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German Pages [96] Year 2018
7. Jahrgang 1 | 2018 | ISSN 2192-1202
faden Leid
FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R
Sönke Nissen-Knaack Leben – eine Kunst? Über das fragile Glück von
Künstlern
Ulrike Mainzer Trauerkunst Wilhelm Schmid Interview
Daniel J. Dietrich, Nicole Gnägi Dietrich, Andreas Dennler Das Leben als
Kunst-Werk gestalten
Johannes Bucej Das Leben bis zum Schluss auskosten
Edition Leidfaden. Basisqualifikation Trauerbegleitung
Heiderose Gärtner-Schultz
Norbert Mucksch
Der richtige Satz zur richtigen Zeit
Frieden schließen
Kurzzeitberatung in der Trauerbegleitung Mit einem Vorwort von Monika Müller. 2017. 136 Seiten mit 3 Abb., Paperback € 15,– D ISBN 978-3-525-40286-3
Die Bedeutung der Versöhnung in der Trauerbegleitung Mit einem Vorwort von Klaus Onnasch. 2017. 139 Seiten mit einer Abb., Paperback € 15,– D ISBN 978-3-525-40285-6
eBook: € 11,99 D / ISBN 978-3-647-40286-4 eBook: € 11,99 D / ISBN 978-3-647-40285-7
„Ein Satz kann ein Leben verändern“ – das haben schon viele Menschen erfahren. Aber wie gelingt es, den richtigen Satz, den ein anderer gerade braucht, parat zu haben? Ernste und wichtige Anliegen werden im Hospiz, Krankenhaus oder Altenheim häufig „zwischen Tür und Angel“ mitgeteilt. Oft hat ein Mensch unter diesen Umständen nicht mehr so viel Lebenszeit, um seine Probleme zu bearbeiten. Hier setzt Heiderose Gärtner-Schultz mit ihrer Kompaktberatung an. Dieses Konzept für eine Kurzzeitberatung weckt Sensibilität und bietet Praxishilfen für ein im guten Sinne des Wortes leichtfüßiges Umgehen mit scheinbar schweren Problemkonstellationen.
Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht
Immer wieder bleiben trauernde Menschen nach einem Sterbefall zurück mit dem quälenden Gefühl, etwas mit einem Verstorbenen versäumt zu haben oder ihm schuldig geblieben zu sein. Tatsächliche Schuld und mehr noch unklare Schuldgefühle können einen Trauerverlauf erheblich beeinflussen. Norbert Mucksch zeigt, welche Chancen darin liegen, diese Empfindungen zu benennen und sich ihnen in einer geschützten Atmosphäre, etwa im Rahmen einer Trauerbegleitung, anzunähern. So können Schuld und Schuldgefühle in das eigene Leben und Erleben integriert werden. Trauernde finden ihren Frieden mit sich und der Situation und können sich mit einem verstorbenen Menschen und vor allem mit sich selbst versöhnen. Zahlreiche konkrete Fallbeispiele sorgen für den notwendigen Praxisbezug.
www.v-r.de
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EDITORIAL
LEBEN(ist)KUNST – Editorial Ist Leben eine Kunst? Und was zeichnet mich als Künstlerin, als Künstler meiner Lebensgestaltung aus? Diese Fragen richten sich an eine aufmerksame Selbstbetrachtung und provozieren eine Selbstbeziehung, die der Philosoph Wilhelm Schmid als Lebenskunst, mit sich selbst befreundet zu sein, bezeichnet, als »Sorge um ein maßvolles Selbstverhältnis, das in der Lage ist, das Selbst zu festigen und zu anderen hin zu öffnen« (Schmid 2007, S. 16). In unserer gegenwärtigen Zeit, der sogenannten Postmoderne, sind wir in einem Maße auf uns selbst verwiesen, das vorherige Generationen unseres Kulturkreises so nicht kannten. Lebensentwürfe und sinnstiftende Orientierungen wählen wir individuell und weitgehend gelöst von religiösen, politischen, ökologischen, ökonomischen und sozialen Beziehungen. Vieles ist uns möglich, von dem vor hundert Jahren die Menschen kaum träumen konnten. Eine rasante Entwicklung bisher kaum vorstellbarer Möglichkeiten und weltweiter Verflechtungen fordert uns heraus, unser Leben aktiv und selbstbestimmt zu gestalten. Das erleben wir – gerade in Zeiten von Krise, Leid und Trauer – sowohl mühevoll als auch bereichernd und erfüllend. Pendelnd zwischen dem Wunsch nach Wiederherstellung manch alter Zusammenhänge und stimulierenden Vorwärtsbewegungen in neue Räume gestal-
ten wir unsere Gegenwart – mit all ihren unvermeidbaren Widersprüchen und Konflikten. Dieses Themenheft möchte Sie dazu anregen, Ihre Motivation zu nutzen, Energie und Kreativität zu aktivieren, anhand der Erfahrungen anderer sich selbst zu verstehen, Ihre persönlichen Reaktionen wertschätzend wahrzunehmen sowie Ihre privaten und beruflichen Erfahrungen miteinander sinnstiftend im Rahmen Ihrer individuellen Lebenskunst zu verbinden. Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Heftes entäußern individuelle Krisenerlebnisse oder beleuchten aus unterschiedlichen Perspektiven vielfältige Aspekte von Lebenskönnerschaft, die die Gesamtheit aller Lebenserfahrungen würdigt. Wir allein sind für uns verantwortlich, denn wenn wir nicht auf uns achten, wer sollte es dann tun?
Sylvia Brathuhn
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 1, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
Petra Rechenberg-Winter
Inhalt 1 Editorial 4
Rudolf Lüthe Leiden, Freundschaft, Freundschaftsdienst, Vertrauen, Überleben
9 4 Rudolf Lüthe | Leiden, Freundschaft, Freundschaftsdienst, Vertrauen, Überleben
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Friedrich Liechtenstein Der Song Friedemann Schulz von Thun und Bernhard Pörksen »Der Augenblick, der um seiner selbst willen geschieht«
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Hans-Christof Müller-Busch Sterbekultur und Sterbekunst – Können wir im 21. Jahrhundert noch sterben lernen?
20 22
Marcus Sternberg Dankbarkeit und das Geschenk des Neu-(er-)Lebens Sönke Nissen-Knaack Leben – eine Kunst? Über das fragile Glück von Künstlern
16 Hans-Christof Müller-Busch Sterbekultur und Sterbekunst
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Ulrike Mainzer Trauerkunst Heiner Melching im Gespräch mit Wilhelm Schmid Interview mit Wilhelm Schmid Bärbel Sievers-Schaarschmidt »Ich muss auf Reisen gehen – ohne den Tod von … hätte ich das nicht gemacht!«
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Bernadette Raischl, Josef Raischl, Michael Clausing Durch die Nacht gehen – landart und Visionssuche als Mittel und Wege, zu den persönlichen Ressourcen zu finden
22 Sönke Nissen-Knaack Leben – eine Kunst?
55 Reiner Sörries | Die Entdeckung der Lebenslust in der Fremde
44 47 48
Ulrike Bardt Naturerleben als Lebenskunstmodell der Moderne Julia Müller Selbsthilfe – Über-Lebenskunst
77 Brele Scholz | Lebenskunst – Lebensübung – Lebensgunst
Axel Enke Ist es eine Kunst, von einem Stuhl aufzustehen? Lebenskunst mit und durch Kinaesthetics
52 55 58 63
Andrea Voigt Lebenskunst lehren Reiner Sörries Die Entdeckung der Lebenslust in der Fremde Daniel J. Dietrich, Nicole Gnägi Dietrich, Andreas Dennler Das Leben als Kunst-Werk gestalten Knud Eike Buchmann Sich auch im Leid zurücknehmen – Dezentralisierung und Selbstüberwindung
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Johannes Bucej Das Leben bis zum Schluss auskosten Marion Martinez Lebenskunst spielend entwickeln Otto Teischel Beziehung als Lebenskunst(werk) – Die Familie Sheridan – »In America«
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Rezension
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BVT-Nachrichten
Trauerberatung miteinander verbinden
90
Cartoon | Vorschau
Fortbildungseinheit zum Thema
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Impressum
Brele Scholz Lebenskunst – Lebensübung – Lebensgunst
Aus der Forschung: Buddhistische Psychologie und
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»Zum Wesentlichen schreiben«
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Leiden, Freundschaft, Freundschaftsdienst, Vertrauen, Überleben Rudolf Lüthe Leiden als Ausdruck von Persönlichkeitsformen Leiden ist nach Schopenhauer ein Grundzustand menschlicher Existenz. Immer bleibt das Ausmaß des erreichten Glücks hinter den Erwartungen des einzelnen Menschen zurück; und die Momente erfüllten Glücksgenusses sind jeweils nur von kurzer Dauer: Schnell werden sie durch ein neues, weitergehendes Glücksstreben abgelöst. Das menschliche Leben zu leben heißt daher in Schopenhauers Sicht vor allem, Strategien eines sinnvollen Umgangs mit dem strukturellen Leiden zu entwickeln. Leiden tritt zwar – auch unabhängig von diesen pessimistischen Überlegungen Schopenhauers – in unterschiedlichen Graden und Formen auf, es kann strukturell oder akzidentell sein, dauerhaft oder momentan, seelisch oder körperlich bedingt, es kann heftig sein oder eher gemäßigt – immer aber begleiten die Möglichkeit und oft auch die Realität des Leidens unser aller Leben. Leiden gehört insofern unvermeidlich zum Leben und begleitet uns alle von der Geburt bis zum Tod. Dennoch ist Leid kein ursprüngliches Phänomen. In den verschiedenen Formen des Umgangs mit erfahrenem Leid drücken sich in meiner Sicht vielmehr unterschiedliche Persönlichkeitstypen aus: Worunter wir jeweils besonders leiden, das ist bedingt durch das, wonach wir am meisten streben. Nennen wir das, wonach wir am meisten streben, unser Grundstreben, so lässt sich allgemein sagen, dass existenzielles Leid in der Einsicht gründet, dass wir unser Grundstreben möglicherweise nicht (mehr) werden verwirklichen können. Leid gründet also in einer ver-
nünftigen Einsicht: Wir verfügen nicht beliebig über unser Schicksal. Unser Streben und unser Schicksal können auseinanderfallen. Diese realistische Möglichkeit aber führt zu einem leidvollen Zustand: Wir ängstigen uns vor ihr, weil wir – ebenfalls vernünftigerweise – annehmen, die Nichtverwirklichung unseres Grundstrebens werde uns möglicherweise daran hindern, im Leben glücklich zu werden. Die Grundstruktur menschlichen Leids ist also die begründete Sorge, unglücklich zu werden. Nur weil die Menschen ein ursprüngliches Streben nach Glück haben, leiden sie auch in einem existenziellen Sinne. Ist das Grundstreben eines Menschen zum Beispiel ein Streben nach Ferne von den anderen Menschen, so hat dieser Mensch am meisten Angst vor dem Verlust der eigenen Unabhängigkeit. Ein solcher Verlust kann etwa mit den Folgen einer schweren Erkrankung zusammenhängen. Menschen dieser Art werden auch im Fall der Hilfsbedürftigkeit danach streben, nur oberflächliche Beziehungen zu den anderen zu haben, um keinen Selbstverlust zu riskieren. Solche Persönlichkeiten sehen ihr Lebensglück am meisten gefährdet durch die Abhängigkeit von anderen. Ihr Leiden verstärkt sich durch die Erfahrung vergrößerter Abhängigkeit. Seine psychische Quelle ist eine bestimmte Form von generellem Misstrauen anderen Menschen gegenüber. Der Gegentyp strebt nach Nähe zu den anderen Menschen. In ihr allein glaubt er, gerade in Fällen von erlebten Schicksalsschlägen, eine Glückschance zu haben. Tendenziell bedingungslos bindet sich ein solcher Mensch dann an die anderen. Auf diese Weise sucht er die Entwicklung oder Weiterführung einer selbstständigen
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 4–8, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
Foto: m.schröer
Form erwachsener Existenz zu vermeiden. Er sieht in der Unabhängigkeit von anderen die Gefahr der Isolation und Vereinsamung – und vor nichts hat er größere Angst als vor solcher Einsamkeit. Diese Art der Existenz ist geboren aus Unsicherheit und einer damit einhergehenden Neigung zur Selbstaufgabe. Meiner Überzeugung nach bietet sich diesen beiden verschiedenen Menschentypen ein gemeinsames Mittel zum guten Umgang mit ihrem Leid an: Es ist dies die Freundschaft. Ich will im Folgenden versuchen, diese Funktion der Freundschaft im Spannungsfeld von Misstrauen und Selbstaufgabe zu erläutern.
Für ein sinnvolles Verständnis von wahrer Freundschaft ist es auf der Linie des aristotelischen Denkens wichtig festzustellen, wo die Mitte zwischen Misstrauen und Selbstaufgabe liegt.
Wahre Freundschaft als »Mitte« zwischen Misstrauen und Selbstaufgabe Für ein sinnvolles Verständnis von wahrer Freundschaft ist es auf der Linie des aristotelischen Denkens wichtig festzustellen, wo die Mitte zwi-
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schen Misstrauen und Selbstaufgabe liegt; denn für Aristoteles ist die Tugend der Freundschaft wie alle Tugenden als Mitte zwischen zwei Lastern zu bestimmen. Michel de Montaigne, der an den Lebensidealen der griechisch-römischen Antike orientierte Philosoph der französischen Renaissance, kommt bei seinen Überlegungen zur Freundschaft dieser aristotelischen Mesotes-Lehre sehr nahe. An seiner Idee von Freundschaft will ich mich daher im Folgenden orientieren. Beginnen wir mit einigen negativen Bestimmungen. Für Montaigne ist Freundschaft nicht: Ehrerbietung, Verwandtschaft oder Leidenschaft. Das ist auch in unserem Zusammenhang unproblematisch. Schwieriger ist bei der Frage nach dem Verhältnis von Leiderfahrung und Freundschaft dagegen Montaignes Annahme, auch die Beziehung von Menschen, die sich (gegenseitig)
unterstützen, sei nicht eigentlich Freundschaft, sondern vielmehr bloß Bekanntschaft. Wenn man dabei noch bedenkt, dass die Beziehung zwischen einem leidenden Menschen und einem ihn unterstützenden Freund auch nicht wechselseitig und in diesem Sinne gleichrangig ist, so zeigt sich hier ein zentrales Problem bei der Verbindung von Leiderfahrung und Freundschaft. Zur Freundschaft gehören für Montaigne nämlich als notwendige (nicht als hinreichende) Bedingungen die folgenden Voraussetzungen: freie Wahl und freier Wille, Gleichrangigkeit, innige Vertrautheit. Gleichrangigkeit ist also eine notwendige Bedingung für Freundschaft. Dies muss vor allem der Menschentyp mühsam erlernen, der zur Selbstaufgabe neigt. Montaigne legt ferner Wert auf die Feststellung, dass Freundschaft nicht dasselbe ist wie intensi-
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ver geselliger Verkehr und sich auch nicht verstehen lässt als Partnerschaft im Sinne gegenseitiger Unterstützung. Im Unterschied zur leidenschaftlichen Liebe ist sie eher durch »milde lang andauernde Wärme« als durch »heftige, kurze Hitze« charakterisiert. Was nun die hinreichenden Bedingungen für Freundschaft betrifft, so finden wir bei Montaigne hierzu die folgenden erwähnt: (1) ein Wissen um den Anderen (Vertrautheit), (2) ein Bekenntnis zu dem Anderen, (3) Toleranz gegenüber seinen Schwächen, (4) Freude an seinen Stärken und (5) Vertrauen in seine Zuverlässigkeit. Dieses Verständnis von Freundschaft erscheint mir realistisch und sinnvoll. Aus ihm lässt sich auch eine Vorstellung davon ableiten, wo denn die »Mitte« zwischen Misstrauen und Selbstaufgabe liegt. Diese Mitte liegt im Sowohl-als-Auch.
Paul Cézanne, Deux pommes, um 1883–1887 / © Sotheby’s / akg-images
Die ideale Freundschaft zwischen zwei Menschen bedeutet, dass diese Menschen sich existenziell nahe sind. Nicht jeder kann für jeden existenziell wichtig sein, auch wenn er sich noch so darum bemüht.
Mit Bezug auf das Verhältnis von Stärken und Schwächen lässt sich diese Idee wie folgt erläutern: Der Freund ist uns vertraut als jemand, der sowohl Stärken als auch Schwächen hat. Einerseits erfreuen wir uns an und haben Nutzen von seinen Stärken; das befriedigt unsere Selbstsucht. Andererseits akzeptieren wir die Unannehmlichkeiten, die sich aus seinen Schwächen ergeben; darin zeigen wir uns selbstlos. Eines jedoch ist aus der Spannung des Sowohlals-Auch vollkommen herausgenommen: Einem wahren Freund vertrauen wir bedingungslos. Dieses Vertrauen ist daher in meiner Sicht das Herzstück echter Freundschaft. Freundschaft und (Freundschafts-)Dienst Freundschaft ist in meiner Sicht kein (selbstloser) Dienst. Als Mitte zwischen Misstrauen und Selbstaufgabe ist sie vielmehr eine ausgewogene soziale Beziehung, die auf dem in der Vertrautheit begründeten Verhältnis von (bedingungslosem) Vertrauen und (absoluter) Verlässlichkeit beruht. Dieses Verhältnis halte ich für so fundamental, dass ich wahre Freundschaft und bedingungsloses (absolutes) Vertrauen als sich wechselseitig bestimmende Phänomene betrachte: Meinen wahren Freunden (und nur ihnen) vertraue ich bedingungslos. Daraus ergibt sich umgekehrt: Wem ich bedingungslos vertraue, der ist ein wahrer Freund. Dieses Zwischenergebnis unserer Überlegungen schließt eine folgenreiche Konsequenz ein: Freundschaftsfähig ist man nur in dem Maße, in dem man auch vertrauensfähig ist. Dies hat vor allen der misstrauische Menschentyp mühsam zu erlernen. Montaigne bezieht sich ferner auf die aristotelische Unterscheidung zwischen bedingter und vollkommener Freundschaft. Auch mit Hilfe dieser Unterscheidung lässt sich die zentrale Bedeutung des Vertrauens für die Freundschaft erläutern: Freund sein im Sinne der vollkommenen Freundschaft bedeutet nach Aristoteles, den An-
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deren so lieben, wie er ist. Das schließt ein, ihn auch dann zu lieben, wenn er etwas tut, das sich nicht mit meinen eigenen Interessen, Wünschen und Bedürfnissen deckt, das unter Umständen sogar meine Gefühle verletzt. Dies ist mir aber nur möglich, wenn meine Beziehung zum Freund durch wirkliches, das heißt eben durch bedingungsloses Vertrauen bestimmt ist. Nun ist Freundschaft nicht nur als ein fortwährendes Verhältnis zwischen zwei Personen realisierbar, sondern vielmehr auch als eine spezifische Gestaltung von sozialen Rollen. Daher ist auch die Rolle eines freundschaftlichen Betreuers oder Beraters denkbar, ja wünschenswert. Auch für diese rollengebundene und daher auch zeitlich jeweils begrenzte Form von Freundschaft gilt jedoch, dass Vertrauen ihre unverzichtbare Basis ist. Vertrauen, Verlässlichkeit und die Idee idealer Freundschaft Wem aber können wir in einem solchen Maße vertrauen? Ich glaube, dass ein solches Vertrauen die auch schon von Montaigne erwähnte Vertrautheit voraussetzt: Vertrauen wächst aus Vertrautheit, in dem Sinne, dass Vertrautheit eine notwendige, nicht jedoch eine hinreichende Bedingung für Vertrauen ist. Dem Fremden können wir nicht ein wahrer Freund sein, weil er als Unvertrauter nicht unser unbedingtes Vertrauen haben kann. Über diese Vertrautheit hinaus ist als hinreichende Bedingung die Erfahrung der Verlässlichkeit gefordert. Beides zusammen ist eine solide Basis für wahre Freundschaft. Von dieser wäre jedoch noch die Idee einer idealen Freundschaft zu unterscheiden. Auf diese Idee werfe ich nun zum Schluss noch einen kurzen Blick. Vertraut kann uns am ehesten derjenige werden, der im Leben ähnliche Ziele verfolgt und vergleichbare Grundüberzeugungen hat wie wir selbst. Von diesem können wir sagen, er sei uns seelisch verwandt. Das heißt zugleich, dass wir ihn leicht verstehen können. Die ideale Freundschaft zwischen zwei Menschen be-
deutet über die soeben beschriebenen Charakteristika der wahren Freundschaft hinaus, dass diese Menschen sich in diesem spezifischen Sinne existenziell nahe sind. Nicht jeder kann für jeden in diesem positiven Sinn existenziell wichtig sein, auch wenn er sich noch so darum bemüht. Die Voraussetzung für eine in der Freundschaft zu realisierende positive existenzielle Bedeutsamkeit der Freunde füreinander ist diese existenzielle »Nähe«. Damit ist das radikale Gegenteil von Fremdheit gemeint, also neben Vertrautheit im Idealfall auch ein hohes Maß an Übereinstimmung in Fragen der Lebenskonzeption und der weltanschaulichen Grundüberzeugungen. Zu bedenken ist jedoch, dass dies nur für ideale Freundschaften gilt. Wahre Freundschaft setzt eine solche existenzielle Nähe nicht voraus. Hier genügt das oben beschriebene Verhältnis von absolutem Vertrauen und entsprechender Verlässlichkeit. Auch das Erreichen eines solchen Verhältnisses erfordert zwar ein wenig Glück, kann aber durch kluges Verhalten entscheidend gefördert werden. Ideale Freundschaft dagegen ist wohl eher ein »Geschenk des Schicksals«, das man sich weder erarbeiten noch verdienen kann. Wahre Freundschaft aber kann man sich erwerben und auch verdienen: Man muss nur seine Vertrauensfähigkeit kultivieren und sich lebensklug verhalten. Diese Art von Freundschaft ist wie die ideale Freundschaft ein großes Glück, im Gegensatz zu dieser jedoch kein Glücksfall. Wahre Freundschaft kann auch der leidende Mensch erlernen; ideale Freundschaft dagegen können wir alle nur erhoffen. Dr. Rudolf Lüthe war Professor für Philosophie an der Universität KoblenzLandau und ist derzeit Lehrbeauftragter an der RWTH Aachen. Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze verfasst zur Philosophie der Neuzeit, Kulturphilosophie, Geschichtsphilosophie, Ästhetik und Ethik sowie zur Theorie der Geisteswissenschaften. E-Mail: [email protected]
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Der Song Friedrich Liechtenstein Aktuell arbeite ich an einer vertikalen, filmischen Umsetzung des Märchens »Von dem Machandelboom«, da kommt mir die Bitte, einen Artikel für den »Leidfaden« zu schreiben, gerade recht. Bringt mich diese Aufgabe doch dazu, mich zu erklären. Die Dinge, die man ausbrütet, müssen ja ans Licht, damit man sie teilen kann. Kopfkino reicht da nicht. Dieses Märchen aus der Grimm’schen Sammlung von Kinder- und Hausmärchen ist ein sehr verzwicktes, aber schönes Märchen. Bei aller Heiligkeit des Stoffes, es geht immerhin um einen heiligen Wacholderbaum und um nichts Geringeres als das Wunder der Wiederauferstehung, bei aller Grausamkeit, schließlich wird ein Kind zerhackt und gegessen, ist es auch ein sehr weises und alltägliches Märchen, halt ein Kinder- und Hausmärchen. Ich sehe den Zauber und Spuk des Märchens auch als ein Gewand für einen Onkelwitz, also eine drastische Erzählung von einem Vertrauten, der heilende und klärende Energien auf den Tisch bringen möchte und dabei manchmal zu weit geht. Ich habe viele Trennungen erlebt. Meine Eltern starben, meine wichtige Liebe zerbrach … Die heftige Traurigkeit ist dann immer schmerzhaft wie ein kalter Entzug und bringt mir in dieser Phase die Verschwundenen sehr nahe. Einmal habe ich den Fehler gemacht und den Trennungsschmerz zu sehr zugelassen, regelrecht zelebriert, diese Trauerarbeit brachte uns dann einander näher als zuvor, aber immer unter dem Stern: Es ist vorbei. Die Trauer ging durch den ganzen Körper, in jede Zelle und durch den Kopf, in jeden Kubikmillimeter dieses Planetariums für fallende Sterne. Ich kann von dieser Trauerarbeit abraten, aber ich bin mir nun sehr sicher, dass es
Metaphysik und Liebe gibt. Seit dieser Zeit erfand ich mich neu. Größer, schöner, besser wollte ich sein, ein Popstar. Ich gab mir einen neuen Namen und neue Parameter für mein Handeln, zum Beispiel sollte der Buchstabe B eine große Rolle spielen, was man halt so macht. Es ging weiter bergab, tiefer und tiefer, aber immer kurz bevor ich auf dem Boden der Tatsachen aufschlagen konnte, überfiel mich eine Heiterkeit. Ich wusste, es wird gut ausgehen. Meine Geduld wurde geprüft, ca. zehn Jahre lang lief es sehr schlecht. Man sagt schnell, dass man sein Schicksal in der Hand hat und dass man selbst schuld daran ist, aber glauben Sie mir, es gibt auch andere, die in Ihr Leben eingreifen und Türen zuhalten oder Brücken abreißen, Sie besiegen wollen, es gibt tatsächlich auch äußere Umstände, man ist nicht allein und allmächtig in seinem Leben. Viele schöne Popsongs entstanden durch Liebesschmerz oder Verzweiflung. Ein Lied kann Probleme lösen. Ich habe vierzig Songs in 14 Jahren benötigt, um meine Trauer zu verarbeiten, die Trauer sitzt mir noch heute in den Knochen, aber gerade schlage ich ein neues Kapitel auf. Das Grau und Schwarz meiner Melancholie bleibt im Fond meines Lebens und auch die Heiterkeit, die über allem schwebt. So ist das mit mir. Zurück zum Märchen. Ich mach es kurz, denn ist es doch gerade der lakonische Tonfall in der norddeutschen Fassung, die Philipp Otto Runge kurz vor seinem Tod der Grimm’schen Sammlung beisteuerte, der einen großen Reiz beim Umgang mit Trauer und Katastrophen ausmacht.
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 9–10, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
akg-images / bilwissedition
1 0 Fr i e d r i c h L i e c h t e n s t e i n
Illustration zum Grimm’schen Märchen »Von dem Machandelboom«
Eine Frau und ein Mann wünschen sich ein Kind, aber sie bekommen keins. Das ist sehr, sehr traurig. Dann erwartet die Frau ein Kind und wird gegen Ende der Schwangerschaft traurig, bei der Geburt ihres Kindes stirbt sie vor Freude. Das ist noch trauriger. Der Mann weint einige Zeit, dann wird es weniger, schließlich weint er nicht mehr und nimmt sich eine neue Frau. Das ist schön und auch traurig, finden Sie nicht? Die neue Frau quält den Sohn und zerhackt ihn, kocht ihn in Essig, der Vater isst ihn auf, weil er denkt, dass alles ihm gehört. Das ist eine Katastrophe. Die Schwester Marleneken, das Kind mit der zweiten Frau, begräbt die Knochen ihres Bruders unter dem Wacholderbaum, unter dem ja schon die Mutter begraben wurde. Die Knöchelchen verwandeln sich in einen wunderschönen Vogel mit einem wunderschönen, traurigen Lied. Ein Wunder ist geschehen. Dieser glänzende Vogel fliegt um die Welt und singt für schöne Geschenke, kommt dann nach Hause, bestraft die böse Stiefmutter, beschenkt den Vater und die Schwester, verwandelt sich zurück in den Jungen, setzt sich an den Tisch und die Welt ist wieder in Ordnung.
Die Kraft eines aus Schmerzen geborenen Liedes hat gewaltet. Der weise Spruch des Vogels nach seinem jeweils ersten Gesangsvortrag an verschieden Orten der Welt: »Ne, zweimal singe ich nicht umsonst«, ist auch nicht von schlechten Eltern. Das ist Künstlertum. Das Heiligste und Persönlichste in Monitäres verwandeln und dadurch in der Gesellschaft existieren. Konnten Sie folgen? Lesen Sie doch bitte das Märchen. Es gibt viel Trost und Trauer dort. Ich mach mal weiter. Es gibt Liebe.
Friedrich Liechtenstein, Schauspieler, Künstler, ausgebildeter P uppenspieler, Performer, Musiker und Moderator. Unter anderem ist er neben Matthias Schweighöfer und Hannelore Elsner auf der Kinoleinwand zu sehen und hat ei© Bert Spangemacher nen zehnteiligen Roadmovie »Tankstellen des Glücks« mit »Arte« gedreht, der die schönsten und ungewöhnlichsten Tankstellen Deutschlands zeigt. E-Mail: [email protected] Website: www.friedrichliechtenstein.de
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»Der Augenblick, der um seiner selbst willen geschieht« Der Psychologe Friedemann Schulz von Thun und der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen über den Tod und das Ende der Kommunikation
Pörksen: Sie haben Ihr Leben lang über Kommunikation nachgedacht, geforscht, publiziert. Und Sie sind als Kommunikationspsychologe dabei immer von einer zentralen Annahme ausgegangen, nämlich, dass man – lebendig genug, kräftig und gesund genug – noch einmal sprechen kann. Wir alle wissen aber, dass dies irgendwann nicht mehr geht. Irgendwann kommen Krankheit, Gebrechen und Tod. Man könnte sagen: Der Tod ist ein Skandal, der die Chance eines kommunikativen Neuanfangs brutal zerstört. Schulz von Thun: Dem kann ich nur entgegnen: Ob ich den Tod als Skandal empfinde, hängt von meiner Weltsicht ab, von meinem existenziellen Selbstverständnis. Wenn ich mich als individuelle Krönung der Schöpfung begreife und vielleicht ein wenig narzisstisch begabt bin, dann ist der Tod eine maximale Kränkung. Wenn ich mir vor Augen halte, dass mein Leben überaus qualvoll werden kann, kann der Tod eine Erlösung bedeuten – eine Art Lebensversicherung, dass die Qual nicht ewig sein wird. Vielleicht werde ich ihn dann wie einen guten Freund empfangen, mit der Aussicht auf gnädige Sterbehilfe? Und wenn ich mir vor Augen halte, dass ich als Glied einer Kette erfunden worden bin, genau zwischen denen, die vor mir waren und die nach mir kommen, dann macht es Sinn, Platz zu machen. Pörksen: Und doch ist es nur zu verständlich, den Tod als Feind zu betrachten. Er ist, allen Tröstungsversuchen von Religion und Philosophie zum Trotz, ein furchtbares Faktum.
Schulz von Thun: Weil er alles zerstört, was uns lieb ist? Natürlich könnte man mit Arthur Schopenhauer sagen, dass es eine unerträgliche Gemeinheit darstellt, wie unser Dasein konstruiert ist: Zuerst werden wir dazu verführt, uns in das Leben zu verlieben. Und dann, wenn wir uns so richtig mit uns selbst identifiziert und befreundet haben, folgt das Todesurteil, das wir eigentlich immer schon in der Tasche tragen. Pörksen: Woody Allen hat dieses Bedauern über die eigene Endlichkeit einmal auf eine gleichermaßen scherzhafte und doch melancholische Weise formuliert: »Man hat mich einmal gefragt, ob es mein Traum wäre, in den Herzen der Menschen weiterzuleben, und ich sagte, ich würde gerne in meiner Wohnung weiterleben.« Schulz von Thun: Für mich stellt sich die Frage: Welche Haltung ist dem Tode gegenüber erstrebenswert? Welche Haltung kann es mir erleichtern, mein Dasein zu bejahen, auch wenn es diese Begrenzung in sich trägt? Ich mache mal einen Versuch: Ist nicht der Schlaf auch skandalös? Wir sind nur für eine kurze Stippvisite auf dieser Welt – und dann verpennen wir auch noch ein ganzes Drittel dieser kostbaren Zeit!? Und doch, wenn der Tag anstrengend und reich war, ist es wunderbar, in den Schlaf zu gleiten, ich werde dagegen keine Beschwerde einreichen. Und könnte es nicht, ganz analog zu diesem kleinen Tod, so sein, dass ein erfülltes und reichhaltiges Leben irgendwann eine lebenssatte Müdigkeit nach
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 11–15, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
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sich zieht, die ein sanftes Hinübergleiten als stimmig und richtig erscheinen lässt? Pörksen: Aber die Gewissheit, dass ich am nächsten Morgen wieder aufwache, macht dieses Hinübergleiten unendlich viel leichter und vielleicht überhaupt erst wirklich schön. Schulz von Thun: Das stimmt. Hätte ich die Gewissheit, dass auch das Sterben nur der Anfang einer Transformation zu etwas Neuem ist, dass wieder ein Erwachen und ein neuer Tag folgen werden, der vielleicht kein Tag im herkömmlichen Sinne sein wird, dann wäre es viel leichter, dieses Gefühl einer köstlichen Müdigkeit zuzulassen und die Augen getrost zu schließen. Leider habe ich diese Gewissheit nicht, und Sie, wenn ich richtig sehe, auch nicht. Pörksen: Nein. Mir erscheint ein solcher Glaube letztlich als der Versuch, sich über eine existenzielle Sinnlosigkeit und eine Unbehaustheit hinwegzutrösten, die man nicht sehen will. Schulz von Thun: Aber ganz so existenziell unbehaust sind wir doch gar nicht. Dass wir beide hier sitzen, dass wir atmen und freundlich miteinander sprechen und bei Regen ein Dach über dem Kopf haben, zeigt doch schon, dass wir auf dieser Erde sehr zu Hause sind. Worauf ich hinaus will: Ihre These von einer grausamen Sinnlosigkeit und Unbehaustheit trifft mein eigenes Lebensgefühl nicht wirklich. Pörksen: Aber am Schluss bleibt doch nur eine Menge Staub. Schulz von Thun: Ja, am Schluss! Aber davor ist unser ganzes Leben, zum Beispiel jetzt in diesem Augenblick, wo wir einander als Schicksalsgenossen begegnen und in die Augen schauen. Es ist wahr, dass wir unsere Existenz auf dieser Erde nicht verewigen können. Aber indem Sie alles vom Ende her betrachten, laufen Sie Gefahr, den Tod zu dämonisieren und ihm eine Bedeutung zu geben, die das ganze Leben definiert und überschattet. Pörksen: Das ist eine andere Betrachtungsweise. Würden Sie sagen, dass es hier einfach um
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verschiedene Perspektiven geht, die man mehr oder minder frei wählt? Schulz von Thun: Mehr oder minder. Es ist auch eine Entscheidung, ob ich mich von diesem sensationellen und mysteriösen Leben beeindrucken lasse oder ob mich das Faktum meiner eigenen Endlichkeit ganz und gar gefangen nimmt. Tatsächlich glaube ich, dass es richtig und geboten ist, den Gedanken an das Ende keine übergroße Macht zu geben, um nicht im Extremfall Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben unter dem Damoklesschwert des Todes zu verbringen. Das wäre doch ein Jammer. Der Tod ist zwar mächtig und bedeutend, aber eines kann er uns immerhin nicht nehmen, nämlich gelebt zu haben und dieses Leben womöglich in seiner wunderbaren Fülle ausgekostet zu haben. In dieser Hinsicht ist er ein machtloser Geselle. Pörksen: Ihre gesamtes Werk, Ihre gesamte Kommunikationspsychologie zielt auf das Miteinanderreden, die Aushandlung, den Kom-
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jekt und zum Autor meiner Lebensgeschichte zu werden. Tatsächlich kommt es darauf an, beides zusammenzudenken und zusammenzuleben. Pörksen: Es geht, wenn ich Sie richtig verstehe, um eine Balance von Schicksalsdemut und Selbstbestimmung. Schulz von Thun: Das sehe ich so, ja. Denn wer nur die Schicksalsdemut kennt, landet in einem resignativen Fatalismus, der für das eigene Leben keine Verantwortung übernimmt. Wer nur die Selbstbestimmung gelten lässt, versteigt sich in eine Omnipotenz, die nicht nur wahnhaft ist, sondern auch eine schmerzliche Überverantwortlichkeit mit sich bringt, nach dem Motto: Für alles, was mir widerfährt, trage ich, als wahrer Urheber dieses Geschehens, die Verantwortung. Pörksen: Der Schriftsteller Wilhelm Schmid, Autor zahlreicher Werke zu einer philosophisch inspirierten Lebenskunst, hat einmal eine Art Reflexionslösung für das Problem des Todes präsentiert. Es sei in jedem Fall klug, so seine These, sich den Tod nur als einen Übergang vorzustellen, denn dies mache das Leben im Hier und Jetzt leichter, erträglicher. Und schließlich sei alles Glaube und niemand wisse Genaueres. Insofern ließe sich auch schlicht wählen, was man glauben wolle. Und wenn es dann tatsächlich weiterginge, dann könnte man die eigene Existenz weiterhin auskosten. Und wenn gar nichts folge, dann sei dies auch egal – und ohnehin alles aus und vorbei. Kurzum: Schmid empfiehlt den Glauben an ein Leben nach dem Tod als glücksfördernde Hypothese. Schulz von Thun: Das scheint eine kluge, jedenfalls eine pfiffige Lösung zu sein. Die Rechnung wird aber wohl nur aufgehen, wenn dieser Glaube auch aus den tieferen Etagen der Seele bestätigt wird, sonst bleibt er eine mentale Kopfgeburt, die nicht den ganzen Menschen ergreifen kann. Ich will diesen Vorschlag nicht tadeln, nur, mir würde das wohl nicht gelingen.
Lebenskunst
© Christiane Knoop
promiss. Aber der Tod ist nicht kompromissfähig, sondern endgültig. Insofern wundert mich, dass Sie die Tatsache des Todes nicht sehr viel wütender macht. Er bedroht das Leben und eine Lebenskunst, die den Ausgleich sucht. Er ist existenziell und intellektuell vernichtend. Schulz von Thun: Tatsächlich bin ich in dieser Frage nicht so empörungsfähig und wütend wie Sie. Das Bewusstsein davon, dass ich einem menschlichen Lebensschicksal preisgegeben bin, dass ich ungefragt entbunden wurde, dass ich ungefragt sterben werde und dass das Schicksal mir in der Zeit dazwischen manches bietet und manches aufzwingt, was ich mir wahrlich nicht zurechnen kann, dieses Bewusstsein, gelebt zu werden, legt eine gewisse Schicksalsdemut als stimmige Lebenshaltung nahe. Andererseits ist es auch eine Aufgabe, das aus mir zu machen, was als Möglichkeit und als Verheißung in mir steckt, und so, mehr oder minder, zum eigenverantwortlichen Sub-
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Denn es setzt voraus, dass man aus den verschiedenen möglichen Positionen zuerst die bekömmlichste auswählt und sich dann dafür entscheidet, an sie zu glauben. Ginge ich selbst so vor, dann würde ich den Verdacht nicht los, dass ich mir gerade etwas vormache, um mich zu trösten. Pörksen: Wie würden Sie Ihre eigene Position beschreiben? Schulz von Thun: Ich bin mir keineswegs sicher, dass etwas folgt, was über mein jetziges Dasein hinausgeht. Am ehesten rechne ich damit, dass für mich alles so sein wird wie vor meiner Zeugung – also ein endloses Nichts, soweit ich mich erinnern kann. Aber sicher kann ich mir dessen auch nicht sein, denn ich bin nur ein Staubkorn dieses mysteriösen Universums, ausgestattet mit einem Erkenntnisapparat, der gerade mal dazu taugt, auf dem Planeten Erde für eine Weile über die Runden zu kommen. Ja, diese Welt ist mir von oben bis unten ein großes Mysterium, einschließlich meiner selbst und meines Daseins auf Erden. Zuweilen erfasst mich ein demütiges Staunen – und dies ist für mich existenziell stimmiger, als wenn ich eine Glaubensgewissheit vorgeben würde. Pörksen: Was Sie als ein Mysterium bezeichnen, würde ein Mystiker vermutlich Gott nennen. Gott wäre – so betrachtet – eine Chiffre für das ganz Andere, das sich in den Kategorien des Verstandes nicht fassen lässt. Schulz von Thun: Wenn Sie Gott so definieren, als eine Chiffre für das Mysterium des Seins, dann bin ich ihm zuweilen nahe – er ist dann für mich der vollkommen unbekannte Adressat meiner Dankbarkeit als Geschöpf. Ich sage »Geschöpf«, weil alles, was an mir dran ist – die Augen, die Ohren, das Herz, die Gene, das Blut, die Hände, die Beine, das Geschlecht, das Gehirn … –, das alles habe ich nicht gemacht, nicht bestellt, nicht erfunden, sondern fertig vorgefunden – mitsamt dem ganzen »Ich«, das sich mit diesem vorgefundenen Lebenskunstwerk identifiziert.
Pörksen: Hat diese Formulierung von dem unbekannten Adressaten der eigenen Dankbarkeit für Sie eine im engeren Sinne religiöse Bedeutung? Schulz von Thun: Religiös wohl schon, wenn auch nicht im kirchlichen Sinne. Mir erscheint die Schöpfungsgeschichte, die uns die Evolutionstheorie, die Astronomie und die Naturwissenschaften insgesamt vorspielen, noch sehr viel Ehrfurcht gebietender als die Schöpfungsgeschichte, die wir der Bibel entnehmen können. Ich soll also aus zwei winzigen Zellen entstanden sein, je einer von Mutter und Vater? Und dann soll dieser Minizellklumpen im Bauch eines Nachfahren von Raub- und Säugetieren millionenfach gewachsen sein, nach einem Bauplan, der den beiden Zellen innewohnt? Und wie bitte? Meine Vorfahren lassen sich zurückverfolgen bis in die Anfänge des Lebens auf Erden? Und noch immer ist etwas vom Fisch in mir, jenem Vorfahren, der im Wasser lebte, der fraß und gefressen wurde? Und wie bitte? Alle meine Vorfahren haben sich ohne eine einzige Ausnahme »fortgepflanzt«, bevor sie gefressen wurden oder sonst wie starben? Was für eine Tradition von Überlebenskünstlern über hunderte Millionen von Jahren hinweg! Das alles ist doch unglaublich und atemberaubend, oder? Pörksen: Es fällt mir auf, dass sich viele Protagonisten der Humanistischen Psychologie im Alter mit religiösen Fragen beschäftigt haben: Abraham Maslow begründete die Transpersonale Psychologie, eine Psychologie der spirituellen Erfahrung. Der Gestalttherapeut Fritz Perls wandte sich dem Zen-Buddhismus zu. Und die Therapeutin Ruth Cohn schrieb offen über ihre Gotteserlebnisse in den Schweizer Bergen. Schulz von Thun: Nun bin ich selbst natürlich, wenn Sie mir diese leise ironische Brechung Ihrer großen, schweren Fragen gestatten, noch ein junger Mann – wer weiß, was sich da bei mir noch alles tut, sollte ich tatsächlich einmal
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so alt werden wie Ruth Cohn?! Noch stecke ich eher in einer erdgebundenen Pragmatik fest und öffne mich erst allmählich und etwas scheu und zögerlich den spirituellen Fragen. Fast hätte ich gesagt, ich bin »spirituell unbegabt«. Aber langsam tut sich etwas. Ich merke, dass sich gelegentlich und zunehmend Figur und Hintergrund vertauschen. Pörksen: Was meinen Sie mit dieser Analogie aus der Gestaltpsychologie? Schulz von Thun: Gemeint ist: In meinem Normalleben bleibt das Bewusstsein vom Mysterium meines Seins ganz im Hintergrund. Die Figur im Vordergrund besteht aus dem realitätsgerechten Pragmatismus der alltäglichen Angelegenheiten, die mich ganz in Beschlag nehmen. Aber dann und wann, und immer häufiger (und halb geschieht es von selbst und halb versuche ich es herbeizuführen), vertauschen sich Figur und Hintergrund: Dann habe ich, auch bei ganz alltäglichen Verrichtungen, zum Beispiel beim Treppensteigen, plötzlich das wundersame Mysteriums meines Daseins zu fassen. Das Treppensteigen ist dann nicht bloß Mittel zum Zweck, um irgendwohin zu gelangen, sondern ein Augenblick, der um seiner selbst willen geschieht. Pörksen: Können Sie diesen Gedanken noch genauer ausführen? Schulz von Thun: Das ist nicht leicht zu erklären, ich bin dann von ehrfürchtigem Staunen erfasst, dass ich jetzt mit aufrechtem Gang (eine Errungenschaft meiner jüngsten Vorfahren!) und mit einem Ziel im Kopf, sehend und atmend und mit einer inneren Stimmungslage, die Treppe emporsteige. In diesem Moment tritt dann die kosmische Megasensation, von der ich ein letzter Abkömmling bin, aus dem Hintergrund der beiläufigen Selbstverständlichkeit in den Vordergrund des Innewerdens. Und dann kann ein Gefühl von Kostbarkeit aufkommen, von Lebenskostbarkeit, das sich noch verstärkt, wenn ich weiß, dass ich nicht ewig diese Treppe werde steigen können.
Dieses Gespräch ist ein bearbeiteter und gekürzter Auszug aus dem Buch von Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun: Kommunikation als Lebenskunst. Philosophie und Praxis des Miteinander-Redens. 2. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer Verlag, 2016. Information zum Buch Gemeinsam erkunden der Psychologe Friedemann Schulz von Thun und der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen die Verbindung von humanistischer Psychologie und systemischem Denken. Sie diskutieren die Bedeutung von glückender Kommunikation für die berufliche Praxis (Coaching von Führungskräften, Pädagogik, interkulturelle Kommunikation etc.) und sie zeigen, in welcher Weise sich die Reflexionswerkzeuge der Kommunikationspsychologie (das Kommunikations- und Wertequadrat, die Metapher vom Teufelskreis und das Bild vom inneren Team) als gedankliche Geländer einer individuell stimmigen Lebensführung verwenden lassen. Bernhard Pörksen, Jahrgang 1969, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. E-Mail: [email protected] Friedemann Schulz von Thun, Jahrgang 1944, war Professor für Psychologie an der Universität Hamburg und ist als Berater und Trainer tätig. E-Mail: [email protected]
Lebenskunst
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Sterbekultur und Sterbekunst Können wir im 21. Jahrhundert noch sterben lernen?
Hans-Christof Müller-Busch Die Auseinandersetzung und der Umgang mit Sterben und Tod sind häufige Themen künstlerischen Schaffens. Sie können durchaus auch als Gradmesser für das kulturelle und zivilisatorische Niveau einer Gesellschaft angesehen werden. Handlungen, Bilder und Erinnerungen an der Schwelle zum Tod und Kulte zu Trauer und Tod prägen und faszinieren zugleich, wie sie erschüttern. Auch in bildender Kunst, in Musik und Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts sind Sterben und Tod ein lebendiges Faszinosum. Deportation Dazu gehört beispielsweise der über 1300 Zeichnungen und Gouachen umfassende Werkzyklus von Charlotte Salomon, der in eineinhalb Jahren auf der Flucht vor den Nazis bis zu ihrer Deportation nach Auschwitz entstand. Sie wäre im A pril 2017 hundert Jahre alt geworden. Mit expressiven Farben dokumentiert sie sehr pointiert das verschwiegene Erleben des Todes in der eigenen Familie, ihre unbändige Lebenslust und die Erfahrungen des Exils im Süden Frankreichs, Sehnsucht und Verzweiflung in der Gewissheit, dem frühen eigenen Tod nicht entrinnen zu können. Charlotte Salomon wurde 26-jährig, im fünften Monat schwanger, 1943 unmittelbar nach ihrer Ankunft in Auschwitz ermordet, aber ihr Werk gibt uns – ähnlich wie das Tagebuch der Anne Frank – bis heute Zeugnis über ein kurzes Leben in finsteren Zeiten. Ein berührendes Beispiel lebendiger Ars moriendi.
Dichterwut Auch der Schweizer Schriftsteller Federico Angst gehört dazu, der mit dem – unter seinem Pseudonym Fritz Zorn – 1976 erschienenen rebellischen Kultbuch und Bestseller »Mars« das Lebensgefühl der protestierenden Jugend in den 1970er Jahren ansprach. Sein wortgewaltiger autobiografischer Bericht dokumentiert aus der Sicht und den Umständen eines von voller Dichterwut erfüllten verzweifelten Menschen eine radikale und schonungslose Anklage gegen die bürgerliche Gesellschaft, die ihn als Millionärssohn erdrückte und die er für die Entwicklung seiner zum Tode führenden Erkrankung verantwortlich machte. Federico Angst starb mit 32 Jahren im Jahre 1976 – einen Tag nachdem er erfahren hatte, dass sein Manuskript als Buch im Kindler-Verlag erscheinen würde. Man kann sich fragen, ob die unmittelbare Konfrontation mit dem Tod, die Angst vor dem Sterben und die Trauer nicht ein besonders kreatives Potenzial besitzen? Im Angesicht des Todes Der sterbenskranke Wolfgang Herrndorf hat das in seinem Blog »Arbeit und Struktur« eindrucksvoll gezeigt. Schreiben kann bei der Suche nach Identität im Kranksein und für den Kampf um Autonomie bedeutsam sein. Das gilt nicht nur für das literarische Schreiben, sondern auch für andere Kunstformen und es scheint sogar, dass die Auseinandersetzung mit dem eigenen Kranksein mit den vielfältigen medialen Möglichkeiten der Moderne zugenommen hat.
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 16–19, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
Edvard Munch, Alphas Verzweiflung, 1908 / 1909, Kreidelithografie / INTERFOTO / Sammlung Rauch
m.schröer
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So hat beispielsweise der rumänische Dokumentarfilmer Razvan Georgescu, nachdem bei ihm ein bösartiger Gehirntumor diagnostiziert wurde, vor einigen Jahren ein vielfach preisgekröntes Roadmovie mit dem Titel »Lebens(w)ende« gedreht. Darin ließ er Menschen zu Wort kommen: unter anderen den Maler Jörg Immendorff, den Komponisten William Finn, den Videokünstler Bill Viola sowie seinen Vater, den Komponisten Remus Georgescu – Menschen, die entweder selbst eine Begegnung mit der eigenen Sterblichkeit überlebt hatten oder die sich wie der Künstler selbst mit der Prognose eines baldigen Todes konfrontiert sahen. Georgescu wollte wissen, was mit Kunst und Kreativität im Angesicht des Todes passiert: Können Tod oder Krankheit der Motor für Kreativität sein? Kann Kunst sogar heilsame Potenziale haben? Was ist es, was zählt, was bleibt, wenn man gehen muss? Resonanz durch Musik Herbert Grönemeyers Studioalbum »Mensch«, das meistverkaufte Musikalbum in Deutschland – aufgenommen vier Jahre nach dem Tod seiner Ehefrau Anna und seines Bruders –, hat dazu geführt, dass Trauerfeiern heute viel häufiger von populärer Rock- und Popmusik begleitet werden als von religiösen Gesängen. Wenn das Herz weint, hilft Musik. Musik ist vielleicht die Form der Kunst, die am stärksten Emotionen ansprechen kann. Das bei vielen öffentlichen Trauerfeiern und Beerdigungen gespielte und in zahlreichen Filmen vorkommende, tief gefühlvolle und melancholische »Adagio for Strings«, ein Arrangement aus dem Streichquartett Opus 11 des
Die Vielfältigkeit des Phänomens Sterben und Tod erfordert unterschiedliche Herangehensweisen – auch in der Kunst.
US-amerikanischen Komponisten Samuel Barber, ist vielleicht das emotional eindrucksvollste Stück moderner Klassik, mit dem mit angemessener Resonanz auf Trauer und Entsetzen, die der Tod hervorruft, begegnet wird. Tagelang begleitete es die Schreckensnachrichten zum 11. September 2001 – viele Menschen erkennen das Stück und lassen sich emotional berühren, aber nur wenige kennen den Komponisten, der sich mit diesem Werk ein Denkmal musikalischer Immortalität gesetzt hat. Ars moriendi heute Die Konfrontation mit der Grenzschwelle zum Tod ist eine existenzielle Erfahrung, die das Leben des Einzelnen, aber auch von Gemeinschaften wesentlich bestimmt. Die Frage nach einer modernen Sterbekunst beinhaltet die Einschränkung, dass wir für den Weg bis an die Schwelle zum Tod niemals aus einer eigenen Erfahrung des Sterbens Kraft schöpfen können, sondern uns bleibt nur die Vorbereitung durch die Begegnung und die Begleitung des Sterbens anderer. Für den Weg an die Grenze zum Tod als dem »todsicheren« letzten Experiment und letzten Moment des Lebens gibt es kein empirisches Wissen. So sind Memento mori und Ars moriendi in ähnlicher Weise Herausforderungen. In den letzten hundert Jahren sind im Kampf gegen den Tod nicht nur die Möglichkeiten, das Leben zu verlängern, unvorstellbar gewachsen, sondern es wurden erstmals auch Methoden entwickelt, mit denen die Menschheit als Gattung insgesamt ausgelöscht werden kann. Der Tod ist nicht mehr nur ein Schicksal des Einzelnen, sondern eine Bedrohung der Mensch-
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heit insgesamt geworden. Dies erfordert nicht nur ein Nachdenken über die eigene Sterblichkeit, sondern auch darüber, wie wir als Gesellschaft mit unseren Möglichkeiten gegen den Tod, aber auch als Individuen für den eigenen Tod umgehen wollen. Die Vielfältigkeit des Phänomens Sterben und Tod erfordert unterschiedliche Herangehensweisen – auch in der Kunst. Der Tod ist in den industrialisierten Ländern in der Regel kein plötzliches Ereignis. In Deutschland sterben jährlich ca. 900 000 Menschen, das ist etwas mehr als ein Prozent der Bevölkerung – und dies unter ganz unterschiedlichen Bedingungen. Die Vorbereitung auf den Tod spielt keine Rolle. Weder in der Gesundheits- noch in der Sozialpolitik, weder bei den Bildungsausgaben noch in der öffentlichen Kommunikation wird ein Sterben in Würde, werden Tod und Trauer explizit und angemessen berücksichtigt. Die meisten gesunden Menschen wünschen sich einen Tod ohne Abschied, zumindest einen, der nicht durch eine lange Abschieds- oder Trauerphase bestimmt wird: im Schlaf sterben, nicht leiden, niemanden belasten. So kann die Frage gestellt werden, ob es wirklich ein gutes Sterben ist, wenn der Tod so ohne Abschied eintritt. Wir haben es heute immer mehr mit langen Sterbeverläufe zu tun, durch die gerade der Abschied für das Leben, für die Überlebenden bedeutsam wird, wenn sie mit dem Verlust von Menschen, mit Todesarten und Todeswegen, mit Trennung, Trauer und Neubeginn – oft wenig erfahren und unvorbereitet – konfrontiert werden. Die Tode der anderen bestimmen unsere eigenen Vorstellungen. Hierzu brauchen wir die Kunst – zumindest wenn es um die Frage eines guten Sterbens geht. Die Angebote, das moderne Sterben zu verbessern, ihm einen Raum zu geben, es zuzulassen, sind vielfältig und unterschiedlich. Dabei geht es durchaus auch um eine neue Kunst des Sterbens. Teilweise sind es alte Rezepte, auf die vor vielen Jahrhunderten schon Montaigne und viele andere Philosophen hingewiesen haben, es sind aber auch die besonderen professionellen Angebote, die Sterben, Tod
und Trauer unter den veränderten Bedingungen der Moderne erträglicher und annehmbarer zu machen versuchen und hier durchaus auch auf einen Bedarf stoßen. Das Erhabene in der Gegenwart Auch wenn es in den letzten hundert Jahren eher Privatsache geworden ist, sich ein Jenseits, eine Transzendenz, eine über den diesseitigen Horizont hinausreichende andere Welt vorzustellen, kann die Kunst dazu beitragen, sich der unausweichlichen Perspektive des Todes bewusst zu werden und vielleicht noch stärker die Funktion, das Erhabene in der Gegenwart, das »contemporary sublime« – wie der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht es ausgedrückt hat – erfahrbar zu machen und damit auch an eine Wirklichkeit zu erinnern, an der man sich am Ende seines Lebens festhalten kann. Es darf und kann auch Kunst sein, die dazu anregt, nicht nur über die Sterblichkeit, sondern auch über die »Kunst des eigenen Sterbens« nachzudenken. »Der Tod hält mich wach« schreibt Joseph Beuys. Kunst ist dazu da, nachzudenken – auch über den Tod. Ars moriendi kann und sollte dazu beitragen, dass die Toten in unseren Erinnerungen und Empfindungen gegenwärtig sind, dass der Tod ein Teil des Lebens und dessen unausweichliche Konsequenz ist. Wenn die Kunst dazu beiträgt, dass wir uns dessen selbst bewusst werden, dann gelingt es vielleicht auch, das eigene Sterben als künstlerische Herausforderung zu betrachten, die für diejenigen, die sich daran erinnern werden, stimmig ist. Prof. Dr. Hans Christof Müller-Busch war bis 2008 Leitender Arzt der Abteilung für Anästhesiologie, Palliativmedizin und Schmerztherapie am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, Berlin. Von 2006 bis 2010 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). E-Mail: [email protected]
Lebenskunst
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Dankbarkeit und das Geschenk des Neu-(er-)Lebens
Am 21. Mai 2018 werde ich 15 Jahre. In meinem zweiten Leben habe ich also im Wonnemonat Geburtstag, was eine schöne Ergänzung ist zum Tag meiner Geburt an einem 13. Januar. Dass mein Leben begrenzt ist, wusste ich. Jetzt kann ich es fühlen. Am 21. Mai 2003 habe ich einen tragischen Unfall schwer verletzt überlebt, bei dem zwei Menschen tödlich verunglückt sind – Denise und Alexander. Auch wenn mich eine schuldlose Beteiligung an diesem Unfall entlastet, so war und bleibt diese Tragik doch unverständlich und schmerzhaft – in besonderer Weise für die im Leben gebliebenen Familien der Verstorbenen. Zu ihnen gehen gelegentlich meine Gedanken – auch zu der heute 16-jährigen Tochter von Denise, die mit anderthalb Jahren ihre Mutter verloren hat. Auf dem Nachhauseweg von einer Tagung entschied ich, eine kürzere Route über eine Bundesstraße zu wählen – das ist meine letzte Erinnerung. Von dem tragischen Unfall nur kurze Zeit nach dieser Entscheidung erfuhr ich genau vier Wochen später – am 21. Juni 2003 setzt mein Erinnerungsvermögen wieder ein. Die erste Botschaft, die mich in diesem Zusammenhang erreichen sollte, war meine schuldlose Beteiligung daran. Und doch weinte ich tief betroffen und konnte dieser Beteuerung nicht glauben: Wer weiß um meinen Anteil, wenn es Augenzeugen nicht gab? Wirklich entlastet haben mich der Besuch im Polizeipräsidium und die differenzierten Bildaufnahmen der Unfallstelle im Herbst des Jahres 2003. Im Polizeibericht bereits einen Tag nach dem Unfall hieß es: »Zwei junge Menschen im Alter von 22 und 25 Jahren sind am gestrigen Mittwoch um 17:37 Uhr bei
M. Sternberg
Marcus Sternberg
Denise und Alexander
einem schweren Verkehrsunfall auf der B 7 zwischen Eschwege und Kassel in Höhe der Ortschaft Helsa (Landkreis Kassel) ums Leben g ekommen. Ein 35-jähriger Autofahrer aus Jena wurde bei dem Unfall schwer verletzt und musste mit einem Rettungshubschrauber ins Klinikum Kassel geflogen werden. Die 22-jährige Frau aus Helsa und ihr 25-jähriger Begleiter aus Hessisch Lichtenau (Werra-Meißner-Kreis) waren auf der B 7 in Richtung Kassel unterwegs. In der sogenannten Waldhof-Kurve kam ihr Fahrzeug auf regennasser Fahrbahn ins Schleudern, geriet dabei auf die Gegenfahrbahn Richtung Eschwege und stieß dort mit dem entgegenkommenden Pkw des Jenaer zusammen. Durch die Wucht des Aufpralls wurde der 35-Jährige in seinem Wagen eingeklemmt und musste durch die Feuerwehr unter Einsatz von schwerem Gerät geborgen werden. Das Fahrzeug der beiden jungen Leute wurde durch den heftigen Aufprall in den Straßengraben geschleudert, kam dort zu Stillstand, fing sofort Feuer und brannte vollständig aus. Aufgrund des
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 20–21, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
D a n k b a r k e i t u n d d a s G e s c h e n k d e s N e u - ( e r - ) L e b e n s 2 1
Ausschnitt aus dem Tagebuch über die Zeit meiner vier Wochen im Koma
Unfallhergangs und der Wucht des Zusammenstoßes dürften sich dabei beide Fahrzeuginsassen bereits tödliche Verletzungen zugezogen haben. Die B 7 musste für die Rettungs- und Bergungsarbeiten bis um 20:35 Uhr voll gesperrt werden.« Ich war über anderthalb Stunden im Auto eingeklemmt und der mich behandelnde Notarzt hatte mir kaum eine Überlebenschance eingeräumt, wie mir die Feuerwehr bestätigte, bei der ich mich ebenso im Herbst 2003 bedankte. Monate nach diesem Unfall habe ich in einem Rundbrief meine bis dahin nicht gekannte Dankbarkeit auszudrücken versucht: für das Tagebuch über die Zeit meiner vier Wochen im Koma, für weit über hundert Briefe und Karten, für viele Besuche meiner Familie und Freunde, für die Krankenschwester, die mich in den ersten Tagen nach dem Koma zum ersten Mal im Rollstuhl ins Bad fährt und mir meine Privatsphäre zurückgibt – was für ein Engel. Ungläubig konnte ich wahrnehmen, noch –
wieder – alles zu können: laufen, atmen, essen, trinken, denken, sprechen, sehen, hören, riechen, lachen, weinen, singen und – Klavier spielen. Das war – als ich zu mir kam – meine große Sorge, weil auch meine rechte Hand verletzt war. Wie so vieles: Schädel-Hirn-Trauma 3. Grades, eine Lungenquetschung, 12 Brüche, Kreuzbandriss und den Klinikkeim MRSA durch die erforderliche künstliche Beatmung. Mein neues Leben eroberte ich mir Schritt für Schritt zurück und ging nur drei Monate nach dem Unfall wieder arbeiten! Dankbarkeit war lange Zeit das kraftvollste der mir innewohnenden Gefühle und ist es bis heute – sie hat mich zum (Über-)Lebenskünstler gemacht. Marcus Sternberg ist Leiter der Thüringer Hospiz- und Palliativakademie des THPV e. V. in Erfurt. E-Mail: [email protected]
Lebenskunst
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Leben – eine Kunst? Über das fragile Glück von Künstlern
Sönke Nissen-Knaack In unserem Kulturkreis besteht eine weitverbreitete Vorstellung darin, dass Menschen, die einen künstlerischen Beruf ausüben, nicht nur in ihrem jeweiligen Metier bewandert sind, sondern auch in der allgemeinen Lebenskunst besonders talentiert und klug sind. Diese Annahme wird auch gelegentlich durch Meldungen wie die im Folgenden zitierte bestätigt. Die »Hamburger Morgenpost« schreibt am 15.02.2012: »Berlin – ob Malen oder Schauspiel – Künstler sind glücklicher
als Menschen in anderen Berufen. Das zeigt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung: Künstler ziehen aus der Tätigkeit selbst einen größeren Nutzen als aus dem Geld, das sie damit verdienen.« Auch der Musiker Wolfgang Niedecken bestätigte dies in einem Interview: Er beziehe seine Lebensqualität aus dem, was er tue, und nicht aus dem, was er dafür bekomme. Beide Aussagen benennen zweifellos einen wichtigen Aspekt bei der Lebensgestaltung von
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 22–25, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
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für versucht eine Künstlerin sich Freiräume zu verschaffen, arbeitet sie daran, Formen zu entwickeln, die zum Ausdruck bringen, was sie im Innersten bewegt. Ein Künstler ist jemand, der irgendwann – meistens bereits in der Kindheit – entdeckt hat, dass in ihm selbst eine Quelle der Wahrnehmungsintensität und Erlebnistiefe sowie eines besonderen Gespürs für Zusammenhänge und ihre verborgenen Gründe sprudelt, die ihn mit zwingender Notwendigkeit dazu antreibt, immer neue Formen zu suchen, die dieses Übermaß in produktive Bahnen lenken und zum Ausdruck bringen können. Dieser Prozess des Suchens und Findens ist keine Frage der beliebigen Wahl, sondern eine Art von Getriebenheit. Der expressionistische Künstler Ernst Ludwig Kirchner drückte es einmal so aus: »Künstler wird man aus Verzweiflung.«
Sönke Nissen-Knaack, Arbeitsraum, 2014
Künstlern. Allerdings stellt sich die Sachlage bei genauerer Betrachtung etwas differenzierter und komplizierter dar; denn es gehört natürlich ein gewisses Maß an Erfolg – auch in finanzieller Hinsicht – dazu, die genannte Devise im Leben konsequent umsetzen zu können und der eigenen Arbeitsspur frei und nach selbstbestimmten Maßstäben zu folgen. Die Mehrheit der Absolventinnen und Absolventen von Kunsthochschulen, sowohl im Bereich der Bildenden Künste als auch der für Musik und Darstellende Kunst, lebt, wenn man nicht von Haus aus begütert ist oder eine reiche Ehepartnerin, einen reichen Ehepartner hat, in sehr prekären Verhältnissen. Der nötige Lebensunterhalt muss häufig über Lehraufträge, gelegentliche Auftragsarbeiten oder ganz andere Jobs wie Taxifahren gesichert werden. Daneben aber, und da-
Und Arnold Schönberg sagte einmal in diesem Zusammenhang, Kunst komme nicht von Können, sondern von Müssen. Dabei befriedigt es die Künstlerin nicht, kulturell vorgegebenen Mustern zu folgen, denn ihr Selbsterleben ist ja gerade eines der Differenz zur gesellschaftlichen Mehrheit. In diesem Grundgefühl der Andersartigkeit steckt ein prinzipielles Dilemma für die Künstlerpersönlichkeit, das sie auf je individuelle Weise zu bewältigen sucht. Der Künstler lebt in einem Spannungsfeld zwischen der Suche nach der eigenen Formsprache für seine oft unkonventionellen Sicht- und Empfindungsweisen einerseits und dem Bedürfnis und der existenziellen Notwendigkeit nach sozialer Anerkennung und beruflichem Erfolg andererseits. In der Kunstgeschichte der Moderne finden sich viele Beispiele von Künstlerpersönlichkeiten, die in diesem Konfliktfeld gescheitert sind und sich durch Alkohol oder andere Arten des langsamen oder schnellen Suizids ums Leben gebracht haben. Die Künstler und Künstlerinnen aber – und das sind dann diejenigen, die ans Licht der öffentlichen Wahrnehmung gelangen –, denen es gelingt, mit ihrer authentischen Ausdrucksweise Resonanz in Form von Verständnis, Erfolg, Anerkennung und damit auch finanzielle Absicherung zu erlangen, auf die trifft dann sicherlich zu, dass sie in besonderer Weise als glückliche Menschen bezeichnet werden können. Sie haben es geschafft, im weitesten Sinne Autorinnen und Autoren des eigenen Lebens zu sein, ihrem Leben als zu formendem Material einen Sinn zu geben. Allerdings ist auch für Künstler/-innen die erfolgreiche Verwirklichung in der Arbeit nicht das
Sönke Nissen-Knaack, Was kann ich wissen?, 2008
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einzige Feld, auf dem Lebensglück gedeiht, denn »jeder Künstler ist ein Mensch«, wie Martin Kippenberger einmal als kluge Ergänzung zu dem berühmten Zitat von Joseph Beuys bemerkte. Auch für Künstler/-innen sind natürlich Aspekte wie Gesundheit, eine offene Weltzugewandtheit und wechselseitiges Liebesglück die tragenden Säulen eines zufriedenen und erfüllten Lebensgefühls. Wenn diese Themen sich in ihren Werken spiegeln, vermögen diese auch Empathie und Trost zu vermitteln. Außerdem bleibt auch den vielen Erfolglosen unter den künstlerisch talentierten Menschen eine Eigenschaft, die sie für das Glück in besonderer Weise empfänglich macht. Das ist eben
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Sönke Nissen-Knaack, Upstairs, 2004
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jene Fähigkeit zur Erlebnisintensität und Tiefe, die keine aufwendigen Urlaubsreisen, exklusive Autos, Villen oder sonstige Dinge des Luxus und des Habens benötigt, um das Dasein zu spüren. Künstler verstehen es, Lebensqualität aus innerem Reichtum an Phantasie, Vorstellungsvermögen, lebhafter Gedankenvielfalt und Interessiertheit auch aus für viele andere Menschen belanglosen oder vermeintlich langweiligen Alltagsdingen zu beziehen. Und dieser innere Reichtum ist auch eine Frage der Haltung, zu der potenziell jeder Mensch sich entscheiden kann, wenn er ihren Wert erkannt hat und es dann will. Das meinte Beuys mit seinem vielzitierten und oft missverstande-
nen Satz: »Jeder Mensch ist ein Künstler.« Es geht dabei um eine Aufforderung, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben und das kreative Potenzial zu nutzen, das jeder Mensch in sich vorfinden kann. Sönke Nissen-Knaack, Jahrgang 1952, Studium der Freien Kunst an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, seitdem freischaffend als Maler tätig. In seinen Bildern beschäftigt er sich mit der Metaphorik von Räumen. Dabei liegt sein Schwerpunkt auf der Auseinandersetzung mit Raum und Licht sowie dem Verhältnis zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. E-Mail: [email protected] Website: www.sönke-nissen-knaack.de
Lebenskunst
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Trauerkunst Ulrike Mainzer Mein Mann ist vor einem Jahr verstorben. Ein Einschnitt in meinem Leben, der weder vorhersehbar noch begreifbar ist, weder tragbar noch aushaltbar erscheint. Und doch. Ich schaffe es. Schaffe es jeden Tag aufs Neue, am Leben zu bleiben. Im Leben zu bleiben. Ein Leben, in dem ich ohne dich von einer Leere in die nächste stolpere. Da wird mir eines Tages die Frage gestellt: Was verstehst du unter »Trauerkunst«? Ich denke nicht nach. Nehme einen Stift und lasse mich leiten von dem, was mein Innerstes preisgibt. Die Antwort wohnt in mir selbst. Das ahne ich und vertraue darauf. Was kommt, ist wahr und gut und leitet mich. Aus der Sprachlosigkeit fand ich ins Wort. Das ist meine Trauerkunst. Ulrike Mainzer, geboren: Dezember 1959. 27 Jahre mit meinem Mann durchs Leben gegangen. E-Mail: [email protected]
Es fehlt dein Lachen, dein Leuchten in den Augen. Es fehlt dein Optimismus, dem konnte ich immer vertrauen. Es fehlt dein Gespür für das Gute und Richtige, du konntest es unterscheiden. Es fehlt deine Zuversicht und das Wissen fürs Wichtige. Es fehlt das »Uns«, es fehlt das »Wir«. Meine Seele leidet, ich kann nur träumen von dir. Wie kann ich ertragen das leere Leben? Versiegter Sinn, wonach soll ich jetzt streben? Zuversicht, Freude und Hoffnung ruh’n, den Tribut an diese wundervolle Liebe zoll ich nun. Woher bekomme ich noch den Mut? Alles zerstört in der Verzweiflungsflut. Wie finde ich Trost? Was treibt mich noch an? Was hättest du an meiner Stelle getan? Du sagtest immer: »Hab Freude am Leben.« Welch mächtiges Erbe hast du mir aufgegeben. Ich fühle, du bist mein Engel, der, der mich begleitet, Trauerkunst heißt, zu wissen, dass du mich auf diesem Wege leitest. Ulrike, September 2017
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 26, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
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Interview mit Wilhelm Schmid Heiner Melching im Gespräch mit Wilhelm Schmid H. M.: Das Wort »Lebenskunst« ist für Sie von großer und zentraler Bedeutung. Was heißt es für Sie in der Kurzfassung? W. S.: Ganz einfach: Lebenskunst ist bewusste Lebensführung. Es gibt auch unbewusste Lebensführung, die keine eigentliche Lebensführung ist, sondern ein Sich-treiben-Lassen. Dagegen spricht gar nichts. Darüber entscheidet der jeweilige Mensch für sich selbst. Es könnte nur sein, dass das Sich-treiben-Lassen misslich wird im Laufe der Zeit. Und wer sich treiben lässt, wird auch gerne von anderen getrieben. Vor diesem Hintergrund kann es durchaus sinnvoll sein, sich ab und zu ein paar Gedanken über das eigene Leben zu machen. Um sich in den Gedanken zu orientieren. Wo komme ich her? Wo will ich hin? Was ist mir wichtig? Wofür möchte ich mich gerne einsetzen? Wofür lebe ich? Das ist bewusste Lebensführung. H. M.: Das klingt ja zunächst fast banal bis selbstverständlich, dass man sein Leben gestaltet. W. S.: Nein, das ist schon ein Schritt zu viel. Daraus folgt nicht zwingend, dass ich das Leben gestalten kann. Bis zu einem gewissen Grad: ja. Und bis zu einem gewissen Grad: nein. Ich kann mir nicht beliebig irgendetwas vornehmen. So zum Beispiel: Ich möchte gerne Architekt werden, aber ich habe gar kein Gefühl für Raum. Das kann ich nicht beliebig gestalten, dass ich jetzt ein Gefühl für Raum bekomme. Das sinnvolle an der bewussten Lebensführung ist, dass ich mir etwas klarer werde über mich selbst: Das kann ich nicht. Das kann ich etwas verbessern. Das kann ich mit allen Mitteln der Welt nicht erreichen. Lebenskunst ist die Einsicht: Manches kann ich gestalten und vieles nicht. Ich kann nicht beliebig die Gesellschaft gestalten. Ich bin jedoch sehr abhängig davon, wie die Gesellschaft aussieht, in der
ich lebe. Daraus folgt umgekehrt nicht, dass ich gar nichts aus dieser Gesellschaft machen kann. Durch mein bloßes Hiersein ist die Gesellschaft minimal eine andere. Die Balance hinzubekommen zwischen dem, was ich gestalten kann, und dem, was ich nicht gestalten kann, ist ein Teil der Lebenskunst. H. M.: Ist das Wahrnehmen und Akzeptieren von Begrenzungen demnach eine Facette der Lebenskunst? W. S.: Ja. Besonders in der gegenwärtigen Zeit haben Menschen in einer modernen Kultur maximale Ansprüche an das Leben. Als wäre das Leben Ton in ihren Händen. Dem Menschen kommt heute ganz verräterisch das Wort »erschaffen« über die Lippen: »Das erschaffe ich neu« – das ist eine blanke Anmaßung. Ich kann nichts erschaffen. Ich bin kein Gott. Im Grunde müssen wir wieder neu anfangen bei dem Tempel von Delphi mit dem Satz »Erkenne dich selbst«. Damit war gemeint: Erkenne, dass du kein Gott bist. In diesem Tempel residiert ein Gott. Jedoch das bist nicht du. Du bist ein Mensch. Du hast Grenzen. H. M.: Sie haben in Ihrem Buch »Mit mir selbst befreundet sein« im Kontext von »Gelassenheit« darauf hingewiesen, sich auf das »Mögliche darüber hinaus« zu besinnen. Und sich eben nicht auf den modernen Glauben zu verlassen, dass da erst mal nichts sei. Das klingt religiös und verführt auch dazu, wieder an etwas Schicksalhaftes zu denken; also diese Balance hinzubekommen zu »ich bin irgendwie ausgeliefert, bin in der Opferrolle«. Wie kann ich meine Fähigkeiten erkennen, dass ich mich eben nicht als ein Opfer dieses Schicksalhaften fühle? Denn gerade das ist für Menschen, die sich in einer Krise befinden, sehr wichtig.
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 27–36, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
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W. S.: Schicksal ist kein moderner Begriff. Daraus folgt jedoch nicht, dass es nicht doch ein Schicksal gibt. Woher auch immer das geschickt wird. Das wissen wir nicht. Es könnte statt Schicksal auch der blanke Zufall sein. Es fällt mir zu und ich kann daran nicht fundamental etwas ändern. Das widerspricht der modernen Auffassung, es gebe kein Schicksal. Alles kannst du machen. Oder du kannst es dir machen lassen. Und dann sind die Menschen in einer schwierigen Situation, die sie sich erstens nicht mehr erklären können. Denn Zufälle dürfen nicht mehr vorkommen. Es muss alles vom Menschen gemacht und bestimmt werden. Und zweitens, wenn etwas Ungutes geschehen ist, muss es repariert werden, so wie eine Maschine auch. Sowohl der erste wie auch der zweite Punkt können nicht vollständig Wirklichkeit werden. Wir werden niemals eine Welt haben, in der der Zufall komplett ausgeschaltet ist. Wir können ungünstige Verhältnisse reduzieren. Ich spreche sehr theoretisch. Wir können Vorsorge dafür tragen sowohl als Individuum als auch als Staat; zum Beispiel dass Unfälle nicht mehr so häufig geschehen. Autounfälle könnten durch intelligente Verkehrslenkung, durch besser ausgestattete Autos, durch Verkehrserziehung und so weiter reduziert werden. Dazu müsste es jedoch gelingen, alles total durchzuplanen. Es dürfte nicht mehr der geringste Zufall vorkommen, dass zum Beispiel ein Baum an der falschen Stelle im Weg steht. Wie stellen wir uns eine Welt vor, in der das komplett ausgeschaltet werden kann? Das wird nicht stattfinden. H. M.: Glauben Sie, dass Lebenskunst und das, was Sie damit meinen, durch das Dogma der Autonomie und Selbstbestimmung in nahezu allen Bereichen verloren gehen kann? W. S.: Das ist ein Dogma geworden, ganz genau. Es gibt Autonomie, die heißt jedoch etwas anderes als das, was der moderne Mensch darunter versteht. Nämlich wörtlich: »Sich selbst das Gesetz geben zu können.« Und das fällt sehr vielen Menschen sehr, sehr schwer. Wo lernt man denn das, sich selbst das Gesetz zu geben? Also
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Philipp Bauknecht, Bündnermutter, 1924 / akg-images
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sich selbst eine Regel zu geben: Ich möchte dies erreichen und dafür muss ich Tag für Tag dieses und jenes tun. Und das dann auch wirklich zu vollziehen. Das ist viel schwerer, als den Anspruch zu erheben, ich muss zuerst einmal frei von allen Bedingungen werden, die mich an meiner Autonomie hindern. Da müsste ich zum Beispiel frei werden von der Meteorologie. Wetter dürfte nicht mehr vorkommen. Das beeinträchtigt mich nämlich schwer. Wenn es an einem Tag regnet, den ich eigentlich als Sonnentag vorgesehen habe, das alles schränkt Autonomie ein. Wir müssen – wollten wir wirklich autonom sein – lernen, besser mit uns selbst umzugehen, zu erkennen, wo die Grenzen der Autonomie sind, die wir nicht ausschalten können. H. M.: Heißt das denn in der Konsequenz, wieder etwas mehr zu lernen, sich auch in einer schwierigen Situation einem Menschen anzuvertrauen? W. S.: Kein Mensch kann ohne den anderen leben. Das steht fest. Ich kann nicht Experte in allem sein. Also tue ich gut daran, Leute zu suchen, die mehr von dem verstehen, was ich jetzt brauche, als ich. Und im Gegenzug stehe ich diesen Menschen mit meiner Expertise zur Verfügung, wenn sie ihrerseits etwas brauchen können. Es fällt schwer, in moderner Zeit zu vertrauen, weil wir lernen, dass es gut ist, immer auch ein Quantum Misstrauen zu haben. Viele Zusammenhänge sind so kompliziert, dass sie auch missbraucht werden können. Da ist beispielsweise der Skandal mit den Eiern. Wenn ich Eier kaufe, muss ich darauf vertrauen, dass der, der die ganze Eier maschinerie am Laufen hält, sorgfältig damit umgeht. Und wir machen immer wieder die Erfahrung, dass diese Sorgfalt nicht von vornerein da ist. Und erst dann, wenn es einen Skandal gegeben hat, wenn alle genauer draufschauen, dann wächst auch die Sorgfalt. Insofern plädiere ich nicht für ein blindes Vertrauen auf andere, sondern es darf durchaus ein gesundes Quantum mitlaufendes Misstrauen geben. Aber ein Quantum eben. Dieses Misstrauen darf das Leben nicht
dominieren. Sondern großes Quantum Vertrauen, kleines Quäntchen Misstrauen. Dann lässt sich gelassen leben. H. M.: Wobei dieses sich gegenseitig Bedingen oder Brauchen ja gar nicht unbedingt das Praktische »Ich kann nicht alles wissen« beinhaltet, sondern dass ich den Gegenüber brauche, um mich selber kennenzulernen, oder gelingt dieses Sich-selber-Kennenlernen – bei Ihnen ist ja auch ein wichtiger Aspekt, mit sich selbst befreundet zu sein – aus mir selbst heraus? Kann ich das? W. S.: Die Frage stellt sich in der Lebenspraxis ganz einfach. Beziehungen misslingen, auch beruflich misslingt möglicherweise einiges. Wer ist jetzt verantwortlich dafür, mein Leben in die Hand zu nehmen? Ich will das gerne anderen zumuten, zutrauen, aber die anderen haben gerade selber so viel zu tun, die haben selber genug Misserfolge. Also wer kann den Anfang machen? Das kann ich nur selber. Und dann kann ich lernen, so mit mir umzugehen, dass ich wieder attraktiv werde für andere. Ich kann das Du nicht zwingen, an meiner Seite zu sein. Doch ich kann die Grundlage dafür schaffen, dass das geschieht. Es ist und bleibt Arbeit an mir selbst. H. M.: Die dann dazu führt – im besten Fall – mit sich selbst befreundet zu sein? Wie kann die Idee, mit sich selbst befreundet zu sein, auch für den Umgang mit einer krisenhaften Lebenssituation, wie im Prozess der Trauer oder einer Katastrophe, die über den einzelnen Menschen hereingebrochen ist, hilfreich sein? Da gibt es schwerwiegende Diagnosen, es gibt Krankheiten, die meinen Körper grundlegend verändern, Ereignisse, die Bisheriges in Frage stellen und vieles über Bord werfen lassen, was bisher tragfähig war. Wie kann das Mit-sich-selbst-befreundet-Sein da hilfreich wirken? W. S.: Indem ich mich mit dem anfreunde, was mir nicht zupasse kommt. Selbstfreundschaft heißt nicht, alles ist an mir gut, ist positiv. Sondern Selbstfreundschaft wächst mit der Einsicht, dass mein Körper auch Schwächen hat und nicht nur Stärken. Dass meine Gefühle nicht
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immer nur positive sind, sondern auch negative. Dass meine Gedanken nicht immer nur positive sind, sondern auch negative. Selbstfreundschaft wächst mit der Einsicht in die Polarität des Lebens und des Selbst. Es gibt kein rein positives Selbst. Da übernehmen sich die Menschen. Es hat sich aus der Religion die Vorstellung von Gott in die Vorstellung des Selbst eingeschlichen. Gott, der für alles Gute, Positive, Allmacht und so weiter steht, ist, nachdem viele Menschen nicht mehr glauben, in deren Selbst eingewandert. Das moderne Selbst hat von sich absolut göttliche Vorstellungen. Selbstfreundschaft besteht darin einzusehen, ich bin kein Gott. Ich bin verletzlich. Ich habe schlechte Gefühle, ich habe auch schlechte Gedanken. Daran ist nichts negativ im Sinne von »das darf nicht sein«. Sondern das ist Teil von mir. Ich bin verletzlich heißt, es kann mich eine Krankheit überkommen. Die kann aus blankem Zufall über mich kommen. Letzten Endes weiß kein Mensch, woher eine Krankheit definitiv kommt. Krankheiten sind immer multifaktoriell, das heißt, da spielen eine Reihe von Faktoren eine Rolle. Es können soziale Ursachen sein. Es können psychologische Ursachen sein. Es können traumatische Erlebnisse gewesen sein. Es kann aber auch rein körperlich bedingt sein. Es kann genetisch bedingt sein. Das kann der blanke Zufall sein, dass eben eine Mutation in meinen Genen stattgefunden hat und dass die Krankheit die Folge ist. Das werde ich letzten Endes nicht auflösen können. Das Einzige, was ich tun kann: Ich freunde mich damit an. H. M.: Und dieses auch dann Für-sich-selbstSorgen, das kann dann Ihrer Meinung nach auch unabhängig von meiner Situation gelingen? Ich denke jetzt an jemand, der immer kränker und schwächer wird und auch das Bett nicht mehr verlassen kann. Der fragt sich doch auch, wie klein ist mein Handlungsspielraum mittlerweile geworden, ist er noch ausreichend, um für mich zu sorgen, oder ist es vielmehr eine geistige, innere spirituelle Haltung, das Für-sich-Sorgen, in
einem Zustand, in dem man eigentlich gar nicht mehr für sich sorgen kann? W. S.: Im Zustand von Krankheit und Schwäche besteht die Sorge darin, wahrzunehmen, dass ich nicht mehr selbst für mich sorgen kann, dass ich darauf hoffen muss – und hoffentlich auch Bedingungen dafür geschaffen habe –, dass jetzt andere die Fürsorge für mich übernehmen. Sie werden dies leichter tun, wenn sie sehen, dass ich vorher das Meinige dazu getan habe und auch die erste Gelegenheit nutze – falls sie wiederkommt –, die Sorge für mich selbst wieder zu übernehmen. Das heißt, der sorgebedürftige Mensch macht nicht den Eindruck, die Sorge für sich selbst einfach abzugeben. Es gibt viele Menschen, die geben allzu gern die Sorge ab, nach dem Motto »dafür seid ihr ja wohl da«. Das ist euer Beruf. Das habt ihr zu tun. Dafür werdet ihr bezahlt. Das ist keine gute Grundlage dafür, Fürsorge von anderen zu erfahren. Ich erfahre die Fürsorge von anderen umso besser, je mehr ich willens bin, die Sorge für mich selber wahrzunehmen, solange und sobald ich es wieder kann. H. M.: Wie kann Menschen, die schwere Identitätsbrüche erfahren (haben), mit einer lebenskünstlerischen Haltung beigestanden werden? Kann ich anderen mit meiner eigenen Haltung, aus meiner Einstellung zur Lebenskunst heraus helfen? W. S.: Das war immer wieder Gegenstand der Gespräche, die ich über zehn Jahre hinweg in einem Krankenhaus geführt habe. Wo Menschen vor mir saßen, die in ihrem Leben nichts mehr machen konnten. Und wo auch ich selber vor der Frage stand: Was kann ich denen jetzt sagen? Etwas, womit sie unmittelbar etwas machen können? Das Einzige, worüber Sie verfügen können, sind Sie selbst. Sie können nicht über andere verfügen. Sie können auch nicht darüber verfügen, dass die Krankheit, die Sie überkommen ist, nicht mehr da ist. Sie ist da. Sie können jedoch jetzt unmittelbar mit sich selbst etwas machen. Sie haben Ihre Sinne: Sie können hören, schmecken und vor allem tasten. Wenn wir die Sinne stär-
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Selbstfreundschaft besteht darin einzusehen, ich bin kein Gott. Ich bin verletzlich. Ich habe schlechte Gefühle, ich habe auch schlechte Gedanken. Das ist Teil von mir.
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ker gebrauchen, kommen wir wieder stärker in Kontakt mit uns selber, mit der Welt und mit anderen. Unser gesamtes Weltverhältnis spielt sich ausschließlich über die Sinne ab. Würden wir alle Sinne verlieren von heute auf morgen, hätten wir kein Verhältnis zur Welt mehr, nicht mehr zu anderen, nicht mehr zu uns selbst, wir hätten keine Chance mehr, etwas wahrzunehmen, und das wäre der wirkliche Tod. Also alle Lebenskunst beginnt mit der Sinnlichkeit. Das große Problem ist, moderne Menschen lassen auch die Sinnlichkeit brachliegen und ersetzen Sinne durch technische Geräte. Das hilft uns jedoch nicht, wenn wir dann in der Krise sind. H. M.: In der Palliativmedizin sind wir ja immer auf der Suche nach dem Phänomen der Lebensqualität. Was ist Lebensqualität? Letzten Endes machen wir immer wieder die Erfahrung, dass es sinnliche Erfahrungen sind. Müssten wir das dann nicht auch viel mehr in unsere gesamten Konzepte des Lernens – vom Kindergarten bis zur Universität – einbauen, weil wir ja eigentlich nur noch versuchen, kognitiv die Welt zu verstehen? W. S.: Ja. Ich glaube, das geschieht auch. In Brandenburg heißt ein Schulfach »Lebensgestaltung«, in Berlin heißt es »Lebenskunde«. Ich möchte gerne annehmen, dass auch im Schulfach »Ethik und Religion« so etwas seinen Platz hat. Von daher stehen wir da sicher nicht mehr ganz am Anfang. Aber das kann sicher verbessert und verstärkt werden. Lebenskunst ist die Basis für das Leben, bewusste Lebensführung wahrzunehmen, was zum Beispiel Sinnlichkeit für uns bedeutet. Das können wir ja im Grunde mit ganz einfachen Erfahrungen uns bewusst machen. Was wäre denn, wenn dir kein Essen schmeckt? Was wäre denn, wenn deinen Augen gar nichts gefällt? Was wäre denn, wenn du deine Musik komplett abschaffen müsstest? Dann bemerken wir doch sehr leicht, was uns die Sinnlichkeit bedeutet. Und wenn wir das wissen, dann können wir das verstärken. Deswegen steht hier zum Beispiel diese wunderschöne Blume im Blumentopf. Und das finde ich dermaßen schön, diesen Pulk von
rosa Blüten. Und am liebsten ist es mir, dass sie im Topf ist. Das heißt, sie kann kultiviert werden, ich verliere das nicht in einer Woche, weil der Strauß kaputt geht, sondern ich kann das über Jahre hinweg pflegen. Also ich achte selber auch darauf, dass meine Sinnlichkeit voll befriedigt wird in jeder Hinsicht. Und je mehr Menschen diese Erfahrungen machen, desto mehr suchen sie dann auch nach Angeboten in diesem Bereich, die es ja langsam, aber sicher in wachsendem Maße auch gibt. Und dann verändert sich viel eher etwas. Wenn ein Mensch selbst auf die Suche geht, selbst fündig wird, selbst zur Einsicht kommt, was besser für ihn oder sie ist, dann hat das eine viel größere Wirkung als zu predigen. Das wissen wir im Prinzip aus der Erziehung. Du kannst an deine Kinder heranpredigen, was du möchtest, das interessiert die nicht. Aber wenn sie was brauchen, dann kommen sie schon. Und dann ist es aber wichtig, dass etwas bereitsteht. Darauf setze ich, auf das Angebot. Die Nachfrage wird schon kommen. Menschen gehen irgendwann auf die Suche, und dann finden sie immer auch. H. M.: Ich habe gelesen, dass Sie als philosophischer Seelsorger tätig waren, und habe mir überlegt, was ich mir darunter vorzustellen habe. Bei uns ist ja der Begriff noch nicht so geläufig. Gibt es das in der Schweiz ganz normal oder ist das etwas, was Sie für sich kreiert haben, und wie verstehen Sie diese Aufgabe des philosophischen Seelsorgers? W. S.: Ich habe mich, als ich diese Tätigkeit begonnen habe, nach einer gewissen Zeit gefragt: Was machst du hier eigentlich? Du führst Gespräche, die Menschen sind fast ohne Ausnahme sehr froh über diese Gespräche. Und dann fiel mir ein: Das sind sokratische Gespräche, die ich führe, also Gespräche mit Menschen, die ergebnisoffen sind. Ich bin nicht im Besitz der Wahrheit. Ich bin nur derjenige, der Anregungen geben kann. Ich bin derjenige, der sehr konzentriert zuhören kann. Und meine Erfahrung war, alle Menschen sprechen sehr gerne über ihr Leben, und sie sind froh und glücklich darüber, einen Men-
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schen gegenüber zu haben, der auch wirklich zuhört, der sich wirklich interessiert und der ab und zu eine kompetente Bemerkung macht und eine Nachfrage stellt und Gedanken anregt. Und dann wusste ich, wie Sokrates dieses Verfahren genannt hat, nämlich Seelsorge. Epimeleia tes psychos im Griechischen. Der Erfinder der Seelsorge war ein Philosoph. Und erst mehrere hundert Jahre später ist das von christlichen Theologen übernommen worden und dann ein wenig verändert worden in der Weise, wie es die abendländische Geschichte geprägt hat. Dann haben vor etwa zwanzig, dreißig Jahren die Theologen damit begonnen, diese kirchliche Seelsorge wieder aufzulösen und eher philosophisch zu verstehen. Insofern gab es von vornherein keinen großen Unterschied zwischen dem, was ich machte, und dem, was die Theologen heute, jedenfalls in einem Land wie Deutschland oder der Schweiz, an Krankenbetten machen. Hinzu kam bei mir, dass das ganze Krankenhaus dieses Angebot in Anspruch genommen hat, also auch das Personal, auch die Ärzteschaft, die ihrerseits eine Menge Dinge haben, die sie gerne mal mit jemandem vertieft besprechen würden, und niemanden dafür haben zu meiner großen Überraschung. Ich dachte, die haben alle Freunde, die haben alle Familie. Ja, freilich, die Freunde machen denen sehr schnell klar: Du, heute Abend müssen wir aber jetzt nicht auch noch über den Beruf sprechen. Die Familie macht dem Arzt, der nach Hause kommt, oder der Ärztin, ganz schnell klar: Du, hier ist Familienleben und nicht Klinik, verwechsle das nicht. Also mit wem sollen diese Menschen die Fragen über Tod und Krankheit besprechen, die ihnen durch den Kopf gehen? Insofern habe ich mich am Anfang gefragt, wozu ein Krankenhaus einen Philosophen braucht. Dort geht es ja um ernste Angelegenheiten und nicht um so ein bisschen Nachdenken. H. M.: Sie sprechen von »ernsten Angelegenheiten« – wie ist es da mit Ihrer Einstellung zur Religion? W. S.: Ich vertraue auch darauf, dass da noch was ist, und brauche dafür keine Religion. Nicht
dass ich der Religion fern wäre, das bin ich nicht. Aber ich stelle mich darauf ein, dass es nun einmal viele Menschen gibt, denen Religion, welcher Art auch immer, nichts mehr sagt und die die Theorie vertreten, dass nach dem Tod nichts ist, was mich immer schon gewundert hat, weil man die Theorie ja nur vertreten kann, wenn man das weiß. Aber im strengen Sinne kann das niemand wissen. Man müsste ja das Leben verlassen und wieder zurückkommen können und dann berichten können. Das kann kein Mensch. Also können wir weder positiv noch negativ wissen. Wenn gläubige Menschen sagen, sie wissen, was danach ist, können sie das nicht wissen, sie können das nur glauben. Und wenn nichtgläubige Menschen sagen, sie wissen, dass danach nichts ist, können sie das nicht wissen, sie können auch nur glauben. Aber was wir tun können, ist, uns ein paar Gedanken zu machen, die mehr oder weniger plausibel sind. Und das versuche ich als Philosoph zu tun. Das hat für mich momentan auch mehr Bedeutung gewonnen als sonst, weil ein sehr guter Freund gestorben ist und ich für mich aufgrund dessen wieder neu rekapituliert habe: Was geschieht eigentlich, wenn ein Mensch stirbt? Eigentlich etwas ganz Einfaches. Es ist so überwältigend. Gerade eben hat dieser Mensch noch gesprochen, jetzt spricht er nicht mehr. Gerade eben hat er mich noch angeblickt, jetzt blickt er nicht mehr. Gerade eben hat er sich noch bewegt, jetzt bewegt er sich nicht mehr. Es ist aber nur eine Kleinigkeit, die geschehen ist, die das Ganze verändert. Und das ist: Im Augenblick des Todes verlässt die Energie den Menschen. Aber es ist keine geheimnisvolle Energie, es ist zum Beispiel elektrische Energie, aufgrund derer unser Herz schlägt, aufgrund derer unsere Synapsen funktionieren. Und schlagartig geht diese Energie aus dem Menschen heraus. Wir müssen konstatieren, diese Energie ist das Wesentliche des Menschen, nicht die Materie, nicht der Körper, sondern diese Energie. Wenn das aber so ist, dann gilt für diese Energie der Energieerhaltungssatz, po-
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etisch gesagt: Energie stirbt nicht. Oder wie frühere Kulturen und auch nichtmoderne Kulturen heute formulieren: Die Seele ist unsterblich. Das ist sie nämlich, die Seele. Was soll das sonst sein? Und das ist etwas, was über unser Leben hinaus bleibt, und zwar ewig. Denn nach dem Energieerhaltungssatz kann Energie nicht ausgelöscht werden, sie kann auch nicht erzeugt werden. Sie ist da, sie war immer da, sie wird immer da sein. Das klingt nach Aussagen, die andere Menschen über Gott treffen. Die reine Vermutung von meiner Seite ist: Es ist mit Gott gar nichts anderes gemeint als diese Energie. Wenn Gott allmächtig ist, die Energie ist allmächtig. Alle Wirklichkeit resultiert aus den Möglichkeiten der Energie. Und je umfangreicher die Energie, desto umfangreicher die Wirklichkeit, die von ihr bewirkt werden kann und letzten Endes hat alles, was wirklich ist, eine Laufzeit, es beginnt und es endet, und nach dem Ende kehrt diese Wirklichkeit wieder zurück in den energetischen Zustand. H. M.: Womit vom guten, allmächtigen Gott dann zumindest der allmächtige bleibt. W. S.: Ich habe absolut kein Problem, das Gott zu nennen. Mir persönlich ist das auch lieber, das liegt mir näher, als das so nüchtern Energie zu nennen, aber ich bestehe nicht auf dem Begriff »Gott«. Das sind menschliche Zuschreibungen, das sind nicht metaphysische Wahrheiten. H. M.: Was wären die drei wichtigsten Aspekte der Lebenskunst, die Berater und Beraterinnen beherzigen können, damit sie in einen guten Kontakt mit ihren Klienten und Klientinnen kommen? Kann man das so benennen? W. S.: Ja, das kann man sehr klar benennen. Wir hatten im Krankenhaus eine Arbeitsgruppe, in der alle diejenigen, die mit den Kranken zu tun hatten, sich über ihre Erfahrungen ausgetauscht haben. Und wir haben uns mal die Frage gestellt: Was ist die Bedingung dafür, dass eine Beziehung mit dem Menschen, mit dem wir zu tun haben, zustande kommt? Ist es unsere Profession, Theologe, Psychologe, Therapeut, Philosoph oder Arzt zu sein? Nein! Die Bedingung dafür ist erstens die
Person, zweitens die Person und drittens die Person, völlig unabhängig von der Profession. Das macht die Profession nicht unwichtig, in keiner Weise. Die Profession ist die Grundlage für unsere Tätigkeit. Aber sie soll uns den Blick nicht dafür verstellen, dass es ein persönliches Verhältnis von Person zu Person ist. Das bedeutet allerdings auch, dass es sein kann, dass kein persönliches Verhältnis zustande kommt. Und das sollten wir uns frühzeitig eingestehen und dann dafür Sorge tragen, dass eine andere Person die Brücke zu dieser Person sucht. H. M.: Also auch wieder die Anerkennung der begrenzten Möglichkeiten, dass man nicht für jeden der Richtige sein kann. W. S.: Richtig, genau so. Wenn nämlich da kein persönliches Verhältnis zustande kommt, können Sie in Ihrer Profession so gut sein, wie Sie wollen, Sie werden nichts erreichen. Die Brücke zwischen Menschen entsteht ausschließlich auf der persönlichen Ebene. Und dann ist es gut, wenn das professionell unterfüttert ist. Aber nicht die Profession macht die Brücke. H. M.: Da sind manchmal auch die Psychologen auf den Palliativstationen ganz überrascht, dass die Patienten manchmal mit den Physiotherapeuten die besseren Gespräche führen, weil die ohnehin dran sind. Manchmal ist es aber auch die Reinigungskraft oder wer auch immer. W. S.: Das lässt sich übrigens sehr gut erklären, warum die Physiotherapeuten – nicht nur manchmal, sondern sehr häufig – im Vorteil sind: weil sie berühren, weil sie am Körper sind, weil sie sinnlich erfahrbar sind und bei den Menschen die Sinnlichkeit auch wieder wecken. Die Erfahrung haben wir im Krankenhaus gemacht. Mir ist das aufgefallen, da ich die verschiedenen Abteilungen auch aufgesucht habe, um dort ein bisschen mitzuarbeiten und das besser kennenzulernen und mich persönlich mit den Menschen bekannt zu machen, dass in der Physiotherapie den Patienten regelmäßig der Mund übergegangen ist, dass die ihre ganze Lebensgeschichte erzählt haben, die sie vorher dem Arzt verweigert haben. Und dann
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kamen wir dahinter. Natürlich, wenn die ganze Sinnlichkeit wiedererweckt wird, lebt die Seele auch wieder auf, also die Energie, und dann sucht die nach Ausdruck. Und am leichtesten kommt sie durch die Augen und durch den Mund. Da kamen oft auch Informationen zum Vorschein, die medizinisch wichtig und wertvoll waren. Da im professionellen Kontext diese Informationen auch hin und her gehen dürfen, war das dann eine wertvolle Information auch für die Mediziner und hat dazu geführt, dass in diesem Krankenhaus die Mediziner Patienten oft, ohne dass es unbedingt indiziert war, erst mal in die Physiotherapie geschickt haben, denn das tut jedem gut. H. M.: Könnte das jetzt auch eine Aufforderung sein, in der Begleitung mehr auf Berührung zu gehen? W. S.: Ja. Berührung ist skalierbar. Wie schon der Ausdruck sagt, heißt das, wir haben die ganze Skala von Berührung zur Verfügung. Und ich bin gut beraten, wenn ich den Menschen, den ich noch gar nicht kenne, nicht gleich in den Arm nehme. Das würde ja heißen, auf der Skala von null bis hundert gleich auf hundert zu gehen. Nein, die Nummer eins auf der Skala ist, ich fasse einfach mal an die Schulter. Das ist eine völlig harmlose, unauffällige, unaufdringliche Berührung. Und dann sehe ich, wie dieser Mensch darauf reagiert. Wenn ihm das offenkundig angenehm ist, dann kann ich auch mal den Oberarm streicheln. Wenn das immer noch angenehm ist, dann kann ich auch mal meine Hand anbieten. Und dann bemerke ich ja, wird die Hand sofort wieder zurückgezogen oder, was ich häufig im Krankenhaus erlebt habe, die geben die Hand nicht mehr her. H. M.: Man hat aber auch andere Möglichkeiten, in Beratungssituationen eine Sinnlichkeit zu schaffen. Es wird ja immer so ein bisschen belächelt. Ich habe früher verwaiste Eltern begleitet und war dabei ein leidenschaftlicher »Mittenbauer«. Ich denke, dass die Bereitschaft zu reden oder sich zu öffnen, leichter wird, wenn ich sehe, da hat jemand etwas liebevoll gestaltet, da ist eine
Kerze an oder ich kann was in die Hand nehmen oder es ist auch am Anfang eine kleine Musik im Hintergrund. Wenn mich dann jemand gefragt hat: »Was machst du da mit den Eltern?«, war mein erster Satz meistens: »Ich mache den Raum schön.« Das schafft ja auch eine Sinnlichkeit. In Gesprächs- und Begleitsituationen ist dann zu sehen, da hat jemand etwas für mich getan, was liebevoll ist. Aber es ist auch eine sinnliche Wahrnehmung, das zu sehen, oder? W. S.: Absolut. Wir werden noch viel stärker auf Räumlichkeit aufmerksam sein müssen. Und ich glaube, da gibt es nach wie vor Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Frauen sind viel schneller bei der Hand, einen Raum schön zu machen, mit Pflanzen, mit Kunstwerken, mit Malereien an der Wand und so weiter, während Männer dazu neigen, in kahlen Räumen zu leben und zu arbeiten. H. M.: Aber wir freuen uns dann trotzdem, wenn es schön gemacht wurde. W. S.: Und wir freuen uns, wenn wir in einen anderen Raum kommen. Das ist eindeutig, wir müssen viel mehr Wert auf die Gestaltung von Räumen legen. H. M.: Ich danke Ihnen für dieses interessante und lehrreiche Interview. Wilhelm Schmid, Jahrgang 1953, ist freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Er ist Autor zahlreicher erfolgreicher Bücher. © Heike Steinweg/ Suhrkamp Verlag
E-Mail: [email protected] Website: www.lebenskunstphilosophie.de
Literatur Schmid, W. (2004). Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst. Frankfurt a. M. Schmid, W. (2007) Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist. Frankfurt a. M./Leipzig Schmid, W. (2014). Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden. Berlin. Schmid, W. (2016). Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers. Berlin.
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»Ich muss auf Reisen gehen – ohne den Tod von … hätte ich das nicht gemacht!« Bärbel Sievers-Schaarschmidt So oder ähnlich fangen viele Ersttelefonate mit trauernden Menschen an, die ich als Trauerbegleiterin im Vorfeld einer Segelreise für Trauernde führe. Der Tod eines wichtigen Menschen ist ein Wendepunkt im Leben. Wie beim Segeln gegen den Wind sind jetzt viele Wenden nötig, um sich neu zu verorten, um einen Lebenskurs zu steuern, der der veränderten Situation Rechnung trägt. In dieser suchenden Bewegung kommen neue Horizonte in Sicht. Irgendwann stellt sich dabei auch die Frage: Wie mache ich jetzt Urlaub ohne sie oder ihn? Spezielle Reisen für Trauernde bieten dafür einen unterstützenden Rahmen. Frau G. berichtet, dass der Tod ihres Mannes schon sieben Jahre zurückliege. Sie fühlt sich von der Reise angesprochen, hat aber auch Bedenken: »Zieht mich die Trauer der anderen vielleicht runter, wo ich doch im Alltag schon ganz gut klar komme? Mag ich mich der Gruppe überhaupt öffnen? Wie alt sind die Mitreisenden?« Frau K., eine verwitwete Hobbyfotografin, hat Fragen zum Alltag auf dem Schiff, weil sie sich nicht sicher ist, ob sie auf engstem Raum eine Woche mit fremden Menschen zusammen sein kann. Herr H. erzählt von seinen zwei Jungen, die mit einer lebensverkürzenden Erkrankung in einer Einrichtung leben. Alle zwei Wochen holen seine Frau und er die beiden nach Hause. Ein Abschied auf Raten sei das, denn die Lebenserwartung der Jungen liege bei etwa zwanzig Jahren.
Frau E., eine zerbrechlich wirkende Frau, weint viel beim ersten Telefonat. Nach dem Tod ihres Mannes muss sie den Betrieb allein managen, den beide bis dahin gemeinsam geführt haben. Dabei hatte sie sich erst kurz zuvor entschieden, ihren Traum von einer Ausbildung als Heilpraktikerin in die Tat umzusetzen. Die Motive, sich auf eine Trauerreise zu begeben, sind vielfältig: • Eine Reise machen wollen, deren Klima oder Bedingungen der Partner nicht mochte. • Sich einen lang gehegten Urlaubswunsch erfüllen. • Sich raustrauen aus einer Situation, die nicht selbst herbeigeführt wurde. • Sich mit anderen Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, zusammentun. • Zeit für sich haben und für das Thema Abschied, Sterben, Tod und Trauer. • Zusammen mit anderen etwas wagen, was man sich allein noch nicht zutraut. • Sich vom Alltag erholen wollen in einem geschützten Rahmen. Beim Vorbereitungstreffen berichtet der Skipper den sechs Reiseteilnehmenden über das schöne Segelrevier mit seinen Möglichkeiten: Nächte an Bord unterm Sternenhimmel, Ankerplätze in traumhaften Buchten, kleine Hafenstädtchen, die zum Bummeln einladen. Als Trauerbegleiterin erzähle ich von den Bedingungen an Bord und den guten Gesprächsmöglichkeiten, die sich dort auf vielfältige Weise ergeben: spontan miteinander, in Gruppentreffen oder auch in gezielt verabredeten Einzelbegleitungsgesprächen.
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 37–40, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
Bärbel Sievers-Schaarschmidt
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Noch schwer vorstellbar bleibt für alle, wirklich Urlaubsspaß zu haben, den Morgenkaffee im warmen Wasser zu trinken oder abends an Bord gemeinsam zu genießen, was die Koch-Crew in der Kombüse gezaubert hat. Trauerreisen sind eine Mischung aus Selbsthilfe- und begleiteter Gruppe. Viele Teilnehmende haben mit Gruppen bereits gute Erfahrungen gemacht. Sich auszutauschen, zu spüren, dass ich mit meinem Schicksal nicht allein bin, dass es Menschen gibt, die mich und meinen Schmerz verstehen, lässt den einen oder die andere über sich hinauswachsen. Das Wiedersehen am Flughafen ist erwartungsvoll. Alle eint der Wunsch, einen schönen Urlaub mit sechs jetzt noch fremden Menschen zu machen. Im Hafen angekommen, werden alle im Schnellkurs mit dem Seglerleben, seinen Begriffen und Verhaltensweisen vertraut gemacht. Leise Zweifel, ob es richtig war, eine Reise unter diesen Bedingungen zu buchen, begleiten manche auf dem Weg in die Koje. Davon wird aber
Durch das gemeinsame Tun an Bord entsteht schnell eine Verbundenheit in der Gruppe, die sich wechselseitig auf dem Trauerweg begleitet.
erst Tage später berichtet werden. Durch das gemeinsame Tun an Bord – Servicepersonal gibt es nicht – entsteht schnell eine Verbundenheit in der Gruppe, die sich wechselseitig auf dem Trauerweg begleitet. Am nächsten Morgen freuen sich alle über Sonne, Wärme und Meer. Zaghaft probieren alle zusammen und jeder für sich aus, was jetzt individuell stimmig ist. Das fällt in den nächsten Tagen bei zunehmender Vertrautheit leichter. So gelingt es einer Teilnehmerin, sich jeden Tag ein Stück mehr dem Wasser zu nähern. Sie ist noch nie im offenen Meer geschwommen und hat Angst. Aus eigenem Antrieb und mit Hilfe der anderen macht sie bald ihre ersten Schwimmzüge und fühlt sich getragen. Alle freuen sich mit ihr. Und sie wächst an ihrem Wagemut. Ebenso entwickelt sich die angeleitete Gesprächsrunde, die täglich nach dem Ablegemanöver angeboten wird, wenn nicht mehr alle Hände und Augen fürs Segeln gebraucht werden. Nun segelt der Skipper allein und die »Crew« widmet
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Bärbel Sievers-Schaarschmidt
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sich in geschützter Runde der Trauer. Dafür werden zunächst die Regeln besprochen. Jeder erzählt in der Runde so viel, wie er oder sie mag, es gibt keinen Zwang zum Reden. Alles, was hier besprochen wird, darf nur in anonymisierter Form weiter berichtet werden. Neben den Gruppen gesprächen sind jederzeit Einzelgespräche mit der Trauerbegleiterin möglich. Am ersten Tag gibt es einen regen Austausch über die Gründe dieser Reise. Die Verstorbenen sind imaginär mit an Bord. Ist es das Thema? Oder der Seegang? Frau E. wird speiübel. Alle kümmern sich sofort nach Kräften. Gegen Seekrankheit hilft, am Horizont einen Punkt zu suchen und diesen immer im Auge zu behalten. Das muss der Rudergänger, ein jeweils vom Skipper ernannter Steuermann, sowieso tun. So geht Frau E. nach kurzer Zeit entschlossen ans Ruder. Sie entpuppt sich als Naturtalent und kann die Segel umgehend so in den Wind stellen, dass das Schiff
ruhig und mit hoher Geschwindigkeit durch das Wasser gleitet. Die Übelkeit verschwindet. Frau E. gewinnt Freude daran, am Ruder zu stehen. In einem Einzelgespräch berichtet sie mir der Sorge, ob sie den Betrieb allein führen könne. Sie entwickelt bildhaft, was für Winde und welche Mannschaft sie braucht, um ihr »Unternehmensschiff« sicher durchs Wasser zu manövrieren. Für alle Teilnehmenden gibt es Erlebnisse und konkrete Erfahrungen auf dieser Reise, die sich hilfreich in die Realität des Alltags übersetzen lassen. Eine Mitreisende berichtet von einem schweren Rucksack, den sie seit Jahren mit sich trägt. Das Zweiergespräch findet bei leichten Winden auf dem Vorschiff statt. Sie hatte ihrem Mann versprochen, ihn zu Hause bis in den Tod zu begleiten. Viele Angehörige geben Versprechen, ohne zu wissen, ob sie es einhalten können, da niemand vorhersehen kann, wie sich ein Sterbeprozess ent-
Lebenskunst
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wickelt und ob er in der Häuslichkeit bewältigt werden kann. Durch die Schwere der Erkrankung kamen alle Beteiligten an ihre Grenzen, so dass der Mann ins Krankenhaus verlegt werden musste und dort im Beisein seiner Frau starb. Mit diesem nur halb erfüllten Versprechen kann ihr Herz keinen Frieden schließen. Ein unvorherseh bares Naturereignis gibt ihr die Kraft, den Rucksack über Bord zu werfen: Eine Gruppe Delfine – ihre Lieblingstiere – tummelt sich um das Schiff. Sie erlebt den offensichtlichen Spaß der Tiere miteinander und ist berührt von ihrer besonderen Lebensfreude. Sie versteht es als Zeichen, die Bürde des uneingelösten Versprechens nun loslassen zu dürfen.
Bärbel Sievers-Schaarschmidt, Sozialpädagogin, Supervisorin, ist Mitarbeiterin der Beratungsstelle CHARON – Hilfen im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer in Hamburg. Neben der Beratungstätigkeit ist sie Projektleiterin für das Netzwerk Palliative Geriatrie. Auf den vielen von ihr organisierten und begleiteten Segelreisen für Trauernde sind die geschilderten Erfahrungen gemacht worden. E-Mail: [email protected]
Bärbel Sievers-Schaarschmidt
Wie beim Segeln gegen den Wind sind viele Wenden nötig, um sich neu zu verorten, um einen Lebenskurs zu steuern, der der veränderten Situation Rechnung trägt.
Alle Teilnehmenden kommen erfüllt und bereichert aus dem Urlaub zurück – was auf dem gemeinsamen Nachtreffen noch einmal in aller Breite deutlich wird. Die Trauerarbeit findet eingewoben in den Alltag an Bord statt. So gehen das Außergewöhnliche und das Normale auf einer Trauerreise Hand in Hand. Typische Urlaubsaktivitäten wie Segeln, Schwimmen, Bummeln, Erkunden, Essengehen etc. sind dabei nicht der geglücktere Gegenentwurf zur Trauer, sondern laden ein, dabei zu sein.
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Durch die Nacht gehen landart und Visionssuche als Mittel und Wege, zu den persönlichen Ressourcen zu finden
Bernadette Raischl, Josef Raischl, Michael Clausing Burnout ist leider auch im Bereich Hospiz und Palliative Care immer mehr ein Phänomen, dem sich nicht nur die Betroffenen und Kollegen zu stellen haben, sondern ebenso die Träger und Verantwortlichen in den Einrichtungen. Im Münchner Institut für Bildung und Begegnung (IBB), das der Christophorus-Hospiz-Verein dieses Jahr gründete, versucht man neue Wege in der Burnout-Prophylaxe zu beschreiten. Das IBB bietet für Palliative-Care-Fachkräfte Kurse an, die sich im Sinne von self care vor allem auf die Kraft
der Natur stützen. Dabei fließen die Erfahrungen einer Krankenschwester, Psychologin und singenden Supervisorin zusammen mit einem vogelkundigen Natur-Künstler (»landart«) und einer Leiterin von Kursen zur sogenannten Visions suche (»vision quest«).
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 41–43, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
Es bleibt der Schatz des Augenblicks: Vielfalt ohne Wertung, wohltuendes und stützendes Miteinander.
4 2 B e r n a d e t t e R a i s c h l , J o s e f R a i s c h l , M i c h a e l C l a u s i n g
Mit aufmerksamen Sinnen Friedrich Schiller schreibt in »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« (1795), der Mensch werde nur dann seinem Wesen gerecht, wenn es ihm zumindest vorübergehend gelinge, die Begrenzungen seines alltäglichen Lebens zu überwinden und ein Tor aus der Welt des Notwendigen und Zweckdienlichen in die Welt des Möglichen zu öffnen. Um die Herausforderungen palliativ-hospizlicher Berufsarbeit bestehen zu können, geht es nicht nur darum, funktionell zu handeln und möglichst effektiv zu sein, sondern als ganzer Mensch mit der eigenen Kraft und Lebendigkeit in Kontakt zu sein. Offene Sinne sind in der Begleitung ein Zugang, um den Anderen, aber auch sich selbst in der jeweiligen Einzigartigkeit wahrzunehmen. Deshalb lädt der Kurs ein, der Sinneswahrnehmung volle Aufmerksamkeit zu schenken, zum Beispiel auf die Verschiedenartigkeit der Vogelstimmen zu hören, das kunstvoll geäderte Blatt und die Farbnuancen eines Steins zu sehen. Diese Erfahrungen können zu »Toren« im Sinne von Schiller werden. Mit Zeit und Ruhe kehrt das Staunen bei den Teilnehmern und Teilnehmerinnen ein. Die Erfahrung dieser Form von landart besteht nicht darin, ein vermeintlich großartiges Kunstwerk zu schaffen, sondern darauf zu achten, was einen in der Natur anspricht, und sich dabei selbst von dem überraschen zu lassen, was entsteht, vielleicht ein Ausdruck der inneren Stimme. Die »Kunstwerke« werden schließlich in einer Vernissage von allen betrachtet.
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Plötzlich aber kommt ein Windstoß und das Werk verändert sich. Wir bauen nicht für die Ewigkeit. Die Flüchtigkeit des Moments und die Vergänglichkeit zeigen sich in der Natur in einer überraschenden Selbstverständlichkeit. Es bleibt der Schatz des Augenblicks: Vielfalt ohne Wertung, wohltuendes und stützendes Miteinander, Raum und Zeit für jeden Teilnehmer, jede Teilnehmerin, ohne Leistungsdruck die Welt des Möglichen und dabei die Leichtigkeit im kreativen Tun zu spüren. Nächtliche Erfahrung Im zweiten Kurs verbringen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach gründlicher Vorbereitung einen ganzen Tag und eine ganze Nacht im Wald. Das, was für viele Palliativfachkräfte eine regelmäßige Erfahrung darstellt, nämlich in der Nacht für Sterbende da zu sein beziehungsweise die Nacht der Sterbens- und Todeserfahrung für und mit anderen auszuhalten, soll aufgegriffen werden. Es beginnt damit, dass jede und jeder ihren beziehungsweise seinen eigenen Platz in der freien Natur sucht und findet. Sie bauen sich einen Unterstand, wo sie sitzen, schauen und warten können. Es geht darum, für sich zu sein: kein Buch, kein Handy, keine sonstige Ablenkung. Die Selbstsorgenden gehen mit einer Frage oder einem Satz hinaus. Ob sich im Spiegel der Natur eine Antwort oder eine weiterführende Spur findet? Es ist Zeit, viel Zeit. Die Dämmerung bricht herein. Die Erfahrung der Nacht im Freien kann natürlich sehr Unterschiedliches zum Vorschein bringen: Gefühle tauchen auf, Gefühle der Einsamkeit und Angst vielleicht. Aus dem Sich-Aussetzen wächst die Erfahrung, mit dieser Angst auch (um-)gehen zu können, bei manchen sogar – geboren aus der Kraft der Geduld – etwas wie eine große Gebor-
genheit, eine nie gekannte Kraft. Hätte Frau und Mann sich das zugetraut? Zurück in der Gruppe werden die Geschichten erzählt. Die Bedeutung des Erlebten kann im Echo der anderen noch an Klarheit gewinnen. Neben diesen intensiven Naturerfahrungen spielt in den Kursen das gemeinsame Singen von kurzen kraftvollen Liedern eine ganz wichtige Rolle. Eine Teilnehmerin bekräftigt: »In mir hat sich das Erleben der Nacht sehr verankert. All die Lieder, Texte und Erlebnisse! Sie stärken mich im Arbeitsalltag, und nicht nur da. Sie machen mir immer wieder bewusst, dass ich so, wie ich bin, gut und richtig bin. Sie haben mir gezeigt und spürbar gemacht, wo meine Grenzen der Belastbarkeit sind, wie viel Verantwortung wirklich mir gehört und wie viel nicht. Und nun spüre ich auch, was das Thema Tod und vor allem die Angst davor in mir auslösen. Ich bin in der Arbeit mit meinen Kollegen viel freier und mutiger geworden.« Bernadette Raischl ist Diplom-Psychologin mit Schwerpunkt in Familienpsychologie, systemischer Beratung sowie Arbeits- und Organisationspsychologie, Psychotherapeutin (HP), Tanztherapeutin (IBA), systemische Supervisorin und Coach (DGSF), Krankenschwester. Sie ist Referentin im Bereich Hospiz und Palliative Care und in der Ausbildung von systemischen Beratern und Supervisoren. E-Mail: [email protected] Josef Raischl ist katholischer Theologe, Sozialarbeiter, fachlicher Leiter des Christophorus-Hauses in München, Gesamtleitung des ambulanten Bereichs und Leitung des Christophorus-Hospiz-Instituts für Bildung und Begegnung in München. E-Mail: [email protected] Website: www.chv-ibb.org Michael Clausing, M. A. Germanistik, ist systemischer Berater, Supervisor (DGSF), Mediator (BM), Sterbebegleiter und Betreuer. Er arbeitet im Bereich der Hospizbewegung und ist Fachreferent für Bildung beim Christophorus-HospizVerein in München. Er leitet Einzel-, Team- und Supervisionsgruppen für Haupt- und Ehrenamtliche im Hospiz- und Palliativkontext. In diesem Themenfeld ist er in der Fort- und Weiterbildung tätig. E-Mail: [email protected]
Lebenskunst
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Naturerleben als Lebenskunstmodell der Moderne Ulrike Bardt Jean-Jacques Rousseau schwärmte einst leidenschaftlich für das freie Spiel der Natur: »Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen. […] Nichts will er so, wie es die Natur gemacht hat, nicht einmal den Menschen. […] Wir werden empfindsam geboren und werden von Geburt an auf verschiedenste Weise von den uns umgebenden Dingen affiziert. […] Um etwas zu sein, um sich selbst getreu und immer eine vollkommene Einheit zu sein, muß man so handeln, wie man redet. […] – mit einem Wort, man müßte den natürlichen Menschen kennen« (Rousseau, Émile oder Über die Erziehung, 1762/1976, S. 107). Wer sich heutzutage an diese Worte Rousseaus erinnert, denkt unweigerlich an die ihm stets zugeschriebene Maxime »Zurück zur Natur«. Viele Interpreten Rousseaus, so auch Voltaire, verstanden das als Programm fälschlicherweise in dem Sinne, dass der Mensch wieder auf allen Vieren durch die Wälder kriechen soll. Für Rousseau jedoch war die Natur kein Gesetzgeber, der den Menschen Anweisungen erteilt, sondern ein Mitspieler und Partner. Für den Aufklärer Rousseau war die Natur ein Ort spiritueller Erfahrung, wie die »Träumereien eines einsamen Spaziergängers« (1782) zeigen. Die Natur verschafft dem Menschen nach Rousseau Gelegenheiten zur Besinnung auf sich selbst. Was heißt das aber genau? Wer sich seines Daseins in existenziellem Sinne vergewissern will, findet das Glück nur in sich selbst sowie im Dia-
log mit der Natur. Der berühmt gewordene Eingangssatz des ersten der insgesamt zehn »Spaziergänge« Rousseaus lautet: »So bin ich denn nun allein auf Erden, ohne Bruder, ohne Nächsten, ohne Freund, meiner eigenen Gesellschaft überlassen.« Klage und Melancholie sind deutlich herauszuhören. Aber in erster Linie geht es darum, jene Stimmung zu evozieren, die den Raum des Meditierens erfüllt – das ungestörte Bei-sich-Sein, die Distanz zum öffentlichen Leben, die Unabhängigkeit gegenüber allem anderen. Das Hinausgehen in die Natur bedeutet ein Abstandnehmen, ein zeitweises Verlassen der gesellschaftlichen Zustände. Aber wie man leben will, das muss der
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 44–46, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
Georges Pierre Seurat, Landscape, Seated Man, 1884–1885 / Private Collection / Bridgeman Image
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Mensch selbst bestimmen. Nur in der Natur geht man auf Distanz zu den Obsessionen und Festlegungen. Naturerfahrung kann auch ein Gegengift zu Fanatismus und Intoleranz darstellen. Ähnlich wie für Rousseau kann das menschliche Verhältnis zur Natur einen Umweg der Kultur zu einem freien Verhältnis zu sich selbst darstellen. Heutzutage scheint die Sehnsucht nach einer unversehrten Natur zu wachsen. Eine Zeitschrift wie »Landlust« erzielt derzeit Spitzenauflagen, so etwa eine deutlich höhere Auflage als der »Spiegel«. Blättert man in dieser Illustrierten, verschwinden Probleme der Gegenwart wie Klimaerwärmung und Umweltzerstörung unmerklich.
Thema sind ausschließlich die schönen Seiten des menschlichen Umgangs mit der Natur, Reportagen über Gartenpflanzen wechseln sich mit Kochrezepten und Wanderempfehlungen ab. Dieser Rückzug in die Idylle trägt Anzeichen einer Flucht und enthält eine unmissverständliche Botschaft: Der Mensch will dem Stress der Hochleistungsgesellschaft entfliehen, er nimmt Abstand von einer Zivilisation, die sich von den wahren Werten und der Natur weit entfernt hat. Dieser Mensch sehnt sich nach urwüchsiger Natur, Freiheit, Stille und Weite, nach dem einfachen Leben abseits der großen Städte. Es sei erwähnt, dass für 80 Prozent der Deutschen das
Lebenskunst
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Naturerlebnis zu den wichtigsten Beiträgen zu einem gelungenen Urlaub zählt. In der Tat konnten psychologische Studien vielfach belegen, dass der Aufenthalt des Menschen in der Natur Stress mindere, positive Gefühle verstärke und den Kopf wieder frei mache. Die Folge dieser Entwicklung ist allerdings auch, dass der Umgang mit der Natur inzwischen zu einem Geschäftsmodell geworden ist. Es geht um Bio-Lebensmittel, Bio-Möbel etc. In der Tourismusbranche wird die Natur durch Wanderurlaube vermarktet. Gelegentlich erfreut ein TV-Werbespot mit Bildern unberührter Landschaft und ursprünglicher Natur. In unterschiedlichen Einstellungen sieht man einen Wanderer beim Streifzug durch den Wald. Auf weiter Hochebene begegnet er Hirschen und Rehen. Ein Aufenthalt in einer natürlichen Umgebung scheint sich tatsächlich insbesondere für die Kompensation des zunehmenden Zivilisationsstresses zu eignen. Es geht um ein temporäres Aussteigen aus den ständigen Anforderungen des hektischen Alltags. Dies scheint eine wesentliche emotionale Ursache für die derzeitige Hochkonjunktur der Natur zu sein. Ist der heutige Mensch nun – à la Rousseau – auf dem Weg zurück in die Natur? Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Denn mittlerweile wird auch die Natur zur Fiktion, in einer verführerischen Verbindung von Phantasie und Realität. Im Rahmen einer Befragung des »Jugendreports Natur« (2014; vgl. auch Brämer 2014) der Universität Marburg versuchte man herauszufinden, was den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Studie zum Inbegriff der »Natur« einfiele; daraufhin gaben sie »Wald« und »Bäume« an, gefolgt von »Tieren, Wiesen und Blumen und jede Menge Landschaft«. Auf die Frage, welche Eigenschaftswörter beim Begriff »Natur« einfallen, wurde am häufigsten das Adjektiv »schön« angegeben. Zu den oft gehörten Antworten fielen die Adjektive »grün« oder »gesund und wohltuend«. Natur scheint auf der emotionalen Ebene für den größten Teil der Bevölkerung primär eine Art Para-
dies darzustellen, ein Biotop für die gestressten Seelen der Zivilisation. Für alle, die sich in der digitalen Welt nicht mehr zurechtfinden, eröffnen Medien wie die Zeitschrift »Landlust« Möglichkeiten zur Flucht in eine sinnlich-heile Welt ohne die alltägliche Hektik. Wichtig scheint es für den modernen Menschen zu sein, die Muße nicht zu vergessen. Muße wird dabei verstanden als die Fähigkeit, lange bei einer Sache, bei einem Gedanken oder auch in der Natur verweilen zu können. Die Muße taucht als ein Gegenpol auf zur unerwünschten Fülle, zu einem Zuviel an Informationen und überbordenden Eindrücken. In der Natur lässt sich eine andere Fülle finden, wenn man in der Lage ist, sie zu genießen. Dabei muss die Muße keine Zeit der Untätigkeit darstellen, sie kann vielmehr darin bestehen, einer Tätigkeit nachzugehen, die Freude bereitet, einem Spaziergang etwa. Doch auch die Muße innerhalb der Natur will gelernt sein; ihre Kultivierung bereitet den Weg für eine Pflege des Umgangs mit sich selbst. Die Muße ist die Zeit, in der die Ressourcen dafür gewonnen werden, die nähere und weitere natürliche Umwelt genauer wahrzunehmen und zu erkunden. PD Dr. Ulrike Bardt, Studium der Germanistik, Philosophie, Romanistik und Gräzistik, ist Leitende Direktorin des Zentrums für Schulpraktische Lehrerausbildung in Vettweiß und Privatdozentin an der Universität Koblenz-Landau. E-Mail: [email protected] Literatur Brämer, R. (2014). Zurück zur Natur? Ein natur-kulturkritisches Essay zur neuen Naturliebe. http://www.wanderforschung.de/files/naturkulturkritik_1402251414.pdf Jugendreport Natur – http://www.natursoziologie.de/NS/ alltagsreport-natur/jugendreport-natur.html Rousseau, J.-J. (1762/1976). Émile oder Über die Erziehung. Hrsg. von M. Rang. Stuttgart. Rousseau, J.-J. (1782/2003). Träumereien eines einsamen Spaziergängers. Stuttgart.
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Selbsthilfe – Über-Lebenskunst Julia Müller verließ die Heimat und kehrte zurück. Ich tastete mich an neue Herausforderungen heran und lernte altbewährte Dinge wieder schätzen und sogar neu lieben. Ich habe mich verloren und neu entdeckt. Ich wurde zur Überlebenskünstlerin meiner Krise, aus der ich mit dazugewonnener Stärke herausgehe. Was ist geblieben? – Das Wissen darum, dass ich aus den noch vor mir liegenden Steinen auf meinem Lebensweg etwas Tolles schaffen kann. Lebenskünstlerin bin ich also jeden Tag aufs Neue, weil mir selbst zu helfen an jedem Tag neu beginnt. Julia Müller ist Ergotherapeutin in Delitzsch. E-Mail: [email protected] Website: www.krebspelz.blogspot.de
Julia Müller
Mit 21 Jahren erkrankte ich an Lymphdrüsenkrebs. Ich durchlebte eine Zeit, die geprägt war von Angst, Schmerz und Depression. Man muss kein Psychologe sein, um zu erkennen, dass das Thema Krebs nicht an einem Tag gegessen ist. Ich rutschte vom Arztstuhl direkt in eine Lebenskrise. Es begann damit, dass ich mein Dasein hinterfragte, meine Entscheidungen, meine Werte und Spiritualität. Ich suchte nach einem Sinn für meine Krankheit, für meine Vergangenheit und Zukunft, lernte, mich auszuhalten, die Akzeptanz für meinen Zustand zu finden sowie diese unheimliche Wut und Traurigkeit in mein Leben zu integrieren. Dabei passierte etwas Überraschendes. Um mit der Heftigkeit meiner Emotionen zurechtzukommen, setzte ich mich immer wieder Situationen aus, in denen ich lernte, mich neu zu spüren. Ich wurde kreativ, probierte neue, für mich vorher nie denkbare Dinge aus, reiste,
Unmittelbar nach Chemotherapie und Bestrahlung am Pink Shoe Day
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 47, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
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Ist es eine Kunst, von einem Stuhl aufzustehen? Lebenskunst mit und durch Kinaesthetics
Axel Enke Wie viele Varianten kennen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, von einem normalen Stuhl aufzustehen? Stelle ich zu Beginn eines Kinaesthetics-Kurses einem Teilnehmer oder einer Teilnehmerin diese Frage, werde ich meist verdutzt angeschaut. Es folgt ein verunsichertes Gesicht und ich bekomme als Antwort ein bis drei Möglichkeiten. Wenn ich dann sage, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, glauben die so Befragten, dass es ein Scherz ist, und fragen dann nach, warum das Bedeutung haben sollte (Eine gute Frage übrigens!). Und wie würden Sie reagieren? Ein Aspekt, der häufig mit Erkrankungen, Behinderungen und dem fortschreitenden Alter einhergeht, ist eine nachlassende Bewegungs fähigkeit. Es beginnt häufig damit, dass man jede Woche ein bisschen weniger beweglich und kraftloser wird. Der Muskelabbauprozess, auch Sarkopenie genannt, beginnt bereits zwischen vierzig und fünfzig Jahren. Irgendwann merken Menschen, dass sie nicht mehr so gut aufstehen können und dass sie Hilfsmittel (zum Beispiel Schuhanzieher) benötigen. All dies wird als normales Alterungsphänomen hingenommen. Dieser Prozess führt zu Einschränkungen, die den Alltag deutlich beschwerlicher machen. Joachim Fuchsbergers Buch »Altwerden ist nichts für Feiglinge« hat sicher auch aus diesem Grund diesen Titel. Diese Verlusterfahrung, seine alltäg-
lichen Aktivitäten immer weniger gut bewältigen zu können, ist ein Aspekt, um den häufig getrauert wird: »Ach, früher konnte ich noch dies oder jenes machen. Aber das geht jetzt nicht mehr«, hört man Betroffene sagen. Die Bedeutung dieses Themas wird durch Ergebnisse der Lebensqualitätsforschung noch bestärkt: Viele Befragte betonen, dass die Qualität der alltäglichen Aktivitäten und deren selbstständige Ausführung für ihre Lebensqualität eine große Rolle spielt! Offenbar ist es hier so, wie übrigens bei vielen anderen wichtigen Lebensthemen des Menschen ebenfalls, dass erst mit dem Verlust oder der Einschränkung der Wert eben dieser Fähigkeiten steigt. Dies ist auch ein Beispiel für die
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 48–51, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
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Aussage von Søren Kierkegaard: »Verstehen kann man das Leben rückwärts; leben muß man es aber vorwärts.« Solange Menschen beispielsweise leicht vom Stuhl aufstehen können, hat diese Aktivität keine Bedeutung. Erst wenn es schwerer wird, erlangt diese Alltagsbeschäftigung besondere Aufmerksamkeit. Aus einer Beobachtungsposition heraus empfinde ich häufig großes Bedauern, wenn ich sehe, wie viele Menschen bereits in relativ jungen Jahren deutliche Bewegungseinschränkungen zeigen. Durch noch ausreichend vorhandene Kraft, aber auch durch kulturelle Aspekte kann dies noch lange kompensiert werden.
Lebenskunst
5 0 A x e l E n k e
Was für eine Rolle spielt hier die Kultur? Technische Möglichkeiten sind Ausprägungen einer Kultur: Früher musste ich beispielsweise für das Umschalten des Fernsehers oder Radios aufstehen. Heute kann ich das alles per Fernbedienung vom Sofa aus. Die Spülmaschine nimmt uns das Geschirrspülen ab und der Rasenroboter das Rasenmähen. Ich will diese Geräte nicht verteufeln, sondern nur beispielhaft aufzeigen, wie viele kleine Geräte, die das Leben erleichtern, gleichsam als Schattenseite eine Auswirkung haben, die in Summe mit einer geringeren Bewegungsfähigkeit einhergeht. Ein weiterer Kulturaspekt sind unsere Möbel. In einer Stuhl- und Sofakultur braucht man für das Aufstehen weniger Kraft und Beweglichkeit. Das ist deutlich anders im Unterschied zum Sitzen auf dem Boden. Ich möchte Sie hier zu einer kleinen Eigenerfahrung einladen: Stehen Sie einmal bewusst von Ihrem Stuhl oder Sofa auf und beobachten Sie dabei, wie viel sie dabei eines ihrer Hüftgelenke bewegen. Setzen Sie sich dann auf den Boden, kommen Sie zum Stehen und beobachten Sie dabei ebenfalls Ihr Hüftgelenk. Vergleichen Sie anschließend Ihre Erfahrungen. Beobachte ich meine kleinen Enkelkinder, verhalten sich diese deutlich anders: Sie setzen sich fortlaufend auf den Boden und stehen auf, legen kleine Spurts beim Gehen ein, klettern gern und auf vielfältige Weise und machen immer wieder verrückte Bewegungen (»Purzelbaum«). So sind sie, wie sie sich bewegen: beweglich. Man kann es also durchaus als Kunst verstehen, seine alltäglichen Aktivitäten trotz nachlassender Fähigkeiten noch möglichst lange befriedigend durchführen zu können. Dies hilft Betroffenen jedenfalls über die Erschwernisse des Alltags hinweg. Als Kulturtechnik hat sich dies Kinaesthetics zum Ziel gesetzt: Menschen ein Werkzeug an die Hand und den Kopf zu geben, damit sie ihre Kompetenzen wieder erweitern können. Dabei geht es in Kinaesthetics nicht um den sportlichen Aspekt der Bewegung (weiter, schneller,
stärker), sondern um die Fähigkeit, seine eigene Bewegung möglichst gut anzupassen. Nach dieser Definition kann auch ein sehr eingeschränkter Mensch eine hohe Kompetenz haben, da sich die Definition auf die Ausgangslage einer Person bezieht. Und das Schöne ist: Man kann diese Kunst erlernen. Insbesondere der Bewegungsapparat ist meist sehr lernbereit und passt sich neuen Bewegungsvarianten langsam an. Dabei passt sich unsere anatomische Struktur genau der Art an, wie wir uns bewegen, und wird somit wieder Ausgangslage neuer Möglichkeiten. In der Logik bezeichnen wir das als Freiheit: Wenn ich eine Sache nur auf eine Art tun kann, habe ich ein Problem. Stehen mir nur zwei Varianten (Möglichkeiten) zur Verfügung, habe ich ein Dilemma. Erst mit drei und mehr Variationsmöglichkeiten entsteht Freiheit. Diese auf individueller Ebene zu erhalten, ist uns in Kinaesthetics ein großes Anliegen. Hierzu ein kleines Beispiel: Vor einiger Zeit fiel eine alte und gehbehinderte Frau außerhalb des Hauses zwischen zwei Mülltonnen hin und kam allein nicht wieder hoch. Sie musste darauf warten, dass ihr ein Verwandter half, was eine Weile dauerte. Fortan hatte sie durch diese Erfahrung – und wer liegt schon gern hilflos zwischen Mülltonnen? – erhebliche Angst, allein vor die Tür zu gehen. Ihre Angst war dabei nicht so sehr zu fallen, sondern nicht allein wieder hochzukommen. Durch Zufall kam es zu einer Situation, in der sie mir davon berichtete (Leise unter vier Augen, da es ihr auch peinlich war!). Ich bot ihr daraufhin meine Hilfe an, und wir gingen in ihr Wohnzimmer, wo wir die Situation durchspielten. Wir entwickelten dann gemeinsam eine für sie passende Aufsteh-Variante. Interessanterweise fiel sie fortan nicht mehr und konnte sich noch eine ganze Weile angstfrei bewegen, da sie jetzt keine große Angst mehr vor dem Fallen hatte. Denn sie wusste nun, wie sie selbstständig aufstehen kann.
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Eine Quelle von Kinaesthetics ist der Modern Dance, bei dem der Tanz Ausdrucksmittel für Lebensthemen darstellt. Es geht nicht um strenge Bewegungsvorgaben oder Übungen. Vielmehr wird der Lernende zu einem Forschungsprozess (First-Person-Methode) zu seiner eigenen Bewegung eingeladen. In der Theoriebildung haben der Verhaltenskybernetiker Karl U. Smith (zum Beispiel 1962), Gregory Bateson (zum Beispiel 1981), Heinz von Foerster (zum Beispiel 1993), Frank White Hatch und Lenny Maietta (zum Beispiel Hatch, Maietta und Schmidt 1996) die wesentlichen Grundlagen gelegt. Die Beschreibungen lebender Systeme durch die beiden Neurobiologen H. Maturana und F. J. Varela (1987) stellen eine dritte Grundlage dar. Über dreißig Jahre hinweg wurde ein Denkwerkzeug (siehe Abbildung) geschaffen, welches Menschen ermöglicht, ihre eigene Bewegungskompetenz gezielt zu erweitern. Dies geschieht vor allem durch die Methodik der Selbst- und Partnererfahrung. Dabei lernen und üben die Teilnehmer/-innen, sich gezielt selbst bei Aktivitäten zu beobachten, diese zu variieren und bewusst zu erweitern. Der eigene Körper wird so mit seinen anatomischen Möglichkeiten zur Quelle der eigenen Erkenntnis. Doch kommen wir zurück zu unserem Beispiel mit dem Stuhl: Ich schlage Ihnen zwei weitere kreative Möglichkei ten vor, von einem Stuhl aufzustehen. Beobachten Sie, welche Auswirkungen die jeweiligen Varianten auf die benötigte Kraft hat: 1. Schlagen Sie das rechte Bein über das linke und stehen Sie auf. Dann probieren Sie es umgekehrt. 2. Stecken Sie nun auch noch die Hände in die Hosentasche, bevor Sie aufstehen.
Die Unterschiede, die Sie bemerkt haben, sind Beispiele eines Erkenntnisprozesses, der in mehr Lebenskunst münden könnte. Axel Enke ist Kinaesthetics-Trainer und Ausbilder für die European Kinaesthetics Association (EKA), systemischer Berater und Supervisor (DGSF), Mediator (MAS) und Organisationsentwickler (MSc). E-Mail: [email protected] Website: www.axelenke.de Literatur Bateson, G. (1981). Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt a. M. Foerster, H. von (1993). KybernEthik. Berlin. Hatch, F.; Maietta, L.; Schmidt, S. (1996). Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Pflege. 4., überarb. Auflage. Eschborn. Maturana, H. R.; Varela, F. J. (1987). Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern u. a. Smith, K. U. (1962). Delayed sensory feedback and behavior. Philadelphia/London.
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Lebenskunst lehren Andrea Voigt Ein glückliches Leben führen zu können ist für alle Menschen erstrebenswert. Die Frage stellt sich dabei, was wir unter dem kleinen Wörtchen »glücklich« verstehen. Natürlich möchte jeder Mensch gern frei von Sorgen leben. Besteht die Kunst des Lebens aber nicht darin, die Krisen und Widrigkeiten, denen wir immer wieder begegnen, nicht nur als Hindernisse auf dem Lebensweg zu sehen, sondern sie zusammen mit den guten Momenten als ein Ganzes zu begreifen? Beobachten wir Kinder, stellen wir oft fest, dass diese sich ganz konzentriert und vertieft mit einer Sache beschäftigen und nicht nach dem Vorher oder Nachher fragen. Sie befinden sich meistens im Jetzt und nehmen das Leben so, wie es kommt. Auch gehen sie mit leidvollen Erfahrungen oder Schicksalsschlägen immer wieder erstaunlich gefasst um. Im Laufe unseres Erwachsenwerdens gehen uns diese Kompetenzen leider häufig verloren und wir müssen sie uns in mühevollen Prozessen wieder erarbeiten. In meiner Arbeit als Lehrerin an einer Montessori-Schule erlebe ich täglich die Chance, Kinder und Jugendliche dabei zu unterstützen, sich auf ihre Ressourcen zu besinnen und sie in ihrem Wachsen zu begleiten. Um dies zu verstehen, möchte ich einen kurzen Einblick in die Grundgedanken der Pädagogik Maria Montessoris geben. In der Präambel zu den Grundlagen der Montessori-Schulen in Bayern nennt der Landesverband Bayern die wichtigsten Ziele der Montessori- Pädagogik:
»Montessori-Schulen dienen der ganzheitlichen Bildung von Menschen. Körperliche, geistige, emotionale und soziale Aspekte der Bildung sind gleich zu gewichten und nicht voneinander trennbar. Die Montessori-Pädagogik ist frei von einer festgelegten Weltanschauung. Die Basis aller pädagogischen Aktivitäten sind die grundlegenden pädagogischen, psychologischen und sozialen Erfahrungen und Erkenntnisse Maria Montessoris. Der Umgang der an den Schulen be-
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 52–54, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
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Ben Metz
teiligten Pädagogen, Kinder, Jugendlichen und Eltern ist getragen von der Achtung der Menschen untereinander, der Achtung vor der Schöpfung und von der Einsicht in die Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit aller Menschen, unabhängig von ihren individuellen Eigenschaften. Das Ziel dieser Bildung sind Menschen, die ein erfülltes und glückliches Leben mit sich selbst und mit den Mitmenschen und in Verantwortung für die Welt leben.«
Maria Montessoris (1871–1952) Menschenbild ist geprägt durch die Einflüsse und Elemente der Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in der erstmals die Person des Kindes ganzheitlich in den Mittelpunkt gestellt wurde. Dabei ging Montessori in der Entwicklung ihres pädagogischen Konzeptes nicht von einem theoretischen Ansatz aus, sondern von der Wirklichkeit des Kindes: Sie stützte sich auf ihre persönliche Beobachtung und Wahrnehmung der Kinder und entwickelte erst daraufhin ihre pädagogischen Theorien. Montessori sieht das kindliche Individuum ganzheitlich als Einheit von Körper, Seele und Geist. Die Kindheit betrachtet sie als Stadium der Menschheit, das seinen Wert in sich hat. Die Entwicklung, das Reifen zum Erwachsenen vollbringen nicht die Erwachsenen, sondern das Kind selbst ist »der Bildner seiner Persönlichkeit«. Durch Eigentätigkeit, durch den aktiven Umgang und die Auseinandersetzung mit seiner Umwelt, erlangt das Kind Selbstständigkeit und wird zur unabhängigen und freien Persönlichkeit (»Hilf mir, es selbst zu tun«). Um dies zu verwirklichen, benötigen die Kinder und später die Jugendlichen ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe entsprechend eine andere Umgebung. Sie ist nichts Starres, Gleichbleibendes, sondern etwas Flexibles und Unterschiedliches, das die Einfühlung, Kenntnis und Phantasie der Erzieher und Lehrer herausfordert. Diese vorbereitete Umgebung richtet sich nach den sensiblen Phasen. Damit sind begrenzte Zeitspannen gemeint, in denen Kinder und Jugendliche eine besonders hohe Bereitschaft und Fähigkeit für bestimmte Themen zeigen. In der Freiarbeit erhalten die Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit, durch aktives Han-
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deln und gemäß ihren sensiblen Phasen Lerninhalt, Lerntempo und Lernverfahren selbst zu bestimmen. Es geht dabei nicht so sehr um auf Belehrung und auf bloße Wissensvermittlung ausgerichtete Erziehungs- und Unterrichtsmethoden, sondern auf selbstgesteuerte und spontane Wissensbegierde. Dafür ist Material notwendig, mit dem das Kind arbeiten kann und das häufig eine Selbstkontrolle enthält. Neben einem hohen Maß an Selbstständigkeit wird dabei die Eigenverantwortung gefördert. Die Polarisation der Aufmerksamkeit, die die Fähigkeit der tiefen Konzentration während der Beschäftigung mit einem selbstgewählten Gegenstand bedeutet, stellt nach Montessoris Auffassung den bedeutendsten Faktor im Aufbau des Kindes dar. Die kindliche Konzentrationsfähigkeit gilt als Voraussetzung für Lernprozesse und als Fundamentalphänomen zur Aneignung von Bildung. Die hier genannten wichtigsten Erkenntnisse Maria Montessoris sehe ich als wohltuende Basis meiner täglichen Arbeit. Dabei leitet mich in erster Linie ihre Sicht des Menschen, die eine besondere Art der Kommunikation mit sich bringt. Zwischen den Schülern und mir findet ein intensiver Austausch statt in Form von Gruppen- oder Einzelgesprächen. Ebenso haben die Schülerinnen und Schüler verschiedene Möglichkeiten, gemeinsam zu arbeiten, zum Beispiel in Form von Projekten. Mit Eltern und ihren jeweiligen Kindern finden regelmäßige Gespräche statt. Kolleginnen und Kollegen arbeiten zusammen. Auf dieser Grundlage kann zwischenmenschliche Beziehung entstehen, die meiner Ansicht nach die Voraussetzung für Lernen und für emotionales, psychisches und soziales Wachsen ist. So lerne ich jeden Einzelnen in seiner Individualität kennen, kann ihn besser einschätzen, ihm helfen, seine Fähigkeiten zu erkennen und auszubauen, aber auch darin bestärken, unangenehme Themen anzugehen und Lösungsstrategien zu entwickeln. Als Lehrerin stehe ich den Schülern dabei beratend zur Seite. Ich biete meine Unterstüt-
zung an. So lernen die Schülerinnen und Schüler sich selbst einzuschätzen und erproben sich darin, um Hilfe zu bitten. Je mehr Verantwortung und Selbstständigkeit dabei in die Hände der Kinder und Jugendlichen gelegt wird, je mehr ihnen gezeigt wird, mit welchen Möglichkeiten sie sich selbst behelfen können, umso mehr werden sie an Selbstvertrauen gewinnen und dieses auch in schwierigen Situationen und Krisen zeigen können. Oft kommen Schülerinnen und Schüler nach Jahren wieder zu einem Besuch an unsere Schule. Dann lassen sie im Gespräch häufig noch einmal Szenen aus ihrem damaligen Schulleben Revue passieren. Meist sind dies Momente, die im Blick von außen als nicht vorrangig wichtig erscheinen: gemeinsame Unternehmungen, komische Situationen, misslungene Schulstunden, Fehler, die gemacht wurden, lustige Ereignisse, traurige Ereignisse, Theateraufführungen, Pausenrituale, Feiern, Schulfeste. Neben der Vermittlung der Lerninhalte scheinen diese Bereiche des Schullebens für sie genauso wichtig gewesen zu sein. Unter vielen anderen bestätigt diese Erfahrung für mich das von Maria Montessori postulierte ganzheitliche Konzept von Bildung. Eine Bildung, die jungen Menschen die Möglichkeit bietet körperlich, geistig, emotional und sozial zu wachsen. Ich betrachte es immer wieder als Geschenk, diese Menschen ein Stück auf ihrem Weg begleiten zu können. Andrea Voigt, Lehrerin, ist seit 1995 an der Montessori-Schule Starnberg tätig. Nach dem Studium der Germanistik und Anglistik für das Lehramt an Gymnasien in Aachen absolvierte sie ihr Referendariat an einer Gesamtschule in Berlin-Spandau. Anschließend erwarb sie nach einjähriger Ausbildung das Internationale Montessori-Diplom in München. An ihrer Schule arbeitet sie vorwiegend in der Oberstufe und bereitet Schüler auf die Mittlere Reife vor.
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Die Entdeckung der Lebenslust in der Fremde Reiner Sörries So etwas habe die Welt noch nicht gesehen. Mit diesem Satz kann man zusammenfassen, was der spanische Gesandte Ruy González de Clavijo von seinen Erlebnissen am Hof Timurs in Samarkand zu berichten wusste. Er war am 21. Mai 1403 vom spanischen Cadiz zu einer diplomatischen Mission ins ferne Asien aufgebrochen, um den Herrscher von ganz Transoxanien für ein Bündnis gegen die Osmanen zu gewinnen. Gut ein Jahr später hatte er sein Ziel erreicht und verbrachte drei Monate in einer Art Märchenwelt. Blieb seine Reise in dieser Hinsicht auch erfolglos, so brachte er doch Erlebnisse mit, von denen er befürchten musste, dass sie ihm niemand glauben würde. Mit eigenen Augen sah er die Bauwerke mit »so viel Schönheit, dass man sie nicht beschreiben könnte«. Geduldig und staunend erlebte er sich als Rädchen in einem gigantischen Hofzeremoniell, ergötzte sich an den inszenierten Elefantenkämpfen und wurde mit Delikatessen und süßem Wein verwöhnt. Er muss sich gefühlt haben wie im Paradies. Man kann das alles in seinem Tagebuch einer Asienreise nachlesen und immer noch staunen. Ruy González de Clavijo hatte etwas erlebt, wovon seine Zeitgenossen nicht einmal zu träumen wussten. Die Welt der meisten Menschen war beschränkt auf ihr Dorf oder ihre Stadt. Viele Städter haben zeitlebens ihre Stadt nicht verlassen, weil sie nicht einmal den Groschen besaßen, der für den Torzoll zu entrichten war. Was hatte eine solche Stadt an Lebenslust zu bieten? Den Markt, das Wirtshaus, ein Bade- und ein Hurenhaus und das eine oder andere Heiligenfest mit seinen Belustigungen? Den Dörflern boten Kirchweih und Tanzboden das eine oder andere Vergnügen. Aber Lebenslust? Es ist aus heutiger
Sicht schwer zu sagen, worin sie in diesen Zeiten bestand. Der Alltag und die Last der Arbeit ließen die Frage danach kaum aufkommen. Die Frage, ob Lebenslust in den eigenen lokalen Grenzen entstehen kann, beantwortet die deutsche Touristikbranche heute mit einem Jahresumsatz von über 30 Milliarden Euro, die wir für die schönsten Wochen des Jahres ausgeben. Das ist etwa das Vierfache des Umsatzes der deutschen Bekleidungsindustrie. Gereist wurde zwar schon immer, sei es als Händler, als Pilger oder Begleiter im Landsknechtstross. Zu einem gesellschaftlichen Phänomen wurde die Reise erst im 19. Jahrhundert. Am 17. Mai 1861 hatte Tourismus-Pionier Thomas Cook die ersten Pauschalreisenden von London nach Paris geschickt. Wissensdurst, Neugier und die Sehnsucht nach dem Unbekannten mögen die Motive gewesen sein. Kehrte der Pauschalreisende anschließend in die Zwänge seiner kleinen Welt zurück, so entstand bei manchen der Wunsch, die Heimat für immer zu verlassen und das wahre Leben in der Fremde zu suchen. Zu ihnen gehörte der 1848 in Paris geborene Maler Paul Gauguin, der überzeugt war, seine Lebenslust, das Glück des einfachen Lebens nur in Polynesien finden zu können. Nach einer bürgerlichen Karriere als Börsenmakler und einem luxuriösen Leben entschied er sich nicht nur für die Malerei, sondern schließlich für ein Leben in der Fremde, wo die »glücklichen Bewohner eines unbeachteten Paradieses in Ozeanien vom Leben nichts anderes als seine Süße kennen. Für sie heißt Leben Singen und Lieben«, schrieb er Ende 1890 dem dänischen Maler Jens-Ferdinand Willumsen. Gerade dieser Kontrast zwischen bürgerlicher Existenz und der Suche nach dem ein-
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 55–57, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
Paul Gauguin, D’où venons-nous? Que sommes-nous? Où allons-nous?, Öl auf Leinwand, 1897. 139 × 375 cm. Museum of Fine Arts, Boston.
fachen Leben, in dem nur die Grundbedürfnisse befriedigt werden, erinnert mich an die Hippies der Sechziger Jahre, die ihre Lebenslust im Valle Gran Rey auf der Kanareninsel La Gomera, in den neolithischen Wohnhöhlen von Matala auf Kreta und schließlich auf dem großen Hippie-Trail gen Osten, nach Indien suchten. Mystische Musik und billige Drogen sollten ihnen ein Leben ermöglichen auf dem Weg in die Innerlichkeit der Seele und die Freizügigkeit des Leibes. Für viele erfüllten sich die Träume, für andere endete die Reise im Desaster. Denn hinter der Erwartung eines glücklichen Lebens steht immer ein Bild, von dem nie genau gesagt werden kann, ob es der Wirklichkeit entspricht. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Deutschen wieder reisen konnten, ließen sie die alte Sehnsucht nach Italien wieder aufleben, wo viele glaubten, dort sei das »dolce far niente« zu Hause. An den Stränden von Jesolo und Rimini entdeckten die Deutschen die südländische Lebenslust und vermochten doch nicht, sich diese zu eigen zu machen. Dennoch hat der Hang in die Fremde nicht nachgelassen. Die Pauschalreise wurde vom Langzeiturlaub und der Langzeiturlaub von der dauerhaften Residenz
auf Teneriffa oder Thailand abgelöst. Ewige Sonne statt trüber November- und kalter Wintertage übt für manche Menschen eine Faszination aus, der sie schließlich erliegen. Zahlreiche Senioren genießen dort ihren Lebensabend, während andere in Depression verfallen, weil sie alle Brücken in die Heimat abgebrochen haben. Woran liegt es also, ob wir die erhoffte Lebenslust in der Fremde finden oder an unserem Traum scheitern? Gibt es so etwas wie ein Abenteurer-Gen, mit dem ausgestattet das Leben seine Erfüllung nur in der Fremde findet, oder ist es doch die Sozialisation, die auch diesbezüglich unser Verhalten konditioniert? Führt der Weg in die Ferne ins Glück oder erweist er sich doch nur als Flucht aus dem Alltag? Dann ist die Frage letztlich die, ob unser Alltag der Lebenslust entgegensteht! Ruy González de Clavijo blieb nicht in der Fremde, sondern kehrte zunächst 1406 an den Hof seines Auftraggebers König Heinrichs III. von Kastilien zurück, um sich dann bis zu seinem Lebensende in seine Heimatstadt Madrid zurückzuziehen. Gauguin, der sich letztmals 1895 auf die Reise nach Polynesien machte, starb schließlich 1903 auf Hiva Oa (Französisch-Polynesien), wo er auch begraben wurde.
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Bereits sechs Jahre vorher hatte Gauguin innerhalb von vier Wochen Ende des Jahres 1897 in seiner selbstgebauten Hütte in Tahiti sein größtes und wohl bekanntestes Werk fertiggestellt: D’où venons-nous? Que sommes-nous? Où allons-nous? Geplant hatte er es quasi als Testament angesichts seines beabsichtigten, aber gescheiterten Suizids. Auch die Ferne hatte ihn nicht vor der Todesnachricht seiner Tochter, vor seiner sich stetig verschlechternden Gesundheit und drängender Geldnot bewahren können. Sein Bild zeigt von rechts nach links den Lebenszyklus vom Baby über die Lebensblüte bis zum alternden Menschen. Oben links hat er es mit den Worten versehen: »D’où Venons Nous/Que Sommes Nous/Où Allons Nous«. Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Das scheint dann doch die Frage zu sein, die sich zum Lebensende in den Vordergrund schiebt und die Suche nach der Lebenslust marginalisiert. Mögen vielen Menschen Gauguins Südseebilder Ausdruck paradiesischer Unschuld sein, Gauguin bewahrte dieses Paradies nicht vor Enttäuschungen und sogar Verbitterung am Ende des Lebens. Lebenslust in der Fremde? Ja, ich denke, die Welt außerhalb unserer engen Grenzen hält viel
Erfüllendes, Neues, Einzigartiges für uns bereit. Die Suche nach der Lebenslust in der Fremde scheitert jedoch zwangsläufig, wenn wir in ihr das Paradies, den lustvollen Lebensabend oder sonst irgendeine Antwort erwarten, die wir uns selbst nicht geben können. Neben der Lust kann die Fremde Leid ebenso bereithalten wie die Heimat. Sehnsuchtsbilder neigen immer dazu, nicht dauerhaft tragfähig zu sein. Dr. Reiner Sörries, Theologe, Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, apl. Professor für Christliche Archäologie und Kunstgeschichte am Fachbereich Theologie der Universität Erlangen. Er war von 1992 bis 2015 Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal und Direktor des Museums für Sepulkralkultur in Kassel. Er lebt in Kröslin an der Ostsee. Literatur Gauguin, P. (2015). Es sprach der Mond zur Erde. Noa Noa – Erzählungen und Briefe aus der Südsee. Hrsg. von M. Bernauer. Berlin. Ruy Gonzáles de Clavijo (1993). Clavijos Reise nach Samarkand 1403–1406. Aus dem Altkastilischen übersetzt und mit Einleitung und Erläuterungen von U. Lindgren. München.
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Das Leben als Kunst-Werk gestalten Daniel J. Dietrich, Nicole Gnägi Dietrich, Andreas Dennler »Kunst ist eine Linie um deine Gedanken.« (Gustav Klimt) Was bedeutet es, Künstler oder Künstlerin zu sein und sein Leben als Werk zu gestalten? Um diese Frage kreist unser Artikel. Ziel ist es, Ideen und Anregungen zu vermitteln, wie Sie durch eine kunstanaloge (Eberhart und Knill 2010) Lebensführung die Spielräume in Ihrem Leben erweitern können. Die Sprache ist oft unzureichend, um die Linie um die Gedanken zu beschreiben. Das Wesentliche der Kunst entzieht sich oft Worten und dem rationalen Verstehen. Wir versuchen daher im Folgenden, einer ästhetischen Logik zu folgen, und werden dazu Aussagen von Künstlern und Künstlerinnen heranziehen, aber auch über eigene künstlerische Prozesse reflektieren. Antworten sind in diesem Text nicht enthalten – vielleicht entdecken Sie aber beim Lesen in sich die eine oder andere für Sie kostbare Frage. Was ist Kunst? »Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.« (Theodor W. Adorno) Nicht das Talent macht einen Künstler zum Künstler, sondern die Art und Weise, wie er seine Talente nutzt, um sich auszudrücken. Wer Kunst schafft, kann nicht in der Theorie oder in den Gedanken bleiben, sondern er begibt sich in einen Prozess, in dem er aus seinen Erfahrungen mithilfe seiner Kreativität Kunst-Werke erschafft. Bertolt Brecht beschrieb dies folgendermaßen: »Kunst ist nicht ein Spiegel, den man der Wirklichkeit vorhält, sondern ein Hammer, mit dem man sie gestaltet.«
Künstler im eigenen Leben zu werden, bedingt zunächst, das Leben in die Hand zu nehmen, sich Werkzeuge zu schaffen, die einem entsprechen, und aus den gemachten Erfahrungen ein LebensWerk zu gestalten. Die Rohstoffe für Kunst sind also Erfahrungen. Doch damit aus ihnen Kunst entsteht, müssen Grenzen aufgebrochen werden und neue Ausdrucksformen entstehen (Eberhart und Knill 2010). So wurde zum Beispiel aus der Mischung von Sprache, Poesie und Musik HipHop. Lebenskunst bedeutet, kognitive und emotionale Strukturen aufzubrechen und so Raum für Neues zu schaffen. Die Linie um unsere Gedanken, mit der Gustav Klimt die Kunst beschreibt, ist die Grenze zwischen dem Altbekannten, den schon oft gedachten Gedanken, den Gewohnheiten und Sicherheiten und dem Unbekannten und Neuen. Diese Linie der Lebenskunst berührt durch unsere Erfahrungen das Alte und ermöglicht den Blick nach außen – in die Unendlichkeit der noch nicht gelebten Möglichkeiten, der noch nicht gedachten Gedanken. Von dieser Linie aus ertasten Künstler und Künstlerinnen neuen Boden, um ihren Spielraum zu erweitern. Chaos und Lebenskunst Auf der Linie der Lebenskunst zu wandeln, bedeutet, uns immer wieder durch das Leben in unseren Überzeugungen und Sicherheiten (ver-) stören zu lassen und uns dann durch unsere Kreativität immer wieder neu zu gestalten – Schritt für Schritt hinein in die Weite der Möglichkeiten. Was außerhalb der Linie liegt, erleben wir zunächst als überraschend oder beunruhigend, als ein Chaos (Kriz 1999). Es passt nicht in unser
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 58–62, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
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bisheriges Bild der Welt, so wie wir es uns im Laufe unserer Geschichte konstruiert haben. Lebenskunst heißt, durch das Erforschen der Weite außerhalb unserer Gedanken unsere Linie zu erweitern, das Verstörende zu integrieren und daran zu wachsen. Oder in einem Bild der chinesischen Medizin gesprochen: Im starken Wind biegen sich Lebenskünstler wie Bambus, anstatt sich dagegenzustemmen wie Eichen (Ni 2011). Lebenskünstler zu sein bedeutet, resilient zu sein und sich an Veränderungen der Lebensumwelt adaptieren zu können (Bütz, Chamberlain und McCown 1996). Wie werde ich Gestalter? »Unser Leben hängt davon ab, was wir aus dem machen, das mit uns gemacht worden ist.« (Jean-Paul Sartre) Anhand einer Beschreibung des Entstehungsprozesses von Kunstwerken aus Schwemmholz, Armierungseisen, Flusssteinen, Leim, Beton und Farbe möchten wir illustrieren, wie es gelingen kann, zum Gestalter (Dietrich 2016) des eigenen Lebens zu werden. Die Schritte zur Entstehung der Werke werden auf darin enthaltene Wegweiser zur Lebenskunst übersetzt. Die Resonanz der Welt in uns »Ein Kunstwerk ist ein Winkel der Natur durch ein Temperament betrachtet.« (Émile Zola)
Schwemmholz als ein Produkt des lebendigen Chaos und des Wachstums. Nach dem Tod des Baums ist es zunächst verwittert und dann geformt und gefärbt worden von Wasser und Pilzen. Es ist eine neue Form entstanden, die in sich noch die Merkmale von Holz, aber auch Spuren der Geschichte nach dem Tod des Baumes enthält. Für die Schleusenarbeiter ist es Abfall, für uns eine zentrale Ressource für künstlerische Prozesse. Künstler sein bedeutet, mit einem offenen Blick durch die Welt zu gehen. Achtsam zu sein und die subjektive Bedeutsamkeit von Ressourcen in unserer Lebenswelt wahrzunehmen. Und wenn Neugier spürbar wird, so ist sie wie ein Wegweiser zur Linie der Kunst. Lebenskünstler sein bedeutet, die Ereignisse unseres Lebens wahrzunehmen, unser Erleben zu beobachten und nachzuspüren, was uns bewegt und berührt. In solchen Momenten, in denen wir eine Resonanz spüren, können wir uns entscheiden, der Neugier zu folgen und deren ganz besondere Bedeutung für uns zu verstehen. Begegnungen mit »dem Dritten« In der Begegnung, an der Grenzlinie zwischen mir und anderen, zwischen Bekanntem und Neuem und zwischen innerhalb und außerhalb, ist der Raum für das Unerwartete und nicht willentlich Kontrollierbare, für »das Dritte« (Eber hart und Knill 2010). Das Dritte kann sich zeigen als ein Pinselhaar auf der Leinwand, als ein Riss in dem zu behauenden Stein, als Klumpen in der Farbe oder eine Disharmonie in der Melodie. Es ist nichts, was der Künstler schaffen wollte, was beabsichtigt war, sondern was überraschend entstanden ist, in der Begegnung seines Tuns mit der ihn umgebenden Welt. Das Dritte kann sich als etwas Unerwartetes, als eine Antwort oder eine Resonanz der Welt auf den künstlerischen Ausdruck unserer Vorstellungskraft zeigen.
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Sich entscheiden und geschickter werden
Zwei Ressourcen: Der Flussstein wurde wie das Schwemmholz vom Wasser geformt, ist aber ungleich älter, statischer, stabiler, schwerer. Seine Geschichte ist länger und seine Form hat sich in unzähligen Begegnungen mit anderen Steinen im Laufe der Jahrtausende gerundet.
Die zuvor noch unverbundenen Materialien, die erst die Ahnung für ein Werk enthalten, werden miteinander verbunden. Gelegentlich ist dies ein langwieriger Prozess, zum Beispiel den richtigen Leim zu finden, der fest genug wird und schnell genug trocknet, oder den Beton so zu gießen, dass er nicht brüchig wird.
Künstler suchen nach Verbindungen zwischen dem, was zunächst unverbunden scheint. Für solche Verbindungen gibt es keine logischen Erklärungen, sondern sie ergeben sich aus der Vorstellungskraft des Künstlers, der Künstlerin, den von ihr verwendeten Materialien und den von ihr eingesetzten Werkzeugen. Der künstlerische Prozess ist oft ein Versuchen, ein Ausprobieren, ein chaotisch wirkendes Testen, bis sich eine der Verbindungen für die Künstlerin stimmig anfühlt. Oftmals entsteht ein Werk nicht geplant, sondern entspringt dem »Zufall« – das Dritte zeigt sich. Lebenskünstler suchen nach den Verbindungen im Leben, die das eigene Weltbild verstören. Achten auf das Überraschende, das nicht in ihr bisheriges Lebenskonzept passt. Sie sehen das Auftauchen des Dritten, so verstörend und bedrohlich seine Gewänder im ersten Moment auch sein mögen, als eine verkleidete Chance, die die Möglichkeit in sich trägt, den eigenen Spielraum zu erweitern.
Künstler sein bedeutet, sich für eine oder wenige der möglichen unzähligen Verbindungen von Materialien und Techniken zu entscheiden. Künstlerinnen und Künstler müssen bei ihren Werken die Grenzen des Materials ebenso respektieren wie die eigenen Grenzen. Die menschliche Natur und die Ressourcen bieten viele Möglichkeiten – und gleichzeitig brechen sie unter zu viel Druck. Lebenskünstler sein heißt, sich zu entscheiden, festzuhalten an Ideen, Plänen und Visionen, die sich stimmig anfühlen, und es bedeutet auch, Ideen, Plänen und Visionen, die im eigenen Leben aufgrund von physikalischen, finanziellen oder anderen Einschränkungen nicht erreichbar sind, loszulassen. Und bevor wir zu schnell loslassen: Das Festhalten kann mühsam, anstrengend und schmerzhaft sein. Jeder von uns dreien erinnert sich noch lebhaft an den Hammer, der unseren Finger statt den Stein getroffen hat. Sowohl das Festhalten als auch den richtigen Zeitpunkt zum Loslassen wahrzunehmen, ist Lebenskunst.
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Momente des sinnlichen Staunens »Kunst ist, wenn Dinge gerundet erscheinen.« (Maurice Denis)
Die Verbindung von Natur materialien und unseren künstlerischen Fähigkeiten hat Werke entstehen lassen, in die Elemente unserer Lebenswelt, das eigene Schaffen und unsere ganz individuellen Erfahrungen eingeflossen sind.
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Künstler sein bedeutet das Glück, Momente wahrzunehmen, in denen ein Kunst-Werk entstanden ist. Momente zu spüren, in denen ich die Linie um meine Gedanken überschritten habe und mein Spielraum sich erweitert hat. Doch wer Künstler bleiben will, verharrt nicht. Lebenskünstler sein bedeutet, sich Momente des Innehaltens zu gönnen, einen wohlwollenden Blick auf die großen und kleinen Lebenswerke zu richten und auch sich selbst mit einem freundschaftlichen Lächeln zu betrachten (Dietrich 2016) – und dann weiterzuziehen durch die einzigartige Erfahrungswelt, die uns begegnet. Irgendwo dazwischen Lebenskünstler zu sein beinhaltet oftmals die Fähigkeit, Ambivalenzen in beide Richtungen zu leben: Pausen machen und weiterziehen. Offen sein und sich festlegen. Unbeirrbar an einer Idee festhalten und sich von Plänen lösen. Künstler beschreiben diese Dialektik und sehen sich irgendwo zwischen allmächtig und ohnmächtig. Oscar Wilde meinte eher pragmatisch: »Alle Kunst ist ziemlich nutzlos.« Jeff Koons hingegen betonte die Bedeutung der Kunst für die Menschheit: »Kunst ist ein humanitärer Akt. Kunst sollte in der Lage sein, die Menschheit zu beeinflussen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.« Künstler zu sein bedeutet, diese scheinbaren Widersprüche nicht vorschnell aufzulösen, sondern stehen zu lassen und die Spannung des scheinbar Widersprüchlichen zu nutzen, um kreative Kräfte in sich wachsen zu lassen. Lebenskünstler zu sein bedeutet, auf der Linie der Kunst zwischen Gewohntem und Unbekanntem zu balancieren, zu wanken, zu schwanken, gelegentlich hinunterzufallen und immer wieder zu ihr hin- und über sie hinauszustreben. Künstler und Lebenskünstler lieben die Unberechenbarkeit dieser Linie um die Gedanken, die uns – irgendwo zwischen der Bedeutungslosigkeit und einem höheren Sinn – in unbekannte Weiten führt.
Dr. med. Daniel J. Dietrich, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, systemischer Therapeut, Chinesischer Therapeut, leitet das Institut für Traumapädagogik und Traumaberatung in Recherswil. Er ist Teammitglied am Hamburgischen Institut für systemische Weiterbildung und am Ausbildungsinstitut Meilen sowie tätig in eigener Praxis. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Ego-States und kreative Methoden. E-Mail: [email protected] Nicole Gnägi Dietrich, M. A., Master in Expressive Arts Therapy, Supervisorin, selbstständige Familienbegleiterin, ist als Therapeutin in eigener Praxis tätig, leitet das Institut für Traumapädagogik und Traumaberatung in Recherswil und ist freischaffende Künstlerin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind kreative Methoden und Familientherapie. E-Mail: [email protected] Andreas Dennler ist Betreuer, systemischer Pädagoge, Metallbauschlosser und freischaffender Künstler und stellt zusammen mit Nicole Gnägi Dietrich unter dem Namen www. two-for-you.ch aus. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Verbindung von Kunst und Handwerk. E-Mail: [email protected]
Literatur Bütz, M. R.; Chamberlain, L. L.; McCown, W. G. (1996). Strange attractors: Chaos, complexity, and the art of family therapy. New York. Dietrich, D. J. (2016). So gelingen Veränderungen! Mit hypnosystemischen Lösungen werden, wer Sie sein können. Göttingen. Eberhart, H.; Knill, P. J. (2010). Lösungskunst. Lehrbuch der kunst- und ressourcenorientierten Arbeit. 2. Auflage. Göttingen. Kriz, J. (1999). On attractors – the teleological principle in systems theory, the arts and therapy. In: POIESIS. A Journal of the Arts and Communication, S. 1, 24–29. Ni, M. (2011). Der Gelbe Kaiser. Das Grundlagenwerk der Traditionellen Chinesischen Medizin. München.
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Sich auch im Leid zurücknehmen Dezentralisierung und Selbstüberwindung
Knud Eike Buchmann Zwei Betrachtungsweisen »erklären« unser Leben: das subjektiv empfundene Gefühl für den Wert des eigenen, bisherigen Lebens und die aktive Bindung an das aktuelle Leben (Valuation of Life –»VOL«). Die Bedingungen, unter denen auch leidende Menschen weiterleben möchten, gehen weit über die nur gesundheitsbezogene Lebensqualität und die Lebensdauer hinaus. Es werden Fragen gestellt, was der letztendliche Grund ist, warum man am Leben sein möchte. So fragt man die älteren Menschen zum Beispiel: Gibt es Dinge, auf die Sie sich jeden Tag freuen? Welche? Was genießen Sie besonders? Empfinden Sie Ihr jetziges Leben als nützlich? Haben Sie im Moment einen starken Lebenswillen? Haben Sie vor, aus Ihrem Leben das Beste zu machen? Hat das Leben für Sie einen Sinn? Was kennzeichnet nun den »reifen« Menschen? Dezentralisierung und Selbstüberwindung. Kinder schaffen es im Allgemeinen, zwischen dem siebten und zwölften Lebensjahr ihre Selbstbezogenheit, ihre Egozentrizität zu überwinden: Sie können dann andere Menschen in deren Erleben und Empfinden zur Kenntnis nehmen und beziehen nicht mehr alles auf sich. Weiterhin sind sie erst dann dazu fähig, ihren Egozentrismus zu überwinden und einen allgemeinen Perspektivwechsel vorzunehmen. Aber gerade im Leid ist die Ich-Bezogenheit immer wieder eine Quelle von Leidverstärkung. Alle Menschen haben das Bedürfnis, beachtet, zumindest zur Kenntnis genommen zu werden. Sie wollen ein Echo auf ihr Dasein spüren. Und schließlich möchten sie Kontrolle über ihr eigenes Leben bewahren, um damit auch die Wirkungen ihres Verhaltens wahrzunehmen. Ein wesent-
liches Bemühen aller Menschen ist weiterhin, mit anderen, ihnen wichtigen Menschen gut zurechtzukommen. Dazu gehören zwischenmenschliche Merkmale wie wechselseitiger Respekt, gegenseitige Wertschätzung, ein Mindestmaß an Offenheit und die Bereitschaft, andere Menschen »ins richtige Licht« zu stellen. Das bedeutet vor allem, sich selbst in vielen Situationen zurückzunehmen. Um es vorweg zu sagen: Es geht nicht darum, sich »graumäusig« in den Hintergrund zu spielen und vor lauter »Bescheidenheit« nicht einmal seine wesentlichen Tröstungsbedürfnisse zu befriedigen. Es geht darum, auch den Anderen gut aussehen zu lassen und sich selbst gut darzustellen. Dazu sind aber einige grundsätzliche Haltungen und Verhaltensweisen zu verwirklichen. Wenn wir uns unserer selbst bewusst werden wollen, müssen wir die Fähigkeit kultivieren, zu uns selbst auf Distanz gehen zu können. Das bedeutet, dass wir lernen – und bereit sind –, unser Lebenskonzept und unser Handeln auch mit den Augen anderer Personen zu sehen: »Wie hätte wohl ein anderer Mensch unter meinen Bedingungen sein Leben gestaltet?« Man kann auch das Gedankenexperiment eingehen, sich sein Leben mit anderen Überzeugungen und Wertvorstellungen zu denken: »Wenn ich ein afrikanischer Flüchtling wäre, wie würde ich wohl empfinden?« Diese Dezentrierung bedeutet, dass man zu sich selbst einen gedachten, selbstkritischen Abstand schaffen kann, um sich besser sehen und verstehen zu können. Es ist ein wesentliches Kriterium für Lebensweisheit und Leidbewältigung, einen Perspektivwechsel zu leisten. Personen, die in ihrer Rolle Macht besitzen (Lehrerinnen, Psychotherapeuten, Ärztinnen,
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PixelClown / photocase.com
Prediger, Verwaltungsbeamtinnen …), sind gut beraten, sich immer wieder mal die gedankliche Mühe zu machen (es ist ein Bemühen!), empfindsam in die mögliche Situation der Abhängigen zu schlüpfen. Gut ausgebildete Menschen haben eher den Eindruck, »Meister ihres Schicksals« zu sein, also auch eine gute Kontrolle über ihr Leben zu haben. Damit verbinden sie oft das
Dezentrierung bedeutet, dass man zu sich selbst einen Abstand schaffen kann, um sich besser sehen und verstehen zu können. Es ist ein wesentliches Kriterium für Lebensweisheit und Leidbewältigung, einen Perspektivwechsel zu leisten.
angebliche Recht, anderen Menschen sagen zu können oder zu sollen, was richtig ist. Und das oft über Jahrzehnte hinweg. Aber: Feste Überzeugungen und betonierte Theorien müssen von Zeit zu Zeit philosophisch reflektiert werden, damit sie nicht durch mangelnde Differenziertheit zu blockierenden Mythenbildungen verkommen. (»Lerne leiden, ohne zu klagen« ist genauso unsinnig wie die angebliche Weisheit: »Man lindert Leid, indem man es erzählt«.) Durch eine kritische Dezentrierung vom Leiden können fixierte geistige Erbhöfe infrage gestellt werden. Dies gilt – ganz praktisch – generell auch für den Umgang mit Leidenden: Wenn es mir gelingt, mich in einer schwierigen Situation nicht von negativen Gedanken überschwemmen zu lassen, sondern einen gewissen Arbeitsabstand zum »Problem« zu halten, kann ich besser erkennen, was wirklich wichtig und was eher unwichtig ist. Distanz schafft Übersicht! Im Sinne einer zeitlichen Perspektivverschiebung ist es möglich zu lächeln, wenn man sich fragt: »Wie werde ich die heutige Situation wohl in drei oder fünf Jahren sehen?« Oder: »Wie würde wohl ein Mensch in einem Flüchtlingslager meine Lage bewerten?« In der Betreuung von Schwerstverletzten oder seelisch traumatisierten Patienten ist es hilfreich, mit den Belasteten und Geschädigten mitzufühlen, aber nicht mitzuleiden. Das geschieht unter anderem dadurch, dass man sich – gedanklich – sagt: »Das ist schlimm, was da geschehen ist, aber es ist sein, nicht mein Leiden!« Schmerz und Leid sind sehr subjektive Erlebensphänomene. Prof. Dr. Knud Eike Buchmann hat als Pädagoge, Psychologe und Psychotherapeut in mehreren Berufsfeldern gearbeitet. Seine Begegnungen mit Menschen in schwierigen Lebenslagen waren für ihn immer wieder Anlass, die positiven Kräfte zu aktivieren. Für ihn war und ist das Leiden weder ein Dauerzustand noch ein Anlass zur Resignation; das Leiden zu überwinden ist eine ständige Aufgabe, denn ohne Leid gäbe es auch kein Glück. Er hat viele Bücher veröffentlicht und ist ein anerkannter Fachmann zur Thematik der seelischen Gesundheit. E-Mail: [email protected]
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Das Leben bis zum Schluss auskosten Johannes Bucej »Wie kannst du jetzt an Essen denken?« Diese im vorwurfsvollen Ton geäußerte Bemerkung weist hin auf den Ernst einer Situation. Etwas Schwerwiegendes, Tragisches oder zumindest Bedrückendes ist geschehen oder steht im Raum. Menschen stehen oder sitzen betroffen da, die Zeit steht still, der Druck ist unerträglich. Etwas hat buchstäblich »auf den Magen geschlagen«. Oder uns bleibt der Bissen im Halse stecken. Wir »bekommen nichts herunter«. In solchen Situationen an Nährendes zu denken, scheint zu bedeuten, den Ernst einer Lage nicht erkannt zu haben oder – fast noch schlimmer – ihr gleichgültig zu begegnen, sie zu ignorieren, es an Verständnis, Empathie, Mitgefühl fehlen zu lassen. Aber ist das wirklich so? Muss das zwangsläufig so sein? Kann sich in solcher Haltung nicht auch Fürsorge und achtsamer Umgang mit dem Leben zeigen? Wer erinnert sich nicht daran, wie tröstend es sein kann, wenn die Großmutter oder Mutter erst mal einen Pfannkuchen buken, um ein aufgeschlagenes Knie oder eine schlechte Schulnote vergessen zu machen? Klar, das Ganze kann auch eine unangenehme, bedenkliche Seite haben, die in dem Wort »Kummerspeck« sichtbar wird. Da kehrt sich das Erleichternde ins Erschwerende um, wird das Essen selbst zum Ausdruck von Traurigkeit oder Resignation und bezeichnenderweise oftmals: Einsamkeit. Den letzten Aspekt einmal beiseite gelassen, scheint aber doch die Erleichterung zu überwiegen, die ein Essen, eines in Gesellschaft zumal, bringt. Auch nach einer Trauerfeier wird anschließend beim »Leichenschmaus« häufig befreit gelacht, die Trauer scheint zumindest zu pausieren. Gerade so, als würde man wieder Geschmack am guten Leben selbst finden. Und wer einmal
längere Zeit – aus welchen Gründen auch immer – gefastet hat, weiß, welch ein Genuss nach dem Ende der Fastenzeit die erste »richtige Mahlzeit« ist. Das auf sie folgende Fastenbrechen ist auch ein Zeichen der »Rückkehr ins Leben«. Das Geschmacksempfinden ist höchst sensibilisiert, alle Aromen werden verstärkt und differenzierter wahrgenommen. Kann dies aber tatsächlich auch noch am Ende des Lebens erstrebenswert sein? Noch einmal das Leben kosten, noch einmal Geschmack am Leben finden, bevor es unwiderruflich zu Ende ist? In ihrem Roman »Die letzte Delikatesse« schildert Muriel Barbery (2009) diese Erinnerungsreise eines sterbenden Gourmets. Die letzten Stunden seines Lebens verbringt er mit dem Rückblick auf seine Lebensstationen, die im Wesentlichen kulinarischer Natur sind, und mit der Suche nach einem ganz bestimmten Geschmackserlebnis, das ihn geprägt hat. Flankiert werden diese Erinnerungen von den Episoden und Reflexionen ihm nahestehender Menschen: die Kinder, die Ehefrau, die Geliebte, die von ihm kritisierten Gastronomen, für deren Wohl und Wehe, Aufstieg und Niedergang er verantwortlich war, der Clochard vor seinem luxuriösen Pariser Domizil, ebenso die Concierge oder auch der Arzt, der ihm wenige Stunden zuvor sein bevorstehendes Ende verkündet hat, für das – Ironie des Schicksals – nicht ein Versagen der Leber, der Nieren oder der Verdauungsorgane, sondern eine Herzinsuffizienz verantwortlich ist. Ein mehr als dezenter Hinweis auf den schwierigen, um nicht zu sagen fragwürdigen Charakter dieses Menschen. Aber ungeachtet dieses Umstands gilt es doch, mit einem Lächeln und der Erinnerung an das Schöne, das dieses Leben wertvoll gemacht hat, aus dieser Welt zu scheiden.
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Geschmack am Leben finden – der Ausdruck weist schon darauf hin, was Aufgabe dieses in der Geschichte so lange verkannten Sinnes ist: die Erinnerung, aber auch das Sinnstiftende der Gemeinschaft, der man angehört. Haben Vorlieben und Abneigungen beim Essen nicht gerade hier ihren Ursprung? Was war »das Familienessen«, was konnte die Mutter noch mal so gut zubereiten? Was konnte man beim besten Willen nicht essen? Wofür schwärmte man besonders? Gerade dies kann gegen Ende des Lebens noch einmal bewusst machen, was dem Betreffenden wichtig war und ist: die Erfahrung von Fürsorge und Geborgenheit – und die Dankbarkeit, gerade dies erfahren zu dürfen. Es ist wohl diese Einsicht, die zum Beispiel den Gastronomen und Koch Jörg Ilzhöfer (2017) dazu bewegt, für Sterbende in einem schwäbischen Hospiz eine letzte Wunschmahlzeit zu kochen. Da geht es nicht ums Sattwerden, wie er betont, sondern darum, ein letztes Mal seine Leibspeise zu riechen und zu schmecken. Das Wissen, dass jemand extra für sie in der Küche steht, vermittele ihnen das Gefühl, geehrt und gewürdigt zu werden. Du gehörst zu uns – in jeder Situation bis ans Ende – und darüber hinaus. Auch wenn ich dem ein wenig widersprechen möchte: Doch, es geht darum, satt zu werden – nicht nur im herkömmlichen Sinne, der hier beschränkt wäre, und wobei dem Koch durchaus recht zu geben wäre. Aber schon darum, lebenssatt Abschied nehmen zu können, wie es am Ende des Buches Ijob im Alten Testament heißt, das von der Geschichte eines unermesslichen Leids und dem späten zweiten Glück des Leidenden erzählt. Nicht von ungefähr ist das Wort Hospiz verwandt mit »Hospitalität« – einem etwas ungebräuchlichen Begriff und besser bekannt als »Gastfreundschaft«. Und wäre hier nicht auch an die Mahnung des Gastrosophen Jean Anthelme Brillat-Savarin zu erinnern, der in seiner »Physiologie des Geschmacks« schreibt: »Jemanden einladen heißt für sein Glück sorgen zu wollen, solange er unter unserm Dache weilt« (1826/1991, S. 24).
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Wie aber soll das gehen bei jemandem, der sich vielleicht von seinem Leben doch noch viel erhofft hat und der jetzt, schwer, ja unheilbar erkrankt, sich darein finden muss, dass sein Leben nicht »satt an Lebenstagen« sein wird. Gerade Patienten und Patientinnen in einem Hospiz aber wissen es und haben es gelernt, diese Situation zu akzeptieren. Die meisten Patienten, für die Ilzhöfer das letzte Mahl kocht, wünschen sich denn auch nichts Aufwendiges oder gar Luxuriöses, sondern die einfachen Genüsse ihrer Kindheit, die ihnen noch präsent sind: Linsen mit Spätzle, Bouletten mit Kartoffelsalat oder Bratkartoffeln. Und es war der Begründer der Philosophischen Praxis, Gerd Achenbach, der darauf hingewiesen hat, dass paradoxerweise nicht, wer in die Zukunft, sondern wer in die Vergangenheit blickt, die meiste Zeit hat, Zeit, die dem Betreffenden nicht genommen werden kann. Er setzt damit nur konsequent den Gedanken fort, den
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bereits Michel de Montaigne vor fünf Jahrhunderten in seinen »Essais« festhielt:
Geübte und erfahrene Gastfreundschaft kann dazu beitragen, dass ein Leben dann auch vollendet sein kann und nicht einfach nur zu Ende geht.
E-Mail: [email protected] Website: www.johannes-bucej.de Literatur Achenbach, G. (2010). Das kleine Buch der inneren Ruhe. Freiburg. Barbery, M. (2009). Die letzte Delikatesse. München. Brillat-Savarin, J. A. (1826/dt. 1865/1991). Physiologie des Geschmacks oder Physiologische Anleitung zum Studi um der Tafelgenüsse. Hrsg. von M. Lemmer. 2. Auflage. Berlin/Leipzig. Ilzhöfer, J. (2017). Das letzte Mahl ist sein Geschenk. http:// www.zeit.de/karriere/beruf/2017–04/hospiz-koch-sterben-letzte-mahlzeit-beruf/komplettansicht Montaigne, M. de (1580–88/1998). Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von H. Stilett. Frankfurt a. M.
Christian Fischer / Colourbox
»Das Leben des Toren ist freudlos und von Angst durchzittert, weil er ständig auf die Zukunft starrt. Ich jedenfalls rüste mich, es ohne Murren dranzugeben, aber nur, weil es seine Bestimmung ist, drangegeben zu werden, nicht weil es mir beschwerlich und lästig wäre (…) Besonders zu dieser Stunde, da ich merke, wie sehr mein Leben an Zeit abnimmt, will ich, dass es an Gewicht zunehme (…) Je kürzer ich das Leben noch besitze, desto tiefer und umfassender muss ich von ihm Besitz ergreifen« (1580–88/1998, 562 a).
Johannes Bucej, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Katholische Theologie, Pädagogik und Geschichte. Er lebt als freier Journalist und Autor in München. Auf seinem Blog www.denk-mahl. de reflektiert er Themen aus den Berei�chen Philosophie und Gastronomie im Zusammenhang mit einer praktizierten Lebenskunst.
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Lebenskunst spielend entwickeln Marion Martinez
Es begann mit einem Stolpern Als junge Studentin arbeitete ich als Hilfskraft in einem Altenpflegeheim, galt dort unfreiwillig als Spaßfaktor und war beliebt ob meiner natürlichen Fähigkeit, immer im falschen Moment zu stolpern und mit täglichen, kleinen Missgeschicken für gute Laune zu sorgen. So geschah es auch am Tag der Einweihung der renovierten Räume. Gut gutgelaunt, frisch gebadet und angezogen, sollte eine Gruppe von Heimbewohnern im Foyer des Hauses die Delegation des Vorstandes aus Frankfurt erwarten. Bereits in aller Frühe war ich angetreten, allen Wünschen nach einem Bad nachzukommen. Alle Bewohner saßen nun glücklich in der Runde und ich schaffte es gerade noch rechtzeitig zurück zum Stationszimmer. Frohgemut über meinen Erfolg, übersah ich die Türschwelle, stolperte und fiel samt Zehn-Liter-Kanister Fichtennadelessenz in den frisch renovierten Raum. Vor mir stand die Pflegeleiterin im Schrei innehaltend, hinter mir die Delegation, die sich in die Eingangshalle schob. Da durchbrach zu meiner Rettung das herzhafte Lachen der Hausbewohnerinnen und -bewohner die Stille des Entsetzens. In diesem Moment des Scheiterns wurde eine neue Aufgabe geboren, die darin bestand, fortan für gute Laune im Hause zu sorgen und eine Theatergruppe, Singabende und besondere Events zu organisieren. Für die Alltagsarbeit war ich zu tollpatschig. Überraschenderweise aber hatte ich das Herz einer 99-jährigen Dame gewonnen, deren Lebensabschied ich begleiten durfte. Bevor sie starb, gab ich ihr das Versprechen, egal in welchem Beruf ich arbeiten würde, nie zu vergessen, mit und für Kranke und alte Menschen Theater zu spielen.
Und weiter stolperte ich durch das Leben, erlebte den Tod von Freunden, Krankheit, Auslandsaufenthalte und Studium – immer war das Theaterspielen der rettende Anker durch alle Krisen. Schließlich kam der Auftrag, als wissenschaftliches Projekt »das freie Spiel einer festen Kindergruppe« täglich zu beobachten und zu dokumentieren. Ich füllte Bücher und Ordner mit Aufzeichnungen, doch das Projekt scheiterte, als die Kinder nach Lektüre meiner Beobachtungen feststellten: »Du hast gar nichts verstanden.« Ein Schlag, der traf, und mir wurde klar, dass im Spiel etwas geschieht, das nicht mit dem Verstand erfasst werden kann. Ich musste selbst wieder spielen, um zu verstehen, was geschieht. So begann ich ein Schauspielstudium an der Universität der Künste Berlin mit der Hoffnung, ganz groß als Künstlerin entdeckt zu werden. Der Sturz war tief Der erste große Auftritt in einer dramatischen Rolle wurde begleitet vom tosenden Lachen der Zuschauer. Verzweifelt, wütend und zutiefst verletzt verließ ich die Bühne mit dem Vorsatz, nie wieder Theater zu spielen. Eine kluge Professorin erkannte meine innere Not. Mit den Worten »Du hast komisches Talent und brauchst einen guten Lehrer« überreichte sie mir ein Zugticket, einen Gutschein für einen Clown-Workshop und ein Programmheft mit dem Titel »Im Spiel ist der Mensch wirklich«. So fand ich mich inmitten einer tiefen Sinnund Lebenskrise in dem Workshop »Clown – Die Lust am Scheitern« wieder. Es war die erste Begegnung mit dem Schauspieler, Regisseur und Gründer der Galli-Methode®, Johannes Galli. In
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 68–72, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
Foto: © IVE
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Ich konnte das erste Mal die belebende Frische des bewussten Rollenwechsels und die heilsame Kraft des Scheiterns erleben.
diesem Workshop, der alles veränderte, konnte ich das erste Mal die belebende Frische des bewussten Rollenwechsels und die heilsame Kraft des Scheiterns erleben. Neugierig, bewegt und angeregt von dieser Erfahrung begann ich die Ausbildung zur Schauspielerin und Trainerin nach der Galli-Methode® und erlebte in vielen Theateraufführungen, Projekten und Ausbildungsseminaren, wie viel Freude entsteht, wenn Spielraum gegeben wird, den eigenen Alltag bewusst zu spielen und darin die Chance zu erleben, neue Blickwinkel, Rollen und Visionen auszuprobieren. Das Versprechen Niemals vergaß ich das gegebene Versprechen und es kam das Projekt, es einzulösen: »Und es ist gut« – in diesem Auftragsprojekt der Cura-Senioren
Lebenskunst
Marion Martinez
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centren entwickelte Johannes Galli ein Theaterstück mit begleitendem Workshop-Programm zum Thema »Lebensende«. Zielgruppe sind Betroffene, deren Angehörige und Ärzte, Therapeuten sowie Pflegekräfte in der Palliativpflege. Das Theaterstück wird zusammen mit einem begleitenden Training auf Kongressen und Tagungen angeboten. Immer wieder haben wir nach Auftritten erlebt, wie die Menschen sich in Gesprächen öffneten. Oft kamen berührende Momente zustande und eine hoffnungsfrohe Stimmung breitete sich aus. Denn jeder Tag schenkt die Möglichkeit, Rollen bewusst zu erleben und all das zu gestalten, was uns innewohnt. Am Ende jeden Tages steht die Frage »War es gut?« und die Chance, den neuen Tag voll und ganz zu leben, zu lieben und der zu sein, der man ist. Das Theaterstück Eine Frau, die in der Endphase ihrer Krankheit ist, trifft auf einen Arzt. Er macht ihr Mut, all das, was sie im Leben nicht gelebt hat, doch ein-
Der Clown lächelt sie an und sagt: »Es wird genau so, wie du denkst, dass es sein wird.« Sie lässt los, sinkt in seine Arme »und es ist gut«.
mal im Schnelldurchlauf zu spielen. Diese Chance ergreift sie und spielt in einem mitreißenden Rollenwechsel durch die Welt der unerlösten Gefühle. Da erscheint am Ende ein Clown mit der erlösenden Antwort auf ihre Frage: »Was kommt auf mich zu?« – Er lächelt sie an und sagt: »Es wird genau so, wie du denkst, dass es sein wird.« Sie lässt los, sinkt in seine Arme »und es ist gut«. Wie ein Faden zieht sich dabei das folgende Gedicht durch das Theaterstück:
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Da klopft es Mit knöcherner Hand An die Tür Und ich sage: »Wer da?« Da tritt einer ein Und ich sehe nichts, Weil alles dunkel wird Und er legt mir die Hand, Die kalte, Auf die Schulter Und das bedeutet: »Komm mit!« Und ich erschrecke Und begreife, Dass das, Was bis jetzt war, Alles war. Und ich frage: »War es gut?« Aber keiner antwortet, Und ich zweifle, Ob es gut war. Und der Zweifel Macht das Herz kalt Und die Hand Auf meiner Schulter Bedeutet: »Komm mit!« Und ich komme mit, Weil ich muss. Und er führt mich zurück Durch mich hindurch Zu meinem Anfang. Und ich sehe, Was ich alles getan habe, Und ich sehe, Was ich alles Nicht getan habe, Und das ist mehr. Und ich höre, Was ich alles gesagt habe, Und ich höre, Was ich alles
Nicht gesagt habe Und das ist mehr. Und ich leide, Was ich alles gelitten habe Und ich leide, Was ich alles Nicht gelitten habe Und das ist mehr. Dann kommen wir an Und er wartet Und ich denke: »Vielleicht war es doch gut?« Und ich werde gewogen Und die Liebe und die Angst Stehen an der Waage Und die Liebe gibt, Was ich gegeben habe Und die Angst nimmt, Was ich genommen habe. Und ich habe Angst, Denn ich habe viel genommen Und ich habe Hoffnung, Denn ich habe viel geliebt. Dann übergibt er mich Dem Engel Und der ist hell Und ich kann alles sehen. Die beiden nicken sich zu Wie zwei sich zunicken, Die wissen, Was zu tun ist, Und deswegen tun, Was zu tun ist. Und der Engel dreht sich um Und das bedeutet: »Komm mit!« Und ich folge dem Engel, Weil ich muss. Und ich nehme Allen Mut zusammen Und frage ihn: »War es gut?« Aber der Engel
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Dreht sich nicht um, Sondern führt mich Zurück durch die Welt Bis zum Anfang. Und ich sehe, Was die Menschen Alles getan haben, Und ich sehe, Was die Menschen alles Nicht getan haben, Und das ist mehr. Und ich höre, Was die Menschen Alles gesagt haben, Und ich höre, Was die Menschen alles Nicht gesagt haben Und das ist mehr. Und ich spüre, Was die Menschen Alles gespürt haben Und ich spüre, Was die Menschen alles Nicht gespürt haben Und das ist mehr. Und alle werden gewogen Und die Liebe und die Angst Stehen an der Waage Und die Liebe gibt, Was alle gegeben haben Und die Angst nimmt, Was alle genommen haben. Und alle haben Angst, Denn sie haben viel genommen Und alle haben Hoffnung, Denn sie haben viel geliebt. Johannes Galli, aus: »Und die Sehnsucht wäre fast erfüllt … Neun eigene Gedichte. Galli Verlag Wiesbaden – www.galliverlag.de
Das Theaterstück dient als berührender und Mut machender Einstieg zur Auseinandersetzung mit dem Thema Lebensende. Es regt zum Nachdenken über die eigenen Wünsche und Bedürfnisse an und eröffnet eine Kommunikation über das, was uns wirklich bewegt. Begleitend stehen verschiedene WorkshopModule nach der Galli-Methode® zur Auswahl. Diese werden, den Erwartungen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen entsprechend, ausgewählt. Die Module sind: • Bewusste Körpersprache und Kommunikation • Der Clown als Heiler • Märchen und Mythen als Spiegel der Seele • Die 7 Kellerkinder® – Die 7 Talente So bleibt am Ende dieser Zeilen der Wunsch, Sie angeregt zu haben, Ihrem Alltag Spielräume zu schenken, in denen es möglich ist, alle Talente und Rollen auszuprobieren, die gestaltet werden wollen. Seien Sie mutig, leidenschaftlich und spielen Sie bewusst all jene Rollen, die man im Alltag gern verdrängt, die aber der Schlüssel für Lebensfreude und Kreativität sind.
Möchten Sie mehr zu diesen oder anderen Themen erfahren und suchen Sie Informationen zum Theaterangebot, Weiterbildungen, dem Verlagsprogramm und unseren Angeboten für Tagungen und Seminare, dann finden Sie nähere Auskunft unter www.galli-berlin.de oder schreiben eine E-Mail an: [email protected].
Marion Martinez, Jahrgang 1960, ist Leiterin des Galli-Theaters und -TrainingCenters in Berlin. Seit 30 Jahren arbeitet sie als Schauspielerin und Trainerin nach der Galli-Methode®. E-Mail: [email protected]
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Beziehung als Lebenskunst(werk) Die Familie Sheridan – »In America«
Otto Teischel In America Originaltitel: In America. Irland/Großbritannien, 2002. Regie: Jim Sheridan. Buch: Jim Sheridan, Naomi Sheridan, Kirsten Sheridan. Kamera: Declan Quinn. Musik: Gavin Friday, Maurice Seezer. Schnitt: Naomi Geraghty. Produktion: Jim Sheridan, Arthur Lappin. Darsteller: Samantha Morton (Sarah), Paddy Considine (Johnny), Djimon Hounsou (Mateo), Sarah Bolger (Christy), Emma Bolger (Ariel), Ciaran Cronin (Frankie). Kurzkritik Eine irische Familie immigriert in die USA, um sich eine neue Existenz aufzubauen, doch der Neuanfang ist überschattet vom tragischen Tod des jüngsten Kindes. Nach anfänglichen Schwierigkeiten beginnt die Familie, langsam in New York Fuß zu fassen und den Weg in ein glückliches Leben zu finden. Eine sehr persönliche, von der Autobiografie des Regisseurs inspirierte Immigrantengeschichte. Die ausgezeichneten darstellerischen Leistungen sowie die fesselnde visuelle Umsetzung verdichten das hervorragende Drehbuch zu einem Film, der lange nachwirkt und zur Reflexion über die Themen Tod, Familie und Heimat anregt. (Lexikon des Internationalen Films) Die Geschichte des Films »In America« basiert auf tatsächlichen Begebenheiten in der Autobiografie des Regisseurs Jim Sheridan. Er ist 1981 zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern illegal in die USA, nach New York, immigriert, um dort sein Glück im Filmgeschäft zu versuchen.
Das Drehbuch zum Film entstand in Zusammenarbeit mit seinen Töchtern, Naomi (*1972) und Kirsten (*1976), und verbindet die Erinnerungen der Familienmitglieder an tatsächliche Ereignisse jener Zeit mit fiktionalen Elementen. Im wirklichen Leben war es nicht Sheridans Sohn, der an einem Gehirntumor starb, sondern sein kleiner Bruder Frankie, dem »In America« gewidmet ist. Frankie heißt in der Filmerzählung der ebenfalls an einem Hirntumor verstorbene kleine (fünfjährige) Sohn von Johnny (Paddy Considine) und Sarah (Samantha Morton) (die Jim und Fran Sheridan im Film verkörpern) – beziehungsweise der kleine Bruder von Christy und Ariel, wie die Sheridan-Töchter im Drehbuch heißen. Naomi, die ältere (im Film: Christy), war damals zehn Jahre alt, ihre jüngere Schwester Kirsten (im Film: Ariel) fünf Jahre. Wunderbarerweise fanden sich für die Verfilmung des Stoffes zwei wirkliche Schwestern, Sarah (*1991) und Emma Bolger (*1996), die während der Dreharbeiten in genau dem Alter der Sheridan-Töchter im Jahr 1981 waren. Bereits 1990, als Sheridan seinen überaus erfolgreichen, vielfach preisgekrönten Film »Mein linker Fuß« (1989) über den Maler Christy Brown (gespielt von Daniel Day-Lewis) verwirklicht hatte und die Familie wieder in Irland lebte, regte er seine damals 19 und 16 Jahre alten Töchter dazu an, ein Drehbuch über ihre Kindheitsjahre in Amerika zu schreiben. Für die Realisierung ihres Projekts »In America« arbeitete die Familie dann intensiv in New York (zum Teil an Originalschauplätzen) zusammen, und alle drei Töchter haben früher oder spä-
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ter wie ihr Vater für den Film zu arbeiten begonnen: als Autorinnen ebenso wie vor und hinter der Kamera. Tess, die jüngste, kam erst in New York zur Welt (wo sie heute vor allem als Lehrerin arbeitet); kurz nach ihrer Geburt endet der Film. Die besondere, zutiefst melancholische und melodramatische Atmosphäre des Films beruht auf der tatsächlich durchlebten Erfahrung dieser Familie, ihres nicht abgeschlossenen, sondern Jahre später noch dieses Drehbuch befördernden Trauerprozesses. Dessen innere Dringlichkeit überträgt sich bereits mit der Anfangssequenz auf den Zuschauer, als sich bei der Befragung durch den Grenzbeamten die Spannung zwischen Verdrängung und Offenlegung der in dieser Geschichte wesentlichen existenziellen Wahrheit vermittelt: das verstorbene dritte Kind dieser Familie. Zugleich beginnt für den Regisseur – der auf die Interview-Frage: »Wie autobiografisch ist dieser Film?« geantwortet hat: »Er ist zu 90 Prozent wahr« – und seine beiden Ko-Autorinnen ein bedeutsamer »Rollentausch«. Dies wird für einen Zuschauer, der weder näher mit der Familie Sheridan vertraut ist noch Zusatzinformationen über die Hintergründe von »In America« hat – wie sie etwa auf der DVD dem ausführlichen Audiokommentar des Regisseurs zu entnehmen sind – im Kino gar nicht ersichtlich. Indem die tatsächlichen Ereignisse aus der Biografie von Jim Sheridan und seiner Familie schließlich gemeinsam mit seinen Töchtern abgeändert wurden und der Zuschauer diesen Eindruck einer noch offenen, nicht lange zurückliegenden »Wunde« bekommt – als seien die Ereignisse um den schmerzlichen Verlust des Kindes vielleicht sogar der endgültige Anlass für die Auswanderung gewesen –, entsteht noch einmal eine ganz andere Intensität und Übertragbarkeit für den aufnahmebereiten, empathischen Zuschauer. In Wirklichkeit reichte das Ereignis vom frühen Todes seines Bruders Frankie Sheridan in das Jahr 1967 zurück, als Jim bereits 18 Jahre alt war. Und es war sein eigener Vater, Peter Sheri-
dan, der den Schmerz über den Tod seines jüngsten Sohnes mit Arbeit zu betäuben versuchte und dadurch den Trauerprozess noch für seine Kinder und Enkelkinder und deren Familie so schwer bis unmöglich machte.
Szene aus dem Film »In America«
Sheridan erklärt in seinem begleitenden Kommentar, dass er versucht hat, im Film einerseits diese frühen Jahre in New York zu erinnern – ganz wesentlich mit Hilfe und aus der Perspektive seiner Töchter –, und andererseits noch einmal die Geschichte seiner Jugend und das Verhältnis zu seinen Eltern zu beschreiben. »Johnny« wird im Film also zum Alter Ego seines Vaters, den er als Jugendlicher in seinem Schmerz kaum erreichen konnte. Zugleich ist er mit Christy als seiner älteren Tochter identifiziert, aus deren Perspektive die Geschichte der Einwanderung der Familie Sheridan erzählt wird. Die jüngere Tochter, Kirsten, erklärte in einem Interview zur Zeit der amerikanischen Erstaufführung des Films (2003), dass von dem Moment an, als ihr Vater beschlossen hatte, das Schicksal seines Bruders Frankie in die Geschichte einzubauen, auch für die Töchter alles verändert war. In den kommentierenden Äußerungen Sheridans wird es zudem ebenso deutlich wie in der Zuspitzung der Filmgeschichte, dass durch die Geburt seiner dritten Tochter, bei der es tatsächlich lebensbedrohliche Komplikationen gab, auch das emotionale Drama der unbewältigten, tief ver-
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Plakat des Films »In America«, 20th Century Fox / AllStar Bildarchiv, mit freundlicher Genehmigung
20th Century Fox / AllStar Bildarchiv, mit freundlicher Genehmigung
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drängten Ereignisse um den frühen Tod seines kleinen Bruders bei allen Familienangehörigen wieder aufgebrochen war. Durch die Einbeziehung der familiären Vorgeschichte vermittelt das Drehbuch der Töchter nicht mehr nur ihre abenteuerlichen Erfahrungen der frühen Jahre in New York, sondern auch aus der Perspektive ihres Großvaters den schmerzlichen Trauerprozess um dessen verlorenen Sohn, der sich über ihren Vater Jim und dessen ungelöstes inneres Drama auch damals noch auf die junge Familie Sheridan in New York auswirkte. Aus der Quelle dieses frühen Leidens speiste sich offenbar nicht nur die Kreativität der Familie Sheridan seit jeher – schon der Großvater war in Dublin als Schauspieler und Theaterregisseur tätig gewesen und hatte seinen Kummer über den frühen Tod des Sohnes vor allem durch Arbeit zu betäuben versucht –, sondern bis hin zu diesem schöpferischen Prozess einer gemeinsamen Leidbewältigung, bei dem die aus unterschiedlicher Perspektive betroffenen Familienmitglieder sich und ihre Psychodynamik in eine öffentliche Filmerzählung einbringen konnten, übertrug sich dieser so authentische wie heilsame Prozess spürbar auf alle am Film Beteiligten. Insbesondere auf die vier Hauptdarsteller der Geschichte beziehungsweise fünf, denn der an Aids sterbende Mateo wird darin zu einer Schlüsselfigur der Leidbewältigung. Und zuletzt überträgt sich jene Kur des gemeinschaftlichen Projektes durch die unglaubliche Ausstrahlungskraft dieses Filmkunstwerkes potenziell auf jeden einzelnen aufmerksamen Zuschauer. Für jede Person dieser Geschichte ist es dabei eine ureigene, subjektive, anders empfundene und anders zu beantwortende Herausforderung, vor die sie sich durch die unausweichliche Tatsache des Todes und die jederzeit mögliche Tatsache des eigenen Sterbens gestellt sieht. Das letzte Drittel des Films inszeniert diese inneren Zusammenhänge von Tod und Leben derart dicht, einfühlsam und tief berührend, dass sich auch in der Gegenübertragung eines aufmerksamen Zuschauers unvermeidlich ein Prozess existenzieller
Erschütterung und Katharsis vollzieht – je nachdem, vor welchem existenziellen Hintergrund und in welcher konkreten eigenen Lebenssituation ihm diese Filmerzählung begegnet. In der letzten Sequenz des Films wechselt das Bild, nachdem wir kurz davor noch Christys Gesicht in Großaufnahme gesehen haben, die ihren Blick direkt der Kamera zuwendet, auf die nächtlich erleuchtete Skyline von Manhattan, mit dem Vollmond über der Stadt. Dazu hören wir nur noch Christys Stimme: »Habt ihr immer noch ein Bild von mir im Kopf? Genauso ist das mit dem Bild, das ich von Frankie haben möchte … So eins, das man für immer in Erinnerung behalten kann … Wenn ihr jetzt in die wirkliche Welt zurückkehrt, bitte ich Frankie, mich bitte … bitte … gehen zu lassen.« Kein Zuschauer wird an dieser Stelle unberührt bleiben, und noch bei jeder öffentlichen Vorführung des Films steigen hörbar Tränen auf. Das allerletzte Bild zeigt den Vollmond in Nahaufnahme, dann eine Schwarzblende, in die hin ein Andrea Corr (von der irischen Band »The Corrs«) den eigens für diesen Film komponierten Song Time enough for tears zu singen anhebt und dazu die Widmung eingeblendet erscheint: »Dedicated to the Memory of Frankie Sheridan«. Endlich kann die Trauer um den Verlust, die Tatsache unseres Todes und das Drama menschlicher Ohnmacht wirklich zugelassen werden und sich dadurch erst verwandeln – in die Kraft einer liebevollen Solidarität unter den Menschen, die ihr Schicksal gemeinsam annehmen und gestalten können, sobald sie keine Energie mehr an dessen Verleugnung verlieren »müssen«, sondern im Bewusstsein des Todes ihre Gegenwart mit Schönheit und Wahrhaftigkeit erfüllen können. Dr. Otto Teischel, Jahrgang 1953, Philosoph, Germanist und Schriftsteller, ist Psychotherapeut in eigener Praxis in Klagenfurt am Wörthersee. Er war dort langjähriger Leiter einer filmtherapeutischen Patientengruppe in einer psychosomatischen Klinik. E-Mail: [email protected]
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Lebenskunst – Lebensübung – Lebensgunst
Mag die Lebenskünstlerin am Anfang ihres erwachsenen Lebens noch leichtfüßig dahergekommen sein, so liegt die Herausforderung des künstlerischen Umgangs mit dem Leben in seiner Dauer. Was macht die Lebenskünstlerin, wenn die Gunst sich nicht zeigt oder nach einer Phase der Anwesenheit verschwindet? Worin besteht der Sinn von Misserfolg, Krankheit oder Existenznot? Heute, fast sechzigjährig, blicke ich zurück auf unbändige Energien, viel Chaos, Krankheiten, seelische Nöte, ein riesiges Wollen und eine Planlosigkeit, die ich im Laufe der Jahrzehnte zu etwas Gutem wandeln konnte. Das Leben ohne Plan zum Lebensmotto zu machen, ist mir vermutlich in die Wiege gelegt worden. Wegen einer wiederkehrenden Krankheit bei meiner Mutter wurde ich als Säugling mehrmals in fremde Pflege gegeben. Dieses existenzielle Ausgesetztsein, getrennt von der Geborgenheit meiner Mama, war Überlebenstraining pur und hat mich entscheidend geprägt. Meine Eltern hatten eine bürgerliche, vorzugsweise akademische Laufbahn für mich vor Augen. Es zeigte sich jedoch früh, dass ich diesen Ansprüchen nicht folgen mochte. Vielmehr war meine Totalverweigerung mit 13 Jahren tonangebend: Schulabbruch, keine Ausbildung, von zu Hause ausreißen, mit 16 endgültiger Bruch, Drogen, schwere körperliche Arbeit, emotionales Chaos, Krankheit. Innerlich fühlte sich mein Leben richtig an. Freiheit, das große Wort, war für mich ganz konkret, Freiheit von Zwängen, von Plänen und Zielen. Mit einer Vehemenz, die
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Brele Scholz, Masken und Visiere / Umgebaute Europäer 23
Brele Scholz
zuweilen selbstgerecht daherkam, vertrat ich mein extremes Leben gegenüber allen, die mir ins Gewissen reden wollten, die mir mit Vernunft kamen, die mich aufforderten, »die Realität« zu sehen. Eine Mischung aus meiner Arbeit auf dem Bau, Drogenkonsum, emotionalen Brüchen und daraus folgenden Fluchtbewegungen führte wie zwangsläufig in die Erschöpfung und Krankheit. Immer wieder landete ich im Krankenhaus, sprang von der Schippe. Wiederholt war ich auch finanziell am Ende, angewiesen auf meine Eltern oder auf Freunde. Seltsam, dass sich auch diese Phasen in meinem Leben richtig anfühlten. Ohne damals zu wissen, warum ich dieses Chaos aufrechterhielt und gegen alle Widerstände verteidigte, kann ich von heute aus betrachtet sagen, dass ich übte. Es waren Übungen zum Leben. Wo sind meine Grenzen? Wie bekomme ich Hilfe, wenn sie nötig ist? Wie komme ich mit geringen Mitteln aus? Was macht mich krank? Was gibt mir Kraft? Was ist mir wichtig? Warum bin ich hier? Als ich mit dreißig Jahren während der Genesungsphase von einer Krankheit zur Kunst fand, war mir unmittelbar klar, dass etwas Wesentliches in mein Leben getreten war. Ich hatte endlich eine Ausdrucksmöglichkeit für meine inneren Landund Leidenschaften gefunden. Mein Leben geriet in Fluss, ein nicht versiegender Quell sprudelt seitdem. Die Frage »Warum bin ich hier?« ist so beantwortet. Die Kunst trägt mich und ich trage die Kunst. Zweifelsfrei. Worte wie Selbstkritik, Disziplin, Reflexion, Beharrlichkeit, Vernunft traten in mein Leben und bekamen ihren Sinn. Vernunft? Als Künstlerin? Selbstkritik? Disziplin? Die Gewissheit darüber, dass ich fortan der Kunst dienen würde, bedeutete nicht, dass mir nun der rote Teppich ausgerollt werden würde, auf dem ich, begrüßt von der Welt, mit Reichtum und Ruhm belohnt, hinanschreiten könn-
Brele Scholz (Rosskastanie, Blattgold, Mischtechnik)
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te. Die Arbeit fängt hier erst an. Wie entwickele ich eine eigene künstlerische Sprache? Wie finde ich Ausstellungsorte? Wie gewinne ich Kunden? Wie überzeuge ich Galeristen, Kuratorinnen, Museumsleiter? Der Kontakt mit der Realität des Kunstmarktes lässt unzählige talentierte Künstler und Künstlerinnen nach ein paar Jahren aufgeben. Sie finden andere Berufe, die weniger prekär sind, die mehr Geld versprechen, Planbarkeit erlauben, Urlaub, Sicherheit, Rente. Ich sollte als Künstlerin nicht vom Ende her denken. Weder in der Arbeit an einer Skulptur noch mit einem festgelegten Lebensplan. Die gelungene Skulptur findet sich durch Offenheit gegenüber dem Ergebnis, durch Bewegungen im Ungewissen, durch Vertrauen, Beharrlichkeit und mit einem kritischen Blick. In der Zeitdimension des Lebens kann ich Ähnliches erfahren, wenn ich den Blick auf die Gegenwart richte, jeden Tag von Neuem meine Möglichkeiten und Notwendigkeiten auslote. So wie ich meine künstlerische Sprache finde und pflege, mag der Lebensweg jeden Tag neu gefunden und gepflegt werden. Ich sollte nicht ver-
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zweifeln, wenn der Erfolg ausbleibt, wenn kaum Geld reinkommt, wenn die Mühen der Ebene anstrengend werden. Ich kann lernen, Geschenke in Dankbarkeit anzunehmen. Ich kann Lösungen entwickeln, die meiner Sache dienen. Selbstfürsorge ist notwendig. Mit dieser kurzen Einsicht in mein Leben möchte ich zeigen, dass Lebenskunst und der Zustand der Lebensgunst nicht entstehen, wenn wir uns damit begnügen, auf Wunder zu warten. Verantwortung übernehmen für das eigene Tun oder Lassen ist nötig. Nötig die Analyse dessen, was ist, bei mir und bei anderen, möglichst weit über den Tellerrand hinausblickend. Was gebe ich? Was nehme ich? An dieser Stelle kann ich dann sehr schön sehen, wie viel mir gegeben wird, relativ gesehen, der Wahnsinn – wie viel! So kann eine positive Bescheidenheit, eine Genügsamkeit in mein Leben einziehen, die mir wohl tut. Auch sollten wir die Lebensgunst nicht als ein uns zustehendes Recht betrachten. Niemand hat einen lebenslangen Vertrag mit der Lebensgunst. Man kann Lebensgunst nicht pachten, jedenfalls nicht, ohne dies auf Kosten anderer zu tun. Wer
Brele Scholz, Bewegungsstudie 8 (Eiche)
Brele Scholz, Der Blinde und der Lahme (Rosskastanie)
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Lebensgunst nur im Erfolg, im Reichtum oder im Ruhm sucht, springt zu kurz. Die Lebenskünstlerin mag die Lebensgunst auch im Leid, im Misserfolg und in der Krankheit erkennen. Krankheit oder Misserfolg als Raum für Reflexion, als Umsteigebahnhof für Richtungsänderungen in meinem Leben. Nicht hadern mit dem eigenen Schicksal, sondern hinschauen und einfühlen und daraus Handlungsmöglichkeiten entwickeln, seien sie noch so klein. Das ist die Kunst. Das ist die Übung. Es gibt keinen Plan, zum Glück. Brele Scholz, geboren 1959, ist Künstlerin in Aachen. E-Mail: [email protected] Website: www.brelescholz.de
Lebenskunst
AUS DER FORSCHUNG
Buddhistische Psychologie und Trauerberatung miteinander verbinden Heidi Müller und Hildegard Willmann Kaori Wada, Jeeseon Park (2009): Integrating Buddhist Psychology into grief counseling. In: Death Studies, Vol. 33, Nr. 7, S. 657–683. Elemente der buddhistischen Psychologie finden sich in vielen Beratungs- und Therapiekonzepten wieder. Das trifft insbesondere auf Meditations- und Achtsamkeitsübungen zu (zum Beispiel Achtsamkeit in der Dialektisch-Behavioralen Therapie bei Borderline-Störungen). Auch wurde innerhalb der Thanatologie viel über den buddhistischen Glauben und dessen Rituale in Bezug auf Sterben und Tod geschrieben. Doch wurden die Erkenntnisse bisher eher wenig für die Beratung und Begleitung trauernder Menschen genutzt. Dabei können die Ideen zum einen grundlegende Theoriekonzepte und die praktische Arbeit mit den Betroffenen bereichern, zum anderen auch die Arbeitsfähigkeit der Fachkräfte stärken. Ansatz Der buddhistische Beratungsansatz baut auf fünf Kernelementen auf: Achtsamkeit, Mitgefühl, der Idee des stetigen Wandels und der wechselseitigen Abhängigkeiten. Darüber hinaus beinhaltet er die Auffassung, dass Leben und Tod keine Gegensätze sind, sondern eins im stetigen Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt. Leid entsteht entsprechend der buddhistischen Idee immer dann, wenn die Menschen merken, dass das Leben viele Veränderungen mit sich bringt und anders verläuft als gewünscht.
Trauerkonzepte und Ansätze der buddhistischen Psychologie Die Kernelemente der buddhistischen Psychologie können in viele bestehende Theoriekonzepte integriert werden (zum Beispiel Continuing Bonds, Sinnfindung, Trauerverarbeitungsmodelle). Bei näherer Betrachtung fällt jedoch auf, dass viele Ansätze in der Praxis und Theorie das »Tun« stärker betonen als das »Sein«. So geht William
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 80–82, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
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Worden in seinem Traueraufgabenmodell davon aus, dass der Betroffene sich aktiv vier Aufgaben zuwenden muss, um den Verlust zu verarbeiten. Er setzt also auf das »Tun«. Damit richtet sich der Blick des Betroffenen in die Zukunft auf ein für ihn zu erreichendes Ziel. Ist dieses Ziel aber wie bei einem Verlustfall schwer zu erreichen, weil es einige Zeit dauern kann oder die Belastung nicht in gewünschtem Maße nachlässt, dann können bei Betroffenen Angst, Frustration oder
Enttäuschung entstehen. In diesem Zusammenhang dem »Sein« Beachtung zu schenken, bedeutet zum Beispiel, das Element der Achtsamkeit mit in den Ansatz einfließen zu lassen. Denn Achtsamkeit heißt, den aktuellen Moment einfach wahrzunehmen, wie er ist, ohne ihn zu bewerten. Die Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu lenken und nicht auf einen gewünschten Zustand in der Zukunft. Die bewertungsfreie Wahrnehmung des Moments kann Betroffenen dabei
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helfen, sich soviel Zeit für die Verarbeitung zu nehmen, wie sie brauchen, und diesen Prozess nicht wie eine »To do«-Liste mit Aufgaben, die es abzuarbeiten gilt, zu behandeln. Fallbeispiel Rebecca ist eine junge Frau Ende dreißig und Mutter eines neunjährigen Sohnes. Ihr Mann ist vor drei Jahren kurz nach seiner Krebsdiagnose verstorben. Der Hausarzt überwies sie an einen Trauerberater, da sie sich oft niedergeschlagen fühlte. Oberflächlich betrachtet kam Rebecca auch nach dem Verlust gut zurecht. Sie arbeitete weiterhin in Vollzeit, kümmerte sich um ihren Sohn und nahm ihre häuslichen Pflichten wahr. An besonderen Tagen (zum Beispiel am Hochzeitstag oder am Geburtstag ihres Mannes) nahm sie sich Zeit für sich, schloss sich ein, weinte stundenlang, kümmerte sich aber nicht mehr um ihre körperlichen Bedürfnisse. Dem Trauerberater war klar, dass Rebecca eine sehr verantwortungsvolle Frau war, die versuchte, die Bedürfnisse der anderen zu erfüllen. Sie ging jedoch wenig liebevoll mit sich selbst um. So machte sie sich Vorwürfe, weil sie nicht schneller mit dem Verlust fertig wurde. Klar erkennbar war, dass Rebecca in ihrer Verarbeitung zwischen zwei Extremen hin und her pendelte: extreme Vermeidung und ex treme Hingabe. In beiden Fällen war sie mit dem »Tun« beschäftigt und vergaß, den aktuellen Moment wahrzunehmen und die Chancen, die darin liegen. Denn gern hätte sie eine neue Verbindung zu ihrem Mann aufgebaut, doch sie war zu beschäftigt und konnte nicht erkennen, wie das gelingen könnte. Der Trauerberater machte Rebecca mit den Kernelementen Achtsamkeit und Mitgefühl vertraut. Sie lernte Situationen wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten, und auch, sich selbst Mitgefühl entgegenzubringen, nicht nur anderen. Sein und Tun bekamen beide Raum, was ihr half, einen neuen Platz für ihren Mann zu entde-
cken, sich mehr gegenüber Familienangehörigen und Freunden zu öffnen und den Verlust sinnvoll in ihr Leben einzuordnen. Zusammenfassung Viele Elemente der buddhistischen Psychologie lassen sich mit den westlichen Theorieansätzen verbinden und in der praktischen Arbeit umsetzen. Einige Trauerkonzepte beinhalten sogar schon Ansätze des Buddhismus, ohne dass dies von den Wissenschaftlerinnen und Praktikern explizit benannt wird (zum Beispiel das Duale Prozessmodell der Bewältigung von Verlusterfahrungen). Doch nicht nur Betroffene können davon profitieren, auch die Fachkräfte selbst. Denn der Umgang mit Hinterbliebenen berührt oft eigene Lebensthemen, weckt Ängste, Bedürfnisse oder zeigt auf Schwächen. Wer auch in diesen Zusammenhängen liebevoller und achtsamer mit sich selbst umgeht, stärkt damit das eigene Wohlbefinden und erhält und erweitert die eigene Arbeitsfähigkeit.
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Heidi Müller, Diplom-Politologin, Herausgeberin des Newsletters »Trauerforschung im Fokus«. E-Mail: heidi.mueller@trauerforschung.de Hildegard Willmann, Diplom-Psychologin, Herausgeberin des Newsletters »Trauerforschung im Fokus«. E-Mail: [email protected]
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FORTBILDUNG
Zum Wesentlichen schreiben Antje Randow-Ruddies der Mann, »er ist jetzt ein richtiges Huhn und wird niemals fliegen.« Darauf beschlossen sie, eine Probe zu machen. Der naturkundige Mann nahm den Adler, hob ihn in die Höhe und sagte beschwörend: »Der du ein Adler bist, der du dem Himmel gehörst und nicht dieser Erde: Breite deine Schwingen aus und fliege!« Der Adler saß auf der hochgereckten Faust und blickte um sich. Hinter sich sah er die Hühner nach ihren Körnern picken, und er sprang zu ihnen hinunter. Der Mann sagte: »Ich habe dir gesagt, er ist ein Huhn!« »Nein«, sagte der andere, »er ist ein Adler. Ich versuche es morgen noch einmal.« Am anderen Tag stieg er mit dem Adler auf das Dach des Hauses, hob ihn empor und sagte: »Adler, der du ein Adler bist, breite deine Schwingen aus und fliege!« Aber als der Adler wieder die scharrenden Hühner im Hof erblickte, sprang er aber-
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Ein Mann ging in den Wald, um einen Vogel zu fangen, den er mit nach Hause nehmen konnte. Er fing einen jungen Adler, brachte ihn heim und steckte ihn in den Hühnerhof zu den Hennen, Enten und Truthühnern. Und er gab ihm Hühnerfutter zu fressen, obwohl er ein Adler war, der König der Vögel. Nach fünf Jahren erhielt er den Besuch eines naturkundigen Mannes. Und als sie miteinander durch den Garten gingen, sagte der: »Dieser Vogel dort ist kein Huhn. Er ist ein Adler!« »Ja«, sagte der Mann, »das stimmt. Aber ich habe ihn zu einem Huhn erzogen. Er ist jetzt kein Adler mehr, sondern ein Huhn. Auch wenn seine Flügel drei Meter breit sind.« »Nein«, sagte der andere, »er ist immer noch ein Adler, denn er hat das Herz eines Adlers. Und das wird ihn hoch hinauf fliegen lassen in die Lüfte.« »Nein, nein«, sagte
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 83–84, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
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mals zu ihnen hinunter und scharrte mit ihnen. Da sagte der Mann wieder: »Ich habe dir gesagt, er ist ein Huhn.« »Nein«, sagte der andere, »er ist ein Adler, und er hat immer noch das Herz eines Adlers. Lass es uns morgen noch ein einziges Mal versuchen; morgen werde ich ihn fliegen lassen.« Am nächsten Morgen erhob er sich früh, nahm den Adler und brachte ihn hinaus aus der Stadt, weit weg von den Häusern an den Fuß eines hohen Berges. Die Sonne stieg gerade auf, sie vergoldete den Gipfel des Berges, jede Zinne erstrahlte in der Freude eines wundervollen Morgens. Er hob den Adler hoch und sagte zu ihm: »Adler, du bist ein Adler. Du gehörst dem Himmel und nicht dieser Erde. Breite deine Schwingen aus und fliege.« Der Adler blickte umher, zitterte, als erfülle ihn neues Leben – aber er flog nicht. Da ließ ihn der naturkundige Mann direkt in die Sonne schauen. Und plötzlich breitete er seine gewaltigen Flügel aus, erhob sich mit dem Schrei eines Adlers, flog höher und höher und kehrte nie wieder zurück. Nach: Aggrey/Erlbruch, Der Adler, der nicht fliegen wollte. Peter Hammer Verlag (Jugenddienst-Verlag), Wuppertal 1988
Die Geschichte des Ghanaers James Aggrey – im Ursprung ein Aufruf an die Afrikaner, sich gegen die europäische Kolonialisierung zu erheben – dient als Grundlage für einen zweistündigen Schreibabend zum Thema »Das Leben gestalten«. »Wenn ich in die Sonne schaue und meine Schwingen ausbreite, wo zieht es mich hin? Und wenn ich wie ein Adler über meine Lebenslandschaft fliege, was kann ich entdecken? Wo möchte ich landen? Wie sind meine ganz persönlichen Landeplätze gestaltet?« Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen können aus verschiedenfarbigen DIN-A3-Papieren und farbigen Stiften auswählen. Nach dem Vorlesen der Geschichte beginnt der Schreibprozess mit dem »Clustern«. Der Begriff stammt aus dem Englischen und bedeutet Büschel, Traube, Anhäufung.
»Was ist der Begriff, das Wort, der Eindruck, die Assoziation, die nach dem Hören der Geschichte am nachhaltigsten ist? Überlegen Sie ohne innere Bewertung. Welches Wort möchte am dringendsten gesehen werden? Es findet seinen Platz in der Mitte des Papiers und wird umkreist. Dann lassen Sie Ihren Gedanken und Assoziationen freien Lauf. Wie ein Kind, das in die Wolken schaut und immer wieder neue Einfälle, neue Assoziationsketten bildet. Es gibt dabei kein richtig oder falsch. Es geht um ganz individuelle, persönliche Resonanzen. Alles ist erlaubt. Schreiben Sie die Worte, Redewendungen, Zitate auf. Geben Sie ihnen einen Platz auf Ihrem Blatt und umkreisen Sie jeden Begriff. Verbinden Sie die Kreise mit Linien oder Pfeilen. Wenn Sie einen Kristallisationspunkt bemerken, markieren Sie ihn und sammeln Sie weiter Ihre Einfälle.« Zeit: 10 Minuten Nutzen Sie nun im nächsten Schritt die reichhaltige Sammlung Ihres Clusters, um aus den Kristallisationspunkten oder anderen Begriffen, die Sie besonders ansprechen, einen zusammenhängenden Text zu schreiben. Wählen Sie eine Erzählform, die Ihnen das Schreiben leicht macht. Zeit: 30 Minuten Im Anschluss wird aus diesem Text eine Miniatur erschaffen. Eine komprimierte Form der zuvor geschriebenen Geschichte. Eine Essenz. Zeit: 10 Minuten Diese Miniatur wird in der Runde vorgelesen. Die Lauschenden geben ein Feedback. Sie sprechen aus, womit sie persönlich in Resonanz beim Zuhören gegangen sind. Antje Randow-Ruddies, systemische Familientherapeutin (DGSF), Supervisorin und Organisationsentwicklerin (DGSF), Hypnotherapeutin (MEG), NLP-Master (DVNLP), ist in eigener Praxis und im Weiterbildungsteam am Hamburgi�schen Institut für systemische Weiterbildung tätig.
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REZENSION
Lebenskunst – Texte des kreativen Schreibens, zirkulär dekonstruiert Petra Rechenberg-Winter
Angelika Weirauch: Lebenskunst – Texte des kreativen Schreibens, zirkulär dekonstruiert. Am Beispiel der Texte von Frauen mit Behinderung. Verlag Dr. Kovac, Hamburg, 2014 Lebenskunst fragt nach der bestmöglichen und bewussten Lebensführung. Für Menschen mit Behinderungen, entsprechenden Einschränkungen und Herausforderungen kann das kreative Schreiben zur aktiven Lebensgestaltung beitragen. Angelika Weirauch geht im Buch der Lebenskunst von Frauen mit Behinderungen in persönlichen und kulturellen Aspekten nach. Auf der Basis praktischer Erfahrungen, ausgewählter Lebenskunstansätze, philosophischer Grundlagen, soziologischer Forschung und spiritueller Sinnfragen stellt sie überzeugend dar, wie diese Menschen erlebte Abwertungen, medizinische Defizitorientierung und fremde Berührungsscheu in Lebensenergie umwerten. Kreatives Schreiben in der Gruppe unterstützte sie darin, ihr Erleben und Verhalten zu reflektieren und dabei bei sich und anderen Entwicklungs-
prozesse von Lebenskunst zu erkennen und zu aktivieren. Lebenskunst ist nur freien Menschen möglich. Diese Freiheit erleben Menschen mit Behinderungen durch vielerlei Anforderungen und gesellschaftliche Sichtweisen oftmals als begrenzt, besonders dann, wenn Verschiedenheit nicht als Wert, sondern als zu behebender Mangel angesehen wird. Im Rahmen ihrer Dissertation mit dem Instrumentarium qualitativer Forschung interpretierte die Autorin Texte und Beobachtungen aus der von ihr geleiteten Schreibwerkstätte als Hermeneutikerin. Dabei zeigt sie Erscheinungsformen von Lebenskunst auf, die sie in denen ihr zur Verfügung gestellten Texten teilnehmender Frauen entdeckt. Im individuellen (Be-)Schreiben ihrer persönlichen Situation und in Selbstbeschreibungen setzen diese als aktive Subjekte den Degradierungen und erlittenen Objekterfahrungen eigene Selbstbilder entgegen. Lebenskunst erscheint da mitunter als Kraft, alltäglichen Lebenssituationen zu trotzen, verinnerlichten Sichtweisen einer Gesellschaft die individuellen Formen bewussten Lebens entgegenzusetzen und als Entfaltungsraum und Partizipationsmöglichkeit zu nutzen. Sprache bildet nicht nur Bewusstseinsinhalte ab, sondern schafft gleichzeitig Bewusstsein und prägt so beständig eine narrative Identität. Folgendes Beispiel (S. 122) mag davon etwas beispielhaft illustrieren: »ich entspreche keinem ideal keiner norm keiner gleichung ich bin wie vieles ziemlich unperfekt manchmal bin ich das gerne, was ich bin.«
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 85, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
Der BVT beim Bürgerfest des Bundespräsidenten Am 8. September war es soweit und einige Mitglieder des Bundesverbandes Trauerbegleitung e. V. waren der Einladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seiner Frau Elke Büdenbender gefolgt, um am Stand des BVT beim Sommerfest im Park des Schloss Bellevue mitzuwirken.
Zwei Tage lang haben wir in Wechselschichten dem regnerischen Wetter getrotzt und an unserem Stand wertvolle Begegnungen erfahren, durften aufrichtiges Interesse und Wertschätzung für unsere Arbeit erleben und die besondere Atmosphäre im Schlossgarten genießen. Auch prominente Besucherinnen und Besucher wie Ayse und Axel Bosse, Michael Müller, Tobias Schweinsteiger, Olaf Scholz oder der Staatssekretär Stephan Steinlein kamen zum Gespräch und haben teilweise auch die von Robert Hahn (Bestatter aus Berlin) gespendeten Särge mitgestaltet. Wir sind sehr froh und dankbar, dass wir die große Chance und Ehre der Teilnahme hatten und dadurch auch unsere Arbeit im Verband und die öffentliche Wahrnehmung von Trauer weiter voranbringen können. Bilder sagen manchmal mehr als Worte und so geben wir hier eine kleine Auswahl. Mehr gibt es auf unserer Website unter www.bv-trauer begleitung.de zu sehen (Fotos: Nicole und Merle Friederichsen, Marc Vorwerk). Nicole Friederichsen, Vorstandsmitglied des BVT e. V. E-Mail: [email protected] Marianne Bevier, Vorsitzende des BVT e. V. E-Mail: [email protected]
Elke Büdenbender und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung des Festes
Leidfaden, Heft 1 / 2018, S. 86–89, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2192–1202
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Die Vorstandsmitglieder vom BVT
BVT-Gründungsmitglied Christine Fleck-Bohaumilitzky beantwortete am Stand Fragen
BVT-Geschäftsstellenmitarbeiterin Susanne Bachtler (rechts) war auch dabei
Auch die kleinsten Gäste waren bei uns willkommen Ganze Familien tauschten sich bei und mit uns aus
Lebenskunst
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Die bemalten Särge wurden an zwei bedürftige Familien gespendet
Ohne Vorgabe haben die Besucher gemalt und kamen ins Gespräch
Walburga Schnock-Störmer (rechts) beim ressourcenorientierten Zaubern im Kinderzelt
Der Berliner Bestatter Eric Wrede hat für den BVT am VW-Torwandschießen teilgenommen – gewonnen hat aber Pablo Thiam vom VfL Wolfsburg (Foto: Marc Vorwerk)
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Der Wunsch zum »Probeliegen im Sarg« kam von den Gästen und wurde von uns begleitet
Trauer hat verschiedene Perspektiven
Norbert Mucksch im Gespräch mit dem Bundespräsidenten
Am Samstag ließ der Regen nach und die Gäste erkundeten den Schlosspark mit seinen Angeboten
Elke Büdenbender (Mitte) und Marianne Bevier (zweite von links) tauschten sich im BVT-Zelt aus
Lebenskunst
Lebenskunst
Kann ich im Flugzeug ganz vorn sitzen?
Vorschau Heft 2 | 2018 Thema: Sexualität Sex und sexuelle Wünsche als Herausforderung für Pflegende in Altersheimen Sterben und Tod – Erfahrungen von gleichgeschlechtlichen Paaren und ihren Angehörigen Sexualität und Brustamputation Das Phänomen der lustigen Witwe Depression und Sexualität Sex zum Verarbeiten einer Krise Edvard Munch – Tod und Mädchen Sexualität und Spiritualität (Leibphänomenologie) u. a. m.
Impressum Herausgeber/-innen: Monika Müller M. A., KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, Zentrum für Palliativmedizin, Von-Hompesch-Str. 1, D-53123 Bonn E-Mail: [email protected] Dr. phil. Sylvia Brathuhn, Frauenselbsthilfe nach Krebs e. V., Landesverband Rheinland-Pfalz/Saarland e. V. Schweidnitzer Str. 17, D-56566 Neuwied E-Mail: [email protected] Dr. Dorothee Bürgi (Zürich), Prof. Dr. Arnold Langenmayr (Ratingen), Dipl.-Sozialpäd. Heiner Melching (Berlin), Dr. Christian Metz (Wien), Dipl.-Päd. Petra Rechenberg-Winter M. A. (Hamburg), Dipl.-Psych. Margit Schröer (Düsseldorf), Prof. Dr. Reiner Sörries (Erlangen) Bitte senden Sie postalische Anfragen und Rezensionsexemplare an Monika Müller, KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Colin Murray Parkes (Großbritannien), Dr. Sandra L. Bertman (USA), Dr. Henk Schut (Niederlande), Dr. Margaret Stroebe (Niederlande), Prof. Robert A. Neimeyer (USA) Redaktion: Ulrike Rastin M. A., Verlag Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen, Tel.: 0551-5084-423, Fax: 0551-5084-454 E-Mail: [email protected] Bezugsbedingungen: Leidfaden erscheint viermal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 360 Seiten. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 68,00 D / € 70,00 A / SFr 85,50. Institutionenpreis € 132,00 D / € 135,80 A / SFr 162,00, Einzelheftpreis € 20 D / € 20,60 A / SFr 27,50 (jeweils zzgl. Versandkosten), Online-Abo inklusive für Printabonnenten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 01.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2192-1202 ISBN 978-3-666-40618-8 Umschlagabbildung: Sönke Nissen-Knaack, »Was soll ich tun?«, 2009 Anzeigenverkauf: Anja Kütemeyer, E-Mail: [email protected] Bestellungen und Abonnementverwaltung: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Servicecenter Fachverlage, Holzwiesenstr. 2, D-72127 Kusterdingen; Tel.: 07071-9353-16, Fax: 07071-9353-93, E-Mail: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen
Gelassen sterben!? Ein offenes Gespräch über ein unausweichliches Thema Dieses Buch ermutigt, innezuhalten und die eigene Endlichkeit in den Blick zu nehmen. Gelassenheit kann man nicht trainieren, sich ihr aber annähern, so die These des lebendig philosophierenden Autorenteams.
MaSTEr-STuDIENgaNg SuPErvISIoN als Studium oder Weiterbildung mit den Wahlschwerpunkten: a: Systemtheorie und Konstruktivismus B: Pastoralpsychologie berufsbegleitend in fünf Semestern mit 52 Präsenztagen in Freiburg praxisorientiert und wissenschaftlich fundiert mit Studierenden und Dozierenden aus verschiedensten Berufsfeldern von Fachverbänden (DgSv, DgfP, BSo) als Zugangsvoraussetzung anerkannt abschluss: Master of Arts in Supervision (90 ECTS) Diploma Supplement in Supervision Studienbeginn: oktober 2018 Bewerbungsfrist: 15. Mai 2018 Studiengangsleitung: Prof. Dr. Kerstin Lammer www.eh-freiburg.de/kerstin-lammer Nähere Informationen unter: www.eh-freiburg.de/studieren Kontakt: Iris Schildecker, Tel.:+49 (0)761 478 12 740 [email protected]
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Kindertrauergruppen leiten Ein Handbuch zu Grundlagen und Praxis Veränderte Neuausgabe 2017. 212 Seiten mit umfangreichem Arbeitsmaterial zum Download, gebunden € 35,– D ISBN 978-3-525-40287-0 Auch Kinder erleben den Tod eines nahestehenden Menschen als tiefen Einschnitt und geraten in eine psychische Krise. Ihr Trauerweg und -ausdruck unterscheidet sich jedoch von denen der Erwachsenen. Oftmals stellen sie sogar ihre eigene Trauer zurück, um ihre ebenfalls betroffenen Bezugspersonen zu schonen. Sie brauchen deshalb die Wahrnehmung, Zuwendung und auch Informationen durch andere. Hier bieten Kindertrauergruppen neue Perspektiven, um Kindern in Krisen nach Tod und Verlust angemessen zu begegnen. Welche Grundsätze bei dieser Arbeit beachtet werden sollten, welche Rahmenbedingungen erfüllt sein müssen, wenn die Arbeit gelingen soll, und wie eine Stunde in der Kindertrauergruppe gestaltet werden kann, erklärt dieses Handbuch umfassend und mit einem konsequenten Blick auf die Praxis. Es richtet sich primär an qualifizierte Trauerbegleiter/-innen. Eine umfangreiche Materialsammlung steht zum Download zur Verfügung.