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German Pages [244] Year 1998
V&R
ARBEITEN Z U R GESCHICHTE DES PIETISMUS IM AUFTRAG D E R
HISTORISCHEN KOMMISSION Z U R E R F O R S C H U N G DES PIETISMUS
HERAUSGEGEBEN VON
K. ALAND, E. PESCHKE UND G. SCHÄFER
BAND 33
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
LEBENSGESCHICHTE ALS V E R K Ü N D I G U N G J O H A N N H E I N R I C H JUNG-STILLING AMI B O S T - J O H A N N A R N O L D KANNE
VON
MARTIN HIRZEL
VANDENHOECK & R U P R E C H T IN GÖTTINGEN
D i e ersten 1 6 B ä n d e dieser R e i h e erschienen im L u t h e r Verlag, Bielefeld. A b B a n d 17 erscheint die R e i h e i m Verlag v o n V a n d e n h o e c k & R u p r e c h t in G ö t t i n g e n
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Htrzel, Martin: Lebensgeschichte als Verkündigung: J o h a n n H e i n r i c h J u n g - S t i l l i n g - A m i B o s t - J o h a n n Arnold K a n n e / v o n Martin Hirzel. G ö t t i n g e n : V a n d e n h o e c k und R u p r e c h t , 1 9 9 8 (Arbeiten zur G e s c h i c h t e des Pietismus; B d . 3 3 ) ISBN 3-525-55817-1
© 1998 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. — Das W e r k einschließlich aller seiner T e i l e ist urheberrechtlich geschützt. J e d e V e r w e r t u n g außerhalb der engen G r e n z e n des Urheberrechtsgesetzes ist o h n e Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ü b e r s e t z u n g e n , M i k r o v e r f i l m u n g e n und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Satzspiegel, B o v e n d e n D r u c k und B i n d u n g : H u b e r t & C o . , G ö t t i n g e n
MEINEN ELTERN ELSBETH U N D HANS HIRZEL
Inhalt
Vorwort Einleitung
11 13
Erster Teil Von den »Fustapfen der göttlichen Fürsicht« Die Lebensgeschichte Johann Heinrich Jung-Stillings (1740-1817)
I.
Einleitung: Die Lebensgeschichte Johann Heinrich Jung-Stillings . . 23 1. Die Lebensgeschichte als das Unternehmen eines Lebens . . . . 23 2. Exkurs: Die Autobiographie im 18.Jahrhundert 25 3. Die Forschungsgeschichte 32 4. Fragestellung 36
II. Der Autor und seine Welt 1. Herkunft und geistig-religiöser Hintergrund a) Herkunft und religiöse Tradition b) Lektüre 2. Der Erzähler III. »Die Geschichte der Vorsehung in seiner Führung« Inhalt, Gestalt und Absicht der Lebensgeschichte 1. »Jugend« (1777) a) Das Kind vom Lande b) »Lauter Paradies auf dem Wege« c) Ein Lebensbild als Idylle und R o m a n d) Fazit 2. »Jünglingsjahre« und »Wanderschaft« (1778) a) Vom Schneidergesellen zum Schulmeister und Kaufmannsgehilfen b) Die Wirkung der Vorsehung c) Von der Idylle zum Lebenslauf d) Der »Grundtrieb«, Vorsehung und Willensverzicht e) Fazit 3. »Häusliches Leben« (1789) a) Arzt und Professor b) Lebensgeschichte zur Verherrlichung Gottes c) Die Geschichte der Vorsehung und Führung d) Fazit
38 38 38 39 41
42 42 42 43 47 49 49 49 50 52 53 55 55 55 56 56 58 7
4. »Lehr-Jahre« und »Rückblick« (1804) a) Schriftsteller und Fürstenberater b) Lebensgeschichte als Beweisstück c) Eine Lebenschronik d) Fazit 5. »Alter« (1817) 6. Zusammenfassung IV. Die Lebensgeschichte als Exempel 1. Einleitung 2. Der »Lebensroman« 3. »Stilling« als prototypischer Christ
58 58 59 60 61 61 62 63 63 63 64
V. Lebensgeschichte als Gotteserfahrung 66 1. Gotteserfahrung in Heinrich Jung-Stillings Lebensgeschichte . . 66 2. Merkmale und Voraussetzungen seines Erfahrungsbegriffs . . . . 68 a) Fremde und eigene Lebensgeschichte 68 b) Das Eingreifen einer unbekannten Macht 69 c) Was dem Herzen einleuchtet 70 d) Zusammenfassung 70 3. Beschreibung und Inhalte der Gotteserfahrung 71 a) Der Glaube auf der Probe 71 b) Die Art und Weise der Gotteserfahrung 71 c) Gotteserfahrung als Alltagserlebnis 74 d) Zusammenfassung 75 4. Gotteserfahrung und ihr Umfeld 75 a) Die Erfahrung der Führung Gottes im Leid 75 b) Zielrichtung der Gotteserfahrung 76 c) Lebensgeschichte als Gottesbeweis 78 VI. Die Grenzen der Lebensgeschichte Jung-Stillings 1. Einleitung 2. Darstellung der Vorsehung oder Selbstdarstellung? 3. Funktionalisierung von Vorsehungsglauben und Leben 4. Vorsehungsglaube und die Unfreiheit zum Handeln 5. Die Prägung durch Pietismus und Aufklärung 6. Schlussbemerkung
78 78 79 81 82 85 92
Zweiter Teil Das Werk Gottes und das Werk des Menschen Die Memoiren von Ami Bost (1790-1874) I.
8
Einleitung: Die Mémoires von Ami Bost 1. Das Buch 2. Forschungsüberblick
97 97 98
3. Fragestellung a) Die Memoiren als Lebensgeschichte b) Die Einheit von Lebensgeschichte und Geschichte des Réveil
100 100 101
II. Eine Lebensgeschichte 1. Einleitung 2. Der Lebenslauf 3. Herkunft und Tradition a) Frömmigkeit b) Lektüre und Verhältnis zur Bildung 4. Selbstbeobachtung a) Das innere Leben b) Der schwache Glaube 5. Das Wirken Gottes a) Die Bekehrung b) Die Erfahrung Gottes c) Führung und Vorsehung d) Gottes-Dienst e) Heiligung
103 103 104 111 111 112 115 115 117 118 118 120 122 124 125
III. Die Geschichte des Réveil 1. Einleitung 2. Inhalt a) Äußerer Verlauf b) Ami Bosts Stellung innerhalb des Réveil 3. Theologie a) Der Réveil als Werk Gottes b) Entdeckung der Gnade und das Tun guter Werke c) »Zurück zu den Anfängen« d) Ausbreitung des Réveil 4. Zusammenfassung
126 126 127 127 131 133 133 134 136 137 138
IV. Die Verknüpfung von Lebensgeschichte und Kirchengeschichte 1. Form und Stil der Mémoires a) Zur Gattung b) Sprache und Stil c) Strukturierung d) Literarische Vorbilder und Quellen e) Die Mémoires als Abbild von Gottes Werk 2. Biographie als Kirchengeschichte 3. Die Intention der Mémoires a) Die Adressaten b) Belehrung c) Trost und Erbauung
. .139 139 139 140 141 142 143 144 146 146 146 147
9
V. Schlussbemerkungen 1. Theologiegeschichtliche Einordnung 2. Kritik und Würdigung Dritter Teil »Ein Ziel und viele Wege« Die Sammelbiographien Johann Arnold Kannes I.
148 148 149
(1773—1824)
Einleitung: Die Sammelbiographien Johann Arnold Kannes . . . . 1 5 3
II. Der Herausgeber Johann Arnold Kanne 1. Kannes Leben aus eigener Sicht 2. Kanne im Urteil von Zeitgenossen
156 156 164
III. Der theologische Zweck der Sammelbiographien 1. Einleitung 2. Die Vorrede zum ersten Band von Leben (1816) 3. Die Vorrede zum zweiten Band von Leben (1817) 4. Zusammenfassung und theologische Beurteilung
169 169 170 174 179
IV. Der Inhalt der Sammelbiographien 185 1. Einleitung .185 2. Die Biographie von Johann Georg Gichtel 189 3. Theologische Motive 190 4. Stil 195 5. Theologische Grundzüge und Absicht der Lebensgeschichten . . 1 9 7 V. Kritische Schlussbemerkungen
200
Zusammenfassung, kritisches Fazit und kurze theologische Reflexion . 203 1. Zusammenfassung: Lebensgeschichte als Verkündigung 203 2. Kritisches Fazit: Die Gefährdung der kerygmatischen Absicht . . 206 3. Kurze theologische Reflexion: Lebensgeschichte als Verkündigung? 209 Literaturverzeichnis
221
Personenregister
237
Ortsregister
240
10
Vorwort Vorliegende Arbeit, welche für die Veröffentlichung leicht bearbeitet worden ist, wurde im Winter 1996 von der Theologischen Fakultät der Universität Basel als Dissertation angenommen. Sie entstand unter der Begleitung von Prof. Dr. Ulrich Gabler. Für seinen stets ermunternden und freundlichen Rat möchte ich ihm herzlich danken. Folgenden Personen und Institutionen, die auf vielfältige Weise zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben, möchte ich ebenfalls danken: Herrn Prof. Dr. Alfred Schindler, Theologische Fakultät der Universität Zürich, als dessen Assistent ich das geeignete Umfeld zur eigenen Forschungstätigkeit besass; dem Schweizerischen Institut in R o m , als dessen Mitglied ich 1994/95 Gelegenheit zur Arbeit an meiner Dissertation hatte; Herrn Pfarrer Matthias Hochhuth, Arch/BE, und Herrn Dr. Thomas K. Kuhn, Basel, für das Gegenlesen des Manuskriptes; Frau Anna Carolina Strasky, Basel, für die Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage; Herrn Archivdirektor i. R . D. Dr. Gerhard Schäfer, Nürtingen, und der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus in Berlin für die Aufnahme der Dissertation in die Reihe »Arbeiten zur Geschichte des Pietismus« und die überaus freundliche Betreuung des Manuskriptes; Herrn Dr. Arndt Ruprecht und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen für die Drucklegung; der Emil-Brunner-Stiftung in Zürich und ihrem Präsidenten Prof. Dr. Dr. h. c. Werner Kramer sowie dem Dissertationenfonds der Universität Basel für die großzügigen Druckkostenzuschüsse. Zürich, im Dezember 1997
Martin Hirzel
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Einleitung Es gibt zahlreiche Gründe, sich mit Autobiographien zu beschäftigen. Z u nächst mag es bloß die N e u g i e r d e am Leben anderer M e n s c h e n sein, an ihren Taten u n d Schicksalen, welche zur Lektüre v o n Lebensgeschichten anregt. Persönlicher u n d tiefgehender ist j e d o c h das Interesse für die Lebenserfahrungen, Lebensformen u n d Lebenssichten, welche Autobiographien enthalten. W i e bei k a u m einem anderen Text wird der Leser 1 auf das eigene Leben u n d seine Fragen nach dessen Gelingen angesprochen. Indem die Autobiographie die m e h r oder weniger endgültige Selbstsicht u n d Interpretation eines Lebens darstellt, spricht sie z u m Leser, der sich unterwegs auf seinem Lebensweg befindet u n d nach d e m Z u s a m m e n h a n g seines Lebens fragt. Sofern die Lebensgeschichten des Lesers u n d des Autobiographen beide in der christlichen Tradition stehen, besitzen sie über die äußeren Lebensdaten wie Geburt, Heirat u n d T o d hinaus einen gemeinsamen weltanschaulichen u n d religiösen R a h m e n . Daraus ergeben sich für den Leser v o n Lebensgeschichten spannende hermeneutische u n d theologische Fragen: W i e stellt ein Autobiograph seinen Glauben angesichts der Erfahrung seines Lebens dar? W i e bezieht er also traditionelle Glaubensinhalte auf seinen k o n k r e t e n Lebensgang? Verändert er sie? Welches Bild v o n Glauben u n d Leben wird d e m Leser vermittelt? Was will er i h m mitteilen? Gibt es Einwände gegen die Darstellung einer Lebensgeschichte? Sind in ihr unreflektierte religiöse Lebensmodelle zu erkennen? D a m i t ist ein weiterführendes theologisches Interesse angesprochen, das zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Autobiographien veranlasst. Es gründet einerseits in der Einsicht, dass christlicher Glaube davon lebt, dass die allgemeine Glaubenstradition u n d die individuelle Erfahrung aufeinander bezogen w e r d e n müssen u n d andererseits in der Beobachtung, dass »Lebensgeschichte« dabei eine wichtige R o l l e spielt. Dies soll kurz ausgeführt w e r d e n . Christlicher Glaube ist auf das Leben bezogen. W e n n ein M e n s c h glaubt, dann n i m m t er sein konkretes Leben im Lichte der Wirklichkeit Gottes wahr. Er sucht nach Sinn, auch w e n n i h m der Gang seines Lebens rätselhaft ist u n d gibt die H o f f n u n g nicht auf, auch w e n n die Wirklichkeit des Lebens dagegen spricht. Glauben hat seinen G r u n d in Gott, der die Quelle des Lebens ist.
1 Ein Hinweis zur Sprachregelung: Im folgenden Text wird an Stellen, w o die heutige Leserin u n d der heutige Leser die weibliche und männliche Sprachform nebeneinander erwarten würde, der Einfachheit halber nur die männliche verwendet.
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Gleichzeitig ist er immer auf gelebtes individuelles Leben bezogen. Z u m Glauben führt nicht bloßes Nachdenken über das Leben, j e d o c h der Umstand, dass das eigene Leben von dem es umgreifenden Zuspruch Gottes her w a h r g e n o m m e n wird. Christlicher Glaube hat einen Ort in der Lebensgeschichte. Ein Mensch kann den Zuspruch Gottes für sein Leben zu verschiedenen Zeitpunkten und auf vielfältige Weise w a h r n e h m e n . In der Kindheit, in einer längeren Entwicklung oder an einem lebenszyklischen W e n d e p u n k t wird ein Mensch zum Glauben geführt. Christlicher Glaube wird durch Vorbilder vermittelt. Einerseits wird ein Mensch durch die Weitergabe religiöser Denkinhalte im Unterricht, im Gottesdienst oder in der Lektüre mit dem Glauben vertraut, andererseits durch die Begegn u n g und das Gespräch mit Menschen, die glauben. O h n e das Vorbild anderer Menschen vermögen religiöse Ideen kaum, den Glauben eines Menschen und damit dessen Leben zu prägen. N e b e n den W o r t e n der Bibel sind es deshalb stets auch Lebensgeschichten, die durch direkte Begegnung oder mittels einer Biographie zu Menschen sprechen und in ihnen Lebenssinn und H o f f n u n g erwecken. Aus Bibel und Lebensgeschichte heraus treten Lebensbilder, die in mannigfaltigen Lebenssituationen zur Identifikation einladen u n d die Erfahrung von Vertrauen und H o f f n u n g , die im Leben tragen, glaubwürdig zeigen. In Bibel und Lebensgeschichten als christliche Lebenszeugnisse zeigt sich eine Erfahrungslinie, die v o m Leben k o m m t und zum Leben strebt. Dabei vermögen Lebensgeschichten in ihrer Einfachheit, Vielfalt und Lebensnähe besonders, das Leben u n d auch das D e n k e n von Menschen zu prägen. Z u allen Zeiten haben Lebensgeschichten in der Weitergabe des christlichen Glaubens eine wichtige Rolle gespielt. Als Zeugnisse des Glaubens u n d gelebten Lebens kam ihnen stets eine eigentliche Verkündigungsfunktion zu. D e n n christliche Lebensgeschichte spricht nicht nur vom Menschen, sondern von Gott, wie er als wirkender geglaubt u n d erfahren w o r d e n ist. Biographie und Theologie gehören zusammen. 2 In der protestantischen Theologie dieses Jahrhunderts, vor allem in der liberalen u n d in der dialektischen Theologie, wurde die Relevanz von Biographie u n d Lebensbeschreibungen geringgeachtet. Das Schreiben und damit auch das Lesen von Lebensbeschreibungen stand im Geruch der bloßen Innerlichkeit oder w u r d e des religiösen Subjektivismus u n d der individualistischen E n g f ü h rung verdächtigt. 3 D e r Glaube sei vielmehr eine sittliche Haltung, hieß es auf 2
Siehe unten S.210f. Siehe hierzu Adolf HARNACK, Das Leben Cyprians von Pontius. Die erste christliche Biographie. Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, Leipzig 1913, 85. - Karl BARTH, Die protestantische Theologie im 19.Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, 5. Auflage, Zürich 1985, besonders S. 60-114. Barths Pietismuskritik gründete 3
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der einen Seite. U n d der Glaube gründe sich in erster Linie auf dem geoffenbarten Wort Gottes, wie es in den biblischen Schriften enthalten ist, auf der andern. Theologisch gesehen trennten beide Sichtweisen auf ihre Weise den Glauben vom Leben, die Theologie von der Erfahrung beziehungsweise sie reduzierten gleichsam den Glauben auf das Leben und umgekehrt. Während die liberale Theologie am Glauben vor allem die lebenspraktische Seite als relevant erachtete, betonte die dialektische Theologie die Unableitbarkeit des Glaubens. Dass der überlieferte christliche Glaube jedoch sehr lebenspraktisch ist und dass das Leben sowie der überlieferte Glaube in Zusammenhang stehen, wurde zu wenig beachtet. Auf einzigartige Weise verbindet christliche Biographie, im besonderen Autobiographie, die Tradition mit der Erfahrung des jeweiligen Lebenskontextes. Sie formuliert den Zuspruch Gottes fur die j e weilige Lebenszeit eines Menschen. Aus historischer Sicht steht die Geringschätzung von Biographien in der wissenschaftlichen Theologie der neueren Zeit in keinem glaubwürdigen Verhältnis zur Tatsache, dass aus jeder Epoche der Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte eine sehr große Zahl biographischer Werke vorliegt. An diesen kann die historische Theologie, wie die Theologie überhaupt, nicht achtlos vorbeigehen. In der Kirchengeschichtsschreibung hat die Biographik als »kleine Geschichtsschreibung« seit der Alten Kirche neben der Weltchronik und der eigentlichen Darstellung der Kirchengeschichte eine eigene Tradition gebildet. 4 Biographische Literatur hat auf unterschiedliche Weise Verbreitung gefunden. Sie reicht von den Lebensbildern der Wüstenväter, Augustins Bekenntnissen, den Heiligenleben des Mittelalters, den Lebensgeschichten von Mystikerinnen, bis zu Sammelbiographien der Barockzeit und Lebensgeschichten des Pietismus. »Christliche Biographie«, inhaltlich umfassend als »christliche Lebensgeschichte« verstanden 5 , umfasst dabei verschiedene literarische Gattungen: Passionen, Märtyrerakten, Viten, Lobschriften, Aretalogien, Autobiographien etc. In allen diesen Texten wird das Leben eines Einzelnen oder einer Gruppe von Menschen unter der Perspektive in den Blick genom-
sich vor allem auf der Lektüre von Biographien, in: Eberhard BUSCH, Karl Barth und der Pietismus, München 1978, 46 f. - Ähnlich auch Reinhart STAATS, Die zeitgenössische Theologenautobiographie als theologisches Problem, in: Verkündigung und Forschung 39 (1994), 71. 4 Peter M E I N H O L D , Geschichte der kirchlichen Historiographie, Band 1 , Freiburg im Breisgau und München 1967, 128. 5 Ähnlich auch Walter B E R S C H I N , Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter Band 1 , Stuttgart 1 9 8 6 , und Marc VAN U Y T F A N G H E , Artikel Heiligenverehrung II, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Band 14, Stuttgart 1988, 160. — Er spricht in diesem Zusammenhang von spiritueller Biographie. — William LAFLEUR. gebraucht den Begriff »sacred biography« und versteht darunter »the written acounts of lives of persons deemed to be holy«, Artikel Biography, in: The Encyclopedia of Religion, hrsg. von Mircea ELIADE, Band 2, New York 1987, 220.
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men, dass Gottes Wirken darin erkennbar ist. Diese inhaltliche Zielsetzung bestimmt die Darstellung. Alle Textformen christlicher Biographie gehen zwar in ihren Wurzeln auf antike, nichtchristliche Vorbilder zurück 6 , doch unterscheiden sie sich in ihrer theologischen Zielsetzung von ihnen. Sie reden vom Menschen, insofern er in Verbindung mit der Kirche und damit mit Gott steht. 7 Dies darf nie vergessen werden, auch wenn Lebensbeschreibungen oft ausschließlich vom Menschen und seinen Leistungen zu sprechen scheinen, wie zum Beispiel in der Hagiographie. In der christlichen Biographie ist die Darstellung des Lebens eines Menschen nie Selbstzweck, sondern sie vollzieht sich im R a h m e n der Verkündigung der Kirche. Biographische Literatur ist also nicht eine marginale Linie in der christlichen Überlieferung, sondern Literatur, die in ihrer Vielfalt, Einfachheit und Lebensnähe das Leben und Denken vieler Christen und die Gestalt der Kirche tiefgehend geprägt hat; mehr als es die theologisch-wissenschaftliche Literatur vermochte, der üblicherweise die größere Aufmerksamkeit zukommt. 8 Vorliegende Studien möchten aus kirchengeschichtlicher Perspektive einen Beitrag dazu leisten, auf die Bedeutung der Biographik für die christliche Überlieferung und Theologie hinzuweisen. Dabei richtet sich das Interesse auf die Gesamtaussage und den Zusammenhang von Glauben und Leben, Tradition und Erfahrung in Autobiographien. Sie wollen damit zeigen, wie Autobiographien eine theologische Aufgabe erfüllen. Es soll die Frage gestellt werden, welches explizite Anliegen Autoren religiöser Autobiographien mit der Darstellung ihrer Lebensgeschichte verbinden. - Wie bezeugen sie dem Leser Gottes Wirken in ihrem Leben und wie wollen sie in ihm den Glauben an diesen Gott wecken? Die These der kerygmatisch-theologischen Intention autobiographischer Texte könnte durch unzählige Beispiele aus der Geschichte belegt werden. Aus der langen und äußerst vielfältigen Tradition christlicher Biographik wird hier eine Zeit herausgegriffen, die für Biographik und Autobiographik sehr bedeutend war. Z u r Zeit des Pietismus erlebte die christliche Biographik eine Blüte. Das Anliegen des Pietismus war es, den persönlichen Glauben des Einzelnen zu fördern. Der Glaube an einen liebenden, fürsorgenden Gott 6 Für den Fall der Autobiographie siehe zum Beispiel Marie-Françoise BASLEZ (Hrsg.) und andere, L'invention de l'autobiograhie d'Hésiode à Saint Augustin. Actes du deuxième colloque de l'Equipe de recherche sur l'hellénisme post-classique (Paris, Ecole normale supérieure, 14—16. juin 1990, Paris 1993. Für die Hagiographie siehe Karl HOLL, Die schriftstellerische Form des griechischen Heiligenlebens, in: Gesammelte Aufsätze, Band. 2. Der Osten, Tübingen 1928, Nachdruck Darmstadt 1964, 249-269. Bernd Reiner Voss, Berührungen von Hagiographie und Historiographie in der Spätantike, in: Frühmittelalterliche Studien, Band 4, Berlin 1970, 53-69. 7 Siehe Arnaldo MOMIGLIANO, Ancient Biography and the Study of Religion in the Roman Empire, in: O n Pagans, Jews and Christians, Middletown (Conn.) 1987, 177. 8 Vgl. Hanns Christof BRENNECKE, Geschichte als Lebensgeschichte. Die alte Kirche im Spiegel biographischer Darstellungen, in: Verkündigung und Forschung 39 (1994), Heft 1, 9.
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musste persönlich erfahren werden. Biographie enthielt diesen Erfahrungsbezug. Autobiographie im Speziellen war Ausdruck persönlicher religiöser Erfahrung. Im Pietismus trat sie in ihr klassisches Zeitalter 9 und gelangte im Laufe des 18.Jahrhunderts zu allgemein geistesgeschichtlicher Bedeutung. In der Auseinandersetzung mit der Aufklärung, als sich durch die Bewegungen der Empfindsamkeit, des Sturm und Drang und der Romantik allmählich das moderne Bewusstsein herausbildete, spielten die pietistischen Autobiographien eine wichtige Rolle. Die geisteswissenschaftliche Forschung hat sich der Autobiographie in den letzten Jahren vermehrt zugewandt. Von Seiten der Theologie wird die Bedeutung der Autobiographie für den Pietismus allgemein anerkannt. 10 Die kirchenhistorische Erschließung der christlichen Autobiographie ist jedoch noch nicht weit vorangeschritten. 11 Die Untersuchung beschränkt sich auf Beispiele aus dem Zeitraum des Spätpietismus und der Erweckungszeit (1770-1850). Beeinflusst von der geistigen Zeitströmung der Empfindsamkeit, die dem Gefühl des Einzelnen und dem individuellen Erleben Aufmerksamkeit schenkte, sahen sich insbesondere aufklärungskritische Vertreter jener Zeit wie Lavater, Claudius, Hamann oder Jung-Stilling darin bestärkt, über sich, ihr Leben und ihren Glauben zu schreiben. In der Folge erlebte die Autobiographie in der Erweckungsbewegung und auch darüber hinaus erneut eine Blütezeit, die weit in das 19. Jahrhundert hinein andauerte. 12 Die getroffene Auswahl repräsentiert die formale und inhaltliche Verschiedenartigkeit des Genres Autobiographie zu jener Zeit. Gleichzeitig zeigt sie deren inneren Bezüge und das gleichwohl gemeinsame theologische Anliegen. Als erstes Beispiel wird die Lebensgeschichte von Johann Heinrich Jung-Stilling (1740-1817) untersucht. Als Zeitgenosse und Freund Goethes schrieb er eine literarisch bedeutende, vielgelesene Autobiographie, die prägend für den weiteren Verlauf der Gattungsgeschichte wurde. Für meine Fragestellung besonders interessant, die Arbeit aber auch erschwerend, wirkt sich der Umstand aus, dass Jung-Stilling seine Autobiographie in sechs Etappen schrieb. Die Deutung der Lebensgeschichte geschah so nicht nur von einer einzigen, sondern von verschiedenen Perspektiven aus. Diese verändern sich im Laufe der Autobiographie, nicht nur wegen der zeitlichen Distanz sondern auch aufgrund veränderter geistiger und theologischer Positionen. Theologisches Leit-
' R o y PASCAL, Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt, Stuttgart 1965, 49. Martin SCHMIDT, D e r Pietismus u n d das moderne D e n k e n , in: Kurt Aland (Hrsg.), Pietismus und m o d e r n e Welt, W i t t e n 1974, 4 3 - 5 2 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 12). 11 Gustav Adolf BENRATH, Autobiographie, christliche, in: Theologische Realenzyklopädie, Band 4, Berlin u n d N e w York 1979, 772. 12 Siehe Ulrich GÄBLER, Auferstehungszeit — Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts. Sechs Porträts. M ü n c h e n 1991, 175; BENRATH, Autobiographie, 783, 52-784, 8. 10
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m o t i v bleibt j e d o c h durch alle Teile hindurch der Vorsehungsgedanke. Dieser bestimmt die Aussageabsicht, die sich trotz der Unterschiede u n d B r ü c h e innerhalb des Werkes einheitlich präsentiert. Es ging d e m Verfasser zu allen Z e i t e n d a r u m , anhand seiner Lebensgeschichte das W i r k e n der Vorsehung Gottes im individuellen Leben eines M e n s c h e n beispielhaft einem w e i t e n Kreis interessierter M e n s c h e n zu zeigen u n d M e n s c h e n für einen persönlichen, erfahrungsorientierten Glauben zu gewinnen. - M i t d e m in seiner A u t o b i o graphie geschilderten Erfahrungsglauben stellte sich Jung-Stilling gegen eine d u r c h die Aufklärung geprägte rationale W e l t w a h r n e h m u n g , die den Glauben an das W i r k e n Gottes im Leben des einzelnen M e n s c h e n zu v e r u n m ö g l i c h e n schien. M i t seinem Anliegen steht Jung-Stilling am A n f a n g der E r w e k kungsbewegung, in der diese Auseinandersetzung zentral g e w o r d e n ist. Aus der Zeit der Blüte der E r w e c k u n g s b e w e g u n g stammen als zweites Beispiel die dreibändigen M e m o i r e n des Genfer Erweckungstheologen A m i Bost (1790-1874). Literarisch ist dieses W e r k u n b e d e u t e n d . Es stellt die Lebensgeschichte Bosts in den R a h m e n der Geschichte der Genfer E r w e k kungsbewegung, des Réveil. Diese wird eingehend u n d eindrücklich geschildert. Theologisch ist Bost daran gelegen, das W i r k e n Gottes in seinem Leben u n d in der Geschichte des Réveil zu erweisen. Bei i h m erscheint die A b g r e n z u n g gegen den Geist des Rationalismus u n d der Aufklärung beinahe schon als Stereotyp. Er setzte sich nicht argumentativ mit i h m auseinander. Als drittes Beispiel ergänzt die U n t e r s u c h u n g eines anderen Typs aus d e m biographischen Genre das Bild: Die Sammelbiographien des Orientalisten J o h a n n Arnold Kanne (1773—1824). Sie erschienen im Gefolge des klassischpietistischen Werks Historie der Wiedergebohrnen v o n J o h a n n H e n r i c h R e i t z in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese originellen W e r k e enthalten eine b u n t e Anzahl biographischer u n d autobiographischer Stücke. Die Auswahl u n d Darstellung dieser Lebensgeschichten einerseits u n d die langen Einleitungen andererseits zeigen die theologische Absicht, die der A u t o r mit diesen W e r k e n verfolgte. Er wollte den Leser dazu f ü h r e n , auf einem individuellen inneren W e g Gottes verändernde Macht zu erleben, wie er sie selber in seinem b e w e g t e n Leben im Wechsel v o n einem vagen romantischen Gottesglauben zu einem überzeugten Glauben an Gott als seinen Erlöser u n d H e r r n erlebt hatte. D i e Einsicht, dass Biographie wesentlich z u m christlichen Glauben gehört u n d der V e r k ü n d i g u n g dient, ist wegleitend für die n u n folgenden U n t e r s u c h u n gen v o n Autobiographien im R a h m e n der Kirchengeschichte. Biographien dürfen also nicht bloß als »Steinbruch« für die G e w i n n u n g historischer D a t e n u n d Z u s a m m e n h ä n g e dienen, die es n o c h zu verifizieren gilt, sondern müssen als Einheit betrachtet w e r d e n , die ihre inneren Z u s a m m e n h ä n g e u n d ihre Aussage besitzen. Eine Autobiographie soll sozusagen als B i n n e n r a u m betrachtet w e r d e n . N u r dort wird auf Informationen des Autors außerhalb der A u t o biographie oder Dritter zurückgegriffen, w o es für das Verständnis des Autors
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und seiner Welt unumgänglich ist. Es soll grundsätzlich von der Zusammengehörigkeit von Dichtung und Wahrheit ausgegangen werden. Die Subjektivität der Autobiographie als Lebens- und Glaubenszeugnis also, die Mischung von historischem Bericht und fiktiver Darstellung der Lebens- und Glaubenswirklichkeit, ist das Besondere und Ansprechende dieser Literaturgattung, und nicht »historische Objektivität«. Eine kritische Auseinandersetzung muss mit der Autobiographie als ganzer stattfinden. Der Leser wird dabei nicht unmittelbar an das gelebte Leben des Menschen heran geführt 13 , der sein Leben beschreibt, sondern an dessen Lebenssicht in einem bestimmten Lebensmoment. In diese Sicht sind Übernommenes und selbst Erfahrenes eingeflossen. U m präzise die kerygmatische Intention einer Autobiographie beschreiben zu können, soll auf das traditionelle Umfeld autobiographischen Erzählens geachtet werden, in dem der jeweilige Autor sich befindet. An welcher biographischen Literatur orientiert er sich oder gegen welche hebt er sich ab? Ferner werden die theologischen Leitbegriffe, mit Hilfe derer der Autor seinen Lebensgang darstellt und deutet, erhoben und theologisch eingeordnet. Auf die Aussageabsicht einerseits und den dahinter stehenden Zusammenhang von Tradition und Erfahrung wird dabei aus theologisch-kritischer Perspektive geachtet. An alle Beispiele wird die Frage gestellt, inwiefern sie dem Leser Gottes Wirken im Leben des Menschen theologisch sachgemäß als befreiendes, rechtfertigendes und Identität stiftendes Geschehen bezeugen.
13 Dass dies möglich wäre, meinte der neben Georg Misch (siehe unten S. 33) zu Anfang dieses Jahrhunderts für die Autobiographie-Forschung wichtig gewordene Werner MAHRHOLZ, D e u t sche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus, Berlin 1919, 8.
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ERSTER TEIL V O N DEN »FUSTAPFEN DER GÖTTLICHEN FÜRSICHT« DIE LEBENSGESCHICHTE JOHANN HEINRICH JUNG-STILLINGS (1740-1817)
I. Einleitung: Die Lebensgeschichte Johann Heinrich Jung-Stillings / . Die Lebensgeschichte
als das Unternehmen
eines
Lebens
Im Jahre 1777 erschien im Verlag Georg Jacob Decker in Berlin und Leipzig anonym ein Buch, das in den literarischen Kreisen Deutschlands Beachtung und später allgemeine Verbreitung fand: Henrich Stillings Jugend — eine wahrhafte Geschichte. 1 Darin wurde in poetischer Sprache und mit großer Darstellungskraft auf bisher unbekannte Weise die Idylle einer Kindheit auf dem Lande erzählt. Glück und Not, Leben und Tod fügen sich darin derart originell zu einem harmonischen Ganzen, dass die Geschichte des jungen Heinrich auch heute noch unmittelbar zu bewegen vermag. Der literarische Erfolg sollte nicht ohne Auswirkung auf das weitere Leben des Autors bleiben. Der Verfasser, der in Elberfeld praktizierende Arzt Johann Heinrich Jung, fuhr in der Folge fort, die Schicksale und Erfahrungen seiner Jugendzeit und der folgenden Lebensabschnitte in weiteren Buchfolgen zu erzählen. 2 Bis im Jahre 1804 erschienen fünf Teile seiner Lebensgeschichte, die alle einen bestimmten Abschnitt aus Jungs Leben zum Inhalt hatten und aus der Perspektive der jeweils erreichten Position geschrieben waren. Mit zunehmendem Hineinwachsen in die von ihm gesuchte und gefundene Lebensaufgabe wurde die Darstellung seines Lebens unverstellter und nüchterner. War Henrich Stillings Jugend in dichterischem Ton und in romantischverhüllender Weise geschrieben, verzichtete Jung in den Fortsetzungen mehr und mehr auf die literarisch-fiktionale Darstellung seiner Lebenswirklichkeit
1 Hugo BORST, Bücher, die die große und die kleine Welt bewegten. Versuch einer Kulturgeschichte in Erstausgaben von 1749-1899, Stuttgart 1969, XIII, 90. Friedrich Nietzsche zählte die Jugend zusammen mit Werken von Goethe, Lichtenberg, Stifter und Keller zu seiner streng vorgenommenen Auswahl »Schatz der deutschen Prosa«. Friedrich NIETZSCHE, Werke, Band IV/3, hrsg. von Giorgio COLLI und Mazzino MONTINARI. Menschliches, Allzumenschliches II. Der Wanderer und sein Schatten 109, 237. 2 Zur Biographie von Johann Heinrich Jung siehe unten Seite 38. Ferner: Eduard MANGER, Jung-Stilling, Johann Heinrich, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Band 14, Leipzig 1881, 697-704; knapp und präzise Hans-Gerhard WINTER und Markwart MICHLER, Johann Heinrich Jung, genannt Stilling, in: Neue Deutsche Biographie, Band 10, Berlin 1974, 665-667; Rainer VINKE, Jung, Johann Heinrich, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, herausgegeben von Friedrich Wilhelm «AUTZ, Band 3, Herzberg 1992, 843-867; ausführlich Gerhard SCHWINGE, Johann Heinrich Jung-Stilling. Augenarzt, Staatswissenschaftler, religiöser Schriftsteller zwischen Aufklärung und Erweckung, in: Lebensbilder aus Baden-Württemberg, hrsg. von Gerhard TADDEY und Joachim FISCHER, Band 18, Stuttgart 1994, 114-147.
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zugunsten einer für den Leser besser nachvollziehbaren Schilderung der W i r k lichkeit. Sein Leben lieferte also genügend Stoff, u m die einmal angefangene G e schichte weiterzuerzählen. N a c h Abschluss einer bestimmten Lebensperiode entschloss er sich i m m e r wieder neu, sie fortzuschreiben. Jungs Lebensgeschichte ist somit nicht der einmalige Ausdruck der Sicht eines Lebens, s o n dern das Ergebnis eines fortgesetzten N a c h d e n k e n s über das eigene Leben an verschiedenen W e n d e p u n k t e n des Lebens. Für den Leser ist neben der inhaltlichen S p a n n u n g dies das Besondere an dieser Lebensgeschichte, dass er m e h r oder weniger unmittelbar - j e nach d e m , aus welcher zeitlichen Distanz der A u t o r auf den vergangenen Lebensabschnitt zurückschaut - am Lebensgang des H e l d e n teilhat u n d mit i h m n e u e n W e n d u n g e n u n d guten Aussichten entgegensieht. O b w o h l sich die Abfassung v o n Jungs Lebensgeschichte über einen Z e i t r a u m v o n drei J a h r z e h n t e n erstreckte, u n d diese teilweise große Unterschiede in Stil u n d Interpretation aufweist, bildeten die einzelnen Folgen als Heinrich Stillings Lebens=Geschichtei am Schluss ein Ganzes, das die einmalige Geschichte des Aufstieges eines B a u e r n j u n g e n z u m Berater eines Kurfürsten enthält u n d somit als Autobiographie angesprochen w e r d e n kann. J u n g schrieb seine Lebensgeschichte in der dritten Person u n d v e r ö f f e n t lichte alle Folgen a n o n y m , o b w o h l kurze Zeit nach d e m Erscheinen des ersten Bandes herauskam, w e r sich hinter d e m N a m e n H e n r i c h Stilling verbarg. R e i n äußerlich unterschied also J u n g zwischen sich als A u t o r u n d der H a u p t person der Erzählung. 4 Seine erste Absicht war es nicht, die Autobiographie des J o h a n n Heinrich J u n g beziehungsweise die Biographie eines gewissen H e n r i c h Stilling zu schreiben. Er wollte in erster Linie eine packende G e schichte erzählen u n d d e m Unterhaltungsbedürfnis des Lesers R e c h n u n g tragen. 5 D a sie aber gleichwohl seine Lebensgeschichte darstellte, war J u n g v o n Anfang an eng mit der Geschichte des H e n r i c h Stilling verbunden. Zeit seines Lebens identifizierte sich J u n g mit d e m in der Lebensgeschichte geschilderten K n a b e n u n d M a n n Henrich. R e i n äußerlich erkennt m a n dies daran, dass er sich bald den D o p p e l n a m e n Jung-Stilling zulegte. 6 Dieser ist ein Indiz für die zentrale B e d e u t u n g der Jugend u n d der weiteren B ü c h e r der Lebensgeschichte
3 Johann Heinrich JUNG-STILLING, Lebensgeschichte, hrsg. von Gustav Adolf BENRATH. 3. durchgesehene und verbesserte Auflage, Darmstadt 1992, 629. (Im Folgenden abgekürzt LG). Im Laufe der Abfassung seiner Lebensgeschichte änderte der Autor die Schreibweise von Stillings Vornamen von »Henrich« zu »Heinrich«. 4 LEHMANN, Bekennen - Erzählen - Berichten, 134. Siehe auch unten S. 64-66. 5 Briefjung-Stillings an G.J. Decker, 7.11.1777: »... dass dieses Buch mit RomanenHunger gelesen werde«, LG 697. 6 Ebd., IX. - Wir werden im Folgenden auch den in der Literatur allgemein gebrauchten Doppelnamen verwenden. Siehe dazu LG 701.
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für den Autor. Ihr Erfolg hatte, wie gesagt, eine große Rückwirkung auf sein ferneres Leben. Der Erfolg der Jugend, aber aufs Ganze gesehen eher seine geistigen und literarischen Anliegen sowie die materielle Not, waren fur Jung-Stilling Anlass, sich weiter als Schriftsteller zu versuchen. Er war zwar bereits zuvor mit polemischen Schriften gegen einen aufklärerischen Roman des Berliner B u c h händlers und Literaten Friedrich Nicolai in die literarische Öffentlichkeit getreten. 7 Doch erst mit seiner Autobiographie wurde Jung-Stilling Anerkennung zuteil und fand er die literarische Resonanz jenes Kreises des Sturm und Drang, mit dem er seit seiner Studienzeit in Strassburg Verbindung hatte. Seine Autobiographie stand also nicht wie üblich am Ende, sondern am Anfang eines öffentlichen Lebens und sollte Grundlage seines Werkes werden. 8 Als eine neuartige, umfassende und unmittelbar ansprechende Darstellung und Sicht des eigenen Lebens nimmt diese Lebensgeschichte in der Geschichte der Autobiographie einen hervorragenden Platz ein. Innerhalb der autobiographischen, durch Pietismus und Empfindsamkeit angeregten biographischen Literatur ist sie eines der bekanntesten und wirkungsmächtigsten Werke geworden.
2. Exkurs: Die Autobiographie im
18.Jahrhundert
Bunt und vielförmig wie ein Mosaik ist die Tradition autobiographischen Schreibens im Abendland.9 Sie umfasst eine Fülle von literarischen Gattungen wie religiöse Apologie, Bekenntnis, Vision, Memoiren, Bekehrungsgeschichte, Tagebuch usw. Seit dem Spätmittelalter hat sie einen Aufschwung genommen. Dabei scheint die Autobiographik in engem Zusammenhang mit der Enstehung moderner Subjektivität und Individualität zu stehen.10 Während in England und in Frankreich besonders das 17.Jahrhundert eine vielfältige religiöse autobiographische Literatur bzw. eine umfangreiche M e moirenliteratur hervorbrachte — in Memoiren steht vor allem der äußere Lebensgang im Mittelpunkt — erfuhr das autobiographische Schreiben in Deutschland im 18.Jahrhundert im Zusammenhang mit Pietismus und Auf7
R a i n e r VINKE, Jung-Stilling und die Aufklärung. Die polemischen Schriften J o h a n n H e i n -
rich Jung-Stillings gegen Friedrich Nicolai ( 1 7 7 5 / 7 6 ) , Stuttgart 1 9 8 7 , 2 7 . 8
Dazu L G 6 1 3 .
' Siehe G e o r g MISCH, Geschichte
der Autobiographie,
4 Bände,
Frankfurt am
Main
1 9 4 9 / 5 0 — 1 9 6 9 . Georges GUSDOR.F, Lignes de vie, 2 Bände, Les écritures du moi und A u t o - b i o graphie, Paris 1 9 9 1 . BENRATH, Autobiographie, 7 7 2 - 7 8 9 . 1 0 Winfried SCHULZE, E g o - D o k u m e n t e : Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung » E G O - D O K U M E N T E « , in: E g o - D o k u m e n t e . Annäherung an den Menschen in der Geschichte, hrsg. v o n Winfried SCHULZE, Berlin 1 9 9 6 , 17 (Selbstzeugnisse der Neuzeit. Quellen und Darstellungen zur Sozial- und Erfahrungsgeschichte Bd. 2).
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klärung Zunahme, Vertiefung und Ausweitung." Auch außerhalb der Kanäle theologischer und literarischer Publizistik und in sozial tieferen Schichten nahm das autobiographische Schreiben im Umfeld der Familie sowie im Zusammenhang der Frömmigkeitsausübung und des persönlichen Lebens markant zu. 12 Ebenso erfuhr die Zahl autobiographischer Publikationen in der Zeit zwischen 1770 und 1797 eine Steigerung um ca. 400 Prozent. 13 Das autobiographische Schreiben äußerte sich dabei gattungsmäßig in vielerlei Gestalt, wobei es mehr und mehr der Selbstdarstellung zuneigte, die das eigene Leben oder einen Abschnitt dieses Lebens im Rückblick aus einer einheitlichen Perspektive darstellt und deutet. 14 Beispiele dieses Konzepts von Autobiographie im engeren Sinne zeigen besonders deutlich die neu entstandene und für die Moderne wichtige menschliche Subjektivität und Individualität.
Entsprechend der weitreichenden geistesgeschichtlichen Bedeutung der A u tobiographik ist auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit autobiographischen Texten und mit dem Phänomen Autobiographie an sich im deutschsprachigen R a u m weitgefächert. Nachdem sich die literaturwissenschaftliche, literaturgeschichtliche, kulturgeschichtliche, volkskundliche und psychologische Forschung schon längere Zeit mit autobiographischen Texten befasste, hat diese unlängst auch die Geschichtswissenschaft als historische Quellen zu entdecken begonnen. 15 Am umfangreichsten präsentiert sich im deutschsprachigen R a u m jedoch die literaturwissenschaftliche und literaturgeschichtliche Autobiographieforschung fur den Zeitraum des 18.Jahrhunderts. Sie umfasst einerseits zahlreiche Untersuchungen, die um Fragen nach der Entstehung der neuzeitlichen Subjektivität und Individualität kreisen und einen speziellen formalen oder inhaltlichen Aspekt autobiographischer Texte untersuchen, wie z.B. den Prozess der Identitätsfindung des bürgerlichen Individuums, das Verhältnis von autobiographischem Erzählen und literarischer Gestaltung, die Entstehung der Kindheit oder die Vorstellungen von sozialem Aufstieg. 16 11 Wolfgang SPIEWOK, Der deutsche autobiographische Roman des 18. Jahrhunderts, Greifswald 1993, 10.15f. 12 Rolf WINTERMEYER, Adam Bernd et les débuts de l'autobiographie en Allemagne au XVIIIe siècle, Berne 1993, 516. SCHULZE, Ego-Dokumente, 19. Kaspar VON GREYERZ, Deutschschweizerische Selbstzeugnisse (1500-1850) als Quellen der Mentalitätsgeschichte. Bericht über ein Forschungsprojekt, in: Klaus ARNOLD, Sabine SCHMOLINSKY und Urs-Martin ZAHND (Hrsg.), Autobiographien und autobiographische Zeugnisse im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit, erscheint 1998. 13 LEHMANN, Bekennen - Erzählen - Berichten, 92. 14
15
SPIEWOK, a . a . O . , 10.
Siehe SCHULZE, Ego-Dokumente, VON GREYERZ, Deutschschweizerische Selbstzeugnisse. Z.B. Magdalene MAIER-PETERSEN, Der »Fingerzeig Gottes« und die »Zeichen der Zeit«. Pietistische Religiosität auf dem Weg zu bürgerlicher Identitätsfindung, untersucht an Selbstzeugnissen von Spener, Francke und Oetinger, Stuttgart 1984. Sabine GROPPE, Das Ich am Ende des Schreibens. Autobiographisches Erzählen im 18. und 19.Jahrhundert, Würzburg 1990. Elisabeth VOLLERS-SAUER, Prosa des Lebensweges. Literarische Konfigurationen selbstbiographi16
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Andererseits widmet sich die Literaturwissenschaft der eigentlichen Autobiographiegeschichtsschreibung. So zahlreich und im Einzelnen wertvoll ihre Ergebnisse auch sind, ist sie im weitesten Sinne noch idealistisch geprägt und in ihrer Vorgehensweise von teleologischen und entwicklungsorientierten Gesichtspunkten geleitet. Dies engt oft den Blick auf das gesamte Phänomen autobiographischen Schreibens zu sehr auf bestimmte gattungs-, form- und geistesgeschichtliche sowie literaturtheoretische Aspekte ein. Zudem ist sie häufig mit einer Wertung verbunden. Erst in jüngster Zeit ist diese Art von Historiographie verschiedentlich kritisiert worden. 17 W u t h e n o w schreibt seine Geschichte der Autobiographie als Geschichte des Selbstbewusstseins, die für ihn wesentlich im Autonomiestreben des Subjektes besteht. 18 Müller untersucht die Geschichte der Autobiographie auf die Wirksamkeit von Zweckformen (Gelehrtenautobiographie, pietistische Autobiographie) hin und erblickt auf dem Hintergrund eines modernen, heutigen Verständnisses von Individualität und Subjektivität in der Verbindung mit dem R o m a n den Höhepunkt der autobiographischen Gattungsgeschichte. Dabei wird die pietistische Autobiographie lediglich als Vorstufe betrachtet. 19 Für Niggl ist die Geschichte der Autobiographie im 18. Jahrhundert die Geschichte autobiographischer Formen, in denen sich menschliches Selbstbewusstsein ausdrückt. Wie die meisten der genannten Literaturhistoriker erblickt er dabei den Höhepunkt der Gattungs- und Formentwicklung in Goethes Dichtung und Wahrheit. An der Entwicklung der pietistischen Autobiographie vor allem will er die These von deren zunehmender Säkularisierung erhärten. 20 Neuere Ansätze im französischsprachigen R a u m gehen mehr vom einzelnen autobiographischen Text in seiner historischen Situation aus. Sie schreiben die Geschichte der Autobiographie stärker deskriptiv von der traditionsgeschichtlichen Bedingtheit der einzelnen Texte her und beanspruchen diese nicht so sehr fur eine umfassende Theoriebildung sowie für einen Entwicklungsgedanken. Über rein textbezogene Fragen nach der Form, Gattung und
sehen Erzählens am Ende des 18. und 19.Jahrhunderts, Stuttgart 1993. Anita MESCHENDÖRFER, Bürgerliche Kindheit im Deutschland des 18. Jahrhunderts anhand autobiographischer Zeugnisse, Frankfurt am Main, 1991. Hans ESSELBORN, Geschriebene Individualität und Karriere in der Autobiographie des 18. Jahrhunderts, in: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre 46 (1996), Heft 2, 193-210. 17
MAIER-PETERSEN, D e r »Fingerzeig Gottes«, 4 6 3 - 4 7 9 . WINTERMEYER, A d a m B e r n d et les
débuts de l'autobiographie, 17. Völlers-Sauer spricht diesbezüglich von »Fabeln der Literaturgeschichte«, VOLLERS-SAUER, Prosa des Lebensweges, 124-131. 18 Ralph Rainer WUTHENOW, Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert, München 1974, 10. 211f. " Klaus-Detlef MÜLLER, Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Studien zur deutschen Literatur, Band 46, Tübingen 1976. 20 Günter NIGGL, Die Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung, Stuttgart, 1977. DERS., Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert, in: DERS. (Hrsg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, 367-391.
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Struktur autobiographischer Texte hinaus interessiert den französischen Ideenhistoriker Gusdorf, »welches die Absicht des Verfassers eines autobiographischen Textes ist, aus welcher U n r u h e er dazu getrieben wurde, sich selber zu erforschen u n d zu analysieren, welches der Sinn dieser Selbsterforschung ist, die als das Wagnis des Lebens betrieben wird«; ihn interessiert »die Befreiung u n d R e t t u n g eines Individuums, das der U n r u h e des Lebens ausgesetzt ist«.21 A u c h w e n n diese Fragen nicht den Text, sondern den Autor betreffen u n d deshalb letztlich unbeantwortet bleiben müssen, k ö n n e n sie dennoch dazu verhelfen, u n v o r e i n g e n o m m e n dem Text zu begegnen, der vorgibt, wir k ö n n ten d e m Autor und seiner individuellen Wahrheit tatsächlich nahekommen. 2 2 Im Anschluss an Gusdorf weist Wintermeyer ferner d a r a u f h i n , dass in autobiographischen Texten Neues dadurch entsteht, dass alte literarische Gattungen sowie Traditionen - oder bloß Elemente davon - absichtlich oder unabsichtlich in n e u e m Kontext verwendet, erweitert, neu u n d unerwartet interpretiert, bewertet und mit einem n e u e m Z w e c k versehen werden. 2 3 Die Botschaft von Autobiographien liege darin, dass sie Werte oder Sinnkonzepte anböten, die es zu glauben gelte, worin sie der Predigt u n d dem pädagogischen Vorbild nahekämen. 2 4 Insgesamt sieht Wintermeyer in der Autobiographie eines der »Labors« des M o d e r n e n , der Aufklärung, des Individualismus sowie des Autonomiestrebens des Subjektes. In ihr u n d durch sie habe der Mensch - Wintermeyer führt u. a. Ulrich Bräker als Beispiel an - eine Bewusstwerdung erleben sowie zu seiner Individualität u n d einem veränderten politischen und rechtlichen Status finden können. 2 5
Aufgrund des oben Gesagten soll im Folgenden nicht die Geschichte der Autobiographie im 18. Jahrhundert umrissen, sondern bloß grob skizziert w e r den, welche Gruppen und Typen von autobiographischen Texten sich ausmachen lassen. Von grundlegender Bedeutung fur die Gestaltung autobiographischer Texte im 18. Jahrhundert w u r d e die religiöse Konfession oder Bekehrungsgeschichte. Im Pietismus ist diese neu aufgegriffen und durch August H e r m a n n Francke in seinem Lebenslauf (1690/91) 2 6 »in eine gedrängte, dramatische Form (Sündenerkenntnis, Glaubenszweifel, Bußkampf, Durchbruch, Glaubensgewissheit)« 27 gebracht worden. Vielen späteren pietistischen Autobiographien und Biographien, z.B. den in J o h a n n Heinrich Reitz' Historie der Wiedergebohrenen 21 GUSDORF, Lignes de vie, Band 1 Les écritures du moi, 79 (zitiert bei WINTERMEYER, Adam Bernd et les débuts de l'autobiographie, 5). 22 WINTERMEYER, Adam Bernd et les débuts de l'autobiographie, 516. " Ebd., 5 1 7 . 24 Ebd., 519. 25 Ebd., 512f. 26 August Hermann FRANCKE, Werke in Auswahl, herausgegeben von Erhard PESCHKE, Berlin
1969, 5 - 2 9 . 27
28
NIGGL, Die Geschichte der deutschen Autobiographie, 94.
enthaltenen Biographien, hat dieser Typus von Autobiographie als Vorlage gedient. Dabei wurde das Franckesche Bekehrungsschema als Interpretationshilfe für die eigene Erweckungsgeschichte benutzt. 28 Die auf Francke zurückgehende pietistische Bekehrungsgeschichte stellt also sozusagen den »Urtypus« pietistischer Autobiographie dar, der sich durch alle Zeiten, vor allem im engeren R a u m der christlichen Gemeinde 2 9 , durchgehalten hat. Gleichzeitig wirkte sie, zusammen mit anderen autobiographischen Gattungen, auf eine große Zahl verschiedenster Formen autobiographischen Schreibens ein oder prägte diese um. Eigentlich schon von Anfang an, vor allem aber ab der Mitte des 18.Jahrhunderts, beschränkten sich viele Bekehrungsgeschichten zunehmend nicht nur auf die Schilderung des Bekehrungsvorganges. Auch die »Vorgeschichte« wurde wichtig, insofern in ihr die Führung Gottes ersichtlich wurde und die Bekehrung vorbereitete. 30 Auch wenn die Schilderung des Lebenslaufs vor der Bekehrung vor allem der Selbstanklage, dem Bekenntnis der eigenen Sündhaftigkeit und dem Lobpreis des gnädigen Erbarmens Gottes diente, bot sich in den Autobiographien R a u m für Berichte über den Werdegang, die Familie, die Stellung im Beruf und für psychologische Selbstbeobachtung. 31 Gattungs- und formgeschichdich betrachtet zeigt sich hier der Einfluss der Tradition der Gelehrtenautobiographie 32 , wie sie schon früher, ζ. B. in der französischen Memoirenliteratur, lebendig war. Ein spätes und im Hinblick auf die im dritten Teil folgende Untersuchung von Ami Bosts Mémoires besonders interessantes Beispiel für diesen Typus von Autobiographie ist der Lebenslauf des Herrnhuter Bischofs August Spangenberg (1784). 33 Dieser stellt eine ausführliche Schilderung seiner beruflichen Tätigkeit dar. Diese Berufsgeschichte wird zunehmend zur normativen Geschichte der Brüdergemeine aus der Sicht des Oberen. Die Schilderung der Erweckung stellt dabei nur den Ausgangspunkt der ausgedehnten Berufsautobiographie Spangenbergs dar. In ähnlicher Weise präsentieren sich während des ganzen 18.Jahrhunderts viele pietistischen Autobiographien. 34 An die Stelle eines Bußkampferlebnisses tritt die meistens kurze Schilderung einer Entscheidung für Gott, die als
Vgl. NIGGL, Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie, 369. Ebd., 383. 3 0 NIGGL, Die Geschichte der deutschen Autobiographie, 9. Vgl. dazu Johann Georg HAMANN, Gedanken über meinen Lebenslauf, in: Londoner Schriften, hrsg. von Oswald BAYER und Bernd WEISSENBORN, München 1993, 313-349. 31 Irina MODROW, Religiöse Erweckung und Selbstreflexion. Überlegungen zu den Lebensläufen Herrnhuter Schwestern als Beispiel pietistischer Selbstdarstellungen, in: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, hrsg. von Winfried SCHULZE, Berlin 1996, 127 f. 32 NIGGL, Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie, 371 f. 3 3 Hierzu und zum Folgenden ebd., 373-75. 34 Beispiele dafür sind die Lebensgeschichten von Johanna Eleonora Petersen (1689), Joachim Lange (1720/44) und Friedrich Christoph Oetinger (1762/72). Siehe NIGGL, a.a.O., 375-381. 28
29
29
Konsequenz des schon seit frühester Kindheit geführten weitabgewandten Lebens dargestellt wird. Im Mittelpunkt der Autobiographie steht das Leben eines Gerechten, der von der Welt verfolgt und durch die göttliche Vorsehung geführt wird. Oftmals sind solche Autobiographien von einem Entwicklungsgedanken geprägt, der auf einen ständigen Zuwachs an religiöser Erkenntnis bezogen ist.35 Zudem weisen sie oft ein ausgeprägtes Motiv der positiven — bisweilen selbstherrlichen - Selbstdarstellung auf. Tragen solche Autobiographien gleichzeitig Züge von Gelehrtenautobiographien, sind sie meistens entsprechend apologetisch orientiert. Von letzterem Typus pietistischer Autobiographie ist Johann Heinrich Jung-Stillings Lebensgeschichte stark geprägt. Sie weist jedoch gleichzeitig auch Züge der halleschen Bekehrungsgeschichte auf. Als literarische Autobiographie gehört sie zudem einer dritten Gruppe von Autobiographien an, die stark den Gedanken einer individuellen Lebenssicht und die Idee eines aus sich selbst heraus verständlichen Lebensganges in den Vordergrund stellt. Ansätze für eine säkularisiertere Form von Autobiographien stellen die oben erwähnten Möglichkeiten zur Erweiterung des Themenkreises und zur Selbstdarstellung in der pietistischen Autobiographie dar.36 Der Anstoß dazu, in Autobiographien an die Stelle des Motivs der religiösen Belehrung und Erbauung das Motiv der Selbstdarstellung und Selbstbestätigung zu setzen, lag in der Zunahme des individuellen Selbstbewusstseins, die sich im Laufe des 18.Jahrhunderts allgemein beobachten lässt. Durch die geistigen Umwälzungen der Aufklärung, der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang kam im Laufe des Jahrhunderts zu allgemeinerem B e wusstsein, dass das Leben eines Menschen an sich es wert wäre, aufgeschrieben und nacherzählt zu werden. Herder betonte die Individualität jeder Menschenseele.37 Und Rousseaus 1782 erschienene Confessions waren nicht nur ein Ausdruck dieser neuen Sicht, sondern ein literarisches Bekenntnis dazu, »dass diese Individualität . . . . nur durch Selbstdarstellung erfasst werden könne«.38 Bei Rousseau war es nicht mehr der göttliche Anspruch auf Beurteilung des menschlichen Lebens 39 , was zum Verfassen einer Lebensgeschichte anregte, sondern die Selbstdarstellung diente der Rechenschaftsabgabe vor dem eigenen Ich. So schrieb Rousseau am Anfang seiner Bekenntnisse: »Die Posaune des Jüngsten Gerichts mag erschallen, wann immer sie will, ich werde vor den höchsten Richter treten, dies Buch in der Hand, und laut werde ich sprechen: >Hier ist, was ich geschaffen, was ich gedacht, was ich gewesene« 40
MODROW, Religiöse Erweckung und Selbstreflexion, 128. Hierzu und zum Folgenden, NIGGL, Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie, 3 8 3 f. 3 7 NIGGL, Die Geschichte der deutschen Autobiographie, 48. 35
36
38 39 40
30
Ebd., 51. LEHMANN, Bekennen - Erzählen - Berichten, 119. Jean-Jacques ROUSSEAU, Bekenntnisse, Leipzig 1965, 37.
Die Einzigartigkeit der sich präsentierenden Person beruhte also nicht allein auf dem, was sie erlebt und gelebt hatte, sondern vor allem auf der Einzigartigkeit der autobiographischen Handlung. »Die Autobiographie setzt die Maßstäbe des Urteilens und bestreitet die Erkenntnisansprüche anderer in B e z u g auf die Person des Autobiographen.« 4 1 Das »transzendente Gottesgericht« wurde zum »literarischen Selbstgericht«. 42 Selbstverständlich erfuhr diese Entwicklung bei Rousseau eine Zuspitzung und stellte im Bereich der v o m Pietismus herkommenden, säkularisierten Autobiographie einen speziellen Fall dar. D o c h lassen sich in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts auch in den immer noch dem Pietismus zuzurechnenden Autobiographien Z ü g e dieser neueren, aufgeklärten Sichtweise feststellen, auch in Jung-Stillings Lebengsgeschichte. Der Schwerpunkt der Autobiographien verschob sich somit v o m Bekennen, wie es nicht nur in den religiösen Bekehrungsgeschichten, sondern auch in den Gelehrtenautobiographien vorherrschte, zum Erzählen. Das gesamte Leben erhielt mehr und mehr einen Wert an sich und wurde erzählt. Mit diesem literarischen Konzept war die Ausweitung des Adressatenkreises von einer religiösen oder gelehrten zu einer allgemein literarisch interessierten Öffentlichkeit verbunden. 4 3 Im Z u g e der durch Empfindsamkeit und Sturm und Drang geschehenen Z u w e n d u n g zum Leben als solchem und im Z u g e des dadurch gestiegenen Interesses am Innern des Menschen konnte auch ein Bewusstsein für den besonderen Wert der Autobiographie entstehen. Indem man sich dem M e n schen widmete, wandte man sich auch den Mitteln zu, die einen ihm näherbrachten, wie eben Lebensbilder, Tagebücher etc. Kennzeichnend für dieses Gattungsbewusstsein ist, dass der Begriff Autobiographie gegen Ende des 18.Jahrhunderts geprägt wurde 4 4 und dass Herder 1770 das Sammeln autobiographischer Texte anregte. 45 Mit der Verselbständigung und Ausbreitung der literarischen Autobiographie blieb im 19.Jahrhundert in Deutschland die christlich-pietistische Autobiographie zunehmend auf kleiner werdende Kreise beschränkt. Z u diesen
4 1 LEHMANN, Bekennen - Erzählen - Berichten, 121 f. - Auch Jung-Stilling vertrat diese Ansicht, wenn auch mit einer biblischen Begründung, als er sich gegen die negative Kritik eines Rezensenten verteidigte (1779): »Sie haben also nicht mein Buch, sondern mein Leben und Handlungen beurtheilt, darauf muss ich ihnen aber sagen, dass wir Menschen unter einander uns nicht richten sollen, damit wir nicht gerichtet werden. Wir haben alle unsere Schwachheiten. Es war also nicht nach der R e g e l Christi gehandelt, sich vor das Volk hinzustellen, und öffentlich in einer gedruckten Schrift zu sagen: Stilling hat's da und dort nicht recht g e m a c h t . . . « LG 658. 4 2 Hans BLUMENBERG, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main 1966, 67. 43
LEHMANN, a . a . O . ,
44
BENRATH, A u t o b i o r a p h i e , 7 7 2 .
119.
45
NIGGL, Geschichte der deutschen Autobiographie, 54.
31
gehörten vor allem von der Erweckung berührte Literaten und Gelehrte, wie zum Beispiel Johann Arnold Kanne. 46
3. Die
Forschungsgeschichte
Sowohl in formaler wie inhaltlicher Hinsicht bietet Jung-Stillings mehrteilige Lebensgeschichte Neues und Originelles, was ihr bis heute einen Platz in der Geistes- und Literaturgeschichte sichert. Entsprechend ihrem inhaltlichen und formalen Reichtum sind die Zugänge zu ihr vielfältig. So ist sie zu R e c h t als psychologisches, pädagogisches, sozial- und geistesgeschichtliches sowie vor allem literaturgeschichtliches Dokument gelesen worden. 47 Die theologischen Inhalte der Autobiographie, die naturgemäß weniger im Mittelpunkt des breiten Interesses stehen, stoßen dabei weitgehend auf Unverständnis bis Ablehnung. So ist es insbesondere der erste Band der Lebensgeschichte, in dem theologische T ö n e seltener sind, der die Aufmerksamkeit vor allem der Literaturwissenschaftler auf sich zieht. Die Autobiographie als ganze erfährt zwar verschiedentlich eine differenzierte Untersuchung 48 , ihre Intention findet j e doch kaum Wertschätzung. A. Ritsehl sieht Jung-Stilling in der Rolle des Propheten. Er meint, JungStilling betrachte seinen Vorsehungsglauben als eine spezielle Auszeichnung seiner Person und ihres außergewöhnlichen Verhältnisses zu Gott. 49 Entsprechend beurteilt er Jung-Stillings Lebensgeschichte als eine »sehr tendenziöse Urkunde seiner persönlichen Uberzeugung«. Er dränge jedermann die Einsicht auf, dass Gott in seinem konkreten Lebensgang am Werke sei und ihn ohne sein Mitwirken zu seiner endgültigen Bestimmung als religiöser Schriftsteller geführt habe. 50 Ritsehl gesteht also Jung-Stillings Lebensgeschichte kaum eine über die Person und das Leben des Autors hinausführende Bedeutung zu und lehnt seine Glaubenshaltung größtenteils ab. Einzig darin pflichtet er ihm bei, dass die Wahrheit des christlichen Glaubens sich in der Erfahrung dessen erweise, der den Willen Gottes tue. 51 46
BENRATH, A u t o b i o g r a p h i e , 7 8 3 f.
47
Einen umfassenden Forschungsüberblick der letzten dreißig Jahre liefert Rainer VINKE, Jung-Stilling-Forschung seit 1963, in: Theologische Rundschau, Band 48 (1983), 156-186. 254-272. - Jung-Stilling-Forschung von 1983-1990, in: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus, Band 17, Göttingen 1991, 178-228. Siehe auch Klaus PFEIFER, Jung-Stilling-Bibliographie, Siegen 1993 (Schriften der J.-G.-Herder-Bibliothek Siegerland 28). 48
Z u m Beispiel, NIGGL, D i e Geschichte der deutschen Autobiographie, 7 2 - 7 5 . - WUTHENOW,
Das erinnerte Ich, 81-91. - Dieter GUTZEN, Johann Heinrich Jung-Stilling, in: Benno VON WIESE (Hrsg.), Deutsche Dichter des 18.Jahrhunderts - Ihr Leben und Werk, Berlin 1977, 446-461. 49 Albrecht RITSCHL, Geschichte des Pietismus in der reformirten Kirche, Bonn 1880, 528. 50 Ebd., 526f. 51 Ebd., 531.
32
G. Misch, der Nestor der Geschichtsschreibung der Autobiographie, bezeichnet die Jugend als anmutig, wertet dann jedoch den Zug der Lebensgeschichte ins Individuelle negativ. Sie sei ein Dokument einer unglaubwürdigen und unwahrhaftigen Art von Selbstgefühl, einer Mischung von christlicher Demut und Selbstzufriedenheit, die von passiver und schwächlicher Haltung zeuge. 52 Er betrachtet die Autobiographie als direkten Reflex der tatsächlichen religiösen, denkerischen und charakterlichen Verhältnisse der schreibenden Persönlichkeit und nimmt die Zwänge der traditions- und gattungsgeschichtlichen Zusammenhänge zu wenig zur Kenntnis, in denen der Schreibende bisweilen stand und derer er sich nicht stets bewusst war. Ausgehend von einem bestimmten Persönlichkeitsbild und einem teleologisch orientierten Verständnis der Gattungsgeschichte 53 findet sich in der Misch folgenden Forschung härteste Kritik der Persönlichkeit Jung-Stillings neben höchstem Lob für seine literarische Leistung. G. Stecher kommt in seiner Untersuchung über Jung-Stilling als Schriftsteller zum Schluss, dass seine Autobiographie dem Pietisten, der durch die Disparität hindurch gewisse Linien festhält, zur persönlichen Erbauung dienen könne. Für den Historiker stelle sie zwar ein zeit- und kulturgeschichtliches D o k u m e n t dar, doch gehöre sie einem bereits überholten Gattungstypus an und sei für die weitere Gattungsgeschichte der Autobiographie von keinerlei Bedeutung gewesen. 54 Im Anschluss an Misch beschränkt sich H. Günther darauf, Jung-Stillings Lebensbeschreibung als »Zeugnis des Sichselbstverstehens der Gesamtpersönlichkeit« zu erfassen.55 Er verwendet sie im R a h m e n seiner psychologischen Analyse als Material für die Darstellung der religiösen Persönlichkeit Jung-Stillings. R . Pascal, für den Autobiographie ein Kunstwerk bildet, das eine Lebensgeschichte als Wechselwirkung zwischen Mensch und Welt darstellt, hält Jung-Stillings Lebensgeschichte für eine bedeutende, gattungsbildende Autobiographie. 56 Für Pascal will sie primär gelebtes Leben erzählen. Dass sie »auch von göttlichen Eingebungen und göttlicher Führung erzählen« wolle, betrachtet er gleichsam als Überbleibsel der pietistischen Tradition, der sie teilweise zugehöre. 57
52
Georg MISCH, Geschichte der Autobiographie, Band 4, 2. Hälfte, Frankfurt am Main 1969,
811. 53 Siehe dazu GROPPE, Das Ich am Ende des Schreibens, 1—4. Groppe kritisiert die einseitig auf eine literarische N o r m (Johann Wolfgang Goethes Dichtung und Wahrheit) ausgerichtete bisherige Geschichtsschreibung der Autobiographie. 54 Gotthilf STECHER, Jung-Stilling als Schriftsteller. Palaestra C X X , Berlin 1913. N a c h d r u c k N e w York u n d London 1967, 121. 55 Hans R . - G . GÜNTHER, Jung-Stilling. Ein Beitrag zur Psychologie des Pietismus, 2. Auflage, M ü n c h e n 1948, 66. 56
PASCAL, D i e A u t o b i o g r a p h i e , 5 2 .
57
Ebd., 51.
33
G. Niggl erwähnt das in Jung-Stillings Autobiographie feststellbare Individualbewusstsein positiv, das auch schon seine verschiedenen Lebensepochen in ihrer Eigenart wahrnehme. Über die Autobiographie insgesamt urteilt er jedoch negativ. Diese sei zu einem pseudotheologischen Mittel der Selbstbestätigung erstarrt. 58 A. Willert sieht die Aufgabe von Jung-Stillings Autobiographie primär in der persönlichen Selbstvergewisserung und Identitätsfindung des Autors. Sind diese gelungen und haben sich im formalen Aufbau der Autobiographie niedergeschlagen, gesteht er ihr darüber hinaus einen didaktischen Aspekt zu: nämlich »dass das Erworbene vorgestellt wird, um für die Leser das vom Autor Erlebte zum Exempel werden zu lassen«.59 K.-D. Müller erkennt die ästhetische und zugleich erbauliche Intention der Jugend. D e n n o c h beschränkt sich seine Interpretation der Autobiographie ebenfalls auf eine individualistische Deutung. Er sieht ihren Ursprung in einem Rollenspiel, das die Unsicherheit einer äußerst gefährdeten Existenz durch objektivierende Deutung zu überspielen versuchte und dafür die Bestätigung eines Publikums suchte. 60 Weil Müller das Individuelle der Autobiographie vor ihre missionarische Intention stellt und zu wenig erkennt, dass Jung-Stilling mit einer bestimmten Absicht seine Lebensgeschichte schrieb, kommt er zu vernichtenden Äußerungen über den Inhalt der Autobiographie. 61 Weiterfuhrende Sichtweisen vertreten R . Görisch und M. Neubauer. G ö risch stellt fest, dass eine Literaturgeschichtsschreibung, die ihren Gegenständen über geistesgeschichtliche Relevanz hinaus ästhetische Qualitäten abverlange, Jung-Stillings missionarisch-erbaulichem Schrifttum nicht gerecht werde, und indem er eine historisch bewusstere Berücksichtigung der Bedeutung Jung-Stillings fur seine Zeit fordert, weist er auf die inhaltlich-religiöse D i mension der Lebensgeschichte hin. 62 Martin Neubauer erkennt in Jung-Stillings Lebensgeschichte eine appellative Grundfunktion und stellt fest, »dass der Autor sein Werk nicht als memoirenhaften Einblick in persönliche Details seines Lebens verstanden wissen will, sondern als beispielhafte Darlegung eines von höherer Macht gelenkten und geordneten Schicksals, aus der sich der Leser die erbauliche Konsequenz fur sich selbst herausdestillieren muss.«63 58
NIGGL, Geschichte der deutschen Autobiographie, 75. Albrecht WILLERT, Religiöse Existenz und literarische Produktion. Jung-Stillings Autobiographie und seine frühen Romane, Frankfurt am Main 1982, 11. 60 MÜLLER, Autobiographie und Roman, 130 f. 61 Ebd., zum Beispiel S. 140f. 62 Reinhard GÖRISCH, Jung-Stilling aus literaturgeschichtlicher Sicht, in: H.-G. KRÜSSELBERG und W. LÜCK (Hrsg.), Jung-Stillings Welt. Das Lebenswerk eines Universalgelehrten in interdisziplinärer Perspektive, Krefeld 1992, 182.187 passim. 63 Martin NEUBAUER, Indikation und Katalyse. Funktionsanalytische Studien zum Lesen in der deutschen Literatur des ausgehenden 18.Jahrhunderts, Stuttgart 1991, 262 f. Während es N e u bauer im Speziellen um die Funktion der Darstellung des Lesens in der Literatur geht, soll hier auf theologiegeschichtlichem Hintergrund explizit nach der Absicht des Autors gefragt werden. Siehe unten S. 36 f. 59
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Abschließend kann gesagt werden, dass sich vor allem die Literaturwissenschaft — die beiden letztgenannten Positionen sind Ausnahmen - schwer tut mit dem Gedanken, dass es dem Autor einer Autobiographie noch um etwas anderes als u m eine wie auch immer konzipierte Selbstdarstellung hätte gehen können. Der eigenen Fragestellung gemäss werden den formalen, literarischen und psychologischen Aspekten mehr Beachtung geschenkt als der theologischreligiösen Dimension der Autobiographie. Diese wird höchstens diffus als »Erbaulichkeit« wahrgenommen. Form - sie wird stets mit grossem Lob bedacht - und religiöser Inhalt — er wird meistens stark kritisiert — werden zu wenig in ihrem Verhältnis zueinander gesehen. 64 Dabei zeigt sich die religiöse Dimension in den meisten Autobiographien dieser Zeit. Sie ist in Jung-Stillings Lebensgeschichte nicht ein Relikt früherer Denk- und Deutungskategorien, sondern fester Bestandteil der Autobiographie, die in der Tradition verwurzelt ist. So unterschiedlich sich diese Autobiographie in ihren Teilen präsentiert, gehört sie einer Tradition des Erzählens der eigenen Lebensgeschichte an, die diese mehr oder weniger stark unter dem Aspekt des Glaubens reflektiert und darstellt. Seitens der Kirchengeschichte hat dies insbesondere H. Schneider erkannt und daraufhingewiesen, dass Jung-Stillings Lebensgeschichte die Gattung und die Intentionen der pietistischen Biographie fortsetze. 65 Schneider ortet darin den Grundzug seiner Frömmigkeit und sieht auch Jungs Denken stark davon geprägt. 66 G . A. Benrath und R . Vinke heben ebenfalls die Absicht von J u n g Stillings Lebensgeschichte hervor, fur einen persönlichen Glauben zu werben beziehungsweise damit zu missionieren. 67 Sie messen ihr und ihrer Verwurzelung in der biographischen Tradition j e d o c h geringere Bedeutung fur das Gesamtverständnis Jung-Stillings bei, wenn sie sein Denken und seine Frömmigkeit stärker zwischen den Polen Pietismus und Aufklärung verorten. B e n rath und vor allem O . W. Hahn 6 8 sehen seinen Lebens- und D e n k w e g von der Hinwendung und Abkehr von einer sogenannten »frommen Aufklärung« bestimmt. Vinke betont die Konstanz pietistischen Gedankenguts. Beide Sichtweisen verkennen jedoch, dass in Deutschland Pietismus und Aufklärung sich bedingt, gegenseitig beeinflusst haben und deshalb näher zusammengehören, als gemeinhin angenommen wird. 6 9 Entsprechend versuchen sie J u n g -
Reinhard GÖRISCH, Jung-Stilling aus literaturgeschichtlicher Sicht, 182,187 passim. Hans SCHNEIDER, Jung-Stilling aus der Sicht der Theologie, in: KRÜSSELBERG, Jung-Stillings Welt, 202. 6 6 Ebd., 203 f. " Gustav Adolf BENRATH, Einleitung zu J.-Hch. Jung-Stillings Lebensgeschichte, Darmstadt 1992, X ; DERS, Jung-Stillings Frömmigkeit, in: Michael FROST (Hrsg.), Blicke auf Jung-Stilling, Kreuztal 1991, 99. - VINKE, Jung-Stilling und die Aufklärung, 23. 6 8 Otto W. HAHN, Jung-Stilling zwischen Pietismus und Aufklärung. Sein Leben und sein literarisches Werk 1778-1787, Frankfurt am Main 1988. " Z u m Verhältnis von Aufklärung und Pietismus siehe Klaus SCHOLDER, Grundzüge der theologischen Aufklärung in Deutschland, in: H. LIEBING (Hrsg.), Geist und Geschichte der Reformation, Festschrift für H. Rückert, Berlin 1966, 484-486. 64
65
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Stilling in die scheinbaren Alternativen einzuordnen und werden so seiner Eigenart als religiöser Schriftsteller nicht gerecht, der in gewisser Weise über philosophisch-theologischen Schulen steht. H. Thiersch weist in einem kurzen Essay in die Richtung, die hier nun eingeschlagen werden soll. Er kommt zum Schluss, dass die Lebensgeschichte Jung-Stillings in erster Linie vor dem Hintergrund wahrgenommen werden muss, dass sie in der Tradition einer alten Lebenserfahrung, nämlich der Heiligen- und Zeugnisgeschichten im altchristlichen Lebensverständnis, stehe. Leben werde darin als Zeichen und Zeugnis verstanden.70 Ebenfalls in diese Richtung hat schon W. Liitgert gewiesen, der schrieb, Jung-Stillings Lebensgeschichte solle fur den Autor wie fur andere Menschen ein Beweis der Vorsehung Gottes sein.71
4.
Fragestellung
Auf das traditionsgeschichtliche Umfeld autobiographischen Erzählens wird vor allem geachtet, wenn die theologisch-religiöse Seite der Lebensgeschichte Jung-Stillings im Mittelpunkt des Interesses stehen soll. Denn indem der Autor sein Leben unter dem seine Lebenszeit und Person übergreifenden Aspekt des Glaubens und der Tradition bedenkt, verbindet er ein explizit religiöses Anliegen mit der Darstellung seiner Lebensgeschichte. Nach dieser religiös-theologischen Intention der Autobiographie soll im Folgenden gefragt werden. Die formale Vielgestaltigkeit der Autobiographie darf nicht zum vorneherein vermuten lassen, sie entbehre eines einheitlichen Gestaltungs- und Aussagewillens. Dass Jung-Stilling über die verschiedenen Teile hinweg eine bestimmte Intention verfolgte, wird demjenigen klar, der trotz der formalen Unterschiede den Gehalt nicht aus den Augen verliert und auch die Aussagen des Autors außerhalb der Lebensgeschichte zur Kenntnis nimmt. 72 Wie sich diese Intention in den verschiedenen Teilen darstellt73 und ob sich am Ende eine Gesamtintention ergibt, soll hier untersucht werden. Wichtig dabei ist, jeden Teil auf seine spezifische Intention zu untersuchen, dabei die formale Gestalt wahrzunehmen und die jeweilige Entstehungssituation zu beachten. Dann erst kann ein Urteil über die ganze Lebensgeschichte abgegeben werden. 70
Hans THIERSCH, Der Aufstieg und die europäische Karriere. Heinrich Jung-Stillings Heinrich Stillings lieben, in: Walter JENS und Hans THIERSCH, Deutsche Lebensläufe in Autobiographien und Briefen, Frankfurt am Main 1991, 50. 71 Wilhelm LÜTGERT, Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende. 2. Teil: Idealismus und Erweckungsbewegung im K a m p f u n d im Bund, Gütersloh 1923, 56. 72 Diese hat Gustav Adolf BENRATH im Anhang seiner Ausgabe der Lebensgeschichte übersichtlich und nahezu vollständig zusammengestellt: LG, 647-703. 73 Eine solche Untersuchung fordert R . VINKE, Jung-Stilling-Forschung von 1983-1990, 193.
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Im Folgenden soll betrachtet werden, wie der Autor sich und sein Leben zu dem jeweiligen Zeitpunkt des Schreibens wahrnahm, welche Anliegen er hatte und wann er unter dem theologisch bedingten Druck zur lebensgeschichtlichen Kontinuität Ereignisse im Rückblick anders deutete. Im Z e n trum stehen dabei als Informationsquellen Jung-Stillings Autobiographie sowie — falls in direktem Bezug zu dieser stehend — seine übrigen Schriften. Grundsätzlich soll dabei von der Zusammengehörigkeit von Dichtung und Wahrheit ausgegangen werden. 74 Es kann hier also nicht darum gehen, die Darstellung des geschilderten Lebenslaufes zu verifizieren beziehungsweise zu falsifizieren. 75
74 So auch BENRATH, LG, Einleitung, XI. - VINKE, Jung-Stilling und die Aufklärung, 24, plädiert dagegen für die Scheidung von Dichtung u n d Wahrheit und versucht, den möglichst objektiven Verlauf der Lebensgeschichte Jung-Stillings darzustellen. Dadurch erhält seine D a r stellung leider oft einen negativ gefärbten Unterton. Vgl. dazu auch Hans GLAGAU, Das r o m a n hafte Element der m o d e r n e n Selbstbiographie im Urteil des Historikers, in: Günter NIGGL (Hrsg.), Die Autobiographie. Z u Form u n d Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, 55—71. — Jung-Stilling selber gesteht auch d e m Fiktiven einen Wahrheitsgehalt zu, w e n n er in Bezug auf seinen ersten R o m a n Die Geschichte des Herrn von Mergenthau schreibt: »... die Geschichte ist Dichtung, interessante Dichtung, das Detail aber lauter ächte Menschen N a t u r u n d Wahrheit«. LG, 699. — U n d seinem letzten R o m a n Theobald oder die Schwärmer fügte er den Untertitel Eine wahre Geschichte bei. R e i n h a r d GÖRISCH, Jung-Stilling aus literaturgeschichtlicher Sicht, 175. 75 Siehe auch oben S. 18 f.
37
II. Der Autor und seine Welt Í. Herkunft und geistig-religiöser Hintergrund a) Herkunft und religiöse Tradition Johann Heinrich Jung-Stilling wurde am 12. September 1740 im Dörfchen Grund bei Hilchenbach im Siegerland geboren. Er entstammte einer eingesessenen, einfachen, jedoch keineswegs armen Familie. Sein Vater war Schneider und Schullehrer. Sein Großvater besaß einen kleinen Bauernhof und übte daneben das Köhlerhandwerk aus. Im ländlichen und dörflichen Milieu verbrachte Jung-Stilling seine Kindheit und Jugend. Die nassauischen Gebiete nördlich der Lahn gehörten dem reformierten Bekenntnis an. 76 Die Nähe zum pietistisch-separatistisch geprägten Niederrhein übte jedoch einen Einfluss auf das Siegerland aus.77 Ferner brachte die Nachbarschaft zu den beiden Grafschaften Sayn-Wittgenstein die Heimat Jung-Stillings in Kontakt mit verschienenen Formen des Pietismus. Diese Gebiete waren lange Zeit Zufluchtsort fur kirchlich Verfolgte. Das nördlich von Wiesbaden gelegene nassauische Residenzstädtchen Idstein war schon früh unter den Einfluss von August Hermann Francke gekommen. Und das kleine Fürstentum Sayn-Wittgenstein-Berleburg war für den radikalen Pietismus und seine an anderen Orten verbotene Bücherproduktion von großer Bedeutung. 78 Schließlich war in jener Gegend der Glaube der Orthodoxie stets lebendig geblieben. Die Aufklärung hatte kaum Fuß gefasst.79 In Elternhaus und Schule erfuhr Jung die übliche religiöse Prägung durch Unterrichtung im Heidelberger Katechismus 80 , biblische Geschichte, Gebet und abendliches Singen. 81 Jung-Stillings Familie pflegte die »calvinistische Einfachheit des Lebens«82 und »hing an den Grundsätzen der reformirten Religion und Kirche« 83 . So etwa klingt die Lehre vom Werk- und Gnaden76
O t t o RENKHOFF, Nassau, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Auflage, Band
6, Tübingen 1 9 6 0 , 1 3 1 0 . 77
Ebd.
78
Hans-Jürgen SCHRÄDER, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus.
J o h a n n Heinrich R e i t z ' Historie Der Wiedergebohrnen
und ihr geschichtlicher K o n t e x t , Göttingen
1 9 8 9 , 1 7 6 - 2 0 1 . - Siehe auch Hans SCHNEIDER, D e r radikale Pietismus im 17.Jahrhundert, in: Martin BRECHT (Hrsg.), Geschichte des Pietismus, Band 1. D e r Pietismus v o m siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1 9 9 3 , 4 2 0 . 79
Erich BEYREUTHER, E r w e c k u n g , in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Auflage,
B a n d 2 , Tübingen 1 9 5 8 , 6 2 3 . 80
Gustav A d o l f BENRATH, Jung-Stillings Leben, Denken, W i r k e n - ein Überblick. Vortrag
anlässlich der Eröffnung der Austeilung über Jung-Stilling, Karlsruhe 1 9 9 0 , 11. 81
L G 7.
82
RITSCHI, Geschichte des Pietismus, 5 2 3 .
83
LG 41.
38
bund an, in welchem mit dem rechtfertigenden Glauben die Gehorsamsverpflichtung einhergeht, w e n n Jung-Stilling in der Jugend schreibt:84 Er stund auf, ging heraus in den Wald, und erneuerte alle seine heilige Vorsätze die er je in seinem Leben sich vorgenommen hatte. 85 Erst nach dem Tode der früh verstorbenen Ehefrau, der Tochter eines aus seiner Kirche ausgeschlossenen Predigers, wandte sich Jung-Stillings Vater dem radikalen Pietismus zu. 86 Der Prediger Victor Christoph Tuchfeld, alias Freund Nielas, hatte ihn für »eine Gesellschaft frommer Leute«87 gewonnen. In der Folge lebte Vater Jung mit seinem Sohn äußerst zurückgezogen. 88 Kennzeichnend für diesen Pietismus war der Einfluss des Quietismus, der sich jedoch nicht nur auf den radikalen und reformierten Pietismus beschränkte. Er wird in der Lebensgeschichte immer wieder sichtbar89 und kommt im Pseudonym »Stilling« sprechend zum Ausdruck. Wendungen und Worte aus Psalmen werden Jung-Stilling auf diesen N a m e n gebracht haben, wie: Die »Stillen im Lande« (Psalm 35,20) oder »Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft« (Psalm 62,2). 90 b) Lektüre Zur ständigen Lektüre des jungen Heinrich gehörten neben dem Heidelberger Katechismus 91 auch zahlreiche pietistische Schriften, die im Hause vorhanden waren. 92 Der Vater wurde v o n Berleburg aus mit entsprechender Literatur versorgt. 93 W i e Jung-Stilling in der Jugend berichtet, las der Vater unter ande-
84 Dazu Gerhard J. F. GOETERS, Föderaltheologie, in: Theologische Realenzyklopädie, Band 11, Berlin u n d N e w York 1983, 246-252. 85 LG 8 und explizit in der Schilderung seines religiösen Erweckungserlebnisses: »... auf der Stelle machte er einen festen, unwiderruflichen Bund mit Gott, sich hinführo lediglich Seiner F ü h r u n g zu überlassen«. LG 198. — Siehe dazu Gottlob SCHRENK, Gottesreich u n d B u n d im älteren Protestantismus vornehmlich bei Johannes Coccejus. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus und der heilsgeschichdichen Theologie, Gütersloh 1923. 86 LG 4 1 - 4 5 . 87 LG 41. 88 LG 45. 89 Siehe unten S. 82 f. Erich BEYREUTHER, Quietismus, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 5, Tübingen 1961, 736-738. - Dazu auch P. PROBST, Quietismus, Hesychasmus, in: Historisches W ö r t e r b u c h der Philosophie, Band 7, Darmstadt 1989, 1834-1838. ,0 Z u m Pseudonym siehe auch unten S. 64 f. 91 LG 45. 92 Dass auch in sozial niedrigeren Schichten im 18.Jahrhundert der Buchbesitz verbreitet war, verdankt sich d e m Pietismus. Siehe dazu Hans MEDICK, Ein Volk »mit« Büchern. Buchbesitz u n d Buchkultur auf d e m Lande am Ende der Frühen Neuzeit: Laichingen 1748—1820, in: Hans Erich BÖDEKER (Hrsg.), Lesekulturen im 18. Jahrhundert, in: Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, 6. Jahrgang, H e f t 1, H a m b u r g 1992. 5 9 - 9 3 . 93
SCHRÄDER, L i t e r a t u r p r o d u k t i o n , 2 5 2 u n d 3 0 1 .
39
r e m F é n e l o n u n d T h o m a s a Kempis. 9 4 A u f Vorschlag v o n T u c h f e l d w e r d e n a u c h G o t t f r i e d Arnolds Leben der Altväter u n d J o h a n n H e i n r i c h R e i t z ' Historie der Wiedergebohrnen ins H a u s g e k o m m e n sein. 95 Dieses W e r k w a r ü b e r viele J a h r z e h n t e i m Pietismus w e i t verbreitet 9 6 u n d diente der ganzen G a t t u n g der S a m m e l b i o g r a p h i e als Vorbild. 9 7 D i e Historie der Wiedergebohrnen erschien z u r Z e i t Jung-Stillings in B e r l e b u r g in f ü n f t e r u n d sechster Auflage. 9 8 F e r n e r hatte er das sehr b e k a n n t e B u c h Die Pilgerreise v o n J o h n B u n y a n gelesen. 9 9 J u n g - S t i l l i n g muss f r ü h lesen gelernt h a b e n . In der Lebensgeschichte e r w ä h n t er auf j e d e n Fall als Beispiel f ü r seine Frühreife u n d B e g a b u n g eine E p i s o d e , w o er auf die Frage, o b er s c h o n lesen k ö n n e , zur A n t w o r t g e g e b e n habe: »Das ist j a eine d u m m e Frage, ich b i n j a ein Mensch.« 1 0 0 Für d e n K n a b e n H e i n r i c h w a r die L e k t ü r e seine einzige Beschäftigung, da er v o n s e i n e m Vater ganz v o n a n d e r e n K i n d e r n abgesondert gehalten wurde. 1 0 1 I m a u t o b i o g r a p h i schen V o r w o r t zu seinem Lehrbuch der Staats=Polizey=Wissenschaft schreibt J u n g - S t i l l i n g 1788 ü b e r die E r z i e h u n g s m e t h o d e n des Vaters u n d die L e k t ü r e : Ich wurde beständig durch Ermahnungen und Beyspiele zur höchsten Moral angewiesen, und mein Vater schleppte mir von allen Seiten her Lebensbeschreibungen vortreflicher Menschen, und wahrer Christen zusammen: dadurch wurde der Trieb ihnen gleich zu werden so tief in meine Seele eingegeistet . . . 1 0 2 N e b e n diesen religiösen B ü c h e r n g e h ö r t e n a u c h D i c h t u n g 1 0 3 u n d weltliche V o l k s b ü c h e r zu J u n g s Lektüre. 1 0 4 So las er die Historie von den vier Haimonskindern (1535), Die schöne Melusine u n d aus d e n A n f ä n g e n der B i o g r a p h i k d e n Kaiser Octavian v o n Sueton. 1 0 5 Biographische Literatur m a c h t e also e i n e n w e s e n t l i c h e n Teil v o n J u n g - S t i l lings f r ü h e r L e k t ü r e aus. Seine Phantasie u n d Vorstellungskraft w u r d e d u r c h sie geprägt u n d in die R i c h t u n g gelenkt, dass zeit seines Lebens die L e b e n s geschichte eines M e n s c h e n G r u n d l a g e u n d B e z u g s p u n k t f ü r G l a u b e n , D e n k e n
94
LG 44. LG 46. — Johann Henrich REITZ, Historie Der Wiedergebohrnen, herausgegeben von Hans-Jürgen SCHRÄDER, 4 Bände. Tübingen 1982. 95
96
97
SCHRÄDER, L i t e r a t u r p r o d u k t i o n , 256.
DERS. (Hrsg.), Historie Der Wiedergebohrnen Band 4, Nachwort, 127*—153*. SCHRÄDER, a.a.O., 176f. - Und RENKHOFF, Artikel Nassau, a.a.O., 1310. 99 LG 490. - Siehe dazu Auguste SANN, Bunyan in Deutschland. Studien zur literarischen Wechselbeziehung zwischen England und dem deutschen Pietismus, Glessen 1951. 100 LG 49. 101 LG 48. 102 LG 669. 103 Zum Beispiel Homer, Vergil, Milton und Klopstock, LG 673. 104 Dazu MESCHENDÖRFER, Bürgerliche Kindheit im Deutschland des 18. Jahrhunderts anhand autobiographischer Zeugnisse, 104. 105 LG 46, 64. - Siehe dazu Rudolf SCHENDA, Von Mund zu Ohr. Bausteine zu einer Kulturgeschichte volkstümlichen Erzählens in Europa, Göttingen 1993, 193. - Auf die Art von Lektüre des jungen Jung-Stilling geht ausführlich ein NEUBAUER, Indikation und Katalyse, 242-248. 98
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und Weltempfinden bildete. 106 Seit frühester Jugend an bewegte sich so sein Geist in der geschichtlichen Anschauung menschlicher Lebenserfahrung. Vor allem Reitzens Historie der Wiedergebohrnen und Arnolds Leben der Altväter, die sowohl biographische wie autobiographische Lebensgeschichten frommer Menschen enthalten, waren für Jung-Stilling von lebensentscheidendem Einfluss. Sie waren die prägende Lektüre der jungen Jahre und waren Anstoß und Maßstab seiner religiösen Entwicklung. 107 Sie wurden zum M e dium der Offenbarung Gottes. 108 In der Lebensgeschichte schreibt er: ... alle diese Personen, deren Lebensbeschreibungen er las, blieben so fest in seiner Einbildungskraft idealisirt, dass er sie nie in seinem Leben vergessen hat.109 Abgesehen von konkreten Inhalten und Vorstellungen bekam Jung-Stilling auf diese Weise durch die belletristische und biographische Literatur die u n bestimmte Ahnung eines eigenen besonderen Lebensschicksals und die Vorfreude auf die Zukunft vermittelt. 110
2. Der Erzähler Jung-Stilling erzählte sich selber und andern Menschen gerne Geschichten. 111 Durch das Lesen fremder Lebensgeschichten wurde er auf sein eigenes Leben aufmerksam und spürte das Bedürfnis, dieses anderen Menschen zu erzählen. 112 Das Erzählen seiner Geschichte gehörte zu Jung-Stilling, lange bevor er 1777 mit der ersten Folge seiner Lebensgeschichte weitherum bekannt wurde. Auch begann er nicht erst seine Autobiographie zu schreiben, als er auf ein langes, erfolgreiches Leben zurückblicken konnte. Abgesehen von den zwei Schriften gegen den Aufklärer Nicolai gehört seine Lebensgeschichte an den Anfang seiner schriftstellerischen Existenz. Erzählen war eng mit seiner Arbeit verbunden und gehörte zur Art und Weise, wie er sein Leben bewältigte. 113 W i e Siehe LG 603. Vgl. dazu NEUBAUER. Indikation und Katalyse, 241. W i e prägend in religöser Hinsicht, wie sprachbildend und vorbildlich die Historie der Wiedergebohrnen über lange Zeit, im Besondern bei Jung-Stilling, wirkte, beweist SCHRÄDER in seinem W e r k sehr detailliert; DERS., Literaturproduktion, besonders S. 299-305. 108 Ebd. 109 LG 46. 110 »Die W i r k u n g e n dieser Leetüre auf Stillings Geist waren wunderbar . . . ; es war etwas in ihm, das seltene Schicksale in seinem eigenen Leben ahndete; er freute sich recht auf die Z u k u n f t , fasste Zutrauen zum lieben himmlischen Vater, und beschloss grossmüthig: so gerade zu, blindlings d e m Faden zu folgen, wie ihn ihm die weise Vorsicht in die H a n d geben würde«, LG 125. — Z u r Bedeutung von Literatur u n d Lektüre fur Stilling siehe NEUBAUER, Indikation und Katalyse, 249-254. 106
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L G 4 6 - 4 8 . 5 4 f. 8 4 f. - SCHENDA, V o n M u n d z u O h r , 2 3 1 .
112
Siehe dazu unten S. 68 f. Albrecht WILLERTS These, dass »das Erzählen von Geschichten, die der Autor erlebt hat, den R a n g einer Konstitution von Geschichte, nämlich der des eigenen Lebens gewinnt«, u n d 113
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er berichtet, wurde er auf seiner Wanderschaft, wo er hinkam, oft aufgefordert, seine Geschichte zu erzählen, oder er erzählte sie von sich aus.114 Jung-Stilling konnte sein an unverhofften Ereignissen und Wechselfällen reiches Leben ungemein packend und spannend schildern, so dass seine Z u hörer von ihm fasziniert waren. Goethe wurde auf ihn aufmerksam, als J u n g Stilling später in Straßburg studierte. Wie Goethe in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit berichtete, erzählte Jung »seine Lebensgeschichte auf das anmuthigste und wusste dem Zuhörer alle Zustände deutlich und lebendig zu vergegenwärtigen«. 115 Goethe motivierte ihn in der Folge116, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Das Erzählen seiner Lebensgeschichte gehörte also genuin zu Jung-Stillings Persönlichkeit. Es muss deshalb nicht von einer zwanghaften Neigung, bei jeder sich bietenden Gelegenheit die eigene Lebensgeschichte zu erzählen 117 , gesprochen werden. Vielmehr war das Erzählen der Lebensgeschichte elementarer Ausdruck seiner Individualität und Prägung. Es bildete die Grundlage fur seine eigene Autobiographie und das weitere schriftstellerische Werk.
III. »Die Geschichte der Vorsehung in seiner Führung«118 Inhalt, Gestalt und Absicht der Lebensgeschichte 1. »Jugend« (1777) a) Das Kind vom Lande Henrich Stillings Jugend erzählt die Einschnitte und Ereignisse bis zum zwölften Altersjahr 119 : Die Verheiratung des Vaters, die glückliche Ehe der Eltern, den frühen Tod der Mutter und die Erziehung des jungen Henrich durch den »die verunsicherte religiöse Existenz . . . sich im Prozess der literarischen Produktion . . . selbstobjektivierend zu stützen (sucht)«, ist in dieser Hinsicht nicht von der H a n d zu weisen. Sie lässt j e d o c h zu wenig R a u m für das ebenso ursprüngliche religiöse Anliegen des Autors, indem sie lediglich zusätzlich zur Konstitution v o n Geschichte u n d Identität die Möglichkeit offenlässt, dass das Dargestellte eine didaktische u n d exemplarische Funktion flir den Leser a n n e h m e n kann; DERS., Religiöse Existenz und literarische Produktion, 11, 304. 114 LG 156, 262. - Dazu SCHENDA, von M u n d zu O h r , 76. 115 J o h a n n Wolfgang GOETHE, D i c h t u n g und Wahrheit, Frankfurter Ausgabe I, 14, 405. 116 Siehe unten S. 4 2 - 4 9 . 117 SCHRÄDER, Literaturproduktion, 304. 118 So bezeichnet Jung-Stilling sein autobiographisches U n t e r n e h m e n am E n d e von Häusliches Üben. LG 437. 119 Siehe HAHN, Jung-Stilling zwischen Pietismus u n d Aufklärung, Biographische Übersicht, XV.
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Vater, der in seiner Trauer verharrt und einem separatistischen Pietismus zuneigt. Ferner wird die v o m Köhlerhandwerk des Großvaters und v o m Schulmeister- und Schneiderberuf des Vaters bestimmte U m g e b u n g des Knaben Henrich geschildert sowie die eigene Welt, die dieser sich durch Lektüre aufbaut. Gleich zu Beginn lässt der Autor das Motiv der speziellen Vorsehung Gottes anklingen, das die ganze Erzählung theologisch bestimmt. So sinnt der Großvater beim Anblick eines Sonnenuntergangs über sein Leben nach: Ich muss der ewigen Güte danken, die mich nicht nur heute sondern den ganzen Lebenstag durch mit vielem Beistand getragen, erhalten und versorgt hat.120 U n d der Vater, der heiraten möchte, bekennt angesichts der ihm vorgehaltenen schlechten beruflichen Aussichten: Ich will mit meiner Handthierung mich wohl durchbringen, und mich im übrigen ganz an die göttliche Vorsorge übergeben.121 b) »Lauter Paradies auf dem Wege«122 Der Beginn der Abfassung seiner Lebensgeschichte, die schließlich in die Veröffentlichung der Jugend mündet, fiel in die Anfangszeit der Tätigkeit Jung-Stillings als praktischer Arzt in Elberfeld. N a c h dem Abschluss des Studiums in Straßburg eröffnete er am 1. Mai 1772 seine Praxis. 123 Der zweiunddreißigj ährige Jung-Stilling schien den Höhepunkt seiner beruflichen Laufbahn erreicht zu haben. Die Schilderung seiner J u g e n d war fur den Kreis um Goethe, die K o m m i litonen in Straßburg, aus dem die B e w e g u n g des Sturm und Drang hervorging, gedacht. Von seinen Mitgliedern, besonders von Goethe selbst, war ihm stets viel Sympathie entgegengebracht worden. Deshalb hatte Jung-Stilling sich dort auch wohlgefuhlt, obwohl seine Kommilitonen freier gedacht hätten als er. 124 Sie hätten, wenn auch mit einem Lächeln, seinen Glauben gelten lassen, dass Gottes Vorsehung ihn in Allem führen würde, und seien beeindruckt gewesen von seinem Enthusiasmus und seiner Leidenschaft. Goethe schrieb dazu in Dichtung und Wahrheit: Das Element seiner Energie war ein unverwüstlicher Glaube an Gott und an eine unmittelbar von daher fließende Hülfe, die sich in einer ununterbrochenen Vorsorge und in einer unfehlbaren Rettung aus aller Not, von jedem Übel augenscheinlich bestätige.125 L G 3. L G 7. Siehe unten S. 86 f. 1 2 2 Motto nach L G 55. 1 2 3 HAHN, Jung-Stilling zwischen Pietismus und Aufklärung, X V . - STECHER, J u n g Stilling als Schriftsteller, 28. 1 2 4 L G 285 1 2 5 GOETHE, Dichtung und Wahrheit, Frankfurter Ausgabe I, 14, 404. 120
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Es war Jung-Stillings originelle Persönlichkeit, ihre »Natürlichkeit u n d N a i vetät« 126 , die ihm die Herzen seiner Freunde öffnete. Trotz der Unterschiede gedieh in dieser Atmosphäre ein freundlicher Umgang, der es Jung-Stilling ermöglichte, sich seinerseits zu öffnen und den andern seinen ihm so w u n derbar vor Augen stehenden Lebenslauf zu erzählen. Jung-Stilling hatte nicht wie seine Kommilitonen eine umfassende Bildung vorzuweisen. D o c h hinderten ihn sein einfacher Hintergrund und seine teilweise fragmentarische autodidaktische Bildung nicht daran, im Straßburger Kreis mitzuhalten. Die Art seiner Lebensgeschichte entsprach ja gerade den Leitideen des a u f k o m m e n d e n Sturm und Drang, in denen die Befreiung des Individuums, seine Genialität, die Selbsterfahrung u n d die Verbundenheit mit den schöpferischen Urkräften der Natur zentral waren. 127 O b Goethe tatsächlich schon in Straßburg Jung-Stilling ermunterte, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben 128 , oder ob er später anlässlich der Z u s a m m e n k u n f t mit anderen Stürmern u n d Drängern 1774 in Elberfeld durch N a c h fragen auf das Manuskript stieß 129 , und Goethe diese Entdeckung aus späterer Perspektive mit seinen Straßburger Versuchen, Jung-Stilling zu fördern, in eins setzte, ist nicht zu entscheiden. Beides ist möglich. Dafür, dass Goethes E r m u n t e r u n g der äußere Anstoß zur Niederschrift der Lebensgeschichte war, spricht sein eigener Bericht sowie die Tatsache, dass Jung-Stilling kurz nachdem er Straßburg 1772 verlassen hatte, mit der Niederschrift begann. Dafür, dass Jung-Stilling selber auf den Gedanken g e k o m m e n war, seine schon so oft mündlich erzählte Geschichte aufzuschreiben, spricht sowohl sein eigener Bericht wie vielleicht die Tatsache, dass die Abfassung seiner Lebensgeschichte etappenweise vor sich ging und in der engen Verbindung mit den Straßburger Freunden erfolgte. 130 Unter dem Titel Heinrich Stillings Lebensgeschichte in Vorlesungen sandte er ihnen jeweils die fertigen Stücke seiner Lebensgeschichte zu. 131 - Es wird in Betracht gezogen werden müssen, dass aus der entfernten Perspektive beide, sowohl Goethe wie Jung-Stilling, ihren Beitrag zur E n t stehung des erfolgreichen Werkes als bedeutender darzustellen versuchten, als dieser in Wirklichkeit gewesen sein mochte. Auf jeden Fall war für die E n t stehung der Jugend die Tatsache von Bedeutung, dass Jung-Stilling mit dem j u n g e n Goethe in Straßburg zusammengetroffen war. Aus der Verbindung pietistischen Gedankenguts mit Gedankengut des Sturm u n d Drang entstand
126
GOETHE, Dichtung und Wahrheit, 405. Gisela HENCKMANN, Sturm und Drang, in: Metzler Literatur Lexikon, Begriffe und Definitionen, hrsg. von G. u. I. SCHWEIKLE, 2. Auflage, Stuttgart 1990, 448. - Zum Beispiel schreibt Jung-Stilling darüber, wie leicht Henrich das Erlernen des Lateins fiel: »Was sich nicht leicht bezwingen Hess, da flog sein Genie über weg«. LG 66. 127
128
GOETHE, a . a . O . , 4 0 5 .
129
LG 655. - Vgl. auch GOETHE, a.a.O., 683. LG 655. LG XII, 305, 655.
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das N e u e , das die Jugend anregte u n d kennzeichnet. Dass Goethes Einfluss dabei sehr b e d e u t e n d war, steht außer Zweifel. 1 3 2 Tatsächlich war es auch G o e t h e , der die Veröffentlichung wahrscheinlich eines Teils der zu diesem Z e i t p u n k t vorliegenden Lebensgeschichte unter d e m Titel Henrich Stillings Jugend an die H a n d n a h m . Im Herbst 1772 kam Friedrich Jacobi mit Freunden nach Elberfeld, w o Jung-Stilling ihnen einen Besuch abstattete. Auf Jacobis Anfrage, ob er etwas geschrieben habe, antwortete Jung-Stilling, dass er seine Geschichte in V o r lesungen stückweise an die Straßburger Gesellschaft gesandt habe. 133 Anlässlich eines weiteren Besuches bei den Jacobis überbrachte er ihnen eine Abschrift der Lebensgeschichte u n d las daraus vor. 134 Als G o e t h e anlässlich der schon erwähnten Z u s a m m e n k u n f t im Juli 1774 in Elberfeld Jung-Stilling ebenfalls auf ein allfälliges literarisches W e r k ansprach u n d ihn fragte, ob er nicht etwas Schönes gemacht habe, übergab dieser i h m das Manuskript der Fassung seiner Lebensgeschichte v o n 1772. 135 Dieses sagte G o e t h e zu, u n d o h n e Jung-Stillings Wissen übergab er es d e m Verleger G e o r g Jacob D e c k e r in Berlin. Titel u n d wahrscheinlich auch die genaue Festlegung des Umfangs s t a m m ten v o n G o e t h e . Jung-Stilling hatte die Veröffentlichung seiner Lebensgeschichte als B u c h nicht geplant. Als sich der Straßburger Kreis auflöste, brach er das U n t e r n e h m e n ab. Dass die Niederschrift gerade an der Stelle endete, w o der T o d des Großvaters geschildert wird, ist unwahrscheinlich. W a h r scheinlicher ist, dass der U m f a n g des v o n G o e t h e unter d e m Titel Stillings Jugend publizierten Anfangs der Lebensgeschichte auf dessen H a n d z u r ü c k ging. 136 Ebenso n a h m G o e t h e inhaltliche Ä n d e r u n g e n vor. Jung-Stilling billigte Goethes R e d a k t i o n . Er fand, dass »er viel Planes u n d Seichtes ausgemerzet habe« 137 , so dass der Band, n u n weniger stark, die G e schichte so präsentiere, dass ihre Tatsachen »abstechen u n d frappant ins A u g e u n d aufs H e r t z fallen«. 138 Jung-Stilling wusste also dessen schriftstellerische u n d editorische Erfahrung u n d Hilfe zu schätzen. »Goethes Feile ist die beste, sie poliert gut« 139 , schrieb Jung-Stilling im N o v e m b e r 1777 an seinen i h m v o n G o e t h e vermittelten Verleger D e c k e r in Berlin. 132 Siehe dazu Leo REIDEL, Goethes Anteil an Jung-Stillings Jugend, 2. Teil, in: 46. Jahresbericht der 1. Deutschen Staatsrealschule in Prag, Prag 1906, 36. Z u m Verhältnis v o n Jung-Stilling zu Goethe siehe auch R o d o l f o PAOLI, Goethe e Stilling ovvero pietismo e romanticismo nella prima autobiografia romantica, R o m 1949. 133 LG 305 134 LG 306. 135 LG 655. - STECHER, Jung-Stilling als Schriftsteller, 28. 136
STECHER, a . a . O . , 3 1 .
137
LG 655. Ebd., 698. Ebd.
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... aber meine (sc. Feile) kennen Sie noch nicht, Goethe bekam meine Bogen roh und schraf, nun will ich einmahl selber feylen, und sehn, ob man sich auch darinn spiegeln könne, ich empfehle mich!140 Der Erfolg der Jugend veranlasste Jung-Stilling, weitere Teile seiner Lebensgeschichte folgen zu lassen, und er wollte versuchen, die Manuskripte für die dem Verleger angekündigten weiteren Bände selber druckreif zu machen. So sollte es ihm möglich sein, seine Lebensgeschichte ganz nach seinem eigenen Willen und nach seiner eigenen Absicht zu gestalten. Sicherlich nicht aus Undankbarkeit oder aus Misstrauen gegenüber Goethe wollte er alles selber an die Hand nehmen, sondern vielmehr aus dem Wunsch, sein eigenes Buch zu schreiben. Denn Goethe hatte ja vor allem religiöse Partien weggelassen 141 , was Jung-Stillings tiefem Anliegen widersprechen musste. So sehr der innere Anstoß zur Niederschrift seiner Jugendgeschichte auch aus literarischen und schöngeistigen Ambitionen - daraufhin deutet das Interesse Goethes an der Sache - oder, wie oft vermutet 142 , aus psychologischen Motiven gekommen sein mochte, stand dahinter doch primär der Wunsch Jung-Stillings, vor dem Straßburger Kreis nochmals ein Bekenntnis seines Glaubens abzulegen. Jung-Stilling räsonniert über seine Motivation in einer Antwort auf drei negative Rezensionen der Jugend 1779: Wenn ich ihnen meine Lebensgeschichte in einem romantischen blumichten Kleide vorlegte: so würden die deutlichen Fustapfen der göttlichen Fürsicht ihnen auf eine angenehme Art gezeigt.143 Literarische, missionarische und persönliche Absichten Jung-Stillings lassen sich also kaum voneinander trennen, entsprachen doch beide seiner »wahrhaft natürlichen Kultur«. 144 Z u m Zeitpunkt der Niederschrift der Lebensgeschichte war es seine explizite Absicht, im R a h m e n des gegenseitigen literarischen und schöngeistigen Austausches bei seinen jüngeren Freunden den Glauben an eine persönliche Vorsehung auf dem Weg zu wecken, der ihren Neigungen entgegenkam. 145 Letztlich jedoch wurzelt Jung-Stillings autobiographische Tätigkeit in der frühen Prägung durch biographische Literatur. Einen Hinweis darauf gibt er im Vorwort zum Der Schlüssel zum Heimweh mit der Antwort auf die Frage nach seiner Motivation zum Schreiben seines allegorischen »Erziehungsro-
140
LG 698. LG 655. 142 Siehe oben S. 32-35. 143 LG 655. - Das Wort »Fußstapfen« erinnert an August Hermann Francke, Seegenvolle Fußtapfen des noch lebenden und waltenden Gottes, zur Beschämung des Unglaubens und Stärkung des Glaubens, entdecket durch eine wahrhafte und umständliche Nachricht von dem Waysenhause und den übrigen Anstalten zu Glaucha vor Halle, 1701. 144 GOETHE, Dichtung und Wahrheit, Frankfurter Ausgabe I, 14, 404f. 145 Vgl. STECHER, Jung-Stilling als Schriftsteller, 45. 141
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mans« Das Heimweh. schreibt:
Er verweist auf Die Pilgerreise von J o h n Bunyan und
. . . ich wurde dadurch angefeiert nicht allein die Reise des Christen selbst zu unternehmen, sondern auch einmal so etwas zu machen.146 c) Ein Lebensbild als Idylle und Roman D a Henrich Stillings Jugend ein echtes, wenn auch nicht kenntlich gemachtes Aussagesubjekt besitzt, dessen Informationen überprüft werden können, muss das B u c h literaturwissenschaftlich eindeutig zur Gattung Autobiographie gezählt werden 1 4 7 , auch wenn es Z ü g e der Idylle und des R o m a n s trägt und damit innerhalb der breiten autobiographischen Tradition einen besonderen Platz einnimmt. Für Niggl stellt dieser erste Teil eines der frühesten Beispiele der mit dem Sturm und Drang wieder auflebenden und in den nächsten Jahrzehnten beliebten naturkräftigen, detailrealistischen Idyllendichtung dar, worin das nachgessnerische Jahrhundert eine Annäherung von Ideal und Wirklichkeit des harmonisch-gesunden Menschentums suchte. 148 Jung-Stilling lernte vor allem im Straßburger Kreis u m Goethe und Herder die zeitgenössische Literatur und den Geschmack des Publikums kennen. So wurde Oliver Goldsmiths (1728-1774) R o m a n Der Landpfarrer von Wakefield, der 1766 erschienen war, von Goethe und seinem Kreis als empfindsamer R o m a n und als Idylle gelesen. 149 Direkte Einflüsse auf die literarische Gestaltung der Autobiographie Jung-Stillings sind nachgewiesen worden. 1 5 0 Beeinflusst von diesen literarischen Vorbildern gestaltete Jung-Stilling die Jugend bewusst »romanhaft« und stilisierte sie zur Idylle. Seine Kindheit spielte sich in einer inselhaft ausgesonderten Welt mit patriarchalen Strukturen ab, unter Menschen, die gleichsam in »Urformen des Daseins« lebten. 151 Das Grundmuster des pietistischen Lebenslaufs, das dem Unternehmen als Vorbild diente, wird durch Romanelemente literarisiert, so dass die Jugend auch als
1 4 6 Johann Heinrich JUNG-STILLING, Das Heimweh. Vollständige, ungekürzte Ausgabe nach der Erstausgabe von 1794-1796 herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Martina Maria Sam, Dornach 1994, 843. 1 4 7 Siehe Irmgard SCHWEIKLE, Autobiographie, in: Metzler Literatur Lexikon, 2. Aufl., Stuttgart 1990, 34 f. 1 4 8 NIGGL, Geschichte der deutschen Autobiographie, 72. Siehe Salomon GESSNER (1730-1788), Sämtliche Schriften, Reprint der Gesamtausgabe von 1762 und 1772, 3 Bände, herausgegeben von Martin BIRCHER, Zürich 1972. 1 4 9 Oliver GOLDSMITH, Der Pfarrer von Wakefield. Eine angeblich von ihm selbst verfasste Geschichte. Aus dem Englischen übertragen von Andreas RITTER, Zürich 1985. GOETHE, Dichtung und Wahrheit, 474 f. 1 5 0 STECHER., Jung-Stilling als Schriftsteller, 63-66. REIDEL, Goethes Anteil an Jung-Stillings
Jugend,
32-35.
Walter LAUTERWASSER, Jung-Stilling als Erzähler, in: Jung-Stilling, Arzt - Kameralist Schriftsteller zwischen Aufklärung und Erweckung, Ausstellungskatalog, Karlsruhe 1990, 85. 151
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Autobiographie mit romanhaften Zügen 152 oder als autobiographischer R o man bezeichnet werden kann. 153 Solche Elemente sind einmal die romantischen Schilderungen der Natur und der Landschaft. In einem Wald, wohin Henrich seinen Vater bei der Ausübung des Köhlerhandwerkes begleitete, »[fand] Henrich, der alles idealisirte, . . . auf diesem Wege lauter Paradies; alles war ihm schön und ohne Fehler«.154 Weiter wählte Jung-Stilling in der Erzählung der Kindheitsgeschichte die verbale Form der dritten Person. Der Abstand zu dem Kind, das er einmal war, wird dadurch größer, ebenso die Verfügbarkeit über die Gestalt.155 Ferner erzählte Jung-Stilling nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern er fasste den Stoff in Einzelszenen zusammen und benutzte für die Orte Phantasienamen, wodurch das Buch der Zeit und dem Ort enthoben wird. Überdies stilisierte Jung-Stilling bewusst Personen und Situationen: Der Gang in den Wald ist dunkel und geheimnisvoll. Seine Mutter wird als Engel dargestellt. Ganz im Genre des Romans befindet er sich, wenn er am Anfang ein Gespräch zwischen seinem Vater und einem Nachbarn wörtlich schildert. 156 Überhaupt gebraucht der Autor oft die direkte Rede. Dadurch wird der Leser stärker in die Handlung mit einbezogen. Trotz ihres romanhaft-idyllischen Charakters wirkt die Jugend jedoch nie süßlich oder naiv, weil Jung-Stilling einen guten Ausgleich zwischen der Aufnahme von idyllischen und romantischen Elementen, wie eben Naturund Familienidyllen, Gedichten, Märchen oder Sagen, und der Schilderung des einfachen und harten Lebens einer ländlichen Familie fand. Es ging JungStilling darum, originell zu sein und Henrich Stilling als einen individuellen Menschen 157 darzustellen. - Wie beschwerlich jedoch auch die Jugend des Stilling war, wird erst in den späteren Bänden der Lebensgeschichte ausgesprochen. In der Jugend ist über allem noch ein die Freuden und Leiden verklärender Schleier gebreitet. Das Buch Jugend ist stark stilisiert. Jung-Stilling betont jedoch im Rückblick, dass »die Geschichte selbst nach der Wahrheit geschildert und beschrieben, aber es kommen allerley Verzierungen darinnen vor, weil sie der damalige Zweck nöthig machte«. 158 In welche Richtung der Zweck tendiert, haben wir bereits oben gesehen. U n d was Jung-Stilling unter »Verzierungen« verstand, beschreibt er in einem Brief an seinen Verleger: ... man erlaube mir nur Schnörckel und Zierathen nach der Mode umher zu werffen, damit es etwas ins Auge falle und mit RomanenHunger gelesen werde.159 152
MÜLLER, Autobiographie und Roman, 127. — Siehe unten S. 63 f.
153
PASCAL, D i e A u t o b i o g r a p h i e . 192.
154
LG 55. LAUTERWASSER, Jung-Stilling als Erzähler, 86 f.
155 156
L G 2 - 5 . - LAUTERWASSER, a. a. O . , 8 7 .
157
Brief Jung-Stillings an den Verleger Georg jakob Decker, 7.9.1777, LG 697. LG 599. Β rief Jung-Stillings an G.J. Decker, 7.9.1777, LG 697.
158 159
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d) Fazit M i t der Jugend verfasste Jung-Stilling eine A u t o b i o g r a p h i e m i t idyllen- u n d r o m a n h a f t e n Z ü g e n . Es ist ihre v e r b o r g e n e Absicht, d e n Leser auf die spezielle V o r s e h u n g G o t t e s h i n z u w e i s e n . Dies w i r d v o r allem aus Q u e l l e n a u ß e r h a l b der A u t o b i o g r a p h i e ersichtlich.
2. »Jünglingsjahre« und »Wanderschaft« a) Vom Schneidergesellen zum Schulmeister und
(Í778)
Kaufmannsgehilfen
D e r z w e i t e Teil der Lebensgeschichte, das B u c h Jünglingsjahre (1778), schildert die wechselvolle S u c h e Stillings, einen seiner N e i g u n g e n t s p r e c h e n d e n B e r u f zu finden. N a c h seiner Schulentlassung versucht er sieben Mal, sich als L e h r e r zu b e w ä h r e n . N a c h anfänglicher E u p h o r i e scheitert Stilling j e d o c h mit g r o ß e r R e g e l m ä ß i g k e i t , was i h n j e d e s m a l in tiefe V e r z w e i f l u n g stürzt. D a n n bleibt i h m n u r n o c h , bei der Feld- u n d Schneiderarbeit zuhause zu helfen. Dies lässt i h n i m A n s e h e n bei seinem Vater u n d bei sich selbst i m m e r tiefer sinken. E n d l i c h , n a c h d e m sich seine g r ö ß t e H o f f n u n g auf eine g u t e Stelle zerschlagen hat, beschließt er, in die F r e m d e zu ziehen: »Ich muss in die F r e m d e z i e h e n u n d sehen, was G o t t mit mir v o r hat.« 160 E i n Vetter hat d e n G r u n d seines Versagens in s e i n e m selbstbezogenen W i l l e n gesehen u n d i h n »zur Preisgabe des stolzen Eigenwillens u n d zur Ü b e r g a b e seiner selbst an die i m L e i d e n l ä u t e r n d e göttliche F ü h r u n g u n d Vorsehung« 1 6 1 e r m u n t e r t . A m A n f a n g des B u c h e s Wanderschaft (1778) w i r d darauf ein E r w e c k u n g s erlebnis geschildert: von ohngeföhr blickte er in die Höhe und sah eine lichte Wolke über seinem Haupte hinziehen; mit diesem Anblick durchdrang eine unbekannte Kraft seine Seele, ihm wurde so innig wohl, er zitterte am ganzen Leibe und konnte sich kaum enthalten, dass er nicht darniedersank; von dem Augenblick an fühlte er eine unüberwindliche Neigung, ganz für die Ehre Gottes und das Wohl seiner Mitmenschen zu leben und zu sterben.162 D i e s e n Entschluss will er damit bekräftigen, als Schuster bei seinen Leisten zu b l e i b e n u n d w e i t e r h i n als S c h n e i d e r zu arbeiten. D o c h als er eine H a u s l e h r e n t e i l e a n g e b o t e n b e k o m m t , e r k e n n t er G o t t e s W i l l e n darin, diese a n z u n e h m e n . A b e r die Flucht b e e n d e t diese Episode. E r findet bei e i n e m S c h n e i d e r gütige A u f n a h m e u n d will e n d g ü l t i g bei seinem H a n d w e r k bleiben. 160
LG 182.
161
BENRATH, Einleitung, LG, X V I .
162
LG 198.
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D o c h w i e d e r u m tritt eine W e n d u n g ein. Ein Kaufmann nimmt ihn in seinen Dienst, und Stilling verlebt bei diesem reiche sieben Jahre, in denen er neben seiner Arbeit viel Zeit zum Selbststudium findet. D o c h : Die Kaufmannschaft gefiel ihm auch nicht, denn er sah wohl ein, dass er sich gar nicht dazu schicken würde, beständig fort mit dergleichen Sachen umzugehen, dieser Beruf war seinem Grundtrieb zuwider; doch wurde er weder verdrießlich noch melancholisch, sondern er erwartete, was Gott aus ihm machen würde. 163 Schließlich sieht er im Vorschlag seines Wohltäters, Medizin zu studieren, einen alles Bisherige übertreffenden Beweis der Vorsehung Gottes u n d er entschließt sich zu diesem Studium. Ein ebensolcher »Spontanentscheid« ist seine Verlobung. Daraufhin zieht er zum Studium nach Straßburg. b) Die Wirkung der Vorsehung Dass nach der Veröffentlichung von Henrich Stillings Jugend Jung-Stilling eine Fortsetzung folgen lassen würde, legte sich einerseits durch die E n t d e c k u n g des Interesses des Lesepublikums, andererseits durch seine Überzeugung nahe, dass das Interessanteste seiner Geschichte n o c h nicht erzählt w o r d e n sei.164 So war Jung-Stilling entschlossen, aus dem Material seiner Lebensgeschichte, der für sechs weitere Bände Stoff geboten hätte, noch zwei weitere Bände zu schreiben. 165 »Drey Bände von einem T h e m a sind in unseren Bücherschwelgerischen Zeiten gnug.« 166 Lieber zog es Jung-Stilling vor, im Anschluss daran eine andere Geschichte, die Geschichte des Herrn von Rosenau, zu erzählen. Stilling habe n u n ausgespielt. 167 Bereits Anfang Dezember 1777 war der zweite Band Jünglingsjahre fertig. Wahrscheinlich ermunterte ihn darauf sein Verleger Decker, den Stoff etwas auszudehnen u n d doch mehr Bände zu planen. 168 Jung-Stilling hingegen wollte wie vorgesehen nur noch einen dritten Band verfassen. Diese Folge mit d e m Titel Wanderschaft beendigte er Anfang januar 1778. 169 Im Februar konnte er das fertige Manuskript seinem Verleger schicken mit der B e m e r k u n g »Hier ist der Schluss, Liebster Freund! von Heinrich Stillings Lebensgeschichte«. 170 Im selben Brief beschrieb er auch seine Absicht mit dem Werk, nämlich dass »hie u n d da stille Forscher der Wahrheit Fußtapfen der Gottheit in dieser 163
LG 236. Brief Jung-Stillings an Georg jakob Decker in Berlin, 7.11.1777, LG 697. 165 Ebd. 166 Ebd., 697 f. 167 LG, 698. - Der Roman erschien 1779 unter dem Titel Die Geschichte des Herrn von Mergenthau. - Siehe dazu HAHN, Jung-Stilling zwischen Pietismus und Aufklärung, 173-219. Und 164
Brief an Decker vom 21.11.1777, LG 699. 168
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Brief Jung-Stillings an Decker, 21.11.1777, LG 698. Brief Jung-Stillings an Decker, 1.1.1778, LG 700. Brief Jung-Stillings an Decker, 3.2.1778, LG 701.
Geschichte finden werden«. 171 U m dies zu erreichen, erzählte er also die Geschichte. In den Teilen selber ließ er keine so klare Aussageabsicht e r k e n nen. A m Anfang der Jünglingsjahre schrieb er lediglich, dass er die Lebensgeschichte des j u n g e n H e n r i c h erzählen wolle. 172 M i t der Darstellung seines Werdeganges wollte Jung-Stilling d e m Leser seine Botschaft mitteilen. Einen H ö h e p u n k t dieses Lebensweges stellte die E r ö f f n u n g der Arztpraxis in Elberfeld 1772 dar. Jung-Stilling schilderte sie am Schluss der Wanderschaft. D a m i t erreichte er die z u m Z e i t p u n k t der Abfassung beider Bände andauernde Lebensperiode. In ihr n a h m er die Lebensposition ein, die erreicht zu haben für ihn eine w u n d e r b a r e F ü h r u n g Gottes bedeutete, u n d die in i h m den W u n s c h hervorgerufen hatte, seine Lebensgeschichte zu erzählen. So k o n n t e er den dritten Band als den allerschönsten bezeichnen 1 7 3 u n d seine Autobiographie als abgeschlossen betrachten. D e n n er glaubte, die ersehnte Stellung im Leben erreicht zu haben. Damit schien auch der Stoff erschöpft, mit Hilfe dessen Jung-Stilling seiner Freude u n d Dankbarkeit für das im Leben Erreichte in der Lebensgeschichte Ausdruck geben k o n n t e . Seine Absicht hatte er erreicht, nämlich ein Bekenntnis zur w u n d e r b a r e n F ü h r u n g Gottes abzulegen: Ists doch ein sonderliches Ding um die Rollen die unser Herr Gott in diesem Blumen oder Raupen Leben seinen Menschen austheilt.174 Sicherlich liegt in diesem Vorsehungsglauben u n d seiner Darstellung in der Lebensgeschichte neben der missionarischen Intention ebenso ein die G e g e n wart stützendes, sie der göttlichen Hilfe versicherndes u n d auf eine n o c h bessere Z u k u n f t hin öffnendes M o m e n t . Solches lässt sich den W o r t e n e n t n e h m e n , mit denen Jung-Stilling den Brief abschloss, in w e l c h e m er seinem Verleger den Abschluss der Wanderschaft mitteilt: mir soils all gut seyn, was noch aus mir werden wird, denn fertig bin ich noch nicht, denn ich bin noch immer in der Schmelze.175 D i e Zeit der Abfassung der ersten drei Bände stand j e d o c h nicht, wie im B e z u g auf die Jugend vermutet w u r d e , im Z e i c h e n eines ausgeprägten Spannungsverhältnisses zwischen erinnerter Lebensgeschichte u n d Gegenwart, so dass allein Schwierigkeiten in der Gegenwart der G r u n d dafür gewesen wären, im Schreiben einer Autobiographie sich die glücklicheren Zeiten der Kindheit u n d J u g e n d zu vergegenwärtigen. 1 7 6 171
Brief Jung-Stillings an Decker, 3.2.1778, LG 701. LG 83. Siehe unten das Zitat S. 53. 173 Brief Jung-Stillings an Decker, 21.11.1777, LG 699. 174 Brief Jung-Stillings an Decker 3.2.1778, LG 701. 175 Ebd. 176 R e i n h a r d ARHELGER, Jung-Stilling - Genese seines Selbstbildes Untersuchungen zur Interdependenz von Religiosität, Identität und Sozialstruktur zur Zeit der Jugend, Frankfurt am Main 1990, 83. 172
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J u n g - S t i l l i n g sah es trotz der selbstverständlich auch v o r h a n d e n e n S c h w i e rigkeiten in Elberfeld anders - die Schuldenlast u n d persönliche A n f e i n d u n g e n sollten n o c h z u n e h m e n -. 1 7 7 I m soeben zitierten Brief an seinen Verleger D e c k e r sah er sein bisheriges L e b e n i m R ü c k b l i c k als einen s c h w e r e n W e g , d e n er h a b e d u r c h w a n d e l n müssen, e h e er in diese Z e i t g e k o m m e n sei. 178 In der S p a n n u n g v o n N o t u n d Hilfe, S e h n s u c h t u n d E r f ü l l u n g hatte er auf s e i n e m bisherigen L e b e n s w e g die V o r s e h u n g G o t t e s erfahren. Dies zu b e z e u g e n w a r seine Absicht. U n d auf sie w o l l t e er w e i t e r h i n h o f f e n . c) Von der Idylle zum
Lebenslauf
M i t d e m i m dritten B a n d Wanderschaft g e b o t e n e n S t o f f s e i n e r Lebensgeschichte h o l t e J u n g - S t i l l i n g die E p o c h e ein, die zu d e m Z e i t p u n k t n o c h anhielt, da er auf sein bisheriges L e b e n zurückblickte. D i e erzählte Geschichte bleibt j e d o c h n a c h w i e v o r in einen dichterischen N e b e l gehüllt, so dass V e r g a n g e n heit u n d G e g e n w a r t nicht direkt m i t e i n a n d e r in B e r ü h r u n g stehen. W i e d e r u m stellen w i r fest, dass Jung-Stillings Lebensgeschichte stilisiert ist. Dies ist ein w e i t e r e r H i n w e i s darauf, dass es i h m w e n i g e r u m die S c h i l d e r u n g des k o n k r e t e n Lebenslaufs seiner P e r s o n als u m die B e z e u g u n g des G l a u b e n s an die V o r s e h u n g ging. N i c h t die Darstellung der Einzelheiten seines Lebensganges standen i m V o r d e r g r u n d . J u n g - S t i l l i n g wollte b e s t i m m t e Linien darin h e r v o r h e b e n . Seiner M e i n u n g n a c h d u r f t e diese dichterische S t i l i s i e r u n g j e d o c h n i c h t zu w e i t g e h e n : Will ich vieles hinzudichten, so entwischt mir die Wahrheit, und es hat Kunst, Natur und Dichtung so zu verweben, dass keine absticht, 179 a n t w o r t e t e J u n g - S t i l l i n g seinem Verleger, als dieser i h n g e b e t e n hatte, d e n w e i t e r e n S t o f f s e i n e r Lebensgeschichte auf m e h r als b l o ß zwei B ä n d e auszud e h n e n u n d i h m dabei vielleicht vorgeschlagen hatte, die dichterische Freiheit n o c h m e h r a u s z u n u t z e n . J u n g - S t i l l i n g auferlegte sich bewusst eine B e s c h r ä n k u n g , n i c h t zuletzt aus d e m G r u n d e , weil er bei seinen pietistischen M i t c h r i sten in Elberfeld A n s t o ß erregt hatte: Dise guten Leute machten mir wegen Stillings Jugend unsägliche Leiden, ich wurde als ein Freigeist verabscheuet, und dises that mir in meinem Berufe vielen Schaden ( . . . ) so suchte ich im zweiten und dritten Bande zwischen dem romantischen und theologischen Tone das Mittel zu halten. 180 D i e Folge w a r , dass Jung-Stilling sich bei der Gestaltung des z w e i t e n u n d dritten Bandes n i c h t m e h r a m G e n r e der Idylle u n d des R o m a n s orientierte, 177
Siehe dazu VINKE, Jung-Stilling und die Aufklärung, 102 f. BriefJung-Stillings an Decker, 3.2.1778, LG 701. 179 BriefJung-Stillings an Decker, 21.11.1777, LG 698 f. 180 Jung-Stilling verteidigt seine Lebensgeschichte gegen die Kritik dreier Rezensenten (1779), LG 655. 178
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sondern z u m Typus »Lebenslauf« wechselte. 181 Auf den ersten Eindruck u n terscheiden sich der zweite u n d dritte Band stilistisch zwar k a u m v o n d e m ersten. D o c h v o n Anfang an ist klar, dass Jung-Stilling aus d e m eben genannten G r u n d e seinen S c h w e r p u n k t anders setzte. So schrieb er zu Beginn der Jünglingsjahre: Vater Stilling ist hin, nun will ich seinem Enkel, dem jungen Henrich, auf dem Fuß folgen, wo er hingeht, alles andre soll mich nicht aufhalten. 182 Jung-Stilling fasste also unmerklich den chronologisch beschreib- u n d erzählbaren Lebensweg des Stilling ins Auge. Gleich wie in der Jugend schilderte er die Eindrücke seines inneren u n d äußeren Erlebens, welches das Bild seiner nächsten Wegstrecke bestimmte. 1 8 3 D i e jeweilige Z u k u n f t u n d die davor liegende Vergangenheit sind auf nachvollziehbare Weise miteinander v e r b u n d e n . Bald j e d o c h begegnet auch die Vorstellung einer auf ein dunkles Ziel in der Z u k u n f t gerichteten Lebensbahn. Dies wird mit d e m Begriff eines » G r u n d triebes« (zum gelehrten Beruf) umschrieben. 1 8 4 Als Stilling wieder einmal v o n einer Lehrstelle fortgeschickt wird u n d er zuhause Z o r n u n d Missmut anstatt Mitleid erregt, sinniert er: Es wäre doch entsetzlich, wenn mir Gott Triebe und Neigungen in die Seele gelegt hätte und seine Vorsehung verweigerte mir, so lange ich lebe, die Befriedigung derselben.185
d) Der »Grundtrieb«,
Vorsehung und
Willensverzicht
D e r A u t o r spricht an anderen Stellen auch v o n einem »Grundtrieb« v o n Stilling 186 , den er als D r a n g zur Wissenschaft u n d überhaupt zu allem H ö h e r e n charakterisiert. Er ging damit v o n der wahrscheinlich durch G o e t h e angeregten Sturm u n d D r a n g - I d e e der individuellen Entelechie aus, »die sich im Zusammenspiel mit der Welt auf das Ziel einer w e l t i m m a n e n t gesehenen B e s t i m m u n g hin entfaltet«. 187 Aus d e m Wissen u m diesen ihm Z u k u n f t eröffnenden u n d gestaltenden G r u n d t r i e b erwächst Stilling das unbedingte Vertrauen in die Vorsehung G o t tes u n d der M u t , Schritte zu tun, die sich nicht unmittelbar aus d e m V o r h e r g e h e n d e n ergeben. N a c h den mehrmalig gescheiterten Versuchen, eine i h m entsprechende Anstellung zu finden, sagt er am Ende der Jünglingsjahre zu 181 182
NIGGL, Geschichte der deutschen Autobiographie, 73. LG 83.
183
NIGGL, a . a . O .
184
Ebd. LG 138. LG 236 passim. LAUTERWASSER, Jung-Stilling als Erzähler, 89.
185 186 187
53
seinem Vater: »Ich muss in die Fremde ziehen und sehen, was Gott mit mir vorhat.« 188 Es ist also vor allem die Erfahrung des eigenen Scheiterns, die Stilling die Verwirklichung seines »Grundtriebes« u n d die Erreichung seiner Bestimmung Gott anheimstellen ließ. Niggl hat sicher recht, w e n n er schreibt: »Die blitzartig neue Idee einer individuellen, eigenständigen Lebensgestalt wird damit, k a u m geboren, schon ins alte pietistische Schema wieder eingefangen.« 189 Indem Jung-Stilling sich stärker an der Lebenschronologie orientierte, griff er auf das alte »Vorsehungsschema« zurück. N e b e n dem Typus des Franckeschen Lebenslaufs als Bekehrungsgeschichte gab es j e d o c h auch den Typus von Lebensgeschichte, der im R a h m e n einer quietistischen Lebensauffassung stärker die Vorsehung als leitendes M o t i v zum Z u g e k o m m e n ließ. 190 Der Lebensgang w u r d e weniger vor dem Hintergrund von Gesetz u n d Evangelium als ein allmählicher Durchbruch der Gnade Gottes gesehen 191 , sondern war stärker als unableitbares Ergebnis der Führung durch die Vorsehung dargestellt. Dabei war die Ubergabe an den fuhrenden Willen Gottes wichtig. Anstelle der Schilderung der Bekehrung w u r d e n verschiedene religiöse Bezugspunkte genannt, wie beispielsweise in Stillings Jugend: Er stund auf, ging heraus in den Wald, und erneuerte alle seine heilige Vorsätze die er je in seinem Leben sich vorgenommen hatte.192 Somit mussten der Vorsehungsglaube und die Idee des »Grundtriebes« sich nicht unbedingt ausschließen. Der Gedanke des seine Bestimmung selber verwirklichenden Menschen und der Glaube an die Vorsehung Gottes waren nicht unvereinbar. Menschliches T u n und göttliches Leiten liefen parallel oder ergänzten sich, wie in derJugend Stillings Vater gegenüber seinem Vater erklärt: Ich will mit meiner Handthierung mich wohl durchbringen, und mich im übrigen ganz an die göttliche Vorsorge übergeben.193 Für Jung-Stilling waren j e d o c h die Übergabe an die Vorsehung u n d ein verantworteter Gebrauch der eigenen Vernunft schwerlich vereinbar. 194 Menschliches T u n und das Vertrauen auf die Führung und Hilfe Gottes schließen sich in der Jugend zwar noch nicht aus, doch verstärkt sich zu Beginn der Wanderschaft die Tendenz, »jede Führung des Lebens von außen und oben, nicht aus dem eigenen Innern herzuleiten«. 195 Das zu Beginn des zweiten 188
LG 182. ' NIGGL, Geschichte der deutschen Autobiographie, 73. 1.0 Ebd. 1.1 Siehe FRANCKE, Lebenslauf (1690/91), Werke in Auswahl, 23 f., 26 passim. 1.2 LG 8. 1.3 LG 7. 1.4 Siehe dazu unten S. 82-84. 18
1.5
54
NIGGL, a . a . O . , 7 3 .
Bandes geschilderte »Bekehrungserlebnis« enthält den Entschluss zur völligen Willensentäußerung: Auf der Stelle machte er einen festen, unwiderruflichen Bund mit Gott, sich hinführo lediglich seiner Führung zu überlassen und keine eitlen Wünsche mehr zu hegen. 196 D a m i t v e r b u n d e n ist auch der Entschluss, ganz auf das selbständige D e u t e n u n d Befolgen des eigenen Grundtriebes zu verzichten, »so dass Stilling v o n n u n an j e d e n Erfolg oder Misserfolg im privaten, wirtschaftlichen u n d b e r u f lichen Bereich als L o h n seines Gehorsams oder Ungehorsams gegen das religiöse Ergebenheitsgelübde deutet«. 197 e) Fazit Jung-Stilling führt in den Jünglingsjahren u n d der Wanderschaft die packende Erzählung seiner Lebensgeschichte fort, w o b e i er die R o l l e der Vorsehung n o c h deutlicher hervorhebt u n d damit seine Absicht, den Glauben des Lesers an Gottes gute Vorsehung zu w e c k e n , verstärkt. D e r S c h w e r p u n k t der Erzählung verlagert sich z u n e h m e n d v o n der ausgewogenen Schilderung des ruhig fließenden Lebens des j u n g e n H e n r i c h , über d e m weise die Vorsehung waltet, zur Schilderung der unerwarteten W e n d u n g e n , welche die Vorsehung im Leben des ruhelos seinem »Grundtrieb« folgenden, unsicheren Jünglings v e r anstaltet.
3. »Häusliches Leben«
(1789)
a) Arzt und Professor Henrich Stillings häusliches Leben (1789) umfasst die sechs Jahre Tätigkeit als praktischer Arzt u n d Augenarzt in Elberfeld. Das B u c h berichtet ausfuhrlich v o n A n f e i n d u n g e n , die Stilling in Elberfeld seitens von Berufskollegen u n d Pietisten 198 erleidet u n d die i h m seine Tätigkeit als Arzt verleiden. Als u n v e r hoffter Ausweg eröffnet sich i h m darauf die Möglichkeit, eine Professur zu ü b e r n e h m e n . N a c h anfänglicher Ungewissheit erfolgt schließlich die B e r u f u n g z u m Professor der Kameralwissenschaften nach Kaiserslautern. Als schwere P r ü f u n g erlebt er darauf Krankheit u n d T o d seiner schon i m m e r kränklichen Frau Christine. Jung-Stilling verheiratet sich erneut, übersiedelt kurz darauf mit der gesamten »Kamerai H o h e n Schule« nach Heidelberg u n d erhält eine B e r u f u n g auf den Lehrstuhl für Staatswissenschaften der Universität 1.6 1.7 1.8
LG 198. NIGGL, Geschichte der deutschen Autobiographie, 73. Siehe oben S. 52 und unten S. 89.
55
M a r b u r g . M i t der Schilderung der ersten Zeit in M a r b u r g u m 1788 endet der Band. b) Lebensgeschichte zur Verherrlichung Gottes O b der Anstoß zu einem vierten Band der Lebensgeschichte v o n Jung-Stilling selber oder v o m Verleger D e c k e r kam, ist unklar. 199 Verständlich ist, dass Jung-Stillings Lebensgeschichte nach einer weiteren Fortsetzung verlangte. Kurz nach der Fertigstellung des dritten, vermeintlich letzten Bandes im Jahre 1778 erhielt Jung-Stilling den R u f nach Kaiserslautern. Dieses Ereignis enthielt Stoff für eine n e u e Folge der Lebensgeschichte u n d diente i h m als weiterer einleuchtender »Beweis« für die w u n d e r b a r e F ü h r u n g Gottes. 200 So revidierte Jung-Stilling seine M e i n u n g w i e d e r u m u n d stellte fest, dass n u n dieser Teil der Lebensgeschichte der wichtigste sei u n d der Verherrlichung Gottes u n t e r den M e n s c h e n dienen solle, der ihn so w u n d e r b a r geführt habe. 201 M i t d e m vierten Band hielt Jung-Stilling seine Lebensgeschichte wirklich für abgeschlossen: Und dann denck ich wird wohl damit meine Lebensgeschichte ihre intressante Scenen verlieren, weil ich, wie ich glaube, meine Bestimmung erreicht habe. 202 c) Die Geschichte der Vorsehung und Führung D e r Band erzählt n o c h die erste Zeit in M a r b u r g 1788 u n d reicht somit beinahe an die Zeit seiner Abfassung heran, die w o h l im Herbst 1788 ihren Abschluss fand. 203 J e näher sich der E n d p u n k t der zu erzählenden Geschichte u n d der Z e i t p u n k t ihrer Niederschrift rückten, desto weniger Spielraum blieb für die A b g r e n z u n g der einzelnen Teile voneinander. Gleich wie in der Wanderschaft endet Jung-Stilling im Häuslichen Leben damit, dass die Schilderung der erreichten Position nur n o c h kurz angerissen wird. Dies mag v o m literarischen Standpunkt aus, der die Geschlossenheit der biographischen u n d literarischen Einheit sucht, bedauert werden. 2 0 4 V o m Standpunkt des Anliegens Jung-Stillings u n d seiner Motivation z u m Schreiben aus gesehen ist es j e d o c h verständlich, dass auch dieser Band mit d e m bloßen Bericht der lebensgeschichtlichen W e n d e u n d nicht mit der Schilderung des n e u e n Lebensabschnittes endet. D i e Darstellung dieser speziellen Persönlichkeit ist gebrochen. Das Biographische tritt zugunsten des Religiösen zurück. Jung-Stillings spe1,9 Brief Jung-Stillings an Decker, 7.5.1788, LG 702: »Mein Leben bis hier in Marburg giebt weil ich nur das Intressanteste wähle, gerade so einen Band wie der vorigen einer«. 200 Brief Jung-Stillings an Decker, 21.6.1788, LG 702. 201 Brief Jung-Stillings an Decker, 21.6.1788, LG 702. 202 Brief Jung-Stillings an Heinrich August Rottmann, 22.3.1789. LG 703. 203 Siehe Brief Jung-Stillings an Decker, 7.5. 1788, LG 702. 204 STECHER., Jung-Stilling als Schriftsteller, 35.
56
zifisch theologisches Anliegen tritt stärker zutage. 205 Er wollte demonstrieren, wie Gott im Leben eines jeden Menschen wirkt. Die Darstellung seiner Lebensgeschichte diente dazu als Beispiel und als Mittel zum Zweck. Dieser Zweck war wohl auch der Grund, dass Jung-Stilling seine Meinung geändert hatte und den drei ersten Bänden seiner Lebensgeschichte zehn Jahre später noch einen vierten folgen ließ. Am Stil zeigt sich seine betont theologische Haltung darin, dass im Häuslichen Leben das romantisch-idyllische Element im oben geschilderten Sinne zugunsten des religiösen nun ganz zurücktritt. Das heißt nicht, dass Jung-Stilling nicht bewusst stilisierte. Er tat es vielleicht mehr denn je, doch sein Ziel war nicht die umfassende Darstellung seines Lebens, sondern der Erweis, was darin an Gottes Führung sichtbar wurde: Ich schrieb ja nicht Stillings ganzes Leben u n d Wandel, sondern die Geschichte der Vorsehung in seiner Führung. 2 0 6
Jung-Stilling verlor also zunehmend das Interesse am Helden seiner Geschichte. Sie wurde nun einzig mit dem Ziel erzählt, ihre wechselhaften Ereignisse als Beweismittel für das Wirken der Vorsehung zu verwenden. 207 Je mehr das Gewicht von der Erzählung des »Lebensromans« des Stilling weggenommen wird, und das religiöse Motiv dominanter wird, desto mehr zeigt sich das Ich des Autors 208 , das sich ganz mit der theologischen Aussage und ihrer Beweisfuhrung anhand des Lebens von Stilling identifiziert. Das zeigt sich daran, dass der Autor den »Ton der Selbstverteidigung anschlägt der die Identität von Ich und Er jetzt unüberhörbar hervortreten lässt«209; zum Beispiel, wenn er sagt: . . . w e n n er öffentlich redete, dann war er in seinem E l e m e n t . . . : seine ganze Existenz heiterte sich auf u n d ward zu lauter Leben u n d Darstellung. Ich sage das nicht aus R u h m s u c h t , das weiß Gott . . . 2 1 0
Insofern Jung-Stilling im Häuslichen Leben eine Art Apologie lieferte, zeigte er sich v o m Typus der Gelehrtenautobiographie beeinflusst 2 ", die im Allgemeinen stark apologetische Züge trägt.
205
Siehe unten S.79f. LG 437. 207 Im nächsten Band Lehrjahre (1804) wird er dann über den Erzählinhalt sagen: »Ich erzähle dieses bloß deswegen, um zu beweisen, dass der Herr für diejenigen, die sich ganz und unbedingt von ihm fuhren lassen, so vollkommen sorgt . . . « LG 577. 208 Siehe dazu unten S.79 und 81 f. 209 NIGGL, Geschichte der deutschen Autobiographie, 74. 210 LG 296. 206
211
NIGGL, a . a . O .
57
d) Fazit Die Tendenz, auf das wunderbare W i r k e n der Vorsehung hinzuweisen, das sich im Leben eines jeden Menschen ereignen könne, verstärkt sich. Es ging Jung-Stilling immer mehr u m dieses »Vorsehungsprinzip«. Die Gestalt des Stilling erhält rein exemplarische Funktion, was paradoxerweise zur Folge hat, dass sie umso m e h r in den Vordergrund rückt, wie wir weiter unten sehen werden.
4. »Lehr-Jahre« und »Rückblick«
(1804)
a) Schriftsteller und Fürstenberater In Heinrich Stillings Lehr-Jahre (1804) wird geschildert, wie Stilling in M a r b u r g seine akademischen und schriftstellerischen Tätigkeiten ausbaut, Kontakte zu hochgestellten Persönlichkeiten pflegt und weiterhin Reisen zu Staroperationen unternimmt. U n t e r dem Eindruck der Französischen R e v o l u t i o n geht mit z u n e h m e n d e m und sich ausweitendem Wirkungskreis eine Konzentrierung und Klärung seiner geistigen und religiösen Ansichten vor sich. Stilling zeigt m e h r und m e h r eine radikal-pietistische u n d antiaufklärerische Haltung und ordnet seine Tätigkeit einer christlich-apologetischen Weltsicht unter. N a c h dem Tod seiner zweiten Ehefrau heiratet Stilling Elisabeth Coing, die aus einem angesehenen Hause stammt. Z u n e h m e n d b e k o m m t Stilling Schwierigkeiten in seiner beruflichen Tätigkeit. Die Hörerzahlen seiner Vorlesungen werden kleiner, und die Schulden größer. Stilling gerät darüber in Zweifel an seiner Bestimmung. Er wird von Schwermut heimgesucht. D o c h gerade da erlebt er immer wieder in kleinen Dingen das gnädige Eingreifen u n d die Hilfe Gottes. Eine W e n d u n g seiner Lage zum Guten schließlich verheißt ihm der Vorfall, dass ein ihm unbekannter M a n n ihm einen T r a u m mitteilt, der die Botschaft enthält, dass es ihm bald besser gehen würde. Dies ruft in Stillings Gemüth die erste Ahnung einer nahen Veränderung und Entwicklung seiner endlichen Bestimmung hervor.212 Kurz darauf wird er im Alter von dreiundsechzig Jahren im Jahre 1803 z u m Berater des Kurfürsten Karl Friedrich (1728-1811) nach Heidelberg berufen. Es erfolgt der U m z u g nach Heidelberg. Fortan hat er Gelegenheit, sich ganz der religiösen Schriftstellerei zu widmen. 2 1 3 212
LG 569. Siehe dazu Gerhard SCHWINGE, Jung-Stilling als Erbauungsschriftsteller der Erweckung. Eine literatur- und frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchung seiner periodischen Schriften 1 7 9 5 1816 und ihres Umfelds, Göttingen 1994. A G P 32. 213
58
b) Lebensgeschichte als Beweisstück Entgegen der Vermutung, dass »meine Lebensgeschichte ihre intressanten Scenen verlieren [wird], weil ich, wie ich glaube, mein Bestimmung erreicht habe« 214 , erfolgten in Jung-Stillings Leben weitere bemerkenswerte Wendungen, die nahelegten, dass er sein Programm fortsetzte und »den lieben Lesern und Stillingsfreunden« 215 in einer fünften Folge mitteilte, wie es mit seinem Leben weitergegangen war, und wie Gott ihn geführt hatte. M i t der B e r u f u n g z u m freien religiösen Schriftsteller u n d Berater d u r c h den K u r fürsten v o n B a d e n war für J u n g - S t i l l i n g nun auch die große Frage über Stillings eigentliche und endliche B e s t i m m u n g entschieden. 2 1 6
So war das Buch Lehtjahre für Jung-Stilling »das merkwürdigste unter allen, die ich bis dahin geschrieben hatte«. 217 Er schrieb es gegen Ende des für ihn so bedeutsamen Jahres 1803 in einem Zuge nieder. 218 Mit Abschluss des fünften Bandes seiner Lebensgeschichte musste Jung-Stilling nun doch annehmen, dass das Werk als ganzes definitiv abgeschlossen war. Doch mit dem Blick auf das ganze Werk mochte ihm wohl die Ungleichheit seiner Teile aufgefallen sein, so dass er es nötig fand, »den Gedanken, den er allmälig in den Vordergründ geschoben hatte, zusammenfassend über die ganze Strecke seines Lebens auszubreiten«. 219 So fügte Jung-Stilling zeitlich unmittelbar den Lehqahren einen Rückblick auf Stillings bisherige Lebensgeschichte an 220 , der »den wahren Gesichtspunkt, aus welchem sein ganzes Leben, alle fünf Bände angesehen und beurtheilt werden muss« 221 , enthalten sollte. Jung-Stilling wollte den »Beweis« liefern, dass Gott ihn in seinem Leben von Anfang an zu dieser letzten Bestimmung zum religiösen Schriftsteller hingeführt habe. 222 Weil Jung-Stilling bei jeder neuen Berufswahl überzeugt war, sein Grundtrieb zum gelehrten Beruf sei befriedigt und seine gottgewollte Bestimmung erreicht, musste er die Charakterisierung seiner Grundneigung verändern, als er den R u f an den kurfürstlichen H o f erhielt. Im Rückblick nahm Jung-Stilling deshalb eine »Korrektur« vor, indem er seine Lebensgeschichte nochmals durchging, religiöse Akzente setzte und die Stringenz des göttlichen Plans im Brief Jung-Stillings an Heinrich August Rottmann, 22.3.1789, LG 703. LG 441. 2 1 6 LG 594. 2 1 7 Zitatangabe bei STECHER, Jung-Stilling als Schriftsteller, 36. 2 1 8 Gustav Adolf BENRATH, Jung-Stillings Tagebuch von 1803, in: Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen. Martin Schmidt zum 65. Geburtstag, herausgegeben von H. BORNKAMM und 214
215
F. H E Y E R , B i e l e f e l d 1 9 7 5 , 7 9 . 219
S T E C H E R , a. a . O .
220
B E N R A T H , a. a. O .
221
LG 599. Vgl. BENRATH, Einleitung, LG, X X I X . Siehe unten S. 78.
222
59
Gang seines Lebens aufzeigte. Vom nun als religiös herausgestellten Grundtrieb hebt sich der »natürliche« (»Sinnlichkeit u n d Leichtsinn«) ab, w o m i t Jung-Stilling über eine Erklärung für die »Umwege« seines Lebens verfugte. »Mit diesem scharfen Dualismus [lehnt] er das Bild einer immanenten Selbstentfalt u n g des Menschen endgültig ab.«223 Ferner dehnte Jung-Stilling im Rückblick den Z w e c k und die Absicht, die er mit seiner Lebensgeschichte verfolgte, dahingehend aus, dass er sie über das kerygmatische Zeugnis seines geführten Lebens hinaus als Legitimation seines theologischen Lehrsystems und als Beweis für die Wahrheit der Bibel insgesamt brauchte. 224 Die Lebensgeschichte erfuhr damit nachträglich eine R a t i o nalisierung. 225 c) Eine Lebenschronik Trägt der vorhergehende Band Häusliches Leben noch gewisse apologetische Z ü g e der Gelehrtenautobiographie, verliert sich dieses »Selbstengagement« in den Lehijahren. Jung-Stilling wollte darin neben dem tagebuchartigen R e g i strieren der Einzelheiten vor allem »mit der genauesten Pünktlichkeit« d e m o n strieren, welche Anstalten die Vorsehung zu seiner endlichen Bestimmung als religiöser Schriftsteller getroffen hatte. 226 Z u diesem Z w e c k e war Jung-Stilling n u n peinlich darauf bedacht, die Erlebnisse und Stationen seines Lebens genau zu berichten. Er lieferte eine Art Lebenschronik. 227 Z u m Beweis, dass Gott ihn ohne sein Z u t u n zum religiösen Schriftsteller berufen hatte, legte Jung-Stilling im Rückblick sein Inkognito ab 228 , das der Verfasser der Lebensgeschichte zwar anderswo schon lange gelüftet hatte 229 , u n d sprach fortan nicht m e h r durch die Person des Stilling, sondern als Hofrat J u n g in der ersten Person, wie w e n n er damit seinen Ausführungen mehr Nachdruck hätte verschaffen wollen. 230 Schon zuvor in den früheren Bänden hatte sich das Ich des Autors ab und zu in die Erzählung von Stillings G e schichte erläuternd und bestätigend eingeschaltet. 231 NIGGL, Geschichte der deutschen Autobiographie, 74. LG 618. - Schon im 1795 verfassten Vorwort zur Schrift Der Schlüssel zum Heimweh hatte Jung-Stilling bemerkt: »Wer meine Lebensgeschichte gelesen hat, der weiss, dass ich einer von den Gegenständen bin, an welchem die götdiche Vorsehung noch immer durch Thatsache beweist, dass alle Aussprüche der Bibel, . . . , buchstäblich wahr sind.« DERS., Das Heimweh, 843. 225 Siehe unten S. 82-84, 91 f. 223
224
226
227
NIGGL, a . a . O . , 7 3 f.
Nach dem Urteil Stechers »sinkt die Autobiographie schließlich zu einer dürren Familienund Reisechronik herab«. STECHER, Jung-Stilling als Schriftsteller, 36. 228 LG 599. 229 Siehe zum Beispiel Briefjung-Stillings an Decker v o m 3.2.1778, LG 701. 230 Für Stecher ist dies »der Bankerott seiner Autobiographie«, aber gleichzeitig ein Schlüssel zu dem frommen R o m a n seines Lebens». STECHER, a . a . O . - Siehe dazu unten S.64f. 231 Zum Beispiel LG 296, 437, 577, 597 passim.
60
d) Fazit Jung-Stillings Lebensgeschichte erschöpft sich im Argumentationsgang, der beweisen will, dass die Vorsehung in seinem Leben am Werk gewesen sei, und dass er ohne sein Zutun zu seiner religiösen Bestimmung gelangt sei. Jung-Stillings Lebensgeschichte nimmt nun auch äußerlich die Form einer »reinen« Autobiographie an, indem der Erzähler in der ersten Person spricht.
5. »Alter«
(1817)
Im wenige Seiten umfassenden Fragment Alter (1817) schildert Jung-Stilling seine Tätigkeit als Berater des Kurfürsten und seine kurzen Reisen nach Herrnhut und nach Baden-Baden. Anlass zum Schreiben dieser Rückschau war Jung-Stillings Einsicht, dass die Wendung von 1803 nicht nur Positives mit sich gebracht hatte. 232 Und prüfend fragte er sich, ob nicht vielleicht die Suche nach Erfolg und Anerkennung in diese Wendung hineingespielt habe.233 Der greise Jung-Stilling relativierte also die Aussage, er habe seine endgültige Bestimmung gefunden und äußerte Zweifel daran, ob sein Eigenwille beim Wechsel zur Beratertätigkeit wirklich ausgeschlossen gewesen war. Dies tat Jung-Stilling paradoxerweise trotz der Tatsache, dass die Berufung zum Fürstenberater und zum freien religiösen Schriftsteller nach Heidelberg unbezweifelbar den Höhepunkt und Abschluss seiner Karriere darstellte — und er sich nach seiner Arzttätigkeit in diese neue Berufung geschickt und diese als von Gott approbiert anerkannt hatte. Die neu aufgetretenen Schwierigkeiten waren vor allem wieder einmal pekuniärer Natur. 234 So lieferte er im Alter keine definitive Interpretation seiner damaligen Lage, sondern bemerkt zurückblickend und vorausschauend in zurückhaltendem Ton zu Beginn des Fragments: Bald am Ziel meiner Wallfahrt, im Anfang meines sieben und siebenzigsten Lebensjahrs, nach einem Jahr durchkämpfter körperlicher Leiden . . . durchweht mich gleichsam ein heiliger Schauer. Die große Reihe durchlebter Jahre gehet wie
232
S c h o n am E n d e des Jahres 1 8 0 3 notierte Jung-Stilling in sein Tagebuch: » . . . das erste 4tel
J a h r in Heidelberg war sehr dunkel und schwer«, in: BENRATH, Jung-Stillings Tagebuch, Bielefeld 1975, 82. 233
»Du hast nie einen Schritt gethan, dich eigenmächtig aus der Lage zu setzen, in die dich die
Vorsehung geführt hatte; darum half dir dein himmlischer Führer auch mächtig durch. - Ist dies aber auch jetzt der Fall? — Hast du weder mittelbar noch unmittelbar dazu beygetragen, dass dich der Kurfürst v o n Baden hierher berufen hat? - W a r dein Grundtrieb, für den Herrn und sein R e i c h zu wirken, rein? Lag nicht in der Tiefe deiner Seele auch die Eitelkeit verborgen, als ein grosses Licht in der Kirche Gottes zu glänzen, und durch deine Schriften in aller W e l t berühmt zu werden«. L G 6 3 2 f. 234
BENRATH, a . a . O . , 8 2 .
61
Schattenbilder an der Wand vor meiner Seele vorüber, und die Gegenwart k o m m t mir vor, wie ein großes feyerliches Bild, das aber mit einem Schleyer bedeckt ist, den ich erst lüften werde, w e n n meine Hülle im Grabe ruht, und der Auferstehung entgegen reift. 235
Jung-Stilling konnte auf reiche Jahre seines Lebens zurückblicken. Er unterließ es aber auch nicht, von den Leiden seines Alters zu sprechen. Angesichts des Ineinanders von Freude und Schmerz der Erwartung, dass erst nach dem Tode der Schleier fallen werde, ersetzte Jung-Stilling die in den letzten Folgen seiner Lebensgeschichte gegebenen apodiktischen Interpretationen seines Lebenswegs durch das Bekenntnis zum letzten, unerforschlichen Wirken Gottes an ihm, das er gläubig erwartete.
6. Zusammenfassung Ausgehend von der romanhaften Autobiographie verband Jung-Stilling das alte Vorsehungsschema mit der aufgeklärten entelechischen Idee und hob seinen Vorsehungsglauben schließlich auf eine abstrakt rationalistische Ebene. Jung-Stilling benutzte kühn ältere Formen in einem neuen Kontext. Dabei ist vor allem an den R o m a n zu denken, den er als Schriftsteller mit theologischer und apologetischer Absicht aufgriff und dieser anpasste.236 Die Erzählgestalt der Lebensgeschichte entsprach somit dem jeweiligen Deutungsstandort, den er im Rückblick auf sein Leben einnahm. Trotz der Unterschiede des literarischen Stils und der expliziten theologischen Aussagen in den verschiedenen Bänden der Lebensgeschichte Jung-Stillings ist in ihr eine Gesamtintention festzustellen. Es ging dem Verfasser zu allen Zeiten darum, anhand der Lebensgeschichte des Stilling das Wirken der Vorsehung Gottes im individuellen Leben eines Menschen beispielhaft einem weiten Kreis interessierter Menschen zu zeigen und sein Lesepublikum dafür empfänglich zu machen. Im Rückblick aus dem Jahr 1804 konnte Jung-Stilling über die Wirkung der Jugend und seiner Lebensgeschichte schreiben: Nach so vielen Veränderungen, Fortschritten und Rückschritten in Kultur und Litteratur, ist und bleibt Stilling Mode; man liest ihn noch immerfort, mit eben der Lust, und mit eben der Erbauung als im Anfang; und welch ein Segen dies Buch in Ansehung der Religion und des wahren Christenthums gestiftet hat, das weiß der Allwissende und zum Theil auch ich. 237
235 236 237
62
LG 629. Siehe unten S.63f. LG 613.
IV. Die Lebensgeschichte als Exempel 1. Einleitung Die Prüfung des Textes von Henrich Stillings Lebens= Geschichte hat gezeigt, dass diese sowohl in ihren Einzelbänden wie auch als ganze das tiefe kerygmatische Anliegen des Verfassers enthält, am »Romanhelden« Stilling das Wirken der Vorsehung zu exemplifizieren und dem Leser zu bezeugen, dass Gott durch seine Vorsehung das Leben des einzelnen Menschen führt. — Nun soll zusammenfassend betrachtet werden, wie originell Jung-Stilling seine Lebensgeschichte als Exempel darstellte und welche Funktion er seiner Person und deren Lebenslauf in der Verwirklichung seines Anliegens zudachte. Damit wird einerseits die hier vertretene Ansicht über die inhaltliche Intention verdeutlicht, andererseits wird nochmals sichtbar, wie Jung-Stilling die Absicht der Exemplarität seiner Lebensgeschichte formal-stilistisch verwirklichte.
2. Der »Lebensroman« Wie oben 238 festgestellt worden ist, benutzte Jung-Stilling in den ersten Teilen seiner Lebensgeschichte Formen der Idyllendichtung und des Romans. Das ging so weit, dass »beinahe das ganze Publikum . . . anfänglich diese Selbstbiographie für eine pure Dichtung [hielt]«.239 Jung-Stilling hegte von Anfang an theologische Absichten und folgte nie allein literarischen Interessen. Trotzdem wählte er Formen der Idyllen- und Romandichtung, um schon am Beispiel seiner Kindheit und Jugend das W i r ken der Vorsehung zu zeigen. In der Tradition der früheren pietistischen (Auto)-Biographie stehend 240 , betrachtete Jung-Stilling also den Roman als geeignete und zeitgemäße Form für die Verwirklichung seines Anliegens.241 Dies erstaunt sehr angesichts der Tatsache, dass der Roman im ausgehenden 18. Jahrhundert in Kirche und Theologie als verwerfliche Literaturform galt.242 238
Siehe oben S . 4 7 f .
239
Aussage des Straßburger Freundes Friedrich v o n Matthisson, zitiert bei STECHER, J u n g
Stilling als Schriftsteller, 2 4 . 240
Siehe o b e n S. 3 9 - 4 1 .
241
S o auch NEUBAUER., Indikation und Katalyse, 2 6 1 : »Durch die der biographischen F o r m
eigenen
fiktionalen
und semifiktionalen E l e m e n t e poetisiert, . . . , erscheint Erbauung in einer
romanesken G e w a n d u n g . « 242
Z u einer Wertschätzung des R o m a n s seitens der T h e o l o g i e kam es erst am Anfang des
19.Jahrhunderts, als zahlreiche T h e o l o g e n diesen als eine M ö g l i c h k e i t für die Verkündigung e n t d e c k t e n und b e g a n n e n , sich schriftstellerisch zu betätigen. - Z u m Verhältnis von Pietismus und Literatur siehe W o l f g a n g MARTENS, Literatur und F r ö m m i g k e i t in der Z e i t der frühen Aufklärung, Studien und T e x t e zur Sozialgeschichte der Literatur, T ü b i n g e n 1 9 8 9 .
63
Jung-Stilling war sich zwar über den gattungsmäßigen Unterschied zwischen Autobiographie und R o m a n im Klaren 243 , doch existierte für ihn zwischen beiden eine strukturelle Analogie: Beide dienten derselben kerygmatischen Absicht. 244 So plante Jung-Stilling als Fortsetzung seiner schriftstellerischen Arbeit, nach Abschluss seiner Lebensgeschichte, mit der Geschichte des Herrn von Mergenthau 1779 explizit einen R o m a n zu veröffentlichen. 245 Seinem Verleger gegenüber bemerkte Jung-Stilling dazu: »Die Geschichte ist D i c h tung, intressante Dichtung, das Detail aber lauter ächte Menschen Natur und Wahrheit.« 246 U m die Wahrheit, die Führung durch Gottes gnädige Vorsehung, zu bezeugen, bediente sich Jung-Stilling des Romans, und er veröffentlichte später zahlreiche Romane. 2 4 7 Indem er mit dem Anspruch auf den Wahrheitsgehalt einer pietistischen Autobiographie R o m a n e schrieb 248 , benutzte er den R o m a n als neue Form der Verkündigung. U n d indem er seiner Lebensgeschichte romanhafte Züge verlieh, erschloss er das unterhaltende und ansprechende M o m e n t des Romans für die Verkündigung. 249
3. »Stilling« als prototypischer Christ Das wichtigste, sich beinahe durch die ganze Lebensgeschichte durchziehende Stilmittel, das den romanhaften Charakter der Lebensgeschichte unterstreicht, und mit Hilfe dessen Jung-Stilling seine Aussageabsicht verwirklicht, ist der 243
Siehe L G 6 9 9 .
244
S o auch LAUTERWASSER, J u n g - S t i l l i n g als Erzähler, 1 0 2 f. - VINKE, J u n g - S t i l l i n g und die
Aufklärung, 3 2 7 . 245
D i e s e m hatte er zuerst den T i t e l gegeben Die Geschichte
246
B r i e f Jung-Stillings an G e o r g J a k o b D e c k e r v o m 2 1 . 1 1 . 1 7 7 7 , L G 6 9 9 .
247
S i e h e hierzu LAUTERWASSER, a. a. O . , 9 4 - 9 9 ; Müller, Autobiographie und R o m a n , 1 2 7 - 1 4 5 ;
des Herrn von Rosenau,
LG 698.
HAHN, J u n g - S t i l l i n g zwischen Pietismus und Aufklärung; WILLERT, R e l i g i ö s e Existenz und literarische P r o d u k t i o n . 248
I m R o m a n Theobald
249
R u d o l f MOHR zählt Jung-Stillings schriftstellerisches W e r k zu den herausragenden Versu-
oder die Schwärmer
( 1 7 8 4 ) sind autobiographische Z ü g e erkennbar.
c h e n der E r w e c k u n g s b e w e g u n g , sich den T r e n d der Literatur seiner Z e i t , E r b a u u n g s e l e m e n t e zu säkularisieren (zum Beispiel in G o e t h e s Die Leiden
des jungen
Werther),
zunutze zu m a c h e n
und Erbauliches und E r w e c k l i c h e s in der ursprünglich religiösen Funktion als Erzählung und D i c h t u n g vorzutragen, Erbauungsliteratur III. R e f o r m a t i o n s - und N e u z e i t , in: T h e o l o g i s c h e R e a l e n z y k l o p ä d i e , B a n d 10, Berlin und N e w Y o r k 1 9 8 2 , 6 5 - 6 8 . - Abgesehen v o n der geschichte
erlangte J u n g - S t i l l i n g mit d e m 1794—96 erschienenen allegorischen R o m a n
LebensHeimweh
in der E r w e c k u n g s b e w e g u n g grosse B e r ü h m t h e i t . Dieser wurde später vielfach übersetzt. N a c h d e m Beispiel v o n J o h n Bunyans Pilgerreise
beschrieb er darin den » B ü ß - ,
Bekehrungs-und
H e i l i g u n g s - W e g des w a h r e n Christen unter dem Bilde einer R e i s e « . L G 4 9 0 . JUNG-STILLING, Das H e i m w e h . Siehe dazu U l r i c h STADLER, D i e theuren D i n g e . Studien zu B u n y a n , J u n g - S t i l l i n g und Novalis, B e r n 1 9 8 0 , besonders S. 3 3 - 1 1 5 . - Gerhard SCHULZ, D i e deutsche Literatur z w i schen französischer R e v o l u t i o n und Restauration, Teil 2 , Das Zeitalter der napoleonischen K r i e g e und der Restauration 1 8 0 6 - 1 8 3 0 , M ü n c h e n 1 9 8 9 , 1 2 9 . Z u m Verhältnis v o n A u t o b i o graphie u n d R o m a n siehe VOLLERS-SAUER, Prosa des Lebensweges, 1 0 8 .
64
programmatische N a m e »Stilling«, den er der Hauptfigur seiner Geschichte gab. 250 »Stilling«, in der Jugend klar als Geschlechtsname in Verbindung mit e i n e m V o r n a m e n verwendet 2 5 1 , später als B e n e n n u n g der Hauptfigur H e n r i c h gebraucht, wird im Laufe der Erzählung der Lebensgeschichte m e h r u n d m e h r z u m Typus des Christen, der sich der F ü h r u n g durch die Vorsehung Gottes anvertraut; der, wie der N a m e sagt, »stille hält« u n d sich in Gottes Willen schickt. Ein Beispiel für den Gebrauch als Eigennamen mit eben dieser K o n notation ist die Stelle, w o nach d e m T o d e des Großvaters der Schwiegersohn Simon mit ins Haus einzieht u n d Veränderungen v o r n i m m t : »Simon hatte nicht R a u m genug, er war kein Stilling.« 252 U n d damit veränderte sich alles; das sanfte Wehen des Stillingschen Geistes verwandelte sich ins Gebrause einer ängstlichen Begierde nach Geld und Gut. 253 Ein weiteres Indiz dafür, dass der N a m e »Stilling« als überindividueller Typus zu verstehen ist, der eine bestimmte Art von Frömmigkeit bezeichnet, ist die B e m e r k u n g Jung-Stillings gegenüber d e m Verleger anlässlich der A n k ü n d i g u n g eines weiteren R o m a n s : »Hat Stilling seine R o l l e ausgespielt, soll R o senau auftretten.« 254 Heinrich Jung-Stilling, der sich »Stilling« lediglich als Beinamen zulegte, ist also mit der Figur des Stilling nicht völlig identisch. W e r dies meint, muss zwangsläufig eine starke Selbstbezogenheit, gar Egozentrik, des Autors feststellen. Jung-Stilling hielt durch die dichterische Stilisierung z u m Protagonisten des Buches eine gewisse Distanz. Z w a r sprach Jung-Stilling in erster Linie v o n seinem Vorsehungsglauben 2 5 5 , d o c h hielt er diesen u n d die damit g e m a c h ten Erfahrungen nicht als eine ausschließliche Auszeichnung seiner Person, so dass er sich selber in der Rolle des P r o p h e t e n gesehen hätte. 256 Jung-Stilling identifizierte sich mit »Stilling« in emotionaler u n d lebensgeschichtlicher Hinsicht. Entsprechend seiner kerygmatischen Intention war die Figur des Stilling u n d seine Geschichte j e d o c h für alle »Leser u n d Stillingsfreunde« 2 5 7 zur Identifikation offen. Jeder Leser ist eingeladen, das durch die Lektüre kennengelernte Vertrauen in die Vorsehung Gottes im eigenen Leben zu g e w i n n e n u n d sich führen zu lassen. 258 250
Siehe auch oben S.24 und S.39. Zum Beispiel der Großvater Eberhard Stilling, LG 2. 252 LG 82. 253 Ebd. 254 Brief Jung-Stillings an Georg Jakob Decker vom 7.11.1777, LG 698. 255 Siehe VINKE, Jung-Stilling und die Aufklärung, 13. 256 Gegen R I T S C H L , Geschichte des Pietismus in der reformirten Kirche, 528. 257 LG 441. 258 Anders Rainer VINKE, Jung, Johann Heinrich, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, 862 f.: »Jung-Stilling war sich bewusst, dass sein persönlicher Glaube an die Führung 251
65
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die enge Beziehung zwischen Autobiographie und R o m a n , die Distanz des Autors zum Helden »Stilling« und die offene Anlage der Geschichte auf ihre Wirksamkeit beim Leser die Vermutung bestätigen, dass mit der Figur des Stilling prototypisch der Christ gemeint ist, der Gottes leitender Vorsehung vertraut. Diese Unterscheidung beugt dem oft gezogenen Schluss vor, Jung-Stilling müsse sehr eitel und egozentrisch gewesen sein, da er in seiner Lebensgeschichte nur von sich und kaum von anderen spricht. Wer dies und die dahinter stehende kerygmatische Intention seiner Lebensgeschichte verkennt, muss Jung-Stilling zwangsläufig große Eitelkeit vorwerfen und diese allein im Glauben an die eigene Sendung und Auserwählung gerechtfertigt sehen. 259 Jung-Stilling selber war zwar an der Erweckung dieses Eindrucks nicht u n schuldig. Dieser Eindruck wird erstens dadurch gefördert, dass der Autor im Laufe der Lebensgeschichte immer ausschließlicher von »Stilling« und dessen Ergehen spricht, zweitens durch die oben erwähnte Tatsache, dass Jung-Stilling im Rückblick seiner Lebensgeschichte nachträglich und endgültig das Gepräge einer Autobiographie zu geben versucht, indem er als Verfasser hinter »Stilling«, dem »Helden« seines »Lebensromans«, hervortritt und sich an seine Stelle setzt. U n d indem er immer häufiger und ausschließlicher die Figur des »Stilling« als Demonstrationsobjekt fur das Wirken der Vorsehung benutzt 260 , begibt er sich in die Gefahr, dass seine Lebensgeschichte ihr Ziel verfehlt und er nur noch von »sich selbst« spricht. Weiter unten soll ausführlicher auf das damit gegebene Problem eingegangen werden. 261
V. Lebensgeschichte als Gotteserfahrung 1. Gotteserfahrung in Heinrich Jung-Stillings Lebensgeschichte Nach der Untersuchung der Intention von Jung-Stillings Lebensgeschichte und der Funktion der Figur des »Stilling« soll nun in der Zusammenschau betrachtet werden, wie der in der Lebensgeschichte zum Vorschein k o m m e n seines Lebens durch die Vorsehung G o t t e s . . . nicht für jeden Christen gelten konnte.« Die hier vertretene Interpretation wird auch bestätigt durch eine von Jung-Stilling im Vorwort zur Schrift Der Schlüssel zum Heimweh (1795) gemachte Aussage: »Wer meine Lebensgeschichte gelesen hat, der weiss, dass ich einer von den Gegenständen bin, an welchen die göttliche Vorsehung noch immer durch Thatsache beweist, dass alle Aussprüche der Bibel, die ihre allerspeziellste Leitung derer, die Kindlich auf sie trauen, versichern, buchstäblich wahr sind.« DERS., Das Heimweh, 843. 25 ' So MÜLLER, Autobiographie und Roman, 128. 260 STECHER, Jung-Stilling als Schriftsteller, 118. 261 Siehe unten S.79f.
66
de Glaube Jung-Stillings beschaffen ist, zu dem der Leser ermutigt werden soll. Die Darstellung von Jung-Stillings Glaube auf dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte lässt erkennen, welch konstitutive Bedeutung »Lebensgeschichte« als solche für Jung-Stilling hatte. Damit wird indirekt ein Licht auf die Ansätze geworfen, die Entstehung und Absicht der Autobiographie JungStillings rein im persönlichen Bereich sehen. Bei ihrer Entstehung waren im Persönlichen liegende Motive und theologisches Anliegen nicht zu trennen. »Selbstdarstellung« und kerygmatische Intention gingen in eins. Die Autobiographie ist sowohl Zeugnis des missionarischen Anliegens wie auch Dokument einer ununterbrochenen, gegen eigene Glaubens- und Lebenszweifel gerichteten Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte. Nach diesem Arbeitsschritt folgt im sechsten Kapitel eine abschließende kritische Beurteilung und eine kurze traditionsgeschichtliche Einordnung des Unternehmens und seiner Absicht. Die für Jung-Stillings Glauben und Denken grundlegende und diese verbindende Kategorie war die Erfahrung. 262 Gotteserfahrung war der Grund seines Glaubens und seines Bekenntnisses. Sein Glaube und das damit verbundene Denken waren stark erfahrungsbezogen. Jung-Stillings Autobiographie ist Ausdruck und Beispiel für das Bestreben, dass Wissen zur Erfahrung werden muss. Er beschrieb darin nicht bloß die vorgefallenen Erlebnisse und seinen ganzen Lebensgang, sondern schrieb mehr und mehr »die Geschichte der Vorsehung in seiner Führung«. 263 Jung-Stilling schrieb die Geschichte des ihm in seinem Leben zur gewissen Erfahrung gewordenen Glaubens an die gnädige Führung Gottes. Der Ort in der Vielfalt möglicher religiöser Erfahrungen, wo er von Gott angerührt wurde, und Erfahrungen machte, die er von Gott her wahrnahm, ist also primär die Geschichte, insbesondere seine Lebensgeschichte. Stärker als in den traditionellen religiösen Vollzügen, wie Gebet, Liturgie, Schriftlesung, Kontemplation, in der Begegnung mit der Natur 264 oder mit dem Mitmenschen, erfuhr Jung-Stilling die persönliche Geschichte als den Ort, wo ihm die Existenz und die Zugewandtheit Gottes am meisten einleuchtete. In seiner Lebensgeschichte erfuhr Jung-Stilling seine Existenz als ein Ausgespanntsein in der geschichtlichen Unverfügbarkeit, in welcher ihm sowohl sein Ursprung wie seine Zukunft entzogen waren, und in welcher nur Gott ihn halten konnte. 265
Siehe GUTZEN, Johann Heinrich Jung-Stilling, 453. L G 437. 2 6 4 LÜTGERT, Die Religion des deutschen Idealismus, 52. 2 6 5 Siehe dazu Dietrich WIEDERKEHR, Gotteserfahrung, in: Praktisches Lexikon der Spiritualität, herausgegeben von Christian SCHÜTZ, Freiburg im Breisgau 1988, 552 f. 262 265
67
2. Merkmale und Voraussetzungen seines Erfahrungsbegriffs a) Fremde und eigene Lebensgeschichte Für den Knaben Heinrich gehörte Lesen zum Menschsein schlechthin. 266 U n d weil ihm sonst kaum Wege offenstanden, neue Erfahrungen zu machen u n d Eindrücke zu sammeln als durch das Lesen, gewann er seine Sicht der Welt vorwiegend aus der Lektüre. Z u dieser gehörten von Anfang an die Lebensbeschreibungen u n d Biographien interessanter u n d vor allem frommer Menschen. 2 6 7 Diese bereiteten i h m großes Vergnügen, und alle diese Personen, deren Lebensbeschreibungen er las, blieben so fest in seiner Einbildungskraft idealisiert, dass er sie nie in seinem Leben vergessen hat. 268
Zunächst ersetzte diese Lektüre dem j u n g e n J u n g all das, was er im abgeschiedenen Leben mit seinem strengen Vater an Abwechslung, Abenteuer u n d Anregung entbehren musste. Darüber hinaus prägte dieses erste Bildungsgut dem Knaben die Sicht für die lebensgeschichtliche Verfasstheit des Lebens überhaupt ein und lenkte ihn zur W a h r n e h m u n g seines Lebenslaufs als Sinnu n d Schicksalszusammenhang. 269 Die fremden gelungenen Lebensläufe w u r d e n ihm zu Vorbildern für den möglichen Verlauf eines eigenen interessanten, abwechslungsreichen und gottgewollten Lebens. Die Freude am gelungenen Leben anderer traf den in einem lebensgeschichtlichen Vakuum lebenden Knaben und bewirkte, dass dieser sich auf dem Hintergrund des Wissens über das Leben anderer und durch die E n t d e c k u n g der eigenen Aussichten auf ein gelingendes Leben mit dem möglichen Verlauf des eigenen Lebensgangs zu beschäftigen begann. Dabei wuchs die Überzeugung, dass es ihm ebenso ergehen könnte. U n d die bei der Lektüre von Lebensgeschichten empfundene Freude übertrug sich auf die unsichere Erwartung der eigenen Z u k u n f t und verwandelte diese in eine Zuversicht, dass das eigene Leben ebenso gelingen und Gott es z u m Guten ausführen würde. 2 7 0 Dabei spielte die Erzählung als die Möglichkeit der R e z e p t i o n fremden u n d eigenen Lebens eine entscheidende Rolle. Im Lesen fremder Lebensgeschichten ergab sich eine Bewegung, in die der Knabe J u n g mit seinem eigenen Leben hineingenommen wurde. Er begann, selber über sein Leben nachzudenken u n d es zu erzählen. In der Erzählung kamen Vergangenes u n d Z u künftiges in einen Zusammenhang u n d traten in eine Spannung, die eben nur 266 267
Siehe oben Zitat S. 40, Anm. 100. Siehe oben S.40f.
268
L G 46.
269
Siehe auch ARHELGER, Jung-Stilling, 286. Siehe auch ebd., 287.
270
68
erzählend, im stetigen Rückblick, Fortschreiten und Offensein bewältigt werden konnte. 271 Die eigene Lebensgeschichte, auf dem Hintergrund fremder Lebensgeschichten gelesen, führte zur Einsicht, dass das eigene Leben nur gelingen konnte, wenn Abstand genommen wurde vom eigenbestimmten Leben und wenn der Schritt ins Fremde gewagt wurde, wo Gott die Möglichkeit hat, Geschichte zu machen, anders als der Mensch denkt. Im Rückblick geschieht die Wahrnehmung der eigenen Geschichte und entsteht die Bereitschaft, neue Erfahrungen mit dem zu machen, der sie weiterschreibt. 272 - Aus der Aporie der eigenen Geschichte ergibt sich, dass der Glaubende ihre Verwirklichung Gott anheimstellt. In diesen Zusammenhängen hatten Jung-Stillings Glaube an Gottes allmächtige Führung und sein Verzicht auf den Eigenwillen ihren Sitz. b) Das Eingreifen einer unbekannten Macht Das Erweckungserlebnis oder »Bekehrungserlebnis« von Stilling, kein B u ß kampf als vielmehr ein ekstatisches Erlebnis von prägender Bedeutung, schilderte Jung-Stilling nicht als eine unmittelbare Gotteserfahrung: Stilling erfährt in ihm vielmehr eine überwältigende und alles Bisherige überbietende Kraft, die ihn nicht mehr der alte sein lässt, die ihn durchdringt und mit dem Wunsch erfüllt, »ganz für die Ehre Gottes und das Wohl seiner Mitmenschen zu leben und zu sterben«.273 Durch seine Erweckung wird Stilling zum »Freund vom Christenthum und von wahrer Gottseligkeit«.274 Jung-Stilling schilderte das »Bekehrungserlebnis« zu Beginn der in der Wanderschaft erzählten Jahre: Stilling hat beschlossen, in die Fremde zu gehen und alles Weitere Gottes Führung zu überlassen. Das vom eigenen Wollen und Wünschen geleitete Leben liegt zurück. So besiegelt das Erlebnis der »unbekannten Kraft« die Abkehr vom selbstgeleiteten Leben und bedeutet die Anheimstellung des kommenden Lebens an Gott. Stilling wird aus sich herausgesetzt, wird sich selber genommen, und es tut sich ihm ein wunderbarer Horizont auf. Es wird ihm leicht, das Eigene zu verlassen und ganz für das andere, das unbekannte Du der Vorsehung und für den Mitmenschen dazusein, weil er durch die seine Seele durchströmende Kraft erfährt, dass nur so das Leben wirkliches Leben ist. Die Befreiung vom selbstbestimmten Wollen und Für-Sich-Sein zum Dasein im Angesicht Gottes und zum Nutzen eines Gegenübers beschrieb JungStilling, ganz im Sinne aufgeklärter Frömmigkeit, später einmal »als hohe(.)
271 272 273 274
Siehe auch oben S. 41 f. Siehe dazu L G 182. L G 198. - Vollständiges Zitat siehe oben S . 4 9 , Anm. 162. L G 196.
69
Empfìndung(.) ( . . . ) , die wahre Gottes- und Menschenliebe immer zu unzertrennlichen Gefährten hat«.275 c) Was dem Herzen einleuchtet Erfahrung hatte für Jung-Stilling in erster Linie nichts mit intellektuellem Begreifen und Erfassen zu tun. Was er im Moment göttlicher Nähe erfuhr, konnte er kaum mit traditionellen Begriffen beschreiben. Über eine in Herrnhut erlebte eindrückliche »Kommunionsfeier« schreibt er gegen Ende der Lehrjahre: Was ein christlich gesinntes Herz in dieser Stunde empfindet, und wie einem da zu Muth ist, das kann nicht beschrieben, sondern es muss erfahren werden.276 Diese im konkreten Moment evidente Erfahrung mit Gott, die »Gotteserfahrung«, entziehe sich rationaler Beschreibung. Sie leuchte vielmehr dem Herzen unmittelbar ein277 und lasse den, der sie erfahre, in stumme Anbetung versinken, schrieb Jung-Stilling später.278 Gleichwohl war Jung-Stilling strenggenommen kein Mystiker, der seine Gotteserfahrung als unio erfährt. Gott blieb fur ihn ein Gegenüber, den er in Veränderungen seiner äußeren, ausweglos scheinenden Lebensumstände erfuhr. Innerlich spürte er dabei lediglich, dass etwas im Gange war, und er wertete die eingetretene Wendung im Nachhinein als konkrete Erfahrung der Führung Gottes. In diesem Sinne zitierte er in der Wanderschaft einen gleichgesinnten Freund, der Stilling riet, »auf den Wink Gottes genau zu merken, und demselben, sobald er ihn spürte, blindlings zu folgen«.279 d) Zusammenfassung Für Jung-Stilling ereignete sich Erfahrung dort, wo er ins Unbekannte, Fremde aufbrach, und dieses ihm vertraut wurde. Im ursprünglichen Sinne von Er=fahrung wurde ihm durch diesen Aufbruch ein Zuwachs an Erkenntnis, an Wissen zuteil. Das bisher schon Gewusste, sich aber im Fremden der konkreten Lebenspraxis noch nicht Bewährte, wurde dem Fremden des unbekannten Lebensschicksals ausgesetzt und dabei zur persönlichen Erfahrung. Auf die Gotteserfahrung übertragen bedeutete dies, dass Jung-Stilling das von Gott Gewusste der Anfechtung durch sein Leben aussetzte und das Wagnis einging, das vor ihm liegende Leben im Vertrauen auf Gott zu leben. Dabei machte nun Jung-Stilling die Erfahrung, dass dieses Vertrauen im eigenen Leben bestätigt wurde; dass er Gott darin so erfuhr, wie er an ihn geglaubt 275 276 277 278 279
70
LG 395. LG 587 f. Siehe LG 587 f. Siehe LG 356 u. 365. LG 237.
hatte. G o t t e s e r f a h r u n g — soviel steht j e t z t s c h o n fest - w a r fiir J u n g - S t i l l i n g n i c h t u n m i t t e l b a r e s E r l e b e n des G ö t t l i c h e n , s o n d e r n E r f a h r u n g des v o n G o t t G e f ü h r t w e r d e n s d u r c h das u n b e k a n n t vor i h m liegende Leben.
3. Beschreibung und Inhalte der Gotteserfahrung a) Der Glaube auf der Probe Dass f ü r J u n g - S t i l l i n g G o t t e s e r k e n n t n i s u n d G o t t e s e r f a h r u n g n i c h t identisch w a r e n , w i r d da besonders deutlich, w o er b e t o n t , dass das Verheissene z u m E r f a h r e n e n w e r d e n müsse u n d der G l a u b e auf der P r o b e stehe. Als sich Stilling in der Wanderschaft in der tiefsten Verlassenheit w ä h n t , n a c h d e m er aus e i n e r A n s t e l l u n g g e f l o h e n ist, will er es darauf a n k o m m e n lassen, dass sein G l a u b e sich b e w ä h r e u n d er Hilfe erfahre: Ja, die Stunde ist gekommen, da das große Wort des Erlösers für mich auf der Probe steht: Auch ein Haar von eurem Haupt soll nicht umkommen. - Ist das wahr, so muss mir schleunigst Hilfe geschehen, denn ich habe bis diesen Augenblick auf ihn getraut und seinem Worte geglaubt.280 Jung-Stillings G e w o h n h e i t , auf diese Weise »Glaubenserfahrungen« m a c h e n zu w o l l e n , k ö n n t e m a n leicht als Feilschen mit G o t t verstehen. Für i h n g e h ö r t e es j e d o c h schlichtweg z u m G l a u b e n , in der A n f e c h t u n g G o t t b e i m W o r t e zu n e h m e n u n d ü b e r z e u g t zu sein, dass i h m in der N o t l a g e tatsächlich a u c h geholfen würde. b) Die Art und Weise der Gotteserfahrung F ü r die E r f a h r u n g der F ü h r u n g Gottes in N o t l a g e n ist die oft g e s c h e h e n e w u n d e r s a m e B e f r e i u n g Stillings v o n d r ü c k e n d e n finanziellen S c h u l d e n b e i spielhaft. D i e N o t w a r offensichtlich, Selbsthilfe k o n n t e nichts m e h r ausrichten. W e n n a n d e r e M e n s c h e n n u n eingriffen, w a r dies der sicherste Beweis dafür, dass G o t t seine H a n d i m Spiel hatte u n d k o n k r e t half. D e n n augenfälliger k o n n t e f ü r J u n g - S t i l l i n g die Hilfe G o t t e s k a u m sein, als w e n n ein u n b e k a n n t e r M e n s c h , der v o n der effektiven N o t l a g e Stillings nichts a h n t e , diesem Geld z u k o m m e n ließ: . . . so fanden sie das Geld theils baar, theils in Wechseln, auf ihrem Bette — genau die Summe ihrer Schulden, von der das Werkzeug in der Hand Gottes kein Wort wusste . . . und brachten Dem feurigen Dank, der dies unaussprechlich wichtige Zeugniß seiner allerspeziellesten Vorsorge und Führung so ganz augenscheinlich abgelegt hatte.281 280 281
LG 210. LG 548.
71
Es scheint, dass Jung-Stilling eher aufgrund solcher Erlebnisse als des gepredigten Wortes glaubte: Was diese sichtbare Dazwischenkunst der hohen Vorsehung für gewaltige Wirkung auf Stilling und seiner Gattin Herzen machte, das ist nicht zu sagen; sie fassten den unerschütterlich festen Entschluss, nie mehr zu wanken und zu zweifeln, sondern alle Leiden mit Geduld zu ertragen ... 2 8 2 Jung-Stilling versuchte also gleichsam, den durch Erlebnisse der Hilfe und Z u w e n d u n g gewonnenen Glauben in Zeiten der N o t und der Entbehrung hinüberzuretten, wenn Anfechtung drohte. Neben der Hilfe in einer Notlage und der Errettung aus einer Anfechtung waren für die Gotteserfahrung Jung-Stillings vorwiegend diejenigen Lebensentscheidungen und Ereignisse wichtig, die alles Bisherige seines Lebens übertrafen und die Verheißung in sich trugen, entscheidend und wegweisend für seinen weiteren Lebensgang zu sein. - Als ein wohlhabender Kaufmann Stilling anbot, er könne bei ihm Hauslehrer werden, doch wolle er ihn zuvor dazu noch ausbilden lassen, winkte Stilling zwar vorerst ab. Doch sein damaliger Wohltäter sprach dann aus, was auf der Linie von Stillings bisherigem Verhalten in solchen Situationen lag: ... jetzt begeht Ihr eine Sünde, wenn Ihr nicht einwilligt. Das kommt von Gott und alle Eure vorigen Bedienungen kamen von Euch selber.283 Offensichtlich ist dabei, dass die Möglichkeiten des weiteren Fortkommens, die sich in Entscheidungssituationen zeigten, auf der Skala der bürgerlichen Berufe stets nach oben tendieren. Das Schneiderhandwerk ist dabei der H i n tergrund, von dem sich alle weiteren Berufsmöglichkeiten verheißungsvoll abheben. Der Schul- und Hauslehrerberuf geht in diese Richtung. - U n d als ihm vorgeschlagen wurde, den Beruf des Arztes zu ergreifen, wähnte sich Stilling am Ziel seines Weges und seiner Wünsche: O Herr Spanier! was soll ich sagen, was soll ich denken? das ists, wozu ich bestimmt bin. Ja, ich fühl in meiner Seelen, das ist das große Ding, das immer vor mir verborgen gewesen, das ich so lange gesucht, und nicht habe finden können!284 Der Aufstieg zum bürgerlichen Beruf mit Ehre und Ansehen mochte dem stillen Wunsch des aus einfachen ländlichen Verhältnissen stammenden J u n g Stilling entsprechen und seine Sicht des Lebenslaufes beeinflussen und insgeheim leiten. Doch brachte ihn eben dieser innere Trieb, sein eigener Grundtrieb 285 , in Konflikt mit seinem Glauben, nach dem er nicht aus eigensüchtigen 282 283 284 285
72
LG 344. LG 222. LG 238. Siehe oben S. 5 3 - 5 5 .
Motiven seinen Weg gehen, sondern alles der Führung Gottes überlassen wollte. Als Kriterium bei der Entscheidung, ob ein Ereignis von Gott komme, diente die Prüfung, dass der Eigenwillen dabei nicht beteiligt gewesen sei, und der Wille Gottes ausschließlich und ungehindert habe wirken können. 286 Wenn im Nachhinein festgestellt wurde, dass bei einer Entscheidung der Eigenwillen doch eine Rolle gespielt hatte, bot dies Grund, diese als überholt abzuqualifizieren. - Der Beweggrund, ein auf den ersten Blick unübertreffliches Ereignis im Nachhinein umzuinterpretieren, mag in den ersten negativen Erfahrungen liegen 287 , die sich regelmäßig einstellten. So wurden die Erfahrungen der Führung Gottes gleichsam reguliert. Nach einer glücklichen Fügung stimmte Jung-Stilling jeweils der erreichten Lage zu und tat nichts dazu, eine Veränderung seiner dannzumaligen Lage herbeizuführen. Er überließ es Gott, Neues zu wirken. In dieser quietistischen Haltung ist auch der Grund dafür zu suchen, dass Jung-Stilling nicht gleich in das im oberen Beispiel beschriebene Angebot einwilligte, auch wenn ihn insgeheim die Hauslehrerstelle gelockt haben mochte. Er befürchtete, nach seinem eigenen Willen und aus selbstsüchtigen Motiven zu handeln. Deshalb war er vest und unwiderruflich entschlossen, ein Schneider zu bleiben, bis er gewiss überzeugt seyn würde, dass es der Wille Gottes sey, etwas anderere anzufangen.288 Menschliche Schwäche und Selbstsucht waren für Jung-Stilling die Gefahrenquelle dafür, dass Gottes Wege in seinem Leben durchkreuzt wurden und er nicht die wirkliche Erfahrung der Führung Gottes machen konnte. Denn Jung-Stilling war ja von der menschlichen Willensfreiheit überzeugt. Er glaubte, dass der Mensch durchgehends genommen, zum Theil Meister seines Schicksals seyn könne, und auch gewöhnlich sein Glück oder Unglück größtentheils sich selbst zuzuschreiben habe.289 Im Bezug auf mögliche Gotteserfahrungen gab es so einen M o m e n t der Unsicherheit, w o Jung-Stilling sich über die Führung Gottes nicht im Klaren war oder er gar seine Abwesenheit erlebte und sich nicht zum selbständigen Handeln durchringen konnte, weil er nicht Gefahr laufen wollte, selbstsüchtig
286
Siehe oben S. 53-55. So sah er seine erste Ehe nachträglich als Zeit der Läuterung, siehe unten S. 76 und auch S. 82—84. - Auch nach seiner Berufung nach Heidelberg kamen ihm Zweifel, ob dieses Ereignis wirklich von Gott gekommen sei, und nicht eigensüchtige Motive mit im Spiel gewesen seien. Siehe oben S.61, Anm. 233. 288 LG 214. 28 ' LG 601. 287
73
zu handeln. Dieses M o m e n t der Unsicherheit hielt Jung-Stilling in der S c h w e be und hemmte ihn in seinem Glauben und Handeln. 290 c) Gotteserfahrung
als
Alltagserlebnis
Jung-Stilling sprach nicht direkt von der Erfahrung Gottes. E r erfuhr Gottes Treue und seine Hilfe vor allen Dingen dort, w o er in N ö t e n war und w o er um sein weiteres Fortkommen bangte. Er erfuhr Gott im Alltag. Dass sich Gott im Alltag, im ständigen K a m p f ums Überleben, als treu und beständig erweise, darauf verließ sich Jung-Stilling. D i e gemachten Erfahrungen fügten sich zu einer Geschichte zusammen und bildeten gleichsam eine B r ü c k e auf zukünftige Erfahrungen hin. Einmal schrieb er im Häuslichen Leben über Stillings Befindlichkeit auf einer Reise, als dieser seine Schulden wie ein Damoklesschwert über sich spürte und sich Sorgen um seine Familie machte: Endlich ermannt er sich wieder, seine große Erfahrung von Gottes Vatertreue, und dann die wichtigen Hofnungen seiner jetzigen Reise, ermunterten ihn wieder, so dass er froh und heiter ins Dorf Lichthausen hineintrabte.291 So wurde die eine Erfahrung des Eingreifens Gottes zum Grund für die Hoffnung, er werde auch künftig eingreifen. Was Jung-Stilling bisher mit G o t t erlebt hatte, sein augenscheinlich doch stetes Fortschreiten zum Höheren, weckte in ihm die Hoffnung: so setzte er doch sein Vertrauen vest auf Gott, und machte diesen Schluss: >Gott fängt nichts an, oder er fuhrt es auch herrlich aus.< Nun ist es aber ewig wahr, dass er meine gegenwärtige Lage ohne mein Zuthun, so geordnet hat. >Folglich: ist es auch ewig wahr, dass er alles mit mir herrlich ausführen werde*.292 D i e Erfahrung als Grund des Glauben ist also eingespannt in den B o g e n der B e w e g u n g Gottes mit dem Menschen. Gott zieht den Menschen aus dem »Staube« hervor, verhilft ihm zu seinem Beruf, worin dieser seinen Trieben entsprechend zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Mitmenschen tätig sein kann. D e m Gott, der ihn solche Erfahrungen machen ließ, erwies Jung-Stilling zeit seines Lebens immer aufs neue seinen Dank: Nun war seine Seele lauter Dank gegen den, der ihn aus dem Staube hervorgezogen, und zu seinem Beruf geholfen hatte, worinnen er, seinem Trieb gemäß, Gott zu Ehren und dem Nächsten zum Nutzen leben und sterben konnte. 293 »Wo eine Erfahrung der andern auf den Fuß nachfolgt« 294 , erweise sich G o t t als der, der sich um den Einzelnen kümmere und nicht bloß ums ganze 2.0 2.1 2.2 2.3 2.4
74
Siehe unten S. 82-84. LG 328. LG 259. LG 286. LG 344.
Weltgefiige, wie die zeitgenössische Philosophie lehre. In diesem Sinne wusste sich Jung-Stilling im konkreten Erleben des Alltags unter der O b h u t der speziellen Vorsehung Gottes. 295 d) Zusammenfassung In seinem Erfahrungsbegriff liegt das Gewicht vor allem auf der äußerlichen, pragmatischen Erfahrung und weniger auf der innerlichen, wie sie sich in der Mystik findet, wiewohl die innerliche Erfahrung bei ihm auch geschildert wird, so zum Beispiel bei seinem Erweckungserlebnis. 296 Jene Erfahrung war jedoch nur eine unter anderen und konnte ihm keinesfalls als die Grunderfahrung dienen, auf die er seinen Glauben gründete. G r u n d seines Glaubens war vielmehr die Folge unzähliger konkreter Erlebnisse im Alltagsleben.
4. Gotteseifahrung und ihr Umfeld a) Die Erfahrung der Führung Gottes im Leid In seiner Lebensgeschichte schilderte Jung-Stilling manch notvolle u n d dunkle Zeit, in der Stilling keinen Sinn und Zusammenhang m e h r in seinem Leben sieht. Im rückblickenden Schreiben gelang es j e d o c h dem Autobiographen, auch negative Erlebnisse im Zusammenhang mit Gottes gnädiger Führung zu sehen. Das Erlebnis der N o t veranlasste ihn dazu, bei der Frage nach Gottes F ü h r u n g u n d Ratschluss zu bleiben. Die Vorsehung selbst befähige dazu, im völligen Vertrauen zu Gott zu bleiben. Ja, durch die Anfechtung und das totale Angewiesensein auf Gott sei gewährleistet, dass der Mensch »nicht sein Leben durch, im Genüsse verträumt, und seiner Bestimmung, jenes erhabenen Ziels vergisst«.297 Die N o t gab sozusagen einen doppelten Grund, auf Gottes Vorsehung zu vertrauen. In der Anfechtung fand Jung-Stilling sich einerseits angewiesen auf den Gott, der allein etwas aus ihm machen konnte. Andererseits ließ er sich jeweils in einer so unklaren Lage aufs N e u e sagen, dass er eine hohe Bestimm u n g habe. U n d gerade dies gab ihm immer wieder M u t und Zuversicht. U n t e r der Perspektive, dass der Lebenslauf einen Duktus hat, der zu einer Bestimmung führt, kam der negativen Erfahrung eine bestimmte Aufgabe zu. Einmal sicherte sie die Kontinuität dieses Duktus überhaupt, indem sie den 2.5 2.6 2.7
Siehe unten S.86. Siehe oben S . 4 9 (LG 198). LG 304.
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Geführten i n der Angewiesenheit auf die Vorsehung behielt 298 , und ferner hatte sie die Aufgabe, ihn zum H ö h e r e n zu befähigen. Weil nämlich das Ziel der Führung Gottes die Vollkommenheit des M e n schen, seine »Gott- und Christusähnlichkeit« 299 sei, werde der Mensch von Gott auch éffektiv zu größerer Vollkommenheit gebracht. Mittels der Erfahrung von Leid u n d N o t läutere Gott den Menschen. 3 0 0 Auf dass der Mensch nicht sein Herz an Materielles und die Sinnlichkeit hänge, sondern sein Vertrauen allein auf Gott setze, werde er v o m »Plan der Vorsehung« auch schwierige Wege geführt. 301 Ein Beispiel für diese Sichtweise stellt die Ehe mit seiner ersten Frau dar. 302 Diese notvolle Zeit betrachtete Jung-Stilling im Nachhinein als einen weiteren Schritt auf die Erreichung seiner Bestimmung zu, von höchster gesellschaftlicher Ebene aus Zeuge für die Wahrheit sein zu können: Doch erkannte Stilling bey dem allen sehr wohl, dass die schwere zehnjährige Führung, so wie die Schicksale seines ganzen Lebens, seinem Character und seiner ganzen Existenz unaussprechlich wohlthätig gewesen waren. Gott hatte seine eigene Unlauterkeit zur Seife gebraucht, um ihn mehr und mehr zu reinigen ... 3 0 3 D e r den U m g a n g mit Leid betreffende Argumentationsgang hat einen stark rationalistischen Zug, der in der nachträglich vollzogenen Interpretation seinen Ursprung hat. D e r gütige Gott gebrauchte das Negative gleichsam zu einem pädagogischen Zweck. Er w i r d j e d o c h nicht näher damit in Verbindung gebracht. Das Leiden an sich wird nicht im Sinne einer Leidensfrömmigkeit in den Glauben hineingenommen, sondern im R a h m e n von Gottes Vorsehungshandeln als Bewährungszeit für den Glaubenden verstanden. 304 b) Zielrichtung der Gotteserfahrung Jung-Stilling fing die letzte vollendete Folge seiner Lebensgeschichte, die Lehr-Jahre (1804) damit an, dass er den glücklich preist, der die Erfahrung macht, dass »der Geist des Christenthums« die Herzen »durch das Band der Vollkommenheit« vereinigt. 305 »Gotteserfahrung« war also für Jung-Stilling unbedingt mit d e m Gedanken des Vollkommener-Werdens verbunden. N i c h t dass Jung-Stilling explizit Spuren der Vollkommenheit an seiner eigenen Per2,8 In diesem Zusammenhang spricht Jung-Stilling im Vorwort zum Der Schlüssel zum Heimweh von seiner Abhängigkeit »von der Kasse der Mutter Vorsehung«. DERS., Das Heimweh, 841. 2 " Ebd. 300 Siehe LG 351. 301
302
L G 425.
Siehe oben S.73, Anm.287. LG 398. 304 Anders klingt es hingegen in einem Brief an Johann Kaspar Lavater aus dem Jahre 1780: »Mein ganzes Leben ist schon seit 20 Jahren dunkler Glaube und mehrentheils Hoffen, Harren und bäten«. LG 660. 305 LG 443. 303
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son festgestellt hätte. Seine Lebensgeschichte, zu der er seiner Meinung nach nichts beigetragen hatte, las er gleichsam als fremden, jedoch zu ihm gehörenden Text. Dieser war ihm Hinweis und Zeichen dafür, dass Gott in seinem Leben am Werk war, an ihm arbeitete und ihn auf etwas vorbereiten wollte. Das Vollkommenheitsideal bedeutete konkret die sittliche Perfektion sowie die Gott- und Christusähnlichkeit. In der Wanderschaft hieß dies für den jungen Stilling zum Zeitpunkt seiner Erweckung und angesichts seines zukünftigen Lebens: »... ganz für die Ehre Gottes und das Wohl seiner Mitmenschen zu leben und zu sterben«.306 Jung-Stilling legte sehr starkes Gewicht auf die weltliche Ausprägung der Vervollkommung des Christen. 307 Sie musste einsehbar und erfahrbar werden. Der Grund dafür, dass Jung-Stilling so sehr auf die Sichtbarwerdung des Glaubens ausgerichtet war, wird darin zu suchen sein, dass er neben seinen reformierten und pietistischen Wurzeln den Pragmatismus und das Streben nach menschlicher Tugendhaftigkeit und Vollkommenheit seiner Zeit teilte.308 So begründete Jung-Stilling einmal seine Hochschätzung der Herrnhuter, die er zuvor kennengelernt hatte, damit, dass er »einen ungemein raschen Fortschritt in der Vervollkommnung der Lehre und des Lebens bemerkte . . . «,309 Im Gegensatz zur »neuen Aufklärung« jedoch - wie er dann im Alter betonte — bringe es »die altchristliche Glaubenslehre« auch tatsächlich fertig, »ihre Anhänger zu guten und heiligen Bürgern« zu bilden.310 Dies werde durch seine eigene Erfahrung bewiesen. Sein eigenes Leben und die Lebensgeschichten »Millionen einzelner Menschen« dienten ihm als Exempel und Beweis dafür.311 Wenn auch Jung-Stillings Leben nicht geradlinig und stetig verlief, sah er darin gleichwohl Anzeichen dafür, dass es Fortschritte gab. Gerade die Tatsache, dass die Wege oftmals verschlungen sind, bestärkten ihn darin, dass Gott etwas Sonderbares mit ihm vorhaben musste, weil ja alle Schicksale »auf einen grossen Zweck, der noch in der dunklen Zukunft verborgen liegt«, hinzielten.312 Glaubte Jung-Stilling jeweils, seine Bestimmung gefunden und erkannt zu haben, erwies sich diese im Nachhinein oftmals wieder als vorläufig, indem sie durch die Erfahrung einer anderen »Führung« übertroffen wurde. So begann zum Beispiel mit seiner zweiten Eheschliessung die Zeit, in der JungStilling in Marburg eine ausgedehnte Tätigkeit entfaltete. Jung-Stilling schreibt darüber rückblickend im Buch Lehr-Jahre (1804):
306 307 308 309 310 311 312
LG 198. Siehe LG 304. Siehe unten S. 85-92. LG 515. LG 621. Ebd. LG 463.
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. . . und nun fieng ein neuer Lebensgang an, der sich nach und nach von allen vorigen unterschied, und Stilling seiner eigentlichen Bestimmung näher brachte. 313 Als dann schließlich der R u f an den H o f des Kurfürsten nach Heidelberg erfolgte, war »nun auch die große Frage über Stillings eigentliche u n d endliche B e s t i m m u n g entschieden«. 314 c) Lebensgeschichte als Gottesbeweis D i e Erfahrungen, die Jung-Stilling mit der F ü h r u n g Gottes in seinem Leben machte, waren für ihn so evident 315 , dass er die Existenz des persönlichen Gottes als bewiesen ansah: Wer da nicht die Alles regierende Hand einer Allwissenden Allmächtigen Gottheit erkennt, der hat keine Augen zum Sehen, und keine Ohren zum Hören ... 3 1 6 So erkannte Jung-Stilling letztlich aufgrund seiner menschlichen Erfahrungen des G e f ü h r t w e r d e n s in guter u n d böser Zeit Gott. Dieser erweist sich als deijenige, der den M e n s c h e n fuhrt u n d zu einem guten Ziel bringt. 317
VI. Die Grenzen der Lebensgeschichte Jung-Stillings 1. Einleitung In der Betrachtung v o n Jung-Stillings Lebensgeschichte ist deutlich g e w o r d e n , dass der A u t o r nicht primär sein Leben u n d seine Person darstellen wollte, sondern aus d e m W u n s c h heraus seine Lebensgeschichte schrieb, das W i r k e n der Vorsehung Gottes zu bezeugen u n d v o n den Erfahrungen zu erzählen, die er in seinem Glauben gemacht hatte. Dieses Anliegen entspringt d e m Glauben an die Vorsehung eines persönlichen Gottes u n d zielt b e i m Lesepublikum auf die W e c k u n g eines solchen Glaubens, der einerseits durch die Identifizierung mit d e m Leben u n d Schicksal des Stilling u n d andererseits durch das A u f m e r k samwerden auf das eigene Leben entsteht. So erhält das Leben u n d die Figur des Stilling ein großes G e w i c h t u n d gewinnt Exemplarität für Gottes W i r k e n i m Leben eines einzelnen M e n s c h e n . 313 314 315 316 317
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LG 469. LG 594. Siehe LG 600. LG 610. Siehe unten S.86.
Diese Exemplarität u n d diesen Glauben im autobiographischen U n t e r n e h m e n so darzustellen, dass die Aufgabe erfüllt u n d der Leser angesprochen wird, ist schwierig. Jung-Stilling stieß damit an Grenzen, so dass seine Lebensgeschichte auch ihre fragwürdigen Seiten hat. Dies soll z u m Schluss ausgeführt werden.
2. Darstellung der Vorsehung oder Selbstdarstellung? W i e wir gesehen haben 318 , hielt Jung-Stilling den unausgesprochenen Vorsatz, seine Lebensgeschichte »romanhaft« darzustellen, nicht durch. D e r Konflikt zwischen D i c h t u n g u n d Wahrheit w u r d e zugunsten der »Wahrheit« entschieden. 3 1 9 D i e der kerygmatischen Intention der Lebensgeschichte zuträgliche Distanz zwischen d e m Ich des Erzählers beziehungsweise d e m Protagonisten »Stilling« u n d d e m Ich des Autors wird schließlich aufgegeben. 3 2 0 - Dieser Wechsel zur stärker autobiographischen F o r m wirkte sich problematisch aus. M i t der Fortsetzung der Jugend, insbesondere v o m Band Häusliches Leben an, als die Figur des Stilling i m m e r Bedeutsameres erlebt u n d der Verfasser durch den Erfolg der B ü c h e r zu einer i m m e r gewichtigeren Persönlichkeit w u r d e , w u r d e implizit der Schritt zur Gelehrtenautobiographie getan, o h n e dass sich der Verfasser dieser Tatsache u n d ihrer Konsequenzen bewusst gewesen zu sein schien. Das Leben Jung-Stillings w u r d e v o n dessen »Lebensroman« sozusagen eingeholt, das heißt der Verfasser erfuhr in seinem Lebens- u n d W e r degang, der sich an die Elberfelder Zeit anschloss, die Bestätigung seines in der Lebensgeschichte dargestellten Vorsehungsglaubens. Er w u r d e durch seine Lebensgeschichte b e r ü h m t u n d erlebte in der Folge weitere bemerkenswerte W e n d u n g e n seines Lebens. Jung-Stilling geriet in ein gesellschaftliches u n d geistiges U m f e l d , in d e m das Leben des Einzelnen an sich es w e r t ist, erzählt zu w e r d e n , u n d in w e l c h e m das U n t e r n e h m e n einer Autobiographie, z u m Beispiel das Schreiben der eigenen M e m o i r e n , keiner besonderen R e c h t f e r tigung bedarf. Somit ist im Verlaufe der Lebensgeschichte nicht m e h r eindeutig klar, ob n u n die Absicht des Verfassers weiterhin war, das W i r k e n der Vorsehung zu b e zeugen oder ob er sich vielleicht nicht doch selber darstellen wollte. D a m i t soll die im Verlaufe der U n t e r s u c h u n g g e w o n n e n e Erkenntnis, dass Jung-Stilling letztlich mit seiner ganzen Autobiographie eine kerygmatische Absicht verfolgte, nicht in Frage gestellt w e r d e n .
318
Siehe oben S.62. " Ingo BERTOLINI, Studien zur Autobiographie des deutschen Pietismus (Diss.), Wien 1968, 330. 320 Siehe oben S. 60. 3
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Ist in der romanhaften, idyllischen Schilderung des Stilling weithin n o c h klar, dass es d e m Verfasser d a r u m ging, Stilling als einen »Sohn der Vorsehung« 3 2 ' darzustellen u n d unter diesem theologischen Gesichtspunkt auch seine Vorzüge u n d guten Seiten hervorzuheben, wird dies später verdunkelt. Je länger u n d genauer die wunderbare F ü h r u n g des Stilling erzählt wird u n d j e m e h r die Darstellung seiner U m g e b u n g , der M i t m e n s c h e n u n d der Landschaft a b n i m m t , wird d e m Leser die wirkliche Intention undeutlich. Er hat z u n e h m e n d G r u n d , eine gehörige Selbstbezogenheit des Autors festzustellen. D u r c h die detailreiche u n d exakte Lebenschronik hindurch findet er n u r n o c h mit M ü h e zur Absicht des Buches. Bei der zusammenhängenden Lektüre aller Teile der Autobiographie n i m m t somit die Plausibilität der Darstellung allmählich ab. D i e Bescheidenheitsbeteuerungen wirken j e länger j e weniger überzeugend. 3 2 2 Jung-Stilling war sich der Schwierigkeiten, die seine kerygmatische Absicht u n d die dazu benutzte Stilisierung der einen Person des Stilling mit sich brachten, zwar bewusst. Er schreibt am E n d e des Buches Häusliches Leben: Die Geschichte lebender Personen ist schwer zu schreiben; der Mensch begeht Fehler, Sünden, Schwachheiten und Thorheiten, die sich dem Publico nicht entdecken lassen, daher scheint der Held der Geschichte besser, als er ist.323 D o c h der Verfasser beruhigte sich damit, dass er »ja nicht Stillings ganzes Leben u n d Wandel, sondern die Geschichte der Vorsehung in seiner Führung« 3 2 4 schreibe, also keine Autobiographie schreiben wolle, sondern eben eine k e rygmatische Intention hege. M i t d e m Hinweis auf die theologische Stilisierung seiner Lebensgeschichte versuchte er also, d e m Eindruck, dass es allein u m seine Person u n d ihr W e r k gehe, entgegenzuwirken. 3 2 5 Es bleibt eine Diskrepanz bestehen zwischen dem, was Jung-Stilling mit seiner Lebensgeschichte beabsichtigte u n d dem, was sie gegen außen darstellte. Dieser Eindruck entsteht, auch w e n n er i m Laufe der weiteren Abfassung, wie wir n o c h sehen w e r d e n , versuchte, seiner Intention n o c h stärker N a c h d r u c k zu verschaffen, u m damit der Gefahr zu entgehen, der Selbstbeweihräuc h e r u n g bezichtigt zu w e r d e n . Z u s a m m e n f a s s e n d k a n n gesagt w e r d e n : Weil Jung-Stillings Lebensgeschichte sich formal allmählich v o m »Lebensroman« zur Gelehrtenautobiographie entwickelte, entsteht zwischen beabsichtigtem Inhalt u n d ü b e r n o m m e n e r 321
Siehe LG 279. Siehe oben S. 64 f. 323 LG 437. 321 Ebd. 325 Anders begegnete Jung-Stilling 1779 dem Vorwurf von Rezensenten, er habe sich in den ersten drei Teilen zu unvorteilhaft dargestellt. Er habe seine Fehler nicht verschweigen dürfen. Er folge darin dem Beispiel der biblischen Schriftsteller, die ihre Fehler zur Warnung erzählt hätten. LG 658. 322
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F o r m eine Diskrepanz. D u r c h die stillschweigende Ü b e r n a h m e des Vorbildes der Gelehrtenautobiographie geriet Jung-Stilling unter d e n Z w a n g zur A p o logie u n d Selbstrechtfertigung, der diese kennzeichnet. 3 2 6
3. Funktionalisierung von Vorsehungsglauben und Leben U m d e m gattungsimmanenten Z u g zur Selbstdarstellung zu entgehen u n d die inhaltliche Absicht zu verstärken, wählte Jung-Stilling den Ausweg, u m s o präziser die Erlebnisse des Gefühltwerdens, die Gebetserhörungen etc. zu beschreiben. D o c h damit, dass er n o c h stärker das erzählte, w o r u m es i h m ging, erreichte er gerade das Gegenteil. D u r c h die im Laufe der Lebensgeschichte i m m e r genauer w e r d e n d e Schilderung des Spektakulären v o n Stillings Lebensgang tritt m e h r u n d m e h r das Autobiographische hervor. Das Ich des Verfassers bemächtigt sich der Person des Stilling u n d stellt sich in den Vordergrund. 3 2 7 Selbstverständlich tat er dies, u m n o c h besser die »Methode« der Vorsehung zeigen zu k ö n n e n . Damit erreicht er j e d o c h , dass der Leser ein sich verstärkendes theologisch-apologetisches Interesse des Autors w a h r n i m m t . Das deutende Interesse n i m m t überhand, was zu einer »Inflation« der geschilderten Ereignisse aus Stillings Leben führt. Gedeutetes u n d »tatsächliches« 328 Leben geraten vor allem in den letzten Bänden z u n e h m e n d in ein unausgewogenes Verhältnis. O b der z u n e h m e n d e n F ü h r u n g des Vorsehungsbeweises dient die Erzählung des Lebensganges des H e n r i c h Stilling schließlich allein dazu, die beweisende Kraft des Faktischen dafür zu liefern. 329 U n t e r schiede in der Wichtigkeit der Ereignisse im Lebensgang w e r d e n eingeebnet, weil alle gleichermaßen Teil der umfassenden B e w e i s f ü h r u n g sind. Das Autobiographische u n d das Theologische w e r d e n aufeinander hin funktionalisiert. Das zeigt sich daran, dass das Autobiographische auf die schlichte N e n n u n g vor allem theologisch »verwertbarer« Ereignisse reduziert wird, u n d das Theologische, also der Vorsehungsglauben, sich in der B e z e u g u n g der empirischen Nachprüfbarkeit ihrer Glaubenssätze erschöpft. Dies geht einher mit d e m Verlust plastischer Beschreibung der Beziehungen zu U m w e l t u n d Mitmenschen. D i e Folge davon ist, dass der Glaube an die Vorsehung, der d u r c h die Ereignisse des Lebensganges Jung-Stillings bestätigt, »legitimirt« 330 , u n h i n t e r fragbar wird. U m g e k e h r t w i r d ebenso der Lebensgang durch den Vorse-
3 2 6 NIGGL, Geschichte der deutschen Autobiographie, 74. - Siehe auch das Verteidigungsschreiben Jung-Stillings gegen die Kritik dreier Rezensenten (1779), LG 653-658, besonders S. 658. 327 Siehe oben S.65. 328 Siehe oben S. 18 f. und 37. 329 Siehe dazu LG 577. 330 LG 618.
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hungsglauben bestätigt und damit unkritisierbar. 331 Der Vorsehungsglaube wird einseitig auf die Erfahrbarkeit hin rationalisiert. U n d das Leben J u n g Stillings wird zur papierenen Aufzeichnungsfläche einer Vorsehungslehre, deren Wahrheit Jung-Stilling vollumfänglich mit seinem singulären Leben beweisen wollte. Indem Jung-Stilling versuchte, seine kerygmatische Absicht zu verstärken und sein Leben als Exempel dafür hinzustellen, wie die Vorsehung Menschen fuhrt, erreicht er letzten Endes das Gegenteil. Der Leser wird zunehmend ausgeschlossen und es wird ihm erschwert, dass er auf die Vorsehung Gottes in seinem eigenen Leben aufmerksam wird und zu vertrauen beginnt; es sei denn, er habe sich die genuine und implizite Absicht des Autors zu eigen gemacht, und bedenke seine eigene Geschichte bei der Lektüre der Geschichte von der Führung dieses demütigen und willenlosen Christen, der Gottes Hilfe erfährt, mit. Oder der Leser ist mit Jung-Stilling in einen kritischen Dialog getreten und bricht so die Absolutheit der Lebensgeschichte auf, die eben davon herrührt, dass Jung-Stilling Glauben und Leben aufeinander hin funktionalisierte. Durch die theologische Überhöhung seines Lebens wurde für Jung-Stilling Gott und sein Werk alles, der Mensch und sein Handeln nichts. Dadurch jedoch, dass Gott überall am Werke ist, wird alles in seinem Leben wichtig, so dass der Eindruck dieser eigentümlichen Selbstbezogenheit entsteht. U m gekehrt droht der Vorsehungsglaube, der sich auf die simpelsten Alltagserlebnisse bezieht, banal zu werden und in sein Gegenteil, eine fatalistische Haltung, umzuschlagen. — Hinter diesem Ungleichgewicht steht nicht zuletzt das u n geklärte Verhältnis von Glaube und menschlicher Freiheit.
4. Vorsehungsglaube
und die Unfreiheit
zum
Handeln
Jung-Stillings Lebensgeschichte enthält zwar die besondere und für die damalige Zeit neue Sicht des Individuums in seiner einzigartigen Lebensgeschichte. Jung-Stilling achtete auf seine Erlebnisse, Leiderfahrungen, Stimmungen usw. Doch ist es immer die Geschichte der Vorsehung, die erzählt wird. Was die eigene, konkrete und eigenbestimmte Lebensgeschichte, die gelebte Freiheit zum Handeln, angeht, war Jung-Stilling noch sehr stark in das Korsett der quietistischen und spiritualistischen Grundhaltung eingezwängt, die es ihm erschwerte, auch selber für die Gestaltung seines Lebens verantwortlich zu werden. Im Glauben daran, dass Gottes Wille und der menschliche Wille sich ausschlössen, und Gott ihn - notfalls gegen seinen Willen 332 - seiner wahren Bestimmung zuführen würde, übte sich Jung-Stilling gerne im Verzicht, selber 331 332
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Siehe LG 618. Dazu LG 608.
sein Leben anzupacken und Entscheide zu fällen. Das heißt keineswegs, dass Jung-Stilling in den einzelnen Angelegenheiten seiner Tätigkeit und seines Berufes nicht ein fleißiger Arbeiter gewesen wäre und selber Entscheidungen getroffen hätte. Doch sein Handeln, Planen und Entscheiden erstreckte sich nicht auf die großen Zusammenhänge seines Lebens. Darin zeigte er vielmehr Passivität und war einzig darum bemüht festzustellen, dass er nicht eigenmächtig am Hergang seines Weges beteiligt war. Obwohl Jung-Stilling zu dem im Pietismus verbreiteten praktischen Mittel zur Ergründung des Willens Gottes, dem sogenannten »Däumeln« oder »Stechen« 333 , kritisch Stellung bezog 3 3 4 , diente auch ihm die Historie der Wiedergebohrnen zum konkreten Trost und zur Entscheidungsfindung in Lebensfragen. 335 Auch Goethe bescheinigte Jung-Stilling in Dichtung und Wahrheit »eine gewisse Neigung, in seinem Zustand zu verharren, zugleich aber auch sich stoßen und führen zu lassen«. Er stellte »eine gewisse Unentschlossenheit, selber zu handeln«, fest. 336 Im Hinblick auf die Vernunft gelangte Jung-Stilling zwar einmal zur Einsicht, dass der Vorsehungsglaube und der Gebrauch der Vernunft als Grundlage zum Handeln sich nicht ausschließen müssten. Im Band Häusliches Leben (1789) blickte er auf seine erste, unglückliche Ehe mit Christine Heyder zurück. Dabei fiel es i h m w i e S c h u p p e n v o n den A u g e n : er erkannte i m Lichte der Wahrheit, dass sein Schwiegervater, seine seelige Christine u n d er selbst, damals, w e d e r nach den Vorschriften der R e l i g i o n , n o c h der g e s u n d e n Vernunft gehandelt hätten; d e n n es sey des Christen höchste Pflicht, unter der L e i t u n g der V o r s e h u n g , j e d e n Schritt u n d besonders die Wahl einer Person zur Heirath, nach den R e g e l n der g e s u n d e n Vernunft zu prüfen. 3 3 7
Doch diese Einsicht in die Notwendigkeit, sich seiner Vernunft zu bedienen, ging nicht sehr tief und schloss in negativer Hinsicht nicht die Einsicht in die Möglichkeit ein, mit vernünftigem Handeln eigenen Fehlern und eigener Schwachheit entgegenwirken zu können. Keine eigene Freiheit zum Handeln zu haben, bedeutete, keine Möglichkeit zu haben, Fehler zu machen. Zwar fragte er sich im Hinblick aufseine erste Ehe, die er aufgrund einer angeblichen göttlichen Eingebung geschlossen hatte: »Kann nicht menschliche Schwäche, kann nicht Unlauterkeit der Gesinnungen mit im Spiel gewesen seyn?« Doch 3 3 3 Beim sogenannten »Stechen« oder »Däumeln« wurde wahllos die Bibel oder ein dafür geeignetes Buch (zum Beispiel die Historie der Wiedergebohrnen) aufgeschlagen, um Weisung für die jeweilige Lebenslage zu bekommen. Siehe dazu SCHRÄDER, Literaturproduktion, 296. 3 3 4 LG 485 f. 3 3 5 L G 236 f. - Siehe dazu SCHRÄDER, Literaturproduktion, 304. 3 3 6 Oliver GOLDSMITH, Der Pfarrer von Wakefield. Eine angeblich von ihm selbst verfasste Geschichte. Aus dem Englischen übertragen von Andreas RITTER, Zürich 1985. GOETHE, Dichtung und Wahrheit, Frankfurter Ausgabe I, 14, 742. 3 3 7 LG 397.
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dann fand Jung-Stilling Unlauterkeit und Schwäche dennoch zuerst bei Christine, »wo . . . sich Religion und Liebe in ihre hysterischen Zufalle (mischten)«.338 - Im Rückblick (1804), wo Jung-Stilling versuchte, die Stringenz des Wirkens der Vorsehung in allen wichtigen Wendungen seines Lebens zu zeigen und dabei beweisen wollte, dass er selbst an deren Zustandekommen mit seinem Willen nicht beteiligt gewesen war, zog er eben dieses Ereignis, die Eheschließung mit Christine, dazu heran: . . . gegen alles Erwarten, gegen alle meine Pläne u n d Vorsätze, muss ich m i c h da mit einer abgezehrten, sehr schwächlichen Person am Krankenbett versprechen eine H a n d l u n g , w o r a n wahrhaftig meine Sinnlichkeit nicht Schuld war, ich that es blos aus Gehorsam gegen Gott, weil ich glaubte, es sey sein Wille. 3 3 9
Sicher gab Jung-Stilling auch seine eigene Fehlerhaftigkeit zu.340 Doch er tat es nicht im konkreten Fall. Das Zugeständnis eines Fehlers hätte erstens einmal geheißen, dass ein Christ noch Fehler machen könne, womit er in Konflikt mit dem Vorsehungs- und Heiligungsdenken gekommen wäre. U n d zweitens hätte es geheißen, dass er willentlich und aktiv in seinem Leben Stellung bezogen hätte. Doch dies ließ seine Geistes- und Denkhaltung nicht zu, weder positiv noch negativ. 341 Er vertraute auf das Wirken der göttlichen Vorsehung und nahm es in Kauf, dass das Buch seines Lebens weiße Seiten enthielt, so dass erst im Nachhinein offenbar wurde, ob das entsprechende Ereignis auf den reinen göttlichen Willen zurückging oder ob auch menschliche Unlauterkeit im Spiele gewesen war. — U n d auch im soeben geschilderten Fall wusste Jung-Stilling dies auf den Willen Gottes und auf seinen Vorsehungsplan zurückzuführen. Denn das Tragen der Folgen eigener Fehler diente wie das Durchstehen von N o t - und Leidenszeiten der Läuterung. Diese Unentschlossenheit im Handeln und Denken, die Unfähigkeit, Fehler einzugestehen und vor allem die gegen den Schluss der Lebensgeschichte durchscheinende Überzeugung, mit seinem individuellen Glaubenszeugnis allgemeinverbindliche Beweise liefern zu können, bilden die Kehrseite jenes »frommen Exempels«, das Jung-Stilling mit seiner Lebensgeschichte geben wollte und welches das unerschütterliche Vertrauen in Gottes Vorsehung bezeugt. Jung-Stilling sprach mit seiner Lebensgeschichte Menschen vieler Zeiten an. So sehr er mit seinem Glaubenszeugnis Zustimmung fand, erregte er aber auch mit seiner dahinter stehenden Haltung den U n m u t und Spott vieler Zeitgenossen und späterer Leser. Vor allen die Fälle führen zu Widerspruch, w o ihm die Hilfe aus finanzieller N o t als untrüglicher Beweis der göttlichen 338 339 340 341
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LG 397. LG 610. Siehe oben S.80, Anm.325 (LG 658). Siehe auch T H I E R S C H , Der Aufstieg und die europäische Karriere,
51.
Vorsehung galt. - In Anbetracht dieser kleinkrämerischen Vermischung von weltlichen Angelegenheiten und dem aufs Ewige zielenden Vorsehungsglauben, kritisierte Goethe diese Haltung frech und mit beißendem Spott, indem er einem Unbekannten die Worte in den M u n d legte: »