgrund der Nähe zur Theologie des Deuteronomiums und der Chronik geht Schelling von einer Entstehung der Asafpsalmen im Juda des ersten nachexilischen Jahrhunderts aus.6 K. Seybold weist in Hinblick auf die Asafpsalmen darauf hin, dass es sich vorwiegend um „kollektive" Psalmen handelt. Die religiöse Gruppe, der die Asafpsalmen mehrheitlich entstammen dürften, verortet er in exilischer Zeit. Traditionsgeschichtlich und theologisch ist diese Gruppe weniger jerusalemisch-judäisch als ephraimitisch geprägt und dürfte seiner Meinung nach in Silo oder eher noch in Bethel zu lokalisieren sein.7 B. Weber geht davon aus, dass zumindest Ps 74; 76-78; 80 und 83 die durch den Fall des Nordreichs und die assyrische Bedrängnis bedingte Krise widerspiegeln und bereits Anfang des 7. Jh. entstanden sind. Die übrigen Asafpsalmen datiert Weber bis auf Ps 79 ebenfalls in vorexilische Zeit. Die einzelnen Texte wie auch die Sammlung insgesamt sind seiner Auffassung nach in levitischen Kreisen entstanden, die ursprünglich aus dem Nordreich stammten und nach dessen Untergang im vorexilischen Jerusalem insbesondere unter den Königen Hiskia und Josia eine prominente Stellung am Heiligtum innehatten. Dort hatten diese Kreise ihre Aufgaben als Geschichtsdeuter, Mittler, Ankläger und Richter.8 Die einschlägigen neueren Monographien zu den Asafpsalmen widmen sich allerdings vor allem der Untersuchung der diesen Texten gemeinsamen Themen und Motive sowie ihrer Verortung in einer bestimmten Tradition. 9 Weniger bzw. keine Aufmerksamkeit schenken diese Arbeiten jedoch der Frage nach dem inhaltlichen Spannungsbogen, der in der vorliegenden Anordnung der Texte zwischen Ps 73 und 83 entfaltet wird bzw. nach der theologischen Leitidee, die diese Psalmengruppe zusammenbindet. 10 Eben diese Fragestellung soll im Mittelpunkt dieses Überblickkapitels zu den Asaipsalmen stehen. Zunächst sollen jedoch die Themen und Motive, die in Ps 50; 7 3 - 8 3 eine prominente Rolle spielen und diese Texte miteinander verbinden, im Überblick dargestellt werden.

5

Vgl. H.P. NASUTI, Tradition History.

6

Vgl. P. SCHELLING, Asafspsalmen.

7 Vgl. K. SEYBOLD, Das „Wir" in den Asaph-Psalmen. Spezifische Probleme einer Psalmgruppe, in: K. Seybold / E. Zenger (Hrsg.), Neue Wege der Psalmenforschung. FS W. Beyerlin (HBS 1) Freiburg 1994, 143-155. 8 Vgl. B. WEBER, Der Asaph-Psalter - eine Skizze, in: B. Huwyler, Hans-Peter Mathys, B. Weber (Hrsg.), Prophetie und Psalmen (FS K. Seybold), Münster 2001, 117-141. 9 Vgl. hierzu Aufbau und Fragestellung insbesondere der Untersuchungen von Illman und Schelling. Einen etwas anderen Weg schlägt Nasuti ein, wenn er sich zur Bestimmung der hinter den Asafpsalmen stehenden Tradition nicht auf die Suche nach gemeinsamen Themen und Motiven macht, sondern vielmehr die Frage nach einer spezifischen Sprache stellt, vgl. auch die Kritik von H.P. NASUTI an Illman (Tradition Histoiy, 49ff). 10

Z u d e n Ergebnissen d e r U n t e r s u c h u n g e n v o n F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER u n d

M. MILLARD zu dieser Frage vgl. die Darstellung in Kap. 1.1.2.2.

1. Themen und Motive

301

1. Themen und Motive 1.1 Chaoskampf und Schöpfung Vergleichsweise breiten Raum nimmt das Chaoskampf-Motiv in der hymnischen Passage Ps 74,12-17 ein. In V. 13-14 wird hier der Sieg Gottes über die Chaosmächte (¡mb, DT:n und D1) besungen. Die sich anschließenden V.1617 beschreiben das ordnende Schöpfungshandeln Gottes, der dem Kosmos durch die Abfolge der Gezeiten (V.16: Tag und Nacht; V.17: Sommer und Winter) Festigkeit und Struktur verliehen hat. Die Verbindung zwischen den beiden Elementen Chaoskampf und Schöpfung erfolgt durch V.15. Anknüpfend an die mythologischen Aussagen von V.13f enthält V.15 gleichzeitig mit den Verben vpa („spalten") und tfn1 hi. („austrocknen") eine subtile Anspielung auf die Exodusthematik.11 Diese Mythisierung der Heilsgeschichte sowie die Erinnerung an Chaoskampf und Schöpfung haben in Ps 74 die Funktion, Gott als den „König von uran" ( m p ö - V.12) anzusprechen und bei seinem urzeitlich verstandenen Rettungs- und Gründungshandeln zu behaften. Der Gott, der vor Urzeit die Mächte des Chaos überwunden und der Welt eine Ordnung verliehen hat, soll in der gegenwärtigen notvollen Situation der Gemeinde (vgl. V.l-11) sein rettendes und ordnendes Handeln erneut erweisen.12 Auf das Schöpferhandeln Gottes, das der Erde Ordnung und Festigkeit verleiht, spielt auch Ps 75,4 an, wenn Gott in einer Gerichtsrede von sich selbst sagt, dass er die Säulen der Erde festgesetzt habe (vgl. Ps 24,2; 104,5). Auch wenn das Treiben der Frevler die gute Ordnung bedroht (Ps 75,5), wird Gott seine Schöpfung bewahren und weiterhin festigen Des Weiteren klingt in Ps 76,4-7 in einem Kontext, der geprägt ist von der Vorstellung von JHWH als dem Kriegsherrn Israels, in V.7 das Schelten Gottes an, der mit seinem Machtwort die Chaosfluten vertreibt (vgl. Ps 18,16; 104,7).13 Wie in Ps 74,15 schimmert auch hier in der Erwähnung von Wagen 11 Vgl. H. SPIECKERMANN zu Ps 74,15: „Fast unmerklich wird der Götterkampf in V.15 durch eine Aussage fortgesetzt, die nicht in der kanaanäischen Tradition vorgedacht worden ist, sondern Exodusthematik in mythischem Gewände darstellt. Nur durch sie erklärt sich die Handlungsfolge ,spalten' (Vp2) und ,austrocknen' hi.), während die Objekte völlig der mythischen Sphäre entstammen." (Heilsgegenwart, 130); vgl. auch M. EMMENDÖRFFER, Der ferne Gott, 95. Zur Verbindung von Mythos und Geschichte vgl. J. JEREMIAS, Königtum Gottes, 50ff.l49ff. 12 Vgl. hierzu H. SPIECKERMANN: „Die Verbindung von Exodus und Götterkampf ist bereits aus dem vorexilischen Text Ex 15 bekannt. War sie in dieser Dichtung jedoch allem Anschein nach seltenes Thema gehobener Kultlyrik gewesen, gewinnt sie in Ps 74 neue theologische Valenz. Der Exodus wird in der tempeltheologisch schon bekannten mythischen Gestalt zum Hoffhungsträger: tempellose Gottestat in der Fremde an den bedrängten Seinen, deren Wiederholung in der zeitvernichtenden Perspektive des Mythos erhofft werden darf." (Heilsgegenwart, 130f); vgl. auch F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, PS 51-100, 368. 13 Vgl. H.-J. KRAUS, Psalmen II, 691.

302

IV. Die Gruppe der Asafpsalmen

und Ross (Dl Dl a m ) die Befreiungstat Gottes am Schilfmeer durch (vgl. Ex 15,1) und ermöglicht in der Erinnerung an das kriegerische Eingreifen Gottes in der Vergangenheit Hoffnung für die Zukunft.'4 In Ps 77,14-21 begegnet das Chaoskampf-Motiv ähnlich wie in Ps 74 in einem hymnischen Abschnitt. Der Beter, der angesichts des Schicksals Israels an der Gnade und dem Erbarmen Gottes zweifelt (vgl. V.2-10), vergegenwärtigt sich die urzeitlichen Wundertaten Gottes ("[Xbs DTpD - V.12) und vergewissert sich auf diese Weise seiner Treue. Wie in Ps 74 verschmelzen auch in dieser Passage der mythische Sieg Gottes über die Chaoswasser (V.17) und die heilsgeschichtliche Tat der Herausfuhrung aus Ägypten, auf die explizit in V.16 und 21 Bezug genommen wird. 1.2 Heilsgeschichte Ein Thema, das in den Asafpsalmen auffällig breiten Raum einnimmt, ist das geschichtliche Handeln Gottes an und mit seinem Volk. Innerhalb der Psalmentheologie ist das Interesse an der Heilsgeschichte jedoch ein eher spätes Phänomen. Erst in der Auseinandersetzung mit der Erfahrung des Exils wird diese Thematik relevant und ermöglicht die Bewältigung der theologischen Krise, in die die vorexilische Psalmen- bzw. Tempeltheologie durch die Zerstörung des Jerusalemer Heiligtums unweigerlich geraten war.15 Es stellt sich somit die Frage, unter welchem Blickwinkel und mit welcher Zielrichtung geschichtliche Themen und Motive in den Asafpsalmen aufgenommen werden. 14 Es ist unverständlich, warum K.-J. ILLMAN in seiner Darstellung der Stellen, an denen das Chaoskampf-Motiv begegnet (Thema und Tradition, 17f), Ps 76,7 nicht erwähnt. 15 Vgl. hierzu die Untersuchung zum Vorkommen und Stellenwert heilgeschichtlicher Traditionen im Psalter von H. SPIECKERMANN (Heilsgegenwart, 87ff): „Die umfassende und andauernde Wahrnehmung von Geschichte vollzog sich in der Psalmtheologie spät und eher widerwillig. Denn sie war zunächst keine selbstgewählte positive Zuwendung zur Heilsgeschichte, sondern unausweichliche Konfrontation mit der Unheilsgeschichte des Exils, in die auch die Tempeltheologie durch den Verlust des Heiligtums in Jerusalem tief verstrickt und somit zur theologischen Reaktion gezwungen war. [...] Die politisch-militärische Liquidierung Judas hat die religiöse Depression bewirkt, welche theologische Reflexion im Bereich des Tempels bzw. seiner geistigen Hinterlassenschaft auf zwei Wegen zu bewältigen unternommen hat: durch Wahrnehmung der eigenen Volksgeschichte als Unheils- und Heilsgeschichte von ihren Anfängen an. Anknüpfungspunkte in der Tradition waren vorhanden, das jehowistische Erzählwerk, die Unheilsprophetie und die deuteronomisch-deuteronomistische Literatur. Werden auch alle genannten theologischen Vorgaben in irgendeiner Weise im Umkreis des Tempels bekannt gewesen sein [...], stand doch keine von ihnen im Mittelpunkt der Psalmtheologie des Tempels. Sie alle gerieten erst durch die Katastrophe des Exils - der radikalen Infragestellung des Rechtes einer vom Tempel aus und auf ihn hin denkenden Psalmtheologie - in den Brennpunkt ihres Interesses und gaben ihr auf vielfältige Weise Gelegenheit, unter veränderten historischen Bedingungen ihre gebrochen-ungebrochene theologische Gestaltungskraft unter Beweis zu stellen." (Heilsgegenwart, 158 und 164).

/. Themen und Motive

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a) Auszug

Eine herausragende Rolle unter den verschiedenen Daten der Heilsgeschichte spielt der Auszug Israels aus Ägypten, dem der größte Teil der Bezugnahmen gilt.16 Zu nennen sind hier die bereits erwähnten Anspielungen auf den Exodus in Ps 74,13-15; 76,4-7 und 77,12-21, die diese geschichtliche Tat Gottes durch die Einbindung in die Vorstellung vom Chaoskampf zu einem mythischen und damit zeitlos gültigen Geschehen machen. Der Geschichtspsalm schlechthin unter den Asafpsalmen ist Ps 78, der den Gang der Heilsgeschichte, die in den Augen des Psalmisten zur Unheilsgeschichte geworden ist, vom Auszug aus Ägypten bis hin zum Untergang des Nordreiches nachzeichnet. Anders als in Ps 74; 76 und 77 scheint das zentrale Moment des Exodus in diesem Psalm jedoch nicht die wundersame Rettungstat Gottes am Schilfmeer zu sein, die nur kurz in V.13 und 53b erwähnt wird, sondern vielmehr das Strafhandeln Gottes gegen Ägypten, das in V.42-51 ausführlich geschildert wird.17 Diese langwierigig anmutende Aufzählung der einzelnen Plagen entfaltet ebenso wie die umfangreiche Darstellung der Wasser- und Speisewunder Gottes in der Wüste (V. 14-28) die Fülle der Heilstaten Gottes an seinem Volk und untermauert damit die Frage, die den Psalmisten umtreibt: Warum hat Israel die immer neuen gnädigen Zuwendungen seines 16 Eine solche herausragende und dominante Rolle spielt die Exodus-Thematik nicht nur in den Asafpsalmen. D. MATHIAS stellt in seiner Untersuchung der Geschichtssummarien in den Psalmen fest, dass die Auswahl der geschichtlichen Stoffe die Konzentration auf bestimmte Themen erkennen lässt: „Der bevorzugte Zeitraum der Erinnerung ist die mosaische Zeit. An hervorragender Stelle steht die mit etwa gleicher Belegzahl vertretene Exodus- und Schilfmeertradition, wobei die Hälfte der betreffenden Psalmen beide Traditionen enthält." (Die Geschichtstheologie der Geschichtssummarien in den Psalmen, Frankfurt a.M. 1993, 40). 17 Es ist allerdings zu fragen, ob in V.40-51 nicht eine redaktionelle Erweiterung vorliegt, vgl. H. SPIECKERMANN: „In V.40-51 liegt die umfangreichste redaktionelle Ergänzung des Psalms vor [...]. Der Ruf ,Wie oft...' in V.40, gemünzt auf das halsstarrige Volk, ist als Anschluß an V. 38f. denkbar ungeeignet. Vielmehr erwartet man nun Konkretionen von Gottes gnädiger Zuwendung, also nicht V.40-43, allenfalls V.44-51, die aber von V.40-43 nicht zu trennen sind. Der Anschluß von V.39 an V.52ff. ist hingegen völlig glatt und hebt die im jetzigen Text bestehende inhaltliche Spannung auf. Ferner ist zu berücksichtigen, daß die erneute Thematisierung eines Exodusaspektes in V.40ff. (Plagen) sehr auffällig ist. Zwar ist der heilsgeschichtliche ordo in diesem Psalm nicht allzu genau; aber nachdem in V.12-31 Exodus und (sehr ausführlich und damit gut deuteronomistisch) Wüste an der Reihe waren und die Zwischenreflexion in V.32-39 auf das theologisch Unerhörte vorausverweist, erwartet man (vor allem in der hier übernommenen deuteronomistischen Perspektive) das Thema Land, also V.52fF., und nicht die Plagen. Schließlich weist die Darstellung der Plagenwunder ein Charakteristikum auf, das kein weiteres Geschichtskapitel des Psalms teilt: Sie setzt P in Ex 7ff. voraus (Ps 78,44 nach Ex 7,14ff. P)." (Heilsgegenwart 137f., Anm. 10). Allerdings ist zu beachten, dass es offensichtlich das Anliegen des Psalmisten ist, die Fülle der Heilstaten in aller Breite zu entfalten, um dieser die schuldhafte Vergesslichkeit des Volkes nachdrücklich gegenüberzustellen. Dementsprechend passt die ausführliche Aufzählung der Plagen zu der ebenso ausführlichen Aufzählung der Wundertaten Gottes in der Wüste (V. 14-29).

304

IV. Die Gruppe der Asafpsalmen

Gottes immer wieder vergessen und verraten? Während Auszug und Wüstenwanderung in Ps 78 also vergleichsweise breiten Raum einnehmen, wird die Landnahme hier nur kurz erwähnt (Ps 78,54—55). Andere Akzente setzt Ps 80. Hier liegt der Schwerpunkt der Darstellung weniger auf dem eigentlichen Auszug, der nur in V.9a anklingt, als vielmehr auf der Ausbreitung Israels im verheißenen Land. Dabei verwendet der Dichter das Bild des Weinstocks, das sonst vor allem im Zusammenhang prophetischer Gerichtsansage gegen das Volk begegnet (vgl. Jer 2,21; 6,9; Ez 17,1 ff). Im vorliegenden Kontext hat dieses Bild die Funktion, zum einen das wundersame Wachstum eines kleinen, unbedeutenden Volkes,18 zum anderen die Fürsorge Gottes zu illustrieren, der dieses von ihm erwählte Volk wie ein Gärtner umhegt.19 An den Auszug bzw. die Herausfuhrung aus Ägypten erinnert schließlich die Gottesrede in Ps 81,7-17. Die grundlegende Befreiungstat Gottes, durch die dieser sich selbst definiert (V.ll vgl. Ex 20,2; Dtn 5,6), wird hier dem Ungehorsam des Volkes gegen die Stimme und das Gebot Gottes gegenübergestellt. In der Anspielung auf den Exodus in V.7 liegt der Fokus auf der Befreiung von der drückenden Last der Sklavenarbeit in Ägypten. b) Wüstenwanderung Wie bereits angedeutet, nimmt die Zeit der Wüstenwanderung in Ps 78 außergewöhnlich breiten Raum ein (V. 14—41). Dabei orientiert sich der Psalmist zwar durchaus an den erzählerischen Vorgaben des Pentateuchs, die er aber teilweise recht frei variiert. So wird Bezug genommen auf die Führung durch die Wolken- und Feuersäule (V.14, vgl. Ex 13,21) und die Wasserwunder in der Wüste (V. 15-16, vgl. Ex 17; Num 20). Dass der Psalmist dabei den Duktus von Ex 17, der das Wasserwunder zu Meriba als eine Versuchung Gottes durch das Volk versteht, vor Augen hat, macht implizit der Anschluss in V.17 18 Vgl. C. WESTERMANN: „Zwei Folgen werden im Bild dargestellt: das Wachsen in die Tiefe (,daß er einwurzle') und das Wachsen in die Weite (,und das Land erfüllte')- Die zweite Folge ist deutlich übertreibend dargestellt, das Bild wird davon gesprengt, man kann dies vom Weinstock eigentlich nicht sagen. Es spricht daraus das überwältigte Staunen einer kleinen Menschengruppe, die für ihre Begriffe so gewaltig gewachsen ist und sich so unwahrscheinlich ausgebreitet hat." (Lob und Klage, 167f). 19 Vgl. M. EMMENDÖRFFER: Jhwh, [...], hat aus Ägypten einen Weinstock herausgerissen (VOi hif.) und, um diesem einen guten Boden zum Gedeihen zu ermöglichen und ihn einpflanzen (Vt33) zu können, die Völker wie im Wege liegende Steine weggeräumt (EHl) (vgl. dazu auch V.10). Das ,Herausreißen' und ,Pflanzen' umklammert in V.9 die gegen die Völker gerichteten Handlungen, wobei gerade das letztere, nämlich das Einpflanzen, in starkem Kontrast und antithetisch zu dem Vertreiben der Völker steht. Exodus und Landgabe sind Werk und actio Jhwhs. Seine Fürsorge für das Volk drückt sich in dem Anlegen des guten Nährbodens für den Weinstock aus. Das Volk Israel weiß sich von Jhwh im , gelobten Land' gepflanzt." (Der ferne Gott, 135).

]. Themen und Motive

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deutlich, der von einer Fortsetzung des Sündigens des Volkes spricht.20 So ist auch die Forderung nach Speise nicht Ausdruck der Furcht, in der Wüste den Hungertod zu sterben (vgl. Ex 16,3), sondern vor allem Hinterfragung und Herausforderung Gottes (V.18). Die Wasserwunder genügen dem zweifelnden Volk nicht, in seinem Unglauben und seiner Maßlosigkeit fordert es auch noch Fleisch und Brot (V. 19-20). Hierauf reagiert Gott mit Zorn und Strafe (V.21), aber auch und vor allem mit seiner grundlosen Barmherzigkeit. Die Verwunderung des Dichters über die unbeirrbare Gnade Gottes kommt in den überschwänglichen Bildern der folgenden Verse zum Ausdruck. Trotz des offensichtlichen Mangels an Vertrauen öffnet Gott die „Türen des Himmels" (V.23), gibt „Himmelskorn" (V.24) und „Engelsbrot" (V.25) und lässt „Fleisch wie Staub" und „geflügelte Vögel wie den Sand der Meere" (V.27) regnen. Der reflektierende Abschnitt V.32-41 bewertet die Zeit der Wüstenwanderung als einen andauernden Kreislauf von Schuld und Vergebung, der an das deuteronomistische Richterschema (vgl. Ri 2,11 ff) erinnert. Auf die Sünde des Volkes folgt die Strafe Gottes und daraufhin die erneute Hinwendung des Volkes zu Gott. Trotz dieser offensichtlichen Unverbesserlichkeit des Volkes hält Gott jedoch an seiner Barmherzigkeit fest und wendet seinen Zorn immer wieder ab.21 Begründet wird diese Zurückhaltung mit dem Wissen Gottes um die Vergänglichkeit des Menschen (V.39). Auf die Ereignisse zu Meriba spielt auch Ps 81,8 an, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen als Ex 17,7 oder Num 20,13. Das Wasserwunder wird hier nicht als eine Prüfung Gottes durch das Volk, sondern vielmehr als eine Prüfung des Volkes durch seinen Gott gedeutet. Diese Sichtweise dürfte ihren Grund in dem spezifischen Inhalt der Gerichtsrede Gottes gegen sein Volk haben. Es geht um den fehlenden Gehorsam des Volkes gegenüber dem Wort Gottes (V.9.12). Dass dabei die Weisungen Gottes und der Bundesschluss am Sinai im Blick sein dürften, legt sich aufgrund der Anklänge an die Gebote des Dekalogs in V. 10-11 nahe. Eine Anspielung auf die Sinai-Theophanie liegt möglicherweise auch in V.8b vor, wenn vom Antworten Gottes im Donnergewölk die Rede ist. Mit der Gabe des Dekalogs und der Theophanie am Sinai ist jedoch in Ex 20,20 der Gedanke der Prüfung des Volkes durch Gott verbunden (vgl. auch Ex 15,25ff; 16,4). Auf diesem Hintergrund ist es verständlich und sinnvoll, wenn auch das Wasserwunder zu Meriba als eine Prüfung der Treue des Volkes gegenüber seinem Gott gedeutet wird.22 20

Vgl. H. SPECKERMANN, Heilsgegenwart, 142. Vgl. H. SPIECKERMANN: „In der Wahrnehmung der Schuld der Vorväter in heilsgeschichtlicher Zeit ist der Dichter deuteronomistischer Theologie verpflichtet, in der Bewertung der Schuld allerdings eher altüberlieferter Psalmtheologie, nach deren Einsicht menschliche Schuld nicht göttliche Gnade fraglich machen kann." (Heilsgegenwart, 143). 22 Zum Gedanken der „Prüfung" in Verbindung mit dem Bundesschluss am Sinai vgl. auch M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 323. Von einer Textkorrektur in Anlehnung an Ex 17,7; Num 20,13; Ps 95,9, wie sie H.-J. KRAUS vorschlägt (Psalmen II, 726), ist entsprechend abzusehen. 21

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IV. Die Gruppe der Asafpsalmen

c) Bund Das Bundesmotiv begegnet zunächst in dem im vorliegenden Endtext von den übrigen Asafpsalmen isolierten Ps 50. Hier wird die in V.7-23 wiedergegebene Gottesrede mit der Aufforderung Gottes eingeleitet, seine „Frommen" zu versammeln, die in V.5b als solche definiert werden, die „beim Opfer den Bund mit mir schlössen". Eingebettet ist diese Gottesrede in den Rahmen einer Theophanieschilderung (V.l-6, vgl. hierzu die Auslegung von Ps 50 in Kap. m.2.1), deren Darstellung in weiten Zügen an das Erscheinen Gottes am Sinai erinnert. Sowohl Situation als auch Adressaten der Gottesrede, die den Charakter einer Gerichtsrede Gottes gegen sein Volk hat, erhalten auf diese Weise eine hohe Würde und Bedeutsamkeit. Das Kommen Gottes zum Gericht hat einen seinem Kommen zum Bundesschluss vergleichbaren Stellenwert und die nun Gerichteten sind dieselben, mit denen er einst den Bund am Sinai schloss. Das Bundesmotiv hat somit hier ebenso wie in V.16 die Funktion des Schuldaufweises. Gott kann Gericht halten, weil er einen Bund mit seinem Volk geschlossen hat (V.5), das diesen Bund zwar im Munde fuhrt (V.16), sich aber immer wieder - so die deuteronomistisch geprägte Kritik in V.17ff- mangelnder Gesetzesobservanz schuldig macht. In Ps 74,20 findet sich das Bundesmotiv in einer gewissen Doppeldeutigkeit. Gott wird hier gebeten, „auf den Bund zu schauen" - eine Bitte, die in Parallele zu der Aufforderung in Ps 74,2 steht, nach der Gott der Gemeinde gedenken soll, die er vor Zeiten erworben hat. Diese Parallele macht deutlich, dass Gott hier an jenes Grunddatum seiner Geschichte mit dem Volk Israel erinnert werden soll, das mit dem Exodusgeschehen und der Begegnung zwischen Gott und Volk am Sinai verknüpft ist.23 Anders als in Ps 78,10 ist der Begriff „Bund" (rinn) hier jedoch nicht durch die deuteronomistische Perspektive geprägt. Das Thema der Schuld des Volkes als Grund fiir die Verwerfung durch Gott begegnet im Gegensatz zu Ps 78 in Ps 74 nicht.24 Der in dem hymnischen Abschnitt V. 12-17 entwickelte Gedanke, dass Gott den Chaoswassern eine Grenze bereitet und die Gezeiten von Tag und Nacht, Sommer und Winter festsetzt, lässt jedoch vermuten, dass der Dichter möglicherweise nicht nur den Sinai-Bund, sondern auch den Noach-Bund (Gen 9,817, vgl. auch Gen 8,22) im Blick hat. Für diese Annahme spricht auch die Tatsache, dass in Ps 74,20 nicht die im Alten Testament geläufigere Bitte verwendet wird, dass Gott seines Bundes gedenken ("DT) möge, sondern vielmehr die singulare Aufforderung „Schaue auf den Bund" ( n n a b tonn). M. Emmendörffer weist in seiner Untersuchung zu Ps 74 zu Recht daraufhin, 23 Vgl. K.-J. ILLMAN: „Das Bundesmotiv wird nicht in seinen Einzelheiten entwickelt. Es hat aber dieselbe Funktion wie die Erwählung in V.2: in dieser schwierigen Situation, in der der Tempel in Trümmern liegt und der Feind das Volk und seinen Gott verhöhnt, sind Erwählung und Bund das einzige, worauf man sich berufen kann." (Thema und Tradition, 21). 24 Vgl. M. EMMENDÖRFFER, Der ferne Gott, 99f.

1. Themen und Motive

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dass diese Formulierung voraussetzt, dass der Bund wie ein Zeichen oder eine Urkunde in dinglicher Form vorliegt.25 Es ist gut denkbar, dass der Psalmist dabei im Gefolge priester(schrift)licher Tradition an den Regenbogen, das Zeichen des Noach-Bundes, denkt. Wenn der geschichtliche Bund am Sinai tatsächlich keinen Bestand mehr haben sollte - und zu dieser Befürchtung scheinen die in Ps 74,3-11 beschriebenen Ereignisse Anlass zu geben - so bleibt doch die Hoffnung auf den urzeitlichen Bund Gottes mit Noach und der Menschheit. Das Stichwort „Bund" begegnet auch in Ps 78,10 und ist hier, wie bereits angedeutet, durch die deuteronomistische Sichtweise geprägt. Den „Söhnen Ephraims" wird attestiert, dass sie den Bund ( m a ) Gottes nicht hielten und seinem Gesetz (min) nicht folgten. Damit macht sich der Psalmist das deuteronomistische Urteil über die Geschichte Israels zu eigen.26 Israel hat den Bund und seine Konkretisierung in der Torah nicht gehalten. Gleichsam wie in einer nachgeschobenen Begründung wird in Ps 78,11 darauf hingewiesen, dass „sie" (d.h. die Ephraimiten bzw. Israel) die Taten und Wunder vergaßen, die Gott ihnen gezeigt hatte. Unter eben diesem negativen Vorzeichen ist noch einmal in V.37 vom „Bund" die Rede. Der diesen Vers umgebende Kontext (V.34—39) fällt ein besonders hartes Urteil über das Verhalten Israels. Die auf die Strafe Gottes folgende Umkehr des Volkes wird als Heuchelei und Lüge entlarvt (V.36), dem lügnerischen Bekenntnis ihres Mundes zu Reue und Umkehr steht die faktische Untreue gegen „seinen Bund" gegenüber. Umso größeres Gewicht erhält auf diesem Hintergrund das Festhalten Gottes an seiner Barmherzigkeit, die trotz aller Schuld des Volkes Bestand hat (V.38).27 25

Vgl. a.a.O., 100. Zwar geht es im vorliegenden Kontext primär um die Ephraimiten (vgl. V.9), das Urteil dürfte aber letztlich für ganz Israel gelten. Dass die Verurteilung auf die Ephraimiten hin zugespitzt wird (vgl. auch V.67), dürfte seinen Grund darin haben, dass sich der Dichter von Ps 78 bereits in einer gewissen zeitlichen Distanz zu den Ereignissen von 721 v. Chr befindet und der Untergang des Nordreichs (= Joseph / Ephraim) aus seiner Perspektive heraus irreversibel erscheint. Vgl. die Einschätzung von B. WEBER: „Ps 78 bietet m.E. eine geschichtstheologische Erklärung für den Untergang des Nordreiches und für die Fortdauer von Jahwes Führung ,Israels' durch das davidische Königshaus. Obgleich der Psalm einen projudäischen Zug aufweist, wird er (auch) nordisraelit. Kreise im Blick haben mit dem Ziel, den Untergang des Nordreichs theologisch zu verarbeiten und zu deuten und ihnen auch die Hoffnung zu vermitteln, daß Gottes Geschichte mit Israel weitergeht - wenngleich fortan nur noch im Anschluß an den Zion (als ,Wohnstätte' Jahwes) und an Juda und das davidische Königshaus." (Psalm 77 und sein Umfeld, 287). 27 Vgl. D. MATHIAS: „Wenn Israels Umkehr aber unter das Zeichen der Heuchelei gestellt wird, dann läßt sich das Rettungshandeln Gottes nicht mehr einfach als Folge der Umkehr verstehen, denn bei der strengen Durchführung eines von Gott gewirkten Tun-Ergehen (Schuld-Strafe)-Zusammenhangs (cf. Jer 6,19) müßte auf solche Heuchelei eigentlich Strafe folgen. Das Trikolon 38,1-3 beschreibt daher den in der Geschichte agierenden und reagierenden Gott als den barmherzigen ( D I M ) , der Sünde vergab (PY -ID:P) und nicht vernichtete 26

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IV. Die Gruppe der Asajpsalmen

Um einen völlig anderen Bund geht es in Ps 83,6. Die Feinde Israels, die gleichzeitig die Feinde Gottes sind, haben einmütig in ihrem Herzen beschlossen, gegen Gott einen Bund zu schließen.28 Während der Begriff des Bundes an den anderen besprochenen Stellen entweder im Kontext der Anklage gegen das Volk (Ps 50,5.16; 78,10) oder aber mit dem Ziel begegnet, Gott unter Hinweis auf das besondere Verhältnis zu seinem Volk zum rettenden Eingreifen zu bewegen (Ps 74,20), steht er hier unter umgekehrtem Vorzeichen. Dem heilsgeschichtlichen Grunddatum des Bundesschlusses Gottes mit seinem erwählten Volk steht der vermessene Bundesschluss der feindlichen Völker gegenüber.29 Diese wollen das Gedächtnis an den Namen Israels und damit letztlich Israel selbst auslöschen (V.5). Wenn aber Israel in Gefahr ist, so ist auch JHWH als der Gott Israels in Gefahr. Jeder Angriff auf das Volk seines Bundes ist ein Angriff gegen Gott selbst.30 d)

Landnahme

Wie alle anderen geschichtlichen Themen begegnet auch das Thema der Landnahme in Ps 78. Allerdings nimmt es hier, wie bereits angedeutet, nur vergleichsweise geringen Raum ein (V.54—55). Wenn auch die Vertreibung der Völker und die Auslosung ihrer Wohnstätten zum Erbbesitz der Stämme Israels durchaus Erwähnung finden (V.55), so liegt der Fokus der Darstellung doch auf einem einzigen Ort, nämlich auf dem „Berg, den seine Rechte erworben", d.h. auf dem Zion, der als „heiliges Gebiet" und damit als Inbegriff des heiligen Landes qualifiziert wird (V.54).31 (rrnET sb), der seinen Zorn zurückhielt (38.4-5) und der Vergänglichkeit des Menschen gedachte (39)." (Geschichtstheologie, 88); sowie Anm. 21. 28 Die Konstruktion bv + m a + n~Q begegnet im Alten Testament nur an dieser Stelle, dies gilt auch für die Vorstellung eines Bundesschlusses gegen Gott, vgl. M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 344, note 6.b.; M. EMMENDÖRFFER, Der ferne Gott, 198, Anm. 471. 29 Vgl. M. EMMENDÖRFFER: „Ist der Gedanke des Bundes in den übrigen Volksklageliedern (Ps 44,18; 74,20; 89,4.29.35.40) ein Punkt innerhalb der jeweiligen Argumentation, um auf das exzeptionelle Verhältnis zwischen Israel und seinem Gott hinzuweisen und Jhwh zum rettenden Handeln zu bewegen, so ist der Begriff an dieser Stelle anders gefüllt, seines heilsgeschichtlichen Klangs beraubt, er dient dazu, die Hybris der Feindvölker zu charakterisieren. Die Völker haben einen Bund gegen Jhwh geschlossen - Mensch gegen Gott - und schicken sich an, Jhwhs Bund mit Israel zu liquidieren." (Der ferne Gott, 198). 30 Vgl. E. ZENGER: „Israel macht sich hier zum Anwalt der Sache Gottes selbst, und zwar aus der Erfahrung heraus, daß JHWH und Israel wie die beiden Seiten einer Medaille zusammengehören. Wenn Israel bedroht ist, ist JHWH als Gott Israels bedroht. Wenn Israels Name verschwindet, ,verschwindet' JHWH, der Gott Israels." (Ein Gott der Rache, Feindpsalmen verstehen, Freiburg 1994, 98). 31 Vgl. H.-J. KRAUS: „Der erwählte Berg gilt als Inbegriff des heiligen Landes; das Land ist .heilig', weil Jahwe in seiner Mitte, auf dem Zion thront." (Psalmen II, 710). Diese konzentrierte Sichtweise der Landnahme als Zug zum Jerusalemer Tempelberg findet sich in vergleichbarer Weise auch in Ex 15, vgl. hierzu H. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 144f.

1. Themen und Motive

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Wie oben bereits dargestellt, schildert Ps 80 die Landnahme im Bild des Weinstocks, der Wurzeln schlägt und sich ausbreitet (V. 10-12). Dabei liegt der Akzent weniger auf der Vertreibung der Völker als vielmehr auf der wundersamen Ausbreitung und wohl auch Vermehrung Israels im Land. Das Bild des blühenden und gedeihenden Weinstocks dient als Kontrastfolie, von der sich die Gott anklagende Warum-Frage in V.13 abhebt. Angesichts des Gedeihens des Weinstocks und der sorgfältigen Pflege, die Gott diesem in der Vergangenheit hat zukommen lassen, ist es unverständlich, warum Gott diesen seinen Weinstock bzw. Weinberg - das Bild wechselt mit V.13 - der Zerstörung preisgibt. Die Erinnerung an das Handeln einst wird dem Handeln im Hier und Jetzt gegenübergestellt und dient dazu, Gott zur Umkehr zu bewegen. Ps 83 nimmt in V. 10-12 Bezug auf die Landnahme bzw. genauer gesagt auf die Zeit der Richter. Gott wird hier in Erinnerung an alte Zeiten aufgefordert, sein rettendes kriegerisches Eingreifen zugunsten Israels zu wiederholen und die Feinde, die Israel vernichten wollen, ihrerseits wie die alten Gegner der Richterzeit zu vertilgen.32 Dabei greift der Dichter auf das Textkorpus des Deuteronomistischen Geschichtswerks zurück, wenn er die gegnerischen Führer der Richterzeit beim Namen nennt (Sisera und Jabin: Ri 4f; Oreb, Seeb, Seba und Zalmunna: Ri 7f). Der Charakterisierung der gegenwärtigen Feinde durch die Wiedergabe eines Zitates, das ihr Treiben zusammenfasst (V.5), entspricht die in V.13 aufgeführte Rede dieser „klassischen" Gegner. Sie wollen die Auen Gottes in Besitz nehmen, das Land Gottes, das dieser Israel gegeben hat, einnehmen und damit die Landnahme Israels rückgängig machen.33 e) Zion und David Vom Zion als dem Wohnsitz Gottes ist zunächst in Ps 50,2 die Rede, wo er als Ausgangspunkt der in V . l - 6 geschilderten Theophanie gilt. Die Zionstheophanie ist hier an die Stelle der Sinaitheophanie getreten, die in Ps 50 verkündete Zionsoffenbarung beansprucht die gleiche Dignität wie die Sinaioffenbarung. Der Zion wird hier als „Krone der Schönheit" beschrieben und erhält damit ein Attribut, das sich zwar in den übrigen Asafpsalmen nicht findet, aber dafür umso mehr der Zionstheologie der Ps 50 vorangehenden Korachpsalmen entspricht (vgl. Ps 48,3). Der Zion als die erwählte Wohnstätte Gottes begegnet in Ps 74,2 als zweites Objekt des Imperativs IDT, mit dem Gott aufgefordert wird, einerseits sei32 Vgl. J. KOHLEWEIN: „Der Bittende weist Jahwe gleichsam auf einen Präzedenzfall hin und will ihm eine Richtlinie für sein jetziges Tun an die Hand geben. Die Struktur des Redens von Vergangenem wäre dann nach Ps 83,10-12 so zu bestimmen: ,Tue den Feinden jetzt genauso, wie du ihnen damals getan hast'." (Geschichte in den Psalmen (CThMA 2), Stuttgart 1973, 57). 33 Vgl. M. EMMENDÖRFFER, Der ferne Gott, 201.

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IV. Die Gruppe der Asafpsalmen

ner Gemeinde und andererseits des Berges Zion als seiner Wohnstätte zu gedenken. Volk und Tempelberg stehen hier gleichwertig nebeneinander als die Größen, an die Gott sich von alters her (mp) gebunden hat. Dementsprechend ist mit der Bitte, Gott möge seiner Gemeinde und des Zions gedenken, keine Aufforderung zu einem intellektuellen „Sich-Erinnern", sondern vielmehr zum konkreten, rettenden Eingreifen gemeint.34 Warum Gott seines Wohnsitzes auf dem Zion gedenken soll, wird in der Klage V.3-8 deutlich. Der Feind hat die Wohnstätte des Namens Gottes (V.7) und den Versammlungsort seiner erwählten Gemeinde (V.4.8) zerstört und entweiht. Gott muss seinem Heiligtum offensichtlich den Rücken gekehrt haben, sonst könnten die gottwidrigen, chaotischen Mächte in Gestalt des Gegners nicht so ungestört ihr Unwesen treiben. Warum (V.I.II) und wie lange (V.10) Gott fern bleibt und diesem Treiben untätig zuschaut, sind die Fragen, die die betende Gemeinde beschäftigen. Entsprechend lautet die Aufforderung an Gott, zurückzukehren, und ergeht der Ruf: „Erhebe deine Schritte zu den ewigen Trümmern" (V.3). Als Wohnstätte Gottes erscheint der Zion auch in dem für gewöhnlich als Zionslied betrachteten Ps 76.35 Anders als in den Zionspsalmen der KorachGruppe (Ps 46; 48) gilt der Zion in Ps 76 ebenso wie auch in Ps 50 und 74 jedoch nicht als Schutz- und Zufluchtsort für seine Bewohner, sondern eben als Wohnort Gottes, von dem aus er handelt und Gericht hält sowohl über seine Feinde (Ps 76) als auch über sein Volk (Ps 50).36 Als Ortsangabe begegnet in Ps 76 neben dem Zion in V.3 Salem, der angeblich alte Name Jerusalems (Gen 14,18).37 Archaisierend wirkt auch die Bezeichnung des Tempels als „Hütte" oder „Zelt" (1D - vgl. Ps 27,5). „Dort" (V.4), auf dem Zion bzw. vom Zion aus, zerstört Gott alle Kriegswaffen (vgl. Ps 46,10) und besiegt die Mächte des Chaos. Vergleichsweise breiten Raum nimmt die Erwählung des Zion verbunden mit der Erwählung Davids in Ps 78 ein. Wie bereits erwähnt, wird die Landnahme hier zugespitzt auf den Zion, den „Berg, den seine Rechte erworben" (V.54). Explizit mit dem Zion gleichgesetzt wird dieser Berg in V.68. Hier 34 Vgl. M. EMMENDÖRFFER: „nat (vgl. V.18) meint nicht das intellektuelle, noetische .Denken' und Vergegenwärtigen, sondern ist in sich der Vollzug und die Wiederholung von Geschehenem, Aktion mit folgender Reaktion." (a.a.O., 86f). 35

Vgl. u.a. H.-J. KRAUS, P s a l m e n II, 6 8 9 ; M . E . TÄTE, P s a l m s 5 1 - 1 0 0 , 2 6 3 ; K . SEYBOLD,

Psalmen, 295. 36 Zu den Unterschieden von Ps 76 gegenüber Ps 46 und 48 vgl. auch F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 3 8 7 . 37 Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER: „Daß der Psalm nicht die übliche Bezeichnung .Jerusalem', sondern das seltene ,Salem' (außer Ps 76,4 nur noch Gen 14,18) gebraucht, soll einerseits die .mythische' Ur-Zeit evozieren, andererseits soll mit .salem' die .salom'- Perspektive anklingen, um die es in dem Psalm geht: die Kriegswaffen werden zerstört, und die Feinde werden in ihrem Angriff gelähmt, damit .Frieden' (Dlbltf) anbrechen kann." (a.a.O., 391).

1. Themen und Motive

311

gilt der Zion ebenso wie der Stamm Juda als Objekt des Erwählungshandelns Gottes. Drittes Objekt und letztendlich Zielpunkt dieses Erwählungshandelns ist David (V.70), der als Knecht (isy) Gottes bezeichnet wird. Der Fokus des Psalmisten konzentriert sich hier zunehmend von dem einen Stamm Juda und seinem Territorium hin zu dem einen Ort Zion und der einen Person David.38 Am Ende eines langen Durchgangs durch die Geschichte Israels, die als ein andauernder Kreislauf der Untreue Israels einerseits und der Strafe und Vergebung Gottes andererseits gedeutet wird,39 stehen die Hoffnung und Zuversicht, dass diese Eckdaten Bestand haben: Juda als der gegenüber Ephraim / Joseph (= Nordreich) kleinere Rest des Erbes Gottes (vgl. V.62), der Berg Zion, „den er liebt" (V.68), der wie die Erde fest gegründete Tempel (V.69) und schließlich David, sein Knecht. Während Israel gegenüber dem Heilshandeln Gottes in seiner Geschichte immer wieder versagt hat, hat David sich seiner Erwählung würdig erwiesen, „er weidete sie (d.h. das Volk) mit redlichem Herzen, mit umsichtiger Hand leitete er sie" (V.72). Dabei vermeidet der Psalmdichter in gut deuteronomistischer Zurückhaltung gegenüber dem Königtum den Königstitel und bezeichnet David als „Knecht", der jedoch als Ausweis seiner besonderen Würde von Gott das Hirtenamt (vgl. V.52) übernimmt.40 Nicht der Zion selbst, aber die Stadt Jerusalem bzw. die Klage um dieselbe steht am Anfang von Ps 79. Ähnlich wie in Ps 74 wird hier die Zerstörung Jerusalems und des Tempels beklagt (Ps 79,l-4). 41 „Heidenvölker" haben den 38

Vgl. D. MATHIAS: „Die Erwählung Judas bedeutet die Erwählung seines Stammesgebietes als Wohnort Gottes und seines Stammes als des Stammes, der David hervorgebracht hat." (Geschichtstheologie, 102). 39 Vgl. D. MATHIAS: „Die Geschichte wird als Handlungsraum gegensätzlicher Initiativen von Gott und Volk beschrieben. Modelle, die die Geschichte allein von Gottes Heilstaten her deuten, treten daher zurück und machen solchen Platz, die das unangemessene Verhalten des Gottesvolkes gegenüber diesen Heilstaten einbeziehen und so zu einer Deutung der Tiefpunkte seiner Geschichte gelangen. Bestimmend ist das Modell von Sünde - Strafe und Vergebung. Dabei ist die Vergebung nicht nur die Alternative zur Strafe, sondern auch das die Strafe bestimmende Regulativ." (a.a.O., 109f). 40 Vgl. H. SPIECKERMANN: „In der Ersetzung des Königstitels durch die Ehrenbezeichnung .Knecht' ist der Psalmdichter deuteronomistischer Theologie verpflichtet, für die ihren meisten Vertretern gemäß Königtum und Königstitel durch die Katastrophe von 587 irreversibelen Schaden erlitten haben. Gilt im Deuteronomismus dasselbe für den gesamten Bereich der Jerusalemer Zions- und Tempeltheologie, teilt der Psalmdichter diese Einstellung nicht, sondern legt großes Gewicht auf das sich in der Erwählung manifestierende Liebesverhältnis Gottes zum Zion und die kosmische Bedeutung des Tempels, weil er selbst in dieser theologischen Sphäre zu Hause ist und lediglich dazu bereit ist, die im Deuteronomismus einleuchtend bedachte Schuldfrage in sie zu integrieren, nicht aber dazu, seine theologische Herkunft zu verleugnen." (Heilsgegenwart, 149). 41 Vgl. K.-J. ILLMAN: „In Ps 79:1 nennt der Psalmist drei Objekte des feindlichen Angriffs: ,Dein Erbe', ,deinen heiligen Tempel' und Jerusalem'. Die Parallelisierung erinnert an Ps

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IV. Die Gruppe der Asafpsalmen

Tempel, der als Erbe (i~6m) Gottes qualifiziert wird,42 entweiht und Jerusalem, die Stadt Davids, zerstört. Dabei greift der Psalmist offensichtlich auf vorgegebene prophetische Gerichtsworte zurück, die die Zerstörung und Verwüstung Jerusalems und des Zions ankündigen (Mi 3,12; Jer 26,18).43 Dieses von den Propheten angekündigte Gericht ist inzwischen eingetroffen und kann nun in der Klage vor Gott gebracht werden (vgl. die Invocatio V.l). 44 Nach diesem Überblick über die zahlreichen und verschiedenartigen Rückgriffe auf geschichtliche Themen und Motive innerhalb der Asafpsalmen lassen sich Ziel und Intention geschichtlicher Reflexion in dieser Psalmengruppe folgendermaßen bestimmen: 1. Unheilserfahrung deuten und verstehen: Dieses Anliegen klingt bereits zu Beginn der Asafpsalmengruppe mit der Ps 74 einleitenden Warum-Frage an. Die Frage, warum Gott sie verstoßen hat, die Suche nach dem Grund für das erfahrene Unheil der Zerstörung Jerusalems und des Exils stehen im Mittelpunkt des Interesses der betenden Gemeinschaft. Auch die höchste Autorität beanspruchende Einleitung45 des geschichtsträchtigen Ps 78 verweist mit ihrer Rede von den „Rätseln der Vorzeit" (V.2) auf dieses Anliegen. Damit ist nicht gemeint, dass der Psalmist seine folgende Interpretation der Geschichte Israels in Form eines Rätselwortes darbieten will, sondern vielmehr „das Irrationale des Geschehens",46 die beständige Ignoranz des Volkes gegenüber den ebenso beständigen Heilstaten Gottes einerseits und das Festhalten Gottes an seiner Barmherzigkeit andererseits. Der durch die deuteronomistische Analyse geschulte Psalmdichter deutet die Geschichte Israels als einen Kreislauf von immer neuen Heilstaten Gottes und einem andauernden Unverständnis des 74:2. In beiden Fällen handelt es sich um ein Klagelied über die Zerstörung Jerusalems und des Tempels." (Thema und Tradition, 28). 42 Als nbni - „Erbe" wird in den übrigen Asafpsalmen vor allem das Volk (Ps 74,2; 78,62.71) oder aber das Land (Ps 78,55) bezeichnet. Die in Ps 79,1 vorliegende Beschreibung des Tempels als n b m ist am ehesten mit Ex 15,17 vergleichbar. 43 Vgl. H.P. NASUTI, Tradition History, 94; M. EMMENDÖRFFER, Der ferne Gott, 152f. 44 Vgl. M. EMMENDÖRFFER: „Das Gerichtswort von einst, das die Propheten im Auftrage Jhwhs gesprochen haben, kann nun Jhwh wiederum im Gebet entgegengebracht werden, um die vorgetragenen Bitten (s. V.6-12) zu begründen. Das Wort Jhwhs, das dem Volk Israel die Katastrophe und den Untergang angesagt hatte, kehrt zu Jhwh in dem Gebet des Volkes zurück." (a.a.O., 153). 45 H. SPIECKERMANN identifiziert das in V.lf sprechende Ich mit der personifizierten Weisheit: „Am ehesten wird die personifizierte Weisheit die Sprecherin sein, wozu auch der weitere Sprachgebrauch paßt (btffo ,Spruch', i r r n ,Rätsel'). Sie muß für den Höraufruf ihre Autorität leihen, denn von Gottes Geschichte mit Israel soll die Rede sein in unhinterfragbarer Interpretation, weil sub specie sapientiae gleichsam sub specie Dei geurteilt ist." (Heilsgegenwart, 140). 46 A. WEISER, Die Psalmen übersetzt und erklärt. Bd. II Psalm 61-150 (ATD 15), Göttingen 19667, 366.

1. Themen und Motive

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Volkes gegenüber dieser Sprache der heilvollen Erfahrungen. Diese fortgesetzte Vergesslichkeit (mtf - V.l 1, nDT üb - V.42) gegenüber den Wundertaten Gottes, gepaart mit Ungehorsam gegenüber seinem Gebot und mangelndem Vertrauen, musste den Zorn und infolge dessen die Strafe Gottes herausfordern. Mit dieser Sichtweise gewinnt der Psalmist ein Deutungsmodell für die Unheilsfalle in der Geschichte Israels und damit auch für die Unheilserfahrung seiner eigenen Zeit. Eine vergleichbare Perspektive nimmt auch Ps 81 ein. Auf das heilvolle göttliche Handeln im Exodus hat das Volk nicht mit dem angemessenen Gehorsam gegenüber dem Gebot Gottes reagiert. Entsprechend hatte Gott keine andere Wahl, als es der Verstocktheit seines Herzens anheim zu geben und es auf seinen eigenen unheilvollen Wegen wandeln zu lassen (V.l3). Inmitten dieser Situation selbstverschuldeter Bedrängnis stellt Gott jedoch in Ps 81 neue Heilserfahrung (V.15ff) in Aussicht. In der Begründung eben dieser Hoffnung auf neue Heilstaten Gottes liegt ein weiteres Ziel der Auseinandersetzung mit der Geschichte in den Asafpsalmen. 2. Hoffnung auf neue Heilserfahrung wecken und begründen: Dass die Erinnerung an die Wundertaten Gottes in der Vergangenheit neue Hoffnung in „Tagen der Drangsal" (Ps 77,3) stiften kann, begründet programmatisch Ps 77. Der durch Verben des Erinnerns und Durchdenkens ("DT - V.4.7.12, rrfc? V.4.7.13 nt?n - V.6) geprägte Psalm beschreibt einen Weg, der mit Hilfe der Erinnerung an die Wundertaten Gottes vom Zweifel hin zu neuer Zuversicht fuhrt. Der Beter formuliert die auch die Gemeinschaft bedrängende Frage, ob der Herr auf ewig verstoßen (mt vgl. Ps 74,1) und seine Güte für immer ein Ende haben wird (V.8f), und schildert die innere Bedrängnis, die mit dieser Frage, aber auch mit dem Prozess der Erinnerung an die Taten Gottes, verbunden ist (V.2—7). Ermutigung angesichts seiner Fragen und Zweifel erfährt er auf dem Wege der Vergegenwärtigung der Rettungstat Gottes am Schilfmeer, auf den er sich selbst begibt (vgl. die Selbstaufforderung in V.l 1-13). Diese Rettungstat erhält die Qualität eines urzeitlichen (V.6) und damit zeitlos gültigen Geschehens, das als solches Hoffnung für die Zukunft stiften kann. Durch die Verschmelzung mit mythischen Themen und Denkkategorien verliert das geschichtliche Ereignis den Charakter der Einmaligkeit und wird zur Heilstat Gottes, die unabhängig von Zeit und Raum auch in der heillosen Gegenwart wiederholbar ist. Eben diese Funktion hat die Verbindung von Heilsgeschichte und Mythos auch in Ps 74 und 76. Die Begründung der Hoffnung auf neue Heilserfahrung geschieht in dem vor allem auf die Offenlegung der Heilsgeschichte als Schuldgeschichte des Volkes ausgerichteten Ps 78 durch die Betonung der Prävalenz der Barmherzigkeit Gottes gegenüber seinem Strafhandeln. Weil Gott sich in der Vergangenheit immer wieder als der vergebende Gott erwiesen hat, kann die betende Gemeinschaft auch in Zukunft auf seine Barmherzigkeit hoffen. Bleibendes Zeichen seiner Barmherzigkeit ist nach Ps 78 die Erwählung Judas und des Zion, insbesondere aber Davids,

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IV. Die Gruppe der Asafpsalmen

der sich als würdiger Hirte erwiesen hat und somit in spätexilischer und frühnachexilischer Zeit Anlass zu der Erwartung eines David redivivus gibt. Die Erinnerung und Vergegenwärtigung heilsgeschichtlicher Grunddaten dient jedoch nicht nur dazu, den Hoffnungen der betenden Gemeinschaft Grund und Anhalt zu geben, sondern darüber hinaus in diesem Prozess auch Gott zur Erinnerung an seine früheren Heilstaten und damit zu erneutem Handeln aufzufordern. Auf diese Intention verweisen die beiden zentralen Bitten „Gedenke!" (Ps 74,2) und „Schau auf den Bund!" (Ps 74,20) zu Beginn der Gruppe der Asafpsalmen. Entsprechend werden in Ps 80 die zahlreichen Bitten um Rettung und Hilfe (V.3.4.8.15.20) durch die Erinnerung an die Fürsorge Gottes während der Zeit von Exodus und Landnahme begründet. Die Weinstock-Allegorie setzt ins Bild, was die betende Gemeinschaft auch in Zukunft von Gott erhofft, nämlich Wiederherstellung seines erwählten Volkes (vgl. den Kehrvers V.4 und 20) und erneute Fürsorge für seinen Weinstock (V.15). Ausdrücklich zu einem neuerlichen Eingreifen, das seinem Handeln in der Vergangenheit entspricht, wird Gott in Ps 83,1 Off aufgefordert. Durch die Nennung der Namen der gegnerischen Führer der Richterzeit wird diese Epoche und das damalige heilvolle Handeln Gottes nicht nur dem aktuell bedrängten Volk, sondern vor allem auch Gott selbst vor Augen gefuhrt. Anders als in Ps 80 bittet der Psalmist Gott hier explizit, mit den jetzigen Feinden des Volkes ebenso zu verfahren wie mit den früheren. 1.3 Gericht Ein weiteres Thema, das in der Gruppe der Asafpsalmen breiten Raum einnimmt, ist das Gericht Gottes über Israel bzw. die Frevler. Dabei fallt auf, dass diese Thematik vor allem in denjenigen Texten begegnet, die eine Gottesrede beinhalten (Ps 50; 75; 81; 82). Im Vergleich zu den übrigen Bereichen des Psalters begegnet das Element der Gottesrede in den Asafpsalmen überproportional häufig.47 Immerhin ein Drittel der Texte ist davon geprägt. Diese Redeform ist aber ebenso wie die Gerichtsthematik an sich eng mit der prophetischen Tradition verbunden, so dass sich die Frage stellt, ob es Verbindungslinien zwischen Prophetie und Asafpsalmen gibt und wie genau dieses Verhältnis beschaffen ist. Präsentiert sich in den Asafpsalmen in der Form der Gottesrede ergehende prophetische Gerichtsankündigung im psalmentheologischen Gewand, oder bedient sich vielmehr Psalmentheologie prophetischer Denk- und Redeformen? Die neueren Monographien zu den Asafpsalmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie allesamt von einer engen Beziehung der Asafpsalmen zur Kultprophetie ausgehen. So kommt K.-J. lllman unter anderem zu dem Schluss: ,43er Kultprophetismus spielt eine wichtige Rolle in APs [Asafpsalmen - Erg. d. Verf.], aber auch hier verbietet sich jede Generalisierung. Was 47

223ff.

Vgl. hierzu die Ausführungen von F.-L. HOSSFELD, Das Prophetische in den Psalmen,

1. Themen und Motive

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behauptet werden kann, ist, dass es unter den Asafiten Kultpropheten oder wenigstens die Funktion der Kultprophetie gegeben hat."48 Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt P. Schelling in seiner englischen Kurzzusammenfassung: „The theme of judgement we find in some form or another in all twelve songs. There, where YHWH's judgement strikes Israel, it is not severely punishing, but rather admonishing (paraenetic) in character. In most psalms the hostile and godless peoples are under YHWH's judgement. That this theme occurs so frequently and penetratingly in the Asaph psalms bears witness to a prophetic spirit in these psalms. Evidently the writers come from prophetic surroundings, and cult and prophecy belong together."49 H.P. Nasuti, der die Asafpsalmen mit den Regierungszeiten der Reformkönige Hiskia und Josia in Verbindung bringt, bestimmt die Spezifika der Asaf-Gruppe folgendermaßen: „Whether or not the Asaphites may be connected with the Deuteronomic reforms, the Asaphite psalms provide an insight into the peculiar concerns and emphases of the Ephraimite cult. [...] In such a way the strong concentration of both communal laments and prophetic psalms clearly points to a concern for these Epraimite circles. Even more specifically, the distinctively Asaphite use of prophetic speech for the purpose of warning the people against various legal and cultic abuses indicates how such prophetic warnings found elsewhere in the Ephraimite literature might have been actualized in the cult."50

Was die Form der Gottesrede angeht, so kommt F.-L. Hossfeld in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die entsprechenden Texte keinen Hinweis darauf geben, dass in ihnen ein Gotteswort durch einen Kultpropheten übermittelt bzw. zitiert wird.51 „Kein Zweifel besteht daran, dass es sich bei allen Gottesreden um aktuelle, zum Zeitpunkt des Betens sich vollziehende Vorgänge handelt."52 Der Beter ist „Augen- und noch mehr Ohrenzeuge himmlischer Vorgänge".53 Um das Verhältnis von Prophetie und Asafpsalmen genauer bestimmen zu können, ist jedoch ein genauerer Blick auf die einzelnen Texte notwendig. Dabei kann das Formelement der Gottesrede allein nicht als Ausweis eines prophetischen Hintergrundes genügen, vielmehr ist die Frage zu stellen, inwieweit sich in den Texten auch spezifisch prophetische Themen und Inhalte finden lassen.

48

K.-J. ILLMAN, Thema und Tradition, 64. P. SCHELLING, De Asafspsalmen, 250f. 50 H.P. NASUTI, Tradition History, 194. 51 Eine Ausnahme bildet lediglich Ps 81, wobei es sich bei der Einleitung der Gottesrede in V.6 auch nicht um eine gewohnte prophetische Redeformel handelt. „In Ps 81 wird die große Gottesrede (VV.7-17) nach Lobaufforderung (VV.2-4) und deren Begründung ( W . 5 6a) eigens eingeleitet: ,Eine Sprache, die ich nicht kenne, höre ich' (V.6b). Die seltene Formulierung hebt auf das Faktum der aktuellen Audition des Beters ab. Sie umschreibt seine .prophetische Inspiration', ist aber keine gewohnte prophetische Redeformel. Eher hat man den Eindruck, dass sich der Beter wie der junge Samuel in lSam 3 an die ungewohnte Sprache gewöhnen muss; zu Zeiten des jungen Samuel ,waren Worte JHWHs selten, Visionen waren nicht häufig' (lSam 3,1)." (F.-L. HOSSFELD, Das Prophetische in den Psalmen, 241). 52 A.a.O., 242. 53 Ebd. 49

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IV. Die Gruppe der Asajpsalmen

a) Gericht über Israel Die Gerichtsankündigung über Israel prägt die Gottesrede in Ps 50. Gott erscheint zum Gericht über sein Volk (V.l-6), Gegenstand der Anklage sind eine veräußerlichte Opferpraxis (V.7-15) und eine ebenso veräußerlichte Gesetzesobservanz (V. 16-22). Zwar nimmt Ps 50 mit der in V.7-15 laut werdenden Opferkritik ein Anliegen der Prophetie auf (vgl. Kap. ÜI.2.1), entwirft dabei aber gleichzeitig ein Gegenbild des wahren Gottesdienstes, in dessen Mittelpunkt das Dankopfer steht (V.14f) und das entsprechend durch eine spezifisch psalmentheologische Anthropologie, nach der der Mensch alle Zeit auf die Gnade Gottes angewiesen ist, begründet wird. Der Verfasser von Ps 50 bedient sich also prophetischer Motive zum Zweck der Schuldeinsicht, der von ihm entwickelte positive Gegenentwurf verrät ihn jedoch als Vertreter der Tempel- bzw. Psalmentheologie.54 Anklage und Gericht über Israel bestimmen auch die Gottesrede in Ps 81. Dem Anliegen von Ps 50, Gott statt Tieropfer ein Dankopfer in Gestalt des Lobpreises darzubringen (Ps 50,14.23) und ihn in Zeiten der Not um Hilfe anzurufen (Ps 50,15), wird in Ps 81 Folge geleistet. Die Versel-4 fordern dazu auf, Gott begleitet von vielstimmigem Instrumentenklang, zu preisen, und der Beginn der Gottesrede erinnert daran, dass das Volk seinerzeit in seiner Bedrängnis zu Gott rief und Rettung erfuhr (V.8). Diese Rettungstat Gottes vollzog sich zum einen in der Befreiung aus Ägypten, zum anderen in der Antwort aus „des Donners Hülle", die in der Gabe der Torah, insbesondere des Dekalogs, besteht (vgl. 5f.12.14). In dieser Verbindung von Exodus und Dekalog spiegelt sich der Einfluss deuteronomistischer Theologie wider (vgl. Dtn 5,6ff), der sich entsprechend auch in der Anklage Gottes gegen sein Volk niederschlägt. Mangelnde Gesetzesobservanz (V.12), die sich vor allem im Verstoß gegen das Fremdgötterverbot des Dekalogs konkretisiert (V.10), wirft Gott seinem Volk in deuteronomistischer und prophetischer Tradition vor. Diese Anklage ist jedoch durchdrungen vom Ton der Klage (V.14), der schließlich in einer neuen Rettungsverheißung mündet. Wenn Israel auf den Wegen Gottes ginge und ihm Gehorsam schenkte, würde er sich erneut als der Gott des Exodus erweisen (V.ll), die Feinde Israels bezwingen (V.15f) und sein Volk mit Speisen sättigen, die die einstigen Wunder der Wüstenzeit noch übertreffen (V. 11.17). Die deuteronomistisch und prophetisch geprägte Anklage behält in der Gottesrede von Ps 81 nicht das letzte Wort, sie dient allein dem Schuldaufweis. Das eigentliche Ziel besteht wie in Ps 50 im positiven Gegenentwurf, d.h. in der Ermöglichung eines Neuanfangs. 55 54

Vgl. auch H. SPIECKERMANN, Rede Gottes, 159FF. Vgl. hierzu die Ausführungen von H. SPIECKERMANN zur Gottesrede in den Psalmen: „Wo die Schuldfrage des Volkes unter dem Einfluß von Prophetie und Deuteronomismus in den Bereich der Psalmentheologie gelangt, wird unter der Autorität der Gottesrede beides zu leisten versucht: die Anklage des Volkes im Schuldaufweis (Ps 50) und die Klage um das 55

1. Themen und Motive

317

b) Gericht über die Frevler Anders als in Ps 50 und 81 sind die Gottesreden in Ps 75 und 82 nicht von der Anklage gegen Israel, sondern vielmehr vom Gericht über die Frevler geprägt. Allerdings ist Ps 75 und 81 die ungewöhnliche Verbindung von Gerichtsrede und hymnischen Elementen jeweils zu Beginn des Psalms gemeinsam. Der einleitende Lobpreis der Gemeinde in Ps 75,2 ist insofern sinnvoll und verständlich, da sich die folgende Gottesrede nicht gegen das Volk als Ganzes, sondern gegen „alle Frevler der Erde" (V.9) richtet. Die Tatsache, dass Gott in seinem gerechten Richten (V.3) die sich hochmütig erhebenden Frevler (D^tSH) erniedrigt, die Gerechten ( D ^ n s ) erhöht und auf diese Weise die gefährdete Ordnung der Welt wiederherstellt (V.4), ist hinreichender Grund zum Lobpreis. Prophetischer Einfluss wird in V.9 mit dem Motiv des Taumelbechers, den Gott den Frevlern reicht, greifbar (vgl. Jes 51,17.22; Jer 25,15ff; 51,7; Ez 23,3 lff; Sach 12,2). Der Rückgriff auf prophetische Traditionen ist jedoch auch hier primär Mittel zum Zweck. Das richterliche Handeln Gottes ist ein Teil seiner Wundertaten (niKbß] - V.2), deren Vergegenwärtigung Hoffnung für die Zukunft stiften kann.56 Wenn der in Gottes Augen rechte Zeitpunkt gekommen ist (V.3), wird er erneut zum Gericht erscheinen. Einen innerhalb des Psalters außerordentlichen Charakter hat Ps 82." Die hier in der Gottesrede formulierte Anklage richtet sich nicht wie sonst üblich gegen Menschen, sondern gegen Götter. Der erste Vers führt in die ungewöhnliche Szenerie ein: Der eine Gott (DTI^N) hält in der Gottesversammlung (bx t i l i ) Gericht über die anderen Götter (crnbx). In der folgenden Gottesrede klagt der göttliche Richter die Götter an, dass sie ihrerseits ihrem Richteramt nicht in rechter Weise nachkommen. Vielmehr lassen sie die Frevler in ihrem Treiben gewähren und verschaffen den Armen und Elenden nicht die ihnen zustehende Gerechtigkeit. Damit haben sie sich als Götter diskreditiert, sie fallen der gleichen Nichtigkeit anheim wie sterbliche Menschen (V.7). In das so entstehende Machtvakuum hinein wird der eine Gott im abschließenden V.8 gebeten, das Erbe der Götter anzutreten. Gott hat sich durch sein Gericht über die Götter definiert, das Kriterium für wahre Göttlichkeit ist das Sorgen für Gerechtigkeit. Die Kriterien, die für menschliche Herrscher und

Volk mit dem Ziel der Schuldeinsicht, die Gott die Möglichkeit zur neuen Verheißung gibt (Ps 81)." (Rede Gottes, 164). 56 Vgl. M.E. TATE: „The presence of Yahweh is invoked by praise and by recounting Yahweh's wonderful deeds in the life of the community as a whole and of the individuals in it. His actions have formed and sustained the community in specific ways, and the memory of this activity in the past gives a solid basis for hoping for similar salvific intervention in the future." (Psalms 51-100, 258). 57 So kommt H.-J. KRAUS in Hinblick auf Entstehungszeit und Sitz im Leben dieses Textes zu dem Urteil: „Ps 82 hat im Psalter einen so exzeptionellen Charakter, dass es unmöglich sein dürfte, in jeder Hinsicht befriedigende Erklärungen zu geben." (Psalmen II, 735).

318

IV. Die Gruppe der Asafpsalmen

Könige gelten, nämlich dass sie dem Elenden und Armen Gerechtigkeit verschaffen (vgl. Ps 72,4.12-14; Jer 22,1-17), gelten auch für einen wahren Gott. Das Erbe der Prophetie tritt Ps 82 dabei vor allem mit der Behauptung und dem Nachweis der Nichtigkeit der anderen Götter an - ein Thema, das insbesondere bei Deuterojesaja einen erheblichen Stellenwert einnimmt (vgl. Jes 40,18-26; 44,6-20; 46,5-10). Darüber hinaus übernimmt Ps 82 mit seiner Sorge für die Elenden und Armen ein Anliegen, das unter anderem auch der Prophetie in besonderem Maße am Herzen liegt (vgl. Am 2,7; 4,1; 5,11; Jes 1,17; 10,2; Mi 2,2). Nach diesem kurzen Durchgang durch die Gottesreden der Asafpsalmen kann nun versucht werden, die eingangs gestellte Frage nach dem Verhältnis zwischen Prophetie und Asafpsalmen zu beantworten. Es hat sich gezeigt, dass die entsprechenden Texte neben dem Formelement der Gottesrede auch spezifisch prophetische (und deuteronomistische) Themen und Inhalte aufweisen. Das bedeutet jedoch nicht, dass hier Propheten Psalmentheologie in ihren Dienst nehmen, um ihr spezifisches Anliegen auch in diesen Sprach- und Literaturbereich einzutragen. Vielmehr übernimmt Psalmentheologie prophetische Themen und Motive, um auf diese Weise neben dem Rückblick in die Geschichte ein weiteres Instrumentarium zur Aufarbeitung der in exilischer Zeit aufkommenden Schuldfrage zur Verfügimg zu haben. Angesichts des in Ps 74,9 beklagten Mangels an Prophetie und angesichts der Aufforderung, nicht zu schweigen (Ps 83,2), ergreift Gott selbst das Wort. Auf die Anklage, wie sie in den Asafpsalmen auch immer wieder begegnet (Ps 74,1; 80,13), antwortet Gott in diesen Texten nun seinerseits mit prophetisch geprägter Anklage. Wie in den Psalmen, die sich in besonderem Maße der Erinnerung an die Heils- bzw. Unheilsgeschichte Israels widmen, besteht auch hier das Ziel darin, Schuld aufzudecken und zur Einsicht zu fuhren, vor allem aber - und darin dürfte das über das der Prophetie hinausgehende Anliegen der Psalmentheologie liegen - Perspektiven für einen Neubeginn aufzuzeigen.58 So klingt neben der Gerichtsrede in Ps 50 der Entwurf eines neuen, wahren Gottesdienstes an, dessen Teilnehmer sich dankbar auf die Gnade Gottes angewiesen wissen. Ps 81 gelangt durch Anklage und Klage hindurch zu einer die Heilserfahrungen der Vergangenheit erneuernden und übersteigenden Verheißung. Daneben nehmen Ps 75 und 82 eine allgemeinere, über Israel hinausgehende Perspektive ein. Der zum Gericht kommende Gott garantiert die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der kosmischen 58 Vgl. auch das abschließende Urteil von F.-L. HOSSFELD: „Die Gottesreden verkünden Gericht und bedingtes Heil in freier Verarbeitung von Tradition. Somit vermittelt sich ein (vorsichtiger) Gesamteindruck, dass die Asafpsalmen unter anderem wahrlich das Erbe der vorexilisch-exilischen Prophetie antreten, nicht als Kultpropheten und Vertreter einer etablierten Institution, sondern als Theologen mit eigenständigem Bemühen um Prophetie und Geschichte Israels." (Das Prophetische in den Psalmen, 243).

1. Themen und Motive

319

Ordnung, die Frevler werden erniedrigt und die Gerechten erhöht (Ps 75). Dieser Maßstab der Gerechtigkeit gilt auch für die anderen Götter (Ps 82). Sie, die anders als der eine Gott Israels eben kein gerechtes Gericht halten, haben damit ihre Nichtigkeit unter Beweis gestellt, so dass Gott ihr Erbe unter den Nationen antreten kann und wird. Außerhalb einer Gottesrede begegnet das Thema „Gericht" in den Asafpsalmen noch in Ps 76. Hier wird nicht nur Gottes machtvolles Wirken auf dem Zion besungen, sondern auch sein Erscheinen zum Gericht „vom Himmel her" (V.9). Im Vordergrund steht dabei der Furcht und Schrecken erregende Charakter des göttlichen Gerichts (vgl. die Wurzel NT1 in V.8.9.12.13). Verbindungslinien gibt es insbesondere zu Ps 82. Anders als die ungerecht richtenden Götter in Ps 82 ist Gott in Ps 76 der gerechte Richter, der das Kriterium für wahre Göttlichkeit erfüllt, indem er den Elenden der Erde (f~iN 113V) hilft. Des Weiteren ist hier von der Erniedrigung der Fürsten und Machthaber die Rede (V.13), die in Ps 82,7 als Vergleichspunkt für den Fall der Götter dient. 1.4 Vertrauen Das Thema „Vertrauen" konkretisiert sich in besonderer Weise im Hirtenmotiv, das in den Asafpsalmen auffällig häufig begegnet.59 So bezeichnet sich in Ps 74,1 die betende und klagende Gemeinschaft als „Schafe deiner Weide". Dabei ist die anklagende Frage „Warum raucht dein Zorn gegen die Schafe deiner Weide" Ausdruck einer tief empfundenen Paradoxie.60 Das Volk versteht sich immer noch als die Gott anvertraute Herde und sieht sich ratlos der Frage gegenüber, wie der gute Hirte diese seine Herde verwerfen kann. Im Festhalten an dieser Selbstbezeichnung äußern sich gleichzeitig jedoch auch die Hoffnung und das Vertrauen, dass Gott sich seines Hirtenamtes und der darin zum Ausdruck kommende Erwählung (V.2) wieder erinnern und die Not seines Volkes wenden wird. In Ps 77,21 erinnert sich der an der Gnade Gottes zweifelnde Beter (vgl. V.8-10) an die früheren Heilstaten Gottes und verknüpft dabei das Hirtenmotiv mit den Themen von Exodus und Wüstenwanderung. Während in dem hymnisch geprägten Teil V.l 1-21 ansonsten allein Gott der Handelnde ist, der Wunder tut und sein Volk erlöst, kommen in V.21 Mose und Aaron ins Spiel. Auf sie überträgt Gott sein Hirtenamt, durch ihre Hand fuhrt er wie Schafe 59

Zum Motiv von Hirte und Herde im Alten Testament vgl. R. HUNZIKER-RODEWALD, Hirt und Herde. Ein Beitrag zum alttestamentlichen Gottesverständnis, Stuttgart 2001. Im Psalter findet sich dieses Motiv außerhalb der Asafpsalmen nur in Ps 23,1; 28,9; 100,3 sowie in Ps 95,7, der als eine Art „deuteroasafitischer Psalm" gilt, vgl. F.-L. HOSSFELD, Psalm 95. Gattungsgeschichtliche, kompositionskritische und bibeltheologische Anfragen, FS W. Beyerlin (HBS 1), Freiburg 1994, 30ff; H.P. NASUTL, Tradition History, 66f. 60 Vgl. K.-J. ILLMAN, Thema und Tradition, 39.

320

IV. Die Gruppe der Asafpsalmen

sein Volk. Diese Diskrepanz zwischen einem ausschließlichen und einem vermittelten Handeln Gottes innerhalb des Abschnitts V. 11-21 legt die Vermutung nahe, dass es sich bei V.21 um eine redaktionelle Hinzufugung handelt, durch die der durch eine individuelle Perspektive geprägte Ps 77 in die ansonsten eher auf die Gemeinschaft ausgerichtete Asaf-Sammlung integriert werden soll. Zu diesem Zweck ist das in den Asafpsalmen so beliebte Hirtenmotiv besonders geeignet. Der Gedanke eines bzw. mehrerer stellvertretender Hirten dürfte dabei durch den benachbarten Ps 78 (vgl. V.70ff) inspiriert sein. In eben diesem Nachbarpsalm begegnet das Hirtenmotiv gleich an zwei Stellen. In V.52 ist das Motiv wie in Ps 77 verbunden mit der Erinnerung an die Heilstaten Gottes in der Geschichte, insbesondere mit den Themen Exodus und Wüstenwanderung. Gott selbst ist der Hirte, „er ließ sein Volk wegziehen wie Schafe und leitete sie wie eine Herde in der Wüste". Der Charakter einer Vertrauensäußerung wird dabei durch den folgenden V.53 unterstrichen: „Er leitete sie sicher, so dass sie sich nicht fürchteten".61 Am Ende von Ps 78 übernimmt David das Hirtenamt. Der Schafhirte David wird von Gott erwählt, um sein Volk zu weiden (V.70f). Wie in Ps 77,21 handelt Gott durch die Vermittlung eines Menschen, der sich - so betont der Schlussvers von Ps 78 dieser Aufgabe würdig erweist. Das Hirtenmotiv, das in der Regel auf Gott angewandt wird und dazu dient, das Vertrauensverhältnis zwischen Gott und Volk zu beschreiben, wird hier - wie auch in Ps 77 - auf einen Menschen übertragen und bekommt damit die zusätzliche Funktion, dem Vertrauen Ausdruck zu verleihen, das Gott in seinen erwählten Knecht (V.70) setzt. Wie in Ps 74,1 bezeichnet sich auch in Ps 79,13 die betende Gemeinschaft als „Schafe deiner Weide". Während sich diese Formulierung in Ps 74 am Beginn des Psalms im Kontext einer anklagenden Frage findet, steht sie in Ps 79 am Ende einer eindringlichen Klage und ist Bestandteil eines Lobversprechens.62 Im Anschluss an eine lange Reihe von Bitten (V.6-12) hat diese Selbstprädikation der Beter als „dein Volk und Schafe deiner Weide" die Funktion einer Vertrauensäußerung, die Gott an seine Aufgabe als Hirte seines Volkes erinnern soll. Anders als in Ps 74 ist sich die Gemeinde in Ps 79 trotz ihres Schicksals jedoch gewiss, dass sie immer noch Gottes Volk und

61 Vgl. K-J. ILLMAN, Thema und Tradition, 40; D. MATHIAS: „Der Psalmist bleibt noch im Bild der Naturmächtigkeit, wenn er Heraus- und Wüstenführung mit der in den Asafpsalmen beliebten Hirtenallegorie umschreibt [...]. Heraus- und Wüstenführung sind in einem Vers ganz dicht aneinandergerückt und mit dem Vertrauensmotiv (53.1) verbunden, als dessen Gegenstück der Untergang der Ägypter im Meer (53.2) erscheint." (Geschichtstheologie, 93 f.). 62 Vgl. K.-J. ILLMAN: „In dem mit Ps 74 eng verwandten Klagelied 79 kommt genau derselbe Ausdruck vor [...], aber jetzt im letzten Vers des Psalmes (V.13). Er wird parallel zu ,deinen Volk' in der Schlussdoxologie angewendet. Hier ist auch der Charakter einer Vertrauensäußerung deutlicher als im Psalm 74." (Thema und Tradition, 39).

1. Themen und Motive

321

seine Herde ist.63 Der Grund fur dieses ungebrochene Vertrauen dürfte darin liegen, dass für die Beter und Verfasser von Ps 79 die bei der Zerstörung Jerusalems und des Tempels agierenden Kräfte primär die Heidenvölker sind und nicht Gott.64 In Ps 80,1 begegnet schließlich das Hirtenmotiv gleich zu Beginn des Psalms in der Anrufung Gottes. Gott wird hier als „Hirte Israels", „der du Joseph leitest wie Schafe" angesprochen. In hymnischem Stil fordern die Beter Gott zum Zuhören (nrtxn) und zur Theophanie (nirsin) auf. Gott soll das Gebet seines Volkes hören und helfend eingreifen. Dabei behaften sie ihn bei den scheinbar so unterschiedlichen Epitheta „Hirte Israels" und „Kerubenthroner". Der mit der Lade und dem Jerusalemer Tempel verbundene Titel des Kerubenthroners beinhaltet nach M.E. Täte drei Grundgedanken: „(1) the mobility of Yahweh, who comes to his people in times of need and manifests his power in deeds of deliverance; (2) the divine warrior who rides his throne chariot across the heavens and through the storm to save (Ps 18:8-18); (3) the one whose great wings provide relief and protection for those who are under them (Ps 91:4; cf.Deut 33:11-12)."65

Das Moment der Fürsorge, des Leitens und Bewahrens, das im Hirtenmotiv mitschwingt, wird auf diese Weise durch den Aspekt des machtvollen, rettenden Eingreifens ergänzt und erweitert. 1.5 Der Gottesname Ein Motiv, das in den Asafpsalmen eine besondere Rolle spielt und dessen Beachtung und Auswertung hinsichtlich der Frage nach dem spezifischen Gebrauch der Gottesnamen und -bezeichnungen im elohistischen Psalter von besonderer Bedeutung ist (vgl. Kap.II.2), ist der Name (DE?) Gottes. Die explizite Nennung des JHWH-Namens, die in jedem Asafpsalm (außer Ps 82) mindestens einmal begegnet, in Verbindung mit der ausdrücklichen Thematisierung des göttlichen Namens (DE? - 11 Belege) dürfte Ausdruck eines besonderen theologischen Interesses der Asafiten sein. Diesem Interesse soll der folgende Durchgang durch die einzelnen Belege genauer auf die Spur kommen. 63 In Hinblick auf die Akzentverschiebung von Ps 74 zu Ps 79 vgl. M. EMMENDÖRFFER: „Erst in nachexilischer Zeit kann das durch die Katastrophe in Mißkredit geratene und durch die Umstände des Untergangs der Stadt Jhwhs widerlegte Bild von den Schafen und dem guten Hirten wieder als Vertrauensaussage benutzt werden, so dass es in einem Lobgelübde entsprechende Verwendung finden kann." (Der ferne Gott, 86). 64 Vgl. M. EMMENDÖRFFER ZU Ps 79: „Die ,Knechte' und .Frommen' Jhwhs identifizieren ihre eigene Lage, das feindliche Geschehen mit dem von Jhwh ehedem angekündigten Gericht. Doch in der Gegenwart ist es nicht Jhwh, der agiert und handelt, sondern die ,Heidenvölker' vergehen sich an Stadt und Land. Threni 2 und ältere Klagelieder des Volkes hätten in einem solchen Handeln durchaus Jhwh selber am Werke gesehen. Psalm 79 nimmt die Anklage gegen Jhwh jedoch deutlich zurück, die Knechte und Frommen leben schon in einer anderen Beziehung zu ihrem Gott (vgl. V.13)." (Der ferne Gott, 154). 65 M.E. TÄTE, Psalms 51-100, 313.

322

IV. Die Gruppe der Asqfpsalmen

So ist die Schmähung bzw. Entweihung des Namens Gottes Ziel- und Höhepunkt des in Ps 74 beklagten zerstörerischen Treibens der Feinde (V.7.10.18). Nach der Erinnerung an das urzeitliche Handeln Gottes (V. 12-17) fasst V.18 das lästerliche Tun der Feinde zusammen und nennt explizit den JHWHNamen. Der Versuch, Gott zum Eingreifen zu bewegen, zielt schließlich daraufhin, dass die Elenden und Armen den Namen Gottes loben sollen (V.21). Ps 75 beginnt mit dem erhofften Lobpreis (V.2), da das Gericht Gottes und sein Name nahe sind. Eine besondere Konzentration erfährt der Gerichtsgedanke im Anschluss an die Gottesrede in V.9 im Motiv des Taumelbechers, den JHWH den Frevlern reicht. Ps 76 konstatiert gleich zu Beginn die Bekanntheit Gottes und seines Namens in Juda bzw. Israel (V.2). Dieser bekannte Gott wird im weiteren Verlauf des Psalms jedoch weiterhin allgemein als D T 6 N - Gott (V.2.10) bzw. Gott Jakobs (V.7) angesprochen. Erst am Ende des Psalms wird enthüllt, wer genau dieser bekannte Gott ist, nämlich DDTi^N mir - JHWH, euer Gott (V.12). Ps 79 leidet ähnlich wie Ps 74 am zerstörerischen Treiben der Feinde, die Gott nicht kennen. Die zentrale Anrufung Gottes: „Wie lange, JHWH?" (V.5) mit ihrer direkten Nennung des Gottesnamens zeichnet ein Gegenbild zum Verhalten der „Königreiche, die deinen Namen nicht anrufen" (V.6).66 Entsprechend erhält auch die Bitte um Hilfe und Rettung ihre Begründung in der Ehre des Namens Gottes (V.9). Da, wo die Feinde, die den Namen Gottes nicht anrufen, zu triumphieren drohen, steht die Ehre dieses Namens auf dem Spiel und ist Gott in den Augen der Beter zum Eingreifen verpflichtet. Zur Ausformung der Namenstheologie und zum Gebrauch der Gottesnamen in Ps 80 haben Hossfeld / Zenger die entscheidenden Beobachtungen ausgeführt: „Psalm 80 presents a differentiated picture in relation to the designations for God. First, the ,system' of the refrains in w.3,7,19 needs to be considered. Each of the introductory appeals to God are systematically intensified: God (v. 3); God of hosts (v. 7); YHWH, God of hosts (v. 19). The climax lies in the last refrain that stands in a matter-of-fact relation to the Name Theology in v.18."67

Aus diesem „System" fallt die Nennung des JHWH-Namens in der ausgebauten Form „JHWH, Gott der Heerscharen" in V.5 heraus. Möglicherweise ist die Einfügung des Tetragramms durch die vergleichbar formulierte Frage in Ps 79,5 inspiriert. Ihren Schluss- und Höhepunkt erreicht die Namenstheologie der Asafpsalmen in Ps 83. Hier wird deutlich, dass das erhoffte Gericht Gottes über die Feinde nicht einfach auf deren Vernichtung abzielt, sondern darauf, „dass sie deinen Namen suchen, JHWH" (V.17). Sie, die den Namen Gottes verhöhnt 66 Vgl. M . MILLARD: „Die Anrufung Gottes mit Namen (V.5) kontrastiert die Bitte gegen die, die Gottes Namen nicht anrufen (V.6)." (Zum Problem des elohistischen Psalters, 92). 67 F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, The So-Called Elohistic Psalter, 47.

1. Themen und Motive

323

und verachtet haben (Ps 74,10.18.21; 79,6) werden erkennen, dass dem Gott, dessen Name JHWH ist, die Herrschaft über die Erde gehört. Nach diesem Durchgang durch diejenigen Asafpsalmen, in denen das Motiv des Namens (DE?) mit einer expliziten Nennung des JHWH-Namens kombiniert wird, sollen nun noch die Texte in den Blick genommen werden, in denen nur das Tetragramm begegnet. In dem isolierten Asafpsalm 50 steht der JHWH-Name bereits in der Eröffnung V.l. Die ungewöhnliche Trias der Gottesbezeichnungen (El, Elohim, JHWH) stellt zu Beginn der David-AsafSammlung programmatisch die Identität von JHWH und Elohim fest. JHWH ist der eine Gott schlechthin, alle anderen denkbaren Gottesnamen bezeichnen allein diesen Gott.68 Anders als in Ps 50 begegnet der Gottesname in Ps 73 nicht im ersten, sondern im letzten Vers des Psalms (V.28) und markiert damit den Zielpunkt des gesamten Textes. Der Beter gelangt durch Zweifel an der Güte Gottes und mühevolles Nachdenken zur Einsicht in das Handeln Gottes und zu der Erkenntnis, dass er bei diesem Gott, dessen Name JHWH ist, seine Zuflucht hat. Ps 77 verwendet in V.12 die Kurzform des Gottesnamens in dem Begriff „Taten JHs". Hossfeld / Zenger schlagen mit Blick auf diese Stelle vor, dass hier an eine überlegte Aufnahme eines terminus technicus im Stile von Ex 15,2 („Lied JHs") und 17,6 („Feldzeichen JHs")69 zu denken ist. Auch wenn diese Überlegungen durchaus zutreffend sein mögen, so fallt doch darüber hinaus auf, dass auch für Ps 77 die bereits in Hinblick auf andere Stellen gemachte Beobachtung zutrifft, dass der Gottesname in einer für die Gesamtaussage des Psalms zentralen Formulierung begegnet. Die Selbstaufforderung des Beters, sich die urzeitlichen Wundertaten Gottes zu vergegenwärtigen (V.12f), stellt den Wendepunkt innerhalb des Psalms dar, da es ihm auf diese Weise gelingt, seine Zweifel (V.2-10) zu überwinden und sich der Treue Gottes zu vergewissern. In einem vergleichbaren Kontext begegnet das Tetragramm in Ps 78,4. Der Beter will von den Ruhmestaten JHWHs erzählen. Hossfeld / Zenger erläutern dazu: „This verse is the indispensable programmatic Statement of the theme of the entire historical psalm. The proper name is thus intentionally placed in front, analogous to Ps 50:1. God's history, narrated in Psalm 78, is, of course, YHWH's history with his people."70

Es ist denkbar, dass die Formulierungen in Ps 77,12 und 78,4 durch die Setzung des JHWH-Namens gezielt parallel gestaltet worden sind. Die Verwendung des Gottesnamens in Ps 78,21 könnte eine redaktionelle Übernahme aus Num 11,1ffdarstellen.71 Denkbar sind jedoch auch hier inhaltliche Gründe. Auf die Frage der umliegenden Psalmen nach der Ursache für den Zorn Gottes liefert Ps 78 die Antwort, indem er die sich wiederholenden 68

Vgl. hierzu auch die Auslegung von Ps 50 in Kap. III.2. / E. ZENGER, The So-Called Elohistic Psalter, 70 Ebd. 71 So die Auffassung von F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, ebd.

69

F.-L. HOSSFELD

46.

324

IV. Die Gruppe der Asafpsalmen

Verfehlungen des Volkes im Laufe seiner Geschichte aufzeigt. Nach einer langen Aufzählung der Heilstaten Gottes wird in V. 21 zum ersten Mal der Zorn Gottes thematisiert. Die explizite Nennung des Gottesnamens macht dabei deutlich, dass das zornige Gerichtshandeln ebenso wie die heilvollen Ruhmestaten (V.4) auf den einen Gott Israels, dessen Name JHWH ist, zurückgeht. Das Heilshandeln und Gerichtshandeln JHWHs gehören zusammen, sie sind Ausweis seiner Gerechtigkeit, die ihrerseits das Kriterium wahrer Göttlichkeit darstellt (Ps 82). Ps 81 schließlich zeichnet sich dadurch aus, dass er als einziger Text im elohistischen Psalter mehr Nennungen von JHWH (V. 11.16) als von Elohim als Eigenname (V.2) enthält. Dieser Befund wird verstärkt, wenn man mit Hossfeld / Zenger die Nennung der Kurzform JH im theophoren Element der singulären Schreibweise des Namens Josef ( ! ] D l i T ) in V.6 hinzurechnet. In V.l 1 begegnet der JHWH-Name im Kontext der Selbstvorstellungsformel. Es ist jedoch fraglich, ob die Formulierung von Ex 20,2 bzw. Dtn 5,6 abhängig ist, da mit Ps 50,7 durchaus auch eine elohistisch geprägte Fassung der Selbstvorstellung vorliegt. Vielmehr steht der Gottesname hier im Zusammenhang der zentralen, auf Ps 82 hinzielenden Warnung, anderen Göttern zu dienen (V.10), und benennt den einen Gott Israels gegenüber den fremden Göttern.72 Auch hier hat der Gottesname also vermutlich die Funktion, auf eine für die Redaktoren bedeutsame Kernaussage des Psalms aufmerksam zu machen. Anders liegen die Dinge jedoch in V.l6. Es ist kaum einsichtig, warum die Feinde in einem primär auf Israel abzielenden Psalm zusätzlich akzentuiert werden, indem sie als JHWH-Hasser beschrieben werden. Es ist durchaus möglich und vom Textzusammenhang sinnvoll, dass hier ursprünglich von den „Israel Hassenden" die Rede war.73 Denkbar ist jedoch auch, dass die Redaktoren der Asafpsalmen hier durch die Einfügung des JHWHNamens eine Rückbindung an Ps 74,18 herstellen und somit eine Lösung des dort die Beter bedrängenden Problems der Schmähung des Gottesnamens durch die Feinde in Aussicht stellen wollten. Der Durchgang durch die Stellen mit DE? - „Name" und die Belege des JHWH-Namens innerhalb der Asafpsalmen hat gezeigt, dass in dieser Psalmengruppe eine charakteristische Namenstheologie eine zentrale Rolle spielt. Die Zielperspektive dieser Namenstheologie besteht auf der Ebene der Gesamtkomposition darin, dass auch die Feinde Gottes, die den Namen Gottes 72

Die Umstellung gegenüber den beiden Dekalogfassungen Ex 20 und Dtn 5, durch die die Selbstvorstellung dem Fremdgötterverbot nachgeordnet wird, bringt eine bedeutsame Akzentverschiebung mit sich. Die Selbstvorstellung wird damit zu einer nachgeschobenen Begründung, die Betonung liegt stärker auf dem Fremdgötterverbot. 73 So ändert z.B. H.-J. KRAUS mrr 1(«!2>D nach einem Vergleich mit Dtn 33,29 in rsi270, vgl. a u c h F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 4 6 9 ; C. RÖSEL, D i e m e s s i a n i s c h e

Redaktion, 33.

2. Die Komposition der Asafpsalmengruppe

325

verhöhnen (Ps 74), einst diesen Namen suchen und dann erkennen werden, dass der Gott, dessen Name JHWH ist, der höchste Gott auf Erden ist (Ps 83). Auf der Ebene der Einzelpsalmen scheint die Nennung des JHWH-Namens vor allem die Funktion zu haben, zentrale Aussagen zu markieren und in besonderer Weise zu unterstreichen. Dabei ist jedoch nicht nur der in sich geschlossene Einzeltext im Blick, sondern durchaus auch übergreifende Bezüge (so im Fall von Ps 77,12; 78,4; 80,5; 81,11.16), die die Gesamtkomposition der Asafpsalmen berühren. Daraus lässt sich schließen, dass zumindest die pointierte Setzung des JHWH-Namens auf die Redaktoren zurückgeht, die den Kompositionsbogen von Ps 73-83 geschaffen haben. So scheint es mit Blick auf die Asafpsalmen angemessener zu sein, statt von einer elohistischen von einer jahwistischen Redaktion zu sprechen, die allerdings nicht etwa die Intention hatte, ein Gegengewicht zur elohistischen Tendenz in die Texte einzutragen. Vielmehr ging es dieser Redaktion um eine Vertiefung dieser Tendenz, die den universellen Anspruch des Gottes Israels bekräftigt und gleichzeitig seinen Eigennamen und damit seine Ansprechbarkeit bewahrt.

2. Die Komposition der Asafpsalmengruppe 2.1 Der Spannungsbogen von Ps 73-83 Nach diesem Durchgang durch die die Gruppe der Asafpsalmen bestimmenden Themen und Motive soll nun ausfuhrlicher der eingangs gestellten Frage nach dem inhaltlichen Spannungsbogen, der zwischen Ps 73 und 83 entfaltet wird, nachgegangen werden. Die Ergebnisse der Untersuchungen, die dieser Fragestellung eine gewisse Aufmerksamkeit widmen, können hier nur in aller Kürze dargestellt werden:74 P. Schelling fasst das Ergebnis seiner Untersuchung zur Reihenfolge der Asafpsalmen in seinem englischsprachigen Summary folgendermaßen zusammen: „Principles of arrangement such as genre, date of origin and heading very likely played no part in the arrangement of the twelve Asaph psalms. If a principle of arrangement was used, then arrangement as regards contents, turn of phrase and the use of words must be considered. This principle, indeed, seems to have played a part in the realization of the order of the twelve songs. The similarities between successive psalms is every now and then so striking that this can hardly be a matter of coincidence. It is likely that these twelve songs were handed over as a collection to the compiler of the Psalter."75 In seiner Darstellung beschränkt sich Schelling allerdings auf die Darstellung der Gemeinsamkeiten zwischen unmittelbar benachbarten Psalmen. Die Frage nach einer übergreifenden Gestaltungsoder Leitidee stellt Schelling dagegen nicht. J.C. McCann weist daraufhin, dass das gesamte dritte Psalmenbuch - und damit die Gruppe der Asafpsalmen - von Klagen der Gemeinschaft bestimmt ist. In ihrer Anordnung wechseln 74

Zu den Ergebnissen der Überlegungen von F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER und

M . MILLARD 75

vgl. die entsprechenden Darstellungen in Kap.

P. SCHELLING, Asafspsalmen, 254.

1.1.2.2.

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IV. Die Gruppe der Asafpsalmen

sich diese Klagen jedoch mit Psalmen ab, „which grasp for threads of hope amid the experience of exile and dispersion by celebrating God as judge of all the earth or by rehearsing God's past deeds on Israel's behalf despite Israel's faithlessness."76 Diese Zusammenstellung dient der Verarbeitung der Exilserfahrung und der Gewinnung einer Neuorientierung jenseits der bis dahin tragenden David- /Zion-Theologie. B. Weber kommt in seiner Studie zu Ps 77 zu folgender Bewertung: "Krisenbewältigung (Verwerfung, Gericht) bildet den roten Faden, der durch samtliche Asaph-Psalmen hindurchläuft."77 Dieses Charakteristikum verteilt sich seiner Auffassung nach „auf zwei Brennpunkte einer Ellipse"78. Den einen Brennpunkt bilden Volksklagepsalmen, die nationale Not- und Bedrängnissituationen verarbeiten (Ps 74; 79; 80; 83), den anderen im Prophetenstil gehaltene Gerichtswarnungen (Ps 50; 75; 81). Die übrigen Asafpsalmen lassen sich zwar nicht in diese Struktur einfügen, haben aber Webers Einsicht nach Affinitäten zu einem der beiden Pole. Als weiteres Charakteristikum der Asafpsalmen beschreibt Weber den Rückgriff auf Überlieferungen, die insbesondere die Früh- und Urgeschichte Israels betreffen und mit deren Hilfe die Gegenwart verstanden und gedeutet wird. Ein weiteres typisches Merkmal ist das „Ansagen und Gegenwärtig-Machen der Zuwendung Gottes im Wort, aber auch das Ringen um Gottes Präsenz"79. Was die Reihenfolge der Asafpsalmen angeht, so kommt Weber zu der Auffassung, dass sich eine dominierende Gliederung in Zweiergruppen feststellen lässt: „Ps 75/76 zeichnen Jahwe als Richter über die Frevler bzw. Feindmächte; Ps 77/78 versuchen nationale Katastrophensituationen unter Zuhilfenahme der frühgeschichtlichen Überlieferung theologisch zu bewältigen; Ps 79/80 verarbeiten als Volksklagen den nationalen Untergang (Südreich/Nordreich); Ps 81/82 bieten Gerichtswarnungen gegen das Volk Israel bzw. gegen die Gottheiten der Fremdvölker. Die Staffel von Zweiergruppen wird gerahmt durch zwei einzeln dastehende, aber aufeinander bezogene Volksklagen (Ps 74; 83)."80 Ps 73 wurde als Eröffnungspsalm der Asafgruppe und des 3. Psalmbuchs erst später hinzugefügt. Entsprechend ergibt sich hinsichtlich der Reihenfolge der Asafpsalmen, wie sie sich im vorliegenden Endtext des Psalters darstellt, ein Spannungsbogen, der von der Frage „Warum, Elohim, hast du verworfen für immer, raucht der Zorn wider die Herde deiner Weide?" (Ps 74,1) bis hin zu der Bitte reicht, dass überall (auch unter den Frevlern und Feinden) JHWH als der Höchste gesucht und erkannt wird (Ps 83,19).

Entsprechend der im Bereich des zweiten Davidpsalters erprobten und bewährten Vorgehensweise soll dabei auch hier dem Verweissystem, das sich durch die Gattungsangaben innerhalb der Überschriften ergibt, Folge geleistet werden. Der größte Teil der Überschriften der Asafpsalmen enthält die Gattungsangabe „Mizmor" (Ps 73; 75; 76; 77; 79; 80; 82; 83 sowie Ps 50), Ps 75; 76 und 83 sind außerdem mit der Gattungszuweisung Tttf - „Lied" überschrieben und auf diese Weise zusätzlich untereinander verbunden. Aus dieser 76

J.C. MCCANN, Books I—III and the Editorial Purpose of the Hebrew Psalter, in: ders. (Hrsg.), Shape and Shaping, 93-107 (96). 77 B. WEBER, Psalm 77 und sein Umfeld, 277; zum Spannungsbogen der Asafpsalmen vgl. auch ders., Asaph-Psalter, 133ff. 78 A.a.O., 278. 79 A.a.O., 281. 80 A.a.O., 291. In seiner neusten Überlegungen zu den Asafpsalmen geht B. WEBER allerdings von drei Dreiergruppen (Ps 74-76; 77-79; 80-82) aus, die durch Ps 73 und 83 gerahmt werden (Asaph-Psalter, 136ff).

2. Die Komposition der Asafpsalmengruppe

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Hauptgruppe fallen zum einen Ps 74 und 78 heraus, die in ihren Überschriften beide als „Maskil" bezeichnet werden und dadurch aufeinander hingeordnet sind. Zum anderen enthält die Überschrift von Ps 81 in der Fassung des masoretischen Textes keinerlei Gattungsangabe. Die Septuaginta bietet jedoch die Angabe