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German Pages 352 Year 2016
Stefanie Duttweiler, Robert Gugutzer, Jan-Hendrik Passoth, Jörg Strübing (Hg.) Leben nach Zahlen
Digitale Gesellschaft
Stefanie Duttweiler, Robert Gugutzer, Jan-Hendrik Passoth, Jörg Strübing (Hg.)
Leben nach Zahlen Self-Tracking als Optimierungsprojekt?
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Inhalt
E inleitung Self-Tracking als Optimierungsprojekt? Stefanie Duttweiler & Jan-Hendrik Passoth | 9
G egenwartsdiagnosen und G enealogien Taxonomien des Selbst. Zur Hervorbringung subjektbezogener Bewertungsordnungen im Kontext ökonomischer und kultureller Unsicherheit Uwe Vormbusch | 45 »Wir nennen es flexible Selbstkontrolle.« Self-Tracking als Selbsttechnologie des kybernetischen Kapitalismus Simon Schaupp | 63 »Game on, World.« Self-Tracking und Gamification als Mittel der Kundenbindung und des Marketings Sabine Schollas | 87 Benchmarking the Self. Kompetitive Selbstvermessung im betrieblichen Gesundheitsmanagement Thorben Mämecke | 103 Ernährungsbezogene Selbstvermessung. Von der Diätetik bis zum Diet Tracking Nicole Zillien, Gerrit Fröhlich & Daniel Kofahl | 123
»Der vermessene Mann?« Vergeschlechtlichungsprozesse in und durch Praktiken der Selbstvermessung Corinna Schmechel | 141 Self-Tracking als Objektivation des Zeitgeists Robert Gugutzer | 161
S ubjek te und T echnologien Social Surveillance. Praktiken der digitalen Selbstvermessung in mobilen Anwendungskulturen Ramón Reichert | 185 Selbstquantifizierung als numerische Form der Selbstthematisierung Markus Unternährer | 201 Körperbilder und Zahlenkörper. Zur Verschränkung von Medien- und Selbsttechnologien in Fitness-Apps Stefanie Duttweiler | 221 Sportstudios. Zur institutionalisierten Verdatung und Analyse moderner Körper Jan-Hendrik Passoth & Josef Wehner | 253 Das Selbst der Selbstvermessung. Fiktion oder Kalkül? Eine pragmatistische Betrachtung Jörg Strübing, Beate Kasper & Lisa Staiger | 271 »Vom Piksen zum Scannen, vom Wert zu Daten.« Digitalisierte Selbstvermessung im Kontext Diabetes Lisa Wiedemann | 293 Der vermessene Schlaf. Quantified Self in der Spannung von Disziplinierung und Emanzipation Stefan Meißner | 325 Autorinnen und Autoren | 347
Einleitung
Self-Tracking als Optimierungsprojekt? Stefanie Duttweiler & Jan-Hendrik Passoth
Dass sich die Moderne der Optimierung des Lebens verschrieben und ihren Optimierungsimpuls auch auf Körper ausgedehnt hat, wissen wir seit Foucaults Ausführungen zu Biomacht und Biopolitik (vgl. Foucault 1977). Im Bereich der Wissenschaft und der Ökonomie sowie im Bereich der Gesundheit oder des Sports spielen dabei seit Langem immer auch Zahlen eine entscheidende Rolle. Die Orientierung an statistischen Normalmaßen und an der Einpassung des individuellen Leistungs- und Trainingsprofils innerhalb eines Fensters normalisierter Gewichts-, Größen-, Bewegungs- und Pausenzeiten, das wissen wir spätestens seit Jürgen Links Studien zum Normalismus (vgl. Link 2006), gehört zur Geschichte der Herausbildung und Aufrechterhaltung moderner Selbst- und Körperverhältnisse wie die Aktenführung und die doppelte Buchhaltung zur Geschichte rationaler Herrschaft und moderner Bürokratie (vgl. Manhart 2008; Vormbusch 2007). Doch spätestens als Gary Wolf den Artikel »The Data Driven Life« (2010) in der New York Times publizierte und darin die von ihm und Kevin Kelly 2007 initiierte Quantified-Self-Bewegung und deren Motto »self-knowledge through numbers« vorgestellt hat, wurde man in der Soziologie hellhörig. Das ›Leben nach Zahlen‹ scheint eine neue Qualität zu bekommen. Self-Tracking – also die Erhebung, Sammlung, Zusammenführung und Auswertung von Daten über alle nur erdenklichen Merkmale und Funktionen des eigenen Körpers durch mehr oder weniger ausgeklügelte Verfahren – lässt uns, so Wolf, in eine neue Phase der Selbstbestimmung und damit der Selbst-Optimierung eintreten. Denn mithilfe der permanenten Aufzeichnung von Daten durch »smart wearables« oder smarte Kleidung sei es endlich möglich, mehr zu wissen und damit bessere Entscheidungen zu treffen und so die eigene Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen, die Arbeit und das Sozialleben produktiver und effizienter zu gestalten, keine Zeit mehr zu vergeuden, erquickender zu schlafen, sparsamer zu leben und lustvoller zu lieben – ohne dabei auf Expertenwissen angewiesen zu sein, dem vorgeworfen wird, der Individualität der einzelnen Körper nicht gerecht zu werden. Doch die Praktiken der umfassenden Selbstvermessung wecken auch Befürchtungen, denn die beständige Verdatung und potenziell dauerhafte Überwachung können
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zum Verlust der Kontrolle und Selbstbestimmung an Geräte, Institutionen und internationale Konzerne führen, zur Enthumanisierung durch Verengung auf Rationalisierung und Objektivierung. Diese allgegenwärtige Polarisierung der Diskursstränge, die in beiden Versionen den Geräten, den Technologien und den Verfahren große Wirkmacht zuschreibt, ist selbstverständlich noch lange kein Indiz für einen grundsätzlichen Umbruch in modernen Selbst- und Körperverhältnissen, denn ein solcher Diskurs begleitet regelmäßig die Einführung neuer Medien und Technologien. Als Indiz ist die Aufgeregtheit des Diskurses dennoch zu werten. Denn in der Tat lassen sich aktuell technische, praktische und diskursive – kurz: soziotechnische – Verschiebungen beobachten, die, so gilt es zu prüfen, weitreichende Folgen haben können. Schnell ist man dabei, diese Verschiebungen unter dem Schlagwort der Optimierung einzuordnen. Doch wir wollen genauer hinsehen: Worin bestehen diese Verschiebungen? Wie sind sie soziologisch einzuordnen und wie zu bewerten? Welche Effekte ergeben sich daraus sowohl für die Gesellschaft als auch für die Einzelnen? Das vorliegende Buch sucht erste Antworten auf diese Fragen und versucht sich an einer differenzierten Einordnung des Phänomens Self-Tracking. Dabei wird sich zeigen, dass es sich bei Self-Tracking um eine komplexe empirische Erscheinung handelt, unter deren Namen sich verschiedene Ziele, verschiedene Praktiken und verschiedene Gegenstände der Vermessung vereinen. Sprechen wir im Folgenden von Self-Tracking, so ist damit die Vermessung eigener Verhaltensweisen (also etwa Nahrungsaufnahme, Schlafrhythmus, Arbeitsproduktivität oder Internetnutzung), Körperzustände (z.B. Herzfrequenz, Blutdruck oder Blutzucker), emotionaler Zustände (in Form von Stimmungen, Glückserfahrungen oder Mustern von Ausdruckweisen) oder Körperleistungen (wie die Zahl der täglichen Schritte, die Dauer und Strecke von Lauf- und Fahrradrouten, oder die Anzahl von Fitness-Übungen) über eine bestimmte Zeit gemeint. Die Verhaltensweisen, Zustände und Leistungen des sich in konkreten Situationen befindlichen Körpers werden dabei in Daten übersetzt, die aufgrund ihrer Abstraktion weiterverarbeitet werden können: Sie können gespeichert, umgerechnet, ausgewertet und mit anderen ausgetauscht oder auch verkauft oder ›ausspioniert‹ werden. Dies ermöglicht intersubjektive, intrasubjektive und interobjektive (vgl. Latour 1996; Passoth 2010) Verhaltens- und Leistungsvergleiche, die Anlass zu Verhaltensänderung und Leistungssteigerung bieten können. In der Regel sind dabei Messverfahren im Spiel, die die Datenproduktion und -aufzeichnung standardisieren. Die sogenannten Self-Tracking-Gadgets sind häufig nicht besonders komplizierte Verbindungen von Hard- und Software: Schrittzähler, Blutdruck- und Pulsmesser oder Waagen registrieren die Umwelt auf bestimmte Weise, Algorithmen in entsprechenden Apps verrechnen und visualisieren diese Daten in Zahlen, Bildern oder anderen Symbolsystemen. Auf dem vernetzten Smartphone oder Computer werden sie gespeichert. Viele Apps sind dabei mit einer OnlinePlattform des Anbieters gekoppelt, der die Speicherung von Daten automatisiert sowie die Vernetzung innerhalb einer so genannten Community erlaubt. Die Ge-
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räte und Applikationen sind gekennzeichnet durch ihre ›smartness‹, das heißt, sie sind klein, mobil, unauffällig, intuitiv zu bedienen und sie vernetzen sich in der Regel automatisch mit den Smartphones oder Tablets der Nutzenden – und wenn gewünscht mit ausgewählten Freunden. Sie fügen sich – so zumindest der Anspruch, der von Anbieter- und Konsumentenseite formuliert wird – quasi unbemerkt in alltägliche Handlungsabläufen ein. Self-Tracking ist mithin eine Praktik, die eingebunden ist in ein soziomaterielles Arrangement aus Technik, also Hard- und Software, Diskursen, Situationen und Körpern. Die Frage der gesellschafts- und subjektverändernden Wirkung lässt sich also nicht allein im Blick auf die Geräte oder deren Technologien oder der Mensch-Maschine- respektive Körper-Technik-Beziehung beantworten. Sie erfordert einen dezidierten Blick auf die Komponenten und Referenzsysteme einer solchen Praxis, angefangen bei der auf den ersten Blick banalen, auf den zweiten Blick aber zentralen Feststellung, dass es sich beim Self-Tracking zunächst um eine Praxis des Messens handelt.
1. S elf -Tr acking als M esspr a xis Vermessung ist ein voraussetzungsvoller Prozess: Er braucht einen »Willen zum Wissen« (Foucault 1983), den Menschen und seine unbewussten, ungewussten Verhaltensmuster zu erkennen, Medien und Techniken, diese zu erheben, zu formalisieren und in Daten zu transformieren, sowie die soziale Akzeptanz für diese Medien und Technologien. Wie Stefan Rieger en détail herausgearbeitet hat, handelt es sich dabei gerade nicht um einen Vorgang der Repräsentation, vielmehr sind es technische Möglichkeiten, die die »Alphabete dessen, was am Menschen jeweils buchstabierbar sein soll, allererst schaffen« (Rieger 2001: 18). Darüber hinaus müssen bestimmte Messparameter ausgewählt werden, es bedarf der Kompetenz, mit den Messgeräten so umzugehen, dass sie ›richtige‹ Daten liefern, und es braucht Situationen, in denen man ungestört messen kann. Auch digitale Daten sind mithin »products of human action. Human judgment steps in at each stage of the production of data: in deciding what constitutes data; what data are important to collect and aggregate; how they should be classified and organized into hierarchies; whether they are ›clean‹ or ›dirty‹ (needing additional work to use for analysis); and so on« (Lupton 2015: 8). Dass Daten »dennoch den Eindruck abstrakter Objektivität und Evidenz befördern, kann dann ebenfalls mit einer Praxis, nämlich der des ›Unsichtbarmachens‹ eben dieser Selektivität und Kontextualität des Messens, erklärt werden.« (Passoth/Wehner 2013: 9) Für die Einzelnen bedeutet das unter Umständen langwierige Prozesse der Selektion, des Erwerbs und der Anpassung von Geräten an die eigenen Bedürfnisse, der Entscheidung, was man messen möchte und ob und mit wem man diese Daten teilt, sowie der Routinisierung, um das Messen in den eigenen Tagesablauf einzupassen. Dabei lässt sich zwischen dem ›active tracking‹, in dem Nutzer selbst Eingaben machen – sei es als Bilder der täglichen Mahlzeiten in der App Eatery oder
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als Texte oder Emoticons wie beim Mood Tracking –, und dem ›passive tracking‹, in dem Daten automatisch, also ohne den Input einer Nutzerin aufgezeichnet werden, differenzieren. Neben Gadgets wie dem Clip am Gürtel, der automatisch jeden Schritt vermisst, liefern zunehmend auch Dinge des alltäglichen Lebens wie die WiFi-Badezimmerwaage, die die Werte des morgendlichen Wiegens an ein entsprechendes Aufzeichnungsprogramm übermittelt, oder Gabeln1, die die Geschwindigkeit der Nahrungsaufnahme registrieren, Daten über Verhaltensweisen. Allen gemeinsam ist diesen Praktiken, das hier ein Selbst Daten über sich selbst sammelt. Doch unabhängig davon, ob es sich um ›active‹ oder ›passive tracking‹ handelt, alle Praktiken des Self-Tracking sind im Kern Visualisierungspraktiken, die etwas sichtbar machen, was zuvor – auf diese Weise – nicht sichtbar war. Sie zielen darauf ab, Implizites und Unausgesprochenes sichtbar und so der Beobachtung, Analyse und nicht zuletzt der Überwachung und Kontrolle zugänglich zu machen (vgl. auch Reichert in diesem Band). Dabei erfassen die Gadgets auch Lebensäußerungen, die zuvor nicht erfass- und messbar waren. Dass Körperzustände die Gestalt von Zahlen, Kurven, Statistiken annehmen und sich so zu einer vermeintlich wissenschaftlichen Form verdichten, übt offenbar eine ungemeine Faszination aus (vgl. Bode/Kristensen 2015; Duttweiler 2016; Pharabod et al. 2013; Ruckenstein 2014), die sich aus der Vorstellung speist, Daten, Kurven und Statistiken sprächen für sich selbst und bildeten die Realität unmittelbar ab. Selbstvermessungspraktiken reihen sich mithin in jene (wissenschaftlichen) Verfahren ein, mit denen Wissen über den Menschen an seinem Bewusstsein vorbei erhoben wird. »An die Stelle der Erzählung bekennender und um Glaubwürdigkeit bemühter Subjekte treten Verfahren, die zur Autorisierung des Wissens die subjektiven Anteile dieses Wissens so gering wie möglich halten müssen.« (Rieger 2001: 467) Die aus den Messungen resultierenden Kurven sollen Objektivität gewährleisten, »ohne dass irgendwelche korrumpierende Schreiberhände ihre Finger und mit diesen der Objektivität nur abträgliche Subjektivität im Spiel hätten« (Rieger 2001: 12), denn Algorithmen, Kurven und Statistiken gelten als exakter und objektiver als die menschliche Wahrnehmung und Beurteilung. »Data visualizations can be interpreted as more ›authentic‹ insights into daily lives than subjective experiences. This intertwines with the deeply rooted notion that seeing is believing, a reminder of the fact that even if the market in self-tracking technologies is relatively recent, the way in which it promotes visual engagements with bodies and minds is firmly rooted in our culture« (Pantzar/ Ruckenstein 2015: 103). Zahlen und Kurven entwickeln eine besondere Kraft, da sie »schwerer negierbar sind als sprachlich formulierte Aussagen. Während Sprache aufgrund ihrer binären Struktur über das Gegebene hinaus verweist und damit gewissermaßen von selbst Kontingenz erzeugt, ist in numerische und visuelle Repräsentationen nicht von vornherein eine Alternativfassung eingebaut.« (Heintz 2007: 81) Somit sind Zahlen und Daten besser als Texte geeignet, »Objek1 | https://www.hapi.com/product/hapifork.
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tivität zu signalisieren und dadurch Akzeptanz zu mobilisieren.« (Heintz 2007: 81) Praktiken, in denen Zahlen produziert werden, versprechen dementsprechend akzeptiertes, objektives, standardisiertes und so von Kontingenz befreites Wissen zu produzieren. Dabei folgt die visuelle Präsentation der Daten und Werte meist einer doppelten Plausibilisierungsstrategie: Zum einen verweisen Kurven, Statistiken, Tabellen oder Kuchendiagramme dezidiert auf Wissenschaftlichkeit – auch wenn sie sich an den Maßstäben der Wissenspopularisierung wie Anschaulichkeit, Allgemeinverständlichkeit, fehlendem theoretischem Hintergrund oder wissenschaftlich-theoretischen Anschlüssen orientieren. Und zum anderen suggerieren (stilisierte) Bilder und Grafiken die vermeintlich unmittelbare Repräsentation der Wirklichkeit und erzeugen so eine kaum hinterfragte Evidenz. Durch den Rückgriff auf bekannte Steuerungs- und Bewertungssysteme werden damit nicht zuletzt auch die normativen Implikationen unmittelbar evident und kaum hinterfragbar. Auf der Seite der Rezipienten setzt das neben rudimentärer Data Literacy auch ein durch habitualisierte Wahrnehmungs- und Interpretationsroutinen geschultes intuitives Bildverstehen gängiger kultureller Codierungen und Bewertungssysteme voraus (Duttweiler 2016). Dabei entwickelt insbesondere die Kurve eine »agentive force: it pushes people to act and reflect« (Ruckenstein 2014: 73). Tracker, so beschreiben es auch Sylvie Pharabod und Kolleginnen und Kollegen, werden in eine spezifische Dynamik hineingezogen, da sie die Ästhetik der Kurve nicht stören und Brüche und Ausreißer vermeiden möchten (Pharabod et al. 2013: 118). Ein Sportstudent drückt diese »force de la chaine« folgendermaßen aus: »Man will sich ja auch nicht seine Statistik versauen mit einem Tag nach unten. Das ist dann ja auch nicht so schön. […] Denn wenn ich da mal null stehen habe, das ist dann einfach doof. Es sieht halt so aus, als wäre man faul auch wenn man sage ich jetzt mal den Rest der Woche trainiert hat. Und – Ja, weiß ich gar nicht, man fühlt sich: aaahhh. Pppp ja, wenn man es dann doch hochladen würde, dann sind es Sachen, die dann doch rausstechen würden, dass man da halt nicht trainiert hat. […] Man versucht halt – makellos.« (Zit.n. Duttweiler in diesem Band)
Die Sichtbarkeit, die als unmittelbares Feedback auf eigene Verhaltensweisen und Zustände gedeutet wird, ist dabei eng mit den modernen Vorstellungen von Kontrolle und Selbstführung durch ein Mehr an Wissen verknüpft – also mit der Idee, dass durch das Aufdecken bislang unbekannter Aspekte unseres Körpers und unseres Lebens ein Mehr an Kontrolle über Körper und Leben entsteht (vgl. Ruckenstein 2014: 69). Dementsprechend impliziert die gesteigerte Sichtbarkeit der Körperinformationen auch eine erhöhte Aufforderung, verantwortlich zu handeln. Aber auch unabhängig vom direkten visuellen Feedback – sei es seitens der Geräte oder, vermittelt durch sie, seitens anderer Nutzer ähnlicher Geräte – verspricht die durch Selbstvermessung gesammelte große Datenmenge neues Wissen und macht so das alltägliche Leben vieler für wissenschaftliche,
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ökonomische und staatlich-präventive Neugier und Intervention zugänglich (vgl. auch Schaupp in diesem Band). Diese Suche nach dem Mehr an Wissen, das zunehmend bessere und effektivere Führung des Selbst und des eigenen Körpers erlaubt, schließt dabei sehr deutlich an das Leben nach Zahlen an, an das wir uns in der Moderne gewöhnt haben. So neu der Begriff ›Self-Tracking‹ auch sein mag, verobjektiviertes Wissen über sich zu erlangen, sich selbst zu optimieren und dabei auf verschiedene Medien zurückzugreifen, ist alles andere als eine Erfindung der letzten Dekade. Ein Blick in die Geschichte der Selbstvermessung hilft, die Verschiebungen deutlicher werden zu lassen, die die Praxis des Self-Trackings gegenüber der bekannten, modernen Praxis der zahlenförmigen Lebensführung auszeichnet.
2. E ine kleine (M edien -)G eschichte der S elbst vermessung Wissen über sich zu erzeugen, ist elementar für die Gesellschaftsformation und die Subjektformation der Moderne. Für diejenigen, die ihren Körper verändern oder ihn vermessen und disziplinieren wollen, scheint darüber hinaus die Figur des Besser-werden-Wollens, der Selbstoptimierung, handlungsleitend zu sein. Dabei sind sowohl die Erzeugung von Wissen als auch die erfolgsorientierte Selbstoptimierung nicht ohne den Bezug zu Kulturtechniken und das ›Dazwischen‹ von Medien denkbar, deren soziotechnische Materialitäten eine je spezifische Potenzialität entfalten und komplexe Affektivitäten initiieren. So werden schon bei Vorläufer-Technologien des Self-Trackings unterschiedliche Affekte wahrscheinlich, wie etwa das Begehren, eine Liste zu vervollständigen, die Befriedigung, ›sich‹ in eine Tabelle einzutragen, die Erleichterung, Punkte einer Liste abzuhaken, oder die Beruhigung, die daraus folgt, seine Erlebnisse und Erfahrungen einem Tagebuch anzuvertrauen. Sie sind spiegelbildlich begleitet von der Ernüchterung, keine Eintragungen in die Tabelle machen zu können, der Angst vor dem weißen Blatt, der Frustration, die richtigen Worte nicht zu finden, oder dem Unbehagen, sich selbst mittels vorgegebener Kategorien zu beschreiben. Praktiken der systematischen Blicks des Selbst auf sich selbst und die ›Arbeit am Selbst‹ reichen bis in die antike Diätetik zurück (vgl. auch Schmechel und Zillien, Fröhlich und Kofahl in diesem Band). Von der antiken »L’écriture de soi« (Foucault 1983) über christliche Selbstreflexionspraktiken zum (früh-)bürgerlichen Tagebuchschreiben waren dabei vor allem Wort und Schrift und die Orientierung an philosophischen oder ethisch-moralischen Wissensbeständen die prominenten Medien der Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle (vgl. auch Reckwitz 2006b). Zu den ersten bekannten Medien, die die Selbstbeobachtung nicht in Worte kleideten, gehörten die Tabellen zur moralischen Vervollkommnung (vgl. Vormbusch in diesem Band), mit denen Benjamin Franklin im 18. Jahrhundert allabendlich sein Handeln in Bezug auf die dreizehn von ihm festgelegten Tugenden registrierte und bilanzierte. Auch in der Ratgeberliteratur der 1920er Jahre
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galten Tabellen und Pläne zur systematischen Überwachung der Lebensführung als Königsweg zum Erreichen der eigenen Ziele. Sie greifen die Franklin’sche Standardisierung und Rationalisierung auf, entfernen sie jedoch aus dem Bereich des Ethisch-Moralischen und zielen auf individuelles Glück und persönlichen Erfolg (vgl. auch Duttweiler 2015). Auf den Körper und dessen Befindlichkeiten im Modus von Zahlen zu reflektieren, ist über Jahrhunderte das Geschäft der Medizin. Systematische Vermessungen des eigenen Körpers wurden zunächst von denen vorgenommen, die medizinische Forschung an sich selbst betrieben. Exemplarisch sei hier Sanctorius von Padua genannt, der im 16. Jahrhundert eine Waage erfand, mit deren Hilfe er 30 Jahre lang täglich registrierte, wie viel er zu sich genommen und wie viel er wieder ausgeschieden hat. Frühe Beispiele für die Verallgemeinerung der medizinischen Selbstvermessung jenseits medizinischer Forschung sind Personenwaagen, Fieber- und Basalthermometer oder Blutdruckmessgeräte. Ähnlich wie von heutigen Self-Tracking-Gadgets ging von ihnen zunächst eine große Faszination aus, wie sich an der Einführung der Personenwaage Ende des 19. Jahrhundert zeigen lässt. Zunächst im öffentlichen Bereich dann im eigenen Badezimmer eingesetzt (vgl. Crawford et al. 2015), war sie Ausdruck eines verstärkten Ernährungsbewusstseins und diente in Kombination mit einem modernen Essregime, das sich bereits auf Kalorientabellen stützen konnte (vgl. Merta 2008: 370), der Selbstdisziplinierung und der Herstellung eines ›normalen‹ Körpergewichtes. Bereits auf diesem einfachen Niveau war diese zahlenförmige Betrachtung des Körpers nicht lediglich eine individuelle oder medizinische Praxis. Zahlen und ihre systematisierte Notation und Verrechnung erzeugen Beobachtungs- und Interventionsmöglichkeiten für bislang ausgeschlossene Dritte: So versuchten etwa Banting und John Hutchinson schon in den 1860er Jahren für eine Versicherungsgesellschaft Normwerte für ein gesundes Körpergewicht zur Risikominimierung und optimierten Kostenkalkulation zu errechnen (vgl. Thoms 2000: 300f). Das gilt auch für die in den 1970er und 80er Jahren populär gewordene Selbstvermessung des Blutdrucks. Auch sie wurde zur medizinischen und präventiven Überwachung und Kontrolle der eigenen Körperwerte eingesetzt, diente darüber hinaus jedoch zugleich als »Verstärker von Handlungskompetenzen und sozialer Unabhängigkeit«, als »Medium von Selbsterfahrung und Selbstdefinition«, als »Mittel von Partizipation und Distinktion« sowie als »Medium der Selbstinszenierung« (Schneider 1994). Diese Praktiken der Vermessung sind in standardisierte Regime der Gesundheit respektive der moralischen Vervollkommnung eingebunden, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie an klare Normalwerte gebunden sind. Es ist ein Protonormalismus, der eindeutige Grenzwerte kennt und mit Expertenwissen verknüpft ist, das in die Etablierung von Grenzwerten eingeht: Wer gesund ist und warum er gesund ist, ist eine Frage des klinischen Blicks, ob er in der Klinik stattfindet oder im normalisierten Alltag. Die klassischen Praktiken der Körperdatenmessung sind dem Paradigma der Prävention und der Heilung verpflichtet – Optimierung meint hier also: Wieder-
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herstellung von Gesundheit oder Vermeidung von Krankheit. Auf die damit einhergehenden Verbindungen zwischen staatlicher Kontrolle und Selbstkontrolle, die sich in der wohlfahrtsstaatlichen Orientierung auf die Gesundheit der Bevölkerung – und nicht auf die der Einzelnen – manifestieren, ist im Anschluss an die Arbeiten von Jürgen Link hingewiesen worden (vgl. z.B. Mämecke 2016) Die Rolle der Vermessung und der statistischen Instrumente ist es dabei vor allem, für Sozialpolitik sowohl legitimierend zu sein als auch als Prüfstein und Ausgangspunkt von Regulationsversuchen zu fungieren (vgl. Muhle 2008). Besonders eng ist der Zusammenhang zwischen Vermessung/Quantifizierung und Steigerung/Optimierung im Bereich des Sports, in dem sich die Rationalisierungs-, Quantifizierungs- und Optimierungstendenzen der Moderne in paradigmatischer Weise verdichten (vgl. Guttmann 1978). Die Orientierung am (spielerischen, aber zugleich bedeutsamen) Wettbewerb und das Streben nach Sieg und Überbietung sind auf den objektiven, fein abgestuften Leistungsvergleich und damit auf Medien der Quantifizierung angewiesen. So war auch jenseits des Leistungssports der Einsatz von (Stopp-)Uhren, Puls- oder Herzfrequenzmessern, Tachometern oder von Papier und Stiften oder Excel-Tabellen schon lange vor der Einführung automatisierter Vermessungs- und Aufzeichnungsmedien populär. Die Praktiken des Sports sind durchzogen von technischen Mitspielern: Actionkameras und Zubehör, Aktivitätstracker, Elektrostimulatoren und Zubehör, Entfernungsmesser, Fahrradcomputer, Geschwindigkeitsmesser, GPS für Multisport, Höhenmesser, Kompasse, Neigungsmesser, Odometer, Pulsuhren, Schrittzähler, Schwimmcomputer, Stoppuhren sowie Windmesser. Sportlerinnen und Sportler sind Avantgarde, wenn es darum geht, die körperlichen Leistungen zu vermessen und dazu technische Geräte einzusetzen. Denn gerade im Sport wird quantifizierten Daten unterstellt, Auskunft über die eigene Leistung zu geben und es so zu erlauben, sich zu sich und anderen objektiv ins Verhältnis zu setzen. Im Sport wird daher nicht nur die Durchsetzung in Konkurrenzsituationen und die Behauptung im Wettbewerb eingeübt (Becker 1991: 224), sondern auch die Positionierung qua Zahlen und Werte, die gerade keine Ideal- oder Grenzwerte darstellen, sondern immer nur momentane Durchgangsstadien einer noch besseren Leistung markieren. Orientierung bietet das sich ständig verändernde Feld der Konkurrenz. Sport ist somit ein Bereich flexibler Normalisierung, der seine normalisierende Kraft aus dem Abgleich und der Orientierung der Beobachtung des Feldes gewinnt. Gerade am Sport ist also schon früh eine Veränderung zu erkennen, die für aktuelle Self-Tracking-Praktiken paradigmatisch ist: Denn hier finden sich einerseits schon lange sowohl Elemente des Protonormalismus, etwa in der Auseinandersetzung mit der angleichenden und standardisierenden Rolle von Trainingspersonal und Medizin. Sie sind andererseits in ihrer Orientierung auf eine immer nur statistische Leistungsgrenze, die sich beständig nach oben verschiebt, durchwoben mit Elementen des flexiblen Normalismus. Zudem gibt es im Sport schon lange Varianten des gezielten Parametrisierens des Trainings, etwa wenn man beim Body-Building einzelne Muskelgruppen überproportional
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trainiert oder wenn man in Vorbereitung auf Extrem- und Dauerbelastungen gezieltes Ausdauertraining betreibt. Diese Verknüpfung von Protonormalismus und flexiblem Normalismus (vgl. Link 2006; vgl. auch Passoth/Wehner in diesem Band) ist auch für eine Reihe aktueller Selbstvermessungspraktiken charakteristisch. Das »reflexive monitoring self« (Lupton 2014a, 2014b), das sich formalisierter Wissensbestände und Reflexionsschemata sowie Medien und Technologien bedient, ist mithin ebenso wenig neu wie die Verbindung von Selbstvermessung mit Normalisierung und Selbstoptimierung. Aktuell gewinnt es darüber hinaus Plausibilität durch die Verbindung zu anderen Diskursen und Praktiken der Rationalisierung und Überbietung: dem Ratgeberdiskurs um eine glückliche oder erfolgreiche Lebensführung (vgl. Duttweiler 2007), dem Selbstsorgediskurs um Gesundheit und Fitness oder den Diskursen über Körperideale und zielführendes Ernährungsverhalten ebenso dem prototherapeutischen Diskurs um Selbstverwirklichung und persönliches Wachstum (vgl. auch Unternährer in diesem Band). Zugleich etablieren sich soziotechnische Arrangements, die für diese Praktiken eingerichtete Umstände schaffen und die so sowohl als Treiber als auch als institutionelle Stimme kollektiver (Un-)Vernunft wirken können.
3. S oziotechnische V erschiebungen Heute ist Selbstvermessung sowohl aus dem medizinischen Feld und dessen Logik von Heilung und Prävention herausgetreten – der klinische Blick (vgl. Foucault 1976) hat sich auf das Feld der gesamten Lebensführung, wie Essen, Schlaf, Bewegung, Beziehung, Emotionen, sowie der eigenen Arbeitseffektivität und des Zeitmanagements ausgedehnt – als auch aus dem Bereich von Sport und Fitness. Die Logik der permanenten Leistungssteigerung, des Wettbewerbs und der Konkurrenz hat sich ebenso verbreitet wie die der permanenten Sorge um sich. Doch wie ihre Vorläufer sind auch die aktuellen Selbstvermessungspraktiken untrennbar mit Normen und Normalwerten, mit wissenschaftlichen Klassifikationen und standardisierten Maßstäben sowie mit der Anrufung verbunden, für sich selbst, seine psychische und physische Gesundheit, seine Leistungsfähigkeit und sein Wohlbefinden zu sorgen sowie seine individuellen (körperlichen) Leistungen zu steigern. Und auch ihr Einsatzpunkt erinnert an die Vorläufer, denn Vermessung des Selbst ist alles andere als eine ausschließlich individuelle Angelegenheit oder eine freiwillige Praxis. Sie vollzieht sich in der Regel in Bezug auf relevante andere, ist auf sie bezogen und zum Teil von ihnen initiiert, seien es on- und offline Sport- oder Selbsthilfe-Communities oder familiäre Zusammenhänge (Lomborg/Frandsen 2016). Wie Deborah Lupton herausgearbeitet hat, lassen sich dabei verschiedene Grade der Freiwilligkeit der Erhebung und verschiedene Modi der Nutzung der Daten ausmachen – auch wenn der Diskurs die Selbstbestimmung betont. »In some contexts people are encouraged, ›nudged‹, obliged or co-
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erced into using digital devices to produce personal data which are then used by others.« Lupton macht daher fünf Modi des Self-Tracking aus: »private, communal, pushed, imposed and exploited« (Lupton 2014b: 2). Dennoch ist nicht alles beim Alten geblieben. Folgt man der Einschätzung der zentralen Protagonisten der Self-Tracking-Bewegung, dann sind es vor allem neue Technologien und neue Anwendungen, die den Wandel zu aktuellen Formen der Selbstvermessung, Selbstverdatung und Selbstoptimierung antreiben. In den Worten von Gary Wolf: »Then four things changed. First, electronic sensors got smaller and better. Second, people started carrying powerful computing devices, typically disguised as mobile phones. Third, social media made it seem normal to share everything. And fourth, we began to get an inkling of the rise of a global superintelligence known as the cloud.« (2010) Aber wenn wir eines aus der inzwischen langen Geschichte der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Technologie wissen, dann ist es, dass veränderte soziotechnische Arrangements eigentlich nie die Folge der Einführung neuer Technologien sind – dafür ist das Gefüge bestehender Praktiken und Institutionen zu träge –, sie aber auch eigentlich nie die Folge eines vorgängigen sozialen Wandel sind – dafür sind Technologien viel zu sehr von den in sie eingeschriebenen kulturellen Orientierungen geprägt (vgl. Passoth 2008). In Bezug auf die Self-Tracking-Praktiken zeichnen sich quantitative und qualitative soziotechnische Veränderungen ab, deren Konturen zunehmend deutlicher zu erkennen sind. Quantitativ lässt sich eine extreme Ausdehnung der Praktiken des ›Enhancements‹ und der Optimierung der Leistungsfähigkeit des eigenen Körpers beobachten. Die gezielte Modifikation einzelner Körperteile oder ihrer Funktionen reicht von der Optimierung des Schlafs oder des individuellen Verhältnisses von Körper zu Kaffee und Fettzufuhr bis zu Versuchen mit Cochlea-Implantaten oder mit unter die Haut implantierten Magnetplättchen, wie sie zum Beispiel die Mitglieder des Cyborgs e.V. auf ihren ›plug’n’play‹-Treffen durchführen. Einige dieser Techniken haben ihren Ursprung in der medizinischen Prothetik, andere werden für den individuellen Körper und die jeweils eigene Idee neu entwickelt. Qualitativ zeigt sich eine deutliche Verrechenbarkeit des gesamten Lebens. So ist die technisierte Rechenbarmachung des Alltags sprunghaft fortgeschritten. Smartphones, Apps und erschwingliche Messgeräte mit Mikrosensorik erlauben immer differenziertere Messungen am eigenen Leib. Dass sich Praktiken der Vermessung und Verdatung veralltäglichen werden, ist angesichts dieser soziotechnischen Verschiebungen nicht unwahrscheinlich. Denn durch kleinere und billigere Sensortechnik, komplexe Algorithmen, internetfähige Geräte wie Tablets, Armbänder, digitale Kameras und Smartphones, deren körpernahes Herumtragen schon heute üblich geworden ist, ist die unkomplizierte Datenerhebung und Datenübertragung in Echtzeit möglich. Durch ihre Smartness und Alltagstauglichkeit bewegen sie sich zwischen Zentrum und Peripherie unserer Aufmerksamkeit, bis wir aktiv den Fokus auf sie richten (vgl. zum scheinbar harmlosen Spiel mit den Daten auch Schollas in diesem Band). Dieser
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Wahrnehmungsmodus ähnelt so sehr der alltäglichen Erfahrung, dass die Anwesenheit der Gadgets als selbstverständlich gesehen wird (vgl. Gilmore 2015). Ihre Attraktivität liegt darin, uns zu beruhigen, da sie dasjenige, was in der Peripherie ist, mit mehr Details und mehr Wissen anreichern und so (das Gefühl der) Kontrolle erhöhen. Zudem zeigt die Einbettung in institutionelle Kontexte der Medizin, der Pflege und des Sports, dass die so alltäglich gewordenen tragbaren Geräte nur ein kleiner Ausschnitt des kommenden Arrangements individueller Selbstund Körpervermessung sind. Es ist absehbar, dass die Modi der Selbstvermessung, die mehr oder weniger ›sanften‹ Zwang auf die Einzelnen ausüben, sich zu vermessen und ihre Daten an diese Institutionen weiterzuleiten, zunehmend zentraler werden. Schon derzeit regen Gesundheitsämter und Krankenkassen sowie Arbeitgeber oder Schulen und Universitäten den Einsatz von Wearable-Technologien an, um Kundendaten zu erhalten und auszuwerten und ihre Mitglieder zu gewünschten Verhaltensweisen – sei es mehr Bewegung, gesunde Ernährung oder effizientere Arbeit – anzuregen, zu verpflichten oder zu nötigen (vgl. auch Mämecke in diesem Band). Dass dies nicht nur von den Krankenkassen gewollt, sondern auch von den Nutzenden akzeptiert würde, lässt sich aus einer Studie des Marktforschungsunternehmens yougov schlussfolgern (Rothmund et al. 2015): »32 % der Bundesbuerger [können sich] vorstellen, gesundheitsbezogene Daten an Krankenversicherungen mitzuteilen, um Vorteile zu erhalten. Jeder fünfte Befragte zieht sogar die digitale Vermessung der eigenen Kinder in Betracht Aber die meisten der Befragten haben auch ein Gespür für die Schattenseiten der Selbstvermessung: 73 % ahnen, das bei einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes mit einer Beitragserhöhung ihrer Krankenkasse zu rechnen waere, wenn diese Selbstvermessungsdaten in die Berechnungsmodelle für Beitragssätze integriert. Und sogar 81 % glauben, dass ihre Daten für andere Zwecke verwendet werden.« (Zit.n. Selke 2016: 5)
Zudem bewegen wir uns immer mehr innerhalb eingerichteter Umgebungen: »We may carry our sensors on us, but we also enter into sensor-equipped places that automatically start to generate data in response to us.« (Lupton 2016: 71; vgl. auch Passoth und Wehner in diesem Band)
4. V on A vantgarden und P roblemlösungen Anzunehmen ist, dass sich durch die soziotechnischen Veränderungen auch Veränderungen in der Anwendung und Nutzung ergeben. Doch noch ist es weitgehend unbekannt, wie viele Menschen welche Verfahren der Selbstvermessung nutzen. Pharabod et al. (2013) betonen, dass der Großteil der Messungen durch die Suche nach einer praktikablen Lösung für Probleme im alltäglichen Leben gekennzeichnet ist. Auch andere Studien zeigen, dass Optimierung eher nicht im Fokus der Nutzenden steht – interessanterweise nicht einmal bei den Vertreterinnen der
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Selbstvermessungs-Avantgarde. Lediglich für den Bereich des Gesundheits-Trackings gibt es Hinweise auf die Verbreitung der Nutzung. In einer repräsentativen landesweiten Telefonbefragung von 3.014 Erwachsenen in den USA, die das Pew Research Center in Zusammenarbeit mit der Californian Healthcare Foundation 20122 durchführte, gaben 60 % an, dass sie ihr Gewicht, ihre Diät oder ihre Fitnessübungen tracken, 33 % tracken einen Gesundheitsindikator oder Symptome, wie Blutdruck, Blutzucker, Kopfschmerz, oder ihren Schlaf. Das Messen geschieht dabei in der Regel konventionell und informell: 44 % merken sich die Ergebnisse ausschließlich im Kopf, 34 % notieren sie in einem Notizbuch und nur 20 % nutzen eine Form von Technologie wie eine Tabelle, Webseite, App oder ein Messgerät. Der Nielsen’s Connected Life Report gibt Auskunft über die Nutzung von »connected-wearable technology« durch 2.313 Befragten, die an dieser Technologie interessiert waren. Die Mehrheit der Wearable-Nutzer war jung, nahezu die Hälfte (48 %) zwischen 18 und 34 Jahren, wobei die Geschlechterverteilung ausgewogen war. Die Untersuchungen des auf digitale Technologien spezialisierten Beratungsunternehmens Endeavour Partners (vgl. Ledger/McCarey 2014) ergaben zudem hinsichtlich der Nutzung eine bimodale Altersverteilung: Die jüngere Kohorte (2534 Jahre) fokussiert primär auf Fitness-Optimierung, die älteren (55-64 Jahre) auf Gesundheit und Lebensverlängerung. Zugleich aber zeigte sich, dass im Jahr 2013 zwar 10 % der Amerikaner ein Gerät besaßen, deren Nachhaltigkeit aber gering ist, sodass mehr als die Hälfte der Konsumenten das Gerät nicht mehr nutze, ein Drittel der Konsumenten hat die Nutzung nach 6 Monaten aufgegeben. Die Folgestudie von Mai bis Juni 2014 ergab allerdings ein deutlich langanhaltenderes Interesse: Nun gaben 65 % der Befragten an, die Geräte seit mehr als einem Jahr zu nutzen (vgl. Ledge 2014: 2). Dabei ergab sich auch, dass die Geräte besonders beliebte (Firmen-)Geschenke sind – ein Drittel der US-Konsumenten bekam seinen Aktivitäts-Tracker geschenkt, 6 % davon von ihrem Arbeitgeber. Über die Gründe dieser Tendenz finden sich aussagekräftige Indizien, die zum einen die Geräte betreffen: »Some people find wearable self-tracking devices not fashionable enough, or not waterproofed enough, or too clunky or heavy, or not comfortable enough to wear, or find that they get destroyed in the washing machine when the user forgets to remove them from the clothing.« (Lupton 2015: 185) Zum anderen betreffen sie ihre Nutzung, die auch als störend, gängelnd oder entmündigend wahrgenommen wird. Gesicherte Angaben über die Nutzung im deutschsprachigen Raum sind besonders rar, ein paar nicht repräsentative Studien zeigen allerdings auch hier Tendenzen. So ergab die nicht repräsentative Online-Befragung zum Thema SelfTracking der Gruner + Jahr-Tochter welldoo GmbH vom Herbst 2014, dass über die Hälfte der Befragten (56 %) noch keine Erfahrung mit Self-Tracking hat, es sich aber in Zukunft vorstellen kann. Die häufigste Nutzung entfällt auf Sportund Bewegungs-Apps, die Hälfte der teilnehmenden Männer und Frauen kontrol2 | www.pewinternet.org/Reports/2013/Tracking-for-Health.aspx.
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lieren ihr Gewicht mit mobilen Anwendungen und 18 % überprüfen ihr körperliche Daten wie Blutdruck und Blutzucker. Als Motive geben sie an, die Gesundheit verbessern zu wollen (83 %), sie wollen aber auch »einfache Erkenntnisse ableiten (91 %) und neue Erkenntnisse erhalten (84 %). Aber nur wenige (18 %) haben Lust, sich mit anderen darüber auszutauschen oder zu vergleichen« (Gauss 2014). Dezidiert nach der Nutzung von Gesundheits-Apps fragte ein Team des Unternehmens sanawork Gesundheitskommunikation 238 Verbraucher, 18 Ärzte, 20 Apotheker, 25 Krankenkassen und 15 Arzneimittelhersteller. Dabei zeigte sich, dass 80 % der Krankenkassen und 80 % der Arzneimittelhersteller eigene Apps anbieten; 33 % der Ärzte und 20 % der Apotheker empfehlen ihren Patienten die Nutzung. Allerdings nutzen die meisten Verbraucher diese Empfehlungen nicht, sondern suchen anhand von Suchbegriffen in App-Stores. Uneindeutig sind die Angaben über die Nutzung der Daten in der ärztlichen Behandlung. So geben nur wenige Befragten an, sich mit den behandelten Ärzten darüber auszutauschen, jedoch erklärt jeder dritte Arzt, die Daten von Patienten bereits jetzt schon »häufig« oder »regelmäßig« in die Therapieplanung mit einzubeziehen (vgl. Kramer et al. 2014). Dies- und jenseits der medizinischen Anwendungen zeigt sich mithin ein mehrdimensionales Bild. Exemplarisch wurde diese Komplexität unterschiedlichen Dimensionen und Logiken des Selbstvermessens in einer qualitativen empirischen Studie von Pharabod et al. (2013) rekonstruiert. In der Analyse von 40 teilstrukturierten Interviews, Blogeinträgen sowie teilnehmender Beobachtung bei Quantified-Self-Treffen in Paris konnten die Autorinnen feststellen, dass SelfTracking in der Regel eine intime, wenig dauerhafte Praktik darstellt und dass sich verschiedene, sich überlappende Logiken der Selbstvermessung identifizieren lassen. Erstens lässt sich die Logik der Überwachung beobachten, deren Ziel das Risikomanagement darstellt. Die von der Logik der Überwachung organisierten Praktiken sollen eine Verhaltensweise oder einen bestimmten Körperwert kontrollieren. Selbstvermesser, die dieser Logik folgen, haben auf der Basis von (oft selbst definierten) Kriterien einen bestimmten Schwellenwert festgelegt, den sie nicht überschreiten dürfen. In den meisten Fällen bezieht er sich auf vorgegebene, meist medizinische Normen, zum Teil wird der Schwellenwert aber auch persönlich bestimmt, z.B. nicht mehr als 58 kg zu wiegen. Die Forscherinnen haben beobachtet, dass den Trackern diese Praktiken keinen Spaß machen, denn der Vorgang des Messens und das Ablesen der Messungen verursachen meist schlechte Gefühle; die Interviewpartner beschreiben den Prozess oft als deprimierend, entmutigend oder angsteinflößend. Die Daten, die hierbei erhoben werden, werden in der Regel nicht mit anderen geteilt, da sie medizinisch oder zu intim sind. Dennoch sind die Nutzer online aktiv und geben sich in Foren wechselseitige Hilfe und Ratschläge (vgl. Pharabod et al. 2013: 108ff.). Zweitens zeigt sich eine Logik der Routinisierung. Hier geht es darum, schlechte Gewohnheiten abzuschaffen – z.B. nicht zu viel zu rauchen und oder weniger Alkohol zu trinken –, eine neue Verhaltensweise einzuüben und neue Routinen ausbilden. Sind diese Ziele erreicht und die neu-
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en Gewohnheiten etabliert, beenden die meisten die Selbstvermessung. Auch hier werden die Daten als sehr intim verstanden und auch hier scheuen sich die Tracker vor negativer Kritik durch andere. Die Daten werden auch hier häufig nicht geteilt. Die dritte Logik durchzieht die Praktik der Leistungsperformance. Meist werden hier sportliche Leistungen sowie das Gewicht vermessen. Diese Praktiken gewinnen ihren Sinn nicht aufgrund einer Schwelle, sondern in einem selbstgesteckten Ziel. Hier werden die Daten gern geteilt und man tauscht Messergebnisse, Erfahrungen und Wissen über Messmethoden aus, um sich gegenseitig zu ermutigen oder um in Wettbewerb miteinander zu treten. Diesen Self-Trackern macht ihre Praktik Freude – insbesondere, wenn die Indikatoren zufriedenstellende Entwicklungen zeigen. Die Praktiken der Performance folgen dabei festgelegten Normen. Die Nutzenden versuchen sich mit denjenigen zu messen, die gleichen Geschlechts und auf ähnlichem Niveau sind, die ähnliche Ziele verfolgen oder in der gleichen Alters- und Gewichtsklasse sind. Dabei werden die Zahlen genutzt, um Vergleichbarkeit herzustellen und Übereinstimmungen zu finden. Darüber hinaus lässt sich die Logik des Selbstexperiments ausmachen, die vor allem im Zusammenhang mit der Quantified-Self-Bewegung auftaucht. Hier findet sich eine geradezu naturwissenschaftlich anmutende Experimentierfreude: Ernährungsselbstversuche zur Konzentrationssteigerung oder die Suche nach der perfekten Balance von Ausdauertraining und Kalorienzufuhr werden nicht nur am eigenen Leib durchgeführt, sondern ausgewertet, öffentlich dokumentiert und diskutiert. Denn die neuen Möglichkeiten der automatischen Datenerhebung versprechen nun auch Antwort auf Fragen, die gar nicht gestellt wurden (vgl. Passig 2013: 92). In der Regel sind es (noch?) ›Extremisten‹, die besonders viele Parameter ihres Lebens tracken, wie beispielsweise Nicholas Felton, ein Graphikdesigner aus New York, der zwischen 2005 und 2016 jährlich den Feltron Annual Report veröffentlichte. Sie sind nicht selten Protagonisten der Quantified-Self-Bewegung, die verschiedene Aspekte des Lebens tracken und dies dabei auch und vor allem jenseits vorgegebener Apps und Gadgets tun. Die Community3 setzt sich vorwiegend aus Männern mittleren Alters mit hohem Bildungsgrad – IT-Spezialisten, Firmen-Gründer von Start-ups – zusammen, deren Mitglieder sich in sogenannten Meetups, die mittlerweile in über 50 Städten in Europa und Amerika und auf jährlichen internationalen Konferenzen stattfinden, über Erfahrungen mit Verfahren und Werkzeugen der Selbstvermessung austauschen. Ihr Ziel ist »self knowledge through numbers«4, was beinhaltet, Muster der eigenen Körperfunktionen und des eigenen Verhaltens aufzudecken – auch und gerade dort, wo man keine Zu3 | Auf der Plattform »meetup« sind 67.979 Mitglieder und 227 meet-ups unter dem Label »Quantified Self« registriert (www.meetup.com/topics/quantified-self/), unter dem Label »The Quantified Self« sind es 10.354 Mitglieder in 51 meet-ups (www.meetup.com/es/ topics/the-quantified-self/), (Letzter Zugriff am 16.6.2016). 4 | In der Selbstbeschreibung der Plattform heißt es: »About the Quantified Self. Our mission is to support new discoveries about ourselves and our communities that are grounded
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sammenhänge erwartet hat. Vor allem aufgrund dieser Praktiken wird Self-Tracking als wissenschaftliches Experiment mit n=1 Versuchsteilnehmern beschrieben. Dabei geraten immer wieder neue Parameter in den Fokus. Zillien et al. sehen diese Self-Tracker als Protagonisten der »reflexiven Verwissenschaftlichung« (Zillien, Fröhlich und Kofahl in diesem Band), die wissenschaftliche Neugier mit Selbstoptimierung verbinden. Doch die Protagonisten sehen sich nicht immer und nicht hauptsächlich als Selbstoptimierer. So berichtet Lisa Wiedemann (und zitiert dabei aus Interviews): »Einige Interviewte grenzten sich explizit von dem durch die mediale Berichterstattung negativ konnotierten Begriff der Optimierung ab, es ginge nicht nur um Verbessern sondern um ein Modifizieren. Änderung in alle Richtungen gilt an sich als Wert: ›Du bist in der Lage, mit entsprechendem Know-how an vielen, nahezu allen Lebensbereichen Veränderungen vorzunehmen. Kleine Dinge zum persönlichen Wohlergehen verändern zu können‹ oder der ›Ichwill-mich-selbst-irgendwie-verändern-Aspekt: der ist spannend‹.« (Wiedemann 2016: 77)
Grasse und Greiner konstatieren: »Wir haben die Selbstvermesser-Szene als einen äußerst lebendigen Haufen voller kreativer Querköpfe erlebt, die das Interesse am Menschen und seinen Besonderheiten eint. Diese Selbstvermesser, die wir kennen gelernt haben, sind alles andere als verbissen trainierende Robotermenschen, sondern offene und kluge Leute mit Freude am Ausprobieren, Experimentieren, am Entwickeln, Anwenden und Weiterentwickeln neuer technischer Erfindungen, am Finden und Suchen nach neuen Lösungen und andersrum.« (Grasse/Greiner 2013: 166f.)
Jenseits aller Anschlüsse an die in der Moderne längst bekannten Formen des rationalisierten Vermessens und Kontrollierens sowie des individuellen Abgleichs mit statistischen Normalitätsmaßen ist auf den Treffen und in den Foren der Quantified-Self-Protagonisten eine Art Avantgarde des messenden, sortierenden, ordnenden und damit verwissenschaftlichten, experimentellen und interventionistischen Zugangs zum eigenen (und zum anderen) Körper und Alltag entstanden.
5. E in L eben nach Z ahlen ? Insbesondere diese Avantgarde gerät in den Fokus medialer Aufmerksamkeit – ihre Mitglieder sind es, an denen sich der Diskurs entzündet, sie sind es, die polarisieren. Und sie sind es vor allem, die zu soziologischen Diagnosen anregen. Dabei ist auch der Diskurs in der Wissenschaft wie der Diskurs im Feuilleton in accurate observation and enlivened by a spirit of friendship« (http://quantifiedself.com/ about/). (Letzter Zugriff am 16.6.2016).
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von Polarisierungen geprägt, die zwischen dystopischen Vorstellungen und einer eher nüchternen soziologischen Beschreibung schwanken. Ein großer Teil der prominenten Beiträge orientiert sich dabei vor allem an der Frage, ob sich Selbstvermessung an bekannte Diagnosen moderner Gesellschaften anschließen lässt und sich als eine weitere, wenn auch gesteigerte Form rationalisierter Lebensführung und »innerweltlicher Askese« (Weber) verstehen lässt, oder ob sie als Ausdruck und Motor einer spezifischen, sich verändernden Gesellschaftsformation zu interpretieren ist. So scheint es für den Großteil der Autorinnen und Autoren kaum strittig, dass (Selbst-)Vermessungstechnologien und praktiken Ausdruck einer spezifisch veränderten Gesellschaftsformation darstellen. Mit dem Blick auf die Rolle der »metric power« (Beer 2017) und »algorithmic power« (Galloway 2006; Striphas 2015) der Kontroll- und Überwachungsgesellschaft interpretiert eine Reihe von Autorinnen und Autoren digitale Selbstvermessung als Moment des Neoliberalismus (vgl. Beer/Burrows 2013; Lupton 2013b; Rich/Miah 2014) oder der »Aktiv- oder Disizplinargesellschaft« (Selke 2014) und schließen sich Luptons Einschätzung an, Self-Tracking sei »an expression of neo-liberal entrepreneurialism, enabling self-maximisation and promoting self-critique and responsibilisation through the presentation of ›objective‹ measures of performance« (Lupton 2013a: 28). Wie Peter Schulz zu recht anmerkt – und was auch von den zitierten Autorinnen und Autoren nicht bestritten wird –, »richtet sich die Anforderung selbstverantwortlicher Optimierung nicht nur an jene Subjekte, die LifeloggingPraktiken an sich selbst exekutieren, sondern, […] tendenziell und branchenspezifisch unterschiedlich, an alle Lohnabhängigen« (Schulz 2016: 60). Vor dem Hintergrund dieser sozialwissenschaftlichen Einigkeit in der Frage der Interpretation des Self-Trackings drängt sich die Frage auf, ob und inwieweit Self-Tracking-Praktiken nicht nur die Weise der Vergesellschaftung tangieren, sondern auch neue Körper- und neue Subjektverhältnisse etablieren. Was passiert, wenn Selbst- und Körperbezug wesentlich durch Messung, Quantifizierung, Archivierung und Veröffentlichung von Daten geprägt ist? Löst sich das Selbst in Körperdaten auf und verschwindet der Körper im Datenstrom? Vollziehen sich hier Prozesse der Entleiblichung? Werden Selbst und Körper auf neue Weise in neue Konstellationen eingebunden? Dies sind keine marginalen Fragen, denn Körper und Leib sind zentrale Elemente der Weise, wie Menschen zu sich selbst und der Welt in Beziehung treten; Leib, Körper und die jeweilige Weise der Bezugnahme auf sie sind zentrale Element der Subjektivierung (vgl. Gugutzer 2002; Duttweiler 2013). In der bisherigen sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Self-Tracking werden die Auswirkungen der quantifizierenden Selbstvermessung auf den Selbstbezug sowie Körper und Leib kontrovers diskutiert. Unumstritten sind die aktivierenden, (selbst-)disziplinierenden und responsibilisierenden Wirkungen, die sich durch digitale Selbstvermessung ergeben (vgl. Lupton 2014a; Rich/Miah 2014) und die die Einzelnen zugleich befähigen und beschränken. Dabei wird vor allem auf Erkenntnisse der Gouvernmentality Studies zurückgegriffen und betont, dass die Verschränkung von Fremd- und
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Selbstführung nicht mehr über Disziplin und Kontrolle, sondern über Feedback und Belohnungen wahrscheinlich gemacht wird (vgl. Whitson 2015: 353). Umstritten ist jedoch, wie sich die Beziehungen zum Körper und zu sich selbst, aber auch, wie sich Körper selbst verändern werden. Grob lassen sich dabei derzeit drei Positionen erkennen. Schon früh wurde auch in der Sozialwissenschaft die Tendenz zur Entkörperlichung und (Selbst-) Verdinglichung (vgl. Villa 2012; Zillien et al. 2014, vgl. auch Gugutzer in diesem Band) konstatiert. Quantifizierung und Verobjektivierung, die zwangsläufig aus den Praktiken der digitalen Selbstvermessung erwachsen, würden die Selbstwahrnehmungen vom komplexen, leiblichen Spüren entfernen und zur vollständigen Instrumentalisierung des Körpers führen. Damit schließen die genannten Autorinnen und Autoren zum Teil indirekt an frühere Arbeiten zum Verhältnis von Körper, Digitalisierung und (Visualisierungs-)Technik an. So haben Barbara Duden (1991) und Anne Balsamo (1995) im Hinblick auf medizinische Visualisierungstechniken argumentiert, dass sie die Fragmentierung des Körpers in Organe, Flüssigkeiten und Körperzustände vorantreiben, womit sie zwar Selbstbewusstsein und Selbstkontrolle fördern, aber zugleich den Körper verobjektivieren und dessen Kontrolle intensivieren. Ähnlich argumentiert auch Kurt Schneider im Hinblick auf das Blutdruckmessgerät: »Es übernimmt sowohl die Funktion der Distanzierung vom sinnlich gegebenen Körper als auch die der Herstellung einer bis dahin unbekannten Nähe zum Bio-Körper« (1994: 174) und er konstatiert: »Die Erfahrung der Nähe zum einen Körper ist eben ohne die Distanz zum anderen nicht zu haben.« (Ebd.) Empirisch ist dies schwer zu überprüfen, in Selbstaussagen von Trackern finden sich allerdings Hinweise darauf, dass Selbstvermessung starke Gefühle der Entfremdung evoziert. Bekannt geworden ist insbesondere das Bekenntnis von Alexandra Carmichael, Mitgründerin der Online-Community curetogether.com und damit eine der Vorreiterinnen des SelfTrackings im medizinischen Bereich,5 die nach zwei Jahren täglichen Trackens 2010 mit dem Tracken aufhörte. Ihre Beschreibungen im Quantified-Self-Blog sind vermutlich nicht zu generalisieren, aber eindringlich: »What they didn’t see/Was/The self-punishment/The fear/The hatred behind the tracking//I had stopped trusting myself/Letting the numbers drown out/My intuition/My instincts«6. Berichtet wird in der Literatur eher von einer Diskrepanz zwischen erhobenen Daten und der eigenen Selbstwahrnehmung (vgl. Passig 2013: 92). Das könnte eher für ein Nebeneinander von intuitiver, leiblicher Erkenntnis und verobjektiviertem Körperwissen sprechen. Die Irritation durch diese divergierenden Erkenntnisweisen fordert daher zum spezifischen Umgang mit den Daten und den Praktiken des Vermessens auf: Das kann sowohl zu einem anderen ›Spüren‹ als auch zu einer Um- und Neuinterpretation der Daten, zum Messen zusätzlicher oder anderer Parameter oder zur Aufgabe der Praktiken des Messens führen. 5 | http://curetogether.com/blog/about/team/. 6 | http://quantifiedself.com/2010/04/why-i-stopped-tracking/.
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Dieser Prozess impliziert nicht zuletzt auch eine Verschiebung des Konzeptes des Körpers. Die in den Diskursen und Praktiken digitaler Selbstvermessung zirkulierende Figuration der körperlichen Aktivitäten als In- und Outputs, als Leistung und Effektivität sowie als Experimentierfeld profiliert die Vorstellungen des Körpers als Objekt sowie als Instrument und Maschine (vgl. Lupton 2013b). Diese Bilder werden, so zeigen Viseu und Suchman (2010) in einer ethnografischen Studie, dabei schon in das Design der Gadgets eingeschrieben. Wird hier im Kern behauptet, die Technologien und Praktiken der Selbstvermessung und die Ausrichtung auf Optimierung forciere (automatisch) Instrumentalisierung und Objektivierung, konstatiert der praxistheoretisch und von der Akteur-Netzwerk-Theorie inspirierte Diskursstrang neuartige Verbindungen von Körper und Technik. Die Körper werden hier als etwas figuriert, was in ein Netzwerk »aus biologischen Prozessen, Menschen, Sensoren, Prozessoren, Telekommunikationsverbindungen, Protokollen, Algorithmen, medizinischen Praktiken, Gesundheitssystemen, Sport- und Fitnesskulturen, Diagnostik und Therapien etc.« (Belliger/Krieger 2015: 397) eingespannt ist. Damit, so die Annahme, verändert sich auch der ontologische Status von Körper und Selbst fundamental. »Dieses komplexe Kontinuum bildet ein Akteur-Netzwerk, das die Trennung von Biologie einerseits und psychologischer Intentionalität, subjektiver Gefühls- und Deutungswelt andererseits sowie die Trennung zwischen physischer und virtueller Realität überwindet. Durch die Praktiken der Selbstquantifizierung konstruiert sich das Selbst auf exemplarische Art und Weise im Rahmen einer ›Mixed Reality‹ als hybrides, sozio-technisches Akteur-Netzwerk. Der Mensch wird selbst zum Netzwerk und verkörpert Netzwerknormen und Netzwerkeigenschaften.« (Belliger/Krieger 2015: 397).
Auch Rich und Miah (2014: 310) betonen, dass man Körper im digitalen Raum nicht als singulär und begrenzt denken soll, sie seien vielmehr durch digitale Plattformen und Technologien mit anderen Körpern vernetzt, Körper gewinnen so in digitalen Körper-Maschinen-Assemblages eine Inter-Korporalität und TransSubjektivität (ebd.). Doch wie sie am Beispiel von Health Apps herausarbeiten, werden Körper nicht aufgrund ihres Designs und der Technologie der Apps in die von ihnen als »digitale[.] Körper-Maschinen-Assemblages« bezeichneten Netzwerke integriert, sondern durch die komplexe interkorporale und intersubjektive Affektivität, die sich in Reaktion auf die Gadgets und Daten ergibt. Damit bestätigen sie die Annahme von Pantzar und Ruckenstein (2015), Vermessung sei »a teleo-affective practice, it is significant that visual signs and conventions, graphs and tables are not only information, but they generate new kinds of affective ties between people and measured actions and reactions […].« (Pantzar/ Ruckenstein 2015: 103) Lust, Scham, Freude oder Abscheu erweisen sich so als wesentliche Momente, die digitale Assemblages mitkonstitutieren. Diese affektive Reaktion ist »hugely complex, and is in part the result of an embodied history to which and with which the body reacts« (Rich/Miah 2014: 309). Melanie Swan
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erkennt die hier konstatierte Ausdehnung des Körpers vor allem als eine veräußerlichte Erweiterung der Sinne, die sie als »exosenes« bezeichnet. Darunter versteht sie zum einen die Erweiterung der Sinnesorgane, beispielsweise durch »augmented-reality glasses and haptics«, sowie der menschlichen Fähigkeiten wie dem Gedächtnis, zum anderen aber auch die Erweiterung der Wahrnehmbarkeit von körperlichen Zuständen: »[M]etrics like heart-rate variability, blood pressure, galvanic skin response, and stress level could be made explicit via audio, visual, taste, or olfactory mechanisms« (Swan 2013: 95). In Verweis auf Kevin Kelly, einen der Gründer und Vordenker der Quantified-Self-Bewegung, sieht Swan in dieser Bewegung des Quantified Self (QS) die Ankündigung eines zukünftigen Selbst:7 »This future self is one that is spatially expanded, with a broad suite of exosenses – the exoself. […] QS activities are a new means of enabling the constant creation of the self. Further, there is now the notion of the extended connected self in the sense that individuals are projecting their data outward onto the world (e.g., mobile phones and other devices continuously pinging location and other data) while data from the world is projected back onto the individual (e.g., network nodes notice movement and communicate personalized information).« (Swan 2013: 95)
Diese Ansätze beziehen sich vor allem auf die avantgardistischen Praktiken der Quantified-Self-Bewegung und sind vor allem durch Theorien zum Verhältnis von Körper und Technik inspiriert. Deutlich weniger spekulativ und damit spektakulär fallen dagegen die vorhandenen empirischen Studien aus. Die dritte Position im Diskurs betont vor allem die Steigerung der Aufmerksamkeit und damit das Potenzial zur Selbstqualifizierung. Einige Nutzer/-innen konstatieren eine Schärfung der Sinne respektive der Körperwahrnehmung, die man als Hinweis auf »komplexe Rückkopplungsprozesse zwischen der Vermessung des Körpers und einer Art ›Training‹ des Leibes« (Pritz 2016: 143) lesen kann. Wie im Hinblick auf den Körper, erhöht Self-Tracking auch die Aufmerksamkeit auf sich selbst. »Selbst die kürzeste Aufmerksamkeit für die eigenen Daten im Sinne eines flüchtigen Ablesens oder schnellen Generierens dient bereits der Sensibilisierung für das eigene Sein oder als ›Achtsamkeitsmedikation im psychologischen Sinne‹.« (Wiedemann 2016: 80) Praktiken der Selbstvermessung, so argumentieren auch Pharabod et al. (2013), sind weniger als eine Bewegung des Abstandes von sich zu deuten, sondern als eine der Fokussierung der Aufmerksamkeit – ein »zoom en avant« (Pharabod et al. 2013: 116) –, die manchmal ausreicht, eine Verhaltensänderung anzustoßen. Auch Ruckenstein und Panzar sehen in der Selbstvermessung keine Gefahr der Entkörperlichung und Entleiblichung, sie können am Beispiel der Herzfrequenz7 | Swan verweist hier auf den Vortrag von Kevin Kelly »The Quantified Century« auf der Quantified Self Conference, Stanford University, Palo Alto, CA, September 15-16, 2012. Der angegebene Link »http://quantifiedself.com/conference/Palo-Alto-2012 (Last accessed on March 20, 2013)« kann allerdings nicht mehr aufgerufen werden.
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messung zeigen, dass diese Vermessungspraktiken die Beziehung zum Körper intensivieren, da sie zum einen die affektive Beziehung zum Körper vertiefen (Pantzar/Ruckenstein 2015: 103) und zum anderen den körperlichen ›Leistungen‹ neuen Wert zusprechen. »It can make waiting, resting, and daily routines recognized and even valued: in terms of physiological recovery, ›useless‹ activities gain a new kind of value by becoming physiologically beneficial.« (Ruckenstein 2014: 80) Alltägliche Dinge wie Schlafen, Ausruhen, Warten, Haushaltsarbeit oder das Spielen mit den Kindern werden dann, wenn sie vermessen und aufgezeichnet werden, zu Aktivitäten und Kompetenzen, die man besser oder schlechter beherrscht. In den Studien von Ruckenstein (2014) und Pharabod et al. (2013), Bode und Kristensen (2015) und Duttweiler (2016) zeigt sich eine erstaunliche Banalität, Erwartbarkeit und Trivialität der durch Self-Tracking erlangten Erkenntnis – auch wenn explizit das Experiment im Vordergrund stand. Eine wesentliche Rolle scheint dabei die Verobjektivierung und Visualisierung des (biologischen) Lebensvollzugs und/oder der eigenen Leistung zu spielen. Denn auch wenn die Ergebnisse der Selbstvermessung wenig überraschen, sind die Nutzerinnen fasziniert von den Daten, Kurven, Statistiken oder GPS-Aufzeichungen. Selbstvermessungstechnologien produzieren »Auto-Resonanzen« (Duttweiler in diesem Band) in denen die Fremdheit des Selbst, das Entzogene, das Unsichtbare im Licht (vermeintlich) wissenschaftlicher Objektivität und gesellschaftlicher Normalität sichtbar gemacht wird. »In this way, the data process becomes a magical, yet scientific endeavor that reveals to the self-trackers ›who they really are‹. The digital doppelgänger is then a self that is more real and complete than the ›original self‹.« (Bode/Kristensen 2015: 126f.) Doch die Visualisierungen geben neue Antworten und werfen zugleich neue Fragen auf: nach der eigenen Normalität ebenso wie nach der Bewertung von sich selbst und seinen Aktivitäten. Den Selbstvermessungspraktiken wohnt, so arbeiten Swan (2013), Davis (2013) oder Boam und Webb (2014) heraus, mithin das Potenzial inne, das Selbst zu qualifizieren, da sie durch das Experimentieren und die Steigerung der Aufmerksamkeit die fokussierte Selbstthematisierung wahrscheinlich machen. In der explorative Untersuchung zur Bedeutungsgebung von Daten über Sportpraktiken (vgl. Duttweiler 2016) hat sich gezeigt, dass die Produktion und Interpretation der Daten die Einzelnen ›bedeutend‹ macht. Die Beziehung zwischen den Einzelnen und ihren Daten respektive ihrem »data double« (Ruckenstein 2014) oder »doppelgänger« (Bode/Kristensen 2015) lässt sich als eine wechselseitige Beeinflussung beschreiben: Die Einzelnen selektieren Messgegenstände, produzieren und manipulieren Daten und sie subjektivieren sie durch ihre Interpretation und ihre emotionalen Reaktionen – und werden selbst durch die Daten geprägt. Anders ausgedrückt: die Daten werden in Form gebracht und mit Bedeutung versehen – und sie bringen die Einzelnen in eine bestimmte ›Form‹, indem sie ihren Körperzuständen Bedeutung verleihen. Self-Tracking ist zunächst und vor allem ein Prozess der Auseinandersetzung des Selbst mit (den Daten von) sich selbst. Daraus erwächst ein Selbst, für das Feedback entscheidend ist, das anpassungsfähig ist, das auf Kennzahlen und Kurven ebenso reagiert wie auf ge-
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sellschaftliche Normen und subjektive Gefühle – es ist ein Subjekt, das sich in permanenter Bewegung befindet.
6. Technosoziale B e wertungsordnungen Ob man dieses ›Leben nach Zahlen‹ als Optimierung des Selbst interpretiert, ist Definitionssache. Dass das, was man als Selbst oder als Form des Subjekts bezeichnet, immer im Wandel begriffen ist, da es konstitutiv mit der Welt und dessen soziotechnischem Wandel verknüpft ist, scheint sich dagegen hier einmal mehr zu bestätigen. Während diskursiv vor allem die Avantgarde der Quantified-SelfBewegung und ihr praktischer Experimentalismus im Umgang mit dem eigenen Körper und mit verschiedensten Verfahren und Technologien der Verdatung und Auswertung im Zentrum stehen, legen Erhebungen zu Nutzungsformen und Nutzungspraktiken nahe, dass wir es noch lange nicht mit einer eingespielten und etablierten Maschinerie der Produktion von Selbst- und Körperverhältnissen zu tun haben. Vielmehr handelt es sich um eine noch offene Kontroverse, die sich um die Frage dreht, welche Rolle die Vermessung unterschiedlicher Lebensbereiche spielen kann, wird und soll. Die diskursive Erregung und die individuelle Faszination und Abwehr zeigen zuallererst, dass Self-Tracking-Geräte und Verfahren noch lange nicht »Everyware« (Greenfield 2006) sind, »mobile, wearable, distributed and context-aware computing applications« (Galloway 2004: 388), »becoming a function of the everyday spaces we traverse.« (Gilmore 2015: 2) Es sind noch »fragliche Dinge«, »matters of concern« (Latour 2004, 2008). Sie sind nicht vollständig in den Alltag integriert, sie lassen Spielraum zu und stellen neuen Spielraum her, ihre Umgangsweisen haben (noch) keine stabile Realisierungsform gefunden, die Folgen für Individuen und Gesellschaft sind noch nicht deutlich konturiert. Ihr Einsatz wird individuell und institutionell noch verhandelt und ihre Bedeutung ausgehandelt. Gerade das ist für eine auf soziotechnische Transformationen ausgerichtete sozialwissenschaftliche Perspektive interessant, denn während im öffentlichen Diskurs und in der empirischen Auseinandersetzung mit den Programmatiken und Visionen der Selbstvermessung um eine mehr oder weniger sozial- und gesellschaftstheoretisch orientierte Einschätzung und Bewertung eines Potenzials geht, kann sich eine an der Kartierung der Kontroversen orientierte Forschung (Law et al. 1986; Marres 2015; Venturini 2010) mit technosozialen Bewertungsordnungen »in the making« (Callon 1987) befassen. Eine Orientierung an den unterschiedlichen Positionen in solchen Kontroversen, die sich in ganz verschiedenen Entwürfen, Prototypen, Applikationen, Formaten und Standards – kurz: in ganz verschiedenen Elementen einer Infrastruktur der Selbstvermessung (vgl. Passoth und Wehner in diesem Band), die gerade erst eingerichtet wird – artikulieren, verspricht sowohl Chancen der reflexiven Analyse als auch Möglichkeiten der Intervention und Gestaltung in den Vordergrund zu stellen.
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Welche Rolle dabei die Praktiken der Quantified-Self-Bewegung spielen werden, ist eine offene Frage. Denn die Geschichte moderner Subjektkulturen ist gekennzeichnet von einer beständigen Öffnung und Schließung von Kontingenz und nicht selten lässt sich in den ästhetischen Avantgarden die experimentelle Ausbildung alternativer Modelle des Selbst beobachten, die die hegemonialen Modelle zwar nicht ablösen, aber mit ihnen hybrid verwoben werden (Reckwitz 2006a). Möglicherweise lässt sich an den Visualisierungspraktiken und der dazugehörigen Lese-, Deutungs- und Interpretationspraxis der Selbstvermesser (vgl. Vormbusch sowie Strübing et al. in diesem Band) die Verschiebung und Restabilisierung ästhetischer Praktiken beobachten, sodass sich die Quantified-Self-Bewegten tatsächlich als eine ästhetische Avantgarde herausstellen. Aber auch unabhängig von den ästhetischen Kategorien und visuellen Bewertungsmaßstäben lässt sich empirisch die Frage stellen, welche Praktiken im Rahmen der Selbstvermessung entstehen, welche dort aus anderen Kontexten adaptiert werden und ob die dort entwickelten Maßstäbe der Evaluation, Normierung und Optimierung auch in anderen Kontexten anschlussfähig werden. Es könnte sein, dass sich tatsächlich die Self-Tracker als eine Avantgarde der Entwicklung neuer Subjektkulturen herausstellen werden, aber nicht, weil sie besonders experimentelle und außergewöhnliche Formen der Selbstbeobachtung und Selbstoptimierung entwickeln, sondern weil sie sich als Testnutzer einer Infrastruktur der Produktion vermessener und optimierter Subjekte herausstellen (vgl. auch Vormbusch sowie Passoth/Wehner in diesem Band).
7. Ü ber die B eitr äge in diesem B uch Das Buch und der Teil »Gegenwartsdiagnosen und Genealogien« wird eingeleitet von einem Beitrag von Uwe Vormbusch, »Taxonomien des Selbst. Zur Hervorbringung subjektbezogener Bewertungsordnungen im Kontext ökonomischer und kultureller Unsicherheit«, der ebenso auf eine kritische Gegenwartsdiagnose wie auf die ökonomische und kulturelle Bedeutung kalkulativer Praktiken zielt. Dazu untersucht er das ›Leben nach Zahlen‹ als eine mögliche Antwort auf die spezifischen Unsicherheiten, welche die Lebensführung in modernen Gegenwartsgesellschaften auszeichnen. Die Taxonomien des Selbst werden im Sinne der simultanen Hervorbringung ökonomischer und kultureller Ordnung untersucht: in ökonomischer Hinsicht als eine Inwertsetzungspraxis bislang nicht quantifizierbarer Aspekte des Selbst als Träger ökonomisch relevanter Kapitalien, in kultureller Hinsicht als Bewältigung der gesellschaftlichen Norm, nicht nur man selbst zu sein, sondern sich als Individuum selbst zu entdecken, zu formen und zu rechtfertigen. Selbstvermesser, so die Hypothese, bringen nunmehr genau diejenigen Kategorien und Verfahren in die Welt, die es erlauben sollen, die Pluralität der Arbeitsvermögen und die Pluralität der Lebensweisen praktisch zu vergleichen. Sie reagieren damit auf ein zentrales Handlungsproblem im Gegenwartskapitalismus: die Bewältigung der Unsicherheit über ihren Wert und über die Qualitäten, an-
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hand derer dieser Wert bestimmt werden könnte. Die Praktiken der Selbstvermessung stehen dabei in einem Spannungsfeld von Verdinglichung und Autonomiesteigerung, von Körperoptimierung und Identitätssuche und erweisen sich damit weder als weitere kapitalistische Landnahme noch als schlichte Selbstoptimierung. Auch Simon Schaupps Beitrag mit dem Titel »›Wir nennen es flexible Selbstkontrolle.‹ Self-Tracking als Selbsttechnologie des kybernetischen Kapitalismus« diskutiert das Phänomen der Selbstvermessung als Ausdruck des gegenwärtigen Kapitalismus. In Anlehnung an Foucaults Konzept der Technologien des Selbst rückt er Self-Tracking in einen gesellschaftstheoretischen Kontext. Dabei argumentiert er, dass die Technologien und Praxen des Self-Trackings als Antworten auf die Leistungsansprüche der postfordistischen Ökonomie verstanden werden müssen. So fasst er Self-Tracking als Ausdruck eines spezifisch kybernetischen Modus der Kapitalakkumulation und Kontrolle, den er unter dem Begriff des kybernetischen Kapitalismus zusammenfasst. Dabei arbeitet er verschiedene Dimensionen heraus, die für den kybernetischen Kapitalismus entscheidend sind, und liest sie parallel zu den Praktiken der Selbstvermessung. Selbstoptimierung ist dabei zentral für kybernetische Steuerung, die bedeutet, das gesteuerte System so einzurichten, dass die scheinbar ziellose Evolution zu einer Selbstoptimierung im Sinne der Steuerungsziele wird. Auf ganz andere Weise zeigt Sabine Schollas in ihrem Beitrag »Game on, World. Self-Tracking und Gamification als Mittel der Kundenbindung und des Marketings« den Zusammenhang von Self-Tracking und Kapitalismus. Anhand des Nike+-Universums des US-amerikanischen Sportartikelherstellers Nike stellt sie dar, wie Marketing, Self-Tracking und Gamification miteinander verwoben und zur Schaffung einer Markenloyalität – und damit zur Erhöhung des Profits – genutzt werden. Wie schon in den Anfangszeiten der Public Relations steht die Suche nach den Wünschen und Sehnsüchten potenzieller Konsumenten auch heute noch im Fokus der Werbetreibenden. Und mit zeitgenössischen Devices wird die Palette ›klassischer‹ Marktforschungsmethoden um viele Facetten erweitert. In Kombination mit dem Einsatz spielerischer Elemente, der sog. Gamification, müssen Zielgruppen aber gar nicht mehr aufwendig befragt werden, sondern sie sind es selbst, die die gewünschten Daten sammeln, zur Auswertung zur Verfügung stellen und maßgeblich an einer Markenbindung beteiligt sind. Durch die Mechanismen der Gamification, so kommt der Beitrag zum Schluss, verschwimmen die Grenzen zwischen Konsum und Leben. Die Optimierung des Selbst, so kann der Beitrag indirekt zeigen, erweist sich nicht zuletzt als Mittel der Kunden- und Markenbindung. Thorben Mämecke widmet sich in seinem Beitrag »Benchmarking the Self: Kompetitive Selbstvermessung im betrieblichen Gesundheitsmanagement« ebenfalls der Verbindung von individueller Selbstvermessung und betrieblichen Prozessen. Sein Feld ist dabei nicht das Marketing, sondern das betriebliche Gesundheitsmanagement. Gegenwärtig ist zu beobachten, dass sich in vielen Unternehmen verschiedene Self-Tracking-Technologien zur zahlenbasierten Vermes-
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sung und Analyse der sog. Vitalfunktionen von Angestellten etablieren. Ziel dieses Beitrags ist es, diese Entwicklung als Konvergenz verschiedener gesellschaftlicher Diskurse zu untersuchen. Wie sich zeigt, nimmt sowohl die Affirmation des vormals gesellschaftskritischen Burnout-Diskurses durch das moderne Gesundheitsmanagement als auch das unternehmerische Selbstverwirklichungsprojekt der gesundheitsbezogenen Vermessung aus dem Bereich Quantified Self dabei einen besonderen Stellenwert ein. Das Aufkommen von Self-Tracking-Systemen am Arbeitsplatz stellt sich vor diesem Hintergrund als die Herausbildung einer technologiegetragenen Selbstsorgekultur dar, die im Verschränkungsverhältnis aus programmatischer Gefahrenprävention und partizipativer Unternehmenskultur ihre Form gewinnt. Durch die technologische Verschaltung der Vitaldaten von Angestellten zu numerischen Aggregaten und offen einsehbaren Durchschnitten wird auf diesem Weg eine kompetitive Selbstsorgekultur entfaltet, die den Widerspruch zwischen maximaler Arbeitsleistung und dauerhafter Erhaltung der Arbeitsfähigkeit approximativ als Teil einer technologiegestützten Personalentwicklung zu lösen versucht. Der Beitrag zeigt Selbstoptimierung und unternehmerische Selbstsorge der Einzelnen als sowohl von den Unternehmen unterstützt und forciert und zugleich als etwas, was insoweit eingedämmt werden muss, dass es die Arbeitsleistung nicht gefährdet. Optimierung bedeutet hier also nicht vorrangig Steigerung der Arbeitsleistung, sondern deren langfristigen Erhalt. Nicole Zillien, Gerrit Fröhlich und Daniel Kofahl gehen in ihrem Beitrag »Ernährungsbezogene Selbstvermessung – Von der Diätetik bis zum Diet Tracking« der Genealogie der Ernährung nach, die als ein Beispiel für eine Optimierung des Körpers herangezogen wird. Der Beitrag setzt bei frühen Dokumentationen diätetischer Selbstthematisierung in Briefen und Tagebüchern an, fokussiert mit dem 19. Jahrhundert den Beginn einer gezielten Verwissenschaftlichung von Ernährung und untersucht letztlich das Diet-Tracking als eine Form der »reflexiven Selbstverwissenschaftlichung«. Diese reflexive Selbstverwissenschaftlichung betrifft aber nicht nur die Ernährung, sondern umfasst auch sportliche Aktivitäten, Schlafverhalten, Umweltfaktoren oder auch die Sexualität, was wiederum auf den bereits in antiken Lehren geprägten Begriff der Diätetik verweist. Im Rahmen der zunehmend praktizierten digitalen Selbstvermessung findet demnach eine breite Vermessung des Alltags zum Zweck der wissenschaftlich-fundierten Lebensführung statt, in welcher Ernährung wieder verstärkt mit anderen Aspekten des eigenen Verhaltens und der Umwelt in Bezug gesetzt wird, was im Beitrag als »digitale Diätetik« verhandelt wird. Im Beitrag »Der vermessene Mann? Vergeschlechtlichungsprozesse in und durch Praktiken der Selbstvermessung« von Corinna Schmechel werden antike Diätetik und die bürgerliche Hygienebewegung um 1900 thematisiert. Dabei zeigt sie auf, dass Selbstüberwachung und Kontrolle des eigenen Körpers schon lange als Praktiken der Männlichkeitsproduktion existier(t)en. Gleichsam aber wird Eigenkörperüberwachung, vor allem in Form des Diäthaltens, in der Moderne zu einer dezidiert feminisierten Körperpraktik, was das heutige Selbstvermessen
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männlicher Quantified-Self-Praktizierender als männliche Aneignung derselben oder als Bruch mit maskulinen Körperpraktiken erscheinen lässt. Um die verschiedenen ambivalenten Bedeutungen und Settings der Selbstvermessungspraktiken einordnen zu können, plädiert die Autorin dafür, Geschlecht interdependent, in diesem Fall vor allem mit sozioökonomischen Faktoren verknüpft, zu denken und so herauszuarbeiten, dass und wie historische wie aktuelle Formen der Selbstvermessungspraktiken vor allem auch sozioökonomische Privilegien repräsentier(t)en und produzier(t)en, nicht zuletzt in einem neoliberalen, etho-politischen Gesundheitsdispositiv. Damit macht sie auch darauf aufmerksam, dass Selbstoptimierung auch für die Moderne kein universelles Anliegen, sondern sowohl geschlechtlich ausgestaltet wie auch von einem Klassen-Bias durchzogen ist. Das Ideal der gesunden und bewussten Lebensführung von Quantified Self und Self-Tracking ist insbesondere für mittlere und aufsteigende soziale Schichten konstitutiv. Robert Gugutzer schließlich nimmt in seinem Beitrag »Self-tracking als Objektivation des Zeitgeists« das Argument der Verwissenschaftlichung auf, bettet es aber in eine grundsätzliche Gegenwartsdiagnose ein und schließt damit den ersten Teil des Buches ab. Auf der theoretischen Grundlage der Neuen Phänomenologie und einer empirischen Fallanalyse entwickelt der Beitrag die These, dass Self-Tracking eine typische Objektivation des Zeitgeists – in neophänomenologischer Terminologie: eine »Plakat-Situation« – ist. Konkret sind es vier Merkmale des Zeitgeists, die durch Self-Tracking verkörpert werden: 1. Primat des naturwissenschaftlichen Körpers, 2. gesellschaftliche Aufwertung der Sinnlichkeit und Leiblichkeit, 3. Technik als sozialer Akteur und 4. Denken und Leben in Konstellationen. Über die phänomenologische Analyse von Self-Tracking hinaus plädiert der Beitrag dafür, die soziologische Gegenwartsdiagnose durch eine soziologische Zeitgeistdiagnose zu ersetzen. So schließt sich der Kreis der Gesellschaftsdiagnosen aus einer anderen Perspektive. Während sich die Beiträge des ersten Teils vor allem dem Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und den Praktiken der Selbstvermessung widmen, ist der zweite Teil, »Subjekte und Technologien«, auf den Zusammenhang zwischen den Praktiken und Technologien der Selbstvermessung sowie auf die subjektivierenden Effekte gerichtet, die damit verbunden sind. Den Anfang macht hier der Beitrag »Social Surveillance. Praktiken der digitalen Selbstvermessung in mobilen Anwendungskulturen« von Ramón Reichert. Am Beispiel von Fitness-Apps thematisiert er das konstitutive Zusammenspiel von Medien, Selbstreflexion und sozialer Kommunikation. Dessen zentraler Ort ist das Dashboard, das der visualisierten Wissensvermittlung dient sowie als Datenbank und Kontrollmedium fungiert, zentrale Strategien sind Gamification und Feedback-Technologien, von denen Reflexionsaufforderungen und Handlungsinitiativen ausgehen, indem sie Handlungsziele festsetzen und eigenständige Reaktionen einfordern. Die dabei anfallenden Daten dienen der Selbstermächtigung der Laien und sind zugleich eine Beobachungsanordnung für Expertisen der Kommunikationsinformatik und der staatlich-administrativen Gesundheitspro-
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gnostik. So entsteht ein digitales Geflecht aus technischer Kontrolle, Selbstkontrolle und sozialer Kontrolle. Doch auch, wenn die Medien der Selbstvermessung neue Formen von Steuerungs- und Kontrollwissen etablieren und dazu die technisch-mediale Infrastruktur reflexiver Selbstbezüglichkeit bereitstellen, können die Medien die Bedingungen der Möglichkeit, ein bestimmtes Leben zu führen, weder ursächlich determinieren noch letztlich rechtfertigen. Denn die Medien holen immer auch das Vermessen-Werden selbst reflexiv ein und sie verlangen vom Subjekt die Bereitschaft, sich aktiv und produktiv auf ihre Anforderungen zu beziehen. Reichert geht mithin davon aus, dass der technisch vermittelte Rahmen, der zu einer prozessorientierten und dynamischen Form der Selbstbezüglichkeit anregt, die Anwender nicht bloß unterwirft oder unterdrückt, sondern sie auf eine bestimmte Art und Weise transformiert und produktiv macht. Im Beitrag »Selbstquantifizierung als numerische Form der Selbstthematisierung« untersucht Markus Unternährer mit Hilfe der Theoriefigur der Selbstthematisierung nach Alois Hahn das Phänomen der Selbstquantifizierung. Beichte, Therapie und Beratung werden als (historische) Vergleichshorizonte herangezogen, um sichtbar zu machen, inwiefern die Praxis der Selbstquantifizierung von diesen älteren Formen beeinflusst ist, aber sich auch von ihnen abgrenzt. Die den Zahlen und quantitativen Methoden der Selbsterforschung zugeschriebene Eigenschaft der ›Objektivität‹ versichert den Selbstquantifizierern die Echtheit ihrer körperlichen und seelischen Regungen. Mit Zahlen hoffen Selbstvermesser ein objektives Bild ihrer selbst anfertigen zu können, da die Zahlen zeigen, wie sie ›wirklich‹ sind. An exemplarischen Fällen wird aufgezeigt, wie virtuose Selbstquantifizierer Vergleiche mit anderen und Vergleiche mit Normen ablehnen: Vergleiche werden mit Bezug auf Einzigartigkeit abgeblockt und Einzigartigkeit wird durch das idiosynkratische Zahlenmuster belegt. Die den Messungen zugeschriebene Objektivität erlaubt den Selbstvermessern sichere und unverzerrte Aussagen über die eigene Identität und das eigene Leben, doch geht die Ablehnung des Vergleichs mit Verweis auf Einzigartigkeit einher mit einem gesteigerten Empfinden der eigenen Subjektivität – analog der Beichte, die durch die erforderliche Erforschung der eigenen Handlungsmotive mit einer gesteigerten Subjektivität verbunden war. Am Beispiel der Virtuosen zeigt sich Unternährer eher skeptisch gegenüber der Annahme, dass Self-Tracking vor allem der Optimierung dient. Zwar mag es, so führt er aus, »zur Optimierung führen, doch darf dabei nicht übersehen werden, dass Selbstvermessung mit einer gesteigerten Selbstwahrnehmung und einem gestärkten Sinn für die eigene Individualität verbunden ist – und in diesem Sinne direkt an ältere Formen der Selbstthematisierung wie der Beichte und der Therapie anschließt.« Auch Stefanie Duttweiler geht in ihrem Beitrag »Körperbilder und Zahlenkörper. Zur Verschränkung von Medien- und Selbsttechnologien in Fitness-Apps« davon aus, dass Self-Tracking ein Mittel der Selbstthematisierung und der Selbstvergewisserung darstellt und Optimierung nicht im Zentrum steht. Am Beispiel von Fitness-Apps weist sie darauf hin, dass die Abstraktion und Objektivität der
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Zahlen sowohl im Hinblick auf die Darstellungsweisen in den Apps als auch in der Nutzung der Einzelnen durch qualitative Elemente ergänzt werden. So sind Fitness-Apps deutlich mehr als Vermessungstechnologien, die Körperzustände und bewegungen in Zahlen transformieren. Fitness-Apps stellen die Wahrnehmung, Reflexion und Kontrolle des Körpers unter die Bedingungen von Zahl und Bild und stellen dadurch bestimmte Weisen des Sich-selbst-Verstehens und Sich-selbst-Ausdrückens bereit. Ihr Charakteristikum ist die Kombination von Instruktion, Inspiration und visuellem Feedback, durch die die übenden Körper mit Diskursen von Fitness (und seiner Herstellung symbolisch aufgeladener Körperbilder) und Sport (und dessen Fokus auf Leistungsvergleich und Überbietung) verbunden werden. Der zweite Teil des Beitrags arbeitet anhand leitfadengestützter Interviews mit Sportstudierenden drei verschiedene Nutzungstypen heraus: die sporadische Nutzung aus Spaß, die Nutzung zur Erreichung eines sportlichen Ziels sowie die Nutzung zur Unterstützung eines biografischen Projekts. Dabei deuten die Ergebnisse der explorativen Untersuchung darauf hin, dass trotz erheblicher Unterschiede in der Nutzung die gewonnenen Zahlen und Bilder für alle Befragten Material für Selbstthematisierung liefern, das anderweitig nicht (so) verfügbar wäre, und dass die Selbstvermessung mittels Fitness-Apps erst dann eine lebensbestimmende und verändernde Wirkung entfaltet, wenn sich Medientechnologien mit Selbsttechnologien im Sinne einer gezielten Selbstveränderung verbinden. Dies kann, muss aber nicht, Optimierung des Selbst zum Ziel haben. Der Beitrag von Jan-Hendrik Passoth und Josef Wehner, »Sportstudios. Zur institutionalisierten Verdatung und Analyse moderner Körper«, befasst sich ebenfalls mit Sport, allerdings nicht mit dem durch Wearables und Apps vermessenen Training der Self-Tracker, sondern mit den auch in professionellen Sportstudios zunehmend in die Trainingsgeräte eingebauten Techniken der Körpermessung. Hier, so die Beobachtung, steht weniger die experimentelle, eigenwillige, selbstnormierende Praxis von Selbstvermessungs-Avantgarden im Zentrum, vielmehr lassen sich in Sportstudios ganz eigene Formen der Institutionalisierung der Verdatung und Analyse moderner Körper erkennen, deren Bedeutung für die Vermessungs- und Optimierungspraxis eher ansteigen wird. Wer in Studios mit solchen messenden und verdatenden Geräten trainiert, gibt sich systematisch in die Hände Dritter, deren Beziehung zum jeweils individuellen Training durch Daten und ihre statistische Auswertung vermittelt ist. Zu diesen Dritten gehören, ganz im Einklang mit der Tradition des Trainings in Studios, das Betreuungspersonal vor Ort, aber ebenso die Anbieter von auf Datenanalyse beruhender Gesundheitsdienstleistung: Durch die Daten wird das Studio zum institutionalisierten Ort der Selbstsorge mittels systematischen Trainings und normalisierten Übens gesunder Körperbewegungen. Die Orientierung und Korrektur der eigenen Körperbewegungen durch Abgleich mit Daten auf den eigenen Geräten wie auch mit andernorts aggregierten Daten sowie mit einer schematischen Bewegung eines Avatars auf dem Display, auf dem bei Fehlbewegungen Hinweise erscheinen, sorgen dafür, dass nicht nur das Training, sondern auch die Messung standardisiert
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und normiert wird. Die so erzeugten Messdaten sind – ähnlich den Self-Tracking-Daten, aber aufgrund ihrer systematischen Erhebung in höherem Maße als diese – transferierbar, zusammenfügbar und von ganz unterschiedlichen Stellen wie Gesundheitsdienstleistern, Versicherungen und Unternehmen auswertbar. Der Beitrag von Jörg Strübing, Lisa Staiger und Beate Kasper, »Das Selbst der Selbstvermessung: Fiktion oder Kalkül?«, greift aus pragmatistischer und praxeologischer Perspektive das allgegenwärtige Phänomen der Selbstvermessung auf. Ausgehend von Befunden zweier empirischer Vorstudien wird insbesondere die Frage behandelt, welche spezifischen Subjektivierungsweisen sich in den Praktiken und Diskursen der Selbstvermessung offenbaren. Ausgehend von der widersprüchlichen Situation, dass hier zwar von Selbstvermessung die Rede ist, in den entsprechenden Praktiken das Selbst als selbstbewusster, initiativer und kontrollierenden Akteur aber eher marginalisiert erscheint, beleuchtet der Beitrag die Rolle von Körpern, Geräten, Orten und Diskursen bei der Herstellung des selbstsorgenden Subjekts. Die Orientierung an Selbstoptimierung halten sie für gesetzt, ihr Interesse gilt daher den daraus resultierenden Effekten für den Körperbezug und die Neukonfiguration des Selbst. Die verändernde Kraft von Dingen steht im Beitrag »Vom Piksen zum Scannen, vom Wert zu Daten« – Digitalisierte Selbstvermessung im Kontext Diabetes« von Lisa Wiedemann im Zentrum. Der Aufsatz zeigt auf, dass das Selbstmanagement von Personen mit Diabetes mit dem Aufkommen neuer sensorischer Möglichkeiten im Zugzwang digitaler Transformationen steht. Personen mit Diabetes (Typ 1) werden seit dem Aufkommen transportabler Messgeräte dazu angehalten, körperliche und alltägliche Vorgänge über numerische Kategorien selbstständig zu überwachen. Statt sich in den Finger zu pieksen und den Zucker im Blut zu messen, erlauben es die neuen Techniken, den Glukosewert mittels eines am Körper sitzenden Sensors zu scannen und über das Smartphone abzurufen. Statt in einem einzelnen Wert wird der entscheidende Stoffwechselvorgang kontinuierlich in einer Verlaufskurve gespiegelt. Die neuen smarten Technologien erweisen sich auch als biopolitische Werkzeuge, um den subjektiven Willen zur Therapieoptimierung zu schärfen und so in den Alltag zu tragen. Diese theoretische Verortung wird anhand von Interviews mit Patientinnen und Patienten in einen praxistheoretischen Rahmen gestellt. Die Leitfrage ist dabei, wie die durch die digitalen Anwendungen gewonnenen numerischen Informationen in der Praxis erfahren, verstanden und übersetzt werden (können). Dabei zeigt sich, dass das lebensnotwendige Selbstvermessen auch immer eine alltägliche, körperliche, emotionale und leibliche Erfahrung ist. Zum einen ermöglicht das beschleunigte Zahlenfeedback situative Flexibilität, federt die Angst vor Unter- oder Überzuckerungen ab und trägt alltägliche Entscheidungsgewalten mit. Zum anderen führt die erweiterte Sichtbarkeit aber auch zu gesteigerten (körperlichen) Problematisierungen und Gewissenskonflikten. Um die Datengewalten alltäglich handhabbar zu machen, wird zudem ein immenses Maß biomedizinischen Wissens notwendig. Doch, so die Argumentation, muss im Rahmen der digitalisierten Selbstsorge-
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Praktiken auch anerkannt werden, dass sich Körper in einem lebendigen Alltagssetting einer erschöpfenden Kalkulierbarkeit entziehen. Den Band beschließt der Beitrag von Stefan Meißner, »Der vermessene Schlaf. Quantified Self in der Spannung von Disziplinierung und Emanzipation«, der dezidiert die Frage nach der Selbstoptimierung aufwirft und damit an Motive vieler Beiträge anschließt. Sein Beispiel für gegenwärtige Praktiken der Selbstvermessung ist die Vermessung des Schlafes. Anhand dieser Analyse kann herausgearbeitet werden, dass Selbstvermessung nicht nur eine Form der Selbstoptimierung, im Sinne einer (ökonomisch gedachten) Selbsteffektivierung darstellt, sondern dass sich in und durch die Praktiken der Selbstvermessung auch Formen der Selbststeigerung beobachten lassen. Diese treten immer dann auf, wenn das Ziel der Selbstvermessung im Vorhinein noch nicht fixiert ist, sondern offen bleibt oder aus den Daten erst generiert wird. Dieses Ergebnis steht einerseits im Kontrast zu einer kulturkritischen Position, die den Schlaf als die letzte noch nicht ökonomisch verwertbare Instanz vor neoliberalen Anrufungen schützen will und andererseits gibt es eine Differenz zur etablierten Schlafforschung, die den achtstündigen Nachtschlaf normalisiert hat. Selbstvermessung birgt damit das Potenzial, ein neues Wissen über sich und andere Selbsterfahrungen zu generieren, das auch gesellschaftliche Optimierungsanrufungen konterkarieren kann. Die Beiträge in diesem Buch gehen auf die Ergebnisse von zwei Tagungen zurück, die am 27. und 28.6.2014 unter dem Titel »Sich selbst vermessen. SelfTracking in Sport und Alltag« am Institut für Sportwissenschaften in Frankfurt und am 21. und 22.11.2014 als Jahrestagung der Gesellschaft für Wissenschaftsund Technikforschung e.V. unter dem Titel »Leibmessen: Experimentelle Optimierung von Körper und Alltag« in Tübingen stattfanden und die von den vier Herausgeber/-innen dieses Bandes in je zwei Tandems organisiert wurden. Die Gruppe der Autor/-innen, die im deutschsprachigen Raum zum Thema Selbstvermessung arbeitet, ist auch zwei Jahre nach den Tagungen im Jahr 2014 überschaubar. Um Dopplungen und Überschneidungen zu vermeiden, haben wir uns daher dazu entschieden, ausgewählte Beiträge in einem gemeinsamen Band zu veröffentlichen. Das vorliegende Buch ist Ergebnis dieser Zusammenarbeit.8 Es gliedert sich, entgegen der akademisch üblichen Ordnung von immer genau drei Teilen, nur in zwei Abschnitte, die wir mit »Gegenwartsdiagnosen und Genealogien« und »Subjekte und Technologien« überschrieben haben. Noch, so scheint es uns, ist die Frage nach der dritten, auflösenden Kategorie nicht zu klären: Reiht sich Self-Tracking in die Reihe moderner Optimierungsnarrative ein oder entstehen neue, ungewöhnliche Mess-, Bewertungs- und Lebenspraktiken? Die empirische Forschung steht hier noch am Anfang.
8 | Bedanken möchten wir uns ganz herzlich bei Carl Ebbinghaus, ohne dessen kenntnisreiche und engagierte Mitarbeit dieser Band niemals fristgerecht fertig geworden wäre.
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Gegenwartsdiagnosen und Genealogien
Taxonomien des Selbst Zur Hervorbringung subjektbezogener Bewertungsordnungen im Kontext ökonomischer und kultureller Unsicherheit Uwe Vormbusch
1. E inführung und A nalyser ahmen Anshu Jain und Richard Branson, Britney Spears und Beyoncé tragen sie, und es sollen auch bereits Sozialwissenschaftler mit einem der in den letzten Jahren populär gewordenen Fitness- und Tracking-Armbänder gesichtet worden sein. Auf www. wearable.com wird das »who’s wearing what of the stars« offensiv als Motor der Massenverbreitung am Körper getragener digitaler Produkte propagiert. Wearables erscheinen damit nicht allein als schnöde Gesundheits- und Fitnessmonitore, sondern als distinktives Moment eines avantgardistischen und vernetzten Lebensstils, der gesteigerte Individualität mit gesteigerter Konnektivität verbindet. Der Kult um das Individuum, der schon Emile Durkheim als Frage nach der Krise im Verhältnis von Modernisierung, Individualisierung und gesellschaftlicher Moral beschäftigte, verbindet sich mit dem Kult um technische Objekte, die nunmehr direkt und permanent mit dem menschlichen Körper verbunden und uns schon bald »unter die Haut gehen« werden (vgl. Michael/Michael 2010). Selbstvermessungspraktiken auf der Basis von solchen »digital companions«, die Einzelne mit dem Netz und über dasselbe verbindenden, werden in diesem Beitrag aus einer spezifischen Perspektive betrachtet. Diese versucht, grundlegende Veränderungen des Gegenwartskapitalismus mit den gegenwärtig noch offenen Bedeutungen und experimentellen Praktiken des Leibmessens1 und des Leibschreibens (vgl. Vormbusch/Kappler 2016) in Zusammenhang zu bringen, mittels derer Einzelne und avantgardistische Gruppen auf diese reagieren und hierdurch diejenigen Formen in die Welt bringen, anhand derer sie sich in der gegenwärtigen Gesellschaft kategorisieren, bewerten und bewähren können. Die gesellschaftliche Debatte um Überwachung zeigt an, 1 | So der Titel der Jahrestagung der Gesellschaft für Wissenschafts- und Technikforschung am 21./22.11.2014 in Tübingen.
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dass sich Einzelne durch die Hervorbringung dieser Formen nicht nur (auf der Ebene selbst gewählter Gruppenzugehörigkeiten) wechselseitig bewerten, sondern dass sie auch systematisch bewertbar werden: durch Krankenkassen und Versicherer, durch Unternehmen und staatliche Agenturen, durch Ärzte und professionelle Dienstleister. Inwieweit die systematische Verknüpfung der Spuren digitaler Interaktionen (vgl. Soderlund 2013) tatsächlich zu einer »surveillance society« (Haggerty/ Ericson 2000; Bauman/Lyon 2013) führen wird, ist zunächst eine offene Frage. Der vorliegende Beitrag argumentiert jedoch, dass erst durch die alltäglichen Kategorisierungsleistungen im Kontext der Selbstvermessung Bewertungsordnungen entstehen, die die Subjekte auch im Kontext funktionaler Systembildungen sicht- und bewertbar machen. Eine der hier verfolgten Thesen ist dementsprechend, dass die Selbstvermesser etwas ganz Neues und etwas ganz Besonderes hervorbringen, nämlich allgemein gültige Bewertungsordnungen für ihre alltäglichen Tätigkeiten, ihre an den Leib und seine Geschichte gebundenen Kompetenzen, das heißt ihr subjektgebundenes immaterielles Kapital, für dessen vielfältige Aspekte bis heute eben noch keine breit akzeptierten Repräsentations- und Bewertungsformen gefunden werden konnten. Selbstvermessung kann also als ein gigantisches, über den Globus verteiltes Labor verstanden werden, in dem Menschen technische Verfahren und normative Kriterien entwickeln, mittels derer sie ihre konkrete Unterschiedlichkeit kategorisier- und vergleichbar machen. Selbstvermessungspraktiken beruhen einerseits auf der emphatischen Betonung der eigenen Unverwechselbarkeit (›N=1‹!), andererseits bringen sie jedoch kollektiv verbindliche und bindende Taxonomien des Selbst hervor, die auf anderem Wege, das heißt ohne die vielfältigen Experimente und Suchbewegungen der Selbstvermesser, insbesondere derjenigen Gruppen, die sich intensiv mit ihren Techniken und Problemen auseinandersetzen, wie die Quantified-Self-Bewegung, nicht hätten hervorgebracht werden können. Die Selbstvermessung impliziert spezifische Forminvestitionen, die die Subjekte selbst produzieren, um sich mit ihrer Ökonomie und Kultur sowie miteinander zu verbinden und hierdurch einen neuen praktischen Sinn dieses Sich-Verbinden ausformen. Im Folgenden soll ein Analyserahmen skizziert werden, in dem diese Hervorbringung einer neuen, der Tendenz nach globalen Vergleichsordnung (vgl. Heintz 2010) untersucht werden kann. Der Beitrag ist stärker konzeptionell ausgerichtet, wobei er sich auf vorläufige empirische Ergebnisse aus dem DFG-Projekt »Taxonomien des Selbst«2 bezieht, an dem der Autor, Karolin Kappler und Eryk Noji beteiligt sind (vgl. zu den Ergebnissen z.B. Kappler/Noji/Vormbusch 2016). In dessen Rahmen werden Praktiken der Selbstvermessung untersucht, die bislang in beschränkten sozialen Kreisen von Self-Trackern und Self-Quantifiern zu beobachten waren und sich gegenwärtig in Form der Schaffung von neuen Produkten und Märkten für die Vermessung der »Qualitäten des Selbst« gesellschaftlich verallgemeinern. Die entstehenden Formen der Selbstinspektion werden anhand der Genese einschlä2 | Informationen sind bei der Fernuniversität Hagen unter www.fernuni-hagen.de/sozio logie/lg2/forschung.shtml verfügbar.
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giger Bewertungssysteme (Taxonomien) und alltäglicher Selbstvermessungspraktiken analysiert. Wir gehen davon aus, dass expertisierte Selbstvermesser wie jene, die im Kontext des Quantified-Self-Netzwerkes aktiv sind, eine besondere Rolle für die Hervorbringung solcher Taxonomien spielen – dementsprechend konzentrieren sich die erste Projektphase ebenso wie dieser Artikel zunächst auf diese Gruppe. Das Projekt folgt grundsätzlich den Prinzipien der Grounded Theory. Bereits während der Antragsphase und in den ersten Monaten des Projektes wurden 18 leitfadengestützte Interviews geführt und transkribiert, davon neun mit aktiven Selbstvermessern und neun mit Entwicklern und Start-up-Gründern. Weiterhin wurden bislang neun Show-and-Tell-Vorträge und eine Gruppendiskussion während einer Quantified-Self-Konferenz aufgenommen und transkribiert. In den bisherigen Erhebungen haben wir bislang drei relevante Topoi der Selbstvermessung identifiziert: Leistung, Gesundheit und Gefühle. Diese Kategorien sind vorläufig; so ist zum Beispiel ihr Verhältnis zueinander nicht abschließend geklärt, Gefühle und Gesundheit verweisen in vielfältiger Weise aufeinander, so dass es möglich ist, dass sich hieraus im weiteren Verlauf der Forschung eine andere Kategorisierung ergeben wird (vgl. ausführlicher Kappler/Vormbusch 2014; Vormbusch/Kappler 2016). Dieser Beitrag wie das zugrunde liegende Projekt verstehen sich als Ansätze zu einer Soziologie der Bewertung, in der Wertzuweisungsprozesse im Sinne der simultanen Hervorbringung kultureller und ökonomischer Ordnung untersucht werden: Ökonomisch ist diese Ordnung als eine Inwertsetzungspraxis bislang nicht quantifizierbarer Aspekte des Selbst, kulturell ist sie als Bewältigung der gesellschaftlichen Norm, nicht nur man selbst zu sein, sondern sich selbst zu entdecken und sich erst hierdurch als Individuum hervorzubringen. Die Bewertung immaterieller Kapitalien vollzieht sich also in Form einer ebenso objektivierenden wie subjektivierenden Vermessung des Selbst. Die Ausweitung kalkulativer Praktiken auf Leib und Selbst wird von uns in Anlehnung an eigene Vorarbeiten zur »Soziokalkulation« verstanden, also als »als zweigleisig angelegter Versuch der objektivierenden Bilanzierung und der subjektivierenden Entfaltung der für den gegenwärtigen Kapitalismus fundamentalen Wertgrößen« (Vormbusch 2012a: 23), mithin als ein Versuch der Bewertung bislang nicht bewertbarer, weil subjektiver, eigensinniger und tatsächlich einmaliger Aspekte des Selbst. Kultur- und alltagssoziologisch gehen wir unter Berücksichtigung erster Projektergebnisse davon aus, dass die Selbstvermessung als Lebensführungspraxis die Unsicherheitserfahrungen in den Feldern der ökonomischen Konkurrenz (Leistungsfähigkeit), der leiblichen und seelischen Gesundheit sowie des Gefühlsmanagements mittels einer quantifizierenden Selbstbeobachtung bearbeitbar zu machen verspricht. Selbstvermessung impliziert dabei spezifische Praktiken der »Präsentation und Sichtbarmachung des eigenen Selbst« (Bublitz 2010: 27), zum Beispiel durch das netzbasierte Teilen von Performanz- und Intimdaten. Im Kern experimentelle Praktiken des Leibmessens verkörpern damit nicht allein eine weitere kapitalistische Landnahme, sondern werden als ein Sich-Selbst-Entdecken aufgefasst, das in schlichter Selbstoptimierung nicht aufgeht. Selbstvermessung ist so gesehen nicht denkbar – und hier liegen deutliche Parallelen zu dem von Bol-
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tanski und Chiapello untersuchten Zusammenhang von Künstlerkritik und neuem Management – ohne die kollektiven Ansprüche an gelingende Identität, die in den vergangenen Jahrzehnten in Selbsthilfe-, Protest- und Emanzipationsbewegungen entwickelt und als gesellschaftlicher Möglichkeitshorizont etabliert werden konnten. In diesem Spannungsfeld von Verdinglichung und Autonomiesteigerung, von Körperoptimierung und Identitätssuche werden kalkulative Selbsttechnologien in ihrer Ambivalenz sichtbar: Sie beinhalten einerseits emanzipative Potenziale des ›Sich-selbst-Entdeckens‹ und ›Sich-selbst-Verstehens‹, andererseits droht die Gesamtheit individueller Lebensvollzüge den Maßstäben instrumenteller Rationalität unterworfen zu werden. Grundsätzlich wird hierbei von einem weiten Begriff des Gegenwartskapitalismus ausgegangen, der sich nicht der für Theorien der Moderne angeblich konstitutiven Differenz von Struktur und Kultur moderner Gesellschaften einfügt (vgl. Bonacker/Reckwitz 2007: 9ff.3). Die gegenwärtige Gesellschaft ist dementsprechend ökonomisch durch die Dominanz immaterieller, oftmals an die Geschichte, den Leib und die Identität des Einzelnen gebundener Kapitalien (vgl. Vormbusch 2007a/b; 2012a/c) sowie kulturell durch die Offenheit, Mehrdeutigkeit und Unübersetzbarkeit von Sinnsystemen gekennzeichnet. Dies bedeutet eine Zunahme von Freiheit des Denkens und des Handelns, aber eben auch und komplementär hierzu der Unsicherheit über die normative Richtigkeit und relative Wertigkeit desselben.
2. S elbst vermessung als L ebensführungspr a xis und sit tliche B uchführung Es ist keineswegs das erste Mal in der Geschichte, dass Menschen ihre Lebenspraxis und ihren Körper einer kontinuierlichen Beobachtung und zielgerichteten Interventionen unterziehen. Das reicht von dem hohen Stellenwert des Körpers in der griechischen Hochkultur, in der die göttliche Schönheit der Welt im gymnastisch ertüchtigten Körper zum Ausdruck kommen sollte, über den Körperkult des Nationalsozialismus bis zu den in der Moderne beobachtbaren Formen der Disziplinierung des Körpers. Auch in unserer Gegenwart verbergen sich hinter der rationalen Systematik von Diät, Body-Building und Körperstyling unterscheidbare körperkultische Idealtypen (vgl. Gugutzer 2013). Und selbst bei einer der am stärksten rational durchorganisierten Formen des Körperkults, dem Body-Building, ist die Arbeit am Körperselbst nicht auf instrumentelle Beherrschung und rationale Inflation von Muskelmasse zu reduzieren, sie kann vielmehr als »Erschaffung eines Kunstwerks« interpretiert werden, bei der sich die Maßstäbe der Einwirkung 3 | Hieraus ergibt sich weiterhin eine stark abgemilderte Frontstellung von »modernen« und »postmodernen«, strukturalistischen und kulturalistischen Gesellschaftsauffassungen, die einer die Kultur und die Ökonomie integrierenden Analyse moderner Gesellschaften faktisch eher im Wege steht.
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auf das Körperselbst »von einer transzendentalen Idee des Schönen« ableiten (Honer 2011: 110), auch wo diese nur »die individuelle Variation eines vorgegebenen Grundmusters« darstellt (ebd.: 111) und damit, so Honer, nicht im engeren Sinne von Körperkunst gesprochen werden könne. Gehen wir in Hinblick auf rationale Interventionen in die Lebenspraxis etwas weiter in der Geschichte des Kapitalismus zurück, so ist bekannt, dass bereits Benjamin Franklin – prototypisch für eine mit dem Protestantismus verbundene, ›kapitalistische‹ Ethik, eine systematische Aufzeichnung seines Tageswerkes betrieb. Entlang der von ihm verfochtenen 13 Tugenden (Mäßigkeit, Sparsamkeit, Fleiß, Ordnung; s.u.) gibt Franklins Tagebuch Auskunft darüber, in welcher Weise er den Anforderungen einer bürgerlichen Tugendhaftigkeit jeden Tag aufs Neue zu genügen vermochte. Es bildet damit ein spezifisches Repräsentationsformat einer ›sittlichen Buchführung‹, denn Franklin legt hier Rechenschaft nicht in Form eines ungeordneten Fließtextes, sondern in Form einer Tabelle ab, welche seine ethischen Leistungen visuell mit einem Blick zugänglich und in der Art eines moralischen Kontos evaluierbar macht. Ähnliche Tabellen werden heute auf vielen Meetups von Selbstvermessern als analytische Methoden zur Messung von Schlaf, Gefühlen und Leistung vorgestellt, so dass man vermuten darf, dass die Kontierung seines Tageswerks Franklin heute in jeder Quantified-Self-Gruppe eine Ehrenmitgliedschaft sichern würde. Abbildung 1
Quelle: Sombart 1913: 158.
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So wie das Bodybuilding auf eine Ästh-Ethik verweist, so wird die sittliche Buchführung des Benjamin Franklin in der Regel als Ausdruck des ihn leitenden kapitalistischen Geistes interpretiert (vgl. Sombart 1913; Weber 1963). Sombart und Weber gingen davon aus, dass die Idee innerweltlicher Bewährung zu einer spezifischen Rationalisierung der Lebensführung führen würde. Für unseren Zusammenhang ist von besonderem Interesse, dass Sombart auch die »rechnerische Behandlung des Sündenproblems« zum selben Kulturproblem gehörig identifizierte (Sombart 1911: 292). Eine systematische Buchführung guter und schlechter Taten reflektiert somit die moralische Qualität dessen, was man jeden Tag tut, in Hinblick auf das Problem der innerweltlichen Bewährung. Sittliche Buchführung ist systematisierte Rechenschaft vor Gott. In diesem Sinne interpretiert Aho (1985) auch die doppelte Buchführung weniger als eine Antwort auf die Informationsbedürfnisse frühkapitalistischer Händler und Bankiers, sondern als eine Kulturtechnik, in die als Ideal- und Normvorstellung ein Gleichgewicht von Vermögen und Schuld(en) eingeschrieben ist. Allerdings nimmt die Buchführung »im Rahmen von Webers Rationalisierungstheorie eine doppelte, in dieser Doppelung jedoch unverbundene Gestalt an: zum einen als die technische Voraussetzung rationaler Betriebsformen und der Vergesellschaftung des Kapitals, zum anderen – in der Protestantismusstudie – als ein Medium der Systematisierung einer ›Ethik der guten Werke‹« (Vormbusch 2012a: 102). Weber stellt also keine systematischen Verbindungen her zwischen der ökonomischen und der ›sittlichen‹ Buchführung. Beruht erstere auf exakter Kalkulation, so letztere auf einer inneren Disziplin, die ohne mathematische Operationen, das heißt ohne Kalkulation im engeren Sinne auskommt. Die Selbstvermessungspraktiken unserer Gegenwart zielen dagegen explizit auf die Verschränkung von exakter Kalkulation und alltäglicher Lebensführung. Die Selbstvermesser setzen gewissermaßen praktisch da an, wo Weber mit seinen Überlegungen zum Zusammenhang von rationaler Buchführung und kapitalistischer Kultur aufhörte: Sie bedienen sich rationaler Techniken der Repräsentation und Formung des Selbst im Kontext der gegenwärtigen Anforderungen kapitalistischer Kultur und Ökonomie. Indem Selbstvermesser sich zugleich zum Subjekt wie zum Objekt kalkulativer Selbstbeobachtung machen, betreiben sie eine Ausweitung des Objektbereichs kalkulativer Praktiken im Lichte der objektiven Handlungsprobleme, denen sie sich gegenübersehen. Weber und Sombart deuteten – bei allen Unterschieden insbesondere in Hinblick auf das Verhältnis von Buchführung und Religion – die dem Okzident eigene Rationalisierung der Lebensführung als Ausdruck einer historisch spezifischen Behandlung der Sündenproblematik. Werden moderne Selbstvermesser also von ihnen nicht bewussten religiösen Zweifeln getrieben, die sie mittels einer modernisierten Form der moralischen Buchführung in den Griff zu bekommen versuchen? Wohl kaum. Die Verbindlichkeit einer religiös begründeten Ethik mit ganz bestimmten lebenspraktischen Forderungen kann für die heutige Zeit angesichts der oft konstatierten Freisetzung der Individuen aus religiösen und kultu-
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rellen Orthodoxien kaum unterstellt werden. Das Problem stellt sich heute anders, nämlich aus der gerade entgegengesetzten Blickrichtung dar: als der Zwang zur Hervorbringung und Stabilisierung ethischer Muster der Lebensführung, die nicht mehr aus Religion, Sitte und Tradition direkt ableitbar sind, sondern im Horizont einer prinzipiell offenen Lebensführung und Sinngebung stehen, die von den Einzelnen aktiv hervorgebracht werden müssen. Die Befreiung aus ökonomischen, sozialen und religiösen Zwängen ist von der Soziologie – zumindest in ihrer ›klassisch modernen‹ Variante – als eine ambivalente und durchaus problematische Herauslösung aus sinn- und sicherheitsstiftenden Zusammenhängen interpretiert worden (vgl. Bonacker/Reckwitz 2007: 11). Im Folgenden sollen die sich hieraus ergebenden kollektiven Problemlagen unter zwei Aspekten den Hintergrund der Analyse abgeben: ökonomisch als Bewährung auf sich individualisierenden »subjektiven« Märkten, die bis zur Ausbildung von »Individualberufen« führen können (Voß 2012); kulturell als die Norm, sich im Kontext der Erosion identitätsstiftender Sicherheiten (der Familie, der Biografie, der ontologisierten Grenzziehung zur Dingwelt) selbst zu entdecken, zu formen und hierdurch erst als Individuum kenntlich zu werden. Vor diesem Hintergrund müssen wir von einer religiös und moralisch, ja selbst in Hinblick auf die Dingwelt offenen Lebensführung ausgehen. Selbstvermessung sollte also in einem analytischen Rahmen untersucht werden, der dem objektiven Handlungsproblem des modernen Menschen Rechnung trägt, im systematischen Zusammenhang der Gegenwartsgesellschaft selbst Sinn und Zusammenhang produzieren zu müssen. Selbstvermessungspraktiken sind demzufolge auf spezifische Kulturprobleme des Gegenwartskapitalismus bezogen: auf die kulturelle Unterbestimmtheit von Lebensführungspraktiken und die ökonomische Unsicherheit über den Wert des Selbst, vor allem als Konkurrenz- und Leistungssubjekt. Mittels der Selbstvermessung werden deshalb keine individuellen, sondern kollektive Problemlagen bearbeitet, die sich individuell manifestieren. Selbstvermessung ist als der Versuch zu sehen, eine kollektive Verständigung über die Kategorisierung, die Bewertung, den Vergleich und die Bewährungsmöglichkeiten des modernen Selbst zu schaffen. Einschlägige Analysen müssen sich deshalb auch an der Frage orientieren, wie die Maßstäbe und Kriterien, mittels derer ein solcher Vergleich und mithin neue Bewertungsordnungen des Selbst möglich und in die Welt gebracht werden. Denn vor der Herstellung einer sozialen Ordnung müssen zunächst jene Qualitäten und Wertigkeiten konstruiert werden, entlang derer diese Ordnung organisiert werden kann. Wie kann eine solche Analyse aussehen?
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3. D as H andlungsproblem : die B e wältigung kultureller und ökonomischer U nsicherheit Belliger/Krieger (2015: 389) gehen zunächst davon aus, dass die Selbstquantifizierung »aus kulturwissenschaftlicher Sicht als Zeichen einer tiefgreifenden Transformation des Welt- und Selbstverständnisses des Menschen im Kontext der digitalen Revolution verstanden werden« könne. Unter Rückgriff auf die These der Netzwerkgesellschaft von Manuel Castells und die Akteur-Netzwerk-Theorie behaupten sie, dass das Subjekt »in einer den Normen der Netzwerkgesellschaft entsprechenden Art und Weise zum Objekt für sich und für andere« werde (ebd.: 396). Die Selbstvermessung sei ein wichtiger Schritt auf dem Weg, die scharfe Trennung »zwischen dem privaten, innerlichen, gefühlsgebundenen und rein subjektiven Erleben des Körpers und dem digitalen, objektiven, aus Zahlen und Messungen bestehenden Selbst« aufzuheben (ebd.). In der Folge könnten die Subjekte – wie alles andere auch – »an diesen neuen Prinzipien und Normen der Netzwerkgesellschaft« gemessen werden (ebd.: 395). Netzwerknormen würden im wahrsten Sinne des Wortes »verkörpert« und hierdurch könne »die von Castells ins Zentrum der Strukturanalyse der Netzwerkgesellschaft gestellte Spannung zwischen Netz und Identität sowie zwischen physischem und virtuellem Selbst« überwunden werden (ebd.: 400). Im Mittelpunkt stehe die Konnektivität, mittels derer sich der Körper als ein Flow von Daten darstellen lasse. Als »Digitalwerte sind alle gleich und vergleichbar« (ebd.: 401). Die Überlegung, dass sich die Einzelnen mit dem Netz verbinden und verbinden müssen, reflektiert sicherlich ein für das moderne Subjekt relevantes Handlungsproblem. Allerdings wird in diesem Ansatz nicht klar, in Hinblick auf was sich die Einzelnen konkret vernetzen. Die Aufforderung, sich zu vernetzen, ist zu allgemein, um als Handlungsorientierung der alltäglichen Lebenspraxis fungieren zu können. Netzwerknormen werden darüber hinaus als gegeben unterstellt, anstatt sie aus den vielfältigen Handlungspraktiken der Akteure und ihrer Freiheit, bestimmte Bewertungsregister heranzuziehen (oder eben andere), zu rekonstruieren. Es bleibt hier also weitgehend unklar, in Hinblick auf was sich Subjekte vernetzen und wie sie die Voraussetzungen hierfür schaffen. Denn es sind eben nicht von vorneherein »alle gleich und vergleichbar« – auch nicht im Netz. Wie also werden die Kategorien und Qualitäten kollektiv verfertigt, entlang derer Subjekte sich praktisch vergleichen können? Das Argument ist an dieser Stelle, dass sich für das moderne Subjekt heute ein unmittelbares Handlungsproblem stellt, das durch den Verweis auf den Zwang zur Konnektivität zwar zutreffend, aber zu unpräzise beschrieben wird. Erstens stellt sich das Problem des Sich-Verbindens und Sich-Vergleichens heute vor dem Hintergrund eines gerade unbestimmten Gehalts der Lebensführung und ihrer (zumindest in der Wahrnehmung der Einzelnen) offenen Gestalt. Zweitens stellt es sich vor dem Hintergrund spezifischer Unsicherheiten, die charakteristisch für den gegenwärtigen Kapitalismus sind. Hierzu gehört insbesondere, dass die Unklarheit über die Kriterien, anhand derer gelingende Identität beurteilt werden
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kann, im flexiblen (vgl. Sennett 1998) bzw. kulturellen (vgl. Neckel 2005) Kapitalismus nicht von der Unsicherheit über die ökonomischen Qualitäten des Selbst zu trennen ist, da die leib- und subjektgebundenen Kompetenzen des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2002) bzw. des »Arbeitskraftunternehmers« (Voß/ Pongratz 1998) ebenso einen (bislang unspezifizierbaren) ökonomischen Wert aufweisen, wie sie auf die Identität des Selbst verweisen. Oder wie Manfred Moldaschl (2002: 31) das in Hinblick auf das Verhältnis von Subjektivität und Ökonomie prägnant formuliert hat: »Subjektivität ist der Treibstoff, nicht (mehr) die Bremse«. Bei der Selbstvermessung geht es damit um die Suche nach denjenigen Qualitäten des Selbst, die in Hinblick auf die Kultur und Ökonomie der Gegenwartsgesellschaft von den Einzelnen als bedeutend erachtet werden und die im Kontext einer der Idee als auch der empirischen Lebenserfahrung nach globalen Sozialität nicht mehr in Interaktion mit »traditionalen« Gemeinschaften (Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2009) ausreichend erfahren werden können. Angesichts der Unsicherheit über die Relevanz ihrer subjektiven Qualitäten in Hinblick auf eine als verflüssigt angenommene gesellschaftliche Schichtungsordnung und der Unsicherheit in Hinblick auf die Marktrelevanz subjektiver Qualitäten stellt die Selbstvermessung eine Praxis der Exploration und der kollektiven Verständigung über eben diese Qualitäten dar. Die Selbstvermessung kann also als eine der Suchbewegungen gedeutet werden, die durch die fundamentale Unsicherheit in Hinblick auf die Qualität des Wertes solcher immaterieller Kapitalien ausgelöst werden, die an den Leib, die Fertigkeiten und die Geschichte des Subjekts gebunden sind. Hier drängt sich einerseits der Begriff des Habitus auf (Bourdieu). Andererseits betont das Konzept des Habitus die vorreflexiven und den Akteuren nicht zugänglichen Aspekte eines durch bestimmte Klassenverhältnisse geprägten Selbst. Die hier im Anschluss an die Ökonomie der Konventionen (vgl. Diaz-Bone 2015) verfolgte Perspektive betont dagegen stärker als das Habitus-Konzept die reflexiven Kompetenzen und die Selbstreflexivität der Akteure. Es wird davon ausgegangen, dass Akteure ihr Handeln kompetent begründen und verschiedene Bewertungsmöglichkeiten gegeneinander abwägen können und dass die spezifischen Rechtfertigungen, die diesbezüglich gegeben werden, sich eben nicht auf einen Reflex ihrer Position im sozialen Raum reduzieren lassen.
4. S elbst vermessung als H ervorbringung der Q ualitäten des S elbst : die Ö konomie der K onventionen Für Oevermann (2001) sind Deutungsmuster funktional auf objektive Handlungsprobleme wie die Lösung von Konflikten, die Herstellung einer geschlechtlichen Identität etc. bezogen. Für die meisten Menschen in modernen Gesellschaften bildet die Suche nach den Qualitäten des Selbst ebenfalls ein objektives Handlungsproblem. Die Hervorhebung überindividueller Handlungsprobleme und Argumentationszusammenhänge teilt die Deutungsmusteranalyse mit der
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französischen Soziologie der Kritik und der Ökonomie der Konventionen (vgl. Salais/Storper 1997; Boltanski/Thévenot 2007). Für diese stehen zwei Probleme im Mittelpunkt: Wie Akteure in Situationen der Unsicherheit ihre Handlungen unter Bezug auf überindividuelle Kategorien und Beurteilungsschemata praktisch rechtfertigen und wie sie hierdurch ihre Handlungen koordinieren. Einer der wesentlichen Gründe, warum die Soziologie der Kritik und die Ökonomie der Konventionen den neueren Praxistheorien zugerechnet werden, ist der Umstand, dass Handlungsprobleme sowie Rechtfertigungsmuster nicht aus übergeordneten strukturtheoretischen Überlegungen abgeleitet, aber eben auch nicht als durch individuelle Akteure konstituiert betrachtet werden. Die Ökonomie der Konventionen fragt stattdessen danach, wie Akteure in alltäglichen Situationen ihre Handlungen und Meinungen rechtfertigen und wie sie in diesen Rechtfertigungen allgemeinen Begründungsprinzipien folgen, die sich aus kollektiven Vorstellungen eines Gemeinwohls ableiten lassen. Die Frage der Qualitäten des Selbst ist nicht von der Frage der Bewertung dieser Qualitäten in konkreten Situationen (in der Terminologie der Ökonomie der Konventionen: ihrer jeweiligen »grandeur«) zu lösen. Dabei teilt die Ökonomie der Konventionen mit den »valuation studies« die Überzeugung, dass grundsätzlich von einer »plurality of regimes of worth« auszugehen sei (Lamont 2012: 203). Bevor Selbstvermesser Aspekten ihres Selbst und ihres Tuns einen Wert zuweisen können, müssen dementsprechend zumindest implizit gültige Bewertungsordnungen in die Welt gebracht werden. Die für die Selbstvermessung entwickelten Kategorien, Mess- und Auswertungsverfahren sowie die Probleme, auf die diese bezogen sind, müssen also in bestimmten sozialen Kreisen Anerkennung finden.4 Im Falle der Selbstvermessung geht es dabei um (noch) mehr als die Hervorbringung von allgemeinen Kriterien, mittels derer ganz heterogene Objekte und Qualitäten des Selbst vergleichbar gemacht werden können. Es geht oftmals und noch wesentlich anspruchsvoller um die Hervorbringung von ordinalen oder gar metrischen Skalen, die im engeren Sinne eine Quantifizierung und in vielen Fällen sogar mathematische Operationen und damit die algorithmisierte Weiterverarbeitung von Daten in Systemen großer Reichweite (Gesundheitsdatenbanken, Versicherungen, Sport- und Aktivitätsmetriken etc.) erlauben. Folgen wir der Ökonomie der Konventionen, dann müssen die Bewertungsordnungen darüber hinaus in bestimmte normative Vorstellungen eingebettet sein. Sie müssen ein ›Gemeinwohl‹ reflektieren, auf das hin konkrete Praktiken als mehr oder weniger gut qualifiziert werden können. Damit bestehen Bewertungsordnungen nicht nur aus kognitiven Operationen, sie 4 | Es ist beispielsweise strittig, ob im Falle eines »Gewichtsproblems« primär die Veränderung des Körpergewichts in der Zeit, die aufgenommenen und verbrannten Kalorien, die Bewegungsaktivität der Person, der Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme etc. gemessen wird und wie diese Größen korreliert werden. Dies hängt auch von der jeweiligen Gruppe ab und welche kulturellen Assoziationen hier mit dem Gewicht verknüpft werden. Das, was gemessen wird, trägt darüber hinaus performativ zur Definition des Problems bei.
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sind stattdessen von kollektiv geteilten Vorstellungen des Wünschenswerten und Guten nicht zu trennen. Beispielsweise ist eine im Rahmen von Quantified Self immer wieder geäußerte Vorstellung, dass es erstrebenswert sei, so viel wie möglich über sich zu wissen. Das Wissen über sich wird dabei als Voraussetzung von Selbstbestimmung und damit als ein Ziel im Rahmen einer normativen Ordnung qualifiziert, als eine Ressource, um die Fremdbestimmung durch professionelle Akteure (Ärzte beispielsweise) abzustreifen. Wissen über sich wird zu dem Vehikel des Wechsels eines Herrschafts- und Regierungstypus: von der Fremd- zur Selbstregierung. Weiterhin wird dieses Wissen im Kontext von QS gerade nicht als gesellschaftliches Durchschnittswissen im Sinne der Verteilung von Merkmalsausprägungen über Gruppen von Menschen, sondern als ein alternatives Wissen, als Individualwissen verstanden (N=1). Welche idealtypischen Vorstellungen des Wünschenswerten hinter diesem Wissenwollen allerdings konkret stehen, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch unklar. ›Mehr über sich zu wissen‹ ist ein offensichtlicher und auf Websites und in Interviews mit Selbstvermessern direkt ablesbarer Aspekt hiervon, ebenso wie das Ziel, dieses Wissen zu quantifizieren. Beides reicht aber nicht aus, um eine Bewertungsordnung zu etablieren, die von verschiedenen Gruppen von Akteuren als gültig anerkannt wird. Hierzu bedarf es weiterer Spezifizierungen, worüber Selbstvermesser mehr wissen wollen, anhand welcher Kriterien sie dieses Wissen faktisch beurteilen, in welchen Kreisen dieses Wissen Gültigkeit beanspruchen kann, und welche Reichweite und Stabilität die verwendeten Technologien aufweisen. Auch in Hinblick auf das Problem ökonomischer Unsicherheit und der ökonomischen Qualitäten des Selbst ist die Ökonomie der Konventionen aufschlussreich, insofern sie eine spezifische Kritik an den klassischen und neoklassischen Vorstellungen zur Wertbildung formuliert. Denn ein Preis für ein Gut wird sich aus dieser Sicht nur finden lassen, wenn die Akteure sich bereits im Vorfeld über die Eigenschaften von Objekten, die zum Tausch stehen, geeinigt haben. Damit unterstellen die klassischen und neoklassische Markttheorien, »dass die Probleme der Qualität bereits gelöst sind« (Eymard-Duvernay 2012: 40, zit.n. Diaz-Bone 2015: 329). Für die große Mehrheit immaterieller Güter im gegenwärtigen Kapitalismus gilt dies jedoch gerade nicht: Es gibt keine standardisierten Regeln, die kontextunabhängig angewendet werden können, um das Wissen und den Wert individueller Kompetenzen präzise bestimmen zu können. Im Kontext der Ökonomie erscheint es also wesentlich, diejenigen Bewertungsordnungen zu identifizieren, die es erst im Anschluss möglich machen, die Preise bestimmter Waren mehr oder weniger automatisch zu berechnen: implizite Übereinkünfte über Konventionen und ihre (oftmals konfligierende) Anwendung in Situationen. Unter der gegenwärtigen Bedingung des Fehlens einer formal gültigen Bewertungsordnung kann anhand von Selbstvermessern in situ beobachtet werden, wie die gegenwärtig noch recht unscharfen Qualitäten des Selbst und hierauf bezogene Argumentationszusammenhänge in einer kollektiven Praxis der Verständigung über diese Qualitäten entstehen. Allerdings ist die Soziologie der Kri-
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tik und damit auch die Ökonomie der Konventionen oftmals selbst in die Kritik geraten, insofern sie die Hegemonialität bestimmter Rechtfertigungsordnungen, die »die sozial verfügbaren Möglichkeiten der Kritik einschränken«, zu wenig berücksichtige (Celikates 2009: 154). Boltanski und Chiapello (2001: 459) versuchen deshalb, in ihrer Studie über den Neuen Geist des Kapitalismus »die Kernpunkte einer kritischen mit denen der pragmatischen Soziologie zu verbinden«. Für Boltanski und Chiapello ist es in dieser Studie wichtig, »den Bezug auf große Einheiten« (ebd.: 461), und damit meinen sie vor allem eine Analyse des Kapitalismus als Gesellschaftssystem, zu erhalten und gleichzeitig die Soziologie für die normativen Prinzipien und die Praktiken, die die Subjekte in ihrer alltäglichen Praxis in Anschlag bringen, zu sensibilisieren. Mit einer ähnlichen Zielrichtung soll auch in Hinblick auf das Phänomen der Selbstvermessung vorgegangen werden. Hierzu ist es notwendig, den Rahmen einer Analyse des kapitalistischen Wandels mit den sich erst formierenden Praktiken im Feld der Selbstvermessung zu verbinden. Tut man dies, wird deutlich, dass die kollektive Verständigung über die Kriterien, in Hinblick auf die Selbstvermesser sich messen und vergleichen, in ihrer Ausrichtung auf spezifische Wertgrößen und Qualitäten nicht beliebig ist, sondern auf die bezeichneten objektiven Handlungsprobleme (und ggf. auf weitere) antwortet. Insofern ist es entscheidend, ebenso die Unausweichlichkeit der Konfrontation Einzelner mit den Strukturveränderungen des Kapitalismus wie die praktische Freiheit der Akteure in ihrer Reaktion auf diese Veränderungen zu berücksichtigen. Die Ökonomie der Konventionen fragt also nach jenen Qualitäten, die jeder Form des ökonomischen Austauschs und der sozialen Koordination vorangehen. Erst Konventionen ermöglichen »die Vergleichbarmachung, d.h. praktisch die Herstellung von Äquivalenzen zwischen vormals unvergleichbaren Objekten oder Personen« (Diaz-Bone 2015: 293)5. Im Fall der Selbstvermessung existieren jedoch noch gar keine Konventionen und für die Subjekte in ihren alltäglichen Kategorisierungs- und Rechtfertigungspraktiken selbstverständliche Register der Kategorisierung. Ausgeprägter als in vielen anderen Feldern, in denen Konventionen sich zwar alltäglich immer wieder bewähren müssen und selbst Gegenstand der Kritik sind, haben wir es hier mit der sozialen Herstellung der Bedingungen zu tun, die Klassifizierungen zuallererst erlauben. Wir haben es mit Konventionen »in the making« zu tun.6 In praktischen Bewertungssituatio5 | Der Begriff der Konvention und der Qualität hat m.E. gegenüber dem Begriff der Kommensurabilisierung (vgl. Espeland/Stevens 1998) den Vorzug, dass er auf die Pluralität und die oftmals vorhandene Unübersetzbarkeit konfligierender Bewertungsordnungen verweist. 6 | Zu den für die Ökonomie der Konventionen grundlegenden idealtypischen Rechtfertigungsordnungen, aber auch zu der oftmals unklaren Abgrenzung der Begriffe der Qualitätskonventionen, Rechtfertigungsordnungen, cités etc. innerhalb der Ökonomie der Konventionen und der Soziologie der Kritik vgl. Diaz-Bone 2015: 140ff.
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nen kommt es dabei aus dieser Perspektive regelmäßig zu Spannungen und Widersprüchen zwischen den anzuwendenden Bewertungsordnungen (wenn sich z.B. eine unterschiedliche ›Größe‹ oder ›Wertigkeit‹ für die situative Bewertung einer Person ergibt, je nach angewandter Konvention), die die Akteure innovativ und in der Situation lösen müssen. Für die Selbstvermessung bedeutet dies, dass Messungen nie ein ›objektives‹ Ergebnis haben können, sondern immer eine Freiheit in der Anwendung der Rechtfertigungsordnungen besteht. Die ›Realität‹ von Konventionen, das Maß also, in dem sie trotz ihrer Konstruiertheit bei angebbaren Gruppen von Handelnden selbstverständliche Geltung beanspruchen können, ist dabei von Forminvestitionen abhängig. Die Reichweite einer Konvention und ihre Kapazität zur Koordination verteilter Akteure und Aktivitäten sind, so Thévenot (2009: 794), wiederum von ihrer zeitlichen und räumlichen Stabilität sowie der ›Solidität‹ der Objekte abhängig, durch die sie reproduziert und stabilisiert wird. Unter den Begriff des ›Objekts‹ fassen wir im Projektzusammenhang dabei sowohl (materielle) Apparaturen wie Smartphones, Körpersensoren etc. als auch (immaterielle) Verfahren wie Algorithmen und spezifische Repräsentationsformate. Für die empirische Untersuchung von Selbstvermessungskonventionen sind also relevant: • der Kreis von Akteuren, für die die jeweilige Konvention gilt (ihre soziale Reichweite), • ihre zeitliche Konstanz bzw. Stabilität, • sowie die Form und Stabilität der vermessenen Objekte und der Messverfahren. Selbstvermessung lässt sich damit als eine entstehende Praxis beschreiben, in der Akteure grundlegenden (ökonomischen und kulturellen) Unsicherheiten ausgesetzt sind und vor diesem Hintergrund versuchen, zu einer Einigung hinsichtlich der Normen und der Kriterien zu gelangen, nach denen sie selbst und ihre Lebenspraxis kollektiv beurteilt werden könnten. Empirisch treffen sie hierbei auf eine Situation, in der noch keine institutionalisierten und damit verlässlichen Forminvestitionen existieren, auf die man sich berufen und hierdurch plausibel einen Wert des Selbst und seines Tuns legitimieren könnte. Das Feld der Selbstvermessung weist in dieser Hinsicht also eine ganz andere und grundlegendere Unsicherheit auf als das Feld (beispielsweise) der Normen, die die frühkindliche Entwicklung protokollieren und spezifische Interventionen möglich machen sollen (die Früherkennungsuntersuchungen U1 bis U9 in Deutschland). Das folgende Schaubild fasst die bisherigen Überlegungen zusammen:
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Abbildung 2
Leistungsfähigkeit und Emotionen bilden zwei eng miteinander verwobene Aspekte der Erfolgskultur der Gegenwart (vgl. Neckel 2005). Gesundheit und die SelbstExpertisierung in Hinblick auf den eigenen Körper wiederum sind Teil des Gründungsimpulses der Quantified-Self-Bewegung überhaupt. Diese ist ja aus dem Motiv heraus entstanden, die im Gesundheitssystem institutionalisierten Verfahren der Fremdbeobachtung, in denen das individuelle Körperwissen lediglich eine Stör- und bestenfalls eine Residualgröße darstellt, systematisch auf Praktiken einer technisch mediatisierten Selbstbeobachtung umzustellen. Es ist deshalb nicht vollkommen überraschend, dass Leistung, Gesundheit und Gefühle Topoi sind, um die viele der Selbstvermessungsexperimente kreisen. In der Vermessung von Emotionen und des »Glücks« (vgl. Duttweiler 2007) zeigen sich allerdings auch am deutlichsten die Schwierigkeiten der formalen Repräsentation schwer fassbarer, weil in der Leiblichkeit und der subjektiven Wahrnehmung gründender und gewisser-
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maßen in ihnen eingeschlossener Facetten des Selbst. Gefühle sind für Selbstvermesser ein ebenso zentrales wie unterbestimmtes Terrain: in Hinblick auf die relevanten Messkriterien, die Ausgestaltung einschlägiger Skalen und Messniveaus sowie in Hinblick auf die verwendeten Messverfahren und Darstellungsformate. Die Angemessenheit ganz verschiedener Repräsentationsformate und die jeweiligen Vor- und Nachteile einer zahlen- oder aber textbasierten Darstellung werden deshalb überaus kontrovers diskutiert und sind Gegenstand experimenteller Praktiken des »mood tracking« (vgl. z.B. den »Facereader«; Kappler/Vormbusch 2014). Zusammengefasst erscheint Selbstvermessung aus der skizzierten Perspektive als eine Verständigungs- und Koordinationspraxis von Akteuren, die auf ein für sie zentrales Handlungsproblem im Gegenwartskapitalismus reagieren: die Bewältigung der Unsicherheit über ihren Wert und ihre ›Qualität‹. Diese Bewältigung nimmt die Form einer Suche nach Konventionen an, mittels derer global verteilte und sehr unterschiedliche Akteure sich wechselseitig kategorisieren und bewerten können. Selbstvermesser bearbeiten damit ein gesellschaftliches Ordnungsproblem. Sie bringen Kategorien und Verfahren in die Welt, die es zu messen erlauben sollen, wie die Pluralität ihrer Arbeitsvermögen und die Pluralität ihrer Lebensweisen praktisch verglichen werden können. Sie treiben damit eine soziale Innovation voran, die von keiner Organisation und keiner Institution betrieben werden könnte. In Deutschland hat vor allem Heintz (2010) auf die »Quantifizierung des Vergleichs« hingewiesen. Wichtige Forschungsdesiderate bleiben hier jedoch die mikro- und praxissoziologische Fundierung der Analyse globaler Vergleiche sowie die Aufhellung der Genese entsprechender Taxonomien. Gerade die QuantifiedSelf-Bewegung eignet sich für die Analyse der Genese solcher Taxonomien, indem hier die Hervorbringung jener Kategorien, Messverfahren, materiellen und immateriellen Technologien in situ beobachtet werden kann, die die Grundlage jeder Form des quantifizierten Vergleichs darstellen.
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Self-Tracking als Selbsttechnologie des kybernetischen Kapitalismus Simon Schaupp
1. E inleitung Die Subjektivierungsanforderungen des postfordistischen Kapitalismus manifestieren sich zunehmend in kybernetischen Selbsttechnologien. Das Self-Tracking ist mit seiner automatischen Vermessung und präventiven Kontrolle eine kybernetische Selbsttechnologie par excellence. Michel Foucault (1986) versteht unter dem Begriff der Selbsttechnologien Techniken des Selbstbezuges, die es den Subjekten ermöglichen, sich selbst zu transformieren und zu regieren. Er analysiert diese Techniken am Beispiel der Beichte und der antiken Diätetik. Diese Form der Selbstkontrolle, der es wesentlich um die nachträgliche Evaluation des eigenen Verhaltens geht, wird gegenwärtig abgelöst von einer neuen Form der Selbstkontrolle, der kybernetischen Kontrolle. Dabei geht es darum, Rückkopplungskreisläufe zu etablieren, die dazu führen, dass das Subjekt sich präventiv und automatisch selbst optimiert. Self-Tracking, das möchte ich im Folgenden zeigen, ist ein Paradebeispiel solcher kybernetischen Selbsttechnologien. Die Interpretation digitaler Selbstevaluationstechnologien als Ausdruck eines sich permanent optimierenden unternehmerischen Selbst liegt nahe und auch auf den kybernetischen Charakter dieser Technologien wurde bereits hingewiesen (z.B. Duttweiler 2007: 218; Reichert 2008: 129; Traue 2010a). Diese Erkenntnisse dienen hier als Grundlage, sollen jedoch um eine gesellschaftstheoretische Dimension ergänzt werden. Das Argument, das hier entwickelt werden soll, ist, dass die Technologien und Praxen des Self-Trackings verstanden werden müssen als (1) Antworten auf die Leistungsansprüche der postfordistischen Ökonomie und (2) als Ausdruck eines spezifisch kybernetischen Modus der Kapitalakkumulation und Kontrolle, der mit dem Begriff des kybernetischen Kapitalismus erfasst 1 | https://www.beeminder.com/overview (4.5.2015, eigene Übersetzung).
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werden kann. Das gesellschaftstheoretische Potenzial dieses Begriffs liegt dabei darin, die Wechselwirkung von Kapitalakkumulation und Kontrolle pointiert erfassen zu können. Im kybernetischen Kapitalismus fallen Informationsverarbeitung, Kapitalakkumulation und Kontrolle in eins, sie folgen derselben Logik, basieren auf derselben technologischen Infrastruktur. Die Argumentation werde ich im Wesentlichen in zwei Schritten vollziehen: Im ersten Schritt werde ich die Prinzipien des kybernetischen Kapitalismus herausarbeiten und klären, was unter den Begriffen der kybernetischen Kontrolle und Produktion sowie der kybernetischen Selbsttechnologie zu verstehen ist. Im zweiten Schritt werde ich zeigen, warum Self-Tracking als kybernetische Selbsttechnologie verstanden werden kann und welche Rolle es im kybernetischen Kapitalismus spielt.
2. K yberne tischer K apitalismus Mit dem Begriff des kybernetischen Kapitalismus2 wird hier die Kybernetik explizit sowohl in ihrer technologischen als auch in ihrer onto-epistemologischen Dimension als Universalwissenschaft ins Zentrum gerückt. So wird einerseits die Verschiebung hin zu einer kybernetischen Organisation von Produktion und Kontrolle aufgezeigt, andererseits wird die Kontinuität des Kapitalismus als zentrale Herrschaftsstruktur berücksichtigt. Den digitalen Technologien kommt dabei eine wichtige Rolle zu, die aber als eine dialektische und nichtdeterministische konzipiert wird. Es mag zunächst etwas merkwürdig anmuten, eine Wissenschaft zum zentralen Charakteristikum des Gegenwartskapitalismus zu erklären, die ihre Hochzeit in der 1940er bis 70er Jahren hatte und heute weitgehend aus den Universitäten ausgeschieden ist. Doch im Folgenden geht es darum, die kybernetische OntoEpistemologie der Selbstregulierung durch Rückkopplung als gemeinsames Charakteristikum neoliberaler Kapitalakkumulation und Kontrolle auszuweisen.
2 | Der Begriff des »cybernetic capitalism« wurde von Robins und Webster (1988) geprägt, um die Verschiebungen in der Kapitalakkumulation in den Blick zu nehmen, die durch die neuen Kommunikationstechnologien, allen voran dem Internet, ausgelöst wurden. In dem Konzept kommt eine zentrale Ambiguität des Begriffs der Kybernetik, dessen Kurzform das ubiquitäre »cyber« ist, zum Ausdruck. Das »cybernetic« von Robins und Webster hat nichts mit der Universalwissenschaft der Kybernetik zu tun, um die es hier gehen soll. Tatsächlich findet sich kein einziger der klassischen Kybernetiker in der Literaturliste ihres Aufsatzes. Stattdessen nutzen sie den Begriff in seiner umgangssprachlichen Form, in der er sich ausschließlich auf die sogenannten »Cyber-Technologien« oder den »Cyber-Space« bezieht.
»Wir nennen es flexible Selbstkontrolle.«
2.1 Kybernetik Das Wort Kybernetik stammt vom griechischen »kybernesis«, das die Kunst bezeichnet, ein Schiff zu steuern. Norbert Wiener definierte im Titel seines Gründungswerks der modernen Kybernetik dieses neue Forschungsfeld als die Wissenschaft von »Kontrolle und Kommunikation« (1948). Die primären Anwendungsbereiche der Kybernetik sind äußerst komplexe Systeme, also solche Systeme, die nicht mechanisch determiniert sind, sondern nur probabilistisch verstanden werden können. Als Beispiele solcher Systeme nennt Stafford Beer, der Pionier der kybernetischen Managementtheorie, ein Gehirn oder eine Volkswirtschaft3 (vgl. Beer 1962: 27ff.). Diese Systeme können vor allem deshalb nicht vollständig durchschaut werden, weil sie prinzipiell offen und dynamisch sind. Sie verbleiben nicht, wie mechanische Maschinen, in ein und demselben Stadium, in dem sie immer wieder dieselben Abläufe wiederholen, sondern entwickeln sich ständig weiter, sie verhalten sich emergent. In der Kybernetik wird diese Dynamik auf die Anpassung an veränderte Umweltbedingungen zurückgeführt. Diese Adaptionsfähigkeit ist, wie Ross Ashby in einem Essay von 1945 schrieb, »in no way special to living things, […] it is an elementary and fundamental property of all matter« (Ashby, zit.n. Pickering 2010: 146). Kybernetische Steuerung bedeutet unter diesen Prämissen, das gesteuerte System so einzurichten, dass die scheinbar ziellose Evolution zu einer Selbstoptimierung im Sinne der Steuerungsziele wird. Damit erscheint, wie der Polizeikybernetiker Horst Herold schreibt, jede Evolution »als verbesserte Adaption eines selbstregulierenden Systems an seine Aufgaben, als fortschreitende Unabhängigkeit der inneren Struktur von äußeren Störungen, mithin als Optimierung seiner Verhaltensweisen« (zit. n. Hartung 2010: 38). Die Kybernetik beschreibt dynamische Systeme mit der Metapher der Blackbox, einer Maschine, die zwar eine nachvollziehbare Funktion erfüllt, deren innere Abläufe aber prinzipiell nicht vollständig erfasst werden können. Als Beispiel führt Beer die »Ballfangmaschine« an: Wer unerwartet einen Ball zugeworfen bekommt, entscheidet sich innerhalb von Sekundenbruchteilen, ob er oder sie diesen fangen möchte. Ist dies der Fall, laufen innerhalb kürzester Zeit unzählige, weitere komplexe Prozesse ab, die den Zweck verfolgen, den Körper so auszurichten, dass er den Ball fangen kann, selbst aber nicht intellektuell verarbeitet werden. Müssten sie bewusst gesteuert werden, so wäre der Versuch, den Ball zu fangen, zum Scheitern verurteilt. »Deshalb brauchen wir einen Steuermechanismus, der, obgleich von uns konstruiert, Probleme regeln kann, die wir nicht kennen.« (Beer 1962: 46) Dieser Steuermechanismus ist der Stein der Weisen, nach dem die Kybernetiker/-innen suchen. Sie nennen ihn den Homöostat, nach
3 | Die Analogie zwischen Organ und Institution ist hier kein Beispiel, sondern charakteristisch für das kybernetische Verständnis komplexer Systeme.
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einer Maschine, die Ross Ashby entwickelte, »to illustrate stability, & to develop ultrastability« (zit.n. Pickering 2008: 101). Während Ashbys Homöostat ein recht einfacher elektronischer Schaltkreis blieb, ließen spätere Generationen von Kybernetikerinnen und Kybernetikern nichts unversucht, um eine funktionierende Selbstregulierungsmaschine zu konstruieren. Beer widmete sich über längere Zeit dem Versuch, einen Homöostat zu konstruieren, der in der Lage sein sollte, automatisch ein Unternehmen zu verwalten. Um menschliches, kognitives Management zu überwinden, sollte als Regulationseinheit unter anderem eine Population von Wasserflöhen dienen4 (vgl. Beer 1962: 194). Wie auch immer er jedoch konkret konstruiert wird, sind die Kybernetiker/-innen sich einig, dass ein Homöostat mindestens die folgenden drei Elemente umfassen muss: erstens einen Sensor, der Daten über das zu steuernde System sammelt, zweitens einen Datenverarbeitungs- oder Klassifikationsmechanismus, der die gesammelten Daten in einer Weise filtert und strukturiert, die sie für die Funktion des Systems relevant werden lässt, und drittens muss der Homöostat über einen Ausgabemechanismus verfügen, der die strukturierten Daten an das System zurückleitet. Dieser Rückkopplungsprozess soll dem System erlauben, sich automatisch veränderten Bedingungen anzupassen, sei es um einen erwünschten Zustand beizubehalten oder auch um sich über diesen hinaus zu entwickeln.
2.2 Kybernetische Produktion Als erste industrielle Anwendung kybernetischer Steuerungsprinzipien kann das Toyota-Produktionssystem identifiziert werden, das in den 1950er Jahren von Taiichi Ōno entwickelt wurde. Den Kern des Konzepts bildete das Kanban-Informationssystem, das den Einkauf bzw. die Produktion unmittelbar an die Nachfrage auf den Märkten koppelte und so das Just-in-Time-Prinzip ermöglichte. Ōno vergleicht das Kanban-System mit einem autonomen Nervensystem, das ohne Rücksicht auf das Wollen einzelner Manager automatisch zu einem optimalen Ergebnis führe. Dieses Optimum sei jedoch keine feste Zielvorgabe, es bestehe vielmehr im Prozess der Optimierung selbst, der aufgrund der Dynamik der Ökonomie prinzipiell unabschließbar sei. »Man sagt, die Verbesserung sei ein ewiger und nie endender Prozeß«, schreibt Ōno. »Die mit kanban arbeiten, müssen ständig mit Kreativität und Einfallsreichtum neue Ideen einbringen, damit das System nicht auf einer Stufe stehenbleibt und von der Realität überholt wird.« 4 | Diese sollten bei Fehlfunktionen in der Fabrik mit Störsignalen dazu gebracht werden, nach dem Trial-and-Error-Prinzip ihr Verhalten auf verschiedene Weisen anzupassen. Diese Veränderungen des Verhaltens sollte ihrerseits ausgelesen und als Anweisungen an die Fabrik zurückgeleitet werden, so lange bis die Störung behoben war. Es wurde vorausgesetzt, dass die Population lernfähig ist und sich Verhaltensweisen, die zur Beendigung der Störung führen, ›merken‹ würde. Das Experiment scheiterte jedoch bereits an der Unmöglichkeit seiner technischen Umsetzung.
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(Ōno 1993: 69f.) Eine solche Selbstoptimierung sei aber nur unter Bedingungen einer lückenlosen Überwachung möglich. Deshalb, so Ōno »müssen wir ein System errichten, das uns automatisch informiert, wenn irgendein Arbeitsgang nicht ordnungsgemäß ausgeführt wurde; d.h. ein Meldemechanismus, der jeden Arbeitsgang überwacht und auf Unregelmäßigkeiten reagiert. Vertuschung darf nicht mehr möglich sein« (Ōno 1993: 68f.). Die wesentliche Herausforderung kybernetischer Produktion besteht also im effizienten Erheben und Übermitteln von Informationen. Hardt und Negri bezeichnen diese Verschiebung als Informationalisierung der Ökonomie (Hardt/ Negri 2000: 280ff.). Es greift jedoch zu kurz, diese Verschiebung als eine durch die digitalen Technologien ausgelöste »Revolution« in der Kapitalakkumulation zu verstehen, wie dies etwa bei Robins und Webster (1988) der Fall ist. Stattdessen muss darauf verwiesen werden, dass Ökonominnen und Ökonomen sich, wie Lange in seiner 1970 erschienenen Einführung in die ökonomische Kybernetik herausstellt, »seit den Anfängen der politischen Ökonomie immerzu mit Fragen beschäftigt [haben], die heute zu den kybernetischen Problemen gerechnet werden. Es ging nämlich immer um eine Steuerung und Regelung von Systemen, die aus einer Vielzahl miteinander verketteter Elemente bestehen.« (Lange, zit.n. Pircher 2004) Ähnliches gilt für staatliche kybernetische Regierungstechniken, deren Genealogie, wie Josef Vogl (2004) zeigt, bis in den Merkantilismus des 17. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann.
2.3 Kybernetische Kontrolle Die verschiedenen hier rekonstruierten Stränge kybernetischen Denkens teilen gemeinsame Grundannahmen, die als kybernetische Onto-Epistemologie bezeichnet werden können. Im Zentrum der kybernetischen Ontologie steht die Dynamik komplexer Systeme, das heißt, deren prinzipielle Offenheit im Sinne einer nicht determinierten Autopoiesis. Die Welt wird als eine Vielzahl aneinander gekoppelter Systeme verstanden, die sich permanent weiterentwickeln. Die kybernetische Epistemologie ist durch ein zentrales Paradoxon charakterisiert: Einerseits begreift sie die Welt als eine Blackbox, die in ihrer Komplexität prinzipiell nicht vollständig erfassbar ist. Andererseits behandelt sie sie, als wäre sie eine berechenbare Maschine. Konkret heißt das, dass das jeweils untersuchte System zwar einerseits als prinzipiell nicht determiniert und undurchschaubar verstanden, aber trotzdem in einem mathematischen Modell beschrieben wird, das das System behandelt, als wäre es eine determinierte Maschine. Das schlägt sich auch in der Sprache der Kybernetik nieder, die alle Systeme stets als Maschine bezeichnet. Sogar die Person, die einen Ball fangen soll, wird zur »Ballfangmaschine«. Diese Paradoxie der berechneten Undurchschaubarkeit reflektiert das Grundproblem, das die Kybernetik zu lösen versucht: die Frage, wie sich Systeme steuern lassen, die nicht determiniert sind. Praktisch folgen aus dieser Onto-Epistemologie vier aufeinander auf bauende Prinzipien kybernetischer Kontrolle.
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Erstens ist das die Überwachung und Quantifizierung. Die Erhebung von Daten ist die Grundvoraussetzung für jedes Feedback. Um der Komplexität des überwachten Systems gerecht zu werden, muss diese Überwachung aus möglichst vielen ›Blickwinkeln‹ erfolgen. Erst die Vernetzung der Sensoren macht die Korrelation von Daten aus verschiedenen Quellen möglich, die wiederum eine Voraussetzung für die prädiktive Steuerung im Sinne der Kybernetik ist. Erhoben werden dabei fast ausschließlich quantitative Daten. Das hat einen technologischen und einen onto-epistemologischen Grund. Der technologische Grund ist, dass quantitative Daten leichter maschinell verarbeitet werden können, was die Grundlage für prädiktives Feedback ist. Der onto-epistemologische Grund ist der Fokus der Kybernetik auf die Entwicklungsdynamik der beobachteten Systeme. Deren Komplexität kann durch die Repräsentation in Zahlen derart reduziert werden, dass Vergleiche verschiedener Entwicklungsstadien möglich werden. Ob es sich bei dem Prozess der Datenerhebung um Selbst- oder Fremdüberwachung handelt, ist aus kybernetischer Perspektive unerheblich. Da im menschlichen Kontext sowohl eine einzelne Person als auch eine Organisation als System gedacht werden kann, verschmelzen die Grenzen von Subjekt und Objekt der Steuerung. Das System wird als Einheit verstanden, in der es keine widerstreitenden Interessen gibt, sondern nur ›richtige‹ Lösungen. Das zweite Prinzip kybernetischer Kontrolle ist die Rückkopplung, also das Zurückleiten von Informationen an das beobachtete System. Wichtig ist hierbei, dass die Rückkopplung immer einen Selektions- und Verarbeitungsprozess beinhaltet. Eine bloße Spiegelung aller Tatbestände des Systems wäre kein Informationsgewinn für dasselbe. Stattdessen wird hier die Komplexität der Daten weiter im Sinne der Steuerungsziele reduziert. Es werden also nur solche Informationen an das System zurückgeleitet, von denen angenommen wird, dass sie dazu beitragen, dass sich das System in die gewünschte Richtung entwickelt. Die damit verbundene Deutung entzieht sich meist der Reflexion des Systems. Auf der diskursiven Ebene trägt der quantitative Charakter der Daten zur Legitimation der Selektionsentscheidungen bei. Denn Quantifizierung kann mit Nikolas Rose (1999: 199) als »Technik der Objektivität« verstanden werden. Das heißt, durch die den Zahlen innewohnende ›Aura‹ des Objektiven erhält das Feedback, also die Rückkopplung der erhobenen Daten, eine starke Legitimität; es wird als relevant und damit als wahr angesehen. Das dritte Prinzip kybernetischer Kontrolle ist die Selbstoptimierung. In den Schriften der Kybernetiker/-innen selbst wird meist von Selbstorganisation oder Selbstregulierung gesprochen, was jedoch kontrafaktisch eine Neutralität kybernetischer Steuerung impliziert. Die Kybernetik begnügt sich nicht mit der Beschreibung ihres Gegenstandes, ihr zentrales Anliegen ist stets, diesen zu steuern. In Verbindung mit dem kybernetischen Postulat der Dynamik ergibt sich daraus notwendigerweise die Optimierung des Systems als Ziel der Steuerung. Ein System, das sich nicht weiterentwickelt, nicht optimiert, gilt der Kybernetik als nicht überlebensfähig. In dieser Hinsicht stützt sie sich immer wieder auf
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Metaphern der Evolution, mit denen die Optimierung als Selektion verstanden wird. Das System soll so eingerichtet werden, dass es erwünschte Qualitäten weiterentwickelt und unerwünschte dezimiert. Das vierte Prinzip kybernetischer Kontrolle ist die Verschiebung von der kognitiven zur performativen Steuerung (vgl. Pickering 2010: 232): Nachdem die Kybernetik die menschliche Kognition als ineffizient entlarvt, besteht ihre Vision in einer Form der Steuerung, die die Kognition überwindet. Diese soll, wie Beers Wasserflöhe oder Ōnos Kanban, ein autonomes Nervensystem bilden, das sich explizit nicht dem menschlichen Wollen beugt. Anstelle kognitiver Planung setzt die Kybernetik also auf performative Problemlösungen, die von einem homöostatischen Steuerungsmodul auf Grundlage der gesammelten Daten automatisch berechnet werden und so als objektiv richtige Lösung erscheinen. Die Notwendigkeit einer solchen automatisierten Steuerung wird wesentlich mit der mangelhaften Datenbasis der menschlichen Kognition begründet. Die Welt sei zu komplex für traditionelle menschliche Steuerung, postuliert so auch Alex Pentland, der wohl prominenteste Vertreter des Big-Data-Ansatzes (2015: 1ff.). Deshalb bedürfe die Menschheit einer Steuerung, die auf einer Big-Data-basierten »Sozialphysik« aufbaue, welche eine für den menschlichen Geist unüberschaubare Menge relevanter Faktoren verarbeite. Möglicherweise geht mit dieser Verschiebung von der Kognition zur Performativität jedoch auch eine Eliminierung der Elemente der Reflexivität und Verantwortung bzw. deren Übertragung an Maschinen einher. Vom kybernetischen Kapitalismus kann deshalb gesprochen werden, weil die oben herausgearbeiteten Prinzipien der kybernetischen Kontrolle in hochtechnisierten kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart eine zentrale Stellung einnehmen. Sie bilden ein Netzwerk, das in verschiedenste Teile der Gesellschaft hineinreicht: Aus der kybernetischen Managementlehre ist das St. Gallener Management-Modell hervorgegangen (vgl. Pircher 2004: 89) und auch in den meisten anderen neueren Management-Ansätzen spielt das Prinzip des Feedbacks eine zentrale Rolle. Das Kanban-Informationssystem ist heute Grundlage zahlreicher automatisierter Produktionssteuerungssysteme, die, zum Beispiel bei der Modekette Zara, die Produktion direkt an die Regungen der Märkte koppeln. Ein zentrales Merkmal des kybernetischen Kapitalismus ist, dass Produktion und Kontrolle immer häufiger in denselben Prozess fallen. Im Verkauf sind kybernetische Rückkopplungskreisläufe besonders weit verbreitet. Jede größere Supermarktkette verfügt mittlerweile über ein Rabattkartensystem, mittels dessen das Einkaufsverhalten der Kundinnen und Kunden festgehalten werden kann, um so personalisierte Werbung möglich zu machen. In der Werbung, die auch einen zentralen Teil der Internet-Ökonomie ausmacht, kommt das besonders zugespitzt zum Ausdruck. Das Produkt der Werbung ist die Beeinflussung von Konsumverhalten, ist also Kontrolle. Aber auch das Verhalten der Kundinnen und Kunden in Verkaufsräumen selbst wird in vielen Fällen minutiös überwacht. Beispiele dafür sind die Analysen von Kundinnen- und Kundenbewegungen mittels der Ortung von Smartphones oder Überwachungskameras in Verkaufsräumen, die gleichzei-
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tig Diebstähle verhindern und den Verkauf optimieren sollen. Die Optimierung des Verkaufs und die Kontrolle von Kundinnen und Kunden oder Angestellten werden nach denselben Prinzipien organisiert, durch dieselben Technologien ermöglicht und fallen sogar oft in ein und denselben Prozess der Datenerhebung. Auch schon das Kanban-System diente, wie Ōno selbst darlegt, sowohl der Steuerung der Produktion als auch der Kontrolle der Arbeiterinnen und Arbeiter. Nach demselben Prinzip werden bei Amazon die Wege von Lagerarbeiterinnen und -arbeitern mittels Handscanner überwacht. So werden ihnen einerseits die kürzesten Pfade durch die Lagerhallen gewiesen, andererseits werden ihre Bewegungen aber auch minutiös kontrolliert: Wer eine zu hohe »Inaktivitätszeit« aufweist, bekommt ein entsprechendes Feedback mit der Aufforderung, an sich zu arbeiten (vgl. Nachtwey/Staab 2016: 67). Auch auf der Ebene politischer Kontrolle spielt die kybernetische Informationsverarbeitung eine zentrale Rolle. Sie stützt sich dabei vor allem auf die Informationen, die von den Individuen selbst in das Social Web eingespeist werden. So betont Reichert: »[D]as Social Web [ist] zur wichtigsten Datenquelle zur Herstellung von Regierungs- und Kontrollwissen geworden. Die politische Kontrolle sozialer Bewegungen verschiebt sich hiermit in das Netz, wenn Soziolog/-innen und Informatiker/-innen gemeinsam etwa an der Erstellung eines Riot Forecasting mitwirken und dabei auf die gesammelten Textdaten von Twitter-Streams zugreifen.« (Reichert 2014: 166)
Bereits in den 1970er Jahren ersann der damalige BKA-Chef Horst Herold die Vision einer kybernetischen Präventionspolizei, die er sich vorstellte als ein »gesellschaftliches Instrument, das Gefahren erkennt, bevor sie entstehen, erst recht, bevor sie bedrohlich werden« (zit. n. Hartung 2010: 57). Heute kommt die digitale Vorhersage von Straftaten unter dem Namen »predictive policing« in den USA bereits flächendeckend zum Einsatz. Auch in Deutschland wurde sie mancherorts bereits eingeführt, um die Patrouillenrouten von Streifenwagen zu optimieren. Dabei werden aus verschiedenen Daten aus Sozialen Netzwerken, Wetterberichten, aber auch aus der Höhe der im Umlauf befindlichen Geldsumme Gefahrengebiete berechnet, die dann stärker von Polizeistreifen frequentiert werden (vgl. z.B. Guthrie 2012). Das wichtigste Moment kybernetischen Regierens dürfte jedoch noch immer die Meinungsforschung in all ihren Formen sein. Vom klassischen Fragebogen bis zur quantitativen Auswertung von Google-Suchbegriffen kommt in ihr das zentrale Prinzip der kybernetischen Systemerhaltung zum Ausdruck: Durch das Auswerten quantitativer Daten in Echtzeit können jeder neue Trend, jede Abweichung, jede Subversion zur Stabilisierung des Systems genutzt werden. Die verschiedenen Systeme der Datenverarbeitung ermöglichen jedoch erst dann eine kybernetische Kontrolle, wenn sie ein Netzwerk bilden. Es ist erst die freie Zirkulation der Daten zwischen Social-Media-Plattformen, Marketingunter-
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nehmen, Suchmaschinen, staatlichen Kontrollorganen, EMail-Providern usw., die das »predictive policing« oder die personalisierte Werbung möglich macht. Nur wenn der Datenfluss zwischen allen Knoten des Netzwerks gewährleistet ist, kann die Steuerung der Komplexität ihres Gegenstandes gerecht werden. Und erst das macht sie zur kybernetischen Steuerung. Deren Hauptziel der Systemerhaltung ist unter den Bedingungen der kapitalistischen Ökonomie gleichbedeutend mit Selbstoptimierung.
2.4 Kybernetische Selbsttechnologien In vielen Studien wurde bereits die Transformation des Modells der Arbeitskraft im Zuge der Aufweichung fordistischer Arbeitsorganisation analysiert. Joachim Hirsch rückt dabei das Modell des Humankapitals in den Vordergrund, in dem er ein »qualitativ neues Stadium der Subsumption der Arbeitskraft unter das Kapitalverhältnis« ausmacht: »Das Kapital benutzt die Arbeitskraft immer weniger im Sinne der Nutzung technischer Kompetenzen, sondern beansprucht die Menschen total, mit ihren manuellen wie mit ihren physisch-geistigen Fähigkeiten – Kreativität, Innovations-, Anpassungs- und Kooperationsfähigkeit. […] In der Figur des ›Arbeitskraft-Unternehmers‹ gewinnt dieses Verhältnis seine aktuelle Gestalt.« (Hirsch 2005: 137)
Bröckling identifiziert als Kern dieser Figur den Imperativ einer unabschließbaren Selbstoptimierung. Diese Maxime der Selbstoptimierung verfolgt er zu verschiedenen Selbst- und Qualitätsmanagement-Technologien wie dem 360-GradFeedback zurück (vgl. Bröckling 2000, 2006). Dabei werden alle Akteure innerhalb eines Betriebs, oft sogar auch die Kundinnen und Kunden, in einen Feedbackkreislauf eingebunden. So entsteht ein System, das sich, gesteuert von kybernetischen Rückkopplungskreisläufen, fortwährend selbst optimiert, ohne jemals zur Ruhe zu kommen. Das »unternehmerische Selbst« (Bröckling 2013) ist also wesentlich eine relationale Konstruktion. Es kann nur dann entstehen, wenn Informationen über das eigene Selbst verfügbar sind (Feedback) und diese in Beziehung zu Informationen über Andere gesetzt werden. Analog zum betriebswirtschaftlichen Unternehmen existiert das unternehmerische Selbst also wesentlich im Modus der Konkurrenz. Die Konkurrenz ist es auch, die für Ross Ashby, den Begründer der psychiatrischen Kybernetik, die Dynamik eines emergenten Subjekts ermöglicht: »[O]rganisms will […] develop those features that help them to survive against each other. […] If the cerebral cortex evolves similarly by ›survival‹ ruling everything in that world of behaviour & subsystems, then those subsystems should inevitably become competitive under the same drive. … In a really large cortex I would expect to find, eventually, whole
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Simon Schaupp armies of subsystems struggling, by the use of higher strategy, against the onslaught of other armies.« (Ashby, zit.n. Pickering 2010: 140)
Das sich selbst optimierende kybernetische Subjekt entsteht bei Ashby also nicht nur aus der Konkurrenz mit anderen Subjekten, sondern wird auch selbst als Resultat des Wettstreits oder gar des Krieges zwischen zerebralen Subsystemen gedacht. Mit Stefan Rieger (2003: 20) kann die Kybernetik als eine »Selbstverwaltungslehre« verstanden werden, in der auch der Mensch als eine sich fortwährend optimierende Maschine konzipiert wird. Eine solche Selbstverwaltungslehre ist nötig, weil das sich selbst optimierende Subjekt des kybernetischen Kapitalismus nicht spontan entsteht, sondern seine Entstehung verschiedener Disziplinierungstechniken bedarf. Foucault betonte, dass die »Konstituierung als Arbeitskraft nur innerhalb eines Unterwerfungssystems möglich [ist] (in welchem das Bedürfnis auch ein sorgfältig gepflegtes, kalkuliertes und ausgenutztes politisches Instrument ist); zu einer ausnutzbaren Kraft wird der Körper nur, wenn er sowohl produktiver wie unterworfener Körper ist« (Foucault 1994: 37). Als Charakteristikum der klassischen Disziplinierung hat Foucault die Einschließung der Körper in Gefängnissen, aber auch in Psychiatrien, Schulen usw. untersucht. Für den kybernetischen Kapitalismus haben sich diese Disziplinierungstechniken, wie schon verschiedentlich ausgeführt wurde (vgl. insbesondere Deleuze 1993), als nicht effizient erwiesen. Kybernetische Disziplinierung kann stattdessen auf das zurückgeführt werden, was eingangs als kybernetische Selbsttechnologien bezeichnet wurde. »Die kybernetischen Selbsttechniken«, schreibt Traue (2010b: 273), »bilden das wichtigste Medium der Durchsetzung und Verbreitung des postbürokratischen Anforderungsprofils.« Das Subjekt des kybernetischen Kapitalismus ist dazu angehalten, sich mittels verschiedener Selbsttechnologien permanent selbst zu evaluieren und anzupassen. Den Unterschied zwischen den Selbsttechnologien sorgender und denjenigen kybernetischer Kontrolle beschreibt Traue (2010a: 16) folgendermaßen: »[C]are (in the sense of cura sui) is retroactive; it occurs as a reinforcement or criticism of action after it has happened. Cybernetic control is pro-active; it attempts to determine or influence behaviour of populations in advance.« Das Charakteristikum der kybernetischen Kontrolle liegt also darin, dass jede Abweichung unmittelbar registriert und, ganz wie bei Herolds kybernetischer Präventionspolizei, angepasst wird, bevor sie zur Gefahr wird. Im Subjekt des kybernetischen Kapitalismus verschmelzen also nicht nur Arbeiter/in und Kapitalist/in, sondern auch Verdächtige/Verdächtiger und Polizist/-in. Es spricht einiges dafür, dass auch das Self-Tracking als eine solche Selbsttechnologie verstanden werden kann, die es den Subjekten ermöglicht, den SelbstoptimierungsImperativen des kybernetischen Kapitalismus zu entsprechen. Der Begriff der Selbst-Technologien kann hier also durchaus wörtlich verstanden werden. Denn neben den älteren diskursiven Technologien des Selbst, wie sie zum Beispiel in Ratgeber-Büchern präsentiert werden, gewinnen im kyber-
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netischen Kapitalismus digitale Selbsttechnologien an Bedeutung. Diese Technologien basieren, wie Reichert ausführt, auf einem kybernetischen Modell, in dem das Individuum als ein informationsverarbeitendes System verstanden wird, »das sich möglichst flexibel an die bestehenden Normansprüche seiner Umwelt anpasst, wenn es nur kontinuierlich mit Rückmeldungen (Feedback) ›informiert‹ wird.« (Reichert 2008: 129) Die Selbsttechnologien des Social Webs basieren also vor allem anderen auf dem Prinzip der Kybernetik, dem »Prinzip der Selbstregelung« (Beer 1962: 38). Für Bröckling ist die Grundlage der Selbstoptimierung die Annahme, »dass Wissen und Fertigkeiten, der Gesundheitszustand, aber auch äußeres Erscheinungsbild, Sozialprestige, Arbeitsethos und persönliche Gewohnheiten als knappe Ressourcen anzusehen sind, die aufzubauen, zu erhalten und zu steigern Investitionen fordert.« (Bröckling 2013: 90) Um rational investieren zu können, benötigt das unternehmerische Selbst buchhalterische Informationen über sein Unternehmen. Wenn es joggen geht, um die Lebensdauer seines Körpers zu verlängern und selbigen attraktiver zu machen, so muss es wissen, wie viel Zeit es zum Joggen benötigt, wie viele Kalorien es dabei verbrennt, wann und wie oft es joggen gehen muss, um den effizientesten Trainingseffekt zu erzielen usw. Diese Informationen kann es mittels Self-Tracking zu fast jeder Lebensäußerung erlangen, vom Sport über die Produktivität bei der Arbeit bis zum Schlaf. Die Hypothese, die ich hier verfolge, ist, dass SelfTracking-Technologien aufgrund ihrer Integration in die Alltagswelt der Subjekte und die Unmittelbarkeit ihres Feedbacks die am weitesten entwickelten digitalen kybernetischen Selbsttechnologien sind. Sie können folglich als homöostatische Rückkopplungsmodule in nach Optimierung strebenden komplexen Systemen verstanden werden.
3. S elf -Tr acking als homöostatisches R ückkopplungsmodul Die Funktionsweise der Self-Tracking-Technologien entspricht im Wesentlichen einer konsequenten Anwendung der vier in Abschnitt 2.3 herausgearbeiteten Prinzipien kybernetischer Kontrolle: Selbstüberwachung und Quantifizierung, Rückkopplung und Selbstoptimierung.
3.1 Selbstüber wachung Die Basis des Self-Trackings bildet die automatisierte Selbstüberwachung. Der Vorteil der digitalen Automatisierung gegenüber klassischen Selbstvermessungsmethoden wie beispielsweise dem Diät-Tagebuch besteht darin, dass die Sensoren der Tracking-Geräte Informationen über die Anwenderin sammeln können, die ihrem Bewusstsein sonst nicht vollständig oder nur ›subjektiv verzerrt‹ zugänglich
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sind (z.B. Herzfrequenz, Gründlichkeit der Zahnreinigung, Produktivitätskoeffizient usw.). Tatsächlich verweisen Self-Tracker/-innen explizit auf »unsere selektive Wahrnehmung: So neigen Menschen dazu, vieles unbewusst zu verdrängen und anderes dafür tagelang nicht aus dem Kopf zu bekommen. Rational ist das nicht, sondern eher überlebenstaktischer Urmenschinstinkt.« (Janssen 2012: 75) Mit eben dieser mangelhaften Datenbasis des menschlichen Bewusstseins wird in der Kybernetik auch die Notwendigkeit des maschinellen Managements begründet: »Das praktische Problem liegt darin, dass genau genommen jeder Faktor, der das Teil-System beeinflußt, abgebildet werden müßte, obgleich viele dieser Faktoren nicht bekannt sind. […] Die Psychologen werden bezeugen, daß der Mensch im Zuge einer solchen Entscheidung mehr als nur ein paar Faktoren in die Betrachtung einbezieht – alles in allem vielleicht ein Dutzend. Unsere Maschine hingegen ist, auch praktisch, in der Lage, viele Hunderte von Faktoren in die Entscheidung hineinzunehmen und damit das Leistungsvermögen des Menschen bei weitem zu überbieten.« (Beer 1962: 175)
Das Self-Tracking leistet genau das: Es ist in der Lage, Hunderte von Faktoren sichtbar zu machen, die auf ein bestimmtes Ziel Auswirkungen haben. »Know EXACTLY what is REALLY going on«, heißt es etwa bei TimeDoctor.5 Die ›harten Zahlen‹ erlangen ihr Motivationspotenzial demzufolge dadurch, dass sie den Anwenderinnen und Anwendern die Möglichkeit nehmen, sich über ihr Verhalten ›selbst in die Tasche zu lügen‹. Self-Tracking beinhaltet jedoch neben dem Aspekt der Selbstüberwachung fast immer auch eine Komponente der Fremdüberwachung. Zum einen sind viele Self-Tracking-Technologien dezidiert auch zur Fremdüberwachung konzipiert, zum Beispiel zur Kontrolle der Zeitnutzung von Angestellten (vgl. Kap. 4.2). Zum anderen bieten fast alle Self-Tracking-Technologien die Option, die eigenen Daten mit dem virtuellen ›Freundeskreis‹ zu teilen. Runtastic bietet so beispielsweise die Möglichkeit, andere Personen die eigenen sportlichen Aktivitäten unter anderem via Facebook live am Computer verfolgen zu lassen. Den Anwenderinnen und Anwendern wird diese Beobachtung mit einem Applaus-Sound über die Kopfhörer ihres Smartphones signalisiert.6 Durch das Bewusstsein, dass nicht nur die Anwender/-innen selbst wissen, ob sie joggen gehen und welche Leistung sie dabei erbringen, sondern auch viele andere, lässt sich ein wesentlicher Anteil der Motivationsfähigkeit der Self-Tracking-Technologien erklären. Eine solche nichthierarchische Überwachung wurde in der jüngeren Forschung als »partizipative Überwachung« (Whitson 2013: 171ff.) oder »demokratisierter Panoptismus« (Bröckling 2006: 42) bezeichnet. Die Disziplinarwirkung der Sichtbarkeit bringt der Google-Manager und Obama-Berater Eric Schmidt programmatisch auf den
5 | www.timedoctor.com/ (21.7.2014), Herv. im Orig. 6 | https://www.runtastic.com/de/premium-mitgliedschaft/info (6.5.2015).
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Punkt: »If you have something that you don’t want anyone to know, maybe you shouldn’t be doing it in the first place.« (Zit.n. Ellerbrok: 2011: 528)
3.2 Rückkopplung Auf Grundlage der Überwachung folgt in einem zweiten Schritt die Rückkopplung der Daten. Eine wesentliche Besonderheit des digitalen Feedbacks im SelfTracking besteht – im Gegensatz zum persönlichen Feedback in Unternehmen oder auch zur kybernetischen Gruppendynamik – in dessen Unmittelbarkeit. Wenn eine digitale Arbeiterin beispielsweise einen Teil ihrer bezahlten Zeit dafür nutzt, nur den Bildschirm anzustarren, so kann es Monate dauern, bis dieses Verhalten von ihren Vorgesetzten oder auch ihr selbst bemerkt wird. Wenn sie ihre Joggingroute abkürzt, so wird sie vielleicht nie erfahren, wie negativ ihr Kalorienhaushalt davon betroffen ist. Mit dem Einsatz von Self-Tracking-Technologien werden diese Feedbackschleifen abgekürzt (vgl. Whitson 2013: 169f.). So verschmelzen in der digitalen Selbstüberwachung und der oder die Verdächtige und Polizei zu einer Person, die sich selbst mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln ausspioniert. Jede versäumte Joggingrunde, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird unmittelbar registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu geraten, nicht das Maximum aus sich herauszuholen. Aber auch gute Führung wird nicht mehr übersehen und jede Hochleistung beschert einen Aufstieg in den Rankings der Self-Tracking-Webseiten. Wesentlich für die disziplinarische Wirksamkeit dieser Art von Feedback ist die Verknüpfung sensorischer Maschinen mit menschlichen Feedbackgeberinnen und -gebern. Ein blinkendes Display alleine könnte kaum die Wirksamkeit sozialer Reputationsmechanismen übernehmen. Oft geht das Feedback der Self-Tracking-Anwendungen mit spielerischen Anreizen einher. Fast alle Anwendungen verfügen über ein System virtueller Orden, die bei guten Leistungen freigeschaltet werden. Beliebt sind auch Avatare, die sich entsprechend dem Verhalten der Anwender/-innen entwickeln. Diese Übertragung spielerischer Elemente auf lebensweltliche Situationen wird unter dem Begriff der Gamifizierung verhandelt (vgl. z.B. Whitson 2013; Schollas in diesem Band). Allerdings gibt es auch Anreiz-Mechanismen im Self-Tracking, die eher mit der Analogie des Vertrags als derjenigen des Spiels beschrieben werden müssen. Bei Programmen wie StickK oder Beeminder können die Anwender/-innen bestimmte Ziele festlegen (z.B. bis zum Zeitpunkt t X kg abnehmen) und müssen dann in bestimmten Zeitabständen Daten über ihr diesbezügliches Verhalten hochladen. Wenn die Daten sich nicht innerhalb eines bestimmten Varianzrahmens befinden, der als Weg zum Ziel definiert wurde, werden die Anwender/-innen bestraft (siehe Abb. 1). Dabei können sie vorher entscheiden, ob eine digitale Rüge zur Disziplinierung ausreicht, ob sie von einer Vertrauensperson überwacht werden oder ob sie einen bestimmten Geldbetrag bezahlen wollen. Zur weite-
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ren Abstufung kann dann entschieden werden, ob dieser Betrag anonym an eine Hilfsorganisation oder aber an einen vorher definierten »Feind« gespendet wird. Abbildung 1: Flexibles Abnehmen mit Beeminder
Quelle: http://blog.beeminder.com/flexbind/ (4.5.2015)
3.3 Selbstoptimierung »Selbsterkenntnis durch Zahlen« lautet der Slogan der Selbstvermesser/-innen der Quantified-Self-Bewegung.7 Dass diese Selbsterkenntnis keineswegs Selbstzweck ist, sondern fast immer in eine Selbstoptimierung münden soll, zeigt ein kurzer Blick auf die Werbung für die entsprechenden Technologien (vgl. Schaupp 2016). So wirbt die Self-Tracking-Universalplattform TicTrac, auf der Daten aus den verschiedensten Anwendungen zusammengeführt werden können, mit einem »complete picture of what it takes to maximize success on and off the field. From sleep to speed, nutrition to endurance«8. Auch bei Runtastic, dem größten Anbieter für Fitness-Tracking, geht es darum, die eigene »Leistung [zu] optimieren und ständig [zu] steigern«9. Bei der Zeitmanagement-Anwendung Time Doctor heißt es in Anlehnung an den berühmten Werbespruch der US-Army10: »TimeDoctor wants
7 | http://qsdeutschland.de/ (22.5.2015). 8 | https://www.tictrac.com/business (21.7.2014). 9 | https://www.runtastic.com/shop/de/weidlinger (4.10.2014). 10 | Uncle Sam wants YOU for U.S. Army!
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YOU to be productive.«11 Auch in den Illustrationen der entsprechenden Webseiten werden sehr häufig Bilder von Leistung und Erfolg verwendet. Insbesondere der Bergsteiger ist dabei ein beliebtes Symbol auf den Webseiten vieler Self-Tracking-Anbieter. Im Sinne von Ludes (2001) kann der Bergsteiger als viseotypisches Schlüsselbild für die Verbindung von Leistung und Erfolg identifiziert werden. Wenn in den Self-Tracking-Diskursen Begründungen für die Notwendigkeit der Selbstoptimierung auftauchen, dann folgen diese meistens zwei Modellen. Die erste Variante ist, Leistungssteigerung und Wettbewerb zu einer anthropologischen Konstante zu erklären, wie in der Werbung für die Runtastic-Software auf Google Play, wo es heißt, dass »wir alle ein kleines bisschen Wettbewerb lieben«12 . Die zweite Variante ist die Anrufung der (potenziellen) Kundinnen und Kunden als Unternehmer/-innen, wie etwa bei RescueTime: »As an entrepreneur you need to work efficiently. RescueTime monitors what you do and where you are wasting time.«13 Die Diskurse des unternehmerischen Selbst mit ihrem Selbstoptimierungsimperativ sind im Self-Tracking also sehr präsent. Bröckling sieht die Unabschließbarkeit der Selbstoptimierung unter anderem darin begründet, dass die Ideale des unternehmerischen Selbst auf eine Weise widersprüchlich sind, dass sie niemals gleichzeitig verwirklicht werden können, wie beispielsweise rationalistische Planung und flammende Kreativität (vgl. Bröckling 2013: 124). Damit verlangt das unternehmerische Selbst nach einer kybernetischen Kontrolle, die darauf abzielt, Systeme zu regulieren, deren Ziele »nicht alle gleichzeitig optimalisiert werden [können], da sie, jeweils als letzte Ziele betrachtet, inkompatibel sind. Sie sind auf äußerst komplizierte Weise miteinander verknüpft. Das Endziel ist das Überleben.« (Beer 1962: 172) Stillstand ist in diesem Sinne gleichbedeutend mit Tod. Die Rhetorik des Überlebens, die sich durch die Schriften vieler Kybernetiker/-innen zieht, kann als Ausdruck eines andauernden disziplinarischen Notstandes im Sinne Foucaults (1978: 120) verstanden werden, mit dem die Notwendigkeit permanenter Optimierung begründet wird. Der Imperativ der Selbstoptimierung impliziert aufgrund seiner Unabschließbarkeit notwendigerweise einen defizitären Istzustand, also einen Notstand im Sinne Foucaults. Dieser Notstand ermöglicht es, wie das Autorenkollektiv Tiqqun anmerkt, »die Selbstregulierung anzukurbeln, sich selbst als permanente Bewegung in Gang zu halten. Anders als beim Schema der klassischen Ökonomie, bei dem das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage das ›Wachstum‹ ermöglichen sollte, ist es umgekehrt nun das ›Wachstum‹, das ein grenzenloser Weg zum Gleichgewicht ist« (Tiqqun 2011: 40).
11 | www.timedoctor.com (5.5.2015), Herv. im Orig. 12 | https://play.google.com/store/apps/details?id=com.runtastic.android (8.9.2015). 13 | www.rescuetime.com/plans (10.9.2015).
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3.4 Performative Steuerung Ein zentrales Anliegen der Self-Tracking-Werbung scheint es zu sein, der Selbstvermessung ihre tayloristische Konnotation der Arbeitsrationalisierung zu nehmen und durch die Anrufung von Selbstverwirklichung zu ersetzen. Deshalb wird das Selbst der Selbstoptimierung in den Self-Tracking-Diskursen stets hervorgehoben. Immer wieder wird betont, dass es nicht darum gehe, allgemeingültige Standardwerte bei allen Anwenderinnen und Anwendern durchzusetzen. So unterstreicht Runtastic, es gehe um »individuelle Ziele, egal wie auch immer diese definiert sind.«14 Bei TicTrac heißt es: »Each of us leads our life in our own way. This is what makes us unique.«15 Auf der technologischen Ebene schlägt sich das darin nieder, dass die Anpassungsstrategien, die von den Self-Tracking-Anwendungen vorgeschlagen werden (beispielsweise zur Gewichtsreduktion oder Leistungssteigerung) keine langfristigen, standardisierten Pläne sind, sondern kurzfristig aus den Daten der Nutzer/-innen berechnet werden. So sollen die jeweiligen Optimierungsprobleme, entsprechend der kybernetischen Steuerungstheorie performativ gelöst werden: »We call it flexible self-control«, heißt es beispielsweise bei Beeminder16, um zu verdeutlichen, dass es keineswegs um eine minutiöse Vorausplanung des Alltags geht: »Just commit to progress. You don’t have to know what you’re committing to when you commit.«17 Damit lässt sich auch ein Teil der Attraktivität des Self-Trackings erklären: Entsprechend dem kybernetischen Prinzip der »Automation mit einer menschlichem Note« (Toyota 2012: 10) nutzt es tayloristische Rationalisierungsmethoden, ohne jedoch den Individualismus anzugreifen. Dieser wird stattdessen zum zentralen Wert der performativen Selbstkontrolle stilisiert. Jürgen Link (2006: 54) beschreibt diese Tendenz auf gesamtgesellschaftlicher Ebene als »flexiblen Normalismus«, den er dem »Protonormalismus«, der »maximalen Komprimierung der Normalitätszone«, gegenüberstellt. Letzterer, so stellt er fest, ist der Postmoderne nicht mehr angemessen, da er Spontaneität, Kreativität und Produktivität hemmt, also die wesentlichen Motoren des Wachstums. Auch stellt er fest, dass die Normalisierung in der Moderne wesentlich durch homöostatische Dispositive hergestellt wird. Diese assoziiert er jedoch ausschließlich mit dem Protonormalismus. Im Flexibilitätsnormalismus dagegen »wird das homöostatische Modell also insgesamt und prinzipiell lediglich als untergeordnetes, technisches Instrument gesehen, um die als dominant betrachtete Dynamik vor Durchdrehen, Explosion und Kollaps zu bewahren.« (Ebd.: 55) Diese Verknüpfung der Kybernetik mit Stillstand, dem die Dynamik als ihr Gegenteil gegenübergestellt wird, muss jedoch als verkürzt gelten. Die dynamische Selbstoptimierung ist einer 14 | https://www.runtastic.com/shop/de/baumann (20.10.2014). 15 | https://www.tictrac.com/ (29.7.2014), Video-Zeitanzeige: 00:02. 16 | https://www.beeminder.com/overview (4.5.2015). 17 | http://blog.beeminder.com/flexbind/ (4.5.2015).
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der wesentlichen Grundpfeiler der Kybernetik und insbesondere Management-Kybernetikerinnen und -kybernetiker wie Stafford Beer wissen genau, dass kybernetische Steuerung in einer kapitalistischen Ökonomie nichts anderes sein kann als die Beförderung von Wachstum. »Die Forderung, der Wert dieser Stufe müsse invariabel sein, ist kaum sinnvoll«, schreibt Beer (1962: 38) in Bezug auf die Homöostase. Die Self-Tracking-Anwendungen können demzufolge als performative homöostatische Rückkopplungsmodule für beliebige Optimierungsprobleme in komplexen Systemen verstanden werden. Die Homöostase ist dabei kein statischer Zustand des Gleichgewichts. Es geht nicht darum, ein bestimmtes als normal konstituiertes Niveau zu erreichen, um so den Druck der Anpassung zu dispensieren, wie in Links Konzeption des Normalismus (vgl. 2006: 453). Stattdessen besteht die Homöostase, wie hier am Beispiel von Beeminder gezeigt wurde, im Einhalten eines bestimmten Toleranzrahmens auf dem Weg einer prinzipiell unabschließbaren Selbstoptimierung.
4. I nformation und K apital Neben ihrer Kontrollfunktion sind die digitalen Selbsttechnologien auch selbst in Prozesse der Kapitalakkumulation eingebunden. Zum einen werden die im SelfTracking erhobenen Daten meist als Waren weiterverkauft. Zum anderen wird das Self-Tracking zunehmend zu einem Teil betriebswirtschaftlicher und volkswirtschaftlicher Rationalisierung von Produktion und Reproduktion.
4.1 Der Prosumer Im Self-Tracking wird eine auch eine weitere Charakteristik der Internetökonomie deutlich: das Verschwimmen der Grenzen zwischen Produktion und Konsum. Einerseits werden durch die Tätigkeit der Nutzer/-innen im Social Web unbezahlt Waren produziert. Andererseits konsumieren die Nutzer/-innen eine Leistung in Form des Gebrauchswerts der jeweiligen Online-Anwendung. Tofflers (1980) Begriff des Prosumers ist geeignet, um diese Ambivalenz in den Blick zu nehmen. Der Prosumer kann in der Internetökonomie unterschiedliche Formen annehmen. Die offensichtlichste ist die unentgeltliche Produktion von Inhalten für kommerzielle Software-Anbieter. Dies ist zum Beispiel bei den meisten kommerziellen Social-Media-Plattformen der Fall, in denen im Zuge der Selbstrepräsentation und evaluation Fotos und andere Daten in das Eigentum des Betreiberunternehmens übergehen. In Smythes (2006) Konzept der »audience commodity« hingegen wird das Publikum von Massenmedien selbst zum Produkt, insofern es Werbung konsumiert. Die Kosten für die Produktion von massenmedialen Inhalten sind nach diesem Modell Investitionen, die das eigentliche Produkt, das Werbung konsumierende Publikum, erst herstellen. Dieses Konzept trifft insbesondere auf die klassischen Massenmedien Zeitung, Radio und Fernsehen zu. Im Social Web wurde die
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Produktion der »audience commodity« jedoch durch die kybernetische Organisation des kommerziellen Internets auf eine neue Stufe gehoben. Konsum und die Produktion von Informationen verschmelzen zu ein und demselben Prozess. Im Front End, der für die Nutzer/-innen sichtbaren Oberfläche der Webseiten, werden Informationen angezeigt oder Waren verkauft. Im Back End werden zeitgleich Informationen über die Nutzer/-innen gesammelt. Diese Informationen werden in aggregierter Form oder in Form von personalisierten Profilen als Waren weiterverkauft. Es kommt also eine neue Ebene der Kapitalakkumulation hinzu. Neben der Werbung, die die Nutzer/-innen auf der Webseite selbst konsumieren, findet durch die Datenerhebung ein zweiter Wertschöpfungsprozess statt. Dieses Verhältnis kommt im Self Tracking besonders pointiert zum Ausdruck: Die User/-innen erheben Daten zur Steuerung ihrer selbst. Diese Daten sind jedoch fast immer erst nach deren Upload auf die Server des jeweiligen Unternehmens einsehbar. Mit diesem Upload gehen die Daten in das Eigentum des Unternehmens über und werden von diesem als detaillierte Profildaten verkauft.
4.2 Kybernetische Rationalisierung Das Verschmelzen von Informationsverarbeitung, Kapitalakkumulation und Kontrolle drückt sich jedoch auch in der Anwendung kybernetischer Kontrolltechnologien innerhalb von Unternehmen aus. Die kybernetische Regulationstheorie unterscheidet kaum zwischen Subjekt und Organisation. Beide werden hauptsächlich als komplexe Systeme konzipiert. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit den Self-Tracking-Technologien. Viele der Anwendungen sind auch als Teamversionen verfügbar, in denen die Daten mehrerer Organisationsmitglieder zusammenfließen. Bei der Zeitmanagement-Anwendung RescueTime heißt es dazu: »RescueTime is a business intelligence tool which keeps managers informed about their most critical resource. […] [I]t creates an unrivaled culture of workplace transparency.«18 TimeDoctor ergänzt diesen Bereich durch einen automatischen Alarm bei mangelnder Produktivität und die sogenannte »nudge«Funktion, durch die inaktive Teammitglieder ›angestupst‹ werden können.19 Wesentlich für die Maxime der umfassenden Selbstoptimierung ist, dass nicht nur die Arbeit im Unternehmen selbst überwacht wird. Stattdessen können auch verschiedene andere ›unternehmensrelevante‹ Aspekte der Lebensführung, zum Beispiel das Körpergewicht der Angestellten, erfasst und somit optimiert werden. So heißt es bei Beeminder: »Unhealthy habits amongst the workforce can not only decrease day-to-day productivity in the form of increased time away from the job, or lack of energy and attention, but are also 18 | https://www.rescuetime.com/faq (5.11.2013). 19 | http://blog.timedoctor.com/2010/07/25/how-is-time-doctor-dif ferent-than-re scue-time (5.11.2014).
»Wir nennen es flexible Selbstkontrolle.« directly linked to the bottom line via long term healthcare costs. […] A recent study indicated that in a corporation of 48,000 employees, after reviewing injury claims and illness records, each 1 % reduction in the number of overweight employees saved the company approximately $1.7 million annually.«20
Großes ökonomisches Interesse an selbstregulierter Gesundheit haben freilich auch Krankenkassen. Generali will als erste deutsche Versicherung ein Self-Tracking-Bonusprogramm einführen und auch Allianz, Axa und andere Versicherungen arbeiten an derartigen Projekten. Dabei orientieren sie sich am Vorbild der US-amerikanischen Krankenkasse United Healthcare, die ihren Kundinnen und Kunden schon seit mehreren Jahren Boni bietet, wenn diese nachweisen können, dass sie täglich eine bestimmte Anzahl an Schritten gehen (Gröger 2014)21. Auch in der Verwaltung ganzer Nationalstaaten oder sogar deren transnationalen Zusammenschlüssen werden die ökonomischen Vorteile des Self-Trackings im Gesundheitsbereich gepriesen. So schlug beispielsweise das britische Gesundheitsministerium Ärztinnen und Ärzten vor, ihren Patientinnen und Patienten Self-Tracking-Anwendungen zu verschreiben, »to allow them to monitor and manage their health more effectively. […] This will give patients more choice, control and responsibility over their health«.22 Auch die Europäische Kommission will das Gesundheitstracking propagieren, von dem sie sich Einsparungen von mehreren hundert Milliarden Euro im Gesundheitsbudget ihrer Mitgliedsstaaten verspricht. Auch sie geht davon aus, dass die neuen Technologien »zu einer stärker auf den Patienten ausgerichteten Gesundheitsfürsorge beitragen, den Schwerpunkt auf die Vorbeugung verlagern helfen und gleichzeitig die Effizienz des Gesundheitssystems steigern« (Europäische Kommission 2014: 4). In diesen Äußerungen wird deutlich, dass das über die eigene biologische Wahrnehmungsgrenze hinaus informierte Subjekt des kybernetischen Kapitalismus durchaus nicht zufällig entsteht, sondern durch pädagogische und biopolitische Interventionen hervorgebracht wird. Das ideale kybernetische Subjekt ist dabei weitgehend identisch mit der klassischen Konzeption eines vollständig informierten »homo oeconomicus«. Schon 1995 prophezeite Bill Gates, dass die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien einen solchen neuen Menschen hervorbringen würden, der endlich der Akteurskonzeption Adams Smiths gerecht werden und so einen »friction free capitalism« (1995: 157ff.) schaffen würde: »Capitalism, demonstrably the greatest of the constructed economic systems, has in the past decade clearly proved its advantages over the alternative systems. The information 20 | www.stickk.com/corporate (4.5.2015). 21 | www.sueddeutsche.de/geld/neues-krankenversicherungsmodell-generali-erfindetden-elektronischen-patienten-1.2229667 (21.11.2014). 22 | https://www.gov.uk/government/news/gps-to-prescribe-apps-for-patients--2 (2.7.2014).
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Simon Schaupp highway will magnify those advantages. It will allow those who produce goods to see, a lot more efficiently than before, what buyers want, and will allow potential consumers to buy those goods more efficiently. Adam Smith would be pleased.« (Gates 1995: 183)
Quellet (2010: 180) identifiziert diese Ideologie der »Informationsgesellschaft« als eine Verschmelzung von Neoliberalismus und Kybernetik. Tatsächlich lässt sich eine ähnliche Vision bereits Mitte der 1940er Jahre bei Hayek entdecken, wenn er für das Preissystem als effizientestes Informationssystem für die Steuerung gesellschaftlicher Reproduktion wirbt: »The most significant fact about this system is the economy of knowledge with which it operates, or how little the individual participants need to know in order to be able to take the right action. […] It is more than a metaphor to describe the price system as a kind of machinery for registering change, or a system of telecommunications which enables individual producers to watch merely the movement of a few pointers, as an engineer might watch the hands of a few dials, in order to adjust their activities to changes of which they may never know more than is reflected in the price movement.« (Hayek 1945: 526f.)
Die Einbeziehung der Telekommunikationstechnologie in Hayeks Argumentation ist dabei, wie er selbst schreibt, weit mehr als eine Metapher. Sie kann als Vorwegnahme des kybernetischen Kapitalismus gelesen werden. Für den kybernetischen Kapitalismus bedeutet die Zirkulation der Informationen also gleichzeitig Kommunikation, Kapitalakkumulation und Kontrolle. Jede Finanztransaktion wird zu einem Akt der Kommunikation, jedes Posting bei Facebook zur Datenbasis sozialer Kontrolle. Informationsverarbeitung, Kapitalakkumulation und Kontrolle verschmelzen zu einem einzigen Prozess. Sie werden nach denselben Prinzipien organisiert und mittels derselben Technologien hergestellt. Self-Tracking ist als kybernetische Selbsttechnologie also keineswegs nur eine individuelle Praxis, sondern Ausdruck einer politisch-ökonomischen Verschiebung, die hier als kybernetischer Kapitalismus charakterisiert wurde. Die Gründe für die Ausbreitung des Self-Trackings können nur dann verstanden werden, wenn diese politisch-ökonomische Ebene in die Analyse miteinbezogen wird.
5. Z usammenfassung Im Self-Tracking kommen, wie in diesem Aufsatz herausgearbeitet wurde, sowohl auf der diskursiven Ebene als auch auf der Ebene der technologischen Funktionsweise die Prinzipien kybernetischer Kontrolle zum Ausdruck. Diese Prinzipien wurden als (1.) Überwachung und Quantifizierung, (2.) Rückkopplung, (3.) Selbstoptimierung und (4.) performative Steuerung identifiziert. Da alle vier dieser Prinzipien im Self-Tracking konstitutive Rollen spielen, habe ich die Funktionsweise der entsprechenden Technologien mit der kybernetischen Metapher des
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Homöostaten beschrieben, der die Selbstoptimierung komplexer Systeme durch das Sammeln und Aufbereiten von Daten aus dem System selbst ermöglicht. In den Self-Tracking-Diskursen ist diese Selbstoptimierung eng mit der Anrufung der Nutzer/-innen als Selbstunternehmer/-innen und einem über alle vermessenen Lebensäußerungen sich erstreckenden Leistungsimperativ verbunden. Vor diesem Hintergrund kann Self-Tracking als kybernetische Selbsttechnologie verstanden werden, die den Nutzerinnen und Nutzern dabei hilft, den Anforderungen der postfordistischen Ökonomie gerecht zu werden, die sich nicht mehr nur auf die Arbeitswelt, sondern auf alle Lebensbereiche beziehen. Die Self-Tracking-Technologien sind jedoch auch selbst Orte der Produktion, wenn die erhobenen Daten in das Eigentum der Anbieter/-innen übergehen und von diesen als Waren verkauft werden. Die Praxis des Self-Trackings ist infolgedessen auf mehreren Ebenen in ökonomische Verwertungskreisläufe eingebettet. Um sie in ihrer sozialen Funktion zu verstehen, ist es deshalb notwendig, auch eine politisch-ökonomische Ebene in die Analyse mit einzubeziehen. Als Bezugspunkt bietet sich dabei das Konzept des kybernetischen Kapitalismus an, das hier vorgestellt wurde. Mit Quellet (2010) kann der kybernetische Kapitalismus als eine Verschmelzung von Neoliberalismus und Kybernetik charakterisiert werden. Er zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass in ihm Informationsverarbeitung, Kontrolle und Kapitalakkumulation in eins fallen. Dieses Verhältnis kommt auch im Self-Tracking pointiert zum Ausdruck. Die Nutzer/-innen gewinnen mittels Sensortechnik Informationen über sich selbst, die ihnen ohne technische Hilfsmittel nicht zugänglich wären. Diese Informationen ermöglichen ihnen eine Selbstkontrolle im Sinne des kybernetischen Kapitalismus, also eine erfolgreiche Selbstoptimierung. Dieselben Technologien werden jedoch auch im Zuge von Überwachungs- und Rationalisierungsmaßnahmen eingesetzt, sowohl auf betriebswirtschaftlicher als auch auf volkswirtschaftlicher Ebene. Darüber hinaus ist ihre Benutzung fast immer mit der unentgeltlichen Aneignung von Daten durch die jeweiligen Betreiberunternehmen verbunden und so unmittelbar Teil von Kapitalakkumulationskreisläufen. »Ein Industrieunternehmen ist natürlich kein Lebewesen, dennoch muss es sich ganz ähnlich wie ein lebendiger Organismus verhalten«, forderte der Managementkybernetiker Beer in den 1950er Jahren (Beer 1962: 33). Im kybernetischen Kapitalismus des dritten Jahrtausends ist aus dieser Forderung ein quasi tautologischer Allgemeinplatz geworden, der in den Anrufungen des unternehmerischen Selbst umgekehrt seine Wahrheit beansprucht: Ein menschlicher Organismus ist natürlich kein Unternehmen, dennoch muss er sich ganz ähnlich verhalten wie ein Unternehmen. Um das zu gewährleisten, benötigt er die kybernetischen Selbsttechnologien des Self-Trackings. Oder, wie es in der Werbung eines Anbie-
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ters für Gesundheitstracking heißt: »Man kann nur managen, was man auch messen kann.«23
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»Game on, World.«1 Self-Tracking und Gamification als Mittel der Kundenbindung und des Marketings Sabine Schollas »Die Maschine der Gesellschaft hat als Motor die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen.« (Bernays 2005 [1928]: 31)
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand ein Berufsfeld, das noch heute häufig mit zielgerichteter Verführung und Manipulation der Menschen in Zusammenhang gebracht wird: das der Public Relations bzw. der Werbung und des Marketings.2 Gerade in der Anfangszeit galt es, eine als irrational verstandene handelnde Masse von Menschen zu beeinflussen und zu steuern. Das Unbewusste – und damit die Möglichkeit seiner Beeinflussung – wurde, unter Rückgriff auf die Theorien Gustave Le Bons und Sigmund Freuds zur Massenpsychologie sowie darauf auf bauend vor allem dessen als Gründervater der PR geltenden Neffen Edward Bernays, zum Kernbegriff der Öffentlichkeitsarbeit. Schon früh zeichnete sich dadurch die Tendenz ab, die Öffentlichkeit mehr durch ihre Zuschauerschaft denn ihre Partizipation zu definieren (vgl. Ewen 1996). So beschrieb Bernays die Öffentlichkeitsarbeit dann auch als »das stetige, konsequente Bemühen, Ereignisse zu formen oder […] zu schaffen mit dem Zweck, die Haltung der Öffentlichkeit zu beeinflussen« (Bernays 2005 [1928]: 31), was für ihn in keinerlei Widerspruch zu einer demokratischen Gesellschaftsordnung stand. Vielmehr sind demokratische Gesellschaften für ihn wesentlich durch »bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen« bestimmt gewesen (ebd.: 19). Dass die Menschen kontrolliert werden müssten, war 1 | Werbe-Slogan für die Nike+-Plattform. 2 | Die drei Begriffe werden im Folgenden synonym verwendet, da eine definitorische Trennung schwierig ist. Denn einerseits werden sie sowohl im alltäglichen Gebrauch als auch in der Forschung bereits häufig gleichbedeutend verwendet, andererseits verschwimmen die Grenzen zwischen ihren Aufgabenbereichen zunehmend (vgl. Siegert/Brecheis 2010: 45f.).
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vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg noch eine weit verbreitete Meinung und es entstand die Idee, Menschen über eine psychoanalytische Herangehensweise »in almost unlimited ways« (Robert Wallerstein, zit.n. BBC 2002b) zu verändern. »[M]odel citizens« sollten zu »model consumers« werden (BBC 2002b). Um Produkte jedoch zielgerichtet an den Kunden zu bringen, wurde die Motivforschung immer wichtiger, sollte die Werbung acht Hauptsehnsüchte (u.a. das Gefühl von Sicherheit, Kraft und »Wertbestätigung«, vgl. Packard 1958: 94-103) ansprechen – eine Einstellung, die nicht unkritisiert blieb. Doch trug diese Kritik gleichzeitig dazu bei, einen neuen Ansatzpunkt zur Produktvermarktung zu schaffen. Nährboden hierfür bot (gerade im US-amerikanischen Raum) die Protestbewegung in den 1960er Jahren, deren Anhänger nicht nur gegen den Krieg in Vietnam, sondern auch gegen das konsumistische Corporate America protestierten. Angestoßen durch die Unterdrückung der linken Studentenbewegungen durch die Staatsmacht entstand die Idee, den durch die PR der Konzerne eingesetzten gedanklichen »policeman« aus den Köpfen der Menschen zu entfernen und »new expressive selves« (BBC 2002c) zu kreieren, die ihre Emotionen ausdrücken mussten, um sich von gesellschaftlichen Zwängen zu befreien und ihr wahres Ich zu finden. Galt die Libido zuvor als etwas, was zu unterdrücken und zu beherrschen war, ging man nun davon aus, dass sich der Mensch erst durch eine genau entgegengesetzte Verhaltensweise entfalten konnte.3 Er sollte ›er selbst‹ sein, ›in sich‹ glücklich sein und ›losgelöst‹ im Heute leben. Der sich daraus ergebenden Frage, wie man denn in einer auf Konformismus und Massenproduktion ausgerichteten Konsumgesellschaft sein Selbst/seinen Individualismus ausdrücken könne, nahmen sich indes auch die PR-Berater gerne an, denn es galt fortan, die Wünsche dieser neuen, mit bisherigen Methoden schwer einschätzbaren Konsumenten zu ermitteln. Angelehnt an Abraham Maslows Bedürfnispyramide wurden im Verlauf der 1970er Jahre durch Befragungen neue Kundengruppen als psychologische Kategorien erarbeitet. Hierbei zeigte sich, dass Mitglieder der Protestbewegungen vor allem den oberen beiden Bedürfniskategorien zugeordnet werden konnten, dem Bedürfnis nach Wertschätzung sowie nach Selbstverwirklichung. Die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse war bei dieser Personengruppe gegeben, sie suchten im Leben vielmehr nach Ausdrucksformen von Wertschätzung und Respekt vor ihrem Körper und ihrem Selbst sowie nach Möglichkeiten, sich weiterzubilden, sich kreativ auszudrücken oder nach spiritueller Erfüllung.4 Übersetzt in die Sprache der Werbe- und PR-Berater hieß dies, dass ihnen ihr Lebensstil wichtiger war als Status oder Geld und sie genau über diesen Aspekt als Kunden zu gewinnen sein würden: Das Lifestyle-Marketing5 war ge3 | Zur Hippie-Bewegung, den politischer ausgerichteten Yippie-Gruppierungen sowie den unterschiedlichen Kommunen mit ihren jeweiligen Schwerpunkten vgl. Mayr (2000). 4 | Zur genauen Bedürfniskategorisierung vgl. Zimbardo 1992: 352f. 5 | Gerade die Lebensstilforschung zeigt, wie aktuell die Verbindung von Sozialwissenschaft und Werbung noch immer ist. Sind beispielsweise die Sinus-Milieus in der sozialwis-
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boren. Das kapitalistische System vereinnahmte damit genau jene Konsumenten, die durch einen oppositionellen Lebensstil kein Teil des Konsumismus werden wollten. Ihre Suche nach ›Hipness‹ und Coolness, nach »personal and individual satisfaction« führte zu vermehrten Möglichkeiten, massenproduzierte Waren zu vermarkten (BBC 2002c)6 und die Menschen zu »slaves of […] [their, S.S.] own desires« (BBC 2002d) zu machen. Und noch heute steht die Suche nach den Wünschen und Sehnsüchten potenzieller Konsumenten im Mittelpunkt der Werbetreibenden, ist die Orientierung an der Bedürfnispyramide nicht ad acta gelegt, gilt Leo Burnetts Devise »Sagt den Leuten nicht, wie gut ihr die Güter macht, sagt ihnen, wie gut eure Güter sie machen« (zit.n. Seeger 2014). Doch wie gelangt man an all die Daten, die zur Beschreibung und Entschlüsselung von Konsumenten genutzt werden können? Neben klassischer Marktforschung mit ihren Umfragen bieten gerade die mobilen Devices von Smartphones über Tablet-PCs und der Einsatz spielerischer Elemente, die sogenannte Gamification, neue Möglichkeiten der Datenaggregation und Auswertung mit dem Unterschied, dass Personen(gruppen) nicht mehr befragt werden müssen, sondern u.a. dank gamifizierter Self-Tracking-Apps selbst Daten über sich sammeln und Unternehmen zu Marktforschungszwecken zur Verfügung stellen. Damit verwirklicht sich einerseits Gilles Deleuzes Aussage zu Kontrollgesellschaften, in denen die Individuen »dividuell«, die Massen zu »Stichproben, Daten, Märkte[n] oder ›Banken‹« (Deleuze 1993: 258) geworden seien. Andererseits weist die Gamification und damit auch das Self-Tracking unübersehbare Parallelen zum Bernays’schen Ansatz und damit der Idee der Steuerung von Individuen zu Zwecken anderer Personen oder Unternehmen auf, wobei der Lebensstil zur beziehungshaften Verbindung mit dem Unternehmen genutzt wird.
senschaftlichen Forschung eine Alternative zu Klassen- und Schichtmodellen, bietet das Sinus-Institut ebenso Services für Trend- und Designforschung sowie zur »Marktpsychologie« an. So heißt es zur Designforschung, dass »Trendforschung und Usability-Testing […] ihren festen Platz in der Anpassung von Produkten an die Bedürfnisse ihrer Zielgruppen« hätten (Sinus-Institut 2015a) und die Marktpsychologie »Einsichten in die Innenwelt der Verbraucher, ihre Motive, Einstellungen und Verfassungen« eröffne und »die Dynamik ihres Verhaltens« erkläre (Sinus-Institut 2015b). 6 | Wie kaum ein anderes Unternehmen verkörpert wohl die Firma Apple die beschriebene Wandlung der PR: Als Gegenentwurf zu IBM gestartet, sind ihre Waren zu Lifestyle-Produkten schlechthin geworden, die Kreativität, Jugend und Coolness versprechen, also genau jene Werte der Selbstverwirklichung, aus denen heraus das Lifestyle-Marketing sich entwickelt hat und auf denen es weiterhin beruht. Die Produkte, obwohl durchaus mit benutzerunfreundlichen Eigenheiten ausgestattet, sind aufgeladen mit Emotionen, und schaffen dabei sowohl durch Hard- als auch Software passive Konsumenten, die auf die Dienste des verkaufenden Unternehmens angewiesen sind (vgl. Brinkbäumer/Schulz 2010). Die Reflexion der User ist gering, verspricht der Besitz eines Apple-Geräts doch Glückseligkeit.
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Wie sich diese beiden Stränge darstellen und wie sie verwoben sind, soll im Folgenden anhand prominenter Beispiele, allen voran des Nike+-Universums des US-amerikanischen Sportartikelherstellers Nike, exemplifiziert werden. Nike+ bietet sich deshalb besonders gut als Beispiel an, da das Unternehmen schon früh in den Markt des Self-Trackings mithilfe portabler Devices eingestiegen und die Plattform daher entsprechend weit entwickelt ist und da hier die Merkmale der Gamification und die Nutzungsweisen der gewonnenen Daten deutlich zu identifizieren sind. Gleichzeitig diente Nike+ damit als Vorbild für andere, jüngere Unternehmen wie Runtastic, die vorhandene Strategien ausbauen, doch deren Geschäftsmodell genau andersherum funktioniert: Ausgehend vom Tracking der User werden ergänzende Hardware und Produkte verkauft. In beiden Geschäftsmodellen gilt jedoch: Der User selbst liefert seine Daten, die ein Unternehmen nutzt, um ihm neue Produkte zu verkaufen und ihn enger an Firma oder Marke zu binden bzw. sich möglichst weit in das Leben des Konsumenten zu integrieren.
1. »Think tr aining’s hard? Try losing « 7 Bereits Ende der 1980er Jahre erprobte die Firma Nike ein Gerät, mit dem Läufer ihre Performance protokollieren sollten. An den Nike Monitor erinnert sich zwar heute kaum noch jemand, doch beendete sein Misserfolg nicht die Bestrebungen des Unternehmens, Sportler und damit potentielle Kunden zu verdaten. Erfolgreich umgesetzt wurde dieses Unterfangen aber erst, als sich Nike mit Apple zusammentat und der erfolgreiche und weit verbreitete iPod ein Tracken der eigenen Laufleistung und die Verbindung mit dem Nike-Portal Nike+ ermöglichte, wo die Informationen für den User visuell auf bereitet und seine Leistungen in anschauliche Äquivalente (z.B. einen Burger oder das Besteigen eines Berges) umgerechnet wurden. Damit strebte Nike schon früh die Verbindung von sportlicher Aktivität, dem Verbessern der eigenen Leistung bzw. des Selbst sowie dem Spaß daran an (das Tracking via iPod erlaubte das gleichzeitige Musikhören und durch die App konnten gezielt angegebene Power-Songs aus der eigenen Mediathek abgerufen werden). Mittlerweile haben sowohl Hard- als auch Software Updates erfahren. Das Tracking funktioniert zwar weiterhin u.a. über einen in den Laufschuh einzusetzenden Sensor, aber gerade Smartphones mit ihren integrierten Sensoren machen die Nike+-App8 jederzeit ohne solches zusätzliche Zubehör und zunächst auch ohne Nike-Equipment einsetzbar und teure Zusatzprodukte wie 7 | Im Netz auch als Twitter-Nachricht weit verbreiteter Nike-Werbeslogan von Nike, https://twitter.com/nike/status/173074714124763136 (20.05.2015). 8 | Im Folgenden ist immer die Running-App gemeint. Daneben hat Nike noch eine Trainings-App mit Übungen sowie ein Trainingsprogramm für die Xbox und ihren Kinect-Bewegungssensor aufgelegt. Die Aktivitäten aller Nike-Tracking-Programme werden im Userprofil auf der Website gelistet, doch bedienen sich die anderen Apps, wenn überhaupt,
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GPS-Uhren sind für weitergehende Analysen des eigenen Laufverhaltens nicht mehr zwingend notwendig. Das Nike-Universum wird jedoch immer zugänglicher und stärker in den Alltag integriert. Bis heute profitiert Nike bei der User-/Kundenansprache von seinem Bekanntheitsgrad9, der User die Apps leichter finden lässt, doch müssen User zu einer konstanten Nutzung motiviert werden. Und genau hier setzt Gamification an. Gamification, verstanden als »the use of game design elements in non-game contexts« (Deterding et al. 2011: 9),10 meint dabei einerseits eine extrinsische Motivation des Users zur Umsetzung seiner sportlichen Ziele, andererseits aber auch eine Datengenerierung en masse zu Zwecken und Zielen des Konzerns. Nutzt man beim Joggen die Nike+-Running-App, kann man nach dem Lauf, dessen Streckenführung auf einer Karte eingezeichnet ist, seine Leistung oder sein Befinden mithilfe von Smiley-Symbolen bewerten und angeben, auf welchem Untergrund man gelaufen ist und welche Schuhe man benutzt hat. Daneben speichert die App die gelaufene Strecke, die benötigte Zeit sowie die Tageszeiten, zu denen trainiert wurde. Für besondere Errungenschaften (nach Definition des Unternehmens) erhält man virtuelle Orden, die in einem Trophäenschrank gesammelt werden (z.B. wenn man vier Wochen nacheinander trainiert hat, mehrfach in einer Woche gelaufen ist oder eine bestimmte Distanz gemeistert hat), ganz so, wie man es von Videospielen kennt. Ebenso sammelt der User pro Lauf Punkte, hier Nike Fuel11 genannt,12 die aufaddiert einen Gesamtpunktewert für das Userprofil ergeben und damit Rückschlüsse darauf erlauben, wie aktiv jemand ist (oder wie aktiv er die App bei seinen sportlichen Aktivitäten einsetzt). Gleichzeitig ermöglicht der für alle User berechnete Punktwert einen Vergleich mit anderen Läufern der Nike-Community oder mit Freunden. Diese fungieren aber nicht nur als Wettbewerber, sondern zudem als Motivatoren. Verbindet man die App mit dem eigenen Facebook-Account, werden Laufaktivitäten gepostet und Facebook-Freunde ähnlicher Mechanismen und Verbindungen zwischen Sportler und Unternehmen, sodass die Running-App stellvertretend für die anderen untersucht wird. 9 | Regelmäßig taucht das Unternehmen auf den vorderen Plätzen von Best-Brand-Rankings auf. 2014 kürte Forbes Nike zur wertvollsten Sportmarke (vgl. Forbes 2014). 10 | Der von Nike häufig propagierte Slogan des »Life is a game. Make it count« spielt hier genau auf den Gamification-Ansatz, das Leben in ein Spiel zu verwandeln, an. 11 | Nach welchen Parametern genau die erlaufenen Nike Fuel-Werte errechnet werden, ist nicht ersichtlich und wird von Nike auch nicht erklärt. Eine Vergleichbarkeit mit durch andere Apps gemessene Werte wird damit verunmöglicht, der User ist an die Nike-Community verbunden, legt er denn Wert auf kompetitive Elemente. Die Wortschöpfung »Nike Fuel« ist indes interessant: Einerseits wird das Unternehmen so mit dem Antrieb zu sportlichen Leistungen und der von ihnen ausgehenden Motivation assoziiert, andererseits erläuft der Nutzer erst den Treibstoff, der zum wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens führt. 12 | In interessanter Weise kommentiert Paolo Ruffino (2014) diese Benennung in Zusammenhang mit dem Statement des »Movement is life«.
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können durch Liken ihre Unterstützung ausdrücken, ein Echtzeit-Feedback ohne physische Präsenz wird möglich. Weitere Funktionen finden sich auf der Nike+-Website, die differenziertere Auswertungen des eigenen Sportverhaltens als die App ermöglicht: Es gibt eine kalendarische Übersicht der eigenen Trainingseinheiten, in der die zuvor genannten Aspekte einzeln abgerufen werden können. Der User kann wie in einem Trainingstagebuch nachvollziehen, welche Aktivitäten er ausgeführt hat und welche Leistungshöhen oder -tiefen es gab. Dazu stellt das Unternehmen bereits aufbereitete Vergleiche der Wochenleistung mit eigenen Leistungen der Vergangenheit, aber auch mit den Leistungen der Nike+-Community oder einer passenden Untergruppe (z.B. Frauen zwischen 26 und 29 Jahren) auf und erzeugt so Normwerte, die der Sportler erfüllt oder eben nicht, sodass er sich zu mehr Leistung angespornt fühlt. Damit die Umsetzung der Selbstverbesserung auch funktioniert, verfügt die Plattform über eine Zielvereinbarungsfunktion. Der Nutzer entscheidet sich für ein Ziel (z.B. öfter oder längere Strecken zu laufen), spezifiziert dieses, wobei das System Vorschläge macht und einem zu großen Ehrgeiz mit Beschränkungen in den Zielvorgaben vorbeugt, sodass er mit der Plattform, die ihm motivierende Worte mit auf den Weg gibt (»Gut Gemacht! Dein Ziel ist gesetzt. Gib es frei. Hol dir Unterstützung und nichts wie raus hier«), eine Vereinbarung schließt. Ein Fortschrittsbalken zeigt im Anschluss an, wie nah oder fern der Sportler dem gesetzten Ziel noch ist. Die Zwischenziele indes kulminieren in einem Level- bzw. Ranking-System, in dem der User durch mehr Laufleistung aufsteigen kann. Deutlich wird, wie nah diese verspielte Variante der Verhaltensmodifikation hin zu einem sportlicheren Leben an klassischen verhaltenstherapeutischen Ansätzen zur Stärkung von Erfolg und Nachhaltigkeit liegt. So zeigt eine Übersicht über die Literatur zur Behandlung von Übergewicht in den 1960er und 70er Jahren, dass Programme und Übungen in den Alltag des Patienten – bei Nike dann des Sportlers, der weit weg von der Pathologie und den Devianzen des a-normalen Körpers agieren soll – integrierbar sein sollten. Das selbstbestimmte Setzen von Zielen und das Führen eines Ernährungs- oder Fitnesstagebuchs zur Dokumentation und Beobachtbarmachen des eigenen Verhaltens seien ebenso hilfreich wie positive Feedback-Mechanismen und eine Bestärkung durch Therapeuten, das soziale Umfeld und das Individuum selbst. Erfolgversprechend sei auch der Einsatz von Tokens (vgl. Raczkowski 2013) oder Geld, wenn diese an den Erfolg des Programms zur Verhaltensänderung gekoppelt würden (vgl. D. Balfour 1976). Self-Tracking zur Verbesserung der eigenen körperlichen Leistung und das damit verbundene Sammeln der Daten und Gamification hängen also eng zusammen. Nike+ verkörpert genau den Kern, den Steve Dale (2014: 89) für die Gamification erläutert, der aber gerade auch auf das gamifizierte Self-Tracking zutrifft und der später noch im Kontext der Brandscapes von Bedeutung ist:
»Game on, World.« »At its core, gamification is about engaging people on an emotional level and motivating them to achieve their goals. One way to motivate people is to present them with compelling and personalized challenges; encourage them as they progress through levels, and get them emotionally engaged to achieve their very best.«
Nike stellt sich gezielt an die Stelle eines Therapeuten oder Beraters bzw. im sportlichen Kontext eines kompetenten Trainers, dem die Autorität zugesprochen wird, bei der Verbesserung des eigenen Lebens mitzuwirken und diese zu planen bzw. zu steuern. Es entsteht im besten Fall eine emotionale Bindung an App und Unternehmen, die gerade durch die simple Symbolik von Smileys, Trophäen usw. einen niederschwelligen Zugang ermöglicht und für eine freundliche Zugänglichkeit zum Trainer namens Nike sorgt. Wie die griechische Göttin ist es am Unternehmen, gemeinsam mit dem Sportler Ziele zu erreichen und ihm Flügel zu verleihen – sei es, um – im Falle des Sportlers – mithilfe der spielerischen Selbstverdatung fitter zu werden oder – im Falle des Sportartikelherstellers – den Umsatz zu beflügeln, denn: »Gamification focuses on enabling players to achieve their goals. When organizational goals are aligned with player goals, the organization achieves its goals as a consequence of players achieving their goals.« (Dale 2014: 84, Herv. im Orig.) Diese Inszenierung des Unternehmens als vertrauensvolle Person bildet dabei den notwendigen Gegenpart der Verspielung des Trainings und seiner Protokollierung, denn gerade die extrinsische Motivation durch Gamification birgt die Gefahr, dass der User schnell das Interesse verliert oder seine Motivation geringer wird als vor Beginn des Programms (vgl. Lepper/Greene/Nisbet 1973). Wie GameDesigner Jesse Schell (zit.n. Dale 2014: 87) es ausdrückt: »Many studies have shown that if you bribe someone to do something, they always come to hate that thing. So the use of extrinsic incentives (e.g. points, badges, perks, money etc.) will decrease a person’s intrinsic motivation and ultimately lead to the resentment of the gamified behavior (i.e. gamification backlash).«
2. »B e L egendary« 13 Als Trainer, der die intrinsische Motivation der Läufer kennt und Gefahren der Gamification für das Unternehmens zu mindern versucht, fungiert Nike zudem durch seine allgemeinen Werbekampagnen, die mit den Prinzipien der SelfTracking-Apps jedoch in Einklang zu bringen sind. Neben dem wohl bekanntesten Nike-Slogan »Just do it« wirbt das Unternehmen seit Langem mit Werbesprüchen, die auch die Sätze eines Personal Trainers sein könnten und gerade in Zeiten von Sozialen Netzwerken von Usern aufgegriffen, für ihr eigenes Training 13 | Slogan einer Nike-Kampagne mit Michael Jordan.
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interpretiert/paraphrasiert und (häufig sogar an das Corporate Design [CD] von Nike angepasst) weiter verbreitet werden (z.B. »Find your greatness«, »Work hard, dream big«, »We will run through obstacles« oder »Winning takes care of everything«). Auch die Running-App selbst erlaubt es, ein Foto der Laufsession aufzunehmen und mit Angaben zum Lauf im CD sowie natürlich dem Firmenlogo zu versehen und damit die eigene »Greatness« zur Schau zu stellen. Damit gilt, vermittelt durch Self-Tracking, die von Nike zunächst nur an Athletinnen und Sportlerinnen14 gerichtete Verbindung von ›Emanzipation‹ mit Exzellenz nun für alle Gruppen von Sportlern, denn »empowerment and self-acceptance that could be achieved through exercise in the Empathy campaign is now achieved through working on the body in ways that produce excellence« (Helstein 2003: 281). Die selbstbestimmte Arbeit am Körper wird zur Arbeit des unternehmerischen Selbst (Bröckling 2007), das sich vom Eindruck, unproduktiv oder deviant zu sein, freispricht, sodass Coles und Hribars (1995: 362) Feststellung, Nikes Erfolg gründe auf einem emanzipatorischen Narrativ »promoting a popular knowledge of empowerment embedded in bodily maintenance and the consumption of Nike products«, auch bzw. gerade im Kontext des sich selbst verdatenden Sportlers gilt. Gerade die gesammelten und von Unternehmensseite bereits auf bereiteten Daten führen zum Eindruck, immer besser sein zu können als der Ist-Zustand es angibt, denn »[w]ithin the discourse of Nike, one can never be satisfied with anything less than excellence and becoming ›who they want to be‹, but because neither is defined nor fixed, one can never be satisfied« (Helstein 2003: 289). Über die Funktion als Trainer mit den oben genannten Charakteristika und Gamification-Elementen schreibt sich das Unternehmen viel weiter in den Alltag der Sportler und potentiellen Konsumenten ein, als es zunächst beispielsweise durch die Etablierung von Themed Flagship Brand Stores wie den NiketownGeschäften15 angedacht war. Denn gerade diese kommerziellen Erlebniswelten sollten bislang helfen, ein Unternehmen in die Lebenswelt der Konsumenten zu integrieren, wird die Marke doch hier in einer eigens für sie erschaffenen Welt präsentiert und damit begeh-, erleb- und erfahrbar gemacht. Shopping wird durch verschiedene Faktoren zum »Shoppertainment« (Kozinets et al. 2008: 87), die Brandstores zeichnen sich durch verschiedene Mythotypen16 wie Offenheit, Virtualität, Elliptizität, Dramatis Personae, Inklusion und Omnipräsenz aus. Und genau diese finden sich auch in der gamifizierten Welt von Nike+ wieder: Die Narration verfügt über eine große Offenheit, sodass sich die Sportler selbst als Protagonisten in die (Marken)Geschichte von Success und Greatness einschrei14 | Zur Rolle von Frauen und Mädchen in der Nike-Werbung siehe auch Lucas 2000. 15 | Wie Nike+ immer wieder als Paradebeispiel für Gamification und Sportapps herangezogen wird, sind die Niketowns vielzitierter Referenzpunkt für Brand Stores. 16 | Kozinets et al. (2008: 94) beziehen sich hier auf Robert Olson, und verstehen Mythotypen als »Symbol, das (1) für ein bestimmtes Publikum lokal bedeutsam ist und (2) einen universellen emotionalen Zustand oder eine Kombination solcher ausdrückt«.
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ben können.17 Ebenso wie die Stores besteht auch die digitale Plattform aus unterschiedlichen Zonen (realweltliche, zu trackende Aktivität, statistische Auswertung, soziale Kontakte, Selbstdarstellung), die durch das eigene Training belebt und erfahren werden. Ebenso sprechen die digitalen Anwendungen eher ein technophiles und sportbegeistertes Publikum an und erlauben, bewusst kreierte Leerstellen in der Narration mit eigenen Bedeutungen (und Bedeutungen der Marke für das eigene Leben) zu füllen.18 Die Einschreibungen funktionieren zudem vor allem über berühmte (von Nike gesponserte) Sportlerpersönlichkeiten und das viel direkter als durch reine (wenn auch überlebensgroße) Visualisierungen in den Stores: Die Omnipräsenz der berühmten Vorbilder, deren physische Fitness und mentale Siegesstärke es mithilfe der Markenprodukte zu erreichen gilt, entsteht hier vielmehr durch deren Präsenz als Trainer und Freund, indem ihre Stimmen Feedback geben, loben und anfeuern.19 Nicht nur wird so der eigene Fitnesskörper mit dem vermeintlich zu erreichenden Fitnesskörper des Sportler-Vorbilds verwoben, sondern auch die Marke wird Teil dieser Verbindung: Einerseits suggeriert bereits die Möglichkeit, nach jedem Lauf den benutzten Schuh zu taggen, dass Nike-Produkte für eine gute Performance unerlässlich sind – ein Eindruck, der durch die Präsenz der professionellen, vom Unternehmen Nike ausgestatteten und damit immer in dessen Sportbekleidung und mit dessen Equipment zu sehenden Athleten als Trainer verstärkt wird. Gleichzeitig ist in der OnlinePlattform an verschiedenen Stellen der Hinweis auf Nike-Kleidung angebracht, der über einen Link direkt in den Online-Store und zu empfohlenen Produkten führt. Die Bekleidung wird zum Medium, um die Trainingsziele besser zu erreichen, gleichzeitig ist jedoch nur ein ausreichend trainierter, d.h. ein Körper, der ausreichend getrackt und somit optimiert worden ist, gut genug für die Kleidung und nur ein aktiver Sportler, ein aktives Mitglied der Lauf-Community gut genug, um sich das Swoosh-Logo zu verdienen, mit ihm und weiteren, virtuellen Trophäen ausgezeichnet zu werden. Rund um das Nike+-Angebot entsteht somit ein Online-Raum, der die Konsumenten affektiv und effektiv involviert und das Programm für die in den Diskurs der Körperoptimierung eingebundenen Sportler omnipräsent macht – ganz ohne besondere Stores konzeptionieren und betreiben zu müssen, kann deren Hauptprinzip aber genutzt und erweitert werden: 17 | Dass der Konsument im Marketingdiskurs häufig als deviant und abnormal gesehen wird (vgl. Bauman 2007) und das Marketing selbst zudem auf statistischen Methoden und der Idee des durchschnittlichen Konsumenten basiert (vgl. Wood/Ball 2013: 50), macht die Verbindung zwischen Marketing und Self-Tracking umso spannender. 18 | Zu sensorischen Erfahrungen und damit verbundenen Kaufanreizen in Niketown sowie Parallelen zu theatralen Inszenierungen vgl. Baron/Harris/Harris (2001), zum Aufbau von Niketown und den Eindrücken von Konsumenten im Niketown vgl. Sherry (1998). 19 | In anderen Anwendungen können Trainingspläne bekannter Athleten unter deren Anleitung nachtrainiert werden, was zu einem noch unmittelbareren Gefühl der Nähe zu Sportler und Unternehmen führt.
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Nun wird jedoch nicht nur jede Konsumhandlung mit Phantasien des Konsumenten verbunden, sondern jede einzelne Handlung des Users, jede (getrackte) Bewegung wird zu einer Handlung ganz im Sinne der Markenbindung und des Konsums. Die Marke wird zum »Lebensführungsangebot« (Hellmann 2003: 389) schlechthin, das Unternehmen zum Beziehungspartner, wie Brian Massumi für das Beziehungsmarketing konstatiert: Die Integration der Apps in den Alltag der User und ihre sowohl realen als auch digital verbundenen sozialen Netz(werk)e, in denen wie in »themed environments« gilt, dass Menschen »go there to see and be seen« (Gottdiener 1998: 52), führt dazu, dass die Grenze zwischen »kaufen und leben« (Massumi 2010: 47) zunehmend verschwimmt, das Unternehmen und sein Marketing bei größtmöglicher Verdatung durch Kontrollpunkte zunehmend auf die »Ermöglichung von Erfahrungen« (ebd.: 46; Herv. im Orig.) abzielt. In diesem Sinne hat Nike ein Markenuniversum geschaffen, das so eng mit der eigenen Lebensführung verbunden ist, dass ein Verlassen oder ein Wechsel zu einem Konkurrenzunternehmen hohe emotionale und soziale Kosten bedeutet (auch wenn nicht mehr alle Anwendungen an den Laufschuh gebunden sind). Das von Gabe Zicherman und Joselin Linder (2010) genannte Ziel der Gamification, das Generieren eines positiven Markenimages und einer langfristigen Markentreue, ist für das Unternehmen zu geringeren Kosten als die traditioneller Marketingkampagnen zu erreichen. Mittels des Zugriffs der Apps auf den optimierbaren Körper und die Verbindung der Optimierungsaktivitäten mit dem sozialen Umfeld und den Empfehlungs- und Bewertungsmöglichkeiten Sozialer Netzwerke wird der Fitnesskörper zum Konsum- und Markenkörper, aber vor allem entstehen Lebensgeschichten und damit Lebenswelten als Brandscapes, die Orte reterritorialisieren als »as branded and therefore as something that has an inherent experiental quality« und damit eine absolut affektive, emotionale und auf einer »bodily responsiveness« (Wood/Ball 2013: 52, 53; Herv. im Orig.) basierende Dimension, genau wie der Sport, der getrackt wird. Und die Grenzen der Brandscapes20 scheinen noch lange nicht erreicht.
20 | Zu Brandscapes als biopolitische »securityscapes« vgl. ebenso Wood/Ball 2013.
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3. »D on ’ t think , run!« 21 Das Beispiel von Nike+ zeigt, wie stark Marketing und Self-Tracking verknüpft sind, und das jenseits der reinen Aggregierung, Auswertung und des Verkaufs von usergenerierten und damit persönlichen Daten. Vielmehr spielt der Trend zum Tracking unterschiedlicher Lebenssituationen und Aktivitäten Marketern bei der Erweiterung bestehender und dem Wiederauflebenlassen schon als veraltet geltender Ansätze in die Hände. Waren es in den Anfängen der PR Spekulationen über das Unbewusste, das ausgewertet und nutzbar gemacht werden musste, und war es anschließend die Motivforschung, die die geheimen Wünsche potentieller Konsumenten entschlüsseln sollte, sind die User heute selbst eingespannt, um nicht nur Daten zu generieren, sondern Unternehmen und Marken in ihren Alltag zu integrieren und eine Bindung, eine Beziehung mit ihnen einzugehen, eine Beziehung, die sich mit Jennifer R. Whitson (2014: 351) so auf den Punkt bringen lässt: »[W]e are […] paying for the privilege of being monitored and marketed to.« Dabei honoriert diese inszenierte Beziehung Leistung nicht nur mit virtuellen Belohnungen und weckt Vertrauen nicht nur durch geschickt inszenierte Eindrücke von Nähe, sondern schafft über die Datenauf bereitung zudem Vergleichs-, Regulations- und Kontrollebenen und damit Normalisierungen und neue Räume der Sorge für das Selbst, der Selbst-Optimierung und der SelbstRegulierung, in denen die (In-)Dividuen als »self-regulating agents« (ebd.: 349) handeln.22 Die Marke wird Teil des ›normalen‹ Lebens und die Grenze zwischen Leben und Konsum verschwimmt. Die Kombination zwischen Self-Tracking, Gamification und anderen, durchaus etablierteren Marketingformen und -elementen wird, zumindest in ihrer Idealform, zur Realisierung des Wunschtraums vieler Werbetreibender. Wie weit solche Programme zur Kundenbindung noch ausgebaut werden (können), bleibt dann abhängig von verschiedenen Entwicklungen abzuwarten. Einerseits mehren sich Bedenken hinsichtlich der Datensicherheit und des Schutzes der Privatsphäre, sodass User trotz externer Anreize und trotz einer noch so vertraut und vertrauensvoll anmutenden Trainingsatmosphäre ihre Präsenz und ihr Engagement sowohl mit Tracking-Apps als auch in Social Networks reduzieren könnten. Andererseits ist aber auch denkbar, dass technische Weiterentwicklungen und neue Gadgets die Möglichkeiten sowohl zum Self-Tracking als auch damit einhergehender Marketingstrategien erweitern, zumal das Geschäft mit Tracking Devices wie Armbändern von Fitbit und Jawbone oder im hochpreisigen Segment der Apple Watch an Fahrt aufnimmt – und das trotz NSA-Skandal und 21 | Slogan einer Nike-Kampagne im Frühjahr 2010. 22 | Eine genauere Analyse zwischen Self-Tracking und (Selbst)Regierung findet sich in Whitsons Aufsatz »Foucault’s Fitbit« (2014), in dem die Autorin zudem der Verbindung zwischen Gamification und neoliberalen Regierungsformen eruiert.
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regelmäßigen Empörungen über Facebook, Google und Co. Neuere Fitness Apps beispielsweise sind nicht an ein bereits bekanntes Unternehmen oder eine schon etablierte Marke gebunden und greifen gezielt Trends auf wie die CalisthenicsBewegung, also das Training mit dem eigenen Körpergewicht anstatt an Geräten, und erweitern das Spektrum der Gamification-Elemente um weitere Elementen, die nicht nur von digitalen Spielen bekannt sind. Die Apps 7 Minute Superhero Workout oder Zombies, Run des Unternehmens Six to Start beispielsweise locken potenzielle User nicht mit der statistischen Auswertung und Auf bereitung der Trainingsdaten, sondern mit dem Versprechen einer Narration, die den User in andere Welten eintauchen und das Training leichter und unterhaltsamer werden lässt. Erstere App adressiert den User als Helden (Become a superhero … Heroes aren’t born – they’re trained«) und baut bekannte Übungen wie Liegestützen in eine Narration typischer Science-Fiction-Missionen (die Erde gegen eine Invasion von Aliens verteidigen) ein. Zombies, Run indes greift den Boom der Zombie-Serien auf und lässt den User, wenn er Audio-Missionen gekauft und auf sein Handy heruntergeladen hat, durch Erzählungen seines eigenen Überlebenskampfes joggen.23 Auch in der Werbung hat das Storytelling in den vergangenen Jahren an Wichtigkeit gewonnen, dem Industrie- und Imagefilm beispielsweise werden Parallelen zum Hollywoodfilm zugesprochen (vgl. Hediger 2007). Auch bei den genannten Apps sind durch die Story schon Parallelen zu bekannten HollywoodMotiven, die wiederum Werbung zugrunde liegen (können),24 unverkennbar. Denkbar ist also, dass Gamification-Apps wie Nike+ mit Storytelling-Elementen, die die Kernbotschaft der Marke erweitern und detaillierter darstellen, in genauer Abstimmung auf den eingesetzten Marketing-Mix kombiniert werden, um den potentiellen Kunden noch weiter in die Welt des Unternehmens einzubinden, den User diese Welt noch weiter selbst erschaffen und damit perfekt auf ihn abstimmen zu lassen, während dem Unternehmen so eine noch größere Menge an Daten geliefert werden kann, zu denen nicht mehr nur »hard facts« wie Bewegungsprofile gehören müssen, sondern die auch die Phantasien und Wünsche des Users umfassen können. Man überlege nur, der User läuft mit Nike+ und sammelt Items, die er zur Ausgestaltung seiner eigenen digitalen Nike-Welt einsetzen kann, deren Gestaltungselemente natürlich wieder an das Unternehmen übermittelt werden und eine noch genauere Ansprache des Kunden ermöglichen.
23 | Der User ist ein Überlebender einer Zombie-Apokalypse, wird von einer Gruppe anderer Überlebender aufgenommen und muss sich seinen Rang in der Gruppe durch das Erledigen von Missionen (Medikamente besorgen, Späherläufe absolvieren etc.) verdienen. Auf den Läufen gefundene Items können in der App zur Verbesserung der eigenen Festung etc. genutzt werden, was an Elemente eines Strategie-Spiels erinnert. 24 | Beispielhaft sei nur an die TV-Spots für Kinder-Schokolade gedacht, in der ein Vater mit seinem Sohn Star Wars oder Ghostbusters nachspielt, um sich die Süßigkeiten zu verdienen.
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Aber auch andere Fragen, die noch näher an den aktuellen Modellen von Gamification und Self-Tracking angebunden sind, stellen sich: Was geschieht beispielsweise, wenn die Devices mit bestimmten Stores verknüpft sind, sodass Werbung, Angebote und Preise noch spezifischer auf den individuellen User abgestimmt werden können, als es heute schon der Fall ist? Was passiert, wenn andere Entwicklungen, die durch digitale Spiele populär werden (z.B. ein elaboriertes, auf dem realen Verhalten basierendes Character Building eines Avatars), Eingang in die ›wirkliche‹ Welt finden und die Umgebung des Users mit unterhaltsamen und durchaus spielerischen Schichten/Ebenen zum Zwecke des Kundenfangs und der Kundenbindung überlagern, sodass eine fast allgegenwärtige Augmented Reality25 entsteht, in der User ihre Handlungen nicht nur beständig tracken (lassen), sondern ihre Umgebung im Sinne von Werbeaktivitäten verschlagworten und verlinken, sich Wettkämpfe über Käufe oder das Aufsuchen von Ladenlokalen liefern oder selbst Werbeschauplätze erstellen und verbreiten, die sie dann für andere zugänglich machen? Allein durch diese Kombination bereits bekannter und durchaus erfolgreicher Anwendungsprinzipien (zu finden u.a. bei Foursquare, Ingress oder Shopkick) lässt sich eine Vielzahl an Szenarien imaginieren, ohne neue technologische Entwicklungen berücksichtigen zu müssen. Gekoppelt mit Privilegien für eifrige Nutzer, für die »passion ignites, intensity counts«26, und einem zusammengeführten Auswerten verschiedener Tracking- und Social-Media Accounts könnte es im Worst-Case-Szenario dann schnell heißen: »Gear Up Or Shut Up«27, denn nur »Legends Run Forever«28. Die ganze Welt – eine Brandscape-Story?
25 | Augmented Realities und Augmented Reality Games versehen die ›Realität‹ mit einer virtuellen ›Schicht‹ von Bildern, Objekten oder Charakteren. Von Wichtigkeit sind daher die Möglichkeiten der eingesetzten und benutzten Technologien sowie die Interaktivität, die diese dem User/Spieler ermöglichen. Gleichzeitig fokussieren die Spieler mehr auf die neuen hybriden Räume, die es zu erkunden gilt, als auf die Narration, wie es beispielsweise bei Alternate Reality Games, die klassischerweise mit Marketingaktivitäten in Zusammenhang gebracht werden, der Fall ist. Zum Konzept der »hybrid spaces« vgl. De Souza e Silva 2006. Zu Alternate und Augmented Reality Games und ihrem ›Spiel‹ mit der Realität vgl. Raczkowski/Schollas 2012. 26 | Slogan aus Niketown New York. 27 | Slogan aus Niketown Las Vegas. 28 | Slogan eines Nike-Plakats.
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Benchmarking the Self Kompetitive Selbstvermessung im betrieblichen Gesundheitsmanagement Thorben Mämecke »Wer sich schneller entspannt ist besser als jemand der sich nicht so schnell entspannt. Der aber immer noch besser ist als jemand der sich überhaupt nicht entspannt.« Aus: »Wettentspannen« von Peter Licht.
Ziel dieses Beitrags ist es, das Aufkommen von Self-Tracking im Zusammenhang mit betrieblichen Arbeitsverhältnissen als Konvergenz gesellschaftlicher Diskurse wie des Burnout-Diskurses und des Quantified-Self 1-Diskurses zu untersuchen. Dabei wird angenommen, dass sich über die technologische Verschaltung der Vitaldaten von Angestellten zu numerischen Aggregaten und offen einsehbaren Durchschnitten eine kompetitive Selbstsorgekultur etabliert, die den Widerspruch zwischen maximaler Arbeitsleistung und dauerhafter Erhaltung der Arbeitsfähigkeit approximativ als Teil einer technologiegestützten Personalentwicklung zu lösen versucht.
1. E inleitung : S elf -Tr acking in U nternehmen Gegenwärtig ist zu beobachten, dass sich in vielen Unternehmen verschiedene Technologien zur zahlenbasierten Vermessung und Analyse der sog. Vitalfunktionen von Angestellten etablieren, welche den ohnehin breit ausgebauten Bestand an Controlling-Systemen um neue Formen der numerischen Selbstbeobachtung erweitern. Anders als Tracking-Systeme wie die digitalisierte Zeiterfassung oder die Protokollierung des Internet-Traffic, die schon lang zum Standardrepertoire vieler Unternehmen gehören, zielt das Self-Tracking in viel stärkerem Maße auf die Analyse täglicher Gewohnheiten sowie die körperliche und geistige Verfasst1 | Im Folgenden auch mit QS abgekürzt.
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heit der Angestellten. Den prägnantesten Anwendungsfall stellt bislang die episodische oder dauerhafte Installation von Selbstvermessungssystemen im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements dar. Zwei einfache Beispiele seien erwähnt: Das Programm »Moove – Tu’s für dich« der Firma Vitaliberty kombiniert verschiedene Activity-Tracker, Apps und Sensoren, um über die Berechnung von Herzratenvariabilität und der täglich durch die Teilnehmer/-innen zurückgelegten Schritte eine Bewertung für das Maß an körperlicher Aktivität sowie den Stresslevel der Angestellten eines Unternehmens vornehmen zu können. Die so erzeugten Daten werden über Cloud-Computing sowohl den Angestellten selbst zurückgespiegelt2 als auch in aggregierter und anonymisierter Form dem »gesamten Unternehmen« zugänglich gemacht: »Aussagekräftige Vergleiche zwischen Mitarbeitergruppen können gezogen und Benchmarking betrieben werden. Sparen Sie sich Zeit und Geld für aufwändige Analysen – Moove macht Risikopotenziale unmittelbar sichtbar. Übersichtliche Darstellung von Häufigkeitsverteilungen und Mittelwerten.«3 Das Programm Evergreen, das wie Moove für den AOK-Gesundheitspreis für digitale Prävention 2013 nominiert war, soll neben der Selbsteinschätzung der eigenen Gesundheit zusätzlich externe medizinische Daten (z.B. der Hausärztin) aufnehmen. In beiden (so wie in den meisten übrigen) Fällen werden die so gewonnenen Daten genutzt, um »gesundheitshemmende Faktoren«4 im Unternehmen frühzeitig zu identifizieren, welche die Produktivität mindern und zu hohen Folgekosten führen können. Darüber hinaus dienen sie als »Ausgangspunkt zur Ableitung von Maßnahmen«5, wie der automatischen und individuellen Ermittlung der passenden gesundheitsfördernden Programme des Betriebs für die einzelnen Angestellten. Erreicht der Stresspegel einer Angestellten im Rahmen des Moove-Programms etwa ein bestimmtes Niveau, können mit Hilfe einer Smartphone-App Entspannungsübungen durchgeführt oder Gesundheitsberater via Telefonverbindung zugeschaltet werden – Althussers berühmtes Bild der Anrufung des Subjekts ist in diesem Zusammenhang damit beinahe wörtlich zu verstehen (vgl. Althusser 1977: 140ff.). Die sensorische Überwachung von Vitalfunktionen konnte sich über derartige Programme während der letzten zwei Jahre Schritt für Schritt sowohl unter den Belegschaften global agierender Konzerne als auch kleiner und mittelständischer Unternehmen etablieren.6 Zwar ist die Zahl der Unternehmen, in denen solche 2 | »Die gemessenen Daten werden automatisch an das Moove Gesundheitsportal übertragen, so hat der Mitarbeiter sein persönliches Stresslevel immer im Blick« (https://www. corporate-moove.de/home/ [letzter Zugriff 13.4.2015]). 3 | https://www.corporate-moove.de/home/ (letzter Zugriff 13.4.2015). 4 | www.aok-bv.de/imperia/md/aokbv/mediathek/gg/spezial/gg _spezial_03_14_an sicht_offset.pdf (letzter Zugriff 8.5.2015). 5 | https://www.corporate-moove.de/home/ (letzter Zugriff 13.4.2015). 6 | Z.B. Appirio, AXA, MIT, SAP. Auch Betriebskrankenkassen, die diese Verfahren unterstützen, verwenden Self-Tracking-Systeme innerhalb der eigenen Belegschaft, so z.B. die BKK Mobile Oil.
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Systeme zum Einsatz gebracht werden, gegenwärtig noch vergleichsweise gering, ihre Zahl steigt jedoch kontinuierlich7 und mit ihr die Zahl der entsprechenden Beratungsfirmen sowie Hard- und Software-Hersteller. Self-Tracking-Devices zur Abfrage, Aufzeichnung und Analyse von Körperwerten oder Gefühlszuständen ergänzen damit zunehmend das Instrumentarium für Personalentscheidungen vieler Unternehmen. Programme der hier beschriebenen Art ließen sich auf rein formaler Ebene sicher leicht als rechtliche und institutionelle Inkubatoren von Selbststeuerungen skizzieren, denen ganz offenkundig Regierungsstrategien zu Grunde liegen, die in Form von Manualen, Empfehlungen, Verordnungen, Gesetzen und Strategiepapieren auch offen einsehbar sind. Allerdings blieben bei einer empirisch derart eng zentrierten Analyse die diskursiven Erscheinungsbedingungen und Bottomup-Effekte dieser Entwicklung zwangsläufig unterbelichtet. Foucault beschreibt die Entstehung neuartiger Machttechnologien demgegenüber als die Summe einer »Vielzahl von oft geringfügigen, verschiedenartigen und verstreuten Prozessen, die sich überschneiden, wiederholen oder nachahmen, sich aufeinander stützen, sich auf verschiedenen Gebieten durchsetzen, miteinander konvergieren – bis sich allmählich die Umrisse einer allgemeinen Methode abzeichnen« (Foucault 1977: 177). Aus diskurstheoretischer Perspektive, die den Analysefokus nicht programmatisch auf den Bereich des praktischen Wissens aus Handlungsanleitungen, Manualen, Leitfäden, Richtlinien und Gesetzen beschränkt, stellt sich das Aufkommen von Selbstvermessungspraktiken in den Arbeitsalltag verschiedener Berufssparten damit vielmehr als produktive Konfrontation gegenläufiger Gesundheits-, Emanzipations- und Technologiediskurse dar, die sich im Bereich der betrieblichen Selbstvermessung gegenwärtig zu funktionalen, dabei allerdings niemals abgeschlossenen Prozessen verdichten. Denn die Bedarfe, Notstände oder Nutzen, die den Empfehlungen oder Verordnungen zugrunde liegen, und auch die Erscheinungsformen der Self-TrackingTools selbst, ihr Funktionsumfang oder die nahegelegten Nutzungsweisen sind selbst bereits diskursiv erarbeitet, werden kontinuierlich verändert oder (re-)kombiniert und überwinden daher niemals den Status einer nur vorläufigen Stabilität. Als Kreuzungspunkt verschiedener Teildiskurse konstituieren sich die Anwendungsszenarien und Technologien des Selbstvermessungsfeldes vielmehr als Bündelungen von Wiederholungen, Regelhaftigkeiten und Wahrscheinlichkeiten, die nicht durch Subjekte produziert werden, sondern sich als Resultat der Ermöglichung und Verunmöglichung bestimmter Anschlüsse ergeben, an denen ganz unterschiedliche institutionelle oder nichtinstitutionelle, gegenwärtige und vergangene Diskurspositionen beteiligt sind. Dies macht alle beteiligten Subjek7 | Bereits im Jahr 2014 startete der Wearable-Hersteller Fitbit ein ähnliches Programm für Unternehmen Zu den Anwendern des Programms zählt u.a. das international tätige Energieunternehmen BP. In Deutschland zählen auch viele Betriebskrankenkassen zu den Anwendern von Self-Tracking-Systemen im Arbeitskontext.
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te und Institutionen zu Produktionsorten dieser Technologien, verweigert ihnen aber den Status von Produzentinnen und Produzenten – die Urheber/-innen von Manualen, Empfehlungen und Verordnungen eingeschlossen. Im Folgenden soll daher die vermehrte Verbreitung von Self-Tracking-Technologien in Unternehmen mit besonderem Fokus auf die negativen und positiven Bezüge beschrieben werden, die als Begründungen für ihre Einführung im Diskurs sichtbar werden. Denn die Praktiken der Selbstvermessung werden in der Regel nicht in direkter Weise diktiert. Vielmehr werden sie unternehmens-, technologie- und dienstleisterübergreifend als Maßnahmen im Interesse der Beschäftigten angeregt, wobei sie argumentativ durch eine Ambiguität aus programmatischer Gefahrenprävention und partizipativer Unternehmenskultur gerahmt werden. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, nimmt sowohl die Affirmation des vormals gesellschaftskritischen Burnout-Diskurses durch die moderne Personalentwicklung (Kap. 2.1) als auch das unternehmerische Selbstverwirklichungsprojekt der gesundheitsbezogenen Selbstvermessung aus dem Bereich Quantified Self (Kap. 2.2) dabei einen besonderen Stellenwert ein. Das Aufkommen von Self-Tracking-Systemen am Arbeitsplatz stellt sich aus dieser Perspektive dann als die Herausbildung einer technologiegetragenen Selbstsorgekultur dar, die im Verschränkungsverhältnis aus progressiven Technologie-Communities und betrieblichem Gesundheitsmanagement ihre Form gewinnt. Die Zielfolie dieser Selbstvermessungstechnologien ist ein Subjekt, das sich – ganz im Sinne des Benchmarkings – in der zahlenförmigen Symbolik betriebswirtschaftlicher Wettbewerbsanalysen selbst über die Kosten und Nutzen gewahr werden kann, die es für ein Unternehmen bedeutet, und das aus eigenem Antrieb nach Möglichkeiten der Nutzenmaximierung sucht.
2. D iskursive B edingungen der E tablierung von S elf -Tr acking in U nternehmen 2.1 Der Burnout-Diskurs und Self-Tracking in Unternehmen Zu den prägnantesten Bedarfen, Gefahren oder Dringlichkeiten (urgencies), die die Etablierung von Selbstvermessungstechnologien im Kontext betrieblicher Angestelltenverhältnisse derzeit begleiten, zählen Problemdiagnosen wie demografischer Wandel und ein daraus resultierender Fachkräftemangel oder die Dezentralität moderner Arbeitsverhältnisse sowie stetig steigende Belastungen der Angestellten vor dem Hintergrund von erhöhtem Wettbewerbsdruck.8 In den Angebotsbeschrei8 | »Demografischer Wandel, Fachkräftemangel, steigender Wettbewerbsdruck: Die heutige Arbeitswelt stellt Unternehmen und insbesondere die Personalarbeit vor zahlreiche Herausforderungen.« (https://www.corporate-moove.de/home/ [letzter Zugriff 13.4.2015]).
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bungen und Selbstdarstellungen privater Dienstleistungsunternehmen und Softwarefirmen werden diese Prognosen, die oftmals ganz unterschiedlichen Quellen entstammen, meist hierarchisch zu einer sich schrittweise verstärkenden Argumentation aufgeschichtet, wobei Arbeitsausfälle durch steigende Belastungen als hinreichendes Argument für die Durchführung von Maßnahmen zur Prävention von Stress und psychischen Erkrankungen in Unternehmen instrumentalisiert,9 demografischer Wandel und Dezentralität darüber hinaus allerdings vor allem als Begründungen für die technische Ausrichtung der Maßnahmen herangezogen werden. Das Monitoring der Angestellten, dessen Grundlage ihre eigene Vermessung bietet, soll so u.a. ein evidenzbasiertes Personalmanagement ermöglichen, das ein vorzeitiges Ausscheiden von Beschäftigten aufgrund von körperlichen oder psychischen Erkrankungen frühzeitig zu erkennen vermag und durch regelmäßige Screenings die allgemeine »Belastungssituation einer Organisation«10 zum Beispiel im Zusammenhang mit der innerbetrieblichen Altersstruktur sichtbar machen kann. Die Dezentralität moderner Arbeitsverhältnisse begründet darüber hinaus den Einsatz mobiler Geräte oder Apps, welche die (Selbst-)Überwachung, Analyse und Erhaltung der Gesundheit auch in zeitlich flexiblen und nicht notwendigerweise ortsgebundenen Arbeitskontexten ermöglichen und sie vom Interieur physikalischer Firmenrepräsentationen unabhängig machen soll. Selbstvermessungstechnologien heben sich von anderen präventiven Maßnahmen zwar gerade dadurch ab, dass sie ihre Apologie aus der selbstverstärkenden Logik von Sozialstatistiken beziehen, die gleichermaßen zahlenbasierte Problemdiagnosen, evidenzbasierte Entscheidungshilfen für Interventionsstrategien und eine kontinuierliche Evaluation von Ergebnissen versprechen, diskursiv fügen sich so erzeugte Zahlenaggregate jedoch erst in Verbindung mit sinnbildlichen Beschreibungen zu artikulierbaren Gefahrenszenarien, erstrebenswerten Zielvorstellungen oder Selbstverständnissen zusammen. Die gewählten Begriffe sind dabei keinesfalls willkürlich, sondern immer gleichzeitiger Ausdruck interdiskursiver Verstrickung zum Beispiel medizinischer, technischer, sozialstruktureller und psychopathologischer Semantiken, die sich als Rationalisierungsformen sowie sukzessive Ermöglichung und Verunmöglichung von kommunikativen Anschlüssen zu einem Machtfeld aus Sinn- und Wissensproduktion verdichten, in dessen Zentrum die Herausbildung einer bestimmten Subjektform steht. Susann Sontag hat in ihren vielbeachteten Essays zur Metaphorik von Krankheiten verschiedene Beispiele für den diskursiven Charakter populärer Krankheitsbilder vorgelegt, die sehr detailreich zeigen, wie die Symbolik von Krankhei9 | »Vielen Beschäftigten fällt die Erfüllung der Anforderungen der heutigen Arbeitswelt zunehmend schwer: Arbeitnehmer sind gestresst, erschöpft und die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen wächst stetig.« (https://www.corporatemoove.de/home/ [letzter Zugriff 13.4.2015]) 10 | www.psyware.de/de/precire-health (letzter Zugriff 13.4.2015).
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ten gesellschaftlichen Problemlagen, Ängsten und Ressentiments zum Ausdruck verhilft und sich letztlich mit subjektivierender Wirkung gleichermaßen auf kranke und gesunde Menschen niederschlägt bzw. sie als kranke oder gesunde Menschen diskursiv erzeugt (Sontag 1981). Wie ihre historischen Untersuchungen nahelegen, beschränken sich die diskursiven Funktionen von Krankheitsmetaphern dabei nicht auf die Vormoderne, sondern spielen auch bei gleichzeitigem Aufkommen evidenzerzeugender Technologien wie der Sozialstatistik weiterhin eine wichtige Rolle bei der Konstruktion und Popularisierung von Notständen und Bedarfen als Grundlage der Hygiene- und Präventionsprogramme sowie den biopolitischen Interventionen der modernen Psychopathologie. Dies ist auch bei der Einführung von Selbstvermessungstechnologien in Unternehmen der Fall, im Zuge derer vor allem auf stereotype Burnout-Szenarien rekurriert wird, um die Gefahren von psychischem Stress zu thematisieren.11 Das bemerkenswerte an den Rekursen auf das Burnout-Szenario ist allerdings, dass sie sich nicht in der Instrumentalisierung eines abschreckenden Krankheitsbildes erschöpfen, sondern dass sie mit dem Burnout-Begriff eine umfangreiche Chronik diskursiver Auseinandersetzungen zu den Arbeitsverhältnissen postindustrieller Staaten in den speziellen Diskurs des betrieblichen Gesundheitsmanagements importieren – eine Chronik, die zuallererst davon zeugt, dass sich der Grundtenor des Burnout-Begriffs im Verlauf dieser Auseinandersetzungen mehrfach geändert und seine Bedeutung schließlich ins Gegenteil verkehrt hat. Wurde der Begriff des Burnouts zunächst überwiegend verwendet, um subjektives Leidensempfinden unter den strukturellen Bedingungen zu hoher Arbeitsbelastungen zum Ausdruck zu bringen, dient er gegenwärtig vor allem der Artikulation volkswirtschaftlicher Defizite durch Burnout-bedingte Arbeitsausfälle, die das Subjekt und seine Verpflichtung zur Selbstsorge in den Mittelpunkt stellt. So wird der Beginn der steilen Karriere des Burnout-Begriffs in den Jahren nach 200412 vielfach gerade darin gesehen, dass er eine Möglichkeit eröffnet hat, im Kontext prekärer Arbeitsverhältnisse, in denen Positionen nicht dauerhaft zugeteilt, sondern in regelmäßigen Abständen immer wieder von Neuem »performativ« ausgehandelt werden müssen (vgl. Rosa 2009: 662), und in denen 11 | Ein besonders aussagekräftiges Beispiel ist das Burnout-Bingo, das die Firma Vitaliberty im Rahmen eines theaterpädagogischen Seminars unter dem Titel »Wenn die Akkus leer sind… Business-Balance zwischen Himmel und Hölle« auf dem Corporate Health Congress 2013 veranstaltet hat (vgl. https://www.youtube.com/user/vitaliberty [letzter Zugriff 17.3.2014]). 12 | Der Begriff reicht in die 1970er Jahren zurück und wurde von Herbert Freudenberger geprägt, der mit dem 1974 erschienenen Aufsatz »Staff burn-out« strukturelle gesellschaftliche Bedingungen als mögliche Ursachen für die emotionale und körperliche Erschöpfung seiner Sozialarbeitkolleginnen und kollegen diskutierte (Neckel et al. 2013: 10). Ein öffentlichkeitswirksamer Diskurs unter dem Begriff Burnout entfaltet sich allerdings erst in den Jahren nach 2000.
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jeder Arbeitsausfall eine potenzielle Gefährdung für den Marktwert des eigenen Arbeitskraftunternehmens darstellt (vgl. Voß et al. 1998)13, eine Erkrankung noch unter der Hervorhebung der eigenen Leistung artikulieren zu können. Denn wer ausgebrannt ist, muss zunächst gebrannt haben (Neckel et al. 2013: 8). Damit wurde der erschöpfungsbedingte Arbeitsausfall in eine Rhetorik integriert, die im metaphorischen Sinne der Kleidsamkeit eines Verwundetenabzeichens entsprach (Schmidbauer 2010: 159). Mit der zunehmenden Popularisierung drückte der Begriff schließlich ein viel allgemeineres »Unbehagen am Leistungsdruck im heutigen Berufsleben, an der Beschleunigung von Arbeit und Kommunikation, an alltäglicher Überforderung und neu empfundenen Formen der Entfremdung« (Neckel et al. 2013: 7) aus. Dem Burnout wurde damit der Status einer breit debattierten Pathologie verliehen, die nun nicht mehr nur einzelne Individuen betraf, sondern in viel allgemeinerer Weise dazu verwendet wurde, die »psychische Seite« der destruktiven Wettbewerbsformen (Neckel et al. 2013: 17) gegenwärtiger ökonomischer Verhältnisse öffentlich zu thematisieren. Wer zu diesem Zeitpunkt »Burnout« sagte, sprach bereits im Modus der Kulturkritik (Bröckling 2013: 179). Wie bereits anhand des Begriffs der Depression gezeigt wurde, dessen gesellschaftliche Bedeutung Alain Ehrenberg genealogisch als Ausdruck eines Selbst untersucht hat, das erschöpft davon ist, ›es selbst‹ zu sein, lässt sich eine Konjunktur von Verausgabungs-, Ermüdungs- und Überanstrengungsdiskursen in der jüngeren Geschichte postindustriell geprägter Staaten gerade dann beobachten, wenn disziplinarische Modelle der Verhaltenssteuerung durch die Verpflichtung zur persönlichen Initiative bei gleichzeitigem Gebot zur performativen Selbstverwirklichung ersetzt werden. Damit verbindet sich die Metaphorik von Erschöpfungssyndromen unmittelbar mit modernen Arbeitsverhältnissen sowie einem Verständnis zeitgenössischer Individualität und ihrer Dilemmata (Ehrenberg 2011: 14ff.). Schon in den 1980er Jahren wurde das moderne Unternehmen daher zum »Vorzimmer der nervösen Depression« ernannt (Ehrenberg 1991: 270f.)14, was psychosomatische Störungen, Angstzustände und Depressionen gleichsam
13 | Alternative Modellierungen stellen z.B. der Mitarbeiter-Unternehmer (Deutschmann et al. 1995: 445) im Kontext der Theorie reflexiver Modernisierung sowie das Unternehmerische Selbst (Bröckling 2007) aus gouvernementalitätstheoretisch-diskursanalytischer Perspektive dar. 14 | Zit. n. Ehrenberg (2011: 245).
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auch zu leitenden Themen der Arbeitsmedizin15 und der sich entwickelnden Personalentwicklungsforschung machte. Die breitenwirksame Auseinandersetzung über die psychischen Zumutungen moderner Arbeitsverhältnisse wurde zu diesem Zeitpunkt durch pharmakologische, psychotherapeutische und sozialpolitische Positionen besetzt, die im depressiven Subjekt vor allem das Subjekt seiner eigenen Konflikte sahen und deren Programme daher auf die Herausbildung einer Individualität zielten, die selbstständig handeln und sich verändern kann, indem sie sich auf ihre inneren Antriebe stützt (Ehrenberg 2011: 299). Ein vergleichbarer Paradigmenwechsel ist während der letzten Jahre im Zusammenhang mit dem öffentlichen Umgang zum Thema Burnout zu verzeichnen. Bei ansteigender Anerkennung als eine therapiebedürftige Krankheit durch verschiedene am Diskurs beteiligte Institutionen wird der Burnout in die Behandlungs- und Präventionsprogramme therapeutischer und beratender Agenturen integriert und dabei sein kulturkritischer Status im Diskurs minimiert. Mehr noch als bei der Depression offenbart im Grunde bereits die Definition des ICD-10-Index, der das Burnout-Syndrom erstmals aufgenommen hat, eine Verschiebung der Bedeutung des Begriffs, die sich auch über den medizinischen Fachdiskurs hinaus fortsetzt. Denn das Burnout-Syndrom wird dort nicht als psychische Erkrankung geführt, sondern ist unter dem Abschnitt »Problems related to life-management difficulty«16 klassifiziert. Durch das ausdrückliche Ausklammern sozioökonomischer Faktoren negiert die medizinische Definition der Erkrankung damit gerade die gesellschaftlichen Problemlagen, für deren Artikulation der Begriff im öffentlichen Diskurs lange verwendet wurde, und führt das Syndrom in einer Kategorie mit »unzulänglichen sozialen Fähigkeiten«17 des Individuums. Gesundheit wird im Burnout-Diskurs kongruent zu dem viel allgemeineren »pursuit of healthiness« (Greco 1993) daher inzwischen als Gegenstand und Resultat des eigenen Willens konstruiert. Eine derartige psychosoziale Konzeption von Gesundheit zielt nicht mehr auf die Beschreibung eines aktuellen Zustands, sondern wird zu einem Zeichen von Initiative, Anpassungsfähigkeit und Dynamik: Unausgewogene Ernährung oder zu wenig Bewegung stellen in dieser Hinsicht bereits selbst korrekturbedürftige Tatsachen dar, denn wenn »Selbstbeherrschung und Autonomie die Voraussetzung für Gesundheit sind, ist ein mangelnder Wille 15 | Foucault hat die Herausbildung der arbeitsmedizinischen Biopolitik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Fokussierung auf »Endemien« beschrieben, die im Gegensatz zu Epidemien als permanente Faktoren »des Entzugs von Kräften, der Verminderung von Arbeitszeit, des Energieverlustes und ökonomischer Kosten« zu einer Verwaltung von Krankheiten gegenüber den Versuchen ihrer Ausrottung geführt haben (Foucault 2001[1996]: 287f.). Die sich hierin begründenden arbeitsmedizinischen Interventionsstrategien beziehen sich jedoch zu dieser Zeit nicht auf psychische Faktoren. 16 | http://apps.who.int/classifications/icd10/browse/2015/en#/Z73.0 (letzter Zugriff 12.1.2016). 17 | www.icd-code.de/suche/icd/code/Z73.html?sp=Sz73 (letzter Zugriff 12.1.2016).
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und eine unzureichende Selbstführung bereits das erste Symptom einer Krankheit, deren Ursache letztlich im Inneren des Subjekts liegt« (Lemke 2000: 40f.). Anders als die Krankheitsmetaphern konventioneller medizinischer Programme stellt der Burnout-Begriff damit nicht einfach einen Hebel zur zentralistischen Durchsetzung von Hygienemaßnahmen oder Ähnlichem dar. Denn weder akute noch chronische Erkrankungen zählen zu den ausgewiesenen Interventionszielen der Self-Tracking-Systeme betrieblicher Gesundheitsmaßnahmen. Vielmehr sind sie konzeptionell darauf abgestimmt, »die persönlichen Stresswerte [der] Mitarbeiter zu optimieren und deren Stressbewältigungskompetenzen nachhaltig zu fördern«18, indem sie ihnen in viel allgemeinerem Sinne die erforderlichen Mittel für eine Planung der eigenen Ressourcen bereitstellen, wie die Spiegelung der täglichen Bewegung oder aufgenommenen Kalorien. Eine perfide Besonderheit des Burnout-Begriffs liegt damit gerade darin, dass er heute unter dem Anschein eines gesundheitspolitischen Entgegenkommens zur technologiegestützten Regulierung des eigenen Verschleißes unter hoher Arbeitsbelastung animiert, um einem Krankheitsbild vorzubeugen, dessen diskursive Funktion ursprünglich gerade darin lag, die Pathologien der Wettbewerbsgesellschaft artikulierbar zu machen.
2.2 Der Quantified-Self-Diskurs und Self-Tracking in Unternehmen Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der jüngsten, weltweiten Spähaffären, die Monate lang die Tagesmedien beherrscht haben, ist es mehr als erstaunlich, dass sich derart tiefgreifende Erfassungs- und Kontrolltechnologien gerade in einer Zeit etablieren, in der im Grunde von einer erhöhten Sensibilität für die gesellschaftspolitische Dimension großer Datenaggregate ausgegangen werden muss. Zwar liegen aus gouvernementalitätstheoretischer Sicht die Verheißungen des alltagsdatengestützten Personalmanagements auf der Hand, dennoch wären zur Minderung und Prävention der aktualisierten Gefahren aus dem Bereich psychischer und körperlicher Arbeitsüberlastung auch viele andere Maßnahmen und Programme vorstellbar, wenn nicht sogar naheliegender. Der zwanglose Zwang derartiger Programme, der eine Beteiligung an betrieblicher Leistungs- und Gesundheitsvermessung zwar als freiwillig in Aussicht stellt, sich dabei allerdings auf die Dynamik innerbetrieblicher Konkurrenz berufen kann, hinter der in letzter Konsequenz das Machtverhältnis der Lohnabhängigkeit steht, trägt sicher als entscheidender Faktor zur Durchsetzung von Selbstvermessungstechnologien in Betrieben bei, kann allein allerdings nicht erklären, weshalb zum Beispiel die tradierten Institutionen des
18 | https://www.corporate-moove.de/home/ (letzter Zugriff 13.4.2015).
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Arbeitnehmerinnen- und Arbeitsnehmerschutzes die Einführung dieser Systeme kommentarlos begleiten, anstatt vor ihnen zu warnen.19 Wie die folgenden Beispiele verdeutlichen sollen, begründet sich ein großer Teil der Akzeptabilität betrieblicher Vermessungstechnologien und praktiken daher gerade darin, dass technische Verfahren für die Protokollierung und Analyse von Leistung und Gesundheit in den letzten Jahren vor allem außerhalb der Betriebe oder des institutionalisierten Gesundheitsmanagements in den Innovationsnetzen technologieaffiner, emanzipatorischer Subkulturen und Startup-Szenen diskutiert, entwickelt und zur Marktreife gebracht wurden. Nicht nur über populäre QS-Mitglieder, wie Maggie Delano,20 die zum Thema Burnout-Prävention eine Session auf der Quantified Self Conference 2015 leitete, oder den Mitbegründer der Berliner QS-Gruppe Marcel Rütschlin, der eine Burnout-Erkrankung als Initiationspunkt und ursprüngliche Motivation für die eigene Vermessung angibt,21 lässt sich dieser Diskurs bis tief in die Kreise der Prosumer/-innen und Maker/-innen des Self-Trackings zurückverfolgen. Die langjährige, vornehmlich dezentrale und diskursive Entwicklung dieser Tracking-Technologien und ihre Verbreitung über File-Sharing-Netzwerke und App-Stores22 gehen ihrer systematischen Etablierung innerhalb des betrieblichen Gesundheitsmanagements zeitlich weit voraus. So zählte die experimentelle Erprobung von Verfahren zur Messung psychosozialer Stresssymptome und der Präventionsmöglichkeiten stressbedingter Gesundheitsprobleme schon im Gründungsjahr 2007 zu vielbesprochenen Themen der QS-Community.23 Und auch jüngere Threads 19 | Mit Blick auf die allgemeinere Frage nach der Etablierung von Gesundheitsmanagement in Unternehmen finden sich indes eher Befürworter unten den etablierten Arbeitsschutzinstitutionen. So sieht die Projektgruppe Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) des Landesbezirkes Nord der Gewerkschaft Verdi »in dem Konzept des Betrieblichen Gesundheitsmanagements eine zwischen Unternehmensleitung und Beschäftigtenvertretung abzustimmende Strategie, die auf Verbesserungen für das Wohlbefinden der Beschäftigten und höhere Produktivität zielt«, ohne dass Konzept weitreichender zu rahmen oder auf spezifische Maßnahmen wie beispielsweise das vermehrt aufkommende Self-Tracking im Detail einzugehen (https://nord.verdi.de/ueber-uns/gruppen-projekte/gesundheitsfo erderung [letzter Zugriff 13.4.2016]). 20 | Maggie Delano leitet zu diesem Thema eine Session auf der Quantified Self Conference 2015 in San Francisco (vgl. http://quantifiedself.com/2014/12/tracking-recoveryprocess-learn-maggie-delano-qs15/ [letzter Zugriff 2.12.2014]). 21 | Vgl. www.welt.de/vermischtes/article109557685/Die-digitale-Entbloessung-ist-einlukrativer-Markt.html (letzter Zugriff 4.11.2013). 22 | »Some apps were top-charting, reaching the 5th place among the most downloaded paid apps in the Netherlands.« (www.marcoaltini.com/ [letzter Zugriff 22.7.2015]). 23 | So z.B. in dem frühen QS-Blog-Eintrag »Wrist-Device for Real Time Stress Tracking« des QS-Mitbegründers Gary Wolf vom 16.10.2007 (vgl. http://quantifiedself.com/2007/10/ wristdevice-for-real-time-stre/ [letzter Zugriff 13.4.2015]).
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des QS-Forums bieten aufschlussreiche Einblicke in die diskursiven Aushandlungsprozesse sowie die dezentrale Entwicklung und Erprobung der technischen Erfassung von körper- und umweltbezogenen Stressindikatoren bzw. entsprechender Anwendungsszenarien und Dateninterpretationsverfahren innerhalb der Community. Ein eindrückliches Beispiel stellen etwa die Diskussionen über die Stressanalyse-Apps des Programmierers und QS-Mitglieds Marco Altini dar,24 dessen Weblog die langjährige Arbeit an verschiedenen Methoden zur Aufzeichnung von Herzratenvariabilität (HRV) oder elektrodermaler Aktivität (GSR) bzw. ihrer Korrelation mit Kontextinformationen wie Geodaten, subjektiven Selbsteinschätzungen oder akustischen Lärmpegeln ausführlich dokumentiert. Auch hier stellen die gesundheitlichen Folgen von andauerndem Bewegungsmangel und Stress im Kontext von steigenden Arbeitsbelastungen die primären Anwendungsszenarien dar, wobei sehr deutlich wird, dass die Suche nach Indikatoren für die Beobachtung und Regulation der körperlichen und psychischen Belastung durch die intrinsische Motivation angetrieben wird, Formen der präventiven Selbstkontrolle zu kultivieren: »By analyzing context (location, activity type and intensity), and given the absence of heart rate, GSR could be used to provide insights on the stress levels during sedentary behavior (i.e. stress at work).«25 Hierbei ist auffällig, dass das Projekt der technologischen Selbstexploration durch die Implementierung von Sensoren in alltagstauglichen und portablen Geräten an die Stelle der passiven Adhärenz gegenüber medizinischen Leistungsträgern und den vorherrschenden Verfahrensregeln des schulmedizinischen Normalbetriebs eine systematische und eigenständige Arbeit an sich selbst setzt, um psychische, körperliche oder soziale Probleme zu mindern, zu überwinden oder ihnen von vorneherein vorzubeugen. Wie Gary Wolf (2010), einer der Mitbegründer der QS-Community, in einem Artikel für das New York Times Magazine selbst bemerkt, reproduzieren sich in der Idee der Widerständigkeit gegenüber standardisierten Behandlungsmethoden der Schulmedizin damit unweigerlich auch zeitgenössische Leitbilder der modernen Psychotherapie: »[…] [I]t shows how closely the dream of a quantified self resembles therapeutic ideas of self-actualization, even as its methods are startingly different.«26 24 | Z.B.: »Stressed out« oder »Camera Heart Rate Variability« (vgl. www.marcoaltini.com/ apps.html [letzter Zugriff 22.7.2015]). 25 | Und weiter: »[…] Self-calibration techniques could be applied for this, to learn over time from the user. By combining body and mind monitoring, you could even create some sort of feedback loop where staying active is motivated not only by the healthy need of having a [sic!] active lifestyle, but also by the level of stress accumulated, since stress+sedentary time results [sic!] in increased risks for our health.« (https://forum. quantifiedself.com/thread-what-would-you-do-with-a-free-bodymedia-sensewear-arm band?pid=2650#pid2650 [letzter Zugriff 22.7.2015]) 26 | Diesem Artikel wird gemeinhin ein großer Einfluss auf die Popularisierung der QSCommunity nachgesagt.
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Vor dem Hintergrund einer hegemonialen Kultur der Selbstaktivierung versinnbildlicht sich in den Unabhängigkeits-, Selbsterkenntnis- und Emanzipationsambitionen, unter deren Vorzeichen die Self-Tracking-Technologien meist verwendet werden, daher sehr deutlich das ambivalente Verhältnis einer verringerten Fremdbestimmung und einer hierdurch ins Werk gesetzten eigenverantwortlichen Steuerung, die als disziplinarische Kontrolle zweiten Grades durch die Kontrollierten selbst ausgeübt wird. Denn Selbstbestimmung, Verantwortung und Wahlfreiheit markieren keinesfalls die Grenze des in medizinischen Regimen enthaltenen Regierungshandelns, vielmehr sind sie selbst Instrumente, die das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst und zu anderen nach teils ganz ähnlichen Prämissen organisieren (vgl. Bröckling et al. 2000: 30); und zwar auch dann, wenn es durch sie gelingt, der unmittelbaren Paternalisierung konventioneller medizinischer Beratungs- und Behandlungsarrangements entgegenzuwirken. Das spezifische Subjekt, das sich in der Entwicklung und Nutzung von Selbstvermessungstechnologien diskursiv konstituiert, macht sich von medizinischen Experten und Expertinnen daher nur um den Preis unabhängig, dass es die medizinische Expertise in individueller Weise auf sich selbst anwendet. Diese Expertisen mögen sich qualitativ und quantitativ von ärztlichen Fremdbeschreibungen unterscheiden, allerdings enthebt sie dies nicht aus dem Einflussbereich biopolitisch oder ökonomisch angereicherter Gesundheitsmaximen. Wie Barbara Cruikshank bereits anhand der US-amerikanischen »self esteem«Bewegung verdeutlicht hat (vgl. Lemke 2000: 41), bildet daher auch das Streben nach mehr Selbsterkenntnis durch neue Introspektionstechniken lediglich den ersten Ansatzpunkt einer Selbstformung, durch die letztlich eine »Harmonie zwischen politischen Staatszielen und einem persönlichen ›state of esteem‹ gewährleistet wird« (Lemke 2000: 42), sofern nicht gesellschaftlich-strukturelle Faktoren zum Ausgangspunkt und Interventionsziel emanzipatorischer Ansprüche erhoben werden. Das zahlenbasierte Self-Tracking lässt sich vor diesem Hintergrund somit auch als ein nächster Schritt in der Herausbildung von Selbsttechnologien deuten, welche die Produktion des Verhältnisses zu dem eigenen Sein um eigene Innovationen erweitern, indem sie durch revolutionäre Technologien neuartige Auseinandersetzungen mit dem Selbst und seiner Regierung erproben.27
3. D iskursive und nichtdiskursive B edingungen der E tablierung von S elf -Tr acking in U nternehmen Für Unternehmen, die ihre Belegschaften im Rahmen betrieblicher Gesundheitsprogramme zu Selbstvermessung animieren, ist es daher ein Leichtes, über den Import spezifischer Elemente der emanzipativen QS-Rhetorik und des Burnout27 | Vgl. dazu auch Lüders (2007: 86f.)
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Diskurses argumentativ eine schwer zu hintergehende Verschmelzung aus belegschaftsnaher partizipativer Unternehmenskultur und dringender Notwendigkeit zu erreichen. Wie der vorangehende Abschnitt zudem verdeutlichen sollte, trifft die Einführung von Verdatungsprogrammen vielfach bereits auf fruchtbaren Boden. Daher setzen viele Unternehmen inzwischen auch in nichtdiskursiver Weise darauf, über die Gewährleistung der technischen Integrationsfähigkeit populärer Fitnessarmbänder private und außerbetriebliche Selbstverdatungsambitionen aufzufangen und in die firmeneigene Dateninfrastruktur zu inkludieren. Viele Firmen richten die Etablierung selbsttragender Überwachungssysteme für Stress, Bewegung oder Leistung daher gezielt auf bereits vorhandene Selbstverdatungspraktiken ihrer Belegschaft aus oder entwickeln diese Systeme unmittelbar unter Einbeziehung der Mitarbeiter/-innen und der dort vorhandenen Erfahrungen mit Selbstverdatungstechnologien weiter. Das Projekt CloudFit der Firma Appirio lässt sich als aufschlussreiches Beispiel für entsprechende Versuche heranziehen, die diskursive Entwicklungs- und Anwendungskultur der Self-Tracking-Szene aufzugreifen und innerhalb firmeneigener Strategien zur Krankheitsprävention praktisch fortzusetzen. Im Rahmen eines Pilotprojekts investierte das global agierende Unternehmen in Absprache mit seinem Versicherungspartner Anthems die Rückzahlung eines Überschussbetrags, der für firmeneigene Gesundheitsprogramme vorgesehenen war, in portable Fitness-Tracker des Herstellers Jawbone und lud 200 Mitglieder der Belegschaft zu ihrer experimentellen Anwendung ein. Der Anschluss der Tracker an das firmeneigene Computernetz wurde in der folgenden Zeit sowohl unter Mitarbeit des Geräteherstellers als auch einiger Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Testprogramms selbst verwirklicht, die durch die Firmenleitung ›autorisiert‹ wurden, sich im Rahmen ihrer regulären Arbeitszeit mit der Entwicklung einer sogenannten »prototype aggregation engine« zu beschäftigen. Die Engine sollte eine unmittelbare Integration der Self-TrackingDaten in die zugehörigen Diskussionsgruppen der intern verwendeten Arbeitsorganisationstechnologien wie Salesforce oder das entsprechende Social-Networking-Plug-in Chatter 28 ermöglichen. Über Chatter konnten sich auch alle übrigen Mitarbeiter/-innen in die Gestaltung des firmeneigenen Tracking-Systems einbringen und zum Beispiel selbstinitiierte Umfragen zu einzelnen Aspekten des Projekts oder numerische Vergleiche der gemessenen Aktivität unter den Teilnehmenden anregen. Hier entschieden die Angestellten nach einigen technischen Problemen im ersten Jahr auch über den Wechsel der Hardware von Jawbone zu
28 | Bei Chatter handelt es sich um ein Soziales Netzwerk, das u.a. der Vernetzung global agierender, virtueller Unternehmen sowie der Förderung und Abschöpfung kooperativ generierten Wissens dient: »Bieten Sie allen Mitarbeitern ein Forum, in dem sie Erkenntnisse teilen und neue Ideen vorschlagen können.« (www.salesforce.com/de/chatter/overview/ [letzter Zugriff 25.9.2015])
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Fitbit.29 Kontextbedingte Machtasymmetrien, die den unternehmensinternen Entwicklungsprozess dieses Tracking-Systems in gleicher Weise durchziehen wie die materiellen Abhängigkeiten das freiwillige Selbstverbesserungsengagement der Angestellten, sind hinter dem Eventcharakter der öffentlichen Darstellung nur schwer zu erkennen oder vermischen sich mit der beispielhaften Nutzung durch repräsentative Projektfiguren; ganz im Sinne der unverfänglichen Rhetorik, wie sie aus den Show&Tell-Vorträgen der QS-Meetups bekannt ist: »For me, that’s important because I don’t sleep well. My personal goal this year is to sleep more. It drives more productivity.« (Chris Barbin, CEO bei Appirio)30 Die experimentelle und technisch teils sehr niedrigschwellige Pionierkultur der Selbstvermessung reproduziert sich auf diesem Weg über verschiedene Hierarchieebenen hinweg sowohl im diskursiven wie auch im nichtdiskursiven Sinne innerhalb betrieblicher Anstellungsverhältnisse, wobei sich über das hohe Maß an Selektivität, mit der sich sprachliche und technische Elemente aktueller Selbstvermessungstrends innerhalb von Unternehmen fortsetzen, vor allem die
29 | Über die Herstellung, Verbreitung, Entwicklungs- und Werbekooperation hinaus sind Hersteller wie Fitbit oder Withings heute selbst mit Beratungsdienstleistungen zum Thema Self-Tracking in Unternehmen oder eigenen auf Self-Tracking basierenden Wellness-Programmen für Unternehmen wie Withings Corporate Wellness 360° oder Fitbit Wellness in diesem Bereich vertreten (vgl. http://corporate.withings.com/; www.fitbit.com/de/fitbitwellness [letzter Zugriff 19.11.2015]). Auch das Unternehmen FitBit, dem heute nachgesagt wird, als eines der ersten kommerziell erfolgreichen Startups aus der frühen Phase von QS hervorgegangen zu sein, lässt auch Jahre nach dem Durchbruch zum multinationalen Vertrieb ihrer Produkte oder Dienstleistungen Verweise auf den individualistischen Selbstvermessungsenthusiasmus der QS-Szene in den Narrativen ihrer Firmenentstehung durchschimmern oder bindet sie in reichweitenstarke Werbekampagnen ein: »Wir sind ein engagiertes Team aus Gesundheits- und Fitnessbegeisterten, die Produkte erstellen, die das Leben der Benutzer positiv verändern.« (www.fitbit.com/de/company [letzter Zugriff 22.7.2015]) QS-Gründungsmitglied Gary Wolf (2010) schreibt über zwei Gründungsmitglieder von Fitbit: »Park and his partner, Eric Friedman, first showed their prototype at a San Francisco business conference in the summer of 2008. Five weeks later, Park and Friedman […] were flying back and forth to Singapore to arrange production.« Dementsprechend ist das Unternehmen als globaler Inkubator und öffentlichkeitswirksamer Promotor bestimmter Definitionsweisen von Selbstvermessung bzw. damit verbundenen Selbstverständnissen im Diskurs vertreten und trägt durch eine standardisierte Produktpalette zu einer erleichterten praktischen Adaption des Self-Tracking in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen bei; Ideen und Legitimität bezieht das Unternehmen dabei allerdings zu einem Großteil aus dem dezentralen Basissegment der Self-Tracking-Szene, dessen Popularisierung es gleichermaßen vorantreibt. 30 | www.citeworld.com/article/2115575/consumerization/why-appirio-issued-fitnessmonitors-employees.html (letzter Zugriff 21.4.2015).
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in der Selbstvermessung bereits angelegten Logiken unternehmerischer Selbstoptimierung weiter verstärken.
4. S elf -Tr acking als kompe titive S elbst vermessung im U nternehmen Bei näherer Betrachtung der medialen Oberflächen vieler portabler Stress- und Activity-Tracker, die am Arbeitsplatz zum Einsatz kommen, wird sehr deutlich, dass sich die Erfolge und Misserfolge der eigenen Verhaltenskonditionierung, die über Software-Dashboards oder Weekly Reports ausgegeben werden, meist in Form von Balken- und Kurvendiagrammen darstellen. Flexible Mittelwerte und hierarchische Rankings als Orientierungs- und Anreizstrukturen lassen die aufgewendeten Anstrengungen der Self-Tracker/-innen als Anlageertrag erscheinen. Nicht nur in den Aussagen der beteiligten Dienstleister/-innen liegt der »Return on Prevention« hier nahe am »Return on Investment.«31 Diese Formen der systematisierenden Selbstbeobachtung basieren damit in elementarer Weise darauf, das Selbstverständnis unmittelbar mit dem Verständnis von Erfolgsfaktoren und dem eigenen Marktwert oder dem eigenen Wert für das Unternehmen zu verweben,32 um ganz im Sinne eines Benchmarking-Verfahrens Verbesserungs- bzw. Steigerungsmöglichkeiten zu eröffnen. Nicht zuletzt am Beispiel der technischen Verkettung von Appirios CloudFit mit der kommerziellen Kundenbetreuungs- und Provisionsmanagementsoftware Salesforce, die seit 2011 auch Funktionen für das sog. Human-Capital-Management umfasst, oder den Rhetoriken der modernen Personalentwicklung, die durch Tracking-Technologien unterschiedslos auf »die Leistungsfähigkeit und Gesundheit von Unternehmen und den Menschen, die darin arbeiten«33 zielt, lässt sich die Indifferenz verdeutli31 | Thorsten Grießler, »Leiter Vertrieb und Partnermanagement Vitaliberty GmbH« (https:// www.youtube.com/watch?v=PO3R8GXdFHw [letzter Zugriff 13.4.2015]). 32 | Moldaschl und Sauer beschreiben derartige Effekte bereits früh als Reaktion einer »Verinnerlichung des Marktes« auf Unternehmensebene, welche die Arbeitenden zunehmend in direkter Weise mit dem Markt kurzschließt und somit konventionelle Organisationsaufgaben wie Planung und Überwachung als »Externalisierung nach Innen« an die Angestellten überträgt. Dieser Argumentation folgend findet die »Unterwerfung (Subjektivierung im Sinne von Foucault) der Arbeitenden unter fremdgesetzte ›ökonomische Zwänge‹ […] so gesehen also nicht mehr im Arbeitsinhalt statt, wie es die Abstraktifizierungsthese der jüngeren Frankfurter Schule verkündet, sondern vielmehr im Verhältnis der Arbeitenden zu sich selbst« (Moldaschl et al. 2000: 220). 33 | Aus der Beschreibung des Vortrags »People Analytics – Work Privacy Balance« der Personalentwicklerin und »Prozessgestalterin« Cornelia Reindl im Rahmen der re:publica 2015 (https://re-publica.de/session/people-analytics-work-privacy-balance [letzter Zugriff 29.9.2015]).
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chen, in der hier personelle Gesundheit und Unternehmensvitalität verschmelzen. Durch die standardisierte Erhebung vordefinierter Indikatoren und die Verschaltung der Daten zu überindividuellen Vergleichen wird die mediale Repräsentation der eigenen Gesundheit damit als eine kalkulierbare Größe für den innerbetrieblichen Wettbewerb modelliert. Das Programm Moove von Vitaliberty zeigt dazu etwa auf dem Software-Dashboard den wöchentlichen Aktivitätsdurchschnitt als Kennwert im unmittelbaren Vergleich zu allen übrigen Teilnehmenden des Unternehmens an: »Activities 6. +2.0 more than others.«34 Wie schon Deleuze dezidiert herausstellte, setzt das moderne Unternehmen in Abgrenzung zu den Kontrollmechanismen der fordistischen Einschließungsverhältnisse vornehmlich auf eine »unhintergehbare Rivalität als heilsamen Wetteifer und ausgezeichnete Motivation, die die Individuen zueinander in Gegensatz bringt« (Deleuze 1993: 257). Analog lässt sich auch die Verbindung von individuellem Tracking mit kompetitiven Datenvergleichen innerhalb der Belegschaft als ein neuer Modus deuten, in dem innerbetriebliche Konkurrenz als strukturierendes Organisationsprinzip der Unternehmensfitness aktiviert wird: »Appirio is working on integrating corporate data into the dashboards so that it can organize teams around the company’s structure. That would allow it to set up competitions between work groups or between offices in different regions of the world.«35 Auch im Pharmakonzern Novartis zählt »ein gesunder Wettbewerb unter den Mitarbeitern« ebenso zu einem festen Bestandteil der Unternehmenskultur wie die Verwendung von Withings-Pulse-Trackern im Rahmen der betrieblichen Krankheitspräventionsprogramme.36 34 | Aus dem Moove-Dashboard. 35 | Chris Barbin im Interview mit dem Blog CiteWorld (»Consumerization of IT in the enterprise«). Weiter heißt es dort: »For now, workers can monitor their activity and sleep data through the standard Jawbone dashboard. There, they can create teams and comment on each other’s progress. They can sort data about their team to look at who logged the most activity or had the best sleep.« (www.citeworld.com/article/2115575/consumerization/ why-appirio-issued-fitness-monitors-employees.html [letzter Zugriff 21.4.2015]) Das Unternehmen folgt dabei ebenfalls den aktuellen Trends des QS-Diskurses und beabsichtigt in naher Zukunft auch GPS-Daten, sowie Funktionen zur Überwachung der Herzratenvariabilität mit aufzunehmen. 36 | Dort heißt es weiter: »Durch die Einführung eines innovativen digitalen Programms in Verbindung mit der Tätigkeit von Gesundheitsprofis wurden sich alle Teilnehmer bewusst, wie wichtig es ist, sich körperlich zu betätigen und in einem gesunden Wettstreit den Teamgeist zu stärken.« (withings.com/de/solutions/professional-care.html [letzter Zugriff 10.4.2015], inzwischen nur noch abrufbar über Wayback-Maschinen) Auch das Unternehmen Withings selbst bewirbt sein Angebot unter Berufung auf kompetitive Aspekte des Programms: »Koordinieren Sie Einzel- und Teamwettbewerbe«; »Inspirieren Sie soziale Netzwerke. Teilnehmer können ihre Kollegen anfeuern, ausbuhen und ihnen personalisierte Nachrichten schicken.« (http://corporate.withings.com/[letzter Zugriff 19.11.2015])
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5. F a zit und A usblick Im Verschränkungsverhältnis aus Burnout- und Quantified-Self-Diskurs stellt sich Self-Tracking am Arbeitsplatz also in erster Linie als intrinsische Reproduktion jener zeitgenössischen Paradigmen dar, die das strukturelle Problem der Arbeitsüberlastung als ein persönliches Problem der Work-Life-Balance neu entwerfen, es in den Bereich individueller Verantwortlichkeit verschieben und es dem Subjekt dabei selbst überlassen, Technologien für die eigene Kontrolle zu entwerfen und anzuwenden.37 Self-Tracking-Systeme im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements können demnach vor allem als ambivalente Kontrolltechnologien verstanden werden, deren Etablierung in starkem Maße auf außerbetrieblichen und privaten Selbstverdatungsambitionen und der allgemein zunehmenden Verbreitung von Activity-Trackern basiert. Unternehmen versprechen sich von diesen Technologien zum einen ein evidenzbasiertes Personalmanagement auf der Grundlage der Vitaldaten ihrer Angestellten.38 Zum anderen sollen diese Technologien die Angestellten aber vor allem selbst in die Lage versetzen, zwischen maximaler Arbeitsleistung und minimaler krankheitsbedingter Ausfallwahrscheinlichkeit approximativ ein stabiles Verhältnis herzustellen, wobei im Gegensatz zu Leistungsdruck und Produktivitätsniveau diskursiv natürlich allein das Maß der persönlichen Krankheitsvorsorge als veränderbare Variable erscheint. Neben der ePatientin oder der Prosumerin ist damit auch die Akteursfiktion39 der Self-Trackerin als ein Beispiel dafür anzusehen, wie sich das Leitbild des freien aber im betriebswirtschaftlichen Sinne rational handlungsfähigen Subjekts in der diskursiven Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen und gesundheitspolitischen Institutionen oder progressiven D.I.Y.-Communities reproduziert und
37 | Vgl. dazu exemplarisch den Eintrag »How Tracking What I Do Every Day Helped Me Find Better Work-Life Balance« der Self-Trackerin Melanie Pinola unter der Rubrik »Productivity« auf der Webpage Lifehacker.com (http://lifehacker.com/how-tracking-what-i-do-everyday-helped-me-find-better-1710608636 [letzter Zugriff 28.7.2015]). 38 | Z.B. nach Maßgabe des u.a. in Kap. 1 bereits näher beschriebenen Programms Moove von Vitaliberty. 39 | Ulrich Bröckling bezeichnet in Anlehnung an die systemtheoretischen Rechtssoziologen Michael Hutters und Gunther Teubners mit Akteurs- oder Realfiktionen den Modus, in dem sich z.B. im Rechts- oder Wirtschaftssystem »die für ihre Operationen erforderlichen Akteure konstruieren« (Bröckling 2007: 35).
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in verschiedenen sozialen Zusammenhängen sowie der materiellen und symbolisch-ikonografischen Gestalt verschiedener Technologien manifestiert.40 Die kalkulatorische Logik und der Datenhunger dieser Selbstvermessungssysteme machen indes bei den Angestellten keinen Halt. Tracking-Programme wie das der Firma bwell, das der Selbstbeschreibung nach darauf spezialisiert ist, Organisationen anhand mobiler Fitnesstracker wie Fitbit oder Jawbone eine Errechnung der Bruttoerträge ihrer Mitarbeiter/-innen im Zusammenhang mit ihrem Ausfallrisiko durch Krankheit zu ermöglichen, berücksichtigen vielmehr inzwischen auch, dass die Produktivkraft einer Angestellten nicht kongruent mit ihrer physischen Entität berechnet werden kann, sondern sich nicht zuletzt durch die Reproduktionsarbeit ihres unmittelbaren Lebensumfeldes bemisst. Vor dem Hintergrund der im Wandel befindlichen Arbeits- und Familienverhältnisse, die den fordistischen ›Deal‹ der Care-Arbeit zunehmend irritieren, ist es daher naheliegend, dass für eine Bemessung der Produktivität als flexibles Verhältnis aus Leistungsertrag und Erhaltungskosten der Arbeitsfähigkeit nicht nur Daten über die Reproduktionszeit der Arbeitenden selbst, sondern aller an dieser Reproduktionsarbeit beteiligten Personen relevant sind. Wie sich im Fall der Firma bwell bereits abzeichnet, ist daher in einem nächsten Schritt möglicherweise eine weitere Ausdehnung des kalkulatorischen Zugriffs auf den Alltag der Angestellten zu erwarten, der potentiell auch das unmittelbare soziale Lebensumfeld wie Lebenspartner/-innen und Kinder miteinschließt: »[E]mployees can enroll their spouses and children in the program, extending the benefits to the entire family.«41 40 | Ein Diskursdokument, das auf sehr eindrückliche Weise die im Grunde gegensätzlich verlaufenden Bottom-up- und Top-down-Strömungen der Technologieentwicklung und Implementation zwischen QS-Community und dem institutionalisierten Gesundheitsbereich versammelt, ist das oben bereits zitierte Handbuch Gesundheit 2.0 der Organisationsberater/-innen und Leiter/-innen des Instituts für Kommunikation & Führung, Andréa Bellinger und David Krieger. Der Band verschmilzt in der Figur der ePatientin, als neue »Einflussgröße auf dem Gesundheitsmarkt« (Bellinger/Krieger 2014: 133) das konsensualisierte Zukunftsbild medizinischer Leistungsempfänger/-innen, die empowered durch Online-Applikationen und portable Geräte in der Lage sind, als aktive und »selbstbestimmte« Kommunikationspartner/-innen und selbstverantwortliche Initiant/-innen von Präventionsmaßnahmen und des eigenen Gesundheitsmonitorings in Beziehung zu Krankenkassen und zu medizinischem Fachpersonal zu treten – womit sich den zitierten Expert/-innen, Patient/-innen und Herausgeber/-innen des Bandes zufolge gleichermaßen das Potenzial einer stärkeren Beteiligung an medizinischen Entscheidungsprozessen sowie an »Innovation und gemeinsamer Wertschöpfung« verbinde (Bellinger/Krieger 2014: 14). Andréa Bellinger, die ihren Puls mit dem Smartphone und ihre Schritte mit einem Fitbit-Tool misst, beschreibt das Messen von EMail-Verkehr, Telefonnutzung, Meetings und den damit verbundenen Stress ebenfalls als eines der grundsätzlichen Anwendungsfeldes der QSGrundgedankens (Bellinger/Krieger 2014: 120). 41 | www.bwellamerica.com/how-bwell-solution-works (letzter Zugriff 21.4.2015).
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Ernährungsbezogene Selbstvermessung Von der Diätetik bis zum Diet-Tracking Nicole Zillien, Gerrit Fröhlich & Daniel Kofahl
1. E inleitung Menschen müssen sich ernähren. Dabei führt die organisch gegebene Möglichkeit der Omnivorizität, sprich der ›Allesfresserei‹, dazu, dass Menschen Ernährung nicht einfach geschehen lassen, sondern diese im Rahmen von Kulturtechniken der Nahrungsmittelproduktion, Speisenzubereitung und Ernährungsplanung organisieren. Dies lässt sich auch für die Gegenwartsgesellschaft insgesamt ausmachen, die als Wissensgesellschaft generell »eine soziale und ökonomische Welt [repräsentiert], in der Ereignisse oder Entwicklungen zunehmend gemacht werden, die zuvor einfach stattfanden« (Stehr 2001: 10). Dieses Machen gilt auch der gezielten Gestaltung von Ernährungspraktiken, als deren vorläufigen Endpunkt wir im Folgenden das sogenannte Diet-Tracking analysieren, das heißt die digitale Vermessung der eigenen Ernährung. Um die Entwicklung ernährungsbezogener Selbstanalyse schlaglichtartig aufzuzeigen, setzen wir bei frühen Dokumentationen diätetischer Selbstthematisierung in Briefen und Tagebüchern an (Kap. 2), fokussieren mit dem 19. Jahrhundert den Beginn einer gezielten Verwissenschaftlichung von Ernährung (Kap. 3) und untersuchen letztlich das Diet-Tracking als Ernährungspraktik einer auch in Bezug auf die alltäglichen Vorgänge des Essens und Trinkens sich realisierenden Wissensgesellschaft. Dabei zeigt sich, dass die Verwissenschaftlichung der Ernährung von Beginn an mit den Prozessen der Quantifizierung, Objektivierung und Expertisierung verbunden ist. Hinsichtlich der digitalen Selbstvermessung legt die Analyse beispielhaften empirischen Materials dabei nahe, dass die genannten Prozesse hier in einer reflexiven Spielart auftreten, weshalb wir das Diet-Tracking als Form der reflexiven Selbstverwissenschaftlichung analysieren (Kap. 4). Diese reflexive Selbstverwissenschaftlichung betrifft aber nicht nur die Ernährung, sondern – darauf deuten zumindest die vorhandenen Funktionen der Selbstvermessungstechnologien hin – umfasst auch sportliche Aktivitäten, Schlafverhalten, Umweltfaktoren oder auch die Sexualität und bezieht sich in einem weiteren Sinne auf die Vermessung des Alltags, was
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wiederum auf den bereits in antiken Lehren geprägten Begriff der Diätetik verweist (Kap. 5). Ernährungsbezogene Selbstbeobachtung – von ihrer Einbettung in einen diätetischen Kontext bis hin zu modernen Formen des Diet-Trackings – lässt sich somit als eine Form der (reflexiven) Selbstverwissenschaftlichung verstehen, was im Verlauf des Beitrags weiter ausgeführt werden wird.
2. F rühe D okumentationen diäte tischer S elbst thematisierung Der Mensch ist nicht auf eine einzige Form der Ernährung oder auf eine eng eingegrenzte Nahrungsmittelauswahl festgelegt. Während es im Tierreich viele Arten gibt, die nur ein sehr eingeschränktes Spektrum an Nahrungsmitteln zu sich nehmen können, wie etwa der Koala, der nahezu ausschließlich auf das Vorkommen von Eukalyptus angewiesen ist, ist die mögliche Ernährung des Menschen prinzipiell omnivor. Allerdings kann der menschliche Organismus nicht alles, was irgendwie essbar ist, verstoffwechseln. So stirbt der Mensch zwar nicht, wenn er Gräser zu sich nimmt, aufgrund fehlender Bakterienarten im Verdauungstrakt ist es ihm, anders als zum Beispiel Rindern, jedoch nicht möglich, die darin enthaltene Zellulose zu verarbeiten. Zudem sind manche Dinge, wie etwa Salzwasser oder Strychnin, der menschlichen Gesundheit ab einer gewissen Dosierung abträglich oder gefährden sie sogar. Bezüglich der organischen Prämissen des menschlichen Körpers lässt sich somit feststellen, dass die Möglichkeit besteht, eine große Bandbreite unterschiedlicher Ernährungsformen zu praktizieren, wobei unterschiedlichste Nahrungsmittel in verschiedenen Kombinationen zum Einsatz kommen. Darüber hinaus zeichnet sich die menschliche Ernährungskultur dadurch aus, dass der Mensch seine Lebensmittel auch selbst produziert. Damit steigt die potenzielle Komplexität der konkret realisierten Ernährungspraxis weiter an, weil nicht verzehrt werden muss, was die Natur hervorbringt oder übrig gelassen hat. Es obliegt vielmehr menschlichen Entscheidungen, welche Rohstoffe zur Herstellung von Nahrungsmitteln produziert werden und auf welche Art und Weise sie dann verarbeitet bzw. veredelt werden. Diese Entwicklung der Einflussnahme auf das Was der Ernährungspraxis ist ein fortschreitender Prozess, der seinen Beginn in der Entdeckung des Feuers nahm und in der Gegenwartsgesellschaft bei einer »bewusst[n] Entfremdung vom Naturprodukt« als einem entscheidenden »Erfolgsfaktor für Food Design« (Hablesreiter/Stummerer 2005: 2008) angekommen ist. Doch nicht nur das, was gegessen werden kann, unterliegt menschlichen Entscheidungen. Auch das Wie des Essens und Trinkens ist das Resultat soziokultureller Einflussfaktoren. Und hierbei geht es nicht nur darum, ob nun mit Messer und Gabel, mit Stäbchen oder mit der Hand gegessen werden soll. Es geht auch darum, welche Speisen – eben das Was – aus welchen funktionalen Gründen überhaupt als essbar angesehen werden und welche nicht, sowie darum, in welchem Umfang, in welcher Reihenfolge, zu welchen Zeit-
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punkten und vor allem in welchen Lebenssituationen sie als essbar bzw. nicht essbar eingeordnet werden (vgl. Kofahl 2015). Was als Nahrungsmittel dient und wie es verzehrt werden soll, wird dem einzelnen Individuum über die Kultur seiner sozialen Position in der Gesellschaft vermittelt, die das Individuum ebenso zu beobachten hat, wie es sich selbst, seine eigenen, auch physiologisch-psychischen Reaktionen, in Auseinandersetzung mit den soziokulturellen Normen beobachten kann, teilweise sogar dazu angehalten wird, diese Beobachtungen zu tätigen und beispielsweise in schriftlicher Form zu beschreiben. Wechselseitiges, mannigfaches Beobachten und Beschreiben tragen so einen gewichtigen Teil zur rationalen Planung des Essalltags bei. Werden diese soziokulturellen Selektionen und Strukturierungen von potentiellen Nahrungsmitteln um weiter reichende Aspekte der alltäglichen Lebensführung ergänzt, lässt sich von Diätetik sprechen. Diätetik kann als »die Lehre von der Lebensweise« (Klotter 2008: 2) definiert werden. Im Unterschied zur allein auf die Nahrungsaufnahme fokussierenden Diät umfasst ein diätetisches Programm eine Reihe weiterer Lebensbereiche. Zwar spielt die Diät als eine spezifische, handlungsorientierte Form der Ernährungspraxis in diätetischen Konzeptionen eine gewichtige Rolle, jedoch werden ebenso Fragen nach einer bestmöglichen Qualität und Quantität von Bewegung, Schlaf und Sexualität oder auch moralische Aspekte mit einbezogen. Diätetik umfasst die Führung des gesamten Lebens – und zwar mittels kontrollierter Beobachtung und Organisation des Verhältnisses zur eigenen Person, dem eigenen Körper und seinen Bedürfnissen sowie zur biophysikalischen wie auch soziokulturellen Umwelt (vgl. Klotter 2008; Endres 2012: 16). In der Gegenwart ist die Ausdifferenzierung einer Vielzahl von Diätetiken sowie damit verbundener Diäten zu beobachten und im historischen Vergleich lässt sich ein dynamisches Wechselverhältnis der diätetischen und diätischen Programme feststellen, welche zumeist schriftlich detailliert ausformuliert vorliegen. Wie radikal komplexitätsreduziert die singulären, rein auf Ernährung bezogenen Diäten sind, lässt sich mit einem Blick in die Historie besser verstehen, etwa wenn man die antiken Lehren bei Hippokrates (460-377 v. Chr.) oder Galenos von Pergamon (ca. 129-215 n. Chr.) zum Vergleich heranzieht, welche die ersten umfassenden Diätetiken mit darin eingebetteten Diäten darstellen. Die antike Diätetik stellt dabei eine umfassende Existenzkunst dar und wird verstanden als ein breites Programm der Beschäftigung mit sich selbst sowie den äußeren Gegebenheiten. Im Rahmen der Diätetik sollen Körper, Seele und Umweltbedingungen gleichermaßen analysiert werden und stellen somit »lauter Dinge, die ›gemessen‹ sein müssen« (Foucault 1989: 131) dar. Die Ernährung steht auf diese Weise in vielfältigen Beziehungen zu anderen Facetten des Lebens: »Die Ernährungsweise – Speise und Trank – hat Art und Menge dessen zu berücksichtigen, was man aufnimmt, den Gesamtzustand des Körpers, das Klima, die Tätigkeiten, die man verrichtet« (Foucault 1989: 132). Vor diesem Hintergrund gewann auch die verschriftlichte Selbstbeobachtung der eigenen Ernährungsformen an Bedeutung. Sokrates rät: »Jeder beobachte sich selber und notiere, welche Nahrung,
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welches Getränk, welche Übung ihm guttun und wie er sie nehmen muss, um die Gesundheit am besten zu erhalten« (zit.n. Foucault 1989: 140). So enthielten schon frühe Briefwechsel häufig narrative Berichte »über den banalen Alltag, über richtiges und falsches Handeln, über eingehaltene Diät« (Foucault 2007: 152). Der Inhalt des Mitgeteilten war hier häufig eine grundlegende Information über den Gesundheitszustand, über Krankheit, Linderung von Beschwerden, das allgemeine Wohlbefinden, das körperliche Empfinden. Aber auch die Ernährung hält hier bereits Einzug in Selbstbeobachtung und Korrespondenz und rückte so in den Fokus der Aufmerksamkeit, der Reflexion und der Selbstthematisierung, wie das von Foucault verwendete Beispiel des Briefwechsels zwischen Marc Aurel und seinem Lehrer Marcus Cornelius Fronto zeigt: »Danach gingen wir essen. Und was meinst Du, habe ich gegessen? Ein wenig Brot, während ich zusah, wie die anderen Austern, Zwiebeln und fette Sardinen verspeisten.« (Brief aus dem 2. Jhdt. v. Chr., zit.n. Foucault 2007: 153) Die Reflexion des eigenen Ernährungsverhaltens, sei es in Form von Aufzeichnungen oder in Form des Austauschs mit Lehrern, wurde als Teil der Lebenskunst wahrgenommen, da ein gesunder Körper in Zusammenhang mit einer gesunden Geisteshaltung gebracht wurde. Diese auf die Ernährung und ihren Einfluss auf den Körper fokussierte Form der Sorge um sich findet sich auch in den Tagebüchern der frühen Neuzeit. Die Beobachtung und Erfassung des Ernährungsverhaltens erfolgte aufgrund verschiedener Motive, darunter eben auch aus wissenschaftlichem Forscherdrang bzw. aus der Neugier auf Wissen über den Körper und allgemeine physiologische Zusammenhänge. In dem als Mischung zwischen Selbstthematisierung und Lebenshilfe konzipierten De vita propria von Geronimo Cardano aus der Mitte des 16. Jahrhunderts findet sich beispielsweise ein längerer schriftlicher Auszug über die Ernährungsgewohnheiten, verträglichkeiten und unverträglichkeiten des Autors, der Aufschluss einerseits über dessen Lebensweise und andererseits über die Einflüsse der Ernährung auf seinen Körper gibt: »[…] die Meeresschaltiere sind mir zu hart und Aale, Frösche und Morcheln zu schwer verdaulich. Ich bin ein großer Freund von Süßigkeiten; besonders liebe ich den Honig, Zucker, frische reife Trauben, Melonen, nachdem ich einmal ihre heilsame Wirkung verspürt habe, Feigen, Kirschen, Pfirsiche, eingekochten Most, und bis heute hat mir noch keines von allen diesen je geschadet.« (Cardano 1914 [1575/76]: 23)
In De varietate rerum wiederum versucht Cardano ausgehend von seiner (physischen und psychischen) Selbstbiographie zu Wissen über die Natur des Menschen an sich zu gelangen. Dieser »höchste Begriff der biographischen Aufgabe« (Dilthey 1991 [1914]: 431) – das Wissen über anthropologische Zusammenhänge – wird für Wilhelm Dilthey bei Cardano gerade durch das Bewusstsein um die eigene Individualität gewonnen, und das heißt auch durch die Aufzeichnung und Analyse seiner eigenen, unverwechselbaren Lebensumstände: »Statur und Körpererscheinung, Gesundheit, seine körperliche Übungen und seine Lebens-
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ordnung vergegenwärtigen die physische Grundlage seiner Existenz« (Dilthey 1991 [1914]: 431). Auch in den privaten Texten des Malers Jacapo de Pontormo, der ebenfalls Mitte des 16. Jahrhunderts in Florenz lebte, lässt sich ein Umgang mit dem eigenen Körper erkennen, der mit einem nüchternen Blick unter anderem auf Verdauung und Diät versucht, diesen durch Erfassung der individuellen Ernährung zu kontrollieren: »Am Sonntagabend, der Palmsonntag war, aß ich etwas gekochtes Hammelfleisch und etwas Salat, dazu mußte ich für drei Heller Brot essen. Am Montagabend fühlte ich mich nach dem Essen sehr kräftig; ich hatte Lattich-Salat gegessen, eine Gemüsesuppe mit gutem Hammelfleisch und für vier Heller Brot. Dienstagabend aß ich Lattich-Salat und Eierkuchen.« (Pontormo 1963 [1554]: 575)
In den kargen und stellenweise nahezu tabellarischen Notizen Pontormos findet sich ein naturalistischer Blick auf den Körper und seine Verdauungsprozesse – vermerkt werden sowohl Nahrungseinnahme und körperliche Befindlichkeiten als auch die Produkte der Verdauung – in dessen Zentrum die Beherrschung der physiologischen Natur steht: »Gegen sie wehrt er sich mit seinen Hygieneregeln und Gesundheitsvorschriften. Um sie auf seine Art zu beherrschen, notiert er sorgfältig, was er gegessen und wie er verdaut hat.« (Hocke 1963: 311) Unter einem genuin ernährungswissenschaftlichen Gesichtspunkt wurde auch eines der ersten dokumentierten Selbstexperimente durchgeführt: Der italienische Wissenschaftler Santorio Santorio wog Ende des 16. Jahrhunderts über einen Zeitraum von 30 Jahren hinweg seinen Körper, seine konsumierten Nahrungsmittel und seine Ausscheidungen und stellte im Ergebnis eine Diskrepanz zwischen beidem fest, welche er auf »unmerkliche Ausdünstungen« zurückführte (Neuringer 1981: 79). Santorio Santorio gilt als »founding father of metabolic studies« (Eknoyan 1999), führte ganz im Geiste der beginnenden Verwissenschaftlichung der Neuzeit mit Unterstützung technischer Instrumente Selbstexperimente durch (ebd.: 227ff.) und verschriftlichte die an sich selbst beobachteten Effekte. Van Helden (2004: 29) attestiert Santorio dabei eine »passion for describing phenomena in terms of numbers«. Sein wichtigstes Instrument zur Selbstvermessung stellte eine selbstgebaute Sitzwaage dar, mittels derer er zunächst im Selbstversuch, dann später, wie er schreibt, an über 10.000 Personen Input- und Output-Messungen vornahm. Die Ausstrahlungskraft dieser innovativen Pionierstudie bis in die Gegenwart hinein ist kaum zu überschätzen: »In our balance experiments today, we handle intakes and outputs of the body essentially as Sanctorius did, except for the addition of chemical analysis to what he only characterized in terms of weight and volume.« (Eknoyan 1999: 231; vgl. ebenso Nestle/Nesheim 2013: 24f.) Über diese frühen Untersuchungen hinaus existiert eine ganze Reihe weiterer Selbstexperimente im Bereich der Ernährung (Altman 1998). So notierte der britische Mediziner William Stark den Einfluss der von ihm eingenommenen
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Nahrungsmittel auf sein Körpergewicht, seine Stimmung und seine Leistungsfähigkeit, um auf diese Weise den minimalen Verbrauch des Körpers bestimmen zu können. Zu Beginn seiner Untersuchungen ernährte er sich beispielsweise 31 Tage lang nur von Wasser und Brot, um nach einer kurzen Erholungsphase seinem Ernährungsplan nach und nach verschiedene Lebensmittel hinzuzufügen. Als Folge einer strengen Diät im Zuge eines Selbstexperimentes verstarb Stark schließlich im Jahr 1770. Mitte des 18. Jahrhunderts findet sich in den Tagebüchern des Züricher Bürgermeisters Johann Caspar Escher eine umfassende Reflexion der eigenen Lebensführung, auch hier mit einem Schwerpunkt auf Speisen, Getränke und Verdauung. »[D]er Prozess der Aushandlung der richtigen, d.h. den individuellen Verhältnissen angepassten Ausübung der Regeln […] bedingte die tägliche Auseinandersetzung mit der eigenen Konstitution, den körperlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen; er bedingte eine Empirie am eigenen Leib.« (Piller 2007: 61) Escher protokolliert Auswirkungen von Obst, Tee, Schokolade und Kaffee auf Körper und Geist und folgte dem Idealbild des »aufgeklärten Bürgers, der als Selbstbeobachter und autonomer Verwalter seine Vitalressourcen beherrschen« (ebd.: 64) und so letztlich dazu befähigt werden sollte, sein eigener Arzt zu werden. Horace Fletcher, ein von Übergewicht geplagter Kunsthändler, war etwas weniger experimentierfreudig, verhalf aber mit seiner 1910 erschienenen Publikation Wie ich mich selbst wieder jung machte im Alter von sechzig Jahren oder: Was ist Fletscherismus? der wissenschaftlichen Beschäftigung mit seinem eigenen Metabolismus, die durch weitere Untersuchungen gestützt wurde, zu Popularität (vgl. Morozov 2013: 229). Fletcher war der festen Überzeugung, dass das sogenannte Fletchern, das heißt das gründliche und genussvolle Kauen des Essens – er empfahl zwischen dreißig und siebzig Kaubewegungen pro Bissen – den Schlüssel zu gesunder Ernährung darstelle (vgl. Fletcher 1910). Die von ihm empfohlene Praktik wurde vor wenigen Jahren unter dem Begriff des »Schmauens« – schmecken und kauen – nochmals popularisiert (Schilling 2005). Die genannten in Schrift und Narration fixierten Selbstzeugnisse und Selbstexperimente folgten bereits dem Gedanken einer wissenschaftsfundierten Analyse des eigenen Körpers mit dem Ziel, möglichst objektive Erkenntnisse über den menschlichen Metabolismus und seine Reaktionen auf die zu sich genommene Nahrung zu gewinnen. Die Pioniere der Selbsterforschung des menschlichen Metabolismus lassen sich somit als Vorläufer einer Verwissenschaftlichung von Ernährungspraktiken verstehen.
3. Z ur V erwissenschaf tlichung der E rnährung Im 18. und 19. Jahrhundert machte die aufkommende Wissenschaft von der Physiologie die Ernährung zu einem ihrer Hauptthemen und konzentrierte sich immer stärker auf die Frage, welche Ernährung bestmöglich zur körperlichen Leistungsfähigkeit beiträgt. Die genaue, naturwissenschaftliche Analyse körperlicher
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Bedürfnisse sowie die Erforschung von Nahrungsmitteln und ihre reduktionistisch-analytische Zerlegung in einzelne Bestandteile wie Kohlenhydrate, Vitamine und Proteine, die wiederum in Bezug auf ihre differenzierten Funktionen bei der Ernährung von Menschen beschrieben wurden, entsprachen dabei ganz dem szientistischen Geist der Epoche. Innere Prozesse des Körpers, seine chemischen Abläufe und damit sein Stoffwechsel gerieten ins Zentrum der Physiologen, die den Körper als »Wärmekraftmaschine« (Osietzki 1998: 314) interpretierten, welche versorgt mit der richtigen Energiemenge – gemessen in den Objektivität versprechenden Einheiten Joule oder Kalorie –eine bestimmte Arbeitskraft bereitstelle. Hinter den unterschiedlichen Konstrukten und Maßzahlen stehen seit jeher aufwändige wissenschaftliche Forschungsprozesse, was sich exemplarisch gerade am Beispiel der Kalorie anschaulich zeigen lässt: »The work of rendering food into hard figures« beginnt an jenem Morgen des Jahres 1896, als Wilbur O. Atwater einen Probanden in eine Experimentierkammer schickte, um so dessen »food intake and labor output in units of thermal energy« (Cullather 2007: 340) zu vermessen. In Hunderten weiterer Experimente wurden im sogenannten Kalorimeter der Brennwert spezifischer Nahrungsmittel und der Energieverbrauch menschlicher Verhaltensweisen analysiert und auf diesem Weg in Zahlen transformiert. Sowohl Körperaktivitäten als auch Nahrungsmittel konnten nun in Kalorien quantifiziert werden (vgl. ebd.). Vor der Existenz der Kalorie war es schwierig, »to speak of food in competitive, evolutionary terms, or to foresee the direction that improvements might take« (ebd.: 342). Damit entstand auch eine »soziale Ernährungslehre« (Barlösius 1999: 41), welche die Kalorie zu einer politischen Größe mit Objektivitätsanspruch machte: »From the first, its purpose was to render food, and the eating habits of populations, politically legible.« (Cullather 2007: 338) Mit der Erfindung der Kalorie ermöglichte es die »Physikalisierung der Ernährung, die ihre Quantifizierung bedeutete, […] die zeitgenössische Ökonomisierung aller Tätigkeiten und Lebensäußerungen auch auf dieses Lebensgebiet zu übertragen« (Barlösius 1999: 61). Dieser thermochemischen und physikalisch-energetischen Betrachtung entspricht eine bis in die Gegenwart aufrechterhaltene Praxis, die sich besonders im ›Kalorienzählen‹ von Lebensmitteln, aber auch im Zählen des Verbrauchs von Kalorien durch körperliche Aktivitäten veralltäglicht hat (Barlösius 1999: 23). Die zunehmende Quantifizierung von Nahrungsmitteln auf der einen Seite und von körperlicher Leistungsfähigkeit auf der anderen – jeweils in die Kennzahl Kalorien transformiert – findet ihre Entsprechung im Registrieren des nun in Kilogramm erfassten und somit zahlenmäßig repräsentierten Körpergewichts. Ab dem späten 19. Jahrhundert verbreitete sich die Personenwaage zunächst im öffentlichen Raum, wo sie als Attraktion zur ersten Generation der neuen Münzautomaten gehörte und als Symbol technischen und industriellen Fortschritts wahrgenommen wurde. Die Waagen – häufig ergänzt durch Spiegel, welche das Wissen um das Körpergewicht durch die optische Kontrolle ergänzen sollten – wurden ohne Scham und Peinlichkeit vor Publikum genutzt: »Es überwog die
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Neugier, die Faszination, auf einfache und billige Weise sein Körpergewicht erfahren zu können. Das Wiegen geriet zum öffentlichen Ereignis, bei dem die betreffende Person ihr Aussehen auch visuell überprüfen konnte.« (Payer 2012: 310) Ab den 1950er Jahren wurde die Waage immer mehr domestiziert und der Vorgang des Wiegens wurde in die Privatsphäre der Badezimmer verlegt. Ein jeder konnte nun selbst Experte für sein eigenes Körpergewicht und auch sein individuelles Gewichtsmanagement sein. Eine Einordnung des vermessenen Körpergewichts wird auch heute noch vielfach mittels des von Quetelet entwickelten Body Mass Index (BMI) vorgenommen, durch den das Gewicht in Verhältnis zur Körpergröße gesetzt wird, was dann unter Berücksichtigung von Alter und Geschlecht die Einordnung in Normal-, Über- oder Untergewicht ermöglicht. Der BMI ist ein Beispiel dafür, dass Normwerte, Indizes und Kalkulationen der ideale Anknüpfungspunkt sind, um ein quantitativ ausformuliertes »Messregime« (Manhart 2008: 217) zu installieren, welches sozial erzeugte Orientierungsgrößen für Ernährungspraktiken festlegt. Dabei gilt der Körper in fortgeschrittenen modernen Gesellschaften nicht länger als etwas vom Schicksal Gegebenes. Der Körper wird allgemein als »Gegenstand der Gestaltung« (Hitzler 2002) und somit als Ergebnis individueller Lebensführung definiert. Die zunehmende Relevanz von Körpergestaltung und optimierung wird dann vielfach als Reaktion auf eine unsichere und weniger auf eine auf das Jenseits hin orientierte Existenz verstanden. Aufgrund eines überkomplexen Alltagslebens existiere ein ständiges Bedürfnis an überschaubaren und bewältigbaren »Ersatz-Sorgen« (Bauman 2000: 71), wobei sich das – in quantifizierter Weise darstellbare und damit vermeintlich »objektive« – Übergewicht als ein Beispiel für ein (vermeintlich) »bekämpf bares Problem« aufdränge: »Berücksichtigt man dieses Bedürfnis, scheint Übergewichtigkeit weniger ein kollektiver Wahnsinn als vielmehr ein Geschenk des Himmels zu sein.« (Bauman 2000: 70) Ernährungsbezogene Körpergestaltung dient somit als sicherer Anker und verspricht »das, was zunehmend mehr Menschen abhandenkommt: Handlungssicherheit« (Villa 2012: 19). Es findet eine Vergegenständlichung des Körpers, sprich eine Objektivierung desselben, statt, wobei die Ernährung als ein Element eines entsprechenden projektbezogenen Körpermanagements gelten kann – und das generell in dreierlei Hinsicht. Erstens kann durch die Ernährung die unmittelbar sichtbare Oberfläche des Körpers direkt gestaltet werden, was sich als Bodystyling fassen lässt, in dessen Rahmen das (sichtbare) Körperäußere als gestaltbare Materie begriffen wird (vgl. Gugutzer 2013a). Dies lässt sich am Beispiel der nach ästhetischen Kriterien auf ›Schönheit‹ fokussierten Diät veranschaulichen. Zu den legitimen Schönheitsidealen zählt seit dem Siegeszug des Bürgertums in den neuzeitlichen Industriegesellschaften des globalen Nordens spätestens im 19. Jahrhundert und dann noch einmal perpetuiert durch die Twiggy-Mode in den 1960er Jahren das Schlankheitsideal (vgl. Mennell 1988: 58ff.; Klotter 2008: 7). Im Gegenzug dazu werden wohlbeleibtere Körper zunehmend stigmatisiert und pathologisiert (vgl.
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Schorb 2014), weshalb inzwischen von einer Schlankheitsnorm (vgl. Klotter 2007) gesprochen wird. Weiterhin lässt sich zweitens durch spezifische Ernährung die Funktions- und Leistungsfähigkeit des Körpers beeinflussen – beispielsweise hinsichtlich der Belastbarkeit des Kreislaufs, der Verbesserung des Cholesterinspiegels, der Optimierung des Schlafverhaltens, der Verbesserung des Verdauungsapparats etc. Diese Form der ernährungsbezogenen Körpergestaltung lässt sich mit dem Begriff des Bodytuning fassen und meint die »Stimulierung von Muskeln, Organen, Nerven und Hormonen« (Gugutzer 2013a: 68) mit dem Zweck der funktions- und leistungsbezogenen Körperoptimierung. Und drittens kann Ernährung zur subjektiven Gesundheit und zum subjektiven Wohlbefinden beitragen. Dies lässt sich als Bodycaring bezeichnen, wobei die subjektive Gesundheit bzw. das subjektive Wohlbefinden und somit im Hinblick auf Ernährung auch Fragen des Geschmacks eine Rolle spielen (vgl. Gugutzer 2013a). Die Optimierung des funktionalen Charakters der Nahrung, eben nicht zuletzt bezüglich der aufgenommenen Kalorien, geht dabei mit Bemühungen einher, auch den Wohlgeschmack jeglicher Speisen zu optimieren. Geschmackserwartungen und empfinden sind dabei »soziale und sozial bedingte (d.h. insbesondere: sozialstrukturell unterschiedlich bedingte) Sachverhalte«, die auf »das individuelle Geschmackserleben als Einflüsse unmittelbar bei jedem Essen und Trinken mit ein[wirken]« (Diaz-Bone/Hahn 2007: 77). Was das individuelle Wohlbefinden alimentär steigern und so zur Körperoptimierung beitragen soll, ist demnach immer auch über Geschmack sozial strukturiert (vgl. Kofahl 2010). Wenn der Körper als gestaltbares Projekt des Bodystylings, tunings oder carings angesehen wird, geht dies mit einer diätischen Organisation von Ernährung einher, die spezifisches Wissen voraussetzt. Schon im Rahmen des sich im 19. Jahrhundert verbreitenden Hygienediskurses (vgl. Sarasin 2001) wurde die körperbezogene Selbsterkenntnis zu einer Notwendigkeit erhoben und zeitgleich das Wissen über den Körper immer stärker an ein Laienpublikum herangetragen: »Man muss nicht nur alles über seinen Körper wissen – nein: alle müssen es wissen, Primarschüler, Gebildete, Arbeiter« (Sarasin 2001: 120). Nach und nach wurde das Ernährungswissen Bestandteil der öffentlichen Kommunikation, es trat eine Popularisierung von mal hoch- und mal niedrigkalorisch angelegten Diätangeboten und Diätplänen auf, die sich in Journalen vielfältiger Couleur, aber auch in spezifischer Ratgeberliteratur zeigt oder im Berufsfeld des Ernährungs- und Diätberaters professionalisiert hat. Diese Professionalisierung entwickelt sich aus der Evolution und funktionalen Differenzierung des Feldes medizinischer Professionen (vgl. Endres 2012: 49f.). Dabei sind auch innerhalb der Diät- und Ernährungsberatung mannigfaltige Differenzierungen zu beobachten, etwa wenn durch staatliche Institutionalisierungen und mit entsprechend legitimierten symbolischen Kapital wie Hochschulzertifikaten oder Zertifikaten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) ausgestattete Ernährungsmediziner, Ökotrophologen oder Diätassistenten mit einem breiten Angebot von ›Laienexperten‹ konkurrieren, da die Berufsbezeichnung Ernährungsberater bzw. Ernährungs-
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therapeut gesetzlich nicht geschützt sind. Wer auf diesem Feld als professioneller Experte gilt und wer nicht, hängt somit stark von wissenschaftlicher Legitimierung ab und lässt sich eben nicht – zumindest nicht ausschließlich – durch religiös-spirituelle Führerschaft oder das Charisma einer Person begründet. Zusammenfassend lässt sich vorerst festhalten: Die im Zuge der Verwissenschaftlichung stattfindende Quantifizierung der Ernährung forciert eine Objektivierung des Körpers, welche auf dessen Gestaltbarkeit verweist. Die Gestaltung des Körpers entlang der Maßzahl der Kalorie erfolgt dabei unter Rückgriff auf verfügbares Ernährungs- und Körperwissen und geht mit einer Expertisierung zu Ernährungsthemen einher. Die Verwissenschaftlichung der Ernährung lässt sich demnach zumindest in Teilen als Prozess der Quantifizierung, Objektivierung und Expertisierung umschreiben, weshalb wir im Folgenden die ernährungsbezogene digitale Selbstvermessung unter Rückgriff auf beispielhaftes empirisches Material entlang der genannten Prozesse analysieren.
4. D ie t-Tr acking Diäten und Diätetiken als organisierte, geplante Ernährungspraktiken gewinnen durch die Nüchternheit, Rationalität und Objektivität vermittelnde Autorität von Zahlen an Überzeugungskraft, die aus den Sphären institutionalisierter Wissenschaft in den Ernährungsalltag der Einzelnen hineinstrahlt. Die Kalorie ist dabei der kleinste gemeinsame Nenner der Erfassung von Lebensmitteln und Körperfunktionen. Doch lässt sich bezüglich der Medienformen ein Wandel vom (Ernährungs)Tagebuch hin zum digitalen (Diet)Tracker ausmachen. Digitale ernährungsbezogene Selbstvermessungstechnologien bestehen als Artefakte aus einem Endgerät – in der Regel einem Smartphone – sowie entsprechender Software (Apps), welche ernährungsbezogene Daten sammelt, systematisiert und grafisch auf bereitet. Der Fokus des Diet-Trackings liegt auf der Nahrungsaufnahme und dem Gewicht. Üblicherweise erfolgt durch den Nutzer zu einem spezifischen Zeitpunkt (z.B. vor/nach dem Essen, morgens/abends) manuell eine standardisierte Eingabe der ernährungsbezogenen Daten in die mobile und somit potenziell stets verfügbare App, wobei manche Angaben (unter Rückgriff auf zusätzliche Gadgets) auch automatisiert erhoben werden (z.B. Körpergewicht per WLAN-Waage). Technologien zum Diet-Tracking vermessen zum Beispiel die Aufnahme von Kalorien, Kohlehydraten, Fetten, Proteinen und spezifischen Inhaltsstoffen, den glykämischen Index (Maß zur Bestimmung der Wirkung eines kohlenhydrathaltigen Lebensmittels auf den Blutzuckerspiegel), das Sättigungsgefühl, Portionsgrößen, Geschmacksbewertungen, Gewichtsverlauf, BMI, aber auch Ernährungskosten und den Ort der Nahrungsaufnahme. Die Datenausgabe erfolgt tabellarisch, grafisch aufgearbeitet oder auch als fotografisches Ernährungstagebuch für spezifische Zeitpunkte oder im Zeitverlauf. Teils eröffnen die Technologien die Möglichkeit, die getrackten Daten online zu publizieren und in-
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nerhalb einer Gemeinschaft mitzuteilen bzw. zu diskutieren. Einschlägig in diesem Zusammenhang ist die Website quantifiedself.com, die Plattform der organisierten Selbstvermesser, deren Motto »Self-knowledge through numbers« lautet. Dieser Leitspruch verweist darauf, dass ein zentraler Aspekt der Selbsterkenntnis die Quantifizierung ist, wobei es in aller Regel um die digitale Selbstvermessung körperlicher Zustände, Merkmale und Vorgänge geht. Die zahlenbasierte Darstellung sozialer Praktiken findet sich heute nicht nur im Bereich der Ernährung, sondern quasi in allen Lebensbereichen (vgl. Heintz 2008), wobei sich die Quantifizierung als allgemeines soziologisches Phänomen mit spezifischen Implikationen verstehen lässt (vgl. Espeland/Stevens 2008). Die Transformation von Ernährung(spraktiken) in Zahlen kann dabei in zweierlei Hinsicht erfolgen: Auf der einen Seite ist die quantifizierte Beschreibung der konsumierten Nahrungsmittel in Nähr- und Brennwerten, Grammangaben, Anteilen spezifischer Inhaltsstoffe, Tagesbedarf, Geschmacksbewertungen und Kosten möglich. Auf der anderen Seite kann eine ernährungsbezogene Quantifizierung des Körpersbeispielsweise durch Gewichtsangaben, Kalorienaufnahme, BMI, Körperumfang und Leistungsfähigkeit erfolgen. Die Technologien des DietTrackings übernehmen mit dem (automatisierten) Erfassen, Systematisieren, Bewerten und Einordnen dieses quantifizierten In- und Outputs weite Teile der entsprechenden (Transformations)Arbeit. Zugleich wird durch eine Fokussierung auf die Kalorienaufnahme, wie sie die Apps für Diet-Tracking nahelegen, nur noch das Messbare – hier die Energiezufuhr – beachtet, während andere Aspekte wie beispielsweise die Ausgewogenheit der Ernährung, der Geschmack usw. aus dem Blick geraten.1 Dabei legt die Fokussierung jedweden quantifizierten Merkmals Bewertungspraktiken (vgl. Lamont 2012) und Vergleichsprozesse (vgl. Heintz 2008) nahe, was sich im Ernährungsbereich wiederum anschaulich am Beispiel der Kalorie zeigen lässt. Die Kalorie macht sowohl Ernährung als auch körperliche Bewegung mess-, plan- und vergleichbar. So ist der Vergleich beispielsweise von Diäten bzw. Diäterfolgen mittels quantifizierter Kommunikation (bspw. tägliche Kalorienzufuhr, Gewichtsreduktion in Kilogramm) problemlos möglich. Dabei stützen numerische Angaben zu Gewichtsverlauf, Kalorienaufnahme oder verbrauch den Austausch über den eigenen Körper, da »[i]m Vergleich zur Alltagssprache […] die numerische Sprache eine praktisch universelle Sprache – eine Art ›lingua franca‹ –, die es in nur einer Variante gibt« (Heintz 2010: 173) ist. Das ist umso bemerkenswerter, als dass das Sprechen über den 1 | Dabei lässt sich auch Letzteres – der Geschmack des Essens – in eine Rangordnung bringen: Sei es, dass Restaurantführer wie der Guide Michelin Sterne oder wie der Gault Millau Punkte und Hauben verleihen oder dass auf kulinarischen Internetplattformen wie Chefkoch.de die User Kochrezepte und Produkte bewerten können. Stets wird versucht über professionalisiertes Expertenwissen oder die unterstellte Alltagsexpertise der Schwarmintelligenz eine abgestufte, abzählbare Ordnung in die Welt des Geschmacks zu bringen (vgl. Kofahl 2014).
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eigenen Körper an sich mit dem Problem der »Sprachlosigkeit des Körpers« (Gugutzer 2013b) konfrontiert ist. Diese Sprachlosigkeit, so Gugutzer (2013b: 10ff.), entsteht durch mangelnde sprachliche Ausdrucksmittel zu Körperphänomenen, die gleichzeitige Notwendigkeit der Verbalisierung bzw. Übersetzung körperlicher Zustände in ›Texte‹ sowie eine fehlende Distanz zum eigenen Körper. Durch die zahlenmäßige Abbildung von Körpermerkmalen, wie Nährstoffzufuhr und Energieverbrauch – und beides findet überwiegend zunächst einmal als Kalorienzählen statt –, wird in gewisser Weise diese Sprachlosigkeit reduziert, da quantifizierte Informationen »auch ohne Hintergrundwissen und in unterschiedlichen Kontexten kommunikativ anschlussfähig« (Heintz 2010: 173) sind. Gleichzeitig erzeugt die Quantifizierung von Körpermerkmalen potentiell einen maximalen Grad an Distanziertheit zum eigenen Körper, wie das folgende Beispiel veranschaulichen soll. So hat eine von uns auf der Quantified Self Conference Europe 2013 im Rahmen explorativer Interviews (vgl. Zillien et al. 2014 sowie Zillien/Fröhlich 2015) befragte Selbstvermesserin zur Reduktion ihres Körpergewichtes eine Software genutzt, die auf Basis quantifizierter Körpermerkmale 3-D-Matrizenabbildungen ihres Körpers liefert. Sie schildert in diesem Zusammenhang anschaulich, wie mittels einer auf Zahlenmaterial basierenden visuellen Repräsentation eine distanzierte Haltung zum Körper entstehen kann: »I found it useful that there was a 3-D-version of me, that I couldn’t argue with. It was like: Okay this is how it is [….] hard metrics.« Die zahlenbasierte 3-D-Abbildung wird als »3-D-version of me« bezeichnet, die sich aufgrund der zahlenmäßigen und solcherart verobjektivierten Darstellung nicht wegdiskutieren lässt. So wird quantifizierten Aussagen generell aus verschiedenen Gründen eine höhere Überzeugungskraft zugesprochen (vgl. Espeland/Stevens 2008: 416). Es wird angenommen, dass gegenüber numerischen Repräsentationen eine geringere Negationsfähigkeit existiert, die auf die »Objektivitätssuggestion von Zahlen« (Heintz 2008: 117) zurückgeht. Durch die digitale Selbstvermessung wird der eigene Körper somit noch stärker als Ding, als Zahlenkörper wahrgenommen, den es entlang seiner quantifizierten Abbildung zu gestalten gilt, was wir mit dem Begriff der Vergegenständlichung bzw. Objektivierung belegt haben. Der entsprechende Versuch von Körpergestaltung – so unsere Annahme – erfolgt dabei wissenschaftsfundiert, sprich im Rückgriff auf wissenschaftliches und technologisches Wissen. Demnach führt die »Verwissenschaftlichung der Ernährung« (Endres 2012: 50) zu einer Verstärkung von Aufmerksamkeit gegenüber der Kontingenz und damit einhergehenden Wahlmöglichkeit in Bezug auf das eigene Ernährungshandeln, was eine zunehmende Expertisierung auf Laienseite erahnen lässt: »Man übt bewusst ›Langsicht‹, schätzt die Angemessenheit des eigenen Verhaltens ab, reflektiert Vor- und Nachteile, indem man beispielsweise überlegt, in welcher Weise das aktuelle Hungerbedürfnis gestillt werden kann, soll oder muss: kalorien-, fett-, kohlehydratarm, mit Fast- oder Slowfood, leichter oder schwerer Kost?« (Gugutzer 2013b: 56). Dabei unterstreicht die mediale Omnipräsenz heterogener wissenschaftlicher und pseudowissenschaftlicher
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Ernährungstipps die Fragilität und Konflikthaftigkeit des (ernährungs)wissenschaftlichen Wissens, was hier ein Auszug aus einer englischsprachigen Quantified-Self-Gruppe auf Facebook verdeutlichen soll. So wird eine Diskussion mit einem Verweis auf konfligierendes (Experten-)Wissen zu Diäten eröffnet und um Ratschläge hinsichtlich einer individuellen Diäterstellung gebeten. »So epically confused about diet. Everything I read is contradictory on epic proportions. About the only consistencies are low-sugar raw veggies and water. How in the world is a girl to sort it out, other than try everything and see what works for me? And I hesitate to even ask, as diet has become as controversial as religion and politics – but wouldn’t you think that all of this would be easily testable and provable, in a way that religion and political opinions are not? People are different, but shouldn’t it be possible to come up with a system that takes inputs of body stats and genetic history, and outputs a general reasonable diet to follow? Any insight on getting clarity here?« (Auszug aus Quantified-Self-Gruppe auf Facebook)
Von den Antwortenden wird auf spezifische Experten, auf Bücher und bestimmte Diätformen sowie auf die Selbstvermessung verwiesen: »Keep a health journal. Record what you eat, how much you sleep, exercise and how you feel. Make changes – try two weeks of excluding certain foods/groups of foods. Observe… Everyone is different. Some people tolerate dairy, for others it’s wheat or other grains. You have to find out for yourself what works.« Nachdem der Ratsuchenden der Tipp gegeben wurde, – unter je veränderten Bedingungen – Ernährungsverhalten, Schlaf, körperliche Bewegung und Wohlbefinden zu tracken und die Ergebnisse zu analysieren, wird auf die Einzigartigkeit der Menschen verwiesen, die sich auch in unterschiedlichen Erfolgen spezifischer Diätansätze niederschlägt. Man müsse demnach individuell herausfinden, was sich für den eigenen Körper als funktionierende Diät erweist. Vor diesem Hintergrund erweist sich das wissenschaftliche Ernährungswissen als fragil und konfligierend, woraus sich ein vermehrter Beratungsbedarf ergibt, der zunehmend – auch durch die Möglichkeiten des Social Web – durch das Erfahrungswissen anderer ›Betroffener‹ befriedigt wird. So wie etwa in der Internetcommunity der App My Fitness Pal2, auf der ebensolche Problemstellungen diskutiert werden. Hier werden zum Beispiel Mitglieder der Community in einem dort veröffentlichten »guide to get you started on your path to Sexypants« ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Zweifel an klassischen, überindividuell standardisierten Diätenplänen angebracht ist und Selbstbeobachtung sowie Selbstexpertisierung für ein erfolgreiches Diät- und Köpermanagement nahezu unumgänglich sind: »There is no perfect program and you should stop looking for it. You should instead look at ways to make your diet and your training as enjoyable as possible while still meeting 2 | http://community.myfitnesspal.de/
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Nicole Zillien, Gerrit Fröhlich & Daniel Kofahl your goals in a time-frame that’s reasonable to you. Eat foods you enjoy while hitting your calorie and nutrient targets. Structure your meal timing and frequency to best match performance and preferences. Enjoy eating calories at night? Then do it. Prefer white rice over brown? Then eat it. Want ice cream? Then find a way to have some ice cream while hitting those nutrient targets.« (SideSteel 2013)
Die Selbstexpertisierung der Diet Tracker führt dann zu einem kaleidoskopartigen Wissen, von dem wir annehmen, dass es im Zuge der Selbstvermessung experimentell generiertes Wissen zum eigenen Körper, allgemeines ernährungswissenschaftliches Wissen, erfahrungsbasiertes Wissen (vom Körper) und Methodenwissen umfasst. Dabei erlaubt die Selbstvermessung mithilfe digitaler Angebote die Selbstexpertisierung in Hinblick auf eine Vielzahl individueller Variablen und Werte, wie bei folgender Nutzerin, die Herzfrequenz, Laufgeschwindigkeit und Laufdistanz sowie Schlaf, Kalorien, Fette, Proteine, Kohlehydrate und Gewicht mittels Smartphone-Apps wie My Fitness Pal und Runkeeper trackt: »I am doing self-tracking. Right now I am using a fitbit and a garmin fr70 heart rate monitor, as well as apps like myfitnesspal (obviously) and runkeeper. I am experimenting with mood trackers as well, though I haven’t found one I like. By the end of the year I hope to begin with biometrics, like what is provided through 23andMe or Inside tracker. PH measurers sound intriguing as well. I am tracking running pace, distance, sleep, calories, fat/protein/ carbs, and weight. Over time, I want to be able to analyze what dietary needs I have – does particular food make me more likely to feel a certain way, or slow me down etc. What is the effect of sleep, wakings etc. and other health indicators particularly activity and diet. Once I have tracked enough for long enough, I hope to have data such that I can identify slight health changes, determine if they were triggered by any obvious changes in my diet, sleep, or other metrics.« (kristin8881 2013)
Die Diskussionen der Selbstvermesser umfassen dabei häufig auch die Art und Weise der Selbstvermessung sowie das Methodenwissen rund um die gewonnenen Erkenntnisse. Dieses wird insbesondere auf lokalen Treffen organisierter Selbstvermesser relevant, welche explizit dem Austausch und der Weiterentwicklung der Methoden und Techniken der Selbstvermessung dienen.
5. F a zit : V om D ie t-Tr acking zur digitalen D iäte tik Die digitale Selbstvermessung – so unsere Annahme – lässt sich zumindest zum Teil mit den Prozessen der Quantifizierung, Objektivierung und Expertisierung umreißen und in ihrer versierten Variante als reflexive Selbstverwissenschaftlichung umschreiben. Die digitale Selbstvermessung der Ernährung ist dabei als Grundlage einer wissenschaftsbasierten Körpergestaltung anzusehen, welche – in einer reflexiven Schlaufe – jeweils wiederum einer wissenschaftlichen Ana-
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lyse unterzogen wird. Laien erklären dann im Zuge versierten Diet-Trackings sich selbst und ihren Alltag zum Forschungsgegenstand und bilden im Zuge dieser reflexiven Selbstverwissenschaftlichung zugleich erfahrungsgesättigtes als auch wissenschaftsfundiertes Wissen aus. Selten bezieht sich die digitale Selbstvermessung jedoch nur auf einen Faktor. So berücksichtigen Diet-Tracking Apps neben der Ernährung üblicherweise wenigstens Art und Ausmaß der körperlichen Bewegung, teilweise aber auch das Schlafverhalten oder Umweltfaktoren. Dabei lassen sich all diese Faktoren durch die den Selbstvermessungstechnologien implizite Quantifizierung miteinander ins Verhältnis setzen. Dass die Korrelation diverser Elemente der Lebensführung ein explizites Ziel ambitionierter Selbstvermesser ist, lässt sich am Beispiel von Larry Smarr, einem Physiker der University of California, veranschaulichen, den The Atlantic (Bowden 2012) unter dem Titel »The Measured Man« als Prototypen eines versierten Selbstvermessers bekannt machte. Smarr kann als Wiedergänger von Santorio Santorio charakterisiert werden, der nun mit stärker wissenschaftsfundierten und digitalen Mitteln seine Nahrungsaufnahme vermisst: »He charted each serving of food in grams or teaspoons, and broke it down into these categories: protein, carbohydrates, fat, sodium, sugar, and fiber. […] He is deep into the biochemistry of his feces, keeping detailed charts of their microbial contents.« (Bowden 2012) Jenseits dieser auf die Ernährung fokussierten Selbstvermessung verortet Smarr das Diet-Tracking in einem weiteren Rahmen, vermisst durchgehend Schlaf, körperliche Bewegung, Blutwerte und vieles mehr: »When Socrates exhorted his followers, ›Know thyself‹, he could not have imagined an acolyte so avid, or so literal, as Larry.« (Bowden 2012) Die Technologien zum Self-Tracking stellen demnach digitale Instrumente zur diätetischen Vermessung dar. Ausgehend von einer Quantifizierung körperlicher, emotionaler, verhaltens- und umweltbezogener Individualmerkmale erlaubt die Selbstvermessung eine wissenschaftsfundierte Beobachtung des eigenen Alltags und lässt sich somit als digitale Kontrolle einer diätetischen Lebensführung verstehen.
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»Der vermessene Mann?« Vergeschlechtlichungsprozesse in und durch Praktiken der Selbstvermessung Corinna Schmechel »Der vermessene Mann« nennt Juli Zeh ihren viel zitierten Essay zum noch viel mehr rezipierten Phänomen des Quantified Self (QS), also der Bewegung des digitalen Selbstvermessens (Zeh 2012). Sie bezeichnet es darin als »eine Art männliche Magersucht«. Wie (un-)zutreffend diese Analogie ist, ist fraglich. Erst einmal aber bleibt festzuhalten, dass Zeh damit eine Binsenweisheit des wissenschaftlichen wie populären Diskurses zu QS und Praktiken des Self-Trackings bedient: Die Partizipierenden der QS-Bewegung sind zu einem Großteil männlichen Geschlechts. Dieser Fakt wird inner- wie außerhalb der Bewegung selbst durchaus diskutiert. Als Begründung für die männliche Dominanz der QS-Szene wird oftmals die größere Verbreitung von Technik-Affinität unter Männern genannt. Als weitere Argumente gelten der Reiz an der für Männer als neu gesehenen Erfahrung der Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper oder aber das in der männlichen Sozialisation angelegte Verdrängen desselben durch seine technikbasierte Verobjektivierung. Damit verbleiben bisherige Betrachtungen zu Gender in der QSBewegung auf der Ebene aktueller Stereotypisierungen, als deren Effekt die als binär gegendert beschriebenen Partizipationskulturen analysiert werden. In diesem Beitrag sollen diese Überlegungen zu Geschlechterverhältnissen in der QS-Bewegung um eine historisierende und Interdependenzen einbeziehende Perspektive ergänzt werden. Geschlecht wird hierin als ein Produkt sozialer Konstruktionsprozesse verstanden, und damit auch als durch körperbezogene Selbsttechnologien – wie eben auch das Vermessen des Körpers und seiner Phänomene – produziert. Dabei unterliegen die geschlechtlichen Konnotierungen solcher Praktiken historischen und kontextuellen Spezifika und Wandlungsprozessen. Eine solche Transformation ist im Phänomen QS beobachtbar, wie mit einer verdeutlichenden Fokussierung auf die Tracking-Objekte der Gewichtskontrolle herausgearbeitet werden soll. So war und ist das im QS verbreitete akribische Kontrollieren
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des eigenen Gewichtes, der aufgenommenen und verbrauchten Nahrungsmenge und ähnlicher Faktoren – gemeinhin als Diäthalten bezeichnet – lange Zeit eine weibliche Domäne gewesen. Doch das wandelt sich nicht nur im aktuellen Kontext digitaler technikbasierter Eigenkörper-Überwachungskultur. Tatsächlich war das Diäten auch historisch betrachtet einst ein Symbol maskulinisierter SelbstKontrolle, Rationalität und Entbehrungsfähigkeit. Gleichsam dient und diente die körperbezogene Selbstregierung stets auch dazu, gesellschaftliche und ökonomische und keineswegs nur vergeschlechtlichte Privilegien zu demonstrieren. Unter der Annahme, dass auch hochaktuelle soziale Prozesse und Phänomene am besten zu verstehen sind, wenn sie in genealogischer Herangehensweise nach ihrer Herkunft befragt werden, soll QS daher im Folgenden mit der antiken Diätetik und dem bürgerlichen Hygiene-Diskurs der frühen Moderne verknüpft werden und damit sollen auch Brüche und Kontinuitäten des sich-selbst-beobachtenden Subjekts, vor allem unter der Fragestellung nach dessen geschlechtlicher Subjektivation, aufgezeigt werden. Dabei aber ist zu betonen, dass Geschlecht nicht als isolierter Faktor verstanden wird, sondern hier vor allem mit Blick auf seine Verwobenheit mit Klassenverhältnissen analysiert werden soll, um so die Subjekte der aktuellen QS-Kultur in ihrem konkret-historischen Kontext genealogisch verorten zu können. Hierfür schlage ich eine Einordnung in die Theorie der »ethopolitics« nach Nikolas Rose (2001) vor.
1. H istorische B ezüge 1.1 »[…] lauter Dinge, die gemessen sein müssen« – Selbstvermessung in der antiken Diätetik Das Phänomen Self-Tracking ist einerseits spezifisch aktuell und andererseits alles andere als neu. Tatsächlich ist Self-Tracking als eine Technologie des Selbst im Foucault’schen Sinne zu verstehen, also als »[…] gewusste und gewollte Praktik(en) […], mit denen die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht« (Foucault 2012b:18f.),
welche nach Foucault in der griechischen Antike zu finden sind. Die dortige Sexualmoral betrachtet er als »eines der ersten Kapitel […] dieser allgemeinen Geschichte der ›Selbsttechniken‹« (Foucault 2012b: 19). Doch geht es bei den infrage stehenden Praktiken um den richtigen »Gebrauch der Lüste« und somit nicht nur um die sexuellen, sondern um sämtliche leiblichen Genüsse. S. Margot Finn beispielsweise arbeitet in ihrem Aufsatz »Alimentary Ethics in the History of Sexuality and NBC’s The Biggest Loser« heraus, dass »Alimentary
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Ethics«, also moralisch konnotierte Vorstellungen über den ›richtigen‹ Umgang mit Essen und Trinken, schon seit Beginn der Emergenz des »desiring subject« als Ausgangspunkt moderner Subjektivität einen elementaren Teil der »morals of the use of pleasure« ausmachten (Finn 2009: 355). Sie kritisiert Michel Foucault sowie nachfolgende an ihm orientierte Autorinnen und Autoren wegen der Fixierung auf die Rolle der Sexualität – bzw. wegen der Fokussierung auf das, was im Laufe der Geschichte des »Gebrauchs der Lüste« nach Foucault zur Sexualität wird – für moderne Identität und soziale Ordnung.1 Wenn Foucault die Sexualität am Schnittpunkt zwischen Privat- und Gesellschaftskörper sieht, dann wäre mit Finn hinzuzufügen, dass an diesem Schnittpunkt auch die »Alimentary Ethics« und damit unter anderem Konzepte wie Fettleibigkeit und Völlerei sowie ›gesunde Ernährung‹ entstehen. Sie betont: »Self-restraint was recommended against the immoderate use of all the pleasures of the body including not only sexual relations but also the consumption of food and drink« (ebd.: 354), und sieht das moderne »ethical self as a product of eating and drinking« (ebd.: 355). Tatsächlich umfassen die Aspekte der antiken Diätetik ziemlich genau die Bereiche, die heute Objekt der meisten Self-Tracking-Aktivitäten sind: »die Übungen, die Speisen, die Getränke, den Schlaf, die sexuellen Beziehungen.« (Foucault 2012b: 131) Foucault fasst in seiner Analyse der antiken Diätetik die Essenz derselben zusammen als »lauter Dinge, die ›gemessen‹ sein müssen« (Foucault 2012b: 132), und führt aus, wie das Wesen der Diät seit jeher darin besteht, ein reflexives Verhältnis zum Selbst zu entwickeln und dieses Selbst zu messen und zu überwachen: »Die ganze Zeit über und für alle Tätigkeiten des Mannes problematisiert die Diät das Verhältnis zum Körper und entwickelt eine Lebensweise, deren Formen, Entscheidungen, Variablen von der Sorge um den Körper bestimmt sind.« (Foucault 2012b: 132)
In diesem Sinne stellen Techniken der QS-Bewegung lediglich eine dem Stand der Technik und politischen Dispositiven (als Stichworte seien hier Biopolitik und Gouvernementalität genannt) entsprechende Form der Technologien des um sich sorgenden Selbst dar. Das Selbst, welches sich im Rahmen der antiken Ethik der Selbstkontrolle überwachte, war eindeutig und ausschließlich ein männliches, wohlgemerkt: ein 1 | U.a. kritisiert auch Wolfgang Detel die Hervorhebung der sexuellen Lüste in Foucaults Analyse der antiken Ethik (Detel 1998: 140). In eine ähnliche Richtung weist Elsbeth Probyns Essay »Beyond Food/Sex: Eating and an Ethics of Existence« (2005), in welchem sie grundsätzlich die Trennung zwischen sexuellen und kulinarischen Lüsten kritisiert und das Ineinanderfallen dieser beiden darstellt. Vor allem verdienen aber auch Hinweise Foucaults selbst Beachtung, in welchen er ausführt: »Das Problem der Nahrungsmittel […] ist für die diätische Reflexion viel bedeutsamer als die sexuelle Aktivität.« (2012b: 147ff.) Dennoch konzentriert sich der Blick Foucaults in diesem und seinen weiteren Werken auf Letztere.
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freies männliches, also ein mit Privilegien und Ressourcen ausgestattetes Subjekt. Frauen, Sklavinnen und Sklaven und armen Menschen stand die Subjektivierung über eine ästhetisch motivierte körperbezogene Selbstführung nicht zur Verfügung2 . Dementsprechend diente diese Praxis auch dazu, den eigenen sozialen Status zu (re-)produzieren (vgl. Foucault 2012: 33; Voß 2011, Kap. I). Das Ausüben der körperbezogenen Selbsttechnologien war ein Privileg, welches durch die Ausübung gleichzeitig performativ demonstriert wurde. Inwiefern hier eine Analogie zur heutigen Self-Tracking-Praxis gezogen werden kann, wird später ausgeführt.
1.2 Der Körper als Maschine: numerische Selbsterkenntnis der Frühmoderne Zunächst aber soll ein weiterer Vorläufer der QS-Bewegung betrachtet werden: der bürgerliche Hygiene-Diskurs der frühen Moderne, welcher tiefgreifend vom Historiker Philip Sarasin in seinem Werk Reizbare Maschinen (2001) analysiert wurde. Das Wort Hygiene darf dabei nicht wie heute auf Sauberkeitsstandards reduziert werden, sondern umfasst in seiner ursprünglichen Bedeutung die Inhalte der antiken Diätetik, die explizit als Referenzrahmen dienen, wie Sarasin herausstellt: »Die moderne Hygiene, die sich seit der Aufklärung auf die antike Medizin bezog, war ein Wissen, das das Verhältnis des Menschen zu den materiellen Bedingungen seiner physischen Existenz beschrieb und das Individuen und gesellschaftliche Handlungsträger dazu anleitete, diese Bedingungen zu regulieren.« (Sarasin 2001: 17)
Die Vorstellung, die sich heute innerhalb der QS-Bewegung unter dem Leitgedanken »Self knowledge through numbers« und im Konzept des Selbstexperiments zeigt, findet sich auch schon in einem Diätetik-Handbuch von 1811, welches Sarasin wie folgt zitiert: »[…] schließt man auf einen bestimmten Causalzusammenhang zwischen den Reizen und der Gesundheit und prüft die Wahrheit des gefundenen Satzes noch durch absichtlich angestellte Versuche, erlangt man diätetische Kenntnisse.« (Sarasin 2001: 249) Ziel der Versuche war es auch hier, den eigenen Gesundheitszustand und Bau des Körpers zu bestimmen. Das SelfTracking (auch wenn es damals noch nicht so hieß) diente auch dazu, den immanenten Selbstwiderspruch der Aufklärung zu lösen. Diesen sieht Sarasin darin, einerseits nach Kant »das Buch abzulehnen, das für mich Verstand hat« (ebd.), und anderseits aber auch auf (z.B. hygienisches) Wissen angewiesen zu sein, um der gewünschten Mündigkeit möglichst nahezukommen. Lösbar oder zumindest 2 | Auch Frauen und nicht freie männliche Subjekte sollten natürlich tugendhaft leben, doch wurde ihre Tugendhaftigkeit stets in Abhängigkeit ihres männlichen Vorstandes, d.h. als Resultat von dessen Führungsfähigkeiten gesehen und war so Teil seiner Tugendhaftigkeit (vgl. Foucault 2012b: 111).
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reduzierbar wird dieser Widerspruch eben dadurch, dass das Wissen individualisiert wird, sowohl in seiner Gewinnung als auch in seinem Geltungsbereich. Der Mensch verschafft sich selbst das Wissen über seinen individuellen Körper und wird dadurch unabhängig von Expertinnen und Experten und Autoritäten und deren verallgemeinerten Ansichten – ein zentrales Argument der heutigen QS-Bewegung. Darüber hinaus markiert diese Entwicklung den von Nikolas Rose (2001: 17ff.) als Transformation der Biopolitik zur »ethopolitics« beschriebenen Wandel des somatischen Individuums vom Objekt staatlicher Biopolitik zum Akteur ebendieser. Mit dem Begriff Ethopolitics versucht Rose deutlich zu machen, dass die Selbst-Regierung der eigenen Gesundheit nicht auf einer souveränen Befehls- und Gesetzesstruktur beruht, sondern auf ethisch motivierten Selbsttechnologien. Die mündigen Bürger/-innen moderner Gesellschaften werden dazu motiviert, sich trotz großer Freiheit im Bereich der Ernährungs- und Lebensgewohnheiten für eine als gesund betrachtete zu entscheiden, nicht aus gesetzlichen Zwängen heraus, sondern um ›gut‹ zu sein und sich ebenso zu fühlen. Die Sorge um den eigenen Körper wird im 19. Jahrhundert zum wesentlichen Charakterzug des bürgerlichen Subjekts. Der Hygienediskurs stellte eine »gesellschaftliche Agentur« dar, die die Normalisierungsanstrengungen der Medizin und anderer neuer Wissenschaften vom Menschen in die Alltagswelt der Individuen übersetzte und einführte und die Lebensführung einer spezifischen Rationalität unterwarf, die sich unmittelbar in die Systemanforderungen kapitalistischer Rationalisierung einfügte (ebd.). An diesem historischen Punkt verbinden sich die modernen Naturwissenschaften des Menschen und seines Körpers mit dem Kapitalismus als Funktionssystem. Daraus entwickelte sich ein Verständnis des Körpers als Maschine (vgl. Sarasin 2001: 75ff.), Besitz und ökonomischer Faktor mit der Folge, dass seine Arbeitsfähigkeit organisiert und garantiert werden musste. In bürgerlichen Kreisen wurde dies nicht (nur) durch strenge disziplinarisch juridische Machtausübung, sondern auch durch die Selbststeuerung der Subjekte im Rahmen ihrer eigenen Identitätsproduktion erreicht: »Dieses ist mit der dauernden, regelmäßigen Observierung seines Körpers beschäftigt; die Verantwortung, die es für sich hat, erstreckt sich nicht länger nur auf die Reinheit der Seele, die Lauterkeit seiner Absichten oder die Treue seiner Pflichterfüllung, sondern auch auf sein physisches Wohlergehen.« (Sarasin 2001: 22)
Anschauliche Beispiele für die Verwissenschaftlichung und Verdatung der Lebensführung (speziell der Ernährung) liefert auch der 1918 veröffentlichte Diätratgeber von Lulu Hunt Peters, der als Vorreiter moderner Diätratgeber gesehen wird, da in ihm erstmals die Methode des Kalorienzählens vorgestellt wird:
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Corinna Schmechel »Sie werden also nach Kalorien essen. Anstatt zu sagen, eine Scheibe Brot oder ein Stück Kuchen, werden Sie sagen 100 Kalorien Brot, 350 Kalorien Kuchen.« (Hunt Peters 1918, zit.n. Bray 2005: 127)
Als Ausdruck und Werkzeug dieser Entwicklung kann generell die Etablierung des Wiegens als Alltagspraxis angesehen werden. Personenwaagen wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu normalen Gebrauchsgegenständen in Arztpraxen und Privathaushalten sowie in öffentlichen Einrichtungen wie Schwimmbädern und Bahnhöfen. Die Verbreitung der Waage als Instrument ging einher mit vielfach publizierten Anweisungen der Nutzung. Tabellen und Formeln zum Ideal- und Normalgewicht wurden verbreitet und mit der Forderung verknüpft: »Täglich wiegen zur selben Zeit im selben Kleid!« (Merta 2003: 307ff., Abb. 49) Dieser Slogan könnte heute auch Titel eines Self-Tracking-Experiments sein. Die sich in diesem Kontext entwickelnden Ernährungswissenschaften sind ein höchst ambivalentes Feld. Einerseits eröffneten sie den Menschen vermehrte Selbstbestimmung über den eigenen Körper und waren eines der ersten wissenschaftlichen und beruflichen Felder, das von Frauen dominiert wurde. Andererseits geht die neue Freiheit stets mit neuen Zwängen einher und schafft mit der Verwissenschaftlichung von Körper und Ernährung weit diffizilere und tiefgreifendere Normen und Verantwortlichkeiten, die ihre Legitimation und Wirkmacht gerade aus der Positionierung dieses Wissens als Wissenschaft und Wahrheit beziehen (vgl. Junge 2007: 172). Wie Abigail Bray beschreibt, entwickelt dies eine Wirkmacht bis tief in die Alltagspraxen hinein: »The private sphere of the kitchen/dining room was transformed into a quasi-chemical laboratory, where middle-class women juggled with various kinds of scientifically coded food or fuel in order to produce meals which would ensure the normalisation of their familiesʼ body weight and health.« (Bray 2005: 127) 3
Dieses Zitat leitet uns wieder auf die zentrale Thematik der Betrachtung zurück. Denn Bray beschreibt, dass es nun Frauen sind, welche von diätetischen Anrufungen adressiert werden (und das nicht nur in der Mittelklasse, wenn auch vor allem hier die Möglichkeit und das Bedürfnis bestanden, diätetische Vorgaben zu beachten).
3 | Als aktuelles Beispiel bezieht Bray (2005: 128) sich auch auf Mineralwasserflaschen, auf denen heute angegeben wird, dass das Wasser null Kalorien enthält: »The impact of the seemingly innocent and trivial calorie, for example, recodifies consumption and body weight to the extent that every single calorie is calculated in the act of consumption just as every single pound lost or gained is measured.«
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1.3 Die Feminisierung von Diät und körperbezogener Selbstüber wachung Denn sowohl der Körper selbst als auch der Umgang mit ihm dienten der neuen bürgerlichen Identität zur Differenzierung des bourgeoisen von adligen und proletarischen Körpern (vgl. Alkemeyer 2007: 7ff.), der europäischen weißen von »wilden« Schwarzen 4 Körpern und der Konstruktion einer auch körperlichen Geschlechterordnung und moral, die auch eine Distinktionstechnik gegenüber anderen Schichten, Klassen und »Ethnien« darstellte (vgl. Sarasin 2001: 194).5 Die Entwicklung moderner Vorstellungen von binären Geschlechtscharakteren äußerte sich dabei auch in einer geschlechtlich segregierten Moral zur körperlichen Selbstregierung, ganz besonders in Bezug auf die Kontrolle des Körpergewichts. Das heißt nicht, dass sich männliche Subjektivierung nicht ebenso über körperliche Selbsttechniken vollzog, doch wurde die Bedeutung der Körperlichkeit für die eigene Identität für weibliche Subjekte als ungleich wichtiger betrachtet, da ihr Körper das einzige war, worüber sie sich definieren konnten und mussten. Die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung, die die Führung des Haushaltes und damit die Gestaltung der Ernährung für die gesamte Familie beinhaltete, übertrug ihnen auch die Verantwortung für die Körper ihrer Kinder und Ehemänner. Ein wichtiger Wandel, der mit der Transformation der Vergeschlechtlichung des Diätens einhergeht, ist der, dass aus der freiwilligen ästhetischen Handlung der antiken Diätetik – die quasi der Verzierung eines generell schon tugendhaften und privilegierten Selbst diente – eine Selbsttechnologie wurde, die sich eher aus Begriffen der Gefahr, der Notwendigkeit und als Zwang aufgrund eines stets als mindestens latent mangelhaft konstruierten Körpers formuliert. (Bürgerliche) Frauen dürfen nicht dick werden, sie müssen Diät halten, um auf dem Heiratsmarkt eine Chance zu haben (vgl. Bordo 2003: 192). Auch heute noch rekurriert der Diskurs um die richtige Körperregierung vor allem auf Konzepte der Bedrohung. Diesem Diskurs folgend, birgt jede falsche Handlung die Gefahr einer Gewichtszunahme. Die Motivation zur Beschäftigung mit dem eigenen Körper liegt heute primär in dem Gefühl, zu dick zu sein, oder der Angst, es zu werden und entsprechende soziale Sanktionen zu erleiden.6 Es muss in die Analyse dieses Ge4 | Ich verwende die kursive Schreibweise bei weiß und dick, um auf die soziale Konstruiertheit und inhaltliche Wandelbarkeit dieser Kategorien zu verweisen und ihren Status als deskriptive Adjektive in Zweifel zu ziehen. Bei der Bezeichnung Schwarz nutze ich zusätzlich die Großschreibung, um auf die Bedeutung des Begriffes als politische Identität zu verweisen. 5 | Die Geschlechterdichotomie und entsprechende Geschlechtscharaktere werden dabei einerseits als Zeichen der Zivilisation widersprüchlicherweise aber gleichsam als »natürlich« determiniert konstruiert. 6 | In einer Kolumne der populären Frauen-Zeitschrift Brigitte heißt es anschaulich: »Irgendwas ist ja immer: Entweder man ist gerade mal nicht zu dick und versucht, das zu
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schlechtswechsels des ›diätenden Subjekts‹ also die Tatsache einbezogen werden, dass Frauen zwar seit der Aufklärung zunehmend formal gleichberechtigt waren, tatsächlich aber wenig Zugang zu Macht, Entscheidungspositionen und Ressourcen hatten. Ihr eigener Körper blieb für sie daher weiterhin das einzige Feld tatsächlicher Machtausübung und er wurde durch den Anspruch der Emanzipation zunehmend als solches bedeutsam. So lässt sich dann das Paradigma, nach dem Frauen per se ein Gewichtsproblem hätten und die permanente Arbeit an der schlanken Linie zum weiblichen Alltag gehörte, auch als eine Art Gegenbewegung gegen die zunehmenden Emanzipationsbestrebungen von Frauen lesen (vgl. Gesing 2006: 216). Während sie sich größeren Raum im politischen und sozial-kulturellen Feld und mehr und mehr Möglichkeiten zur freien Lebensgestaltung erkämpften, erstarkten die Normen, die den weiblichen Körper betreffen: Es wurden die Möglichkeiten, ›schön‹ zu sein, eingeschränkt und Frauen dazu angehalten, körperlich möglichst wenig raumeinnehmend zu sein (vgl. Bartky 1988: 35; Bordo 2003: 166; Gesing 2006: 212).
2. E xkurs : D ie R egel beherrschen . D er M enstruationsk alender als V orl äuferin des S elf -Tr ackings Ein weiteres Beispiel für die Vergeschlechtlichungen innerhalb des Hygienediskurses stellt der Menstruationskalender dar. Er kann als eines der ursprünglichsten Werkzeuge der Selbstvermessung betrachtet werden. Als Alltagsgegenstand in der heute bekannten Form etablierte er sich in Deutschland etwa in den 1920er Jahren, also im selben Zeitraum, in dem auch das Diäthalten und die Forderung »täglich wiegen zur selben Zeit« fest in der hegemonialen weiblichen Alltagsrealität verankert wurde. Wie Martina Schlünder in ihrem Essay »Die Herren der Regel/n. Gynäkologen und der Menstruationskalender als Regulierungsinstrument der weiblichen Natur« (2005) herausarbeitet, kam die Idee, die Monatsblutungen zu beobachten, zu protokollieren und ihnen einen festen Rhythmus einzuschreiben, nicht von den Menstruierenden selbst, sondern von der erstarkenden Disziplin der Gynäkologie, in der zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausschließlich Männer tätig waren. Die Menstruation erwies sich aus damaliger Perspektive als eines der Refugien, die sich dem rationalen wissenschaftlichen Verständnis entzogen und in gewisser Weise ein Sinnbild für die Assoziationen von Unberechenbarkeit, Unregelmäßigkeit und latenter Pathologie mit Weiblichkeit darstellten (vgl. Schlünder 2005: 158). Ähnlich heutigen QS-Selbstexperimenten (wenn auch unter deutlich misogyneren Parametern) wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts diverbleiben. Oder man ist gerade mal wieder zu dick und versucht, das nicht zu bleiben. […] Da haben wir also folgende Situation: Entweder Sie sind zu dick. Oder Sie sind nicht zu dick, halten sich aber für zu dick.« (von Kürthy: 2006)
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se Faktoren – von Gewicht und Stimmung über motorische Fähigkeiten und den Sexualtrieb – in Abhängigkeit zum Menstruationszyklus gemessen, mit dem Ziel, kausale Verknüpfungen zu erstellen. Von Self-Tracking kann zu Beginn dieser Teildisziplin der Gynäkologie noch nicht gesprochen werden, denn die Kalender wurden zuerst nur von den Ärzten auf Basis der Erinnerungen ihrer Patientinnen und Patienten geführt (vgl. ebd.: 166). In den 1930er Jahren erst transformierte sich das Führen eines Regelkalenders in eine Alltagspraxis der Menstruierenden selbst, da die Mediziner die Einsicht entwickelten, dass sie so zu valideren Ergebnissen kommen würden. Es handelte sich also um eine eindeutige Anweisung der Ärzte an ihre Patientinnen, mit dem Ziel »möglichst viele, am besten alle Frauen, dazu zu bringen, die Kalender selbst zu führen. Der Menstruationskalender war zum Transportmedium geworden, das den Wissensaustausch zwischen dem physiologischen Labor und dem Alltag von Frauen förderte« (ebd.: 176). Damit zeigt sich in dieser Praxis eine Ambivalenz, wie sie auch dem heutigen Self-Tracking innewohnt. Denn einerseits wurde die Aufforderung zur Selbstbeobachtung mit der besseren selbstbestimmten Planbarkeit von Schwangerschaften beworben und legitimiert. Die Frau könne »künftig die entscheidende Stimme im eigenen Fortpflanzungsprozess sein« (ebd.). Gleichzeitig wurde diese Selbstständigkeit disziplinarisch hervorgebracht, indem das Führen der Kalender von Ärztinnen und Ärzten und ggf. Turnlehrerinnen und Turnlehrern sowie Aufsehern und Aufseherinnen und ähnlichen Autoritäten überwacht wurde (vgl. ebd.:180). Zudem stand hinter dieser Anrufung zur Menstruationskontrolle weniger ein emanzipatorisches als vielmehr ein biopolitisches Anliegen. Die Verbreitung der eigenständigen Regelkalenderführung in den 1930er Jahren fällt nicht zufällig mit dem Erstarken eugenischer Ideen und Politiken zusammen. Tatsächlich sollte durch das so gewonnene »knowledge through numbers« über (un-)fruchtbare Tage die »bewusste Zeugung« von »politisch erwünschtem« Nachwuchs gefördert werden (ebd.). Schlünder spricht vom Taylor’schen »scientific management der Fortpflanzung« (ebd.: 181), in dessen Rahmen während des Krieges bei kalendarisch nachzuweisender hoher Fruchtbarkeit gezielt Feldurlaub für SS-Männer erteilt wurde (vgl. ebd.: 185). Ferner betont sie (und auch hier finden sich Parallelen zur heutigen Kontroverse um QS) die Transformation von Grenzen der Privatheit, wenn nun intime körperliche Vorgänge und selbst der Sexualverkehr in die Kalender eingetragen und wenn auch nicht online gepostet, so doch Ärzten und ggf. Behörden vorgelegt werden mussten. Die Verknüpfung der Selbstbeobachtung als Selbsttechnologie im Sinne von Michel Foucault mit einer Herrschaftsstrategie ist hier also aus heutiger Sicht eindeutig erkennbar. Die Selbstbeobachtung ist mithin also eine klar weibliche Technologie, denn nur der weibliche Körper muss überhaupt überwacht werden. Bestimmende Subjekte dieser Überwachungsaktion sind allerdings vorrangig männliche Ärzte und Politiker. Die Selbstbeobachtung körperlicher Phänomene wird nur sehr oberflächlich als Selbstermächtigung vermarktet und ist primär im Bereich der Pathologie und des Problematischen verhaftet. Und doch kann die Entwicklung der
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Menstruations(selbst)beobachtung als eine Vorläuferin der heutigen QS-Bewegung betrachtet werden, da beiden Praktiken grundsätzliche Elemente (Messen, Verdaten, Suchen nach Zusammenhängen mit anderen Vorgängen, Nutzbarmachen für die Lebensführung, Prinzip des »scientific management« des Körpers, Verwischung der Grenzen von Intimität und Öffentlichkeit, ambivalente Verortung zwischen Selbst- und Fremdführung) gemeinsam sind.
3. M ännlich verlieren : die M askulinisierung von D iätpr a xen Damit kommen wir zurück zum aktuellen Phänomen des Self-Trackings im QS und der Frage der Vergeschlechtlichung der hierin und hierdurch konstitutierten Subjekte. Die US-amerikanische Soziologin Withney Erin Boesel beginnt ihren Post »The missing trackers« mit einem Rätsel: »To begin, it’s both an organization and a group of people. It’s quite large; over a million people participate. They don’t all participate together, though; rather, they meet up regularly in much smaller groups, in cities all over the world. Participants are almost all doing some kind of self-tracking, which usually includes things about their bodies, their activities, what they eat, and sometimes how they feel. When the smaller groups get together, meetings include both presentations and time for participants to get advice from each other about their self-tracking projects.« (Boesel 2013)
Die Assoziation zu QS liegt nahe. Worüber Boesel aber schreibt, sind Weight Watchers, das weltweit wohl bekannteste Unternehmen und Konzept zur Gewichtreduktion, das bereits seit 1963 (in Deutschland seit 1970) besteht. »It would seem that Weight Watchers could make a good case for being ›the original self-tracking meetup group‹« (ebd.), resümiert sie. Ein spannender Unterschied zwischen QS und Weight Watchers (WW) ist jedoch, neben der Ähnlichkeit der thematischen Fixierung auf das Tracken des Körpergewichts und den damit verknüpften Faktoren, die geschlechtliche Konnotierung. »The typical Weight Watchers client is an upper-middle class women living in the suburbs.« (Leonard 2012) Dass Diäthalten und generell eine starke Überwachung und Kontrolle der eigenen Körpersilhouette eigentlich einen Widerspruch zur Performanz hegemonialer Männlichkeit bedeutet, darauf verweist die spezifische Werbung der Weight Watchers, in der unter dem vielsagenden Titel »lose like a man« respektive »Verlier wie ein Mann« mit dem US-amerikanischen Basketballspieler Charles Barkley bzw. dem deutschen Fußballer Oliver Kahn7 für die Gewichtsreduktion geworben wird. Die Tatsache, dass Männer überhaupt als Zielgruppe speziell adressiert werden, 7 | Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=l4a1kK9uS54
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betont die Besonderheit des Phänomens »diätender Mann« – eine diskursive Strategie, die sonst vorrangig von Phänomenen wie Frauenfußball oder boxen bekannt ist. Tradierte Männlichkeitskonstruktionen beinhalten ein großes Maß an Ignoranz gegenüber dem eigenen Körper. Das Image des starken, selbstbewussten und unabhängigen männlichen Subjektes beinhaltet(e) eine Unabhängigkeit von ästhetischen Urteilen, Furchtlosigkeit vor etwaigen Spätfolgen des eigenen (Gesundheits-)Verhaltens und den Verzicht auf ärztliche Ratschläge oder Hilfeleistungen (vgl. Scheele 2010). Nicht zuletzt kann dies mit der historisch tradierten »asymmetrischen Medikalisierung« der Geschlechter als Abgrenzung zur als genuin pathologisch konstruierten Weiblichkeit erklärt werden (ebd.: 64). Scheele stellt heraus, dass sich gerade ein Wandel im öffentlichen Diskurs um Gesundheits- und Körpernormen vollzieht: Männer werden vom unmarkierten Standard nun (auch) zum Objekt neuerer normativer Imperative von gesundheitsorientierter Selbstsorge, gemeinhin untrennbar verknüpft mit Normativen der Fitness und Schönheit. Dabei wäre es aber verkürzt, einfach davon zu sprechen, dass ›Schlankheitswahn‹ und ›Schönheitsterror‹ nun auch auf männliche Subjekte und Körper übergreifen, wie des Öfteren zu lesen ist. Mit dieser schlichten Ausweitungsthese werden die Transformation der Vergeschlechtlichung dieser Selbstführungspraktiken und die Spezifik der geschlechtlichen Körper-Selbstregierungsregime vernachlässigt. Denn die ›männliche‹ diätische Lebensweise ist diskursiv und auch praktisch durchaus sehr different zur ›weiblichen‹ Form eingebettet. Eine schlichte Übernahme feminisierter Praxen und Konzepte ließe sich schließlich nicht mit der essenziellen Unterscheidung von Männlichkeit und Weiblichkeit, welche eine beharrliche Konstante moderner Kultur ist, vereinbaren. Um den Graben zu tradierten Männlichkeitsperformances zu überbrücken, konstruiert die Weight Watchers-Kampagne im Gegensatz dazu eine explizit männliche Form des Diäthaltens und präsentiert Elemente der Weight Watchers-Diät, die eigentlich für alle Partizipierenden – also auch alle Frauen – gelten, hierin als spezifisch für Männer wichtige Aspekte. In einem Werbesport der US-amerikanischen WW beispielsweise stellt ein US-Offizier – nachdem er betont, dass er früher auch dachte, WW wäre nur was für »Ladies« – detailliert die digitalen WW-Elemente dar.8 Besonders die Verknüpfung mit moderner Technik und Gadgets der digitalen Selbstvermessung sowie die Zielgerichtetheit und Planbarkeit werden hervorgehoben (die Elemente der Gruppentreffen und anderer sozialer Austauschplattformen hingegen nicht). Ein Sub-Slogan der US-Kampagne lautet beispielsweise: »Be the man with the online plan!«9 So wird über Techniken des digitalen Self-Trackings, wie es in QS praktiziert wird, Männlichkeit produziert. Über die tradierte Verknüpfung von normativer Männlichkeit mit Technikaffinität wird das Kalorienzählen als Kalorien-Tracken zur männlichen Tätigkeit trans8 | Vgl. www.weightwatchers.com/men/ 9 | Ebd.
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formiert – ohne das von Gayle Rubin herausgearbeitete »sameness taboo« zu brechen, nach welchem Männer und Frauen niemals das Gleiche tun, sondern ihre Tätigkeiten stets geschlechtlich unterscheidbar sein müssen (Rubin 1997: 39).
4. »S elf -Tr acking tools are a › guy thing ‹.« 10 Statistiken über Äußerungen in Foren sowie Teilnahme und Präsentationen bei Treffen der Mitglieder der QS-Bewegung (Meetups) kommen auf einen Anteil von 70-90 % männlicher Beteiligung (Cornell 2010). Doch ein differenzierterer Blick auf die Nutzerinnen- und Nutzergruppe der entsprechenden Gadgets und Apps zur Vermessung des eigenen Körpers zeigen hier eine ausgeglichene, wenn nicht gar weiblich dominierte Verteilung. Florian Schumacher – Gründer von Quantified Self Deutschland – sagt dazu in einem Interview mit dem Schweizer Rundfunk und Fernsehen: »Je tiefer es in die Datenanalyse geht, desto mehr Männer sind dabei.« Unter den einfachen Nutzerinnen und Nutzern kommerzieller Angebote ist der Anteil der Frauen höher. Beim Fitbit-System zum Beispiel, das Schritte, Schlafphasen, Kalorienzufuhr und andere Kenndaten verarbeitet, »liegt er über 60 %.«11 Es zeichnet sich also ein Bild ab, nach dem Frauen zwar die Techniken und entsprechenden Produkte konsumieren und nutzen, sich aber nicht an den Praxen der kollektiven Auswertung und Weiterverarbeitung, des gegenseitigen Vergleichs und der Selbstdarstellung der QS-Bewegung beteiligen. Sie betreiben also Self-Tracking, partizipieren aber nicht an der entsprechenden Bewegung. Dies wird ebenso auf den hohen Grad der Technologisierung und Verwissenschaftlichung dieser Bewegung zurückgeführt. Auch von Frauen selbst werden in bewegungsinternen Foren die eigene Technikferne und ein mangelndes Selbstbewusstsein im Umgang mit »Wissenschaftlichkeit« und Technik als große Hürde angegeben. Ein Beispiel dafür ist folgender Post aus einer Online-Diskussion zum Thema auf einer QS-Seite: »Speaking as a woman, and not a young one, I can say that a lack of science education has kept me out of all kinds of discussion, reading and thinking in science. I’m a huge quantifying and tracking geek. I love spreadsheets, charts, and technological tools. I have an Android phone and I use it. When I discovered that there’s such a thing as self-quantifying (very recently), I was completely galvanized by it, and by all that it can do for me. But when I started an experiment on your Edison site, I immediately ran into problems with my internal dialog: do I really understand what an experiment is? Is my purely female experiment subject (tracking hot flashes) too girly for this place? Am I really able to apply some kindergarten version of the scientific method to my daily and personal concerns?…and so on.«12 10 | http://quantifiedself.com/2010/12/is-there-a-self-experimentation-gender-gap/. 11 | www.srf.ch/wissen/digital/quantified-self-gesunder-trend-oder-grosse-gefahr. 12 | http://quantifiedself.com/2010/12/is-there-a-self-experimentation-gender-gap/.
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Doch neben der klar formulierten Hürde der »lack of science education« möchte ich das Augenmerk auf die Frage legen: »Is my purely female experiment subject (tracking hot flashes) too girly for this place?« Mit Blick auf all die Dinge, die in QS-Foren getrackt, ausgewertet und diskutiert werden, entsteht der Eindruck, dass in der QS-Mentalität nahezu nichts zu banal ist, um als Beobachtungobjekt zu dienen. Gleichzeitig aber lebt auch hier der lange in Gesellschaft und (medizinischer) Wissenschaft tradierte Androzentrismus fort, der den unausgesprochen männlich gedachten Körper zur Norm setzt und Phänomene dann als außergewöhnlich und randständig betrachtet, wenn auf diesen nicht bezogen werden können. Dazu möchte ich exemplarisch auf die Erfahrung einer App-FirmenGründerin verweisen: »Recently, I had a phone call with an editor here in Berlin about why he should write about my company’s cycle-tracking app, Clue. Yes, I’m a little biased, but I thought we had a strong pitch: we were the No. 1 app in Germany in the Health & Fitness category, have been covered in major publications and have just raised a half-million euro round from prominent investors in both Europe and the US. His response was, ›Why should I cover a niche app?‹ That’s right: an app targeted at women – 51 percent of the world’s population – is still considered ›niche‹ by the tech world and the media.« (Tin 2014)
Die Autorin dieses Beitrags macht ähnlich wie Boesel das Argument stark, dass die offizielle QS-Bewegung zwar männlich dominiert sein mag, Self-Tracking an sich aber eher als weibliche Domäne betrachtet werden kann: »The other is that fertility tracking is not a new habit, but one that goes back literally thousands of years. Women have always tracked their cycles – with pen and paper, with calendars, and now with technological tools.« (Ebd.) Es ist, wie auch das Beispiel der ›männlichen Diät‹ zeigt, erst die Verknüpfung mit moderner Technik und eine Betonung der ›Wissenschaftlichkeit‹ und Rationalität, mit der die Selbstbeobachtung zur männlich konnotierten Tätigkeit wird.
5. »J ust too damn busy«: QS als F r age von R essourcen Körperpraxen wie z.B. eine Diät, die Aufzeichnung der eigenen Kalorienzufuhr und Aktivität sind »Technologien des Selbst« im Foucault’schen Sinne. Was Foucault zumindest nie explizit herausstellt, ist die Rolle, die Geschlecht für die Subjektivation durch Selbsttechnologien spielt. Dabei sind die »gewissen ästhetischen Werte und gewissen Stilkriterien« nicht allgemein oder beliebig, sondern stark durch die gesellschaftliche Positionierung des jeweiligen Subjektes geformt. Entgegen tradierter androzentrischer Rhetorik in den (Sozial)Wissenschaften,
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gibt es das Subjekt nicht, das über die hier erwähnten körperbezogenen Technologien des Selbst konstruiert wird. Vielmehr werden über bestimmte Technologien, bestimmte Subjekte – eben auch vergeschlechtlichte Subjekte – hervorgebracht. Über das Zählen der Kalorienaufnahme und -verbrennung werden nicht (nur) figur- und gesundheitsbewusste Subjektivitäten erschaffen, sondern – zumindest bis vor einigen Jahr(zehnt)en – vorrangig (weiße Mittelstands)Frauen. Galten als ›Zielgruppe‹ der antiken Diätetik ausschließlich privilegierte Männer, so sollte später und bis heute vor allem bürgerliche Weiblichkeit von der stetigen Beschäftigung mit dem eigenen Körper gekennzeichnet sein. Seit einigen Jahrzehnten gilt der Imperativ der Selbstkonstruktion via körperorientierter Selbstsorge für viele gesellschaftliche Schichten, mindestens für alle Angehörigen des nationalbürgerlichen Kollektivs. Und dennoch sind die Möglichkeiten, sich innerhalb dieses Regimes zu bewegen, unterschiedlich verteilt. Hier soll noch einmal ein BlogBeitrag auf einer QS-Seite zitiert werden, in welchem die geringe Beteiligung von Frauen an der Bewegung diskutiert wird. Eine Diskussionsteilnehmerin erklärt: »Also, frankly, I’m just too damn busy to measure almost anything regularly except my bank balance, which is calculated for me. Like most women, I’m on a triple shift life plan. I work, I write, I keep a house and raise a big family, I eat mostly vegan and practice yoga every day, contribute in the community, and do it on generally less money than the guys. Plus I am culturally obligated to a time consuming grooming standard. So, no, I don’t have time for gadgets and measurement.«13
Sie verweist damit auf die finanziellen und zeitlichen Ressourcen, die notwendig sind, um an der QS-Bewegung zu partizipieren. Diese sind auch heute noch ungleich unter den Geschlechtern verteilt. Frauen erhalten weniger Lohn und sind zudem in bedeutend höherem Maße verantwortlich für reproduktive Tätigkeiten wie Hausarbeit und Kindererziehung. Die Partizipation in der QS-Szene erfordert ein gewisses Maß an Freizeit und Energie, die ganz allein auf das Selbst fokussiert wird, was wiederum etwas ist, was den Anforderungen der klassisch weiblichen Geschlechterrolle widerspricht. Zusätzlich verweist dieses Zitat darauf, dass Geschlecht nicht losgelöst von Faktoren der sozialen Lage zu denken ist. Die Autorin des oben zitierten Beitrags schreibt: »I eat mostly vegan and practice yoga every day, contribute in the community«. Basierend auf Erkenntnissen zur Abhängigkeit von Lebensstilen von der sozialen Lage liegt die Annahme nahe, dass es sich hierbei um eine Frau aus der (oberen) Mittelschicht handelt, die innerhalb ihrer Schicht von geschlechtsgebundener Benachteiligung durch Doppel- bzw. Dreifachbelastung betroffen ist. Dennoch hat sie Zugang zur QS-Foren und beteiligt sich an Diskussionen und der Rest ihres Beitrags zeigt, dass sie zumindest versucht hat, Self-Tracking zu praktizieren.
13 | http://quantifiedself.com/2010/12/is-there-a-self-experimentation-gender-gap/.
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Somit aber lässt der Blick auf die zeitlichen und finanziellen Mittel, die für eine intensive Partizipation an der QS-Bewegung aufzubringen sind, auch vermuten, dass QS nicht einfach männlich dominiert ist, sondern sich vielmehr auch die Frage stellt, welche Männer an QS partizipieren und wie hoch der Anteil von Männern aus sozial prekären und wirtschaftlich schlecht gestellten Schichten ist. Dazu gibt es bislang noch sehr wenig Diskussionen innerhalb des Diskurses zu Self-Tracking und QS. Doch schon Pierre Bourdieu stellte in seiner Studie Die feinen Unterschiede (1987) fest, dass ein Lebensstil, der Selbstreflexion und optimierung, ein permanentes Sorgen um sich beinhaltet, für mittlere und aufsteigende soziale Schichten konstitutiv ist. Er arbeitet heraus, dass es zum Habitus des Kleinbürgertums gehört, sich ständig von außen selbst zu beobachten, sich selbst zu überwachen, kontrollieren und zu züchtigen (vgl. Bourdieu 1987: 331). Ferner beschreibt er die Psychologisierung des Körperverhältnisses und die Bedeutung der Kommunikation über den eigenen Körper im Kleinbürgertum (ebd.: 578ff., 739). So ist schon das Ideal der gesunden und bewussten Lebensführung von QS und Self-Tracking von einem Klassen-Bias durchzogen: »Denn die normative Durchsetzung eines spezifischen Ernährungsregimes für alle Bevölkerungsgruppen stellt einen Akt der Durchsetzung von gesellschaftlicher Macht dar – nämlich der Macht spezifischer sozialer Fraktionen zu bestimmen, was ›richtiges Essen‹ ist, und dies zum allgemein verpflichtenden Verhaltensstandard zu erheben.« (Rose, L. 2012: 212; vgl. auch Alkemeyer 2003: 22ff.)
6. S chluss Self-Tracking ist sowohl aus finanziellen als auch aus habituellen Gründen als schichtgebundene Praktik zu verstehen, wie schon das antike Selbst-Vermessen und die bürgerliche Diätetik Praktiken zur sozialen Disktinktion waren. Gleichsam bietet sie durch die Verknüpfung des lange weiblich konnotierten Feldes der Körperselbstsorge mit männlich konnotierten Aspekten wie Elektronik und ›wissenschaftlicher Objektivität‹ eine Möglichkeit, Geschlechtergrenzen der Körperpraktiken neu zu tarieren und damit eine ähnlich der antiken Diätetik ›männliche‹ Form der Körperselbstsorge zu installieren. Bei der diätischen Regierung des eigenen Körpers – sei es unter der antiken Diätetik, dem modernen Hygienediskurs oder im Rahmen heutiger Anrufungen im Rahmen der erstarkenden Fitness-Kultur – handelt es sich um eine Form der ethischen Selbstregierung, welche die Freiheit und Wahlmöglichkeit der Individuen voraussetzt, über die erst die Selbstkonstruktion qua (hier körperbezogener) Selbsttechnologien möglich ist. »Zwar ist die Ethik nicht mit Freiheit identisch, ohne Freiheit gibt es jedoch keine Ethik, da es sonst der Grundlage und des Materials ermangelt, an dem die ethische Arbeit ansetzen könnte.« (Lemke 2014: 310) Ähnlich also wie in der Antike und der frühen Moderne dient die körperbezogene
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Selbstregulierung heute dazu, eine privilegierte gesellschaftliche Position zu (re-) produzieren, zu repräsentieren und damit auch zu verteidigen. Demnach stellt QS mitnichten, um noch einmal auf Juli Zeh zurückzukommen, eine männliche Form der Magersucht dar. Denn es handelt sich nicht um ein pathologisiertes, gemeinhin als fremdbestimmt gelesenes Verhalten, sondern um eine sozial erwünschte und positiv sanktionierte14 Form der Lebensführung. Nikolas Rose entwirft mit dem Begriff der »ethopolitics« ein Vokabular, mit dem sich die aktuelle Verknüpfung neoliberaler Ideologie mit dem biopolitischen Dispositiv beschreiben lässt und herausgearbeitet werden kann, wie sich in den letzten Jahrzehnten die staatsgeleitete Biopolitik hin zu einer durch individualisierte Ethik getragenen verändert hat (Rose, N. 2001; vgl. Offizier 2015: 88). Hierin bietet die QS-Bewegung ein Medium, um diese Wandlungsprozesse auf der gesellschaftlich-politischen Ebene in die Prozesse der Selbst-Bildungen der Individuen einzuschreiben und dabei tradierte soziale Ordnungen und Hierarchien beizubehalten und zu stabilisieren. Denn sie transformiert die Praxen der körperbezogenen Selbstüberwachung von einer Notwendigkeitsethik der feminisierten Diät zu einer im Sinne der antiken Diätetik ästhetischen Ethik, welche unter gegebenen politischen Bedingungen für die Partizipierenden das Ausleben und Verfestigen einer privilegierten Position im alltäglichen Wettstreit neoliberaler Gesundheits- und Sozialpolitik bedeutet. Denn wenn Krankenkassen und Arbeitgeber/-innen das Praktizieren digitaler Selbstvermessung subventionieren – und das ist sicher nur als Anfang einer umfassenderen Tendenz zu sehen –, dann beschränkt sich der Effekt einer erfolgreichen Selbst-Konstituierung in diesem Rahmen nicht auf die Ebene der Statusrepräsentation und festigung, sondern hat konkrete Konsequenzen für die somatische Lebensqualität. In diesem Sinne wäre es sicher fruchtbar, die digitale Selbstvermessung und das Feld der QS-Bewegung als Elemente der »ethopolitics« zu betrachten und zu fragen, welche normativen Maßstäbe, nicht nur in Bezug auf Gender, sondern beispielsweise auch bezogen auf soziale und ökonomische Positionen oder Befähigungs- und Gesundheitskonzepte, hierin und hierdurch (re-)produziert werden.
14 | So stellt sich wenig überraschend die Tendenz ein, dass Krankenkassen Vergünstigungen für die Übermittlung von gewonnenen Self-Tracking-Daten anbieten (vgl. Offizier 2015: 93). Ebenso werden die Fragen um arbeitsrechtliche Möglichkeiten der Aufforderung zur Selbstvermessung durch Arbeitgeber/-innen zunehmend relevanter (vgl. bspw. www.zeit. de/karriere/beruf/2015-05/apps-gesundheit-daten-mitarbeiter-was-erlaubt oder http:// daserste.ndr.de/panorama/Der-ueberwachte-Mitarbeiter-macht-nicht-blau, gesundheits app104.html).
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Self-Tracking als Objektivation des Zeitgeists Robert Gugutzer
Zu den zentralen Aufgaben der Soziologie zählt die Beschreibung und Erklärung der Gegenwartsgesellschaft. »In welcher Gesellschaft leben wir?« ist eine Frage, auf die die Soziologie Antworten zu finden hat und auch zu geben vermag. In pointierter Form liefern soziologische Zeitdiagnosen solche Antworten, indem sie anhand eines bestimmten Schlagworts – pars pro toto – den Zustand des gesellschaftlichen Hier-Jetzt erläutern. Bekannte Beispiele dafür sind Klassen-, Wissens-, Informations-, Netzwerk-, Risiko- oder Erlebnisgesellschaft. In jeder dieser soziologischen Zeitdiagnosen wird ein gesellschaftliches Strukturmerkmal als das die Gesellschaft insgesamt charakterisierende Merkmal hervorgehoben. Im Unterscheid zur soziologischen Zeitdiagnose, die sich primär als Gesellschaftsdiagnose versteht, geht es der philosophisch fundierten Zeitdiagnose weniger um die Identifikation eines paradigmatischen Strukturmerkmals als vielmehr um den typischen Geist einer Zeit, den Zeitgeist. Zeitgeist bezeichnet dabei die leitenden Ideen einer Epoche (vgl. Bogner 2012: 7), oder wie es bei Johann Gottfried Herder heißt: »Geist der Zeiten hieße also die Summe der Gedanken, Gesinnungen, Anstrebungen, Triebe und lebendigen Kräfte, die in einem bestimmten Fortlauf der Dinge mit bestimmten Ursachen und Wirkungen sich äußern.« (Herder 1806, zit.n. Kluck 2008: 4)1 Wichtig ist hier die Bemerkung Herders, dass sich die Aspekte und Facetten des Zeitgeists »äußern«. Die Leitideen einer Epoche manifestieren sich auf die eine oder andere Weise, andernfalls blie1 | Oder mit Wilhelm Dilthey gesprochen, der die besondere Wertigkeit einer historischen Epoche und den durch sie gegebenen individuellen Handlungsspielraum betont: »Der Einzelne, die Richtung, die Gemeinschaft haben ihre Bedeutung in diesem Ganzen nach ihrem inneren Verhältnis zum Geist der Zeit. […] In diesem Sinne spricht man vom Geist einer Zeit, vom Geist des Mittelalters, der Aufklärung. Damit ist zugleich gegeben, daß jede solcher Epochen eine Begrenzung findet in einem Lebenshorizont. Ich verstehe darunter die Begrenzung, in welcher die Menschen einer Zeit in bezug auf ihr Denken, Fühlen und Wollen leben.« (Dilthey 1970, zit.n. Kluck 2008: 7; Herv. im Orig.) Zur Geschichte des Begriffs Zeitgeist und seinem kulturkritischen Potenzial vgl. auch Kluck 2010.
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ben sie wirkungslos. Der Geist einer Zeit zeigt sich in konkreten Formen, »wozu unter anderem Kunstwerke, Architektur, Sprache, aber auch Gestik und Mimik gezählt werden. Vorbildlich expliziert findet sich dieser Punkt in den Theorien Freyers und Hartmanns. Beide weisen darauf hin, dass sich Geist notwendig objektiviert.« (Ebd.: 19) Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine Interpretation der Objektivationen des Zeitgeists – zu denen ebenso Technologien und Praktiken zählen – Aufschluss über den im Objekt materialisierten Geist der Zeit gibt. Zu dieser Interpretationsarbeit sind keineswegs allein die Geisteswissenschaften und die Philosophie befähigt, vielmehr auch die Soziologie, sofern sie sich als eine hermeneutische Disziplin versteht, der es um die Auslegung des Sinngehalts von Objektivationen welcher Art auch immer geht. Im Folgenden wird eine phänomenologische Analyse jener seit einigen Jahren populären Praxis des Selbstvermessens2 vorgelegt, die mit Hilfe kleiner, körpernah getragener technischer Geräte (»gadgets« bzw. »wearables«) durchgeführt wird und für die sich die Bezeichnung »Self-Tracking« durchgesetzt hat. Die Leitthese lautet: Self-Tracking ist eine Objektivation des Zeitgeists. Mit der Ausführung dieser These ist die Absicht verbunden, eine sachlich neutrale Beschreibung des Phänomens Self-Tracking zu liefern, die sich sowohl von den euphorischen als auch den kritischen Diskussionsbeiträgen zu diesem Thema abhebt. Am Self-Tracking scheiden sich bekanntlich die Geister: Während die einen den »Selbsterkenntnisgewinn durch Zahlen«3 und damit verbundene Freiheits- und Emanzipationsgewinne feiern, sind die anderen skeptisch bis ablehnend, weil sie befürchten, dass damit der neoliberale Selbstführungs- und Selbstoptimierungszwang weiter zunehme und ein umfassender Missbrauch sehr persönlicher Daten wahrscheinlich werde. Der Text verweigert sich der einen wie der anderen Bewertung, indem er sich dem Phänomen Self-Tracking auf deskriptive Weise nähert. Als Methode wird hierfür die Neue Phänomenologie (vgl. Schmitz 2003, 2009) gewählt. 2 | Self-Tracking in dem allgemeinen Sinne des Sammelns individueller Daten ist keine neue Praxis. Zwei historische Vorläufer seien genannt: Zum einen die antiken Praktiken des »L’écriture de soi« (Foucault 2007 [1983]) wie das Verfassen von Notizbüchern (»hypomnêmata«), das Sammeln wichtiger Äußerungen oder die Korrespondenz mit Briefpartnern – allesamt Übungen, die im Sinne Foucaults als »Selbst-Technologien« fungierten; zum anderen die Pädagogik der so genannten Menschenfreunde (»Philanthropen«), die unter anderem in der umfassenden Dokumentation körperlicher Leistungen der Schüler und dem Erstellen von Tabellen über Fortschritte bei den schulischen Leibesübungen wie auch im sittlichen Verhalten bestand – all das mit der Idee, mit Hilfe einer Leistungsobjektivierung erzieherische Erfolge zu erzielen (vgl. König 1989). Schließlich ist der Sport seit jeher ein Handlungsfeld, in dem zum Zweck der Selbstverbesserung und optimierung gemessen, quantifiziert und tabellarisiert wird. 3 | So das bekannte Motto der Quantified-Self-Bewegung, das von den Anhängern des Self-Trackings übernommen wird: »self knowledge through numbers« (http://quantifiedself.com/).
Self-Tracking als Objektivation des Zeitgeists
Die neophänomenologische Analyse von Self-Tracking mündet in eine soziologische Zeitgeistdiagnose, deren Vorteil gegenüber gängigen Gesellschaftsdiagnosen darin besteht, dass sie nicht auf »Gesellschaft« im territorial-nationalstaatlichen Sinne als empirische Untersuchungseinheit begrenzt ist. Im Zeitalter der Globalisierung ist dieser »methodologische Nationalismus« (Beck/Grande 2010) überholt, die Soziologie daher aufgefordert, Begriffe und Konzepte, Methoden und Theorien zu entwickeln, die transnationale soziale Sachverhalte einzufangen vermögen. Zeitgeist ist ein solches Konzept, da es epochen-, nicht aber gesellschaftsgebunden ist. Dasselbe gilt für das empirische Phänomen Self-Tracking, das – nimmt man die Gründung der Quantified-Self-Bewegung im Jahr 2007 zum Anhaltspunkt – seit circa einem Jahrzehnt weltweit4 zu beobachten ist. Um zu verstehen, inwiefern es den Zeitgeist verkörpert, versucht die phänomenologische Analyse mit Hilfe der begrifflichen Unterscheidung von »Leib« und »Körper«5 wesentliche Merkmale von Self-Tracking zu identifizieren (Kap. 1-4), die abschließend zu zentralen Charakteristika des gegenwärtigen Zeitgeists verallgemeinert werden (Kap. 5).
1. D inge als macht volle leibliche K ommunik ationspartner Empirischer Bezugspunkt für die phänomenologische Analyse von Self-Tracking ist ein Interview mit der Self-Trackerin Nicki.6 Zum Zeitpunkt des Interviews nutzt Nicki seit sechs Monaten das Fitnessarmband Jawbone Up. Sie sammelt damit Informationen über ihr Schlaf-, Ernährungs- und Bewegungsverhalten, die mit 4 | Mit Ausnahme von Afrika existieren auf allen Kontinenten so genannte QS Meetup Groups (vgl. www.quantifiedself.com). 5 | Leib und Körper sind zwei Perspektiven auf den Körper und bezeichnen daher eine analytische, aber keine ontologische Trennung. Ich folge hier der Definition von Schmitz, der, kurz gesagt, mit Leib das Sich-Spüren in der Gegend des eigenen Körpers meint und mit Körper zum einen den sicht- und tastbaren, zum anderen den Körper als naturwissenschaftliches Objekt (vgl. Schmitz 2011; siehe auch Gugutzer 2015a: 18-21; Lindemann 2016). Präzisierungen dieser begrifflichen Unterscheidung folgen im Text. 6 | Nicki ist ein Codename. Das leitfadengestützte Interview mit Nicki wurde im September 2014 geführt und dauerte 109 Minuten. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Nicki 27 Jahre alt und in einem Gesundheitsberuf tätig, der ein umfangreiches Körperwissen voraussetzt und die Arbeit mit dem Körper anderer Menschen erfordert. Methodologische Grundlage des hier gewählten Vorgehens ist die Annahme, dass sich im Einzelfall das Allgemeine zeigt: Am Fall der Self-Trackerin Nicki zeigt sich der Zeitgeist. Es interessiert hier somit nicht, was Self-Tracking für die Akteure dieser Praktik bedeutet, welche Motive sie haben und Umgangsweisen sie zeigen, wie auch nicht interessiert, was Self-Tracking über ›das Subjekt‹ oder »Technologien des Selbst« (Foucault) der Moderne aussagt. Entsprechend ist nicht Nicki als Person von Interesse, sondern Self-Tracking, wie es exemplarisch von Nicki beschrieben wird, als Zeichen der Zeit.
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Hilfe einer zum Fitnessarmband zugehörigen Applikation (App) auf ihrem Smartphone gespeichert und dort von ihr eingesehen werden. Subjektiv relevant sind die technischen Dinge jedoch nicht nur aufgrund ihrer Funktionalität, sondern ebenso aufgrund ihrer wahrnehmbaren Form und Ästhetik. So »spricht« das Fitnessarmband Nicki beispielsweise durch seine »Optik« an: Es ist schwarz und hat einen silbernen Verschluss, was den Vorteil habe, dass es sich »zu allem tragen« lasse. Die Oberfläche des Armbands, das Nicki ganztags (außer im Wasser) trägt, besteht aus weichem Gummi, der an der Innenseite glatt und an der Außenseite geriffelt ist. Verglichen mit einer Uhr nimmt Nicki ihr Armband »präsenter am Handgelenk wahr«, weil es »relativ klobig« ist, wenn auch »nicht zu wuchtig«. Verallgemeinert heißt das, dass das Fitnessarmband in zweifacher Weise in Erscheinung tritt: als sichtbares und spürbares Ding. Das Fitnessarmband ist kein bloß funktionaler Gegenstand, der mit sich herumgetragen wird, ohne dass sein Aussehen und Anfühlen unwichtig wären. Im Gegenteil ist das Wie seiner sinnlichen und leiblichen Wahrnehmung subjektiv bedeutsam. In den Worten Gernot Böhmes sind es die »Ekstasen des Dings«, die diese Bedeutungszuschreibung zur Folge haben: Es sind bestimmte dingliche »Eigenschaften«, die »die Anwesenheit des Dings artikulieren« (Böhme 2001: 134; vgl. dazu auch Böhme 1995), was im Fall von Nicki heißt: Es sind leibliche (hart, glatt, weich) und visuelle (schwarz, silber, oval) Eigenschaften des Fitnessarmbands, die dessen positiv bewertete Präsenz bedingen. Allen voran das Design (»Optik«) scheint nicht nur für Nicki, sondern für viele Self-Tracker/-innen eine wichtige Rolle zu spielen. So meint auch Deborah Lupton: »The design of digital devices and software interfaces is highly important to users’ responses to them.« (Lupton 2015: 116) Versteht man mit Böhme Design als »ästhetische Arbeit«, die von den Herstellern der »digital devices« geleistet wird, und interpretiert »users‹ responses« als »ästhetischen Konsum« (Böhme 2001: 177) seitens der Anwender/-innen, dann wird deutlich, dass die technischen Dinge beim Self-Tracking sowohl auf Produzenten- als auch auf Konsumentenseite wesentlich Wahrnehmungsphänomene sind: Von den Herstellerfirmen werden die »digital devices« auf eine Weise ästhetisch gestaltet, dass sie beim »Publikum bestimmte Wirkungen« (ebd.: 178) zeigen, die vom bloßen Gefallen und Sich-angesprochen-Fühlen bis zum Fasziniertsein reichen. Fehlte den technischen Dingen diese ästhetische bzw. aisthetische Qualität, wäre die Nachfrage nach ihnen sicherlich geringer. Eine aisthetische Qualität hat aber nicht nur das Fitnessarmband, sondern ebenso das Smartphone bzw. die dazu gehörige App. So liegt für Nicki eine Stärke der App in der grafischen Aufbereitung der Daten, das heißt, in dem »Visuellen, dass du es siehst«. »Das Ganze ist eben schön mit Farben und Bildern hinterlegt.« Die Ergebnisse der Messungen sind auf dem Smartphone als bunte Diagramme, Tabellen, Linien, Kurven und Symbole (Blumen, Pokale etc.) zu sehen, und das findet nicht nur bei Nicki Resonanz. Die »Ästhetik der Kurve« (Duttweiler in diesem Band) beispielsweise hat eine Suggestionskraft, derer sich die Anwender/-innen
Self-Tracking als Objektivation des Zeitgeists
nur schwer entziehen können und wohl auch nicht entziehen wollen. Eine Kurve ist sinnlich ansprechend, für viele offensichtlich ansprechender als eine ›nackte‹ Zahl,7 weil in ihr Einfachheit und Klarheit, Bewegung und Dynamik zum Ausdruck kommen. Der Ausdruck der Kurve wird subjektiv als leiblicher Eindruck wahrgenommen (vgl. Schmitz 1997), und dieser Eindruck motiviert zum Handeln. Eine ähnliche Wirkung scheint von den Farben auszugehen.8 Farben »sind protoypisch für Ekstasen« (Böhme 2001: 138) und »Erzeugende für Atmosphären« (ebd.: 139). Dass die Diagramme, Linien, Kurven etc. mehrheitlich nicht in Schwarz und Weiß gehalten, sondern farbig sind, ist kein Zufall.9 Farben treten aus der Oberfläche der Dinge hervor und affizieren dadurch die wahrnehmende Person. Die farbigen Bilder auf dem Smartphone sind atmosphärisch in dem Sinne, dass sie eine gefühlshafte Qualität10 besitzen, was typischerweise daran erkennbar ist, dass Self-Tracker/-innen sich über die vielen bunten Symbole freuen. Die beim Self-Tracking zum Einsatz kommenden Dinge sind also nicht allein technische Mittel, die lediglich einen bestimmten Zweck erfüllen, nämlich das Aufzeichnen und Darstellen von Daten, sondern Wahrnehmungsgegenstände, die mit den Anwenderinnen und Anwendern etwas machen und für diese daher etwas bedeuten. Die Self-Tracking-Dinge sind für die Akteure leibliche Kommunikationspartner (vgl. dazu allgemein Schmitz 2011, Kap. 4), insofern sie von dem, was sie durch das Fitnessarmband am Handgelenk oder via App auf dem Display wahrnehmen, affektiv betroffen sind: Freude oder Stolz, wenn die Kurve einen günstigen Verlauf aufweist oder der Balken blau statt orange ist, Ärger oder Frustration, wenn dem nicht so ist. Die Self-Tracking-Dinge sind Sozialpartner für deren Nutzer/-innen, weil sie von ihnen im doppelten Sinne berührt werden: 7 | Der Ausdruck einer ›nackten Zahl‹ ist ein anderer als der Ausdruck einer geschwungenen Linie, eines Diagramms oder Symbols, zum Beispiel einer Blume, weshalb auch ihr leiblicher Eindruck ein anderer ist. Eine ›nackte‹, womöglich auch noch schwarze digitale Zahl auf weißem Hintergrund (oder umgekehrt) erzeugt eine geringere leibliche Resonanz beim Wahrnehmungssubjekt als eine (eventuell zusätzlich animierte) bunte Blume, da ihr die Lebendigkeit der Form und Farbe fehlt. Eine ›nackte Zahl‹ ist ›unbekleidet‹, ›ungeschminkt‹, ›nüchtern‹, und diesem Mangel an (Aus-)Kleidung, Ausschmückung, Trunkenheit/Lebendigkeit/Leidenschaft korrespondiert ein gedämpfter leiblicher Widerhall. 8 | Mit Schmitz ließe sich sagen: Handlungsmotivierend sind Farben, weil sie »synästhetische Charaktere« sind und daher als »Brücken leiblicher Kommunikation« fungieren (Schmitz 2005: 178ff.). 9 | Dasselbe gilt für technische Dinge wie Fitnessarmbänder oder Self-Tracking-Clips, die ebenfalls überwiegend farbenfroh hergestellt werden. Die ästhetische Arbeit der Produzenten solcher Geräte richtet sich nicht nur auf Form und Material, sondern gleichermaßen auf Farben. 10 | Der Gleichsetzung von stimmungsvoll mit gefühlshaft liegt die Gefühlstheorie von Schmitz zugrunde, der zufolge Atmosphären Gefühle sind bzw. Gefühle »räumlich, aber ortlos, ergossene Atmosphären« (Schmitz 2007: 23).
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leiblich, etwa durch die spürbare Vibration des Armbands, affektiv, weil die leibliche Wahrnehmung mit einer emotionalen Bewertung einhergeht. Sozial ist diese Ding-Mensch-Interaktion vor dem Hintergrund der ursprünglichen, lateinischen Wortbedeutung von sozial, der zufolge »socius« »gemeinschaftlich«, »verbunden« bzw. »Kamerad«, »Gefährte«, »Verbündeter« bedeutet (vgl. Gugutzer 2015b: 105), wobei das empirische Kriterium dafür, dass etwas oder jemand ein Gefährte oder Verbündeter ist (auch im ›negativen‹ Sinne, etwa als Gegner), das leiblichaffektive Betroffensein von diesem Etwas oder Jemand ist11 (ebd.: 107). Dieses Kriterium erfüllen Dinge genauso wie Menschen oder Tiere.12 So gleicht Nickis Verhältnis zu ihrem Self-Tracking-Gerät einer innigen, ja, intimen partnerschaftlichen Beziehung allein in der Hinsicht, dass sie mit ihrem Fitnessarmband nahezu den ganzen Tag in körperlich-leiblichem Kontakt ist – viel öfter und intensiver als mit ihrem Ehemann. Auch hat sie dem Gerät, wie in Partnerschaften nicht unüblich, einen Kosenamen gegeben: »Quälix«. Der Name13 deutet an, dass es sich um einen ›Typ‹ Partner bzw. Beziehung handelt, der bzw. die nicht nur Freude bereitet. Sie spricht von einer »Hassliebe« zu Quälix, mit dem sie regelmäßig »kleine Machtkämpfe« austrage, weil er ihr Verhaltensweisen abverlange, die sie nicht jedes Mal befolgen möchte. Böse ist sie ihm deshalb aber nicht, da Quälix zwar ein »sehr hartnäckiger, sehr bestimmter, sehr aufdringlicher Freund [ist], der es aber nur gut mit dir meint«. Seine Hartnäckigkeit oder Aufdringlichkeit zeigt sich beispielsweise darin, dass er Nicki an ihre gemeinsamen Abmachungen erinnert: »Wenn ich mich 30 Minuten nicht bewege, dann brummt er mich an.« Das Fitnessarmband »brummt« Nicki ebenso abends an, wenn Zeit zum Ins-Bett-Gehen ist. Das Brummen ist leise hörbar, vor allem aber als leichtes Vibrieren am Handgelenk spürbar. Unterstützt wird diese Verhaltensaufforderung durch eine »Leuchtmeldung auf dem Handy«. Nicki hält sich meistens an diese Appelle, weil sie von ihnen überzeugt ist und weil sie dafür »belohnt« wird: »[D]efinitiv will ich mein Smiley haben, meine Belohnung!« Zum Teil ignoriert sie die Aufforderungen, »Ermahnungen« und »Beschimpfungen« 11 | Darin liegt der Unterschied zur Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von Latour (1995): Während die ANT die Frage offen lässt, inwiefern die Beziehung zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren eine soziale Beziehung ist, hat die neophänomenologische Soziologie dafür ein eindeutiges Kriterium, eben das leiblich-affektive Betroffensein von etwas oder jemandem. 12 | Zu Tieren, im Besonderen Hunden als Sozialpartnern für Menschen vgl. Gugutzer/Holterman 2016. 13 | Nicki erläutert im Interview ihre Namenswahl nicht. Da ich von Nicki weiß, dass sie sehr fußballinteressiert ist, gehe ich davon aus, dass »Quälix« eine Anspielung auf den Fußballtrainer Felix Magath ist. Magath hat den Beinamen »Quälix« erhalten, nachdem bekannt wurde, dass er seine Spieler auch mit Trainingsmethoden konfrontiert, die für diese eine Qual darstellen. Magath war mit diesen Trainingsmethoden eine Zeitlang sportlich sehr erfolgreich.
Self-Tracking als Objektivation des Zeitgeists
aber auch oder vollzieht präventiv »Tricks«, sodass es erst gar nicht zu solchen Abmahnungen kommt. Die Beschreibungen Nickis lassen erkennen, dass die Self-Tracking-Dinge nicht nur in einem metaphorischen Sinne, sondern tatsächliche Interaktions- und Kommunikationspartner sind. Die Kommunikation mit dem Fitnessarmband und Smartphone ist für Nicki eine »subjektive Tatsache« aufgrund ihres »affektiven Betroffenseins« (Schmitz 2011: 73) von deren Formen und Farben, Tönen und Symbolen. Fitnessarmband und Smartphone erweisen sich dabei als machtvolle Interaktionspartner mit einer beachtlichen Autorität – was die App ›sagt‹, ist »Gesetz«, so Nicki. Diese Autorität der Dinge ist eine leiblich ergreifende Macht, die Nicki auffordert, drängt oder gar nötigt, dieses oder jenes (nicht) zu tun (vgl. dazu auch Gugutzer 2015b: 110ff.). Leiblich ergreifend ist die Macht insofern, als die Formen, Farben etc. der Dinge eine spürbare Resonanz14 bei den Self-Trackerinnen und -Trackern erzeugen. Das Brummen des Armbands kann einen Schreck auslösen oder das schlechte Gewissen wecken, weil es bedeutet, sich zu wenig bewegt zu haben. Natürlich ist es möglich, sich über das Brummen hinwegzusetzen, wie auch das Leuchtsignal und die Diagramme ignoriert werden können, doch wird mit solchen widerständigen Praktiken die leiblich wirkende Macht der Dinge nur bestätigt. Ohnehin aber scheint die Macht der Dinge überwiegend positiv bewertet zu werden. Denn zum einen, so Nicki, ist es angenehm, »einen bestimmten Teil Verantwortung abzugeben«, zum anderen besitzen die Dinge die motivierende Kraft, das eigene Verhalten zu verändern und zum Beispiel den »inneren Schweinehund zu überwinden«. Vor allem Letzteres scheint für viele Nutzer/-innen der eigentliche Grund zu sein, eine partnerschaftliche Beziehung mit Self-Tracking-Dingen einzugehen.
2. Technik der L eibbemeisterung und S uggestionsmacht der Technik Der innere Schweinehund wird von den Self-Trackerinnen und -Trackern als lästiger Partner erlebt, der vorzugsweise dann in Erscheinung tritt, wenn ein Bewegungsprogramm auszuführen ist, dem sie sich verpflichtet fühlen. Er erweist sich dabei als ein machtvoller Gegner, den eigenmächtig zu bezwingen schwer fällt. Leichter gelingt dies mit Hilfe externer Unterstützung. »Wenn mich ein Mensch motiviert, kann ich meinen Schweinehund leichter überwinden, als wenn es das Band macht, wenn es Quälix macht«, so Nicki. Auch wenn für Nicki das Fitnessarmband nicht dasselbe Potenzial wie zum Beispiel ihr Fitnesstrainer besitzt, um ihren inneren Schweinehund zu bezwingen, so ist Quälix nichtsdestoweniger 14 | In dem Sinne spricht Schmitz vom Leib als »Resonanzboden des affektiven Betroffenseins« (Schmitz 2010b: 112). Ein soziologisches Konzept von (nicht nur) leiblicher Resonanz hat Rosa (2016) entwickelt.
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eine Art Motivationstrainer, der ihr hierfür hilfreiche Dienste leistet: »Ich selber mich aufzuraffen, das fällt mir schwer, aber mit so einer externen Motivation, das find ich klasse.« Nickis Beschreibung des inneren Schweinehunds als eines Motivationsproblems entspricht der vorherrschenden psychologischen Deutung, die am charakteristischen phänomenalen Gehalt dieses Sachverhalts jedoch vorbeizielt. Der innere Schweinehund ist zuallererst nämlich ein leibliches und kein motivationales Phänomen: Er übermannt die betroffene Person als bleischwere, den ganzen Leib ergreifende Müdigkeit oder Trägheit, gegen die aus eigenen Kräften anzugehen mühsam ist und oft nicht gelingt. Der innere Schweinehund ist eine leibliche Macht, die das personale Subjekt spürbar niederdrückt und dessen leiblichen Widerstand klein hält. Die Self-Tracking-Dinge übernehmen hier qua leiblicher Kommunikation mit dem personalen Subjekt die wichtige emanzipatorische Funktion, sich aus der Umklammerung des inneren Schweinehundes zu befreien. Das den Self-Tracking-Dingen implizite »Programm für möglichen Gehorsam« (Schmitz 2012: 11) besitzt einen so hohen Grad leiblich ergreifender Macht, dass aus dem möglichen immer wieder ein tatsächlicher Gehorsam resultiert. Nickis Worten zufolge geht es dabei nicht zimperlich zur Sache, bekommt sie von ihrem »amerikanisch-reißerischen« Gerät doch gesagt: »Reiß dich zusammen! Du schaffst es! Pack’s an! Beweg dich!«, was sie als hilfreichen »Tritt in den Hintern« empfindet. Die Überwindung des inneren Schweinehunds15 beim Self-Tracking, so lässt sich das Gesagte zusammenfassen, ist primär weder eine psychische (Motivations-)Leistung noch eine körperliche (Kontroll-)Leistung, sondern eine leibliche Leistung, die mit einem Ausdruck von Schmitz als »Technik der Leibbemeisterung« (Schmitz 1965: 178-194)16 bezeichnet werden kann. Beherrscht, bemeistert wird hier weder die Psyche noch der Körper, sondern die leiblich spürbare Schwere, Trägheit, Müdigkeit oder Lustlosigkeit. Die technischen Dinge des Self-Trackings helfen bei dieser Leibbemeisterung dabei vor allem deshalb, weil sie eine externe, 15 | Mit dem inneren Schweinehund verwandt ist das schlechte Gewissen, insofern es sich bei diesem ebenfalls um eine machtvolle leibliche Regung handelt. Das schlechte Gewissen regt sich, wenn das eigene Verhalten den programmatischen Auflagen der Self-Tracking-App und deren »Richtlinien für die Eigenführung« (Schmitz 2012: 11) zuwiderläuft, zum Beispiel nach dem Verzehr von ›falscher‹, weil zu fetter oder zu kohlehydrathaltiger Nahrung. Das schlechte Gewissen geht der davon betroffenen Person spürbar nahe, indem es unangenehm an ihr ›nagt‹ oder sie ›beißt‹. 16 | Schmitz verwendet diesen Ausdruck in einem anderen als den hier gemeinten Sinne: »Techniken der Leibbemeisterung« diskutiert er im Kontext mystischer und spiritueller Praktiken als Übungsformen zur Beherrschung leiblicher Zustände und Regungen, etwa des Atmens im Zen-Buddhismus. Techniken der Leibbemeisterung sind im Schmitz’schen Sinne somit Körpertechniken, während es sich beim Self-Tracking um gegenständliche, dinghafte Techniken der Leibbemeisterung handelt.
Self-Tracking als Objektivation des Zeitgeists
nicht der eigenen Person zugehörige Autorität verkörpern. Der leiblich ergreifenden Macht dieser Autorität beugen sich die Self-Tracker/-innen augenscheinlich leichter oder lieber als dem eigenen Willen. Eine wichtige Rolle hierfür dürfte ein Aspekt spielen, der ebenfalls als eine Form der Leibbemeisterung verstanden werden kann: Die Suggestionsmacht der Technik, die in unterschiedlichen Intensitätsgraden auf die Nutzer/-innen einwirkt. Wer mit Self-Tracking beginnt, ist davon typischerweise angetan, verführt, begeistert – die Leibbemeisterung äußert sich als Leibbegeisterung. Die erste Phase der partnerschaftlichen Beziehung zu den Self-Tracking-Dingen ist häufig eine leidenschaftliche, voller Faszination und zum Teil regelrechter Hingabe an die Technik.17 Faszination – eine Spielart von Suggestion – ist im neophänomenologischen Verständnis eine »einseitige antagonistische Einleibung« (Schmitz 2011: 39), nämlich eine Form leiblicher Kommunikation, bei der die Technik der dominante Partner ist, insofern es ihr gelingt, ihren menschlichen Partner so zu ›fesseln‹, dass dieser ›an ihr hängt‹ und sich von ihr in seinem Verhalten leiten lässt. Beim Self-Tracking äußert sich die Faszination zum Beispiel darin, mehrmals täglich das Smartphone herauszuholen und Daten einzutragen oder zu überprüfen, die Fesselung etwa darin, wie Nicki sagt, abends um zehn noch einmal aus dem Haus zu gehen, um doch noch das vereinbarte Ziel von 10.000 Schritten zu erreichen. Der Grad der leidenschaftlichen Bindung und faszinierten Hingabe an die Self-Tracking-Dinge kann mitunter ein Ausmaß erlangen, das einer suchtähnlichen Abhängigkeit gleichkommt. So meint Nicki: »Du rutschst da auch irgendwie in eine Schiene so hinein, dass du immer mehr wissen willst, immer noch besser gucken kannst, ›Kann ich das irgendwie noch besser machen?‹ […] Ich glaub, das ist auch so einer kleiner Hype, so ein kleiner Wahn.« Aus der leiblichen Kommunikation zwischen Person und Self-Tracking-Dingen kann sich augenscheinlich eine Dynamik entwickeln, der sich die darin involvierte Person kaum mehr entziehen kann (und will). Es entsteht eine Art Sog, der die Self-Trackerin so sehr in seinen Bann zieht, dass sie »immer mehr« davon haben, die Dosis also steigern möchte. Nicki nennt das einen »kleinen Wahn«, an anderer Stelle spricht sie bezeichnenderweise von einer Sucht: »Ich glaube, der Vergleich mit einer Sucht ist gar nicht schlecht, auch wenn es hart klingt und hart ist einzugestehen.« »Hart« klingt für Nicki das Wort »Sucht« vermutlich deshalb, weil es einen negativen, pathologischen Beigeschmack hat. Sucht ist nichts, worauf man stolz ist, weil es gemeinhin mit Krankheit und persönlichem Versagen assoziiert ist. Versteht man Sucht jedoch im neophänomenologischen Sinne als »habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung« (Schmitz 2015),18 hat man den diffusen Suchtbegriff durch 17 | Daraus erklärt sich auch die kurze Bindungsdauer an diese Technik: Leidenschaft auf Dauer zu stellen ist schwierig, daher wird die Technik beiseitegelegt, sobald das Feuer der Leidenschaft erloschen ist. 18 | Schmitz (2015) bezeichnet Sucht als »ein Modewort aus gesellschaftlichem Bedarf nach Abwertung vermeintlicher Fehlhaltungen und ihrer gemeingefährlichen Weiterungen;
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einen phänomengerechteren Begriff ersetzt, der es ermöglicht, das Verhalten und Erleben von Nicki passend zu beschreiben. Nicki erwähnt das Suchtpotenzial ihres Fitnessarmbands im Kontext einer Interviewpassage, in der sie davon erzählt, dass ihr Armband vor Kurzem kaputt gegangen sei und sie drei Wochen auf ein neues Band warten musste. In diesen drei Wochen fühlte sie sich nicht nur »komisch, weil die tägliche Routine gefehlt hat, Synchronisieren, Essen eingeben«, sondern auch »hilflos« und »unsicher«, weil sie »kein Band mehr hatte, das mir […] anzeigt«, wie viele Schritte sie exakt gegangen war. Die habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung des Bandes hat also als Kehrseite, dass sich bei deren Fehlen Entzugssymptome wie Unsicherheit und Hilflosigkeit bemerkbar machen. Angesichts der Entzugssymptomatik und der erwähnten Dosissteigerung, zwei klassischen Suchtmerkmalen, besitzt SelfTracking offenkundig das Potenzial einer Verhaltenssucht (vgl. dazu als Überblick Grüsser/Thalemann 2006). Nimmt die Praxis des Self-Trackings tatsächlich die Gestalt einer Verhaltenssucht an, erweist sich diese Technik der Leibbemeisterung als maximal.
3. S ensualistische R eduk tion : der gemessene K örper Die bisherigen Ausführungen haben den Blick vor allem auf die leiblichen Aspekte der Mensch-Technik-Beziehung beim Self-Tracking gerichtet. Nun gilt die Aufmerksamkeit der körperlichen Seite dieser Relation. Hierfür ist es wichtig, den Begriff »Körper« zu präzisieren. Im phänomenologischen Verständnis ist mit dem Ausdruck Körper, wie bereits in Fußnote 5 erwähnt, zum einen der in seiner äußerlichen Erscheinung wahrnehmbare, sicht- und tastbare Körper gemeint, zum anderen der Körper im Sinne eines naturwissenschaftlichen Objekts (vgl. Schmitz 2011: 143ff.).19 Von diesen beiden Körpern steht beim Self-Tracking der »naturwissenschaftliche Menschenkörper« im Mittelpunkt. Schmitz versteht darunter es wird über sehr unterschiedliche Phänomenenklassen ohne scharfe Abgrenzung ausgestreut.« Aus diesem Grund ersetzt Schmitz den Suchtbegriff durch die phänomenologisch fassbarere, allgemeine Bezeichnung »habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung«. Er unterscheidet dabei zwei Haupttypen habitueller Fixierung, nämlich »konfliktfreie und konfliktbeladene (zwiespältige) habituelle Fixierung«. Ein Beispiel für den konfliktfreien Typus ist Schmitz zufolge die Sportsucht (vgl. dazu auch Gugutzer 2015c), ein Beispiel für den konfliktbeladenen Typus die Spiel- oder Stehlsucht. 19 | Sinngleich spricht Gernot Böhme vom Körper als jenem »Gegenstand [.], den wir lebensweltlich als unseren Körper kennen, jedoch in der Perspektive der Fremderfahrung, d.h. wie er dem ärztlichen Blick erscheint, wie er naturwissenschaftlich erforscht wird und wie er durch Eingriffe von außen manipulierbar ist« (Böhme 2003: 12; Herv. im Orig.). Im Unterschied dazu bezeichnet der Ausdruck Leib »den Gegenstand, den wir als unseren Körper kennen, insofern er uns in der Selbsterfahrung gegeben ist. Dabei ist das Hauptmo-
Self-Tracking als Objektivation des Zeitgeists »ein Konstrukt aus Zahlen, die durch Messungen in der Nähe des sinnfälligen Körpers erhoben werden. Diese Messungen werden mit Apparaturen, die nach physikalischen Theorien, deren Kern als allgemeingültig postulierte Naturgesetze sind, konstruiert werden, ausgeführt und nach Maßgabe derselben Theorien unter Zusatz erdachter Parameter in mathematischen Kalkülen interpretiert, so dass sich Voraussagen ergeben, deren Richtigkeit durch Beobachtung am sinnfälligen Körper geprüft werden kann.« (Ebd.)
In dem Zitat von Schmitz ist von Self-Tracking nicht die Rede, gleichwohl liefert es eine treffliche Beschreibung des damit bezeichneten Sachverhalts und besonders der Art der hierbei vollzogenen Körperthematisierung: Beim Self-Tracking wird aus dem menschlichen Körper durch Messungen mit Apparaturen, die auf der Grundlage physikalischer Theorien entwickelt worden sind, ein naturwissenschaftlicher Gegenstand gemacht, der mittels mathematischer Rechenprozeduren in Zahlen übersetzt und zum Beispiel in Form von Statistiken oder Diagrammen interpretiert wird; die Messdaten dienen dann dazu, das eigene körperliche Verhalten und Erleben daran abzugleichen und gegebenenfalls zu modifizieren. Dass dieser naturwissenschaftliche Körper im Sinne des gemessenen und in Daten transformierten Körpers im Zentrum des Self-Tracking steht, zeigt sich bereits zu Beginn dieser Praxis. Am Anfang der Ding-Körper-Beziehung beim Self-Tracking steht das wechselseitige ›Sich-bekannt-Machen‹. Dazu gehört vor allem, dass der Körper dem technischen Gerät ›vorgestellt‹, das heißt, dieses auf jenen eingestellt wird: Bevor das digitale Aufzeichnen und Auswerten körperlicher Vorgänge und Verhaltensweisen beginnt, werden basale, objektive Informationen über den eigenen Körper und das alltägliche Tun in das Smartphone eingegeben. Die Self-Tracking-App berechnet daraus einen Körper-Istwert, dem es auf der Grundlage von für die Anwender/-innen unbekannten Parametern einen Körper-Sollwert gegenüberstellt. So sagt Nicki: »Du musst vorher ein paar Daten eingeben, wie groß bist du, wie schwer bist du, hast du einen körperlich anstrengenden Beruf, arbeitest du in Schichten, hast du geregelte Arbeitszeiten und so weiter. Und anhand dieser Daten wertet er aus, für einen Menschen in deinem Alter und mit deinen Daten wäre ein Schlaf von acht Stunden optimal.«
Ding und Körper lernen sich dabei im Laufe der Zeit immer besser kennen, indem sie sich ›synchronisieren‹ und die App auf den eigenen Körper als Normwert geeicht wird, woraus ein individuelles Körper- und Verhaltensprofil resultiert, das zugleich mit einem Aufgabenprofil versehen wird:
ment, das die Selbsterfahrung von der Fremderfahrung unterscheidet, die Betroffenheit, das heißt also die Tatsache, dass der Leib mein Leib ist« (ebd.; Herv. im Orig.).
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Rober t Gugut zer »Du kannst es kalibrieren. Dass du dir eine Strecke vorgibst, von der du ganz genau weißt so und so viel Kilometer sind das, dann setzt du dir einen Timer ›Jetzt lauf ich los und jetzt bin ich am Ziel angekommen, jetzt hab ich meine sechs Kilometer, die ich laufen wollte, gelaufen‹. Und er kalibriert das dann sozusagen ›So bewegt sich dein Arm während der sechs Kilometer‹ und das kommt dann insgesamt auf diese Strecke und berechnet dir dadurch die Schritte, und das münzt er dann auch um auf dein alltägliches Verhalten sozusagen.«
Die beiden Zitate von Nicki lassen erkennen, auf welche Weise der menschliche Körper beim Self-Tracking in einen naturwissenschaftlichen »Zahlenkörper« (Zillien et al. 2015; Duttweiler in diesem Band) transformiert wird. Der Zahlenkörper ist ein sozial konstruierter Körper, der den lebendigen menschlichen Körper auf einige wenige Daten reduziert – und damit entkörperlicht.20 Der Körper ›aus Fleisch und Blut‹ verschwindet in einem Datenstrom, löst sich in Zeichen auf, die ihn repräsentieren bzw. an seine Stelle treten. Die Mitteilung des Smartphones, man habe sein »tägliches Schrittziel« erreicht, ist eine Aneinanderreihung von Buchstaben, die von dem Körper, dem diese Mitteilung zugeschrieben wird, abstrahiert. Mit Schmitz (1990: 19ff.) lässt sich dieser Vorgang als »sensualistische Reduktion« bezeichnen, womit ein Prozess der Vergegenständlichung der Welt bezeichnet ist, bei dem die Leiblichkeit des Menschen und dessen sinnfälliger Körper auf eine überschaubare Menge an intersubjektiv und intermomentan überprüf baren Merkmalen reduziert werden. Die sich im Zuge des modernen Rationalisierungsprozesses durchsetzende Praxis der Quantifizierung ist die vermutlich erfolgreichste und folgenreichste Spielart dieses Reduktionismus. Der soziale Erfolg der Quantifizierung hat dabei entscheidend mit der suggestiven Kraft zu tun, die Zahlen, Statistiken, Prozenten etc. innewohnt und die darin besteht, den Eindruck von Eindeutigkeit und (wissenschaftlicher) Wahrheit zu erwecken. Beim morgendlichen Blick auf das Smartphone mitgeteilt zu bekommen, man habe in der Nacht insgesamt 57 Minuten wach gelegen (siehe Abschnitt 4), ist eine Information, von der angenommen wird, dass sie wahr ist, weil sie von einem technischen Gerät stammt. Die Zahl 57 wird als »objektive Tatsache«21 20 | Entkörperlichung des Körpers meint nicht dasselbe wie »Verdinglichung des Körpers« (Zillien et al. 2015). Verdinglichung des Körpers ist aus phänomenologischer Sicht eine Tautologie, da der Körper – im Unterschied zum Leib – selbst ein Ding ist, ein Körperding, wie bereits Husserl sagte (vgl. Waldenfels 2000: 15). Von einer Verdinglichung eines Dings wie dem Körper zu sprechen, ergibt wenig Sinn. Anders die Rede von der Entkörperlichung des Körpers, die auf das Verschwinden des Körpers in Daten hinweist. Wenn aus körperlichen Vorgängen und Zuständen Daten gemacht werden, ist vom physischen Körper nichts mehr übrig – eine Zahl ist kein Menschenkörper, der Ausdruck »Zahlenkörper« daher lediglich eine Metapher. 21 | »Objektive Tatsachen« sind Sachverhalte, »die jeder aussagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann«. Davon zu unterscheiden sind die oben bereits erwähnten »subjektiven Tatsachen, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann«
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betrachtet und ihre Kenntnis als eine Erkenntnis bewertet, die ohne die Apparaturen nie zu gewinnen gewesen wäre – »self knowledge through numbers«. Dem Primat des auf Messdaten reduzierten Körpers korrespondiert die Erwartung der Nutzer/-innen, dass die Messungen genau sind (»ich hab’s gern genau, und das soll er dann auch genau machen«), genauer jedenfalls als die subjektiven Wahrnehmungen, Empfindungen, Reflexionen. Die entkörperlichten »Zahlen und Bilder« (Duttweiler in diesem Band) sollen Gewissheit spenden, wo Unwissen unvermeidlich ist (der eigene Schlafrhythmus lässt sich so wenig beobachten wie der Blutzuckerspiegel oder der Kalorienverbrauch) oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand zu beseitigen wäre (Schritte könnten mitgezählt, die Zeit des Zu-Bett-Gehens handschriftlich notiert werden). Der Zuwachs an Körperwissen ist dabei kein Selbstzweck, sondern dient zum einen dazu, das eigene Verhalten zu ändern, mitunter, aber keineswegs per se, in Richtung Selbstoptimierung (»das Gerät hilft, um meine Ernährung noch mehr zu optimieren«). Zum anderen fungieren die Körperdaten als Referenzwerte für die Bewertung der eigenen Selbstwahrnehmung. Nicki beispielsweise nutzt die Informationen über ihr Essverhalten (Kalorienverbrauch), »um festzustellen, ob das mit meinem Gefühl übereinstimmt«, oder vergleicht die Schlafdaten mit ihrem Müdigkeitsoder Frischeempfinden. Dabei sei es keineswegs so, dass die Zahlen in jedem Fall einen höheren Erkenntniswert hätten als die Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung. Es mag ihrem beruflich bedingten »hohem Körperbewusstsein« geschuldet sein, dass Nicki den (gemessenen) objektiven Tatsachen ihre (gespürten) subjektiven Tatsachen gegenüberstellt und jene mitunter relativiert, ihren Empfindungen also mehr Bedeutung beimisst als den Zahlen und Bildern auf dem Smartphone. Nicki sagt: »Du darfst dich nicht von der Technik beherrschen lassen, sondern musst immer noch in erster Linie auf dein Körpergespür selber hören.« Der in dieser Aussage mitschwingende Appell lässt vermuten, dass mindestens für Self-Tracker/-innen mit einem geringer ausgeprägten Körperbewusstsein als jenes von Nicki der naturwissenschaftliche Körper »ein Programm für möglichen Gehorsam« darstellt, das heißt, eine Norm, die als »Richtlinie für die Eigenführung« (Schmitz 2012: 11) fungiert. Wer sich für die Praxis des Self-Trackings entschieden hat, ›gehorcht‹ zumindest eine Zeitlang22 den Daten und richtet sich und sein Verhalten danach aus. (Schmitz 2003: 62), was zum Beispiel für alle Tatsachen des leiblich-affektiven Betroffenseins gilt. 22 | Die Bindungsdauer beim Self-Tracking scheint relativ kurz zu sein, ihre Dropout-Quote mit anderen Worten hoch (vgl. Duttweiler/Gugutzer 2015: 30). Auch Nicki nutzte ihr Fitnessarmband nur ca. ein Jahr, obwohl sie zum Zeitpunkt des Interviews, das ein halbes Jahr nach dem Beginn ihrer Self-Tracking-Phase stattfand, davon noch sehr begeistert war. Ein- und Ausstieg in bzw. aus der Welt des Self-Trackings fielen bei ihr mit negativen und positiven Krisen in ihrem Privatleben zusammen: Zum einen mit einer Ehekrise, die letztlich in die Scheidung mündete, zum anderen mit dem Beginn einer neuen Partnerschaft, die zur
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4. V erknüpfung von E inzelheiten : verne t z te K örper Self-Tracking fasziniert seine Nutzer/-innen, so lässt sich der vorangegangene Abschnitt zusammenfassen, weil es ein Leben nach Zahlen verspricht, das übersichtlich, eindeutig und gestaltbar ist. Self-Tracking reduziert die Komplexität des Lebens auf wenige Körperdaten und vermittelt dadurch Sicherheit und Orientierung. Darin besteht – in neophänomenologischer Terminologie – generell der Vorteil eines konstellationistischen gegenüber einem situationistischen Dasein:23 Die Kombination und Korrelation einzelner Daten (Konstellation), die aus einer ungeordneten, ungeschiedenen und undurchschaubaren Ganzheit (Situation) herausgelöst werden, suggeriert Klarheit, Struktur, Machbarkeit. An den zentralen thematischen Feldern des Self-Trackings – Ernährung, Bewegung, Schlaf – ist diese Praxis, die situative Wirklichkeit in eine konstellationistische Wirklichkeit zu transformieren, gut zu beobachten. Was aber meint Schmitz mit »Situation«? »Eine Situation […] ist charakterisiert durch Ganzheit (d.h. Zusammenhalt in sich und Abgehobenheit nach außen), ferner eine integrierende Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen und eine Binnendiffusion dieser Bedeutsamkeit in der Weise, daß die in ihr enthaltenen Bedeutungen (d.h. Sachverhalte, Programme, Probleme) nicht sämtlich – im präpersonalen Erleben überhaupt nicht – einzeln sind.« (Schmitz 2005: 22; Herv. im Orig.)
Ernährung, Bewegung oder Schlaf sind Situationen in dem hier formulierten Sinne. Der Schlaf zum Beispiel ist eine thematisch und atmosphärisch zusammengehaltene »Ganzheit« mit einem relativ eindeutigen Anfang und Ende, wodurch er sich vom Wachzustand abhebt, und zu der außerdem charakteristische dingliche (Bett, Kopfkissen), räumliche (abgedunkeltes Schlafzimmer) und zeitliche (Nacht) Arrangements sowie körperliche Praktiken (horizontale Lage, geschlossene Augen) gehören. Der Schlaf ist überdies ein Sachverhalt, das heißt,
Heirat führte. Womöglich zeigt sich hier ein weiteres allgemeines Merkmal des Self-Trackings, das seine Kurzlebigkeit erklärt: Self-Tracking ist ein Krisenbewältigungsphänomen, das nach Behebung der Krise überflüssig wird. 23 | »Situation« ist ein ontologischer Grundbegriff der Neuen Phänomenologie, »Konstellation« sein Gegenbegriff, das Leben in Situationen jenem in Konstellationen vorgängig (vgl. Schmitz 1999: 21-28, 2005, Kap. 1, 2010a; vgl. dazu auch Großheim 2010). Dazu Schmitz (2003: 91): »Situationen sind die primären Heimstätten, Quellen und Partner alles menschlichen und tierischen Verhaltens; alles Denken, Fühlen, Wollen, Vorstellen und Tun schöpft aus ihnen, fällt in sie zurück und hält sich analytisch und kombinatorisch nur in Zwischenschritten bei einzelnen aus Situationen explizierten Themen und deren Konstellationen auf.«
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ein Phänomen, das es wirklich gibt,24 mit dem bestimmte Programme verbunden sind, zum Beispiel der Wunsch, acht Stunden zu schlafen, oder die Erwartung, dank der neuen Matratze besonders gut zu schlafen, der nicht selten aber auch Probleme aufweist, etwa schlechte Träume oder das Nicht-einschlafen-Können. Sachverhalt, Programme und Probleme sind ineinander verschränkt und bilden insofern eine integrierende, binnendiffuse Bedeutsamkeit. Das heißt, die einzelnen Elemente des Schlafs treten während des Schlafs nicht als Einzelheiten hervor, und auch nach dem Schlaf bedarf es einer ausdrücklichen reflexiven Zuwendung, um aus dieser ganzheitlichen Situation ein konstellationistisches Ereignis zu machen. Eine solche »Explikation«25 der Schlafsituation findet beispielsweise statt, wenn man der Partnerin nach dem Aufstehen seinen nächtlichen Albtraum erzählt oder Erklärungen für das späte Einschlafen sucht. Auf dieselbe Weise ließen sich Ernährung und Bewegung als Situationen beschreiben. Self-Tracking ist nun eine Praxis, die mit technischer Hilfe Einzelheiten aus den Situationen expliziert und damit aus Ernährung, Bewegung, Schlaf Konstellationen macht, nämlich »Vernetzungen einzelner Faktoren« (ebd.: 27), hier also Vernetzungen körperlicher Einzelfaktoren. Exemplarisch dazu Nickis Beschreibung der Art, wie ihr Self-Tracking-Gerät ihr Schlafverhalten misst und auf dem Smartphone anzeigt: »Ich steck’s in der Früh immer an um zu gucken, wie war denn mein Schlaf (schmunzelt)? […] Hier siehst du schon, da leuchtet er und ist ganz aus dem Häuschen, weil ich 110 % meines Schlafziels erreicht hab. Tu ich das nicht, ist es einfach nur stinkfad blau. Und dann kannst du dir genau anzeigen lassen, die dunkelblauen Balken sind Tiefschlafphasen, die hellblauen Balken sind leichter Schlaf, zwischendrin das kleine Orange, oder auch am Anfang und am Ende, da warst du wach. Oder das hat das Band als wach empfunden. Du kannst dir genau, wenn du hier mit dem Finger drübergehst, die Uhrzeit anzeigen lassen, zum Beispiel dieser große Tiefschlafbalken ist von zwei Uhr zwölf angefangen bis vier Uhr neunzehn. Also mal über zwei Stunden mal richtig schön im Tiefschlaf. Erholung pur, sozusagen. Und das Ganze zeigt er dir hier unten eben auch noch mal in Zahlen geschrieben an. Insgesamt fünf Stunden sechs Minuten Tiefschlaf, leichter Schlaf drei Stunden zehn Minuten. Du hast elf Minuten gebraucht, bis du eingeschlafen bist, lagst dann in der Nacht insgesamt 57 Minuten wach.«
24 | »Sachverhalte sind die Abhebungen von der Wirklichkeit (dem Dasein)« (Schmitz 1990: 59). Der Schlaf ist genau genommen ein »tatsächlicher Sachverhalt« bzw. eine »Tatsache«, eben weil er wirklich ist. Im Unterschied dazu sind »untatsächliche Sachverhalte« (ebd.: 5) nicht wirklich, sondern zum Beispiel erfunden, phantasiert oder eingebildet. 25 | »Explikation ist die Vereinzelung von Sachverhalten, Programmen und Problemen aus der chaotischen Mannigfaltigkeit und entspricht also einer Individuation dieses chaotischen Mannigfaltigen selbst.« (Schmitz 1990: 68)
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Das Self-Tracking-Ding expliziert aus Nickis Schlaf drei Phasen, Wachphase, Leicht- und Tiefschlaf, und dokumentiert diese minutengenau in Form von Zahlen und bunten Balkendiagrammen. Aus der binnendiffusen, ganzheitlichen Situation, die der Schlaf ist, werden einzelne Körperfaktoren isoliert. Die Stimmung und der Grad an Müdigkeit vor dem Zubettgehen, die Ereignisse des Tages, die beim Liegen im Bett einem durch den Kopf gehen, die Farbe und der Geruch der Bettwäsche oder die Größe und Härte des Kopfkissens als wichtige Rahmenbedingungen des Schlafs sind damit ebenso außen vor wie die Frage, ob man allein oder zu zweit im Bett liegt, im eigenen oder einem fremden Bett schläft, Vollmond ist oder in der Nacht der erste Schnee gefallen ist, ob und was man geträumt hat etc. Self-Tracking reduziert die ganzheitliche Situation Schlaf auf ein Netzwerk vereinzelter Körperdaten, das die Komplexität des Schlafs nicht annähernd wiedergibt. Dessen ungeachtet wird diese Komplexitätsreduktion (nicht nur) von Nicki wertgeschätzt. Das hat zum einen damit zu tun, dass die Technik die ›Geheimnisse des Lebens‹ zu lüften vermag, hier die des Schlafs,26 und das fasziniert. Zum anderen erlaubt die Identifikation einzelner Faktoren die Herstellung von Korrelationen, auf die man selbst nie gekommen wäre. »Er zeigt dir Zusammenhänge auf, die du vorher nicht wusstest«, so Nicki, zum Beispiel den Zusammenhang von Ernährung und Schlafverhalten oder gegangenen Schritten und Kalorienverbrauch. Solche Erkenntnisgewinne sind nur möglich, wenn und weil aus den Situationen einzelne Elemente expliziert und miteinander vernetzt werden. Die Vernetzung individueller körper- und personennaher Faktoren muss dabei nicht auf das eigene Smartphone beschränkt bleiben, sondern kann sozial ausgeweitet werden, indem man sie »mit der Community teilt«, einem internetbasierten Netzwerk Gleichgesinnter. An oder neben die Stelle von gemeinsamen Face-to-Face-Situationen (Familie, Verein, Peer Group) treten auf diese Weise Konstellationen von Daten, die virtuelle Beziehungen symbolisieren. »Man kann sich Freunde in der Community zulegen« oder ein »Team hinzufügen«, so Nicki, »was im Prinzip aber nichts anderes als ein Wettstreit ist: ›Ich hab heute schon meine 10.000 Schritt, und du?‹«. Aufgrund dieses kompetitiven Charakters der Self-Tracking-Community verzichtet Nicki auf die Vernetzung mit anderen SelfTrackerinnen und Trackern, wenngleich sie nicht ausschließen möchte, dass die Community eine »zusätzliche Motivationshilfe« sein könnte. 26 | Mit Max Weber ließe sich in dem Zusammenhang von der »Entzauberung der Welt« durch »Intellektualisierung und Rationalisierung«, im Besonderen durch die »wissenschaftlich orientierte[.] Technik« sprechen (Weber 1994 [1917]: 9): Dem Schlaf wird sein Zauber genommen, dem Leben seine Geheimnisse, wenn versucht wird, es durch »Berechnen [zu] beherrschen« (ebd.). Zum Zusammenhang von wissenschaftlich-technologischer Entzauberung der Welt und körperlich-sinnlicher Verzauberung der Welt vgl. Gugutzer (2016), zu Webers Rationalisierungsthese als modernisierungstheoretische Interpretationsfolie für das Phänomen Lifelogging vgl. Selke 2014: 186f.
Self-Tracking als Objektivation des Zeitgeists
5. S elf -Tr acking als P l ak at-S ituation : M erkmale des Z eitgeists Die neophänomenologische Analyse von Self-Tracking hat gezeigt, dass es sich hier um eine Praxis handelt, in deren Mittelpunkt eine spezifische Verbindung zwischen technischen Dingen und menschlichem Körper steht. Das Spezifische dieser Relation ist eine sich primär im Medium leiblicher Kommunikation vollziehende partnerschaftliche Beziehung, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass die Dinge dank ihrer aisthetischen Qualitäten faszinieren und aufgrund ihres Affizierungspotenzials manipulieren, also eine leiblich ergreifende Macht ausüben. Die gängige Kritik am Self-Tracking, es würde zu einer Leibverdrängung oder Leibunterdrückung führen, indem es den »eigenen Leib qua Messung in ein Ding« verwandele, in »ein Objekt kalkulativen Wissens, über das verfügt werden kann« (Vormbusch 2015: 15), ist aus Sicht der Phänomenologie, die zwischen Körper und Leib analytisch trennt, nicht zutreffend. Der Leib als die affizierbare, wahrnehmungs- und resonanzfähige Seite menschlicher Existenz kann nicht gemessen und auf diese Weise in ein Ding verwandelt werden. Gemessen werden kann nur der naturwissenschaftliche Körper. Der naturwissenschaftliche Körper ist für die Praxis des Self-Trackings zweifelsohne konstitutiv, nicht minder aber der spürbar-spürende Leib. Das zeigt sich nicht zuletzt an der leiblich ergreifenden Suggestionsmacht der Self-Tracking-Dinge, die im Sinne einer habituellen Fixierung durch einseitige Einleibung mitunter sogar Suchtpotenzial besitzen. Leib und Körper spielen beim Self-Tracking also eine gleichermaßen wichtige Rolle. Einen besonderen Stellenwert hat der Körper nur insofern, als er als doppeltes Konstellationsprodukt (›Datenkörper‹ und ›Netzkörper‹) eine fundamentale Bedingung des sich stetig ausweitenden Lebens in Vernetzungen darstellt.27 27 | Auf diesen Sachverhalt haben in einer ganz anderen, kultur- und ritualtheoretischen Diktion sinngemäß auch Andréa Belliger und David Krieger (2015) hingewiesen. Belliger und Krieger zufolge ist die »Selbstquantifizierung«, wie sie paradigmatisch von der Quantified-Self-Bewegung propagiert und in der Praxis des Self-Trackings realisiert wird, ein Ausdruck der »Normen der Netzwerkgesellschaft« (ebd.: 395), in der wir leben. »Die verschiedenen Praktiken der Selbstquantifizierung erzeugen sozio-technische Akteur-Netzwerke. Der Körper wird zu einem digital fassbaren, messbaren und objektivierten Selbst. Es entsteht somit die Möglichkeit, die Netzwerknormen, die maßgebend sind für die Sozialisation in die Netzwerkgesellschaft, im wortwörtlichen Sinne zu ›verkörpern.‹« (Ebd.: 400) In einer auf (Selbst)-Quantifizierung ausgerichteten Netzwerkgesellschaft ist der menschliche Körper primär Datenobjekt und das verkörperte Subjekt Träger von »Netzwerknormen und Netzwerkeigenschaften« (ebd.: 396). Soziale Ordnung manifestiert sich in solchen Gesellschaften entsprechend als Netzwerk verkörperter Subjekte und Objekte bzw. als Konstellation von menschlichen und nichtmenschlichen Individuen – Individuum im wörtlichen, nämlich quantitativen Sinne als unteilbares Einzelding, das mit anderen Einzeldingen vernetzt ist.
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Was sagt das nun über den Zeitgeist aus? Inwiefern ist Self-Tracking eine Objektivation des Zeitgeists? Aus neophänomenologischer Perspektive lässt sich dazu zunächst ganz allgemein sagen: Der Zeitgeist ist eine »gemeinsame, implantierende, zuständliche Situation« (Kluck 2008: 27) und Self-Tracking eine »plakative Äußerung« (ebd.: 32) dieser Situation. Damit ist gesagt, dass der Zeitgeist etwas Überindividuelles, Kollektives ist (»gemeinsam«), in das der einzelne Mensch hineinwächst, weshalb er darin tief verwurzelt ist (»implantierend«), und das nicht nur von aktueller, sondern langanhaltender Dauer (»zuständlich«) ist. Ein »Plakat« – die »Zusammenziehung einer segmentierten zu einer impressiven Situation«28 (Schmitz 1999: 25) – ist Self-Tracking dabei in der Hinsicht, dass es das abstrakte Phänomen Zeitgeist auf einen konkreten, vielsagenden Eindruck zusammenschnürt, durch das der Zeitgeist fassbar und handhabbar, was auch heißt: analysierbar wird. Self-Tracking als Plakat-Situation ist eine Manifestation des Zeitgeists in verdichteter Form. Konkret sind es vor allem vier Merkmale des Zeitgeists, die im Self-Tracking plakativ zum Ausdruck kommen: (1) Primat des naturwissenschaftlichen Körpers. Der messbare, quantifizierbare und dadurch manipulierbare gegenständliche Körper ist eine Leitidee unserer Epoche, die sich kulturübergreifend in den verschiedensten gesellschaftlichen Handlungsfeldern findet. Organtransplantation, Präimplantationsdiagnostik, Neuroenhancement, Doping oder ästhetische Chirurgie sind hierfür nur einige gesellschaftlich besonders kontrovers diskutierte Beispiele. Die Vorstellung, dass das Ich oder Selbst im Gehirn sitze, wie die Hirnforschung nahelegt (kritisch dazu Fuchs 2010), ist ein weiteres Beispiel für die Vorherrschaft des naturwissenschaftlichen Körperverständnisses in unserer Zeit. Ein typisches Plakat hierfür ist das Motto der Quantified-Self-Bewegung »self knowledge through numbers«: Die Messung von Körperdaten wird mit Selbsterkenntnis gleichgesetzt. (2) Aisthetisierung und Aufwertung der Leiblichkeit. Eine »Ästhetisierung der Lebenswelt« (Welsch 1993) bzw. eine »Ästhetisierung des Alltags« (Schulze 1992) wird von Philosophie und Soziologie seit mehr als zwei Jahrzehnten diagnostiziert. Die Versinnlichung und Verleiblichung des alltäglichen Lebens hat seitdem weiter um sich gegriffen, was beispielshaft an der Omnipräsenz von »touch«-Geräten, an der ›Verbuntung‹ von Alltagsgegenständen (Socken, Fußballschuhe, Venenabbinder etc.) oder am Siegeszug der Wellness-Kultur zu beobachten ist. »Erlebnisrationalisierung« (ebd.) ist zu einer grundlegenden Handlungsmaxime in individualisierten Gesellschaften geworden. 28 | Man denke an ein Werbeplakat an einer Litfaßsäule: Das Plakat bringt in Bild und Wort eine Botschaft verkürzt, aber prägnant zum Ausdruck. Eine ausführliche, argumentativ gut begründete Erläuterung der Botschaft (segmentierte Situation) wäre sachlich vielleicht angemessener, aber was zählt und damit reicht, ist der Eindruck (impressive Situation), den das Plakat beim Betrachter hinterlässt.
Self-Tracking als Objektivation des Zeitgeists
(3) Technik als sozialer Akteur. Der klassischen philosophischen Anthropologie zufolge ist der Mensch ein »Mängelwesen« (Herder) und Technik daher »Organersatz, Organentlastung, Organüberbietung« (Gehlen 1993: 93). Zugleich nehme, so Gehlen, das »Unbehagen an der Technik« aufgrund ihrer »Überspezialisierungen« und ihres »weltweiten Umfangs« in der modernen Gesellschaft stetig zu (ebd.: 97-100). Der spätmoderne Geist der Zeit ist ein anderer. Technische Geräte sind nicht mehr bloß funktionale Substitute für die naturbedingten Mängel menschlichen Daseins, sondern emotional besetzte und zum Teil wie Lebenspartner behandelte »geliebte Objekte« (Habermas 1999). Die gesellschaftliche Bedeutungszunahme der Technik spiegelt sich auch im konzeptionellen Stellenwert von Dingen und Artefakten in aktuellen sozial- und kulturwissenschaftlichen Theorien wider (ANT, Praxeologie, Neue Phänomenologie, »new materialism«). (4) Denken und Leben in Konstellationen. Zu den vorherrschenden Ideen unserer Zeit zählt das »Leitbild der modernen Technik, die Maschine, die durch Vernetzung einzelner Bauteile konstruiert wird« (Schmitz 2005: 29). Die analytische Identifikation einzelner Faktoren und ihre anschließende Vernetzung – Ausdruck der wissenschaftlich-technologischen Rationalität der Moderne – erweist sich als modus operandi in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Vorzüge dieses konstellationistischen Ideals sind offensichtlich: Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Technologie, Medizin, Massenmedien etc. wären nicht denkbar, würden sie nicht diesem Leitbild folgen. Dass es eine Kehrseite hat, ist aber ebenso offenkundig. Die spätmodernen Formen der Sinnsuche, in denen es um ›ganzheitliche‹ Erfahrungen geht, etwa in den diversen »populären Religionen« (Knoblauch 2009), sind dafür nur ein aktuelles Beispiel. In einem allgemeineren Sinne ist die Kehrseite des Denkens und Lebens in Konstellationen der Verlust an gemeinsamen Situationen, in die das menschliche Leben ursprünglich eingebettet ist. Oder wie Schmitz (2010: 45) sagt: »Der Vormarsch des Konstellationismus, etwa im Zeichen der fortschreitenden Digitalisierung, verdrängt das Kultursystem der Vergegenwärtigung von Situationen.«29 Wie das zu bewerten ist, sei dem Einzelnen überlassen. 29 | Zur neophänomenologisch fundierten Kulturkritik im Anschluss an Schmitz siehe die Beiträge in Großheim/Kluck (2010). Im Mittelpunkt dieser Kulturkritik stehen zwei Aspekte (vgl. Kluck 2008: 37ff.): Der Konstellationismus führt erstens zur Auflösung »implantierender Situationen« und damit einhergehend zweitens zu der von Schmitz so genannten »autistische[n] Verfehlung des abendländischen Geistes«. »Autistische Verfehlung« meint die »Zersetzung implantierender Situationen – des Nomos, der aus dem Hintergrund der gemeinsamen Situation die individuelle Lebensführung steuert, mit breitem Spielraum zur Auseinandersetzung – in Konstellationen einzelner, isolierter persönlicher Situationen« (Schmitz 1999: 55). In soziologischen Termini ließe sich diese Kulturkritik mit Begriffen wie Enttraditionalisierung, Säkularisierung, Individualisierung oder Atomisierung umschreiben.
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Subjekte und Technologien
Social Surveillance Praktiken der digitalen Selbstvermessung in mobilen Anwendungskulturen Ramón Reichert
Sensortechnologien, GPS-gestützte Lokalisierungen, intelligente Messverfahren und zahlenbasierte Wissensmedien ermöglichen Praktiken der digitalen Selbstvermessung und entwickeln neue Formen von Steuerungs- und Kontrollwissen. In populären und wissenschaftlichen Diskursen wurde diese Entwicklung verschiedentlich als eine neue Form der narzisstischen Selbstbeteiligung oder der panoptischen Selbstüberwachung diskutiert (Bossewitch/Sinnreich 2013; Albrechtslund 2013) und es liegt nahe, die Medien der digitalen Selbstvermessung als ein Werkzeug zu verstehen, das den Körper erweitert und das Leben ›instrumentalisiert‹. Diese Annahme greift aber zu kurz, wenn man von einem konstitutiven Zusammenspiel von Medien, Selbstreflexion und sozialer Kommunikation ausgeht, das nicht einfach in vermeintlich ontologisch-verschiedene Bereiche segregiert werden kann. Obwohl die Medien der Selbstvermessung als persuasive Medien konzipiert sind und auf Veränderungen des alltäglichen Verhaltens abzielen, verlangen sie vom Subjekt die Bereitschaft, sich aktiv und produktiv auf ihre Anforderungen zu beziehen. Damit erstellen sie eine technisch-mediale Infrastruktur reflexiver Selbstbezüglichkeit, die das Subjekt in der Auseinandersetzung mit numerischen Daten und Informationsvisualisierungen einbringen muss, damit eine interaktive Selbstthematisierung der Individuen qua »social sharing« überhaupt funktionieren kann. Der hier vertretene Ansatz geht daher davon aus, dass die Medien der Selbstvermessung einen technisch vermittelten Rahmen bereitstellen, der die Anwender nicht bloß unterwirft oder unterdrückt, sondern sie auf eine bestimmte Art und Weise transformiert und produktiv macht. Um diese Produktivität herauszuarbeiten, gilt es drei Ausprägungen dieser Praktiken zu unterscheiden: Erstens generieren die konkreten Apparaturen der mobilen Aufzeichnungs- und Speichermedien die Daten der spezifischen Körperpraktiken. Diese Daten werden als distinkte, nummerische Repräsentationen physiologischer Leistungen und Funktionen sichtbar und lesbar gemacht. Die mit Hilfe der
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konkreten Apparate gesammelten Daten bilden Aussagen über das Ereignishafte der körperlichen Praktiken. Mit ihren evidenzbasierten Dateninszenierungen wird der Apparatur der Status einer medialen Öffnung zur Welt des Körpers in Aussicht gestellt. Die Sicht- und Sagbarmachung des Körpers qua Medien erhält eine epistemologische Dimension, insofern Medien die technischen Bedingungen der Möglichkeit der Aufzeichnung von körperlicher Aktivität geltend machen sollen und einen unmittelbaren Kausalnexus zwischen Körper und Messgerät suggerieren. Zweitens kontextualisieren die digitalen Medien die nummerischen Repräsentationen des Selbst, um sie in kulturell geteilten Kommunikationsräumen symbolisch zu verwalten. Dieser Bereich der biomedialen Kontroll- und Steuerungskultur wird in der einschlägigen Literatur oft mit dem funktionalistischen Begriff der Gamification assoziiert. Die bilddidaktische Gestaltung der Datensamples verdeutlicht, dass die technischen Medien der Selbstvermessung nicht nur die Rolle von Aufzeichnungs- und Speichermedien erfüllen, sondern mittels ihrer regulierenden Bedeutungsproduktion versuchen, auf das Verhalten der Subjekte Einfluss zu nehmen. In diesem Sinne treten die digitalen Medien der Selbstvermessung nicht nur als (neutrale) Hilfsmittel in Erscheinung, sondern werden auch für aktivierend-motivationale Prozesse eingesetzt. Drittens können die gesammelten und aufbereiteten Daten mittels Sozialer Medien verbreitet werden. Im Unterschied zu früheren Medienkulturen technisch vermittelter Lebensdaten sind die dokumentarisierenden Praktiken auf das Engste mit den kommunizierenden Praktiken im Kontext permanenter Konnektivität und kollaborativer Bedeutungsproduktion verknüpft. Die technische Möglichkeit, die statistisch ausgewerteten Daten und Zahlen des eigenen Lebens kontinuierlich auf multiagentielle Kollektive zu beziehen, konstituiert Vergleichs- und Wettbewerbsszenarios nicht nur für das Community-Building, sondern auch für die Agenda der staatlich-administrativen Gesundheitsprognostik. Die Bio-Datenbanken der digitalen Vernetzungskulturen sind daher als offene und dynamische Datenkollektive angelegt und integrieren die Feedbacktechnologien für lebensstilbezogene Transformationen (Selbstformung, Rationalisierung, Assimilierung).
1. G amification und S elbstkontrolle Mikrosensorische Aufzeichnungs- und Speichermedien wie die Fitness-Devices Endemondo Pro, Runkeeper, Runtastic, Nike+ Running, miCoach, MapMyRun sind nur einige von zahlreichen auf dem Markt befindlichen Gadgets, die individuelle Körperpraktiken in ein dichtes Netzwerk quantifizierender Verdatung überführen. Der Begriff der Verdatung bezeichnet mediale Verfahren und Praktiken, die für die Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Wissensbestände eingesetzt werden. In diesem Zusammenhang bedienen sich Fitness-Apps einer Vielzahl von Techniken und Medien. Sie entwickeln Handlungsanweisungen und Orientierungswissen, die das Monitoring und Mapping körperlicher Aktivitäten
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mit Körperdisziplinierungen und Selbstpraktiken verknüpfen und erstrecken sich von statistischen Auswertungen mittels Kurven, Korrelationen, Prozentwerten, Balkendiagrammen und Tabellen, vom Coaching bis zu Fitness-Testverfahren und detaillierten Plänen zur Gewichtsreduktion. Die Verdatung von Körper- und Verhaltensfunktionen zielt auf die Herstellung eines Individuums, »that becomes a knowable, calculable and administrable object« (Shove et al. 2012: 17). Dabei durchlaufen die Kulturtechniken des Messens unterschiedliche Verfahren, um Individuen und ihre Körper in Zahlen oder Einheiten zu verwandeln: »Quantification relies on data collection, followed by visualization of this data and cross-referencing, in order to discover correlations, and provide feedback to modify behaviour.« (Whitson 2013: 167) Die Fitness-Tracker sind mit einer Vielzahl von Aktivitätssensoren ausgestattet, um sportliche Leistungen und körperliche Befindlichkeiten in Echtzeit vermessbar zu machen. Ihre Messdaten umfassen zurückgelegte Distanzen, Zeit, Geschwindigkeit, Herzfrequenz, Hydration, Kalorienverbrauch u.a.m. Vor seiner Inbetriebnahme muss das physikalische Trägermedium zunächst auf seinen Nutzer abgestimmt werden, der aufgefordert wird, mit seinen Körperdaten einen personenbezogenen Vermessungsvorgang einzuleiten: Schrittlänge, Größe, Gewicht und Alter bilden Profildaten zur Verbesserung der Reliabilität der Daten. Die mittels der Fitness-Devices erhobenen biometrischen Daten können von ihren Nutzern mittels numerischer Messgrößen und Datenvisualisierungen erschlossen und zum Zweck der Selbstformung und Selbstdarstellung angeeignet werden. Durch die stabiler und schneller werdenden Mobilfunknetze sind viele Menschen mit ihren mobilen Endgeräten auch permanent mit dem Internet verbunden, was der Konnektivität einen zusätzlichen Schub verleiht. Die Wearables der Selbstvermessung (z.B. Smartwatches, Datenbrillen oder Aktivitätstracker) entfalten ihren informationsästhetischen Mehrwert aber erst in Verbindung mit der Einrichtung von Ludic Interfaces, die hergestellt werden, um die Datenvisualisierungen mit spieltypischen Elementen und Mechaniken anzureichern (Lupton 2014a: 12). Die spielerischen Umgebungen der TrackingTools werden mit dem Ziel, das Verhalten von Menschen zu beeinflussen, gleichermaßen für die Wissensvermittlung (»game based learning«) und die Nutzungsmotivation der User eingesetzt (Deterding 2015). Ein zentrales Element der Vermittlung spieleähnlicher Anwendungen, die mit Technologien und Designs aus dem Unterhaltungssoftwarebereich entwickelt werden, stellt das Dashboard dar. Es sorgt nicht nur für eine übersichtliche Auswertung der erhobenen Daten, sondern ermittelt auch Normabweichungen, Leistungsunterschreitungen oder erreichte Zielvorgaben. Das Dashboard, das in Browser-Anwendungen erreichbar ist, bündelt mehrere funktionale Elemente der digitalen Selbstvermessung: (1) Es stellt eine Anzeige im Sinne einer Mensch-Maschine-Schnittstelle dar, versammelt operationalisierbare Körperdaten in Echtzeit und macht sie mittels bildgebender Verfahren der popularisierenden Informationsvisualisierung evident. Die Daten werden in navigatorischen Geovisualisierungen, thematischen Karto-
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grafien, Balkendiagrammen respektive tabellarischen Rangordnungen und in anwendungsnahen Use-Cases-Diagrammen in Form von Tachometern, Thermometern, Ampel- und Scoring-Säulen dargestellt. Um die Lesbarkeit der jeweiligen Zahlenwerte zu erleichtern, sind numerische Repräsentationen oft auch mit Annotationen versehen, die grafisch, farblich, figurativ oder akustisch auf bereitet werden. Damit werden die Daten zusätzlich didaktisch vermittelt und in überschaubare und hierarchisch geordnete normalisierte und normalisierende Grenzzonen, Zielbereiche oder Mittelwerte eingebettet. (2) Das Dashboard fungiert auch als eine mediatisierte Datenbank, archiviert die personalisierten Körperdaten und ermöglicht die statistische Evaluation von durchschnittlichen Leistungswerten in Korrelation mit dem Benchmarking von Orientierungs- oder Zielgrößen, die individuell oder auch in Gruppenbeziehungen dargestellt werden können. Mit den Datenbankfunktionen des Dashboard können Fitness- und Gesundheitsdaten operativ verwaltet und miteinander vernetzt werden: Gewicht, Körperfettanteil, Herzfrequenz, Kalorienverbrauch, Blutdruck oder Blutzuckerwerte und die Aufnahme von Nahrungsmitteln und Wasser können in die Bio-Datenbank integriert werden. (3) Das Dashboard fungiert außerdem als offenes Kontrollmedium und verweist damit auf den Aspekt der subjekttransformativen Selbstpraktiken, wenn es etwa darum geht, die Überbietung oder das Verfehlen von vereinbarten Leistungszielen aufzuzeigen, um Verhaltensänderungen zu monieren. Ian Bogost beschreibt diese Art der körper- und verhaltenskodierenden Anweisungen und Empfehlungen als »prozedurale Rhetorik« (Bogost 2007: 9) und rekurriert mit Janet Murray (Murray 2000: 71) auf die spielerische Konstruktion eines Start- und Zielszenarios, das es dem Spielenden erlaubt, sich innerhalb definierter Regelvorgaben zu verwirklichen: »The player literally fills in the mission portion of the syllogisms by interacting with the application, but that action is constrained by the rules.« (Bogost 2007: 34) Neben den bilddidaktischen Vereinfachungen ihrer Informationsanalyse ist das entscheidende Grundproblem der von Bogost beschriebenen Gamification von medialen Anwendungen in der asymmetrischen Beziehung zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren zu suchen. Die Spielregeln sind einseitig programmiert und können von den Nutzern nur ausgeführt, selbst aber nicht mehr modifiziert werden, um den Auf bau und den Verlauf des Spieles zu beeinflussen. Mit seiner Ausrufung eines »ludic turn« räumt Joost Raessens (2012: 13) dem Spielenden einen zentralen Stellenwert in postmodernen Gesellschaftsstrukturen ein. Diesem Protagonisten der Gegenwartsgesellschaft verleiht er den Status eines »Homo Ludens 2.0« (ebd.) und setzt damit eine anthropologische Konstante, welche die heterogenen Praktiken des Spielens sozial und kulturell entdifferenziert. Die Gamifizierung der digitalen Enviroments vermag zwar für divergierende Interessen einen gemeinsamen Bezugspunkt darstellen, etabliert aber in derselben Weise neue Asymmetrien in sämtlichen Bereichen der spielerischen Mediennutzung. In diesem Zusammenhang verweisen Kritiker der Gamification auf die autoritären Strukturen spielerischer Enviroments und persuasiver Inter-
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aktion und machen die strategischen Zusammenhänge zwischen technischer Infrastruktur, Datenakkumulation und ökonomischer Verwertbarkeit sichtbar (Gerlitz/Helmond. 2013; Gerlitz 2011). Die Annahme, dass man mit sogenannten Badges (Abzeichen) seine Errungenschaften ›erspielen‹ kann, verweist aber letztlich weniger auf eine freiheitliche und selbstbestimmte Art und Weise des Spielens, sondern vielmehr auf die Vorstellungen von Marketingmanagern, das Gameplay mit bestimmten Unternehmenszielen zur Deckung zu bringen (Schollas in diesem Band). Folglich können die Badges nur dann erworben werden, wenn ein bestimmter Wert als Zielvorgabe erreicht wird. Diese in Szene gesetzten Leitwerte werden nicht nur genutzt, um Verhalten als veränderbar zu plausibilisieren, sondern fordern von den Nutzenden eine technische Anpassungsleistung, sich an den Messwerten abzuarbeiten (Whitson 2013). Der Zielwert firmiert weniger als Maß der individuellen Selbstverwirklichung, sondern vielmehr als ein formales Handlungsdiktat, das erst dann seine Befehlsform aufgibt, wenn sein vorgeschriebener Zielwert erreicht wird. Adrian Rosenthal, leitender Angestellter bei MSLGermany, schreibt in seinem Blog Self-tracking über die formale Autorität der Strukturvorgaben spielerischer Gratifikationen: »Um mein Tagesziel von 3.800 Fuelpunkten zu erreichen, bin ich schon vor Mitternacht noch 20 Minuten auf der Stelle gerannt. Zudem achte ich bewusster darauf, mehr zu gehen bzw. zu laufen: Wäre ich früher nicht auf die Idee gekommen, 30 Minuten zu einer Verabredung zum Abendessen zu laufen, mache ich das mittlerweile regelmäßig.« (Rosenthal 2014)
Diese Selbstbeschreibung verdeutlicht, dass von Nutzern das Abarbeiten von Zielvorgaben und die formale Einhaltung von Spielenormen über die subjektbezogene Verhaltensänderung gestellt werden, die darauf abzielt, das Subjekte ihr gesamtes Alltagshandeln reflektieren und umstellen. Im Folgenden möchte ich die Subjektivierungsprozesse näher betrachten, die sich aus der Überlagerung von Messtechnik, Informationsarchitektur und körperlichen Praktiken herausbilden. In diesem Zusammenhang kann die These gestärkt werden, dass der gesellschaftlichen Akzeptanz einer dauerpräsenten Verdatung des menschlichen Körpers eine Verlängerung medialer Technologien ins Subjekt zugrunde liegt. Die von den Nutzern verwendeten Formen technischer Aufzeichnung und Verbreitung überschreiten die Handlungsanweisungen der Gadgets, indem sie die Self-Tracking-Devices auch für datenbasierte Selbstinszenierungen umfunktionieren. Denn die erweiterten Anwendungen der FitnessDevices beinhalten unterschiedliche Medien der Selbstdokumentation. Dabei handelt es sich um Tagebücher, kalendarische Medien, Chroniken und Kurvendiagramme, die Maßeinheiten und Orientierungsparameter für die individuelle Bilanzierung schaffen und den Nutzern einen »Spielraum der ›Selbstpraxis‹« (Dünne/Moser 2008: 13) eröffnen. Sebastian Deterding hat den Begriff der Gamification maßgeblich geprägt. Seine vielzitierte Definition meint die ›Eingliederung‹ von spielerischen Elementen
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und Funktionen in nichtspielerische Kontexte, alltägliche Prozesse und Objekte (vgl. Deterding 2011). Diese ›Eingliederung‹ des Spiels in die Lebenswirklichkeit der Nutzer wurde von Ian Bogost als strategische Finte eines »marketing bullshit« gebrandmarkt, die darauf abzielt, »to capture the wild, coveted beast that is videogames and to domesticate it for use in the grey, hopeless wasteland of big business« (Bogost 2011).1 Die Gamifizierung verläuft aber nicht als ein eindimensionales und lineares Popularisierungsprogramm (Reichert 2001: 3f.), das gleichsam von ›oben‹ nach ›unten‹ verordnet und durchgesetzt wird, sondern eröffnet prozessorientierte Spielräume, die im Aushandlungsprozess der beteiligten Akteure und ihrer divergierenden ›Rollen‹ und ›Interessen‹ am Spiel situativ und selektiv entstehen (Callon 1987). Wenn der Anspruch besteht, das Self-Tracking nicht als bloße Ausführung überindividueller Normen oder passiver Aneignung zu verstehen, ist es notwendig, einen differenzierten Begriff sozialer Praxis zu entwickeln. Dieser räumt den Individuen die grundlegende Möglichkeit ein, sich als reflektierende Subjekte im Mediengebrauch zu entwerfen. Diese Sichtweise sorgt dafür, dass die Anwendungen als offen für ihre Umkehrung oder Veränderung gedacht werden können. Versteht man Gamification nicht als einen sozial verdeckten Dezisionismus von Spielregeln und Anordnungen, sondern als einen wechselseitigen, multilateralen und verteilten Effekt der Netzwerkdynamik, dann können die spielerische Elemente und Funktionen der digitalen Fitness- und Gesundheitsanwendungen als »boundary objects« (Start/Griesemer 1989) freigelegt werden, die Möglichkeitsbedingungen von Kommunikation entwickeln und dabei festgelegte Bedeutungskontexte transformieren können: »Boundary objects are one way that the tension between divergent viewpoints may be managed. […] The tension is itself collective, historical, and partially institutionalized.« (Bowker/Star 1999: 292) Das Analysewerkzeug der »boundary objects« erlaubt es, den Handlungsdeterminismus in Kommunikationsprozessen aufzubrechen und alle möglichen Übersetzungen und Vermischungen digitalisierter Körperlichkeit in Betracht zu ziehen, die von den gelegentlichen »boundary objects« im Gestus einer losen Kopplung zusammengehalten werden (Googin 2013). In diesem Sinne kann etwa gefragt werden, inwiefern die Vermittlungen von Biodaten Grenzobjekte (z.B. numerische Notationen, Geovisualisierungen, digitale Objekte, Computerprogramme) hervorbringen, welche die funktionalen Interessen der Beteiligten repräsentieren. Als gemeinsame Referenzpunkte etablieren die Grenzobjekte eine gemeinsam geteilte und stabile Ordnung von Informationen und unterstützen die Verhandlungen und Wissenstransformationen, wenn es darum geht, Self-Tracking im Kontext von verständigungs- und verstehensorientierten Kommunikationskulturen zu vermitteln (die diesbezügliche Bandbreite reicht von Dashboard-Anwendungen bis zu Online-Foren). Schließlich können das ›Aufleveln‹ oder das ›Score-Hunting‹ inner1 | Vgl. die kritische Entgegnung von Janet H. Murray: »An example of gamification that isn’t bullshit«, in: inventingthemedium.com, http://inventingthemedium.com/2013/05/06/ an-example-of-gamification-that-isnt-bullshit vom 6.5.2013 (letzter Zugriff 20.6.2015).
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halb der gamifizierenden Informationsästhetik als bereits ausverhandelte Durchgangspunkte in einem verhaltensmoderierenden Orientierungsraum beschrieben werden, die unterschiedliche Anwender als ein kollektives Gedächtnis teilen, ohne dass sie sich untereinander verständigen müssen. Die Biodaten, die Self-Tracker in den Kommunikationsprozessen des Social Net herstellen, stammen von Handelnden, die nicht nur handeln, sondern in ihrer Praxis auch fortwährend anzeigen, was sie tun. Dementsprechend eröffnen Biodaten weniger ein Fenster zu faktischen Körperwelten, sondern gehen aus sozialen Interaktionen hervor, mit denen Handelnde ihre Handlungen für sich selbst und andere Handelnde wahrnehmbar machen. In grundsätzlicher Hinsicht sind Daten weder gegeben noch vorhanden, sondern werden immer auch auf reflexive Weise in den Handlungen selbst erzeugt (Garfinkel 1967). An der Schnittstelle von reflexiver Selbstthematisierung und sozialen Feedbacktechnologien siedeln sich die Grenzobjekte der digitalen Selbstvermessung auf Online-Plattformen an: Sie bilden die Voraussetzungen für Standardisierungen, Routinen und kooperativer Körperkontrolle mittels eines »stabilized way of acting« (Miettinen/Virkkunen 2005: 437), der es den Self-Trackern ermöglicht, neue Informationen auf der Grundlage festgelegter Abläufe zu erstellen.
2. F eedback und soziale K ontrolle Byron Reeves und Leighton Reid bringen noch einen weiteren Aspekt der Gamification zu Sprache, indem sie den Zusammenhang von Datenvisualisierung und Feedbacktechnologie hinsichtlich ihrer verhaltensmoderierenden Funktionen thematisieren: »Game interfaces set a new bar for feedback. At any one time, Helen sees progress bars, zooming numbers, and status gauges, all in a well-organized dashboard that lets players know how things are going, good or bad« (Reeves/Read 2009: 71). Sie machen deutlich, dass die Implementierung von Feedbacktechnologien darauf ausgerichtet ist, auf das Verhalten der Nutzer in actu einzuwirken: »Quick feedback creates immediacy and contingency in the interactions. When you make a new move, you know quickly whether the action was right or wrong. The close connection between behaviour and feedback increases the likelihood that the reinforcement will be effective.« (Reeves/Read 2009: 72)
In Anlehnung an Reeves und Reid kann der Stellenwert von Feedbackschleifen sowohl für die Mensch-Maschine-Schnittstellen als auch für ihre sozialen Erweiterungen herausgearbeitet werden. Mobile Sport- und Fitness-Tracker sind miniaturisierte Computeranwendungen, die hauptsächlich für das körperliche Training ihrer Benutzer eingesetzt werden. Sie verfügen über eine Vielzahl biometrischer Feedbackschleifen und entwickeln eine Vielzahl multimedialer Anweisungen, welche ihre Benutzer dazu bringen sollen, sich auf bestimmte Weise mit den
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Zahlenwerten auseinanderzusetzen. Zeitverlaufsdiagramme, Audiosignale, Szenario-Charts, Mittelwertberechnungen, Fortschritts-, Zielwert- und Regressionsanalysen übernehmen selbst Handlungsinitiativen, indem sie Handlungsziele festsetzen und eigenständige Reaktionen der Benutzer einfordern. Als Medien der körperlichen Übung sind sie daher mit diversen Funktionen des Feedbacks ausgestattet, die ein dichtes Netz der Verdatung und der Kontrolle des Körpers etablieren. Dieses digitale Geflecht aus technischer Kontrolle, Selbstkontrolle und sozialer Kontrolle zielt darauf ab, beim Benutzer Fähigkeiten der Selbstthematisierung und der Selbstführung zu entwickeln. Die Lauf-App Couch to 5k operiert mit einer automatisierten Feedbacktechnologie, die eng an die Wissenspraxis der Zielwertanalyse angelehnt ist. Ihr Coaching-Feedback ist unidirektional ausgerichtet und gibt die wichtigsten Leistungsparameter beim Laufen aus (z.B. die Laufzeit pro Strecke). Der Benutzer ist mit einem Voice-over konfrontiert, die mit einem automatischen Script aktiviert wird und ausschließlich Protokollsätze aussendet (z.B. »2 Minuten bis zum Erreichen der Zielvorgabe«). Erst wenn die Nutzer die Leistungsvorgaben erreichen, die Schrittzähler und GPS ermitteln, werden sie vom Audio-Coach über das Erreichen des Ziels informiert. Beim Ziel-Distanz-Lauf berichtet das Audio-Feedback nach jeder Runde über die vom Computer berechnete Endzeit und bewertet die Zeitvolumen bis zur Zielvorgabe entweder positiv oder negativ. Die in ein technisches Verhältnis integrierte Befehlsstruktur von Coach und Sportler ist in diesem Fall nicht spielerisch, sondern einseitig und asymmetrisch gestaltet und basiert aus der Sicht des Sportlers auf einem Verhältnis der körperlichen Disziplinierung. Abweichendes Verhalten oder das Verfehlen der selbstoptimierenden Verhaltensänderung wird vom System als Zielverfehlung aufgefasst und zieht Formen der negativen Gratifikation nach sich, wenn traurige Smileys und rot gefärbte Fortschrittsbalken aufgezeigt werden. Der Modus der Ziel-Distanz-Läufe operiert mit Zwischenzielen und Endzielen, die vom Nutzer selbst definiert werden. Daraus sollen sich idealiter kurz- und längerfristige Lernziele für den Nutzer ergeben. Lauf-Apps wie Nike+Running oder Runtastic verknüpfen Sensordaten mit Lokalisierungstechnologien auf unterschiedlichen Medienkanälen zur Herstellung einer Cheering-Funktion. Ihre Einbindung in das erweiterte Internet der mobilen Environments ermöglicht es, dass User ihren Lauf online auf Facebook posten können und in ihren Kopfhörern die Likes und die Kommentare ihrer Freunde in Echtzeit vernehmen können. Dieses Feedback ist bidirektional angeordnet, impliziert neue Möglichkeiten für den Umgang mit Raum, Zeit und Körper und eignet sich in besonderer Weise für die Inszenierung von Liveness und Kopräsenz. In ihrer Eigenschaft als Distributionsmedien ermöglichen sie eine Verbindung zwischen unterschiedlichen Orten und erzeugen eine virtuelle Ko-Präsenz von Beobachtern, die von ihrer physischen Anwesenheit entbunden sind. Die Konnektivität des Social Net bietet die Möglichkeit, individuelle Datensamples zu veröffentlichen und auf multiagentielle Kollektive zu verteilen. Per Live-Tracking können die Sportler ihre mittels Geo-Tagging ermittelte Position mit
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Freunden in sozialen Netzwerken (Facebook, G+, Twitter) und auf diversen Fitnessportalen teilen. Mittels einer bei Runtastic verfügbaren Cheering-Funktion ist es den Nutzern möglich, in Echtzeitverbindungen mit bis zu fünf Sekunden langen Anfeuerungen motiviert zu werden. Schließlich können sie via Social Media auch die Statistiken ihrer eigenen sportlichen Aktivitäten teilen und den Routen anderer Läufer folgen, um etwa die Bestzeit eines Freundes in Angriff zu nehmen. Dieser gamifizierte Fitness-Diskurs geht stillschweigend davon aus, dass die Vergesellschaftung im Netz als eine Art positiv aufgeladener Konkurrenz verstanden werden kann. Mittels Geolokalisierung werden die Nutzer vom Standort befreundeter Läufer in Kenntnis gesetzt. Die zum Nike Fuelband dazugehörige App zeigt auch die Aktivitäten befreundeter Kontakte an: über ein Leader-Board wird angezeigt, wer heute bereits die meisten Badgets erreicht hat, wann bestimmte Meilensteine erreicht worden sind, wer in der Woche vorne liegt und wer im vergangenen Monat am aktivsten war. Mit diesen symbolischen Formen der Gratifikation wird ein sozial geteilter Kommunikationsraum verfügbar gemacht, der es den Nutzern erlauben soll, ihre individualisierten Messwerte mit anderen Nutzerwerten zu vergleichen. Das mobile Fitnessmonitoring integriert das Feedback also bereits in den Mediengebrauch, um die Nutzer in den konkreten Handlungssituationen flexibler adressieren zu können: »Statt sein Verhalten unmittelbar zu reglementieren, was einen enormen Kontrollaufwand nach sich zöge, […] werden Rückkopplungsschleifen installiert, die dem Einzelnen Normabweichungen signalisieren […]. Das ›Führen der Führungen‹, das Foucault als elementare Formel der Machtausübung identifizierte, erhält hier die Gestalt der Steuerung durch feedbackgeleitete Selbststeuerung.« (Bröckling 2007: 239)
Durch ihre Kompatibilität mit den Kommunikationsmedien des Web 2.0 sorgen mikrosensorische Anwendungen schließlich dafür, dass sich die Privatsphäre des Einzelnen und seine körperlichen Aktivitäten und Gewohnheiten (1) in die Kommunikationsräume der Mediennutzung im Front-End-Bereich und (2) in die informatische Verdatung, das ist die Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Daten im Back-End-Bereich der Sozialen Netzwerkseiten, verschiebt.2 Das über das Web verbreitete Körperwissen der digitalen Selbstvermessung stärkt nicht nur die Selbstermächtigung der informierten Laien in Online-Foren, sondern schafft auch neue Beobachtungsanordnungen für körperbezogene Expertisen der Kommunikationsinformatik und Back-End-Technologien in Zusammenarbeit mit Gesundheitsbehörden, Arbeitgebern und Versicherungen. Die von Bogost und Raessens geäußerte Kritik an der Programmlogik, der die User zu folgen haben, ist nur auf einen Teilbereich der digitalen Selbstvermessung 2 | Das auf einem Server installierte Programm wird bei Client-Server-Anwendungen mit dem Begriff »Back-End« umschrieben. Das im Bereich der Client-Anwendung laufende Programm wird als »Front-End« bezeichnet.
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übertragbar. Ihre Perspektivierung der medialen Enviroments von gamifizierten Anwendungen schließt eine Annahme von reflexiven Freiräumen und prozessorientierten Aushandlungsprozessen dezidiert aus, die sich besonders dann ergeben, wenn die User bereit sind, auf Online-Plattformen ihre Aufzeichnungen mit anderen zu teilen. Diese Praktiken der reflexiven Selbstthematisierung sind in der Lage, lose Kopplungen der Selbstvermessung zu etablieren. In diesem Sinne kann das Self-Tracking im ambivalenten Spannungsfeld von Subjektivierung und Entsubjektivierung verortet werden (Foucault 1996: 27). Self-Tracker fungieren im allgemeinen Gebrauch als Aufzeichnungs-, Speicher- und Verbreitungsmedien von optimierter Subjektivität. Foucault versteht die Praktiken der Selbstführung weniger als autonome Freiheitstechnologien des Subjekts, sondern als normalisierende Praktiken gesellschaftlich konformer Subjektivität. In diesem Sinne fungieren die Self-Tracker immer auch als sozial kompatible Tools zur Herstellung von Selbstführung als Fremdführung. An diesem Punkt setzt der Prozess der »Entsubjektivierung« ein, den Michel Foucault als ein Projekt der Loslösung von den Praktiken der Fremdführung versteht. Als materialisierte Apparaturen zur Optimierung von Subjektivität verkörpern Self-Tracker eine dem Subjekt entäußerlichte Handlungsrolle, die von ihren Anwendern jedoch auch dafür genutzt werden kann, sich selbst reflektierend-kritisch zur instrumentellen Vermessung des Selbst zu verhalten, und eröffnen so ihren Anwendern Freiräume, in denen mit Praktiken der Entsubjektivierung experimentiert wird.
3. D ie str ategische S chnit tstelle von S elf -Tr acking und B ig D ata Abschließend möchte ich der Frage nachgehen, welche Technologien, Praktiken, Materialitäten und Epistemologien bestimmte Akteure der Großforschung verknüpfen, um Bio- und Verhaltensdaten erzeugen und verwalten zu können, und auf welche Weise die Organisation, Analyse und Repräsentation personenbezogener Daten für soziotechnische und ökonomische Verwertungskontexte modelliert werden. Bevor auf das Verhältnis zwischen einer Generierung von Daten und einer Gewinnung von Wissen aus den Daten näher eingegangen werden kann, muss eine relevante Unterscheidung zwischen nutzergenerierten Inhalten und transaktionalen Daten getroffen sein. Die digitale Selbstvermessung besteht nicht nur aus den unstrukturierten Datenmengen, welche die Techniknutzer als Inhalte eigenständig herstellen, wenn sie diese etwa mittels mobiler Endgeräte oder sozialer Medien kommunizieren. Beim Self-Tracking werden auch große Mengen transaktionaler Daten erzeugt, wenn sich die Nutzer mit GPS verorten, Cookies herunterladen, Logdateien nutzen oder sich in Netzwerke einloggen. Alleine mit den GPS-Daten von Handys können Lokationsdaten und Aktivitätsmuster für die Erhebung von Häufungen im Datenraum berechnet werden. Freilich kann nivellierend eingewendet werden,
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dass auch nutzergenerierte Daten für transaktionale Auswertungen im Zusammenspiel von vermessenden Apparaturen und Netzwerken verwendet werden können. Im Unterschied zu transaktionalen Datenvolumina können die von Nutzern generierten Daten jedoch beliebig oft editiert, kommentiert und reflexiv (weiter) verarbeitet werden. In diesem Zusammenhang schlägt die Soziologin Deborah Lupton eine erweiterte Perspektive auf die Modi des Self-Monitoring vor, indem sie den Stellenwert persuasiver Medien im Prozess der Subjektkonstitution herausstreicht. Sie untersucht die Einbettung der Fitness-Devices in spezifische Dispositive der Macht und differenziert zwischen »pushed«, »imposed« und »exploited« Self-Tracking: »Pushed self-tracking represents a mode that departs from the private self-tracking mode in that the initial incentive for engaging in self-tracking comes from another actor or agency. […] Imposed self-tracking involves the imposition of self-tracking practices upon individuals by others primarily for these others‹ benefit. […] Exploited self-tracking refers to the ways in which individuals‹ personal data are repurposed for the benefit of others. Exploited self-tracking is often marketed to consumers as a way for them to benefit personally, whether by sharing their information with others as a form of communal self-tracking or by earning points or rewards.«(Lupton 2014b)
Das »pushed self-tracking« verortet Lupton exemplarisch in den Anwendungsbereichen der Präventivmedizin und der Patientenüberwachung. Dort wird das mobile Gesundheitsmonitoring seit einigen Jahren unter den Begriffen »Telecare« und »Ambient Assisted Living« aufgegriffen und zielt darauf ab, Menschen aufzufordern, ihre biometrischen Daten zu überwachen, um bestimmte Gesundheitsziele zu erreichen. Die populären Health-Tracking-Plattformen Google Fit und Apple Health Kit sorgen für eine zunehmende Verflechtung von digitalen Medien mit dem häuslichen Umfeld des Alltags: Mobile Verortungstechniken, sensorbasiertes Körpermonitoring, technische Assistenzsysteme im Wohnumfeld und Systeme der digitalen Verwaltung von Arzt- und Laboruntersuchungen sollen eine permanente Selbst- und Fremdbeobachtung sicherstellen. Die italienische Versicherungsgruppe Generali hat in Europa das Telemonitoring bei ihren Lebens- und Krankenversicherungen eingeführt. Dieses Gesundheits- und Fitnessmonitoring funktioniert mit der App Vitality, die Schritte zählt, sportliche Aktivitäten misst und den elektronischen Nachweis von Gesundheitsbemühungen mit günstigeren Versicherungstarifen belohnt. Die multiplen Beobachtungsanordnungen der Sensor- und Informationstechnik lösen die Oppositionen zwischen dem physischen und medialen Raum auf und sind beispielhaft für die Normalisierung von Fitnesskörpern bzw. Pathologisierung von Risikokörpern als »mediale Konstrukte« (Klein 2008: 211). Das »imposed self-tracking« geht noch einen Schritt weiter. Im Falle von Corporate-Wellness-Programmen werden die Mitarbeiter verpflichtet, Trackingarmbänder zu tragen, und müssen dem Arbeitgeber die ermittelten Gesundheits- und
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Aktivitätsdaten übergeben (Till 2014). Mit dem Konzept der Work-Life-Balance, das Arbeits- und Privatleben miteinander in Beziehung setzt, können Unternehmen ein detailliertes Abbild von Lebensgewohnheiten erstellen und individuellen Merkmalsträgern zuweisen. Gemeinsam mit den Datenanalysten Dacadoo berechnet die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) einen Healthscore für jedes ihrer Mitglieder. Diese Datenportfolios geben statistisch Aufschluss über Korrelationen zwischen den gesundheitlichen Beschwerden und den Lebensgewohnheiten der Mitglieder und lassen eine personalisierte Analyse des Krankheitsrisikos zu, das künftig über individualisierte Versicherungstarife abgestuft werden soll. Die US-Krankenversicherung United Healthcare bietet einen Preisnachlass an, wenn die Versicherten nachweisen können, dass sie täglich eine bestimmte Anzahl an Schritten absolvieren. Das »exploited self-tracking« kann als Sammelbegriff für die weitreichende Ökonomisierung von Biodaten verstanden werden. Einige Einzelhändler, zum Beispiel Walgreens, die größte Apothekenkette in den USA, haben bereits damit begonnen, tragbare Geräte als Teil ihrer Customer Loyalty Programs einzusetzen.3 Kunden, die regelmäßig ihre persönlichen Fitness-Daten auf der Plattform hochladen, werden mit Produktermäßigungen belohnt. Die gesammelten Daten können dann von den Einzelhändlern für ihr Marketing verwendet und an Dritte verkauft werden. Allgemein gehen Medien- und Kommunikationsanalysen der digitalen Selbstvermessung der Gesundheit von der Grundannahme einer wechselseitigen Durchdringung medizinischer, medialer und sozialer Praktiken aus und eröffnen einen vielversprechenden Ansatz, der (1) die medizinal-therapeutische Durchdringung der Lebenswelt, (2) die Formen der numerischen Repräsentation des Körpers und (3) die Herausbildung von neuen Formen der reflexiven Verwissenschaftlichung des Körpers umfasst. Eine Subjekt- und Kollektivitätsforschung, die den Einfluss des Mediums auf die Prozesse biomedialer Selbstdokumentation als eigenständige Forschungsfrage aufnimmt und als wissenschaftliches Arbeitsfeld ansieht, vermag den Blick auf die medialen Vorgänge, mit denen die Übermittlung und die Vermittlung von Handlungen ermöglicht, angewiesen und vollzogen werden soll, schärfen. Die damit in Aussicht gestellte Durchdringung aller Lebensbereiche ist aber nicht gleichbedeutend mit einem immediaten und direkten Zugriff auf eine medial hypostasierte Lebenswelt der Subjekte, denn die Medien können die Bedingungen der Möglichkeit, ein bestimmtes Leben zu führen, weder ursächlich determinieren noch letztlich rechtfertigen. In weiterführenden Überlegungen könnte es darum gehen, zu berücksichtigen, dass die Gadgets, Apps und Social-Media-Plattformen selbst Gegenstand von Reflexivität sind. Wenn in Betracht gezogen wird, dass die Medien der digitalen Selbstvermessung immer auch Reflexivität erzeugen, dann können die ästhetischen, narrativen und fiktionalisierenden Mittel der Dateninsze3 | Vgl. den Beitrag »Walgreens Incentivizes Self-Tracking« der Nutzerin gshwach auf: Medicine in the Age of Networked Intelligence, networkedmedicine.tumblr.com/post/4742 2186125/walgreens-incentivizes-self-tracking vom 7.4.2013 (letzter Zugriff 15.6.2015).
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nierung, mit denen eine reflexive Selbstverwissenschaftlichung Daten (für andere, z.B. für die ›Plattformöffentlichkeit‹) erzeugt, sicht- und sagbar macht, untersucht werden. Denn Self-Tracking kann keine unmittelbare Vermessung der Individuen in Aussicht stellen, weil die Medien der Vermessung immer auch das VermessenWerden selbst reflexiv einholen.
4. F a zit An der Schnittstelle von digitalen Mediensystemen und bioinformatischen Wissensmedien haben Fitness-Tracker maßgeblich dazu beigetragen, den Körper als Medienobjekt »geregelter Gestaltung« (Bourdieu 1992: 206) und »numerischer Ausdrucksformen« (Manovich 2001: 27) zu betrachten. Die Konvergenz von mobilen Medien, Sensornetzwerken, GPS-gestützten Lokalisierungen, automatischen Identifikationsverfahren, digitalen Datenvisualisierungen und Social-WebAnwendungen hat dazu geführt, dass biometrische Apparate, Technologien und Visualisierungen einen gesellschaftlichen Trend der digitalen Selbstvermessung ausgelöst (Lyon 2008; Lupton 2013) und dabei neue Formen von Steuerungs- und Kontrollwissen entwickelt haben (Swan 2009: 494). Immer mehr Nutzer kommen auf diesem Wege mit Sensortechnologie, Tracking-Apps und Self-TrackingCommunitys auf Online-Plattformen in Verbindung: »Sensing technologies and apps for the smart phone industry alone have spawned a rapidly expanding market as new sensing frontiers unfold.« (Ebd.) Die Analyse der mit dem Self-Tracking verknüpften Nutzungskultur der Gamification und der sozialen Netzwerke hat aufgezeigt, dass mit der Einbeziehung der reflexiven Selbstthematisierung in sämtliche Bereiche des Self-Trackings die Arbeit am Körper als Prozess (und nicht als abgeschlossenes Werk) in den Vordergrund rückt. Wenn Melanie Swan unter der digitalen Selbstvermessung eine Sammlung von Daten über die eigene Person versteht, die freiwillig und in kontinuierlichen Abständen erhoben werden (ebd.: 509), dann verweist sie damit auf diese prozessorientierten und dynamischen Formen der Selbstbezüglichkeit, die Anwender auf eine bestimmte Art und Weise transformieren und produktiv machen sollen. Der im letzten Kapitel skizzierte Druck einer präventions- und sicherheitsorientierten Gesundheitsgesellschaft, die die (qua neoliberale Gouvernementalität und Automatisierungstechniken forcierte) Sicherung der Gesundheit nicht nur durch kollektive Rahmenbedingungen, sondern auch durch eine eigenverantwortliche Anstrengung im alltäglichen sozialen Leben zu gewährleisten versucht, kann als Anlass genommen werden, in weiteren Studien die in Aussicht gestellten Verhaltens- und Lebensstilmodifikationen durch Self-Tracking, Quantified Self und Life Logging hinsichtlich ihrer kontrollgesellschaftlichen Körperdiskurse zu befragen.
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Selbstquantifizierung als numerische Form der Selbstthematisierung Markus Unternährer
1. E inleitung Lee Rogers hat in den letzten 7 Tagen 0 Stücke Pizza, 9 Salate, 7 Sandwiches, 70 Gläser Wasser, 26 Diet Sodas und 4 alkoholische Getränke zu sich genommen. Er ist 94.668 Schritte gelaufen (43 Meilen), was einem Tagesdurchschnitt von 13.564 Schritten (ca. 6 Meilen) entspricht. Er war an 3 Orten, wo er noch nie zuvor war. Er hat 6 Filme und 5 Episoden der Fernsehserie Helix geschaut; dem Film The Imitation Game gab er 5 Sterne – der beste Film der Woche. Er hat 15 Fotos auf Flickr hochgeladen. Seine meistgehörte Band war The Blue Stones: Er hat 15 Lieder von ihnen gehört. In den letzten 7 Tagen hat Lee Rogers 67 Lifestream-Items erfasst (vgl. Rogers 2015b). Auf der Internetseite www.leerogers.me präsentiert Lee Rogers eine numerische Wochenbilanz seiner Tätigkeiten, seines Medienkonsums und seiner Nahrungsaufnahme. Die Seite wird täglich aktualisiert, sodass immer die Werte der letzten 7 Tage dargestellt sind. Seit 2011 veröffentlicht Rogers auch ›Jahresbilanzen‹, um das geneigte Publikum nicht nur über die Zahlen der letzten Woche, sondern auch über diejenigen des letzten Jahres zu informieren. Da ist beispielsweise zu erfahren, dass Lee Rogers im Jahr 2014 3.781.500 Schritte zurückgelegt hat. Das sind 4,58 % mehr als im letzten Jahr (vgl. Rogers 2015a). Jamie Williams spricht am Quantified Self (QS) Meetup in St. Louis von seinem Quantifizierungsprojekt. Unter anderem hat er von Februar 2012 bis Oktober 2014 mit Hilfe von Fitbit seine täglich zurückgelegten Schritte gezählt, die er beim Meetup in grafischer Form präsentiert: »It’s all right there, visualized. […] Just by looking at [the graph] you can see patterns.« (Ramirez 2014a: 10:401) An1 | Zeitangabe der Position in Minuten und Sekunden, an der das Zitat im eingebetteten Video auftaucht.
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hand dieser patterns, die durch sichtbare Unterschiede im Datensatz bzw. der Grafik Aufmerksamkeit erzeugen, erzählt er sein Leben nach und schreibt spezifischen Ereignissen wie beispielsweise Jobwechsel, Umzug, Besuch eines Musikfestivals oder der Vorbereitung auf einen Marathon biografische Relevanz zu: »[S]o, January 21 this year I started commuting out to […] and I got put on an off-site project which required me to drive instead of walk to work and so my behavior, my habits changed and you can see that, so during that period I was walking to work, and you can see, you know, these yellow [sic!] are walking to work, lunchtime, walking home, and then the pattern totally changes around that time period.« (Ramirez 2014a: 12:10)
Lee Rogers und Jamie Williams erforschen und beschreiben sich selbst und ihr Leben mit Hilfe von Zahlen. Beide haben ihre Selbstvermessungsprojekte auf lokalen Treffen der QS-Bewegung vorgestellt. Zwar liegt es auf der Hand, die Selbstquantifizierung unter dem Gesichtspunkt der Optimierung zu betrachten (vgl. z.B. Villa 2012) – Lee Rogers ging 2014 4,58 % mehr Schritte als letztes Jahr. Doch ist mit diesen beiden Beispielen eine Verschiebung des analytischen Fokus intendiert: Selbstquantifizierer nutzen Zahlen, um ›objektive‹ Darstellungen ihrer Selbst und ihres Lebens zu erzeugen – sich auf numerische Weise selbst zu thematisieren. Es soll argumentiert werden, dass Selbstquantifizierung an ältere Formen der Selbstthematisierung wie Beichte, Therapie oder Beratung anschließt und insofern auf das Problem der Identität bezogen ist. Ein solcher Fokus situiert sich zwischen zwei kritischen Perspektiven, von denen die eine Selbstquantifizierung als eine Verinnerlichung von Fremdzwängen der Selbstoptimierung betrachtet (vgl. z.B. Villa 2012, Reigeluth 2014) und die andere die Selbstquantifizierung als widerständische Praxis beschreibt, dank der die Vermessenen sich die Deutungshoheit über ›ihre‹ Daten zurückerobern (vgl. z.B. Nafus/Sherman 2014). Wenn Selbstquantifizierung aber als eine spezifische Kommunikationsform verstanden wird, richtet sich die Aufmerksamkeit auf Prozesse der Sinn- (vgl. z.B. Lomborg/Frandsen 2015) und Identitätsgenerierung. Welche Ereignisse ›zählen‹ in Lee Rogers Leben? Welche Ereignisse in Jamie Williams Leben haben einen nachweislichen Einfluss darauf, welche patterns und habits Jamie Williams in einer bestimmten Periode kennzeichnen? Diese neue Form der Selbstthematisierung entwickelt sich aber nicht in einem Vakuum, sondern vor einem Hintergrund an bereits etablierten Arten des Sprechens über sich selbst. Inwiefern es hier zu Kontinuitäten und Brüchen mit diesen älteren Formen kommt, soll in einem ersten Teil Gegenstand der Untersuchung sein. Insbesondere gilt es empirisch-explorativ aufzuzeigen, wie die ›Avantgarde‹ der Selbstquantifizierer – die ›Virtuosen‹ – das Medium der Zahl dienstbar machen, um Erkenntnisse über ihr Selbst und über ihr Leben zu gewinnen. Es soll in Kapitel 2 also die Frage beantwortet werden, ob und inwiefern Selbstquantifizierung eine Form von Selbstthematisierung ist. Gleichzeitig ist herauszuarbeiten, was die Besonderheit der
Selbstquantifizierung als numerische Form der Selbstthematisierung
Selbsterforschung und der Selbstdarstellung im Medium der Zahl ausmacht: Die den Zahlen und quantitativen Methoden der Selbsterforschung zugeschriebene Eigenschaft der ›Objektivität‹ garantiert den Selbstquantifizierern die Echtheit ihrer körperlichen und seelischen Regungen. Mit Zahlen hoffen Selbstvermesser ein objektives Bild ihrer selbst anfertigen zu können, da die Zahlen zeigen, wie sie ›wirklich‹ sind. Der Vergleich mit anderen ist eine Möglichkeit zu definieren, wer (und was) man ist. Wie in Kapitel 3 mit Bezug auf Link (2013) diskutiert wird, ermöglicht Quantifizierung den Vergleich der vermessenen Einheiten (vgl. Espeland/Stevens 2008; Heintz 2010). Es wäre also zu erwarten, dass Selbstquantifizierer hauptsächlich an Vergleichen mit anderen interessiert sind, um sich durch bessere Positionen in Bestenlisten oder näher an der Norm befindliche Werte abzuheben – solche Vergleiche werden aber kaum kommuniziert, obwohl Zahlen dafür geradezu ideal erscheinen. Lee Rogers vergleicht die Schritte eines Jahres nicht mit denen von anderen Schrittezählern, sondern mit denen vom Vorjahr; Jamie Williams vergleicht verschiedene Perioden seines Lebens. Der Vergleich mit anderen wird mit Bezug auf Einzigartigkeit abgeblockt, und Einzigartigkeit wird durch das idiosynkratische Zahlenmuster belegt. In Kapitel 4 sollen die explorativen Ergebnisse aus Kapitel 2 und Kapitel 3 zusammengeführt werden: Die den Messungen zugeschriebene Objektivität erlaubt den Selbstvermessern sichere und unverzerrte Aussagen über die eigene Identität und das eigene Leben, doch geht die Ablehnung des Vergleichs mit Verweis auf Einzigartigkeit einher mit einem gesteigerten Empfinden der eigenen Subjektivität. Die empirische Basis der folgenden Thesen und Überlegungen bilden die zahlreichen Beiträge auf der Internetseite www.quantifiedself.com, als einem der wichtigsten ›Orte‹, wo die Virtuosen der Selbstquantifizierung sich austauschen und ihre Praxis verhandeln und definieren. Das erste QS-Meetup (Bay Area) führten die beiden Gründer der Seite, Gary Wolf und Kevin Kelly, am 10. September 2008 durch: Mittlerweile werden auf allen Kontinenten und in über 100 Städten Meetups nach dem Vorbild des Bay Area Meetups abgehalten. Zusätzlich dazu organisieren sie internationale QS-Konferenzen, die seit 2010 alljährlich und abwechslungsweise in San Francisco und Amsterdam stattfinden. Meetups und Konferenzen werden jeweils auf der Seite angekündigt, im Nachhinein durch Videos der Projektpräsentationen dokumentiert und zum Teil auch schriftlich zusammengefasst. Am 17. Dezember 2014 waren 1.065 Einträge auf der Seite vorhanden, die ich mit einem eigens in Python programmierten Webscraper in eine Tabelle eingelesen habe. Auf der Seite finden sich zudem ca. 350 Videopräsentationen von persönlichen Selbstquantifizierungsprojekten, die auf QS-Meetups und Konferenzen aufgezeichnet wurden. Erschlossen wurde der Inhalt der Videobeiträge durch die zugehörigen schriftlichen Kurzbeschreibungen, durch vollständige oder selektive Sichtung sowie in einigen Fällen durch vollständige oder selektive Transkription der im Video gesprochenen Sprache. Angelehnt an die
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qualitative Datenanalyse (vgl. Miles/Huberman/Saldaña 2014) erfolgte eine Ordnung der Beiträge nach Texttyp (z.B. »Persönliches Projekt«, »Besprechung von Tools«, »Organisatorisches« etc.), nach Objekt des Tracking (z.B. Fitness, Laune, Finanzen etc.) und nach Aspekten der Selbstthematisierung (z.B. Biografie, Vergleich/Einzigartigkeit, Awareness etc.). Aufgrund zeitlicher Limitationen konnte keine Detailanalyse auf der Ebene des einzelnen Textes vorgenommen werden. Die folgenden Aussagen über QS als Form der Selbstthematisierung beziehen sich vor allem auf den Fall des Blogs www.quantifiedself.com. Ich werde aber teilweise auch andere Quellen heranziehen, beispielsweise von Gary Wolf veröffentlichte Artikel, Blog-Einträge einzelner Selbstvermesser oder populärwissenschaftliche Literatur zum Thema. Die besprochenen Blogbeiträge und zusätzliches Material wurden aufgrund ihrer Beispielhaftigkeit ausgewählt, d.h., um an ihnen zu verdeutlichen, inwiefern Selbstquantifizierung mit anderen Formen der Selbstthematisierung verwandt ist. Wohlgemerkt geht es nicht darum, ›repräsentative‹ Aussagen zum Phänomen zu machen, sondern der Heterogenität der Selbstquantifizierung gerecht zu werden, indem neben ›Optimierung‹ und ›Selbstermächtigung‹ diese alternative Lesart identifiziert und substantiiert wird.
2. S elbstquantifizierung als F orm von S elbst thematisierung Menschen an allen Orten und zu allen Zeiten machen sich selbst zum Thema. Wie das geschieht, ist aber historisch und kulturell höchst variabel. Beichte, Tagebuch, Autobiografie, Therapie, Beratung, Talkshows oder Facebook sind solche Weisen des ›Sprechens‹ über sich selbst, um nur einige zu nennen. In spezifischen Gesellschaften sind zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten andere Probleme in Bezug auf das Selbst vorhanden, die mit unterschiedlichen Formen der Selbstthematisierung koinzidieren bzw. sich gegenseitig mit hervorbringen. »Wir reden nicht von selbst so über uns selbst, wie wir es tun, sondern weil wir gelernt haben, es je nach Gelegenheit auf bestimmte Weise zu tun.« (Hahn 1994: 127) Diese ›Redeweisen‹ unterscheiden sich nach Funktion, Möglichkeiten und Beschränkungen der Form, Themenselektion, Publika oder Konsistenzerfordernissen. Selbstthematisierungsformen wie Beichte, Therapie und Beratung sind Sinngeneratoren: Mechanismen, die bestimmte Lebensereignisse aus dem Strom des Lebens hervorheben und das Leben eben nicht als zufällige Aneinanderreihung von Ereignissen erscheinen lassen. Sie geben den Einzelnen Möglichkeiten und Beschränkungen an die Hand, die eigene Identität und die eigene Biografie als kohärente Gebilde zu konstruieren, in die sich einzelne – vergangene, gegenwärtige oder zukünftige – Handlungen und Erlebnisse sinnvoll einordnen lassen (vgl. Hahn/Willems/Winter 2005: 496). Da das Individuum im Zuge der Modernisierung immer weniger verbindliche Ankerpunkte zur Definition seiner Identität zur Verfügung hat, gleichzeitig aber genötigt wird, ein Individuum zu sein (vgl.
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Schroer 2001: 331), haben sich historisch und kulturell unterschiedliche Mittel entwickelt, die den Individuen bei der Konstruktion ihrer Identität helfen: Institutionen der Selbstthematisierung. Beichte, Tagebuch, Therapie, Beratung etc. sind solche institutionalisierten Weisen, um über die eigene Identität und das eigene Leben nachzudenken, komplexe Selbstbeschreibungen und Biografien anzufertigen und an seiner Identität zu arbeiten (vgl. Burkart 2004: 10f.). Die Nutzung von Zahlen, um das eigene Leben zu dokumentieren oder Erkenntnisse über das Selbst zu gewinnen, ist keineswegs neu.2 Die Institutionalisierung der Selbstquantifizierung als relativ stabile und sozial verbindliche Form des ›Sprechens‹ über sich selbst ist jedoch erst in den letzten Jahren angelaufen.3 Gleichzeitig wurden Sensoren und »tracking tools« (Apps) zu Konsumentenprodukten, die sich relativ rasch verbreiten (vgl. z.B. Lupton 2014: 4). Diese Gleichzeitigkeit der Institutionalisierung einer Selbstthematisierungsweise und der Verbreitung von Selbstvermessungstechnologien im Alltag soll analytisch mit Hilfe der Unterscheidung von Virtuosen und Laien aufgespalten werden. Burkart et al. (2006: 313) haben den Begriff der ›Virtuosen‹ für die Analyse von Selbstthematisierung adaptiert: Virtuosen der Selbstthematisierung »sind in besonderer Weise geschult, über sich selbst nachzudenken, sich zu beobachten und auf das eigene Selbst zu achten, das eigene Leben kontinuierlich zu thematisieren«. Die Virtuosen sind im Falle der Selbstquantifizierung aber auch avantgardistisch: So wie Geistliche und Mönche virtuose Praktiker der Beichte waren, die entscheidend zur Konstitution der Form der Beichte beigetragen haben dürften, gehe ich davon aus, dass es Virtuosen der Selbstquantifizierung gibt, die entscheidend dafür sind, wie sich die Form der quantitativen Selbstthematisierung herausbildet. Gegenstand der Untersuchung sind dementsprechend die Selbstbeschreibungen von Virtuosen. Um die Selbstquantifizierungstätigkeiten von Laien bzw. Konsumenten von tracking-tools geht es hier nicht.4 Einer dieser Virtuosen ist Gary Wolf, Mitbegründer, ›Gesicht‹ und Verfechter der Bewegung. In seiner maßgebenden Beschreibung der Selbstquantifizierung, die in der New York Times erschienen ist, stellt Wolf selbst schon einen expliziten 2 | Vgl. z.B. Szczygiel (2014), der von einem sehr umfangreichen Projekt der numerischen Alltagsdokumentation berichtet: Die polnische Hausfrau Janina Turek zählte und dokumentiere 57 Jahre lang ihre Begegnungen, ihren Medienkonsum, Geschenke und vieles mehr. 3 | Eine alternativer analytischer Rahmen für die Untersuchung der Selbstquantifizierung wäre Foucaults (1993) Konzept der »Technologien des Selbst«, verstanden als Arten und Weisen, wie das Individuum auf sich selbst einwirken kann, als »Formen, in denen man sich selbst zum Erkenntnisgegenstand und Handlungsbereich nehmen soll, um sich umzubilden, zu verbessern, zu läutern, sein Heil zu schaffen« (Foucault 1986: 59). 4 | Damit ist nicht beabsichtigt, der Praxis der Laien eine Selbstthematisierungsfunktion abzusprechen.
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Bezug zwischen Selbstquantifizierung und alternativen Formen der Selbsterforschung her: »From the languor of the analyst’s couch to the chatty inquisitiveness of a self-help questionnaire, the dominant forms of self-exploration assume that the road to knowledge lies through words. Trackers are exploring an alternate route. Instead of interrogating their inner worlds through talking and writing, they are using numbers. They are constructing a quantified self.« (Wolf 2010)
Im nächsten Schritt soll genauer untersucht werden, wie sich diese neuere Form der numerischen Selbstthematisierung zu den etablierten Weisen des Sprechens über sich selbst verhält. Während Wolf den Unterschied auf die Formel »Zahlen statt Worte« zuspitzt, möchte ich auf weitere Diskontinuitäten, aber auch Kontinuitäten aufmerksam machen, indem ich erstens frage, was als thematisierungsfähig erachtet wird, zweitens, wie sich das Verhältnis von ›Expertin‹ und ›Bekennenden‹ gestaltet, und drittens, welche Folgen der Wechsel des Mediums von der Sprache zur Zahl mit sich bringt bzw. welche ›Fähigkeiten‹ die Selbstquantifizierer der Zahl zuschreiben. 1) Beichte, Therapie und Beratung unterscheiden sich in ihrer Selektivität. In der katholischen Beichte müssen zwar möglichst alle Sünden gebeichtet werden – unter der Gefahr der Ungültigkeit im Falle des Vergessens wichtiger (Tod-)Sünden –, doch ist nur dasjenige zu beichten, was mit der Sünde in Zusammenhang steht (vgl. Hahn 1982). Mit dem Bedeutungsverlust der Beichte im Zuge der Reformation lockert sich diese thematische Engführung: Indem sich die methodische Lebensführung als Stellvertreter für Erwähltheit etabliert, weitet sich der Bereich des Thematisierbaren aus – das Paradebeispiel ist die Autobiografie Benjamin Franklins, der sich unter anderen an den Tugenden Ordnung, Schweigen oder Reinlichkeit orientiert. In der Therapie geht diese thematische Öffnung weiter: Paradigmatisch dafür steht das Diktum der Psychoanalyse, alle üblichen Einschränkungen, Filter und thematischen Engführungen zu vermeiden. Gemäß Wolf (2010) lassen sich innerhalb der Bewegung der Selbstquantifizierung zwei Logiken der Datensammlung identifizieren: ein »push towards DATA« und ein »push towards MEANING«. In der erster Logik gilt die Datensammlung selbst als attraktive und lohnenswerte Aktivität: »The data feels like a valuable possession, and the systems for gathering it up have inherent interest.« Damit einher geht die Leitidee, möglichst alles, was den eigenen Körper und das eigene Leben betrifft, zu verdaten. Im zweiten Fall wird zielgerichteter vorgegangen: »There is another type of person who is after an answer, and collecting data is just a step – and often not a very pleasant or appealing one – on the way to this answer.« Der »push towards DATA« ist vergleichbar mit einer äquivalenten Logik in der psychoanalytischen Selbstthematisierung: »Vermeidung von Thematisierungsvermeidung« (Willems 1999: 128). Ungezieltes und möglichst vollständi-
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ges Datensammeln ist nicht Selbstzweck, sondern weise Vorsichtsmaßnahme. Da über die Art und Beschaffenheit zukünftiger Probleme Ungewissheit besteht, kann die Datensammlung nur unter Risikoübernahme eingeschränkt werden. Daten werden als ›generalisiertes Mittel‹ verstanden, weil sie »geeignet sind, verschiedene oder gar beliebige Zwecke erreichbar zu halten« (Hahn 1984: 12). »How long will I keep tracking? The short answer: As long as it’s not impacting my enjoyment of life. The slightly longer answer: As my Dad always says, ›I don’t like to throw anything out because I never know when I’m going to need it.‹ While I disagree when it comes to accumulation of material things, I agree when it comes to data. I think it’s wise to collect as much information as we can and figure out what to do with it later.« (Carmichael 2008)
Neben der Idee, zukünftige Probleme durch gegenwärtige Datensammlung zu entschärfen, ist aber eine weiterer Aspekt zentral: Wie Foucault (2012: 63) in seiner Analyse der antiken Praxis der brieflichen Korrespondenz konstatiert, dass sich gerade in scheinbar unbedeutenden Alltagsbeschreibungen die »Beschaffenheit einer Lebensweise« zeige, so vertreten auch die Selbstquantifizierer die Ansicht, dass sich die Wahrheit der Existenz in den manchmal auch trivial scheinenden Messdaten zeige: »What would happen if you could take that whole slurry of life-history fragments and run it all through a powerful pattern-detection program? What kind of patterns might you find?« (Gemmell/Bell 2009: 23) Den Self-Trackern schwebt hier eine Vision der totalen Selbstvermessung vor: Es ist die möglichst vollständige Vermessung des eigenen Selbst – analog zur möglichst detaillierten Beschreibung des antiken Alltags –, die sichtbar macht, was zuvor ungemessen und unbemerkt im ›Brei‹ des kontinuierlich erlebten Lebens untergegangen ist.5 Während der »push towards DATA« an die therapeutische Selbstthematisierung anknüpft, ist der »push towards MEANING« eher mit der Beratung verwandt. Entsprechend der Beratungssituation, in der die Beraterin Situationsdefinitionen und beschreibungen, Handlungsoptionen sowie deren Folgen und Nebenfolgen präsentiert (vgl. Schützeichel 2004: 276), steht ein zu lösendes Problem im Vordergrund (Situationsdefinition), das mit gezielten Experimenten (Handlungsoptionen) adressiert wird. Anstelle der Präsentation von Alternativen durch die Beraterin müssen die Alternativen und ihre Erfolgswahrscheinlichkeiten mittels experimenteller Datenerhebung selbst eruiert werden. In diesem Fall dient die experimentelle Datenerhebung dem Zweck, eine rationale, datenbasierte Entscheidung vorzubereiten, um das Problem in den Griff zu bekommen oder gar zu eliminieren. 2) Die Trennung von Leistungs- und Publikumsrollen (vgl. Stichweh 2005), die für die älteren Selbstthematisierungsformen üblich ist, löst sich im Falle der Selbst5 | Zur Unterscheidung von Lebenslauf und Biografie siehe Hahn (2000: 101f.).
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quantifizierung weitgehend auf: Mit Zillien/Fröhlich/Dötsch (2015: 83) ließe sich von einer »Selbstexpertisierung« sprechen. Als Experte seiner Selbst steht das Individuum aber alleine in der Verantwortung. Der Beichtvater und die Therapeutin fordern dem Individuum zwar in überwachender Manier Geständnisse und Bekenntnisse ab, doch sind sie auch für das Seelenheil bzw. Wohlergehen ihrer Beichtkinder und Patientinnen mitverantwortlich. In der Beratung klingt an, was nun in der Selbstquantifizierung radikalisiert wird: Der Berater steht zwar in der Verantwortung, adäquate Problemdefinitionen, verfügbare Lösungsalternativen sowie deren Folgen und Nebenfolgen darzulegen – entscheiden müssen die Beratenen aber selbst (vgl. zur Beratung Bergmann/Goll/Wiltschek 1998; Fuchs/Mahler 2000; Schützeichel 2004). Die Rolle der Professionellen wird nun den Daten, digitalen Assistenten und quasidialogischen Feedbacksystemen zugeschrieben: »Now I have Audrey go out periodically and download the data, compare to the calories burned from my tracker, and then nags me [sic!] to take a walk if I’m being a couch potato. I even have her tell me if I’m not meeting my goal of 7 day and 30 day averages. If I’m able to get 10.000 steps in a day, she even automatically posts that accomplishment to my lifestream.« (Rogers 2012)
Die Daten erben die Fähigkeit der unvoreingenommen und ehrlichen Rückmeldung: Sie konfrontieren die Selbstquantifizierer bisweilen schonungslos mit »actual amounts« und »facts« ihres Lebens und zeigen ihnen, wie sie »wirklich« sind, wie Gemmell/Bell (2009: 167) darlegen: »Imagine being confronted with the actual amount of time you spend with your daughter rather than your rosy accounting of it. Or having your eyes opened to how truly abrasive you were in a conversation. Right now, only very special friends could confront me with such facts in a way I would accept. And they receive my thanks for helping me grow as a person. In fact, for such a mirror of ourselves, we sometimes pay such special friends and call them therapists or counselors. It’s up to you: You can tackle as much or as little truth about yourself as you have the stomach for.« 6
6 | Vgl. auch den Diskussionsbeitrag von Alexandra Carmichael (2008) zu ihrem eigenen Artikel: »There is a harsh honesty to tracking that can be hard to face. Yesterday, for example, I really didn’t want to record the 3500 Christmas calories I consumed! The desire for a ›perfect‹ chart with smooth lines and a big helping of self-control is another one of those illusions that set you up to feel like a miserable failure. It works the other way too: on days when I stay under 2000, I definitely feel a rush of short-lived victory. Tracking myself is like standing naked in front of a mirror: there’s nowhere to hide, and new lumps and wrinkles become visible. But along with this undoctored reality comes the opportunity to learn about myself, understand myself, and ultimately love myself.«
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Eine Variante von Feedbacksystemen sind sogenannte Lifestreams wie der Twitterfeed von Kiel Gilleades Herzfrequenz (vgl. Carmichael 2010b) oder der in der Einleitung erwähnte Stream von Lee Rogers.7 Der Self-Tracker wird durch das erhoffte, drohende oder einfach stattfindende +1 des Zählers auf Dinge aufmerksam, die ihm sonst entgehen würden. Es ist der (immer) mitlaufende Zähler, der Aufmerksamkeit für Aspekte des Selbst generiert, die sonst verborgen bleiben würden. Das entscheidende ist nicht unbedingt die Zahl an sich, sondern die ›zählende Zahl‹, also der Moment, in dem der Zähler umschaltet, weil ein (zu zählendes) Ereignis eingetroffen ist. Ein Unterschied im persönlichen Verhalten oder des persönlichen Zustands macht durch seine Erfassung einen Unterschied: Er wird gezählt und ›zählt‹. Das Umspringen des Zählers markiert eine Zustandsveränderung: Dadurch wird mittels Abgrenzung zum vorhergehenden ein Wissen über den aktuellen Zustand erzeugt, was die Self-Tracker als awareness oder mindfulness bezeichnen. Der zählende oder stehenbleibende Zähler fungiert als Vergewisserung des bewussten und selbstwirksamen Lebens. Das ansonsten implizit bleibende eigene Handeln und Erleben wird in diskrete, zählbare Ereignisse und Zustände zerlegt, die die Kontinuität des alltäglichen Selbst erfassbarer, spürbarer und kommunizierbar macht. 3) Zahlen oder Daten sind in den Augen der Selbstquantifizierer deshalb so mächtig, weil sie die Dinge zeigen, wie sie wirklich sind, und die Aufmerksamkeit auf Unterschiede lenken, die einen Unterschied machen – versinnbildlicht am Knick in der Trendkurve. Eine Selbstquantifiziererin berichtet, wie die Vermessung ihres Lachens ihre »mindfulness« erhöhe.8 Der am Kopf angebrachte Sensor reagiere aber nur dann, wenn das Lachen »echt« ist: »Nancy built her own smile detection and real-time feedback system. This consisted of two ›EMG sensors‹ attached to her face in a way designed to pick up ›true smiles‹, which tend to crinkle the skin around the eyes. A true smile would light up a cascade of LEDs that she wore around her head and neck.« (Ramirez 2013a)
An diesem Beispiel wird deutlich, wie durch Vermessung – hier mit Hilfe der Messung elektrischer Muskelaktivität – und mit dem Konzept des »true smile« eine unbewusste Verhaltensweise erstens (besser) beobachtbar und zweitens mit der Dignität der Echtheit ausgestattet wird. Techniken der Vermessung und Echtheitskonzepte lenken die Aufmerksamkeit der Selbstquantifizierer und versichern die Authentizität ihrer Verhaltensweisen, da es nicht die Selbstquantifi-
7 | Vgl. www.twitter.com/bodyblogger (letzter Zugriff 20.12.2015); www.leerogers.me (letzter Zugriff 20.12.2015). 8 | Vgl. auch Swan (2013) zu den Self-Trackern, die berichten, dank ihren Geräten »neue Sinne« zu erhalten.
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zierer selbst sind, die ihre Verhaltensweisen registrieren, sondern neutrale tools, wie Gary Wolf (2010) erkärt: »when the familiar pen-and-paper methods of self-analysis are enhanced by sensors that monitor our behavior automatically, the process of self-tracking becomes both more alluring and more meaningful. Automated sensors do more than give us facts; they also remind us that our ordinary behavior contains obscure quantitative signals that can be used to inform our behavior, once we learn to read them.« 9
Anstelle von durch Sprache, Intuition und Wunschdenken verzerrten Aufzeichnungen, setzen die Selbstquantifizierer auf die Kombination von Software- und Hardwaretools mit wissenschaftlichen Verfahren wie dem Experiment und der Randomisierung (vgl. Ramirez 2012). Das eigene Leben – das Eingehen einer Partnerschaft ebenso wie eine neue Diät – wird so zum Gegenstand einer wissenschaftlich-experimentellen Untersuchung (vgl. Carmichael 2010a: 03:40). Präzise, wenn möglich automatisierte und/oder randomisierte Messungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten (Phasen mit treatment vs. Phasen ohne treatment) ermöglichen empirisch fundierte Aussagen über das eigene Leben: »Does standing up a lot during the day reduce susceptibility to colds? Go ahead and doubt it; I did. But Roberts has data to back it up, and while it would be foolish to believe that standing up a lot during the day would eliminate colds across an entire population – foolish, that is, without experiments to prove it – Roberts’ own practice of standing up a lot has a lot more empirical back-up than many of the more ›sensible‹ things we naively believe.« (Wolf 2008)
Hier zeigt sich eine enge Verstrickung von Zahlen mit Wissenschaftlichkeit und Objektivität, von der das Projekt der Selbstquantifizierung zehrt. ›Objektive‹ Aussagen und informierte Entscheidungen über das eigene Leben, den eigenen Körper, eigene Verhaltensweisen und Gewohnheiten erscheinen dann möglich, wenn sie auf der Grundlage von Messung und Datenerhebung gemacht werden: »Some people base decisions on facts and data, while some people base them on other foundations or beliefs. Let’s immediately forget about this latter group« (Carmichael 2012a). In den frühen Selbstbeschreibungen der QS-Bewegung geht der Anspruch an Wissenschaftlichkeit so weit, dass auch die Generalisierung der Erkennt-
9 | Vgl. auch Gary Wolfs (2009) Kritik an Emotionstagebüchern: »Diarists often chronicle their moods, creating a paper trail that provides a sense of mastery over fleeting emotions. There is a problem, however, with this sort of old-fashioned journal-keeping: You record your mood only when you’re in the mood to do so, which introduces a bias.«
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nisse in Betracht gezogen wird.10 Spätere Artikel und Selbstpräsentationen auf quantifiedself.com sind diesbezüglich aber eher skeptisch und betonen, dass die Anstrengungen der Selbsterforschung auf das eigene Selbst gerichtet sind. So meint zum Beispiel Thomas Christiansen in einer Präsentation auf der Quantified Self Conference in San Francisco: »I’m not that interested in science. I’m not interested in coming up with general solutions for other people. I want to improve my condition.« (Ramirez 2014b: 05:57, Hervorhebung aufgrund der Betonung im gesprochenen Text)11 Diese Konzentration auf die eigene condition oder das eigene Leben geht einher mit einer Ablehnung von Vergleichen mit anderen und einer Orientierung an abstrakten Normwerten, wie im folgenden Kapitel argumentiert wird.
3. N umerische S elbst thematisierung und E inzigartigkeit Der Begriff der Normalität hat (mindestens) zwei Bedeutungen: Einerseits bezieht er sich auf statistische Mittelwerte und Normalverteilungen. Dabei gibt es keine inhärente Präferenz für Werte, die näher oder ferner vom Mittelwert liegen. Normalität steht aber andererseits auch für Normativität, für ein wünschenswertes Ideal, das anzustreben ist. Die deskriptive Normalität – das, was ›ist‹ – steht der präskriptiven Normalität gegenüber – dem, was sein soll. Dem statistischen Durchschnitt kann aber durchaus auch die Dignität des Normativen zukommen: »[D]as statistische Mittel selbst [wird] zur sozialen Norm.« (Waldschmidt 2004: 191) Jürgen Link hat in seinem Versuch über den Normalismus (2013) zwei Strategien der Evaluation und Herstellung von Normalität herausgearbeitet: den Protonormalismus als eher vormoderne und den flexiblen Normalismus als eher moderne Strategie. In Ersterem verlaufen die Grenzen zwischen Normalität und Anormalität diskontinuierlich, der kleine Bereich des Normalen und die Unterscheidung von Abnormalem sind klar festgelegt. Im flexiblen Normalismus existieren keine solch klaren Grenzen, diese verlaufen vielmehr auf einem Kontinuum, sodass es möglich wird, von ›mehr‹ oder ›weniger‹ Normalität zu sprechen. Die Grenze ist also höchst unscharf und gilt nur für bestimmte Situationen, Zeiten oder Lebensbereiche. Im Gegensatz zum Protonormalismus kann sich das Individuum im Kontinuum von normal und anormal immer wieder neu positionieren. 10 | Vgl. z.B. Wolf (2009): »If you want new insights into yourself, you harness the power of countless observations of small incidents of change – incidents that used to vanish without a trace. And if you want to test an idea about human nature in general, you aggregate those sets of individual observations into a population study.« 11 | Vgl. auch Wolf (2010): »The goal isn’t to figure out something about human beings generally but to discover something about yourself. [The] validity [of self-experiments] may be narrow, but it is beautifully relevant.«
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Mit dem flexiblen Normalismus sind dementsprechend ständige Vermessungen und Rankings verbunden, die Individuen, aber auch Organisationen im Vergleich zueinander positionieren – die Konsequenzen aus dieser Positionierung müssen die Individuen selbst ziehen und der flexible Normalismus setzt dabei auf die »Suggestivität der statistischen Norm« (Waldschmidt 2004: 194). Da die Normalfelder beweglich sind, kann sich das einzelne Individuum oder die Organisation nicht darauf verlassen, einmal erreichte Positionen zu behalten (vgl. z.B. Espeland/Sauder 2007 zu Law School Rankings). Passivität ist also praktisch eine Abstiegsstrategie – nicht zu handeln wird in flexiblen Normalfeldern als Handlung zugerechnet (vgl. Maasen 2011: 16). Zwar scheinen in der Diagnose Links alle Aktivitäten auf Normalisierung ausgerichtet zu sein, da ansonsten die Denormalisierung droht. Doch in Bezug auf Selbstdarstellung erweist sich gerade die Abweichung als Aufmerksamkeitsgenerator: »Das Normale und das Langweilige sind miteinander verwandt.« (Hahn 2003: 33) Die Konzepte von Einzigartigkeit und Individualität sind auf die Gegenhorizonte von Normalität und Masse angewiesen, um sich von diesen und damit durch diese abgrenzen zu können. Mit den Mitteln der quantifizierten Selbstdarstellung wäre die Abgrenzung, aber auch die Normalitätsbehauptung denkbar einfach: Durch einen Vergleich der eigenen Werte mit den aggregierten Populationswerten kann man sich entweder als Sonderfall an den beiden Rändern der Verteilung oder gegebenenfalls in der normalen bzw. gesunden Mitte verorten. In all den persönlichen QS-Projektpräsentationen (ca. 350 auf dem QS-Blog) finden sich meiner Schätzung nach knapp eine Handvoll, die explizite Vergleiche mit Mittelwerten oder mit den Werten anderer Personen (z.B. Rankings) anstellen. Wie ein solcher Vergleich aussehen kann, zeigt Sara Cambridge, die ihr Essverhalten getrackt hat: »I ate better than 87 % of the average users, and only 15 % better than the average San Franciscan.« (Ramirez 2013b: 04:00) Solche (expliziten) Vergleiche sind aber eher die Ausnahme. Auch wenn die Selbstquantifizierer sich kaum explizit mit anderen vergleichen, besteht eine starke Normorientierung: Die zwei Hauptmotive auf der abstraktesten Ebene sind die Sichtbarmachung von Mustern einerseits und die Selbstveränderung andererseits. Insbesondere in Bezug auf die Selbstveränderung spielen Normen eine wichtige Rolle: Ziele im Bereich Fitness, Gesundheit, effizientes Arbeiten, emotionale Ausgeglichenheit etc. sind klar an dazugehörigen Normen orientiert, die teilweise auch in die Tools eingebaut sind. 10.000 Schritte am Tag sind ideal; jeden Tag sollten 7 Einheiten Früchte oder Gemüse konsumiert werden, um Krebs- sowie Herzkreislauferkrankungen vorzubeugen; der durchschnittliche Ruhepuls Erwachsener liegt bei 70 Schlägen; ein Arbeitstag dauert 8 Stunden etc. Verschiedene Anbieter von Selbstvermessungstools mögen Vergleiche und Rankings in ihre Benutzeroberflächen eingebaut haben, die Virtuosen nehmen
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in ihren QS-Talks aber kaum darauf Bezug.12 Wenn auf Normen, Sollvorgaben oder Standardlösungen eingegangen wird, dann findet das auf implizite oder abgrenzende Weise statt. In zahlreichen Präsentationen wird auf eine Individualitätsrhetorik zurückgegriffen, die sich vor allem in der expressiven Verwendung von Possessiv- und Personalpronomen sowie in der Wiederholung von Binsenweisheiten ausdrückt: »Different things are gonna work for different people« (Carmichael 2012b: 07:03); »for me personally stress and mindfulness are very dramatically correlated« (Ramirez 2013c: 04:47). Auch in den Selbstbeschreibungen der Bewegung wird diskutiert, welchen Stellenwert Normalität für Self-Tracking einnimmt. Im Fazit des New York Times-Manifestes referiert Wolf eine Vorstellung von Normalität, die als von außen aufgedrücktes, generalistisches Wissen daherkommt; Self-Trackerinnen gehen ihren eigenen Weg, abseits von allgemein verbreiteten, aber falschen Lösungen: »[The] idea that we can – and should – defend ourselves against the imposed generalities of official knowledge is typical of pioneering self-trackers […] Trackers focused on their health want to ensure that their medical practitioners don’t miss the particulars of their condition; trackers who record their mental states are often trying to find their own way to personal fulfillment amid the seductions of marketing and the errors of common opinion; fitness trackers are trying to tune their training regimes to their own body types and competitive goals, but they are also looking to understand their strengths and weaknesses, to uncover potential they didn’t know they had.« (Wolf 2010)
Vor allem in Bezug auf medizinische und Gesundheitsnormen reagieren die SelfTrackerinnen kritisch. Eigene Abweichung von solchen Normen wird als Einzigartigkeit ausgelegt, die auch idiosynkratische Mittel zur Problemlösung oder Gesundheits- sowie Lebensoptimierung verlangen. Eines der wohl verbreiteteren Beispiele ist die schon fast stereotype Krankengeschichte: Ärzte waren nicht im Stande oder willens mir zu helfen; sie wussten nicht, was mir fehlte, also wurde ich selbst aktiv und habe begonnen mich selbst zu vermessen; mit den richtigen Tools und den Daten konnte ich mir schließlich selbst helfen (vgl. Selke 2014: 65).13 Das Problem liegt gemäß Gary Wolf darin, dass die Ärzte unzulässigerweise davon ausgehen, alle Patienten seien Standardfälle:
12 | Damit korrespondiert die These, dass es tendenziell die Hersteller von »tools« sind, die die persönlichen Projektpräsentationen als Werbeveranstaltungen nutzen und in ihre Projektpräsentationen auch Vergleiche mit Normwerten einbauen: vgl. z.B. Juliana Chua (2014), eine Mitarbeiterin von tinké, präsentiert anhand ihrer eigenen Daten die Fähigkeiten des neuen Sensors. 13 | Vgl. auch Selke (2014: 64): »Digitale Selbstvermessung wird als Schutzmechanismus gegen unzulässige Verallgemeinerungen durch standardisiertes Wissen angepriesen.«
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Markus Unternährer »[The doctors] said, ›Let’s try the standard course of treatment first, and if that doesn’t work, then we’ll know your case is different‹. Adler recognized what this proposal meant: it meant that his doctors had no cure for different. They wanted to see him as a standard case, because they have treatments for the standard cases. Before Adler underwent surgery, he wanted some evidence that he was a standard case. Some of us aren’t standard, after all; perhaps many of us aren’t.« (Wolf 2010)
Anstatt darauf zu hoffen, dass man in den Normalbereich fällt, in dem die Standardbehandlung wirkt, gehen Self-Tracker in Wolfs Bericht davon aus, dass sie singuläre Fälle sind.14 Die Anwendung von »Lösungen für Normale« muss durch den Nachweis gerechtfertigt sein, normal zu sein: Anormalität wird zum Normalfall.15 »All of these sort of norm expectations are based on the people in the middle [of the Bell Curve, MU] and you don’t, you can’t tell whether or not that’s you, so we need to have kind of a backup model.« (Ramirez 2014c: 10:01) »[Y]ou need to define your own axis, define your own scales, learn to discern your own state and be able to capture those sensations in the moment and then reflect on them – that’s basically a description of the sort of self-tracking that QS is all about.« (Ramirez 2014c: 12:35)
Der von Link (2013) beschriebene flexible Normalismus basiert auf Quantifizierungen, die Vergleichbarkeit herstellen: Um sinnvolle Vergleiche machen zu können, müssen die zu vergleichenden Einheiten bezüglich mindestens eines Aspektes als gleichartig anerkannt werden, damit ihre Unterschiede in Bezug auf andere Aspekte eruiert werden können (vgl. Heintz 2010). Die Gleichheitsunterstellung ist aber sozial höchst voraussetzungsvoll: So konnten beispielsweise 14 | Vgl. auch das Manifest von Larisa Stanescu (2014): »Several studies during the (not so long) history of science coined the way our body works, deriving at the same time the parameters of the norm. Every value within the standard is considered to be normal, whereas everything else is mostly ignored or treated as abnormal. Most of the times we’re behaving and reacting to external impulses the same as our peers, but sometimes singular features of ours deviate from the norm – because we are unique. The problem is if you’re trying to solve an ›abnormal‹ problem with ›normal‹ methods it will fail. Special needs require personalised solutions. With the help of self-Tracking tools we can better define who we are and treat our ›abnormalities‹ accordingly – which is almost impossible in the current healthcare system, that works effectively only within the defined parameters and norms.« 15 | Vgl. z.B. Carmichael (2011): »But what really *is* neurotypical? What is normal? Does such a thing even exist? Maybe our minds are like our bodies – we all have slightly different tints to our skin, and grow to different heights. There’s no ›normal‹ body, so why should there be a normal mind?« (Carmichael 2011)
Selbstquantifizierung als numerische Form der Selbstthematisierung
Bettler und Adlige nicht miteinander verglichen werden, solange Schichtzugehörigkeit das wichtigere Identifikationsmerkmal war als die Zugehörigkeit zur Kategorie Mensch (vgl. Heintz 2010: 164). Einheiten werden miteinander vergleichbar, indem sie sozial verbindlich als der gleichen Kategorie zugehörig identifiziert werden – sprich: mindestens ein wichtiges Merkmal teilen, das wichtiger ist als nicht geteilte Merkmale. Die Gleichheitsunterstellung kann aber durchaus auch angefochten werden, wie es im Falle der virtuosen Selbstquantifizierung durch die Verwendung von Individualitätsrhetorik und Singularitätsbehauptungen getan wird, die sich insbesondere in der Ablehnung des Konzeptes der Norm zeigen.
4. F a zit : G esteigerte S ubjek tivität Selbstquantifizierung – am Beispiel der Videopräsentationen und Beiträge auf www.quantifiedself.com – wurde hier als eine relativ neuartige, numerische Form der Selbstthematisierung betrachtet. Aus der Perspektive der Virtuosen decken Zahlen – ebenso wie die Psychoanalytikerin – Selbsttäuschungsversuche und Verzerrungen schonungslos auf und spiegeln ihnen die ›Wahrheit ihrer Existenz‹ zurück. Selbstquantifizierungen lenken die Aufmerksamkeit auf Aspekte des Selbst und des Lebenslaufs und machen die jeweilige Person als ein Individuum mit spezifischen Eigenschaften kenntlich: »[T]hese patterns of sleep, they’re like a fingerprint, it was really identifiable, very unique. You realize that these measurements, these patterns of you are very specific.« (Frick 2014: 02:30) Das Selbst und das eigene Leben bilden den Untersuchungsgegenstand der Selbstquantifizierung – und auch einen Gegenstand der Optimierung. Doch macht die Perspektive der Selbstthematisierung sichtbar, dass diese ›Objektivierung‹ im Selbstexperiment nicht nur mit Optimierung, sondern auch mit einer gesteigerten ›Subjektivierung‹ einhergeht. Wie die Erforschung der eigenen Motive in der Beichte mit einer gesteigerten Empfindung für die eigene Subjektivität verbunden war (vgl. Hahn 1982: 408f) und wie psychisches Leiden oder die Realisierung eines authentischen Selbst in der Therapie die Möglichkeit bietet, kohärente Lebensgeschichten zu erzählen und Identität zu konstruieren (vgl. Illouz 2008: 196), so ist Selbstquantifizierung in den Beschreibungen der Virtuosen mit gesteigerter awareness und mindfulness verknüpft: »[Y]ou need to define your own axis, define your own scales, learn to discern your own state and be able to capture those sensations in the moment and then reflect on them« (Ramirez 2014c: 12:35; vgl. auch Carmichael 2010a: 02:50; Ramirez 2013a, 2013c, 2014d). Vermessung und Echtheitskonzepte (»true smiles«) versichern den Virtuosen eine objektive, neutrale und unverzerrte Rückmeldung über ihre Verhaltensweisen – rund um die Uhr. Digitale Assistenten wie Lifestreams erfassen für die Virtuosen unsichtbare oder nur vage wahrgenommene Verhaltensweisen, sodass bisher Implizites explizit und damit der Reflexion und Einflussnahme zugänglich gemacht wird. Einige berichten gar von der Entstehung neuer ›Sinnesorgane‹, beispielsweise
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einem Gefühl für die zurückgelegten Schritte oder einem Sinn für Stress (vgl. Swan 2013; Ramirez 2013d). In der Konsequenz mag dies zur Optimierung führen, doch darf dabei nicht übersehen werden, dass Selbstvermessung mit einer gesteigerten Selbstwahrnehmung und einem gestärkten Sinn für die eigene Individualität verbunden ist – und in diesem Sinne direkt an ältere Formen der Selbstthematisierung wie der Beichte und der Therapie anschließt.
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Körperbilder und Zahlenkörper Zur Verschränkung von Medien- und Selbsttechnologien in Fitness-Apps Stefanie Duttweiler »Bereit für eine Veränderung? Gut. Gib uns 12 Wochen und entdecke dein neues Ich. Vertraue den Experten. Tausende success stories zeigen: Wir wissen wie Du fit wirst. Bist Du bereit für deine Body-Transformation? Willkommen bei Runtastic Results. Trainiere jederzeit und überall mit deinem persönlichen Plan. Egal was Dein Ziel ist. Werde stärker und fitter. Inspiration, Instruction, Transformation. Runtastic Results«1
Wer fühlt sich hier nicht angesprochen? Wer kennt die Verlockung nicht, sich selbst so zu verändern, dass ein neues Ich erscheint? Wer möchte sich nicht Experten anvertrauen, um den persönlichen Plan zu mehr »success«, Stärke und Fitness zu verwirklichen? Sich inspirieren und instruieren zu lassen, um sich zu transformieren und dabei Medien zu nutzen, ist kein Alleinstellungsmerkmal von Runtastic Results und auch keines digitaler Fitness-Apps. Medien zu nutzen, um sich zu sich selbst auf bestimmte, beabsichtigte, systematisierte und längerfristige Weise ins Verhältnis zu setzen und so sich selbst zu ermächtigen, ist Teil der langen Verschränkung von Medien- und Subjektgeschichte. Runtastic Results lässt sich in Anlehnung an Foucault (1993: 26) den »Technologien des Selbst« subsumieren.2 Solche Technologien als eine »eigentätige, sich auf sich selbst richtende Arbeit am Selbst 1 | https://www.runtastic.com/de/results 2 | Foucault prägte den Begriff, um das Ziel seiner Arbeiten zu skizzieren, in denen er nach den Wegen und Techniken fragt, die Menschen nutzen, »um sich selbst besser zu verstehen« (Foucault 1993: 26). In Verbund mit Technologien der Produktion, von Zeichensystemen und der Macht versteht er »Technologien des Selbst« als Weisen, »die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt« (ebd.). Zentral sind dabei weniger die
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an sich« (Saar 2007: 327f.) organisieren die Einwirkung auf und das Verstehen von sich selbst auf bestimmte Weise: Sie stellen sie unter die Bedingungen von Zahl und Bild. Diese Darstellungsweisen, so die erste These des folgenden Beitrags, sind eng mit den Diskursen von Sport und Fitness verbunden. Charakteristisch ist dabei, so die zweite These, die Verbindung von Zahl und Bild. Die dritte These ist, dass diese spezifischen medialen Bedingungen ihre Wirkung in der je konkreten, praktischen Nutzung entfalten. Im Folgenden werden daher zunächst die Diskurse von Sport und Fitness und deren Fokussierung auf Körperbilder und Zahlenkörper vorgestellt, dann, nach einem kurzen Blick auf die allgemeinen Bedingungen des Medialen, werden die spezifischen Potenziale von Fitness-Apps untersucht, um abschließend erste Ergebnisse einer explorativen Studie zum Umgang mit Fitness-Apps zu präsentieren.
1. S port und F itness – K örper arbeit im M odus von Z ahl und B ild Fitness-Apps sind Elemente der beiden Diskurse von Sport und Fitness, die einander überlappen, jedoch nicht ineinander aufgehen. Beide Diskurse operieren mit uneindeutigen Begriffsdefinitionen. So ist die Bedeutung des Begriffes Sport zum einen »der Gebrauch dieses Begriffes« (Digel 1990: 88) zum anderen hat sich auch eine engere Begriffsbestimmung durchgesetzt, die Wettkampf und Vergleich als wesentliche Momente des modernen Sports versteht. So beschreibt die Systemtheorie Sport als Ausdifferenzierung eines gesellschaftlichen Funktionssystems entlang der Unterscheidung Sieg und Niederlage respektive überlegener und unterlegener Leistung (Bette 2010: 90). In der modernen Industriegesellschaft kann Sport als »Inbegriff eines messenden und zählenden, rational planenden Zugriffs auf den eigenen Körper gelten« (Becker, 2000: S. 225). Rationalisierung, (wissenschaftliche) Verobjektivierung, exakte Leistungserfassung, (Selbst)Disziplinierung und hierarchisierender Vergleich sind wichtige Momente, Bewegungsformen als Sport zu deklarieren. Alle diese Momente erfordern die Erfassung von Daten in Gestalt exakter Zahlen (Werron 2007). Zahlen sind es, die Bewegungsaktivitäten in sportliche Leistung transformieren, indem sie ihnen ›Wert‹ verleihen.3 Wer ernsthaft Sport macht, ist also auf Vermessungspraktiken im Modus der Zahl angewiesen. Ziele, sondern die »Formen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt« (ebd.: 27). Self-Tracking lässt sich als eine dieser Formen beschreiben. 3 | »Die Leistung ist einerseits eine ganz und gar lokale und konkrete Aktivität, eine Arbeit, die bestimmt und vermessen werden kann; andererseits ist die Leistung nicht die Arbeit, sondern ihr gemessener Wert als das, was die Arbeit leistet, was an ihr wertvoll und zu würdigen ist. Die Leistung ist einerseits die Arbeit an und für sich, andererseits ihr Wert für andere« (Vollmer 2013: 38).
Körperbilder und Zahlenkörper
Auch Fitness kennt Zahlen, doch der Begriff Fitness ist mindestens ebenso mehrdeutig wie der des Sports. Aus sportwissenschaftlicher Perspektive wird einerseits unter Fitness ein bestimmtes Repertoire an Bewegungspraktiken verstanden, die Fitness in die Nähe von Sport rücken – auch wenn sie außerhalb des modernen Sports angesiedelt sind (Andreasson/Johansson 2014: 13). Andererseits ist mit Fitness ein Zustand der Gesundheit und körperlichen Leistungsfähigkeit gemeint, der sowohl körperlich mess- und quantifizierbar als auch leiblich spürbar ist, indem er sich bspw. in der gelungenen Bewältigung von körperlichen Alltagsanstrengungen bewährt – wobei die medizinische und die subjektive Perspektive nicht zwingend miteinander kompatibel sein müssen. Dass man auf diese Weise fit ist, wird diskursiv als etwas figuriert, was sowohl im Interesse der Einzelnen als auch der Krankenkassen, Versicherungen oder Arbeitgeber liegt.4 Doch zunehmend wird Fitsein zu einem eigenständigen Wert, der sich nicht zwingend im Alltag bewähren muss. Fitness bezeichnet einen Gebrauchswert in Wartestellung, der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft, Willensstärke und Disziplin, Flexibilität und Agilität, Selbstoptimierung und Selbstverantwortung am Körper anzeigt (vgl. Duttweiler 2003: Graf 2013). Fitness ist daher mehr als ein körperlicher Zustand, Fitness fungiert als Metapher, in der sich ein Großteil der positiv besetzten Werte der gegenwärtigen Gesellschaft ›verkörpern‹. Pointierter noch als in anderen Körperdiskursen ist Fitness mit der (Sinn-)Bildfunktion des Körpers verknüpft – dass der Einzelne gesund, agil, willensstark und diszipliniert ist, zeigt sich am Körper. Fitnesspraktiken sind somit Medientechnologien, die am Körper etwas zum Erscheinen bringen – sie machen sichtbar, was sie selbst hervorbringen.5 Damit kommt ein zirkulärer Prozess in Gang: Die Arbeit am Körper, die durch Selbstüberwindung, Willensstärke und Disziplin zum gewünschten Erfolg führt, führt zugleich zu Selbstvertrauen, innerer Stärke, Durchhaltevermögen, Glück und Sex-Appeal und realisiert so – eigenleiblich wahrnehmbar – die Hoffnung auf umfassende Selbstveränderung. Fitness-Praktiken sind »success«-Praktiken der Körper- und Selbstermächtigung. Dementsprechend wird Fitsein als Leistung figuriert, die soziale Anerkennung und Distinktionsgewinn
4 | Deutschland ist mit 9,1 Millionen Mitgliedern in Fitness-Studios zwar einer der größten Fitnessmärkte in Europa, doch während in Norwegen 19,6 % und den Niederlande 16,0 % der Einwohner Mitglied in einem Fitness-Studio sind, liegt Deutschland mit 11,2 % im europäischen Mittelfeld (vgl. http://www2.deloitte.com/de/de/pages/presse/contents/ deutsche-fitnessbranche-mit-hoher-dynamik.html). 5 | Wie aktuelle Medientheorien immer wieder hervorheben, stellt (Un-)Sichtbarkeit gerade keine statische Qualität von An- oder Abwesenheit dar, sondern ist ein aktiver, kollaborativer Prozess in Abhängigkeit von soziokulturellen Praktiken und Diskursen und soziotechnischen Verfahren (vgl. Prinz 2014; Heßdörfer 2014). Das gilt nicht zuletzt für die Wahrnehmbarkeit bildlicher Darstellungen, auch deren Visualität wird erst in sozialen, habitualisierten Praktiken des Sehens und der Wahrnehmung zu einer sozialen Wirklichkeit.
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verspricht. Fitness muss sich daher zeigen: am Körper selbst6 und/oder in der zahlen- oder bildbasierten Dokumentation seiner Leistungen – Fitness zeigt sich in Zahlenkörpern (vgl. Zillien/Fröhlich/Dötsch 2015) und Bildkörpern. Aktuell zeigt sich (der Wille zur) Fitness auch in der bewussten Gestaltung der Lebensführung: Insbesondere im Diskurs, der in Fitness-Apps zirkuliert, wird Fitness als ein Lifestyle mit eigenständigen Bewegungs- und Ernährungsmaximen figuriert. Sie lehnen sich an diejenigen des Kraft- und Ausdauersports an, orientieren sich jedoch nicht zentral an der Gesundheit oder Leistungsfähigkeit des Körpers, sondern an dessen perfekten Formen. Arbeit an sich erweist sich so auch als Arbeit am Körperbild.7 Konkret bedeutet das vor allem ›definierte‹ Muskeln: der ›Sixpack‹ für Männer, für Frauen der ›toned sexy body‹, der zugleich schlank und muskulös ist.8 Durch diesen Fokus auf das Erscheinungsbild wird der Körper im FitnessDiskurs zunehmend dem alltäglichen Gebrauchszusammenhang entrückt. Es ist weniger entscheidend, sich kräftig und beweglich zu fühlen oder als gesund geltende Körperwerte aufzuweisen, der wohlgeformte, fitte Körper wird vielmehr zum Objekt des Sehens, der zur Betrachtung einlädt. Als schöner Körper wird er dabei in besonderer Weise sichtbar, denn als Objekt der Betrachtung wird er sowohl aus dem existentiellen Bereich des Körper-Seins als auch aus dem funktionalen, nützlichen Bereich des Körper-Habens herausgelöst (Bieger 2008: 54). »Seine Schönheit tritt nach vorn und löst sich wie ein Überschuss ein Stück weit von ihm ab – im Auge des Betrachters wird der Körper so zu einem Körperbild.« (Ebd.) Diese ›Bild-Werdung‹ ist insbesondere im Hinblick auf den athletischen Körper, der erst durch exzessive Bewegungen zu einem solchen wird, paradox. »It is as if the moment in which the athlete’s body is most fully idealized is the one in which that body’s athleticism is most fully suspended.« (Butler 1995) Der gegenwärtige Fitness-Diskurs ist auch ein Bild-Diskurs, der sich nicht zuletzt medial entfaltet. Es ist ein Ort der Produktion und Zirkulation von Bildern
6 | Fitness-Praktiken stellen nicht zuletzt auch sozial anerkannte Möglichkeiten bereit, den relativ unbekleideten Körper ins Feld des Sichtbaren zu rücken – sei es im FitnessStudio oder in medialen Darstellungen. 7 | Besonders augenfällig wird dieser Trend hin zum Bild im Programm Size Zero, das mit dem Slogan »In nur 70 Tagen zum Foto deines Lebens« wirbt (https://www.size-zero.de/ das-erwartet-dich/). Slogans wie »Abgerechnet wird am Strand« oder »Bring Dich in die Form deines Lebens« suggerieren, dass der Beach-Body respektive die Bikini-Figur Aufmerksamkeit und Anerkennung garantieren. Insbesondere das Selfie des nackten Bauches scheint sich aktuell als Subgenre des Selbstportraits zu etablieren. 8 | Auch wenn Fitness-Praktiken auf den ersten Blick Geschlechterstereotype verfestigen, lässt sich auch eine Aufweichung beobachten: Männer fokussieren nun auch auf Schönheit und Ästhetik und stellen sich als Objekte zur Schau und für Frauen ist das Ausbilden von Muskeln kein Widerspruch zur Weiblichkeit mehr (vgl. Andreasson/Johansson 2014).
Körperbilder und Zahlenkörper
fitter, schöner und schlanker Körper.9 Dabei wird ein Begehren nach umfassender Körper- und Selbstveränderung stimuliert, das sowohl im Reich des Imaginären als auch der gesellschaftlich erwünschten Normen und Werte angesiedelt ist. Im immer wieder bemühten Topos des ›Traumkörpers‹ findet das Begehren nach der perfekten Körperform, die immer zugleich Sinnbild des perfekten Selbst ist, pointiert seine Chiffre und legt ihren phantasmatischen Kern offen. Sekundiert wird dieses Phantasma durch andere Bilder normalisierter Traumvorstellungen wie dem Traumstrand, der Traumfrau oder dem Traumpaar, wie sie in Fitnessblogs und auf Instagram in Serie produziert werden.10 Der hart erarbeitete, der disziplinierte und kasteite Beach- und Bikini-Body wird so als Lustkörper gerahmt, der nichts anderes tun und sein muss, als sich dem Genuss hinzugeben – vor allem dem Genuss der (eigenen) Betrachtung. Der Diskurs von Fitness als Lifestyle ist damit auch ein Ort des Konsums des Körpers durch sich selbst und andere. Wenn sich Fitness als »success« in den Augen des Betrachters zu bewähren hat und soziale Anerkennung damit verhandelt wird, eröffnet sich somit auch ein weites Feld der Affekte: Zufriedenheit und Stolz ebenso wie Unsicherheiten, Unzufriedenheit, Hemmungen oder Frustrationen. Trotz und wegen ihres Bildcharakters bleiben die Darstellungen von Fitness den Einzelnen somit nicht äußerlich, vielmehr gehen sie unter die Haut und ›berühren‹ unmittelbar. Das Abstraktum Fitness zeigt sich mithin auf vielfältige Weise: in der eigenleiblichen Selbstwahrnehmung, in Zahlenwerten oder in der Annäherung an das Bild des perfekten Körpers. Nach außen sichtbar – und das scheint zunehmend entscheidend – werden dabei nur Körper, Zahlen und Bilder.
2. A uto -R esonanzen im M odus von Z ahl und B ild Fitness-Apps sind Medien, in denen diese Diskurse zirkulieren. Sie siedeln an der Schnittstelle zwischen einerseits der Fitness mit ihrer Verbindung von Gesundheit, Leistungsbereitschaft und Ästhetik (Trachsler 2003) und andererseits dem Sport mit seinem Fokus auf Leistungsvergleich und Überbietung. Ihre Attraktivität liegt darin, dass sie Auto-Resonanzen erzeugen, die die Arbeit am Körper als Bilder und Zahlen zur Erscheinung bringen. Von diesem transformierenden Medieneffekt scheint eine starke Faszination auszugehen. Fitness-Apps als Medien zu fassen, legt den Fokus auf die »Dazwischenkunft des Medialen« (Tholen 2002), die sich auf die fundamentale Bedingung menschlicher Existenz bezieht, zu sich selbst und damit auch zu seinem Körper immer auch in Distanz zu sein. Denn Medien überwinden die Verhaftung in der Unmit9 | Auffallend sind jedoch auch die unzähligen Bilder von als spezifischer Fitnessnahrung ausgewiesenen Speisen und Getränken. Eine überzeugende Analyse des Phänomens ›Fitness-Foodporn‹ steht meines Wissens noch aus. 10 | Vgl. exemplarisch https://www.instagram.com/tonedtannedandfitness/
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telbarkeit. Mit ihrer grundlegenden Fähigkeit, etwas zu übermitteln, zu verbinden und Bezüge herzustellen sowie Dinge wahrnehmbar zu machen und so Präsenz herzustellen ziehen sie Distanz ein und überbrücken sie zugleich. Dabei bringen Medien auch Dinge zur Erscheinung, die ohne sie nur rudimentär oder gar nicht sicht- und erfahrbar wären und damit nicht dauerhaft existent: den Blutdruck ebenso wie Götter, Begriffe, Philosophien oder Zahlensysteme. Medien erzeugen so Welt(en). Dieses Wahrnehmbarmachen eines Abwesenden bzw. eines Unsinnlichen vollzieht sich mittels konkreter Medientechnologien. Welcher Art diese Medien sind und auf welchen Technologien sie beruhen, macht dabei einen je spezifischen Unterschied hinsichtlich ihrer Wirkungsweisen; die »Prägekraft des Medialen« (Krämer 2003: 79) führt dazu, dass »Medien im Akt der Übertragung dasjenige, was sie übertragen, zugleich mitbedingen und prägen« (ebd., 85). Das gilt auch für die Möglichkeiten, zu sich selbst in Distanz zu gehen, (neues) Wissen über sich zu generieren und zu sich selbst auf neue Weise in Beziehung zu treten. Medien stellen die Selbstbezüglichkeit unter ihre Bedingungen: Sprache, Schrift, Zahlen und Bilder und deren technischen Erweiterungen erzeugen je spezifische Auto-Resonanzen, die den Selbstbezug auf je spezifische Weise organisieren. Tagebücher, Spiegelbilder, statistische Reihen, YouTube-Diaries oder Schnappschuss-Selfies unterscheiden sich somit darin auf welche Weise sie Dimensionen des Selbst sicht- und damit erfahrbar machen. Doch die Wirkung von Medien ergibt sich nicht zwangsläufig aus ihrem technischen Potenzial, sie ergibt sich – neben den individuellen Verwendungsweisen – in Wechselwirkung mit dem kulturellen Kontext: Medien sind immer in kulturelle Kontexte eingebunden, deren Handlungsroutinen, Diskurse und Problematisierung ihre Wirkung wesentlich bestimmen (vgl. Schneider 2007), und diese Faktoren sind ihrerseits durch die Annahmen, Normen und Diskurse dieses Kontextes geprägt. In einer konkreten Medientechnologie verbinden sich mithin spezifische technische Funktionsweisen, spezifische Modi der Aesthetisierung, wie Wort, Bild oder Zahl, und kulturelle Diskurse. In ihrem Zusammenspiel eröffnen sie einen Spielraum während sie zugleich andere Spielräume einschränken. Dementsprechend sind Medien keine passiven Objekte, ihnen kommt vielmehr ein eigenes Wirk- und Handlungspotenzial zu, das Anforderungen stellen oder stören, aber ebenso unterstützen und ermächtigen kann. Es ist daher entscheidend, welche Medien im ›Dazwischen‹ des Selbstbezugs angesiedelt sind. Auch Fitness-Apps sind in diesem Sinne Medien: Sie übertragen die Informationen körperlicher Zustände, Wahrnehmungen und Bewegungen aus dem Register des Spürbaren, Subjektiven und Flüchtigen in das des Sichtbaren, intersubjektiv Wahrnehmbaren und des Dauerhaften. Oder anders ausgedrückt: Sie transponieren diese Informationen in Zahlenkörper und Körperbilder. Sie fungieren als Auto-Resonanzen, die einen Selbstbezug hervorbringen, der anderweitig so nicht realisierbar wäre: Sie ermöglichen eine dauerhafte Dokumentation,
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die (erinnernde) Vergegenwärtigung und den intersubjektiven Vergleich der eigenen Leistungen und Zustände. Fitness-Apps sind damit konstitutiv mitbeteiligt an der Erzeugung einer Welt der Zahlen, Leistungsvergleiche und Rankings. Die Verschränkung von Zahlen und Bildern stellt m.E. ein charakteristisches Merkmal dieser Medien dar, das im Folgenden genauer erfasst werden soll. Fitness-Apps stellen die Wahrnehmung, Reflexion und Kontrolle des Körpers unter die Bedingungen von Zahl und Bild und stellen dadurch (lediglich) bestimmte Weisen des Sich-selbst-Verstehens und Sich-selbst-Ausdrückens bereit. Doch auch wenn Medien den Selbst- und Körperbezug unter Bedingungen stellen, die sie selbst schaffen, ist das Verhältnis zwischen Medien und Selbst keine determinierende Beziehung. Medien gewinnen ihre Macht erst in und durch die Weise ihrer Nutzung, die durch die soziotechnische Materialität gerade nicht vollständig vorgegeben ist. Medien und Selbst sind wechselseitig aufeinander bezogen, beide sind instabile Konstellationen, die ihre Gestalt und Wirksamkeit erst in der konkreten Nutzung, das heißt in der sich vollziehenden praktischen Verbindung von Medien und Selbst erhalten.
3. F itness -A pps als M edien des E rscheinens und V erbindens Fitness-Apps verstehe ich als Medientechnologien, in denen sich Hardware (Bewegungssensoren, spezialisierte Messgeräte wie Fitnessarmbänder, Pulsuhren, Pedometer oder Herzfrequenzmesser, Smartphones, Tablets, PCs) und Software (Mobile Apps, Interfaces, Dashboards, Internet-Portale) mit dem Ziel der Motivation und Vermessung körperlicher Leistungen verbinden. In ihr Design eingeschrieben sind spezifische Funktionsweisen (die Vermessung und Übersetzung analoger Körperäußerungen in digitale Daten und deren Speicherung, Auswertung und Zirkulation), spezifische Wissensbestände (über Körperfunktionen, Motivationsfaktoren, Situationen oder Gebrauchsszenarien) sowie spezifische Handlungsprogramme (Sport treiben, Kalorienaufnahme reduzieren, in einer spezifischen Herzfrequenz laufen etc.). Von ihnen gehen selbst »Handlungsinitiativen« aus, »indem sie Handlungsziele festsetzen und eigenständige Reaktionen der Benutzer einfordern« (Reichert in diesem Band). Im Einzelfall unterscheiden sich die Apps darin, wie ihre Handlungsziele ausgestaltet sind. Das heißt, sie unterscheiden sich in der Abfolge, Ausführung und Intensität der Fitnessübungen, der Weise von Überwachung, Dokumentation und Kontrolle der Trainingsprogramme sowie der sie begleitenden Rheto-
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rik11 und den jeweiligen Spielarten der Gamification.12 Doch unabhängig davon, wie das Handlungsprogramm im Einzelnen operationalisiert wird, versprechen alle Fitness-Apps eine Passung von standardisiertem Wissen und konkreter individueller Situation. Durch einen Fitness-Test zu Beginn des Programms, der den individuellen Fitness-Level erhebt, sowie die permanente Rückkopplung des Leistungsstandes errechnen Algorithmen einen personalisierten Trainingsplan. Seine Einhaltung wird durch das technisch generierte, unverzügliche, unmittelbare Feedback der eigenen Leistung kontrolliert. Zentraler Bestandteil aller größeren Fitness-Apps ist das Fitness-Portal, das sogenannte Dashboard (Reichert 2016), das als Schnittstelle zwischen dem individuellen Körper, den Körpern von anderen und den Körperbildern des FitnessDiskurses fungiert. Hier werden Körper und Diskurse auf verschiedene Weise miteinander verbunden: Erstens lassen Fitness-Apps die körperlichen Leistungen in grafisch auf bereiteten Zahlen und Bildern (s.u.) erscheinen, die für die Diskurse von Fitness und Sport charakteristisch sind, und stellen so die Arbeit am Körper unter die Bedingungen dieser Diskurse. Zweitens verknüpfen diverse Angebote wie Kommentarfunktion, Likes oder Applaus, Freundschaftsanfragen oder Rankings und Wettkämpfe verschiedene Körper miteinander. Sie figurieren so Unterstützungs- und Konkurrenzgemeinschaften, in denen sich die Einzelnen wechselseitig beobachten und aufeinander Einfluss nehmen (können). Drittens stellen die Dashboards durch ihre Ratgeber- oder Coachingfunktion Verbindungen zwischen Körpern und dem Fitness-Diskurs her. Neben den personalisierten Trainings- und Ernährungsplänen werden in tagesaktuellen Blogs relevante Themen rund um Sport, Fitness und Ernährung diskutiert und dabei bekannte ernährungs-, sport- und trainingswissenschaftliche Wissensbestände sowie Erfahrungswissen in Texten und Bildern anschaulich gemacht und auf neue Weise zusammengestellt. Dabei selektieren die Anbieter relevante Wissensbestände und 11 | Während Fitness-Apps wie Fit in vier Minuten schnelle Trainingserfolge versprechen, setzen andere wie Freeletics oder Runtastic Results auf die gegenteilige Strategie. Die ungemein anstrengenden Übungen, die martialische Sprache, die Anweisungen in Form von Befehlen formuliert, das Mantra »Aufgeben ist keine Option« sowie der begrenzte Zeithorizont von 10 bis 12 Wochen figurieren diese Programme als ›Challenge‹ – eine Herausforderung, die an und über die eigenen Grenzen führt und so als Bewährungsprobe fungiert. Diese Programme sind gewissermaßen Risikosport fürs Wohnzimmer. Der Kampf gegen feindliche Mächte (der Natur), die neben der leiblichen Grenzerfahrung für den Trendsport zentral ist (vgl. Gugutzer 2004), ist dem Kampf gegen den ›inneren Schweinehund‹ gewichen – als existenziell wird dieser Kampf gleichwohl figuriert. 12 | Unter Gamification versteht man die Kombination von spielerischen Momenten im Design und in Feedbackmechanismen, die Verhaltensmodifikationen initiieren soll. »The pleasures of play, the promise of a ›game‹, and the desire to level up and win are used to inculcate desirable skill sets and behaviours.« (Whitson 2013: 163; vgl. auch Whitson 2014 sowie Schollas in diesem Band)
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enthusiasmieren durch Motivations- und Erfolgsrhetorik und suggestive Bilder. So liefern sie sowohl konkretes, systematisiertes und mehrfach beglaubigtes Verfügungswissen als auch Orientierungswissen für die persönliche Lebensführung (vgl. Duttweiler 2006, 2007).13 Dabei blenden sie die sozialen Umstände ebenso aus wie individuelle, psychische und körperliche Dispositionen. Viele Anbieter betreiben zudem eigene Videochannel auf YouTube, in denen sogenannte Tutorials (die Vorführung von Fitness-Übungen)14 sowie sogenannte Transformations (Vorher-Nachher-Serien der Körperveränderungen durch Training) präsentiert werden, und machen so den Erfolg der Programme evident (s.u.). Fitness-Apps sind mithin Medientechnologien, die durch die Verbindung von technischen Funktionsweisen und Diskursen auf vielfältige Weise zu Selbstbeobachtung, Selbstreflexion und Selbsttransformation auffordern, sie auf bestimmte Weise rahmen und sie so vorstrukturieren. Von anderen Medien unterscheiden sie sich vor allem durch die anschauliche Verobjektivierung der körperlichen Leistungen, die immer und überall abruf bar ist. Dieses unmittelbare Feedback manifestiert sich in Zahlen und Bildern mit ihrem je eigenen Überzeugungspotenzial und ihrer je eigenen Phantasmatik – und gibt so den verschiedenen Weisen, auf sich einzuwirken und sich zu verstehen, buchstäblich eine Form.
3.1 Zahlenkörper Die körperlichen Leistungen, das heißt Geschwindigkeiten, zurückgelegte Distanz, umgesetzte Nahrungsenergie oder das Quantum der Übungen, werden in Fitness-Apps in erster Linie in Gestalt von Zahlen repräsentiert. Sie versprechen akzeptiertes, objektives, standardisiertes und von Kontingenz befreites Wissen (vgl. Heintz 2007). Mit Fitness-Apps kann so Wissen über den eigenen Körperzustand respektive die eigene Fitness generiert werden, das vermeintlich nicht subjektiv verzerrt und nicht verhandelbar ist. Durch die Darstellung in verobjektivierten Zahlen wird die körperliche Leistung aus ihrem lebensweltlichen Ent13 | Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Jennifer Smith Maguire in Hinsicht auf Fitness-Zeitschriften: »Exercise texts supply specific information on physical activity, but also claim to provide the objective, rational solutions to the problems of everyday life: how to choose between the multiplying options of the market; how to optimize your chances of success and happiness, and reduce the risks of failure and disease; how to shape a lifestyle that both conforms and stands out, earning both acceptance and distinction.« (Smith Maguiere 2002: 462) 14 | In einigen Fällen ist das der Betreiber der Website selbst, der den eigenen Körper als evidenten Beweis für die Wirksamkeit des Programmes präsentiert. Auch hier finden sich auffallende Parallelen zum Ratgeberdiskurs, in dem sich die Verfasser durch Selbstpräsentationen autorisieren, die sie nicht selten dadurch bereichern, dass sie sich als jemand präsentieren, der als Erster das Programm erfolgreich durchexerziert hat, was ihm aus einer Lebenskrise herausgeholfen hat.
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stehungsprozess herausgelöst und gewinnt eine neue Gestalt, die so in andere Prozesse eingespielt werden kann: in die Diagnose und Überwachung körperlicher Leistungen sowie in Prozesse des Vergleichs. In Fitness-Apps wie Nike+ oder dem Gesundheitsindex Dacadoo15 erfolgt die Verobjektivierung durch die Zusammenfassung verschiedener Körper- und Bewegungsdaten in Kennzahlen. Sie erweisen sich als »zeichenhafte Verdichtungspunkte von zum Teil hochkomplexen Rechenoperationen und Messprozessen« (Manhart 2008: 212), die jedoch – sehr zum Leidwesen mancher Nutzer – als Black Boxes, das heißt »unter Ausblendung der Komplexität und Kontingenz ihrer Herstellung« (Heintz 2007: 81), behandelt werden. Dies generiert einen paradoxen Effekt: Gerade die abstrahierende Vereindeutigung regt zu weitreichenden Spekulationen über die Aussagekraft der Zahlen an. »Zahlen haftet tatsächlich genau in dem Maße etwas Fantastisches an, wie sie von Situationsteilnehmern als Symptome von etwas Wirklichem, Mess- und Zählbarem gelesen werden, das anhand von Zahlen vergegenwärtigt werden muss. Im Alltagsinteresse an Zahlen als Zugängen zu Werten und Wirklichkeiten, Möglichkeiten und Chancen offenbart sich eine Praxis des Zahlengebrauchs, die in dem Maße spekulativ und riskant ausfällt, wie sie realistisch und nüchtern sein möchte.« (Vollmer 2013: 42)
Doch meist werden in Fitness-Apps gerade keine ›nackten‹ Zahlen präsentiert; in Fitness-Apps »data are mobilized graphically« (Gitelman/Jackson 2013: 12). Oder – um im Bild zu bleiben –: Dem ›nackten‹ Zahlenkörper wird ein Gewand geschneidert. Die Zahlen, die sich durch automatisch errechnete Zeiten, Strecken und Leistungen (Durchschnittsgeschwindigkeit, maximale Geschwindigkeit, die Schritte pro Kilometer, der Kalorienverbrauch oder der Flüssigkeitsbedarf, Entwicklungsverläufe oder Rankings) ergeben, werden in Kurven, Statistiken, Kuchen- und Balkendiagramme transferiert. Diese Visualisierungen der Daten entfalten eine »agentive force« (Ruckenstein 2014), insbesondere Kurven entwickeln eine »ganz eigene Phantasmatik« (Rieger 2009: 11). Indem sie eine lineare Entwicklung suggerieren, regen sie zum Fortführen der begonnenen Handlung an. Kurven und Entwicklungslinien ziehen, so hat es das Forschungsteam um Sylvie Pharabod (2013) beobachtet, die Selbstvermesser in eine spezifische Dynamik, in eine Bewegung hinein,16 die aus der Ästhetik der Kurve resultiert. Darüber hinaus wirkt die Ästhetik einer vollständigen Kurve ohne Ausreißer oder regelmäßiger Kalendereinträge als be15 | »Es handelt sich um eine Zahl zwischen 1 (tief) und 1‘000 (hoch) und basiert darauf, wer Sie sind, wie Sie sich fühlen und wie Sie Ihr Leben leben. Mit der Zeit erhalten Sie so einen guten, richtungsweisenden Indikator über die Entwicklung Ihrer Gesundheit und Ihres Wohlbefindens.« (https://www.dacadoo.com/de_index?lc=deCH) 16 | Gugutzer (in diesem Band) beschreibt diese Bewegung in Verweis auf Hermann Schmitz als »leiblichen Eindruck«.
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friedigendes Gleichnis einer guten Ordnung, die im Leben normalerweise nicht sichtbar ist (Pharabod et al. 2013: 118). Ergänzt und unterstützt wird die Erklärungs- und Überzeugungskraft von Kurven und Diagrammen immer auch durch pejorativ gefärbte Bewertungs- und Steuerungssysteme wie Signalfarben, Ampeln, Pfeile, Tachometer oder Thermometer. »Data visualization amplifies the rhetorical function of data, since different visualizations are differently effective, well or poorly designed, and all data sets can be multiply visualized and thereby differently persuasive.« (Gitelman/Jackson 2013: 12) Diese Darstellungsweisen suggerieren Wissenschaftlichkeit – und partizipieren zugleich an der Charakteristik von Bildern,17 einen Überschuss des nicht Sagbaren zu produzieren und so Raum für (imaginative) Interpretationen zu eröffnen. Neben diesem aus der wissenschaftlichen Auf bereitung von Zahlen entlehnten Visualisierungsrepertoire werden die registrierten Werte jedoch auch durch Bilder veranschaulicht. So zeigt beispielsweise der Schrittzähler Fitbit One nicht mittels einer Zahl, sondern einer stilisierten Blume an, wie intensiv man sich bewegt hat. Je mehr Bewegungen (gegangene Schritte, bewältigte Stockwerke, zurückgelegte Kilometer, verbrannte Kalorien) registriert werden, desto mehr Blätter entfaltet die Blume. Und in der Lauf-App Noom-Cardio versinnbildlichen Früchte (eine Erdbeere bis zu mehreren Bananen) die verbrauchten Kalorien. Auch Pokale, Medaillen oder Fitness-Levels ›zeigen‹ Leistung auf nichtnumerische Weise. Da im Sport die Trainingsbedingungen einen großen Einfluss auf die Leistung haben, kann man beispielsweise bei der Fitness-App Runtastic auch Stimmungs-, Umgebungs- und Wetterinformationen registrieren. Auch sie werden durch schriftliche Kommentare oder Fotos sowie versinnbildlichende Piktogramme und Emoticons nichtnumerisch repräsentiert. Besonderer Beliebtheit erfreut sich bei den Nutzenden auch die Funktion, die zurückgelegten Joggingoder Fahrradstrecken in einer Umgebungskarte sichtbar zu machen18 und mit Werten wie Herzfrequenz oder Geschwindigkeit zu korrelieren. Sportliche Leistung wird also gerade nicht ausschließlich zahlenbasiert ermittelt und vermittelt. Zwar können Zahlen minimale Unterschiede darstellbar machen und so die körperliche Leistung bis in kleinste Einheiten zergliedern, doch für die Darstellung von Fitness scheint dies zweitrangig und ergänzungsbedürftig. Zahlen werden durch andere Visualisierungen kontextualisiert, denn Bil17 | »Aus Daten werden Bilder« konstatiert auch Stefan Selke (2014: 178), ohne das jedoch weiter auszuführen. 18 | Es ist zu vermuten, dass die eigene Leistung durch die Aufzeichnung der Strecken mehr als durch Zahlen und Kurven nacherlebt und nachempfunden werden kann. Mehr noch: dass sie als eine (imaginäre) Einschreibung in den Stadtraum wahrgenommen werden kann. Von der flüchtigen Praxis des Joggens verbleibt so eine sichtbare Spur – nicht nur im eigenen Körper, sondern im abstrahierten Stadtraum, der sich in der eigenen App sowie in der Karte des Anbieters materialisiert. Dort werden die beliebten Strecken zusammengefasst und zum Laufen empfohlen.
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der, Piktogramme und Karteneintragungen bilden die Realität vermeintlich ohne das Dazwischen eines Verrechnungsprozesses ab. Diese Verobjektivierungen verbinden so Wissenschaftlichkeit mit Alltagsnähe, Abstraktion mit konkretistischer Anschaulichkeit, Objektivität mit Subjektivität. So entfalten sie eine hohe Plausibilität und figurieren als wirkmächtige Stimuli der Selbstbeobachtung, Selbstadjustierung und Selbstvergewisserung. Sie können zwar die eigenleiblichen Wahrnehmungen gerade nicht ›einfangen‹, jedoch die Singularität des Ereignisses bezeugen (vgl. Pharabod et al. 2013: 124). Doch so unmittelbar anschaulich die Daten und Piktogramme erscheinen, auch die Interpretation der Daten muss erlernt werden. Wie bisherige Studien zu Self-Tracking zeigen, kann, wer sich selbst vermisst, die erzeugten Daten ›nicht so stehen lassen‹ (vgl. Pharabod et al. 2013; Ruckenstein 2014; Duttweiler 2016). Daten provozieren Interpretationen, sie veranlassen Narrationen und Kommentare und vor allem evozieren sie affektive Wertungen. Sie verlocken aber auch zu Manipulationen im Dienste einer positiven, identitätsrelevanten Selbstdarstellung (Lupton 2013: 29). Die Interpretation von Daten erweist sich so als Prozess wechselseitiger Bedeutungszuschreibung zwischen Daten und Nutzenden: Die Nutzenden machen die Daten bedeutsam und die körperlichen Leistungen werden ihrerseits durch die Daten bedeutsam gemacht (vgl. Duttweiler 2016).
3.2 Körperbilder Doch Fitness-Portale machen mehr als Körperwerte sicht- und vergleichbar, sie operieren auch in jenem Register, in dem die Körper adressiert werden: dem Register des Visuellen, der Verbildlichung und Versinnbildlichung. Denn FitnessPortale zeigen auch unzählige bewegte und unbewegte Bilder von (fitten) Körpern. Meist sind dies Bilder von jungen, schlanken und schönen, mithin: fitten Körpern männlicher und weiblicher Fitness-Models. Sie illustrieren die Websites und zeigen sich in den Werbefilmen für das Programm sowie in den Vorstellungen der Fitness-Übungen. Darüber hinaus bieten die Portale den Nutzer/-innen die Gelegenheit, eigene Bilder ins Netz zu stellen. Möglich ist das zum einen in den Profilbildern der jeweiligen Communities. Wie Lomborg und Frandsen (2016) herausarbeiten, wird dies vor allem von denjenigen genutzt, die sich stark im Sport engagieren, und die sich so in Sportkleidung, gemeinsam mit anderen Sportlern und bei der Ausübung ihrer Sportarten präsentieren können. »They communicate a sports identity and thus suggest a particular kind of social relationship – centered on sports – that they wish to express on the app.« (Ebd.: 1020) Zum anderen bieten die Portale die Möglichkeit, Bilder des eigenen Erfolgs zu präsentieren. So entstehen unzählige, sich bis ins Detail ähnelnde Bilder in Vorher-Nachher-Szena-
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rien.19 Es sind Bildergeschichten von »success stories«, deren narrativer Raum sich lediglich auf die Differenz zwischen Vorher und Nachher beschränkt 20 – die Anstrengung und Arbeit dazwischen bleibt unsichtbar. Der repetitive Charakter dieser Serien generiert nur minimale Unterschiede, die Einzelnen können ihre eigene transformation in diese Serie einreihen und sich so zur Schau und dem Vergleich stellen. Diese Bilder führen vor, dass die angestrebten Ziele erstrebenswert und erreichbar sind. Und zwar nicht nur für einige Auserwählte, sondern auch für diejenigen, die zuvor durchschnittlich und normal, dickbäuchig oder übergewichtig waren. Je größer die Differenz zwischen Vorher und Nachher, desto größer der Erfolg des Systems und des Athleten. Diese Bilder haben das Potenzial, zu »fictional doubles« (Walker King 2000) zu werden, die den Abgleich mit der eigenen Körperform und dem persönlichen Willenszustand evozieren, zur Nachahmung anregen und den Traum vom Traumkörper mit phantasmatischer Energie und Legitimation versorgen. Nicht zuletzt regen insbesondere die Vorher-Nachher-Bilder mit ihrer Fiktion des Authentischen dazu an, ein perfektes Bild von sich – als Körperbild sowie als ›Foto des Lebens‹ – zu generieren und so selbst Teil der »success myth«, des Aufstiegs aus eigener Kraft, zu werden. Die Bilder fungieren so als »virtuals«, als Bilder der Zukunft, die Versprechungen und Erwartungen generieren und so schon in der Gegenwart wirksam werden: Die Bilder, so hat es Rebecca Coleman (2013) in ihrer Analyse der »transforming images« auf Weight Watchers-Websites herausgearbeitet, werden performativ, da sie körperliche Affekte hervorrufen. »The images of transformation […], work not only through what they depict (the better future) but also through how they are felt in, through and as the body (as a series of feelings, anticipations, inclinations towards living out the better future).« (Ebd.: 29) Diese Affekte sind, so betont Coleman wiederholt, »classed, raced and gendered« – in Wahrnehmung, Reaktion und Umgang mit Körperbilder ist der Körperdiskurs mit seinen vergeschlechtlichten, rassifizierten, soziale Schicht und Alter thematisierenden Konkretionen konstitutiv eingeschrieben. Da Körperbilder unmittelbar evident erscheinen, einen Überschuss an nicht Sagbarem mitführen, nicht negierbar sind und da sie zur Identifikation einladen, setzen sie eine Dynamik des fragenden Selbstbezugs in Gang, die dem Bewusstsein nur bedingt zugänglich ist. Images »are pervasive, appealing and powerful because they are affective« (Coleman 23, Herv. im Orig.). Will man sich auch kognitiv der Bildwirkung entziehen, ist es doch wahrscheinlich, dass man leiblich-af19 | Selbstverständlich gibt es auch Widerstände, ironische Brechungen und Gegenbewegungen gegen diese Tendenz (vgl. http://bodyimagemovement.com.au/dear-maria-kangthis-is-my-excuse/). 20 | Maren Möhring (2005: 243) macht darauf aufmerksam, dass schon 1905 Richard Ungewitter einem Bericht über sein Training nach dem Sandow-System nicht nur genaue Maße seiner Oberarme und anderer Körperteile beifügte, sondern auch diverse VorherNachher-Fotos.
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fektiv auf diese Körperbilder reagiert, was durch die spezifische Wirkung von Bildern evoziert wird: »Dieses Angeblicktwerden wird als ein Geschehen erfahren, bei dem das Bild ›zum Akteur‹ wird, während dem Betrachter etwas widerfährt, das seiner Kontrolle nicht einfach unterliegt, obwohl er durch seinen Blick auf das Bild dieses Geschehen überhaupt erst evoziert.« (Krämer 2009: 7) Fitness-Apps sind Medien, die Nichtsichtbares zur Erscheinung bringen, es ins Register des Sichtbaren rücken und es dauerhaft fixieren, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen geben die unzähligen Bilder und Bilderserien dem unbewussten Körperideal eine sichtbare Gestalt von Ideal-Körpern21 und zum anderen werden körperliche Zustände und Leistungen in Zahlen und/oder Bilder übersetzt. So stellen Fitness-Apps unablässig und buchstäblich ›Material‹ für intra- und intersubjektive Vergleiche bereit und rahmen somit die Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion und Selbstgestaltung innerhalb der Diskurse von Sport und Fitness. Charakteristisch für Fitness-Apps ist dabei, dass sie die Wissensbestände, Werte und Normen dieser Diskurse operationalisieren und die technische Möglichkeit mitführen, die Verobjektivierungen der Leistungen zu kommunizieren (sei es gewollt oder – wie im Falle der automatischen Aufzeichnung für die Krankenkasse – erzwungen) und sie der ›Besichtigung‹ durch andere auszuliefern. Dieses Zurschaustellen der Daten und Bilder ist im Diskurs von Sport und Fitness nie bloßes Darstellen der eigenen Leistung, sondern evoziert immer auch Vergleiche, das Etablieren von Hierarchien und formeller oder informeller Leistungsklassen sowie spezifische Vergemeinschaftung – in den Konkurrenzgemeinschaften des Sports ebenso wie in den ›Lebensstilgemeinschaften‹ des Fitness-Lifestyles. In Fitness-Apps lediglich Vermessungstechnologien zu sehen, wäre daher entschieden verkürzt, denn hier verbinden sich Vermessungs-, Vernetzung- und Präsentationstechnologien sowie Ratgeber- und Coaching-Funktionen. Sie spannen einen Möglichkeitshorizont für Optimierungen und Erfolgsaussichten im Rahmen der Körper- und Selbstveränderung auf, der Traumvorlagen und Gelegenheiten bietet, in der Phantasie mit Neuem zu experimentieren und sich selbst als ein ›anderes Ich‹ zu imaginieren. Dabei entfaltet sich diese imaginäre Auseinandersetzung mit dem (diskursiv gerahmten) Raum der Möglichkeiten nicht erst in der Ausführung der vorgeschlagenen Übungen, sondern bereits beim Be-
21 | Diese Veräußerlichung des imaginären Körpers ist allerdings illusorisch. Denn der imaginäre Körper ist gerade nicht repräsentierbar, alle Repräsentation sind zu wenig und immer zugleich zu viel. Repräsentationen des Selbst sind daher immer mannigfaltig und die Beziehung zu sich selbst ist mit verschiedenen Blickperspektiven, Projektionen und Idealisierung ausgestattet: »[T]his relation to oneself, this sense of oneself as an ego, to use Freud’s language, is furnished through these spectatorial perspectives, projections, or idealizations.« (Butler 1995)
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trachten der Bilder oder beim Erwerb der App.22 Möglicherweise sind die Wirkungen von Fitness-Apps also nicht nur in konkreten Verhaltensänderungen, neuen Erkenntnissen oder Modifikationen des Selbstbezugs zu suchen, sondern auch in der Weitung des Möglichkeitshorizontes, dem Begehren nach Selbstveränderung sowie in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Werten und deren individueller Adaption – mit all den dabei entstehenden Affekten zwischen Begeisterung und Frustration. Fitness-Apps eignet mithin ein hohes suggestives Potenzial – entfalten kann es sich erst im je konkretem Umgang mit diesen Apps.
4. U mgangsweisen mit F itness -A pps – eine e xplor ative S tudie Um den Umgang mit Fitness-Apps zu untersuchen, habe ich im Sommer und Herbst 2014 63 Sportstudierende sowie 23 Studierende der Soziologie befragt. Dabei gaben lediglich 60 % der Studierenden an, ihre Sport- und Fitnessaktivitäten zu vermessen. Dazu nutzen sie verschiedene Mittel wie Pulsuhren, Blutdruckmessgeräte, Stoppuhren sowie ihre Finger am Handgelenk,23 nur 30 % der Befragten nutzen eine Fitness-App respektive ein zusätzliches Vermessungsgerät. Dabei ergab sich kein signifikanter Unterschied zwischen den Studierendengruppen oder zum Durchschnitt der Bevölkerung.24 Als Motive zur Selbstvermessung wurde genannt, sich überprüfen oder sich mit anderen und ihren früheren Leistungen vergleichen zu wollen, um die sportliche Leistung gezielt zu verbessern und gezielter zu trainieren. Nur zwei der 63 Studierenden gaben an, lediglich 22 | So fühlen sich zum Beispiel Käuferinnen von Diätratgebern schon nach dem Kauf ein Kilo leichter, so die Beobachtung der Autorin des Campus-Verlages Juliane Wagner (vgl. Heimerdinger 2012: 45, FN 19). 23 | Die Beobachtung von Pharabod et al. (2013), dass diejenigen, die der Logik der sportlichen Leistungsperformance folgen, immer mit den neuesten Geräten und Gadgets ausgestattet sind, bestätigt sich bei den Studierenden nicht. Für sie, das wird in den Interviews ebenso deutlich wie in informellen Gesprächen, spielt der Preis der Geräte eine entscheidende Rolle, nur in Ausnahmefällen ist die Begeisterung so groß, dass hohe Kosten in Kauf genommen werden. 24 | Somit bilden sie exakt das ab, was in einer landesweiten amerikanischen Studie des Pew Research Centers in Zusammenarbeit mit der Californian Healthcare Foundation mit ca. 3.000 Erwachsen erhoben wurde. Auch hier gaben 60 % der Befragten an, dass sie ihr Gewicht, ihre Diät sowie ihre Fitnessübungen vermessen. 33 % der Befragten messen einen Gesundheitswert oder Symptome wie Blutzucker, Blutdruck, Kopfschmerzen und Schlafmuster. Das Messen erfolgt dabei in der Regel konventionell und informell: 49 % merkten sich die Ergebnisse ausschließlich im Kopf und nur 21 % nutzen eine Form von Technologie wie Tabelle, Website, Apps oder digitale Gadgets (vgl. www.pewinter net.org/2013/06/04/the-self-tracking-data-explosion/).
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aus Interesse zu messen. Die Gründe, nicht zu tracken, sind dagegen vielfältiger: Die Befragten sehen keine Notwendigkeit, sich zu vermessen, ihnen fehlen die passenden Geräte, ihnen sind Aufwand, Kosten, Druck oder Kontrolle zu groß und sie brauchen es nicht, da ihr Körpergefühl und Trainingserleben ihnen ausreichend Rückmeldung über ihr Wohlfühlen oder ihren Trainingserfolg geben. Sich selbst zu vermessen oder einem vorgeschriebenen Trainingsprogramm zu folgen, ist mithin nicht für alle attraktiv. Kern der Untersuchung bildete eine qualitative Interviewstudie mit einem Sample aus sieben Studierenden der Sportwissenschaften (sechs Männer, eine Frau)25 mit explorativem Charakter. Dementsprechend wurden leitfadengestützte qualitative Interviews durchgeführt, die einen hohen Erzählanteil anstrebten. Erzählgenerierende Impulse betrafen die Gründe zum, die Erlebnisse mit und Veränderungen durch den Umgang mit Fitness-Apps. Gezielte Nachfragen lenkten den Fokus bei Bedarf auf diejenigen Themen, die in den Narrationen zunächst nicht auftauchten. Das war insbesondere im Hinblick auf Körperempfindungen und deren Veränderungen der Fall. Sportstudierende wurden gewählt, da ihre Generationenlage sie als Digital Natives ausweist und ihre Studienwahl für ein großes Interesse an Fitness und Sport spricht – ohne dass sie dezidiert Leistungsoder Gesundheitssportler/-innen sein müssen. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass diese Gruppe ausschließlich freiwillig Fitness-Apps nutzt, niemand erwähnt eine direkte Aufforderung oder einen gezielten Anreiz durch Ärzte, Krankenkassen, Versicherungen, Arbeitgeber, Gesundheitsämter, soziale Netzwerke (Familie, Peer-Groups, Arbeitskollegen, virtuelle Communities) und niemand geht davon aus, sich vermessen zu müssen, um die eigene Gesundheit und Fitness zu verbessern. Keine Auskunft war in diesem Sample damit über das Potenzial von Fitness-Apps, eine sportliche Betätigung zu initiieren, oder über die Umgangsweisen und Bedeutungsgebungen von Fitness-Apps in anderen Altersgruppen und Lebenssituationen zu erwarten. Auch wenn das Sample also weder repräsentativ ist noch im Sinne des »theoretical sampling« als ›gesättigt‹ gelten kann, zeigte sich eine große Bandbreite der Umgangsweisen, die es erlaubte, Hypothesen zu generieren und zur Diskussion zu stellen. Ausgewertet wurden die Interviews in Anlehnung an die Grounded Theory (Strübing 2014) in einem zweistufigen Verfahren: In einem ersten Durchgang wurden sie zunächst offen, dann selektiv codiert. Parallel dazu wurden Memos mit übergreifenden Interpretationsangeboten verfasst. In einem zweiten Schritt wurden die Interviews horizontal-vergleichend untersucht und das Material anhand theoretischer Codes systematisiert. Um den Rahmen dieses Beitrags nicht zu sprengen, werden im Folgenden die gewonnenen Ergebnisse in stark verdichteter Form dargestellt.
25 | Fünf Befragte stellten sich im Anschluss an die schriftliche Befragung in einer einführenden Vorlesung in Sportsoziologie für ein Interview zur Verfügung, zwei wurden direkt angesprochen, da ihr Interesse am Vermessen am Institut bekannt war.
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4.1 Verschiedene Weisen der Nutzung – eine tentative Typologie Trotz des kleinen Samples und individueller Differenzen lassen sich drei verschiedene Weisen ausmachen, in denen die Studierenden Fitness-Apps (Runtastic, Nike+, myFitnessPal) und Vermessungstechnologien (Fahrradcomputer, Fitbit, Garmin oder die Polaruhr) nutzen. Die folgende Darstellung beschreibt mithin eine tentative Typologie unterschiedlicher Weisen der Nutzung von Fitness-Apps und stellt keine Typologie unterschiedlicher ›Vermessungspersönlichkeiten‹ dar. Diese Nutzungsweisen lassen sich nicht trennscharf voneinander abgrenzen und können sich bei den Einzelnen über die Zeit ändern. Dennoch zeigt sich deutlich, dass die Wirkung von Fitness-Apps von diesen spezifischen Weisen der Nutzung beeinflusst wird, also davon, wie regelmäßig die Apps genutzt werden, wie entscheidend Zahlen und Statistiken für die Einzelnen sind, wie und ob die Ergebnisse anderen kommuniziert werden. Self-Tracking ›nur zum Spaß‹. Zwei Befragte nutzen Fitness-Apps respektive Vermessungstechnologien des Sports (Fahrradcomputer, Fitbit) nur sporadisch und wenn sich gerade die Gelegenheit bietet. Da Vermessungsgeräte in der Familie vorhanden sind oder vom Vater geerbt wurden und da sie Teil der familiären, spielerischen (Konkurrenz- und Anerkennungs-)Beziehungen sind, haben die Studierenden beiläufig einzelne Körperwerte vermessen. Carsten Schönfeld 26 betont, dass Tracken für ihn eine Ausnahme darstellt: »Das mache ich eher sehr selten, das mach ich nur so aus Jux, immer wieder mal. […] Es ist nur so für mich selbst so ein bisschen.« (Interview Schönfeld) Ihm dient sein Körpergefühl als Richtschnur für sein Trainingsverhalten. Auch Volkmar Kurz sagt, er mache es zur Zeit »nur zum Spaß«. Fasziniert von der Technik sind sie gleichwohl, es sind »technische Spielereien, die dann einfach auch Spaß machen« (Interview Kurz). Carsten Schönfeld fand es früher »einfach nur faszinierend, einen kleinen Computer da dran zu haben. Aber nicht mal, weil ich gemessen habe, wie schnell ich war. Sondern einfach, weil es ein kleiner Computer war« (Interview Schönfeld). Technikfaszination führt jedoch bei keinem dazu, dass sie die Vermessungstechnologien regelmäßig nutzen oder ihnen Veränderungspotenzial für ihr Training und ihren Alltag zuschreiben.27 Carsten Schönfeld berichtet jedoch davon, dass es ihn frustrieren würde, wenn er ›schlechte Werte‹ hätte, daher nutzt er die App nur selten. Beide verstehen sich als Sportler, berichten von sportlichem 26 | Alle Namen der Studierenden sind anonymisiert. 27 | In einer Seminararbeit zu diesem Thema machten Studenten die Ungenauigkeit der Messungen und den Verlust der Geräte sowie die als »belastend und einschränkend« empfundene »selbstgesteuerte ständige Überwachung und Überprüfung« dafür verantwortlich. Die Studentinnen dagegen hatten »insgeheim« darauf gehofft, dass sie »als ›Lauf-Muffel‹ durch die spielerische Gestaltung der Apps Spaß am Laufen finden und möglicherweise regelmäßig Laufen gehen. Dieser Effekt blieb leider bei allen von uns aus«.
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Ehrgeiz und hoher körperlicher Leistungsfähigkeit, doch verfolgen keine spezifischen Leistungsziele (mehr). Die Fitness-Apps werden so gewissermaßen nicht ›anschlussfähig‹ an ihre aktuelle Situation – die Körpertechnologien des Sports verbinden sich nur lose mit den Vermessungstechnologien. Sie nutzen sie, um Spaß zu haben, der darin besteht, dass sie ihre Leistung sehen und damit in spielerische Konkurrenz treten können.28 Self-Tracking zur zielorientierten Leistungssteigerung. Exemplarisch hierfür stehen Kerstin Lang und Konrad Maier, die aktuell konkrete sportliche Ziele verfolgen. Auffallend ist, dass sie die einzigen sind, die von Werten, Zahlen und Daten sprechen – auch wenn sie sich als technikfern respektive als uninteressiert und unfähig, mit Technik umzugehen, positionieren. Doch zu Trainingszwecken nutzen sie Fitness-Apps, da sie sich dadurch eine Unterstützung bei der Zielerreichung erhoffen. Ihr Einsatz von Fitness-Apps geht auf die Initiative anderer zurück. Beide haben nicht alleine, sondern gemeinsam mit ihren Freundinnen mit dem Tracken begonnen und beide kommunizieren ihre Erlebnisse und Ergebnisse ihren Freunden, Verwandten und Arbeitskolleg/-innen. Auch bei ihnen fungiert das Vermessen also als Medium der sozialen Interaktion, ist jedoch eng mit dem Erreichen eines individuellen Zieles verbunden. So trainiert Kerstin Lang für einen Halbmarathon und ließ dazu ihre Fitness-App »einfach nur so unterstützend nebenher laufen« (Interview Lang). Mittlerweile hat sie es ganz aufgegeben, da die Freundin nicht mehr mittrainiert und sie gemerkt hat, dass das beste Training »einfach viel laufen ist« (ebd.). Im Gegensatz dazu hat Konrad Maier sein Training intensiviert und seinen ursprünglich betriebenen Sport zurückgestellt. Er trainiert nun für einen Marathon, da er das Laufen aufzeichnen und die Daten mit seinen Kollegen vergleichen kann. Zu seiner eigenen Überraschung macht ihm das Laufen nun – im Gegensatz zu früher – Spaß. Hier zeigt sich, dass sich durch den Einsatz von Fitness-Apps neue Beziehungsdynamiken und Anerkennungsbezüge (wie in der Beziehung zur Freundin oder im Rahmen informeller Gegenhierarchien im Betrieb), neue Ziele (wie das Laufen eines Marathons) oder neue persönliche Vorlieben (wie der Spaß am Laufen) entwickeln können. Auf den ersten Blick scheinen die eingeschriebenen Handlungsprogramme hier also eine große Eigendynamik zu entwickeln. Doch gerade diese Beispiele verdeutlichen, dass auch beim Erreichen von (sportlichen) Zielen die soziale Situation entscheidend dafür ist, ob und wie man sich selbst vermisst. So betont Konrad Maier, dass es die persönlichen Beziehungen zu den Kollegen und Kolleginnen sind, die die Konkurrenz anstacheln und damit das Tracken für ihn interessant machen. Wenn »das fremde Leute sind [wie beim Veröffentlichen seiner Fahrradstrecken im Netz, S.D.], die es vielleicht gar nicht gibt, da interessiert mich das überhaupt nicht« (Interview Maier). Je intensiver die Selbstvermessung in bestehende soziale Netzwerke eingebunden 28 | Auffallend ist, dass nahezu alle informellen Gesprächen über Self-Tracking und Fitness-Apps immer mit der Aussage eingeleitet wurde: »Das ist bloß eine Spielerei« oder »das mache ich nur so zum Spaß«.
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wird, desto größere Wirksamkeit entfalten die Apps – ihre Wirkung ist abhängig von der Anschlussfähigkeit in diesen Netzen. Self-Tracking zur Unterstützung eines biografischen Projektes. Einsatzpunkt der Nutzung von Fitness-Apps war bei vier der Befragten die Umbruchsituation des Studienbeginns und der Eintritt in ein neues berufliches Umfeld. Studien- und Berufsbeginn sind in der Regel biografisch bedeutsame Ereignisse, die mit Neuorientierung und Zukunftserwartungen sowie spezifischer Selbstpositionierung und Fachsozialisation verbunden sind. Sie evozieren Praktiken der bewussten Selbstgestaltung und Selbsttransformation. Für Sportstudierende bedeutet das nicht zuletzt, Sport zu treiben und sich als Sportler zu präsentieren. Martin Winter wird beispielsweise durch seine Apps dahin gehend unterstützt, dass er sein Sportprogramm »zuhause dann kontinuierlicher durchzieht«, denn »es ist dann die App, die einem verpflichtet« (ebd.). Dabei »pushen« ihn die App-Verwendung auch zur Selbstüberbietung. »Ppppp man hat eine Tagesübersicht, man versucht immer neue Rekorde aufzustellen, ja am Anfang waren es 300 Situps oder so was. An einem Tag. Das pusht einem dann, dass man am nächsten Tag wieder weiter macht.« (Ebd.) Dennoch wird gerade bei ihm deutlich, dass er nicht aus Spaß Sport treibt und Aktivitäten aufzeichnet. »Als Sportstudent hat man die Verpflichtung, viel Sport zu machen, und dann sieht man, dass man was gemacht hat. Klingt jetzt blöd, aber so ist es. Ja!« (Interview Winter)29 Stefan Schmid »arbeitet« mit Hilfe einer Fitness-App »an seiner Physis«, um seinen Körper als »Visitenkarte« zu nutzen, eine Stelle als Sportlehrer zu finden oder nach dem Studium als Online-Coach anderen Leuten zu helfen, »ihren Traumkörper zu finden« (Interview Schmid). Auch die Auswertung des Interviews von Kai Jankowski lässt vermuten, dass ihm Fitness-Apps sowie das Konsumieren und Produzieren von Fitness-Blogs Möglichkeiten bieten, sein Leben selbstbestimmt und unabhängig zu führen und ihm einen Sinn zu geben. Die Entscheidungen dieser Studierenden, mit Selbstvermessung zu beginnen, sind eingebunden in ihren Zukunftsentwurf als erfolgreicher Student, als (zukünftiger) Professioneller in Sachen Sport oder als autonomer Erwachsener, der sein Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen kann. Zwei der Befragten bezogen sich dabei explizit auf Fitness als Lifestyle, für den sie Anerkennung aus ihrem sozialen Umfeld bekommen. »Das ist auf jeden Fall eine coole Sache. Allein auch der Respekt, dem man dafür entgegengebracht bekommt.« (Interview Schmid) Kommuniziert werden die Ergebnisse des Trackings dagegen nicht und von Statistiken ist keine Rede in den Interviews. Für die Befragten ist es wichtig, dass etwas sichtbar wird – dass sie etwas gemacht haben (sprich: nicht faul waren) und ihre körperlichen Veränderungen gesehen werden. Self-Tracking und Fitness-Apps werden als probate Mittel figuriert, ihren 29 | Deutlich wird hier das Ringen mit der Praktik des Aufzeichnens. Hat Martin Winter den Eindruck, dass ein sichtbarer Nachweis seiner Anstrengungen eigentlich gar nicht nötig sein sollte? Ist es ihm peinlich, dass er auf solch ein Mittel zurückgreifen muss? Wäre ein anderes Mittel angemessener?
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(neuen) Lebensentwurf zu verwirklichen und sie in diesem Prozess der Selbsttransformation zu unterstützen. Die erwarteten Wirkungen gehen dabei über die Leistungsdokumentation und -steigerung hinaus und betreffen die gesamte Lebensführung und Zukunftsorientierung – Selbstvermessung erweist sich auch als Medium eines biografischen Projektes. Die verschiedenen Motive und Nutzungsweisen und die sich daraus ergebende spezifische Wirksamkeit der Apps sind in allen Fällen eng mit den spezifischen biografischen Situationen der Befragten verbunden – den Gelegenheitsstrukturen in Familie und Alltag, den Leistungszielen und den sich damit bietenden Möglichkeiten zur Konkurrenzvergemeinschaftung sowie mit spezifischen biografischen Projekten der Selbsttransformation. Diese Beobachtungen legen den Schluss nahe, dass Fitness-Apps umso stärkere Wirkung entfalten, je intensiver sie in Praktiken der Selbst- und Beziehungsgestaltung eingewoben sind. Werden Selbstvermessungspraktiken zu konstitutiven Elemente der Beziehungsgestaltung30 oder der (sportlichen) Konkurrenzvergemeinschaftung oder sind sie entscheidendes Mittel, sich selbst zu verändern, entfalten sie eine größere Kraft, als wenn lediglich Technikfaszination oder eine isolierte Gelegenheit zu ihrer Nutzung führt. Trotz deutlicher Unterschiede in der Weise der Nutzung zeigen sich im horizontalen Vergleich der Interviews auch Gemeinsamkeiten. Auffallend ist, dass alle ihre Beziehung zum Sport sowie die Bedeutungsgebung von Daten thematisieren – und auf diese Weise sich selbst positionieren.
4.2 Sport-Machen und Fitness-Sein – Selbstpositionierungen durch Fitness-Apps Wie sich in den Interviews gezeigt hat, tragen Self-Tracking-Gadgets dazu bei, mit Sport in Beziehung zu treten. Durch den Einsatz der Self-Tracking-Gadgets wird diese Beziehung in actu problematisiert, Vermessungspraktiken und Sportpraktiken erlangen ihre Wirkmächtigkeit in der wechselseitigen Bezugnahme aufeinander. Charakteristisch für die biografische Situation der in dieser Studie Befragten ist ihre besondere Beziehung zum Sport. Das aktive Sport-Treiben und das Erlernen der wissenschaftlichen Grundlagen des Sports sind zentrale Gegenstände ihres Studium. Das bedeutet jedoch nicht, dass Sport für sie kein Gegenstand der Problematisierung wäre. Alle Befragten handeln diskursiv und situativ aus, was es bedeutet, ›wirklich‹ Sport zu machen, und wie viel Sport man machen muss und soll. In den Interviews zeigt sich, dass die Akte des Vermessens wesentlich dazu beitragen können, eine Bewegungsaktivität als Sport zu klassifizieren und 30 | Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Lomborg und Frandsen (2015: 1024), die ebenfalls beobachtet haben, dass sich Self-Tracker im Sport an einer kleinen Gruppe relevanter anderer orientieren. Sie kommen zu dem Schluss: »Self-tracking technologies may thus assist in maintaining and amplifying existing relationships.« (Ebd.: 1025)
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zu beglaubigen. So ›zählen‹ für den Sportstudenten Martin Winter Bewegungsaktivitäten nur dann als Sport, wenn er sie vermisst. Die weite Strecke, die er täglich mit dem Fahrrad zur Universität fährt, oder Turnen ›zählen‹ für ihn nicht: »Beim Radfahren habe ich es auch nicht gemacht. […] Fahrrad ist für mich kein Sport gewesen.« Und auch im »Turnen, da mach ich ja nix, was ich aufzeichnen kann und ja deswegen mach ich noch zuhause was [zusätzlich Sit-ups; S.D.], was ich wirklich aufzeichnen kann« (Interview Winter). Des Weiteren attestieren Fitness-Apps eine sportliche Leistung. So konstatiert Konrad Maier: »Ich nehm’ das auf, [… denn so] kann ich jetzt wirklich handfest beweisen, dass ich wirklich den kürzeren Lauf schneller laufe. Dann weiß ich, dass das wirklich so war.« (Interview Maier) Aus diesen Aussagen lässt sich schließen, dass sich Fitness-Apps, werden sie in Bewegungspraktiken eingebunden, in wirkmächtige Akteure verwandeln: Sie ziehen einen Unterschied in Bewegungspraktiken ein, indem sie Praktiken als Sport klassifizieren. Durch den Übersetzungsprozess von flüchtigen Vollzugswirklichkeiten in beständige und sichtbare Daten tragen sie dazu bei, diese Praktiken als Praktiken des Sports auch zu beglaubigen. So unterstützen sie wesentlich die Selbstpositionierung als Sportler. Wie sich in allen Interviews zeigt, ist das Sprechen über Sport und das SportTreiben immer mit Selbstpositionierung verbunden. Das impliziert auch den Vergleich mit anderen. Der direkte Austausch der Daten erfolgt jedoch in der Regel lediglich in einem sehr kleinen, intimen Kreis der Freunde und Familie. Ins Internet stellt die Daten, mit Ausnahme von Konrad Maier, niemand. Diese Nichtnutzung eines der charakteristischen Potenziale von Fitness-Apps ist jedoch nicht von Datenschutzüberlegungen motiviert. Auf die Frage, ob er seine Daten teile, antwortet beispielsweise Martin Winter: »(lacht) also irgendwann, weiß ich noch nicht, vielleicht«. Auf Nachfrage, wann dies der Fall sein könnte, konstatiert er: »Wenn ich sicher bin, dass ich – ja, zur Spitze gehöre einfach« (Interview Winter). Auch Stefan Schmid argumentiert ähnlich: »Nee. Ich sag mal: noch nicht. Wenn ich irgendwann mal nach dem Studium auf Leute zugehe, anderen Leuten helfe, ihren Traumkörper zu finden. Aber dann eher doch, wenn man selbst erst doch erfolgreicher war.« (Interview Schmid) Neben der Frage, welche Leistung für wen präsentabel ist, verhandeln die Befragten auch alle das Einhalten des richtigen, ›gesunden‹ Maßes des SportTreibens, indem sie sich sowohl gegen »Lari-Fari-Training« (Schmid) sowie den Drang von Hobby-Sportlern abgrenzen, ihre »belächelnswerten« Zeiten auf Facebook zu posten, sich an den errungenen Trophäen zu erfreuen oder auf die »Geldmacherei« teurer Fitness-Programme reinzufallen. Mindestens ebenso vehement wie die Abgrenzung gegenüber dem Hobby-Sport ist die Abgrenzung gegenüber dem Leistungssport sowie pathologischem Sporttreiben und Sportsucht. Die Thematisierung des Sporttreibens folgt mithin dem Modell der Balance – für sie ist es wichtig, weder zu viel Sport zu treiben, da hier die Gefahr von Abhängigkeit und Sucht besteht, noch zu wenig Sport zu treiben, da hier die Gefahr der Abwertung und Lächerlichkeit droht. Als Sportstudierende müssen sie jedoch Sport treiben,
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obwohl es ihnen, wie alle Interviewten beteuerten, Überwindung und Disziplin abverlangt, beispielsweise regelmäßig zu joggen. Indem Fitness-Apps beispielsweise das Laufen oder auch Fitnesspraktiken wie Sit-ups als ›Sport‹ verrechnen, helfen sie, diese ›problematischen Praktiken‹ zu entproblematisieren. So erstaunt es wenig, dass keiner der Befragten eine Fitness-App nutzt, um seine Fitness zu bestimmen oder zu verbessern. Zwar berichten einige davon, dass sie beispielsweise joggen oder Rad fahren, um fit zu bleiben, das ist jedoch für niemand ein Grund, eine Fitness-App zu nutzen.31 Fitness-Apps tragen mithin dazu bei, dass ihre Nutzer/-innen sich als ›richtige Sportler/-innen‹ und nicht nur als Hobby-Sportler/-innen positionieren können.32 Doch dazu muss der Sport ›gezähmt‹ und kompatibel mit den Vermessungsmöglichkeiten der Fitness-Apps gemacht werden. Und es müssen andere Modi der Beglaubigung wie das Körpergefühl zurückgedrängt werden. Nicht alle Befragten sind zu diesen Anpassungen bereit, sie positionieren sich als ›richtige‹ Sportler aufgrund ihres Körpergefühls, ihres »gesunden Sportcharakters« (Interview Lang), der sich im Setzen von sportlichen Zielen zeigt, oder weil Sport ihnen Spaß macht. Wer eine Fitness-App (nicht) nutzt, verhandelt dabei zugleich, in welchem Verhältnis er oder sie zum Sport steht. Das Nutzen von Fitness-Apps im Sport erweist sich so als eine Praktik, in der sich die Problematisierung des Sports und die Problematisierung des Selbst verbinden.
4.3 Sehen und gesehen werden – vom Umgang mit Daten und Bildern Für alle Interviewten ist es wichtig, dass sie etwas sehen – unabhängig davon, ob sie sich regelmäßig oder zielorientiert vermessen. Entgegen der Erwartung, dass gerade Daten aufgrund ihrer Objektivität nicht verhandelbar sind, sind sie in allen Interviews Gegenstand der Problematisierung. Alle bemerken die Ungenauigkeit 31 | Konrad Maier grenzt sich beispielsweise explizit gegenüber seiner Freundin ab, die die Fitness-App nutzt, um »fit zu sein, sich sportlich zu betätigen. Es macht ihr Spaß, immer noch mit dem Hintergrund, ich will auch schlank sein, so ein Fitnesshintergrund.« (Interview Maier) 32 | Der Befund, dass Self-Tracking im Sport vor allem ein Moment der Arbeit an der Identität als Sportler/in darstellt, findet sich in allen Studien, die Self-Tracking im Sport untersucht haben. So arbeiten Pharabod et al., heraus, dass die Benutzung der Geräte Teil der sportlichen Leidenschaft und der Identität als Sportler ist: »Leur usage fait partie du processus identitaire de construction de soi comme sportif.« (Pharabod et al. 2013: 112) Auch Lomberg und Frandsen haben ähnliches beobachtet: »Moreover, this communication serves to constitute the users’ sense of self in the context of exercise: profile information, data visualizations and feedback from the system and the connected peers contribute to confirming the users‹ exercise identity, competence and agency.« (Lomberg/Frandsen 2015: 1025)
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der Aufzeichnungen und damit die mangelnde Objektivität der Daten, die im Widerspruch zu ihren Erwartungen steht. Dementsprechend ist diese Beobachtung von Enttäuschung und Ärger begleitet. Die Studierenden finden jedoch Strategien, mit diesen Ungenauigkeiten umzugehen: Sie lassen Augenmaß walten, sie korrigieren die Daten, sie finden zusätzliche Beglaubigungsweisen, sie negieren die Bedeutung der Objektivität oder sie behaupten, die Daten dienten lediglich der Orientierung (vgl. Duttweiler 2016). Dienen die Daten lediglich der Bestätigung, irgendetwas zu tun, oder der groben Verhaltensorientierung, ist Objektivität für die Befragten jedoch nicht wirklich wichtig, und sie kann ganz irrelevant werden, wenn sich die Daten nicht mit dem Körpergefühl decken. Das lediglich bedingte Vertrauen und die Strategien, die mangelnde Objektivität auszugleichen, zeigen, wie situationsabhängig der Wunsch nach Objektivität ist und dass sich das Vertrauen in die ›Macht der Objektivität‹ gerade nicht von selbst ergibt. Ob man den Daten vertraut und welche Relevanz man ihnen beimisst, erweist sich als abhängig von der jeweiligen konkreten Situation, von Ziel und Zweck der Selbstvermessung sowie der persönlichen Disposition: »Vielleicht vertraut man solchen Sachen eher, wenn man gut in etwas ist, stell ich jetzt mal so in den Raum. Oder dann hört man es lieber. Ja, ich bin halt bei sowas immer überdurchschnittlich gut gewesen. Deshalb habe ich nicht hinter dem Berg gehalten. Wenn jemand nicht gut ist, denkt man: naja, das sind ja nur Zahlen.« (Interview Maier)
Während die Objektivität der Daten infrage gestellt und in actu ausgehandelt wird, ist die Interpretation der Daten für die Befragten so selbstverständlich, dass auch auf Nachfrage nichts über diesen Prozess gesagt werden kann. Diese auffallende Nichtthematisierung der Auswertung zeigt, dass bei den befragten Nutzer/-innen sowohl die Data Literacy im Hinblick auf sportspezifische Maße und Korrelationen als auch das intuitive Bildverstehen gängiger kultureller Codierungen und Bewertungssysteme so weit habitualisiert ist, dass es nicht möglich ist, diese zu verbalisieren. Frau Lang konstatiert pointiert: »Das steht alles dabei. Da braucht man jetzt nichts – also das ist jetzt nichts, wovon man richtig Ahnung haben muss. Also ganz simpel steht das da.« (Interview Lang) Trotz des Wissens um die fehlende Genauigkeit der Daten wirken die Visualisierungen überzeugend, denn »Sekunden, Entfernungen, das ist für mich Wissenschaft, das kann ich nachvollziehen. Dem kann ich vertrauen, deshalb bedeutet mir das auch was. Damit kann ich was anfangen« (Interview Maier). Anders dagegen beurteilt er die Kennzahlen von NikeFuel, sie sind für ihn weder seriös noch wissenschaftlich. »Das finde ich schon super strange. […] Damit kann ich nix anfangen.« (Interview Maier) Bilder tauchen in den Interviews explizit vor allem im Sinne von Vorbildern auf. So beschreibt Stefan Schmid, dass er sich zur exakten Kontrolle seines Fettabbaus und Muskelaufbaus nicht der Daten, sondern der Bilder bedient. »Es gibt im Internet so Bilder, da steht 5 %, 15 %, 20 % [Bauchfett] drauf, und bei jeder Prozentzahl ist ein Mann, der seinen Bauch zeigt. Und je nachdem, wie man dann ver-
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gleicht, bei 12 % oder 13 % sieht es so aus, bei 15 % so bei 20 % so und so kann man das am realistischsten einschätzen. So kann man auch seine Ziele besser setzen« (Interview Schmid). Auf meine Bemerkung, dass er ja dann nur Bäuche vergleicht, antwortet er: »Das ist wirklich auch das einfachste, was wirklich auch so zählt.« (Ebd.) Hier wird deutlich: Im Fitness-Lifestyle sind Daten sekundär, wenn der Körper zur »Visitenkarte« (ebd.) werden soll, ›zählt‹ die Orientierung an Bildern.33 Auch für Kai Jankowksi sind Bilder wichtig, jedoch weniger zur Selbstkontrolle seines Körper, sondern zur (Selbst-)Motivation. Er konsumiert intensiv FitnessBlogs, auf denen fitte Körper und gesunde Getränke und Gerichte zu sehen sind, und nimmt sie sich zum Vorbild: »Wenn die von tanned and toned 34 da Bilder von sich hochladen, dann präsentieren die für mich schon so einen guten Fitnesslevel – äh, wo ich mir dann sage, da kann ich – oder als Frau, als Frau ist es wohl eher, wenn da nur Frauen drauf sind – da will ich auch hin! Und wenn ich dann sehe: die essen des und des – ooah, dann mach ich mir das auch.« (Interview Jankowski)
Seine Begeisterung schwächt er zwar im darauffolgenden Satz ab, dies sei eine »Marketingstrategie« und »Geldmacherei«, doch kommt er wiederholt auf seinen eigenen Konsum von Fitness-Bildern zurück. Zu seinem eigenen Ärger helfen ihm die Bilder jedoch nicht, den Fitness-Lifestyle diszipliniert und konsequent zu verfolgen. »Da ist dann dieses: Ach! Da sind die Sachen, da denk ich: Ach bleib mir weg mit diesen ganzen Sachen, mit diesen Apps! Ich guck mir zwar dann die Bilder an und die gefallen mir auch und ich denke, das würde ich jetzt auch gerne essen, aber ich habe kein Bock dazu.« (Ebd.) Seine Hoffnung ist, wenn er selbst Bilder von seinem eigenen Trainingsverhalten und seinen Mahlzeiten hochlädt, führe das zu mehr Motivation. Inwieweit sie trägt, blieb im Interview unklar, deutlich wurde hingegen, dass er sehr stolz auf die große Zahl seiner Follower in verschiedenen sozialen Netzen ist.35 In keinem Interview spricht jedoch jemand davon, die Daten auszuwerten oder sie gezielt zur Steigerung des Trainingserfolgs zu nutzen. Entscheidend scheint für alle lediglich zu sein, dass ihre körperlichen Leistungen Auto-Resonanzen erzeugen und auf dem Bildschirm sichtbar werden. Exemplarisch wird dies bei Kerstin Lang deutlich, die ihre Daten nicht dauerhaft speichert: »Klar, 33 | Auffallend ist, wie ausschlaggebend für Stefan Schmid das Visuelle ist. Selbst das Lob, das er erhält, empfängt er mit dem Sehsinn. »Und jetzt so langsam kommen auch immer mehr Komplimente. Und das ist doch das, was man sehen will.« (Interview Schmid) 34 | www.tannedandtonedtraining.com 35 | Das Interview mit Kai Jankowski zeugt von seinem Ringen um dauerhafte Motivation zum Sport und gesunder Ernährung sowie um sein Idealgewicht. Trotz seiner Faszination für Vernetzung und Online-Feedback wird deutlich, dass ihm die Anerkennung seiner Familie für seine Kochkünste besonders wichtig ist.
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das hat man dann auch noch mal bildlich auf diesem Bildschirm halt gesehen. Und wenn man das dann so sieht, klar, da denkt man darüber nach: Ich habe jetzt die Strecke gelaufen, aber ich habe es auch irgendwie festgehalten.« (Interview Lang) Die Flüchtigkeit der Bewegung wird verfestigt und gewinnt so eine eigene Wirklichkeit – insbesondere, wenn sie über längere Zeit gespeichert wird. »Ich nehm’ das auf, ich habe was Handfestes. Und das macht für mich schon so den Spaßfaktor aus.« (Interview Maier) Für Martin Winter, der sich als Sportstudent verpflichtet fühlt, Sport zu machen, ist es zentral, dass sein Sport sowohl buchstäblich als auch metaphorisch ›registriert‹ und so ›einsehbar‹ wird. »Ich glaube der Vorteil ist auch, weil man kurz halt mal seine Statistik aufruft oder sie automatisch angezeigt bekommt, dadurch hat man immer präsent, was man macht.« (Interview Winter) Diese Präsenz ist ihm wichtig, nicht die Auswertung, wie er auf Nachfrage betont: »Ich wollte einfach mal nur, dass meine ganzen Trainingseinheiten aufgezeichnet werden. Alles auf einem Schirm.« (Interview Sommer) Den Interviewten fällt es schwer, die Wirkung der vergegenwärtigenden Veranschaulichung der eigenen Leistungen zu beschreiben. »Ich würde sagen – ästhetisch ist das falsche Wort – aber es ist wirklich schön, wenn man sich das gerade mal so anschaut.« (Interview Kurz) Martin Winter nimmt jedoch wahr, dass die Ästhetik der Kurve für ihn handlungsorientierend wirkt: »Man will sich ja auch nicht seine Statistik versauen mit einem Tag nach unten. Das ist dann ja auch nicht so schön. Die Statistik kommt automatisch. Nach dem Training wird die Statistik angezeigt, dann macht man halt was. Denn wenn ich da mal null stehen habe, das ist dann einfach doof. Es sieht halt so aus, als wäre man faul auch wenn man – sage ich jetzt mal – den Rest der Woche trainiert hat. Und – ja, weiß ich gar nicht –, man fühlt sich – ahhhh, ppphhh ja – wenn man es dann doch hochladen würde, dann sind es Sachen, die dann doch rausstechen würden, dass man da halt nicht trainiert hat.« (Interview Winter) 36
Auch wenn Bilder nicht allzu häufig explizit Thema in den Interviews werden, taucht die Bildwirkung implizit durchaus auf. So lässt die Tatsache, dass die meisten Befragten die erhobenen Werte nicht auswerten, dass die Daten lediglich eine Orientierung bieten oder dass ihr Erscheinen auf dem Bildschirm als wichtig und schön bezeichnet wurde, vermuten, dass die Darstellung der Daten als Bild wahrgenommen wird. Kerstin Lang beschreibt die Darstellungen ihrer Trainingszeiten explizit als Bilder: »Am Anfang, da haben wir schon so die Bildchen da, das Ergebnisbild – da haben wir dann manchmal so einen Screenshot gemacht, das habe ich 36 | Das Reaktion von Martin Winter, die er selbst nicht wirklich beschreiben und verstehen kann, lässt sich mit Jürgen Link als Denormalisierungsangst interpretieren: »Durch den regelmäßigen Blick auf diesen inneren Bildschirm, durch die Observation, aktualisieren und konkretisieren sich die fundamentalen normalistischen Affekte: der lustvolle thrill bei Dehnung und Überschreitung von Normalitätsgrenzen und die unlöslich damit verbundene Angst vor irreversibler Denormalisierung« (Link 1996: 25).
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dann mal meinem Freund geschickt: Guck mal hier.« (Interview Lang) Offenbar beschreibt für sie der Begriff des Bildes, der auf die spezifische Logik verweist, »etwas zu zeigen und sich zu zeigen« (Böhm 2008: 19), die Repräsentation ihrer körperlichen Leistungen präziser, als es der Begriff der Statistik vermag. Denn das Charakteristikum von Zahlen, exakt, objektiv, zerlegbar, verrechenbar und vergleichbar zu sein, spielt für die Nutzen der Fitness-Apps bei den meisten gerade keine Rolle – entscheidend ist, dass sie ihrer Leistungen auf dem Bildschirm unmittelbar gewahr werden. Die sichtbare Vergegenwärtigung der Leistungen und die Möglichkeit, sie ›festzuhalten‹, scheinen an sich attraktiv und bedeutsam für die eigene Praxis zu sein – auch wenn sie damit den sozialen Druck erhöhen. Denn Kraft erlangen die Kurven und Datenvisualisierungen insgesamt aufgrund der (erwarteten) affektiven Reaktion. Martin Winter fürchtet Beschämung, wenn Lücken in seiner Kurve sichtbar werden, Carsten Schönfeld fürchtet sich davor, dass »man sich reinsteigert«, wenn man solche Kurven sieht, und dass ihn schlechte Werte frustrieren würden, Konrad Maier ist stolz auf seine Leistungen und Kerstin Lang hat beobachtet, dass die Apps ihre Gefühle verstärken: »Das Gefühl wird stärker, dass ich jetzt in dem Moment stolz auf mich bin, wird stärker oder das Gefühl: Oh Gott, was ist denn da los? Dass ich frustriert bin. Das ist in beiden Richtungen: Die Gefühle werden verstärkt dadurch. Ja.« (Ebd.)
5. F a zit Die vorliegenden Ausführungen sollten ein differenziertes Bild von Fitness-Apps und ihren Nutzungsweisen zeichnen. Dabei geraten verschiedene Vorannahmen ins Wanken: Fitness-Apps sind, so habe ich argumentiert, deutlich mehr als Vermessungstechnologien. Das Charakteristikum dieser Medientechnologien ist die Kombination von Instruktion, Inspiration und visuellem Feedback der individuellen körperlichen Leistung, durch die sich Körper und Diskurse verbinden. Das visuelle Feedback erscheint dabei nicht lediglich als verobjektivierte Zahlen, sondern kombiniert Zahlenkörper und Körperbilder. Diese Feedback regt zu Selbstreflexion und Selbstveränderung im Hinblick auf Zahlen und Bilder an und evoziert so nicht zuletzt Handlungen, die sich in Zahlen und Bilder übersetzen lassen: So modifizieren zwei der Befragten ihre Bewegungsaktivitäten, damit sie als Sport ›zählbar‹ werden. Ein anderer dagegen wird durch die Beschäftigung mit Fitness-App und dem Fitness-Lifestyle dazu angeregt, seine Fitness-Praktiken und Fitness-Gerichte zu fotografieren und diese Bilder ins Netz zu stellen. Weiterhin zeigte sich, dass Abstraktion und Objektivität der Daten eine untergeordnete Rolle spielen. In Fitness-Apps wird die Abstraktheit von Zahlen meist durch bildhafte Elemente ergänzt und zum Teil ersetzt, die Abstraktheit von Zahlen wird zugunsten von Anschaulichkeit und unmittelbarer Evidenz zurückgedrängt. In den Interviews hat sich darüber hinaus gezeigt, dass die Interviewten die Objektivität von Daten einfordern, aber sie auch vehement in Zweifel ziehen.
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Erstaunlicherweise führt das bei den Befragten jedoch nicht dazu, die FitnessApps nicht zu nutzen, sondern Strategien zu entwickeln, mit dieser Ungenauigkeit umzugehen. Am häufigsten wird als Strategie verwendet, die Relevanz der Objektivität zu negieren und die Orientierungsfunktion hervorzuheben. Das gilt insbesondere für die Ästhetik der Kurve, die buchstäblich eine Verbindungslinie zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zieht und damit eine Entwicklungsdynamik anzeigt, die eine Bewegung und eine Richtung vorgibt. Auch die charakteristische Eigenschaft von Zahlen, abstrakte, zerlegbare Einheiten zu sein, die verrechenbar und interpretierbar sind, scheint sekundär. Dass etwas erscheint und dass etwas erscheint, wird von den Befragten als Gewinn gewertet. Es ist, so ihr Tenor, ›einfach schön‹, die eigenen Leistungen bildlich zu sehen. Erstaunlich war die Sprachlosigkeit, die sich auf die Nachfrage einstellte, warum Zahlen und Kurven ›schön‹ seien. Doch es ist zu vermuten, dass gerade diese Sprachlosigkeit bezeichnend ist. Weil Zeichen, Symbole und Bilder nicht in Sprache übersetzt werden müssen, sondern etwas zeigen, sind sie interessant. »Sag- und Sichtbarkeit begegnen und durchdringen sich in einer chiastischen Figur: Was gesagt werden kann, geht ebenso über das hinaus, was zu sehen ist, wie sich das Sichtbare seiner vollständigen Sagbarkeit sträubt. Dieser wechselseitige Überschuss bewirkt, dass letztlich nicht zu sagen ist, was ich sehe, und nicht gesehen und gezeigt werden kann, was ich sage.« (Heßdörfer 2014: 330)
Was ist der Überschuss des Sichtbaren, der sich hier ergibt? Greifen die bildlichen Zeichen die Nichtsprachlichkeit von Körper und Leib angemessener auf und verweist das Enigmatische der Zahl angemessener auf die Unbegrifflichkeit des Leibes, als die Sprache es vermag? Ist demzufolge weniger die Selbstreflexion, im Sinne einer Bewusstwerdung und des Erlangens neuen Wissens, sondern ein intuitives Sich-selbst-gewahr-Werden, der Spiegeleffekt nichtsprachlicher Identifikation und ein Verlangen nach Selbstvergewisserung und Selbstverdoppelung das Attraktive an den Zahlen und Bildern, die in Fitness-Apps erscheinen? Zahlen, Kurven und Bilder von Körpern in Fitness-Apps entfalten dabei eine doppelte Bewegung: Sie fixieren körperliche Prozesse, abstrahieren sie und figurieren sie als Bild – und negieren gerade damit das Prozessuale des Körpers und der sportlichen Bewegung.37 Zugleich aber dynamisieren die Bilder und Kurven Körper und ihre Bewegungen, indem sie – wie alle Bilder – Affekte auslösen, die zu Selbstveränderung und Selbsttransformation anregen. Fitness-Apps sowie die durch sie erscheinenden Zahlen und Bilder entfalten mithin ein hohes suggestives Potenzial. In den Interviews zeigt sich jedoch, dass 37 | Judith Butler führt diese Paradoxie im Hinblick auf den athletischen Körper aus: »And is it not paradoxical that athletics, that set of practices that pertain to the body in disciplined and ritualized motion, appears to be governed by an imaginary ideal that is motionless, sculpted, contoured, complete, suspended in time?« (Butler 1995)
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die Apps unterschiedlich genutzt werden. Es lassen sich die sporadische Nutzung aus Spaß, die Nutzung, um ein sportliches Ziel zu erreichen, sowie die Nutzung zur Unterstützung eines biografischen Projektes unterscheiden. Insbesondere die Selbstvermessung aus Spaß und die sportliche Zielerreichung sind in der Regel zugleich Medium der Beziehungsgestaltung. Soziale Unterstützung und Kontrolle gehen mit technischer Unterstützung und Kontrolle Hand in Hand. Werden Fitness-Apps aber genutzt, um die Arbeit am Körper als biografisches Projekt voranzutreiben, ist dies nicht zwingend der Fall. Für diese Befragten ist das Feedback, das auf den Geräten erscheint, seien es die Entwicklungskurven oder die verbrauchten Kalorien, eine wichtige, befriedigende und Emotionen auslösende Information. Die soziale Anerkennung dagegen erhoffen und erlangen sie nicht durch den Austausch von Daten und Bildern, sondern für die erfolgreiche Arbeit an ihrer Physis. Gerade bei diesen Befragten wird deutlich, dass mit der Arbeit am Körper eine weitreichende Veränderung des Selbst – ein ›neues Ich‹ – anvisiert wird. Sie ermöglicht es, sich als autonom, professionell und zukunftsorientiert zu positionieren, und sie verspricht soziale Anerkennung. Die Ergebnisse der explorativen Untersuchung deuten darauf hin, dass sich eine lebensbestimmende und verändernde Wirkung erst dann entfaltet, wenn sich Medientechnologien mit Selbsttechnologien im Sinne einer gezielten Selbstveränderung verbinden. Allen Befragten dienen Fitness-Apps jedoch zur Selbstpositionierung. Durch ihre Nutzung ebenso wie durch ihre Nichtnutzung loten die Befragten mit ihnen die Frage aus: Wer bin ich – im Hinblick auf meinen Sport und im Hinblick auf meinen Körperbezug? Auch wenn sich die Nutzungen in Intensität und Intention also deutlich unterscheiden, so liefern Fitness-Apps und die durch sie gewonnenen Zahlen und Bilder doch allen Material für Selbstthematisierung, das anderweitig nicht (so) verfügbar wäre.
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Sportstudios Zur institutionalisierten Verdatung und Analyse moderner Körper Jan-Hendrik Passoth & Josef Wehner
Spätestens mit der öffentlichen Debatte über die Daten- und Auswertungsaktivitäten staatlicher und privatwirtschaftlicher Einrichtungen infolge der Veröffentlichung von Geheimdokumenten auf Plattformen wie Wikileaks setzte auch eine sozial- und kulturwissenschaftliche Diskussion der Verdatungsthematik ein. In den letzten Jahren mehren sich deshalb die Studien, in denen die digitalen und internetbasierten Technologien als eine neue Phase in der Geschichte der Verdatung und Vermessung des sozialen Lebens behandelt werden (grundlegend Espeland/ Sauder 2007; vgl. dazu auch Passoth/Wehner 2013; Selke 2014a). Es geht jetzt nicht länger nur darum zu zeigen, wie die neuen Medien genutzt werden, um sich zu vernetzen, günstig einzukaufen oder Wahlkämpfe effizienter zu organisieren (vgl. z.B. Rogers 2014; Gerlitz/Helmond 2013; Beer/Burrows 2013). Ohne das prinzipiell zu bestreiten, wird in einer wachsenden Anzahl von Arbeiten darauf hingewiesen, dass es immer auch darum geht, all diese Aktivitäten datentechnisch zu erfassen und auszuwerten (vgl. zum Überblick Bermejo 2009; Peacock 2014; kritisch dazu Boyd/Crawford 2012). Indem immer mehr Bereiche des Konsums, der Information oder Unterhaltung durch digitale Technologien unterstützt werden, nehmen die Möglichkeiten der Verdatung und Analyse kontinuierlich zu. Dabei spielt es eine nachrangige Rolle, ob wir uns der mitlaufenden Beobachtung unseres Umgangs mit digitalen Technologien bewusst sind oder nicht bzw. mit ihr konform gehen oder nicht. Daten werden nicht erst dann erhoben, wenn wir Möglichkeiten der Bewertung und der Abstimmung nutzen oder ihnen zustimmen. Auch unterhalb der Schwelle bewusster Wahrnehmung sind bei jeder kleinsten und absichtslosesten Aktivität wie etwa dem Anklicken einer Seite Programme der Verdatung im Spiel (Turow 2012; Turow/McGuigan/Maris 2015). Ein besonderer Trend im Rahmen dieser Entwicklung betrifft die Verdatung alltäglicher Aktivitäten. Immer mehr Menschen erzeugen in den verschiedensten Alltagsbereichen immer mehr Daten über sich und ihr Tun. Smartphones, Webbrowser und sensorisches Zubehör protokollieren räumliche Bewegungen, erfassen unsere Informations-, Konsum- und Kommunikationsgewohnheiten im
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Netz, werten die entsprechenden Daten aus und erzeugen entsprechende Profile und Taxonomien. Aktuell hinzugekommen sind die Vermessungen von Körperfunktionen (Mämecke 2016). Ein wachsendes Angebot an »Wearables« – kleine elektronische Geräte, die direkt und konstant am Körper getragen werden – bedecken die Körper von Nutzern mit einem Netz von Sensoren und berechnen zurückgelegte Schritte, Strecken und Bewegungsmuster. Deren Daten werden auf internetbasierten Plattformen, aber nicht nur dort, gesammelt und ausgewertet. Immer mehr sogenannte Quantified Selfer, »lifelogger« oder »selftracker« nutzen solche Technologien, um sich an den eigenen, aber auch an den fremden Daten zu orientieren, sich selbst und andere zu bewerten und Maßnahmen der Verbesserung der eigenen Werte zu ergreifen (vgl. Selke 2014b). Diese gesteigerte Bereitschaft, persönliche gesundheitsbezogene Daten zu produzieren und mit anderen Nutzerinnen und Nutzern zu teilen bzw. zu vergleichen, bildet bereits für sich genommen einen relevanten sozialwissenschaftlichen Gegenstand (vgl. Zillien/Fröhlich/Dötsch 2014; Duttweiler 2016). Geräte aus Mikroprozessoren und Sensoren, die für andere sichtbar oder, einem neuen Trend folgend, unsichtbar in Kleidung verarbeitet, am jeweils eigenen Körper getragen werden, geben der an Gesundheit, Sorge, aber auch an Standardisierung und Normalisierung des Alltags interessierten soziologischen Forschung Fragen auf: Wie und warum unterwerfen sich Nutzer dem Diktat der Zahl? Welche Strategien der Verwendung und des Unterlaufens körperbezogener Messungen bilden sich dabei heraus? Wie verändert sich damit die Einschätzung und Bewertung der in Soft- und Hardware gegossenen fitness- und gesundheitsbezogenen Normalitätsmaße? Um solche Fragen zu beantworten, werden in der Literatur überwiegend einzelne Fälle bzw. Personen untersucht und verglichen, die die Selbstvermessung in Eigenregie betreiben. Im Vordergrund stehen der Einzelne und die durch das Netz bereitgestellten Möglichkeiten, eigene Daten mit denen Anderer zu vergleichen. Übersehen wird dabei, dass es immer mehr organisierte Dienstleister gibt, die das Thema der Körperverdatung entdeckt haben und dem Einzelnen in Fragen der Planung, Durchführung und Auswertung digitaler Körpervermessung assistieren. So sind unter anderem Sportstudios gegenwärtig dabei, in ihre Trainingsangebote und Betreuungsverhältnisse digitalisierte Beobachtungs- und Kontrollmethoden zu integrieren. Einem allgemeinen Trend folgend werden immer mehr Menschen Mitglieder in Fitnessstudios, um dort ihr ›Workout‹ zu betreiben und ihre Fitness zu verbessern. So waren in Deutschland 2015 ca. 9,5 Millionen Menschen in ca. 8000 Studios als Mitglied eingetragen. Sportstudios haben sich zu Orten des Breitensports entwickeln können.1 Sie sind längst nicht mehr nur Orte, an denen »der ›echte‹ und der ›unechte‹ Bodybuilder« (Honer 1985: 132) die »Bearbeitung von Rohmaterial« 1 | Vgl. dazu http://de.statista.com/statistik/daten/studie/5966/umfrage/mitgliederder-deutschen-fitnessclubs/(letzter Zugriff 5.5.2016). Hier finden sich viele weitere Zahlen, z.B. zur Repräsentation der Altergruppen, der Geschlechter, zur Häufigkeit und Regelmäßigkeit der Besuche usw.
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(ebd.: 138) vornehmen. Man trifft hier zwar nach wie vor Extremsportler/-innen und junge, gesunde, leistungsstarke Menschen, aber auch immer mehr ältere, zum Teil erkrankte und um körperliche Rehabilitation bemühte, leistungsschwächere Menschen. In solchen Umgebungen werden seit einigen Jahren auch digital gestützte Geräte für Trainings- und Fitnesszwecke angeboten, in die Verdatungs- und Auswertungsmöglichkeiten bereits fest eingebaut wurden.2 Wer unter solchen Bedingungen seinen Freizeit- oder Leistungssport treibt, akzeptiert, dass seine persönlichen Trainingsleistungen datentechnisch erfasst, gespeichert und ausgewertet werden. Die Ergebnisse können über eine entsprechende Webseite des Herstellers nicht nur vom Trainierenden selbst, sondern auch vom Studiopersonal sowie von dritter Seite (etwa vom Hersteller der Geräte) eingesehen und für weitere Zwecke genutzt werden. Körpervermessungen und ihre Auswertungen sowie Entscheidungen darüber, wie diese Auswertungen wieder in die Planung und Betreuung sportlicher Aktivitäten einfließen, werden hier – ganz offiziell – nicht länger dem Einzelnen überlassen und von seiner Motivation, seinem persönlichen Wissen und seinen Interessen abhängig gemacht, sondern in die Prozesse eines Sportbetriebs übersetzt. Es sind deshalb nicht länger nur die unorganisierten und über Online-Plattformen vernetzten Freizeitsportler/-innen und die Protagonistinnen und Protagonisten der Bewegung der Selbstvermessung, die Körper- und Fitnessdaten erheben und analysieren lassen, sondern immer mehr auch jene, die unter professioneller Aufsicht in Sportstudios ihr Training absolvieren. Unsere Vermutung ist, dass Sportstudios zukünftig eine wichtige Rolle übernehmen werden, die Selbstverdatung und damit verbundene Möglichkeiten der Selbst- und Fremdbeobachtung zu einem alltäglichen, im Hintergrund situierten und auf die Praxis und Leistung Dritter angewiesenen Bestandteil gegenwärtiger Gesundheitsinfrastrukturen zu machen.
1. F itness , S tudios und V erdatung Seit einiger Zeit lässt sich beobachten, wie im Bereich Gesundheit und Sport die Bereitschaft wächst, mit Hilfe internetbasierter Technologien eigene körperbezogene Daten zu produzieren und auszuwerten, um das persönliche Fitnessniveau festzustellen und zu verbessern (vgl. Grasse/Greiner 2013). Begriffe wie Quantified Self, »lifelogger« oder »selftracker« stehen für Nutzungsformen von digitalen Anwendungen, bei denen Körperfunktionen, persönliche Befindlichkeiten und 2 | Im Folgenden beschränken wir uns auf Sportstudios, die Geräte entweder des Herstellers E-Gym (https://www.egym.de) oder Milon (www.milon.com/index) anbieten. Studios, die mit einem dieser Hersteller zusammenarbeiten, bieten neben Einzelgeräten auch Kraftund Ausdauerzirkel an. Diese Zirkel bestehen aus mehreren, miteinander verbundenen computergestützten Geräten, mit denen unterschiedliche Muskelgruppen trainiert werden können. Wer will, kann mit Hilfe mobiler Applikationen die persönlichen Trainingsleistungen archivieren, auswerten und auch mit den Leistungen anderer vergleichen.
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Verhaltensgewohnheiten verdatet und ausgewertet werden können. Dabei spielen digitale Medientechnologien und mobile Applikationen eine zentrale Rolle: Angebote wie Nike+, Runtastic, B.iCycle oder die Apple-Watch zeichnen mehr oder weniger automatisch mit Hilfe von GPS-Trackern und Schrittzählern Läufe auf, mit Sensoren in Sportschuhen werden Sprungkraft und Schnelligkeit protokolliert und gespeichert, Smartphones bzw. Apps zeichnen Berganstiege und Tempofahrten auf und werden für das Zählen von Kalorien benutzt, intelligente Personenwagen und Abnehmportale helfen bei der Diät und sogenanntes Lifetracking dient der sekundengenauen Aufzeichnung von (Alltags)Aktivitäten (vgl. Crawford/Lingel/Karppi 2015). Mittlerweile ist die Vielfalt der Geräte kaum noch überschaubar; die Zahl ihrer möglicher Funktionen nimmt ständig zu. Gemessen werden neben Bewegungen und Kalorien auch Blutdruck, Körpertemperatur, Sauerstoffsättigung, Stoffwechselparameter und andere Vitalfunktionen. Fitnesstracker passen sich immer besser dem Alltag an, werden zu stylischen Accessoires, werden in bereits benutzte Kommunikationstechnologien wie Smartphones oder sogar in die Kleidung integriert. Die hierbei anfallenden verschiedenen Daten können kombiniert und zu Profilen verdichtet und auf entsprechenden Seiten für andere verfügbar gemacht werden. Verdatungsapplikationen und Plattformen werden deshalb auch nicht nur benutzt, um mit Hilfe angeblich objektiver Daten das eigene Training optimieren oder gar den gesamten Alltag gesundheitsorientierter gestalten zu können, sondern auch, um sich mit Gleichgesinnten vergleichen zu können, um daraus Hinweise auf persönliche Verbesserungsmöglichkeiten zu gewinnen. In der Literatur wird die Selbstvermessung in erster Linie (noch) als eine Angelegenheit Einzelner bzw. als eine Bewegung vieler, jedoch verstreuter, eher unorganisierter Teilnehmer/-innen gesehen, die sich, wenn überhaupt, über spezielle Online-Plattformen austauschen und vergleichen können, ansonsten aber eher für sich bleiben, ihre Daten primär für persönliche Zwecke nutzen wollen und diese gegenüber anderen eher zu schützen versuchen (Selke 2014b). Es fehlen also Studien, die sich mit der professionellen Einbettung der Körpervermessung und der möglicherweise daraus hervorgehenden Standardisierung körperbezogener Verdatungs- und Analysepraktiken näher befassen. Deshalb überrascht es nicht, wenn Selbstvermessung von manchen Beobachtern als eine unübersichtliche Szene, als eine noch im Stadium des persönlichen Experimentierens befindliche Nutzung neuer digitaler Aufzeichnungs- und Analysetools betrachtet und der Umgang mit den Daten als ungewöhnlich interpretationsoffen und kontextabhängig erfahren wird. Nicht alle Selftracker/-innen nehmen die Ergebnisse ihrer Messinstrumente wirklich ernst, spielen damit mehr, andere nutzen sie, um das Training, die Essgewohnheiten oder das alltägliche Bewegungsverhalten zu bewerten und evtl. zu korrigieren und zu verbessern; andere wiederum ignorieren viele der angebotenen Verdatungsmöglichkeiten, suchen sich die Daten heraus, die sie gerade brauchen können, oder nutzen sie nur unregelmäßig (vgl. Duttweiler 2016; Vormbusch/Kappler 2016). Dieser Blick auf die eigensinnigen, kreativen und zuweilen auch subversiven Nutzungsformen schließt die Logik der Praxis individueller und gruppenbezo-
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gener Selbstvermessung auf. Nun wissen wir aber, dass die alltägliche Arbeit am einzelnen Körper seit Entstehung der Sporthäuser und Studios wie auch der bürgerlichen Vorstellung von der Selbstermächtigung durch Ertüchtigung immer auch in standardisierten und normierten Orten des Trainings stattgefunden hat (vgl. Wedemeyer-Kolwe 2004). Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass auch das Self-Tracking mittlerweile immer mehr in Umgebungen stattfindet, in denen digitale Verdatungstechnologien und Prozesse der Datenauswertung und der Bewertung von professioneller Seite bereitgestellt und administriert werden. Vor allem Sportstudios haben damit begonnen, ihren Mitgliedern Trainingsgeräte (gegenwärtig vor allem Kraftmaschinen) und methoden anzubieten, die verschiedene, aufeinander abgestimmte Übungen mit Möglichkeiten der digitalen Verdatung und Datenauswertung kombinieren.3 Die Messgeräte liegen hier nicht mehr direkt am Körper an, sondern sind in die Trainingsmaschinen fest integriert. Kraft- und Ausdauergeräte enthalten Verdatungsmodule, die mit dem Internet verbunden sind und die während der Durchführung einer Trainingsübung gemessenen Leistungsdaten erfassen und zur Auswertung weitergeben. Abbildung 1: Ein exemplarischer Trainingszirkel, Promotionsmaterial eines Herstellers von Fitnessgeräten
Quelle: www.milon.com/videos
3 | Die folgenden Ausführungen sind als explorative Studie zu verstehen. Wir beziehen uns dabei auf bereits durchgeführte Studien zum Thema der Selbstverdatung, aber auch auf (Selbst)Darstellungen der Hersteller von Trainingsgeräten und Betreiber von Studios, ebenso interessierter Dritter (z.B. Versicherungen). Darüber hinaus haben wir erste teilnehmende Beobachtungen in einem Sportstudio (vor allem in Trainingssituationen) sowie leitfadengestützte Interviews mit Betreuungspersonal des Studios ausgewertet.
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Wer in solchen Umgebungen trainiert, muss sich nicht länger um die technischen und methodischen Voraussetzungen kümmern, die für die Vermessung von Körperfunktionen erforderlich sind. Dies übernehmen jetzt die Hersteller der Geräte und das Studiopersonal. Sie wissen, wie die Trainingsgeräte mit ihren Aufzeichnungs- und Auswertungsmöglichkeiten zu bedienen sind, sorgen für die Entwicklung von Trainingsplänen und betreuen deren Umsetzung, helfen bei der Auswertung der Daten und bieten an, die Ergebnisse in weitere, auf einem veränderten Leistungsniveau aufsetzende Trainingspläne zu übersetzen. Die Mitglieder müssen akzeptieren, dass ihre persönlichen Trainingsleistungen fortlaufend datentechnisch erfasst und ausgewertet werden und die Betreuenden Zugriff auf ihre Daten und damit auch die Möglichkeit haben, die Trainingsabläufe zu beobachten und zu bewerten. Von Anfang an wird so dem Einzelnen vermittelt, dass er allein nicht über das erforderliche Wissen verfügt, die für ihn geeigneten Einstellungen vorzunehmen, ebenso wenig die Erfahrungen mitbringt, sein Leistungsniveau bzw. die gemessenen Leistungsdaten ›richtig‹ einzuschätzen. Studios bieten in all diesen Fragen eine professionelle Unterstützung an. Dieses Angebot der Studios kommt nicht unerwartet. Das Verhältnis zu ihrer Klientel ist schon seit längerer Zeit datentechnisch geprägt. Viele Studios boten bereits in der Vergangenheit ihren Mitgliedern an, körperbezogene Werte wie Blutdruck, Puls, Körperfett, Körpergewicht zu messen, aber auch Daten zum Gangbild, Laufstil oder zu den Ernährungsgewohnheiten zu erheben und auszuwerten, um Hinweise auf den körperlichen Fitnesszustand und dessen Optimierungsmöglichkeiten zu gewinnen. Die Messung des Fettgehalts beispielsweise, die darauf abgestimmten Trainingspläne und Ernährungstipps mögen in ihrer Aussagekraft umstritten sein, sie wurden und werden jedoch in vielen Studios zu Beginn des Trainings und auch zwischendurch genutzt, um Aussagen über den Leistungsstand und die mögliche Leistungsentwicklung eines Mitglieds zu machen. Wer heute Mitglied eines Studios werden will, wird immer häufiger, vor allem wenn es sich um ältere, durch Verletzungen oder Erkrankungen gehandicapte Menschen handelt, zu Beginn gebeten, Fragenkataloge zur körperlichen Verfassung und zu den angestrebten Fitnesszielen auszufüllen. Die Idee des Self-Trackings trifft so gesehen in vielen Studioumgebungen auf eine bereits vorbereitete Umgebung im Sinne anschlussfähiger Trainings- und Betreuungsmodelle und konzepte sowie entsprechender Praktiken. Mit den digitalen körperbezogenen messtechnischen Objektivierungs- und Analysemöglichkeiten werden also die bereits vorhandenen Leistungsbeziehungen zwischen Personal und Klientel nicht völlig umgestellt, allerdings in relevanter Weise ausgebaut und intensiviert. Körperdaten und Messwerte für Dritte verfügbar zu machen, ist auch bei den am eigenen Körper getragenen, weitgehend in Eigenregie genutzten Selbstvermessungstechnologien zu beobachten, denn die entsprechenden Hinweise auf Verbesserungen oder Verschlechterungen im Leistungsniveau werden auf den Plattformen der Hersteller archiviert, verwaltet und z.T. auch mit anderen Trainierenden geteilt. Außerdem sind sie auch für andere Anbieter gesundheitsre-
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levanter Produkte und Dienstleistungen, für Versicherungen oder private und öffentliche Forschungseinrichtungen zu Public Health von Interesse. Bei den Sportstudios und den hier durch Trainer, Betreuer und andere beobachteten Trainingssituationen steht diese Orientierung an Dritten jedoch von Anfang an im Vordergrund. Die Hersteller der Geräte und das Studiopersonal unterscheiden Phasen und Abläufe des Trainings, entwickeln – in Absprache mit den Trainierenden – die Trainingspläne, geben wichtige Regeln für die Durchführung des Trainings vor und unterstützen bei der Auswertung der Messdaten und der weiteren Entwicklung der Trainingspläne. Wenn man so will, haben wir es hier mit einem Gegenmodell zur Selbstvermessung im Sinne einer persönlichen, sich gegen externe Beratungen und Expertenhilfe richtenden Selbstexpertisierung zu tun (vgl. dazu Zillien/Fröhlich/ Dötsch 2014), das sich durch die vielen Studio-Standorte und deren Vernetzung gegenwärtig flächendeckend auszubreiten beginnt. Dieses Modell erinnert deshalb auch in sehr anschaulicher Weise an Studien zur Subjektwerdung in der Moderne, in denen gezeigt wird, wie die Sorge um sich bzw. die eigene Gesundheit zwar zunehmend dem Einzelnen überantwortet wird, die entsprechenden Praktiken aber auf einer Reihe institutioneller, infrastruktureller und materieller Bedingungen beruhen, auf jenen »Assemblages and Regimes« (im Sinne von Dean 2010: 40ff.), die die Vereinzelung zu selbstsorgenden »Singularitäten« (Reckwitz 2016) erst denkbar und praktisch wirksam werden lassen. Am Beispiel dieser standardisierten und institutionalisierten klinischen Erfahrung, die aus dem Bett des Kranken den Ort systematischer und methodischer Untersuchung von Krankheit gemacht hat, hatte bereits Foucault auf das »konkrete Apriori« (1976: 13) hingewiesen, durch das »in der abendländischen Geschichte das konkrete Individuum in der Sprache der Rationalität erschlossen wurde« (ebd.: 12). Ganz in diesem Sinne finden auch viele andere prototypische Praktiken der modernen Selbstsorge wie die Beichte, die Therapie und die Vermeidung von Krankheit durch gesunde Ernährung und regelmäßige medizinische Kontrolle in institutionalisierten Umgebungen der systematischen Vereinzelung statt: Man denke nur an die Couch der Psychoanalyse und therapie, das Bett des Kranken oder das Labor, den Beichtstuhl und die Kathedrale. Vor diesem Hintergrund lassen sich Sportstudios als institutionalisierte Orte der Selbstsorge durch systematisches Training und normalisiertes Üben gesunder Körperbewegungen verstehen.
2. V erdatung und N ormalisierung Folgt man der bisherigen Argumentation, dann wirft die gesteigerte Nutzung von Messdaten unterschiedlichster Art und Güte zur professionell gestützten Selbstsorge im Umkehrschluss die Frage nach den Regeln und den Maßstäben auf, die die datenbasierte Studiopraxis prägen. Tatsächlich lassen sich in den Studios, die mit elektronischen Geräten arbeiten, für jede definierte Phase Regelungen
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beobachten. So fällt beispielsweise auf, dass in der Phase der Erstellung eines Trainingsplans an jedem Gerät eine maximale Kraftmessung des Trainierenden durchgeführt wird, um anschließend für jede Trainingseinheit des Zirkels – bei den beiden hier berücksichtigten Herstellern sind die Differenzen minimal – ca. 60-70 % des zuvor gemessenen maximalen Kraftaufwands für die Durchführung einer Übung als obere Leistungsgrenzen, 40-50 % als untere Leistungsgrenze einzugeben. Solche Vorgaben werden vom Gerätehersteller definiert, in die Programme der Maschinen eingegeben und vom Studiopersonal gewissermaßen administriert. Sie dienen als Orientierung auch dann, wenn der Einzelne infolge von Leistungsverbesserungen Veränderungen an den Geräteeinstellungen (betrifft vor allem die Erhöhung der Widerstände an den Geräten) vornimmt. Auch gilt die Regel, dass in einem Zeitfenster von 6-7 Wochen bei regelmäßiger Benutzung der Geräte eine Kraftsteigerung erreicht und die Geräteeinstellungen angepasst werden sollten. Auch hier entscheiden Trainer oder Trainierende nicht unabhängig von den Vorgaben, die in die Software der Geräte eingegeben wurden. Selbst Fragen danach, wie die Messdaten zu interpretieren sind und welche Schlüsse aus ihnen mit Blick auf das bisherige Training (Vergangenheit) und auf die zukünftige Trainingsplanung (Zukunft) zu ziehen sind, werden im Kreis des Betreuungspersonals nicht ohne Berücksichtigung von Vorgaben beantwortet, die zu den Gebrauchsanweisungen der Geräte gehören. Vor allem aber wird die Durchführung des Trainings einem vergleichsweise strengen Reglement unterworfen, und zwar vor allem dort, wo an mehreren, zu einem Zirkel zusammengeschlossenen, jeweils spezielle Muskelbereiche beanspruchenden Maschinen trainiert wird. Nachdem man sich hier mit seiner Chipkarte eingeloggt hat, stellt sich jede Maschine auf die persönlichen Körperverhältnisse der Trainierenden automatisch ein und beginnt mit ihren Aufzeichnungen. So legen die Geräte die jeweilige Trainingsdauer an einem Gerät (60 bzw. 30 Sekunden) fest, ebenso die Pausen (50 Sekunden) zwischen den Trainingseinheiten, die für Erholung und Wechsel zum nächsten Gerät verfügbar sind. Es herrschen also relativ strenge, den Einzelnen disziplinierende Regeln, die nun so manche Gewohnheiten, die im Studio nicht unüblich sind, als ein nichttolerierbares Verhalten erscheinen lassen. Übungssätze an Geräten zu reduzieren, Trainingsabläufe zu unterbrechen, eine längere, die definierte Erholungsphase überschreitende Pause einzulegen, ein kurzes Gespräch mit dem Trainingsnachbarn zu führen oder gar eine Übung auszulassen – solche für das Trainieren in Studios nicht unübliche Verhaltensweisen erscheinen im Geltungsbereich der elektronischen Geräte als Störungen der Trainingsabläufe. Werden etwa die vorgegebenen Zeiten nicht beachtet, beispielsweise längere Pausen gemacht, läuft das Trainingsprogramm einerseits weiter, registriert aber, dass Übungen entweder gar nicht oder nur unvollständig durchgeführt wurden. Solche Verstöße gegen den vorgegebenen Trainingsrhythmus werden festgehalten und tauchen in den Trainingsprotokollen auf. Sie würden die Übungen letztlich ungültig machen und das Erzeugen brauchbarer Daten verhindern. Sie würden außerdem, da es
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sich ja in der Regel um einen aus mehreren Geräten zusammengesetzten Zirkel handelt, an dem immer mehrere trainieren können, auch die Synchronisierung mehrerer, gleichzeitiger Trainingseinheiten beeinträchtigen. Da die Maschinen immer online sind, werden nicht wie bei konventionellen Trainingsmethoden nur zu Beginn der Trainingsaufnahme und dann erst wieder nach Wochen oder Monaten entsprechende Leistungsdaten erfasst und ausgewertet, stattdessen wird ständig gemessen. Berücksichtigt werden also nicht länger nur die Resultate des Trainings (verbesserter BMI, Blutdrucksenkung etc.), sondern auch die Durchführungen des Trainings. Der gesamte Trainingsverlauf wird nun zum Messobjekt. Dazu zählen sogar die Pausen zwischen den einzelnen Trainingseinheiten, ebenso die Zeiten zwischen den Studiobesuchen. Auch sie gewinnen Relevanz für die Auswertung der Daten und die Bewertung der Fitness. Denn jetzt kann gesehen werden, ob die Pausen eingehalten oder überschritten wurden, ob auch in regelmäßigen, vereinbarten Zeitabständen der Zirkel genutzt wurde oder eher gelegentlich und ob die vereinbarten zeitlichen Abstände zwischen den Studiobesuchen bzw. kompletten Trainingseinheiten beachtet wurden oder nicht. Die Summe der Auswertungen zeigt schließlich an, ob das zu Beginn vereinbarte Niveau gehalten, verbessert oder unterschritten wird und ob der vereinbarte Modus (Häufigkeit, korrekte Durchführung) auch tatsächlich eingehalten oder missachtet wurde. Während des Trainings können die Trainierenden auf einem mit dem Gerät verbundenen Display beobachten, ob sie sich in dem vorgegebenen Leistungskorridor bewegen oder nicht bzw. ob sie das zuvor mit dem Betreuer vereinbarte Leistungsniveau halten, unterschreiten oder überschreiten. Auf diesem Display ist zum einen eine Visualisierung des optimalen Verlaufs der Übung dargestellt, zum anderen ist ein Avatar zu sehen, der den Trainierenden anzeigen soll, wie die Übung an der Maschine korrekterweise durchgeführt wird. Die Differenz zwischen diesen beiden Anzeigen sollte gegen null gehalten werden, Unter- wie auch Überschreitungen des zu Beginn eingegebenen Niveaus müssen also möglichst vermieden werden. Die Trainierenden haben nicht nur die Kraft aufzubringen,, die für die Überwindung der eingestellten, elektronisch erzeugten Widerstände der Maschine erforderlich ist. Sie müssen sich gleichzeitig auf das Display konzentrieren, den Avatar in die gewünschte Richtung lenken und lernen, sich selbst vermittels dieses Avatars, das heißt eines kontinuierlichen visualisierten Feedbacks, dem Berechnungen zugrunde liegen, zu beobachten. Wer hier trainiert, spricht deshalb auch nicht mit anderen, richtet seine ganze Aufmerksamkeit auf die Bewegungen des Avatars, um seine Übungen möglichst korrekt auszuführen. Die kurzen Pausen zwischen den Übungen und die Fixierung des Blicks auf den Bildschirm, machen es so gut wie unmöglich, sich auf das übrige Geschehen im Studio einzulassen.
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Abbildung 2: Ansicht eines Displays während einer Trainingsübung
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=U_9HZw5PC_M
Diese Aufforderung erinnert an Computerspiele, wo Spieler lernen müssen, Interfaces so zu bedienen, dass bestimmte visuelle Effekte entstehen: von der regelmäßigen Bewegung eines Joysticks, mit dem in Spielen wie Summer Games in den 1980er Jahren ein pixeliger Läufer beim Sprint ins Ziel gebracht werden sollte, bis zu neueren Spielen wie Guitar Hero (vgl. Arsenault 2008) oder Dance, Dance Revolution (vgl. Demers 2006), bei denen Knöpfe auf Plastikgitarren oder Schalter in Bodenmatten so mit Fingern oder Füßen gedrückt werden, dass sie mit dem Rhythmus einer Visualisierung in Form eines Gitarrenhalslauf bandes oder mit den Bewegungen eines tanzenden Avatars in Einklang stehen. Hierbei werden Körperbewegungen eingeübt, die sich nicht eignen würden, um mit einem regulären Instrument Musik zu machen, die aber verlangen, sehr viel genauer als dort Rhythmus und Takt zu halten. Ein Auseinandertreten der tatsächlichen Bewegung und des mittels Avatar vorgegebenen korrekten, gesundheitsförderlichen Bewegungsablaufs muss im Studio selbstverständlich vermieden werden. Deshalb geht es beim Training mir verdatenden und vernetzten Studiogeräten vor allem darum, anhand der visuellen Repräsentation und der damit verbundenen Rückmeldungen körperliche Bewegungen und Kraftaufwendungen zu kontrollieren und bei Bedarf, wenn ein vorgegebenes Niveau unter- oder überschritten wurde, auch zu korrigieren. Das Ziel ist es, ein zuvor festgelegtes Trainingsniveau zu halten – um der Erwartung gerecht zu werden, ein vereinbartes Leistungsniveau in den ebenfalls vereinbarten zeitlichen Abständen zu steigern. Die Trainierenden werden fortlaufend berechnet und so zu einer statistischen Größe und »anonymen Nummer« (Link 1999: 168), dafür aber mit der Gewissheit belohnt, sich in einem Korridor
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der kontinuierlichen Leistungssteigerung zu bewegen.4 Kommt es dennoch zu Abweichungen im Sinne von Unter- oder Überschreitungen des vorgegebenen Trainings- bzw. Leistungspfades, die über das Display gemeldet werden, sind die Teilnehmenden aufgefordert, durch entsprechende Steigerungen oder Reduzierungen ihres Kraftaufwandes gegenzusteuern. All dies lässt sich als Versuch interpretieren, eine weitgehend irritations- bzw. störungsfreie, sich gegen Ablenkungen von außen abkapselnde, auf wenige überschaubare Trainingsparameter reduzierte Zone inmitten einer eher unorganisiert wirkenden Studioumgebung, in der Umfang und Dauer der Trainingsaktivitäten stärker individuell festgelegt werden, zu schaffen – was daran erinnert, dass Prozesse der Verdatung und Vermessung möglichst transparente, von äußeren Einflüssen frei zu haltende, beliebig wiederholbare Situationen verlangen (vgl. Heintz 2010). Erst solche einigermaßen stabilen Situationen des Messens versprechen aussagekräftige Daten, die zuvor durch entsprechende Konditionierungen geschaffen werden. Ob solche Zurechnungen strengen methodischen Kriterien genügen würden bzw. ob kausale Unterstellungen in den Augen kritischer Beobachter überzeugen können, ist hier von nachrangiger Bedeutung. Wie auch in anderen Fällen, etwa in der Publikumsvermessung, die seit Jahrzehnten in der Kritik steht und dennoch uneingeschränkte Relevanz für die Massenmedien hat (vgl. Napoli 2010; Bourdon/Méadel 2011), oder im Kreditrating (vgl. MacKenzie 2011), dem problematische Indikatoren nachgesagt werden und das sich dennoch als effektiv erweist, ist auch hier entscheidend, dass entsprechende Beobachtungsmöglichkeiten genutzt werden und sich als anschlussfähig erweisen. Im Fall des Trainings werden solche Anschlussfähigkeiten hergestellt, indem eine relativ kontrollierte Trainings- bzw. Messsituation es ermöglicht, Änderungen an den Parametern kausal mit Veränderungen im Leistungsvermögen zu verknüpfen und Verbesserungen wie auch Verschlechterungen in einen notwendigen Zusammenhang mit Einstellungen bzw. Veränderungen in den Trainingsbedingungen und damit verbundenen Vergleichsmöglichkeiten zu stellen. Die Beantwortung der Frage, ob das Training seinen Zweck erfüllt, die erhoffte Leistungssteigerung erreicht oder verfehlt wurde, kann sich auf diese Weise vom unmittelbaren Bezug zum Körper der Trainierenden und von umständlichen Befragungen derselben unabhängig machen und sich auf den Vergleich zwischen Ausgangseinstellungen und späteren Neujustierungen der Trainingsparameter konzentrieren.
4 | All dies wirkt wie eine Spielart des flexiblen Normalismus, wie ihn Link (1997) beschreibt – allerdings nicht nur im Sinne einer Orientierung am statistischen Normalmaß, sondern eher in dem Sinne, dass durch die kontinuierliche Anpassung der normierenden Vorgaben an den jeweils individuell erreichten Stand der Leistungs- und Bewegungsfertigkeit die Praxis eines flexiblen Normalismus selektiv und auf die jeweils Trainierenden angepasst parametrisiert wird.
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3. Tr ansfer von K örperdaten Mithilfe vergleichsweise strenger Ausführungsregeln, die das Training gegenüber externen Einflüssen möglichst weitgehend abschirmen sollen, will man Zusammenhänge zwischen Ursachen (z.B. anfänglichen Festlegungen und späteren Modifikationen im Trainingsplan) und Wirkungen (z.B. Verbesserungen im Leistungsniveau) möglichst exakt bestimmbar machen. Persönliche Leistungsentwicklungen sollen über die Zeit (möglichst) mit veränderten Trainingsplänen in Verbindung gebracht und so präzise nachvollziehbar und bewertbar gemacht werden können. Vor allem deshalb darf die Trainingssituation, die immer auch Messsituation ist, nicht zu komplex sein, nicht zu vielen unkalkulierbaren Irritationen und Einflüssen ausgesetzt sein. Bewertungen und Korrekturen der Trainingspläne und Geräteeinstellungen sollen auf ein professionelles Beobachtungsund Bewertungsniveau gebracht werden, um Leistungsverbesserungen mit den elektronisch unterstützten Trainingsmethoden auf möglichst nachvollziehbare und begründbare Weise in Verbindung bringen zu können. Die Schaffung transparenter, gleichbleibender, sich wiederholender Trainingssituationen ist dann in einem nächsten Schritt auch eine Voraussetzung dafür, Leistungen bzw. Leistungsentwicklungen verschiedener Teilnehmer vergleichen zu können. Vergleichbarkeit setzt ein gewisses Maß an Homogenisierung des zu Vergleichenden voraus (Heintz 2010), was in diesem Fall bedeutet, dass zuvor definierte Kraftübungen unter nahezu identischen Bedingungen durchgeführt, verdatet und ausgewertet werden sollen. Auf diese Weise kann dem Einzelnen eine Position beispielsweise im Feld seiner Alters- oder einer Leistungsgruppe gespiegelt werden, können entsprechende Vergleichsmöglichkeiten, Möglichkeiten der Selbstverortung und Fremdbeobachtung gewonnen werden – und zwar ohne dass es dazu all der persönlichen Bereitschaften, Aktivitäten, Kompetenzen etc. bedarf, von denen angenommen wird, dass sie die Selbstverdatung vorantreiben. Indem Erhebung, Verwaltung und Auswertung der Daten in die Hände von professionellen Einrichtungen übergeben werden, werden die Einzelnen ein Stück weit von der Eigenverantwortlichkeit und Selbstzuständigkeit entlastet, die in der gegenwärtigen Debatte der Selbstverdatung immer wieder betont wird. Darüber hinaus bilden die Angleichung der Trainingsbedingungen und der Verdatungs- und Analyseverfahren und die Anwendung dieser Verfahren in einer vor unkontrollierbaren Einflussfaktoren relativ geschützten Trainings- bzw. Messsituation eine wichtige Voraussetzungen für den Transfer von Daten. Sie schaffen damit auch Möglichkeiten des Vergleichs von Ergebnissen innerhalb und außerhalb der Studios sowie für den Austausch von Erfahrungen wie auch über Möglichkeiten der Verbesserung der Trainingsangebote. Vor allem Studioketten gewinnen auf diese Weise eine Art Plattform, auf der sie zum einen Daten zu den Teilnehmern speichern und austauschen können, die sie aber auch dazu nutzen können, Erfahrungen in Fragen der Betreuung, Zuverlässigkeit und Auslastung der Geräte und vieles mehr zu diskutieren. Dieser Trend wird durch Veränderungen in
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den Geschäftsmodellen und betrieblichen Strukturen der Studios unterstützt (vgl. dazu Pfadenhauer/Grenz 2011). Vor allem große Anbieter, die häufig in fast jeder größeren Stadt eine Filiale haben, gewinnen durch Angleichungen in Fragen der Geräteausstattung, der Trainingsmethoden und des Umgangs mit den Trainingsdaten zusätzliche Möglichkeiten, Wissen und Erfahrungen untereinander auszutauschen. Aber auch andere Einrichtungen im Gesundheitssystem wie etwa Krankenversicherungen finden Interesse an dem Thema Selbstvermessung und an Sportstudios, die entsprechende Geräte anbieten (Engel 2015). Mittlerweile signalisieren Versicherungen, die Mitgliedschaft ihrer Versicherten in einem Studio und die Bereitschaft, mithilfe von Messdaten Auskunft über ihren Trainingseifer zu geben, durch Prämien belohnen zu wollen. Manche versprechen ihrer Klientel sogar günstigere tarifliche Einstufungen, sollten sie bereit sein, regelmäßig körperbezogene Daten zu erheben bzw. erheben zu lassen und dies zu dokumentieren. Auch hierbei sind Veränderungen in den Geschäftsmodellen im Spiel. So hat in den letzten Jahrzehnten eine wachsende Zunahme des – insbesondere statistischen – Wissens über Gesellschaft und Individuum dazu geführt, dass im Versicherungswesen von der Annahme einer homogenen Risikogemeinschaft immer mehr abgewichen wird (vgl. Rosanvallon 2013). Gerade durch die institutionalisierte Erhebung von Daten über individuelle bzw. kollektive Gewohnheiten von Individuen bzw. Gruppen und Faktoren, die die Anfälligkeit für Erkrankungen, Unfälle, Arbeitslosigkeit etc. betreffen, hat sich ein Wissen über ungleich verteilte Chancen und Risiken mit dem Ergebnis etabliert, dass nach und nach homogene Risikoklassen in stärker kollektivbezogene Unterklassen differenziert werden. Vor diesem Hintergrund wird verständlicher, warum vor allem Krankenversicherungen mit der Frage beschäftigt sind, wie sie die Bereitschaft ihrer Versicherten, ihre Fitnessdaten verfügbar zu machen, fördern und nutzen könnten. Selbst Unternehmen beginnen sich für die strukturierten Daten, wie sie in den digitalisierter Trainingsumgebungen zuhauf erhoben und ausgewertet werden, zu interessieren.5 Erste Untersuchungen zeigen jedenfalls, dass Unternehmen nicht nur ein starkes Interesse daran haben, den Krankenstand ihrer Mitarbeiter/-innen möglichst gering zu halten, sondern auch für fitnessorientierte Präventionskonzepte empfänglich sind (vgl. Mämecke 2016). Auch hier dürfte sich aus Sicht der beteiligten Unternehmen als Vorzug erweisen, wenn entsprechende Fitnessangebote differenzierte und differenzierende Kontroll- und Optimierungsmöglichkeiten versprechen, zumal, wenn sie diese Angebote selbst finanzieren sollen. Unternehmen sind seit Längerem mit dem Problem befasst, nicht formalisierbare bzw. in Stellenprofile nicht übersetzbare Vermögen und Bereitschaften ihrer 5 | So etwa im bereits vor einigen Jahren publik gewordenen Fall der Supermarktkette Tesco, die ihren Angestellten Fitnessarmbänder verordnete. Vgl. dazu www.independent. co.uk/news/business/news/tesco-accused-of-using-electronic-armbands-to-monitorits-staff-8493952.html (letzter Zugriff 18.6.2016).
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Mitarbeiter auf eine nachvollziehbare Weise erfassen, fördern und bewerten zu können. Angebote wie etwa die von Entelo oder OrgStars6 zeigen, dass es dabei nicht mehr nur um die Personalauswahl, sondern inzwischen längst darum geht, datengetrieben Feedback zu Mitarbeiterperformance und -zufriedenheit zu geben und anhand sonst nicht unternehmensrelevanter Daten (Social-Media-Daten, Informationen über Freizeitaktivitäten etc.) herauszufinden, ob bei den Mitarbeitenden beispielsweise Wechsel- und Kündigungsgründe vorliegen könnten. Zunehmend zählt zu solchen Faktoren auch eine gesundheitsbewusste Lebensführung (Ernährung, Fitness etc.). Im Bereich der Wearables ist das bereits dokumentiert (vgl. Moore/Robinson 2015) und es ist nur eine Frage der Zeit, bis Unternehmen für das Training an Maschinen mit digitalen Vermessungsmöglichkeiten und entsprechenden Lifeloggingdaten ansprechbar werden, die exaktes Wissen über die Fitness versprechen und die Möglichkeit in Aussicht stellen, dass geprüft werden kann, ob sich das Investment in die Fitness der Mitarbeiter/-innen rechnet. Das bedeutet allerdings noch nicht, dass Daten überall dort, wo sie massenhaft anfallen, auch in großem Maßstab zusammengeführt werden und werden können. Wie sich am Fall der Kontroverse um die Verfügbarmachung digitaler Daten für Krankenhäuser, Versicherungen, Pharmaunternehmen und Organe staatlicher Regulierung oder gar den direkten Austausch solcher Daten zwischen diesen Einrichtungen zeigt, befindet sich die Umsetzung in Standards und Formate noch im Experimentierstadium, das auch wegen wechselnder Allianzen und des Hinzutretens und Herausfallens von Beteiligten vermutlich noch Jahre dauern wird (vgl. dazu Pollozek 2015). Dennoch zeichnet sich bereits jetzt schon ab, dass Fitnessstudios bzw. studioähnliche Umgebungen sich durch ihre Digitalisierung immer mehr in eine Art Drehscheibe für fitness- bzw. gesundheitsbezogene Daten verwandeln. Sie könnten zukünftig zu einer wichtigen, auf Daten und Datentransfer beruhenden Infrastruktur der modernen Gesellschaft werden und die sich immer deutlicher abzeichnende Durchlässigkeit der Grenzen zwischen gesellschaftlichen Institutionen und Bereichen fördern (vgl. Lindemann 2015; Rowland/Passoth 2014).
4. F a zit Ohne Zweifel befinden sich die skizzierten Entwicklungen noch in den Anfängen. Viele Möglichkeiten der Verdatung und Analyse, insbesondere des Datentransfers, werden nicht bzw. dürfen (noch) nicht genutzt werden, weil vor allem datenschutzrechtliche oder normativ-moralische Gründe dies verhindern (vgl. Passoth 2010). Dennoch zeigt sich bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt, wie die digitale Selbstvermessung nicht länger ausschließlich in den Händen von einzelnen Personen mit hoher Medienaffinität, einem gesteigerten Körperbewusstsein und außerordentlicher körperlicher Leistungsbereitschaft, sondern zunehmend unter die Re6 | https://www.entelo.com und https://www.hiqlabs.com (letzter Zugriff 21.6.2016).
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gie von Einrichtungen des Gesundheitsbereichs wie den Sportstudios gerät. Diese halten für die ›gewöhnlichen‹ Freizeitsportler eine Infrastruktur bereit, in der diese, befreit von den Zumutungen, eigene Medienkompetenzen entwickeln zu müssen, auf eine weitgehend geregelte Weise an Trainingsgeräten und methoden herangeführt werden, die auf Möglichkeiten der Verdatung und Analyse beruhen. Die Öffnung für alle Alters- und Leistungsgruppen, die Verbindung verschiedener gesundheitsbezogener Expertisen, die bereits vorhandenen Erfahrungen im Umgang mit Vermessungsmöglichkeiten, der Austausch und die Angleichungen zwischen Studios in Fragen des weiteren Umgangs mit neuen elektronischen Gerätegenerationen, aber auch die sich jetzt schon andeutenden Möglichkeiten des Datentransfers und der Kooperation mit anderen Einrichtungen des Gesundheitssystems – all dies qualifiziert Sportstudios in besonderer Weise dazu, den Trend der Körperverdatung zu verstärken, diesen nicht nur aus der Nische der vergleichsweise voraussetzungsvollen Bewegung der Selbstvermesser herauszuführen und für eine Massenbewegung zu öffnen, sondern auch in Richtung einer Regelung und Angleichung zu lenken. Sportstudios könnten also, vorausgesetzt sie entwickeln sich weiterhin in die hier skizzierte Richtung, zusammen mit anderen Einrichtungen eine wichtige Rolle im Prozess der Institutionalisierung der Körperverdatung und der Analyse körper- und gewohnheitsbezogener Daten übernehmen. Sie zeigen dabei auch prototypisch an, welche Form Institutionalisierung soziotechnisch annehmen kann: Sie zeigt sich nicht nur in der Ausbildung erwartbarer und erwartungsstabiler Regelungen und Regelmäßigkeiten von Praxis, sondern in der Einrichtung, Wartung und datentechnischen Verknüpfung von Räumen, die eine Praxis auf Dauer stellen.
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Das Selbst der Selbstvermessung Fiktion oder Kalkül? Eine pragmatistische Betrachtung Jörg Strübing, Beate Kasper & Lisa Staiger
1. W orum es geht Self-Tracking. Selbstvermessung. Quantified Self. Selbstoptimierung. Die Begriffe kommen wie selbstverständlich über die Lippen und gehören zum Standardvokabular jener Diskurse um Fitness, Leistung, Erfolg, Wellness, die sich in den letzten Jahren zum vorherrschenden Akkord publizistischer Gesellschaftsdiagnosen gemausert haben. Auffällig ist daran die dominante Positionierung des Selbst. In den letzten Jahrzehnten können wir insgesamt ein dramatisches Anwachsen der Ansprüche beobachten, die die Gesellschaft an das Subjekt formuliert. Soziologisch fand diese Entwicklung ihren Niederschlag schon früh in der Individualisierungsthese von Beck (1983), später in der von Voss und Pongratz geprägten Figur des »Arbeitskraftunternehmers« (Voß/Pongratz 1998) und zuletzt im Konzept des »Unternehmerischen Selbst«, mit dem Bröckling (2013), an Foucault anknüpfend, auf eine neue Form der Gouvernementalität in der Postmoderne aufmerksam macht. Die Anforderungen an die Selbststeuerung und Selbstoptimierung der Subjekte sind so dramatisch gewachsen, dass der französische Soziologe Ehrenberg schon 1998 vom »erschöpften Selbst« schreibt und mit dieser Leitmetapher die als Kehrseite der Dynamik westlicher Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften zu beobachtende systematische und institutionalisierte Überforderung der Subjekte rahmt (Ehrenberg 2004 [1998]). In der soziologischen Theoriediskussion können wir zugleich ältere und neuere Tendenzen erkennen, die sich kritisch von einer Verselbstverständlichung der analytischen Zentralität des Subjekts für die Gesellschaftsanalyse verabschieden. Der Pragmatismus und die diversen als ›Praxistheorien‹ gerahmten Ansätze bieten unterschiedlich explizite, in ihrer Stoßrichtung aber einheitliche Vorschläge zu einer Dezentrierung der Subjekte (Strübing, erscheint 2017). Ob im auf den Handlungsstrom fokussierenden Interaktionsmodell Meads und der Habit-Konzeption bei Dewey oder in der praxeologischen Figur der ›Praktiken‹: Immer geht es auch darum, das in anderen Perspektiven (etwa der der analytischen Hand-
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lungstheorie) als gegeben vorausgesetzte Subjekt zu dekonstruieren und stattdessen die Prozesse seiner fortwährenden Herstellung im Sinne von Subjektivierungsweisen in den Blick zu nehmen. In einer solchen analytischen Einstellung macht die Selbstverständlichkeit, mit der im alltagstechnologischen Zusammenhang der ›Selbst‹vermessung das Selbst zum zentralen Agens stilisiert wird, neugierig und ein wenig misstrauisch: Warum muss ich mich selbst vermessen, wenn ich mir meiner selbst gewiss bin? Drückt sich hier eine Ungewissheit über das eigene Sosein aus? Oder feiert mitten in der Postmoderne das bürgerliche Subjekt fröhliche Urständ? Welchen Beitrag leisten die Praktiken der Selbstvermessung für die Herstellung eines bestimmten Typs von Subjektivität, und wer ist an diesen Praktiken alles beteiligt? Wie reden Praktikerinnen der Selbstvermessung über ihr Tun und wie unterscheidet sich diese Rhetorik von der der öffentlichen Diskurse über Fitness, Gesundheit(-svorsorge), Selbstoptimierung etc., aber auch von den beobachtbaren praktischen Vermessungsprozessen? Lässt sich Selbstvermessung als Dispositiv einer hegemonialen Subjektivierungsform begreifen und wie wäre diese beschaffen? Zu einigen dieser Fragen wollen wir in diesem Text erste tentative Antworten entwickeln. Die These, die wir dabei vertreten, lautet, dass »Selbstvermessung« als eine diskursive Figur gerade vor dem Hintergrund des vom Selbstsorgediskurs verstärkten Individualisierungsschubs dazu beiträgt, die Fraglosigkeit dieser Perspektive zu befördern und die in den Vermessungspraktiken liegende reale Entfremdung der Vermessenden von ihrem eigenen Körper, aber auch die faktische Eingebundenheit in den gesellschaftlichen Produktionszusammenhang von Big Data verschleiert. Statt sich selbst zu vermessen, wie es die Redeweise nahelegt, partizipieren immer mehr Freizeitsportler und Gesundheitsbewusste an Praktiken, in denen in einer komplexen soziotechnischen Konstellation selektive und zugleich normative Datenmodelle körperlicher Aktivitäten erzeugt werden. Träger dieser Praktiken sind nicht Personen allein, sondern ebenso Sensoren, Smartphones, Apps, Informationsinfrastrukturen, Diskurse und die in ihnen repräsentierten Kulturen des Klassifizierens und Vergleichens. Für die folgenden Überlegungen stützen wir uns unter anderem auf eine qualitativ-empirische Studie zu Praktiken und Diskursen der Selbstvermessung, die eine Gruppe von Studierenden unter Leitung eines der Autoren am Institut für Soziologie der Universität Tübingen zwischen April 2013 und September 2014 im Stil der Grounded Theory (Strauss 1991[1987], Strübing 2014[2004]) und der Situationsanalyse (Clarke 2012 [2004]) durchgeführt hat (Staiger et al. 2015), sowie auf erste Ergebnisse eines Anschlussprojektes zum Teilen von Daten in der digitalen Selbstvermessung.1 Es handelt sich also in großen Teilen um »work in progress«, 1 | Im Projekt »Praktiken und Diskurse der Selbstvermessung« (April 2013 bis September 2014) wurden u.a. über 30 Informant/-innen zu ihren Selbstvermessungsaktivitäten befragt und teilweise bei diesen Aktivitäten beobachtet. Zugleich haben wir in autoethno-
Das Selbst der Selbstvermessung
was den hier präsentierten konzeptionellen Ideen und Schlüssen eine gewisse Vorläufigkeit verleiht, aber auch zum Weiterdenken und -forschen einlädt. Dem Durchgang durch unsere empirischen Befunde vorangestellt, skizzieren wir im anschließenden ersten Abschnitt einige zentrale Aspekte unserer im Pragmatismus und in praxeologischen Argumenten fundierten Theorieperspektive. Unsere Bestandsaufnahme der Subjektivierungsweisen des Selbstvermessens beginnt im zweiten Abschnitt mit einem Blick auf das veränderte Verhältnis des Selbst zu seinem Körper, bevor wir im dritten Abschnitt den Betrachtungswinkel erweitern und die Aufmerksamkeit auf das Ensemble der an Selbstvermessungspraktiken beteiligten Entitäten und den Beitrag richten, den sie zur Etablierung dieser Praktiken und der damit signifizierten Subjektivierungsweisen leisten. Im vierten Abschnitt schließlich befassen wir uns mit den Implikationen der Kommodifizierung des Körperwissens, mit der Bedeutung jener Umstellungen in den Wissensrelationen also, die sich ergeben, wenn die Digitalisierung der eigenen Körperwahrnehmung Daten als Ware produziert. Der Schlussabschnitt versucht eine Zusammenführung der unterschiedlichen Argumentationsstränge und bietet einen Ausblick auf relevante Anschlussfragen.
2. V om S ubjek t zum Partizipanten : die D ezentrierungsthese und ihre sozialtheore tische B edeutung Unsere Forschungsperspektive ist geprägt von der im Pragmatismus wie auch in vielen Praxistheorien angelegten Infragestellung der Rolle des Subjekts als singulärem ›Autor‹ seines Handelns sowie von einer Fokussierung auf die Beobachtung der vielfältigen, historisch wandelbaren Subjektivierungsweisen. Dabei betrachten wir menschliche Handelnde als einen von mehreren Typen von Partizipanten an jenen Praktiken, in denen unter anderem Subjekthaftigkeit fortlaufend reproduziert und modifiziert wird. Andere Typen von Partizipanten sind Artefakte, Orte und Körper. Die durch das Mitwirken dieser heterogenen Partizipanten etablierten und perpetuierten Praktiken repräsentieren Konstellationen verteilten, in Artefakte, Orte und Körper inskribierten Wissens sowie in ihrer Tygraphischen Zugängen verfügbare Sensoren und Selbstvermessungs-Apps erprobt und – in noch unsystematischer Weise – die im Feld relevanten Diskurse zu bestimmen versucht. Im aktuelleren, von Oktober 2014 bis März 2016 gelaufenen Projekt untersuchte eine zweite studentische Forschungsgruppe, auf den Ergebnissen der ersten Studie aufbauend, spezifischer Praktiken und Diskurse des Datenteilens im Kontext digitaler Selbstvermessung. Dazu wurden Diskursanalysen einschlägiger (gedruckter und digitaler) Medien durchgeführt, Artefaktanalysen unternommen und weitere Interviews zur Frage des Teilens oder Weitergebens von Messdaten zu eigenen körperlichen oder mentalen Zuständen geführt (Leger/Panzitta/Tiede 2016).
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pisiertheit einen situationsübergreifenden Sozialzusammenhang. Wissen ist in dieser Perspektive also »nicht ›praxisenthoben‹ als Bestandteil und Eigenschaft von Personen, sondern immer nur in Zuordnung zu einer Praktik zu verstehen« (Reckwitz 2003: 292; Herv. im Orig.). Die repräsentierten Wissensordnungen sind zugleich Elemente von Diskursen, die die Praktiken entscheidend prägen, in ihnen aber zugleich aktualisiert und modifiziert werden, indem »Sinnzusammenhänge, die in allen Praktiken zwangsläufig enthalten sind und ihnen, ohne daß sie repräsentiert oder thematisiert werden müßten, ihre Form geben, […] in Diskursen zum expliziten Thema [werden] (ohne daß je alle Sinnzusammenhänge oder die Komplexität kulturell relevanter Unterscheidungen dargestellt werden könnten)« (Reckwitz 2008: 205).
Von dieser analytischen Perspektive aus, in der das Subjekt bewusst dezentriert und zugleich die Handlungsbeteiligung nichtmenschlicher Entitäten analytisch in Betracht gezogen wird, verändert sich der Beobachtungsstandpunkt der Forschenden und es fallen Zusammenhänge ›ins Auge‹, die aus einer subjektzentrierten Sicht verborgen blieben. Wo sonst technische Artefakte als von Akteurinnen gewählte und gezielt ›benutzte Dinge‹ erscheinen, wird nun das wechselseitige Zutun der unterschiedlichen Entitäten zu den Selbstvermessungsaktivitäten sichtbar. Damit offenbart sich zugleich die Widersprüchlichkeit, mit der Selbstvermessende über die Praktiken reflektieren, an denen sie teilhaben, und die auch das Muster jener öffentlichen Diskurse bildet, in denen Praktiken digitaler Vermessung eigener Körper- und Ortsdaten eine zentrale Rolle spielen (also Diskurse um Gesundheit, Fitness, Selbstsorge etc.). Schärfer konturiert wird in dieser Perspektive auch die stattfindende Verschiebung des Bezugs auf den eigenen Körper, der vom Teil des Selbst zu einem Datenlieferanten und Optimierungsgegenstand zu werden scheint. Der Blick darauf, wie das in der ›Selbst‹vermessung prominent gemachte Selbst nicht Handlungsvoraussetzung, sondern selbst eine in ihrer spezifischen Ausprägung fortlaufend erst herzustellende Instanz ist, macht zugleich sichtbar, dass die Herstellung von Subjekthaftigkeit, die »Subjektivierungsweisen«, ein historisch und kulturell wandelbarer, immer wieder unterschiedlich verlaufender Prozess ist: »[E]in einzelnes Subjekt ›ist‹ (im Wesentlichen) – auch in seinen ›inneren‹ Vorgängen des Reflektierens, des Empfindens, Erinnerns, Planens etc. – die Sequenz von Akten, in denen es in seiner Alltags- und Lebenszeit an sozialen Praktiken partizipiert.« (Reckwitz 2003: 296) Insofern lohnt der Blick auf Selbstvermessung auch deshalb, weil anzunehmen ist, dass in diesen Praktiken eine spezifische Subjektivierungsweise ihren besonders prägnanten Ausdruck findet.
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3. The B ig D ivide : Ü ber die B egegnung von S ubjek t und eigenem K örper als G egenüber im V ermessungsprozess In den Prozeduren, die als Selbstvermessung gefasst werden, tritt – so suggerieren es sowohl die Redeweisen der Befragten als auch die in den Medien bemühte Rhetorik – offenbar ein als zentraler Akteur aufgefasstes Subjekt einem Objekt der Vermessung gegenüber, dem eigenen Körper, dessen Vitalfunktionen und Leistungsdimensionen es – unter instrumenteller Nutzung weiterer Objekte – zu erfassen gilt. Mit digitalisierten Messwerten zu Pulsschlag, Blutdruck, zurückgelegten Entfernungen im Raum, zugeführten wie verbrannten Kalorien, Schlafrhythmus, aber auch mentalen Zuständen wird der Körper als ein vom messenden Subjekt unabhängiges Objekt konstruiert, das Selbstvermessenden wie eine eigensinnige Entität, mit Latour gesprochen: wie ein Aktant, entgegentritt. So objektiviert etwa Lena Wieland ihr Herz, indem sie dessen Belastbarkeit beim Hochschulsport mit der beim Joggen vergleicht: »(A)lso ich empfinde beides als […] anstrengend, auch gleich anstrengend, aber mein Herz sagt mir was ganz anderes (lacht). [...] (V)ielleicht liegt das meinem Körper besser, dass ich ähm so Übungen mach, statt zu laufen (spricht leise) ich weiß es nicht.« (LenaW Z2930; 40-41) Diese Vorstellung beruht neben der konstitutiv menschlichen Fähigkeit, sich selbst zum Objekt zu machen und den eigenen Körper instrumentell zu betrachten (Mead 1983 [1934], 180 et passim, Mead 1987 [1927]), ersichtlich auf der cartesianisch geprägten Perspektive des Rationalismus mit seinen dichotom organisierten Ontologien von Leib und Seele bzw. Körper und Geist, wie sie für das Alltagsverständnis sozialer Prozesse weiterhin prägend sind. Dabei kann es mitunter zu Konflikten zwischen diesen dichotom gedachten Entitäten kommen: »Weil mein Körper einfach auch (), sag ich mal noch nicht so [...] weit ist wie mein Kopf. Er hat immer noch, sagen wir, oft son/Heißhunger kann man nicht sagen, aber dieses Völlegefühl fehlt oft.« (FlorianS Z172-174) Andererseits ist die diskursive Trennung des Selbst von seinem Körper für eine Reihe von Vorgängen und Kontexten auch höchst funktional.2 Die unter anderem von Foucault beschriebenen Disziplinierungs- und Selbstdisziplinierungspraktiken beruhen zu einem guten Teil auf einem instrumentellen Verhältnis des Selbst zu seinem Körper (Foucault 1977). Allerdings lohnt es, die rhetorisch repräsentierte Selbstverständlichkeit mit einer anderen – in diesem Fall pragmatistischen – Epistemologie zu befremden. Dann fällt auf, dass die in den Äußerungen der Selbstvermessenden dominierende, instrumentelle Trennung der Akteure von ihren Körpern mehr Fragen offen lässt, als sie beantwortet: Das als Selbst gefasste Agens ist notwendig körpergebunden, jeder Denkvorgang hat eine physiologische Basis, jede Selbstwahrneh2 | Wir sprechen hier ganz bewusst und in der Tradition Meads vom »Selbst« und nicht vom »Ich«, denn in der pragmatistischen Perspektive, wäre das »Ich« im Sinne des Mead’schen »I« nur ein Teil des individuierten »self«.
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mung eine körperliche Dimension, der Körper und seine Grenzen hängen von unserem Selbstbild darüber ab, wer wir ›sind‹ etc. Selbstverhältnisse sind also Konstruktionen, in die historisch-konkrete Diskurskonstellationen eingeschrieben sind, die immer auch in Widerspruch zu anderen Wissensregimen stehen können. Der legendäre Satz des Radrennfahrers Udo Bölts, »Quäl Dich, Du Sau«, zeigt diese Widersprüchlichkeit exemplarisch: Zwar zielt er zunächst auf das Schinden des Körpers, hier den des Jan Ulrich bei der Tour de France, der sich und sein Fahrrad den Berg hinaufschaffen soll: Das »Du« soll das »Dich« entsprechend disziplinieren – auf den ersten Blick ein Fall von Körper-Geist-Dichotomie. Zugleich aber ist hier die mentale Dimension der Willensstärke impliziert, die selbst wiederum eine physiologische – und, wie wir wissen, in dem Fall auch eine pharmakologische – Fundierung hat. Statt der diskursiv hergestellten Körper-Geist-Dichotomie zeigen sich bei näherer Betrachtung eher ein reziprokes Verweisungsverhältnis und eine funktionale Interdependenz. Dieser Zusammenhang ist nicht neu; er hat sozialtheoretisch seinen Niederschlag nicht nur im Pragmatismus, sondern auch in Polanyis Konzept impliziten Wissens (Polanyi 1990) oder in Bourdieus Habitus-Konzept gefunden (Bourdieu 1979). Das Phänomen digitaler ›Selbst‹vermessung verschärft jedoch die Dichotomie noch einmal, wenn der eigene Körper nicht nur als Gegenüber wahrgenommen, sondern als Gegenstand der Optimierungsanstrengungen letztlich zum Probanden fortgesetzter Experimente gemacht wird: »(D)as ist das was jetzt so kommt, wo man halt weiß () das sind/ist mein Kalorienbedarf und dann schraubt man halt mal ein p/eine Woche halt den/das Eiweiß ein bisschen runter, dafür die Kohlenhydrate hoch, kuckt sich was sich so generell tut, achtet dann halt/vergleicht dann halt auch noch () mit Trainingsgewicht, hatt’ ich vielleicht mehr Energie beim Training? wenn die Kohlenhydrate hochgingen oder so. Äh ja und dann schraubt man halt ein bisschen rum (1) über den Monat.« (FelixN Z257-262)
Felix »schraubt … ein bisschen rum« an seinem Körper, den er als digitalisiertes Datenbild in Form von Parametern vor sich hat. Die Auswirkungen jeder Variation dieser Parameter werden verzeichnet, ausgewertet und die Ergebnisse zu weiteren Optimierungen genutzt. Gerade in dieser experimentellen Haltung, die deutlich Anleihen beim Modell naturwissenschaftlicher Forschung nimmt, wird der eigene Körper nicht nur zu einem Objekt, dem die Experimentierenden in skeptischer Haltung gegenübertreten. Vielmehr steht dieses Objekt immer auch als Exempel für ›den Körper‹, über den Aussagen zu treffen zugleich einen Verallgemeinerungsanspruch beinhaltet. Andererseits zeigt sich hier, dass nie das gesamte Selbst Gegenstand der Vermessung ist, noch nicht einmal der gesamte Körper, sondern lediglich bestimmte Teile davon oder bestimmte, als Parameter konzeptualisierte Leistungsdimensionen. Welche Teile oder Dimensionen das sind, ist offenbar diskursiv konstruiert,
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etwa Körperideale, wie das ›Sixpack‹, die breiten Schultern bei Männern und die schlanke Taille bei Frauen, oder die Vorstellung, eine bestimmte Anzahl täglich absolvierter Schritte sei entscheidend für Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden. Das ist insofern interessant, als wir vor jeder technisierten und digitalisierten Vermessung von Körperfunktionen ›uns‹ immer selbst wahrnehmen, also auch unsere körperlichen Zustände registrieren – entweder vorbewusst als unproblematisch oder aber als problematisch, zweifelhaft, aufmerksamkeitsbedürftig: Wir merken, wie wir beim Laufen schwitzen, wie die Muskeln beim Schwimmen ermüden oder uns bei schneller Abfahrt mit dem Fahrrad die Brust kühl wird. Ein Muskelkater macht uns aufmerksam auf körperliche Anstrengungen am Vortag, die Kopfschmerzen am Morgen registrieren wir als Quittung für das Glas zu viel am Abend davor. Schon mit der Verwendung des Spiegels als einer frühen Form der Selbstanschauung wird, wie wir bereits bei Cooley (1902) lernen können, die Introspektion sinnlicher Selbstwahrnehmung um den objektivierenden Blick von außen auf den eigenen Körper ergänzt. Bei Florian Seidler wird diese Dualität deutlich: »Ich muss mich wohl fühlen, aber/ich muss mich auch gern anschauen können, man muss (1) einfach in den Spiegel schauen, sagen ok, das gefällt mir so.« (Z767-768) Er bringt hier beide Dimensionen zum Ausdruck: Zum einen möchte er sich wohlfühlen (das ist die körpersensorische Selbstwahrnehmungsdimension), zum anderen möchte er aber auch gut aussehen (hier macht er sich/ seinen Körper wieder zum Objekt). Ob wir diese Wahrnehmungen als Informationen über unseren (z.B. gut oder nicht so gut) funktionierenden Körper registrieren oder ›uns selbst‹ wohl oder unwohl fühlen, ist eine Unterscheidung, die in der Praxis vor allem gradualisiert auftritt und häufig in Zusammenhang mit dem Maß an Problemhaftigkeit steht, das der jeweiligen Wahrnehmung zugeschrieben wird, und folglich ebenso mit dem Ausmaß zusammenhängt, in dem eine Veränderung/Verbesserung der Situation angestrebt wird. Selbstwahrnehmungen als entweder problematisch oder unproblematisch zu registrieren, hängt zunächst davon ab, ob unser routiniertes Handeln davon beeinträchtigt wird: Wenn ich zu sehr außer Atem gerate oder Seitenstechen bekomme, kann ich nicht mehr weiterlaufen wie geplant, wenn meine Wadenmuskeln beim Schwimmen krampfen, muss ich aus dem Wasser. In zweiter Linie werden uns wahrgenommene Zustände problematisch, wenn wir gelernt haben oder uns nahegelegt wird, dass etwas so nicht in Ordnung ist. Bezugspunkt für eine solche Beurteilungspraxis sind Körper- und Leistungsnormen, die diskursiv im sozialen Umfeld, medial oder aber – besonders wichtig im Kontext digitaler ›Selbst‹vermessung – in der Gerätesoftware repräsentiert sind. Mit der Umstellung vom Fühlen zum Messen vollzieht sich eine gravierende Umstellung im Selbstverhältnis, eine Umstellung, die – denken wir an Fieberthermometer, Körperwaage oder Stoppuhr – nicht erst mit den neuen digitalen Medien auftritt, hier aber eine entscheidende Dynamisierung erfährt, weil der Bezug zum eigenen Körper mit dem Schritt zur Digitalisierung und Algorithmisierung noch einmal indirekter wird und weil mit der verwendeten Technologie ein noch nach-
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drücklicheres Versprechen der Objektivität der gewonnenen Daten einhergeht. Die Präsenz digitaler Messwerte auf technischen Geräten setzt die eigene Körperwahrnehmung unter Rechtfertigungsdruck: Ich kann mich gut fühlen, die Messwerte aber sprechen eine andere Sprache. Dies zeigt sich etwa am Fall der von uns interviewten Läuferin Lena, deren Herzfrequenz mittels Pulsuhr gemessen wird und die dabei feststellt: »beim Laufen bin ich/schieß ich ganz schnell auf 180« (LenaW Z22-23). Auf Basis eines Abgleichs mit diskursiv vermittelten Standards kommt sie zu dem – für sie irritierenden – Ergebnis, sie sei »glaub ich eigentlich viel zu hoch« (ebd.: Z23): »(A)lso ich fühl mich ja nicht schlecht beim Laufen oder so. Ich merk nicht, dass es mich irgendwie zu sehr anstrengt oder sowas. Und ich bin danach jetzt auch nicht völlig platt oder so ähm deswegen weiß ich nicht, [...] wie ich da weiter runterkommen kann.« (Ebd.: Z121-124) Ihr Körpergefühl steht hier im Widerspruch zu den in ihrem Gerät integrierten Normwerten – »also die Uhr hat mir ausgerechnet aus meinem (1) ähm (2) Geschlecht, meinem Alter und meinem Gewicht so ’ne Trainingszone. [...] Ähm und das liegt so zwischen 130 und 155 ungefähr« (ebd.: Z43-47) – sowie zu einer medial vermittelten Faustregel (ebd.: Z55) und den Reaktionen ihres Umfeldes: »Und ähm auch wenn ich das ähm jemandem erzähl (2) dann ähm, die Reaktionen darauf sind eher schockiert. Also so: ›Ah was, du hast so hohen Puls?‹« (Ebd.: Z47-48) Die Umstellung auf digitale Selbstvermessung birgt also das Potential für nachhaltige Irritationen des Selbstbewusstseins, Irritationen, die durch den ihrem Format als digitale Daten inhärenten Objektivismus umso machtvoller werden. Dabei ist es nicht allein die Umstellung von ›gefühlt‹ auf (digital) ›gemessen‹, die diese Wirkung entfaltet. Erst die darin enthaltene Referenz auf medizinische und andere Normwerte erzeugt eine solche Härtung der Messwerte und lädt sie mit Bedeutung auf.
4. D as E nsemble : W er macht mit, wenn ›S elbst‹ vermessen wird? Wenn beim Selbstvermessen schon nicht das Selbst vermessen wird, sondern Körperfunktionen und Ortsveränderungen: Vermessen dann wenigstens wir selbst unseren Körper? Das ist die Frage nach der Agency in Selbstvermessungsprozessen. Wer misst denn da eigentlich? Handelt es sich nicht eher um eine Fremdvermessung oder genauer: um ein Amalgam aus Fremd- und Selbstaktivität im Messprozess? Es kann doch nur so sein, dass hier Geräte, subjektives Wollen, wahrgenommene soziale Erwartungen und geteiltes Wissen zusammenspielen. Aber wie? Wer ›sich‹ selbst vermisst, tut dies eingebettet in einen Kontext, der voll von vorgeprägten Mustern, Handlungsanleitungen, Verfahrensgewohnheiten, diskursiven Rahmungen und organisierten Vergemeinschaftungen ist. Technische Bedienungsanleitungen sagen, wie es geht, Berichte in den Medien, aber auch Werbung oder das Gespräch mit Kolleginnen oder Freunden sagen, um
Das Selbst der Selbstvermessung
was es geht, Orte legen nahe, ob es (gerade) geht. Andere tun es bereits, Geräte haben implementierte Verfahrenswege, Designs legen Handhabungsweisen nahe. So sehr die einzelnen Selbstvermessenden für sich die Perspektive haben mögen, dass sie ihre Geräte nutzen, um zu messen, was ihr Körper leistet: Sie sind dabei weder allein, noch vollbringen sie einen singulären Akt. Sie nehmen an einer Praktik teil, in die Sensoren, Smartphones, Körper(teile), Thematisierungen in sozialen Zusammenhängen und in den Medien, ansozialisierte Körperschemata, Strukturen ökonomischer Märkte und typisierte Orte und Zeiten involviert sind. Beim Anlegen des Brustgurtes oder beim Einschalten der Fitness-App führt ihnen nicht zuletzt auch jener Selbstsorge-Diskurs die Hand, der uns alle wissen lässt, dass wir es selbst in der Hand haben und uns also gefälligst auch selbst darum kümmern sollen, fit und arbeitsmarktverwertbar zu sein. In seiner praxistheoretisch orientierten Heidegger-Interpretation über die »Dinglichkeit der sozialen Welt« weist Kalthoff darauf hin, dass sich für Heidegger im Dingumgang immer eine (im Zeitverlauf variierende) »Überschneidung von Zweck und Selbstinterpretation« zeigt, Dinge also nicht einfach intendierten Zwecken dienen. Vielmehr wird in der Perspektive des Heidegger’schen Ding-Begriffs betont, wie sehr wir als mit den Dingen Umgehende zugleich als Subjekte in sie eingespannt sind: »In der Form, in der wir mit den Dingen umgehen, entsprechen wir also einer Art zu sein. Dieser Umgang mit den Dingen ist also auch ein Umgang mit uns selbst, und zwar um unserer-selbst-willen.« (Kalthoff 2014: 81) In der Nutzung von Selbstvermessungstechnologien erweisen wir uns als ganz bestimmte Selbste, nämlich solche, die den technisch produzierten Leistungsdaten in ihrer vom Körper externalisierten Form einen wichtigen Stellenwert für die Selbstrepräsentation einräumen. Im Falle von Pulsuhren, Apps und Sensoren wird – auch im Unterschied zu traditionellen Hilfsmitteln, wie etwa einem Maßband – das Messen selbst weitgehend ohne aktive Beteiligung der menschlichen Akteure durchgeführt, die diese Vorgänge lediglich in Gang setzen, stoppen und mit den Messergebnissen umgehen. Auch in anderen Bereichen wie der Ernährung wird – obgleich die Rhetorik der Befragten meist das Gegenteil vermuten lässt – nicht selbst gemessen: »Joa und ansonsten zähl ich da halt jeden Tag () nach Plan () so grob meine Kalorien also ich geb das Essen ein, wieg halt auch ab, koch halt sehr viel vor, ähm () nach Kalorien Fett (1) joa Eiweiß Kohlenhydraten.« (FelixN Z33-36) Felix wiegt weder selbst – dies übernimmt eine Waage – noch addiert er die gewogenen Werte. Für letzteres verwendet er eine App, die er lediglich mit der Information füttert, er habe 500 Gramm Reis o.ä. zu sich genommen. Seine Beteiligung an dem Messvorgang beschränkt sich also auf die Übertragung des von der Waage angezeigten Gewichts in die App. Besonders deutlich wird die starke Partizipation von Geräten an der ›Selbst‹vermessung mit Blick auf die Schlafaufzeichnung. Anton Brunners Aussage: »Was ich auch noch aufzeichne, ich äh sch/Ich zeichne meinen Schlaf auf« (AntonB Z274-275), wirkt vor dem Hintergrund, dass er zum Zeitpunkt der
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Aufzeichnung schläft, geradezu paradox. Auch hier ist es das technische Gerät, das misst; Anton selbst kann an der Messung nicht aktiv beteiligt sein. Die technischen Geräte sind jedoch nicht nur als Messinstrumente an der Selbstvermessung beteiligt, sondern sie vermitteln ebenso Standards, diskursive Normen und Klassifikationen, die dann wiederum den Vermessungs- und Beurteilungsprozess mitgestalten. So benutzt Isabella Schmidt beispielsweise eine Ernährungs-App, die auf Basis eines eingegebenen Wunschgewichtes die tägliche Kalorienzufuhr berechnet. Dieses Wunschgewicht ist allerdings nicht frei wählbar, sondern muss innerhalb eines gesellschaftlich bestimmten Werterahmens liegen: »(D)ie hat zu mir irgendwann bei 49 Kilo, ich hab jetzt 49 Kilo und ich hab als Zielgewicht 48 eingegeben, ähm gesagt, das ist zu wenig, das ist im untergewichtigen Bereich, bitte nicht weiter abnehmen.« (IsabellaS Z121-124) Die App verweigert Isabella die Berechnung der Kalorienzahl für ihr ›individuelles‹ Wunschgewicht, weil es diskursiven Vorstellungen eines gesunden Körpergewichts widerspricht. Generell fällt auf, dass die von uns untersuchten Selbstvermessenden sich – sowohl den Ablauf als auch die Ziele der Selbstvermessung betreffend – an diskursiv vermittelten und überwiegend in den Apps und Geräten repräsentierten Standards und Normvorstellungen orientieren: Ein BMI zwischen 20 und 25 gilt als ›normal‹, drei Liter Wasser pro Tag erscheinen als gesund, der Puls beim Laufen sollte höchstens 220 Schläge minus das Lebensalter betragen, 10.000 Schritte pro Tag gelten als moderate Bewegung, Lebensmittel werden von Apps als gesund (grün), in Maßen zu genießen (gelb), ungesund (rot) klassifiziert usw. Neben technischen Geräten, Standards, Normen und Diskursen ermöglichen und begrenzen auch infrastrukturelle Gegebenheiten die Praktiken der Selbstvermessung und die Möglichkeiten, an ihnen teilzuhaben. So setzt etwa ein (zu) hoher Stromverbrauch der Geräte in Kombination mit eingeschränkten Lademöglichkeiten einer intensiveren Selbstvermessung Grenzen: »Also ich würde noch mehr messen, wenn es ginge. Ähm, wenn es nicht so viel Strom brauchen würde.« (BenjaminH Z179-180) Mitunter wird die Selbstvermessung auch durch einen eingeschränkten GPS-Empfang behindert, was dazu führen kann, dass bestimmte Örtlichkeiten (z.B. als Trainingsorte) bevorzugt und andere gemieden werden (JanaR Z263-272). Darüber hinaus sind elektronische Geräte wasserempfindlich, sodass es etwa kaum Möglichkeiten gibt, die im Wasser zurückgelegte Strecke oder den Puls beim Schwimmen zu vermessen. Vermittelt über die technischen Geräte, beeinflussen auch wirtschaftliche Faktoren die Praktiken der Selbstvermessung: Smartphone-Apps bieten bestimmte Funktionen nur durch ein Update auf die Premium-Version – und damit in der Regel gegen eine monatliche Gebühr – an, und Gadgets wie Pulsuhren oder Schrittzähler sind insbesondere bei den großen Marken in der Anschaffung kostspielig. Die Bindung an Marken und technologische Plattformen erzeugt dabei zugleich Systemzwänge, die sich besonders in Zusammenhang mit Vergemeinschaftungsprozessen rund um Selbstvermessungspraktiken zeigen: Die von vielen Herstellern
Das Selbst der Selbstvermessung
der Sensoren und Apps angebotenen Foren und Plattformen sind in der Regel nur für Nutzerinnen von Geräten des gleichen Herstellers zugänglich, und mitunter werden sogar herstellereigene Maßeinheiten kreiert (z.B. Fuel beim amerikanischen Sportartikelhersteller Nike), die die Messungen mit Geräten unterschiedlicher Hersteller inkommensurabel machen. Wer also mit raum-zeitlich entfernten Trainingspartnern seine Ergebnisse austauschen und vergleichen will, ist mithin darauf angewiesen, dass diese mit kompatibler Hard- und Software messen. Qualitäten und Umfänge von Vergemeinschaftungen im Selbstvermessen hängen also entscheidend sowohl von technischen Vorgaben und Normungen also auch von ökonomischen Gegebenheiten ab, etwa von Marktanteilen und Verbreitungsgebieten bestimmter Geräte.
5. B ody ware : V om K örperwissen zu D aten als W are Die Untersuchung von Praktiken und Diskursen der Selbstvermessung bezieht ihre Spannung auch daraus, dass wir es hier mit dem vorläufigen Endpunkt einer historischen Entwicklung zu tun haben, an deren Beginn die Bewusstwerdung des Subjekts über seine eigene seelische und körperliche Befindlichkeit steht. Vielfältige Modi der Fremdvermessung sind seit langem geläufig: beim Schneider, im Schulsport, bei der Hausärztin oder bei der Musterung. Auch Selbstvermessung ist nicht komplett neu: Der morgendliche Gang auf die Personenwaage, das Mitzählen verzehrter Kalorien oder die Zeitmessung beim Joggen begleiten uns bereits seit Jahrzehnten. Indem nun aber aus Körperempfindungen digitale, elektronisch gespeicherte und übertragene Messwerte werden, also spezifische Repräsentationen, die von ihrem Ursprung und Entstehungsort getrennt behandelt werden können, entstehen de-kontextuierte, warenförmig konsumierbare und akkumulierbare Informationsobjekte. Daten können unabhängig vom Körper gespeichert werden, sie lassen sich im Prinzip bei geeigneter technischer Infrastruktur nahezu beliebig transferieren, akkumulieren und synchron wie diachron relationieren. Digitale Körperdaten werden so zu einem wichtigen Teil dessen, was heute unter dem Schlagwort Big Data die Phantasien nicht nur der Wissenschaft, sondern vor allem der Finanzvorstände börsennotierter Unternehmen beflügelt.3 Einmal kommodifiziert kann mit ihnen gehandelt und Geld verdient werden. Viele Fitness-Apps sind – mindestens in ihrer Basis-Version – bislang kostenlos verfügbar. Bei ihrer Installation auf dem Smartphone werden die auf dieser Ebene als personal integrierte Rechtssubjekte adressierten Nutzer, wie bei anderen Apps auch, darauf aufmerksam gemacht, worauf die App im Smartphone Zugriff benötigt, und im Zuge der Inbetriebnahme muss man meist auch bestätigen, die Geschäftsbedingungen und Datenschutzrichtlinien des Unternehmens zur 3 | Zur Diskussion um Big Data vgl. z.B. Reichert (2014).
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Kenntnis genommen und akzeptiert zu haben. Kaum eine Nutzerin macht sich indes die Mühe, diese Bedingungen und Richtlinien im Detail zu studieren. Das Häkchen zur Überwindung dieser letzten Zugangsbarriere wird gesetzt, wenn dabei auch mitunter ein Rest schlechten Gewissens bleibt. So antwortet Jan Weiß auf die Frage nach seinem Umgang mit den Allgemeinen Geschäftsbedingungen und Datenschutzrichtlinien der Lauf-App Runtastic: »(Atmet ein) ja akzeptieren (lacht) Kann schon sein, aber des ist ja () ja wer liest das schon, eigentlich sollte man es lesen, ich weiß es, dass weiß glaub’ jeder, aber keiner macht’s, weil es hat ja irgendwie jeder, und dann kann ja nicht so viel drinnen stehen wo falsch ist. (lacht) und wo jetzt schlimm wäre oder nachteilig. (MT: mhm) Ja des bin ich bissl leichtsinnig, aber gut (3) so ist es halt.« (Ebd. Z363-367)
Tatsächlich lassen sich die Hersteller in der Regel ermächtigen, die Messdaten auf eigene Server zu übertragen und damit – mindestens in anonymisierter Form – nach eigenem Gutdünken zu verfahren.4 Die Möglichkeit, die eigenen FitnessDaten mit anderen Nutzerinnen der jeweiligen App auf extra dafür bereitgestellten Portalen zu teilen und zu vergleichen, wird von den Anbietern der Apps, Fitnessarmbänder und Sportuhren aktiv beworben (mitunter als kostenpflichtige Zusatznutzen der Premium-Versionen). Im Unterschied dazu erfahren Nutzer im Zusammenhang mit der Nutzung der Selbstvermessungstechnologien weder etwas von der stillen Praxis der Datenakkumulation durch die Hersteller, noch von den kommerziellen Verwendungsweisen dieser Daten, etwa für zielgruppenspezifische Werbung oder für maßgeschneiderte Krankenversicherungstarife. Allenfalls über die Medien erschließt sich den Selbstvermessenden dieser kommerzielle Zusammenhang »behind the scenes« und wird dann durchaus problematisiert: »Ähm ich sehe es/ich würd es problematisch sehen, wenn zum Beispiel Krankenkassen an solche Daten rankommen und äh und anfangen die Leute entsprechend zu kategorisieren und ähm ja anhand ihrer/anhand ihrer Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten dann ähm stärker zur Kasse zu bitten.« (AmelieG Z427-431)
Insgesamt reiht sich die Praxis der Selbstvermessung nahtlos ein in die wachsende Zahl von netzbasierten Diensten vor allem aus dem Bereich Social Media, bei denen Nutzerinnen um begrenzter Vorteile willen Daten über sich öffentlich machen, mit denen die Betreiber-Unternehmen im Werbegeschäft hohe Gewinne realisieren. Ein gradueller Unterschied liegt allerdings in dem Ausmaß, in dem diese Zusammenhänge sichtbar gemacht und diskursiv aufgegriffen werden. 4 | So heißt es auf in der »Privacy Policy« der Firma Polar: »Privacy refers to information that we at Polar Electro Oy (›Polar‹) gather about you and the use that we make of it in the course of our business. If you do not agree with this Privacy Policy, please do not use this Site.« (www.polar.com/en/legal_notice [letzter Zugriff 17.11.2015])
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Während Facebook oder Google kein Geheimnis daraus machen, dass sie ihren ansonsten kostenfreien Service mit der Vermarktung der von den Nutzern bereitgestellten Daten finanzieren, ist über den Umgang der Selbstvermessungsbranche mit den Daten der Nutzerinnen meist nur wenig bekannt. Zudem hat sich in unserem Projekt gezeigt, dass unter Selbstvermessenden (abseits der eher sektenartig organisierten Quantified-Self-Bewegung) die Neigung, freiwillig die bei der Vermessung produzierten Daten zu teilen, eher gering ausgeprägt ist. Es ist kein sehr riskanter Schluss anzunehmen, dass diese durch die öffentliche Skandalisierung diverser Datenmissbrauchsfälle beförderte Abstinenz ein Grund für die extrem zurückhaltende Informationspolitik der Hersteller in Sachen Datenweiterverarbeitung ist. Aus der Perspektive der Selbstvermessungspraktiken ergibt sich damit eine ambivalente Konstellation: Neben der eher selten praktizierten intentionalen Weitergabe von Daten zu Vergleichszwecken innerhalb begrenzter Communities (maximal der Nutzer einer spezifischen App) produzieren die Vermessungsaktivitäten einen in der Regel ungewollten und mitunter gar nicht bewusst zur Kenntnis genommenen Datenschatten, der als Rohstoff für unbekannte und den Selbstvermessenden nicht zugängliche Auswertungen und Vermarktungen dient. Dort wo die Nutzerinnen sich dieser kommerziellen Verwertung ihrer Messdaten bewusst sind, müssen diskursive Strategien entwickelt werden, die die Nutzung der Apps trotz der damit implizit akzeptierten Weitergabe der eigenen Daten legitimieren – und dies ohne zugleich gutzuheißen, was da hinter ihrem Rücken mit den Informationen über ihre körperlichen oder seelischen Befindlichkeiten angestellt wird. So wird etwa, wie bei Noyam Erdem, Empörung über den Umgang der Hersteller mit persönlichen Daten und Sorge über negative Konsequenzen weitgehend auf einen Zeitpunkt verschoben, an dem das Kind – wahrnehmbar – in den Brunnen gefallen ist. »(D)a ich noch nie negative () Erfahrungen damit gemacht habe, dass meine Daten irgendwie, an Dritte weitergeleitet werden, und wenn’s so isch was wahrscheinlich so sein wird oder ist, hab ich noch nie negative Erfahrungen gemacht daher, spielt’s für mich eigentlich keine Rolle. Wenn’s mal soweit ist, dann würd ich sagen, dann spielt’s für mich eine Rolle, würde es für mich eine Rolle spielen.« (Ebd. Z152-157)
Eine weitere Variante dieses Legitimationsdiskurses zeigt sich im Fall von Bernd Seiler: »Ich [...] find halt, ganz ehrlich gesagt, wenn jemand sportlich aktiv is/ich find des ja nichts was man irgendjemand verschweigen müsste () Also, des gehört sogar jetzt auch zu den Sachen wo ich sagen würde, des wär mir so scheißegal wenn der Geheimdienst des wüsste, dass ich Sport mach, sollens halt wissen wie wo/wie soll des jemand gegen dich verwenden?« (Ebd. Z400-404)
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Sich fit zu halten ist nichts Anstößiges, daher stuft der Informant seine diesbezüglichen Daten als harmlos ein – allerdings eher mit Blick auf den Diskurs um staatliche Überwachungspraktiken, nicht jedoch hinsichtlich der Möglichkeiten einer kommerziellen Verwertung. Zugleich differenziert der Sprecher nach der relativen Sensibilität der Informationen: »[...] ich find- also es gibt zum Beispiel Facebook generell oder auch EMail-Kontakte da werden ja auch/(holt Luft) dass jetzt irgendwelche persönlichen Gespräche oder sowas jetzt () aufgezeichnet werden oder sowas ist für mich eigentlich äh unangenehmer als wenn jetzt irgendjemand sehen kann irgendwie ja ich bin halt sportlich aktiv [...].« (BerndS Z25-29)
Neben dieser allgemeinen Unterscheidung in sensible und weniger sensible Daten mit Blick auf die eigene informationelle Selbstbestimmung wird im gleichen Interview auch innerhalb der Fitness-Daten unterschieden: »… also meine Vitalwerte die gehen dann au niemand was an () ob ich jetzt, äh, ob ich jetzt langsam gejoggt bin oder schnell gejoggt bin, das kann ja unterschiedliche Gründe haben, aber mein Puls oder so () mein Blutdruck des is jetzt nix was ich irgendwie dann irgendwie online irgendwie als Daten zur Verfügung stellen würde, des geht dann doch zu weit find ich.« (Ebd. Z448-453)
Bernd Seiler differenziert hier zwischen Daten, deren Weitergabe er als unproblematisch betrachtet, und anderen Arten von Daten, die ihm zu persönlich sind, um anderen zugänglich gemacht zu werden. Die von ihm eingeführte Unterscheidung macht zugleich deutlich, wo für ihn das Selbst als eigene Person beginnt und endet: Gewicht und Herzfrequenz sind zu intim, um weitergegeben zu werden, Wegstrecken, Geschwindigkeiten und Standorte hingegen sind potenziell öffentlich oder zumindest wäre ihre öffentliche Zurschaustellung kein Problem für ihn. Andere formulieren es ähnlich, etwa David Robolt: »[...] mein Gott. Die sehen halt wie schnell ich laufe, das ist ja egal« (ebd. Z204-208) oder Veronika Schwenk: »die wissen wie schnell ich lauf und wo ich lauf, aber die wissen jetz nichts über meine Persönlichkeit oder so, deswegen find ichs jetz (1) nich soo schlimm.« (Ebd. Z208-213) Laufstrecken und -geschwindigkeiten sind unkritisch, die ›Persönlichkeit‹ aber und die körperbezogenen Werte (›Vitalwerte‹) sind zu schützen. Dabei ist interessant, wie die Grenze zwischen sensiblen und nichtsensiblen Daten gezogen wird: Obwohl in den Interviews immer wieder auf den Datenschutz- und Überwachungsdiskurs referiert wird, erscheinen den Befragten die Daten zu Laufzeiten und -strecken oder zur Zahl der zurückgelegten Schritte in der Regel als unproblematisch – dabei wird in der öffentlichen Diskussion um den Überwachungsstaat gerade die Möglichkeit zur Erstellung von Bewegungsprofilen als zentrales Problem thematisiert. Es scheint, dass im Verhältnis dazu die direkte Betroffenheit des eigenen Körpers und der damit ver-
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bundenen Gefühle von Intimität und Scham als relativ sensibler empfunden und daher anders klassifiziert wird. Fitness-Apps dennoch zu nutzen, die solch körperbezogene Daten extern speichern und unter Umständen Dritten verfügbar machen, rechtfertigt Bernd Seiler mit einem explizit auf die Warenförmigkeit von Apps und Daten abzielenden Argument: »(W)as halt nicht so gut ist ist natürlich klar es wird alles aufgezeichnet, es sind alles Daten die über dich gespeichert werden, wenn du jetzt natürlich deinen Kalorienverbrauch wissen willst musst du auch dein Gewicht angeben und deine Größe, des sind dann schon Daten die halt, weils auch über Facebook verknüpft ist, dann Facebook hat, aber es ist halt klar, es gibt natürlich nix umsonst, also wenn man halt so ne App nutzen will dann muss man halt auch in Kauf nehmen, dass halt solche Daten dann eben auch verwendet werden, das mir schon bewusst [...].« (Ebd. Z19-25)
Es gibt »nix umsonst«, das heißt, wenn mir mit den Apps schon ein Gebrauchswert (häufig) kostenlos zur Verfügung gestellt wird, dann dürfen die Firmen sich in einem bestimmten Rahmen auch bei den Daten bedienen, ja, diese Daten sogar durch Verkauf zu Geld machen: »Ich weiß, dass ich () Zugriff auf die Daten habe und ähm ich weiß, dass die ihren Service jederzeit einstellen können, weil ich nichts dafür bezahle. Und ähm () aber ich weiß nicht wer alles ähm dafür zahlt an diese Daten ranzukommen, was die damit machen.« (AmelieG Z423-427)
Am eigenen Körper generierte Daten werden für die Selbstvermessenden zum Tauschgut, zur Bezahlung für bestimmte Leistungen der App. Sie werden es umso mehr, weil sie auch für den Selbstvermessenden einen eigenen Wert haben, zum Beispiel ein bestimmtes Maß an Intimität, an Auskunft über das eigene Selbst. Wenn wir diese Entwicklung unter dem Blickwinkel der Subjektivierungsweisen betrachten, dann ergibt sich hier zugleich eine wesentliche Verschiebung, weil Subjekte zumindest in diesem Zusammenhang immer stärker aus einer komparativen, quasi-objektiven Perspektive konstituiert werden. Statt der eigenen Befindlichkeit treten den Selbstvermessenden externalisierte und in Vergleichsschemata eingeordnete Messwerte als Teil ihres Selbst entgegen: »[...] mir ist ganz wichtig, dass ich im Nachhinein halt immer weiß, wie ich jetzt wirklich objektiv war, also nicht nur meine subjektive Einschätzung, so: ah heute ist gut gelaufen, sondern dass ich objektiv weiß, ja des war jetzt wirklich was oder ne, das war Scheiße« (JanW Z182-185).
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Jörg Strübing, Beate Kasper & Lisa Staiger »(W)eil es wird halt gemessen, und man macht es nicht mehr so nachm Gefühl und sagt so irgendwie, ja das war jetzt ganz anstrengend, sondern man guckt dann [...] auch während dem Laufen mal so ja halt auf die Werte und schaut so, ja ich bin ja eigentlich () ich bin ja eigentlich schlechter als letztes Mal.« (BerndS Z83-87)
Das so konstituierte Subjekt ist damit immer schon ein normiertes bzw. an Normen zugerichtetes. Auch dies bildet kein Alleinstellungsmerkmal der digitalen Selbstvermessungspraktiken, erreicht mit ihnen aber eine neue Intensitätsstufe, die sich zum Beispiel dadurch auszeichnet, dass der in den Infrastrukturen der Selbstvermessung gespeicherte Daten-Körper auf Dauer gestellt und weitgehend dem Zugriff derer entzogen wird, die in diesen Daten das Maß ihrer Normkonformität offenbart haben. Auffällig ist an den in diesem Abschnitt zitierten Aussagen zweierlei: Zunächst ist bemerkenswert, dass immer dann, wenn es um die Speicherung und Verwendung der eigenen Messwerte durch andere Instanzen geht, diese zu einem anonymkollektiven Gegenüber stilisiert werden (»was die damit machen«, »die sehen halt«,) und so ein dichotomes Konstrukt entsteht, dass frappant an das »Gesellschaftsbild des Arbeiters« erinnert, jene Leitformel, auf die Popitz und Bahrdt (1961) ein zentrales Ergebnis ihre industriesoziologischen Studien im Arbeitermilieu der frühen Bundesrepublik Deutschland gebracht haben. Zum Zweiten fällt auf, dass in dieser Stilisierung des kollektiven Gegenübers die Diskursfigur der geheimdienstlichen Überwachung (»wenn der Geheimdienst des wüsste«; s.o.) die kritische Reflexion der Kommodifizierung von Körperwissen weitestgehend überlagert. So formuliert Anton Brunner: »Was auch immer mit den Daten geschieht, wahrscheinlich landen se bei der NSA oder so.« (Ebd. Z319-320) In dieser für unser Material recht typischen Formulierung wird die ökonomisch motivierte Nachnutzung der auf den Unternehmensservern akkumulierten Daten zu einem »was auch immer« marginalisiert und so der kritischen Betrachtung entzogen, während das aus anderen, medialen Kontexten geläufige Motiv der staatlichen Überwachung in den Vordergrund rückt. Auf dem Weg vom intimen Körperwissen zur Ware körperlicher Leistungsdaten verändert sich, so legt es das in diesem Abschnitt präsentierte Material nahe, offenbar mehr als nur die Wissensform. Diese wird zugleich behaftet mit neuen Unsicherheiten und mit der Erfahrung konkreter Machtasymmetrien.
6. R esümee Ausgehend von einer analytischen Perspektive, die in Anlehnung an praxeologische Ansätze einerseits das in den klassischen Handlungstheorien dominant gemachte Subjekt bewusst dezentriert und andererseits nichtmenschliche Handlungsträgerschaft analytisch in den Blick nimmt, haben wir in diesem Beitrag gefragt, inwiefern die Praktiken der Selbstvermessung an der Herstellung eines
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bestimmten Typs von Subjektivität partizipieren und wie die Beteiligung daran organisiert ist. In den Redeweisen der Befragten erscheint das Selbst zunächst als Agens der Vermessung, das dem eigenen Körper als einem Objekt entgegentritt, das vermessen, optimiert und mit dem experimentiert werden kann. Die diskursive Konstruktion dieses Selbstverhältnisses als ein dichotomes kontrastiert bei genauerem Hinsehen allerdings mit der schon physiologisch begründeten Reziprozität von Körper und Geist/Bewusstsein: ›Unsere‹ Wahrnehmung des Körpers hat immer auch eine physiologische Dimension, die die Wahrnehmungsfähigkeit unhintergehbar rahmt (etwa die Sensibilität der Wahrnehmungsorgane). Neben physiologischen Voraussetzungen basiert die eigene Körperwahrnehmung aber auch auf in situierten Aktivitäten erworbenen Körperschemata und Aufmerksamkeitsniveaus, die von körperlichen Gegebenheiten ebenso abhängen wie von unserem Selbstbild darüber, wer ›wir‹ sind bzw. sein wollen. Die Wahrnehmung des Selbst über das digitalisierte Datenabbild des eigenen Körpers und seiner Aktivität bringt ein zentrales Moment der Fremdbestimmung in das Selbstverhältnis der ›Vermessenen‹. Die diskursiv insinuierte Getrenntheit der Subjekte von ihren Körpern wird durch den Vorgang der technisierten Messung mediatisiert, der Körper wird also nicht nur mental und rhetorisch als Gegenüber konzipiert, sondern eine apparative und symbolische Konstruktion dazwischengeschaltet. Diese repräsentiert den Körper nicht ›als solchen‹, in seiner physisch-sensuellen Dimension, sondern als ein selektives und spezifisch formatiertes Datenabbild, in das überdies normative Vorgaben eingeschrieben sind. Erst mit dieser apparativen Distanzierung wird der Körper den Selbstvermessenden als manipulierbares Studienobjekt für experimentelle Optimierungsprozesse verfügbar. Zusätzlich verschärft wird das Selbstverhältnis im Falle der Selbstvermessung dadurch, dass neben den beiden Partizipanten Subjekt und Körper auch ökonomische Märkte, typisierte Orte und vor allem technische Geräte an den Praktiken der Selbstvermessung teilhaben. Das sich vermessende Selbst tut dies nicht nur nicht als singulärer Akteur, sondern auch in soziotechnischen, ökonomischen und rechtlichen Konfigurationen, deren Strukturen das Resultat der Vermessung spezifisch zurichten. Dabei erweisen sich Selbstvermessungspraktiken nicht nur als eine performative Gestalt aus Humans und Nonhumans. Sie finden zugleich eingebettet in einen größeren Kontext von vorgeprägten Mustern, Handlungsanleitungen, Verfahrensgewohnheiten, diskursiven Rahmungen und organisierten Vergemeinschaftungen statt. In Praktiken der Selbstvermessung ist das Subjekt damit nur ein Partizipant unter mehreren. Körper(teile), Sensoren, Smartphones, Apps, unterschiedliche Repräsentationen von Daten, Netzinfrastrukturen, Systeme der Energieversorgung, aber auch Diskurselemente und Raumbezüge treten hinzu und sind zusätzliche Bedingungen dafür, dass Selbstvermessung stattfinden kann. Zweifelhaft ist damit nicht nur die Rede vom Körper als vom Selbst unabhängigen
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Gegenstand der Vermessung. Hinzu kommt, dass nicht ›wir selbst‹ – zumindest nicht ›wir selbst allein‹ – es sind, die in Selbstvermessungsprozessen die Handlungsträgerschaft innehaben. Durch die digitalisierte Verarbeitung, Speicherung und Übertragung verobjektivierter Körperzustände erreichen moderne Selbstvermessungspraktiken darüber hinaus eine neue Subjektivierungsqualität. Nicht nur, dass Körpergefühle als Informationsobjekte beinahe uneingeschränkt de-kontextuiert und damit transferiert, akkumuliert sowie relationiert werden können. Durch ihre Kommodifizierung rücken sie gleichzeitig – der mediale Hype um Big Data verdeutlicht dies – ins Interesse ökonomischer Aushandlungsprozesse. Hinsichtlich der Subjektivierungsweisen bedeutet dies, dass Subjekte sowohl von sich selbst (das individuelle, nicht näher spezifizierbare Körpergefühl tritt in den Hintergrund) als auch durch andere Partizipanten (Hersteller, Facebook usw.) immer stärker aus einer komparativen, quasi-objektiven Perspektive konstituiert werden. Die Kommodifizierungstendenz wird von den Interviewten zwar durchaus kritisch gesehen und das bewusste Teilen von Daten insbesondere über Social Media nur in geringem Ausmaß praktiziert. Dies hindert die Selbstvermessenden jedoch nicht daran, Apps herunterzuladen, zu installieren, vernetzte Pulsuhren zu kaufen und Geschäftsbedingungen sowie Datenschutzrichtlinien (ungelesen) zu akzeptieren. Neben diskursiven Legitimationsstrategien, wie etwa der Verdrängung von datenschutzrechtlichen Bedenken – Ängste und Sorgen werden auf einen Zeitpunkt verschoben, zu dem ein Schaden wahrnehmbar ist –, spielt vor allem die Klassifizierung in schützenswerte und weniger schützenswerte Daten eine wichtige Rolle, die nicht mehr Gegenstand unseres Projektes war, aber in einem Anschlussprojekt genauer untersucht wurde (Leger/Panzitta/Tiede 2016). Es lässt sich auf Basis unserer bisherigen Forschungsarbeit nur in ersten Umrissen bestimmen, welche Typen von Subjektivierungsweisen sich im Kontext von Selbstvermessung, Selbstoptimierung und experimentellem Körperbezug etablieren werden. Gezeigt hat sich, dass nicht nur die Praktiken der Selbstvermessung auf eine größere Schar und eine äußerst heterogene Konstellation von Partizipanten verteilt prozessieren. Vielmehr lässt sich auch für die involvierten Selbste zeigen, dass sie schon auf der Ebene der Praxis insofern dezentriert werden, als einige ihrer konstitutiven Elemente sich zunehmend und in unterschiedlichen Repräsentationsformen in Gerätespeichern und auf Netzwerkplattformen wiederfinden, wo sie ein dynamisches Eigenleben entfalten. Dieses gerät mitunter in spannungsvolle Verhältnisse mit dem über seine Körpergebundenheit im Alltag als Subjekt identifizierten Akteur. Das zeigt sich etwa dann, wenn die in der soziotechnischen Konstellation der Vermessung erzeugten Daten-Körper dem Selbstbild der Vermessenen zuwiderlaufen oder die selektive Präsentation von (›positiven‹, ›guten‹) Daten das Daten-Selbst in ein potemkinsches Dorf verwandeln.
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Kennzeichnend für diese Subjektivierungsweise ist überdies, dass die über die Praktiken der Vermessung erzeugten Daten-Körper das, was sie sind, erst durch die Relationierung zu diskursiv verfügbaren gesellschaftlichen Normkomplexen werden, die ihnen ihren Wert zuschreiben. Eine Konsequenz scheint das zu sein, was Passoth in mediensoziologischer Perspektive für das von ihm beschriebene »kontemporäre Selbst« so ausdrückt: »Ein solcherart verteiltes Selbst entzieht sich in seiner medientechnischen Realisation beständig irgendeiner auch nur vorstellbaren individuellen Kontrolle – ohne dass es dabei aufhört ein Selbst zu sein« (Passoth 2010: 10). Gerade der Nachsatz ist uns hier wichtig: Es geht, wenn von Dezentrierung die Rede ist, nicht um die Vorstellung einer Auflösung des Selbst in Konfigurationen von Geräten und Netzinfrastrukturen, sondern um seine Neukonfiguration unter veränderten Bedingungen. Auch das so beschriebene Selbstverhältnis der Dezentrierung steht seinerseits in einem Spannungsverhältnis etwa zur rechtlichen Sphäre, die darauf insistiert, das Rechtssubjekt als ein körpergebundenes, humanes und integriertes zu adressieren. Die daraus resultierenden Probleme zeigen sich deutlich bereits bei Konstellationen technischen Mit-Handelns im Bereich von Robotik und Automation (z.B. ›selbst‹fahrende Autos). Sie werden aber auch in den Praktiken der Selbstvermessung sichtbar, wenn der (sich) vermessen(d)e Partizpant auf der technischen Ebene der Verfügung über seine Daten zunehmend verlustig geht und zugleich als Rechtssubjekt bei der Installation von Apps auf dem Smartphone über Datennutzungsrechte verbindlich und eigenverantwortlich entscheiden soll. Dem korrespondiert zugleich die Subjektkonstellation der Gesundheits- und Fitnessdiskurse und, allgemeiner noch, des Selbstsorgediskurses. Auch hier erscheinen die Selbstvermessenden als selbstbewusste, willensstarke und leistungsbereite Akteure, die das Heft des Handelns fest in der Hand haben. In unserer Untersuchung haben sich erste Konturen zentraler Elemente und Problembezüge gezeigt, an die zukünftige Forschung anschließen kann. So dürfte es spannend werden zu untersuchen, in welchen Konstellationen und Situationen abstrakt modellierte Daten-Körper in Opposition zu ihren physischen Referenten geraten, wie diese Spannungen und Brüche in Praktiken ihren Niederschlag finden, und welche Problemlösungen bzw. Neukonfigurationen daraus entstehen. Daran schließt sich die Frage nach Authentifizierungspraktiken an: Welches sind die gültigen Repräsentationen von Körpern und ihrer Leistung und wie wird diese Gültigkeit als legitim hergestellt? Auch die Frage, wie Praktiken der Selbstvermessung und ihre Partizipanten mit der Normativität von Körper- und Leistungsidealen umgehen, die über Artefakte und Diskurse in sie eingeschrieben werden, gehört hierher. Besonders spannend dürfte es werden, zu beobachten, ob und wie sich in Selbstvermessungspraktiken Subjektivität in Form von Widerständigkeiten manifestiert und wie dies auf die Praxis der Selbstvermessung zurückwirkt. Es gibt also noch viel zu tun.
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Das Selbst der Selbstvermessung
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»Vom Piksen zum Scannen, vom Wert zu Daten.« Digitalisierte Selbstvermessung im Kontext Diabetes Lisa Wiedemann
1. S elbst vermessung als O p timierungsprojek t – z wischen I ndik ation und L ifest yle »I have mixed feelings about it. I see, in a certain sense I feel that diabetics we’ve been doing it for 30 years every day. So I feel like, I do feel there is a lot of overlap. However I think there is … I don’t wanna be negative about it because it is possible that really good work will come out of QS movement. I think that sometimes it can have the danger, the point of collecting data is not for the sake of collecting data. [...] I don’t know. I guess I believe the most of the times the body can take pretty good care of itself.« (Simon, 49 Jahre, lebt seit 40 Jahren mit der Diagnose Diabetes)
Eine kleine Beobachtung: Letzten Sommer sitze ich in einem Café, die großen Fenster des Etablissements lassen meinen beobachtenden Blick auf eine bewegte Straße schweifen und nach kurzer Zeit sehe ich einen Mann mit einem kleinen weißen Sensor am Oberarm und ziehe, wohl aufgrund meiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Thematik, den Schluss, eine Person mit Diabetes erkannt zu haben. Wenige Minuten später bewegt sich eine junge Frau joggend durch mein Sichtfeld, die ihr Smartphone an einer ähnlichen Körperstelle trägt. Sowohl der Verlauf chronischer Krankheiten als auch alltägliche Lebensbereiche wie Schlafen, Ernährung und Sport werden in unserem gegenwärtigen Kulturprogramm mittels smarter Technik kontrolliert und dokumentiert. Mithilfe neuer sensorischer Möglichkeiten verschmilzt der kategorische Imperativ des »Optimiere dich!« zunehmend mit der Kultur des Zählens. So kann jede Person potentiell den Zukunftsmarkt der digitalen Anwendungen betreten und mit einem Download eine App erhalten, die verspricht, besser zu schlafen, besser zu essen, besser zu atmen, sich besser zu fühlen oder besser zu arbeiten. Das Hilfs-
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prinzip ist schlicht: »Make it count«.1 Mit den Self-Tracking-Technologien werden Körper- und Selbstwahrnehmung zusehends mit Objektivitätsansprüchen überzogen, denn (die digital generierten) »Zahlen signalisieren Unbestreitbarkeit und Objektivität« (Heintz 2007: 80). Mobil generierbare Daten gelten als Schlüssel modernen Selbstbefragens, indem sie die Ansatzstelle von Selbsterkenntnis bilden, die wiederum den Ausgangspunkt einer etwaigen Selbstoptimierung setzt (vgl. Duttweiler 2013: 256). Die gegenwärtig rasante Entwicklung der digitalen »tools of care« (Willems 1995) lebt von der Vision progressiver Risikominimierung (Prävention statt Therapie), kostengünstiger Gesundheitsversorgung und selbstverantwortlicher Patientinnen und Patienten bzw. Kundinnen und Kunden (vgl. Duttweiler 2007). Die reflexiven Techniken sollen den Nutzer oder die Nutzerin animieren, sich einen bewussten Lebensstil anzueignen, sich Gewohnheiten ab- und anzuerziehen oder, im Falle chronisch Kranker, dazu anleiten, eine Therapie auf der Basis von Datenkontrolle selbständig zu verbessern, indem zum Beispiel kontinuierlich Vitalparameter gemessen, medikamentöse Dosierungen berechnet oder auf notwendige Behandlungsschritte hingewiesen wird. Das Konvergenzphänomen Smartphone (vgl. Trottier 2012: 12f.) fungiert dabei als zentrale Datensammelstelle und unterteilt Alltag wie Körper in bearbeitbare Module. Derzeit existieren über 100.000 gesundheits- oder medizinbezogene Apps, die meist noch als Wellness- oder Lifestyleprodukte verhandelt werden. Allein die Menge verdeutlicht, dass das Self-Tracking-Prinzip auf dem Massenmarkt angekommen ist. Unter Begriffen wie »lifelogging«, »quantified self«, »lived informatics« (Rooksby et al. 2014) oder »personal informatics« (Elsden/Kirk 2015) erfährt es zudem zusehends wissenschaftliche Aufmerksamkeit. In der sozialwissenschaftlichen Fokussierung stehen vor allem soziale, politische, subjektbezogene, körperliche und kulturelle Konsequenzen der Nutzung im Vordergrund (vgl. u.a. Lupton 2013a, 2013 b, 2013c, 2014, 2015; Nafus/Sherman 2014; Ruckenstein 2014; Whitson 2013; Jethani 2015; Zillien et al. 2015). Im Folgenden wird die Praxis der Selbstvermessung vordergründig im Kontext Diabetes betrachtet, da das technisch vermittelte Messen biometrischer Kennwerte zur klassischen Indikation der Stoffwechselstörung dient. Diabetes ist ein interessantes Beispiel aus dem Gesundheitssektor, in dem engagierte Patient/-innen selbstverantwortlich körperliche Messdaten produzieren und akkreditieren, und zwar in vielfacher Hinsicht (Bruni/Rizzi 2013: 29): Blutzucker messen, Broteinheiten anpassen, Gemütszustände aufschreiben, Insulinmengen berechnen oder, nach mehr Bewegung als vorausgesehen, rückrechnen. Diesbezüglich wird im vorangestellten Zitat aus einem Interview mit dem 46-jährigen Simon, der seit seiner Kindheit mit der Diagnose Diabetes lebt, die Neuheit des Phänomens Quantified Self relativiert. Seit dem Aufkommen transportabler Blutzuckermessgeräte für den Hausgebrauch Ende der 1960er Jahre überformen Patientinnen und Patienten ihren 1 | Der Sportartikelhersteller Nike bewirbt sein Fitnessarmband mit dem Slogan: »Life is Sport. Make it count«.
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Alltag zusehends mit Zahlenpraktiken. Diabetes wird als »Alltagsmathematik« oder »datengetriebene Krankheit« bezeichnet.2 Jedoch ist die Optimierung durch Rechenpraktiken hier nicht, wie bei den vielen ›freiwilligen‹ Selbstvermesserinnen und vermessern, (›nur‹) eine präventive Problematisierung des Körpers oder der eigenen Produktivität, sondern lebensnotwendige Anforderung, denn der Diabetes kann nicht wie eine App einfach gelöscht werden. Der Messvorgang ist Reaktion auf eine körperliche Problemlage: Die Bauspeicheldrüse produziert kein oder nicht genügend Insulin, um Kohlenhydrate abzubauen. Aber auch das Selbstmanagement von Personen mit Diabetes steht im Zugzwang von Rechenpraktiken, genauer: digitalen Transformationen, und es entsteht ein Markt von Anwendungen, der die »Sorge um sich« (Foucault 1989) in eine Datenrationalität verwandelt. Zum Credo der Selbstsorge-Praktiken wird: »[J]e mehr Daten, desto besser« (Susann, 35 Jahre).3 Auch zeigt meine Beobachtung im Café, dass die Praxis der Selbst- und Körpervermessung sowohl bei Personen mit Diabetes als auch bei lebensstilbezogenen Selbstvermesserinnen und -vermessern von neuen smarten Geräten mitgetragen wird. Deren Benutzung ist von der Hoffnung begleitet, den subjektiven Willen mittels Datenfeedback zu stärken, gleichgültig ob hinsichtlich einer Therapieoptimierung oder mit dem Wunsch, einen bestimmten Lebensbereich zu verbessern. Denn sowohl Kranke als auch Gesunde haben sich unter den Leitbildern des »unternehmerischen« (Bröckling 2007) oder »präventiven Selbst« (Mathar 2011) zu begreifen. Auf einer derartigen Betrachtungsfolie entfalten sich zum Beispiel Diagnosen einer Entgrenzung von Krankheit und Gesundheit (vgl. Viehöver/Welling 2011), einer Medikalisierung der Gesellschaft (u.a. Conrad 1992, 2007; Clarke et al. 2003, 2010) oder einer »lifestylisation of healthcare« (Prainsack/Lucivero 2015), die durch die quantifizierenden Techniken fortgeschrieben werden. An diese einleitenden Anmerkungen zum Verhältnis von Optimierung und Self-Tracking anknüpfend wird der Aufsatz im ersten Schritt (Kap. 2) aufzeigen, wie digitalisierte Selbstvermessung in der Literatur als Spiegel einer neoliberalen Biopolitik betrachtet wird, in der Krankheit zur verfehlten Selbstsorge avanciert und Gesundheit zu einem »way of life« (Sören, 32 Jahre, QS) wird. Anhand der heuristischen Figur des digitalen Gesundheitsunternehmers wird in einem zweiten Schritt (Kap. 3) gezeigt, wie sich Diskurse um präventive Medizin anschließen lassen, die nach dem Leitspruch »Vorbeugen ist besser« (Bröckling 2008) medizinische Realität ordnen. Im sich anschließenden dritten Teil (Kap. 4) wird spezi2 | Beide Ausdrücke tauchten mehrfach in den Narrationen von Menschen mit Diabetes auf. 3 | Interviewauszüge werden im Folgenden mit Namen und Alter gekennzeichnet. Da ich sowohl Personen interviewte, die nicht aufgrund einer Erkrankung, sondern aus anderen Gründen Selbstvermessung (Quantified Self ) betreiben, als auch Personen mit Diabetes interviewte, werde ich erstere mit einem »QS« hinter dem anonymisierten Namen kennzeichnen. Weitere Ausführungen zum methodischen Vorgehen finden sich in Kap. 4.1.
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fisch aufgezeigt, wie die Norm der Digitalisierung und Automatisierung die Blutzuckerkontrolle ergreift und wie sich die Technik dahin gehend wandelt. Massen an spielerischen Diabetes-Apps und neuartigen Aufzeichnungsgeräten werden zu Meilensteinen der Entwicklung deklariert und überschwemmen einen Markt, der zunehmend unübersichtlicher wird. In einem vierten Teil (Kap. 5) werde ich anhand empirisch erhobener Daten illustrieren, wie die durch neuartige digitale Anwendungen gewonnenen numerischen Informationen in der Praxis erfahren, verstanden und übersetzt werden. Wie verschachteln sich also die Funktionen der digitalen Handlungsträger in einem fließenden Alltag mit den praktischen Vollzügen der Selbstvermessung und inwiefern transformieren sie diesen im Kontext Diabetes? Die Argumentationen sind von der Annahme getragen, dass Self-Tracking immer auch eine alltägliche, körperliche, emotionale und leibliche Erfahrung ist, die sich durch die digitalen »Partizipanten des Tuns« (Hirschauer 2004) wandelt. Hier geht die Abhandlung über die Betrachtung eines diskursiven Leitbildes hinaus, denn erst die Reaktion des Nutzerinnen und Nutzer gibt dem Projekt der Designer/-innen einen Körper (vgl. Akrich 1992: 209).
2. D ie digitalisierte G esundheitsunternehmerin – L eitbild und P r a xis einer medik alisierten G esellschaf t Medizinisches Wissen wird omnipräsent verhandelt und hat schon lange die engen Grenzen des Spitals verlassen. Gesundheit ist nicht mehr das Sehnsuchtsziel der Erkrankten, sondern wird zur Angelegenheit, Aufgabe, Herausforderung und Verheißung aller (vgl. Hanses 2010: 90). Zahlreiche medizinkritische Studien haben bereits genau dieses Anwachsen von Gesundheit als »kulturelles Bedürfnis« (Brunnett 2007: 174) wie sozio-kulturell erzeugte und politisch umkämpfte Konstruktion in den Blick genommen (vgl. ebd.: 169; Nettleton 1997; Petersen/Bunton 1997; Petersen/Lupton 1996; Greco 1998, 2009). Gesundheit an sich ist meist unsichtbar, doch ist jeder zugleich immer potentiell krank, denn in allen »schlummern unsichtbare Gefahren, die nur durch komplexe technologische Nachweisverfahren sichtbar gemacht werden können« (Lemke 2003: 3). Dieses Potential zur Krankheit wird seit den 1960er Jahren vor allem in der Psyche verortet, indem soziale Probleme wie alltägliche Belastungen in medizinische Relevanzen übersetzt werden. Mithilfe der Theorie der (Bio-)Medikalisierung (Conrad 1992, 2007; Clarke et al. 2003, 2010), das heißt der Ausweitung biomedizinischen Wissens auf alle Lebensbereiche, inklusive Ernährung, Bewegung, Sport, alltägliche Praktiken wie Schlaf und Erholung, Beziehungen zu anderen etc. (vgl. Lupton 1997: 107; Kickbusch 2006: 35), wurden genau diese Entwicklungen mitsamt ihrer Einbettung in die Ökonomie heuristisch erfasst. Diesem Ansatz folgend kapitalisiert die sogenannte »health society« (Greco 1998) medizinisches Wissen in Form von
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neuen Technologien, Ratgebern, Gesundheits- und Fitnessprogrammen oder kostengünstigen Gentests, wodurch die Grenzen zwischen Medizin und Lifestyle zunehmend verschwimmen (vgl. Prainsack/Lucivero 2015). Gesundheit erscheint als Resultat »des zeitlichen, finanziellen und ideellen Einsatzes«, der darauf abzielt, sie »zu erhalten und zu steigern« (Duttweiler 2007: 122). Somit hat jede Person eigenverantwortlich in ihre individuellen Selbstheilungskräfte zu investieren. In diesem Sinne argumentieren auch die an Foucault anknüpfenden Gouvernementality Studies, die anhand der sozialen, kulturellen und politischen Materialien und Programme der Gesundheitsanrufung genau diese Schwerpunktsetzung auf Selbstbestimmung und Wahl zur Gesundheit betrachten (vgl. u.a. Rose 1990). In einem foucaultschen Theorierahmen sind Gesundheit und Krankheit keine objektiven Kategorien, sondern Produkte gesellschaftspolitischer Aushandlungsprozesse und von regierungslogischen Kalkülen durchsetzt. Damit geht einher, dass »mikropolitische Praktiken, die auf das Individuum abzielen, mit Praktiken verschaltet sind, welche sich auf die Regulierung der Bevölkerung richten« (Brunett 2007: 176). Gerade diesen »Kontaktpunkt, an dem die Form der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstführung verknüpft ist« (Bröckling et al. 2000: 29), begreift Foucault als gouvernementale Regierung. Macht als »Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren« (Foucault 1983: 93), hat in dieser Perspektive immer einen produktiven Aspekt. Sie bringt Subjekte hervor, indem sie bestimmte anerkannte Subjektivierungsstrategien vorgibt, also im gesellschaftlichen Diskurs zirkulierende »implizit oder explizit kreierte Konzepte des Individuums« (Mathar 2011: 30). In einer Gesellschaft, in der Gesundheit zu einem der größten Kostenfaktoren wird, gelten vor allem Selbstbeherrschung, Selbstdisziplinierung und Autonomie als Voraussetzung für eben diese (vgl. Lemke 2000: 39). Als Konzept der Subjektivierung werden diese Leitbilder des Selbstbezugs in Begriffe wie »somatische Individualität« (Rose/Nova 2000), »präventives Selbst« (Mathar 2011) oder »unternehmerisches Selbst« (Bröckling 2007) gefasst. Daran anschließend könnte der/die Self-Tracker/-in in der heuristischen Figur der digitalen Gesundheitsunternehmerin betrachtet werden, die sich in einer Rationalität arrangiert, in der so wenig regieren wie möglich heißt, präventiv zu re(a)gieren und Bürger/-innen dazu zu führen, sich selbst zu führen. Die Produktion von lebensweltlichen und körperlichen Kennzahlen dient demnach »objektiver« Selbstsorge.4 Dieses quantifizierbare Kümmern wird in einem foucaultschen Rahmen zumeist als Technik betrachtet, mittels derer Individuen sich spielerisch der Sehnsucht nach rationaler Selbstoptimierung in Form von Selbstüberwachung, Selbstsorge und Selbstregierung nähern (vgl. u.a. Albrechtslund 2013; Lupton 2013b, 2014; Villa 2012; Ruckenstein 2014; Whitson 2013). Selbstbestimmte 4 | Demgemäß schließt ein Interviewter nicht durch eine Krankheitsdiagnose motivierter Self-Tracker (Thomas, Mitte 30, QS): »Der betriebswirtschaftliche Ansatz, der ein Unternehmen zum Erfolg führt, der kann auch im Privaten, Gesundheitlichen, Sportlichen« helfen.
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»Gesundheit avanciert zur Zentralkategorie gegenwärtiger Selbsttechnologien« (Hanses 2010: 93), das heißt, sie wird zu einem zentralen Ansatzpunkt zielgerichteter, Selbsttransformation und Selbsterkenntnis anstrebender Eingriffe des Individuums in sein eigenes Leben (vgl. Foucault 1988). Dieses Erkennen und Verändern wird auf dem Markt der digitalen und App-basierten Selbstführungen auf numerische Praktiken übertragen. Darin liegt nach Paula-Irene Villa (2013: 69) die Verkörperung sozialer Anerkennungsnormen wie Flexibilität, Mobilität und Selbstmanagement. Technologien des Selbst beziehen sich immer auf »Verfahren und Schemata, die sozial vorgeschlagen, nahegelegt und aufgezwungen werden‹« (Foucault 1985, zit.n. Duttweiler 2013: 249), und gerade Prinzipien des Self-Trackings werden im Gesundheitssektor derzeit permanent in Semantiken der Freiwilligkeit beworben. So wird der Optimierungsgedanke immer tiefer in den Körper getragen. Analog können neben der »digitalen« Selbstvermessung alle möglichen anderen modernen Techniken der Selbstführung – vom Yoga, über das Schreiben eines Weblogs bis hin zur Smoothie-Diät – in diesen gouvernementalen Theorierahmen gesetzt und als Formen der Selbstdisziplinierung austariert werden. Das oben umrissene theoretische Profil ermöglicht es, das Self-Tracking in einem soziokulturellen Rahmen abzubilden, da dieser auf der Basis von spezifisch historischen Wissensformen- und Denkmustern den Selbstbezug des Einzelnen mitstrukturiert. Gleicherweise veranschaulichen figurative »Realfiktionen« (Bröckling 2007: 35f.) wie das »unternehmerische Selbst« (ebd.) – derartige Bezeichnungen lassen sich empirisch nicht direkt aus subjektiven Sinnentwürfen filtern5 –, wie Subjekte in Form von Rollenerwartungen und Anerkennungsnormen, die tief im Fundament gesellschaftlicher Diskurse sitzen, adressiert werden. So ist auch die rhetorische Überzeichnung eines digitalen Gesundheitsunternehmers ein Leitbild für verantwortungsbewusste, sich sorgende Subjekte, wenn er versucht, sich die digitalen Möglichkeiten zum Werkzeug6 zu machen, um das eigene biochemische und emotionale Innenleben vor Risiken zu schützen. Selbstredend sind gewisse gesellschaftliche Anforderungen auch in der modernen Diabetestherapie verankert. Entsprechend beschreibt eine digital engagierte Person mit Diabetes bei einem Diabetes Meetup in Berlin die Krankheit als 5 | Zum Beispiel ist interessant, dass vor allem Interviewte, die sich vom »selfknowledge through numbers«-Prinzip (QS) angezogen fühlten sehr negativ auf den Optimierungsbegriff Bezug nahmen. In der ›Szene‹ wird dieser vielmehr als mediale Anschuldigung gekennzeichnet: »Selbstoptimieren hat einen negativen Touch, Beigeschmack« (Lars, 29 Jahre, QS) oder »in Medienberichten ist eine überwältigende Mehrheit immer extrem negativ. Das hat extrem damit zu tun, dass es auf diese Optimierungssichtweise limitiert wird, und das macht den Leuten halt sehr Angst.« (Timm, 30 Jahre, QS) 6 | Entsprechend sagt Timm (30 Jahre, QS): »Ich glaube, das Zentrale ist wirklich für mich die Fähigkeit, also ich schau eigentlich Tracking als Werkzeug an. Es ist halt ein Werkzeug, das ich benutzen kann, um mich mit relativ großer Zuversichtlichkeit zu verändern, neue Gewohnheiten anzueignen und so weiter.«
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eine Art »test case«. »Iss gesund, sei aktiv, überwache deinen Körper, sei achtsam, reduziere Risiken«, dies seien Formeln für die Selbstsorge aller modernen Individuen. Nur könne die Person mit Diabetes die »Erfolge« direkt messen. Jedoch ist die Frage nach der »Begründung« des Self-Trackings im Kontext Diabetes nicht (nur) eine gesellschafts- und subjekttheoretische, sondern auch eine lebensbedrohliche. Den Blutzucker nicht zu messen, kann schwerwiegende Folgen haben. Diabetes begleitet alle meine Interviewpartner/-innen 24/7 im Gleichschritt. Das Prinzip »make it count« ist dabei im Management der Krankheit strukturell verankert. Personen mit Diabetes sind demnach Experten eines ›vermessenen Alltags‹, nur können sie das Self-Tracking nicht einfach wieder aufgeben, falls es zu lästig wird. Einzig die Entscheidung zwischen analogem und digitalem Messen steht zur Debatte. Wenn hier nun gefragt werden soll, wie sich die praktischen Vollzüge und Routinen des Selbstvermessens im Kontext Diabetes durch die Digitalisierung der Techniken verändern und wie Subjekte dies erleben, bietet sich eine Erweiterung um eine explizite praxistheoretische Perspektive an (vgl. Schatzki et al. 2001). Im Gegensatz zu klassischen Handlungstheorien geht man hier davon aus, dass alltägliche Handlungen keine atomisierten Einheiten sind (vgl. Hirschauer 2004: 73), sondern eben Praktiken, die sich als »temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings« (Schatzki 1996: 89) immer schon ereignen. Praktiken haben als »sayings« also immer eine diskursive Konnotation, da sie Konstituente einer sozialen, kulturellen und historischen Ordnung sind. Im Vollzug, als mit dem Diskurs verwobene »doings«, haben Praktiken immer eine materielle Dimension. Somit werden nichtleibliche Materialitäten als Teilglieder sozialer Prozesse verstanden. Fundament des praktischen Könnens ist dabei der individuelle Körper, der die Praxis auf der Basis von erlerntem Wissen trägt. Praktiken lassen sich demnach als »körperlich verankert[e] und von einem kollektiven impliziten Wissen getragen[e] Verhaltensroutinen« (Reckwitz 2015: 27) verstehen. Die materiellen Dimensionen dieses »doings« lassen sich eindrücklich im Kontext Diabetes veranschaulichen. Eine Bloggerin mit Diabetes schreibt: »Als Diabetiker bleibt einem quasi nichts übrig, als sich tagtäglich zu überlegen, ›was würde die Bauchspeicheldrüse tun?‹ Think like a pancreas.« 7 Doch ist dieses »think like a pancreas« im Kontext Diabetes auf verschiedene Handlungsträger verteilt (vgl. u.a. Rammert/Schulz-Schaeffer 2002). Von Insulin über Pens, Teststreifen, Nadeln, Sensoren, Katheter, Pumpen, Stechhilfen bis zu Traubenzucker sind verschiedenste Materialitäten an der Simulation eines funktionierenden Organs beteiligt. Demnach möchte ich dieses »Think like a pancreas« im Sinne des praxistheoretischen Idioms des »doing« als »doing a pancreas« resignifizieren, da es sich in einem Netzwerk aus soziomateriellen Arrangements vollzieht (vgl. Burri 2008). Zudem ist die Frage, »was würde die Bauchspeicheldrüse 7 | www.blood-sugar-lounge.de/2015/02/warum-diabetes-ueber-einen-finger-piks-hin aus-geht-part-2/ (letzter Zugriff 20.3.2016).
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tun?«, keine, die sich Personen mit Diabetes von Situation zu Situation – sinnbildlich sich an die Schläfe fassend – explizit jedes Mal neu stellen müssen. Ihre Beantwortung beruht auf erfahrenem und erlerntem Wissen. Zwar denkt man, wie Susann (35 Jahre alt) beschreibt, bei einer gedeckten Tafel als Person mit Diabetes nicht zuvörderst »lecker«. Denn »[…] als Diabetiker siehst du diesen Tisch mit Essen und denkst so, ah Kohlenhydrate drin, wie viele sind da drin? Wie viel Gramm sind das jetzt wohl gerade? Wie ist der Blutzucker gerade? Was muss ich spritzen, um das essen zu dürfen?«
Aber dieses numerische »Denken« muss zu einem gewissen Grad auch einverleibt werden, um alltäglich handhabbar zu sein. Natürlich könnte Susann vor jeder Mahlzeit einen langen innerpsychischen Monolog einleiten, einen Ratgeber konsultieren oder stets eine handliche Waage in der Tasche haben, aber vermutlich wären die Mahlzeiten danach entweder kalt oder der Hunger verzogen. Alltagssprachlich übersetzt sprechen viele Interviewte von einem »drin haben«, wenn wir im Gespräch auf die mathematischen Herausforderungen des Diabetesalltags kommen. So erinnert sich die 25-jährige Eva – die erst seit drei Jahren mit der Diagnose Diabetes lebt –, dass sie anfänglich alle ihre Mahlzeiten abgewogen hat und dabei in einen richtigen »Grübelzwang« geriet. Inzwischen habe sie »einen Blick« und habe die »standardmäßige Form aus Essen, Messen und dann Spritzen, mittlerweile drin«. Hingegen verändern sich, wie ich in den nächsten Kapiteln aufzeigen werde, die Routinen des Diabetesalltags mit dem Einzug smarter Technologien. Und ein digitalisiertes »doing a pancreas« lässt sich insofern an die »Realfiktion« des digitalen Gesundheitsunternehmers andocken, als dass die neuen Geräte und Anwendungen die immer penetranter werdende Anrufung zur Therapieoptimierung in den Alltag tragen. Sie sind Mittler zwischen praktischem Vollzug und gegenwärtigen Forderungen nach Selbstmanagement, Eigeninitiative und Wissensakkumulation seitens der Patientinnen und Patienten, die Ausdrücke wie »Patient 2.0« zu skizzieren versuchen (vgl. Danholt et al. 2013). Derartige Leitbilder sind sowohl in den Funktionsauf bau, in die Algorithmen, in die semantischen Skripte der Anwendungen und Techniken als auch in ihre Werbestrategien implementiert. Ein historisch spezifisches »doing a pancreas« ist also immer abhängig von industriellen Innovationen, wissenschaftlicher Forschung, Körpervorstellungen und sozio-kulturellen Bedingungen. Gerade auf dem Gesundheitsmarkt gibt es viele neue Wege der Überwachung, Vermessung und Visualisierung des menschlichen Körpers, die Teil des Phänomens der digitalen Gesundheit sind.8 Im Design dieser neuen Techniken rückt dabei die Reflexion der Patienten in das Zentrum der Empowerment-Agenda (vgl. Storni 2014: 1280). 8 | Sie werden in Begriffen wie »eHealth, mHealth, connected health, pervasive health and Health 2.0« (Lupton 2015: 3) beschrieben.
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Mit Apps, digitalen Patientennetzwerken oder Ähnlichem entsteht also ein neuer, reflexive Selbstsorge bewerbender (Konsum)Markt für den engagierten Patienten. Allerdings, so die hier verfolgte Annahme, gehen mit dem Self-Tracking ebenso auch spezifisch alltägliche, körperliche, leibliche und affektive Erlebnisse einher, denen allein durch eine diskursive Betrachtung nicht ausreichend Rechnung getragen werden kann. Somit wird ein subjektives (Miss)Verstehen, das Erkennen von Vorteilen aus oder Skepsis gegenüber den smarten (Selbstvermessungs) Techniken, erst in der Praxis hervorgebracht (vgl. Hörning 2004: 20), wenn der tatsächliche Vollzug mittels der eigenen Sinnesbezüge erlebt wird. Auf diese Aspekte werde ich, nach einer kurzen Erläuterung einiger digitaler Transformation des diabetischen Netzwerks, eingehen.
3. V on B lut zu D aten – die digitale Tr ansformation eines N e t z werks Diabetes an sich ist unsichtbar und wird häufig nur spürbar, wenn der Blutzucker sehr hoch oder sehr niedrig ist. Die notwendige Kontrolle bedarf einer Aufzeichnungsapparatur, ohne welche Stoffwechselvorgänge nicht sichtbar sind.9 Eine Beunruhigung seitens des Subjekts resultiert zumeist eher daraus, dass die Messergebnisse nicht im erwünschten Normalbereich liegen, und ist weniger als bei vielen anderen chronischen Krankheiten Resultat von Schmerzen. Demgemäß haben Studien im Bereich der Science and Technology Studies (STS) am Fall Diabetes bereits aufgezeigt, dass das Management der Krankheit auf multiple Handlungsträger verteilt ist (vgl. Danholt 2012; Mol 2000; Mol/Law 2004; Bruni/Rizzi 2013; Storni 2014; Fox 2015), die fortlaufend und wechselseitig verschaltet aufeinander einwirken (vgl. Danholt 2012: 2). Indem sie sich auf verschiedene Akteure verteilt, wird die Körperwahrnehmung zu einem distribuierten Prozess (vgl. Mol/ Law 2004: 83f.). In dem so skizzierten Rahmen werden im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie sowohl nichtmaterielle als auch materielle Akteure als Elemente in einem wechselseitigen Netzwerk von Relationen gedacht (vgl. u.a. Callon 1986; Latour 2010). Nadel, Pen, Messgerät, Teststreifen, Traubenzucker gegen Unter9 | Die moderne medizinische Erkenntnisordnung hat das Bestreben, Krankheit spezifisch im Körper zu lokalisieren und zu visualisieren (vgl. Foucault 1993: 153, 207). Krankheiten werden erst seit dem 19. Jahrhundert als im Körper verankert gedacht (vgl. ebd.), wodurch ein Körperbild entstand, welches die Expansion von Prinzipien des strategisch richtigen Gesundheitshandelns vorantrieb. Mit einer genealogischen Perspektive wird es möglich, am Beispiel der Wissensproduktion in der Medizin ›trübe‹ politische Machtfaktoren zu lokalisieren und deren Erkenntnisordnungen als kulturell und historisch variabel zu hinterfragen. Dies eröffnet z.B. eine völlig neue Perspektive auf die Fabrikation von Wissen in der Medizin. Etwa kannte »Blut«, so Theodore M. Porter (2010: 78), keinen »Blutdruck«, bevor Versicherungsunternehmen auf den Einsatz von Blutdruckmessgeräten drängten.
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zuckerung, Batterien, Insulin, Patientinnen, Gewohnheiten, Blutstropfen, Ärzte, Diabetes-Berater etc. bilden seit dem Aufkommen der transportablen Blutzuckermessgeräte das konventionelle Netzwerk im Umgang mit der Stoffwechselstörung. Der selbstständige Patient sollte vier bis sechs Mal am Tag mittels der zur Verfügung gestellten sechs Teststreifen den Blutzucker messen und mit Insulin korrigieren. In der gängigen, intensivierten Blutzuckertherapie wird Basalinsulin (mahlzeitenunabhängig) und Bolusinsulin (mahlzeitenabhängig) verwendet. Die Dosis des letzteren errechnet sich aus einem individuellen Korrekturfaktor, das heißt aus den Einheiten Insulin pro Einheit eingenommener Kohlenhydrate. Seit 1978 gibt es zudem eine Pumpentherapie, bei welcher die Insulinversorgung mittels eines kleinen Geräts gesteuert wird. Das Insulin muss nicht, wie noch bei der Messung mit dem Teststreifen, mehrmals am Tag gespritzt werden, sondern wird über einen Katheter sowie eine programmierbare Pumpe automatisch in den Körper gelenkt. Ziel einer derartigen Therapie ist es, Spätfolgen zu mindern, indem die Tagesschwankungen des Blutzuckers reduziert werden. Viele Patientinnen und Patienten geben an, ihren Hb1c-Wert durch die Pumpentherapie verbessert, also den durchschnittlichen Blutzuckerspiegel gesenkt zu haben, der üblicherweise alle drei bis vier Wochen in der Arztpraxis kontrolliert wird und den einige Blogger/-innen in schulnotenähnliche Skalen übertragen. Zentral für den vorliegenden Aufsatz jedoch sind die zusehends digitalisierten Sequenzen im praktischen Vollzug des »doing a pancreas«. Seitdem die Digitalisierung zum gesellschaftlichen »Überbau« avanciert, transformiert sich das diabetische Netzwerk merklich hinsichtlich der »Werte« Automatisierung und Flexibilisierung. Es existieren deutlich voneinander abweichende Identifikationspraktiken des Glukosegehaltes im Körper. Andere Geräte, andere Stellen auf der Haut und andere Körperflüssigkeiten dienen der Produktion des Messwerts. Aus dem immer wieder zu generierenden Blutstropfen wird der permanente Gewebekontakt, aus dem Teststreifen ein Sensor, aus dem Piksen das Scannen und aus Blutzuckerwerten werden Daten. So ist die derzeit verheißungsvollste Technik auf dem Diabetesmarkt die kontinuierliche Glukosemessung (Cgm). Mit diesem System wird der Gewebezucker10 gemessen, indem ein Sensor am Oberarm platziert wird und die Daten kontinuierlich an einen Empfänger (z.B. ein Smartphone) übermittelt werden. Das System zeigt sich bei anbahnenden Unterzuckerungen oder anderweitigen Schwankungen als aufmerksamer Assistent, indem es einen Alarmton sendet, sodass die Patientinnen und Patienten beispielsweise beim Sinken des Zuckers ihre Insulindosis umdisponieren und sofort mittels zuckriger Nahrung den Blutzuckerspiegel regulieren können. Auf der Basis dynamischer Sichtbarkeiten wie Trendpfeilen sollen Patientinnen und Patienten situativ leichter auf den biochemischen Verlauf reagieren können, um letztlich ihren Hb1c zu verbessern. Das Verhältnis von analoger Blutzuckermessung und Cgm ist dem10 | Da dieser zeitlich verzögerter ist als der Blutzucker, wird noch immer dazu geraten, einmal am Tag im Blut zu messen.
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nach wie das von Bild und Film (vgl. Thurm/Gehr 2013: 259). Die blutige Messung zeigt nur einen punktuellen Wert an und gibt keinerlei Auskunft über den Blutzuckerverlauf. Das Cgm hingegen eröffnet ein bewegtes Bild ohne »schwarze Löcher« (ebd.: 273). Die Datenflut ist jedoch keine anerkannte Kassenleistung und Patienten müssen sich das teure System zumeist selbst anschaffen, was auf eine zunehmende Privatisierung von Selbstsorge hinweist. Auf Facebook entstehen Gruppen wie »Cgm für alle« und Patienten, die das System testeten, verkünden euphorisch auf Blogs: »Es war ein ganz tolles neues Lebensgefühl, immerzu Blutzucker-TV gucken zu können.«11 Die Firma Abbott brachte eine kostengünstigere Variante auf den Markt, den Freestyle Libre. Diese wird medial auch als »Cgm für Arme«12 betitelt.13 Derartige Therapieoptimierung ist zwar mit erheblichen Kosten verbunden, diese werden jedoch von finanziell gut gestellten Personen mit Diabetes anscheinend »gerne« getragen, was in folgendem Vergleich deutlich wird: »Denn wenn wir zum Beispiel einen Urlaub buchen, geben wird doch auch hunderte Euros für ein paar bessere Tage aus.«14 Im Allgemeinen ist eine immense Zunahme von diabetesrelevanten Technologien auf dem digitalen Markt der Möglichkeiten zu beobachten. Es gründen sich unzählige Startup-Unternehmen und zahlreiche Apps für Menschen mit Diabetes wurden in den letzten Jahren designt. Diabetiker werden stets dazu angehalten, ein Tagebuch zu führen und die digitalen Varianten versprechen, dieses Vorhaben zu erleichtern, da man das Smartphone immer dabei habe. Am bekanntesten ist wohl die App mySugr, die mittlerweile als Medizinprodukt aufgeführt ist. Die Firma wirbt damit, spielerisch die Therapiemotivation zu unterstützen, indem wichtige Daten aus dem Diabetes-Alltag dokumentiert werden können. Dafür wurde die Ikonografie eines »Diabetes-Monsters« in die App eingearbeitet, das es in Form von Challenges zu »zähmen« gilt. So können die Nutzer/-innen für jeden Eintrag Punkte erzielen. Weitere Punkte können akkumuliert werden, wenn man sich zum Beispiel drei Mal die Woche dazu motivieren lässt, einer sportlichen Aktivität nachzugehen.15 Evident ist, dass all die Praktiken, die der 11 | www.icaneateverything.com/2014/06/cgm-im-test-dexcom-g4-meinung.html (letzter Zugriff 20.2.1015) 12 | www.blood-sugar-lounge.de/2015/03/kostenuebernahme-fuer-das-freestyle-libreeine-kritische-betrachtung/ (letzter Zugriff 23.6.2015). 13 | Auch hier wird ein Sensor, den eine Bloggerin interessanterweise als »künstliche Bauchspeicheldrüse« bezeichnet, am Oberarm befestigt. Ein zugehöriges Lesegerät zeigt automatisch den aktuellen Gewebezucker an, sobald es in die Nähe des artifiziellen Organs kommt und speichert diesen über acht Stunden ab. Der Sensor hält circa 14 Tage und kostet ungefähr 60 Euro. Die Firma meldete 2015 Lieferengpässe. 14 | www.blood-sugar-lounge.de/2015/05/der-kampf-um-teststreifen-oder-ein-gesund heitspolitischer-exkurs/ (letzter Zugriff 20.7.2015). 15 | Die Beschreibung einer Bloggerin veranschaulicht den Aufbau der App ziemlich präzise: »Natürlich werden alle Daten sorgfältig gespeichert und ausgewertet, so dass my-
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Diabetes-Alltag bedingt, zusehends als Daten reflektiert werden, da sie im mobilen Endgerät als solche repräsentiert werden. Diabetes ist demnach ein interessantes Beispiel auf dem Medizinmarkt, um zu veranschaulichen, wie sich ein medizinisches Netzwerk im Zuge der Digitalisierung des Alltagslebens verändert und die Krankheit insgesamt einer zeitgenössischen Datenrationalität angeglichen wird.
4. »D oing a pancre as « – das D atenfeedback im › lebendigen ‹ A lltag Von der Küchen- bis zur Personenwaage – alltägliche Praktiken sind entlang von Vorgängen wie Schätzen, Zählen, Vergleichen oder Sortieren mathematisch konnotiert. Mengen, Zahlen und Daten begegnen uns allerorts. In der Perspektive der STS und der Praxistheorien sind Messinstrumente nicht bloße Lösungen für bestehende Bedürfnisse, sondern »they have transformative potential in the lives and practices of individuals and of society itself«, wie Mika Pantzar und Elizabeth Shove betonen (2005: 4). Aus dieser Perspektive macht es einen Unterschied, ob die Blutzuckermessung in einem medizinischen Labor oder mit dem Aufkommen der transportablen Blutzuckermessgeräte selbstständig im Wohnzimmer vorgenommen wird. In dieser Rahmung lässt sich anhand empirischer Daten schließlich ermitteln, inwiefern ein von den Normen der Digitalisierung und Automatisierung getragenes numerisches Feedback den Alltag flexibilisiert und problematisiert, da die erweiterte Sichtbarkeit neue Herausforderungen der Eigenverantwortlichkeit schafft (Kap. 4.1). Zweitens (Kap. 4.2) stellt sich die Frage nach dem Erkenntnisgewinn via Daten, wenn Körper- und Selbstwahrnehmung digitalisiert und in einem Datenkörper repräsentiert werden. Zudem wird zugleich deutlich, dass der erratische Charakter von Alltag und Körper (vgl. Mol 2000: 19) nicht stets einem kalkulatorischen Takt angeglichen werden kann. Drittens (Kap. 4.3) möchte ich aufzeigen, dass die numerischen Praktiken die Macht haben, bis in die Tiefen leiblicher und affektiver Empfindungen zu intervenieren. Die dazu herangezogenen empirischen Verweise basieren auf Datenmaterial, das ich im Rahmen meines Promotionsprojekts erhoben habe. Es rekrutiert sich aus Besuchen bei einer Diabetes-Schulung, einer Meetup-Gruppe in Berlin namens Berlin diabetes and digital technology und eines Diabetes-Stammtisches, bei Sugr bei genügend Datenfutter wichtiges Feedback geben kann. In der Übersicht findet man Auskunft über den Durchschnittsblutzucker der letzten sieben Tage, zeigt die Standartabweichung an, wie oft bereits am Tag der Blutzucker getestet wurde, die verdrückten Broteinheiten, das verpulverte Insulin und deine Aktivitätsbilanz. Zudem werden die Werte übersichtlich in einer Grafik angezeigt.« (www.mein-diabetes-blog.com/mit-mysugr-dendiabetes-aufessen-app-nun-auch-in-deutschland-erhaltlich/ [letzter Zugriff 12.6.2015]).
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denen Kontakte für fünfzehn narrative Interviews hergestellt wurden, sowie aus der Analyse von Weblogs, geschrieben von Menschen mit Diabetes Typ 1. Darüber hinaus habe ich Quantified-Self-Meetups besucht und zehn weitere narrative Interviews mit Personen geführt, die sich ohne zwingende medizinische Notwendigkeit, also ohne an Diabetes erkrankt zu sein, als‹ Selbstvermesser/-innen betätigen. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die gewonnenen Narrative und Beobachtungen einer milieuspezifischen Perspektive entstammen, da sowohl (digital) engagierte Menschen mit Diabetes als auch Angehörige des »selfknowledge through numbers«-Prinzips (QS) zumeist einem (akademischen) Mittelschichtsmilieu angehören. Jedoch gestatten diese ›Schrittgeber‹ der Selbstvermessung einen Einblick in eine Praxis, welche in einem Alltag, in dem das Smartphone kaum mehr wegzudenken ist, sukzessive als normal und rational ausgerufen wird. Der Fokus der folgenden Ausführungen liegt jedoch aus analytischen Gründen auf der Praxis des medizinisch indizierten Selbstvermessens.
4.1 Der numerische Alltag – zwischen Flexibilisierung, Entlastung und Problematisierung Seit dem Aufkommen der transportablen Messgeräte bildet die Direktive der Eigenverantwortlichkeit die Klammer zwischen dem Subjekt und dem Stoffwechselfehler. Schon im von Annemarie Mol (2000) analysierten analogen Netzwerk der blutigen Messung wird eine Wechselwirkung von Flexibilisierung und Problematisierung deutlich, die sich im Zuge der Digitalisierung der Sorgetechniken verstärkt. Patientinnen und Patienten haben durch die transportablen Messgeräte deutlich an Autonomie gewonnen, da sie zumeist nur alle drei Monate einen Termin beim Arzt brauchen und die restliche Zeit auf sich gestellt sind. Sie müssen aber auch ihr eigener »Labortechniker« werden und alle notwendigen bio-medizinischen und kalkulativen Kenntnisse erwerben (vgl. Mol 2000: 18), um die Werte alltäglich zu handhaben. Denn »Essen [bedeutet] jedes Mal messen und natürlich auch jedes Mal spritzen« (Susann, 35 Jahre), weshalb sich einige Patientinnen und Patienten für eine Pumpentherapie entschieden haben. Maßstab der technischen Errungenschaften ist stets, die verantwortungsvolle Aufgabe des »doing a pancreas« zu unterstützen. In diesem Dienst standen und stehen sowohl die Insulinpumpe als auch Smartphone-Apps, Cgm-Systeme und Libre-Sensoren, da sie alle gleichermaßen eine engmaschige Selbstkontrolle initiieren sollen, die genauestens und dynamisch zwischen Nahrungsaufnahme, Bewegung und Insulinabgabe vermitteln soll. Wie bei vielen anderen technisierten, digitalen Novitäten liegt das diskursive Erfolgskriterium der kontinuierlichen Zuckermessung zudem in Alltagserleichterungen und Zeitersparnissen. Das Libre-System der Firma Abott wirbt mit einem entsprechenden Bild. Auf einem Flyer ist ein großer MeetingTisch abgebildet, an dem drei Personen sitzen und miteinander interagieren. Eine weibliche Person wird durch das Tragen eines Sensors am Oberarm als Person mit Diabetes manifestiert. Während des Meetings kontrolliert die Dame öffent-
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lich mittels Lesegerät ihren Zuckerhaushalt. Hier wird ein Setting visualisiert, das auch David (Anfang 30) beschreibt, als ich ihn fragte, ob es alltägliche Situationen gäbe, in denen ihn das Kontrollieren seines Stoffwechsels besonders störe. Nachdem mir ad hoc ein »das nervt immer« entgegnet wurde, bekundet er vor allem bei Terminen dadurch belastet zu sein: »Wenn ich Geschäftstermine habe und dasitze und dann dauert das zwei Stunden, der Blutzucker ist vielleicht nicht gut und dann muss man irgendwas tun, unterm Tisch oder auf Toilette oder was auch immer.«
David benutzt zur Zeit unseres Gesprächs neben einer App entschieden keine digitalen Techniken, da für ihn sowohl das Libre als auch das Cgm zu teuer sind. Die Interviewpartner/-innen, die diese Techniken benutzen, betonen jedoch den markanten Aspekt einer immensen Flexibilisierung. Das Scannen am Oberarm oder der Blick auf das Smartphone sind situativ verschlossen, privater und unauffälliger, da kein Hantieren mit Blut notwendig wird. Die kontinuierliche Messung lässt das Finden einer »Zeitkapsel« für das Piksen, Hantieren mit Blut und Warten hinfällig werden. Der Alltag erscheint »vereinfacht«, da Blutzuckermessen als »lästig« gilt und hier muss man nur »mal eben ein Gerät dranhalten« (Annabell, 31 Jahre, über ihr Libre).16 Annabell muss demnach in ihrem stressigen Alltag als Pflegerin keine Gelegenheit mehr für die blutige Messung suchen. Wertvoll wird also, eine Alltagssituation nicht unterbrechen zu müssen. So formuliert eine Bloggerin: »Mein Alltag geht durch das Libre viel schneller und einfach von der Hand. Wir wissen alle, dass das herkömmliche Messen mit dem Fingerstich auch nicht viel Zeit kostet, aber trotz allem muss man dafür kurz seine Arbeit oder was auch immer für eine Aktivität unterbrechen. Das muss nun nicht mehr getan werden.«17
Hier wird vor allem der Punkt Zeitersparnis und das Gefühl von Spontanität als Form der Flexibilisierung reflektiert. Das Scannen (Libre) oder der Blick auf das Smartphone (Cgm) ermöglichen ein flexibleres zeitliches Anschlussgeschehen, da die lebensnotwendige Information binnen weniger Sekunden auf dem Übertragungsmedium erscheint. Die Kommunikation mit dem Stoffwechsel ist auf Dauer gestellt. Auch Erik (28 Jahre), der viel fliegen muss, berichtet, dies nun beruhigter zu können, da er beim Check-in mal eben schauen könne, was »der Blut16 | Zudem muss für die blutige Messung stets eine ›private‹ Situation geschaffen werden, in der kurz ein Blutstropfen entnommen wird. Dazu werden häufig private Räume geschaffen, wenn etwa der Tisch verlassen wird, um auf der Toilette zu spritzen. Im Gegensatz dazu ist das Prinzip ›Scannen‹ in dem Sinne hingegen an sich privat. 17 | http://typ1liveblog.de/libre-oder-flash-hauptsache-messen/ ( letzter Zugriff 18.5. 2016).
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zucker treibt«. Hier deutet sich eine weitere Ebene der Flexibilisierung an, denn die neuen Techniken fangen die Angst vor Unterzuckerungen ab, die vordergründig in der Nacht, beim Sport, Autofahren, Reisen oder stressigen, ungewohnten Situationen besteht. Dieser kann nun mit der Möglichkeit der unbegrenzten Messung sowie dem Alarm bei Schwankungen begegnet werden. Immerhin zahlen die gesetzlichen Krankenkassen durchschnittlich nur sechs Messungen am Tag und mit dem Cgm/Libre erkaufen sich Patientinnen und Patienten genau diese beruhigende Flexibilität via numerischer Kontrolle. Auch der Trendpfeil reduziert situative Komplexität und Angst. Für Linda (38 Jahre), die auf der Arbeit viel zu Fuß gehen muss, ist das Libre vor allem dann »eine riesengroße Hilfe«, wenn sie »zu niedrig ist«, denn der Trendpfeil veranschaulicht, ob der Glukose-Wert »noch weiter sinkt oder am Steigen ist.« Somit sieht sie, ob sie noch schnell etwas essen muss, um durch den hohen Grad an Bewegung nicht in die Gefahr einer Unterzuckerung zu kommen. Anders als das ärztliche Gespräch sind Geräte, denen ein Self-Tracking-Prinzip zugrunde liegt, kontinuierlich zum ›Dialog‹ bereit. Sowohl in den Interviews als auch in den Blogbeiträgen wird die Libre-/Cgm-Technik teilweise als revolutionär gepriesen.18 So schreibt eine Bloggerin über ein CgmSystem: »Mit ihm an der Seite fühle ich mich wie ein neuer Mensch: kraftvoll, gefestigt, sicher, entspannt, behütet.«19 Wenn auch in unterschiedlichen Graden, werden doch beide Systeme der dynamischen Blutzuckermessung als Entscheidungshilfen in konkreten Situationen beschrieben. Kann ich den Sportkurs noch zu Ende machen oder sollte ich kurz unterbrechen und messen? Ist es in Ordnung, wenn ich noch eine Stunde tanze? Kann ich noch weiter spazieren gehen oder sollte ich erst mal was essen? Können wir jetzt Sex haben oder muss ich vorher kurz noch einen Apfel holen, um danach nicht zu unterzuckern? Habe ich jetzt doch mehr gegessen, als ich mit meinem Blick geschätzt habe, oder lasse ich mich spontan noch auf eine Kugel Eis einladen? Zudem scheinen die neuen Geräte die Norm, sich zu sich selbst hinsichtlich der Therapie unternehmerisch zu verhalten und stets lernbereit zu sein, »mitzutragen«, so formuliert eine Bloggerin: »So oft wie ich alleine in den letzten Tagen den Sensor gescannt habe, habe ich gefühlt die letzten Jahre nicht gemessen. Ich bin hochmotiviert und finde es einfach toll, wie einfach sich der Verlauf auf dem Libre darstellen lässt.«20
18 | Andere Interviewte berichteten, das System aus Kostengründen und Gewohnheit nicht anwenden zu wollen. 19 | ht tps://honigsuesses.wordpress.com/2014/07/20/schwer-verliebt _cgm/com ment-page-1/(letzter Zugriff 20.7.2015). 20 | www.dia-beat-this.de/2014/11/uber-spatzunder-und-das-fgm-teil-2.html (let zter Zugriff 20.7.2015).
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Ähnliche Motivationserfolge werden teilweise auch der Tagebuch-App mySugr attestiert. Durch spielerische Konnotation wird dem Monitoring ein »subjektiver Sinn« (Weber 2011: 1) verliehen. So berichtet die 45-jährige Martina, dass die Challenges ein »Ansporn« seien und sie sich manchmal denke: »Ach nee, den Keks verkneife ich mir jetzt, weil ich weiß, der könnte meine Werte jetzt hier in Unordnung bringen, und dann gewinne ich die Challenge nicht.« Einige Interviewte empfanden hingegen die spielerische Monstermetaphorik als unpassend. Je nach Alltag variiert auch das Gefühl der Flexibilität, die ein digitales Tagebuch ermöglicht. So führt die 33-jährige Katja seit mySugr zum ersten Mal ein Tagebuch, da sie zum Beispiel durch die Allgegenwart des Smartphones beim Warten auf den Bus mal schnell das »Frühstück nachtragen« könne. Durch die Speicherfunktion, ein weiterer wiederholt genannter Vorteil, könne man darüber hinaus zum Beispiel schauen, wie viel Insulin man beim letzten Besuch des Lieblingsitalieners berechnet hat, um zu vergleichen, ob man damals mit einem »sauberen Wert rausging« (Martina, 45 Jahre). Das Self-Tracking-Prinzip flexibilisiert für viele Diabetiker/-innen den Alltag und vergrößert zugleich den Körper, indem die Stellschrauben der Verbesserung erweitert und zugleich immer mikroskopischer werden. Mit den dynamischen Kurven entstehen neue Sichtbarkeiten und Problemfelder. Denn nicht nur die Sorge um den Körper erzeugt den Drang nach Informationen, die vielen neuen »Einblicke« generieren auch ihrerseits Sorge. Selbstvermessung wird zu einem stets fortzuführenden Prozess, da Zahlen immer eine Logik des Unabgeschlossenen innehaben. Durch die engmaschige und intensive Blutzuckerkontrolle werden zum Beispiel die Wirkkurven von Insulin und Blutzuckerschwankungen sichtbar. So »bastelt« Martina (45 Jahre) seit der Benutzung des Libre an ihrem morgendlichen »Spritz-Ess-Abstand rum«. Dieser ist dafür gedacht, nach dem Essen einen rasanten Anstieg des Blutzuckerspiegels zu verhindern. Die erweiterte Unabhängigkeit vom medizinischen Rat durch die digitale Selbstvermessung geht mit einer komplexeren Selbstdisziplinierung und Eigenverantwortlichkeit einher (vgl. Mol 2000: 9), wie eine Bloggerin hinsichtlich dieses Abstands verdeutlicht: »Die Routine, der Alltag, der Stress oder einfach die Unlust. All das sind Indikatoren, wieso man genau diesen Abstand dann aber doch nicht einhält. Blöd nur, wenn das oben beschriebene FGM [Libre-System, L.W.] genau das nicht mehr zulässt. Plötzlich sieht man mal, was wirklich erstmal nach dem Essen passiert. Eine wortwörtliche Achterbahnfahrt.«21
Die komplexe Sichtbarkeit macht demnach auch erkennbar, welche empfohlenen Therapieschritte nicht eingehalten wurden. Hier wird deutlich, dass mit den neuen Techniken auch neue Aufmerksamkeitsintensitäten einhergehen. Diesbezüg21 | www.dia-beat-this.de/2014/11/fgm-und-sea-abkur zungen-und-vir tuelles.html (letzter Zugriff 20.7.2015).
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lich verdeutlicht ein anderer Blogger ebenso wie ein Interviewpartner, dass die auf Sorge basierenden Gestaltungspraktiken mit der Benutzung des Libre paradoxerweise einen ansteigenden Zeitaufwand mit sich bringen können: »Trotz der Abweichungen, die ich ja einfach dazu rechnen konnte, scannte ich ständig. Eine richtige Sucht, wenn ihr mich fragt, wenn man einmal damit anfängt.« 22 »Ich habe so einen gewissen, ’ne zwanghafte Kontrollneigung entwickelt, die mich selbst genervt hat. […] Die positiven Effekte waren da, ein besserer HB1c-Wert. Aber es hat zu viel Raum eingenommen. Also wenn ich mich früher vielleicht ein bis anderthalb Stunden am Tag mit dem Diabetes beschäftigt habe, hat sich die Zeit locker verdoppelt.« (Ludwig, Anfang 50)
Dem Leitbild eines digitalen Gesundheitsunternehmers gemäß führt das digitale Self-Tracking sowohl dazu, dass Therapieschritte selbstständig eingeleitet wie eingehalten werden, als auch zu einer zeitlich ausgedehnteren Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper. Ähnlich formuliert Minna Ruckenstein in ihrer Studie über Self-Tracking: »Not surprisingly, the monitoring equipment made people more alert to their bodily reactions and everyday doings.« (Ruckenstein 2014: 75) Die Frage, inwiefern diese Konzentration auf Körper und Alltag sowie die erweiterte Sichtbarkeit im Datenformat zu interpretativen Herausforderungen führen, soll im nächsten Kapitel aufgegriffen werden.
4.2 Den Datenkörper interpretieren? – zur Digitalisierung von Körper- und Selbstwahrnehmung »Wie auch (andere) bildgebende Technologien in der Medizin, produzieren digitale mobile Technologien, die Körperbewegungen und Körperfunktionen messen[,] einen spektakulären Körper, dessen innere Vorgänge simultan angezeigt und sichtbar gemacht werden (vgl. Lupton 2013b: 398).« (Wiedemann 2016: 75) Die neuen Technologien automatisieren und somatisieren zunehmend die Körper- und Selbstwahrnehmung und repräsentieren Alltag als modularisierbare Datenfläche. Wie sich der Zugang zur eigenen Körperlichkeit durch permanentes Self-Tracking verändert, wurde als »Zahlenkörper« (Zillien et al. 2015), »Touch Pad Body« (Christie/Verran 2014) oder »code/body« (Jethani 2015: 34) apostrophiert. Gemein ist diesen Begriffen die Diagnose einer zunehmenden Digitalisierung von Körperwissen und dessen Wiedergabe in Form von Daten. Was Petra Gehring über den aufgrund des Mutterpasses generierten Daten-Körper von Schwangeren sagt, lässt sich auch auf Self-Tracking übertragen:
22 | www.dia-beat-this.de/2014/11/technische-revolution-das-freestylelibre.html (letzter Zugriff 20.7.2015).
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Auch wenn den Daten oft der Kontext fehlt, sie entsinnlicht sind, so Stefan Selke, leisten sie eine Verdopplung der sozialen und körperlichen Welt in Gestalt eines Datenraums (vgl. Selke 2014: 20). Auch Mina Ruckenstein schließt in ihrer Analyse zum Self-Tracking an das Konzept des »data double« an, ursprünglich diskutiert in den Surveillance Studies (vgl. Haggerty/Ericson 2000). Der menschliche Körper wird in Form von Datenströmen abstrahiert und separiert, um dann zum Zwecke seiner Analyse und als Ziel von Interventionen wieder zu Data Doubles zusammengesetzt zu werden. Das Bewerben von Self-Monitoring ermöglicht dabei die Fabrikation privater und persönlicher Data Doubles (vgl. Ruckenstein 2014: 69). Wie bereits verdeutlicht, sind Diabetiker stets dazu angehalten, Daten zu erheben. Aber auch hier produziert der medikalisierte Diskurs eine Logik der Intensivierung – immer mehr Schlüsseldaten wie Gewicht, sportliche Übungen, Blutzuckerwerte und Broteinheiten sollten tagebuchartig digital erfasst werden. Susann (35 Jahre), die sich ausgiebig mit mySugr beschäftigt, betrachtet diese Daten passend als »Kopie von sich selbst in den Zahlen«. In gewisser Weise wird dabei in einer Kultur der Datenrationalität die Krankheit selbst zu einer »digitalen Sache« (Susann, 35 Jahre), die in den Daten stattfindet, wie Susann beschreibt: »Es ist ganz schwer, [Diabetes] als etwas zu betrachten, was in meinem Körper ist, weil ich merke ihn ja nicht. […] [D]ie Blutzuckerwerte, die ich krieg, die visualisieren, was in meinem Körper gerade passiert, also eigentlich findet der eher, ich würde sagen, eher außerhalb von meinem Körper statt, als Datensammlung irgendwie.«
Anhand der benannten Datensammlung und der Visualisierungen, die den Datenkörper produzieren, werden notwendige Therapieschritte eingeleitet. Die engmaschigen Messungen der digitalen Techniken sollen dazu anhalten, wiederkehrende Muster zu erkennen, Fehler zu entdecken und Verhaltensverklärungen auf der Basis von »objektiven Beweisen« abzufedern. Für den Vollzug des »doing a pancreas« wird dabei ein komplexes, numerisches und multifaktorielles (implizites) Denken immer zentraler. So sagte eine Diabetesberaterin auf dem Typ1 Day in Berlin, »man muss mehr nachdenken beim Cgm«. Und auch die sogenannte »Cgm- und Pumpenfibel« (vgl. Thurm/Gehr 2013) rät zu spezifischen Schulungen, da die Systeme die Gefahr von Fehlinterpretationen in sich bergen. Ein solcher Aspekt wird auch von meinen Interviewpartnerinnen und partnern artikuliert, wenn Linda (38 Jahre) zum Beispiel äußert: »Sagen wir mal so: Je mehr Technik du hast, desto mehr musst du dich mit dem Ganzen auseinandersetzen und kümmern.« Zum einen wird hier erneut deutlich, dass mit der Zunahme diabetesrelevanter Technologien auch das Gefühl steigt, sich mehr um die Stoff-
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wechselstörung kümmern zu müssen. Zum anderen weist das Wort »auseinandersetzen« darauf hin, dass Routinen explizit mit biomedizinischen Kenntnissen überzogen werden. Die Komplexität, die mit der Sichtbarkeit korreliert, wird in meinen Interviews häufig an einem ähnlichen Beispiel veranschaulicht: fettiges Essen. Somit ist der Blutzucker zunächst im Normbereich, nachdem man eine Portion Pommes gegessen hat, da die schnell abgebauten Kohlenhydrate richtig ›korrigiert‹ wurden. Allerdings wirken bestimmte Fette erst sehr spät und erhöhen den Blutzucker verzögert, was die Glukosekurve exponentiell steigen lässt. Ohne jenes Wissen hinsichtlich des körperlichen Abbaus dieser Nahrungsgruppe ist es schwierig, den Verlauf der Glukosekurve zu verstehen. Eine punktuelle Auseinandersetzung mit dem Blutzucker ist weniger vielfältig als ein Verlauf in einer dynamischen Kurve, die den Gewebezucker dauerkritisch und automatisch beäugt. Aus mehr Sichtbarkeit resultiert demnach die Notwendigkeit von Kontextwissen, um die Kurven, Trendpfeile und Daten zu verstehen. Die meisten meiner Interviewpartner/-innen haben sich ein breitgefächertes Wissen über ihre Krankheit angeeignet, indem sie Blogs lesen, selbst in derartigen Formaten schreiben, Diabetesstammtische besuchen oder auf Tagungen fahren. Demgemäß räumt David (Anfang 30) ein: »Also man kann damit seine Therapie auch ziemlich gut kaputt machen, äh, weil man nicht weiß, wie man was zu deuten hat, wie ist das mit der Verzögerung etc. Von daher glaube ich schon, dass es anspruchsvoll ist, diese ganzen Sachen richtig zu interpretieren.«
Die Frage nach dem Erkenntnisgewinn wird mit der automatisierten Glukosemessung demnach immer komplexer. Gleichzeitig verdeutlicht David später im Interview, dass »nachgelagertes Interpretieren« eigentlich eine »Arztsache« sei, da er meistens punktuell in der Situation auf seinen Stoffwechsel reagiere. Anhand des beschriebenen Ausbleibens eines »nachgelagerten« Interpretierens, soll hier kurz eine vielfach verhandelte mediale Darstellung der Figur des (meist männlichen) Self-Trackers, die im Zuge des QS-Hypes kursiert, relativiert werden: eine Person, die ihre Daten ähnlich zeitlich intensiv bearbeitet wie die eigene Steuererklärung, um schlussendlich Selbsterkenntnis rückerstattet zu bekommen. Denn wie an anderer Stelle bereits am Fall Quantified Self aufgezeigt (vgl. Wiedemann 2016), ist der Wille, mittels der quantifizierenden Techniken andauernd neue Selbsterkenntnisse zu produzieren, im praktischen Vollzug häufig problematisch, da die Daten schwierig zu interpretieren sind. Mustererkennung und Analyse gelten oft als unbequem und kompliziert. Die Datensammlungen sind da, sie werden registriert, aber es gibt selten diesen Moment, wo sie aufwendig studiert werden. So ging das Engagement mit Daten bei vielen interviewten »freiwilligen« Selbstvermesser/innen und vermessern häufig nicht über bloße Akkumulation hinaus. Dennoch bieten sie eine »kurzfristige Selbstberuhigung« (Duttweiler/Gugutzer 2015: 33)23 23 | www.muk.uni-frankfurt.de/57315560/196? (letzter Zugriff 20.9.2015).
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im Sinne eines: »ich habe etwas für mich getan«. Längerfristig verwendet werden vor allem Anwendungen, die automatisch Daten erheben – wie Schrittzähler oder Schlaftracker – und keiner expliziten Situationsunterbrechung bedürfen. Die Selbst- und Körperbespiegelung soll sich demnach beschleunigt vollziehen. So sagt auch der 28-jährige Erik, der vor 10 Jahren an Diabetes erkrankte: »Manual entry ist einfach ein Dealbreaker für mich.« Dabei bezieht er sich auf Tagebuchapps wie mySugr, die explizit Datenfutter erfragen. Die 33-jährige Katja hingegen, die vor mySugr niemals ein Diabetikertagebuch führte, entwickelt ein Gefühl von Stolz, wenn mySugr ihr im wöchentlichen Report signalisiert, dass sie weniger Unterzuckerungen hatte als in der Woche zuvor. Es ist also kontextualisiert zu betrachten, wann gerade die App-Benutzung zu einer Technologie des Selbst wird, zu einem zielgerichteten Eingriff des Individuums in sein eigenes Leben, um Selbsttransformation anzustreben. Ähnlich wie Duttweiler es für die kommunikative Form der Beratung attestiert, strukturieren die neuen digitalen Möglichkeiten das Feld der Optionen, »doch erst in der situativen und konkreten Auseinandersetzung damit werden die vorgestellten Technologien zu alltagsverändernden und damit subjektkonstituierenden Praktiken« (Duttweiler 2013: 251f.). Die Wirksamkeit einer permanenten Selbstüberwachung spiegelt sich für Menschen mit Diabetes zumeist im diabetischen Langzeitgedächtnis: dem Hb1c. Im Kontext Diabetes ist ein gewisses Maß an Dateninterpretation jedoch immer unumgänglich – der Bezug zum Datenkörper ist viel mehr reaktiv als prospektiv. Vor allem das kontinuierliche Tracken des Gewebezuckers erfordert im Umgang mit den Daten viel Kontextwissen. Für das »doing a pancreas« meiner Interviewpartner/-innen ist dabei zumeist entscheidend, dass die Anforderungen der neuen digitalen Handlungsträger als »praktischer Sinn« (Bourdieu/Waquant 1996) schnell in Fleisch und Blut übergehen können, da der Diabetes 24/7 seine Begleitung aufzwingt. Dennoch schützt routiniertes, implizites Körperwissen ebenso wenig wie biomedizinisches Wissen davor, dass es in den Daten- und Kurvendiskussionen auch immer unbekannte Variablen geben kann: zum Beispiel Alltag und Körper.24 Wie Mol verdeutlicht, müssen Menschen mit Diabetes auch immer akzeptieren, dass Körper und Alltag niemals komplett kalkulierbaren Prinzipien passbar gemacht werden können (vgl. Mol 2000: 18). Unbekanntes Essen, ungewohnte Situationen, Liebeskummer 24 | Selbstverständlich sind praktische Vollzüge an sich keine »gleichförmig aufeinander eingespielten Handlungsroutinen«, sondern sie entstehen »zwischen Beharrung und Neuschöpfung« und »sind immer beides, Wiederholung und Veränderung« (Hörning 2004: 19). Hier geht es jedoch um die Frage, inwiefern immer mitlaufende unbekannte Variablen wie Körper und Alltag die Diskussion der Datenkurven stets irritieren. Dass eine Wiederholung eines Praxisabschnitts an sich nie unter gleichen Bedingungen geschieht, bleibt dabei unhinterfragt.
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oder Stress beeinflussen den Blutzucker immens. Alltag und Körper sind eben keine isolierbaren Laborgrößen. Zudem hat manch einer eben gelegentlich einfach nur Hunger, Durst, ist müde oder möchte gerade Spaß haben, ohne an den Diabetes zu denken. Eine Bloggerin schreibt: »Es gibt schlechte Tage, schlechte Wochen oder Monate, in denen der Diabetes als unberechenbar erscheint.«25 Zwar erhalten Personen mit Diabetes mit der kontinuierlichen Glukosemessung eine Möglichkeit, ihre Krankheit rund um die Uhr zu überwachen. Dennoch »bedeutet [das] keinesfalls, dass es damit automatisch läuft«, wie es auf einem weiteren Diabetesblog formuliert wird.26 Denn die erweiterte Sichtbarkeit ist nicht per se bereits verständlich und der Körper reagiert auf therapeutische Praxiseinheiten nicht wie eine Steuerungszentrale, die immer die gleichen Ursache-WirkungsKetten in Gang setzt. Max (36 Jahre) beschreibt seine Gedanken in Situationen, in denen zum Beispiel ein unerklärlich hoher Glukoselevel auftritt, mit diesen Worten: »[…] [I]ch spritze gerade Wasser.« Auch die 35-jährige Susann sagt im Interview: »Der Körper ist unberechenbar, der macht manchmal Dinge, das versteht man einfach nicht.« Es gibt immer unerklärliche Werte oder schlicht den Wunsch nach einer Pause von der Krankheit. Jedoch führen kontinuierliche Sichtbarkeit und Datenfeedback auch zu der Frage: »Bin ich ein schlechter Diabetiker?«, die im Konflikt mit sich selbst ausgehandelt werden muss.27 Dieser Aspekt verweist darauf, dass Self-Tracking auch stets ein leibliches und affektives Erleben ist, denn Zahlen sind nur vermeintlich objektive Funktionsträger.
4.3 Leiblichkeit und Affektivität des Datenkörpers Der Datenkörper hat immer eine leibliche und affektive Komponente, die gerade im diskursiv kommunizierten Leitbild des digitalen Gesundheitsunternehmers häufig unsichtbar bleiben. Ein rasantes Zahlenfeedback beschleunigt auch stets die Reize. Leiblichkeit soll hier Helmuth Plessner entsprechend verstanden werden. Er beschreibt den menschlichen Körper als durch einen fundamentalen Doppelaspekt geprägt und unterscheidet zwischen »Leib sein« und »Körper haben« (Plessner 1975: 294). »Leib soll dabei die passiv spürende und spürbare Selbstwahrnehmung bezeichnen, Körper die sicht- und tastbare Fremdwahrnehmung sowie die aktive Instrumentalisierung des eigenen Körpers.« (Gugutzer 2008: 183). Leib und Körper werden dabei jedoch immer als aufeinander verwiesen gedacht. Im Anschluss an Plessner verdeutlicht Robert Gugutzer, dass alles Leibliche immer etwas Subjektives hat, wie alles Körperliche auch etwas Objektives ist; 25 | http://wearehoney.org/informiert/alltag/diabetes-blues/ (letzter Zugriff 20.7.2015). 26 | http://diabetes-leben.com/2016/02/wie-mein-diabetes-mein-leben-dochbestimmt-plus-10-optimierungstipps-fuer-die-diabetes-therapie.html (letzter Zugriff 20. 7.2015). 27 | www.mein-diabetes-blog.com/bin-ich-ein-schlechter-diabetiker/ (letzter Zugriff 20.7. 2015).
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so wird ein Armbruch operiert, die Frage des Schmerzes ist jedoch subjektiv (vgl. Gugutzer 2012: 48). Zudem verweist Gugutzer auch auf die oben angesprochene Affektivität: »[So] kennzeichnet den Körper seine teilbare Ausgedehntheit, im Unterschied zu allem Leiblichen, das unteilbar ausgedehnt ist (Schmitz 1965, S. 40ff.). Hände, Arme, Beine oder der Rumpf lassen sich in mehrere Teile zerlegen, bei leiblich-affektiven Regungen wie Angst, Freude, Hunger oder Lust ist dies nicht möglich. Eine halbe Angst, zwei Drittel Freuden, drei Viertel Hunger etc. gibt es nicht.« (Gugutzer 2012: 49)
Diesem Verständnis von Leiblichkeit und Affektivität folgend, ist der Körper einer Person mit Diabetes somit einem (öffentlichen) ihn produzierenden Zahlenspiegel ausgesetzt. Der leibliche Umweltbezug ist hingegen privat, vorsprachlich und nicht in quantitative Einheiten übersetzbar (vgl. Mol/Law 2004: 43). In der Benutzung der Mess- oder Scantechnik wird die Aufmerksamkeit, so Mol (2000: 9), weg von physischen Empfindungen hin auf die Zahlen und Daten gelenkt, die wiederum in das innere Empfinden intervenieren. Dennoch werden Patientinnen und Patienten dazu angehalten, sich im alltäglichen Vermeiden von Unterzuckerungen in leiblicher Selbstwahrnehmung zu üben, um durch die gesteigerte Sensibilität für innere physische Vorgänge eine eventuell sich anbahnende Unterzuckerung rechtzeitig zu ›fühlen‹ (vgl. Mol/Law 2004: 47). Mikroskopische körperliche Vorgänge werden unbewusst stets mit leiblichen Empfindungen abgeglichen, so sagt die 33-jährige Katja: »Ich bin darauf angewiesen, zu merken, was habe ich für einen Schweißausbruch an den Fingern oder wie kribbelt meine Zunge oder meine Finger, das ist, glaube ich, einfach so was Automatisches, es ist drin im Kopf.«
Weitere Zeichen für Unterzuckerungen sind meinen Interviewpartnerinnen und partnern gemäß »weiche Knie«, »das Gefühl von Betrunkenheit«, »Augenblitze und Wortfindungsstörungen«, ein »flaues Gefühl im Magen« oder »komische Müdigkeit«. Allerdings können die miniaturisierten Apparaturen dazu beitragen, die physische Selbstwahrnehmung zu verbessern. Sie helfen, das subjektive Empfinden mit den Messergebnissen abzustimmen (vgl. Mol 2000: 19), da diese schwer zu versprachlichenden Empfindungen mit Hilfe der Apparate in einem medizinischen Einordnungssystem verortet und klassifiziert werden können. Insgesamt haben die personalisierten medizinischen Aufzeichnungssysteme demnach das Potenzial, das Gefühl von Wohlsein zu (re)definieren (vgl. Pantzar/Shove: 2005: 5). Gerade hinsichtlich der Angst vor Unterzuckerungen stehen Leib, Körper und Messgerät in einem komplexen Übertragungsverhältnis. Einerseits schaffe das leibliche »Sich-lesen-Können« ein »bisschen Freiheit«, indem man nicht so sehr »auf das [transportable] Messgerät angewiesen« (Katja, 33 Jah-
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re) sei. Andererseits gebe es »Sicherheit«, wenn zum Beispiel das Feingefühl für Unterzuckerungen nachlässt. Der Leib ist stets Wahrnehmungs- und Handlungszentrum und der Datenkörper erscheint zumeist in der Krise, denn viele Menschen mit Diabetes entwickeln, wenn sie unsicher sind, das Bedürfnis zu messen, ob ihr »Körpergefühl stimmt« (David, Anfang 30). Jedoch misst David auch noch mittels des analogen Netzwerks der Blutzuckerkontrolle und entscheidet, in welcher Situation er seinen Blutzucker in Erfahrung bringt. Ähnliches gilt auch für das Libre-System, bei dem ebenso noch ein Gerät an einen Sensor gehalten werden muss. Das Cgm stellt die Krise des Körpers und damit den Datenkörper auf Dauer. Jedoch können sich nur die wenigsten Personen mit Diabetes diese ›dauerhafte Krise‹ leisten, denn es ist keine Kassenleistung.28 Trotzdem bleibt die Frage, wie sich der leibliche Bezug zum Datenkörper verändert, wenn die Blutzuckermessung auf Dauer kontinuierlich stattfindet und das Feingefühl dauerhaft mit Daten konfrontiert wird. Obwohl dieser Fragestellung mittels narrativer Arrangements nur schwer nachzugehen ist, lässt sich zumindest eine beidseitige Verwachsenheit von Leib und Datenkörper ausmachen. Für einen Blogger zum Beispiel scheint das subjektive Gefühl für den Blutzucker mit der kontinuierlichen Messung abzunehmen: »Trotzdem macht mir diese Sucht nach dem Scannen auch ein bisschen Angst. Einfach aus dem Grund, dass es irgendwie blind für die Signale des Körpers macht. Ich habe ein hervorragendes Gefühl für meine Blutzuckerwerte. Aber seit ich meine Werte jetzt mit dem FGM messe und dadurch immer weiß, wo ich mich befinde, von wo ich komme, fühle ich mich ein bisschen wie beim Autofahren mit Navi. Man verlässt sich komplett auf das, was einem angezeigt bzw. gesagt wird und achtet selber nicht mehr so genau auf den Verkehr beziehungsweise in diesem Fall auf die Signale des Körpers.«29
Susann (35 Jahre) wiederum meint, durch die Benutzung eines Cgm den Abgleich von subjektivem Gefühl und »objektiver« Messung »geschult« zu haben: »Das kann ich durch das Cgm noch besser als vorher, weil du im Cgm durch diese Kurven und vor allem durch diese Trendpfeile, die du im Cgm hast, lernst du ganz viel über deinen Körper, und wenn du zum Beispiel einen Blutzucker von 120 ist ein ganz normaler Wert. Ich habe das ein paar Mal gehabt, dass ich bei 120 irgendwie, ähm, so Anzeichen von einer Unterzuckerung hatte. Das Cgm hat dann auch tatsächlich gesagt, der Blutzucker nimmt
28 | Unter meinen 15 Interviewpartner/-innen haben nur drei das Cgm-System bis dato erworben oder getestet. Sieben andere Gesprächspartner haben das Libre-System erprobt oder gekauft. Die anderen fünf äußerten entweder Nichtwissen, Desinteresse oder empfanden die Anschaffung des sogenannten »CGM für Arme« immer noch als zu teuer. 29 | www.dia-beat-this.de/2014/11/uber-spatzunder-und-das-fgm-teil-2.html (letzter Zugriff 20.7.2015).
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Lisa Wiedemann ganz stark ab, und dadurch hat sich der Vergleich vom Gefühl mit dem Cgm ganz stark das Gefühl verbessert für hohe und tiefe Werte.«
Hier wird deutlich, dass das Leitbild eines digitalen Gesundheitsunternehmers, das über die neuen digitalen Monitoring-Anwendungen in den praktischen Alltagsvollzug der Subjekte transportiert wird, die Macht hat, den leiblichen Weltbezug gleichzeitig zu verstärken wie auch zu schwächen. Denn Individuen sind in der »paradoxe[n] Situation, zugleich Subjekt und Objekt der Kontrolle und Überwachung zu sein« (Schroer 2005: 19). Daran lässt sich eine weitere Beobachtung anknüpfen, die verdeutlicht, dass Menschen mit Diabetes einen affektiven und damit leiblichen Bezug zum Datenkörper auf bauen. Bei einem Vortrag auf einem Meetup in Berlin wurde diskutiert, warum es eine Herausforderung sei, dauerhaft eine digitale Tagebuch-App zu verwenden, um sich in einem umfangreichen Self-Tracking zu engagieren. So sagte Simon (49 Jahre) zum Beispiel: »It makes me more stress« und »it makes me feel guilty«. Damit spricht er an, dass die vielen auf dem Markt erhältlichen Apps ein breitgefächertes Einspeisen von Alltagsgrößen nicht nur passiv erwarten, sondern gleichsam aktiv einfordern. Durch das blinkende Smartphone und die um Daten bittende App wird der Leib dauerhaft für Ansprachen sensibilisiert (vgl. Lindemann 2015: 19). Begreift man mit Herrmann Schmitz (vgl. u.a. 1985, 1992, 2007) eine räumliche Verfasstheit zwischen Enge und Weite als ein grundlegendes Strukturmerkmal des Leibes, so kann gerade der akribische Selbstbezug im Datenformat zu eben jenem Gefühl der Enge führen: »Die Engung überwiegt zum Beispiel bei Schreck, Angst, Schmerz, gespannter Aufmerksamkeit, Beklommenheit, Hunger, dumpfem Zumutesein, die Weitung etwa dann, wenn es uns weit ums Herz wird, in tiefer Entspannung, bei Freude, die hüpfen lässt, in Stimmungen schwerelosen Schwebens, beim Einschlafen, beim Dösen in der Sonne, in der Wollust und wohligen Müdigkeit.« (Schmitz 1985: 82, zit.n. Gugutzer 2002: 150)
Die Zahlen wirken auf das leibliche und affektive Empfinden zurück und können einerseits die hier beschriebene Engung hervorrufen. Andererseits können sie, wie bereits ausgeführt, auch zum Gefühl der Entspannung und Erleichterung führen. Diese Doppeldeutigkeit soll abschließend nochmals in den Fokus gerückt werden.
5. S elf -Tr acking auf »M essers S chneide « Im Fall von Typ-1-Diabetes ist der Verlauf der Erkrankung aufgrund der minimalen Symptomatik davon abhängig, ob es gelingt, die Patientinnen und Patienten dazu anzuleiten, sich nach den Leitbildern eines (digitalen) Gesundheitsunternehmers selbst zu führen, indem sie sich das notwendige biomedizinische Wissen aneignen, um der Komplexität der Krankheit gerecht zu werden. Es muss also
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diskursiv ein präventives Problembewusstsein geschaffen werden, um den Willen zur ›Datenoptimierung‹ zu initiieren. Dieses wird in der digitalisierten Variante einer Kultur der generalisierten Kalkulation (vgl. Vormbusch: 2012) über die neuen sensorischen Möglichkeiten in den Alltag getragen. Die smarten Technologien sind demnach moderne »Transportmittel« (vgl. Passoth 2010: 8) des gesellschaftlichen Aufrufs nach Selbst- und Körperoptimierung. Aber diese konstante Optimierung ist auf der Ebene des praktischen Vollzugs, wie die 35-jährige Susann im Interview formuliert, immer »auf Messers Schneide«: »Ich denke immer, desto mehr Daten, desto besser, desto mehr Information kann ich rausziehen. Aber desto mehr Daten kann auch bedeuten, dass man sich zu sehr reinsteigert, irgendwie.«
Die empirischen Bezüge haben aufgezeigt, dass die smarten Techniken und Anwendungen einerseits situativ Flexibilität ermöglichen: Es muss keine Situation mehr für die Messung unterbrochen werden; die Angst vor Unter- oder Überzuckerungen wird abgefedert; durch kontinuierliche Dialogbereitschaft werden alltägliche Entscheidungsgewalten mitgetragen und sie motivieren dazu, sich mit der eigenen Therapie hinsichtlich therapeutischer Erwartungen zu befassen. Wenn Praxisanteile auf ein komplexes Netzwerk von Handlungsträgern verteilt werden können, erscheint das »doing a pancreas« vereinfacht (vgl. u.a. Rammert/SchulzSchaeffer 2002), da die erweiterte Sichtbarkeit auf dieser Seite zu Entlastung und Flexibilisierung führt. Anderseits markiert der Terminus »hineinsteigern«, dass das kontinuierliche Feedback auch zu intensivierter Fokussierung führt. Ohne Zweifel wird diese andächtige Konzentration auf den Datenkörper häufig auch von Therapieerfolgen und verbesserten Langzeitwerten begleitet. Gleichwohl schärft sich an dieser Stelle »Messers Schneide«. So wurde deutlich, dass eine verbesserte Selbstwahrnehmung auch immer zu gesteigerter Selbstproblematisierung führt (vgl. Selke 2014: 94), denn neue Informationen erzeugen wiederum neue Sorgen. Zahlenpraktiken haben stets die Macht, Realität zu repräsentieren und zu redefinieren. Auf der Ebene des praktischen Vollzugs bleibt demnach immer auch die Frage, welcher Alltag und welcher leibliche und affektive Selbstbezug dafür gemacht sind, die Effekte des kontinuierlichen Datenfeedbacks ›auszuhalten‹. Die Klinge ›trennt‹ den praktischen Vollzug in Kontexte, die stark von der Digitalisierung profitieren, und andere, die aufgrund der Sichtbarkeit von einem schlechten Gewissen überzogen werden und komplexem biomedizinischem Wissen unterliegen. Diese Kontextualisierung erinnert an zwei entgegenlaufende Logiken, die Mol (2008) in der Studie The Logic of Care anhand von Diabetes in Bezug auf zeitgenössische Pflegepraktiken diagnostiziert. Die erste ist die »logic of care«, welche an der »Fleischlichkeit« und Fragilität des Alltags ansetzt (vgl. ebd.: 13). Sie ist stets interaktiv und von Brüchen gekennzeichnet. Entsprechend zeigten die empirischen Ergebnisse auch hier, dass Alltag und Körper keine isolierbaren Größen sind. Dass nicht jedes »Körperereignis« in Daten aufgeschlüsselt werden kann, darf der
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medizinische Diskurs um Eigenverantwortung nach Mol und Law jedoch gerade nicht ignorieren (Mol/Law 2004: 14). Der »logic of care« steht die »logic of choice« gegenüber, ein Ideal der rationalen Entscheidungsmöglichkeit, das den modernen Gesundheitsmarkt beherrscht. Die Entscheidungsoptionen werden dabei immer vielfältiger und komplizierter, wenn immer mehr »technische Dinge« in »immer neuen Schüben in den Alltag drängen« und die »durchreglementierten Räume« (Hörning 2001: 31) irritieren. Auf dem Typ 1 Day in Berlin wurde deutlich, dass der Diabetesmarkt mit den Self-Tracking-Prinzipien immer komplexer und undurchsichtiger wird. In dieser Hinsicht beschreibt die 27-jährige Ada beispielhaft in unserem Gespräch, dass sie eigentlich gerne eine Pumpe tragen würde, jedoch die Vielzahl an Geräten eine Entscheidung für das Instrument, das zu ihr »passt«, erschwert. Die Möglichkeitsexplosion ist nur mittels der Setzung »individueller Kriterien« zu bewältigen, die wiederum den Entscheidungsprozess verzweigen. Zudem macht Mol deutlich, dass Patienten nur selten rationale Entscheidungssubjekte sind, da das Selbstmanagement in einem erratischen Alltag häufig zur Herausforderung wird. Darüber hinaus ist die Entscheidungsgewalt auf basaler Ebene häufig abhängig von den individuellen sozioökonomischen Bedingungen – nicht jeder kann sich ein Cgm oder Libre-System leisten oder hat die Beharrlichkeit, diese technischen Anschaffungen mit der Krankenkasse zu verhandeln. Doch sind die hier geleisteten Erkundungen der Praxis des medizinisch indizierten Selbstvermessens auf die gegenwärtige Kultur übertragbar, die sich zusehends nach technisch vermittelter Objektivität sehnt? Die Blutzuckererkundung ist für Personen mit Diabetes eindeutig eine Reaktion auf eine lebensbedrohliche Problemlage und steht nicht nur im Licht von Selbstberuhigung, Selbstbespaßung, Selbstoptimierung oder einer ganz eigenen Lust am puren Datensammeln. Dieser Aspekt der Kontextualisierung ist gerade für eine wissenschaftliche Beleuchtung des Phänomens Self-Tracking wichtig. Dennoch zeichnet sich ab, dass Self-Tracking nicht nur eine Frage zwischen Müssen und Können bleibt. Die biopolitische Anrufung, als digitale Gesundheitsunternehmerin zu agieren, hat mit dem Smartphone einen neuen Durchbruch erfahren. Es entstehen immer mehr digitale Maschinen des Selbstbezugs, die auf der Basis von Automatisierung Optimierungserfolge einleiten sollen. Damit verbreitet sich die Norm, das Gewohnte und Gewollte mit einer digitalen Notiz zu versehen. Zunehmend schaffen Versicherungen gesamtgesellschaftliche Relevanzen, indem sie Self-Tracking zu einem Teil ihres Bonusprogramms umfunktionieren. Zudem sind Health Apps auf dem neu gekauften Smartphone vorprogrammiert und viele der Geräte zählen automatisch Schritte. Wenn die Repräsentation des Körpers durch digitale Daten zunimmt, Individuen zusehends somatisch ihre Handlungen reflektieren, wird in gewisser Weise auch die Realität chronisch Kranker entgrenzt: Sie ist anders und ähnlich zugleich. Dichtere Beschreibungen einer Abstimmung von Körper- und Selbstwahrnehmung mit den neuen sensorischen (Ein)Blicken werden sich zeigen. Wie der »Panoramablick« in Schievelbuschs Studie über die Eisenbahn (2000) mit der Veralltäglichung dieser technisierten Fortbewegungsart erst
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sukzessiv eingeübt werden musste, so bleibt teilweise offen, ob und inwiefern der dauerkritische Blick der smarten Technologien und Anwendungen sich milieuübergreifend durchsetzt und die kultur- und historisch spezifischen »Wahrnehmungskompetenzen« (Prinz 2015: 8) langfristig transformiert.
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Der vermessene Schlaf Quantified Self in der Spannung von Disziplinierung und Emanzipation Stefan Meißner
Unser Schlaf ist seit Beginn der Schlafforschung am Anfang des 20. Jahrhunderts immer schon ein vermessener Schlaf. In der Gegenwart, insbesondere unter dem Vorzeichen von Quantified Self (QS), wird diese wissenschaftliche Vermessung zu einer lebensweltlichen und für einige gar zu einer tagtäglich ausgeführten Praxis. Ob sich dabei auch vermessen wird, soll hier nicht Thema sein. Auch soll der kulturkritische Gestus, der die Selbstvermessung unter anderem des Schlafs selbst schon als vermessen beschreibt und meint, man solle den Schlaf besser in Ruhe lassen, um gut schlafen zu können, nicht nachvollzogen werden. Ziel ist es vielmehr, am Beispiel der Vermessung des eigenen Schlafs einen unvoreingenommenen Blick auf die Selbstvermessungspraktiken zu werfen, der nicht schon vorentschieden von einer durch Selbstoptimierung vorangetriebenen Ökonomisierung des Sozialen ausgeht. Dafür werden zunächst zwei Kulturkritiken referiert, die in eben jener Ökonomisierung des Sozialen ihren gegenwartsdiagnostischen Angelpunkt besitzen. Beispielhaft wird zum einen die Argumentation von Jonathan Crary referiert, der die Gegenwart als eine 24/7-Gesellschaft beschreibt, die den ›natürlichen‹ Schlaf abzuschaffen gedenkt, und zum anderen wird der Diskurs zu Quantified Self im Feuilleton dargestellt (Kap. 1). Im Anschluss wird die dabei aufgerufene Beschreibung einer Gesellschaft der permanenten Selbstoptimierung mit theoretischen Mitteln analysiert und die begriffliche Unterscheidung von Selbsteffektivierung und Selbststeigerung eingeführt (Kap. 2). Danach wird in die Geschichte der Schlafforschung eingeführt (Kap. 3), um schließlich im letzten Teil die Selbstvermessungen des Schlafs zu analysieren (Kap. 4).
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1. K ulturkritiken für eine V erteidigung von S chl af und S elbst Für Crary (2014: 27) entsteht die bürgerliche Gesellschaft durch den geschützten Schlaf.1 Ferdinand Lasalle, bekanntlich einer ihrer Kritiker, unterstützt diese These, indem er das liberale Staatsverständnis abschätzig als »Nachtwächterstaat« (Lassalle 1919) bezeichnete, da es dem Staat vorrangig darum ginge, die Bürger vor »Raub und Einbruch« zu schützen. Crary argumentiert nun vor diesem Hintergrund, dass die gegenwärtige Gesellschaft einen besser auf die ökonomischen Verhältnisse der Zeit eingestellten Menschen schaffe. Deren Hauptcharakteristikum besteht für ihn – wie der Titel des Buches 24/7 schon nahelegt – darin, »rund um die Uhr zu arbeiten oder einzukaufen« (Crary 2014: 11). Die 24/7-Gesellschaft setzt er so von der bürgerlichen Gesellschaft ab und beschreibt sie ihr gegenüber als »ein nichtsoziales Modell mechanischen Funktionierens, eine Aufhebung des Lebendigen« (ebd.: 15), das die »rhythmischen Periodisierungen des menschlichen Lebens« (ebd.: 14) verleugne. Man werde – wie der Titel des Buchs pointiert – im gegenwärtigen Spätkapitalismus regelrecht schlaflos gemacht. Die einzig (noch) verbliebene Bastion des Entzugs aus dieser Welt stellt für ihn somit der Schlaf dar (vgl. ebd.: 65), der jedoch zunehmend funktionalisiert und optimiert (vgl. ebd.: 16) und dadurch seiner Natürlichkeit entrissen werde: »Alle fortbestehenden Begriffe von Schlaf als etwas Natürlichem werden inakzeptabel. […] Schlaf ist [...] heute eine Erfahrung, die nicht mehr als eine Naturnotwendigkeit gilt.« (Ebd.: 18) Diese kulturkritische Argumentation stellt den Schlaf als »aufgeschobene, unproduktive Zeit des Wartens« (ebd.: 103) unserer spätkapitalistischen Gegenwart gegenüber. Denn Schlaf konterkariert in seiner prinzipiellen Unverfügbarkeit die gegenwärtigen Überwindungsanstrengungen sämtlicher Unterbrechungen und jeder Art des Innehaltens aufgrund der permanenten Verfügbarkeit der Dinge (vgl. ebd.: 75f.). Dennoch scheint Crary am Ende nicht sicher, ob selbst dieser der spätkapitalistischen Menschenformung etwas Substanzielles entgegenzusetzen vermag, da das Individuum »immer mehr zu einer Anwendung neuer Kontrollsysteme und -vorhaben« (ebd.: 41f.; Herv. im Orig.) werden würde. Explizit aufgerufen wird damit die These eines Wandels von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft (vgl. Deleuze 1993), nur »dass die Strukturen der Disziplinarmacht nicht, wie behauptet, verschwunden sind oder verdrängt wurden. Stattdessen entwickelten sich die Formen beständiger Kontrolle, die er [Deleuze, S.M.] beschreibt, zu einer zusätz1 | Von Crary (2014) wird ein expliziter Bezug zu Hobbes hergestellt und später wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns im Schlaf »ob bewusst oder nicht, der Fürsorge anderer überlassen« (ebd.: 104). Ein direkter Verweis auf die Schutzbedürftigkeit des Schlafs konnte in Hobbes Leviathan (1992) jedoch nicht gefunden werden. Dennoch spricht einiges für Crarys These.
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lichen Ebene der Regulation neben nach wie vor funktionierenden, sogar ausgeweiteten Disziplinarstrukturen« (Crary 2014: 63). In dieser so charakterisierten Gegenwartsgesellschaft werde das Spektrum sozialer Verhaltensweisen stark eingeengt: »[V]iele altbewährte, multivalente Formen des sozialen Austauschs [sind] zu gewohnheitsmäßigen Reiz-Reaktions-Abfolgen geworden. Gleichzeitig verformelt sich das Spektrum möglicher Reaktionen.« (Ebd.: 53f.) »Wer nett ist, ist ›unkompliziert‹, im Unterschied zur Vorstellung von einer bestimmten Form, wie sie im Begriff der ›Konformität‹ enthalten ist. Abweichungen werden geglättet oder ausgelöscht, so dass etwas entsteht, was ›weder störend noch stärkend‹ ist.« (Ebd.: 51f.) Etwas zugespitzt kann daher zusammengefasst werden: Der Mensch werde in der Gegenwart nicht nur gesellschaftlich diszipliniert, sondern zugleich im Spätkapitalismus permanent überwacht und kontrolliert, welches zu einem Schwund ehemals reichhaltiger und vielfältiger sozialer Verhaltensweisen führe, da nur so die Einpassung des Menschen an die omnipräsenten, spätkapitalistischen Kontrollsysteme ermöglicht werden könne. Eine strukturell ähnliche – nämlich ebenfalls kulturkritische – Argumentation findet sich in der Beschreibung des Phänomens Quantified Self. Die Motivation zu und die Praxis der Selbstvermessung wird im Feuilleton zumeist argwöhnisch betrachtet.2 Die Schriftstellerin Juli Zeh war – durch ihre Auseinandersetzung mit dem Thema in ihrem Roman Corpus delicti – eine der ersten Kritiker: »Den Selbstvermessern geht es um Optimierung. Sie wollen die erfassten Daten nutzen, um ihre Gesundheit, Fitness und Leistungsfähigkeit so weit wie möglich zu steigern.« (Zeh 2012) Ihnen gehe es »um die Illusion, mit totaler Selbstkontrolle Herr über das eigene Schicksal werden zu können. Selbstermächtigung durch Selbstversklavung« (ebd.). Durch die Selbstvermessung werde der Mensch zudem für andere Instanzen selegierbar: »Die Verwandlung eines Lebewesens in Zahlenkolonnen macht den Menschen zum Objekt und läuft damit automatisch Gefahr, Fremdherrschaft zu begründen.« (Ebd.) Der kulturkritische Ton wird von den Kommentatoren des Artikels auf der Website des Tagesanzeigers gut verstanden. So pflichtet ihr Markus Stutz bei: »Ein wahrlich tolles Leben, sich nur noch mit sich selber zu beschäftigen. Kein Wunder, geht jegliches soziale Gespühr [sic!] und die Solidarität mit andern verloren. Was für eine erbärmliche Gesellschaft.« (Onlinekommentar zum Artikel [ebd.]) 2 | Dies wird auch von Kucklick (2016: 48) so gesehen. Er fasst die drei zentralen Kritiken an QS damit zusammen, dass sich »die Selbstvermesser [...] dem Diktat der Selbstoptimierung unterwerfen« würden, dass sie sich »den Maschinen [ergäben] und [...] so ihre Menschlichkeit [entwürdigten]«, und schließlich, dass sie im Versuch, das »Unmessbare zu messen«, einer »Illusion auf den Leim« gingen. Diese Kritik an QS würde jedoch übersehen, dass es den Protagonisten nicht darum geht, etwas »über alle Menschen oder über den Menschen« zu erfahren, »sondern nur über sich selbst« (ebd.: 49, Herv. im Orig.).
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Wie die 24/7-Gesellschaft von Crary, wird auch hier eine Gesellschaft, die Quantified Self praktiziert, abgestraft. Der Tenor ist insgesamt skeptisch, insbesondere weil Quantified Self mit Selbstoptimierung gleichgesetzt wird: »Das Quantified Self, das ›vermessene Ich‹ ist der Weg, das Ziel die Selbstoptimierung, die Ego-Verbesserung.« (Werle 2014) Im Endeffekt würde QS zwar fit halten und leistungsbereit machen, die Selbstvermessung »setzt uns aber dem ständigen Druck aus, uns gegenüber anderen zu verbessern. Wie oft bei sozialen Medien ist die Zugehörigkeit zu einer Gruppe nur scheinbar, in Wahrheit treten die Trainingsbuddies schnell in Konkurrenz um den besten Trainingsplan. Wir vereinsamen durch unsere obsessive Selbstbeobachtung.« (Finkeldey 2015) »Egal was die jeweilige App misst: Alle Quantified-Self-Anwendungen basieren auf der Idee, wonach sich mehr anstrengt, wer beobachtet wird – und sei es nur durch sich selbst.« (Werle 2014) Auch wenn die Protagonisten und Befürworter von QS die negativen Folgen der Selbstvermessung nicht in dieser Weise einschätzen, begreifen sie selbst ihre Praktiken ebenso als Selbstoptimierung. Sie sagen: Mehr Wissen über seinen Körper und die eigene Leistungsfähigkeit könne per se nicht schaden, sondern vielmehr den Selbstvermesser über ihm bisher verborgene Zusammenhänge und damit über sich selbst aufklären. Das datengetriebene Verhältnis zu seinen Gewohnheiten, Leistungen und Körperfunktionen könne so zu einem gesunderen, leichteren und dadurch besseren Leben motivieren (vgl. Schumacher 2012; Grasse 2012; Schultz 2014). Diese nur kursorische Gegenüberstellung macht deutlich, dass trotz verschiedener Positionen eine generelle Gleichsetzung von Selbstvermessung und Selbstoptimierung vollzogen wird, wenn auch die Beurteilung dieser Selbstoptimierung kontrovers bleibt. Bevor dieser Befund noch etwas weiter verfolgt werden soll, müssen zwei Einschränkungen der folgenden Argumentation genannt werden: Zum einen beschäftigt sich der Aufsatz im Folgenden nicht damit, dass die Daten auf spezielle Plattformen hochgeladen werden, um sich mit anderen Nutzern und deren Daten vergleichen zu können. Der Vergleich – oft im Zusammenhang mit dem Phänomen der Gamification (vgl. Meißner 2012) diskutiert – kann zu einer Wettbewerbslogik führen, die die Sachdimension (Optimierung) zugunsten der Sozialdimension (Konkurrenz) vernachlässigt. Wenn dieses Argument stark gemacht wird, scheint eine negative Einschätzung des Phänomens naheliegend (vgl. Morozov 2013: 377-444). Zum anderen wird auch nicht auf die damit zusammenhängenden Horrorszenarien einer Gesundheitsdiktatur (vgl. Laaf 2012) eingegangen, die auf der Annahme beruhen, dass Selbstvermessung insbesondere von Versicherungen (vgl. Willmroth 2014) oder gar vom Staat verpflichtend gemacht werden könne. Im Folgenden soll es vielmehr um das prototypische Arrangement der Selbstvermessung gehen, dass in einem freiwilligen und selbstbestimmten
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Erheben von Zahlen3 über seinen eigenen Körper, seine eigenen Gewohnheiten und Empfindungen besteht, ohne diese Zahlen mit anderen zu teilen.
2. Theore tische A nalyse von Q uantified S elf als O p timierung Wird die Darstellung zum Diskurs von Quantified Self rekapituliert, so fällt die Ineinssetzung von (Selbst)Vermessung und Optimierung auf. Sowohl Befürworter als auch Gegner beschreiben die Motivation, die hinter QS steht, als eine der Selbstoptimierung. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass die Rede von der Selbstoptimierung doppeldeutig ist. Selbstoptimierung kann nämlich auf zwei Arten verstanden werden: zum einen als ein Prozess, der ein gegebenes Ziel in maximaler Weise zu erreichen versucht, und zum anderen als ein Prozess, der auf eine Entgrenzung vorgegebener Zielhorizonte abhebt. In beiden Varianten geht es um das Erreichen von Möglichkeiten, während diese jedoch im ersten Fall bestimmt sind, sind sie im zweiten Fall notwendig unbestimmt. Der erste Fall erscheint so als eine mathematische Extremwertaufgabe und damit als ein Verfahren, das immer dann eingesetzt werden kann, wenn sowohl ein »Entscheidungsspielraum« als auch »eine spezifische Zielsetzung« vorgegeben sind, »um eine systematische Entscheidungsfindung zu ermöglichen« (Papageorgiou et al. 2012: 1). Übertragen auf die Selbstvermessung würde dann eine Selbstoptimierung beispielsweise in folgender Aufgabe bestehen: Ich will mein Gewicht um 10 kg reduzieren und werte dafür mein Essverhalten wie auch meine sportliche Aktivität aus, um möglichst schnell und mit geringstmöglicher Anstrengung zu diesem Ziel zu gelangen. Selbstoptimierung in diesem Sinne fokussiert also auf das Verfahren der Optimierung und denkt das Selbst als operationalisierbare Zielvorgabe. Der zweite Fall der Selbstoptimierung hingegen legt das Ziel im Vorhinein noch nicht fest; kann es auch gar nicht, da die »Optimierung des Menschen [...] von Anfang an mehr und anderes [war] als die bloße Entfaltung eines gegebenen Bestands menschlicher Möglichkeiten« (Makropoulos 2002: 6). Selbstoptimierung 3 | Hier müsste auf zwei Aspekte eingegangen werden, die hier aus Platzgründen ausgespart bleiben müssen: zum einen auf den der Aufzeichnung und zum anderen darauf, dass eine quantitative Erhebung von Daten über sich einen Unterschied zu qualitativen Daten macht. Zum ersten Aspekt der Aufzeichnung wäre sicher eine medienwissenschaftliche Perspektivierung des Aufzeichnens gewinnbringend und eine Informierung durch die literaturwissenschaftliche Autobiografieforschung sinnvoll. Zum zweiten Aspekt hinsichtlich der Wirkmacht von Zahlen kann auf eine Übersicht in Anlehnung an die Accounting-Forschung an anderer Stelle verwiesen werden (vgl. Meißner 2016: 224-230). Vgl. zu einer Kulturtechnik der Zahl und des Zählens Krämer (2005) und Macho (2003) und zu einer Gesellschaftsdiagnose aufgrund des Zählens auch Vormbusch (2007, 2012).
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meint dann nicht die bloße Entfaltung bereits fixierter Möglichkeiten, sondern die Konstruktion und Erfindung ganz neuer, bisher nicht realisierter Möglichkeiten des Menschseins (vgl. ebd.). Das Ziel der Optimierung ist damit nicht vorher festgelegt, sondern auf andersartige, noch nicht überschaubare Möglichkeiten hin orientiert. Optimierung in diesem Sinne stellt insofern eine prinzipiell unaufhörliche Überbietung des jeweils erreichten Zustands dar (vgl. Makropoulos 2014: 21). Damit wird Optimierung keinem – wie auch immer allgemeinen – Ziel unterstellt, sondern meint ein Verfahren der Überbietung ohne Abschlussmöglichkeit. Wenn dieses Verständnis von Optimierung auf die Selbstvermessung übertragen wird, geht es also nicht um einen Prozess der Identitätsfixierung, sondern vielmehr um einen der Auflösung durch permanente Überschreitung und führt daher zu unbestimmten Selbstverhältnissen. So kann beispielsweise das Vermessen von Hirnströmen oder des Blutzuckerspiegels einen vollkommen ungeahnten Selbstbezug ermöglichen. Oder, und viel weniger ›technisch‹: Das Ziel besteht nicht in der drastischen Abnahme von 80 kg, sondern im dadurch veränderten Selbstbezug eines Körpers mit nur noch halbem Gewicht, der im Vorhinein überhaupt nicht gekannt oder auch nur vorgestellt werden kann.4 Auch die später diskutierte Vermessung des Schlafs kann zu einem anderen Selbstbezug führen, der nach erstmaliger Messung nicht stabilisiert wird, sondern durch nun mögliche Experimente mit verschiedenen Praktiken, Medikamenten oder Techniken fortwährend optimiert, das heißt verändert, verbessert oder neu erfunden wird. Wenn also von Selbstoptimierung gesprochen wird, muss stets differenziert werden, ob bestimmte Möglichkeiten oder zunächst unbestimmte Möglichkeiten im Blick sind. Diese analytische Differenz wurde an anderer Stelle (Meißner 2016: 221-224) als Selbsteffektivierung vs. Selbststeigerung beschrieben. Selbsteffektivierung meint dabei die schlichte Selbstoptimierung gegebener Möglichkeiten. Selbststeigerung dagegen hebt auf eine Form der Selbstoptimierung im Hinblick auf unbestimmte und prinzipiell schrankenlose Möglichkeiten des Selbstseins ab. Interessanterweise ist in unserer Gegenwart – trotz aller Alltagsrede von Selbstverwirklichung – eher eine Selbstoptimierung im Sinne einer Selbsteffektivierung präsent. Ein möglicher Hintergrund für dieses Ungleichgewicht kann im Selbstverständlichwerden und in der gesamtgesellschaftlichen Verbreitung von Managementvorstellungen ausgemacht werden. Eine der Gründerfiguren – und in der Beschreibung der Problemstellung bis heute unübertroffen – der Disziplin Management ist Peter Drucker (2006). Seine zentrale Einsicht bestand darin, dass Management nicht mehr hierarchisch mit Befehl und Gehorsam – also mit Herrschaft und Autorität – agieren könne, da dies 4 | Ein aktuelles Beispiel hierfür, das eine gewisse massenmediale Aufmerksamkeit erfahren hat, ist der Entschluss des 160 kg schweren Michael Klotzbier, ein Marathonläufer zu werden (vgl. www.achim-achilles.de/menschen/abnehm-blog.html). Freilich wird Klotzbier durch ein Ziel motiviert, jedoch treten auch hier ungeahnte Körpererfahrungen auf.
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zu langsam, zu ressourcenaufwendig und sozial immer schwerer zu vermitteln sei. Stattdessen führte er das Führen mit Zielvereinbarungen – das »management by objectives« – ein. Hierbei werden die verschiedenen Hierarchiestufen über individuell definierte Zielvereinbarungen koordiniert und synchronisiert. Die Produktivität entfaltet sich nur dadurch, dass die selbstgesetzten Zielvorgaben der Manager in der Organisation und damit nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere beobachtbar gemacht werden. Dadurch bleibt die Organisation sowohl hinreichend stabil, da bestimmte Leistungen der verschiedenen Funktionsstellen erwartet werden können, als auch flexibel genug, da die Ziele turnusmäßig geändert und angepasst werden können. Dieses Agieren über selbstgesetzte und fixierte Zielvorgaben diffundierte in den letzten Jahren vor allem in den Bereich individueller Lebensführung. Insbesondere in der Ratgeberliteratur (vgl. Duttweiler 2007) findet sich stets der Hinweis, dass eine gezielte Lebensführung oder gar eine Karriere einzig durch selbstgesetzte, fixierte Ziele gelingen könne. Deswegen solle man aufschreiben, was man beispielsweise im nächsten Jahr, in den nächsten 10 Jahren oder in seinem Leben erreicht oder gemacht haben will (vgl. stellvertretend u.a. Küstenmacher/Seiwert 2008; Hofert 2014). Erst durch das Aufschreiben könne individueller Erfolg sichtbar und messbar gemacht werden. Glaubt man den Ratgebern, ist eine selbstbestimmte Lebensführung jenseits eines »management by objectives« schier unmöglich. Damit wird die Idee der Selbstverwirklichung in eine karrieristischen Orientierung an selbstgesteckte Ziele transformiert und dabei zurechtgestutzt. Nicht mehr geht es um eine Entgrenzung, was man werden will, bzw. um ein Streben nach zunächst unbestimmten Möglichkeiten des Selbstseins, sondern um einen im Vorhinein fixierten Möglichkeitsraum und Zielhorizont. Diese andere Verwendung von Selbstverwirklichung wird beispielsweise von Christoph Menke rekonstruiert, der damit zugleich das Konzept für die Gegenwart retten will. Zentral ist für ihn, dass die »Ideale der ›Selbstverwirklichung‹ und ›Authentizität‹ [...] keine inhaltlichen Bestimmungen des Wollens, Handelns und Lebens [beinhalten]; ›Selbstverwirklichung‹ und ›Authentizität‹ sind keine Ziele oder Zwecke, sondern beziehen sich auf die Weise des Habens und Verfolgens von Zielen oder Zwecken« (Menke 2005: 319). Die Rede von Selbstverwirklichung ließe sich demnach ebenfalls mit der Unterscheidung von Selbsteffektivierung und Selbststeigerung genauer bestimmen. Dennoch scheint die gegenwärtig dominante Form von Selbstoptimierung als Selbstmanagement und damit als Selbsteffektivierung gedacht zu werden. Damit kommt in den Blick, dass Selbstoptimierung zumeist als Symptom einer Ökonomisierung des Sozialen verhandelt wird.5 Denn nur, wenn von dieser Prä5 | Insbesondere in der sozialwissenschaftlichen These der Ökonomisierung des Sozialen, die meines Wissens in Deutschland durch den Sammelband Gouvernementalität der
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misse ausgegangen wird, kann die Deutung von Selbstoptimierung als Selbsteffektivierung überhaupt plausibel werden.6 Das mag für die Selbstbeschreibungen der Akteure ja auch vollkommen aufgehen und geradezu evident erscheinen, für die sozialwissenschaftliche Beobachtung des Phänomens bleibt es jedoch zumindest erklärungsbedürftig. Ein Grund scheint mir darin zu liegen, dass auch die sozialwissenschaftlichen Beobachtungen, die von der Prämisse einer Ökonomisierung des Sozialen ausgehen, auf eine allgemein gesellschaftliche Plausibilität rekurrieren und sich davon abhängig machen, statt eine innersoziologische und damit disziplinäre Plausibilität mit mehr Freiheitsgraden im Denken in Anspruch zu nehmen (vgl. Luhmann 1981: 252). Übrig bleibt so eine Zeitdiagnostik, die irrelevant und obsolet wird, sobald sich die allgemeinen Plausibilitätsgrundlagen der Gesellschaft ändern.7 Gegenwart (2000) popularisiert wurde und die sich nicht eindeutig aus dem foucaultschen Begriff der Gouvernementalität ergibt, erscheint mir ein Kurzschluss in der wissenschaftlichen Beobachtung der gesellschaftlichen Wirklichkeit entstanden zu sein. Denn nun wird Selbstoptimierung als Begriff (!) mit Selbsteffektivierung gleichgesetzt und dieses dann in der gesellschaftlichen Wirklichkeit kritisiert (vgl. u.a. Bröckling 2007). Oder noch einmal anders: Mir scheint, dass dadurch eine Beschreibung von Selbstoptimierung als Selbststeigerung diskursiv unterdrückt wird. 6 | Man kann Ökonomisierung des Sozialen unterschiedlich beurteilen. Einerseits könnte im Sinne vieler Gouvernementalitätsstudien argumentiert werden, dass der gegenwärtige Kapitalismus (vgl. Boltanski/Chiapello 2003) es geschafft habe, auf das Bewusstsein des Einzelnen derart zuzugreifen, dass dieser die Verantwortung für soziale Ungleichheit, individuelles Scheitern oder erhöhte Flexibilitäts-, Mobilitäts- und Motivationsanforderungen nicht externalisiert, sondern vielmehr sich selbst zuschreibt (vgl. Bröckling 2007). Der neue Geist des Kapitalismus erscheint in dieser Perspektive als umso wirkmächtiger, weil er die mögliche Kritik vereinnahmt hat und als motivationale Ressource nutzt. Andererseits könnte man jedoch auch zu dem Urteil gelangen, dass der gegenwärtige Kapitalismus dem Menschen faktisch so viel Freiheit wie nie zuvor zugesteht. Der Mensch der Gegenwart muss sich nicht konformistisch an Normen und Werten ausrichten, sondern gewinnt Freiheit durch erhöhte und vervielfältigte Flexibilisierungschancen (vgl. Link 2006). Man könnte nun meinen, dass sich diese Differenz in der Unterscheidung von Selbsteffektivierung und Selbststeigerung wiederfindet. Das würde jedoch die Form der Selbststeigerung als affirmative Einstellung zur Selbstoptimierung charakterisieren, was hier nicht gemeint ist. Für mich ist die eben herausgestellte Beurteilungsdifferenz allein auf die Selbsteffektivierung bezogen. Zielentbundene Entgrenzung und damit auch ungeahnte Pluralisierungschancen, wie sie der Selbststeigerung zugeschrieben werden, müssen davon abgesetzt werden. Selbststeigerung zielt vielmehr auf eine Form einer technisch bedingten Autonomie-Ermöglichung. Dies müsste freilich an anderer Stelle noch konkreter ausgearbeitet werden. 7 | In dieser Hinsicht kann historisches Wissen äußerst nützlich sein. So finden sich die kulturkritischen Argumente, die gegenwärtig gegen eine Ökonomisierung des Sozialen in Anschlag gebracht werden, in ganz paralleler Weise in der Technokratiedebatte der
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Daher scheint es angeraten, sich von der Vorstellung einer ausschließlichen Ökonomisierung des Sozialen zu distanzieren und Quantified Self nicht vorschnell als Symptom einer solchen Gesellschaft abzutun. Gelingen kann dies durch die Einführung einer weiteren begrifflichen Unterscheidung. Die Rede ist von Max Webers Differenz zwischen ökonomischer und technischer Rationalität. Während ökonomische Rationalität stets den Verwendungszweck im Blick hat, ist für eine technische Rationalität das Problem »der zu verwendenden Mittel« (Weber 1922: 33) zentral. So liegt stets dann eine »technische Frage« vor, wenn »über die rationalsten Mittel Zweifel bestehen« (ebd.: 32). Technik ist also eben nicht mit Zweckrationalität zu verwechseln, da es ganz unterschiedliche Rationalisierungsgrade gibt, sondern entspricht eher einer Mittelrationalität. Insoweit Technik »reine Technik bleibt, ignoriert sie die sonstigen Bedürfnisse« (ebd.). Übertragen auf die vorher eingebrachte Differenz kann mit Hilfe der weberschen Unterscheidung nun erklärt werden, dass Selbsteffektivierung qua Zielgebundenheit eine ökonomische Rationalisierung anstrebt, während die Selbststeigerung durch ihre Zielentbundenheit den Fokus eher auf die Technik und damit auf eine Mittelrationalität legt. Mit dieser Schärfung der Differenz kann nun einsichtig werden, dass die Praktiken der Selbstvermesser keineswegs notwendig und ausschließlich unter einem ökonomischen Imperativ der Selbsteffektivierung in einer Optimierungsgesellschaft betrachtet werden müssen, sondern dass eben diese Praktiken auch als einem technischen Imperativ folgend vollkommen ziellos, aber mittelfokussiert beobachtet werden können. Statt einer Ökonomisierung des Selbst könnten sie auch eine Technisierung des Selbst ermöglichen. Dieses technisierte Selbst ist dann jedoch kein weiteres Beispiel einer zunehmenden Verdinglichung in einem technokratischen Horizont, sondern vielmehr eines, dass ein zielentbundenes – und wenn man so will experimentell-spielerisches – Selbstverhältnis zum Ausdruck bringt. Selbst wenn dann konkrete Ziele am Horizont auftauchen, können diese zwar ökonomischer Art im Sinne einer Selbsteffektivierung sein, müssen dies aber nicht notwendig und ausschließlich sein. So beschreiben Zillien und Fröhlich (2014) sehr plausibel die Praktiken der Selbstvermesser als Beispiel einer reflexiven Verwissenschaftlichung des Sozialen (vgl. auch Fröhlich/Zillien 2016). Die Selbstvermesser nutzen Methoden der empirischen Sozialforschung (Statistik), 1950er/60er Jahre (vgl. Koch/Senghaas 1970) – nur, dass diese dort gegen eine Bürokratisierung und ein technisches Verständnis von Politik (Stichwort: Sachzwang) in Anschlag gebracht wurden. So fern uns in der Gegenwart – mit wenigen Ausnahmen (Schelsky 1961) – die meisten Beiträge in dieser Debatte erscheinen, so obskur werden Soziologen in 50 Jahren die gegenwärtigen Debatten zu Quantified Self finden, wenn weiterhin an gesamtgesellschaftlicher Plausibilität statt an innerwissenschaftlicher bzw. innerdisziplinärer Plausibilität festgehalten wird.
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um einen anderen Blick auf ihren Körper und ihre Verhaltensweisen zu erlangen. Neben Wirtschaft und Wissenschaft ließen sich die Praktiken der Selbstvermesser auch dem Kunstsystem zurechnen und als Formen der Ästhetisierung begreifen. Wie angekündigt, konzentrieren sich die folgenden Ausführungen vorrangig auf die Praktiken der Vermessung des eigenen Schlafs. Da diese jedoch relativ heterogen sind und an unsere wissenschaftlichen Vorstellungen von Schlaf anknüpfen, erscheint es sinnvoll, einen kurzen Exkurs in die Schlafforschung einzufügen. Erstens können dadurch schon die spezifisch wissenschaftlichen Vokabeln der Schlafvermessung eingeführt werden. Zweitens erscheint die Geschichte der Schlafforschung als Kontrastfolie für die später beschriebenen Praktiken der Schlaftracker nützlich, da jüngst aufgearbeitet wurde,8 dass die Schlafforschung selbst die Norm des achtstündigen Nachtschlafs am Stück für eine arbeitsteilig organisierte Industriegesellschaft formulierte und diese als ›natürliche‹ in ihren Forschungen voraussetzte.
3. W issenschaf tsgeschichte des S chl afs Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Schlaf beginnt im 20. Jahrhundert, insbesondere durch die Forschungen und Experimente von Nathaniel Kleitman. Wie Wolf-Meyer (2014) luzide rekonstruiert, reagiert die sich etablierende Schlafforschung auf die gesellschaftlichen Veränderungen infolge der Industrialisierung und der damit verbundenen Konstituierung eines Normalarbeits- und Schultags. Der gegenwärtig normale, wie auch normativ durchgesetzte und zugleich naturalisierte zusammenhängende achtstündige Nachtschlaf war vor dem 20. Jahrhundert keineswegs die Norm.9 Erst Kleitmans Schlafforschung »bewerkstelligte die Verankerung von konsolidiertem Nachtschlaf als menschliche[.] Norm« (WolfMeyer 2014: 154), indem er in seinen Experimentalanordnungen Nickerchen und Mittagsschlaf strikt untersagte. Insbesondere sein Experiment in der Mammoth Cave, in der er mit seinem Assistenten für 32 Tage unabhängig von Temperaturund Lichtschwankungen versuchte, den normalen 24-Stunden-Rhythmus auf 28 Stunden auszuweiten, zeigt dies deutlich. Der Tag wurde dabei künstlich in drei Blöcke von je 9 Stunden unterteilt, ca. ein Drittel wurde für das Schlafen vorgesehen. Nickerchen zwischendurch waren verboten. Da die Mahlzeiten direkt im Anschluss an die Schlafphase gebracht wurden, konnte auch garantiert werden, dass der neue Rhythmus eingehalten wurde. Auch wenn sich allein der Assistent 8 | Insbesondere für eine problemorientierte Einführung in das Thema und für einen ausgezeichneten Überblick über den Forschungsstand ist die konzise Einleitung im Sammelband von Hannah Ahlheim lesenswert (Ahlheim 2014a). 9 | Vgl. zu dieser Behauptung die historische Forschungsliteratur zur Frühen Neuzeit (Ekirch 2011, 2005; Emich 2003).
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an den neuen Rhythmus anpassen konnte und Kleitman selbst unter erheblichen Schlafstörungen litt, galt das Experiment als erfolgreicher Beweis, dass der zirkadiane Schlafrhythmus des Menschen wandelbar sei. Die Dauer des Schlafs – im zirkadianen Rhythmus – galt fortan als (gesellschaftlich wie auch kulturell) veränderbar. Dass Schlaf jedoch konsolidiert, das heißt an einem Stück erfolgen sollte, galt dagegen nunmehr als physiologisch notwendig (vgl. ebd.: 165). Der menschliche Körper könne also durchaus seinen eigenen Rhythmus entwickeln, aber richte sich de facto in der Regel nach Tag und Nacht, weil er in Verhältnisse geboren wurde, »which run on the routine of a daytime work, evening leisure and night sleep« (Kleitman zit.n. Ahlheim 2013: 26). Auch Experimente in U-Booten, die Kleitman nach dem Zweiten Weltkrieg durchführte, basierten auf den Annahmen, dass ein konsolidierter achtstündiger Nachtschlaf anzustreben und dass die – insbesondere auf U-Booten weitverbreitete – Gewohnheit eines Nickerchens dagegen aufzugeben sei. Die nach der experimentellen Einführung des dementsprechend konzipierten Schichtplans befragten Soldaten kamen jedoch zu einem gegenteiligen Ergebnis. Aufgrund dessen und da die Soldaten statt des Nickerchens zum Zeitvertreib nun lieber noch zusätzlich etwas aßen, lehnte das US-Militär die Pläne von Kleitman ab (vgl. Wolf-Meyer 2014: 168ff.). Ab den 1950er Jahren wurde dann der von der Schlafforschung normalisierte konsolidierte Nachtschlaf weiter differenziert. Statt eines monolithischen Blocks erkannte man mithilfe eines damals sich rasant verbreitenden Messverfahrens, dem EEG (Elektro-Enzephalografie)10, dass der Schlaf aus mehreren Phasen besteht.11 Am bekanntesten ist sicher der so genannte REM-Schlaf,12 der bis in die Gegenwart aufgrund des auffälligen EEGs, das dem eines Wachzustands ähnlich ist, als Phase des Träumens verstanden wird. Zudem wurde nun zwischen Leichtund Tiefschlaf differenziert. Mithilfe verschiedener Experimente zur Schlaflosig-
10 | Vgl. zur Kulturgeschichte des EEG Cornelius Borck (2015), der jedoch die Schlafforschung nur en passant erwähnt. 11 | Gegenwärtig werden in der Schlafforschung mehrere Messreihen parallel betrieben. Neben dem EEG werden auch das EOG (Elektrookulogramm), das die Bewegung der Augen beim Schlafen vermisst, und, zur Vermessung der Muskelspannung, das EMG (Elektromyogramm) aufgezeichnet. Diese vier Quellen (EEG, EOG für beide Augen und EMG des Kinns) waren seit 1968 der Standard der Polysomnografie, die Schlaf in 30-Sek.-Abschnitten je zwei Leicht- und Tiefschlafphasen bzw. der REM-Schlafphase zuordnete. Seit 2007 werden 6 Kanäle und weitere zusätzliche Daten hinzugezogen (vgl. Penzel 2014, S. 213f.). Dennoch – so das Fazit des Schlafforschers Penzel –: »Obwohl die Schlafforschung schon lange existiert, wissen wir bei vielen Schlafstörungen zwar, was passiert, aber selten oder gar nicht, warum etwas passiert oder nicht funktioniert.« (Ebd.: 226) 12 | REM ist die Abkürzung für Rapid Eye Movement.
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keit und zu deren Folgen13 konnte weiterhin gezeigt werden, dass selbst extremer Schlafentzug in der Regel keine langwierigen physiologischen Folgen hatte, sondern dass die meisten nach einer längeren Nacht wieder vollkommen hergestellt waren. Seitdem wird Schlafentzug als therapeutische Maßnahme, aber auch als Folter eingesetzt (vgl. ebd.: 208). Rückblickend kann die bisherige Geschichte der Schlafforschung als eine der Disziplinierung und Optimierung des Nachtschlafs in der bürgerlichen Gesellschaft gelesen werden. Sowohl in der hier vorrangig referierten Geschichte der US-amerikanischen Schlafforschung als auch in Deutschland (vgl. Ahlheim 2013) lautet deren Ziel bis in die Gegenwart die Herstellung eines guten Schlafs, eines gesunden Rhythmus, um den arbeitenden und dafür notwendig wachen Menschen optimieren zu können. Die Vermessung des eigenen Schlafs ließe sich demnach leicht als Verlängerung dieser Schlafforschung in die Lebenswelt der Menschen und insofern als weitere Kolonialisierung derselben beschreiben. Doch kann mit Wolf-Meyer ebenso festgehalten werden, dass es prinzipiell »mehr Möglichkeiten zu schlafen [gibt] als diejenigen, die uns die Denker des 19. und 20. Jahrhunderts vermacht haben« (Wolf-Meyer 2014: 181).
4. S chl afen mit Q uantified S elf Hintergrund dieser Analyse bildet keine Studie mit Beobachtungen und Befragungen von Selbstvermessern. Die Daten basieren vielmehr auf den online verfassten (Selbst-)Darstellungen von durchgeführten Experimenten, Vorträgen bei QSKonferenzen oder anderen journalistisch auf bereiteten Quellen. In diesem Sinne ist es eine nichtrepräsentative Sekundäranalyse, die jedoch die Bandbreite der Praktiken der Selbstvermesser zu beschreiben hilft. Diese Vielfalt der Praktiken steht einerseits in einem starken Kontrast zu den Normen der Schlafforschung, die ihre Messungen, Diagnosen und auch Medikamente für einen konsolidierten, achtstündigen Nachtschlaf konzipierte. Andererseits zeigt die Pluralität der Praktiken, dass die Selbstvermessung keineswegs ausschließlich ökonomistisch zur Verkürzung des Schlafs genutzt wird, um noch produktiver und leistungsfähiger sein zu können. Insbesondere in der Selbstvermessung des Schlafs erscheint neben dieser Selbstoptimierung im Sinne einer Selbsteffektivierung auch die andere Dimension der Selbststeigerung auf, d.h. die Möglichkeit divergenter Selbstverhältnisse aufgrund der experimentellen Generierung anderer Schlafrhythmen.
13 | Diese Experimente konnten zum Teil in der US-amerikanischen Öffentlichkeit live miterlebt werden, da es v.a. Radio-DJs waren, die die Grenze der Schlaflosigkeit öffentlichkeitswirksam verschieben wollten (vgl. Ahlheim 2014b).
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Auch wenn die privaten Selbstvermesser zumeist vom normalisierten Schlaf ausgehen, begründen sie doch ihre Motivation, den eigenen Schlaf zu vermessen, damit, dass der Nachtschlaf nicht gleich Nachtschlaf sei und dass es schwer falle, stets gut zu schlafen: »…my eight hours doesn’t leave me feeling the way your eight hours does; my eight hours doesn’t even leave me feeling the same way every time.« (Arndt 2015) Oder: »For years, I was frustrated by the quality of my sleep. One day, I’d wake up refreshed after just 6 hours of sleep, but another I spent fatigued, even after getting the ›recommended‹ 8 hours of shuteye.« (Mesko 2015) Am Anfang steht damit zumeist14 die Beobachtung, dass (gut) Schlafen etwas schlecht Kontrollierbares ist. Um es kontrollieren zu können, muss daher der Schlaf zunächst sichtbar gemacht werden. Dafür können seit einigen Jahren die Produkte einer Vielzahl kommerzieller Anbieter von Schlaftrackern genutzt werden. Die Bandbreite ist mittlerweile enorm:15 Von einfachen Apps für das Smartphone (bspw. MotionX 24/7), die mit Hilfe des Bewegungssensors die Schlafbewegungen vermessen und daraus Rückschlüsse auf wahrscheinliche Schlafphasen ziehen, reicht sie über einfache Puls-Sensoren (bspw. beddit) bis hin zu Geräten, die zusätzlich auch Körpertemperatur, Hirnwellen (EEG), Muskelspannung (EMG) und die Augenbewegungen (EOG) messen (bspw. neuroon) – also nahezu sämtliche Daten aufzeichnen, die auch in einem Schlaflabor gemessen werden.16
14 | Es finden sich auch Beispiele, deren Motivation aus einem pathologischen Schlafverhalten resultiert. So berichtet Steven Zhang, dass er aufgrund von Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen zum Schlaftracker griff (Jonas 2015). 15 | Die Entwicklung des Marktes ist ziemlich schnelllebig, neben neu entstehenden Firmen (vgl. dazu u.a. die Kickstarter-Plattform) gibt es auch Pleiten (zeo) und viele Apps, die wahrscheinlich so gut wie nie geladen werden (vgl. auch van den Bulck 2015). Dennoch: »Sleep tracking is a growing and profitable industry. Almost every wearable fitness tracker (an estimated $330 million market in 2013), collects sleep data. Meanwhile, the Centers for Disease Control calls insufficient sleep ›a public health epidemic‹ estimating that almost a third of American workers don’t get enough shuteye.« (Ferro 2015) Das Schlaftracker-Business stellt sich selbst als funktionales Äquivalent zum Schlaftablettenkonsum dar und deren Markt ist nicht nur in den USA gewaltig. 2010 haben ca. 50 Millionen US-Amerikaner Schlafmittel wie Ambien oder Lunesta verschrieben bekommen (vgl. Crary 2014: 22). Parallel zu diesen Profitinteressen hat sich jedoch auch eine DIY-Community entwickelt, welche aus EEG-Sensorteilen ihre eigenen Messgeräte baut und Bauanleitungen (Open Source) zur Verfügung stellt. 16 | Einen – auch nur eine Nacht dauernden – Vergleich verschiedener Anbieter gibt Winter in einem Beitrag in der Huffington Post (Winter 2014). Vgl. zu fehlenden Studien hinsichtlich der Validität der Schlaftracker auch van den Bulck (2015). Alexander Blau, der am schlafmedizinischen Zentrum der Charité in Berlin arbeitet, hat prinzipiell nichts gegen die Selbstvermesser, da man sowohl bei Halsschmerzen in den Spiegel schaue und auch selbst Fieber messe, bevor man einen Arzt konsultiere. Jedoch seien die meisten Laien mit
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Doch seinen Schlaf zu vermessen und in »hübschen Kurven und beeindruckenden Tabellen« (Werle 2014) zu betrachten, verändert zunächst einmal nichts: »Needless to say, I found nothing substantive from my measured nights, […] in the movement from deep to light to REM sleep and back again. All I found is that I get far less deep sleep than any of the apps say is normal.« (Arndt 2015) Deswegen erachten die Selbsttracker, wie beispielsweise Adam Dachis, eine experimentelle Haltung für wichtig: »The important thing is that you put in the (minimal) effort to track your efforts and try many different things – even things that may seem irrelevant, like altering the temperature in your bedroom.« (Dachis 2011) Diese experimentelle Haltung – dies gilt es noch einmal zu betonen – bezieht sich nicht auf eine allgemeine Erkenntnis, die dann von anderen übernommen werden kann. Vielmehr geht es stets nur um Erkenntnisse für das eigene Selbst. Andere können sich dann davon inspirieren lassen und selbst testen, was für sie funktioniert und was nicht, aber sie können nicht die Ergebnisse anderer Selbstvermesser einfach übernehmen.17 Deswegen bestehe Quantified Self auch nicht in »expensive devices, or meetups, or videos, or even ebooks telling you what to do. Those are tools to an end.« (Anonym 2015) Die Haltung von Selbstvermessern entspreche vielmehr einer »playful thoughtful attitude, of wondering whether this thing affects that other thing and what implications could be easily tested« (ebd.) und dahin gehend sei Quantified Self »simply about having ideas, gathering some data, seeing what it says, and improving one’s life based on the data« (ebd.). Dieser Selbstvermesser, der anonym bleiben will, dokumentiert gleichwohl auf einer Webpage mit 40.000 (!) Wörtern, Grafiken, Programmcode-Schnipseln und sonstigen Plots seine verschiedenen Schlaf-Experimente hinsichtlich des Einflusses von Vitamin D, Kalium, Meditation, sportlichen Übungen, Alkohol oder Rotlicht etc. Die bisherige Ergebnisliste18 veranschaulicht die Tests, die er/ der Zahlenanalyse und der Interpretation der Daten schlicht überfordert. Es komme deswegen immer auf die richtige Interpretation an (vgl. Mühl 2012). 17 | Darauf verweist auch Kucklick, der als Beispiel einen Selbstvermesser des eigenen Körperfetts bringt: »Liegt sein Körperfett unterhalb von 12,8 %, kann er essen, was er will, auch die von ihm geliebte Schokolade. Steigt der Wert darüber, muss er seine Speisen sorgfältig wählen, um nicht schnell und stark an Gewicht zuzunehmen. Warum 12,8 %? ›Keine Ahnung‹, sagt er, ›das ist der Wert, der sich durch lange Beobachtung herausgeschält hat. Andere haben ganz andere Schwellenwerte. Dieser gilt nur für mich.‹« (Kucklick 2016: 47) 18 | »1. the Zeo headband is wearable long-term; 2. melatonin improves my sleep; 3. onelegged standing does little; 4. Vitamin D (at night) damages my sleep; 5. Vitamin D (in morning) does not affect my sleep; 6. potassium (over the day but not so much the morning) damages my sleep and does not improve my mood/productivity; 7. small quantities of alcohol appear to make little difference to my sleep quality; 8. I may be better off changing my sleep timing by waking up somewhat earlier & going to bed somewhat earlier; 9. lithium orotate does not affect my sleep; 10. Redshift causes me to go to bed earlier.« (Anonym 2015)
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sie bisher durchgeführt hat. Weniger scheint es dabei um die Ergebnisse für den Schlaf zu gehen, sondern mehr um die Darstellung möglicher Faktoren, die einen Einfluss auf den Schlaf haben könnten. Insofern haben die hier aufscheinenden Praktiken nur wenig mit einer Selbsteffektivierung zu tun, sondern vielmehr mit einer Selbststeigerung, da es ihm/ ihr nicht um eine Reduktion des Schlafpensums geht, um mehr Zeit zum Arbeiten zu haben und so noch produktiver zu werden, sondern um das Verstehen möglicher Einflüsse auf seinen/ihren Schlaf. Statt schlicht anderen – der wissenschaftlichen Schlafforschung oder weiteren Selbstvermessern – zu glauben, dass Vitamin D, Rotlicht oder andere Hausmittelchen helfen, unternimmt er/sie eine wissenschaftlich valide Untersuchung und wird damit quasi zum Prototypen der von Fröhlich und Zillien (2016) konstatierten reflexiven Verwissenschaftlichung des Sozialen – jedoch einer Verwissenschaftlichung, die beim Einzelnen stehen bleibt und eben nicht verallgemeinern will. Deswegen kommen auch andere Selbstvermesser zu weiteren und teilweise divergenten Ergebnissen. Adam Dachis (2011) berichtet beispielsweise, dass seine Einschlafzeit keinen Effekt auf seine subjektiv empfundene Schlafqualität hatte. Bertalan Mesko dagegen fand heraus, »it doesn’t matter whether I sleep for 7 or 9 hours, as long as I have at least one long deep sleep period« (Mesko 2015). Zudem stellte er fest, »I should not exercise after 8 pm or check my phone before falling asleep. These things, among others, definitely ruin my sleep quality.« (Ebd.) Piotr Wozniak, Vertreter eines »free running sleep«, fasst sein Schlafoptimierungsziel wie folgt: »Instead of minimizing sleep, you should optimize the amount of sleep. This means you should get exactly as much sleep as is needed to fulfill its neural functions.« (Wozniak 2012) Diese Optimierung von Schlaf verweist auch hier auf eine Selbststeigerung, da der Schlaf in verschiedene Relationen gesetzt wird: zum eigenen Körper, zu Umweltbedingungen, zum subjektiven Schlafempfinden oder auch zu individuellen Wünschen, wann und wie geschlafen werden soll. Dennoch experimentieren einige Schlafvermesser auch mit der Möglichkeit einer signifikanten Verkürzung des Schlafs. Im Hintergrund dieser Versuche steht eine Abkehr von unserem normalisierten, das heißt achtstündigen Schlaf an einem Stück hin zu einem mehrphasigen Schlafverhalten. Verschiedene Konzepte mit klingenden Namen wie Uberman, Everyman oder Dymaxion (nach Buckminster Fuller) (vgl. bspw. Lejuwaan 2010) dienen als Grundlage für einen zum Teil extrem verkürzten Schlaf.19 Auch Andre Malan experimentierte damit. In seinem Vortrag erklärte er, dass er im ersten Monat gewaltige Performance-Einbußen hätte hinnehmen müssen, 19 | Uberman beschreibt sechs nur 20 Minuten dauernde Nickerchen pro Tag ganz ohne normalen Nachtschlaf. Everyman meint zumeist einen fünfphasigen Schlaf mit drei Stunden Hauptschlafphase und drei zwanzigminütigen Kurzschlafphasen. Bei Dymaxion ist der gesamte Schlaf in vier Phasen à 30 Minuten eingeteilt.
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doch über den zweiten Monat sagt er: »I’m playing with shifting my schedule earlier and taking some supplements (valerian root, magnesium and melatonin) to see if that fixes it. The other goal of the second month is just to guard against laziness, making sure I set all my alarms and that I don’t let my guard down and snooze longer just because I think I’m adapted.« (Malan 2013)20 Ein anderer männlicher Selbstvermesser nutzte den – mittlerweile nicht mehr erhältlichen – Schlaftracker von Zeo, jedoch weniger um sich einem anderen vorgegebenen mehrteiligen Schlafmuster zu beugen, sondern um die wichtigen Schlafphasen (Tief- und REM-Schlaf) gegenüber den unwichtigeren Phasen des Leichtschlafs zu erhöhen. Statt durchzuschlafen, steht er mitten in der Nacht (ca. 1 Uhr bis 4 Uhr) auf, um dann wieder bis halb neun zu schlafen. Tagsüber macht er einen Mittagsschlaf: »In summary I’ve gone from ~50 % Light sleep on mono to ~35 % Light on poly. The amount of extra time I get isn’t dramatic (sleeping 5-6 hrs/24 hr period), but I feel much better on polyphasic than I do on monophasic, and it is a fairly flexible schedule that works for me.« (Anonym 2010) ›Sich besser fühlen‹ und nicht etwa: produktiver sein, ist sein Kriterium. Das eigene Gefühl wird somit gegen eine Effektivierung und ökonomische Verkürzung der Schlafzeit in Anschlag gebracht. Durch die Technisierung des eigenen Schlafs kann in dieser Hinsicht auch die eigene Autonomie gegenüber gesellschaftlichen Anrufungen der Selbsteffektivierung gestärkt werden. Freilich könnte nun entgegnet werden, dass auch die Orientierung am individuellen Wohlergehen eine zentrale gesellschaftliche Anrufung darstellt. Doch vielleicht stellt die Aussage gerade deswegen auch nur die sozial akzeptierte und insofern legitime Beschreibung des eigenen Wunsches dar, den geliebten Mittagsschlaf in unserer Gegenwart zu erhalten. Insofern wäre auch dies ein Beispiel der Selbststeigerung, weil die Selbstvermessung nicht zielorientiert erfolgte, vielmehr konnte eine Form des Selbstseins erst durch die Selbstvermessung des eigenen Schlafs plausibel werden. Die Vermessung an sich führt also nicht ausschließlich zu einer Disziplinierung, sondern kann zu einer Emanzipation von normierenden gesellschaftlichen Vorgaben verhelfen. Gerade da es um den eigenen Schlaf, den eigenen Körper und die eigenen Wünsche geht, kann die Selbstvermessung den ökonomischen Imperativen etwas entgegenhalten. So können insbesondere Selbständige und Freelancer, die nicht notwendig in arbeitsteiligen 9-to-5-Arbeitsprozesse eingebunden sind, eine ganz eigene Haltung zu ihrem Schlaf entwickeln und eine individuelle Balance zwischen Produktivitäts- und Schlaf- bzw. Ruhebegehren etablieren.
20 | Da er jedoch im Nachgang nie die angekündigten Graphen und Daten präsentiert hat, wird er wohl nicht im Uberman-Modus geblieben sein und sein ›Scheitern‹ eher verschweigen. Jedenfalls findet sich kein weiterer Hinweis dazu. Andere experimentierten auch, mit unterschiedlichem Erfolg (vgl. Ferriss 2010 und u.a. www.puredoxyk.com oder https://pro jectuberman.wordpress.com).
Der vermessene Schlaf
Oder die Schlafvermessung dient einfach als künstlerische Inspiration. So war beispielsweise das Vermessen des eigenen Schlafs für Laurie Frick der Beginn einer ästhetischen Auseinandersetzung mit dem, was während des Nicht-Wachseins passiert: »I’ve been measuring my nightly sleep using a ZEO eeg headband for over 3 years and have almost 1000 nights of sleep data. There is a definite pattern, with much more activity than you’d imagine. It’s ragged with shorter bursts of deep and REM sleep than I thought. I wake up a lot. My brain is pretty busy during sleep – clearly, sleep rhythms are not so different than waking rhythms.« (Frick 2015) In ihren Arbeiten zeigt sie dann, dass der Schlaf kein schwarzes Loch in den täglichen Routinen darstellt, sondern dass der vermessene Schlaf ebensolche Muster aufzeigt wie die täglichen Routinen im wachen Zustand. Wie ich an der Selbstvermessung des Schlafs zu zeigen versuchte, zielt Selbstvermessung nicht notwendigerweise ausschließlich auf eine Selbstoptimierung im Sinne einer Selbsteffektivierung. Vielmehr waren auch spielerisch-experimentelle Haltungen zu beobachten, die keinem ökonomischen Imperativ folgen, sondern diesem sogar (potenziell) Einhalt gebieten können, weil sie einer anderen Eigenlogik folgen. Die These, die sich aus der Begriffsdifferenzierung und dem empirischen Beispiel ergibt, lautet demnach, dass Quantified Self im Gegensatz zu der vornehmlich im Feuilleton vorausgesetzten zunehmenden Selbstversklavung eine reflektierte Form der Selbstbestimmung bzw. Autonomie etablieren kann. Die Unterscheidung zwischen Selbstbestimmung und Autonomie, die Peter Wehling am Beispiel der biomedizinischen Möglichkeiten getroffen hat, ist in diesem Zusammenhang instruktiv. Während er Selbstbestimmung vor allem als »aktivische[.] Selbstbestimmung und -festlegung im und durch Handeln« (Wehling 2008: 270) begreift, besteht Autonomie für ihn in einer reflexiv-distanzierten Haltung, die es erlaubt, die »subtilen Zwänge der Aufforderung zur ›Selbst‹Bestimmung zu reflektieren«. Mit Autonomie als reflexiver Form der Selbstbestimmung werde die Möglichkeit offen gehalten, »sich nicht festlegen zu wollen und den Erwartungen an Selbstbestimmung (und Selbstoptimierung) nicht entsprechen zu wollen« (ebd., Herv. im Orig.). Eine kritische Soziologie solle durch die Analyse zur Bildung von Ressourcen für eine Autonomieetablierung beitragen. Vielleicht brauchen die Selbstvermesser aber gar keine soziologisch informierten Autonomieexperten, sondern gewinnen durch ihre Praktiken der Selbstvermessung selbst eigene Autonomie-Spielräume. Die gesellschaftlichen Anrufungen eines achtstündigen monophasischen Schlafs jedenfalls werden weder durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse noch durch kritische Soziologen problematisiert, sondern durch die aus der Selbstvermessung resultierende experimentell-spielerische Haltung im Sinne einer Selbststeigerung. Insofern könnte uns paradoxerweise gerade der vermessene Schlaf aus dem von Crary beschriebenen Albtraum der gesellschaftlichen Anrufungen eines permanenten Arbeiten- und Konsumierenmüssens aufwachen lassen und uns einen
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guten Schlaf ermöglichen. In jedem Fall liefert Quantified Self jedoch denen Argumente, die einfach nur gern gut schlafen.
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Autorinnen und Autoren
Stefanie Duttweiler (Dr. phil.) ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung »Sozialwissenschaften des Sports« an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Körper-, Sport- und Geschlechtersoziologie, Soziologie der Interventionssysteme (Beratung, Therapie, Prävention) sowie Kultursoziologie (insb. Religions- und Architektursoziologie). Wichtigste Publikationen: Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie, Konstanz: UVK (2007); Die Beziehung von Geschlecht, Körper/Leib und Identität als rekursive Responsivität. Eine Skizze, in: Freiburger Geschlechterstudien 2/2013, S. 17-36; Daten statt Worte?! – Sich selbst vermessen in Sport und Alltag, in: Thorben Mämecke/Jan-Hendrik Passoth/Josef Wehner (Hg.): Bedeutende Daten. Modelle, Verfahren und Praxis der Vermessung und Verdatung im Netz, Wiesbaden: Springer VS (im Erscheinen). Gerrit Fröhlich (M.A.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Soziologie (Schwerpunkt Konsum- und Kommunikationsforschung) an der Universität Trier. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Medien- und Kultursoziologie. Wichtigste Publikationen: gemeinsam mit Nicole Zillien und Mareike Dötsch: Zahlenkörper. Digitale Selbstvermessung als Verdinglichung des Körpers, in: Cornelia Hahn/Martin Stempfhuber (Hg.): Präsenzen 2.0. Körperinszenierung in Medienkulturen, Wiesbaden: Springer VS (2014), S. 77-96; Gegenkultur, Retromanie und die Rückkehr des Hipsters. Konsumkulturelle Trends zwischen Nachahmung und Distinktion, in: Transfer. Werbeforschung & Praxis 60(2) (2014), S. 10-18; Die Liebe und der Magen. Luhmanns Liebessemantik am Esstisch, in: Daniel Kofahl/Gerrit Fröhlich/Lars Alberth (Hg.): Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film, Bielefeld: transcript (2013), S. 119-134. Robert Gugutzer (Prof. Dr. phil.), Leiter der Abteilung »Sozialwissenschaften des Sports« an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.; Forschungsschwerpunkte: Körper- und Sportsoziologie, Film- und Religionssoziologie, Neue Phänomenologie, Sozialtheorie. Wichtigste Buchpublikationen: Verkörperungen des Sozialen,
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Leben nach Zahlen
Bielefeld: transcript (2012); Soziologie des Körpers, 5. Aufl., Bielefeld: transcript (2015); gemeinsam mit Gabriele Klein und Michael Meuser (Hg.): Handbuch Körpersoziologie, 2 Bde., Wiesbaden: Springer VS (2016). Beate Kasper (M.A.) ist Soziologin mit Schwerpunkt Medizin- und Techniksoziologie. Sie veröffentlichte gemeinsam mit Lisa Staiger und anderen: Das vermessene Selbst. Praktiken und Diskurse digitaler Selbstvermessung. Universitätsbibliothek Tübingen (2015). Daniel Kofahl (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG Projekt »Digitale Selbstvermessung« an der Professur für Soziologie (Schwerpunkt Konsum- und Kommunikationsforschung) an der Universität Trier. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Ernährungssoziologie und ökologische Ernährungskultur. Wichtigste Publikationen: Die Komplexität der Ernährung in der Gegenwartsgesellschaft. Soziologische Analysen von Kultur- und Natürlichkeitssemantiken in der Ernährungskommunikation. Kassel: Kassel University Press (2014); gemeinsam mit Gerrit Fröhlich und Lars Alberth (Hg.): Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film, Bielefeld: transcript (2013); Menülöffel und Teufelsgabel – Kultursoziologisches zum Essbesteck, in Julia Reuter/Oliver Berli (Hg.): Dinge befremden. Essays zu materieller Kultur, Wiesbaden: Springer VS (2016), S. 123-132. Thorben Mämecke (Dipl. Soziologe) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Graduiertenkolleg »Automatismen« an der Universität Paderborn. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Subjektivierungs- und Gouvernementalitätsforschung, eParticipation, Medienwissenschaften sowie Medien- und Techniksoziologie. Wichtige Publikationen: Die Statistik des Selbst – Zur Gouvernementalität der Selbstverdatung, in: Stefan Selke (Hg.): Lifelogging – Digitale Selbstvermessung und Lebensprotokollierung zwischen disruptiver Technologie und kulturellem Wandel, Wiesbaden: Springer VS (2016), S. 97-125; gemeinsam mit Josef Wehner: ›Staatistik‹ – Zur Vermessung politischer Beteiligung, in: Kathrin Voss (Hg.): Internet & Partizipation – Bottom-up oder Top-down? Politische Beteiligungsmöglichkeiten im Internet, Wiesbaden: Springer-VS (2013), S. 111-122; gemeinsam mit Roman Duhr: Self knowledge through numbers – Zahlenbasierte Musikempfehlungsdienste und die Mediatisierung von Selbstdarstellungen im Internet, in: Martina Löw (Hg.): Vielfalt und Zusammenhalt: Teilbd. 2, Verhandlungen des 36. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum und der TU Dortmund 2012, Frankfurt a.M.: Campus (2013). Stefan Meißner (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Mediensoziologie an der Bauhaus-Universität Weimar. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kultursoziologie, Organisationssoziologie, Mediensoziologie. Wich-
Autorinnen und Autoren
tigste Publikationen: Techniken des Sozialen. Gestaltung und Organisation des Zusammenarbeitens in Unternehmen, Wiesbaden: Springer VS (im Erscheinen); Selbstoptimierung durch Quantified Self? Selbstvermessung als Möglichkeit von Selbststeigerung, Selbsteffektivierung und Selbstbegrenzung, in: Stefan Selke (Hg.): Lifelogging. Interdisziplinäre Beiträge zur Selbstvermessung, Wiesbaden: Springer VS (2016), S. 217-236; Arbeit und Spiel. Von der Opposition zur Verschränkung in der gegenwärtigen Kontrollgesellschaft, in: Trajectoires. Travaux des jeunes chercheurs du CIERA, Jg.6/2012: Penser le (non-)travail. Jan-Hendrik Passoth (Dr. phil.) ist Leiter des Post/Doc Labs Digital Media am Munich Center for Technology in Society an der Technischen Universität München. Er forscht im Bereich Wissenschafts- und Technikforschung zu Themen der Digitalisierung, Datengesellschaft und kalkulativen Kulturen. Ausgewählte Publikationen: Technik und Gesellschaft. Sozialwissenschaftliche Techniktheorien und die Transformationen der Moderne, Wiesbaden: VS (2008); gemeinsam mit Birgit Peuker und Michael Schillmeier (Hg.): Agency without Actors? New Approaches to Collective Action, London: Routledge (2012); gemeinsam mit Josef Wehner (Hg.): Quoten, Kurven und Profile. Zur Vermessung der sozialen Welt, Wiesbaden: Springer VS (2013) und gemeinsam mit Thorben Mämecke und Josef Wehner (Hg.): Bedeutende Daten. Modelle, Verfahren und Praxis der Vermessung und Verdatung im Netz, Wiesbaden: Springer VS (im Erscheinen). Ramón Reichert (Dr. phil. habil.) war 2009-2013 Professor für Neue Medien am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien, seit Frühjahr 2014 ist er Leiter der postgradualen Masterstudiengänge »Data Studies« und »Cross Media« an der Donau-Uni Krems. Er ist Initiator des 2012 gegründeten internationalen Forschernetzwerks »Social Media Studies« und firmiert seit 2014 als leitender Herausgeber und Chefredakteur der internationalen Fachzeitschrift »Digital Culture & Society« (peer-reviewed journal). Er lehrt und forscht mit besonderer Schwerpunktsetzung des Medienwandels und der gesellschaftlichen Veränderungen in den Wissensfeldern Theorie und Geschichte digitaler Medien, Wissens- und Mediengeschichte digitaler Kulturen, Medienästhetik, kritische Medientheorie und kulturwissenschaftliche Filmgeschichte. Wichtigste Publikationen: Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0, Bielefeld: transcript (2008); Die Macht der Vielen. Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung, Bielefeld: transcript (2013); Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie, Bielefeld: transcript (2014). Simon Schaupp (M.A.) ist Research Associate im Post/Doc Lab Reorganizing Industries am Munich Center for Technology in Society (MCTS) an der Technischen Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Techniksoziologie, Arbeitssoziologie und Politische Theorie. In seinem Dissertationsprojekt arbeitet er zu kybernetischen Kontrolldispositiven in der »Industrie 4.0«. Jüngste Publi-
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Leben nach Zahlen
kationen: Die Vermessung des Unternehmers seiner Selbst. Vergeschlechtlichte Quantifizierung im Self-Tracking-Diskurs, in: Stefan Selke (Hg.): Lifelogging. Digitale Selbstvermessung und Lebensprotokollierung zwischen disruptiver Technologie und kulturellem Wandel, Wiesbaden: Springer VS (2016), S. 151-170; Von Bakterien und Cyborgs. Zum Verhältnis von Posthumanismus und Anarchismus, in: Ne znam. Zeitschrift für Anarchismusforschung, Nr. 3 (2016), S. 101-117; gemeinsam mit Paul Buckermann/Anne Koppenburger (Hg.): Systematische Un/ Ordnung. Technologieverhältnisse radikaler Politiken, Münster: Unrast (im Erscheinen). Corinna Schmechel (M.A.) ist Stipendiatin im Promotionsprogramm »Kulturen der Partizipation« der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Körperpolitiken, Körperbezogene Praxen, Normierungsprozesse, Qualitative Sozialforschung, gouvernementality studies, Gender Studies. Ausgewählte Publikationen: Kalorienzählen oder tracken? Die Vergeschlechtlichung von Praktiken der Selbstvermessung, in: Stefan Selke (Hg.): Lifelogging – Interdisziplinäre Zugänge zum Phänomen digitaler Selbstvermessung und Lebensprotokollierung, Wiesbaden: Springer VS (2016), S. 171-192; Don’t pathologize this! Plädoyer für eine queere Psychiatriekritik, in: an.schläge. Das feministische Magazin, Wien (2013); Verunsicherte Männlichkeit – Männlichkeit verunsichern? Zum Potential von Männer-Radikaler-Therapie, in: Beate Binder (Hg.): Geschlecht – Sexualität. Erkundungen in Feldern politischer Praxis, Berliner Blätter Sonderheft 62 (2013). Sabine Schollas (M.A.), Bereichsleitung Marketing Stepke KiTas, Promotion an der Ruhr Universität Bochum zum Thema: Kindheit unter Bedingungen des Marketings mit besonderer Berücksichtigung der Medienphilosophie Bernard Stieglers. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Marketing/PR, Kindheit, Game Studies. Wichtige Veröffentlichungen: ›And we’re stayin‹ alive‹ – Atmosphären in Horror- und Musikspielen zwischen Design und Interaktion, in: Christian Huberts/ Sebastian Standke (Hg.): Zwischen|Welten. Atmosphären im Computerspiel, Glückstadt: vwh (2014), S. 153-169; gemeinsam mit Felix Raczkowski: Poisened or Healed? The Child’s Position in Video Game Discourse, in: Winfred Kaminski/ Martin Lorber (Hg.): Gamebased Learning. Clash of Realities, München: kopaed (2012), S. 295-204; ›Aufgefordert, gegen jegliche Bestrebungen, die da gleichgeschlechtlich ausgeprägt sind, vorzugehen.‹ – Zur Homophobie im Profifußball der Männer, in: onlinejournal kultur & geschlecht 5 (2009). Lisa Staiger (M.A.) ist Soziologin mit den Schwerpunkten Methoden der qualitativen Sozialforschung und Geschlechtersoziologie. Sie veröffentlichte gemeinsam mit Beate Kaspar und anderen: Das vermessene Selbst. Praktiken und Diskurse digitaler Selbstvermessung. Universitätsbibliothek Tübingen (2015).
Autorinnen und Autoren
Jörg Strübing (Prof. Dr. rer. pol.) lehrt und forscht zu Methoden der qualitativen Sozialforschung sowie Wissenschafts- und Techniksoziologie an der Eberhard Karls Universität in Tübingen. Wichtigste Publikationen: Grounded Theory, Wiesbaden: Springer VS (2014); Qualitative Sozialforschung. Eine komprimierte Einführung für Studierende, München: Oldenburg (2013); Pragmatistische Wissenschafts- und Technikforschung, Frankfurt a.M.: Campus (2005). Markus Unternährer (M.A.) ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl Digitale Medien & Netzwerke der Universität Luzern. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie des Vergleichs und der Quantifizierung sowie Big Data und Algorithmen. Für seine Masterarbeit »Zählende Zahlen. Self-Tracking als numerische Form der Selbstthematisierung« erhielt er den »Preis für herausragende Masterarbeit der Universität Luzern«. Uwe Vormbusch (Prof. Dr. phil.) ist Professor für Soziologische Gegenwartsdiagnosen an der FernUniversität in Hagen, seine Arbeitsschwerpunkte sind soziologische Gegenwartsdiagnose, Quantifizierung und Soziologie der Bewertung, Wirtschafts- und Finanzsoziologie, Wissenssoziologie. Wichtigste Publikationen: Die Herrschaft der Zahlen. Zur Kalkulation des Sozialen in der kapitalistischen Moderne, Frankfurt a.M.: Campus (2012); gemeinsam mit Herbert Kalthoff (Hg.): Soziologie der Finanzmärkte, Bielefeld: transcript (2012); Accounting. Die Macht der Zahlen im gegenwärtigen Kapitalismus, in: Berliner Journal für Soziologie 1 (2004), S. 33-50. Josef Wehner (Dr. phil. habil.) arbeitet an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Medien- und Kommunikationssoziologie, Medien der Politik, Soziologie des Rechnens. Ausgewählte Publikationen: »Numerische Inklusion – Medien, Messungen und Modernisierung«, in: Tilmann Sutter/Alexander Mehler (Hg.): Medienwandel als Wandel von Interaktionsformen, Wiesbaden: VS (2010); gemeinsam mit Jan-Hendrik Passoth (Hg.): Quoten, Kurven und Profile. Zur Vermessung der sozialen Welt, Wiesbaden: Springer VS (2013) und gemeinsam mit Thorben Mämecke und Jan-Hendrik Passoth (Hg.): Bedeutende Daten. Modelle, Verfahren und Praxis der Vermessung und Verdatung im Netz, Wiesbaden: Springer VS (im Erscheinen). Lisa Wiedemann (M.A) ist seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wissenschafts- und Technikkulturen an der HafenCity Universität Hamburg. Ihrer Arbeitsschwerpunkte sind kulturwissenschaftliche Technikforschung, Soziologie des Körpers, Technologien des Selbst, Qualitative Sozialforschung, Emotionssoziologie. Bisherige Veröffentlichung: Datensätze der Selbstbeobachtung – Daten verkörpern und Leib vergessen?, in: Stefan Selke (Hg.): Lifelogging. Digitale Selbstvermessung und Lebensprotokollierung zwischen disruptiver Technologie und kulturellem Wandel, Wiesbaden: Springer VS (2016), S. 65-97.
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Leben nach Zahlen
Nicole Zillien (Dr. phil.) vertritt derzeit die Professur für Soziologie (Schwerpunkt Konsum- und Kommunikationsforschung) an der Universität Trier. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Medien-, Wissens- und Techniksoziologie. Wichtigste Publikationen: gemeinsam mit Geritt Fröhlich und Mareike Dötsch: Zahlenkörper. Digitale Selbstvermessung als Verdinglichung des Körpers, in: Kornelia Hahn/ Martin Stempfhuber (Hg.): Präsenzen 2.0. Körperinszenierung in Medienkulturen, Wiesbaden: Springer VS (2014), S. 77-96; Ludwik Fleck und die ›Verehrung der Zahl‹ – Beitrag zu einer Soziologie der Quantifizierung, in: Martin Endreß/ Klaus Lichtblau/Stefan Moebius (Hg.): Zyklos 3. Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie, Wiesbaden: Springer VS (im Erscheinen); gemeinsam mit Marion Müller: Das Rätsel der Retraditionalisierung. Zur Verweiblichung von Elternschaft in Geburtsvorbereitungskursen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 3 (im Erscheinen).