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German Pages [296] Year 2016
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Grenzfragen Veröffentlichung des Instituts der Görres-Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung (Naturwissenschaft – Philosophie – Theologie) Herausgegeben von Günter Rager und Gerhard Wegner Band 40
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Synthetische Biologie – Leben als Konstrukt Herausgegeben von Günter Rager und Gerhard Wegner
Beiträge von Gerhard Wegner Günter Rager Manfred Stöckler A. Pühler Ulrich Lüke Jan Szaif Peter Neuner Ludger Honnefelder Thomas Heinemann Rüdiger Goldschmidt
Verlag Karl Alber Freiburg / München 3 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau/München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: W. Dittebrandt Layout & Satz, Baden-Baden Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48745-7 E-ISBN 978-3-495-80828-3
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Inhalt Vorwort – Synthetische Biologie – Neue Debatte über das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Günter Rager /Gerhard Wegner Konzepte, Strategien und Ziele der Synthetischen Biologie: eine kritische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Gerhard Wegner Morphologie und funktionelle Einheiten der Zelle . . . . . . . 53 Günter Rager Synthetische Biologie im Lichte der Naturphilosophie: Ein Plädoyer für einen nüchternen Blick . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Manfred Stöckler Von der Molekulargenetik zur Synthetischen Biologie – Geburt einer neuen Technikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 111 A. Pühler Das Leben – natürlich, übernatürlich, künstlich? . . . . . . . . . 127 Ulrich Lüke Natürlichkeit und Künstlichkeit Bemerkungen zur ethischen Problematik der Manipulierbarkeit des humangenetischen Substrats . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Jan Szaif Lebens-Wert. Aspekte eines theologischen Verständnisses vom Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Peter Neuner 5 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Inhalt
Perfektionierung des Menschen? Paradigmen, Ziele und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Ludger Honnefelder Leben als Konstrukt – Ethische Herausforderungen durch die Synthetische Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Thomas Heinemann Legitimationsdruck und Akzeptanzentwicklung bei neuen Forschungsfeldern. Das Beispiel Synthetische Biologie . . . . 267 Rüdiger Goldschmidt Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
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Vorwort Synthetische Biologie Neue Debatte über das Leben Günter Rager / Gerhard Wegner
„Leben“ ist eines jener vielschichtigen Worte unserer Sprache, das erst durch Zufügen von Attributen, Konnotationen und im Kontext seines Gebrauchs zu einem kommunizierbaren Begriff wird. Menschliches Leben wird als hoher moralischer Wert betrachtet und muss unter allen Umständen „geschützt“ und „gerettet“ werden. Andererseits sagt der Dichter „Leben ist der Güter höchstes nicht“, meint jedoch etwas ganz anderes als die Rettung von Menschenleben. Menschen sollen unter „lebenswürdigen“ Umständen ihr Dasein verbringen und keinesfalls ein „Hundeleben“ erdulden müssen. Das „gesellschaftliche“ Leben bezeichnet einen ganz anderen Kontext, dem auch das „geistige“ Leben einer Person, einer Gruppe von Menschen oder eines ganzen Volkes zugeordnet wird. Der Lebensraum, die Lebensqualität, der Lebensstil bezeichnen wiederum andere Aspekte menschlicher oder manchmal auch animalischer Gesellschaften. „Leben“ qualifiziert sich auch durch seinen Gegensatz, den „Tod“. In diesen Kontext gehören Aussagen zum „ewigen“ Leben und auch zum Thema „geistiges“ Leben, das eine nicht an Materie gebundene Form lebender Wesen postuliert. Der Begriff „Seele“ wird hierbei genutzt, um die besondere Qualität des Lebendigen von derjenigen „toter“ Materie zu unterscheiden. In vielen, auch rein naturwissenschaftlichen Texten, findet sich häufig die Unterscheidung von unbeseelter (englisch: un7 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Günter Rager / Gerhard Wegner
animate) und beseelter (englisch: animate) Materie, um Situationen zu unterscheiden, in denen sich die gleichen chemisch-physikalisch definierten Stoffe identifizieren lassen, jedoch einmal in „lebenden“ Wesen wie Tieren oder Pflanzen, zum anderen in abgestorbenen oder mineralischen Ablagerungen dieser Wesen. Dabei bleibt unklar, was mit „beseelt“ und „unbeseelt“ eigentlich gemeint ist, wenn dieser Begriff auf jegliche, auch einfachste Lebensformen angewendet wird, wie z.B. einzellige Lebewesen. Dass die Unterscheidung von „lebend“ und „tot“ ganz und gar nicht einfach ist, zeigt die umfangreiche und leidenschaftliche Diskussionen zum Thema Organtransplantation, Hirntod und Präimplantation, die sich allerdings (nur) speziell auf den Beginn und das Ende individuellen menschlichen Lebens beziehen. Dahinter steht aber die viel weitreichendere Frage, was eigentlich Leben selbst in den einfachsten Lebensformen ausmacht und wie es unter irdischen Bedingungen vor langer Zeit entstanden ist oder entstanden sein könnte. Der letzte Halbsatz legt nahe, dass die (Natur)Wissenschaft hierzu keine fundierten Aussagen machen kann. Es handelt sich um eine der größten Fragen aktueller Forschung in den Naturwissenschaften. Diese Frage beschäftigt keineswegs nur die Biologie, also die Wissenschaft von den lebendigen Dingen, sondern zieht das gesamte Spektrum der Naturwissenschaften in ihren Bann, einschließlich der Gebiete der Informatik, der Astronomie und der reinen Mathematik. Im Bereich der Naturwissenschaften besteht weitestgehend Übereinstimmung, dass selbst einfachste Lebensformen, die z.B. nur aus einer einzigen Zelle bestehen, bereits ein Maß an Komplexität aufweisen, das mit heutigen Mitteln und Methoden der exakten Naturwissenschaften noch nicht vollständig beschreibbar ist. Auch wenn einzelne Bestandteile auf der Ebene der Moleküle gut bekannt sind, so ist doch deren raum-zeitliche Wechselwirkung, die „Leben“ bedingt, weitestgehend nicht verstanden. Auf einer höheren Ebene der Abstraktion besteht Übereinstimmung, dass derar8 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Vorwort
tige einfachste Lebensformen sich als „chemische Maschinen“ definieren lassen, die autonom fungieren. Autonomie bedeutet hier, dass sie 1) über einen molekular-definierten Apparat verfügen, in dem die Information über ihre Synthese gespeichert ist und aus dem diese Information ausgelesen und zur Synthese der eigenen molekularen Bauelemente genutzt wird, 2) dass diese Maschine mit ihrer Umgebung in Wechselwirkung treten kann, und zwar in Form von Stoff- und Energieaustausch. Letzteres wird als metabolische Aktivität zusammengefasst. Dies ist 3) nur möglich, wenn die Maschine über eine Begrenzung verfügt, die ihr Individualität verleiht, d.h. die Definition von „innen“ und „außen“ wird zum Wesensmerkmal dieser Maschine. Gemeinhin wird diese Funktion durch eine Zellmembran gewährleistet, deren Herstellung von der Zelle selbst bewerkstelligt wird. Schließlich ist diese Maschine 4) fähig, sich selbst zu reproduzieren, sich also zu vermehren. Der Befund, dass alle Lebensformen, die wir auf unserem Planeten finden, den gleichen molekularen Mechanismus der Informationsspeicherung und Auslese nutzen, legt die Vermutung nahe, dass es einen ersten gemeinsamen Vorfahren gegeben haben muss, aus dem sich dann im Zuge der Evolution alle weiteren Lebensformen entwickelt haben, bis hin zum Menschen. Dies ist das Thema der Evolutionsbiologie. Sie kann jedoch keine Aussagen darüber treffen, wie die erste Lebensform entstanden ist und wie der Minimalorganismus ausgesehen hat, aus dem heraus die Evolution auf unserem Planeten ihren Ausgang genommen hat. Vorsichtigerweise sprechen die mit dieser Frage befassten Naturwissenschaftler daher auch vom „Leben-wie-wir-es-kennen“ und schließen damit nicht aus, dass Leben auf anderen Planeten im Universum auch ganz andere Formen haben könnte, als wir es uns vorstellen. Unabhängig von der materiellen Basis müssen jedoch die bereits genannten Bedingungen erfüllt werden, um eine autonom agierende Maschine zu gewährleisten, von der man sagen kann, dass sie 9 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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lebe. Ob eine solche Maschine bereits Selbstbewusstsein aufweist, ist eine weitreichende Frage, die hier nicht beantwortet werden kann, die aber andeutet, dass die Frage nach Entstehung und Funktion der ersten Lebensform auch ganz andere Fragen, wie z.B. die ‚Intelligenz‘ von Computern oder Computernetzwerken berührt. Die bisherigen Ausführungen lassen sich insoweit zusammenfassen, dass molekulare Maschinen im Sinne der Bedeutung ihrer Bau- und Funktionselemente als Konstrukt zu bezeichnen sind. Insofern sind sie den uns bekannten und vom Menschen geschaffenen Maschinen ähnlich. Dies gilt aber auch für den Begriff „Leben“ selbst, der ja nach Kontext ganz verschiedene Situationen erfasst. Diese Kontexte herauszuarbeiten ist Aufgabe und Ziel der Beiträge zu diesem Band der Reihe „Grenzfragen“ des Instituts der Görres-Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung. Aus verschiedenen Blickwinkeln wird ausgehend vom Anspruch und Programm der naturwissenschaftlichen Arbeitsgebiete der Synthetischen Biologie versucht, den Begriff des Lebens als Konstrukt verschiedenster Konnotationen zu erfassen und in seiner Bedeutung klarzulegen. Sollte die Herstellung von Leben wirklich möglich und Ziel der Synthetischen Biologie sein, dann ergeben sich bedeutende ethische Probleme, die ebenfalls in diesem Band behandelt werden. Der erste Beitrag zu dieser Sammlung von Aufsätzen stammt von Gerhard Wegner. Er befasst sich unter der Überschrift „Konzepte, Strategien und Ziele einer Synthetischen Biologie: eine kritische Betrachtung“ mit der Entstehungsgeschichte und Einordnung dieses neuen Gebietes der Naturwissenschaften und seinen Bezügen zu anderen Disziplinen. Dies erfordert den Blick auf die historische Entwicklung der Lebenswissenschaften, um die in der Öffentlichkeit beanspruchte und in den Medien herausgestellte Neuheit dieses Arbeitsgebietes in Perspektive zu stellen. 10 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Vorwort
So erweist sich z.B. die häufig kolportierte Behauptung, dass die Synthetische Biologie die gleiche Bedeutung für die Lebenswissenschaften habe wie die Synthetische „Organische“ Chemie vor 200 Jahren und in Analogie zur Chemischen Industrie zu einer „Biologie-Industrie“ führen müsse, als eine Fehlinterpretation wissenschafts-historischer Entwicklungen. Der Beitrag zeigt die Wurzeln und methodischen Bezüge der Synthetischen Biologie zu anderen Teildisziplinen von Chemie, Physik, Biologie, Informatik usw. auf und erläutert, dass es sich um ein Konglomerat handelt, dessen Bedeutung sich aus der Qualität der ins Visier genommenen Fragestellungen ergibt und nicht aus methodischer Neuheit. Der deutlichste Bezug ergibt sich zur Systembiologie, einem modernen Teilgebiet der Biologie. Die Systembiologie hat sich zum Ziel gesetzt, Organismen ganzheitlich zu beschreiben und zu verstehen, also die Komplexität zumindest einfachster Lebensformen so zu erfassen, dass eine Beschreibung mit den Methoden der mathematischen Modellierung und Bioinformatik möglich wird. Dies schließt auch das Verhalten dieser einfachen Systeme ein, d.h. das gesamte Spektrum der Wechselwirkungen der Lebensformen untereinander und mit ihrer Umwelt. Die Systembiologie liefert die unentbehrlichen Vorlagen für die Aufgaben, die sich die Synthetische Biologie stellt: nämlich die Konstruktion von einfachsten Lebensformen aus den dazu nötigen Substrukturen und molekular definierten Komponenten. Insofern ist es richtig, wenn man sagt, die Synthetische Biologie habe die Sicht des Ingenieurs auf die Biologie zum Inhalt. Vereinfacht gesagt geht es um die Definition und Konstruktion einer sogenannten „Minimalzelle“, die sich auch als molekulare Maschine verstehen lässt. Diese Maschine soll alle Phänomene aufweisen, die eine lebende Zelle auszeichnen, also Stoffwechsel, Reproduktion, Zellteilung usw. Es ist nur zu verständlich, dass die so formulierte Herausforderung von der Annahme ausgeht, dass „Leben“ eine Konsequenz des komplexen Zusammenwirkens mo11 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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lekular definierter Komponenten und ihrer Kommunikation mit ihrer wie auch immer definierten Umwelt ist. Hierfür wird der Begriff der Emergenz oder auch Autopoiese verwendet. Der Begriff deutet an, dass die „Maschine zu laufen beginnt“, sobald ein bestimmter Grad der Komplexität ihrer Komponenten erreicht ist und die Kommunikation mit der Umwelt funktioniert. Die Analogie zum Starten eines Motors ist angebracht. Mit ihrem Anspruch gerät die Synthetische Biologie in Konflikt mit Weltanschauungen, in denen „Lebenskraft“ und „Schöpfung des Lebens“ eine wichtige Rolle spielen. Die Frage, ob und wie sich synthetische Lebensformen, d.h. einfachste Organismen herstellen lassen, ist daher von grundsätzlicher Bedeutung und wird nicht dadurch in ihrer Relevanz geschmälert, dass an dem Erfolg der Synthetischen Biologie z.T. utopische Hoffnungen geknüpft werden, die von der Erzeugung neuer Heilmittel über Werkstoffe mit wunderbaren Eigenschaften bis zum Entstehen neuer umwelt- und klimaschonender Industrien träumen. Ein nüchterner Blick auf die Situation unseres derzeitigen Wissens und Vergleich mit anderen Wissensgebieten legt solche Ansprüche als pure Propaganda offen. Andererseits bedient die Synthetische Biologie mit ihrem Programm und Anspruch der Schaffung „neuer“ Lebensformen – selbst wenn sich das zur Zeit lediglich auf die Erzeugung von „Minimalzellen“ bezieht – archetypische Ängste und Phantasien, die spätestens seit dem 19. Jahrhundert immer wieder die Vorlage zu literarischen und soziokulturellen Phänomenen liefern. Ein Schlüsselbegriff ist das Frankenstein-Syndrom, das in vielerlei Variationen und Ausschmückungen immer wieder – bis heute – die Vorlage zu Romanen, Filmen , bis hin zu Horrorphantasien bietet: Forscher schaffen aus toter Materie, z.B. auch aus Leichenteilen, einen künstlichen Menschen, der entweder Gegenstand eines grausamen Schicksals wird oder aber in nicht vorhergesehener und katastrophaler Weise in die Lebenswelt seines Umfelds eingreift. 12 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Vorwort
In dieses Kapitel gehört auch das Thema der Herrschaft von Maschinen über die Menschen, sobald die Maschinen einen nicht näher definierten Grad von Komplexität erreicht haben und damit „Selbstbewusstsein“ erlangen. Der Begriff der künstlichen Intelligenz, der moderne Entwicklungen der Informatik bezeichnet, trägt zu solchen Befürchtungen bei. Letztendlich – so dieser Beitrag – wird die Synthetische Biologie dabei helfen, Begriffe wie Lebenskraft oder auch Schöpfung des Lebendigen einer schärferen Definition zuzuführen. Um besser zu verstehen, worum es in der Synthetischen Biologie geht, sollte man mehr wissen über die Zelle, ihre Struktur und die Funktionsweisen ihrer Elemente. Günter Rager liefert einen Überblick über „Morphologie und funktionelle Einheiten der Zelle“. Nach einem kurzen Gang durch die Geschichte und die Methoden der Zellforschung gibt er eine Übersicht über den Bauplan der Zelle und beschreibt die Elemente und Kompartimente der Zelle sowohl unter morphologischen als auch molekularbiologischen Gesichtspunkten. Da die genetische Information für die Synthetische Biologie von großer Bedeutung ist, wird der Verankerung dieser Information in der DNA und ihrer Übersetzung für die Herstellung von Proteinen durch Transkription und Translation besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Das primäre Transkript der DNA in die RNA enthält noch große Abschnitte (Introns), die anscheinend keinen Beitrag für die Herstellung der Proteine leisten. Sie werden durch den Vorgang des Spleißens entfernt. Die durch das Spleißen entstandene definitive RNA (mRNA) dient dann als Matrize für die Herstellung von Proteinen. Mit diesem Vorgang der Translation wird das Alphabet der Nukleotide in der RNA übersetzt in das Alphabet der Aminosäuren in den Proteinen. Diese Übersetzung ist aber nicht eineindeutig, weil mehrere NukleotidTripletten (Codons) für die gleiche Aminosäure codieren. Schon hier zeigt sich, dass die genetische Information nicht eins-zu-eins 13 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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auf die Sprache der Proteine übersetzt wird. Die Übersetzung steht, wie man heute weiß, unter dem modifizierenden Einfluss anderer Faktoren, nämlich den epigenetischen Mechanismen, über die auch die Einflüsse der Umwelt einer Zelle zur Geltung kommen. Die Möglichkeiten der Einflussnahme der Umwelt über die Genetik variieren stark mit dem Entwicklungsalter des Organismus. Die Beschreibung dieser Vorgänge wird durch zahlreiche Abbildungen verständlich gemacht. Im letzten Teil geht Rager auf einige wichtige Probleme der molekularen Genetik ein. Das Human Genome Project (HUGO) hat zwar das Alphabet der DNA entschlüsselt. Wir sind aber weit davon entfernt, mit diesem Alphabet sinnvolle Sätze zu bilden. Selbst der Begriff des Gens wurde in Frage gestellt und schließlich durch eine sehr allgemeine Formulierung umschrieben. Sodann zeigte sich, dass das Genom der Spezies Mensch sehr komplex ist und viele verschiedene Genvarianten beinhaltet. Deshalb wurden Anschlussprojekte wie das Human Genome Diversity Project (HGDP) ins Leben gerufen, um mehr über diese Komplexität zu erfahren. Der Transkriptions- und Translationsprozess stellte sich ebenfalls als sehr komplex heraus. Es werden laufend neue Mechanismen entdeckt, die das Verständnis dieser Prozesse immer schwieriger machen. Hierzu gehört z. B. die mikroRNA (miRNA), welche die Genexpression auf der post-transkriptionellen Seite hochspezifisch regulieren kann. Angesichts dieser Komplexität und Variabilität stellt sich die Frage, ob und inwieweit die vielfältigen Ziele der Synthetischen Biologie realistisch sind. Ferner sollte man die Gefahren des Missbrauchs nicht übersehen. Die Möglichkeiten des Missbrauchs reichen von gesundheitsschädigenden Nahrungsmitteln bis zum Bioterrorismus. In seinem Beitrag „Von der Molekulargenetik zur Synthetischen Biologie – Geburt einer neuen Technikwissenschaft“ stellt Alfred 14 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Vorwort
Pühler die Synthetische Biologie unter dem Aspekt der Technikwissenschaften dar. Er fokussiert seine Darstellung auf einzellige Organismen wie Bakterien, Hefen und Pilze und klammert mehrzellige Organismen aus. Da eine kurze prägnante Definition der Synthetischen Biologie bislang fehlt, legt Pühler seinen Ausführungen die umfangreiche Umschreibung dieses Gebiets zugrunde, wie sie von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina 2009 veröffentlicht wurde. Diese Umschreibung weist auf ingenieurwissenschaftliche Prinzipien hin und hebt hervor, dass die Synthetische Biologie Eigenschaften natürlich vorkommender Zellen nutzt, um neuartige Zellen zu konstruieren. Als Wurzeln der Synthetischen Biologie sieht er die Entschlüsselung des genetischen Codes, die Entwicklung der Gentechnik, welche erlaubt, Erbinformationen aus beliebigen Organismen in einzellige und mehrzellige Lebewesen einzufügen, die Sequenzierung der DNA und schließlich die chemische Synthese der DNA. In den Medien wurde die Synthetische Biologie im Frühjahr 2010 präsent durch eine Publikation der Craig VenterGruppe, welcher es gelang, eine bakterielle Zelle zu konstruieren, die von einem chemisch synthetisierten Genom gesteuert wird. Es ist aber festzuhalten, dass dabei nicht etwas Neues geschaffen, sondern schon Vorhandenes nachgebaut wurde. Synthetische Biologie konstruiert lebende Systeme unter Verwendung von vorhandenen biologischen Komponenten. Das ist scharf abzugrenzen von der Herstellung künstlichen Lebens. Bis heute ist kein künstliches Leben geschaffen worden. Heute wird die Synthetische Biologie oft als komplexe Gentechnik verstanden, mit der man wichtige Substanzen synthetisieren kann. Ein bekanntes Beispiel ist die Biosynthese der AntimalariaSubstanz Artemisinin. Die Entwicklung von Minimalzellen ist ein weiteres wichtiges Ziel der Synthetischen Biologie. Minimalzellen sollen nur essentielle Gene, also ein Minimalgenom enthalten. Sie 15 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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sollen u.a. dazu dienen, bestimmte Substanzen zu produzieren. Damit werden aber auch Gefahrenpotenziale der Synthetischen Biologie sichtbar, nämlich die Möglichkeit, biologische Waffen zu entwickeln. Mit der Planung und Realisierung von synthetischen Mikroorganismen durch Zusammenführung von Eigenschaften aus unterschiedlichen in der Natur vorkommenden Lebewesen wird der Weg zur Technikwissenschaft beschritten. Weitreichende Pläne und Ziele für die Zukunft sind vorhanden. Gegenwärtig ist aber die Synthetische Biologie über Anfangserfolge noch nicht hinausgekommen. Soll man oder muss man sogar die Synthetische Biologie aus der Sicht der Naturphilosophie oder der Wissenschaftstheorie anders beurteilen als z.B. die Gentechnik heutigen Standes? Ergeben sich daraus neue normative Konsequenzen? Diesen Fragen stellt sich Manfred Stöckler in seinem Beitrag unter dem Titel „Synthetische Biologie im Lichte der Naturphilosophie: ein Plädoyer für einen nüchternen Blick“. Alles beginnt mit der Frage, ob das nicht vom Menschen Beeinflusste, das wir „natürlich“ nennen, besser als das „Künstliche“, d.h. „Synthetische“ ist. Oder kann man nicht gerade durch Eingriffe in die Natur eine bessere Welt schaffen? Stöckler stellt Versuche vor, die Frage, was eigentlich „Leben“ ist, durch eine explizite Definition zu beantworten und zwar mit dem Ziel, die normativen Folgen des zur Zeit gängigen Begriffs „Leben“ herauszuarbeiten. Hinter einzelnen Debatten um den Begriff „Leben“ und seiner ethischen Implikationen stehen – so Stöckler – meist Wertvorstellungen, die eher historisch und kulturell begründet sind als dass sie auf explizite philosophische und ethische Argumente zurückgeführt werden können. Im Grund geht es bei der Unterscheidung zwischen Lebewesen und Maschinen darum, dass man den Lebewesen – anders als Maschinen – eine besondere Lebenskraft zuweist und sie damit als besonders schützenswert definiert. Ande16 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Vorwort
rerseits darf man im Sinne reduktionistischer Ausdrucksweise sagen: Lebewesen verhalten sich in bestimmter Hinsicht und mit Blick auf das Zusammenwirken verschiedener molekularer Funktionseinheiten wie Maschinen. Letztendlich stellt sich die Frage, ob synthetisch hergestellten Lebewesen eine Würde zukommen kann oder soll? Entlang dieser Fragen und Gedankengänge findet Stöckler, dass die Synthetische Biologie mit ihrem Programm keineswegs einen neuen Begriff vom Leben nahelegt oder gar begründet. Ein besonderes und über derzeitige Definitionen hinausreichendes Verständnis von Leben liege nicht vor. Seine Ausführungen zum Thema: Biologie als Ingenieurswissenschaft nehmen Bezug auf mögliche Anwendungen der Ergebnisse Synthetischer Biologie; dazu gehören die Übertragung technischen Handelns auf die Herstellung neuer Organismen mit Zielen der Bewältigung komplexer technischer Herausforderungen. Schließlich setzt sich Stöckler mit dem in neuerer Zeit häufig geäußerten Vorwurf auseinander, der Mensch bzw. der Forscher „spiele Gott“, wenn er auf dem Gebiet der Synthetischen Biologie forsche. Im Sinne einer solchen Aussage wäre es Hybris, Leben synthetisch zu erzeugen. Vermutlich – so Stöckler – sind solche Vorwürfe nicht religiös hinterfüttert, sondern es geht lediglich um zugkräftige Formulierung von Schlagzeilen in populären Journalen, es sei denn, es gäbe ein Tabu (von wem verhängt?) an der Grenze von Belebtem und Unbelebtem. Drastische Bilder und Aussagen wie „Gott spielen“ appellieren an Gefühle und Vorurteile, die wenig dabei helfen, im Einzelfall konkrete Entscheidungen zu begründen oder moralisch zu rechtfertigen. In den Kontroversen, die durch die Definition des Arbeits- und Wissensgebietes Synthetische Biologie ausgelöst wurden, wird der Begriff des Natürlichen in den Gegensatz zur Welt des Synthetischen gebracht. Letztere wird auch häufig als „künstlich“ verstanden. „Künstliches Leben“, wenn es denn je ein solches geben soll17 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Günter Rager / Gerhard Wegner
te, wird als nicht erstrebenswert beurteilt, ja als Gefahr für den Bestand natürlichen Lebens gesehen. Das ist die Vorlage für Ulrich Lüke, der sich in seinem Beitrag mit dem Titel „Das Leben – natürlich, übernatürlich, künstlich?“ mit der Begriffswelt der Biologen und Bioingenieure auseinandersetzt. Wenn diese über die Generierung künstlichen Lebens sprechen und dabei Begriffe wie Emergenz oder Fulguration verwenden, um anzudeuten, dass aus der Komplexität physikalisch-chemischer Prozesse, die in eine Zelle hinein konstruiert worden sind, als neue Eigenschaft der Materie „Leben“ entstehen kann (oder soll), so entlarvt Lüke dies als einen eigentlich metaphysischen Hintergrund ihrer Sprechweise. Die im Rahmen der Naturwissenschaft nicht verfügbaren Begriffe wie „Gott“ oder „Wunder des Lebens“ werden durch andere Begriffe ersetzt, die aber nur scheinbar einen naturwissenschaftlich rational erfassbaren Inhalt haben. Lüke stellt die Annahmen und Voraussetzungen eines materialistischen Mechanizismus („Alles Leben ist aus physikalisch-chemischen Komponenten und deren Wechselwirkungen heraus erklärbar“) einem dualistisch orientierten Neovitalismus gegenüber. Letzterer benötigt die Annahme einer spezifischen Lebenskraft (Vis vitalis) als Bestimmungsmerkmal von Leben. Diese Annahme hat jedoch die ihr eigenen Defizite, indem sie sich nur schwer, eigentlich gar nicht mit dem Stand naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Übereinstimmung bringen lässt. Lüke verkennt nicht, dass sich die Theologie entsprechend der Fortschritte der Synthetischen Biologie mit deren erhofften – vielleicht auch gefürchteten – Ergebnissen und Erkenntnissen auseinandersetzen muss. Dies mag dazu führen, dass z.B. Begriffe wie „Schöpfung“ präzisiert und eventuell einer neuen Deutung zugeführt werden müssen. Freilich wirft dies umso deutlicher Fragen nach der Verantwortbarkeit des Programms der Synthetischen Biologie auf, insofern sie „neues Leben“ schaffen bzw. konstruieren will, jedoch die Konsequenzen solcher Forschungen und deren Ergebnisse nicht voraussagen kann. 18 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Vorwort
Auch im Beitrag von Jan Szaif geht es um das Verhältnis von Natürlichkeit und Künstlichkeit, wobei Bezug auf den Lebensbegriff genommen wird, der philosophischen Betrachtungen hinterlegt ist. Für Szaif stellt sich diese Frage vor allem vor dem Hintergrund der Möglichkeiten zur Manipulation des menschlichen Genoms, die er als künstlich bezeichnet. Der für ihn zentrale Ausgangspunkt ist die Feststellung: „Im Kontext der zeitgenössischen Synthetischen Biologie ist es denkbar geworden, die genetische Ausstattung eines werdenden Menschen künstlich festzulegen, indem man einen genetisch identischen Menschen durch Klonierung reproduziert oder indem man sein Genom zuerst künstlich synthetisiert und dann in eine Eizelle implantiert…“. Damit wird zweifelsfrei ein theoretisch interessanter Fragenkomplex angeschnitten und von Szaif in den Kontext antiker Philosophie sowie moderner Ethik gerückt. Obwohl Szaif damit weit über die gegenwärtigen Ziele der Synthetischen Biologie auf eine ungewisse Zukunft hinausgreift, muss man sich auch diesen Fragen stellen. Sein Beitrag mit dem Titel „Natürlichkeit und Künstlichkeit: Bemerkungen zum Ursprung dieser Antithese und ihrer ethischen Bedeutung hinsichtlich des menschlichen Genoms“ liefert wichtige Erkenntnisse zur Genese antiken Denkens und der jeweiligen Voraussetzungen von Aussagen zum Gegensatz von natürlich und künstlich. Peter Neuner untersucht in seinem Beitrag: „Lebens-wert. Aspekte eines theologischen Verständnisses vom Leben“ Inhalt und Bedeutungsräume des Begriffs „Leben“ für Aussagen weltanschaulicher, theologischer und religiöser Art. Er weist zunächst darauf hin, dass in Philosophie und Theologie „Leben“ und „Tod“ als korrelative Begriffspaare gedacht werden und es eines langen Weges bedurfte, um eine Unterscheidung zwischen belebter und unbelebter Natur zu treffen. Er erinnert daran, dass frühe Mythen und Religionen nicht zwischen belebt und unbelebt unterscheiden, 19 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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sondern annehmen, dass die gesamte Natur „beseelt“ sei. Jedoch erscheint bereits früh in der antiken und verstärkt in der neuplatonischen Philosophie Leben als Wertbegriff. Es wird als gut, wertvoll und erhaltenswert identifiziert. Alles, was den Gegensatz zu Leben bildet, wird als unwert empfunden und der Tod ist das Unheil schlechthin. Philosophische Konzepte der Antike identifizieren Leben auch mit Selbstbewegung und es ist die Seele, die alle Lebewesen in Bewegung hält. Im aristotelischen Denken steht der Akt des Denkens im Zentrum des Lebens. Von solchen Aussagen und Vorstellungen ist es nicht weit zu den biblischen Botschaften, wie z.B. den Aussagen des Johannesevangeliums. Leben meint in diesem Evangelium die Zusammenfassung aller Heilsverheißungen und Heilserwartungen. Leben ist eine Gabe Gottes, das den Menschen durch Christus zu Teil wird. Er ist Träger und Spender des Lebens. In diesem Sinn sagt Christus im Johannesevangelium von sich, dass er lebt, das Leben in sich hat und dass er die Auferstehung und das Leben ist. Der Glaubende erhält das ewige Leben, die vollständige Form des Heils und der Erlösung von allem Übel und Bösen. Leben im Sinne dieser Botschaft stellt also einen Heilsbegriff dar, der nicht mit irgendwelcher biologisch-naturwissenschaftlicher Interpretation belegt werden kann und darf. Für den Gläubigen stellt Besitz des Lebens in religiösem Sinn den höchsten Wert dar. Dieses Leben kommt dem Menschen nicht aus eigener Kraft und Leistung zu und ist auch nicht Konsequenz seines Intellekts, sondern es ist Geschenk Gottes, der lebendiges Leben ist und Leben schaffen kann: wo immer Leben ist, dort ist Gott am Werk, ist der Inhalt des Glaubens. Diese religiös begründete Aussage – so Neuner – hat weitreichende Bedeutung für Ethik und insbesondere für Fragen, die mit dem Beginn und dem Ende des Lebens zusammenhängen. Dem Menschen ist im Sinne dieser Glaubenssätze aufgegeben, Leben zu schützen und es zu bewahren. Daher wird ein Verstoß gegen das 20 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Vorwort
Leben, vor allem das menschliche Leben, als Schuld und schwerwiegende Verfehlung gewertet. Es ist nur zu verständlich, dass aus solchen tief verankerten Vorstellungen und Denkbahnen Ängste gegenüber dem Programm der Synthetischen Biologie erwachsen. Sie sind freilich nicht rational zu begründen, da Leben im Kontext der Synthetischen Biologie ein ganz anderes Konstrukt beschreibt als das, welches auf biblischer Botschaft und Glaubenssätzen beruht. Obgleich die Synthetische Biologie nach Aussagen aller Fachleute die Manipulation der genetischen Ausstattung höherer Lebewesen oder des Menschen nicht im Programm hat, wird doch in der besorgten Öffentlichkeit häufig vermutet, dass es in der Konsequenz erfolgreicher Forschung bei der Konstruktion einfachster Lebensformen dazu kommen könnte, die Ergebnisse auch auf Menschen bzw. deren genetische Ausstattung anzuwenden. Von solchen Überlegungen oder auch Befürchtungen ausgehend, betrachtet Ludger Honnefelder in seinem Beitrag „Perfektionierung des Menschen? Paradigmen, Ziele und Grenzen“ das Ausmaß der ethischen Fragen, die mit dem Projekt einer durch Biotechnologie und Medizin in dem Bereich des Möglichen gerückten Optimierung des Menschen verbunden sind. Dabei geht es um die Grenzen zwischen dem, was dem Menschen als biologisches aber auch soziales Lebewesen durch den „Gang der Natur“ vorgegeben ist, und dem, was ihm aufgegeben ist, sich also als Sache seiner Wahl, und somit bewusster Gestaltung erweist. Honnefelder sieht dadurch die Grenze gekennzeichnet, an der der Bereich der Verantwortung beginnt. Fallen solche Grenzen über weite Bereiche weg, wie sich dies durch neue Entwicklungen in Biotechnologie oder Medizin andeutet, oder wie sie bereits Realität sind, erweitert sich der zu verantwortende Bereich in einem Ausmaß, welches die Grenzziehung zu einer ungewohnten Herausforderung und Aufgabe werden lässt. 21 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Günter Rager / Gerhard Wegner
Vor allem stellt sich die Frage, woran sich neue Grenzen orientieren sollen, wenn das, was wir bisher „Natur“ genannt haben, zunehmend selbst zu einem Artefakt und Konstrukt wird, wenn also Entstehung von Leben und seine Entwicklung zu vollständigen Lebewesen jedes Geheimnis verliert. Wo bleiben die Grenzen, wenn wir die „Ordnung der Natur“ nicht mehr als gegeben ansehen, sondern nach eigenem Entwurf bestimmen können? Was soll oder muss innerhalb konsensual gezogener Grenzen, nicht nur weil es „Natur“ des Menschen ist, sondern vor allem weil es konstitutiver Teil der Lebensform des Menschen als sozio-kulturelles Wesen ist, festgehalten werden? Was gehört konstitutiv zum menschlichen Gelingen, ohne das Urteile über das für Menschen Gute und Rechte jede Rechtfertigung verlieren? Ohne Zweifel gehört dazu die Entscheidung, alle Einsichten und Eingriffe in die Natur des Menschen als legitim zu betrachten, die zu den medizinischen Zwecken der Diagnose, Therapie oder Prävention notwendig sind, vorausgesetzt, der Betroffene hat seine Zustimmung gegeben. Die Frage der Optimierung, insofern sie sich unter der Rubrik des Heilens oder der Reparatur einordnen lässt, bedarf ausführlicherer Diskussion und ist nicht unabhängig von der weiteren Entwicklung des sozio-kulturellen Selbstverständnisses der Gesellschaft zu beantworten. Honnefelder kommt zu dem Ergebnis, dass eine Orientierung an den Gütern erforderlich ist, die über die Selbstbestimmung des Einzelnen hinaus schutzwürdig sind und sich für das Gelingen menschlichen Lebens als konstitutiv erweisen, eines Menschen, der ein endliches Leben unter kontingenten Bedingungen führen muss. Mit anderen Worten, das Gelingen des Menschen besteht nicht einfach in der fundamentalen Erweiterung seiner Möglichkeiten, sondern in der Realisierung von Zielen, deren Inhalt sich an dem für das Gelingen konstitutiv nötigen sozio-kulturellen Gütern bemisst.
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Vorwort
Für Thomas Heinemann verlangt das Programm der Synthetischen Biologie eine ethisch normative Einordnung, die weit über den gegenwärtigen Wissens- und Kenntnisstand hinaus die Grundannahmen, Möglichkeiten und Folgen dieser Forschungsrichtung untersucht und bewertet. In seinem Beitrag „Leben als Konstrukt – Ethische Herausforderungen durch die Synthetische Biologie“ zeigt er, dass solche Bewertungen unter anderem darauf beruhen, wie und ob man Unterscheidungen zwischen „natürlich“ und „künstlich“ treffen will und wie man den Begriff „Leben“ bzw. „Lebendig“ definieren möchte. Diese Fragen werden in den verschiedenen Beiträgen zu diesem Band aus den verschiedensten Perspektiven behandelt. Sie lassen sich keinesfalls eindeutig und schon gar nicht abschließend beantworten. Heinemann weist auf die Schwierigkeiten exakter Definitionen hin und bezieht sich im Weiteren auf eine Analyse dessen, was derzeit faktisch bekannt und in Forschung und Praxis als ethisch akzeptierbar bereits durchgeführt wird. Hierzu gehören u.a. die Transgression der Artengrenze, wie z.B. die Amplifikation von DNA in bakteriellen Systemen oder in Hefen, oder die Expression von Proteinen in artfremden Zellen. Auch die Veränderung natürlich vorkommender DNA-Sequenzen gehört zum üblichen Werkzeug der Molekularbiologie. Auch die seit langem übliche Herstellung und Amplifizierung von DNA-Molekülen im Reagenzglas ist ebenso unnatürlich wie die Synthese von Proteinen. Weder gegen diese synthetischen Prozesse noch gegen deren Anwendung für diagnostische, medizinische oder auch kommerzielle Zwecke haben sich bisher ethische Bedenken ergeben. Auch wird seit Jahrzehnten ein künstliches Nukleotid in der Onkologie verwendet. Jedoch wirft die komplette Synthese eines neuen Lebewesens unter Umständen neue Fragen auf, insbesondere dann, wenn dieses ganz neue und bisher nicht bekannte Eigenschaften aufweisen sollte. Die auftretenden Fragen wären von ähnlicher Art wie diejenigen, die sich bei Experimenten stellen, mit denen ver23 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Günter Rager / Gerhard Wegner
sucht wird, die Toxizität von Bakterien oder Viren zu erhöhen oder zu verändern. Schließlich muss die Frage nach der Biosicherheit gestellt werden; mit anderen Worten, die Praxis der Synthetischen Biologie muss sicherstellen, dass durch ihre Produkte kein vorsätzlich herbeigeführter Schaden auftritt, d.h. ein Schutz vor Missbrauch ist zu gewährleisten. Dies unterscheidet die Synthetische Biologie jedoch nicht grundsätzlich von anderen Richtungen und Feldern der Forschung, die auf Erfindungen und Innovation abzielen. Letzten Endes geht es um eine vernünftige und dem Stand von Technik und Recht angemessene Abwägung von Chancen und Risiken, nicht aber um grundsätzlich neue Herausforderungen an die ethische Bewertung. Die gesellschaftliche Diskussion und Akzeptanz des Gebietes der Synthetischen Biologie und seine öffentliche Wahrnehmung als Quelle von Innovation oder potentiellen Gefahren und Missbräuchen ist Thema des Beitrags von Rüdiger Goldschmidt. Für ihn ist die Synthetische Biologie kein Einzelfall, der besonderer Betrachtung bedürfte, sondern ein Thema unter vielen, bei denen gesellschaftlicher Verständigungsbedarf besteht und bei denen das Verteilen von Informationen und Publikationsaktivität der Wissenschaftler alleine nicht ausreichen, um Akzeptanz der Forschung und ihrer Ergebnisse in der Bevölkerung zu erreichen. Für ihn ist unbestritten, dass die Synthetische Biologie gesellschaftliches Entwicklungs- und Innovationspotential besitzt. Er glaubt, dass die in den Ergebnissen dieser Forschungsrichtung und daraus folgender Technologien verborgenen Veränderungspotentiale langfristig sehr tiefgreifend sein können und Unsicherheiten und Risiken neuer Art mit sich bringen werden, so dass die Gesellschaft und ihr Zusammenleben grundlegend berührt sind. Daher ist verständlich, dass sich bereits jetzt Widerstand bei gesellschaftlichen Akteursgruppen regt bzw. eine Diskussion begonnen hat, in 24 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Vorwort
der die Berechtigung der ganzen Forschungsrichtung in Frage gestellt wird. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie der Diskurs zwischen Wissenschaftlern, d.h. den kompetenten Vertretern der Forschung und den interessierten Kreisen der Öffentlichkeit, insbesondere auch mit den Vertretern der Medien so geführt werden kann, dass eine demokratisch legitimierte Grundlage für Entscheidungen erzeugt wird. Die empirische Sozial- und Konfliktforschung gibt hierzu viele Hinweise und kann Befunde vorlegen, wie Kommunikation zwischen Fachleuten und Öffentlichkeit so geführt wird, dass Akzeptanz für Innovation entstehen kann. Die empirischen Naturwissenschaften in Staaten demokratischer Verfassung und Struktur sind gefordert, ihre Ergebnisse und sich daraus abzeichnende Konsequenzen in die Öffentlichkeit zu bringen, was auch der Rechtfertigung der für die Forschung in der Vergangenheit aufgewendeten oder zukünftig aufzuwendenden finanziellen Mittel dient. Daher sind die Forscher der Synthetischen Biologie gut beraten, wenn sie die Ergebnisse empirischer Konflikt- und Kommunikationsforschung ernst nehmen und beherzigen.
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Konzepte, Strategien und Ziele der Synthetischen Biologie: eine kritische Betrachtung Gerhard Wegner
1. Eine notwendige Vorbemerkung Um der Gefahr vorzubeugen, dass die folgenden durchweg laienhaften, weil nicht von einem Biologen stammenden, jedoch kritischen Anmerkungen zum Thema „Synthetische Biologie“ falsch verstanden werden: Man darf einige der Fragestellungen, die von dieser als „neu“ bezeichneten Forschungsrichtung in den Fokus genommen werden, ohne Vorbehalt zu den wesentlichen Fragen derzeitiger Naturwissenschaft halten. Sie sind Herausforderung und Ansporn zugleich. Sie fordern das ganze Arsenal der Fähigkeiten und Methoden grundverschiedener Disziplinen heraus, um der Lösung näher zu kommen. Genau dies macht die Problematik noch schwieriger, denn je nach Disziplin stellt sich die gleiche Frage in einer verschiedenen „Sprache“, wobei verschiedene und jeder Disziplin eigene Formalismen genutzt werden. Deshalb muss es auch „Übersetzer“ geben, wobei die Korrektheit der „Übersetzung“ in jedem Fall penibel zu prüfen ist; andernfalls sind der Verwirrung von Begriffen und Befunden keine Grenzen gesetzt. Dies gilt besonders für das Gespräch von Wissenschaft mit der interessierten Öffentlichkeit, insbesondere der Publizistik. Es gilt aber auch für das Gespräch zwischen den Wissenschaften, insbesondere zwischen Natur- und Geisteswissenschaft.
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Gerhard Wegner
2. Zur Begriffsbildung der Synthetischen Biologie Die Synthetische Biologie ist ein Produkt der Evolution – nämlich der Evolution der Naturwissenschaften. Um dies zu erläutern, nehmen wir den Studienprofessor „Schnauz“ aus Heinrich Spoerl’s Feuerzangenbowle (verfilmt 1944 mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle) zum Vorbild und sagen: „ Da stellen wir uns mal ganz dumm“, wenn wir in vielen Papieren zur „Synthetischen Biologie“ lesen dürfen, diese neueste Entwicklung der Wissenschaft habe die gleiche Bedeutung für die Biologie wie die „organische“ (gemeint ist jedoch „synthetische“) Chemie für die Chemie vor 200 Jahren! Richtig daran ist: die Chemie war und ist es z.T. immer noch, – und hier gleicht sie der Biologie – eine beschreibende und analysierende Wissenschaft. Sie war zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Lage, einzelne Stoffe, die auf der Ebene der Molekülstruktur eindeutig definiert waren, in reiner Form aus lebender Materie zu isolieren und nach den Regeln der Chemie zu beschreiben. Der Nachweis, dass die behauptete Molekülstruktur richtig war, konnte im 19. Jh. jedoch nur durch die Synthese eines identischen Stoffes über einen Syntheseweg erbracht werden, der in allen Einzelheiten bekannt war und von dem man mit Sicherheit wusste, welche Atome zu welchem Molekülgerüst verknüpft werden würden. Die Synthese auf nicht-biologischem Weg war also der eigentliche Strukturbeweis für den zuvor nach den Regeln der Chemie in reiner Form isolierten Naturstoff. Die Komplexität der isolierbaren Naturstoffe machte es nötig, immer komplexere nicht-biologische Syntheseverfahren zu entwickeln, mit denen solche Stoffe synthetisiert werden konnten. Erst die Entwicklung moderner physikalischer Methoden der Strukturanalyse im 20. Jh. haben diesen mühevollen Weg des Strukturbeweises obsolet gemacht. 28 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Konzepte, Strategien und Ziele der Synthetischen Biologie
Andererseits hat die Notwendigkeit zur Entwicklung einer Methodik der Synthese den Zugang zu einer ungeheuer großen Zahl von jeweils neuen Molekülen eröffnet, für die es in der Natur kein Vorbild gab oder gibt. In der Konsequenz eröffnete dies den Zugang zur Entwicklung von Farbstoffen, Medikamenten, Pestiziden, Polymeren – also dem gesamten Spektrum der Aktivitäten heutiger Chemischer Industrie. Dürfen wir eine ähnliche Entwicklung für die „Synthetische Biologie“ erwarten, an deren Ende dann eine „Biologische Industrie“ stehen wird, wie in vielen populären Artikeln zu lesen ist? Das ist sehr unwahrscheinlich. Hier wird nämlich ein grundfalscher Vergleich gezogen: denn – erstens – gibt es bereits eine umfangreiche „biologische Industrie“. Nur nennen wir sie nicht so, weil wir die Namen „Agrarwirtschaft“, „Forstwirtschaft“, usw. eingeführt haben und – zweitens – geht es in der Biologie nicht um die Analyse und Herstellung von Stoffen, die molekular definiert sind, sondern um „Lebensformen“ mit komplexer innerer Struktur und komplexen Verhaltensmustern. Letztere bezeichnen die Summe aller Wechselwirkungen einer Lebensform mit ihresgleichen und ihrer Umwelt. Da ist qualitativ etwas ganz anderes als die Molekülstruktur eines Naturstoffes. Man kann aber noch viel mehr über den Ursprung der „Synthetischen Biologie“ aus der Historie der Chemie und verwandter Gebiete erfahren: Wie verhält es sich mit der Biochemie? Während die „organische“ Chemie zunächst nur nach der Struktur der Moleküle fragte, die aus lebender Materie isoliert werden konnte, trat alsbald die Frage auf: Wie entstehen diese Moleküle und Stoffe innerhalb der jeweiligen Organismen? Und welche Rolle spielen sie in und für das Leben der Organismen? 29 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Gerhard Wegner
Die Biochemie stellt(e) auch die Frage nach der Dynamik, d.h. der zeitlichen Variabilität der Entstehung und des Verbrauchs dieser Moleküle in den lebenden Organismen, d.h. nach den molekularen Bestandteilen des Stoffwechsels. Ein berühmtes Beispiel ist etwa die Aufklärung des Zitronensäure-Zyklus durch H. Krebs in der ersten Hälfte des 20. Jh. Demgegenüber sind Gebiete wie „Naturstoffchemie“, die sich der Aufklärung und evtl. Synthese sehr komplexer Moleküle widmet, die man aus lebenden Organismen isolieren kann, oder auch die „Bioanorganische Chemie“, die nach der Rolle und den Bindungszuständen („Koordinationssphären) anorganischer Elemente in den zellulären Funktionseinheiten fragt, von weniger grundsätzlicher Bedeutung für die hier geführte Diskussion. Für die Bioanorganische Chemie sind z.B. die Funktion von Eisen oder auch Mangan gebunden in Hämoglobin der Atmungskette oder Magnesium, gebunden in Chlorophyll des „Lichtenergiesammelnden Systems“ der Pflanzen eingängige Beispiele. Überhaupt nichts hat allerdings der moderne und eigentlich populärwissenschaftliche Begriff der „Grünen Chemie“ („Green Chemistry“) mit der Biologie zu tun. Er will in einer äußerst diffusen und nicht quantifizierbaren Weise vermitteln, dass chemische Reaktionen unter Vermeidung umweltschädlicher Ausgangs- und Zwischenprodukte zu erwünschten Produkten und Stoffgruppen geführt werden (können). Der Begriff „milde Bedingungen“ spielt hier eine Rolle, wobei unklar bleibt, was „mild“ eigentlich bedeutet. Genau so geringe Bedeutung für unsere Diskussion hat der Begriff „Organische Ernährung“ („Organic Food“) bzw. „Organische Landwirtschaft“. Nichts könnte in größerem Widerspruch zur „Organischen Chemie“ stehen, denn die genannten Bewegungen für „Organic Food“ und „Organic Farming“ wollen ja ganz bewusst auf den Einsatz synthetischer Chemie – etwa in 30 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Konzepte, Strategien und Ziele der Synthetischen Biologie
Form von Konservierungsmitteln, Pestiziden, Düngemitteln usw. verzichten und nur die „reinen“ pflanzlichen oder tierischen Materialien für die menschliche Ernährung nutzen, was immer man unter „rein“ verstehen will. Als Anekdote ist anzumerken, dass der Begründer der „Organic Food“-Bewegung, der amerikanische Journalist und Sachbuchautor Jerome Irving Rodale im Laufe einer Fernseh-Talk-Show, nachdem er gerade erklärt hatte, dass er – aufgrund der organischen Ernährung in bester Gesundheit 72 Jahre alt geworden – beschlossen habe, 100 Jahre alt zu werden und er sich nie so wohl gefühlt habe, wie gerade jetzt – tot vom Stuhle fiel: er erlitt einen Herzschlag! Jenseits anektodenhafter Bezüge soll hier nur auf die Verwirrung der Begriffe hier „organic“ („organisch“) hingewiesen werden, für die es noch viele Beispiele mehr gibt; aber dazu später, wenn wir über den Begriff „Leben“ zu sprechen haben. Anders verhält es sich mit der „Präbiotischen Chemie“, die auch vielfach „chemische Evolution“ genannt wird. Es geht um die Frage, wie sich auf einer noch unbelebten Erde unter Bedingungen einer „Welturatmosphäre“ und unter Beteiligung von energiereicher Strahlung und /oder elektrischen Entladungen an der Grenzfläche von Wasser und mineralischen Stoffen organische Moleküle gebildet haben können. Das Augenmerk richtet sich auf einfache Aminosäuren als Bausteine von Proteinen, auf Nukleobasen, wie z.B. Adenin, Guanin usw. und zuckerähnliche Moleküle (Kohlehydrate) als Bausteine von Nukleinsäuren sowie auf Fettsäuren. Die Hypothese ist seit den ersten Arbeiten von Urey und Miller (1953), dass primitive Organismen (d.h. Leben) spontan entstehen können, wenn die „Bausteine des Lebens“ auf abiotische Weise erzeugt, nur in genügend hoher Konzentration in einer „Ursuppe“ vorliegen. Aus dieser Hypothese heraus hat sich ein ganzer Zweig der Chemie 31 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Gerhard Wegner
entwickelt, der als Vorläufer der synthetischen Biologie gelten kann. Freilich gehen die Forscher des Gebietes von zahlreichen und in wichtigen Teilen ungesicherten Hypothesen aus, für die Zusammensetzung und energetische Situation einer „Uratmosphäre“ als Beispiel zu nennen ist, was hier aber nicht näher zu betrachten ist. Die „Biophysikalische Chemie“ liefert die Methoden (z. B. spektroskopische, optische und elektrische Methoden), um chemische Phänomene in (lebenden) Organismen, in Organellen und in geeigneten Modellsystemen zu untersuchen. Sie bildet die quantitative Vermessung des raum-zeitlichen Verlaufs der Phänomene auf allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten der Physikalischen Chemie und Physik ab. Das Öffnen und Schließen von Ionenkanälen in Zellen mag als Beispiel dienen. Die Biophysikalische Chemie liefert Daten und Fakten, die für die Aufstellung von Modellen für die Bestandteile der Lebensprozesse notwendig und unabdingbar sind. Sie ist daher eine Grundlage der Synthetischen Biologie. Ähnliches gilt für die Biophysik, wobei die Fragestellungen der Biophysik und der Biophysikalischen Chemie fließend ineinander übergehen und häufig eher eine Frage des Standpunktes des Bearbeiters bezeichnen als das bearbeitete Phänomen selbst. Das Wechselspiel zwischen Chemie und Biologie setzt sich seitens der Biologie mit dem Gebiet der „Molekularen Biologie“ fort und kumuliert gewissermaßen im Gebiet der Molekularen Zellbiologie. Bei beiden Gebieten geht es um die Aufklärung des Ablaufs chemischer Reaktionen, der Entstehung und des Verbrauchs chemisch definierter Stoffe in Organismen und in ihren Bestandteilen, wie z.B. den Organellen innerhalb von Zellen. Dabei spielen vor allem die räumliche Verteilung der Reaktionsorte sowie alle Transportprozesse eine Rolle. Hier wird also das komplette Geschehen 32 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Konzepte, Strategien und Ziele der Synthetischen Biologie
innerhalb lebender Organismen in den Fokus genommen. Es handelt sich sozusagen um die Antwort der Biologie auf die Vorlagen der Chemie, d.h. die Einordnung der chemischen Befunde in die Abläufe der Prozesse, die das „Leben“ der Organismen ausmachen. Die Komplexität der einzelnen Prozesse und ihr komplexes Zusammenwirken wird beschrieben und liefert damit den Katalog der Forderungen, die an eine „Synthetische Biologie“ gestellt werden dürfen, insoweit es darum geht, Konstrukte zu erzeugen, die es erlauben, Lebensprozesse experimentell nachzustellen, und zwar ohne die Beteiligung biogener Funktionseinheiten. Diese Beschreibung bezieht sich allerdings auf eine sehr radikale und gewissermaßen puristischen Definition der Synthetischen Biologie, wie wir im Weiteren sehen werden. Haben wir bisher von Chemikern und Biologen gesprochen, so kommen jetzt die „Ingenieure“ ins Spiel. „Bioengineering“ (deutsch: Biotechnologie“) bezeichnet die Anwendung und Nutzung von Organismen, wie z.B. Bakterien, Hefezellen, Algen usw. für die Produktion von Chemikalien. Für diese Zwecke sind bestimmte Verfahrenstechniken und Produktionsanlagen notwendig: das ureigenste Gebiet der Chemischen Verfahrenstechnik. Je nachdem, ob im Verfahren pflanzliche Zellen, tierische Zellen oder lediglich aus Zellkulturen isolierte Enzymkomplexe eingesetzt werden, spricht man von „grüner“, „roter“, oder „weißer“ Biotechnik: Unterscheidungen, die mit Wissenschaft und Technik wenig zu tun haben und wohl eher der „Political Correctness“ geschuldet sind. Das gilt besonders für das Gebiet der „Gentechnik“ (engl. Genetic Engineering), das äußerst erfolgreich betrieben wird. Es wird jedoch aus ideologischen Gründen in der Öffentlichkeit mit Misstrauen betrachtet. Hier geht es um das Einschleusen von modifizierter DNA in Organismen, um deren Stoffwechsel gezielt umzuprogrammieren. Das erlaubt die Nutzung dieser umprogrammier33 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Gerhard Wegner
ten Organismen zur Produktion bestimmter Chemikalien mittels Biotechnik, aber auch die beschleunigte Züchtung von z.B. krankheits-resistenten Pflanzen oder Tieren. Hier ist nicht der Ort, um über Gentechnik zu referieren oder zu diskutieren. Es geht lediglich darum, möglichst viele Quellen und Arbeitsebenen aufzuzeigen, die mit der Synthetischen Biologie einen Zusammenhang aufweisen und aus denen sich das Programm und die Methoden der Synthetischen Biologie speisen. Unter vielen anderen Gebieten sind vor allem noch drei weitere zu nennen: Erstens die „Biomimetik“. In diesem Arbeitsgebiet werden Funktionen, die man aus lebenden Organismen kennt, durch synthetische Modelle nachgestellt. Ein bekanntes Beispiel ist der Transport von Molekülen bzw. Ionen durch synthetisch erzeugte Membranen mit dem Ziel, das biologische Vorbild – die Zellmembran – bezüglich Selektivität und Dynamik weitestgehend nachzubilden. Man möchte die Transportprozesse besser verstehen und quantifizieren. In der Regel versucht die Biomimetik, einzelne herausgegriffene Prozesse modellhaft dem Experiment zugänglich zu machen. Dabei tritt auch die Frage zu Tage, inwieweit das komplexe Verhalten eines Organismus durch ein einzelnes Phänomen sozusagen „pars-pro-toto“ dargestellt werden kann. Es ist aber richtig, dass experimentelle Erfahrungen aus der Biomimetik ein Gerüst bilden, aus dem heraus „Synthetische Biologie“ sich entwickeln kann. Häufig wird bei der Beschreibung der Ziele der Synthetischen Biologie auch die Erzeugung neuartiger oder zumindest „optimierter“ Materialien genannt: „Biomaterialien“ , manchmal auch als „intelligente“ Materialien (Smart Materials) bezeichnet. Die Feststellung sei erlaubt, dass es sich hierbei um ein Gebiet von eher untergeordneter Bedeutung handelt, das der Biotechnik und weniger der Synthetischen Biologie zugehörig ist. Freilich lässt sich darüber lange und kontrovers diskutieren, wozu hier aber nicht der Platz ist. 34 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Konzepte, Strategien und Ziele der Synthetischen Biologie
Schließlich muss noch die „Bionik“ genannt werden, ein weiteres Gebiet, auf dem sich Biologen und Ingenieure treffen, das aber wenig oder keinen Bezug zu unserem Thema hat. Es geht nämlich um die Bewertung von makroskopischen Verhaltensweisen und Fähigkeiten von Lebensformen unter Gesichtspunkten der Physik und der Ingenieurswissenschaften also z.B. um die Flugfähigkeit von Insekten oder Vögeln, die Zusammenhänge von morphologischer Gestalt und Schwimmfähigkeit von Fischen, die Analyse des Sehverhaltens von Tieren usw. Also auch eine Sicht des Ingenieurs auf die Biologie, allerdings bezogen auf spezielle Fähigkeiten spezieller Lebensformen, aus der sich Hinweise auf die Gestaltung technischer Produkte ableiten lassen.
3. Systembiologie und Synthetische Biologie Die Vielzahl der Begriffe, Wissens- und Arbeitsgebiete verwirrt den Betrachter. Man hat den Eindruck, den der Besucher eines Symphoniekonzerts hat, wenn sich vor Beginn des Konzerts die Musiker im Orchestergraben versammelt haben und beginnen, ihre Instrumente zu stimmen. Disharmonien beleidigen das Ohr, aber gelegentlich hört man ein einzelnes Instrument heraus, das zaghaft eine Melodie antönt, mit der es zur kommenden großen Symphonie beitragen wird. Die Spannung steigert sich, wenn eine zunehmende Zahl von Instrumenten den Kammerton übernimmt bis der große Meister, der Dirigent, erscheint und alle Instrumente in die große Komposition einstimmt. Doch was ist das große Leitthema, was ist sein Rhythmus und wer gibt den Takt vor? Wenn man in die Vielfalt der Themen heutiger Aktivität hineinhört, gewinnt man den Eindruck, dass das große Thema „Systembiologie“ heißt, zunächst wenigstens.
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Gerhard Wegner
Die Systembiologie hat das Ziel, Organismen ganzheitlich zu verstehen, d.h. ihre Komplexität in all ihren Komponenten und deren Wechselwirkungen in einem einheitlichen Bild zusammenfassen zu können. Die Beschreibung soll vollständig sein, d.h. alle Aspekte des Lebensprozesses zumindest einfacher Lebensformen umfassen. Sie soll von Genom über das Proteom, Bau und Funktion der Organellen bis hin zur Wechselwirkung des Organismus mit seinesgleichen und seiner Umwelt, kurz: das Verhalten umfassen. Wichtiges Element dieser Beschreibung ist es, dass die Komplexität der Strukturen und ihrer Dynamik durch mathematische Modelle erfassbar gemacht werden. Sie sollen gestatten, Simulation des Verhaltens in Form von Antwortverhalten auf äußere oder innere Störungen des Systems vorzunehmen. Das Ziel dieses Vorhabens ist es sodann, die Grundlagen für eine echte Synthetische Biologie zu schaffen: Systembiologie als Grundlage und Ausgangspunkt einer Synthetischen Biologie. Für die Synthetische Biologie ergeben sich daraus verschiedene Möglichkeiten der Definition ihrer Ziele und Aufgaben: 3.1 Die Sicht des Ingenieurs auf die Biologie. Mit „Ingenieur“ ist hierbei der „Homo-Faber“ gemeint, der in der Lage ist, Konstrukte hoher Komplexität und Funktionalität aus diversen Komponenten zusammenzufügen, wobei das Konstrukt Eigenschaften und Funktionen besitzt, die aus der Summe der Beiträge aller Komponenten in einer nicht-linearen Weise erwachsen. Mit anderen Worten, das Verhalten des Konstrukts lässt sich aus den Eigenschaften der einzelnen Komponenten nicht vorhersagen, wenn man nicht den Bauplan (oder Schaltplan) des Konstruktes kennt.
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Konzepte, Strategien und Ziele der Synthetischen Biologie
3.2 Die (Re)Konstruktion funktionsfähiger Minimalorganismen (Zellen) aus biogenen Komponenten Es geht um den Versuch der Dekonstruktion lebender Organismen in Untereinheiten, gefolgt von der Absicht, aus diesen Untereinheiten, die eventuell von verschiedenen Organismen stammen, einen neuen Organismus zu konstruieren. 3.3 Die Konstruktion eines Minimalsystems Mit Hilfe der Erkenntnisse über die Komplexität lebender Organismen, d.h. aus den Befunden der Systembiologie, sollen neue Minimalsysteme aus völlig synthetischen Bauelementen entstehen. Man hat den Namen „Xenobiologie“ dafür gefunden. Welche ungeheure Aufgabe und titanische Herausforderung hinter dieser schlichten Beschreibung steckt, wird sofort klar, wenn man sich die Realität des Baus der einfachsten Elemente lebender Organismen vor Augen führt. Eine Zelle, für die sich schematische Abbildungen in jedem Lehrbuch der Molekularen Zellbiologie finden, besteht aus einer großen Zahl von Komponenten, d.h. Organellen und Funktionseinheiten, die topologisch und funktional aufeinander bezogen sind; die Untereinheiten kommunizieren also miteinander. Sie sind von der Außenwelt durch eine Zellmembran getrennt, über die die gesamte Kommunikation mit der Umwelt einschließlich des Stoffaustauschs verläuft. Das Ganze spielt sich auf einer Längenskala von Molekülgröße im Bereich von einigen 10 Nanometern der Membrandicke bis auf einige Hundertstel Millimeter der Gesamtgröße der Zelle ab. Im Querschnitt erschließen sich die Ordnungszustände im Inneren der Zelle noch besser. Die Bedeutung der Zellmembran 37 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Gerhard Wegner
wurde schon erwähnt. Alleine ihre Konstruktion mit eingelagerten membranständigen Enzym- und Transportproteinen in der notwendigen räumlichen Korrelation unter Erhalt der Dynamik der Membran ist eine gewaltige Herausforderung. Innerhalb der Zelle, die sich als chemische Fabrik verstehen lässt, läuft eine sehr große Zahl metabolischer, d.h. chemischer Prozesse ab, an denen hunderte von Zwischenprodukten beteiligt sind. Für die Komplexität der chemischen Prozesse steht beispielhaft der Brenztraubensäure-Zyklus, der hier nicht erläutert werden soll, sondern nur darauf hingewiesen wird, dass die einzelnen chemisch definierten Stoffe dieses Zyklus an räumlich verschiedenen, jedoch topologisch verbundenen Stellen der Zelle entstehen und verbraucht werden, d.h. also Transportmechanismen involviert sind, die den Prozess nicht dem Zufall überlassen. In vollem Bewusstsein der Schwierigkeit der Aufgabe, sagen deshalb die Adepten der Synthetischen Biologie, dass es ihnen darum geht, eine sogenannte „Minimalzelle“ zu konstruieren. Diese Minimalzelle muss die essentiellen Bauelemente einer lebenden Zelle bzw. ihre synthetische Analoga enthalten bzw. umfassen: – Eine Zellmembran – Die Software mit der Anweisung zur Synthese der Hardware in Form von Proteinen und Enzymen innerhalb der Zelle: d.h. DNA oder Analoga als Informationsträger und –geber. – Enzyme (Katalysatoren) zur Aktivierung des Übersetzungsprozesses der Software in Hardware – Ribosomen oder Analoga, d.h. die Maschinerie für den Bau der Proteine (oder ihrer Analoga) – die Rohstoffe für die Reproduktion der Komponenten. Das Ganze muss in einer synthetischen Zelle so eingefangen werden, dass der Apparat bei Zuführung chemischer oder physikalischer Energie (z.B. Licht) zu arbeiten beginnt …
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Konzepte, Strategien und Ziele der Synthetischen Biologie
Das ist, wie bereits gesagt, nur möglich, wenn die Komponenten entsprechend eines wohl-definierten Schaltplans angeordnet sind. Dafür gibt es Vorschläge, die sich aber bisher einer experimentellen Prüfung entzogen haben. Es ist klar, dass die Maschinerie des Lebens eine Vielzahl von Komponenten umfasst, von denen jede einzelne selbst einen komplexen Aufbau in Form von Struktur und Dynamik besitzt. Daraus ergibt sich die prinzipielle Schwierigkeit des Projektes, also ein Dilemma. Je komplexer der Versuchsaufbau und je größer die Zahl der Komponenten im Versuch, desto anfälliger wird das Ganze für Fehler. Die bisherigen Experimente unter der Fahne der Synthetischen Biologie leiden unter mangelnder bzw. eingeschränkter Reproduzierbarkeit als Konsequenz ihrer Komplexität.
4. Gebiete der Synthetischen Biologie Wenn wir also zusammenfassend und in grober Vereinfachung akzeptieren wollen, dass es der Synthetischen Biologie im Wesentlichen darum geht, Konstrukte zu definieren und experimentell zu verifizieren, die Phänomene des Lebens auf der Ebene von „Minimalzellen“ aufweisen und im gewünschten Grenzfall „leben“, dann muss man fragen, wie wir „Leben“ als biologisch-physikalisch-chemisches Phänomen denn definieren wollen. Es gibt, so darf man sagen, einen Minimalkonsens darüber, wann wir ein Objekt als „lebend“ bezeichnen können. Das lässt sich mit 3 Stichworten zusammenfassen in Form von Eigenschaften, die das Objekt aufweisen muss: – Metabolismus (Stoffwechsel, d.h. Kommunikation mit der Umgebung des Objekts in Form von Stoff- und Informationsaustausch;
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Gerhard Wegner
– Replikation (ein Programm, das alle Informationen über Synthese und Relationen zwischen den Bauelementen des Konstrukts enthält und sich selbst replizieren kann; – Kompartimentierung , d.h. eine Umhüllung der Elemente des Konstrukts, die ihm „Identität“ verleiht und durch die sein „Innenleben“ von der Außenwelt abgegrenzt wird, jedoch so, dass Metabolismus und Replikation möglich ist. Es geht also um den Entwurf einer Chemischen Maschine, für die früher bereits der Name „Chemoton“ erfunden worden ist. Die Definitionen sind unabhängig von der konkreten Realisierung. Sie abstrahieren die Phänomene, die wir aus den Befunden des „Lebens-wie-wir-es-kennen“ hergeleitet sind. Dieses „Lebenwie-wir-es-kennen“ ist an Bedingungen geknüpft, die auf dem Planeten Erde irgendwann herrschten und heute noch herrschen. Leben könnte unter anderen Umständen, d.h. irgendwo anders im Sonnensystem oder im Weltall auch ganz anders konstruiert sein, jedenfalls gibt es keinen Grund anzunehmen, dass „Leben“, wo immer es entstanden sein mag, stets aus den identischen Strukturelementen besteht. In diesem Zusammenhang sei auf einen sehr lesenswerten, kürzlich erschienenen Artikel von Stephen Mann (U. of Bristol, UK) mit dem Titel „The Origin of Life; Old Problems, New Chemistry“ verwiesen. In diesem Artikel (1) schlägt der Autor den Bogen von den Zielen und dem Stand der Synthetischen Biologie zur Präbiotischen Chemie und den zurzeit sehr populären Missionen der NASA und anderer Agenturen, die das Ziel haben, Spuren von „Leben-wiewir-es-kennen“ auf dem Planeten Mars oder sonstwo im Universum zu finden. Der Autor legt u.a. dar, dass es sehr viel sinnvoller wäre, Forschungsmittel in ähnlichem Umfang wie sie für eine Mars-Mission ausgegeben werden, nämlich ca 1.5 – 2.0 Milliarden US $, in die Forschung zur Synthetischen Biologie zu stecken, 40 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Konzepte, Strategien und Ziele der Synthetischen Biologie
wenn man dem „Geheimnis der Funktion und der Entstehung von Leben“ tatsächlich näher kommen wollte. Folgen wir offiziellen Stellungnahmen zur Beschreibung des Arbeits- und Wissensgebietes der Synthetischen Biologie – ich wähle hier zugegeben etwas willkürlich, weil in deutscher Sprache – die gemeinsame Stellungnahme von DFG, Acatech und Leopoldina aus dem Jahr 2009 – so zählen zu den wichtigsten Zielen (2): 1. „Die Konstruktion von Minimalzellen mit dem Ziel, eine kleinste lebensfähige Einheit zu gewinnen; derartige Zellen sind unter definierten Laborbedingungen lebensfähig, haben jedoch eingeschränkte Fähigkeiten, sich an natürlichen Standorten zu vermehren.“ Wir konstatieren, dass es um die Konstruktion von „Leben“ geht, wobei im zweiten Satz sogleich eine tiefe Verbeugung vor einem bestimmten Teil der Öffentlichkeit, also dem Publikum, gemacht wird, das diese Arbeiten kritisch und mit Befürchtungen aller Art betrachten könnte. Es handelt sich um die einschränkende Versicherung, dass es sich bei der Konstruktion der „Minimalzelle“ lediglich und nur um ein Laborartefakt handele, usw. usw. Woher diese Einschränkung kommt, und welchen irrationalen Hintergrund sie hat, wird uns im Weiteren noch beschäftigen. 2. „Die Synthese von Protozellen mit Merkmalen lebender Zellen“. Es ist beabsichtigt, sie langfristig „als Chassis für die Herstellung von Substanzen einzusetzen“. Hier werden zwei Begriffe verwendet, nämlich „Minimalzelle“ und „Protozelle“. Dies dient der Unterscheidung von „Bottom-up“ und „Top-down“ Zugängen zum Phänomen „lebendes Konstrukt“. Man kann aus der als Modell dienenden natürlichen Zelle Bauelemente entfernen bzw. „ausschalten“ bis man einen Zustand erreicht hat, bei dem das weitere Ausschalten von Funktionselementen zum Verlust der Funktionsfähigkeit, 41 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Gerhard Wegner
heißt zum Tod der Zelle führt. Dieser letzte Zustand definiert die Minimalzelle. Man kann aber auch versuchen, aus vollsynthetischen oder aus Zellen gewonnenen Funktionselementen ein Konstrukt aufzubauen, das Phänomene des „Lebens“ zeigen wird, sobald eine gewisse Komplexität erreicht worden ist: „ der Motor beginnt zu laufen“. Dies bezeichnet den Zustand der Protozelle, nämlich ein Konstrukt aus nicht-biogenen Komponenten. Die beiden Statements der Denkschrift (2), die hier zitiert worden sind, beschäftigen sich mit „Leben“ als Phänomen und dies ist in der Tat eher ein philosophisches Konzept, das im Wandel der Zeit zudem einem Bedeutungswandel unterliegt. Als Beleg sollen vier Zitate dienen, die helfen, die Epistemologie des Begriffs „Leben“ offenzulegen. Die apodiktische Feststellung von Louis Pasteur, „Lebendiges entsteht nur aus dem Lebendigen“ bezieht sich auf die von ihm streng festgelegten Bedingungen von Experimenten. Sie schließt eine kontinuierliche „Urzeugung“ neuen Lebens aus toter Materie im Sinne spontaner Organisation aus. Sie besagt jedoch nicht, dass rationales Konstruieren einer „chemischen Maschine“ unmöglich ist. Manfred Eigen (und seine Schüler) halten es 50 Jahre später für möglich, dass Selbstorganisation unter bestimmten äußeren Bedingungen über verschiedene Stufen zu Lebensformen führen kann, sobald ein bestimmter Grad der Komplexität erreicht ist. Sidney Bremer kommt unter dem Eindruck der Ergebnisse der molekularen Zellbiologie zu der Aussage: „Es ist alles ein molekulares Konstrukt“. Schließlich gibt Christian de Duve der Hoffnung Raum, dass die Einsichten der Wissenschaften andere und neue Wege zur Machbarkeit von Leben eröffnen. 42 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Konzepte, Strategien und Ziele der Synthetischen Biologie
„Lebendiges entsteht nur aus dem Lebendigen“ Louis Pasteur 1822 – 1895 „Leben entstand, sobald der chemische und thermodynamische Zustand unseres Planeten es zuließ.“ Manfred Eigen *1937 Nobelpreis 1967 „It‘s all engineering, molecular engineering“ Sidney Brenner *1927 engl. Biologe Scientists do not read the book of nature, they write it.“ Christian de Duve *1917 Biochemiker Nobelpreis 1974 Aussagen über das Phänomen „Leben“ von Naturwissenschaftlern im Wandel der Zeit.
5. Exkurs zum Thema „Lebenskraft“ und „Beseelung“ Warum verursacht die Synthetische Biologie mit ihren Konzepten heftige Reaktionen in der Presse und Schlagzeilen wie z.B. „Konkurrenz für Gott“ (Der Spiegel) (3) oder „Leben aus dem Baukasten: Hat denn die Ära der Evolution 2.0 schon begonnen?“ (FAZ) (4), und warum haben Gruppen von besorgten Bürgern in den USA bereits ein Moratorium für die Forschung gefordert, da diese Forschung nicht nur gefährlich, sondern von Anfang an unmoralisch sei ? Vermutlich hängt das mit dem kulturellen Gedächtnis und wenig reflektierten religiös-philosophischen Vorstellungen vieler 43 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Gerhard Wegner
Zeitgenossen zusammen, wobei überzogene Voraussagen und Projektionen einiger Naturwissenschaftler, verbunden mit sprachlich und philosophisch unsauberer Argumentation ihren Beitrag leisten. Man kann die Problematik nur kurz zu schildern versuchen und verwendet dazu einige Bilder und Stichworte, die zum kulturellen Erbgut unserer abendländischen Gesellschaft gehören. „Leben“ ist für viele von uns verbunden mit dem Begriff „Lebenskraft“ oder für die eher religiös verankerten Menschen unseres Kulturkreises mit „Beseelung“. Niemand hat die dahinter liegenden Vorstellungen besser illustriert als Michelangelo mit seinem Fresko „Beseelung des Adam“ in der Sixtinischen Kapelle. Die dahinterliegende Vorstellung ist, dass die tote Materie wohl in der Lage ist, sich selbst so zu organisieren, dass Form und Funktionen eines Organismus (hier Adam) entstehen, aber eigentliches Leben entsteht erst, wenn eine übernatürliche Kraft (Gott-Vater) den bereits vorgeformten Körper „beseelt“, ihn also mit „Seele“ bzw. „Lebenskraft“ versieht. Ob diese Lebenskraft etwas Immaterielles und Übernatürliches ist, ob es eine noch unbekannte Energieform oder im Sinne einer Autopoiese „nur“ die Konsequenz des Komplexitätsgrades der molekularen Maschine höherer Lebewesen und des Menschen ist, hat zahlreiche Philosophen, Naturforscher, Denker und Dichter beschäftigt. Es ist ein ungelöstes Rätsel, zu dem – da bin ich ganz sicher – die Synthetische Biologie einen kleinen aber wesentlichen Beitrag leisten kann. Wie suggestiv und gleichzeitig prägend Michelangelos Bild ist, wird erst in seiner Persiflage deutlich, von denen es zahlreiche gibt. Viele dieser Persiflagen bringen prägnant zum Ausdruck, wie falsch und voreingenommen das Gottesbild (Gott Vater) in der Darstellung Michelangelos als kräftiger älterer Herr mit grauer Mähne und Backenbart eigentlich ist.
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Konzepte, Strategien und Ziele der Synthetischen Biologie
Beseelung des Adam dargestellt durch das Fresko in der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo (oben) und Persiflage des Gemäldes: Fliegendes Spaghetti-Monster (5)
Man sollte bedenken, dass das Wesen, das in dieser Darstellung als „Gott“ bezeichnet wird, im Prinzip unvorstellbar ist und daher auch der Prozess der „Beseelung“ im keinem noch so einleuchtenden Bild dargestellt werden kann. Daher ist auch die Aussage, dass die Adepten der Synthetischen Biologie „Gott spielen wollen“ in jeder Hinsicht falsch und ganz unzutreffend. 45 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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Es ist aber so, dass es in der Geschichte der Naturwissenschaft und Medizin immer wieder Forscher und durch sie ausgelöste Strömungen gegeben hat und gibt, die behaupteten, die „Lebenskraft“ entdeckt zu haben und ihr Wirken kontrollieren zu können. Eine der bedeutendsten und kulturhistorisch interessantesten ist die Entwicklung des Galvanismus um die Wende des 18. zum 19. Jahrhunderts. Die Nachwirkungen dieser Bewegung sind noch heute zu spüren. Ausgelöst durch die Entdeckung des Arztes und Naturforschers Luigi Galvani im Jahr 1780, dass nämlich Froschschenkel bei Kontakt mit einer Volta’schen Säule spontan Kontraktionen durchführen, also Elektrizität Muskelkontraktion auslöst, entwickelte sich rasch eine Bewegung, die ganz Europa erfasste. Man glaubte in der (damals noch wenig verstandenen Elektrizität) die Lebenskraft gefunden zu haben, mit der auch Tote wieder zum Leben erweckt werden könnten. Es lag nahe, entsprechende Versuche an Leichen durchzuführen, die ja durch die Erfindung der Guillotine und den Verlauf der französischen Revolution reichlich zur Verfügung standen. Natürlich (wie wir heute sagen) blieben Erfolge aus, was die Medizin bis in die heutigen Tage nicht daran hindert, Patienten elektrischen Strömen auszusetzen. Immerhin wurde bereits im Jahr 1803 in Preußen ein Verbot erlassen, solche Versuche mit den Körpern von Hingerichteten durchzuführen. Dennoch blieb die Faszination des Galvanismus erhalten und kumulierte in dem Roman „Frankenstein oder der moderne Prometheus“, den die englische Schriftstellerin Mary Shelley im Jahr 1818 veröffentlichte. In unzähligen Auflagen wird er noch heute gelesen und bildet die Vorlage für viele Horrorfilme. Sie handeln meistens davon, wie wahnsinnige Wissenschaftler aus Teilen von Leichen neue Körper zusammensetzen, die sie dann mittels elektrischer Kräfte zum Leben erwecken. Die entstandenen Ungeheuer wenden sich alsbald gegen ihre Schöpfer und bringen diese in grausamer Weise ums Leben (6). 46 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Konzepte, Strategien und Ziele der Synthetischen Biologie
Frankenstein und die verrückten Wissenschaftler in ihren finsteren Laboratorien bilden die Versatzstücke, die bis heute wirken, wenn über die Anwendung gentechnischer Methoden in der Tierund Pflanzenzüchtung, über Transplantationsmedizin und schließlich auch über Synthetische Biologie unkritisch und unbedarft berichtet und diskutiert wird.
6. Weitere Aussagen zur Synthetischen Biologie Kehren wir wieder zurück zu der Aussage des Standpunkte-Papiers von DFG, Acatech und Leopoldina (2). Die Aussage, dass Synthetische Biologie ein „Chassis“ für die Montage verschiedenster Funktionseinheiten bereitstellen könne, bedarf näherer Betrachtung und Kritik. Dazu gehört die Aussage über die Ziele eines solchen Vorgehens: „Die Produktion neuer (?) Biomoleküle (?) durch baukastenartiges Zusammenfügen einzelner Stoffwechselfunktionen. Diese können aus verschiedensten genetischen Spenderorganismen stammen“.
Die Fragezeichen wurden eingefügt, um anzudeuten, dass man über die Formulierung trefflich streiten kann: Sind die aus synthetischen Organismen stammenden Moleküle noch als Biomoleküle zu bezeichnen? Vor allem dann, wenn sie „neu“ sind, also in biologischen (d. h. natürlichen) Organismen gar nicht vorkommen? Aber viel grundsätzlicher, und erläutert an einem Beispiel aus gängiger Technik: Nehmen wir ein modernes Automobil als komplexes System aus sehr vielen Funktionseinheiten, die alle zum Gesamtzweck des Autos zusammengefügt werden und operativ funktionieren müssen und betrachten wir – pars-pro-toto – nur den Motorraum, so erscheint das Objekt dem laienhaften Betrachter zunächst als „komplex“. 47 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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Der Motor eines Automobiles als komplexes Konstrukt von funktionstragenden Komponenten
Wir wissen aber, dass im Motorraum verschiedenste Funktionseinheiten zu einem Konstrukt zusammengefügt sind. Nehmen wir an, es handele sich um ein Auto der Firma Toyota; dann können wir selbstverständlich versuchen, den Vergaser des Originals durch einen Vergaser aus dem Motorraum eines Wagens der Firma VW zu ersetzen, die Zündkerzen könnten wir durch solche aus einem BMW, die Nockenwelle von Mercedes nehmen usw. Am Ende würde der Motor vielleicht noch laufen (oder auch nicht), aber: was hätten wir gelernt und wäre das Unternehmen sinnvoll? Ein weiteres Beispiel aus heutiger Technik soll helfen, die Ziele des Top-down-Prozesses, nämlich Erzeugung einer Minimalzelle durch Dekonstruktion lebender Zellen zu hinterfragen. Betrachten wir eines der modernsten Flugzeuge, etwa den „Dreamliner“ der Fa. Boing. Können wir aus diesem Objekt der Technik – sicher ein „komplexes Konstrukt“ – die Evolution der Flugzeuge ableiten und durch „Ausschalten“ von Bauelementen auf ein „Minimalflugzeug“ zurückschließen? Das wäre schwierig, ist 48 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Konzepte, Strategien und Ziele der Synthetischen Biologie
aber auch unnötig, denn im Fall des Flugzeugs kennen wir die Geschichte der Evolution in allen Details. Wir wissen, wie die ersten Flugmaschinen ausgesehen haben und wer ihre Erfinder waren. Diese Flugmaschinen haben außer bestimmten Prinzipien der Aerodynamik herzlich wenig mit einem modernen Verkehrsflugzeug gemein und dennoch stehen die Flugzeuge der Gebrüder Wright am Beginn der Evolution der Avionik. Im Fall der Ziele der Synthetischen Biologie kennen wir den Pfad der Evolution nicht. Es scheint doch zweifelhaft, dass man durch Ausschalten bzw. Herausnahme von Funktionselementen aus Zellen, die „leben“ auf eine Minimalzelle“ schließen kann, wie sie zu Beginn der Evolution vorgelegen haben mag: wir kennen den Weg der Evolution nicht, der zur ersten „lebenden“ Zelle geführt hat und solange wir nicht entschlüsselt haben, wann „Leben“ aus der komplex und hierarchisch akkumulierten Materie entsteht, werden wir auch nicht weiterkommen. Deshalb darf man den Weg des Top-down in der Synthetischen Biologie für wenig zielführend bezeichnen. Was bleibt ist die Forschung, wie elementare Funktionen des Lebens als Konsequenz einer Autopoiesis der Konstrukte entstehen. Für die Diskussion mag es interessant sein, andere Gebiete als die Biologie zu betrachten, die sich historisch parallel entwickelt haben und zu fragen, ob es dort ähnliche Bewegungen gibt, wie es die Synthetische Biologie in der Biologie ist. Die Psychologie dient als Beispiel. Sie hat sich ähnlich wie die Biologie an der Wende des 18. zum 19. Jahrhunderts als eigenes Feld der Wissenschaft herausgebildet. Im Zentrum dieser Wissenschaft steht das Leib-Seele (Geist)-Problem hinter den verschiedenen Teildisziplinen dieses Feldes. Man darf fragen: Gib es eine Synthetische Psychologie? Die Antwort lautet: Ja, nur wird diese Nomenklatur nicht verwendet. Historisch haben Biologie und Psychologie parallele Entwick49 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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lungsschritte durchlaufen. Auch in der Psychologie spielt der bereits genannte Galvanismus eine merkwürdige Rolle. In moderner Zeit haben Fragen der „künstlichen Intelligenz“ und der Methodik der „neuronalen Netze“ Fragen aufgeworfen, die von ähnlicher Brisanz für das Weltbild der menschlichen Gemeinschaft sind, wie bei der Synthetischen Biologie. Die IT-Technologie stellt Fragen, wie z.B. ab welchem Grad von Komplexität der Hard- und Software von Rechenanlagen so etwas wie „Selbstbewusstsein“ der Anlage auftreten könnte; und diese Frage dient als Vorlage für Horrorgeschichten und Hollywood-Filme (7). Es besteht aber kaum ein Zweifel, dass man hier von einer Parallele zur Synthetischen Biologie sprechen darf.
7. Versprechungen und Aussagen zur Nützlichkeit Kehren wir noch ein letztes Mal zu den Kernsätzen des Standpunkte-Papiers von Acatech, DFG und Leopoldina zurück. Dort – wie auch in vielen anderen ähnlichen Papieren – finden sich Aussagen zu dem erwarteten und erwartbaren Nutzen dieser Forschung, Zitat: „(Die Synthetische Biologie“) wird die Konstruktion regulatorischer Schaltkreise (erlauben). Diese erlauben es, komplexe biologische oder synthetische Prozesse zu steuern. (Ferner) die Konzeption sogenannter orthogonaler Systeme. Dabei werden modifizierte Zellmaschinerien eingesetzt, um beispielsweise neuartige Biopolymere zu erzeugen“.
Und weiter liest man: „Die ökonomische Bedeutung lässt sich derzeit noch nicht präzise abschätzen, es sind jedoch bereits marktnahe Produkte erkennbar. Der Katalog umfasst Medikamente, Nukleinsäurevakzine, neuartige Verfahren zur Gentherapie, umwelt- und resourcen-schonende Fein- und Industriechemikalien, Biobrennstoffe sowie neue Werkstoffe, wie polymere Verbindungen.“
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Konzepte, Strategien und Ziele der Synthetischen Biologie
Solche Aussagen, die man – wie gesagt – in fast allen Statements zu Stand und Zukunft der Synthetischen Biologie findet – sind nicht nur ohne Substanz, sondern enthalten grobe Irreführung des Publikums. Beispiel: Was unterscheidet einen „Biobrennstoff“ von einem „Brennstoff“? Sind nicht Erdöl und Erdgas ebenfalls „Biobrennstoffe“, weil biogenen Ursprungs? Warum soll die Gewinnung von z.B. Fettsäuren als „Biobrennstoff“ aus (noch gar nicht verfügbaren) Methoden der Synthetischen Biologie „resourcenschonender“ sein als z.B. die Verwendung von Holz oder Stroh zur Energiegewinnung? Die Aufzählung von „neuen Werkstoffen“ und „polymeren Verbindungen“ im Katalog der Nützlichkeiten erzeugt bei den Materialwissenschaftlern nur Kopfschütteln, wenn nicht Lachen. Wäre es nicht ehrlicher, sich ein Beispiel an dem englischen Physiker und Naturforscher Michael Faraday (179-1867) zu nehmen. Als ihn die noch junge Königin Victoria kurz nach ihrer Krönung in der Royal Institution besuchte, um sich seine Experimente zum Elektromagnetismus vorführen zu lassen, fragte sie ihn: „Wozu ist denn elektrischer Strom gut?“ Michael Faraday antwortete „Your Majesty –ich weiß es nicht, aber ich bin ganz sicher, dass Ihre Regierung in wenigen Jahren eine Steuer darauf legen wird“. Mit anderen Worten: der wissenschaftliche Gewinn, der durch Forschung entsteht, bedarf nicht der Rechtfertigung durch den unmittelbaren Nutzen. Genauso wenig wie sich der Aufwand für die Weltraumforschung daraus rechtfertigen lässt; dass dabei bessere Materialien für Bratpfannen entwickelt wurden, kann ein noch nicht einmal existenter Produktionsweg für Chemikalien den Aufwand der Forschung rechtfertigen. Insbesondere sollte man sich nicht in Argumentationen in „Neusprech“ bewegen, indem man glauben macht, dass die gewollte und gewünschte Forschung „neue“ und „resourcenschonende „Bio“-materialien erzeugen kann oder Medikamente von wundersamer Wirksamkeit liefern wird. Vielmehr ist die 51 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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Suche nach dem Ursprung des Lebens aus der Komplexität eines molekularen Konstrukts Rechtfertigung genug für diese Forschung.
Literatur (1) Mann S., Angewandte Chemie Int. Ed. Engl. 2013, 52, 155-162. (2) Synthetische Biologie/Synthetic Biology – Stellungnahme Deutsche Forschungsgemeinschaft, ACATECH, Leopoldina, Wiley-VCH-Verlag, Weinheim 2009, ISBN 978-3-527-32791-1. (3) Grolle J. „Konkurrenz für Gott“ in Der Spiegel 1/2010, S. 110-119. (4) Lenzen M. „Leben aus dem Baukasten“ FAZ vom 24.11.2011, S 34 vgl. auch „Was ist Leben im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit“, Dabrock P. u.a. Hrsgeb., Verlag Alber, Freiburg 2011. (5) Das Flying Spaghetti Monster (FSM) zitiert nach Ms. Backpacker (Urheber) aus Wikipedia Commons. (6) Insofern weichen viele „Frankenstein“-Filme von der Originalvorlage des Romans von Mary Shelley ab, in dem die Ablehnung des künstlich erzeugten Wesens durch die Menschen eine entscheidende Rolle spielt. (7) Ein herausragendes Beispiel ist Stanley Kubricks Film „Odysee im Weltraum“. Weitere Literatur: – Hacker J. „Synthetische Biologie – Chancen und Risiken eines neuen Fachgebietes“ zur Debatte 2010 (8), S. 11-14. – Rollies S., Mangold M., Sundmacher K., „Designing Biological Systems: Systems Engineering meets Synthetic Biology . Chemical Engineering Science 2011, DOI 10.1016/jces 2011.10.068. – Acevedo-Rocha CG., Buchara N. „Auf dem Weg zu chemisch veränderten Organismen mit genetischer Firewall“, Angewandte Chemie 2011, 123, 2-5. – Zhang H. Jiang T, „Synthetic circuits, devices and modules“, Proteincell 2010, 11 (1) 974-978. – Malinova V., Meier WP., Sinner E. „Synthetic biology inspired by synthetic chemistry“ FEBsLetters (2012) 05.033.
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Morphologie und funktionelle Einheiten der Zelle Günter Rager
Die Synthetische Biologie versucht, Bausteine der Zelle künstlich herzustellen. Um dieses Vorhaben besser zu verstehen, möchte ich in einem ersten Teil einen kurzen Überblick über Geschichte und Methode der Zellforschung geben, im zweiten Teil die Struktur und die Funktion der Zelle darstellen und im dritten Teil schließlich noch etwas genauer auf die genetische Information und ihre Übersetzung in Proteine und andere Moleküle eingehen.
1. Geschichte und Methoden der Zellforschung Unser Wissen von der Zelle beginnt in der Mitte des 17. Jahrhunderts und geht Hand in Hand mit der Entwicklung neuer Untersuchungsmethoden. So ist es der Erfindung des Mikroskops zu verdanken, dass Zellen erstmals sichtbar gemacht werden konnten. Robert Hooke (1635-1702), ein englischer Universalgelehrter, untersuchte 1665 den Flaschenkork mit einem Auflichtmikroskop und sah, dass dieser Kork aus lauter kleinen Kammern bestand. Er nannte diese Kammern Zellen. Seither gibt es den Begriff Zelle. Wenig später (1668) entdeckte Antoni van Leewenhoek (1632-1723) mit selbstgebauten Mikroskopen rote Blutkörperchen, Bakterien und Spermatozoen. Im 19. Jahrhundert stellten der Botaniker Matthias Jacob Schleiden (1804-1881) und der Physiologe Theodor Schwann (1810-1882) fest, dass die Zelle die Baueinheit aller Pflanzen und Tiere ist. Der Anatom Albert von Koelliker (1817-1905) formulierte 53 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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sodann den Grundsatz: „Die Zelle muss als anatomische und physiologische Grundeinheit als wirklich organische Grundform festgehalten werden, die sich durch eigene Tätigkeit erhält und weiterbildet.“1 Der Pathologe Rudolf Virchow (1821-1902) formulierte diese Erkenntnis noch einmal deutlicher. Von der Zelle gehen alle Tätigkeiten des Lebens aus. Die Zellen als Lebenseinheiten stammen selbst wiederum aus Zellen, was prägnant in dem Ausdruck formuliert wird: „Omnis cellula e cellula“2. Methodische Neuentwicklungen im 20. Jahrhundert, wie etwa die Gewebekultur und die Polarisationsmikroskopie führten zu einem dynamischen Verständnis der Zelle. Es zeigte sich, dass auch die mikroskopisch erkennbaren Strukturen der Zelle einem ständigen Umbau unterworfen sind. Das Lebendige befindet sich in einem „Fließgleichgewicht“ (Karl Ludwig von Bertalanffy, 1901-1972). Struktur und Funktion bedingen sich gegenseitig. Diese Auffassung wird durch die moderne Molekularbiologie unterstützt. Mit dem Lichtmikroskop konnte eine Vergrößerung von etwa 1000-fach erreicht werden. Mit der Entwicklung des TransmissionsElektronenmikroskops in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts (Ernst Ruska, Nobelpreisträger, 1906-1988, und Max Knoll, 18971969) wurde ein Sprung zu einer um Faktor 500- bis 1000-mal höheren Vergrößerung ermöglicht. Damit konnten nicht nur Zell‑ organellen, sondern auch Makromoleküle sichtbar gemacht werden. Viele Fragen, die vorher Gegenstand langjähriger wissenschaftlicher Diskussionen waren, konnten mit der neuen Technik entschieden werden. So hatte z.B. der Nobelpreisträger Camillo Golgi (1843-1926) die Neurenzytiumtheorie vertreten, welche besagt, dass die Nervenzellen im Gehirn in einander übergehen und so ein Nervenzellgeflecht bilden. Ramon y Cajal (1852-1934) hingegen, 1 Junqueira/Carneiro 1996, 1-2. 2 Junqueira/Carneiro 1996, 2. Virchow bestätigte damit die Theorie des Mediziners und Botanikers Franz Meyen (1804-1840).
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Morphologie und funktionelle Einheiten der Zelle
ebenfalls Nobelpreisträger, verfocht die Neuronentheorie. Jedes Neuron ist eine selbständige und abgeschlossene Einheit, steht aber an verschiedenen Stellen mit anderen Neuronen in Kontakt. Die Elektronenmikroskopie brachte die Entscheidung zugunsten der Neuronentheorie. Jedes Neuron ist vollständig umschlossen von einer Membran und somit ein zelluläres Individuum. Dennoch gibt es zahlreiche Berührungspunkte mit anderen Neuronen, an denen deren Membranen eng aneinander liegen. Diese Haftstellen wurden als Synapsen identifiziert. Es sollte aber noch lange dauern, bis diese Erkenntnisse überall rezipiert wurden. Von den vielen anderen technischen Erfindungen möchte ich nur noch folgende hervorheben. Mit dem Rasterelektronenmikroskop lassen sich Oberflächen hochauflösend und dreidimensional darstellen. Mit der Cyto- und Histochemie lassen sich Stoffe oder En‑ zymaktivitäten in der Zelle nachweisen. Mit der Immuncyto- oder Immunhistochemie können mittels der Antigen-Antikörper-Reaktion Makromoleküle lokalisiert werden. Sodann sind die vielfältigen Möglichkeiten zu erwähnen, durch Kombination von molekularbiologischen und zytologischen Methoden Makromoleküle nicht nur zu identifizieren, sondern auch ihre Veränderungen im Rahmen von zellulären Prozessen aufzuklären. Mit allen diesen Methoden verfügen wir heute über ein umfangreiches Wissen über Struktur und Funktion der Zelle.
2. Struktur und Funktion der Zelle Im Rahmen der Evolutionstheorie hat man einen Stammbaum für Zellen erstellt. Durch Vergleich der Nukleotidsequenzen ist man heute zu der Hypothese gelangt, dass sich aus einer Urzelle alle Lebewesen entwickelt haben, die in drei Hauptbereiche eingeteilt werden: Die Bakterien (Eubacteria), die Archaeen (Archaebacteria) 55 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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und die Eukaryoten. Bakterien und Archaeen sind Prokaryoten, d.h. sie haben keinen Zellkern. Bei den Prokaryoten befindet sich die Desoxyribonukleinsäure (DNA) im Zytoplasma, bei den Eukaryoten ist die DNA hauptsächlich im Zellkern versammelt. 2.1 Übersicht über den Bauplan Wir besprechen hier nur die Eukaryoten, und hier wiederum nicht die einzelligen Lebewesen, wie etwa Amöben, sondern wir konzentrieren uns auf einzelne Zellen von Säugetieren. Dabei sehen wir zunächst ab von ihrer Verbandstruktur in Geweben und Organen. Es ist in diesem Zusammenhang auch nicht möglich, die verschiedenen Differenzierungsformen der Säugetierzellen zu beschreiben. Wir müssen uns ferner auf die Beschreibung einiger weniger allgemeiner Eigenschaften der Zellen beschränken. Alle Zellen sind mit einer Membran, der Plasmamembran, umgeben. Dadurch grenzen sie sich von der Umwelt ab. Die Plasmamembran dient aber nicht nur als Grenze, sondern auch als Medium der Kommunikation und des Stoffaustauschs. Durch die Plasmamembran ist die biologische Individualität der Zelle gewährleistet. Die Plasmamembran besteht aus einer Doppelschicht von Lipiden, in die verschiedene Proteine eingebettet sind. Über diese Proteine werden selektiv Kontakte mit der Umwelt ermöglicht. Die Plasmamembran umhüllt das Innere der Zelle, das Zytoplasma. Das Zytoplasma besteht wiederum aus dem Zytosol und verschiedenen Kompartimenten. Das Zytosol ist eine Flüssigkeit, die lösliche Komponenten sowie Gruppen von Ribosomen, Glykogenpartikel und Lipidtröpfchen enthält. Die Kompartimente sind durch Membranen abgegrenzte Räume, in denen spezifische Stoffwechselvorgänge stattfinden. Zu ihnen gehören die Zellorganellen und der Zellkern. Schließlich ist noch das Zytoskelett zu erwähnen. 56 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Morphologie und funktionelle Einheiten der Zelle
Abb. 1: Übersicht über die Struktur der Zellen.3 Im Zentrum der in der Mitte gezeichneten Zelle befindet sich der Zellkern. Er ist vom Zytoplasma umgeben. Das Zytoplasma besteht aus den löslichen Komponenten (Zytosol) und den Zellorganellen. Die Zellorganellen sind vergrößert heraus gezeichnet. Die Zelle wird nach außen durch eine Plasmamembran begrenzt.
Das Zytoskelett ist ein dreidimensionales Netzwerk im Zytosol, das aus Filamenten besteht (Mikrofilamente Aktin und Myosin, intermediäre Filamente und Mikrotubuli). Das Zytoskelett dient der mechanischen Stabilisierung der Zelle, ermöglicht Bewegungen der Zelle als ganzer und der Zellorganellen innerhalb der Zelle.
3 Modifiziert nach Junqueira/Carneiro/Kelley, 2002, Abb.1.1.
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2.2 Plasmamembran Die Plasmamembran besteht aus einer Doppelschicht von polaren Lipiden und Proteinen, die in diese Doppelschicht eingelagert oder ihr angelagert sind.
Abb. 2: Die Zellmembran im Elektronenmikroskop (oben) und die allgemeine Anordnung ihrer Lipid- und Proteinkomponenten in der molekularbiologischen Darstellung (unten).4
Da sich die Ionenkonzentrationen im Extra- und Intrazellulärraum unterscheiden, entsteht eine Potentialdifferenz zwischen Innen und Außen, das sogenannte Transmembranpotential. Diese Potentialdifferenz wird vor allem durch das Enzym Na+-K+-ATPase aufrecht erhalten. Diese ATPase pumpt Na+-Ionen nach außen und K+-Ionen nach innen. 4 Modifiziert nach Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2008, Figure 10-1.
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Morphologie und funktionelle Einheiten der Zelle
Abb. 3: Verschiedene Möglichkeiten der Verbindung von Membranproteinen mit der Lipid-Doppelschicht der Plasmamembran. 1, 2 und 4: α-Helix, 3: Faltblätter in Form eines geschlossenen Fasses. In 5, 6 und 8 sind die Proteine über Oligosaccharide mit Phosphatidylinositol (GPI-Anker), in 7 über Lipidketten mit der Membran verbunden.5
Wir unterscheiden integrale Membranproteine, die sich über die ganze Doppelmembran erstrecken, und periphere Membranproteine, die sich der inneren oder äußeren Membranoberfläche anlagern. Die Membranproteine sind für ganz verschiedene Funktio-
5 Modifiziert nach Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2008, Figure 1019.
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nen spezialisiert. Ich erwähne nur folgende Möglichkeiten: Bildung von Kanälen, über die Ionen diffundieren können; Transporter, welche bestimmte Moleküle über die Membran hinweg transportieren können; Pumpen, welche unter Energieverbrauch Ionen gegen ihr Konzentrationsgefälle über die Membran befördern (Beispiel: die Na+-K+-ATPase); Rezeptoren für Hormone, Neurotransmitter oder fremde Proteine, die durch Antikörper erkannt werden. Durch diese Proteine wird auch der Signalaustausch zwischen der Zelle und dem Extrazellulärraum ermöglicht. Die Plasmamembran kann ferner Spezialisierungen an der Oberfläche ausbilden wie etwa kleine Falten oder Zotten (Mikrovilli) oder Kinozilien, welche Bewegungen ausführen können. Besonders wichtig ist auch die Ausbildung von Zonen, über die Kontakte mit anderen Zellen ermöglicht werden. Im Nervensystem werden die Interzellulärkontakte zu Synapsen weiterentwickelt. 2.3 Zytoskelett Das Zytoskelett besteht aus Strukturproteinen, welche sich selbständig aneinander lagern können (Polymerisation) und so dünne Filamente und Netzwerke bilden. Man unterscheidet auf Grund der Faserdicke drei Systeme: Mikrotubuli (Ø 25 nm), intermediäre Filamente (Ø 8-10 nm) und Mikrofilamente (Ø 7 nm). Letztere finden wir im Aktin-System. Die Hauptfunktion der Mikrotubuli liegt im intrazellulären Transport von Zellorganellen. Spezielle Strukturen, die aus Mikrotubuli bestehen, sind die Zentriolen, die wiederum ein wesentliches Strukturelement der Zentralkörper oder Zentrosomen bilden. Die Zentralkörper haben die Funktion des Mikrotubulus-Organisations-Centrums (MTOC). Mikrotubuli sind ferner wichtige Bestandteile der Kinozilien. In den Axonen von Nervenzellen ermöglichen sie den axonalen Transport. 60 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Morphologie und funktionelle Einheiten der Zelle
Die Intermediärfilamente dienen hauptsächlich als Stützgerüst für die Zelle und haben somit eine passive mechanische Funktion. Sie treten in einer großen biochemischen Vielfalt auf. Die Aktinfilamente sind Mikrofilamente. Sie bilden Netze auf der Innenseite der Plasmamembran (kortikales Aktinnetz und Membranskelett). Zusammen mit Myosinmolekülen ermöglichen sie die Kontraktion von quergestreiften und glatten Muskeln. 2.4 Endoplasmatisches Retikulum Das Endoplasmatische Retikulum (ER) besteht aus einem Netzwerk von flachen Zisternen und Schläuchen, die miteinander in Verbindung stehen. Man unterscheidet ein raues und ein glattes Endoplasmatisches Retikulum. „Die Membranen des rauen ER (rER) sind auf der zytosolischen Seite dicht mit Ribosomen besetzt, an denen u.a. die für den Export bestimmten Proteine synthetisiert werden. … Ribosomen sind ca. 20 nm große Partikel, die aus Komplexen von Proteinen und ribosomaler RNA (rRNA) zusammengesetzt sind. Sämtliche Proteine der Zelle werden an den Ribosomen synthetisiert. … Das glatte ER (gER), das vorwiegend in Form von Schläuchen auftritt, ist frei von Ribosomen; in den Membranen des gER sitzen Enzyme für die Synthese von Lipiden und Steroidhormonen und für die ‚Entgiftung‘ bestimmter körpereigener und körperfremder Stoffe.“6
6 Lüllmann-Rauch 2003, 37.
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Abb. 4: Schematische Darstellung von rER und gER im Zusammenhang mit der Kernmembran.7
2.5 Golgi-Apparat Im Gegensatz zum ER besteht der Golgi-Apparat (GA) aus einem Stapel von flachen glattwandigen Zisternen8 und aus zahlreichen kleinen Vesikeln. Seine Hauptfunktion besteht darin, die im ER synthetisierten, noch unreifen Proteine weiter zu modifizieren. Die reifen Proteine werden im GA in Vesikel verpackt und transportfähig gemacht. Der GA trägt wesentlich dazu bei, die Proteine nach ihren verschiedenen Bestimmungsorten zu sortieren.9 7 Junqueira/Carneiro 1996, Abb.3.10. Mit freundlicher Genehmigung des Springer Verlags. 8 Vgl. Lüllmann-Rauch 2003, 39. 9 Vgl. Benninghoff/Drenckhahn 2003, 47.
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Morphologie und funktionelle Einheiten der Zelle
Abb. 5: Die Struktur des Golgi-Apparates. Dreidimensionale Rekonstruktion von elektronenmikroskopischen Aufnahmen einer sezernierenden Zelle. Auf der cis-Seite befindet sich das ER.10
Abb. 6: Der Golgi-Apparat im Zentrum der biosynthetisch-sekretorischen und endozytotischen Wege der Zelle. Proteinmoleküle werden vom ER über den Golgi-Apparat zur Plasmamembran oder zu den Endosomen und Lysosomen transportiert (synthetisch-sekretorischer Weg). Der endozytotische Weg beginnt mit der Aufnahme von Molekülen in Vesikel, die sich aus der Plasmamembran bilden und zu den frühen Endosomen und Lysosomen transportiert werden.11
10 Modifiziert nach Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2008, Figure 13-25. 11 Modifiziert nach Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2008, Figure 13-3.
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2.6 Endozytose und Exozytose Wenn die Vesikel zur Plasmamembran transportiert werden, dann fusionieren sie mit dieser Membran. Es entsteht eine Ω-Form, die sich in den Extrazellulärraum öffnet und so den Inhalt des Bläschens freigibt. Dieser Vorgang wird Exozytose genannt. Das Gegenteil der Exozytose ist die Endozytose, bei der Stoffe aus dem Extrazellulärraum in Einstülpungen der Plasmamembran aufgenommen werden. Diese Einstülpungen schnüren sich dann von der Plasmamembran ab und werden zu Membranvesikeln. Diese Vesikel werden in der Zelle in verschiedenen Weisen weiterverarbeitet. Ein Weg führt zu den Lysosomen. Die Lysosomen stammen von den Endosomen. Die Endosomen wiederum sind unregelmäßig geformte Membransysteme, welche die endozytotischen Vesikel aufnehmen. In den Lysosomen werden zahlreiche hydrolytische Enzyme angereichert. Diese können die meisten physiologisch vorkommenden Makromoleküle spalten. Wenn das Material, das durch die Lysosomen abgebaut wird, aus dem Extrazellulärraum stammt, spricht man von Phagozytose. Stammt es aus dem Inneren der Zelle, nennt man es Autophagie. 2.7 Mitochondrien Das Mitochondrium besteht aus einer äußeren und inneren Membran. Zwischen der äußeren und der inneren Membran befindet sich der intermembranäre Raum (Membranzwischenraum). Die innere Membran begrenzt den Matrixraum. Sie bildet Falten (Cristae) oder Röhren (Tubuli), die in den Matrixraum hineinragen. Das Mitochondrium besitzt ein unvollständiges eigenes Genom.
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Morphologie und funktionelle Einheiten der Zelle
Abb. 7: Elektronenmikroskopische Struktur eines Mitochondriums.12
Die äußere Membran enthält Transportproteine (Porine) und ist dadurch durchlässig für größere Moleküle. In der inneren Membran befinden sich viele Transporter und Pumpen, die nur eine selektive Durchlässigkeit erlauben. Diese innere Membran enthält auch die Atmungskette (Elektronentransportkette), die zuständig ist für den Prozess der oxidativen Phosphorylierung und somit auch für die Synthese von ATP (ATP-Synthase). Im Matrixraum läuft der Zitronensäurezyklus ab. „Mitochondrien sind der Ort der Zellatmung: Kohlenhydrate, Fettsäuren und Aminosäuren werden unter Verbrauch von elementarem Sauerstoff zu CO2 und H2O oxidiert. Dadurch wird ATP als Energielieferant für zahlreiche Zellfunktionen gewonnen.“13
12 Modifiziert nach Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2008, Figure 14-8 13 Benninghoff/Drenckhahn 2003, 61.
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2.8 Zellkern Im Zellkern befindet sich die DNA. Die Zellkernhülle besteht aus einer äußeren und inneren Kernmembran. Beide Membranen gehen ineinander über, sind aber in ihrer Proteinausstattung verschieden. „Die innere Kernmembran enthält spezifische Proteine, die als Ankerstellen für das Chromatin und das Proteinmaschenwerk der Kernlamina fungieren“14. Die Kernlamina verleiht der Kernhülle strukturellen Halt. Die äußere Kernmembran setzt sich in die Membran des Endoplasmatischen Retikulums fort. Sie ist mit Ribosomen übersät, die Proteine synthetisieren. „Die an diesen Ribosomen hergestellten Proteine werden in den Raum zwischen innerer und äußerer Kernmembran (den perinukleären Raum) entlassen, der seine Fortsetzung im Lumen des ER erfährt.“15
Abb. 8: Schema der Kernhülle und der Kernporen.16 An der inneren Kernmembran liegt ein faseriges Maschenwerk, die Kernlamina.
14 Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2011, 794. 15 Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2011, 794. 16 Modifiziert nach Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2008, Figure 12-8.
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Abb. 9: Anordnung der Kernporenkomplexe (NPC) in der Kernhülle.17 1: Zytosolische Fibrillen; 2: Untereinheiten des inneren Rings; 3: Luminale Untereinheit; 4: Säulenuntereinheit; 5: Ringuntereinheit; 6: Kernfibrille; 7: Kernporenkorb; 8: Kernlamina; 9: Innere Kernmembran; 10: Kernhülle; 11: Äußere Kernmembran.
Die Zellkernhülle wird von Kernporenkomplexen (NPCs, nuclear pore complexes) durchbrochen. „Die Kernhülle einer typischen Säugetierzelle enthält 3000 bis 4000 NPCs, und der Gesamtverkehr, der diese NPCs passiert, ist enorm: Jeder NPC kann bis zu 500 Makromoleküle pro Sekunde transportieren und zwar gleichzeitig in beide Richtungen.“18 Proteine, die im Zytosol hergestellt werden, werden selektiv in das Kernkompartiment importiert. Gleichzeitig werden im Kern synthetisierte Transfer-Ribonukleinsäuren (tRNAs) und BotenRibonukleinsäuren (mRNAs) in das Zytosol exportiert.
17 Modifiziert nach Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2008, Figure 12-9 A. 18 Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2011, 794.
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Abb. 10: Elektronenmikroskopische Darstellung von Nucleolus (NU), Euchromatin (EC) und Heterochromatin (HC). Mit dem Nucleolus assoziiertes Heterochromatin ist mit Pfeilen markiert. Die Pfeilspitzen zeigen auf die beiden Membranen der Kernhülle. Balken rechts unten = 1µm19.
Der Inhalt des Zellkerns ist das Karyoplasma oder Chromatin. Das Chromatin bezeichnet die Gesamtheit von DNA und chromosomalen Proteinen. Im Chromatin gibt es stärker färbbare oder elektronendichtere Gebiete, das Heterochromatin, und schwächer färbbare oder weniger elektronendichte Gebiete, das Euchromatin. Im Heterochromatin sind die Chromosomen stark kondensiert. In diesem Bereich wird in der Regel die Information von den Genen nicht abgelesen. Im Bereich des Euchromatin sind die Chromosomen entspiralisiert und können abgelesen werden. Jedes Chromosom besteht aus einem langen DNA Molekül, das eine Doppelhelix bildet. 19 Junqueira/Carneiro/Kelley, 2002, Abb.2.2.. Mit freundlicher Genehmigung des Springer Verlags.
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Man hatte bis vor kurzem den Eindruck, dass die DNA-Moleküle mehr oder weniger ungeordnet im Zellkern verteilt sind. Neuere Untersuchungen20 haben aber gezeigt, dass die Chromosomen wohlgeordnet sind und man gleichsam einen Stadtplan von ihrer Anordnung anfertigen könnte. Diese Anordnung mag verständlich machen, warum es sogenannte „hot spots“ gibt, d.h. Bereiche auf der DNA, in denen gehäuft Mutationen auftreten. Es könnte nämlich sein, dass an diesen Stellen die Chromosomen vermehrt der Strahlung oder chemischen Einflüssen ausgesetzt sind.21
Abb. 11: Die Gebiete aller menschlichen Chromosomen in einem Interphasezellkern. Die Lokalisation der Chromosomen (1 bis 22 und X) wurde mit der FISH-Methode festgestellt.22
20 Lanctôt/Cheutin/Cremer/Cavalli/Cremer 2007. 21 Diese Befunde sind auch für evolutionstheoretische Überlegungen wichtig. Siehe auch Rager/von Brück 2012, 78-101. 22 Modifiziert nach Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2008, Figure 4-63.
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Im Zellkern von somatischen Zellen des Menschen befinden sich 2x23 Chromosomen, also 2 Chromosomensätze (2n), die jeweils von Mutter und Vater ererbt sind.23 Die Zellen sind also in der Regel diploid. Es gibt „22 Paare homologer Chromosomen (Autosomen) plus zwei Geschlechtschromosomen (Gonosomen). … In jedem Chromosom wird vor der Zellteilung das DNA-Molekül verdoppelt. Somit besteht jedes Metaphase-Chromosom aus zwei identischen Fäden, den Chromatiden (Schwesterchromatiden).“24 An einer Stelle, dem Zentromer, haften die Chromatiden besonders fest aneinander. „Die Lokalisation des Zentromers ist für jedes Chromosom charakteristisch und unterteilt es in einen kurzen (p = petit) und einen langen (q) Arm.“25 Die Lage von Genen kann mit Hilfe eines Zahlencodes angegeben werden. Innerhalb des Zellkerns befindet sich ein umschriebener Bereich, der sich mit basischen Farbstoffen besonders intensiv anfärbt oder im Elektronenmikroskop besonders elektronendicht erscheint. Dieser Bereich ist der Nucleolus (Kernkörperchen). Im Nucleolus werden Untereinheiten von Ribosomen synthetisiert. Ribosomen sind Komplexe aus ribosomaler RNA (rRNA) und bestimmten Proteinen. „Die rRNA entstehen im Nucleolus, die Proteine werden im Zytoplasma synthetisiert, in den Kern transportiert und im Bereich des Nucleolus mit den rRNA zu Ribosomenuntereinheiten zusammenmontiert. Diese verlassen dann den Kern durch die Kernporen.“26
23 Lüllmann-Rauch 2003, 63. 24 Lüllmann-Rauch 2003, 63. 25 Lüllmann-Rauch 2003, 64. Der längere Arm wird mit q bezeichnet, weil q im lateinischen Alphabet auf p folgt. 26 Lüllmann-Rauch 2003, 62.
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Abb. 12: Die Funktion des Nucleolus bei der Synthese von Ribosomen und anderen Ribonukleoproteinen.27 Die Synthesewege sind durch Pfeile angegeben. Man nimmt an, dass die Ribosomen im Zytoplasma aus einer 40S- und einer 60S-Untereinheit zusammengebaut werden. Diese Untereinheiten werden getrennt durch die Kern‑ poren ins Zytoplasma transportiert. Abkürzungen: snoRNA für small nucleolar RNA; S-rRNA bedeutet ribosomale RNA, die einen bestimmten Sedimentationswert (S) besitzt.
27 Modifiziert nach Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2008, Figure 6-47.
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3. Die genetische Information und ihre Übersetzung Die bisherige Schilderung vereinfacht die molekularen Prozesse in der Zelle stark. Man weiß heute viel genauer, wie die komplizierten Prozesse ineinander greifen und zuverlässig ihre Produkte hervorbringen. Hinzu kommen noch zahlreiche Kontrollfunktionen, die den richtigen Ablauf der Prozesse garantieren und fehlerhafte Produkte eliminieren. Im dritten Teil geht es nun um die Frage, wie in der DNA genetische Information codiert ist und wie sie in Proteine und andere Moleküle übersetzt wird. 3.1 Struktur der DNA
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D Doppelstrang-DNA D Doppelstrang-DNA
E gedrehterDoppelstrang Doppelstrang E gedrehter
B Abb. 13 A-C (Seite 72): Die Entstehung der DNA aus ihren Bausteinen. Die Baustei-
ne der DNA sind die Nukleotiden (A), die aus einem Zuckerphosphat-Molekül und einer Base bestehen. Die vier Basen der DNA sind: Adenin (A), Guanin (G), Cytosin (C) und Thymin (T). Die RNA enthält Uracil (U) anstelle von Thymin. Die Nukleotiden lagern sich aneinander und bilden einen DNA-Strang (B), der infolge der Anordnung der Basen polar gerichtet ist. Diesem Strang lagert sich ein anderer Strang an, der durch die besonderen Bindungseigenschaften der Basen zum ersteren Strang komplementär ist (C).28
C Abb. 13 D-E (Seite 73): Die beiden komplementären Stränge (D) drehen sich um einander und bilden eine Doppelhelix (E). Diese Doppelhelix ist mechanisch und chemisch sehr robust29.
28 Modifiziert nach Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2008, Figure 1-2. 29 Modifiziert nach Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2008, Figure 1-2.
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3.2 Transkription und Translation. Die gesamte, in der DNA enthaltene genetische Information bezeichnet man als Genom. Das Genom besteht aus einer Vielzahl von Genen. Die Angaben über die Anzahl der Gene beim Menschen variieren zwischen 25‘00030 und 30‘000 bis 35‘00031. „Ein Gen ist – stark vereinfacht ausgedrückt – ein Abschnitt im DNA-Molekül, der die Synthese-Anweisung für ein Protein enthält.“32 Wie wird nun diese Anweisung in die Herstellung eines Proteins umgesetzt? Im Zellkern wird die DNA verdoppelt (DNASynthese) und die genetische Information auf die mRNA (messenger RNA oder Boten-RNA) übertragen. Man nennt diesen Prozess Transkription. Es handelt sich um ein einfaches Umschreiben, wie wenn man eine handgeschriebene Nachricht in einen gedruckten Text umschreibt. Die Form der Sprache ändert sich nicht und die verwendeten Symbole sind ähnlich.
30 Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2011, 230, Tabelle 4-1. 31 Strachan/Read 2005, 293, Exkurs 9.5. 32 Lüllmann-Rauch 2003, 59.
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Abb. 14: Die Schritte, die bei Eukaryoten vom Gen zum Protein führen. In der DNA befinden sich Exons, die codieren, und Introns, die nicht codieren. Diese Abschnitte sind auch im primären RNA-Transkript enthalten. Durch Spleißen werden die Introns entfernt. Die nur noch aus Exons bestehende mRNA wird aus dem Kern in das Zytoplasma transportiert. 5‘-Capping: Anfügen einer Kappe (verändertes Guaninnukleotid) am 5‘-Ende des neuen RNA-Moleküls. 3‘-Polyadenylierung: Am 3‘-Ende werden mehrere Adeninnukleotide (AAAA) angehängt. 33
Das primäre RNA-Transkript enthält noch Abschnitte, die nicht kodieren (Introns). Es scheint so zu sein, dass beim Menschen 98.5% des Genoms für nichts codiert. Früher wurden diese Abschnitte, von denen man noch nicht weiß, welche Funktionen sie haben, als junk-DNA34 bezeichnet. Die Introns auf dem primären RNA33 Modifiziert nach Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2008, Figure 6-21. 34 Auf Deutsch: Ballast-DNA.
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Transkript werden durch Spleißen (ein enzymatischer Prozess) entfernt.
Abb. 15: Das Spleißen der RNA. Ein Adeninnukleotid (A) greift die 5‘-Spleißstelle an und schneidet an dieser Stelle die RNA. Das geschnittene 5‘-Ende des Introns bindet kovalent an das Adeninnukleotid. Dadurch bildet sich eine Schleife im RNA-Molekül. Das frei gewordene 3‘-OH-Ende kann jetzt mit dem Anfang der nächsten Exonsequenz reagieren. Die beiden Exonsequenzen werden zu einer durchgängigen codierenden Sequenz zusammengefügt. Das Intron wird freigesetzt in Form eines „Lassos“.35 35 Modifiziert nach Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2008, Figure 6-26.
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Ala Arg Asp Asn Cys Glu Gln Gly His Ile Leu
Codon GCA AGA GAC AAC UGC GAA CAA GGA CAC AUA UUA
GCC AGG GAU AAU UGU GAG CAG GGC CAU AUC UUG
Aminosäure
Aminosäure
Die durch das Spleißen entstehende definitive mRNA wird aus dem Kern in das Zytoplasma übertragen. Dort dient sie als Matrize für die Synthese von Proteinen. Im Zytoplasma bindet sie an Ribosomen. Die Übertragung der Information von der mRNA auf das Protein ist dann eine Translation, d.h. eine Übersetzung in eine andere Sprache, die ganz unterschiedliche Symbole verwendet. Das Alphabet der Nukleotide in der RNA wird übersetzt in das Alphabet der Aminosäuren in den Proteinen. Die Information in einem mRNA-Molekül wird in Gruppen von drei Nukleotiden (Tripletts) abgelesen. Jedes Nukleotid-Triplett, oder Codon, codiert für eine einzige Aminosäure. Da 64 Codons möglich sind, die allesamt in der Natur vorkommen, aber nur 20 Aminosäuren, muss es Fälle geben, in denen mehrere Codons für die gleiche Aminosäure codieren.
GCG GCU Lys CGA CGC CGG CGU Met Phe Pro Ser Thr Trp GGG GGU Tyr Val AUU Stopp CUA CUC CUG CUU
Codon AAA AUG UUC CCA AGC ACA UGG UAC GUA UAA
AAG UUU CCC CCG CCU AGU UCA UCC UCG UCU ACC ACG ACU UAU GUC GUG GUU UAG UGA
Abb. 16: Das Verhältnis von Codons zu Aminosäuren. Links sind die 20 Aminosäuren in der üblichen Abkürzung aufgelistet, rechts die Basentripletten (Codons), die eine Aminosäure codieren können. Drei Codons wirken als Terminationsstellen (Stopp-Codons) für eine Aminosäurensequenz.36 36 Modifiziert nach Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2008, Figure 6-50.
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Die Übersetzung der mRNA-Information in eine Aminosäurensequenz ist eine komplizierte Angelegenheit. Ich möchte sie vereinfacht so darstellen. Jede Gruppe von drei aufeinanderfolgenden Nukleotiden37 bildet ein Codon. Jedes Codon codiert entweder eine Aminosäure oder die Beendigung eines Translationsprozesses (Stopp). Ein Nukleotid-Triplett kann aber nicht direkt an die zugehörige Aminosäure binden, sondern bedarf der Vermittlung durch die Transfer-RNA (tRNA). Die tRNA bindet einerseits mit ihrem Anticodon an das Codon, andererseits an die entsprechende Aminosäure und führt so die Aminosäure zu ihrem Codon.
Abb. 17: Die Transfer RNA bindet an eine Aminosäure (hier Tryptophan) und verbindet diese durch Basenpaarung an das entsprechende Codon in der mRNA.38
Der genetische Code wird mit Hilfe zweier hintereinander wirkender Adapter übersetzt. Der erste Adapter ist das Aminoacyl-tRNA-Synthetaseenzym, das eine bestimmte Aminosäure an ihre 37 Nukleotid ist ein Nucleosid mit einer oder mehreren Phosphatgruppen, die über Esterbindung mit dem Zucker verknüpft sind. DNA und RNA sind Polykondensate („Polymere“) von Nukleotiden. Ein Nucleosid ist ein Molekül aus einer Purinoder Pyrimidinbase, die kovalent mit einem der Pentose-Zucker Ribose oder Desoxyribose verbunden ist. 38 Modifiziert nach Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2008, Figure 1-9.
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entsprechende tRNA heftet. Der zweite Adapter ist das tRNAMolekül, das die Aminosäure mit dem entsprechenden Codon der mRNA verbindet. 3.3 Kontrolle der Genexpression und Epigenetische Mechanismen Alle Zellen eines Individuums besitzen dasselbe Genom. Dennoch ist die Expression des Genoms in den verschiedenen Zelltypen sehr verschieden. Wie diese Verschiedenheit der Expression entsteht, „lässt sich mit genetischen Mechanismen nicht erklären. … C.H. Waddington führte deshalb den Begriff der epigenetischen Mechanismen der Genregulation in der Entwicklungsphase ein. Mit genetischen Mechanismen lassen sich vererbbare Merkmale erklären, die durch Veränderung der Gensequenz (Mutationen) entstehen. Mit epigenetischen Mechanismen bezeichnet man hingegen vererbbare Merkmale, die nicht von der DNA-Sequenz abhängen. In jüngster Zeit hat man eine Reihe von epigenetischen Mechanismen identifiziert, die in den Zellen von Wirbeltieren aktiv sind.“39 Eine besonders wichtige Rolle spielt dabei die DNAMethylierung, durch welche „das Chromatin in einen geschlossenen Zustand mit inaktiver Transkription gebracht wird“40. Die DNA-Methylierung der Wirbeltiere erfolgt durch die Methyltransferase an der Position 5 des Cytosin. Außer der DNA-Methylierung gibt es noch andere epigenetische Mechanismen, auf die ich aber hier nicht eingehen kann.
39 Strachan/Read 2005, 341. 40 Strachan/Read 2005, 342
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Abb. 18: Durch Methylierung von Cytosin entsteht 5-Methylcytosin.41
Der Grad der Methylierung wechselt stark im Verlaufe der Ontogenese. Die Methylierung nimmt stark zu während der Entwicklung und Reifung der Keimzellen und ist sehr hoch bei der reifen Oozyte und bei der Zygote. Beim frühen Embryo nimmt sie wieder stark ab bis zur Blastozyste und steigt dann wieder an bei der Bildung der somatischen Zellen.
Abb. 19: Der Grad der DNA-Methylierung ändert sich bei Säugern während der Entwicklung.42 41 Modifiziert nach Alberts/Johnson/Lewis/Raff/Roberts/Walter 2008, Figure 7-79. 42 Modifiziert nach Strachan/ Read 2005, Abb. 10.19.
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Die Methylierung scheint unter dem Einfluss extrazellulärer Signale zu stehen. Welche Signale welchen Einfluss ausüben, ist jedoch noch nicht genau bekannt. Jedenfalls ergibt sich aus dieser Erkenntnis, dass die Zellen von Vertebraten sich nicht völlig autonom entwickeln und differenzieren, sondern stark beeinflusst werden von Signalen aus der Umwelt. 3.4 Ausblick 3.4.1 Der Begriff des Gens Mit Beendigung des Human Genome Project (HUGO Human Genome Organization) im Jahre 2003 waren nicht wenige Wissenschaftler enthusiastisch in der Meinung, man kenne nun das Alphabet der genetischen Information des Menschen. Doch bald folgte die Ernüchterung. Man kannte zwar das Alphabet, konnte aber damit keine sinnvollen Sätze bilden. Auch der so klar erscheinende Begriff des Gens wurde in Frage gestellt. Es zeigte sich nämlich, dass Proteine nicht nur von einem ganz bestimmten DNA-Abschnitt codiert werden. Es gibt auch Fälle, in denen die Information von zwei oder mehreren DNA-Abschnitten dazu benutzt wird, um ein Protein zu codieren. Anfang 2006 hat eine Gruppe von Wissenschaftlern des Sequence Ontology Consortiums der Universität Berkely während zwei Tagen beraten und sich auf folgende Formulierung geeinigt: Ein Gen ist „eine lokalisierbare Region genomischer DNA-Sequenz, die einer Erbeinheit entspricht und mit regulatorischen, transkribierten und / oder funktionellen Sequenzregionen assoziiert ist“.43 43 Ein Gen ist „a relocatable region of genomic sequence, corresponding to a unit of inheritance, which is associated with regulatory regions, transcribed regions and / or other functional sequence regions.“ Zitiert aus Helen Pearson, What is a gene?, Nature 441, 398-401, 25. May 2006.
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Die Junk-DNA, die man lange als unnützen Ballast angesehen hatte, wird sinnvoll. Man kennt ihren Inhalt noch nicht im Detail. Vermutlich sind aber darin sehr viele zusätzliche Informationen enthalten. 3.4.2 Komplexität und Variabilität Mit Beendigung von HUGO trat die Tatsache in den Vordergrund, dass man für dieses Projekt willkürlich die DNA von einer kleinen Zahl anonymer Probanden zum Sequenzieren ausgewählt hatte. Inzwischen weiß man, dass sich jeder Mensch vom anderen in ungefähr zwei von tausend Nukleotidpaaren seiner DNA-Sequenz unterscheidet. Das Genom der Spezies Mensch ist sehr komplex. Es umfasst den gesamten Vorrat der verschiedenen Genvarianten, die sich in der Menschenpopulation finden. Um mehr über diese Komplexität zu erfahren, ist jetzt ein Human Genome Diversity Project (HGDP) ins Leben gerufen worden.44 Für die individuelle Genomanalyse wurde 2005 das Personal Genome Project (PGD) von dem Molekularbiologen George Church (Harvard University) initiiert mit dem Ziel, allen Menschen die Gelegenheit zu geben, sich über ihr Genom zu informieren. Die Komplexität des menschlichen Genoms ist die eine Seite. Die andere Seite ist die Komplexität des Transkriptions- und Translationsprozesses. Es werden laufend neue Mechanismen entdeckt, die das Verständnis dieser Prozesse immer schwieriger machen. So wurden z.B. mikroRNA Moleküle (miRNA) gefunden, welche die Genexpression hochspezifisch auf der post-transkriptionellen Ebene regulieren können. Sie können z.B. bestimmte Abschnitte der mRNA blockieren oder sogar zerschneiden. Wodurch diese mikroRNAMoleküle gesteuert werden, ist wiederum nicht bekannt. 44 Strachan/Read 2005, 259.
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Diese Forschungsergebnisse zeigen, dass wir die genetische Information und die Expression dieser Information noch lange nicht verstanden haben. Es tut sich ein unendlich scheinender Horizont auf. 3.4.3 Wenn die Kontrollen versagen Wenn nun durch irgendwelche Störfaktoren Fehler in der genetischen Information oder bei der Transkription oder Translation auftreten und wenn die zahlreichen Kontrollmechanismen nicht mehr ausreichen, um die Fehler zu beseitigen, dann kann Krebs entstehen. Man weiß heute, dass Brustkrebs nicht gleich Brustkrebs und Prostata-Krebs nicht gleich Prostata-Krebs ist und deshalb jeder Patient individuell verschieden auf eine bestimmte Krebstherapie anspricht. Deshalb versucht man heute das individuelle Genom und die darin enthaltenen Abweichungen zu ermitteln. Das Ziel wäre eine individuell optimierte Therapie. Doch auch dieses Unterfangen steht vor großen Problemen, weil die Variabilität der Abweichungen zwischen den Individuen riesig ist.45 Die Realisierung des Projekts einer „Personalisierten Medizin“46 rückt damit erneut in weite Ferne. 3.4.4 Sind die Ziele der Synthetischen Biologie realistisch? Die moderne Zellforschung versetzt uns in Staunen einerseits über die ungeheure Komplexität der Zelle und ihrer Funktionen, andererseits über die großen Fortschritte, die im Wissen über die zellulären Strukturen und Funktionen erzielt wurden. Zugleich aber 45 Matthew et al., 2012. 46 Siehe Brand 2012.
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macht sie uns bewusst, wie viel wir noch nicht wissen. Angesichts der unabsehbaren Menge des Nichtwissens scheint die Frage berechtigt, wie gut die Erfolgsaussichten einer Synthetischen Biologie sind. Nun ist das Selbstverständnis der Synthetischen Biologie sehr vielfältig. Wenn man sich darauf beschränkt, synthetisch hergestellte Systeme in Lebewesen einzubauen, die dadurch neue Eigenschaften erhalten, dann sind die Erfolgsaussichten sicher höher zu bewerten, als wenn man ganze Organismen (Minimalorganismen) produzieren will, die in ihren wesentlichen Eigenschaften natürlichen Systemen gleichen. Aus heutiger Sicht würde man sagen, dass dies in absehbarer Zeit wegen der Komplexität natürlicher Systeme nicht möglich sein wird. Man sollte sich aber davor hüten, apodiktische Aussagen zu machen. Im Laufe der Wissenschaftsentwicklung konnte man immer wieder beobachten, dass plötzlich unerwartete Schritte und technologische Ansätze Realität wurden, die man vorher als unmöglich angesehen hatte. Ein Beispiel für solche unerwarteten Schritte ist die Umprogrammierung des genetischen Codes eines Bakteriums, über die kürzlich in Science berichtet wurde47. Durch diese Umprogrammierung konnte ein Bakterium eine Aminosäure, die normalerweise von der Natur nicht verwendet wird, in Proteine einbauen und so Proteine herstellen, die von natürlichen Organismen nicht erzeugt werden können. Auf diese Weise ist ein künstlicher Organismus (genomically recoded organism) entstanden, der Proteine mit neuen Eigenschaften herstellen kann, die in der Natur sonst nicht existieren. Von den Zielsetzungen der Synthetischen Biologie hängt auch ab, welchen Sinn man ihr zubilligen kann. Ganz sicher hat sie einen hohen Erkenntniswert, denn oft ist es so, dass man ein System erst 47 Die Experimente wurden ausgeführt von den Arbeitsgruppen um Farren Isaacs, Yale University, und George Church, Harvard University (Lajoie et al. (p.357) und Lajoie et al. (p.361)).
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dann wirklich verstanden hat, wenn man es so nachbauen kann, dass es in seinen Funktionen dem Vorbild gleicht. Hier ist es ähnlich wie in den Neurowissenschaften. Ein komplexes neuronales Netzwerk hat man erst dann in seinen wesentlichen Eigenschaften verstanden, wenn man es in Modellen so abbilden kann, dass bei verschiedenen Eingaben in das Modell die gleichen Ausgaben herauskommen wie im abgebildeten natürlichen System. Anders verhält es sich mit dem praktischen Wert. Soll man etwas herstellen, was die Natur schon besser und mit weniger Aufwand herstellen kann? Wären da nicht zuerst die Möglichkeiten der Stammzellforschung auszuloten? Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass mit der Synthetischen Biologie Stoffe hergestellt werden sollen, die es natürlicherweise nicht oder nur in geringen Mengen gibt und die in der Medizin eine wichtige Anwendung haben könnten. Hier könnte der Synthetischen Biologie eine wichtige Rolle zukommen. Freilich stehen damit auch die Türen für den Missbrauch offen. So wird schon jetzt die Gefahr des Bioterrorismus diskutiert. Aber auch ohne solchen Missbrauch stehen wir vor großen Gefahren. Im obigen Beispiel wurde über neu synthetisierte Proteine berichtet, die bisher in der Natur nicht vorkommen. Welche Auswirkungen haben solche Proteine, wenn sie in eine natürliche Umgebung gebracht werden? Werden sie natürliche Gleichgewichte empfindlich stören? Sind sie gefährlich für unsere Gesundheit? Schon jetzt werden Nahrungsmittel künstlich in großem Umfang hergestellt. Sind sie ein vollwertiger Ersatz für die vorhandenen Nahrungsmittel? Werden sie langfristig zu gesundheitlichen Schäden führen? Wir müssen alles daran setzen, um solche Gefahren frühzeitig zu erkennen und gefährliche Produkte zu eliminieren. Beim Umgang mit der Synthetischen Biologie müssen auch ethische Überlegungen eine wichtige Rolle spielen.
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Synthetische Biologie im Lichte der Naturphilosophie: Ein Plädoyer für einen nüchternen Blick Manfred Stöckler
1. Einleitung Wir verändern vieles in der Natur. Wir bauen Häuser, Brücken und Fahrräder, und wir benutzen Brillen zum Lesen. Die Herstellung neuer Gegenstände ist meistens unproblematisch. Bei der künstlichen Herstellung neuer lebendiger Organismen zögern wir jedoch, sie zu den problemlosen Eingriffen in den natürlichen Lauf der Dinge zu zählen. Sicherlich sind nicht alle Eingriffe in die Natur unbedenklich. Die Klimaveränderung aufgrund des zunehmenden Eintrags von Kohlendioxid in die Atmosphäre z. B. wird große Kosten verursachen und das Leben vieler Menschen bedrohen. Wie jedes Handeln des Menschen müssen auch seine Eingriffe in die Natur an ethischen Maßstäben geprüft werden, um Schaden für andere zu vermeiden. Solche „Klugheitsüberlegungen“ und Abwägungen der konkreten Ethik sind aber nur indirekt Gegenstand der folgenden Untersuchung. Hier soll vielmehr gefragt werden, ob es grundsätzliche naturphilosophische Argumente gibt, die Projekten wie einer synthetischen Biologie – unabhängig von der Bewertung der Nützlichkeit der Folgen – sehr prinzipielle Grenzen setzen. Ich will also untersuchen, ob die Synthetische Biologie aus naturphilosophischer (und am Rande auch aus wissenschaftstheoretischer) Sicht anders als z.B. die gegenwärtige Gentechnik bewertet werden muss und ob sich daraus auch neue normative Konsequenzen ergeben könnten. Es soll also um naturphilosophische Positio‑ nen gehen, die Voraussetzungen ethischer Bewertungen sind. Ich beginne im ersten Teil mit einer Klärung der Begriffe „Natur“ und 87 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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„natürlich“, die sowohl eine deskriptive als auch eine normative Dimension zu haben scheinen. Kann die Natur Maßstab für das menschliche Handeln sein? Ist das Natürliche (das nicht vom Menschen Beeinflusste) besser als das Künstliche (das Synthetische)? Oder können wir gerade durch Eingriffe in die Natur eine bessere Welt bekommen? Im zweiten Teil soll eine ähnliche Fragestellung im Bereich der lebendigen Natur untersucht werden. Leben hat für uns eine besondere Bedeutung. Auch deshalb wurden gegen die Synthetische Biologie ganz andere Einwände erhoben als z. B. gegen die Synthetische Chemie. Zur Klärung der Debatte stelle ich Versuche vor, die Frage, was Leben eigentlich ist, durch eine explizite Definition zu beantworten. Offenbar kann schon der Begriff des Lebens normative Folgen haben. Gefährdet der Blickwinkel, unter dem die Synthetische Biologie das Leben erfasst, die Wertschätzung des Lebendigen? Bestehen z. B. die Bedenken von J. Boldt zu Recht: „Wenn man Leben aus der Perspektive vollständiger, gesetzesförmiger Erklärbarkeit betrachtet, dann gibt es keinen Ort für die Annahme eines eigenen Wertes dieses Lebens, der als Gegengewicht zu den Wünschen und Bedürfnissen des Menschen fungieren könnte“1? In einem dritten Teil will ich kurz drei populäre Themen aufgreifen, die in diesem Zusammenhang den öffentlichen Diskurs beeinflusst haben.
2. „Natur“ und „natürlich“ Ein Teil des Unbehagens, das die Synthetische Biologie auslöst, beruht darauf, dass lebendige Organismen bisher nicht künstlich hergestellt werden konnten und zu dem Bereich der Natur gehör1 Boldt (2012) S. 183.
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ten, der nicht Menschenwerk ist. Dieser Bereich erfreut sich der überwiegend positiven Bewertung, die (jedenfalls gegenwärtig) alles Natürliche findet. Die grundlegende Bedeutung der Unterscheidung zwischen dem „Gewordenen“ und dem „Gemachten“ hat D. Birnbacher in seinem Buch „Natürlichkeit“ (2006) herausgearbeitet. Sie betrifft nicht nur unsere Beschreibungen, sie beeinflusst vor allem auch unsere Einstellungen zu den Dingen: „Wir sehen das Natürliche anders als das Künstliche.“2 Das Natürliche hat für uns in verschiedener Hinsicht einen besonderen Wert.3 Das zeigt sich schon in der Sprache: „Das Natürliche hat durchweg eine positive, einige Gegenbegriffe, insbesondere die des Widernatürlichen, des Gekünstelten, des Verfälschten und des Entarteten eine negative Konnotation. Soweit man die sprachlichen Tatsachen als Indikatoren für entsprechende mentale Heuristiken deuten kann, scheint für unser spontanes Denken und Empfinden das Vorurteil leitend, dass die Natur letztlich gut und wohltätig ist, während alles Schlechte und Böse vom Menschen kommt.“4 Für die Bewertung der Synthetischen Biologie ist auch ein „Natürlichkeitsbonus“ relevant. So bezeichnet D. Birnbacher die durch die sozialpsychologische Risikoforschung nachgewiesene Tendenz, natürliche Risiken eher zu tolerieren als Gefahren, die von dem ausgehen, was Menschen hergestellt haben.5 Der Natürlichkeitsbonus ist vermutlich eine wichtige Quelle von Bedenken gegenüber der Synthetischen Biologie. Solche Beobachtungen sind jedenfalls Grund genug, die Frage zu stellen, ob sich die Natur überhaupt als Quelle von Werten und Normen eignet. Dazu müssen zunächst verschiedene Bedeutungen von „Natur“ und „natürlich“ unterschieden werden. Das Wort 2 3 4 5
Birnbacher (2006) S. 4. Vgl. hierzu die materialreiche Analyse bei Birnbacher (2006), Kap. 2. Birnbacher (2006) S. 30. Birnbacher (2006) S. 22.
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„Natur“ hat im Alltag und in der Philosophie verschiedene Bedeutungen.6 In der Kernbedeutung ist Natur alles, was sich nach eigenen Triebkräften und Gesetzen entwickelt. In einem weiteren Sinn versteht man unter „Natur“ die Gesamtheit der Dinge und Prozesse. Davon zu unterscheiden ist die Natur als der Teil der Welt, der unabhängig vom Eingreifen des Menschen ist.7 Die jeweilige Ausprägung des Naturbegriffs lässt sich häufig durch Gegenbegriffe charakterisieren. So werden Natur und Kunst, Natur und Geschichte oder Natur und Vernunft einander gegenübergestellt. Das Natürliche steht in einem klassischen Gegensatz zum Konventionellen und Künstlichen. Im Kontext der Synthetischen Biologie ist die Natur das, was vom Menschen nicht hergestellt, geformt oder verändert worden ist. Zur Natur gehören die lebendigen Organismen, die sich im Verlauf der Evolution entwickelt haben, aber nicht das, was künstlich, z. B. durch die Synthetischen Biologie, hergestellt worden ist. Naturvorstellungen umfassen auch Wertvorstellungen, setzen unterschiedliche Weltbilder voraus oder haben verschiedene Menschenbilder zur Konsequenz. Die folgende Aufzählung soll das veranschaulichen: Natur als zufällige Ansammlung von Atomen im Raum und Natur als lebendiger Organismus (oft in Analogie zu Personen bis zur Identifikation mit Gott); Natur als gute Schöpfung Gottes und Natur als bedrohliche Quelle von Gefahren; Natur als Schäferidylle und Natur als Material für die menschliche Tätigkeit. Im Verlauf der Geistesgeschichte wandeln sich die leitenden Naturbilder, durchaus auch infolge gesellschaftlicher Veränderungen.8
6 Vgl. das Material in Stöckler (1993), das ich hier benutze. 7 Im philosophischen Fachgebrauch bezeichnet man mit „Natur“ oft auch das Wesen einer Sache im Sinne ihrer charakteristischen Eigenschaften. 8 Weitere Hinweise dazu in Stöckler (1993) S. 24-25.
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Im Zusammenhang mit der Synthetischen Biologie ist besonders wichtig, wie sich die Wertgeladenheit von Naturbildern auswirkt und ob daraus verallgemeinerungsfähige normative Folgerungen gezogen werden können. Ein guter Anknüpfungspunkt für eine solche Frage ist der Essay „Natur“ von John Stuart Mill. In dieser Untersuchung unterscheidet Mill zwischen zwei Hauptbedeutungen von „Natur“: (1) In einem ersten Sinn bedeutet das Wort „Natur“ alle „in der äußeren und inneren Welt vorhandenen Kräfte und alles, was vermöge dieser Kräfte geschieht.“ (2) In einem zweiten Sinn bedeutet es nicht alles, was geschieht, „sondern nur das, was ohne die Mitwirkung, d.h. die willentliche und absichtliche Mitwirkung, des Menschen geschieht.“9 In der Bedeutung (1), insbesondere als Gesamtheit aller materiellen Dinge und Prozesse, wird „Natur“ z. B. verwendet, wenn man von Naturgesetzen spricht, die auch für solche Prozesse gelten, die nicht von den Menschen in Gang gesetzt worden sind. In der Bedeutung (2) verwenden wir „Natur“, wenn wir von Naturschutz oder naturidentischen Geschmackstoffen in unseren Nahrungsmitteln sprechen. John Stuart Mill ist vor allem an der Frage interessiert, ob und in welchem Sinne aus der Betrachtung der Natur „Vorstellungen der Empfehlung, der Billigung oder sogar der moralischen Ver‑ pflichtung“10 abgeleitet werden sollten. Diese Frage untersucht er für die beiden genannten Bedeutung von „Natur“ getrennt. Im Sinne von (1) ergibt es keinen rechten Sinn, der Natur gemäß zu handeln. Wir Menschen gehorchen mit Notwendigkeit den Natur-
9 Mill (1984) S. 13. 10 Mill (1984) S. 13.
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gesetzen, den Eigenschaften der Dinge.11 Man kann die Naturgesetze nicht außer Kraft setzen. Man kann sie allerdings, wenn man sie gut kennt, für die eigenen Zwecke ausnutzen oder ihnen auch „entgehen“, wenn man sich den Bedingungen, unter denen die Gesetze gelten, entzieht. „Wer z. B. einen Fluss auf einer schmalen Brücke ohne Geländer überquert, wird gut daran tun, seine Unternehmung unter die Gesetze des Gleichgewichts für bewegte Körper zu bringen, anstatt sich nur nach dem Gesetz der Schwere zu richten und ins Wasser zu fallen.“12 Mill ist überzeugt, dass die Aufforderung, der Natur zu folgen, auch im Sinne von (2) in die Irre führt. Das eigentliche Ziel des Handelns sei vielmehr, die Natur im Sinne von (1) zu verändern und zu verbessern. „Graben, Pflügen, Bauen, Kleidertragen – alles sind direkte Übertretungen des Gebots, der Natur zu folgen.“13 Die Natur kann uns kein Vorbild sein. „Fast alles, wofür die Menschen, wenn sie es sich gegenseitig antun, gehängt oder ins Gefängnis geworfen werden, tut die Natur so gut wie alle Tage.“14 Ihre „Pest und Cholera sind verderblicher als die Giftbecher der Borgias.“15 J. S. Mill kommt also zu dem Ergebnis, dass die Natur in keiner der beiden von ihm hervorgehobenen Bedeutungen sich als „Prüfstein für gut und böse eignet.“ Folgt man ihm, kann man gegen die Synthetische Biologie nicht schon deshalb Einwände erheben, weil sie etwas herstellt, was nicht natürlich ist. Auch D. Birnbacher hat Natürlichkeit als Wert und die Überzeugungskraft von Natürlichkeitsargumenten in verschiedenen Bereichen detailliert untersucht.16 Ein zentraler Einwand gegen viele
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Mill (1984) S. 20. Mill (1984) S. 20. Mill (1984) S. 22. Mill (1984) S. 30. Mill (1984) S. 32. Birnbacher (2006), insbes. Kap. 3.
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Natürlichkeitsargumente beruft sich genau wie Mill darauf, dass auch die außermenschliche Natur zerstörerisch und wenig geeignet ist, vom Menschen als Vorbild des Handelns gewählt zu werden.17 In ähnlicher Richtung wird in einer Stellungnahme von verschiedenen Wissenschaftsorganisationen darauf hingewiesen, dass die Vorstellung einer an sich integren Natur, die lediglich durch den Menschen gestört wird, nicht gut mit Erfahrungen von Selbstzerstörung der Natur, natürlicher Aggression, dem Vorkommen von Seuchen und schweren Krankheiten in Einklang zu bringen ist. Einwände gegen Eingriffe in die Natur, wie sie in der Synthetischen Biologie vorgenommen werden, würden dann auch gegen vielfältige Maßnahmen in der Medizin sprechen, die jedoch allgemein als ethisch unbedenklich gelten.18 Solche Argumente sprechen dagegen, die Herstellung neuer lebendiger Organismen schon deshalb abzulehnen, weil sie in der Natur nicht vorkommen oder die Integrität des Lebens oder allgemein die Ordnung der Natur zerstören. Es gibt gute Gründe, an der Vorbildfunktion der Natur im Sinne von (2) zu zweifeln. Ich sehe auch sonst keine überzeugenden naturphilosophischen Argumente, die gegen die in der Synthetischen Biologie angestrebte Herstellung künstlicher Organismen sprechen. Natürlich kann es gute andere Gründe, insbesondere Klugheits- und Nützlichkeitsüberlegungen geben, die zur Vorsicht mahnen. Gerade in komplexen biologischen Zusammenhängen kann die Forderung nahe liegen, das in seinem Zusammenwirken bekannte Gewordene den noch unbekannten Risiken des neu Herzustellenden vorzuziehen. Das ist aber im Einzelfall zu entscheiden und jedenfalls nicht aufgrund naturphilosophischer Argumente.
17 Birnbacher (2006) S. 19 f. 18 Acatech et al. (2009) S. 41-42 und S. 87-88.
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3. Leben Im Mittelpunkt vieler philosophischer Debatten im Umkreis der Synthetischen Biologie steht der Begriff des Lebens.19 Ausgangspunkt ist wohl die Annahme, dass das Programm der Synthetischen Biologie ein besonderes Verständnis von Leben voraussetzt oder im Erfolgsfall zu einer neuen Konzeption von Leben führt. Auch hier geht es mehr um eine ethisches Anliegen als um den Wunsch, ein theoretisches Problem zu lösen. Debatten um eine oder „die richtige“ Definition von „Leben“ sind wie viele andere Definitionsfragen an sich nicht so aufregend. Bedeutsam wird die Sache erst, wenn sich aus solchen Definitionen (aufgrund welcher Zwischenschritte auch immer) normative Folgerungen ergeben. Eine solche Brücke zwischen der theoretischen Frage einer Definition von „Leben“ und der Bewertung von Lebendigem kann z. B. die Vorstellung sein, dass die Herstellbarkeit lebendiger Organismen den Respekt und den Schutz des Lebens verhindern, dass dem Leben also damit der ihm zustehende Wert genommen wird. „Wie wird ‚Leben‘ in der Synthetischen Biologie verstanden und wie verhält sich dieser Lebensbegriff zu anderen Arten des Verständnisses dieses Phänomens? … Wie verstehen wir uns und unser Verhältnis zum nicht-menschlichen Leben, wenn wir Organismen um- und neu bauen wollen?“20 Vor der Diskussion von Wertfragen will ich einen Blick auf Explikationsprobleme werfen. „Leben“ ist ein zentraler Begriff sowohl der Geistes- wie der Naturwissenschaften.21 Man versteht einerseits (vor allem in den Humanwissenschaften) darunter den zeitlichen Verlauf und die Einheit der Existenz eines Lebewesens (insbesondere auch des Menschen), in den Naturwissenschaften 19 Ein Beispiel ist Dabrock et al. (2011), insbes. die Beiträge zum Teil II. 20 Boldt (2012) S. 12. 21 Vgl. die Ausführungen von Toepfer (2005).
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andererseits eine besondere Seinsweise (die der Organismen), welche durch bestimmte Fähigkeiten und Aktivitäten ausgezeichnet ist. „Leben“ kann sich auf Prozesse beziehen, die in einem Organismus ablaufen, manchmal auf den Zustand eines Körpers, manchmal aber auch auf ein Kollektiv von Lebewesen („Leben auf dem Mars“).22 Im Laufe der Geschichte wurde Leben mit verschiedenen Eigenschaften verknüpft, in der Antike häufig mit der Selbstbewegung, bei Aristoteles, abgestuft nach der Komplexität der Lebewesen, mit Ernährung und Wachstum, Wahrnehmung und Bewegung und beim Menschen mit Vernunft. In der Renaissance kam eine neue Bestimmung hinzu: die Selbsterhaltung des Organismus. Später wurden die Analogie zu Maschinen und die Bedeutung der inneren Organisation und Selbstorganisation sowie Stoffwechsel und Fortpflanzung wichtig.23 Grundidee ist dabei eine sog. kriteriologische Bestimmung, bei der man hinreichende und notwendige Bedingungen für Lebewesen angibt: × ist ein Lebewesen genau dann, wenn × die Eigenschaft K1 & die Eigenschaft K2 & … & die Eigenschaft Kn hat. In der Liste Eigenschaften Ki kann z. B. stehen:24 K1 Stoffwechsel K2 Fortpflanzung („im Prinzip“), inkl. Evolution … Km Stabilität angesichts von Störungen Kn Reizbarkeit 22 Toepfer (2005) S. 157 und S. 158. 23 Toepfer (2005) S. 160 und S. 161. 24 Toepfer (2005) gibt dafür viele Beispiele, vgl. S. 164 – 165. Siehe auch Weber (2011).
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Die Schwierigkeit einer Explikation durch eine Merkmalsliste ist, dass nicht deutlich wird, warum gerade diese Eigenschaften ausgewählt worden sind. Georg Toepfer erläutert und begründet eine Explikation, in der Leben durch Organisation, Regulation und Evolution ausgezeichnet ist.25 Mit solchen Explikationen von „Leben“ kann man verschiedene Schwierigkeiten haben. Etwas verwirrend sind allerdings die Bemerkungen von C. Martin, dass die Voraussetzung, „Leben“ bedeute in Bezug auf alles Lebendige dasselbe, nicht haltbar sei26, und dass der Lebensbegriff kein rein deskriptiver Begriff sei, sondern normative Aspekte aufweise.27 Offensichtlich wird hier eine Explikation im Sinne einer Bedeutungszuweisung für Wörter wie „Leben“ und „lebendig“ mit einer Theorie des Lebens verwechselt, die auch normative Forderungen enthält. Natürlich wäre es reizvoll, Normen durch Definitionen zu setzen, aber Vertretern kriteriologischer Bestimmungen des Lebens geht es um semantische Fragen, nicht um die Erklärung und Bewertung des Lebens.28 Generell ist zu beobachten, dass die Folgen von Definitionen des Lebensbegriffs für das Programm der Synthetischen Biologie in verschiedenen kritischen Ansätzen unterschiedlich hergeleitet werden. Wichtig werden solche Definitionsfragen zum Beispiel, wenn Leben direkt mit Werten verknüpft wird, wenn Lebendigem, schon weil es lebendig ist, ein besonderer Schutz zugebilligt wird, ohne dass diese Werte aus anderen Werten abgeleitet werden. Die sich daraus ergebende Frage ist, ob der moralische Wert von Leben‑
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Toepfer (2005) S. 168. Vgl. auch Schark (2005a). Martin (2011) S. 117. Martin (2011) S. 118. Ich muss gestehen, dass ich Formulierungen der folgenden Art nicht leicht folgen kann: Der Minimalbegriff des Lebens markiere „die Seinsweise von solchem, dessen beobachtbares Verhalten als Beitrag zur Verwirklichung einer Artform im Sinne eines Standards des Gedeihens erklärt werden kann …“ (Martin (2011) S. 126).
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digem an seiner natürlichen Herkunft oder an der Lebendigkeit selbst (in einer „Ehrfurcht vor dem Leben“ oder in Anerkennung der „Heiligkeit des Lebens“) oder „nur“ an anderen Vermögen und Eigenschaften (z. B. Empfindungsfähigkeit, Bewusstsein) gebunden werden sollte.29 Die Antwort auf diese Frage hat gegebenenfalls Konsequenzen für die moralische Achtung künstlich hergestellter Lebewesen. Wir wollen nun einen Blick auf ein Beispiel werfen, in dem eine spezielle Auffassung von Leben zu einer besonderen Einschätzung der Synthetischen Biologie führt. A. Brenner hat schon begriffliche Zweifel daran, ob Leben hergestellt werden kann: „Wenn Lebendiges als ein Selbst betrachtet wird, dann scheint seine Herstellbarkeit ausgeschlossen. Ein Selbst ist nicht herstellbar, weil es – dies ist die Lehre aus der Autopoiesis-Theorie – durch Selbstwerdung wird. Was durch Selbstwerdung wird, das ist nicht völlig aufklärbar, es bleibt mithin immer ein Rest, nennen wir ihn „Geheimnis“, der nicht geklärt werden kann, da er im Dunkel des Selbst liegt.“30 Es ist nicht ganz klar, wie der Autor seine Aussage verstanden wissen will, dass Leben „nicht synthetisiert werden“ könne.31 Meint A. Brenner, dass die Synthetische Biologie, sofern sie wesentlich über eine Biotechnologie hinausgeht, erfolglos bleiben wird? Oder meint er, dass eine entsprechende Synthese noch nicht den ganzen Entstehungsprozess erfasst, der nicht reduzierbar ist und letztlich im Dunkel des Geheimnisses bleibt? Sicherlich ist die Beobachtung richtig, dass das Leben auf der Erde durch einen Prozess der Selbstorganisation entstanden ist, Organismen dagegen, die durch die Synthetische Biologie (eines Tages) nicht nur
29 Vgl. Toepfer (2005) S. 170. 30 Brenner (2012) S. 116. 31 Brenner (2012) S. 118, wo der Autor dann fortfährt: „Eine anderslautende Redeweise übersieht den Kern des Lebens.“
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umgebaut, sondern auch in einem starken Sinn hergestellt werden, sich gerade nicht selbst organisiert haben. Daraus folgt aber nicht, dass eine solche Herstellung eines einzelnen Organismus unmöglich ist und Leben nicht nur auf biochemischen Prozessen beruht. Richtig ist sicherlich auch, dass die Synthetische Biologie nicht so etwas wie den Prozess einer Evolution des Lebendigen auf einem Planeten in Gang setzt, sondern auf der Grundlage dieses Prozesses und in Kenntnis seiner Mechanismen neue Organismen herstellen will.32 Die Position von A. Brenner bleibt im Dunkeln, was daran liegt, dass er wichtige Entwicklungen der gegenwärtigen Philosophie der Biologie nicht zur Kenntnis nimmt und seine eigenen unorthodoxen Auffassungen nicht gut verteidigt. Dies sieht man auch an den Überlegungen, mit denen er einen prinzipiellen Unterschied von Lebendigem und Artefakten begründet, der die Vorstellung von lebendigen Maschinen zurückweist. „Während nämlich Maschinen vollständig aus der Außenperspektive beschreibbar sind, gilt dies für lebende Systeme gerade nicht. Ausschlaggebend für die Unmöglichkeit einer umfassenden außenperspektivischen Beschreibung ist gerade die Mobilität des Lebendigen im Sinne ihrer Selbstbewegtheit. Da Lebendiges nur in Bewegung ist und das heißt auch, dass es nur in der Veränderung ist, entzieht es sich jedem Versuch einer Beschreibung von außen. Um Lebendiges festzustellen und Aussagen über es zu machen, müsste es, wenn es hier keinen Unterschied zu Artefakten gäbe, festgestellt werden können. Genau dies geschieht in der Laborerkenntnis und gerade aus diesem Grunde ist ihre Leistung begrenzt …“33 Diese Kritik an der Synthetischen Biologie bleibt so kaum nachvollziehbar.
32 Das betont auch Heil (2011) in seiner Unterscheidung von künstlichen Lebensformen (bzw. künstlichen Lebewesen) und künstlichem Leben allgemein. 33 Brenner (2012) S. 111.
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Vermutlich wird die Bedeutung expliziter Definitionen von Begriffen für die Praxis generell überschätzt.34 Häufig reicht die Angabe typischer Beispiele, mit allfälligen Grenzfällen kann man meist zurecht kommen. Für die Praxis und für die öffentliche Diskussion ist es viel wichtiger, bei der Verwendung von Begriffen nicht durchschaute Doppeldeutigkeiten aufzudecken. Bei A. Deplazes-Zemp (2011) geht es z. B. bei genauerem Hinsehen auch nicht um eine neue Bedeutung von „Leben“, sondern um unterschiedliche Umgangsweisen mit Lebendigem, also nicht um den semantischen Sinn von Bedeutung, sondern um Bedeutung im Sinne von Wichtigkeit. Hinter einzelnen Debatten um den Lebensbegriff stehen meist Wertvorstellungen, die eher historisch und kulturell begründet sind als dass sie auf expliziten ethischen Argumenten beruhen. Eine wichtiger Typ von Einwänden gegen die Synthetische Biologie richtet sich gegen den damit verbundenen Reduktionismus (Leben beruht allein auf biochemischen Prozessen) und gegen die „technische“ Einstellung gegenüber Organismen, die in vielerlei Hinsicht (z. B. beim Austausch von Komponenten) einer Einstellung gegenüber leblosen Dingen gleicht. So fürchtet J. Boldt, dass eine reduktionistische Position bedenkliche Werteinstellungen zur Folge hat: „Weil der Organismus in seinem Verhalten vollständig durch die Gesetzmäßigkeiten der Bewegungen seiner Teile erklärbar ist, kann das Verhalten in keinem Fall ein Fingerzeig darauf sein, was als in Wahrheit gutes oder schlechtes Verhalten zu verstehen ist … Wenn man Leben aus der Perspektive vollständiger, gesetzesförmiger Erklärbarkeit betrachtet, dann gibt es keinen Ort für die Annahme eines eigenen Wertes dieses Lebens, der als Gegengewicht zu den Wünschen und Bedürfnissen des Menschen fungieren könnte. In Bezug auf einzellige Organismen wird diese 34 Systematische Überlegungen, die das Projekt einer expliziten und präzisen Definition von Leben in Frage stellen, findet man in Machery (2012).
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Konsequenz zwar nicht sonderlich erschreckend wirken. Wichtig ist aber zu sehen, dass sich diese Annahme auch beim Blick auf höhere Organismen nur schwerlich einführen lässt.“35 Diese Argumentation hat starke, und wie ich meine, unplausible Voraussetzungen.36 Warum sollte die deskriptive Aussage einer explanatorischen Reduzierbarkeit von Lebensprozessen auf biochemische Prozesse verhindern, Lebendigem einen besonderen Wert zuzusprechen? Müssen Normen in der Natur verankert sein? Richtig ist sicherlich, dass eine deskriptive Wissenschaft allein keine Ethik liefert. Wird aber deswegen irgendeine der Aussage dieser Wissenschaft falsch? Sicherlich brauchen wir moralische Richtlinien für den Umgang mit Lebendigem (man mag diese dann auch auf eine hermeneutisch-ethische Perspektive zurückführen). Aber warum sollte eine reduktionistisch orientierte Biologie (speziell die Annahme einer vollständigen gesetzesförmigen Erklärung) einem angemessenen verantwortlichen Umgang mit Lebewesen im Wege stehen? Ist die Ethik an die Annahme der unanalysierbaren Emergenz des Lebens gebunden? Vielleicht beruhen solche Positionen auch auf der eher psychologischen Annahme, dass Reduktionisten weniger bereit sind, ethische Grenzen der Forschung anzuerkennen. Zu dieser Annahme sind mir allerdings keine empirischen Untersuchungen bekannt. Häufig wird kritisiert, dass in der Synthetischen Biologie von „lebendigen Maschinen“ gesprochen wird. Die weltanschauliche Assoziationskraft der Maschinenmetapher ist nicht zu unterschät35 Boldt (2012) S. 183. 36 Hierzu gehört auch die wissenschaftstheoretische Annahme, dass die Synthetische Biologie eine Affinität zur Perspektive des gesetzesförmigen Erklärens habe (Boldt (2012) S. 190). Die neuere Wissenschaftsphilosophie der Biologie zeigt, dass bei Erklärungen in der Biologie eher mit „Mechanismen“ als mit Hilfe des klassischen deduktiv-nomologischen Modells der Erklärung gearbeitet wird (einen einführenden Überblick zu Rolle von so verstandenen Mechanismen gibt z. B. Müller-Strahl (2011)).
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zen. Z. B. sind nach Descartes die Körper von Tieren nichts anderes als besonders gut konstruierte Maschinen. Es gibt eine komplexe Geschichte der Maschinenanalogie im 17. und 18. Jahrhundert, die z. T. auch mit einem kämpferischen Atheismus verbunden war.37 Das Gewicht von Maschinenanalogien wird dadurch bestimmt, was unter einer Maschine verstanden wird. Sind Maschinen dadurch charakterisiert, dass sie gebaut worden sind (dann wären künstlich hergestellte Lebewesen Maschinen)? Denkt man an die einfachen Maschinen des 19. Jahrhunderts? Oder will man mit dem Wort „lebende Maschine“ nur ausdrücken, dass Lebewesen im Prinzip durch das Zusammenwirken natürlicher Mechanismen verständlich gemacht werden können, ohne dass eine besondere Lebenskraft oder etwas anderes dazu kommen muss, was nicht durch die Interaktion der Komponenten des Organismus und die Wechselwirkung mit seiner Umgebung erklärt werden kann? Auch wer in dieser Hinsicht reduktionistisch gesinnt ist, muss deswegen nicht die Auffassung vertreten, dass man Lebewesen genauso behandeln und bewerten darf wie einen Cola-Automaten oder ein altes Fahrrad. „Ein Vergleich, bei dem lediglich gesagt wird, Organismen seien in bestimmten Hinsichten wie Maschinen, ist mit der Überzeugung vereinbar, dass Organismen in anderen Hinsichten so anders geartet sind, dass es sich verbietet, sie als Maschinen zu kategorisieren.“38 Im Hinblick auf eine fruchtbare gesellschaftliche Diskussion über die synthetische Biologie muss allerdings auch gesagt werden, dass Anhänger der Synthetischen Biologie, die mit allzu forschen Äußerungen an die Öffentlichkeit treten, ihrer Disziplin unnötigen Schaden zufügen. Angenommen man könnte eines Tages Maschinen bauen, die in einem ernsthaften Sinn empfindsam sind oder gar leiden können, hätten diese dann nicht den gleichen Schutz verdient wie heute 37 Vgl. Schark (2005b) S. 427 f. 38 Schark (2005b) S. 432.
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schon Tiere mit den gleichen Eigenschaften? Solche Fragen diskutieren N. Knoepffler und K. Börner, indem sie die Frage stellen, ob synthetisch hergestellten Lebewesen eine Würde zukommt und welche moralischen Konsequenzen sich daraus ergeben.39 Ethische Argumentationen, die auf einem Würde-Konzept beruhen, haben ihre eigenen Schwierigkeiten,40 zumal dann, wenn auch nicht-menschlichen Wesen Würde zugesprochen wird. Bemerkenswert ist, dass N. Knoepffler und K. Börner Lebewesen einen Eigenwert zusprechen, weil diese eine innere Struktur haben, „die sie in ihrem Sein zur Vollendung bringen wollen.“41 Nachvollziehbarer ist die Abstufung der Würde je nach Komplexität der Lebewesen42, womit man begründen kann, dass ein hohes therapeutisches Interesse des Menschen die Verletzung der Würde einfacher Lebewesen (die z.B. Medikamente produzieren „müssen“) rechtfertigt. Die genauen Begründungsschritte in dem vorgegebenen metaethischen Rahmen sind mir allerdings nicht klar. Plausibel ist das Ergebnis, dass für den Schutz künstlicher Lebewesen ähnliche ethische Maßstäbe gelten sollten wie bei „natürlichen“ Lebewesen. Die dafür angegebene Begründung, dass auch künstliche Lebewesen einen élan vital, eine Art „Lebensdrive“ haben43, hat jedoch starke und schwer nachvollziehbare metaphysische Voraussetzungen.44 39 Knoepffler/ Börner (2012). 40 Vgl. dazu auch Birnbacher (2006) S. 132 f. (Kap. 5.5: „Naturalisierung“ der Menschenwürde). 41 Knoepffler/ Börner (2012) S. 142. 42 Ein Hund verdient mehr Achtung als ein Gerstenhalm oder als ein Bakterium, Knoepffler/ Börner (2012) S. 145. 43 Z. B. Knoepffler/ Börner (2012) S. 142. 44 Knoepffler/ Börner (2012, S. 146) kommen z.B. zu dem Ergebnis, dass GenomVeränderungen von Mais mit dem Ziel des Schutzes vor Schädlingsbefall mit der Würde des Mais vereinbar sei, eine Genom-Veränderung mit dem Ziel der Produktion unfruchtbarer Maispflanzen aber nicht, weil dadurch deren élan vital eingeschränkt werde. Ich finde, es gibt plausiblere ethische Begründungen dafür, Bauern davor zu schützen, dass sie jedes Jahr ihr Saatgut neu kaufen müssen.
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Die diskutierten Beispiele liefern keine Gründe dafür, dass die Synthetische Biologie einen neuen Begriff von Leben nahelegt oder dass man besondere Lebenskonzepte braucht (insbesondere solche, die den in der Biologie verbreiteten reduktionistischen Vorstellungen widersprechen), um einen ethisch verantwortungsvollen Umgang mit Lebewesen zu begründen. Das heißt nicht, dass Lebendiges keinen besonderen Schutz verdiene oder die Herstellung künstlicher Lebewesen sorglos betrachtet werden könnte. Die Gründe dafür sind jedoch weder aus dem Begriff des Lebendigen noch aus geheimnisvollen Lebenskräften abzuleiten.
4. Was zu Schlagzeilen führt: Drei Exkurse zu beliebten Themen Die bisherigen systematischen Überlegungen möchte ich in Exkursen an drei Themen veranschaulichen, die jeweils durch in der Öffentlichkeit gern gewählte Schlagwörter charakterisiert sind. Exkurs 1: Bauen und Verstehen „Außerdem sei darauf hingewiesen, dass einem ‚konstruktiven’ Zugang zur Biologie eine eigene Art von Erkenntnisgewinn innewohnt, auf die bereits Richard Feynman in seinem Hinweis einging: ‚Was ich nicht bauen kann, verstehe ich nicht’ … Dieser Prozess des ‚Bauens‘ ist aber ein fundamental anderer als der des ‚Suchens nach Verstehen‘, der die Fragen nach dem Wie und dem ‚Warum gerade so‘ auf eine andere, aber durchaus sehr inspirierende und kreative Weise neu stellt.“ 45 Dieser besondere Erkenntnis45 Billerbeck/ Panke (2012) S. 39. Siehe dazu auch Schummer (2011), Kap. 11 „Erkennen durch Machen“. Ähnliche Zitate wie das R. Feynman zugeschriebene findet man bei Deplazes-Zemp (2011) S. 103.
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gewinn durch Nachbauen wird gerne als flankierende Unterstützung des Programms der Synthetischen Biologie in Anspruch genommen.46 Wer sich in der Geistesgeschichte etwas auskennt, erkennt hier einen Gedanken von Giambattista Vico (1668-1744) wieder, nach dem wir nur das als wahr erkennen können, was wir selbst gemacht haben. Der theologische und erkenntnistheoretische Kontext, in dem Vicos Position differenzierter verstanden werden kann, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht soll nur angemerkt werden, dass der Feynman zugeschriebene Satz genauso unzutreffend ist wie die logisch äquivalente Kontraposition: Was ich verstehe, kann ich bauen. Newton konnte die Mondbahn erklären, ohne dass er Erde und Mond nachbauen musste, und um zu verstehen, wie und warum eine Supernova entsteht, muss man nicht mehrere Sterne im Labor explodieren lassen (solche Labore gibt es nicht, und man könnte die Konstruktion einer Supernova wegen der katastrophalen Folgen für die Umgebung samt der bauwilligen Wissenschaftler auch nur einmal erfolgreich durchführen). Eine erfolgreiche Synthese kann allerdings als stützendes Argument für den Reduktionismus angeführt werden. Wenn man z. B. in der Synthetischen Chemie ein komplexes Molekül aus seinen Bestandteilen konstruieren kann, dann ist das ein Hinweis darauf, dass die Eigenschaften des neuen Moleküls aus den Eigenschaften der Komponenten und mit Hilfe der Naturgesetze erklärbar sind. Die Durchführbarkeit der Synthese, d. h. die erfolgreiche Herstellung eines Ganzen mit neuen Eigenschaften aus seinen Bausteinen, haben auch P. Oppenheim und H. Putnam in ihrem einflussreichen programmatischen Aufsatz als einen empirischen Beleg für die Möglichkeit der Mikroreduktion und damit als Argument für ihr Reduktionsprogramm herangezogen.47 46 Vgl. dazu Schummer (2011) S. 138 (in kritischer Perspektive). 47 Oppenheim/ Putnam (1970), S. 360.
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Synthetische Biologie im Lichte der Naturphilosophie
Eine praktische Folge des Verhältnisses von Bauen und Wissen untersucht D. Birnbacher. Offenbar ist die Bereitschaft, natürliche Risiken auf sich zu nehmen, größer als die Bereitschaft, künstliche Risiken zu akzeptieren. Das könnte an der verbreiteten Meinung liegen, dass natürliche Risiken bekannter sind als immer neue zivilisatorische Risiken und vertraute Risiken leichter akzeptiert werden als weniger vertraute. Gegen die Bevorzugung bekannter Risiken gibt D. Birnbacher zu bedenken: „Das Gemachte ist gerade deshalb, weil es gemacht ist, vielfach auch das Bekanntere und in höherem Maße (wenn auch nicht völlig) Durchschaute. Das Wissen um seine Funktionsweise geht in den Prozess seiner Hervorbringung wesentlich ein. Dagegen sind auch auf dem heutigen Stand des Wissens viele natürliche Prozesse – auch solche, von denen potenziell Risiken für den Menschen ausgehen – undurchschaut.“48 Allerdings können z. B. die Wechselwirkungen gentechnisch veränderter Nahrungsmittel mit ihrer Umgebung auch dann undurchschaut sein, wenn die veränderte Gensequenz bekannt ist. Exkurs 2: Biologie als Ingenieurswissenschaft Vielfach wurde betont, dass die Biologie mit der synthetischen Biologie einen ingenieurswissenschaftlichen Zweig bekommen habe. Als Begründung wird angegeben, dass ihre Aufgabenstellungen eher den Ingenieursdisziplinen als der Grundlagenforschung gleichen. Durch die Einführung kostengünstiger Verfahren zur Synthese von Molekülen, die Funktionen der Desoxyribonukleinsäure übernehmen können, ist es möglich, in großem Umfang neue genetische Information zu „schreiben“. Die Aufgabe der synthetischen Biologie kann nun darin gesehen werden, neue biologische Information für sinnvolle Anwendungen zu kodieren, also die Auf48 Birnbacher (2006) S. 26.
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merksamkeit auf Anwendungen zu richten.49 In diesem Sinne fassen S. Billerbeck und S. Panke ihre Konzeption so zusammen: Synthetische Biologie wird durch das Bestreben geleitet, „komplexe biologische Systeme mit neuen Eigenschaften und neuen Funktionen in effizienter und planbarer Weise zu konstruieren.“50 Man kann weitere Elemente der Synthetischen Biologie angeben, die an Methoden aus den Ingenieurswissenschaften erinnern, z. B. den Einsatz standardisierter Bio-Bausteine („Biobricks“) oder die Konzeption von Minimal-Organismen als Gerüste („Chassis“) für die Implementierung neuer Eigenschaften. Die Übertragung technischen Handelns auf die Herstellung neuer Organismen wird bisher im Umfeld der Synthetischen Biologie kontrovers diskutiert.51 Auf den ersten Blick mag die Vorstellung, dass Lebewesen „auf dem Reißbrett entworfen werden“, erschreckenden Assoziationen auslösen. Aber gibt es wirklich grundsätzliche Überlegungen, die dagegen sprechen, das Wissen der Grundlagenforschung, ähnlich wie in der Synthetischen Chemie, zweckorientiert einzusetzen und damit auch Neues zu „bauen“, was es vorher in dieser Form in der Natur nicht gab? Zu den Ingenieurswissenschaften als praktische, herstellende Wissenschaften gehört ja die Sensibilität für Anwendungen und auch für die damit verbundenen Gefahren (z. B. in der Technikfolgenabschätzung). Technik schließt Ethik nicht aus. Exkurs 3: „Gott spielen“ Der Vorwurf, der Mensch spiele hier Gott, wurde im Zusammenhang mit der Synthetischen Biologie (wie auch bei anderen von den Biowissenschaften neu eröffneten Handlungsmöglichkeiten) 49 Vgl. Billerbeck/ Panke (2012) S. 20. 50 Billerbeck/ Panke (2012) S. 20. 51 Vgl. die Hinweise in Witt (2012) S. 38.
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immer wieder erhoben.52 So konnte man 2010, als Craig Venter und seine Arbeitsgruppe ein synthetisches Chromosom in ein Bakterium eingepflanzt hatten, am 21. Mai auch in der Bild-Zeitung lesen „Hier spielt Craig Venter Gott“.53 Die Herstellung künstlichen Lebens löst in uns starke, auch literarisch geprägte Vorstellungen aus.54 Dabei ist überhaupt nicht klar, was mit der Formulierung, dass Menschen Gott spielen, eigentlich gemeint ist. „Gott Spielen“ weist darauf hin, dass Menschen eine Rolle übernehmen, die ihnen tatsächlich nicht zusteht. Nur Gott dürfe Leben erschaffen. Danach ist es Hybris, Leben synthetisch zu erzeugen. Der menschliche Hochmut könnte die Brücke zu der biblischen Tradition sein, in der der Ausdruck „Gott spielen“ selbst nicht vorkommt.55 Eventuell soll diese Formulierung nur betonen, dass Menschen nicht gegen eine (traditionell als gottgewollt angesehene) natürliche Ordnung verstoßen sollten. Vielleicht ist mit „Gott Spielen“ auch gemeint, dass sich Menschen in der Synthetischen Biologie an etwas heranwagen, dessen Folgen sie nicht übersehen können, weil sie nicht die Einsichten Gottes haben und sozusagen aus kindlichem Leichtsinn „mit dem Feuer spielen“. Vermutlich sind solche Schlagzeilen überhaupt nicht in besonderer Weise religiös gemeint, vielleicht geht es nur um eine medial zugkräftige Formulierung.56 Jedenfalls scheinen 52 Dabrock (2012) S. 195. 53 Schummer (2011) S. 11 und S. 119-120. Schummer gibt auch eine ganze Reihe weiterer Schlagzeilen anderer Zeitungen an, vgl. Kap. 9: Ein Experiment und seine mediale Resonanz. 54 Schummer (2011) liefert viel Material zu Mythen und Metaphern, die sich um die künstliche Lebensherstellung ranken. Zur Ideengeschichte der Herstellung künstlicher Lebewesen vgl. auch Heil (2011). 55 Dabrock (2012) S. 195. 56 Eine differenzierte Analyse zur künstlichen Herstellung von Lebewesen aus der Sicht einer theologischen Ethik gibt Dabrock (2012). Weitere, auch historische Überlegungen dazu finden sich bei Schummer (2011) Kap. 15 und 16.
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sowohl der genaue ethische wie auch der theologische Gehalt des Vorwurfs, in der Synthetischen Biologie spiele der Mensch Gott, schwer rekonstruierbar zu sein.57 Er wäre dann als Ausdruck eines Tabus an der für uns Menschen wichtigen Grenze zwischen Belebtem und Unbelebtem zu interpretieren. Mit Bildern und Metaphern wie „Gott spielen“ ist in der Regel wenig auszurichten. Sie appellieren an Gefühle und Einstellungen, helfen aber wenig bei der Frage, welche Entscheidung im konkreten Einzelfall geboten oder moralisch bedenklich ist.
5. Schlussüberlegungen Das knappe Fazit meiner Überlegungen ist, dass gegen die Synthetische Biologie keine prinzipiellen naturphilosophischen Bedenken bestehen. Ich meine sogar, dass sie keine besonders neuen naturphilosophischen oder wissenschaftstheoretischen Fragen aufwirft. Sie ist ein Wissenschaftsbereich, der sich mit sehr komplexen Systemen beschäftigt, und sie ist, wie andere ‚herstellende‘ Disziplinen, natürlich mit ethischen Fragen konfrontiert, die in der fundamentalen Physik noch nicht relevant sind. Wegen der Komplexität des Lebendigen werden unsere Bemühungen, Leben nach unseren Wünschen und Vorstellungen zu erzeugen, im Übrigen auf absehbare Zeit sehr begrenzt bleiben. So ist auch die Synthetische Biologie von der Begrenztheit des menschlichen Erkennens angesichts der Komplexität der Natur nicht ausgenommen.58 Aufgrund der Komplexität des Gegenstandsbereichs müssen aber auch (ähnlich wie in der Genetik) die Risiken durch beabsichtigte oder unbeabsichtigte Schäden besonders sorgfältig bewertet 57 Dazu Schummer (2011) Kap. 15 und 16, auch Dabrock (2012). 58 Witt (2012), explizit im Fazit S. 240.
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werden. Mögliche Schäden können in verschiedenen Bereichen auftreten: Durch Freisetzung synthetischer Organismen, durch ungerechte Ausübung wirtschaftlicher Macht von denen, die über diese Technologie verfügen, oder durch terroristischen Missbrauch, unter Umständen sogar dadurch, dass das in die Synthetische Biologie investierte Geld an anderen Stellen mehr Nutzen bringen könnte.59 Das sind aber Probleme, die in das Ressort der praktischen Philosophie fallen, also mit den Mitteln der Ethik bearbeitet werden müssen. Die theoretische Philosophie kann hier nur klärende Hilfsdienste leisten. Ihr nüchterner Blick wird auch in der nötigen gesellschaftlichen Diskussion60 um die Synthetische Biologie gebraucht.61 Literatur Acatech et. al.: Synthetische Biologie, Stellungnahme/ Standpunkte (Acatech, Leopoldina, DFG), Weinheim 2009 (Wiley-VCH). Billerbeck, Sonja/ Panke, Sven: Synthetische Biologie-Biotechnologie als eine Ingenieurswissenschaft, in: Boldt/ Müller/ Maio (2012), S. 19-40. Birnbacher, Dieter: Natülichkeit, Berlin 2006 (de Gruyter). Boldt, Joachim / Müller, Oliver / Maio, Giovanni (Hg.): Leben schaffen? Philosophische und ethische Reflexionen zur Synthetischen Biologie, Paderborn 2012 (Mentis) Brenner, Andreas: Leben leben und Leben machen, in: Boldt/ Müller/ Maio (2012), S. 105-120. Boldt, Joachim: „Leben“ in der Synthetischen Biologie, in: Boldt/ Müller/ Maio (2012), S. 177-191. Cserer, Amelie/ Seiringer, Alexandra/ Schmidt, Markus: Darstellungen der Synthetischen Biologie. Eine Diskussion der Berichterstattung über Synthetische Biologie in deutschsprachigen Medien und der Äußerungen von SynBio-Experten, in: Dabrock et al. (2011), S. 369-386. 59 Vgl. zu den Gefahren und den Umgang mit ihnen z.B. Acatech et al. (2009). 60 Die Betrachtung der Rolle der Medien in der Popularisierung der Synthetischen Biologie (vgl. Cserer/ Seiringer / Schmidt (2011)) zeigt, dass es hier noch viel zu verbessern gibt. 61 Ich danke Anne Thaeder und Thorben Petersen für hilfreiche Kommentare zu einer früheren Fassung des Aufsatzes.
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Manfred Stöckler Dabrock, Peter et al. (Hg.): Was ist Leben-im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zur Ethik der Synthetischen Biologie, Freiburg 2011 (Alber). Dabrock, Peter: Wird in der Synthetischen Biologie „Gott gespielt“? in: Boldt/ Müller/ Maio (2012), S. 195-215. Deplazes-Zemp, Anna: Leben als Werkzeugkasten, in: Dabrock et al. (2011), S. 95-115 Heil, Reinhard: Von künstlichen Lebewesen und künstlichem Leben, in: Dabrock et al. (2011), S. 147-172. Knoepffler,Nikolaus/ Börner, Kathleen, Die Würde der Kreatur und die Synthetische Biologie, in: Boldt/ Müller/ Maio (2012), S. 137-152. Krohs, Ulrich/ Toepfer, Georg (Hg.): Philosophie der Biologie, Frankfurt/M. 2005 (Suhrkamp). Machery, Edouard: Why I stopped worrying about the definition of life … and why you should as well, Synthese 185 (2012) 145-164. Martin, Christian: Zur Logik des Lebensbegriffs, in: Dabrock et al. (2011), S. 117-146. Mill, John Stuart: Natur [1874], in: J. St. Mill, Drei Essays über Religion, Stuttgart 1984 (Reclam), S. 9-62. Müller-Strahl, Gerhard: Metaphysik des Mechanismus und die Erklärung organischer Formen des Lebendigen, in: Dabrock et al. (2011) S. 195-225. Oppenheim, Paul/ Putnam, Hilary: Einheit der Wissenschaft als Arbeitshypothese, in: Lorenz Krüger (Hg.), Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften, Köln 1970 (Kiepenheuer & Witsch), S. 339-371 [engl. Original 1958]. Schark, Marianne (a): Lebewesen als ontologische Kategorie, in: Krohs/ Toepfer (2005), S. 175-192. Schark, Marianne (b): Organismus-Maschine: Analogie oder Gegensatz? in: Krohs/ Toepfer (2005), S. 418-435. Schummer, Joachim: Das Gotteshandwerk. Die künstliche Herstellung von Leben im Labor, Berlin 2011 (Suhrkamp). Stöckler, Manfred: Naturbegriffe – Alltagssprache, Wissenschaft, Philosophie. Eine enzyklopädische Perspektive, Dialektik 1993/3, S. 23-38. Toepfer, Georg: Der Begriff des Lebens, in: Krohs/ Toepfer (2005), S. 157-174. Weber, Bruce: Life, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2011 Edition), Edward N. Zalta (ed.), URL = . Witt, Elke: Konzepte und Konstruktionen des Lebenden. Philosophische und biologische Aspekte einer künstlichen Herstellung von Mikroorganismen, Freiburg 2012 (Alber).
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Von der Molekulargenetik zur Synthetischen Biologie – Geburt einer neuen Technikwissenschaft1 Alfred Pühler
1. Das Forschungsgebiet Synthetische Biologie Das Thema der Görres-Jahrestagung 2012 „Synthetische Biologie – Leben als Konstrukt“ trifft den aktuellen Forschungsstand besonders gut, zumindest wenn man das Gebiet der Mikroorganismen im Blick hat. Der vorliegende Artikel hat zum Ziel, den Forschungsstand auf dem Gebiet der Synthetischen Biologie aufzuzeigen, um damit die Diskussion über die Synthetische Biologie auf eine rationale Grundlage zu stellen. Es sollen die Wurzeln und die mediale Geburtsstunde der Synthetischen Biologie präsentiert werden. Eingegangen werden soll auch auf einige Aspekte der Synthetischen Biologie, bevor die Synthetische Biologie als neue Technikwissenschaft vorgestellt wird. Einschränkend soll angemerkt werden, dass dieser Artikel den Fokus auf einzellige Organismen legt, so wie diese als Bakterien oder auch als Hefen und Pilze bekannt sind. Synthetische Biologie bei mehrzelligen Organismen wie bei Pflanze und Tier werden ausgeklammert. Was versteckt sich nun hinter dem Begriff „Synthetische Biologie“? Leider fehlt bis heute eine kurze prägnante Definition. Eine brauchbare Definition ist in einer Studie mit dem Titel „Synthetische Biologie“ enthalten, die im Juli 2009 von den drei Organisationen Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, Nationale Akade1 Eine modifizierte Version dieses Artikels ist erschienen in: Praxis der Naturwissenschaften – Biologie in der Schule, Heft 3/64 (2015), Hallbergmoos: Aulis Verlag, S. 4-10.
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mie der Wissenschaften Leopoldina und der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben wurde (1). Diese Studie verfolgt den Zweck, das Forschungsgebiet Synthetische Biologie möglichst umfassend der Öffentlichkeit vorzustellen und der Politik Empfehlungen für den Umgang mit diesem Forschungsgebiet zu geben. In der genannten Studie wird Synthetische Biologie nun wie folgt definiert: Die Synthetische Biologie basiert auf den Erkenntnissen der molekularen Biologie, der Entschlüsselung kompletter Genome, der ganzheitlichen Betrachtung biologischer Systeme und dem technologischen Fortschritt bei der Synthese und Analyse von Nukleinsäuren. Sie führt ein weites Spektrum an naturwissenschaftlichen Disziplinen zusammen und verfolgt dabei ingenieurwissenschaftliche Prinzipien. Das spezifische Merkmal der Synthetischen Biologie ist, dass sie biologische Systeme wesentlich verändert und gegebenenfalls mit chemisch synthetisierten Komponenten zu neuen Einheiten kombiniert. Dabei können Eigenschaften entstehen, wie sie in natürlich vorkommenden Organismen bisher nicht bekannt sind.
Diese Definition greift also die Wurzeln der Synthetischen Biologie auf, weist auf den Einsatz von ingenieurwissenschaftlichen Prinzipien hin und endet mit der Feststellung, dass biologische Systeme mit neuen Eigenschaften gebildet werden können, die so in der Natur nicht vorkommen. Damit sind die Kernpunkte der Synthetischen Biologie genannt. Synthetische Biologie nutzt Eigenschaften natürlich vorkommender Zellen, führt diese in geeigneten Wirten mittels genomischer Programmierung zusammen und konstruiert so neuartige Zellen.
2. Die Wurzeln der Synthetischen Biologie Die Aufklärung der DNA-Struktur durch Watson und Crick im Jahre 1953 lässt sich eindeutig als eine der frühesten Wurzeln der Synthetischen Biologie identifizieren (2). Die damals postulierte 112 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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DNA-Doppelhelix hat die Molekulargenetik begründet und viele Anstöße zu bahnbrechenden Erkenntnissen geliefert. An erster Stelle muss hier die Aufklärung des genetischen Codes genannt werden, der in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts komplett entziffert werden konnte (3). Dieser genetische Code gibt Auskunft darüber, wie der Bauplan von Proteinen als genetische Information im DNA-Molekül gespeichert wird. Dazu liegen molekularbiologisch die folgenden Erkenntnisse vor. Proteine bestehen aus einer Kette von zwanzig Aminosäuren und DNA- Einzelstränge aus je einer Kette von vier Nukleinsäurebasen. Der genetische Code gibt nun Auskunft darüber, wie jede einzelne Aminosäure durch Basentripletts kodiert wird. Kurz zusammengefasst bedeutet dies, dass die Abfolge von Aminosäuren in Proteinen durch die Abfolge der Basentripletts in den Einzelsträngen der DNA-Doppelhelix niedergelegt ist. Der nächste Durchbruch auf dem Weg zur Synthetischen Biologie ist dann sicherlich der Entwicklung der Gentechnik zuzuschreiben. Diese Entwicklung wurde im Jahr 1973 zunächst bei Bakterien als Plasmid-basierte Technologie in Californien, USA, aus der Taufe gehoben (4). Bereits die ersten Publikationen legten die Leistungsfähigkeit dieser Technologie offen, da praktisch Erbinformationen aus beliebigen Organismen in Bakterien eingeführt und dort stabil vererbt werden können. Es ließ dann auch nicht lange auf sich warten, bis neben Bakterien auch eukaryotische Mikroorganismen wie Hefen und Pilze und schließlich auch mehrzellige Organismen aus dem Pflanzen- und dem Tierreich gentechnisch bearbeitet werden konnten. Die Etablierung der Gentechnik, die praktisch heterologen Gentransfer zwischen beliebigen Organismen ermöglicht, löste eine weitreichende gesellschaftliche Diskussion über Gefahrenpotenziale aus. Um mögliche Gefahren durch Gentechnik von Mensch und Umwelt abzuwenden, wurden Richtlinien zum Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen entwickelt, die in Deutschland Eingang in das Gentechnikgesetz fanden (5). 113 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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Als eine weitere Wurzel der Synthetischen Biologie etablierte sich dann die DNA-Sequenzierung. Nachdem der genetische Code vorlag, wurde intensiv an der Entschlüsselung der Basensequenzen von DNA-Einzelsträngen gearbeitet. Im Jahr 1977 konnten schließlich zwei Sequenziertechnologien in der Zeitschrift PNAS vorgestellt werden, nämlich die chemische Degradationsmethode von Maxam und Gilbert (6) und die Kettenabbruchmethode von Sanger et al. (7). Da die Sanger-Methode automatisiert werden konnte, setzte sich diese schließlich durch und führte zur Konstruktion von Sequenzierautomaten, mit denen zunächst Genome von Bakterien, dann aber auch größere Genome wie das menschliche Genom, sequenziert werden konnten. In der Zwischenzeit haben sich Sequenziergeräte der zweiten Generation durchgesetzt, die hoch parallel viele DNA-Einzelstränge gleichzeitig bearbeiten können, wodurch das Sequenziergeschehen eine ungeahnte Beschleunigung erfuhr. Als eine weitere Technologie, die für die Synthetische Biologie von großer Bedeutung ist, muss die chemische DNA-Synthese genannt werden (8). In biologischen Systemen gilt die Molekularbiologie der DNA-Synthese als aufgeklärt. An einem vorhandenen DNA-Einzelstrang als Matrize wird der komplementäre DNAStrang enzymatisch synthetisiert. Diese biologische DNA-Replikation kann bei der chemischen DNA-Synthese allerdings nicht genutzt werden, denn hier liegt als Blaupause eine vorgegebene Basensequenz vor, die bei der Synthese eines DNA-Einzelstrangs verwirklicht werden muss. Die chemische DNA-Synthese beruht daher auf einem komplett neuen Ansatz, der sich insbesondere der Methoden der Schutzgruppenchemie bedient. Die Technologie ließ sich wieder automatisieren, so dass heute mit entsprechenden Maschinen DNA-Einzelstränge bis zu einer Länge von rund 100 Basen hergestellt werden können. Die geschilderten Erkenntnisse und Technologien spielen bei der Entwicklung der Synthetischen Biologie nun die entscheidende 114 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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Rolle und werden deshalb als Wurzeln dieses Forschungsfeldes betrachtet. Wie die Synthetische Biologie schließlich in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangte, wird im nächsten Kapitel geschildert, das sich mit der medialen Geburtsstunde der Synthetischen Biologie beschäftigt.
3. Die mediale Geburtsstunde der Synthetischen Biologie Als mediale Geburtsstunde der Synthetischen Biologie wird allgemein das Frühjahr 2010 gesehen. Anlass dazu war eine Publikation der Craig Venter-Gruppe in der Zeitschrift Science, die die Konstruktion einer bakteriellen Zelle beschreibt, die von einem chemisch synthetisierten Genom gesteuert wird (9). Craig Venter gelang mit dieser Publikation ein weiterer Coup. Er wurde ursprünglich ja durch seinen unkonventionellen Ansatz, die menschliche Genomsequenz mittels eines Großprojekts zu entschlüsseln, international bekannt. In einem zweiten Großprojekt widmete er sich dann der Sequenzierung des bakteriellen Metagenoms aus dem marinen Bereich, was erneut den Einsatz von Sequenzierautomaten im industriellen Maßstab erforderte. Das jüngste Großprojekt beinhaltet nun die chemische Synthese eines gesamten bakteriellen Genoms. Er wählte dazu das tierpathogene Bakterium Mycoplasma mycoides, das als Erreger der Lungenseuche bekannt ist. Dieses Bakterium bot sich aufgrund einer geringen Genomgröße von 1,08 Millionen Basenpaaren für eine chemische Gesamtsynthese an. Die Sequenz des Mycoplasma mycoides Genoms war bereits bekannt, so dass ein Ablaufplan zur chemischen Synthese dieses Genoms entworfen werden konnte. Der Umfang dieser Gesamtsynthese war enorm, denn es musste aus DNA-Fragmenten mit einer Größe von rund 100 Basen das über 1 Million Basenpaare große Gesamtgenom zusammengesetzt werden. Diese Aufgabe meisterte 115 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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die Craig Venter-Gruppe, wobei das chemisch synthetisierte bakterielle Genom schrittweise als künstliches Chromosom in einer Hefezelle aufgebaut wurde. Mit der Fertigstellung des chemisch synthetisierten Mycoplasma mycoides Genoms war zunächst aber nur der erste Schritt getan. Das chemisch synthetisierte Genom musste noch in eine Bakterienzelle transplantiert und dort zum Leben erweckt werden. Auch dieser Schritt verlangte Entwicklungsarbeit, denn es gab dazu noch kein etabliertes Verfahren. Die Craig Venter-Gruppe wählte für den Transplantationsschritt das Bakterium Mycoplasma capricolum. Die Transplantation verlief erfolgreich. Das chemisch synthetisierte Mycoplasma mycoides Genom etablierte sich in der Mycoplasma capricolum Zelle und wandelte diese in eine Mycoplasma mycoides Zelle um. Die Sensation war damit perfekt. Die Craig Venter-Gruppe hat mit diesem Verfahren Geschichte geschrieben und das erste chemisch synthetisierte Bakteriengenom nach Transplantation in eine Empfängerzelle zum Arbeiten gebracht. Als Ergebnis liegt eine synthetische Zelle vor, die von einem chemisch synthetisierten Genom gesteuert wird. Weltweit wurde dieses Ergebnis von den Medien als großer Durchbruch gefeiert und die Craig Venter-Publikation als die Geburtsstunde der Synthetischen Biologie bezeichnet. Ohne die Bedeutung dieses Erfolgs herunterzuspielen, ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Craig Venter-Gruppe nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtansatz der Synthetischen Biologie bearbeitet hat. Sie hat gezeigt, dass die chemische DNA-Synthese ein wertvolles Werkzeug bei der Herstellung von synthetischen DNAFragmenten darstellt, die nach Transfer in eine Zelle biologisch aktiv werden. Ein weiterer Kommentar soll den medialen hype um die Craig Venter-Publikation beleuchten. Craig Venter trug dazu nicht unwesentlich bei, denn die Überschrift der Publikation „Creation of a Bacterial Cell Controlled by a Chemically Synthesized Genome“ sprach von der Erschaffung einer synthetischen Zelle. Diese 116 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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Wortwahl ist jedoch unangebracht, denn es handelt ich nicht um die Erschaffung einer synthetischen Zelle, sondern lediglich um den Nachbau einer in der Natur vorkommenden bakteriellen Spezies. Die Craig Venter-Gruppe nutzte für die chemische Synthese des bakteriellen Genoms die Genomsequenz von Mycoplasma mycoides und anschließend für den Transplantationsschritt das Empfängerbakterium Mycoplasma capricolum. Damit wurde auf in der Natur vorhandene Informationen und Strukturen zurückgegriffen, also Vorhandenes nachgebaut und nicht etwas Neues erschaffen (10). Mit dieser Bewertung des Craig Venter-Experiments nähert man sich der zentralen Frage, wie sich Synthetische Biologie und Künstliches Leben voneinander abgrenzen. Synthetische Biologie konstruiert lebende Systeme unter Verwendung von biologischen Komponenten. Künstliches Leben hingegen erschafft Systeme, die Grundeigenschaften des Lebens aufweisen, ohne dass dazu biologische Komponenten verwendet werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass bis heute kein Künstliches Leben erschaffen wurde. Die Begriffe Synthetische Biologie und Künstliches Leben grenzen sich also scharf voneinander ab und sollten im allgemeinen Sprachgebrauch nicht vermengt werden.
4. Aspekte der Synthetischen Biologie Heutzutage wird Synthetische Biologie oft mit einer komplexeren Gentechnik gleichgesetzt. Man transferiert nicht mehr nur einzelne Gene, sondern konzentriert sich auf größere Gencluster. Solche Gencluster können synthetische Stoffwechselwege kodieren, aber auch als synthetische Genschalter aktiv sein. Das bekannteste Beispiel für synthetische Stoffwechselwege stellt die Biosynthese 117 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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der Antimalaria-Substanz Artemisinin dar. Bis heute wird Artemisinin auf klassische Weise durch Extraktion aus getrockneten Pflanzen des einjährigen Gelben Beifuß gewonnen. Allerdings ist die ausreichende landwirtschaftliche Produktion von Pflanzenmaterial nicht gewährleistet, so dass ein Projekt ins Leben gerufen wurde, Artemisinin mit Hilfe der Synthetischen Biologie zu produzieren. Dazu soll das Darmbakterium Escherichia coli oder die Hefe Saccharomyces cerevisiae mit einem synthetischen Gencluser ausgerüstet werden, das die Biosynthese von Artemisinin vermittelt (11,12). Die Arbeiten sind bereits weit gediehen. Die synthetischen Mikroorganismen werden in Fermenterkulturen gezogen und produzieren die medizinisch wertvolle Substanz Artemisinin. Dieses prominente Projekt wurde übrigens von einer Reihe von interessanten Kooperationspartnern vorangetrieben. Neben der Nichtregierungsorganisation „One World Health“ und der Bill Gates-Stiftung sind zwei Industrieunternehmen, nämlich Amyris und SanofiAventis an der Durchführung beteiligt. Dieses Projekt zeigt beispielhaft, welche Rolle die Synthetische Biologie in Zukunft auf dem biotechnologischen Sektor spielen kann. Ein weiterer Aspekt betrifft die Entwicklung von Minimalzellen, die ein sogenanntes Minimalgenom enthalten. Das Minimalgenom soll per Definition nur essentielle Gene enthalten, die eine Zelle für das Überleben unter vorgegebenen Fermentationsbedingungen benötigt. Damit können aus einem Genom all die Gene entfernt werden, die einer Zelle das Überleben in einer komplexen Umwelt ermöglichen. Eine Minimalzelle mit einem reduzierten Genom ist also nur an definierte Fermentationsbedingungen angepasst. Man kann eine solche Minimalzelle auch als Chassis benutzen, das mit Genkassetten beladen gewünschte Substanzen produzieren kann. Minimalzellen spielen übrigens bei biologischen Sicherheitsfragen eine entscheidende Rolle. Zu den nicht essentiellen Genen eines Mikroorganismus zählen z. B. alle Gene, die dazu beitragen, Stresssituationen in einer komplexen Umwelt zu bewäl118 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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tigen. Werden nun diese Stress-Gene aus dem mikrobiellen Genom entfernt, dann ist ein solcher Mikroorganismus für ein Überleben in einer komplexen Umwelt ungeeignet. Eine synthetische Zelle, die als Ausgangspunkt eine Minimalzelle nutzt, besitzt damit ein intrinsisches Sicherheitssystem. Die Verwendung von Minimalzellen bei der Konstruktion von synthetischen Zellen ist aus Sicht der biologischen Sicherheit also ein wichtiges Argument. Synthetische Biologie als ein sich neu entwickelnder Wissenschaftszweig benötigt wissenschaftlichen Nachwuchs. Universitäten sind also gefordert, vernünftige Ausbildungsprogramme ins Leben zu rufen. Ein Ansatzpunkt ist sicherlich die Einrichtung von Graduiertenschulen, die sich mit Fragen der Synthetischen Biologie beschäftigen. Solche Graduiertenschulen liefern gut ausgebildete Nachwuchswissenschaftler, die dann für Leitungsaufgaben in Akademia und Industrie zur Verfügung stehen. Man sollte aber bereits frühzeitig darüber nachdenken, wie man Synthetische Biologie auch in die universitäre Grundausbildung, also in Bachelor- und Masterprogramme integrieren kann. Eine interessante Variante, Studenten an diesen neuen Wissenschaftszweig heran zu führen, wird mit dem iGEM-Wettbewerb realisiert. Beim iGEM-Wettbewerb (international genetically engineered machine competition) handelt es sich um den bedeutend‑ sten internationalen Wettbewerb für Studenten auf dem Gebiet der Synthetischen Biologie (13). Dieser Wettbewerb wird von dem berühmten Massachusetts Institute of Technology in Boston, USA, durchgeführt. Er wurde 2003 ins Leben gerufen und entwickelte eine ungeahnte Anziehungskraft. In der Zwischenzeit nehmen mehr als 190 studentische Gruppen aus allen Erdteilen an diesem Wettbewerb teil und ringen um eine der begehrten Goldmedaillen. Aufgabe des Wettbewerbs ist es, eine relevante Forschungsfrage mit Mitteln der Synthetischen Biologie zu lösen und dabei sogenannte Biobausteine (Biobricks) zu entwickeln, die von den iGEM-Organisatoren über eine Sammlung wieder allen 119 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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iGEM-Teams zur Verfügung gestellt werden. Die entwickelten Biobausteine funktionieren als synthetische Genschalter, kodieren aber auch synthetische Stoffwechselwege. Ein Spezifikum des iGEM-Wettbewerbs ist es, dass die beteiligten Gruppen selbst große Aktivität entwickeln müssen. Diese Aktivität beginnt bei der Auswahl des Forschungsthemas und dessen Bearbeitung und führt hin bis zur Finanzierung des Projekts und zur Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Es ist verblüffend, mit welchem Enthusiasmus sich iGEM-Gruppen den vielfältigen Aufgaben stellen und bereits frühzeitig ein vertieftes Wissen auf dem Gebiet der Synthetischen Biologie entwickeln. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass gentechnische Verfahren in Deutschland dem Gentechnik-Gesetz unterliegen. Da die Synthetische Biologie als eine komplexere Gentechnik verstanden wird, muss die Frage beantwortet werden, ob das Gentechnikgesetz auch bei synthetisch erzeugten Organismen angewendet werden kann. Zur Beantwortung dieser Frage ist von Bedeutung, dass experimentell hergestellte synthetische Zellen z. Z. ausnahmslos in großer Nähe zu ihren Ausgangszellen liegen, und dass dadurch das Prinzip der Risikoabschätzung greift. Das geltende Gentechnikgesetz kann daher für Fragen der biologischen Sicherheit von synthetischen Zellen herangezogen werden. Damit benötigt das Gebiet der Synthetischen Biologie augenblicklich keine neuen Regulierungen. Diese Überlegungen begründen auch, warum von einem Moratorium, also von einem Forschungsverbot auf dem Gebiet der Synthetischen Biologie Abstand genommen wird. Diese Sichtweise wird auch in der eingangs erwähnten Studie zur Synthetischen Biologie vertreten. An Stelle eines Moratoriums wird in dieser Stellungnahme der Politik ein begleitendes Monitoring empfohlen. Die Politik hat diese Empfehlung umgesetzt und in der Zwischenzeit eine Monitoringstelle bei der Zentralen Kommission für die Biologische Sicherheit eingerichtet (14).
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Von der Molekulargenetik zur Synthetischen Biologie
Nicht verschwiegen werden soll, dass die Synthetische Biologie natürlich auch Potenziale beinhaltet, die bei der Entwicklung von biologischen Waffen genutzt werden können. Ein einfaches Szenario ist z.B. die chemische Synthese von pathogenen Virengenomen oder auch von Genen, die die Gefährlichkeit von pathogenen Mikroorganismen erhöhen. Da die chemische DNA-Synthese augenblicklich aber weltweit in Händen von einigen Firmen liegt, kann darauf geachtet werden, dass keine DNA-Fragmente synthetisiert werden, die dem sicherheitsrelevanten Bereich entstammen. Allerdings liegen keine Patentrezepte vor, mit denen die Synthese von problematischen DNA-Fragmenten unterbunden werden kann.
5. Synthetische Biologie als neue Technikwissenschaft Die Definition des Begriffs Synthetische Biologie beinhaltet den Hinweis, dass dieses Fachgebiet ingenieurwissenschaftliche Prinzipien nutzt. Diese Aussage bedarf weiterer Erläuterungen, wobei geklärt werden muss, welche besonderen ingenieurwissenschaftlichen Prinzipien zur Anwendung kommen. Hierzu soll als Beispiel die Entwicklung eines neuen Flugzeugtyps herangezogen werden. Als erster Entwicklungsschritt werden am Reißbrett oder am Computer erste Vorstellungen skizziert. Der Entwurf eines neuen Flugzeugs wird dann in silico auf gewünschte Flugeigenschaften hin überprüft. Für die Prüfung werden Modelle benötigt, mit denen sich Flugeigenschaften vorhersagen lassen. Die Ingenieurwissenschaft arbeitet also mit Modellen, die das System Flugzeug beschreiben und mittels Simulation Voraussagen über dessen Flugverhalten ermöglichen. Erst wenn das neue Flugzeug einen solchen Prüfmarathon erfolgreich überstanden hat, wird man daran gehen, das Projekt zu realisieren und einen ersten Prototyp bauen. Ein 121 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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solcher Prototyp lässt sich dann unter realen Bedingungen auf seine Flugeigenschaften testen. Die geschilderte Vorgehensweise gilt nun auch für die Synthetische Biologie. Zunächst muss festgelegt werden, welche Eigenschaften die zu konstruierende synthetische Zelle besitzen soll. Dazu ist der Bauplan für die synthetische Zelle zu entwerfen, d.h. auf genomischer Ebene müssen die für die gewünschten Eigenschaften zuständigen Genfragmente zusammengestellt werden. Als nächstes wird dann in silico geprüft, ob der entworfene Bauplan zu einer lebensfähigen synthetischen Zelle mit den gewünschten Eigenschaften führt. Dazu benötigt man ebenfalls Modelle, die das System synthetische Zellen abbilden und Simulationsschritte erlauben. Fallen diese Prüfungen zur Zufriedenheit aus, dann wird man auch hier den Prototyp einer synthetischen Zelle verwirklichen, wobei der genomische Bauplan der synthetischen Zelle mittels genomischer Programmierung, also unter Verwendung von gentechnischen Methoden, umgesetzt wird. Diese analoge Vor‑ gehensweise sowohl beim Bau eines neuen Flugzeugs als auch bei der Konstruktion einer synthetischen Zelle macht deutlich, warum man der Synthetischen Biologie ingenieurmäßige Prinzipien zuschreibt. Die ingenieurmäßige Vorgehensweise bei der Konstruktion von synthetischen Zellen wirft die Frage auf, wie das Gesamtgeschehen in einer Zelle modellhaft erfasst werden kann. Dazu wurde im Vorfeld der Synthetischen Biologie bereits die Systembiologie auf Basis von omics-Daten entwickelt. Omics-Daten, die das Geschehen in einer Zelle ganzheitlich beschreiben, werden mit den omicsTechnologien Genomik, Transkriptomik, Proteomik und Metabolomik gewonnen. Mittels omics-Technologien werden dabei hochparallel alle Gene, alle Transkripte, die meisten Proteine und viele Metabolite einer Zelle erfasst, wobei die identifizierten Transkripte, Proteine und Metabolite jeweils vom Zustand der Zelle und seiner Umgebung abhängen und dadurch zeitlich stark variieren 122 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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können. Omics-Daten entwerfen ein ganzheitliches Bild des zellulären Geschehens. Die Systembiologie versucht nun auf diesen omics-Daten aufbauend das Gesamtgeschehen in einer Zelle modellhaft zu erfassen. So wird versucht die Genregulation in einer Zelle anhand der Transkripte und den Stofffluss über das Auftreten von Metaboliten zu modellieren. Solche Modelle erleichtern anschließend die Entwicklung von genomischen Bauplänen für synthetische Zellen und spielen auch eine wesentliche Rolle, wenn erste Prototypen von synthetischen Zellen detailliert analysiert werden. Die obige Darstellung zeichnet den Weg vor, der der Synthetischen Biologie den Übergang von einer biologischen Wissenschaft zu einer Technikwissenschaft ermöglicht. Allerdings ist der Weg noch weit. Die Synthetische Biologie ist über Anfangserfolge noch nicht hinaus gekommen und die modellhafte Erfassung des gesamten zellulären Geschehens aus omics-Daten scheint eine Jahrhundertaufgabe zu sein. Die Gründe hierfür sind offensichtlich, denn das zelluläre Geschehen ist hochkomplex und kann augenblicklich nur in Teilen erfasst werden. Trotz all dem wird der Synthetischen Biologie eine große Zukunft vorausgesagt, insbesondere wenn man ihr Zusammenspiel mit der Biotechnologie in Betracht zieht. Die Biotechnologie nutzt ja das Synthesepotential von lebenden Zellen zur Produktion von bestimmten Substanzen. In Zukunft lässt sich nun dieses Synthesepotenzial mittels Synthetischer Biologie ausweiten, womit die Produktion neuartiger Substanzen ermöglicht wird, die sich heute noch einer biotechnologischen Produktion entziehen. Die zukünftige Vorstellung einer biotechnologischen Produktion mittels Synthetischer Biologie geht von der Idee aus, dass vorhandene Chassis-Zellen mit ausgewählten Genkassetten zur Produktion von neuartigen Substanzen beladen werden. Mit dieser Vision wird der Synthetischen Biologie eine bedeutende Rolle bei der zukünftigen Entwicklung der Biotechnologie zugeschrieben. Synthetische Biologie wird in Zukunft 123 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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als Technikwissenschaft also besonders für die Fortentwicklung der Biotechnologie eine herausgehobene Rolle spielen.
6. Zusammenfassung und Ausblick Das Thema der Görres-Jahrestagung 2012 mit dem Thema „Synthetische Biologie - Leben als Konstrukt“ lässt sich für einzellige Mikroorganismen an vielen Beispielen gut belegen. Das Forschungsgebiet Synthetische Biologie stellt dabei den synthetischen Ansatz in den Vordergrund und konstruiert neuartige synthetische Mikroorganismen durch das Zusammenführen von Eigenschaften aus unterschiedlichen in der Natur vorkommenden Lebewesen. Von großem Interesse ist der Aspekt, dass die Synthetische Biologie den Weg zur Technikwissenschaft weist, was insbesondere für die Zukunft der Biotechnologie von großer Bedeutung ist. Es soll aber vor überzogenen Erwartungen gewarnt werden. Man muss der Synthetischen Biologie einen genügend großen Zeitraum einräumen, den sie im Sinne einer Technikwissenschaft für die Umsetzung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in die industrielle Anwendung benötigt. Literatur (1) Synthetische Biologie; Synthetic Biology: Stellungnahme. Standpunkte. (2009), Hrsg. Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), acatech - Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina; WILEY-VCH. (2) Watson J and Crick F (1953); Molecular structure of Nucleic Acids: A Structure for Deoxyribose Nucleic Acid; Nature 171, Nr. 4356, 737–738. (3) Nirenberg, MW; The Genetic Code, Nobel Lecture, December 12 1968. (4) Cohen SN, Chang, ACY, Boyer HW, Helling, RB (1973) Construction of Biologically Functional Bacterial Plasmids In Vitro; Proc Nat Acad Sci USA 70 (11): 32403244.
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Von der Molekulargenetik zur Synthetischen Biologie (5) Gesetz zur Regelung der Gentechnik (Gentechnikgesetz - GenTG); http://www. gesetze-im-internet.de/gentg/index.html. (6) Maxam AM and Gilbert W (1977). A new method for sequencing DNA, Proc Natl Acad Sci USA. 74 (2): 560–564. (7) Sanger F et al. (1977): DNA sequencing with chain-terminating inhibitors, Proc Natl Acad Sci USA. 74 (12), 5463–5467. (8) Reese CB (2005). Oligo- and poly-nucleotides: 50 years of chemical synthesis; Org Biomol Chem 3, 3851-3868. (9) Gibson DG et al. (2010) Creation of a bacterial cell by a chemically synthesized genome; Science 329 No. 5987: 52-56. (10) Pühler A (2010) Leben aus der Retorte; Biospektrum 05.10. (11) Martin VJ et al. (2003) engineering a mevalonate pathway in Escherichia coli for production of terpenoids; Nat Biotechnol 21:796-802. (12) Ro DK et al. (2006) Production of the antimalarial drug precursor artemisinic acid in engineered yeast; Nature 440: 940-943. (13) http://igem.org/ (14) Monitoring der Synthetischen Biologie in Deutschland (2012), 1. Zwischenbericht der Zentralen Kommission für die Biologische Sicherheit; Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit.
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Das Leben – natürlich, übernatürlich, künstlich? Ulrich Lüke
Vorbemerkung Der Titel dieses Aufsatzes suggeriert, wir hätten es mit drei Arten klar gegeneinander abgrenzbarer Begriffe von Leben zu tun, eben dem natürlichen, für das die Biologie zuständig sei, dem übernatürlichen, dessen Existenz die Theologie behauptete, und dem künstlichen, das gerade an der Schnittstelle von Bio- und Ingenieurswissenschaften aufzuleben und zu wachsen beginne. Gibt es eine solche klare Abgrenzung dieser Arten von Leben gegeneinander? Gibt es, vom unbestritten vorhandenen biologisch-natürlichen Leben einmal abgesehen, überhaupt diese drei Arten von Leben? Was spricht dafür, dass es neben dem biologisch zu beschreibenden natürlichen Leben überhaupt ein übernatürliches und ein künstliches Leben gibt, oder sich ein solches zu gegebener Zeit manifestieren wird? Das nach Auskunft der Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich wie folgt beschriebene Forschungs-Projekt der Synthetischen Biologie nötigt allerdings zur Nachdenklichkeit: „Die Standardisierung und Automatisierung der Herstellung biologischer Systeme bildet damit den Kern der Synthetischen Biologie und stellt die Voraussetzung für deren Zielsetzung dar: das Entwerfen und Herstellen bzw. Nachbauen neuer oder bereits existierender biologischer Komponenten und Systeme.“1 1 Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich (EKAH): Synthetische Biologie – Ethische Überlegungen. Bern 2010, S. 7.
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Synthetische Biologie verortet sich selbst an der Schnittstelle von Biologie und Ingenieurwissenschaften. Mit dem erklärten Vorhaben, biologische Bestandteile und Systeme entwerfen und bilden zu wollen, die in der Natur so (noch) nicht vorkommen, und bereits existierende biologische Systeme rekonstruieren und nachbauen zu wollen, die es natürlicherweise bereits gibt, ist zwangsläufig und unmittelbar die Rückfrage verbunden, was denn überhaupt das Leben ist, das da konstruiert oder rekonstruiert werden soll.
1. Leben – natürlich Ist Leben, und zwar umfassend, mit ausschließlich naturwissenschaftlichen Kategorien, also mit einer auf Physik und Chemie zurückgreifenden Biologie zu beschreiben oder gar zu definieren? Alles Leben auf der Erde basiert auf dem gleichen universell gültigen genetischen Code der DNA bzw. RNA mit den Basen Adenin, Thymin respektive Uracil, Guanin und Cytosin. Über diesen Code wird die Anordnung der ca. zwanzig Aminosäuren festgelegt, aus denen die teils enzymatisch aktiven Proteine aufgebaut sind. Es entsteht ein Regelsystem von Informationen tragenden (DNS/ RNS) und katalytisch wirksamen Molekülen (Proteinen/ Enzymen), wie es Manfred Eigen in seinem Modell vom Hyperzyklus beschrieben hat. Stoffwechsel, Reizbarkeit, Bewegung, Fortpflanzung, Wachstum, Ganzheit etc. werden als Erkennungsmerkmale oder auch Ausdrucksformen des Lebens angesehen. Ergibt sich aus der universellen Gültigkeit des genetischen Codes und der zahlenmäßigen Limitierung natürlich vorkommender Aminosäuren auch eine universelle oder gar exklusive Zuständigkeit der Biologie für das Phänomen Leben insgesamt?
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1.1 Mechanizismus versus Vitalismus – Zwei Auffassungen von Leben Unter Biologen, Ethikern, Philosophen finden sich im Wesentlichen zwei kontroverse ontologische Auffassungen von dem, was Leben ist. Dazu hält der Bericht der Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich fest: „Auf der einen Seite wird eine als technisch bezeichnete Sprache verwendet, die Leben als Bündel von Funktionen beschreiben (Organisation, Reproduktion, Metabolismus, Reaktion auf Umweltstimulation). Was Leben zu Leben macht, kann hier kausallogisch erklärt werden. (…) Die ontologische Auffassung, dass Leben abschließend kausallogisch erklärt werden kann, sieht keine plausible Erklärung dafür, weshalb es mehr als Funktionswissen braucht, um den Umgang mit Lebewesen adäquat beurteilen zu können.“2
Hier liegt eine monistisch-materialistische Ontologie vor. Sie geht von der Annahme aus, Leben beziehe sich „auf rein physikalisch-chemische Eigenschaften von Lebewesen, wobei Leben eine emergente Eigenschaft materieller Wesen ist oder sein kann.“ Kurzum, hier herrscht die Ansicht vor,„dass Lebewesen rein materieller Natur sind.“3 „Die andere Auffassung hingegen (…) Für sie bleibt ausgeschlossen, allein aufgrund von Funktionswissen erfassen zu können, was Leben ist. Ohne dieses zusätzliche und nur hermeneutisch zugängliche Wissen kann man dieser Auffassung nach nicht über adäquates Wissen für den ethisch richtigen Umgang mit Lebewesen verfügen. (…) Wer eine vitalistische oder dualistische Ontologie voraussetzt, geht davon aus, dass Leben aus mindestens einer prinzipiell unbekannten immateriellen Eigenschaft besteht.“4 2 Bericht der Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich (EKAH): Synthetische Biologie – Ethische Überlegungen. Bern 2010, S. 12 f. 3 Beide Zitate: EKAH, S. 13. 4 EKAH, S. 13.
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Ein materialistischer Monismus (hier kurz Mechanizismus genannt) und ein vitalistischer Dualismus (hier kurz Vitalismus) stehen einander in dieser Grobkartierung gegenüber. 1.1.1 Mechanizismus Rein materialistisch-mechanistisch-funktionale Sichtweisen in der Biologie sprechen also dem Leben die Besonderheit ab und sehen in ihm nur einen zum Objekt gemachten und dazu auf den Begriff gebrachten physikalisch-chemisch beschreibbaren Prozess. Teilweise sehen sie Leben auch als das noch undurchschaute Zusammenspiel von naturwissenschaftlich im Grundsatz restfrei analysierbaren Teilkomponenten, die aber miteinander eine neue Systemeigenschaft produzieren. Sie sehen Leben als eine emergente Eigenschaft eben dieses aus Teilkomponenten zusammengesetzten physikalisch-chemischen Prozesses an. Dabei scheint dann allerdings der Emergenzbegriff den behauptungsweise „klar durchschauten physikalisch-chemischen Prozess“ doch irgendwie zu verunklaren oder zu kontaminieren. Die mechanistisch-funktionalistisch orientierten Biologen können natürlich mit Recht über die Vitalisten spotten, wie es Julian Huxley getan hat: Der von Bergson ins Spiel gebrachte „élan vital“ könne das Lebendige ebensowenig erklären, wie die Annahme eines „élan locomotif“ die Funktion einer Dampfmaschine.5 Das spöttisch vorgetragene Argument bestreitet im Kern, dass es etwas anderes als eine mechanistisch-funktionalistische Erklärung geben könne. Es gewänne aber nur dann entscheidend an Durchschlagskraft, wenn der Mechanizismus selbst eine vollständige Erklärung zu geben in der Lage wäre, ohne Rückgriff auf nicht-mechanistische Elemente. 5 Vgl. Lüke, U.: Evolutionäre Erkenntnistheorie und Theologie. Eine kritische Auseinandersetzung aus fundamentaltheologischer Perspektive. Stuttgart 1990, S. 77.
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Aber, indem zumindest einer dieser angeblich nur physikalischchemischen Prozesse, nämlich der mit dem Namen Mensch, sich Gedanken über das macht, was Leben ist, verobjektiviert zumindest dieser eine physikalisch-chemische Prozess andere physikalisch-chemische Prozesse und sich als solchen selbst. Hier kommt so etwas wie Intentionalität und Subjektivität ins Spiel, die in anderen, weniger komplexen physikalisch-chemischen Prozessen nicht gegeben zu sein scheint. Mit der grundlegenden und angeblich erschöpfenden Charakterisierung und Klassifizierung von Leben als physikalisch chemischer Prozess wechselt der Biologe, ohne es selbst zu merken oder ohne es andere merken lassen zu wollen, aus der biologischen Naturwissenschaft in einen philosophischen Naturalismus. Nolens volens wird damit der Schritt vom bloß methodischen zu einem quasi-metaphysischen Reduktionismus vollzogen, und zwar just von denen, die Metaphysik eigentlich für überflüssig erachten. Mechanistisch-funktionale, also reduktionistische Behauptungen des Kalibers, dieses oder jenes Phänomen sei „nichts anderes als …“ sind strenggenommen keine naturwissenschaftlichen sondern naturalistische Deutungen. Wo sie als Naturwissenschaft deklariert werden, ist Misstrauen angebracht. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat den Begriff der „Nothing-else-buttery“ von Julian Huxley ins Deutsche übertragen und von der „Nichts-anderes-Alserei“ gesprochen.6 Dass fast alles, worauf der reduktionistisch orientierte Naturalist hinweist, eine durch Naturwissenschaft annäherungsweise beschreibbare Dimension hat, ist eine Banalität und keine Ersterkenntnis oder Neuentdeckung des neuzeitlichen Naturalismus. Verdienstvoll ist es sicherlich, auch bei der Definition dessen, was Leben ist, die Karte der naturwissenschaftlichen, der physikalischchemisch-biologischen Beschreibbarkeit intellektuell auszureizen. 6
Lorenz, K.: Der Abbau des Menschlichen. München/ Zürich 1983, S. 197.
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Die reduktionistisch-mechanistische Behauptung allerdings, dass alles in der Welt auf naturwissenschaftlichem Wege seine restlose und vollkommene Erklärung und Deutung finden kann, ist hingegen verkappte Metaphysik, die entweder nicht um sich weiß, oder weismachen möchte, sie sei keine Metaphysik. Für den, der diese stillschweigende implizite reduktionistische Metaphysikalisierung der Natur nicht mitvollzieht, bleibt der Naturalismus immerhin ein anregendes, bislang jedoch uneingelöstes Forschungsprogramm. Aber daraus könnte sich eben doch die Position ergeben, die da sagt: Tun wir doch einmal so, als hätten die reduktionistischmaterialistisch orientierten Naturalisten recht; und lassen wir sie machen, um zu sehen, wie weit sie kommen. 1.1.2 Vitalismus Die innerbiologisch mit Minderheitenstatus versehene Gegenposition zum Mechanizismus läuft auf eine dualistisch-neovitalistische Sichtweise von Leben hinaus. Sie bestreitet zwar nicht die naturwissenschaftliche Beschreibbarkeit von Leben, wohl aber deren Vollständigkeit und deren exklusiven Alleinvertretungsanspruch. Hier waren Hans A. E. Driesch (1867-1941) mit seinen Schnürungs- und Schüttelexperimenten an Seeigelkeimen als Entwicklungsbiologe sowie mit deren Deutung als Naturphilosoph und Henri Bergson (1859-1941) als Philosoph im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts führend. Die von Driesch postulierte „vis vitalis“ und der von Bergson postulierte „élan vital“ waren die einander ergänzenden zentralen Schlagworte. Galten auch durch die Versuche von Stanley Miller und Harold C. Urey zur spontanen Synthese von Aminosäuren die vitalistischen Ansätze in der Biologie seit den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts als überholt, so kann zwar von einer forschungspraktischen Nichtbeachtung des Neovitalismus, nicht aber von seiner 132 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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sachlich fundierten, endgültigen Eliminierung gesprochen werden. Aber kann man etwas naturwissenschaftlich angeblich nicht Greifbares mit naturwissenschaftlichen Mitteln ausschließen? Mit der trotz aller Optimierungen je neuen Konstatierung der Unvollständigkeit mechanistisch-funktionalistischer Beschreibungen, taucht auch „unausrottbar“ nolens volens die Frage nach einem modifizierten, reanimierten Neovitalismus wieder auf. Auch die Grenzgänger am Rande seriöser Wissenschaft und Philosophie oder die schon eher irgendeiner Form von Esoterik zuzuordnenden Vertreter personalisieren mit mehr oder weniger guten Gründen nur nochmals das Ungenügen des Mechanizismus: „Merkmale oder Elemente einer vitalistischen Deutung finden sich auch in den Arbeiten von Franz Anton Mesmer („animalischer Magnetismus“), Karl von Reichenbach („Od“), Henri Bergson („élan vital), Alfred North Whitehead („creativity“), Pierre Teilhard de Chardin („Radiale Energie“), Wilhelm Reich („Orgon“), Adolf Portmann („Selbstdarstellung“), Arthur Koestler („The Ghost in the Machine“), Ken Wilber („holon“), Ervin Lazlo („Akashic field“) und Rupert Sheldrake („Morphogenetisches Feld“), sowie in der fernöstlichen Vorstellung einer Lebenskraft Prana oder Qi, die auch von der modernen westlichen Esoterik aufgegriffen wurde.“7
Die ungeheure Divergenz in den als irgendwie dualistisch zu klassifizierenden neovitalistischen Konzepten von Leben resultiert zum Einen aus der Nicht-Naturalisierbarkeit dessen, was da im materialistischen Monismus vermisst wird. Zum anderen fehlt es an dem vermittelnden sprachlichen Rüstzeug, um das auf den auch naturwissenschaftlich verstehbaren Begriff zu bringen, was angeblich nicht in ihm aufgeht.
7 Vitalismus aus Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Vitalismus#cite_note-0) 20.08.2012.
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1.1.3 Blackbox-Begriffe? Es steht angesichts der argumentativen Gemengelage zu vermuten, dass schillernde Begriffe wie Fulguration, Emergenz, Übersummativität oder unprognostizierbare Systemeigenschaft auch weiterhin eine Platzhalterfunktion für den weder monistisch-materialistisch noch dualistisch-vitalistisch adäquat ausgeleuchteten Graubereich zwischen belebten und unbelebten Systemen einnehmen werden. Den Begriff Fulguration, hergeleitet vom Lateinischen fulgur bzw. fulgor, – Blitz, Glanz bzw. Schimmer, – hat Konrad Lorenz bei den Mystikern vorgefunden und neu ins Spiel gebracht,8 um damit Eigenschaften von Systemen zu bezeichnen, die aus den dieses System bildenden Teilkomponenten und deren Eigenschaften ganz und gar nicht erklärbar und herleitbar sind. Hier scheint sich das absolut unprognostizierbar Neue gewissermaßen wie ein Blitzeinschlag einzustellen, quasi wie „vom Himmel“ zu kommen. Der heute gebräuchlichere Begriff Emergenz, vom Lateinischen emergere, hat eine andere Blickrichtung, nämlich die nach unten, zu den Subsystemen. Er bezeichnet das Auftauchen, das ZumVorschein-Kommen, das Sich-Zeigen, das Sich-heraus- oder Empor-Arbeiten. Die schwache Emergenz bezeichnet eine nur vorläufige Nichterklärbarkeit des Systemeffekts aus den Teilkomponenten; die starke Emergenz bezeichnet eine prinzipielle Nichterklärbarkeit des Systemeffekts. Und am Ende wird doch nur gesagt, was man sich schon von Aristoteles und Thomas von Aquin sagen lassen konnte: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Und genau an dieser für die Frage nach dem Leben so ganz entscheidenden Stelle platzieren monistisch orientierte Materialisten wie dualistisch orientierte Vitalisten eine Blackbox, genau hier etablieren sie ihr je eige8 Lorenz, Konrad: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens. München 6. Auflage 1982, S. 48.
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nes refugium ignorantiae. Und hier formulieren sie ihr jeweiliges Glaubensbekenntnis: Alles sind pysikalisch-chemisch zu beschreibende materielle Prozesse und nichts als das, sagen die materialistischen Monisten bzw. Mechanizisten. Und dann bleiben sie den naturwissenschaftlichen Beweis der Vollständigkeit dieser Behauptung schuldig. Sie vertagen die Vollständigkeit ihrer Beschreibung, die angeblich ständig in Sicht ist, ständig auf später. Ihr Vorteil aber ist der erkennbare Wissenszugewinn. Alles ist physikalisch-chemisch zu beschreibende Materie plus einer essentiell immateriellen „vis vitalis“, sagen die Neovitalisten. Und dann bleiben sie ihrerseits den Nachweis für diese „vis vitalis“ schuldig, begründen das aber mit der im Modus materieller Kategorien nicht beschreibbaren Natur der postulierten Größe. Im Felde der Biologie werden mit bewundernswerter Präzision Sachverhalte beschrieben, die als Bedingungen für und als Merkmale von Leben zu gelten haben, z.B. Stoffwechsel, Reizbarkeit, Fortpflanzung etc. Gleichwohl ist vieles noch nicht in den naturwissenschaftlich üblichen Präzisierungsstadien von Hypothese, Theorie und Gesetz, und also noch nicht in einen mehr oder weniger klaren und anerkannten Rahmen der Regelhaftigkeit gefasst. Eine umfassende Definition dessen, was Leben ist, bietet die Biologie, insoweit sie ausschließlich Naturwissenschaft ist, also nicht. Und was die Biologie über das Leben zu sagen hat und mit der ihr möglichen Präzision sagt, ist doch trotz aller scheinbaren naturwissenschaftlichen Eindeutigkeit weder selbst deutungsfrei, noch in einen deutungsfreien Raum hinein gesagt; es ist und bleibt deutungsbedürftig. 1.2 Der „reguläre“ oder „irreguläre“ Gott Die Annahme einer die vis vitalis implantierenden Fulguration erscheint manchen Menschen zumindest der Möglichkeit nach irgendwie „gottvoll“. 135 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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Aber wäre ein Leben, das sich zuverlässig mit biologischen Kategorien als Emergenz beschreiben ließe, schon allein deshalb und insoweit es sich mit biologischen Kategorien beschreiben lässt, gottfrei, gottlos oder Gott los? Eine gängige sprichwörtliche Redensart sagt, das Wunder sei des Glaubens liebstes Kind. Und sie scheint dabei zu unterstellen, dass sich das Wunder gegen alle naturwissenschaftliche Rationalität ereignet und das mit Beweiskraft ausgestattete Belegstück für die Existenz einer vom Glauben postulierten Parallelwelt ist. Die Wunder der Natur und des Lebens vollziehen sich nicht ausschließlich in einer eigens auszuweisenden Zone der naturwissenschaftlich nicht oder nur noch nicht fassbaren Regellosigkeit. Sie vollziehen sich auch und gerade darin, dass es eine naturwissenschaftlich, genauer eine biologisch beschreibbare Regelhaftigkeit und mit ihr Leben überhaupt gibt. Die Zuständigkeit Gottes für die unbelebte und die belebte Natur ist nicht nur im Randbereich möglicher, jedenfalls nicht auszuschließender Regellosigkeiten, sondern gerade auch im Kernbereich ihrer Regelhaftigkeit zu suchen.9 Ähnlich sieht es auch Peter Schuster aus der Perspektive der Theoretischen Chemie: „Naheliegend und wegen ‚Ockhams Razor‘ auch unvermeidlich ist die Annahme der Evolutionsbiologie, dass eine solche Intervention, sollte es sie geben oder gegeben haben, nicht Gegenstand naturwissenschaftlicher Überlegungen sein kann. (…) Die präbiotische oder chemische Evolution benötigt einen ziemlich schmalen Temperaturbereich, und die Entwicklung der Biosphäre im Sinne der biologischen Evolution von den Urformen des Lebens bis zum Menschen ging durch eine nicht kleine Zahl von ‚Nadelöhren‘ (…) Das erfolgreiche Zusammenspiel dieser vielen Bedingungen erscheint mir höchst bemerkenswert, und hier und 9 Das ist auch die Position, die sich Francis S. Collins, der ehemalige Leiter des Human Genom Projekts und derzeitige Direktor des National Instituts of Health in den USA zu eigen macht in: Gott und die Gene. Freiburg 2012.
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Das Leben – natürlich, übernatürlich, künstlich? nicht durch Eingriffe in den Verlauf der biologischen Evolution, so könnte ich mir vorstellen, wäre Raum für einen Brückenschlag zwischen Theologie und Naturwissenschaft.“ 10
Im Zuge einer im Protestantismus eher unüblichen Verteidigung der natürlichen Theologie äußert sich Daecke kritisch zur Aufteilung einer Welt, in der Gott für das übernatürliche, naturwissenschaftlich Irreguläre und die Natur „natürlich“ für das naturwissenschaftlich Reguläre steht, indem er eine ganzheitliche Sicht fordert: „Wer die Natur von Gott trennt, für wen die Natur gottlos und Gott übernatürlich ist – und darin treffen sich ja Theismus und Atheismus, theologische und naturalistische Bestreitung der ‚natürlichen Theologie‘ –, der trennt oder halbiert die Wirklichkeit, der reduziert ihre Fülle und Vielfalt auf Gott oder Natur. (…) Wo dagegen Gott und die Natur, die Offenbarung und die Evolution als ein Ganzes gesehen werden, da ist es nicht so entscheidend, ob Gott in der Natur oder aber die Natur in Gott erkannt wird – wie es der Panentheismus ausdrückte und damit meinte, dass Gott größer, umfassender und universaler ist als die Natur. Vielmehr kommt es darauf an, dass Gott in seiner Beziehung zur Natur und dass die Natur in ihrer Beziehung zu Gott erkannt werden.“11
Goethe, eher dem Pantheismus als dem Panentheismus nahestehend, hat diese innere Wirkung Gottes in der Natur oder als Natur – er dachte dabei wohl auch an die Natur des Menschen – einmal so bedichtet: „Was wär ein Gott, der nur von außen stieße, im Kreis das All am Finger laufen ließe! Ihm ziemt’s, die Welt im Innern zu bewegen,
10 Schuster, Peter: Evolution und Design. Versuch einer Bestandsaufnahme der Evolutionstheorie. In Horn, Stephan/ Wiedenhofer, Siegfried (Hrsg.): Schöpfung und Evolution. Augsburg 2007, S. 55 f. 11 Daecke, Sigurd in: Bresch, C./ Daecke, S./ Riedlinger, H.: Kann man Gott aus der Natur erkennen? Evolution als Offenbarung. Freiburg/ BASEL/ Wien 1990, S. 18 f.
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Ulrich Lüke Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen. So dass, was in ihm lebt und webt und ist, Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermisst.“12
Natürlich ist dann noch genauer darzulegen, wie Gott in die Welt der Natur und des Lebens regulär, d.h. ohne Außerkraftsetzung der Naturgesetze eingreifen kann.13 Wenn man den Gedanken der Allgegenwart Gottes in seiner zeitlichen und räumlichen Dimensionierung wirklich ernst nimmt, dann verbietet sich eine durch wen auch immer vorgenommene sektorale Zuständigkeitsbegrenzung für das Handeln Gottes in Raum und Zeit. Und wo das Geschöpf, ganz gleich, ob und in welchem Maße es sich eine naturwissenschaftliche und/oder eine theologische Kompetenz zumessen darf, eine den Schöpfer betreffende Zuweisung von Zuständigkeiten vornimmt, ist der Tatbestand einer Anmaßung gegeben. Für den Glaubenden ist das Regelhafte, Regelrechte oder Regelgerechte Ausweis der Intelligibilität der Schöpfung und der Intelligibilität ihres geschöpflichen Betrachters, also eine auch biologisch beschreibbare Art von partieller Isomorphie zwischen beiden, zwischen Objekt und Subjekt. Aber darüber hinaus ist diese Intelligibilität für den Glaubenden auch noch Hinweis auf die Intelligibilität Gottes, ein Gedanke, dem sich die Biologie, soweit sie nur ihrer eigenen Sachlogik folgt, vielleicht nicht anschließen, den sie aber auch nicht ausschließen kann. Gott ist demnach zuständig für das „Reguläre“ wie für das „Irreguläre“, wo immer es sich auftun mag.
12 Goethe, J. W. von: Gedichte letzter Hand. Gott und Welt. Prooemion. Stuttgart u.a. 1827. Die fälschlich ins Internet gestellte Variante von Zeile 4 des Gedichts hat auch ihren Charme: „Natur ins Ich, sich in Natur zu hegen.“ 13 Das kann in diesem Zusammenhang nicht dargelegt werden, weil es hier den Rahmen sprengt. Ich verweise auf Lüke, U.: Bio-Theologie. Zeit, Evolution, Hominisation. Paderborn 2. Auflage 2001, S. 97-108 und 148-165.
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Das uns noch nicht oder prinzipiell nicht regelhaft, nicht regelrecht oder nicht regelgerecht Erscheinende ist so gesehen ein Indiz für die unzureichende Intelligibilität des menschlichen Betrachters, der mit dem relativistischen Ganzen der Welt im Großen und ihrer quantenphysikalischen Unbestimmtheit im Kleinen konfrontiert und angesichts der zumindest bisherigen Unvereinbarkeit von Relativitätstheorie und Quantenphysik bleibend überfordert ist.
2. Leben – übernatürlich? Im hier gewählten interdisziplinären Kontext kann es nicht um spezielle innertheologische Spekulationen zum übernatürlichen Leben gehen. Hier ist zu fragen, ob in Bezug auf das Phänomen Leben die Kategorie „übernatürlich“ im Sinne von „anders als oder mehr als nur natürlich“ sinnvoll oder erforderlich ist? Bernulf Kanitscheider, Physiker und Philosoph meint dazu: „Alles scheint sich auf das Problem zu konzentrieren, ob die Natur in eine Übernatur eingebettet ist und ob für dieses Umgreifende irgendein rationales Indiz gefunden werden kann. (…) der Vertreter einer übernatürlichen Realität muss (…) von den bekannten Zügen der natürlichen Realität ausgehen und fragen, ob sich von dort her Anzeichen für einen umgreifenden Grund aller Dinge finden lassen“14
Damit legt Kanitscheider zugleich fest, dass im Ausgang vom und im Ausdrucksmodus des Natürlichen die Notwendigkeit des Übernatürlichen dargelegt werden muss. Von seinem, wie er es nennt, „wissenschaftlichen Naturalismus“, den er für eine „ontologische Optimierung“ hält, sagt er:
14 Kanitscheider, B.: Im Innern der Natur. Philosophie und moderne Physik. Darmstadt 1996, S. 135.
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Ulrich Lüke „Diese Position plädiert dafür, so wenig wie möglich überflüssiges metaphysisches Gepäck mit sich herumzuschleppen, das für die Erklärung der bekannten Phänomene nicht gebraucht wird. (…) Kurz gesagt: Der Befürworter des Supranaturalismus muss dafür sorgen, dass die ontologische Einbettung konsistent formuliert wird.“15
Folgt man hier Kanitscheider, dann muss offenbar die Übernatur in die Natur eingebettet werden, nicht umgekehrt. Und überdies muss die Übernatur im Kontext der Natur funktionalisierbar sein: „Es kann sich auch herausstellen, dass die Hypothese von einer weltüberschreitenden Realität für die Lösung keines einzigen Problems gebraucht wird, dann ist sie überflüssig.“16 Demnach müsste die Übernatur ihre Legitimität durch eine natürliche Nutzenfunktion ausweisen. 2.1 Alles Natur pur? Könnte man nicht so weit gehen zu behaupten, Natur sei nicht nur ein ganzes Eines, sondern das Einzige und das Ein und Alles? Könnte man nicht das, was einmal Übernatur oder Gnade genannt wurde und nicht selten zu einem problematischen Zwei-StockwerkDenken geführt hat, vollständig zu naturalisieren versuchen?17 Voltaire schließlich lässt die sich selbst verabsolutierende Natur sagen: „Ich bin das größere Alles.“18 Wenn Natur das Ein und Alles ist, geht dann auch die naturwissenschaftliche Erkenntnis nach dem Maß ihres Zugriffs auf Natur expansionistisch gegen unend15 Kanitscheider, B.: Im Innern der Natur. S. 159 f. 16 Kanitscheider, B.: Im Innern der Natur. S. 133. 17 Vgl. Greshake, G./ Faber, E-M.: Gnade. Theologie und dogmengeschichtlich. In: LThK, 3. Auflage, Bd. 4, Sp. 778; vgl. Faber, E- M.: Natur und Gnade. In: LThK, 3. Auflage, Bd. 7, Sp. 667 ff. 18 Dictionnaire philosophique in Oevres complètes, Basel 1792, Bd. 61, S. 717; zitiert nach Krings, H./ Baumgartner, H. M./ Wild, C. (Hrsg.): Handbuch Philosophischer Grundbegriffe Bd. 4, München 1973, S. 959.
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lich? Annektiert oder absorbiert sie dann all ihre Gegenbegriffe, Kultur, Geschichte, Beobachter, Künstlichkeit, Sittlichkeit etc.? Erfüllt sie dann alle metaphysischen Bedürfnisse, entlarvt sie dann die Übernatur als bloße Zukunftsgestalt von Natur, reduziert sie also Übernatur auf Natur?19 Kanitscheider, Vollmer und andere tragen als zentrales Dogma ihres teils eher agnostisch, teils eher atheistisch gefärbten Credo den Satz vor sich her: „Alles in der Welt geht mit natürlichen Dingen zu.“20 Dieser nicht selten missionarisch vorgetragene Satz, alles in der Welt gehe mit natürlichen Dingen zu, mündet, wenn man ihn in allen seinen Konsequenzen ernst nimmt, letztlich in Sätze wie „Alles ist Natur!“ oder „Natur ist alles!“ Diese Satz ist als ganzer und in jedem seiner Worte unklar, eines an ihm aber ist klar, seine metaphysische Hypostasierung. Wenn Natur alles ist, oder wenn alles Natur ist, dann sagt der Begriff Natur nichts mehr. Und der Begriff Leben als Teilmenge des Begriffs Natur stellt dann nur noch die belebte Natur gegen die unbelebte Natur. Wenn Natur aber nicht schlechthin alles ist, wenn der Begriff Natur noch eine unterscheidende Begriffsschärfe hat, dann hat Natur notwendig ein begriffliches Gegenüber, aber welches? Je nachdem, welchen Komplementär- oder Kontrastbegriff man zu dem der Natur bemüht, ergibt sich eine völlig unterschiedliche Füllung des Begriffs Natur. Lautet das oppositionelle Begriffspaar Natur und Kultur? Lautet es Natur und Übernatur bzw. Natur und Gnade? Die Begriffe Übernatur oder Gnade bezeichneten in der Theologiegeschichte nicht selten das der angeblich berechenbaren Natur gegenübergestellte unberechenbare Eingreifen Gottes. 19 Vgl. Blumenberg, H.: Naturalismus. In RGG, Bd. 4, Tübingen 3. Aufl. 1960, Sp.1334. 20 Z. B. Vollmer, G.: Gott und die Welt. Atheismus, Metaphysik, Evolution In: Aufklärung und Kritik 3/ 2010 S. 11 f.
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Oder lautet das komplementäre oder kontrastive Begriffspaar Natur und Geschichte oder Natur und Subjekt? Der immer gleich klingende Begriff Natur in diesen Begriffspaaren entpuppt sich beim inhaltlichen Vergleich als bloße Äquivokation. Man darf wohl sagen, von welchem begrifflichen Gegenüber man in den Wald des Naturbegriffs hineinruft, so schallt es ‚natürlicherweise’ heraus. Was zuvor für den Gottgläubigen Gott war, oder genauer, was als Schöpfer und Geschöpf in einvernehmlicher oder widersprüchlicher Beziehung zueinander stand, das ist jetzt für den Naturgläubigen die alles und jedes umfassende Natur. Dieses gewissermaßen naturalistische ens perfectissimum hat zwar mit den vielen Entdivinisierungsversuchen eine philosophische Abmagerungskur durchlaufen, ist aber gerade in seiner „Hauptproblemzone“, rund um seine metaphysische Leibesmitte, mitnichten abgespeckt. Der Naturalismus hat seinem naturalistischen ens perfectissimum nur einen etwas stärker kaschierenden philosophischen „Begriffsschlabberlook“ umgehängt. 2.2 Das Übernatürliche in Spurenelementen? Wenn der Begriff Natur für den Naturalisten zumindest implizit derart metaphysisch aufgeladen ist, was besagt das dann für den Begriff Leben, der doch als Unterabteilung des Naturbegriff geführt wird? Partizipiert der Begriff Leben als belebte Natur an der Metaphysikalisierung der Natur? Und wenn ja, in welcher Weise tut er das? Ist es „schlimmer“, Leben mit Gott als dem Schöpfer in Verbindung zu bringen als es zur Unterabteilung einer quasi-divinisierten Natur zu erklären? Selbstverständlich kann der Naturalist mit verspätetem Lapla‑ ce’schen Stolz sagen: Ich brauche die Zusatzannahme Gott nicht. Sein argumentatives Gegenüber kann aber nicht minder selbstver142 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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ständlich sagen: Ich brauche die Metaphysikalisierung der Natur nicht; ich brauche eine die Natur stillschweigend divinisierende Zusatzannahme nicht. Gegen die naturalistisch erfassbaren Vor- oder Nachteile der Religiosität, wie sie etwa die Soziobiologie im Renaturalisiserungsbestreben alles Religiösen aufzuzeigen versucht, muss sich die Theologie nicht wehren, die ihr eigenes inkarnatorisches Proprium ernst nimmt. Es ist für eine Religion wie das Christentum völlig in Ordnung anzunehmen, aus seiner Annahme eines übernatürlichen Lebens resultiere eine evolutionstheoretisch beschreibbare natürliche Prämierung oder Reprimierung. Es ist aber nicht in Ordnung anzunehmen, die Religion stehe für nichts als das, oder sei nichts als das, was die naturalistische Verzweckung ihr zubilligt. Zweifelsfrei kann der Theologe den atheistischen Naturalisten nicht argumentativ widerlegen, aber er kann ihn in den Zustand selbstkritischer Nachdenklichkeit versetzen und auf seine Argumentationsoffenheit setzen. Dass bestimmte Formen des Naturalismus die Theologie argumentativ beerben und ihr Vermögen anderen, und zwar eigenen Zwecken zuwenden möchten, ist offensichtlich.21 Ob es mehr ist als der Versuch der Erbschleicherei, das ist allerdings sehr fraglich. Der Naturalismus, der sich das Phänomen Religiosität umfassend einverleiben will, wird zur stark übergewichtigen Wirklichkeitslehre mit tödlichem Infarktrisiko. Wenn für einige Naturalismen im Radius ihrer standortbedingten Perspektive die Religiosität nicht oder als ausschließlich naturalistisch erklärbare Einflussgröße vorkommt, heißt das nicht, dass im Horizont intellektueller Redlichkeit kein Platz sei für Religiosität, sondern nur, dass der kurzsichtigkeitsbedingte Radius einer philosophischen Denkschule nicht identisch ist mit dem Horizont intellektueller Redlichkeit. Kurzum, wer intellektuell redlich zu 21 Das ist besonders gut nachlesbar in den missionarisch-atheistischen Kampf-Publikationen der Giordano-Bruno-Gesellschaft.
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denken und zu forschen beabsichtigt, muss nicht zum naturalistischen Parteigänger werden. Viele Zeitgenossen werden die von Kant ganz im Sinne naturalistischer Denkvorgaben gemachte Aussage teilen, dass nicht nur das Denken allgemein, sondern auch unser theologisches Denken „mit dem kleinst-möglichen Aufwande des Übernatürlichen“22 auskommen müsse. Aber dann muss man wohl auch rein diagnostisch feststellen, dass umgekehrt der Naturalismus in seinem Denken mit dem größtmöglichen Aufwand des Natürlichen nicht hinkommen könne. Und indem er das bemerkt, versucht er sich als klandestiner metaphysischer Usurpator. Die einen sollen mit möglichst wenig an Übernatürlichem auskommen, die andern können mit möglichst viel an Natürlichem nicht hinkommen. Mir scheint beim Phänomen Leben ist in Bezug auf die Grundbedingungen seiner Entstehung und die Grundkategorien seiner Deutung mehr als nur das naturalistisch konzedierte und physikochemisch dechiffrierte Natürliche zu postulieren. Das kann man, wenn man will, übernatürlich nennen, insofern es das mit natürlichen Kategorien beschreibbare überschreitet. Übernatürlich wäre die mit naturwissenschaftlichen Kategorien nicht adäquat zu beschreibende Bedingung der Möglichkeit für das Natürliche. Bei aller theologischen Bescheidenheit gegenüber dem naturalistischen Weltbild ist doch festzuhalten: Die avisierte naturalistische Entzauberung des Menschen nimmt sich eher aus wie eine anders gelagerte Wiederverzauberung. Wer nicht sagen kann, was Natur ist, noch wer oder was der Mensch oder was das Leben ist, wie soll man dem den naturalistisch dogmatisierten Glaubenssatz glauben, Leben, einschließlich des Menschen, sei nichts als ein physikochemischer Prozess bzw. der Mensch sei nichts als Natur? Mit dem ungeklärten und unausgeschöpften, mit dem vielleicht 22 Kant, I.: Kritik der Urteilskraft § 81, Hrsg.: Weischedel, W., Frankfurt a. M. 3. Aufl. 1997, S. 381.
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unklärbaren und unausschöpfbaren Naturbegriff holt sich der Naturalismus das trojanische Pferd der Metaphysik in die angeblich uneinnehmbare naturalistisch umfriedete Stadt. Die Theologie kann mit dem Naturalismus dann ergebnisoffen diskutieren, wenn letzterer es sich um der intellektuellen Redlichkeit willen versagt, für seine philosophisch-weltbildhaltigen Aussagen eine naturwissenschaftliche Gewissheit zu erschleichen und die eigenen metaphysischen Voraussetzungen zu leugnen. Die Theologie wird in diesem Diskurs gewiss ein Lernpensum erhalten, kann ihrerseits aber nicht minder gewiss ein Lehrstück geben. Der Theologie ist angesichts solcher Naturalismen, angesichts mancher sich als metaphysikfrei gerierender verkappter Metaphysiken, angesichts mancher naturalistischen Welterklärungshochstapelei mehr Vertrauen in die Kraft der eigenen Argumente und daraus resultierend eine größere, sachangemessene Verblüffungsfestigkeit im Diskurs zu wünschen. Wer Natur zum Ein und Alles macht, kann vielleicht persönlich gottlos werden, nicht aber intellektuell Gott loswerden. In Anlehnung an ein Wort von Leszek Kolakowski ließe sich sagen: Der Naturalist glaubt, dass er weiß; der Theist weiß, dass er glaubt. Ein zugleich alles umfassendes, alles durchdringendes und Natur übersteigendes ist thematisch oder unthematisch beiden gegeben.
3. Leben – synthetisch Gibt es derzeit selbständig agierendes Leben, das im Vollsinne und umfassend als künstlich zu deklarieren ist? Gibt es also im strengen Sinne eine „Synthetische Biologie“? Es gibt die Synthetische Biologie (noch) nicht als eigenständiges Fach sondern bisher nur als eine Fächer verbindende und die Forschung bündelnde Leitidee. 145 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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Kann man annehmen, dass dieses sich noch erst konstituierende Fach die hochgesteckten Ziele erreicht? Das bisher Erreichte kann bei aller Wertschätzung der Einzelergebnisse auch nicht ehrlicherweise und ernsthaft als Konstituierung künstlichen Lebens deklariert werden. 3.1 Drei Ansätze der Synthetischen Biologie Die Synthetische Biologie verfolgt derzeit drei Ansätze23: 1. Das Chassis-Modell: es wird gegenwärtig an Bakterien und Viren erprobt: „Das Genom eines bestehenden Lebewesens wird in einem ‚Top-down‘Ansatz auf ein Minimum reduziert, so dass das Lebewesen unter Laborbedingungen gerade noch über die allernotwendigsten Komponenten verfügt, die eine minimale Permanenz des Systems und einen elementaren Stoffwechsel erhalten. In diesen Minimalorganismus sollen gezielt synthetische Module eingebaut werden, so dass das Lebewesen die gewünschten neuen Funktionen erfüllt, z.B. einen bestimmten Stoff produziert.“
Man reduziert im ersten Schritt ein vorhandenes Virus oder Bakterium und lernt so im Falle des Bakteriums etwas über die Minimalbedingungen eines selbständigen Lebewesens bzw. im Falle des Virus über die Minimalbedingungen eines Parasiten auf genetischem Niveau. Und dann stattet man das Chassis, diesen grundlegenden Montagerahmen, mit neuen wissenschaftlich oder wirtschaftlich interessanten Extras aus.24
23 Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich (EKAH).3. Synthetische Biologie als Arbeitsfeld mit unterschiedlichen Zielen und Methoden. S. 8. 24 Vgl. Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW). Von der Gentechnologie zur Synthetischen Biologie – neue Chancen, neue Risiken? SATW S. 24.
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2. Das Lego-Modell: Hier „sollen Biobricks – definierte funktionelle DNA-Abschnitte – in einem ‚Bottom-up‘-Ansatz zusammengesetzt werden, um neue Arten von Lebewesen zu erzeugen. Chemische Systeme werden schrittweise so aufgebaut, dass sie bestimmte Eigenschaften von Lebewesen aufweisen. Bei diesem Modell kommt eine Technik zur Anwendung, die nicht auf bereits vorhandenen Lebewesen aufbaut und die deshalb über die Gentechnik hinausweist. Sie wird auch als ‚absolute Synthetische Biologie“ bezeichnet.“25
Man stellt auf bekanntem molekularbiologischem Wege gewissermaßen die Ziegel her, die variabel zu einem bislang noch nicht dagewesenen Gebäude, sprich letztlich einem neuen Organismus, kombiniert werden können. 3. Die Synthese von DNA-Sequenzen: Darunter versteht man „z.B. das Zusammenfügen neu entworfener oder bereits existierender Sequenzen“, also eigentlich die konservativste Form von Synthetischer Biologie, die im Grunde eher eine fortgeführte Gentechnik ist.26 3.2 Erste Ergebnisse Die computergestützte biochemische Zusammenstellung eines bakteriellen Minimalgenoms und seine Transferierung bzw. Implantierung in eine bakterielle Zellhülle durch J. Craig Venter und Mitarbeiter entspricht dem dritten und konservativsten Forschungsansatz. Sie kann als so gelungen bezeichnet werden, dass eine Vermehrung dieser Bakterien möglich wurde. Venter und Mitarbeiter benutzten dabei das über eine Million Basenpaare umfassende Erbgut eines Laborstammes von Mycoplasma mycoides, das 25 EKAH S. 8 ähnlich SATW S. 20. 26 EKAH S. 8.
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sie aus den chemischen Grundkomponenten selbst synthetisierten und dann in ein DNA-freies Bakterium der Art Mycoplasma capricolum übertrugen. Die „neue“ Art nannte Venter Mycoplasma mycoides JCVI-syn1.0. In Anbetracht der Tatsache, dass bei diesem Versuch die bakterienüblichen vier Basen Verwendung fanden, das Plasma der Bakterienzelle aber aus dem natürlichen Milieu stammte, wird man von einer an der Natur orientierten Rekonstruktion oder Neukonstruktion eines Bakterien-Lineoms sprechen müssen. Eine zuvor durch Entzug des Erbguts devitalisierte (aber nicht getötete) Bakterienzelle hat man revitalisiert. Diese Revitalisierung ist aber keine Vitalisierung.27 Was hier geschieht, gehört eigentlich in die Kategorie Gentechnologie und streng genommen nicht in die Kategorie Synthetische Biologie, auch wenn sie sich aus Marketing-Gründen gern in die letztere eingeordnet wissen möchte. Anders liegen die Dinge bei den Versuchen, die Rupert Mutzel von der FU Berlin mit französischen und niederländischen Kollegen unternommen hat. Hier wurden zwar die üblichen Basen Adenin, Guanin und Cytosin verwendet, die Base Thymin allerdings durch das in der Natur nicht verwendete, eher toxische 5-ChloroUracil ersetzt. Damit wurde über ca. tausend Bakteriengenerationen auf dem Wege quasi-natürlicher Selektion ein Organismus mit einem künstlichen und nicht naturidentischen Grundbaustein konstituiert, der zur Realisierung seines Stoffwechsels Thymin nicht mehr benötigte. Damit möchte man einerseits das Element des Synthetischen verstärken und seine Identifikation sichern, andererseits aber auch sicherstellen, dass Bakterien mit diesem teilsynthetischen genetischen Design, die unbeabsichtigter Weise aus dem Labor freigesetzt werden könnten, in freier Natur nicht überlebensfähig sind.
27 SATW S. 19.
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Das Leben – natürlich, übernatürlich, künstlich? „Wenn es gelingt, die Synthetische Biologie nicht nur mit physikalischen Sicherheitsbehältern, sondern auch durch ‚molekulare Inkompatiblität‘ von der natürlichen Welt zu trennen, ist dies für die Minimierung der Risiken ein großer Erfolg. Skeptiker befürchten, dass dieser Ansatz andere potentielle Risiken birgt – etwa die Hybridisierung der molekularen Welten oder eine allfällige Invasion der Natur durch künstlich erzeugte Organismen.“28
Es zeigte sich allerdings, dass einige dieser Bakterien auch wieder auf die Nutzung von Thymin umschwenken können, die Sicherheitsbarriere also zumindest derzeit noch Lücken aufweist. Der französische Kollege von Rupert Mutzel, Phillipe Marliere hat bereits ein Biotechnologieunternehmen mit Namen „Heurisko“ gegründet, das diese Form von „automatisierter Evolution“ vermarkten soll.29 Wie soll man das bisher Erreichte benennen? Es ist ganz ohne Frage und im strengen Sinne kein synthetisches Leben. Was bisher erreicht wurde, gehört noch immer in den Bereich der Gentechologie. Es kann, insofern künstliche Erbsequenzen mit natur-unüblichen Substanzen herangezogen werden, nicht als eine „Organspende auf subzellulärem Niveau“ angesehen werden. Es ist etwas anderes als der Transfer eines natürlichen Organells in das natürliche Zytoplasma einer anderen Zelle. Es ist nicht mehr wie etwa bei der Klonung via Kerntransfer, eine Kombination natürlich vorkommender biologischer Entitäten. Man könnte diese Veränderung des Erbguts mit teilweise künstlichen Substanzen und teilweise künstlichen Sequenzen als eine Art molekulargenetische Prothetik auf zellulärem Niveau, als eine Art Zytoprothetik ansehen und bezeichnen. Sie hilft – wie die Prothetik allgemein – gegebene Lebensvollzüge trotz eines partiellen Funktionsausfalls zu realisieren, ist aber nicht selbst die Quelle die28 SATW S. 22. 29 Friebe, R.: Synthetische Biologie. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 28. VI. 2012.
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ser Lebensvollzüge. Auch das Kunstherz macht den Patienten nicht lebendig, es erhält ihn lebendig; es schafft nicht sein Leben, sondern bewahrt ihn im Leben. Wie weit eine Prothetik gehen, wie vielgestaltig sie sein, wie perfekt sie werden kann, ist noch nicht abzusehen. Prinzipielle Grenzen sind nicht in Sicht. Aber mit ihrer Perfektionierung einer Zytoprothetik stellt sich, an Bakterien und Viren schon jetzt, an höheren Lebewesen vielleicht schon bald die Frage neu: Was ist Leben im Unterschied zum Unbelebten, wo ist im Komplexifikationsprozess der Materie der Rubikon der Bionisation. Davon abweichend lebt aber zumindest das Lego-Modell der Synthetischen Biologie von der Hoffnung, dass die weitgehend perfektionierte und umfassende Prothetik nicht nur Leben bewahrt, sondern Leben generiert, ja selbst Leben ist. Hier verrichtet der Goethesche Prometeus seine ersten Übungen an Bakterien und das Ziel ist ebenfalls mit Goethe so zu benennen: „Hier sitz ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, zu weinen, Genießen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich.“30
So schafft der Menschen machende Prometheus seinen Protheteus, und so wird aus dem Prometheus der sich selbst optimierende Protheteus.
30 Goethe, J.W.: Prometheus. Zitiert nach Echtermeyer, Theodor/ von Wiese, Benno: Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neubearbeitung Düsseldorf 1966, S. 186 f.
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3.3 Versuch einer theologischen Einordnung Wie aber wäre es theologisch einzuordnen, wenn die Synthetische Biologie es auf dem Wege eines schrittweisen Nachbaus biologisch relevanter Module und Regelkreise schaffte, aus definitiv unbelebten Grundbausteinen einen z.B. einzelligen synthetischen Organismus zu schaffen? Dabei sei es zunächst als unerheblich eingestuft, ob es sich um einen streng zielführend durchgedachten und durchgeführten Prozess oder um einen über unprognostizierbare Systemeigenschaften, Fulgurationen oder Emergenzen glücklich entstandenen „Zufallstreffer“ handelt. Der erste zentrale Glaubenssatz im Nizänokonstantinopolitanum wie im Apostolikum spricht von Gott, dem „Vater“, dem „Allmächtigen“, dem „Schöpfer des Himmels und der Erde“. Dieser Satz von der absoluten Schöpfermacht Gottes bleibt unangetastet trotz des Umstands, dass der Mensch z.B. auf dem Wege der natürlichen Zeugung oder durch In-Vitro-Fertilisierung und Embryo-Transfer oder durch Klonung Leben, das er selbst empfangen hat, weitergeben kann. Schließlich verdanken sich die biologischen und intelligiblen Potenzen, die diesen Prozess ermöglichen, dem stets primären und in jedem Fall zuvorkommenden Schöpfungshandeln Gottes. Die Maxime „Alles Leben für den Menschen aber nichts durch den Menschen“, existiert m.E. auch für den Rubikon zwischen Unbelebtem und Belebtem nicht. Wenn man dem Wort von Teilhard de Chardin folgt, Gott macht eine Welt, die sich macht, dann hat diese sich machende Welt den Schritt von Unbelebten zum Belebten in evolutiver unbewusster Eigenregie vollzogen. Warum sollte es der bewussten Eigenregie versagt sein, das unbewusst Vorgemachte bewusst nachzumachen? Damit ist allerdings rein gar nichts gesagt über die sittliche Erlaubtheit oder gar Empfehlbarkeit der genannten reproduktionsbiologischen, gentechnischen oder synthetisch-biologischen Mög151 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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lichkeiten; denn das Gekonnte ist nicht gleichbedeutend mit dem Gesollten oder Gewünschten. Aber an dieser Stelle wäre dann ein ethischer und nicht ein fundamentaltheologisch-dogmatischer Diskurs erforderlich. Es gibt keinen Glaubenssatz, der diesen ersten Satz von der absoluten Schöpfermacht Gottes dahingehend ergänzte, dass er eine mögliche, durch De-novo-Synthese ermöglichte Lebensentstehung unter der Federführung und in der Verantwortung des Menschen ausschlösse. Gottes Allmacht umschließt die creatio originalis, die unmittelbar und allein Werk Gottes ist, und die creatio continua, in der nicht nur der Mensch, sondern alle Geschöpfe mit unterschiedlichen Reichweiten mitschöpferisch tätig sind. Auch die bisher nirgends in Reichweite befindliche, aber immerhin denkbare De-novo-Synthese eines einzelligen, als tierisch oder pflanzlich einzuordnenden und belebt zu nennenden Systems wäre nicht als ursprüngliche creatio originalis sondern als Mitwirkung im Kontext der creatio continua zu werten; denn sie bedarf dessen, auf das sie, ohne es selbst gemacht zu haben, zurückgreifen kann. Sie ist positiv bestätigende und verstärkende Mitwirkung oder negativ gefährdende und infrage stellende Gegenwirkung zum Schöpferwerk Gottes. Eine schöpfungstheologische Faustformel, die da lautet, „Der Rubikon zwischen Unbelebtem und Belebten kann nur von Gott überschritten werden!“, ist zwar im Blick auf biblische Texte gelegentlich von Theologen geäußert worden,31 fundamentaltheologisch und dogmatisch begründet ist sie nicht. Es ist denkbar, dass Gott seine mitschöpferischen Geschöpfe diesen Rubikon einer De-novo-Synthese von Leben überschreiten lässt. Der theologische Vorbehalt, das sei „ausschließliche Chefsache“, ist nicht zwingend.
31 So z.B. von Scheffczyk, L.: Evolution und Schöpfung. In Spaemann, R./ Löw, R./ Koslowski, P.: Evolutionismus und Christentum. Weinheim 1986, S. 66
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Es könnte allerdings sein, dass uns die Synthetische Biologie – den Erfolg ihres Projekts einmal vorausgesetzt – zum Essen vom Baum einer Erkenntnis wird, in deren Gefolge uns die Zeit vor der Tat wie das Paradies und die Zeit nach der Tat wie die selbst veranlasste oder selbst verschuldete Vertreibung aus demselben vorkommen wird. Das Gelingen wie das Misslingen des eigenen Lebensentwurfs wie des von Gott gegebenen Schöpfungsauftrags gehört aber zu den Möglichkeiten des Menschen, vielleicht gar zu den Bedingungen der Möglichkeit für Menschsein. Der Mensch ist zugleich Objekt und Subjekt der Genesis. Es könnte sein, dass wir es wieder zu tun haben mit der altbekannten Hybris des Geschöpfes, sich zum allein maßgebenden und richtungweisenden Schöpfer aufzuwerfen. Der Mensch ist vom Schöpfer in einem noch unabsehbaren Spektrum von Möglichkeiten zum Mitschöpfer ermächtigt. Seine eigene unhintergehbare, unabstreifbare geschöpfliche Bedingtheit wird nicht dadurch zur schöpferischen Unbedingtheit, dass er einige seiner ihn selbst konstituierende Bedingungen zu variieren in der Lage ist.
4. Fazit oder Ausblick Am Anfang haben wir bei der Frage nach dem, was Leben ist, den monistisch-materialistischen Mechanizismus und den dualistisch orientierten (Neo-)Vitalismus einander gegenübergestellt. Vor dem Darwinismus, der kurz gesagt mittels zufälliger Mutation und notwendiger Selektion die Evolution erklärte, gab es den Lamarckismus, der die Annahme einer Vererbung erworbener Eigenschaften als Erklärung anbot. Jean Baptist de Lamarck konnte seine Theorie damals nicht mit biologischen Belegstücken untermauern, und so schied der Lamarckismus aus dem Kanon der akzeptablen Evolutionstheorien aus. Heute aber taucht er, und 153 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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zwar in der Modifikation, die uns die Epigenetik liefert, im möglichen Spektrum des biowissenschaftlich Denkbaren wieder auf, und zwar ohne das zu bestreiten, was am Darwinismus richtig ist. Es könnte sein, dass genau dann, wenn sich der mechanistischabschließende Schlusstein im Gewölbe der Lebensentstehung auf Seiten der Synthetischen Biologie nicht einstellt, die wegen ihrer fehlenden biologischen Präzision angeblich überwundenen vitalistischen Theorien in neuem Gewande wieder auftauchen, wie der modifizierte Lamarckismus auf dem Wege der Epigenetik. Es könnte sein, dass uns die im Gefolge des Philosophen Henry Bergson „elan vital“ und die im Gefolge des Entwicklungsbiologen und Naturphilosophen Hans Driesch „vis vitalis“ genannte und später ad acta gelegte Kategorie mit dem Auftreten der Synthetischen Biologie zur Wiedervorlage präsentiert wird. Es ist eine „alt-ehrwürdige“ Erfahrung der Theologie, dass die wirklich „guten Häresien“ immer wieder auftauchen, weil sie eine hohe Erklärungskraft haben, weil sie den Finger in die Wunde der nicht zu Ende gedachten Orthodoxie legen und so einen wichtigen Betrag zur Entwicklung der Theologie leisten. Die Selbstimmunisierung der Orthodoxie durch Ausweisung und Ausgrenzung abweichender Theorien und deren Verketzerung als Heterodoxie, ist in der Theologie ganz sicher und in der Biologie höchstwahrscheinlich eine selbst veranlasste Entwicklungsbehinderung. Man unterschätze nicht den zumindest heuristischen Wert von theologischen und naturwissenschaftlichen Heterodoxien. Könnte es sein, dass uns die Synthetische Biologie – den Erfolg des Projekts einmal vorausgesetzt – in die Situation des Goetheschen Zauberlehrlings versetzt, der sich teils sachkundig und zunächst vollmundig ans für ihn noch unüberschaubare Werk begibt: „Hat der alte Hexenmeister Sich doch einmal wegbegeben! Und nun sollen seine Geister Auch nach meinem Willen leben!
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Das Leben – natürlich, übernatürlich, künstlich? Seine Wort und Werke Merkt ich und den Brauch, Und mit Geistesstärke Tu ich Wunder auch.“
Und am Ende kann derselbe Zauberlehrling nur noch verzweifelt rufen: „Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, Werd ich nun nicht los.“32
Wenn das Projekt der Synthetischen Biologie, also neuartige, gänzlich künstliche Formen von Leben hervorzubringen, gelänge, dann wäre sie nicht dispensiert von der Beantwortung der Grundfrage: Was ist Leben? Ist es zu schützen, und wenn ja, warum und wie? Dann wäre der moralische Status dieser künstlichen Lebewesen zu klären. Höchst wichtig erscheint aber eine das Was-wäre-Wenn schon jetzt durchspielende ethische Bevorratung, damit wir wissen können, was medizinisch, ethisch, juristisch zu machen ist, wenn es zu dem kommt, was die Synthetische Biologie machen will, und ob wir sie das (mit uns) machen lassen sollen. Manchmal hilft auch bei der Biologie ein Blick in die Geschichte, um mit Vorhaben, Behauptungen und Zumutungen souveräner umgehen zu können. Angesichts der vor fünfzig Jahren propagierten wissenschaftlichen Vorhaben und Zukunftsprognosen und ihrer Realisierung könnte es leichter werden, auch die heutigen Vorhaben und Prognosen auf das Maß des tatsächlich Machbaren und Menschlichen zu erden. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist es her, dass der Pharmakonzern Ciba 1962 sein weltberühmt gewordenes Londoner Symposion mit den, wie man damals glaubte, be32 Goethe, J.W.: Der Zauberlehrling. Zitiert nach Echtermeyer, Theodor/ von Wiese, Benno: Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neubearbeitung Düsseldorf 1966, S. 209 ff.
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deutendsten großenteils nobelpreisgekrönten Wissenschaftlern veranstaltete. Es mutet den heutigen Betrachter wie die frühe Neuzeit der Gentechnik an. Männer wie z.B. Sir Julian Huxley, Hermann Muller, Joshua Lederberg oder J.B.S. Haldane sahen sich in eine kosmische Schicksalsstunde hineinversetzt, in der der Mensch seine eigenen biologischen Voraussetzungen verändern, ja entscheidend verbessern könnte. Man glaubte durch genetische, auch humangenetische Eingriffe, und zwar nicht nur in somatische sondern auch in Keimbahnzellen die Menschheit und ihre Überlebensbedingungen optimieren zu können, zu dürfen, ja zu sollen.33 Dabei wollte man in abenteuerlicher Überschätzung der neuen Möglichkeiten nicht nur biologische, medizinische und soziale Mängel des Menschen auf gentechnische Weise abstellen, sondern auch ganz neue Typen von Menschen für neue Funktionskontexte konstituieren. Der Physiker und Kommunikationswissenschaftler Donald McKay hatte angesichts der ersten, damals als höchst verheißungsvoll klassifizierten Morgenröte humangenetischer Experimente das weise Wort gesprochen: „Wir müssen uns außerdem mit einer technischen Schwierigkeit abfinden, die jedem Vorschlag, die menschliche genetische Konstitution selbstregelnd zu machen, entgegensteht. Ich spreche von der Schwierigkeit das ‚Entwicklungsziel‘ bei fortschreitender Zeit vor Verschiebungen oder Schwingungen durch den Einfluss äußerer oder sogar innerer Faktoren zu bewahren. Nehmen wir beispielsweise an, dass ‚wir‘ (Biologen oder Politiker?) beschließen (und die Macht haben), der nächsten menschlichen Generation den Typ ‚X‘ zu geben. Soweit, so gut – viel-
33 Ausführliche Aufsätze und Diskussionsbeiträge der Nobelpreisträger Huxley, Haldane, Lederberg und Muller teils mit höchst abenteuerlicher Prognostik bei einem sich wissenschaftlich gebenden atemberaubenden Gewissheitsgehabe in Jungk, Robert/ Mundt Hans Josef: Das umstrittene Experiment: Der Mensch. Elemente einer biologischen Revolution. München/ Wien/ Basel 1966/ 1969, S. 31 ff., 277 ff., 292 ff., 367 ff.
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Das Leben – natürlich, übernatürlich, künstlich? leicht. Aber wenn wir sterben wird unser Platz wahrscheinlich von einem neuen Komitee eingenommen, das wahrscheinlich aus dem Typ ‚X‘ besteht. Nun ergibt sich die Frage, welche Art von Veränderungen diese Männer des Typs ‚X‘ für ihre Nachkommen für wünschenswert halten – und so fort bis in die ferne Zukunft. Wenn wir diese Frage nicht beantworten können, erwiese sich vielleicht die Einführung eines solchen Verfahrens als das glatte Gegenteil von Verantwortung, und zwar in jeder Auslegung dieses Begriffs. Es ist, kurz gesagt, absolut unmöglich, nach einer Orientierungsmarke zu segeln, die wir an den Bug unseres eigenen Schiffes genagelt haben. Wenn wir unsere wachsende eugenische Macht je richtig anwenden wollen, brauchen wir eine größere Weisheit als unsere eigene.“34
Diese mehr als fünfzig Jahre alte Einsicht hat ihre Gültigkeit bis heute nicht eingebüßt. Dieselbe Beobachtung anders formuliert: Auch die Präzisierung und Optimierung des naturwissenschaftlichen Kompass hilft dann nicht weiter, wenn der magnetische Pol, auf den er mit möglichst großer Genauigkeit zeigen sollte, selbst ständig wandert. Die Festlegung einer übergreifenden Zielvorgabe für die Synthetische Biologie ist kein Akt der rein naturwissenschaftlichen Rationalität, sondern der Akt einer philosophischen, ethischen oder theologischen Einsichtsfähigkeit, der Akt eines reflektierten theistischen, agnostischen oder atheistischen Glaubens, der uns sagt, was die Stunde geschlagen hat. Es mag sein, dass dieser reflektierte Glaube nur die Präzision einer Sonnenuhr hat und unserer nach Präzision hungernden Zeit entschieden zu wenig ist. Aber ohne einen offen gelegten, reflektierten Glauben, ohne einen metaphysischen Referenzrahmen wird alle wissenschaftliche Präzision sinn- und zwecklos. Sie wird zum Ablesen der Sonnenuhr mit der Taschenlampe unserer natur34 McKay, Donald in Jungk, Robert/ Mundt Hans Josef: Das umstrittene Experiment: Der Mensch. Elemente einer biologischen Revolution. München/ Wien/ Basel 1966/ 1969, S. 313.
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Ulrich Lüke
wissenschaftlichen Rationalität, hoch präzis und völlig beliebig, allem und jedem zu Diensten.
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Das Leben – natürlich, übernatürlich, künstlich? Kant, I.: Kritik der Urteilskraft § 81, Hrsg.: Weischedel, W., Frankfurt a. M. 3. Aufl. 1997 Kanitscheider, B.: Im Innern der Natur. Philosophie und moderne Physik. Darmstadt 1996. Kolakowski, Leszek: Falls es keinen Gott gibt. München/ Zürich 1982. Krings, H./ Baumgartner, H. M./ Wild, C. (Hrsg.): Handbuch Philosophischer Grundbegriffe Bd. 4, München 1973. Lorenz, Konrad: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens. München 6. Auflage 1982. Lorenz, K.: Der Abbau des Menschlichen. München/ Zürich 1983. Lüke, U.: Evolutionäre Erkenntnistheorie und Theologie. Eine kritische Auseinandersetzung aus fundamentaltheologischer Perspektive. Stuttgart 1990. Lüke, U.: Bio-Theologie. Zeit, Evolution, Hominisation. Paderborn 2. Auflage 2001. McKay, Donald in Jungk, Robert/ Mundt Hans Josef: Das umstrittene Experiment: Der Mensch. Elemente einer biologischen Revolution. München/ Wien/ Basel 1966/ 1969. Scheffczyk, L.: Evolution und Schöpfung. In Spaemann, R./ Löw, R./ Koslowski, P.: Evolutionismus und Christentum. Weinheim 1986. Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW). Von der Gentechnologie zur Synthetischen Biologie – neue Chancen, neue Risiken? Streiflichter über eine gemeinsame Tagung der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz und der Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften. Bern 2010. Vitalismus aus Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Vitalismus#cite_note-0) 20.08.2012. Vollmer, G.: Gott und die Welt. Atheismus, Metaphysik, Evolution In: Aufklärung und Kritik 3/ 2010.
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Natürlichkeit und Künstlichkeit Bemerkungen zur ethischen Problematik der Manipulierbarkeit des humangenetischen Substrats Jan Szaif
In meinen Ausführungen werde ich zuerst typologisch drei unterschiedliche antike Positionen zu den Begriffen Leben, Natürlichkeit und Künstlichkeit beschreiben, nämlich die platonische, die atomistische und die aristotelische Position, nicht zuletzt um gängigen Vereinfachungen des vormodernen Diskussionsstandes entgegenzuwirken. In einem zweiten Teil werde ich auf eine ethische Problematik eingehen, die sich in unserer Gegenwart aus den Möglichkeiten der künstlichen Manipulation des menschlichen Genoms ergibt. Dabei werde ich auch auf bestimmte begriffliche Ressourcen aus der Tradition der aristotelischen Ethik zurückgreifen, jedoch (selbstverständlich) ein der modernen Biologie gemäßes Verständnis von Vererbung und Ontogenese voraussetzen.
1. Drei philosophische Konzeptionen des Lebens und des Künstlichen im griechischen Denken Die Antithese von Natürlichem und Künstlichem geht auf das Begriffspaar physis und technê im griechischen Denken zurück. Der antike Begriff des Natürlichen ist zwar auch noch durch andere Gegensätze maßgeblich bestimmt. Zu nennen wären insbesondere der Gegensatz von Natur und Konvention oder menschlicher Sat161 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Jan Szaif
zung (nomos) sowie der von Natürlichem und Unnatürlichem (to para physin). Mein Augenmerk gilt hier aber dem erstgenannten Gegensatz. Beginnen wir darum mit einer Vorbemerkung zum Begriff der technê: Begriffsgeschichtlich ist dies der Vorgängerbegriff zu unserem Begriff der Kunst, vermittelt über den lateinischen Begriff der ars. Andererseits liefert er auch die etymologische Wurzel für Ausdrücke wie „Technik“ und „technisch“. Zwischen Kunst und Technik wird heute oft ein Gegensatz wahrgenommen, was mit spezifisch neuzeitlichen Entwicklungen des Kunstbegriffs zu tun hat. Der ältere Kunstbegriff findet sich etwa noch in der Rede von der „ärztlichen Kunst“. Hier ist, wie im antiken technê-Begriff, ein bestimmtes technisches Können gemeint, welches sich nicht in starrer Regelanwendung erschöpft, sondern auch das Augenmaß für den Einzelfall erfordert. Die Rede vom Künstlichen hat eine andere Färbung, da hier die Antithese zum Natürlichen den Begriffsgehalt bestimmt. Jedoch ist auch in diesem Fall der Zusammenhang mit dem alten technê-Begriff sehr viel deutlicher als im Falle der sogenannten schönen Künste, bei denen eine Form spezifisch ästhetischer Sensibilität zum Begriffsgehalt gehört. Wenn wir nun den Ursprung der Antithese zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen etwas genauer analysieren wollen, so müssen wir uns dabei vor Augen halten, dass das griechische Denken weder durch einen einheitlichen Natur-, noch durch einen einheitlichen Lebensbegriff zu charakterisieren ist. Betrachten wir zuerst die platonische Form dieser Antithese und des damit verknüpften Lebensbegriffes. Im griechischen Denken allgemein, und so auch bei Platon, ist der Begriff des Lebens eng mit dem der Seele (psychê) verbunden. Gemäß Platon ist Leben das Wesensmerkmal der Seele, die durch ihre Gegenwart Körper belebt. Definierend für die Seele, und damit auch für das Leben, ist die Fähigkeit zur Selbstbewegung (Phdr. 245C-E, Legg. X, 893B-896C). Nur was Seele ist, kann Bewegung durch Selbstbewegung initiieren. Die Bewegung der Seele ist zuerst 162 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Natürlichkeit und Künstlichkeit
psychischer Natur, was im Sinne von Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken zu verstehen ist. Körperliche Bewegung wirkt auf das innere seelische Leben ein (in Form von unmittelbaren Sinneseindrücken, Schmerzempfindungen und dergleichen), wird aber von der Seele und ihren Urteilsfunktionen aktiv verarbeitet und dann in selbstgesteuerte, volitionale Körperbewegungen umgesetzt.1 Die eigentliche Bestimmung der Seele ist geistiges Leben in direkter kognitiver und volitionaler Hinordnung auf unkörperliche, ewige Realitäten bzw. Wahrheiten.2 Die moderne Perspektive auf das Leben, gemäß der die biologischen Funktionen die basale Lebensform sind, stellt in der Sicht der Platoniker die tatsächlichen Verhältnisse gewissermaßen auf den Kopf, da für sie geistlose Formen des Lebens lediglich inferiore Manifestationen des Seelischen sind. Der Körper behindert die Aktivität der Seele, weshalb die Selbstwerdung einer eingekörperten Seele stets die Form einer Selbstbehauptung gegen das Körperliche haben muss.3 In dieser spezifischen Perspektive ist das, was wir als das Biologische bezeichnen, lediglich das Resultat einer unglücklichen Verbindung des Seelischen (oder intrinsisch Lebendigen) mit dem Materiellen – einer Verbindung, die bei Platon mythologisch auch als eine Form von Bestrafung dargestellt wird. Dieses negative Verhältnis von Leben und Körperlichkeit stellt für Platon aber nur die eine Seite dieser Beziehung dar. Seele ist auch in der Verantwortung für das Körperliche, und zwar als die Quelle von Ordnung und Regelmäßigkeit in der Welt des Körperlichen.4 Seele übernimmt die Sorge und Sachwalterschaft für das Körperliche nicht nur als Weltseele, sondern auch in Gestalt jener 1 Vgl. hierzu auch Tht. 184B-186E. 2 Siehe u. a. Phd. 65d-67e, Rep. 489e-490b, 514a-519b, Phdr. 246a-257a, Tht. 173d177b. 3 Vgl. Phd. 66b-67d, 82e-83e, Tim. 42e-44c. 4 Der locus classicus für diese These ist Phdr. 246BC.
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vielen Einzelseelen, die je nur einen begrenzten Bereich des Körperlichen beherrschen. Für die Naturphilosophie Platons ist insbesondere der Begriff der Weltseele maßgeblich. Es ist dieser Präsenz des Geistig-Seelischen zu danken, dass sich im Kosmos Ordnungsstrukturen vorfinden, die sich mit mathematischen Modellen beschreiben lassen. Platon verwendet verschiedene Darstellungsformen, um das Vorhandensein geordneter, mathematisch beschreibbarer Bewegung im Kosmos zu erklären. Die berühmteste ist die Gestalt des Demiurgen (göttlichen ‚Handwerkers‘) im Timaios. Für unsere Zwecke ist dabei besonders der Gegensatz von zwei Entwicklungsstufen des Kosmos von Interesse: Der (vielleicht nur hypothetisch angenommene) ursprüngliche Zustand ist der eines Chaos, in dem sich die vorhandenen Körper gemäß einer ungesteuerten mechanistischen Wirkursächlichkeit bewegen, die noch nicht bestimmten quantifizierbaren Mustern folgt. Der Zustand, der aus dem schöpferischen Eingriff des Demiurgen resultiert, ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass der Kosmos im ganzen beseelt worden ist (was sich in den mathematisch geordneten Bewegungen der Himmelskörper ausdrückt) und dass auf der elementaren Ebene mathematische Transformationsgesetze obwalten, die eine Folge der exakten Geometrie der Elementarkörper sind.5 Natur erweist sich damit als ein Produkt göttlicher Kunst, die aus einem Stofflichen, das der rationalen Fassbarkeit entbehrt, etwas Mathematikkonformes und vom Geistig-Seelischen Durchherrschtes geschaffen hat. Aufgrund der Eigenmächtigkeit der chaotischen Tendenzen des stofflichen Substrates hat diese kunstvolle Ordnung jedoch nur den Charakter eines Kompromisses. 5 Die numerischen Gesetzmäßigkeiten der Elemententransformation, die sich aus der Geometrie der Elementarkörper ergeben, werden in Tim. 56d‑e angesprochen. Im chaotischen Urzustand mangelt es den Grundstoffen noch an jenen exakten Proportionen (53a‑b, vgl. 53b-56b).
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Natürlichkeit und Künstlichkeit
Als göttliches Kunstwerk kann die Natur nicht vollkommen sein, da das Material hierzu Perfektion nicht ermöglicht.6 Platon hat die Frage des Verhältnisses von Natur und Technik oder Kunst auch im 10. Buch der Nomoi erörtert. Wir begegnen hier ausdrücklich der im Timaios nur implizit vertretenen These, dass der Kunst (technê) der Vorrang gegenüber dem Wirken der Naturelemente gebühre, da die (gemeinhin so genannte) ‚Natur‘ selber im wesentlichen nichts anderes als das Produkt göttlicher Kunst sei (892a-c). Während die fürsorgliche Herrschaft der Vernunft über das Materielle für den Kosmos als ganzen auf einem sicheren Fundament steht, müssen eingekörperte menschliche Seelen ihre Herrschaft über das Körperliche mühsam erringen (und scheitern oft genug). Die Funktionen unserer Körperorgane werden im Timaios nach technischen Analogien beschrieben, wobei das Ziel dieses demiurigischen Werkes die Ermöglichung der Vernunftherrschaft ist. Gleichwohl hat unsere Vernunft enorme Widerstände zu überwinden (vgl. Tim. 42e-44c, 90c-d), um ein vernunftgeleitetes Leben in einem Körper zu realisieren. In gewisser Weise kooperieren wir dabei mit dem göttlichen Handwerk, nämlich insofern es unsere Aufgabe ist, die von den göttlichen ‚Handwerkern‘ intendierte seelische Ordnung in uns wieder herzustellen. In diesem Sinne kann man sagen, dass unsere Natur für Platon nicht nur ein Produkt göttlicher Kunst, sondern uns zugleich aufgegeben ist als etwas, das nicht ohne unser kongeniales Mitwirken zur Vollendung kommen kann. Diese Vorstellung von der menschlichen Aufgabe informiert auch Platons Konzeption des Politischen. Menschliche Natur 6 Rep. 529a-30c, Tim. 29a-d, 47e-48b, 56c. – Vgl. zur Platonischen Naturteleologie z. B. J. G. Lennox, Plato’s Unnatural Teleology, in ders., Aristotle’s Philosophy of Biology. Studies in the Origins of Life Science, Cambridge 2001, 280-302; vgl. auch L. Honnefelder, Welche Natur sollen wir schützen?, Berlin 2011, 178-180.
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braucht zu ihrer Vollendung die geeigneten sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, weshalb die Staatskunst gänzlich auf dieses Ziel ausgerichtet sein sollte. Es fällt dem zeitgenössischen Leser unangenehm auf, wie Platon dabei Vorstellungen der Menschenzüchtung und Eugenik ohne Zögern aufnimmt.7 Man muss dies im Zusammenhang damit sehen, dass für Platon die stofflich-körperliche Natur aus sich heraus nur etwas Negatives, der ordnenden Kunst Widerstrebendes ist. Alles, was in dieser Natur gut ist, ist Wirkung göttlicher Kunst. Für die menschliche Spezies gilt allerdings, dass sie sich nicht ausschließlich auf diese naturschaffende göttliche Kunst verlassen kann, sondern zu ihrem Gedeihen auch der menschlichen technê, einschließlich der politischen Kunst, bedarf. Die Eugenik erscheint in dieser Perspektive als eine vernünftige Ausübung menschlicher Kunst unter der übergreifenden Zielsetzung menschlicher Selbstvervollkommnung, der es letztlich immer darum gehen muss, sowohl individuell als auch kollektiv die Vernunftbestimmtheit mensch‑ lichen Lebens zu ermöglichen. Dementsprechend steht die platonische Eugenik unter dem Ziel, den menschlichen Fortpflanzungsprozess so zu steuern, dass genügend Menschen mit günstigen Anlagen geboren werden, die bei geeigneter Erziehung die Vernunftherrschaft im politisch-kollektiven Rahmen langfristig sichern können. Betrachten wir nun als Kontrastfolie zu Platon den atomistischen Lebensbegriff, der vor-platonisch von Leukipp und Demokrit und 7 Vgl. hierzu Rep. 458D-461E; zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass Platon seine Argumentation zugunsten von Zuchtauswahl bei der sexuellen Paarung von Mitgliedern der beiden oberen Gesellschaftsklassen und Tötung minderwertiger Neugeborener mit einem Verweis auf die gängige Praxis der Züchtung von Jagdhunden und Kampfhähnen beginnt. Selbstverständlich verfügten die antiken Griechen noch nicht über Möglichkeiten des direkten Eingriffs in die Keimbahn, aber Züchtung ist eine auch schon in der Antike praktizierte Form der Manipulation der tierischen Keimbahn durch Selektion der Fortpflanzungspartner.
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nach-aristotelisch durch Epikur und seine Schule vertreten wurde. Gemäß dem Atomismus sind die grundlegenden Gegebenheiten die Atome mitsamt ihren basalen geometrischen und physika‑ lischen Eigenschaften sowie der leere Raum, durch den sich die Atome bewegen. Auf dieser fundamentalen ontologischen Ebene gibt es keine Objekte mit vitalen oder geistigen Eigenschaften. Leben und mentale Prozesse sind darum emergente Phänomene auf einem sehr viel höheren Komplexitätslevel, der die Kombination von Atomen mit unterschiedlichen Eigenschaften voraussetzt. Das Seelische ist nichts anderes als eine solche komplexe atomare Struktur, die ihrerseits nur Bestand haben kann im Verbund mit einer grobkörnigeren atomaren Struktur, die dasjenige konstituiert, was gemeinhin als der menschliche Körper bezeichnet wird.8 Die Grundeinstellung des Atomismus steht der modernen szientifischen Betrachtungsweise vergleichsweise recht nahe, insofern für sie natürliche Prozesse nie zielgesteuert sind. Die Evolution geistiger Wesen, die Ziele zu erfassen vermögen, versuchen sie als das Resultat einer spontanen, zufallsbedingten Genese zu erklären, und zwar mit dem Argument, dass in einer unendlichen Zeit und einem unendlichen Raum, durch den sich eine unendliche Menge heterogener Atome bewegt, auf der Grundlage mechanistischer Bewegungsgesetze irgendwann auch solche Komplexe spontan zustande kommen müssen, die biologische Funktionalität inklusive der Reproduktionsfähigkeit besitzen und, im Falle der 8 Vgl. zu dieser Thematik u.a. Epikur, Ep. Hdt., 63-68; Lukrez, De rer. nat. II, 865-990; III, 94-416. Wenn ich hier von ‚Emergenz‘ spreche, so in einem relativ unspezifischen Sinne; zur Debatte um die physikalistische Interpretation mentaler Akte und Zustände bei Epikur vgl. S. Everson, Epicurean Psychology, in K. Algra u.a. (Hgg.), The Cambridge History of Hellenistic Philosophy, Cambridge 2005, 542-559. Für die in wesentlichen Punkten ähnliche Seelenlehre Demokrits, des wichtigsten Vorläufers der Epikureer, vgl. die Übersicht bei C.C.W. Taylor, The Atomists. Leucippus and Democritus, Toronto 1999, 200-211.
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Menschen, sogar zu geistigen und kulturellen Leistungen fähig sind.9 Das menschliche Leben selbst hat (in der epikureischen Fassung des Atomismus) kein höheres Ziel als das eines stabilen Zufriedenheitszustandes, der aus der Fähigkeit der Schmerzvermeidung resultiert. Dieses Ziel zu verwirklichen ist Aufgabe der menschlichen Lebenskunst (technê tou biou, ars vitae), deren Vermittlung das Hauptanliegen der epikureischen Philosophie ist. Dieses Lebensziel ist dabei nicht, wie etwa bei Platon, aus höheren intellektuellen Prinzipien abgeleitet, sondern reflektiert die zwei natürlichen Grundimpulse, welche das menschliche Leben nicht weniger als das tierische bestimmen, nämlich Luststreben und Schmerzvermeidung10. Während das Leben also gewissermaßen ein Produkt von Zufall und Notwendigkeit ist, ergibt sich das Gut-Leben als Werk einer menschlichen Kunst, die sich an natürlichen Grundimpulsen orientiert.11 9 Zur epikureischen Theorie der Genese der natürlichen Arten vgl. Lukrez, De rer. nat. I, 1021-37; II, 1048-1174; IV, 823-57; V, 420-31, 772-1010. 10 Vgl. hierzu etwa die Ausführungen in J. Brunschwig, The Cradle Argument in Epicureanism and Stoicism (M. Schofield, G. Striker [Hgg.], The Norms of Nature, Cambridge 1986, 113-144), 115-22, die auch den dabei relevanten Naturbegriff beleuchten. 11 Ich verzichte hier auf einen Vergleich mit der stoischen Position, der vierten großen naturphilosophischen Lehre der klassischen griechischen Philosophie. In bestimmter Hinsicht stehen die Stoiker Platon nahe, nämlich insofern sie Natur ebenfalls als Ausdruck einer göttlichen technê (Kunst) betrachten sowie mit großem Nachdruck die Einheit des gelenkten Naturgeschehens betonen. (Der strikte Determinismus und Optimismus, den sie mit der Idee göttlicher Lenkung verbinden, wird jedoch von Platon so nicht vertreten.) Verschiedene andere zentrale Aspekte des stoischen Naturverständnisses sind dem stoischen System ganz eigentümlich. Dazu gehören der Grundsatz, dass jedes einzelne Lebewesen durch seine eigene, unverwechselbare Form individuiert wird sowie die Vorstellung von der Kontinuität belebter und unbelebter Objekte, die darin gründe, dass das einem Objekt jeweils inhärierende formgebende Pneuma nicht nur, qua Seele oder physis, die Eigenschaften tierischer oder pflanzlicher Lebewesen, sondern qua hexis auch die physikalischen Eigenschaften unbelebter Objekte erkläre. Diese Kontinuität steht dem modernen szientifischen Denken näher als die scharfe Trennung von Belebtem und Unbelebtem bei
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Aristoteles, dem ich mich jetzt zuwenden möchte, ist einschlägig für seinen Entwurf einer Naturwissenschaft, in der teleologische Erklärungsformen eine wesentliche Rolle spielen.12 Im Kontext der aristotelischen Naturwissenschaft ist Leben, grob gesagt, durch die Fähigkeit der Selbststeuerung und Selbstreproduktion gekennzeichnet. Aristoteles verwirft jedoch den platonischen Begriff seelischer Selbstbewegung (Phys. VIII.5, De an. I.3‑4). Wenn er Selbststeuerung als Kennzeichen des Lebens betrachtet, so mit der Maßgabe, dass sich Lebensaktivität immer nur als Aktivität eines hylemorphischen Ganzen realisieren kann.13 Lebendigem wohnt ein aktives zielgerichtetes Prinzip inne, welches Aristoteles terminologisch als Seele fasst, jedoch ohne damit die platonische Vorstellung einer Seelensubstanz, die unabhängig vom Körper existieren kann, zu übernehmen. Das aktive Prinzip im Lebendigen kann sich nur als ‚Form‘ eines Körpers realisieren, welcher dazu die gePlaton und Aristoteles. Andererseits vertreten die Stoiker auch einen metaphysischen Eigenschaftsdualismus, gemäß dem bestimmte elementare Stoffe oder Stoffmischungen (Feuer, Pneuma) sowohl geistige als auch physikalisch-chemische Eigenschaften haben können, was vom modernen szientifischen Weltbild sehr weit entfernt ist. Vgl. hierzu etwa die Übersicht mit Textbelegen bei A. A. Long/ D. N. Sedley, The Hellenistic Philosophers, vol. I, Cambridge 1987, 268-294, 313-343. 12 Zur zeitgenössischen Debatte um die korrekte Interpretation von Aristoteles’ Begriff der Naturteleologie vgl. die Beiträge von Gotthelf, Cooper und Balme in A. Gotthelf, J.G. Lennox (Hgg.), Philosophical Issues in Aristotle’s Biology (Cambridge 1987), 199-285, sowie R. Sorabji, Necessity, Cause, and Blame (London 1980), 143174; M. C. Nussbaum, Aristotle’s De motu animalium (Princeton 1978), 59-99. Siehe auch W. Kullmann, Aristoteles und die moderne Wissenschaft (Stuttgart 1998), 255-312, der (insbesondere auf der Basis einer Analyse der aristotelischen Vererbungslehre und Embryologie) dahingehend argumentiert, dass Aristoteles’ Biologie zu unrecht als teleologisch rubriziert wird, da sie vielmehr recht gut der zeitgenössischen Praxis teleonomer Beschreibungsweisen in der Biologie entspreche. 13 Die einzige Ausnahme zu dieser konsequent hylemorphischen Betrachtungsweise des Aristoteles ist bekanntlich, dass er sich vorbehält, das intellektive Vermögen des Menschen als etwas zu betrachten, das nicht in einem körperlichen Organ realisiert ist (allerdings auch nicht unabhängig von anderen, körperlich realisierten Funktionen tätig werden kann).
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eignete, der jeweiligen Lebensform angemessene organische Struktur aufweisen muss (De an. I, 407b13-26; II, 414a4-27). Jede Art von Lebewesen ist in seinen basalen nutritiven und reproduktiven Funktionen auf die volle Entfaltung und reproduktive Erhaltung der Artform ausgerichtet. Die Tatsache, dass Aristoteles die materiellen Strukturen, in denen sich Lebensfunktionen realisieren müssen, als „organisch“ – und das heißt wortwörtlich „werkzeughaft“ – bezeichnet (De an. II, 412a27-b4), zeigt schon, dass für ihn Naturwesen in gewissem Sinne technoform strukturiert sind.14 Wie Artefakte sind sie funktional aufgebaut, aber im Gegensatz zu Artefakten werden sie nicht hergestellt, sondern entwickeln sich, nachdem sie gezeugt worden sind, aus eigenem Antrieb. Schrittweises Entstehen ist ein Vorgang, der keine Parallele in mechanischen Herstellungsprozessen hat. Der Unterschied zwischen natürlicher Ontogenese und Hergestelltwerden ist dabei nicht primär der eines andersartigen zeitlichen Verlaufs, sondern gründet in der andersartigen Zielbestimmtheit. Der Herstellungsprozess hat eine aktive Ursache, die dem Material, an dem sich die Herstellung vollzieht, äußerlich ist.15 Das hergestellte Produkt dient einem seiner Art (qua Artefakt) gemäßen externen Zweck. Es ist also durch Äußerlichkeit sowohl seines Urhebers als auch seines Zweckes gekennzeichnet. Biologische Ontogenese hingegen ist ein Prozess, der durch das aktive Prinzip im Lebewesen selbst gesteuert wird und dem die volle Verwirklichung der Artform in diesem lebendigen Körper als immanenter Zweck vorgegeben ist. Darin zeigt sich die Selbstzweckhaftigkeit des Lebendigen bzw. der jeweiligen besonderen Artnatur.16 14 Man beachte auch Aristoteles’ Vergleich der Initiierung von Bewegung im menschlichen oder tierischen Körper mit den Mechanismen der Übertragung und Amplifizierung von Bewegung in einem artifiziellen Bewegungsmechanismus (‚Automaten‘) in De mot. an. 7 (701b2ff). 15 Vgl. Metaph. XII, 1070a4-9; Eth. Nic. VI, 1140a10-16. 16 Vgl. De an. II. 415a23-b21; s.a. Phys. II.1‑2, De part. an. I.1.
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Natürlichkeit und Künstlichkeit
Aristoteles scheint auch der Meinung zu sein, dass dort, wo Prozesse naturwüchsig geregelt sind, die Werke der Natur vollkommener bzw. „genauer“ sind als die Werke menschlicher Kunst (Eth. Nic. II, 1106b14f, De part. an. I, 639b19f). Technik ist also zwar oft notwendig als Ergänzung zur Natur und operiert wie Natur zweckgerichtet (vgl. Phys. II, 194a21-27, 199a15-17), kann aber nie die Perfektion jener Prozesse erreichen, die durch die Natur selbst geregelt werden. Im Falle des Menschen verwirklicht sich Natur nicht naturwüchsig, sondern ist, auf der Grundlage eines natürlichen Substrates (der biologischen Lebensfunktionen und Wachstumsprozesse), zugleich etwas der verantwortlichen Selbstgestaltung Aufgegebenes.17 Denn den Menschen kennzeichnet es, dass er ein Urheber von Handlungen ist, für die er verantwortlich ist und in denen sich sein Charakter und seine praktische Intelligenz ausdrücken. Auch Charakter und praktische Intelligenz müssen sich jeweils entwickeln, und zwar so, dass diese Entwicklung wenigstens partiell den Charakter einer Selbstformung hat, in welcher sich Entscheidungsmuster zu Einstellungen und Charaktermerkmalen und zu einer 17 Vgl. J. Szaif, Gut des Menschen. Problematik und Entwicklung der Glücksethik bei Aristoteles und in der Tradition des Peripatos, Berlin/New York 2012, 59-72. – L. Honnefelder legt in seiner Kommentierung des Naturbegriffes großes Gewicht auf die These, dass Natur in bestimmter Hinsicht etwas dem Menschen Aufgegebenes sei, zum Beispiel in Welche Natur…? (Anm. 6), 178-80. Es sei jedoch angemerkt, dass ich es für wichtig halte, den Begriff des ‚Aufgegebenseins‘ von Natur qua Vollendungsgestalt bei Aristoteles auf den menschlichen Bereich zu begrenzen. Im Bereich subrationaler Lebewesen ist die vollendete Artform erstens jeweils in den Erzeugern vorgegeben. Zweitens vollzieht sich die Ontogenese naturwüchsig auf das Telos hin (grob gesagt durch wirkkausale physiologische Prozesse unter dem Einfluss einer durch Vererbung übertragenen dynamis), sofern dieser Prozess nicht durch äußere Einflüsse behindert wird. Allein bei der menschlichen Entwicklung kommt den durch die Einzelnen zu verantwortenden Entscheidungen und den historisch entwickelten kulturellen Kontexten oder Ethosformen eine wesentliche Bedeutung für die Vollendung menschlicher Natur zu, weshalb hier von Natur (qua Entwicklungstelos) im Sinne einer Aufgabe gesprochen werden kann.
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ihnen gemäßen konkreten Lebensform verfestigen, die uns als die jeweilige Einzelperson, die wir sind, definiert.18 Persönlichkeitsentwicklung findet immer zugleich auch in einem kulturellen und politischen Rahmen statt, der die Entwicklung des Einzelnen maßgeblich beeinflusst. Die Menschheit muss sich darum auch kollektiv entwickeln, indem sie Formen des Wirtschaftens, der Produktion und der politischen Selbstorganisation und Erziehung hervorbringt, die der vollen Entfaltung des menschlichen Potentials förderlich sind. Technik (im Sinne der technê oder ‚kunstvollen Produktion‘) ist in Aristoteles’ Sicht eine Grunddimension menschlicher Aktivität, die durch ihren Bezug auf Produkte definiert ist, welche keine Endzwecke darstellen können, sondern nur Hilfsmittel in der Verwirklichung einer vortrefflichen menschlichen Lebenspraxis sind. Das durch technê hervorgebrachte Artefakt ist somit dem menschlichen Leben als solchen stets als ein Mittel zum Zweck untergeordnet.19 Dieses technische Verständnis hat Aristoteles vermutlich auch mit Bezug auf die Sprache, obwohl Sprache (langue) zugleich jenes Kunstprodukt ist, das am tiefsten in die Natur des Menschen eingezeichnet ist. Denn es ist der Sprachgebrauch, durch den sich der Mensch als das soziale oder ‚politische‘ Wesen, das er von Natur aus ist, realisieren kann (Polit. I, 1253a7-18).
18 Der Gedanke, dass die Wahl einer konkreten Lebensform und der sie leitenden Ziele (oder Werteinstellungen) gleichsam das individuelle Dasein eines Menschen definiert, kommt bei Aristoteles in Eth. Nic. IX, 1172a1‑3 zum Ausdruck (in Verbindung mit einer Erörterung der Tätigkeitsformen, die Freunde miteinander zu teilen wünschen). 19 Zur Hierarchie der Zwecke bei Aristoteles vgl. beispielsweise Eth. Nic. I, 1094a1b11, 1095a14-22; zum Vorrang der vernunftgemäßen Lebensform, die ein Werk der praktischen Klugheit oder Weisheit ist (phronêsis, prudentia), und der nachrangigen Stellung der produzierenden Künste (technê) und ihrer Werke vgl. Eth. Nic. VI, 1139a35-b3, 1140a1-b21.
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Natürlichkeit und Künstlichkeit
Aristoteles vermittelt uns also ein komplexes Bild zum Verhältnis des Natürlichen und Künstlichen, gemäß dem das Künstliche einerseits nur eine inferiore Form der Nachahmung natürlicher Zweckmäßigkeit ist, andererseits aber ein unabdingbares Element der spezifisch menschlichen Lebensform darstellt, da diese sich nicht ohne die Entwicklung künstlicher Hilfsmittel (angefangen mit dem Phänomen der Sprache) vollenden kann. Des weiteren hebt er klar heraus, dass das Künstliche sich vom Natürlichen durch externe Zwecksetzung unterscheidet. Der aristotelische Ansatz bietet auch heute noch einen nützlichen Leitfaden zu Fragen der ethischen Selbstvergewisserung des Menschen. Selbstverständlich ist sein Begriff ewiger Spezies durch die moderne Evolutionsbiologie obsolet geworden. Des weiteren kann auch ein teleologischer Ursachenbegriff in der modernen Naturwissenschaft nicht mehr verwendet werden (unbeschadet der Tatsache, dass auch die moderne Biologe sich in der Beschreibung von Wachstumsprozessen und funktionalen biologischen Strukturen quasi-teleologischer oder ‚teleonomer‘ Ausdrucksformen bedient).20 Aus lebenspraktischer Perspektive ist unser Körper jedoch allemal ein zweckmäßiges, biologisch selbstgesteuertes, sich durch Stoffwechsel selbst erhaltendes Gebilde, in dem einzelne Organe spezifischen Zwecken dienen. Die Frage, der ich nun im zweiten Teil meiner Ausführungen nachgehen möchte, lautet, welche Bedeutung diesem natürlichen Substrat in unserer Selbstwerdung zukommt und wie sich dazu das neuartige Phänomen der künstlichen Herstellbarkeit von Leben verhält.
20 Das Verhältnis von Finalität und mechanischer oder chemischer Wirkursächlichkeit in der Biologie des Aristoteles ist allerdings sehr viel komplexer, als es oft dargestellt wird. Zur Forschungsdebatte vgl. oben, Anm. 12.
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Jan Szaif
2. Die Bedeutung unseres natürlichen Substrats für den Prozess der Selbstwerdung und die ethische Problematik seiner künstlichen Herstellbarkeit Selbstwerdung zielt auf ‚Selbstsein‘, worunter ich hier das Sich-zusich-selbst-Verhalten verstehe, durch das man aktiv Sorge für sich selbst übernimmt.21 Das Für-sich-Sorgen schließt ein, dass man sich als ein Wesen bestimmter Art vorfindet, welches in seinem Charakter und seinen Fähigkeiten entwicklungsfähig ist und sein Leben durch Handlungsentscheidungen selbst zu bestimmen hat. Zu dem, was wir jeweils schon vorfinden, gehört wesentlich unser eigenes natürliches Substrat. Dieses ist nicht einfach nur ein Körper (mit seinen begrenzten Möglichkeiten und wechselnden Empfindungszuständen), sondern auch ein seelisches Leben, insofern es durch bestimmte natürliche Grundstrebungen oder Bedürfnishaltungen geprägt ist. Typische Beispiele hierfür sind die auf Ernährung, soziales Miteinander und (ab einem gewissen Alter) Sexualität bezogenen Bedürfnishaltungen, aber auch die natürliche Neugierde, die unsere intellektuelle Entwicklung antreibt. Zugleich haben wir als Menschen auch die Fähigkeit, bestimmte Leistungen und Verhaltensweisen als intrinsisch wertvoll zu begreifen und unsere Lebenspraxis auf solche Werte hin zu entwerfen. Zu denken ist hier an die Dimensionen der Wissenschaft, Kunst, Religion und Sittlichkeit. Jedoch sind die leitenden Werte oder Ideale, auf die hin wir unsere Lebenspraxis entwerfen können, nicht unabhängig von dem, was uns durch unsere Natur in der Form grundlegender Potentiale und Strebetendenzen vorgegeben ist. So ist etwa das Phänomen, dass wir Pflichten der Sittlichkeit (als Pflichten gegen uns selbst und gegen andere) zu erfassen vermögen, nicht denkbar 21 Dies ist ein klassisches Thema der Philosophie; vgl. hierzu etwa die historischen und sprachanalytischen Interpretationen in E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a.M. 1979.
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Natürlichkeit und Künstlichkeit
ohne die in unserer Natur als rationale und soziale Wesen verankerte Tatsache, dass wir mit jeder Handlung uns in bestimmter Weise sowohl zu uns selbst als auch zu anderen verhalten und unser Verhalten kritisch hinterfragen können. Das Moralische ist eine grundlegende Dimension der Richtigkeit in unserem Verhalten zu uns selbst und zu anderen. Kunst (im Sinne der schönen Künste) hat etwas mit dem ästhetischen Ausdrucksbedürfnis und der ästhetischen Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen zu tun, welches eine anthropologische Konstante und somit auch naturhaft ist, aber im Resultat uns über die Begrenztheit bloßer Naturwesen heraushebt. Ähnliches gilt, mutatis mutandis, für die religiöse und wissenschaftliche Dimension des Menschseins.22 Zum menschlichen Selbstverhältnis gehört die Dualität dessen, was man von Natur aus ist und wozu man im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung wird, wobei die Persönlichkeitsentwicklung nicht nur durch das Zusammenspiel von naturwüchsigen Entwicklungsschritten (z.B. Veränderungen im Hormonhaushalt) mit äußere Faktoren und Umwelteinflüssen, sondern auch durch Entscheidungen, die wir (im Lichte unserer sich entwickelnden Wertvorstellungen) selber treffen und zu verantworten haben, bestimmt wird. Als Mensch besitzt man sich, oder seinen Körper, nicht wie eine Sache, sondern wird sich schrittweise selbst zu eigen, indem man Verantwortung für das übernimmt, was man ist und werden kann. Man ‚stellt sich auch nicht her‘, sondern wird und entwickelt sich im komplexen Zusammenspiel des natürlichen Substrats mit äußeren Einflüssen und selbst verantworteten Entscheidungen. In dieser verantworteten Entwicklung kann man sich auch selbst verfehlen, etwa indem man seine Talente vernachlässigt oder seinen 22 Etwas ausführlicher habe ich meine Auffassungen zur Bedeutung der menschlichen Natur für unser moralisches und prudentielles Urteilen im ersten Kapitel von J. Szaif, Freundschaft und Moral. Über Freundschaft als Thema der philosophischen Ethik, Bonn 2005, 15-33, dargelegt.
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sozialen Aufgaben nicht nachkommt. Dabei setzt das natürliche Substrat (also unsere Körperlichkeit und unsere natürlichen Potentiale und Strebenshaltungen) nicht-eliminierbare Rahmenbedingungen unserer Selbstwerdung und ist darum etwas, das man sich zu eigen macht, indem man es als das Woher der Selbstwerdung begreift, welches durch alle Formen der kulturellen und persönlichen Entwicklung hindurch präsent bleibt und von dem man sich darum nur zum Preis der Selbstentfremdung distanzieren kann.23 Im Kontext der zeitgenössischen synthetischen Biologie ist es denkbar geworden, die genetische Ausstattung eines werdenden Menschen künstlich festzulegen, indem man einen genetisch identischen Menschen durch Klonierung reproduziert oder indem man sein Genom zuerst künstlich synthetisiert und dann in eine Eizelle implantiert. Ich werde mich hier auf den Fall der künstlichen Synthetisierung beschränken. Doch sind zuerst einige begriffliche 23 In diesem Zusammenhang ist auch ein Vergleich mit der aristotelisch-peripatetischen Adaption der stoischen Theorie der Selbst-Zueignung (oikeiôsis) erhellend. Sie ist der antike Versuch zu beschreiben, wie sich Persönlichkeitsentwicklung als ein ‚Sich-Selbst-Zugeeignet-Werden‘ vollzieht. In diesem Prozess erschließt man sich sein natürliches Substrat als das Eigene und wird zu einem praktisch rationalen Wesen, indem man lernt, für sich selbst als ein sich natürlicherweise mit bestimmten Möglichkeiten und Strebedispositionen vorgegebenes Wesen Sorge zu tragen. Die Peripatetiker haben daraus ihr Ideal eines naturgemäßen Lebens gewonnen, welches nicht nur sittliche Richtigkeit und korrektes Erfassen unserer natürlichen Potentiale und Grundstrebungen erfordert, sondern auch die Erfüllung dieser Potentiale und Grundstrebungen (vgl. hierzu Szaif, Gut des … [Anm. 17], 177-211 und 264-76). Die „Natürlichkeit“ eines Lebens, das die wichtigsten menschlichen Potentiale und Strebungen erfüllt, hat zugleich auch einen normativen Sinn, insofern die Vernachlässigung der eigenen besten Möglichkeiten eine Form des unvernünftigen und folglich fehlerhaften Sich-Verhaltens ist (wofür Peripatetiker unter anderem auch den stoischen Begriff des hamartêma, peccatum gebraucht haben; vgl. zum Beispiel aus dem bei Stobaios, Eclogae II.7, erhaltenen Peripatetiker-Referat des Areios Didymos die Textpassagen p. 119., ll. 15-19 und p. 127, l. 9 – p. 128, l. 2 [Wachsmuth]). Hier liegen vielleicht auch die Wurzeln für die spätere, bei Thomas von Aquin ausformulierte lex naturalis-Lehre.
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Natürlichkeit und Künstlichkeit
Unterscheidungen hinsichtlich der ‚Künstlichkeit‘ eines Genoms zu treffen. Das Genom ist die im Zellkern enthaltene Erbinformation, die in den Basenpaaren der DNA, die die stoffliche Grundlage dieser Information darstellen, kodiert vorliegt. Es ist also, qua Information, von seinem biochemischen Träger, der DNA, zu unterscheiden. Der Begriff der Künstlichkeit kann sich sowohl auf die Herstellung der DNA-Sequenz (also die stoffliche Grundlage) als auch auf das Design der Erbinformation beziehen. Künstliche Klonierung ist bereits eine Form der künstlichen Übertragung von Erbinformation, aber die verwendete Erbinformation ist noch als natürlich zu bezeichnen, sofern das bei der Klonierung verwendete Genom selbst durch natürliche Vererbung zustande gekommen ist. Auch der Fall einer künstlichen Synthetisierung einer DNASequenz durch Verfahren, wie sie von der Craig Venter-Gruppe praktiziert worden sind,24 würde nicht die Natürlichkeit der in dieser Sequenz enthaltenen Erbinformation aufheben. Zwar stellt die Tatsache, dass Erbinformation durch Klonierung oder chemische Synthese zeitversetzt identisch reproduziert werden kann (im Unterschied zum natürlichen Vorkommen eineiiger Zwillinge, die zeitgleich und unvorhergesehen gezeugt werden), schon einen Aspekt von Künstlichkeit dar, aber strenggenommen bezieht sich Künstlichkeit dabei auf die Art und Weise der Vervielfältigung der Information, nicht auf den Informationsgehalt selber. Hiervon zu unterscheiden sind künstliche Eingriffe in die Erbinformation. Diese können den Charakter einer partiellen Manipulation von Erbinformation haben, wie dies bereits jetzt bei Bakterien, Nutzpflanzen und Nutztieren praktiziert wird oder praktiziert 24 Vgl. hierzu die Ausführungen in diesem Band von A. Pühler, Von der Molekulargenetik zur Synthetischen Biologie – Geburt einer neuen Technikwissenschaft. Dieser Beitrag ist generell sehr hilfreich mit Blick auf die notwendigen begrifflichen Unterscheidungen zum Thema künstlicher Genomsynthese.
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werden kann, oder den Charakter eines Neudesigns von Grund auf, was ein weitreichendes Verständnis der Art und Weise, in der Erbinformation die zellulären Prozesse steuert und dabei mit dem zellulären Umfeld und den äußeren Umweltbedingungen in komplexer Wechselwirkung steht, voraussetzt. Anscheinend arbeitet die synthetische Biologie gegenwärtig daran, derartiges für den Bereich sehr einfach aufgebauter Zellen („Minimalzellen“) zu leisten. Für komplexere Lebewesen einschließlich des Menschen ist dies bis auf weiteres noch eine Utopie. Angesichts der schwer vorhersehbaren Dynamik wissenschaftlichen und technischen Fortschrittes bedeutet dies aber nicht, dass eine derartige Synthese der Erbinformation von Grund auf für höhere Lebewesen nicht in Zukunft möglich sein wird.25 Im übrigen reichen auch partielle Veränderungen der Erbinformation durch gentechnische Verfahren, wie sie jetzt schon beherrscht werden, dazu aus, um von einem künstlichen Genom zu sprechen.26 Gehen wir im weiteren zunächst, for the sake of argument, von dem hypothetischen Fall aus, in dem ein menschenartiges Genom von Grund auf entworfen und synthetisiert wird. Obwohl dies bislang noch utopisch ist, kann es gleichwohl instruktiv sein, sich die25 Vgl. hierzu auch die Hinweise im Schlussabschnitt (3.4.4) des Beitrages von Günter Rager in diesem Band (Morphologie und funktionelle Einheiten der Zelle). Zum Projekt der Synthetisierung von „Minimalzellen“ vgl. die Erläuterungen in dem Beitrag von Gerhard Wegner zu diesem Band. 26 Pühler in dem oben (Anm. 24) erwähnten Beitrag stellt heraus, dass das mit einem solchen künstlichen Genom ausgestattete Lebewesen nicht stricto sensu als ein Fall von künstlichem Leben bezeichnet werden sollte, da für die Realisierung dieser Erbinformation in einem Lebewesen die Transplantation in eine natürliche Zelle vorausgesetzt ist. Gleichwohl ist es doch in einem gewissen Sinne eine künstliche Lebensform, da die Lebensfunktionen dieses Organismus Expression eines künstlichen Genoms sind. Man nehme etwa das von Pühler erwähnte Beispiel von Bakterien oder Hefezellen, die mit einem künstlichen Gencluster ausgestattet werden, durch welches sie gewissermaßen als biologische Maschinen zur Herstellung eines Antimalaria-Wirkstoffes genutzt werden können.
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sen Fall wenigstens im Sinne einer Denkmöglichkeit auf seine ethischen Folgen hin genauer anzusehen. Wir haben gesehen, dass gemäß der Aristotelischen Analyse ein Artefakt wesentlich durch einen externen Urheber und einen durch diesen gesetzten externen Zweck bestimmt ist. Dieser Aspekt der Aristotelischen Analyse ist sicherlich plausibel. Die Zweckbestimmtheit von Artefakten darf dabei allerdings nicht zu simplistisch ausschließlich nach dem Modell von Werkzeugen verstanden werden. Artefakte können auch anderen Zwecken dienen als solchen, die mit einem praktischen Nutzen verbunden sind. Ein Kreisel beispielsweise ist eine Spielzeug, das keinem praktischen Nutzen im engeren Sinne, sondern der Unterhaltung und dem Zeitvertreib dient. Ein teures und luxuriöses Fahrzeug fungiert unter anderem als ein Statussymbol. Kosmetik kann unter anderem dem Selbstwertgefühl dienen, das mit dem Bewusstsein attraktiven Aussehens einhergeht. Jemand mag sich ein ungewöhnliches Haus bauen, um sich einen Kindheitswunsch zu erfüllen. Diese Arten der Zwecksetzung sind gleichwohl instrumentell, da es immer um einen Zweck geht, der die Interessen der die Herstellung veranlassenden Person befriedigt. Das Artefakt ist hier niemals Selbstzweck. (Komplexer sind die Verhältnisse im Falle eines Kunstwerkes, doch können wir dies hier vernachlässigen.) Mit Blick auf die denkbare künstliche Synthetisierung eines menschenartigen Genoms ergibt sich nun das Bedenken, dass Menschen, deren genetisches Programm ein von anderen Menschen zu heteronomen Zwecken hergestelltes Artefakt ist, damit auch als Mittel zum Zweck gesetzt sind, was bedeuten würde, dass sie ihrer spezifischen Menschenwürde verlustig gingen.27 Zwar bezieht sich 27 Hier ist selbstverständlich an Kants Begriff der Menschenwürde zu denken, zu dem gehört, dass wir einen Menschen, bzw. die Menschheit in einer jeden Person, „niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit auch als Zweck an sich selbst behandeln“ sollen (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 433, vgl. 429).
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Künstlichkeit hier, wohl gemerkt, zunächst nur auf das Genom. Aber da das Genom die uns inhärierende Grundlage für die Expression einer bestimmten biologischen Lebensform ist (unbeschadet der Tatsache, dass der Phänotyp durch das Zusammenspiel von Genom und Umwelteinflüssen bestimmt wird), wäre das biologische Substrat dieses Menschen oder menschartigen Wesens in einem relevanten Sinne künstlich. Da es zugleich ein von anderen zu deren Zwecken entworfenes Artefakt wäre, hätten wir es folglich mit dem Ausdruck einer heteronomen Zwecksetzung zu tun.28 Gegen den Gedanken, dass die Künstlichkeit des Genoms die Menschenwürde oder personale Integrität gänzlich aufheben würde, kann man aber einwenden, dass Menschenwürde in der Personalität oder dem praktischen Sich-zu-sich-selbst-Verhalten-Können und Für-sich-Verantwortung-Übernehmen gründe und dass darum auch jene Menschen, die aus Prozessen der künstlichen Synthetisierung hervorgehen, Personalität besitzen würden (wenigstens solange sie noch das Potential zu jenem Sich-zu-sichselbst-Verhalten besitzen). – Diesem Einwand ist recht zu geben: Künstlichkeit der genetischen Herkunft würde Personalität nicht auslöschen. Entscheidend ist aber, welchen negativen Einfluss diese Form der Artifizialität auf das Selbstverhältnis des betreffenden Menschen haben würde. Wir behandeln hier diese heteronome Zwecksetzung nicht einfach nur als eine objektive Tatsache, sondern als etwas, zu dem sich das Subjekt im Prozess seiner Selbstwerdung verhalten muss. Das Bewusstsein, in Hinsicht auf das eigene natürliche Substrat (oder dessen inneren Steuerungsprinzip) das Designerprodukt anderer Menschen zu sein, die damit ihre eigenen Zwecke verfolgen, würde die Würde oder personale 28 Im Falle von Menschen spreche ich mit Blick auf deren biologische Konstitution und naturwüchsige Verhaltensprädispositionen von einem natürlichen Substrat, da sich menschliches Selbstsein, anders als etwa das Leben einer Pflanze, nicht auf die biologische und naturwüchsige Seite seiner Existenz reduzieren lässt.
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Integrität dieses Menschen nicht aufheben, aber doch erheblich verletzen, und dies reicht, um für ein moralisches Verbot einer derartigen Praxis zu argumentieren.29 Für den heteronomen Charakter der Zwecksetzung durch die Eltern, die ein bestimmtes Genom für das künftige Kind wählen, ist nicht erfordert, dass sie dieses ‚genetische Wunschkind‘ zu bestimmten praktischen Zwecken ausbeuten wollen. Es reicht schon, dass sie sich damit eine bestimmte Wunschvorstellung erfüllen, um von einer heteronomen Zwecksetzung zu sprechen, die auch auf das Selbstverhältnis des Kindes einwirken muss, sofern es nicht über diesen Sachverhalt im unklaren gelassen wird oder ihn schlicht verdrängt (was ein irrationales Verhalten wäre). In der aristotelischen Biologie ist ein lebendiges Naturwesen immer auch ein Selbstzweck aufgrund seiner natürlichen selbstbezogenen Teleologie. Dies ist ein Aspekt des aristotelischen Denkens, der durch die moderne Biologie überholt bzw. nur noch im Gewande ‚teleonomer‘ Beschreibungsformen zulässig ist. An anderer Stelle30 habe ich zu zeigen versucht, dass die Tatsache, dass die 29 Man sollte auch erwähnen, dass sich das Verhältnis der Eltern zum Kind verändern würde. Ein nach den eigenen Wünschen genetisch geprägtes Kind würde sich den Eltern als Produkt ihrer Auswahl und ihres Designs darstellen. Es wäre darum für die Eltern schwieriger, wenn nicht gar unmöglich, ein solches Kind als ein Geschenk oder eine Gunst anzunehmen. Was man selber ‚gemacht‘ hat, kann man (emotional) auch leichter verwerfen, wenn einem das Endprodukt nicht gefällt. Diese zwei Seiten der Beziehung werden bereits in Mary Shelleys Frankenstein-Erzählung (1818/1831) zum Ausdruck gebracht, wenn auch sehr stark überzeichnet: Zunächst berauscht sich der Protagonist an der Vorstellung, dass das von ihm geschaffene Wesen ihm größere Dankbarkeit als irgend ein natürlich entstandener Mensch schulden wird (ebd., chapter IV). Er löst dann aber tragische Konsequenzen aus, indem er seiner Schöpfung, die er im Ergebnis als abstoßend empfindet, die personale Anerkennung und elterliche Zuneigung verweigert. 30 Jan Szaif, „Artifizielles Werden. Zur ethischen Problematik der künstlichen Herstellung des menschlichen Genoms“, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 5 (2000), 54-62. – Die Rolle des genetischen Zufalls als eines Faktors, der „die Freiheit des Individuums vor der Manipulation durch Dritte bewahrt“, erwähnt auch Ludger Honne-
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Erbinformation einer befruchteten Eizelle das Produkt einer zufallsbestimmten Kombination aus Elementen des elterlichen Erbgutes ist, eine Art negativer Barriere darstellt, die unser natürliches Substrat vor der Vereinnahmung durch fremde Zwecksetzung schützt.31 Wie schon der Spruch des Sophisten Polus hervorhebt, steht technê im Gegensatz zum Zufall (tychê), da die Produkte kunstgemäßen Handels nicht Zufallsprodukte sind.32 Nur geht mit der Gezieltheit technischer Herstellungsprozesse eben auch eine externe Zwecksetzung einher, während Zufall zweckfrei hervorbringt. Es ist der Zufall in der Formung der Erbinformation, der den Unterschied zum ‚Designerbaby‘ setzt.33 Ich argumentiere darum auch für ein Recht auf genetische Kontingenz.34
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felder in dem hier abgedruckten Beitrag Perfektionierung des Menschen (Abschnitt IV). Mein Argument bezieht sich spezifisch auf den Einfluss, den das Wissen um die Art seiner Entstehung auf das Selbstverhältnis bzw. die Selbstwerdung des so hervorbrachten Kindes haben muss. In gewissem Sinne sind wir hiermit zurück bei Epikur, für den Zufall ein freiheitsstiftendes Element der Natur ist. Vgl. Platon, Gorgias 448c. Genau genommen ist die Antithese von Kunstgemäßheit und Zufälligkeit lediglich ein Aspekt (wenn auch ein wesentlicher) in dem durch Polus formulierten Gedanken. Sein Ausspruch besagt sinngemäß, dass Erfahrung kunstgemäße Praxis ermögliche (aiôn kata technên), während Mangel an Erfahrung ein zufallsbestimmtes Leben (kata tychên) zur Folge habe. Hans Jonas (Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt a.M. 1987, 211-13) weist darauf hin, dass bereits Goethe im Faust II bei der Darstellung der Erzeugung des Homunculus den Gegensatz zwischen dem „Zufall“ in der natürlichen Zeugung und einem gezielten „Machen“ betont (2. Akt, 6835, 6857-60, 6867-70). Szaif, „Artifzielles … “ (Anm. 30), 58-62. Die Empfehlung Nr. 934 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates von 26.1.1982 betreffend Gen-Manipulation spricht von einem „Recht auf ein genetisches Erbe, in das nicht künstlich eingegriffen worden ist“ (4.i) bzw. von einem „Recht auf ein nicht-manipuliertes genetisches Erbe“ (7.b), wobei dieses Recht aber ausdrücklich dahingehend eingeschränkt wird, dass die „Anerkennung dieses Rechtes … nicht die Entwicklung der therapeutischen Anwendungen der Gen-Manipulation (Gen-Technik) behindern [darf]“ (4.iii). Diese Formulierungen betonen den Schutz vor Manipulation, während sich meine Formulierung auf Kontingenz als der entscheidenden Schutzbarriere bezieht. In praktischer Hinsicht geht es aber um das gleiche.
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Es sei allerdings auch darauf hingewiesen, dass zwar Natürlichkeit des Ursprungs die Zufallskomponente einschließt, dass aber nicht umgekehrt Zufälligkeit notwendig Natürlichkeit impliziert. Es ist denkbar, dass sich das Moment der Zufälligkeit in der Genese der spezifischen individuellen Erbinformation künstlich reproduzieren ließe. Dies wäre ausreichend, um dem Recht auf genetische Kontingenz Genüge zu tun. Natürliche Reproduktion ist aber fraglos die einfachste und gegen Missbrauch am besten gewappnete Form der zufallsbestimmten Reproduktion. Man kann meiner Argumentation entgegenhalten, dass Kinder doch oft genug „Wunschkinder“ sind und dass es sogar ein Vorzug für das Kind selbst ist, wenn es gewollt und von Anbeginn an voll angenommen ist. Jedoch bezieht sich der Wunsch hier nur darauf, dass die Eltern ein Kind haben wollen. Die Entscheidung, ein Kind zu haben, kann weder die genauen genetischen Eigenschaften des künftigen Kindes determinieren (von seltenen Erbkrankheiten vielleicht abgesehen), noch kann sie sich auf das zukünftige Kind als dieses Individuum, das es ist, beziehen, da bei der natürlichen Reproduktion nie vorhersagbar ist, welches Spermium sich mit welcher Eizelle erfolgreich verbinden wird. Der Entscheidungsspielraum der Eltern bezieht sich lediglich darauf, (wenig‑ stens) ein Kind zu haben, nicht darauf, welches Kind sie haben. In diesem Sinne ist die Rede von Wunschkindern eher irreführend und hat jedenfalls nichts mit dem Fall zu tun, den wir hier besprechen. Könnte man aber gegen meine Argumentation nicht auch einwenden, dass das Erwachsenwerden ohnehin immer ein Prozess der Emanzipation von jenen Wünschen und Zwecksetzungen ist, die von anderen auf uns projiziert werden, und zwar insbesondere auch von den Eltern (vor allem wenn diese den Fehler machen, die Selbstwerdung nicht aktiv zu fördern)? – Dies ist zwar richtig, aber in diesem Emanzipationsprozess ist jedem Kind durch die Natürlichkeit seines Ursprungs von vornherein garantiert, dass es sich 183 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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nicht in seinem biologischen Kern als das Kunstprodukt elterlicher Zwecksetzungen zu verstehen braucht. Wir können nun dieses Ergebnis auch auf den Fall einer bloß partiellen Künstlichkeit des Genoms anwenden. In diesem sehr viel realistischeren Szenario wird nicht versucht, ein funktionales menschliches Genom von Grund auf neu zu erstellen, sondern eine bestehende natürliche Vorlage zu reproduzieren und dabei durch kontrollierte partielle Veränderung zu verbessern. Derartiges wird ja bereits im Bereich von Nutzpflanzen praktiziert, liegt also schon im Bereich unserer technischen Möglichkeiten. Dass man auch ein solches Genom als ein Kunstprodukt bezeichnen sollte, wird unter anderem dadurch bestätigt, dass im agroindustriellen Sektor derartig hergestellte Genome patentiert werden können. Auch der ingenieurwissenschaftliche Ansatz derartiger Formen biotechnischer Manipulation35 verweist auf Künstlichkeit des Endprodukts.36 Darum meine ich, dass meine Argumentation, die ich für den denkmöglichen Fall eines gänzlich künstlichen Genoms entwickelt habe, auch auf den Fall eines partiell künstlichen Genoms anzuwenden ist.
35 Vgl. hierzu wiederum den Beitrag von Pühler (Anm. 24) in diesem Band. 36 In der einen oder anderen Weise basieren ohnehin alle technischen Produkte auf einer natürlichen Grundlage, nur dass sich der Level, auf dem sich diese natürliche Grundlage auffinden lässt, von Produkt zu Produkt sehr unterscheidet. Manchmal sind nur die Ausgangsmaterialien natürlich (z.B. Erdöl bei der Herstellung von Plastikprodukten), manchmal sind aber auch Naturprodukte eines sehr viel höheren Levels in das Artefakt integriert (z.B. im Falle einer Pferdedroschke). Bisweilen ist schwer zu entscheiden, ob wir es vorwiegend mit einem Kunstprodukt oder vorwiegend mit Natur zu tun haben. Ein Landschaftspark scheint beides zu sein. In anderen Fällen wiederum ist der Beitrag des Kunstproduktes vergleichsweise akzidentell, weshalb wir nicht mit Bezug auf das Ganze von einem Kunstprodukt sprechen (man denke etwa an einen Hund mit einer Beinprothese). Es ist kaum möglich, für solche Mischformen scharfe Kriterien der Abgrenzung zu formulieren. Aber Patentierbarkeit ist sicherlich ein starkes Indiz für Künstlichkeit, und dies trifft auch auf das von einer natürlichen Vorlage ausgehend ‚verbesserte‘ Genom zu.
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Es ist oft (und zurecht) darauf hingewiesen worden, dass sich eine zusätzliche Komplikation in dieser Debatte daraus ergibt, dass zwischen Eingriffen in die Keimbahn zum Zwecke der Krankheitsvorbeugung oder –verhinderung und dem Fall, in dem ein Kind mit bestimmten Wunscheigenschaften ‚bestellt‘ wird, zu unterscheiden ist. Im ersteren Falle können Eltern gleichsam stellvertretend für ihr künftiges Kind agieren, da man unterstellen darf, dass auch dieses Kind gesund sein wollen wird. Auch für ein bereits gezeugtes oder geborenes Kind werden Eltern ja oft stellvertretend Entscheidungen treffen müssen, die ihrer Meinung nach im besten Interesse des Kindes sind. (Man beachte jedoch auch, dass es in diesem Zusammenhang Probleme dahingehend, wie genau Krankheit eingegrenzt werden kann, sowie Fragen hinsichtlich unvorhersehbarer Folgen eines genetischen Eingriffes gibt.) Aber wie steht es mit Eigenschaften, die wir allgemein als nicht wünschenswert, aber nicht als Krankheiten betrachten, zum Beispiel Mangel an Intelligenz oder weit überdurchschnittliche Kleinwüchsigkeit? Hier befinden wir uns bereits im Bereich des enhancement. Sind genetische Eingriffe, die der Intelligenzsteigerung dienen, nicht etwas moralisch Lobenswertes, so wie dies bei weitsichtigen Entscheidungen, die Eltern für die Bildung ihrer Kinder treffen, der Fall ist? Von solchen Eigenschaften, bei denen man unterstellen kann, dass auch das Kind sie retrospektiv als wünschenswert betrachten wird, müssen des weiteren solche Formen des enhancement unterschieden werden, die ausschließlich gewissen subjektiven Präferenzen der Eltern entsprechen und bei denen man nicht voraussetzen darf, dass auch das Kind diese Präferenzen teilen wird. Man denke etwa an Eigenschaften wie einen besonders großen Wuchs (damit das Kind eine Karriere als Basketballspieler versuchen kann) oder Ähnlichkeit mit einem bestimmten Schauspieler (den die Eltern anhimmeln). Hier müsste wohl staatliche Regulierung eingreifen, um den Spielraum von enhancement einzuschränken. Dann würde es aber unmittelbar zu einem Problem, was als allgemein anzuerkennendes enhancement 185 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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zuzulassen ist und welche Formen des enhancement auszuschließen sind. Selbst der anscheinend so plausible Fall der Intelligenzförderung ist problematisch, da es viele verschiedene Aspekte und Formen menschlicher Intelligenz und menschlichen Talents gibt.37 Des weiteren würden sich Fragen der Verteilungsgerechtigkeit ergeben, auf die gerade im Kontext einer ‚liberalen Eugenik‘38 regelmäßig hingewiesen wird. Insbesondere wenn enhancement auf eine Liste akzeptabler, weil allgemein als wünschenswert anerkannter Eigenschaften durch staatliche Regulierung begrenzt wird, muss man sich nämlich fragen, ob es etwa akzeptabel sei, dass nur wohlhabende Eltern in der Lage sind, ihren Kindern dieses wünschenswerte genetische enhancement zu verschaffen (mit negativen Folgen für soziale Mobilität und für die Kohäsion des demokratischen Gemeinwesens). Wenn aber der Staat enhancement zu einem Zielbereich seiner finanziellen Förderung macht, sollte es Eltern dann gleichwohl erlaubt sein, dieses enhancement auszuschlagen und damit ihren Kindern mutwillig schlechtere Startchancen zu geben? Angesichts solcher Überlegungen bricht das Paradigma einer liberalen Eugenik zusammen und verkehrt sich in das einer staat37 L. Siep erwähnt in seiner Replik auf Habermas („Moral und Gattungsethik“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 [2002], 111-20) auf S. 112f einen möglichen Einwand eines Anhängers der Eugenik, gemäß dem „eine günstige genetische Ausstattung die Chancen zu autonomer Lebensplanung gewaltig steigern wird“ und erwähnt in diesem Zusammenhang hohe Intelligenz, gutes Aussehen u.dgl. Diese Behauptung scheint mir aber durchaus fragwürdig, jedenfalls wenn man den relevanten moralischen Sinn von Autonomie zugrunde legt. Ein Mensch, der mittelmäßig begabt aber charakterstark ist, wird sein Leben autonomer gestalten als ein hochbegabter aber charakterschwacher Mensch. Charakterstärke, so darf man vermuten, hängt in großem Maße von der persönlichen Entwicklung eines Menschen ab und dürfte wohl sehr viel weniger als Intelligenz oder gutes Aussehen durch genetische Faktoren bestimmt sein. 38 Darunter ist eine Praxis zu verstehen, die die Entscheidungen über die Ziele der gentechnischen Therapie oder Verbesserung nicht dem Staat, sondern den Eltern überlässt und dies als einen Anwendungsfall der „reproduktiven Rechte“ von Eltern versteht.
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lich gesteuerten Eugenik. Genetisches enhancement von Kindern als Privileg der Wohlhabenden scheint dem demokratischen Ideal fairer Startchancen für alle zu widersprechen, während staatlich gelenkte Eugenik zwar Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit besser Genüge tun kann, aber aus anderen Gründen äußerst bedenklich erscheint. Sollte die genetische Zukunft einer Gesellschaft wirklich den Entscheidungen politischer Parteien und bürokratischer Apparate überlassen werden? Wäre dies nicht ein tiefgreifender Eingriff in die Freiheit des Einzelnen und der Familie? Könnten Inkompetenz und fragwürdige Präferenzen auf Seiten der politischen und bürokratischen Eliten nicht langfristig höchst bedenkliche irreversible Folgen im Bereich des genetischen enhancement nach sich ziehen? Wer entscheidet zum Beispiel, welche Arten oder Aspekte von Talent und Intelligenz genetisch gefördert werden? Würde einseitige Förderung bestimmter Potentiale aus ideologischen oder ökonomischen Erwägungen heraus nicht eine Verarmung unserer Kultur und Lebensform zur Folge haben? (Hierbei unterstellen wir, dass der fragliche Staat noch ein demokratischer Rechtsstaat ist. In totalitär regierten Gesellschaften wären die Gefahren staatlich gelenkter Eugenik natürlich noch sehr viel gravierender. Auch die Kommerzialisierung von genetischem enhancement unter der Kontrolle einiger weniger globaler Unternehmen ohne wirksame demokratische Kontrolle könnte offenkundig sehr bedenkliche langfristige Folgen haben.) Bevor ich meine Ausführungen abschließe, möchte ich kurz noch auf den bedeutenden, viel-zitierten und facettenreichen Beitrag zu dieser Thematik von Jürgen Habermas unter dem Titel Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? (2001, mit einem Nachwort von 2002) eingehen,39 da dort zum Teil Gedanken formuliert werden, die der von mir hier und in einem früheren, ungefähr zeitgleichen 39 J. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 4., erweiterte Aufl., Frankfurt a.M. 2002.
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Beitrag40 vorgetragenen Argumentation nahe stehen. Auf Seite 94 führt Habermas unter anderem aus: „Wenn der Heranwachsende von dem Design erfährt, das ein anderer für den merkmalsverändernden Eingriff in die eigenen genetischen Anlagen entworfen hat, kann – in der objektivierenden Selbstwahrnehmung – die Perspektive des Hergestelltseins die des naturwüchsigen Leibseins überlagern. Damit reicht die Entdifferenzierung des Unterschieds zwischen Gewachsenem und Gemachtem in die eigene Existenzweise hinein.“ Er meldet dann aber Skepsis gegen diese Betrachtungsweise an, und zwar unter anderem mit Verweis darauf, dass die „Unterwerfung von Leib und Leben unter die Biotechnik“ etwas sei, das wir nach den „narzisstischen Kränkungen, die uns Kopernikus und Darwin mit der Zerstörung unseres geozentrischen und unseres anthropozentrischen Weltbildes zugefügt haben“, vielleicht mit größerer Gelassenheit werden ertragen können (ebd. 95). Der Vergleich mit jenen „narzisstischen Kränkungen“ überzeugt meines Erachtens nicht, da das Problem, das sich aus der möglich gewordenen Artifizialität des Genoms ergibt, nichts mit dem Verlust der naturteleologischen Zentralstellung des Menschen zu tun hat. Vielmehr geht es hier darum, dass in diesem besonderen Fall die biologische Grundlage unserer individuellen Existenz zu einer Funktion heteronomer menschlicher Zwecksetzungen wird. In seinem 2002 hinzugefügten Postskriptum finden sich wiederum Formulierungen, die der von mir vertretenen Argumentation inhaltlich sehr nahe stehen. Und zwar verweist ein zentrales Element in seiner Replik auf Einwände von Thomas Nagel und anderen (ebd. 136f) auf den Begriff genetischer Kontingenz als einer wesentlichen Grenzbestimmung, die zu unserer Autonomieerfahrung gehört.41 Dies ist 40 Vgl. oben, Anm. 30. 41 Habermas a.a.O. (Anm. 39), 136f: „Der programmierten Person, der das Bewusstsein naturwüchsiger biographischer Ausgangsbedingungen genommen wird, fehlt eine mentale Bedingung, die erfüllt sein muss, wenn sie für ihr Leben retrospektiv die
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ein zentraler Aspekt auch meiner Argumentation für ein ‚Recht auf genetische Kontingenz‘, wobei der Schwerpunkt meiner Position gerade auf der Rolle des genetischen Zufalls als einer für das Selbstsein-Können wichtigen Grenzbestimmung liegt.42 Trotz dieser partiellen Übereinstimmungen ist die Habermas’sche Argumentation doch im Kern eine andere, und zwar insbesondere weil bei der Begründung seiner Position spezifische Voraussetzungen seiner ‚post-metaphysischen‘ Diskursethik‚ die auf dem Prinzip universell geltender ‚reziprok-symmetrischer Anerkennungsverhältnisse‘ aufbaut, ins Spiel kommen (siehe insbesondere a.a.O., 105-14, 121-25). Denn er versucht zu zeigen, dass der moraltheoretische Ausgang von reziprok-symmetrischen Anerkennungsverhältnissen angesichts der Herausforderungen der Gentechnik bestimmte ‚gattungsethische‘ Normen notwendig macht, die den Vorstellungen einer ‚liberalen Eugenik‘ entgegenstehen. alleinige Verantwortung übernehmen soll. Soweit sich eine genetisch veränderte Person durch das ‚fremde‘ Design in Spielräumen für den Gebrauch ihrer ethischen Gestaltungsfreiheit festgelegt fühlt, leidet sie unter dem Bewusstsein, die Autorschaft für das eigene Lebensschicksal mit einem anderen Autor teilen zu müssen. … Damit verwischt sich auch in den intergenerationellen Beziehungen jene Interpunktion, die die Heranwachsenden von ihren Eltern unabhängig macht.“ 42 Vgl. Szaif, „Artifzielles …“ (Anm. 30), 61: „Aufgrund der Kenntnis des biochemischen Mechanismus müssen wir uns nämlich als Wesen begreifen, die hinsichtlich ihres biologischen Substrates potentiell Produkte biotechnischer Herstellung sind. Unser Selbstverständnis hat sich dadurch allemal schon verändert. Gleichzeitig erweist sich in dieser Perspektive gerade der Zufall bei der Bildung des Genoms, der an sich ja nur ein negatives Moment mangelnder kausaler Bestimmtheit ist, als wichtig für mein Selbstsein, nämlich indem er eine jener Grenzen ist, die wir nicht einfach setzen, sondern für uns entdecken, und von denen her wir uns unseres Selbstseins vergewissern können. Denn es ist gerade der Zufall bei der Kombination meiner Erbanlagen, durch den mein Genom von der planenden Gestaltung eines fremden Willens abgegrenzt ist. … Derjenige Mensch hingegen, der erfahren müsste, dass sein Genom ein von anderen Menschen zu deren eigenen Zwecken erstelltes Artefakt ist, würde dadurch von seinem biologischen Substrat entfremdet werden. Und dies würde zwar nicht die Auslöschung, aber doch eine erhebliche Verletzung seines Selbstseins bedeuten.“
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Eine allgemeine kritische Auseinandersetzung mit seinem moraltheoretischen Ansatz ist hier natürlich nicht möglich. Ich beschränke mich auf den Hinweis, dass gerade die für das hier erörterte ethische Problemfeld entscheidende Eltern-Kind-Beziehung für das Paradigma ‚reziprok-symmetrischer Anerkennungsverhältnisse‘ Probleme bereitet. Selbstverständlich bestehen innerhalb der Familie wechselseitige Verpflichtungen und sollten die intergenerationellen Beziehungen von wechselseitiger Zuneigung getragen sein. Entscheidend ist jedoch, dass intergenerationelle Verpflichtungen ungleichartig sind. So haben Eltern in einem besonderen Maße Verantwortung für das Wohl des Kindes, und daraus entspringend auch Verdienst. Das diesem Sachverhalt Rechnung tragende Gebot, dass man seinen Eltern in besonderer Weise Achtung und Dankbarkeit erweisen solle, ist nicht Ausdruck eines symmetrischen Anerkennungs- und Verpflichtungsverhältnisses, wie man auch daran sieht, dass das gebotene Verhalten der Eltern ihren Kindern gegenüber jedenfalls nicht durch die gleiche Art von Achtungserweisung bestimmt ist.43 – Gewiss kann man versuchen, die vernunftethische Geltung solcher Pietätspflichten zu bestreiten, und sie als ein zu überwindendes Traditionsgut darstellen. Hier ist nicht der Ort für eine ausführliche vernunftethische Rechtfertigung dieser Pflichten. Ich will lediglich verdeutlichen, dass meine Argumentation, anders als bei Habermas, unabhängig von der Voraussetzung ist, dass man die Eltern-Kind-Beziehung aus dem Blickwinkel der Idee universeller symmetrischer Rechte und Verpflichtungen hinreichend moralisch explizieren können müsse.
43 In diesem Sinne hat etwa schon Aristoteles die Eltern-Kind-Beziehung als ein Beispiel für nicht-symmetrische Liebe behandelt, in Abhebung zur Freundschaftsliebe, die stets auf dem Prinzip der Ebenbürtigkeit und symmetrischen Reziprozität beruht; vgl. Eth. Nic. VIII, 1158b1-59a12, 1160b32-61a3, 1162a16-33.
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Ein weiterer in diesem Zusammenhang zu bedenkender Aspekt von Asymmetrie ergibt sich daraus, dass die Eltern ihre erzieherischen Entscheidungen im Lichte des sie leitenden persönlichen Ethos fällen müssen. Selbstverständlich sollten im Sinne eines Vernunftethos erzieherische Entscheidungen vernünftig ausweisbar und insofern auch einem rationalen Diskurs zwischen den Eltern und ihrem (intellektuell gereiften) Kind wenigstens nachträglich zugänglich sein. Da jedoch die erzieherischen Entscheidungen der Eltern immer auch ihr persönliches Ethos reflektieren, welches sich nicht rein aus abstrakten Vernunftprinzipien ableiten lässt, schließt vernünftige Rechtfertigung auch den Verweis auf ein Ethos ein, welches das erwachsen gewordene Kind möglicherweise nicht teilen wird. Das Kind wird sich darum die Gründe der Eltern später gegebenenfalls nicht zu eigen machen können, ohne dass es darum berechtigt wäre, den Eltern vorzuwerfen, dass sie sich von ihrem Ethos haben leiten lassen. (Man nehme als Beispiel den Fall, dass ein Kind religiös erzogen worden ist, später aber eine atheistische Haltung einnimmt und sich nachträglich ablehnend gegen diesen Aspekt seiner Erziehung verhält, ohne die dadurch bedingte Formung gänzlich ungeschehen machen zu können.) Auch im Kontext einer vernunftethischen Orientierung, die repressive Formen der Erziehung, mit denen die Entwicklung zur Autonomiefähigkeit verhindert werden soll, ablehnen muss, wird man also den Eltern nicht pauschal das Recht absprechen können, sich quasi einseitig von dem für sie bestimmenden Ethos leiten zu lassen. Aufgrund der Tatsache, dass Eltern in einem gewissen Sinne die Ursache der Existenz ihrer Kinder sind und dass sie durch ihre erzieherischen, durch das je eigene Ethos informierten Entscheidungen einen prägenden Einfluss auf ihre Kinder haben, ergibt sich also zwar einerseits eine unvermeidliche Asymmetrie in der Eltern-Kind-Beziehung. Es ist aber andererseits auch festzuhalten, dass Eltern im Rahmen der natürlichen Reproduktion sich weder für ein bestimmtes Kind noch gar für bestimmte Merkmale, die ihr 191 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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Kind haben soll, entscheiden können. Im Falle des ‚Designerbabys‘ würde darum eine wesentliche Grenze verloren gehen – eine Grenze, die die Autonomie, welche das heranwachsende Kind im Verhältnis zu seinen Eltern (unbeschadet bestimmter Pietätspflichten) letztlich entwickeln muss, unterstützt. Es fände, wie man es auch nennen kann, eine Grenzverschiebung44 statt, durch die die Eltern nicht mehr nur für wesentliche Aspekte der kindlichen Entwicklung, sondern auch für das genetische Substrat ihres Kindes (oder Teilaspekte davon) durch bewusste Auswahl verantwortlich würden. Negativ formuliert ist elterliche Verantwortung eine Form der Machtfülle, die jedoch aus der Natur des kindlichen Fürsorgebedürfnisses resultiert. Wenn Eltern über diese Naturtatsache hinaus auch noch dazu ermächtigt werden, entsprechend ihren Vorlieben, wesentliche Merkmale des kindlichen Genoms auszuwählen und auf diese Weise ihren Willen sogar in die Erbinformation des Kindes einzuzeichnen, so wäre dies ein qualitativer Sprung in der elterlichen Machtfülle, mit dem über das natürlicherweise Notwendige hinausgegangen wird.45 Da das Resultat dieser zusätzlichen elter‑ lichen Ermächtigung geeignet ist, den Heranwachsenden von
44 Zum Begriff einer „Grenzverschiebung“, durch die die Grenze zwischen dem, was durch genetischen Zufall, und dem, was durch gezielte Auswahl bestimmt wird, verändert wird, vgl. etwa R. Dworkin, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality (Harvard UP 2000), 444. – Dworkin gehört aber zu denjenigen Autoren, die den Perspektiven einer ‚liberalen Eugenik‘ eher affirmativ gegenüber stehen. Siehe auch A. Buchanan/D.W. Brock/N. Daniels/D. Wickler, From Chance to Choice. Genetics and Justice, Cambridge 2000, und vgl. zu diesen und anderen wichtigen Diskussionsbeiträgen Honnefelder, Welche Natur …? (Anm. 6), 237-256. 45 Den Aspekt einseitiger „Macht Jetziger über Kommende“ sowie die Fragwürdigkeit einer Haltung, die sich dazu berechtigt sieht, stellt auch H. Jonas in Technik, … (Anm. 33), 168f, heraus. Er geht in diesem Zusammenhang unter anderem auch auf die mangelnde Voraussehbarkeit und Steuerbarkeit der Folgen ein (was ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist, den ich hier aber nicht behandele) sowie auf die Folgen, die Klonierung und andere Formen gentechnischer Eingriffe für die Authentizität der Lebensführung haben können.
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seinem biologischen Substrat zu entfremden und sich somit zur Aneignung dieses Substrats im Prozess der Selbstwerdung gegenläufig verhält, muss man dies, mit Blick auf das vernunftethische Ziel der Befähigung zum Selbstsein, als ein moralisches Übel bewerten. Auch unabhängig von der tatsächlichen Realisierung der künstlichen Synthetisierung menschlichen Lebens haben die Perspektiven der synthetischen Biologie, aber auch zuvor schon die Erkenntnisse der Mikrobiologie und Biochemie, unser Selbstverhältnis nachträglich beeinflusst. Indem Leben, grob gesprochen, als ein besonders komplexer Mechanismus verständlich wird, der, wenigstens im Prinzip, künstlich nachgebaut werden könnte, ist auch der Vorstellung der prinzipiellen Andersheit des Lebens gegenüber dem Künstlichen der Boden entzogen. In gewissem Sinne stehen wir damit wieder in größerer Nähe zu bestimmten antiken Ansätzen. Platon betonte, wie wir gesehen haben, die Künstlichkeit der Natur. Gegenüber menschlichem ‚Mitschöpfertum‘ durch Eugenik hatte er keinerlei Bedenken (wenigstens solange dies der genetischen Verbesserung dient). Der wesentliche Unterschied in platonischer Perspektive ist nicht der zwischen einer Sphäre des Lebendigen und einer des Künstlichen, sondern der zwischen dem Geistigen oder Intellektuellen, das sich selbst und anderes zu gestalten vermag, und dem bloß Körperlich-Biologischen. Für die Epikureer hingegen hat alles Geschehen, einschließlich unserer Denkvorgänge und Willensakte, seine Grundlage im naturhaften Zusammenspiel von mechanistischer Verursachung und spontanen Zufallsereignissen. Aristoteles’ Position erwies sich als komplexer, insofern für ihn lebende Körper einerseits technikanalog organisiert, andererseits durch die prinzipielle Eigentümlichkeit des Lebendigen, sich selbst steuern und reproduzieren zu können, von Kunstprodukten klar geschieden sind. Es ist gerade diese Unterscheidung, welche durch die sich abzeichnenden Möglichkeiten der synthetischen Biologie in Frage gestellt wird. Die Vorstellung 193 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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von der Heiligkeit des menschlichen Lebens ist in unserem Kulturkreis hingegen sicherlich primär ein Erbe der jüdisch-christlichen Tradition, in der erstens die Kluft, die Gott vom Menschen trennt, sehr viel radikaler gesehen wird als in der polytheistischen Antike und in der zweitens das je individuelle menschliche Leben, insofern ihm ein besonderer Schöpfungsakt Gottes zugrunde liegt, von dem, was Menschenwerk ist, durch die Heiligkeit seines Ursprungs radikal unterschieden ist. Im zeitgenössischen Diskurs rekurriert man auf Begriffe wie Personalität oder Menschenwürde, um in ethischer Perspektive die prinzipielle Andersheit zu fassen, durch die sich das menschliche Leben aus der übrigen Natur heraushebt. Dabei dient, gleichsam in platonischer Manier, das Phänomen der Vernunftfähigkeit und Selbstbestimmung als die entscheidende Grenzsetzung, aus der sich die besondere ethische Signifikanz menschlichen Lebens ergibt. Der Gedankengang, den ich hier verteidigt habe (in partieller Übereinstimmung mit Habermas), versucht zu verdeutlichen, dass wir in der Erörterung der ethischen Fragen, die sich aus den Möglichkeiten der synthetischen Biologie ergeben, auch auf ein strikt biologisches Moment, die Natürlichkeit in der Vererbung und die damit in Zusammenhang stehende ‚Zufallsbarriere‘, zurückgreifen müssen.
Literatur Buchanan, A./ Brock, D.W./ Daniels, N./ Wickler, D., From Chance to Choice. Genetics and Justice, Cambridge 2000. Brunschwig, Jacques, The Cradle Argument in Epicureanism and Stoicism, in M. Schofield, G. Striker (Hgg.), The Norms of Nature, Cambridge 1986, 113-144. Dworkin, Ronald, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality (Harvard UP 2000). Everson, Stephen, Epicurean Psychology, in K. Algra u.a. (Hgg.), The Cambridge History of Hellenistic Philosophy, Cambridge 2005, 542-559. Gotthelf, A./ Lennox, J.G. (Hgg.), Philosophical Issues in Aristotle’s Biology, Cambridge 1987.
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Natürlichkeit und Künstlichkeit Habermas, Jürgen, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 4., erweiterte Aufl., Frankfurt a.M. 2002. Honnefelder, Ludger, Welche Natur sollen wir schützen?, Berlin 2011. Honnefelder, Ludger, Perfektionierung des Menschen. Paradigmen, Ziele und Grenzen, in Günter Rager / Gerhard Wegner (Hgg.), Synthetische Biologie – Leben als Konstrukt, Freiburg/München 2015. Jonas, Hans, Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt a.M. 1987. Kullmann, Wolfgang, Aristoteles und die moderne Wissenschaft, Stuttgart 1998. Lennox, B. J. G., Plato’s Unnatural Teleology, in ders., Aristotle’s Philosophy of Biology. Studies in the Origins of Life Science, Cambridge 2001, 280-302. Long, A. A./ Sedley, D. N., The Hellenistic Philosophers, vol. I, Cambridge 1987. Nussbaum, M. C., Aristotle’s De motu animalium, Princeton 1978. Pühler, Alfred, Von der Molekulargenetik zur Synthetischen Biologie – Geburt einer neuen Technikwissenschaft, in G. Rager / G. Wegner (Hgg.), Synthetische Biologie – Leben als Konstrukt, Freiburg/München 2015. Siep, Ludwig, „Moral und Gattungsethik“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002). Sorabji, Richard, Necessity, Cause, and Blame, London 1980. Szaif, Jan, Gut des Menschen. Problematik und Entwicklung der Glücksethik bei Aristoteles und in der Tradition des Peripatos, Berlin/New York 2012. Szaif, Jan, Freundschaft und Moral. Über Freundschaft als Thema der philosophischen Ethik, Bonn 2005. Szaif, Jan, „Artifizielles Werden. Zur ethischen Problematik der künstlichen Herstellung des menschlichen Genoms“, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 5 (2000), 54-62. Rager, Günter, Morphologie und funktionelle Einheiten der Zelle, in G. Rager / G. Wegner (Hgg.), Synthetische Biologie – Leben als Konstrukt, Freiburg/München 2015. Taylor, C.C.W., The Atomists. Leucippus and Democritus, Toronto 1999. Tugendhat, Ernst, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a.M. 1979.
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Lebens-wert. Aspekte eines theologischen Verständnisses vom Leben Peter Neuner
Im Rahmen der synthetischen Biologie steht der Begriff Leben in Spannung zur unbelebten, anorganischen Natur. Es stellt sich die Frage ob dieser Gegensatz überwunden werden kann und wie gegebenenfalls synthetisch hergestellte Produkte in das Genom eingebaut werden und damit Lebensprozesse steuern können. In der Philosophie und in der Theologie steht der Begriff Leben zumeist nicht im Kontrast zur unbelebten Natur, sondern zum Tod. Tod und Leben bilden hier das korrelative Begriffspaar. Dabei erscheint der Begriff Leben in aller Regel als Wertbegriff, während Tod das Unheil bezeichnet. Diese Vorstellung ist tief in das Empfinden und in die Alltagssprache eingedrungen, so dass alles, was einen Gegensatz zu Leben bildet, als Unwert verstanden wird. Die Aussage, dass etwas lebendig ist, stellt ein Werturteil dar. Lebendes steht im Gegensatz zu allem, dem diese Eigenschaft nicht zugesprochen wird und das man folglich nicht anstreben kann und will. Das tangiert auch die Diskussion um die synthetische Biologie. Hier begegnet heute nicht allein die Angst, man wolle Designerbabies entwerfen und einen Homunculus konstruieren. Darüber hinaus entstehen auch Sorgen, durch diese Technik werde das Leben als Wert selbst in Frage gestellt. In diesem kurzen Überblick soll nicht der Versuch gemacht werden, den Begriff Leben in seinen vielfältigen Konnotationen in Philosophie, Religionswissenschaft und Theologie zu umreißen. Dies wäre ein uferloses Unterfangen. Aber es sollen einige Aspek197 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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te angesprochen werden, die heute auf die Bewertung der synthetischen Biologie zurückwirken und ihr gegenüber nicht selten Ängste auslösen. In der griechischen Philosophie stehen zwei Begriffe für Leben: bios und zoe. Bios bezeichnet die Lebensdauer, die Biographie eines Menschen, den individuellen Lebenslauf. Der Begriff kann auch die Differenz besagen zwischen denen, „die im Leben stehen“ und den Philosophen in ihrer theoretisierenden Betrachtung der Wirklichkeit1. Zoe bezieht sich schwerpunktmäßig auf die Tatsache des Lebens, die Lebenskraft und die Lebensäußerungen von Pflanzen, Tieren und Menschen. Zoe ist das Abstraktum. Im Lateinischen werden beide Begriffe mit vita wiedergegeben, im Deutschen mit Leben. Diese Übersetzung durch einen Begriff wurde nicht selten zum Anlass für Verwechslungen der ursprünglichen Aussage und für einseitige Urteile. In frühen Mythen und Religionen wird zwischen belebt und unbelebt nicht unterschieden, eine strenge Trennung beider Bereiche ist letztlich erst eine Sache des neuzeitlichen Denkens. In der Frühzeit erscheint alles, was ist, als belebt und beseelt. Lebendig ist was sich bewegt, also Wesen, die entstehen und vergehen, aber auch die gesamte Natur, das All, insofern es in Bewegung ist. Ihm kommt nach antiker Überzeugung im Gegensatz zu den Lebewesen sogar ewiges Leben zu. In die philosophische Diskussion wurde der Begriff Leben durch Platon eingeführt. Leben ist geprägt von einer ihm innewohnenden Bewegungskraft. Lebendig ist, was sich selbst bewegt, Leben ist Selbstbewegung. Prinzip des Lebens ist nach Platon die Seele, folglich sind alle Lebewesen beseelt, Tiere, Pflanzen und die Menschen, aber auch das Universum als Ganzes. Dieses ist in ständiger Bewegung und stellt das vollkommenste Lebewesen dar. Die Weltseele hält es in Bewegung und verleiht ihm
1 P. Hadot, Leben, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 5 Sp. 56 f.
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Aspekte eines theologischen Verständnisses vom Leben
Ordnung und ewiges Leben. In Spannung zu diesem Konzept spricht Aristoteles in seiner Metaphysik dem ersten unbewegten Beweger Leben zu, weil er Bewegung ermöglicht, ohne selbst bewegt zu sein oder sich zu bewegen. Für Aristoteles steht im Zentrum des Lebens der Akt des Denkens, und dieser wird mit Gott als dem ersten unbewegten Beweger identifiziert. Er ist das ewige, vollkommene Leben2. Die Suche nach einer Synthese dieser beiden Konzepte, Leben als Selbstbewegung oder als Denken zu verstehen, charakterisiert die neuplatonische Philosophie. Das wahre Leben hat nach dieser Vorstellung seine Existenz in der göttlichen Vernunft, diese ist Quelle allen Lebens, insbesondere des guten Lebens. Philon v. Alexandrien definiert Leben „geradezu als das Gute (to agathon) und die Tugend, den Tod aber als das Schlechte (to kakon) und die Schlechtigkeit im diesseitigen Dasein“3. Zusammen mit der biblischen Botschaft hat der Neuplatonismus die abendländische Geistigkeit zutiefst geprägt, er hat einen gewichtigen Beitrag für die frühchristliche Synthese von biblischer Verkündigung und hellenistischer Kultur erbracht. Augustinus berichtet in den Confessiones, dass er in den platonischen Büchern die Botschaft des Johannesprologs wiedergefunden habe, wo es vom Logos heißt: „In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen“ (Joh. 1,4). Die großen griechischen Philosophen werden in der frühchristlichen Theologie oft neben die alttestamentlichen Propheten gestellt und in der byzantinischen Kunst mit Heiligenschein dargestellt. Zum Verständnis des Lebens hat in der abendländischen Welt neben der griechischen Philosophie auch die biblische Botschaft einen gewichtigen Beitrag erbracht. Darauf soll hier eingegangen werden. Im Alten Testament sind es drei Begriffe, die mit Leben wiedergegeben werden, selbst wenn sie semantisch nicht völlig ein2 Hadot, a.a.O. Sp. 53. 3 Zitiert a.a.O. Sp. 57.
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deutig von einander zu unterscheiden sind und sich auch Überlappungen finden. Das Wort hajjim entspricht weithin dem griechischen zoe, es bezeichnet das Leben im Gegensatz zum Tod. Dem griechischen psyche entspricht das hebräische näphäsch, das die dem Individuum eigene Lebenskraft und die Seele als Träger des Lebens umschreibt. Dem griechischen bios entspricht am ehesten das hebräische jamim. Es bezeichnet die Lebensdauer, den Lebenswandel, das Leben in seinen konkreten Erscheinungsformen4. Eine gegenseitige Befruchtung lässt sich für die Folgezeit insbesondere im Verständnis von hajjim und zoe feststellen. Diese Begriffe umreißen die am meisten abstrakten Aspekte dessen, was dann als vita beziehungsweise als Leben verstanden wird. Leben in Sinn von hajjim bezeichnet im Alten Testament die Lebenskraft im Gegensatz zum Sterben und zum Tod. Leben drängt die Macht des Todes zurück, die sich in Krankheit und Not zeigt, und überwindet sie. Dabei besagt Leben nicht nur die Tatsache biologischer Existenz, vielmehr ist Leben in diesem Verständnis das heile, das erfüllte Leben. Leben wird zu einem Heilsbegriff, es bezeichnet den höchsten Wert. Als Wertbegriff kann Leben auch auf „unbelebte“ Gegenstände angewendet werden, etwa auf die Ruinen Jerusalems (Neh 3,34). Quellen werden als lebendige Wasser bezeichnet. Sie sind nicht nur lebendig sondern auch lebenspendend. Vor allem aber bezieht sich der Begriff Leben auf den Menschen. Für ihn ist Leben die Heilsgabe schlechthin, es ist Geschenk des lebendigen Gottes. Im ersten Schöpfungstext in Genesis 1 teilt Gott den Lebewesen in spezieller Weise ihr Leben mit und erteilt ihnen den Segen, fruchtbar zu sein, sich zu mehren und die Erde zu erfüllen. Im zweiten Schöpfungstext heißt es, dass Gott dem Menschen, den er aus Erde geformt hatte, den Lebens‑ atem einblies. „So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen“
4 Nach G. Dautzenberg, in: LThK Bd. 6 Sp. 712 f.
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Aspekte eines theologischen Verständnisses vom Leben
(Gen 2,7). Gott erscheint im Alten Testament als Quelle des Lebens (Ps. 36,10), als der Lebendige greift er in das Geschick der Welt ein und leitet sein Volk. Der Mensch kann das Leben gewinnen durch Einhaltung der Gebote, die Beobachtung des Gesetzes und durch die Bemühung um Weisheit. Auch für den Sünder gilt, wenn er umkehrt „und Recht und Gerechtigkeit übt – ‚leben soll er‘, nicht sterben“ (Ez 18,21). Durchwegs ist Leben im Alten Testament ein Relationsbegriff, es impliziert die Hinordnung auf Gott und ist nur von ihm her zu verstehen. Gott ist der Lebendige (Dt 5,26), er schenkt Leben und erhält es, er zieht aber auch den Lebensodem wieder zurück. Leben ist im Alten Testament nur aus der Kraft Gottes denkbar. Das Leben, das Gott dem Menschen schenkt, ist begrenzt und befristet. Der Fromme hofft, nach einem langen und erfüllten Leben am Ende seiner Tage „alt und lebenssatt“ zu sterben. Dieser Hoffnung liegt das Vertrauen auf den Tun-Ergehens-Zusammenhang zugrunde. Gott ist gerecht und er schenkt dem Gerechten ein langes und erfülltes Leben. Doch dieses Vertrauen wird immer wieder erschüttert, etwa wenn junge Menschen sterben, die nicht „alt und lebenssatt“ sind. Am drastischsten stellt sich das Problem beim Märtyrer, der um der Treue zum göttlichen Gesetz willen sein Leben verliert. Um auch hier die Gundüberzeugung von der Gerechtigkeit Gottes aufrecht zu erhalten, entsteht der Glaube an die Auferstehung und an ein ewiges Leben jenseits der Todesschwelle. Diese Hoffnung steht in der alttestamentlichen Botschaft eher noch am Rande, sie zeichnet sich erst in dessen spätesten Schichten ab. Im Unterschied zur platonischen Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele ist biblisch das ewige Leben nicht in der Natur des Menschen begründet, sondern es ist Geschenk des Gottes, der Heil und Leben zuteil werden lässt (Dan 12,2). Ewiges Leben gründet in der Macht Gottes, nicht in der Selbstmächtigkeit des Menschen. Es eignet nicht einer vom Leibe befreiten unsterblichen Seele, sondern ist Verheißung für den Menschen als Gan201 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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zen. So kann ewiges Leben nur zusammen mit der Auferstehung des Leibes gedacht werden. Zudem gilt diese Hoffnung im Alten Testament zunächst nur wenigen Gerechten, nicht allen Menschen, und ihre Auferstehung erfolgt zum Leben und zum Heil, nicht zum Gericht oder zum ewigen Tod. Im Judentum zur Zeit Jesu und auch im Neuen Testament hat sich der Glaube an die Auferstehung und an ein ewiges Leben weithin durchgesetzt. Er prägt die Verkündigung Jesu ebenso wie die Botschaft der Pharisäer. Dagegen haben die Sadduzäer, die den Tempel in Jerusalem beherrschten und den Hohenpriester stellten, diesen Glauben nicht geteilt. Im Zentrum der Predigt Jesu steht die Mahnung, sich zum kommenden Gottesreich zu bekehren. Jesu Botschaft lässt sich zusammenfassen in dem Wort: „Kehret um, denn das Reich Gottes ist nahe“. Dieses Reich Gottes umschließt, wie in den Worten Jesu in den synoptischen Evangelien deutlich wird, ewiges Leben. Wenn sie umkehren können die Menschen „in das Leben eingehen“ (Mk 9, 43). Die Zeichen Jesu machen anschaulich und verkünden, dass dieses Reich in seiner Person und seinem Wort und Werk bereits angebrochen ist, und dass damit die Macht der Krankheit, des Leides, also die lebensfeindlichen Mächte prinzipiell besiegt sind. Insbesondere die Krankenheilungen und die Totenerweckungen zeigen, dass Christus gekommen ist, um das Leben zu schenken, das das Gottesreich verheißt. Der Tod wird dann nicht mehr sein. Die Begriffe Reich Gottes und (ewiges) Leben sind bei den Synoptikern nahe verwandt. Selbst wenn in den synoptischen Evangelien das Wort Leben eher selten verwendet wird und nicht strukturbildend ist, erscheint das in der Zukunft vollendete Reich Gottes durch das Leben geprägt. Das für das Eschaton erwartete Heil ist durch die Auferstehung Jesu von den Toten bereits jetzt wirksam. Sie eröffnet den Weg zum wahren Leben. Leben ist in der synoptischen Tradition die Heilsgabe Gottes an die Menschen, die für die Frommen ewig währt. 202 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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Während in der Verkündigung Jesu die Botschaft vom Reich Gottes im Zentrum steht, wird dieser Begriff in den biblischen Aussagen über Christus weitgehend durch die Botschaft von der Auferstehung und vom Leben abgelöst. Bei Paulus ist Leben Ausdruck für ein Stehen im Machtbereich Christi, während sich der Nichtglaubende im Machtbereich des Todes befindet, ebenso wie der, der seine Hoffnung auf die Erfüllung des Gesetzes setzt. Doch „der aus dem Glauben Gerechte wird leben“ (Gal 3,11). Christus ist der zweite Adam, durch den „alle Menschen zur Gerechtsprechung kommen, die Leben gibt“ (Röm 5, 18). In Christus, dem „Ersten der Entschlafenen“ werden „alle lebendig gemacht werden“ (1 Kor 15,22). Die Taufe symbolisiert die Teilhabe des Glaubenden am Tod Jesu und an seiner Auferstehung zu neuem Leben. Wer auf Grund des Glaubens gerechtfertigt ist und aus der Gerechtigkeit Gottes lebt, hat bereits jetzt schon ewiges Leben. „Das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus hat dich frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes“ (Röm 8,2). Der Glaube bringt „einen Gewinn, der zu eurer Heiligung führt und das ewige Leben bringt …die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus unserem Herrn“ (Röm 6,22f). Leben umschließt in den paulinischen Schriften die Fülle der Heilserwartungen. Bei aller Ausrichtung auf das Eschaton ereignet sich das ewige Leben bei Paulus nicht erst in der Auferstehung am Jüngsten Tag, sondern im Augenblick der Rechtfertigung, wenn der Mensch vom Tode befreit und mit dem Leben begnadet wird. Den Höhepunkt der Konzentration der Heilsbotschaft im Begriff Leben stellt die johanneische Theologie dar. Es wurde gesagt, dass bei Johannes das Wort Leben (zoe) die Rolle einnimmt, die der Begriff Reich Gottes in den synoptischen Evangelien spielt5. Leben 5 Nach A. Wikenhauser, Das Evangelium nach Johannes, Regensburg 1961, S. 218. An diesem Exkurs orientiert sich auch die folgende Darlegung einschlägiger Aussagen des vierten Evangeliums.
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ist im vierten Evangelium die Zusammenfassung aller Heilsverheißung und Heilserwartung. Während bei Paulus Leben von der Auferstehung Jesu her gedeutet wird, gründet es bei Johannes in seiner Herkunft von oben, von Gott. Dieses Leben ist Gabe Gottes, das den Menschen durch Christus zuteil wird. Er ist Träger und Spender des Lebens. Der johanneische Christus sagt von sich, dass er lebt, das Leben in sich hat, dass er die Auferstehung und das Leben ist. Er bezeichnet sich als Brot des Lebens, Licht des Lebens, Wasser des Lebens, seine Worte sind Geist und Leben, Worte des ewigen Lebens. Das Leben, das er den Menschen vermittelt, hat er vom Vater empfangen. Die Menschen haben das Leben nicht in sich, sondern in ihm, in seinem Namen. Dieses Leben wird zufolge des Johannesevangeliums und der Johannesbriefe den Menschen bereits hier auf Erden zuteil, es ist gegenwärtiger Besitz. Der Glaubende hat das ewige Leben, er ist bereits aus dem Tod ins Leben hinüber geschritten, er kommt nicht ins Gericht. Wenn das vierte Evangelium vom Leben als irdisch-leiblicher Existenz spricht, verwendet es nicht den Begriff zoe, sondern psyche. Dieser Begriff erscheint etwa in der Aussage, dass Jesus sein Leben hingegeben hat (1Joh. 3,16) oder Petrus sein Leben für Jesus hingeben will. Leben und irdische Existenz sind also nach Johannes zwei verschiedene Dinge. Das Leben (zoe) wird durch den leiblichen Tod nicht zerstört, es ist ihm enthoben. Wie es bei Johannes zwei Arten von Leben gibt, die nicht auf einander rückführbar sind, so gibt es auch zwei Arten des Todes. Sie werden mit dem gleichen Wort thanatos bezeichnet. Darauf beruhen die paradoxen Aussagen des Johannesevangeliums: „Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben“ (11, 25f). Mit dem Glaubenden ist es nicht, „wie mit dem Brot, das die Väter gegessen haben; sie sind gestorben. Wer aber dieses Brot isst, wird leben in Ewigkeit“ (6, 58). Bedingung dafür, das Leben zu empfangen, ist der Glaube an Christus als den Messias und den Gottessohn: dass er vom Vater 204 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Aspekte eines theologischen Verständnisses vom Leben
ausgeht, dessen Leben hat und es den Menschen schenkt. Obwohl dieses Leben grundsätzlich ewig ist, kann es der Mensch dennoch verlieren, wenn er die Verbindung mit Christus und dem Vater aufgibt oder in die Sünde fällt, die diese Gemeinschaft zerstört. Frucht des Lebens ist die Befreiung vom ewigen Verderben. Der Gläubige erfährt die Tilgung seiner Sündenschuld, die Wahrheit, die ihm zuteil geworden ist, macht ihn frei. Mit dem Geschenk des Lebens verbindet sich für die Glaubenden der Empfang des Geistes, Christus und der Vater nehmen Wohnung bei ihnen. Der Vater liebt sie und Christus bezeichnet sie als seine Freunde. Sie besitzen einen Frieden, den die Welt nicht geben kann, inmitten aller Bedrängnis und Verfolgungen erfahren sie Freude und Erfüllung. Und in der künftigen Vollendung wird sie Christus in die himmlischen Wohnungen heimholen. Sie werden die Herrlichkeit Gottes schauen und in Gemeinschaft mit ihm sein. In den verschiedenen Traditionen biblischer Botschaft erweist sich also der Begriff Leben als die Zusammenfassung aller Heilsverheißung und Heilserwartung. Während sich dies bei den Synoptikern erst andeutet, kommt es bei Paulus und besonders in den johanneischen Schriften voll zum Tragen. Doch durchwegs gilt für das Alte wie für das Neue Testament: Leben ist ein Heilsbegriff, sein Besitz stellt den höchsten Wert dar. Dieses Leben kommt dem Menschen nicht zu aus eigener Kraft und Leistung, oder als Konsequenz seiner Geistnatur oder seines Intellekts, sondern es ist Geschenk Gottes, der als der Lebendige Leben ist und Leben schaffen und schenken kann. Wo immer Leben ist und entsteht, dort ist Gott am Werk. Diese Überzeugung prägte über die biblischen Schriften und die frühchristlichen Theologen hinaus das abendländische Denken. Gott erscheint hier als Schöpfer und Spender des Lebens, nicht allein der zoe, sondern auch des bios. Beide Begriffe wurden mit vita wiedergegeben und dieses Leben ist von Gott geschenkt und dem Menschen anvertraut. Diese Botschaft wurde verstärkt durch die 205 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Peter Neuner
Überzeugung, dass Leben nur durch einen neuen schöpferischen Eingriff Gottes in die unbelebte Natur erklärt werden könne. Darum steht Leben nicht in der Verfügung und Macht des Menschen. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Ethik6, insbesondere für Fragen zum Beginn und zum Ende des Lebens. Dem Menschen ist es aufgegeben, das Leben schützen und es zu bewahren, ein Verstoß gegen das Leben, insbesondere gegen das menschliche Leben, wird als Schuld und schwerwiegende Verfehlung gewertet. Als mit dem Beginn der Neuzeit eine Trennung zwischen belebt und unbelebt, organisch und anorganisch Platz griff, blieb auf der einen Seite die Vorstellung ungebrochen erhalten, dass Leben eine neue Seinsstufe bedeute, die aus der anorganischen Natur nicht hergeleitet werden könne. Eine vis vitalis, eine spezielle Lebenskraft, die sich nicht auf die Kräfte der Physik reduzieren lasse, überlagere die Prozesse der anorganischen Welt und integriere sie in eine höhere Ordnung. Auf der anderen Seite versucht eine materialistisch orientierte Gegenthese, die Welt des Lebens allein aus den Gesetzen der Mechanik und der Chemie zu erklären. Auch diese Überzeugung kann sich auf die altgriechische Philosophie, etwa auf Demokrit zurückführen. Ihren Höhepunkt fand sie bei J.-O. Lamettrie und P.-H. Holbach, bei denen der Mensch als Maschine erscheint7. Der Entdeckung der Evolution kommt im weiteren Verlauf dieser Denkrichtung eine Schlüsselrolle zu. Man geht wohl nicht fehl in der Vermutung, dass aus der überkommenen Wertung des Lebens und dem Verständnis von Leben als Wert vielgestaltige Ängste gegenüber der synthetischen Biologie entstehen. Zunächst begegnet die Sorge, hier sollten Lebewesen oder gar Menschen konstruiert werden, die eventuell für ganz 6 Siehe hierzu E. Schockenhoff, Ethik des Lebens, Mainz 1993; L. Honnefelder, Die Krise der sittlichen Lebensform als Problem der philosophischen Ethik, in: Ders (Hg.), Sittliche Lebensform und praktische Vernunft, Paderborn 1992, S. 9-25. 7 J.-O. Lamettrie, L’homme machine, Paris 1796.
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Aspekte eines theologischen Verständnisses vom Leben
spezielle Zwecke entworfen werden und denen kaum noch Menschenwürde und Personenrechte zuerkannt werden können. Derartigen Befürchtungen können die Vertreter dieser Technik mit dem Verweis auf die tatsächlich bestehenden Möglichkeiten und ihre wohl prinzipiell gegebenen Grenzen begegnen. Schwerer dürfte es sein, die Sorge zu zerstreuen, auf diesem Weg würden der Wert und die Würde des Lebens und des Lebendigen grundsätzlich in Frage gestellt und Leben in unverantwortlicher Weise instrumentalisiert. Eine Besinnung auf die Vielgestalt dessen, was mit dem heutigen Wort Leben ausgesagt wird, wie es eine philosophie- und dogmengeschichtliche Betrachtung leistet, kann helfen, Ängste abzubauen und damit zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen.
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Perfektionierung des Menschen? Paradigmen, Ziele und Grenzen Ludger Honnefelder
Sich selbst aufgegeben zu sein und das eigene Leben und sich selbst gestalten zu können ist für den Menschen ebenso Auszeichnung wie Herausforderung. Die darin gelegene Spannung ist nicht neu; sie begleitet den Menschen, solange er uns als Kulturwesen begegnet. Durch nichts aber ist die Spannweite der in dieser Selbstaufgegebenheit gelegenen Dialektik so offenkundig geworden wie durch die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten, die durch den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte entstanden ist. Insbesondere gilt dies für die modernen Lebenswissenschaften und ihre Anwendung in Biotechnologie und Medizin. Denn sie haben den Raum der Einsichts- und Eingriffsmöglichkeiten des Menschen in die ihm eigene Natur nicht nur quantitativ in einem Maß erweitert, dessen Grenzen noch gar nicht absehbar sind; sondern sie konfrontieren den Menschen durch ihre qualitative Neuartigkeit mit Fragen konfrontiert, wie sie sich ihm bislang nicht gestellt haben. Die in der Selbstaufgegebenheit des Menschen gelegene Herausforderung zur Selbstgestaltung nimmt damit völlig neue Konturen an. Deutlich wird dies, wenn man die qualitative Neuartigkeit näher in den Blick nimmt (I) und sie in Beziehung setzt zu den die conditio humana kennzeichnenden Struktureigenschaften (II-III). Erst dies erlaubt den Versuch einer evaluativen Verortung der neuen Möglichkeiten und der mit ihnen verbundenen ethischen Fragen, und zwar sowohl was die Frage nach den möglichen vom Menschen selbst zu setzenden Grenzen als auch nach den sein Handeln positiv orientierenden Maßstäben und der daraus resultierenden Verantwortung betrifft (IV-V). 209 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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1. Ohne Zweifel ist es der Schritt in die molekularen Grundlagen des Lebens, der die neue Entwicklung in den Lebenswissenschaften maßgeblich prägt. Denn er lässt Zusammenhänge erkennen, die auf den Gesetzen von Physik und Chemie beruhen und dementsprechend gezielte Eingriffe erlauben – wie dies die molekulare Genetik und die darauf basierende Gentechnologie zeigen. Er zeigt aber zugleich eine Vernetzung aller Vorgänge, die hoch komplex ist und die die Einschätzung der Einsichten und die Übersehbarkeit aller Eingriffsfolgen alles andere als einfach macht – wie dies der immer deutlicher sich abzeichnende Zusammenhang von Epigenetik, Zellund Systembiologie und Evolutionstheorie erkennen lässt. Diese die molekulare Ebene kennzeichnende Verbindung von einfachen Gesetzlichkeiten und hoch komplexen Vernetzungen kennzeichnet sowohl die neuen Weisen der Einsicht als auch die des Eingriffs: Auf der Ebene der Einsicht verbinden sich einfache Indikatoren, die ihrer Natur nach deterministische Aussagen (von freilich begrenzter Reichweite) erlauben, mit Verfahren, die mit Hilfe von Modellierungen der systemischen Zusammenhänge weit mehr an Einsicht erbringen bzw. erwarten lassen. Auf der Ebene der Eingriffe sind nicht nur auf isolierte Faktorenkomplexe abzielende Interventionen möglich, sondern mehr und mehr auch ‚Konstruktionen‘, die sich die systemische Struktur des Lebendigen zunutze machen und die Intervention mit neuen technischen Verfahren verbinden, bis hin zu der – in ihrer Möglichkeit freilich noch offenen – technischen Herstellung einfacher Lebewesen. Gewiss zeichnet sich in dem damit angedeuteten durch Labor und Theoriebildung, Tierversuche und Humanexperimente eröffneten Raum der Einsicht und des Eingriffs vieles allererst als Möglichkeit ab; doch ist das Spektrum des Erreichten in seinem Ausmaß und seiner Neuartigkeit bereits spektakulär genug. Man denke nur an die neu gewonnenen Einsichten im Bereich der Entwicklungsbio210 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Perfektionierung des Menschen? Paradigmen, Ziele und Grenzen
logie und die dadurch eröffneten Möglichkeiten, die von der Steuerung des Fortpflanzungsverhaltens und der künstlichen Befruchtung bis hin zum reproduktiven Klonen und zur Embryonenselektion reichen. Zu nennen wären auch die Möglichkeiten der neu entwickelten intensivmedizinischen Verfahren, die Organtransplantation, die Gen- bzw. Stammzelltherapie oder die durch die Entwicklung der Pharmakologie eröffneten Interventionsmöglichkeiten, vor allem im Bereich der mentalen Störungen. Auch die neuen diagnostischen Wege wären zu erwähnen von der Gendiagnostik bis hin zu den bildgebenden Verfahren, vor allem im Bereich der Hirnforschung.1 Mit der Neuartigkeit der erschlossenen Handlungsräume haben sich signifikante Verschiebungen im Bereich der Zielsetzungen verbunden: An die Stelle der beschreibenden ist die analytisch erklärende und die synthetische konstruierende Biologie getreten, die eine in ihrer Weise neue ‚instrumentelle Haltung‘ im Umgang mit Leben nach sich zu ziehen beginnt. Im Bereich der Medizin haben die mit dem Ziel der kurativen Medizin entwickelten Wege – wie die medikamentöse Behandlung der Depression und anderer mentaler und physischer Störungen oder die im Rahmen der Unfallchirurgie entwickelten kosmetischen Eingriffs-möglichkeiten – die Tür zu einer bis dahin unbekannten ‚Life-style-Medizin‘ geöffnet. Neben die Trias der traditionellen Zielsetzung von DiagnoseTherapie-Prävention ist in der Medizin das Ziel der Optimierung (enhancement) bestimmter Funktionen getreten, die – vom CibaSymposium „Man and his future“ von 1962 beginnend bis hin zur gegenwärtigen Enhancement-Debatte2 – immer stärker das 1 Vgl. ausführlicher L. Honnefelder, Welche Natur sollen wir schützen? Über die menschliche Natur und die ihn umgebende Natur, Berlin 2011, 161-174. 2 Vgl. M. Fuchs, I. Hillebrand, D. Lanzerath et al., Enhancement. Die ethische Diskussion über biomedizinische Verbesserungen des Menschen (DRZE-Sachstandsberichte, 1), Bonn 2002, 59-71.
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Projekt einer umfassenden Perfektionierung des Menschen in den Blick treten lässt. Am dezidiertesten begegnet diese Zielsetzung in Visionen wie der Schaffung eines ‚trans- oder posthumanen‘ Menschen.3 Hier erscheinen nicht mehr Bildung und Kultur als Antwort auf die von Rousseau so hervorgehobene perfectibilitè des Menschen, sondern die durch die Fortschritte der neuen Biologie mögliche gewordene „Anthropotechnik“ (Sloterdijk).4
2. Spätestens damit ist die Frage, wie sich die sich abzeichnenden neuen Möglichkeiten der psychophysischen Selbstgestaltung zur conditio humana verhalten. Sich zu sich verhalten, sich selbst überschreiten, und sich Bilder seiner selbst machen zu können, um sie zu Zielen des eigenen Handelns zu machen, gehört zum Menschen, wo immer er uns als Kulturwesen begegnet. „Die Seele ist gleichsam alles (anima quodammodo omnia)“, schreibt schon Aristoteles5 und charakterisiert damit den für den menschlichen Geist kennzeichnenden Ausgriff, der alles zu transzendieren vermag und gleichsam keine Grenzen kennt. Diese Selbsttranzendenz seines Geistes erlaubt dem Menschen nicht nur die eigene Natur zu
3 Vgl. etwa L.M. Silver, Remaking Eden: Cloning and Beyond in a Brave New World, New York 1998; G. Stock, Redesigning Humans: On Inevitable Genetic Future, Boston 2002; K. Warwick, I, Cyborg, London 2002. Kritisch dazu D. Lanzerath, „Enhancement: Form der Vervollkommnung des Menschen durch Medikalisierung der Lebenswelt?“, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 7, Berlin 2002, 319-336. 4 P. Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a.M. 1999. 5 Aristoteles, De anima III 8, 431b21.
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vergegenständlichen, sondern sie auch als ganz anders vorzustellen, sie zu verändern oder sich von ihr frei zu denken. Schon früh begegnen daher Visionen wie die von Platon bis zu Thomas Morus, Tommaso Campanella und Francis Bacon beschriebenen Utopien von einer eugenisch verbesserten Menschheit ebenso wie Ängste vor dem Absturz des prometheisch sich übersteigenden Menschen oder Hoffnungen auf eine vom Leibe gänzlich befreite Existenz des Menschen.6 Doch dienen diese Vorstellungen – ganz abgesehen von ihrer mangelnden Realisierbarkeit – eher als Folien um sich der realen eigenen Natur zu vergewissern und Defizite des individuellen und gesellschaftlichen Handelns aufzudecken denn als Blaupausen realen Handelns. Erst mit der literarischen Figur des Dr. Frankenstein und der modernen science fiction gehen die Visionen von einer veränderten Natur vom Repertoire der neuen Wissenschaften und der von ihnen erwarteten Veränderungsmöglichkeiten aus, um freilich den Traum vom „Redesigning Humans“ mit der Schreckensvorstellung von einer heraufziehenden „Brave New World“ zu verbinden. Die dem Menschen eigene Selbsttranszendenz, so wird an der Dialektik dieser Visionen und Ängste deutlich, ist die Selbsttranszendenz eines sich zu sich selbst verhaltenden, aber leiblich verfassten Wesens. Dieses Wesen erfährt sich als ein Ich, das sein Körper ist und diesen Körper zugleich als Leib hat. Merleau-Ponty spricht von einem unüberspringbaren „Leib-Apriori“, das dem „natürlichen Ich“ in dessen Ambiguität eigen ist,7 Plessner von einem Lebewesen von „exzentrischer Positionalität“8 und Aristoteles von einer wie Form und Materie sich zueinander verhalten6 Vgl. ausführlicher L. Honnefelder, Welche Natur sollen wir schützen? (wie Anm. 1), 66ff. 7 M. Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris 1945, 340ff. 8 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), Gesammelte Schriften IV, Frankfurt a.M. 2003.
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den substantiellen Leib-Seele-Einheit. Weder eine Reduktion auf eine der beiden Seiten des phänomenal als von zwei Seiten zu beschreibenden Lebewesens noch eine dualistische Teilung in zwei interagierende Entitäten vermögen der Erfahrung zu entsprechen, die der eine Mensch in der Ambiguität von Ich und Leib bzw. in der Doppelaspektivität von Beobachter- und Teilnehmerperspektive macht. Wenn aber Um-sich-zu-wissen und Sich-als-Leib-zu-erfahren eine ursprüngliche Einheit darstellen, müssen die Möglichkeit der Selbsttranszendenz des um sich wissenden Ichs und die Unüberspringbarkeit der Leiberfahrung dieses Ichs als die beiden Seiten einer spannungsvollen Einheit, einer Verschränkung von Identität und Nichtidentität gedacht werden. Die eigene leiblich-seelische Natur wird daher vom Menschen zugleich als Anspruch wie als Grenze erfahren.9 Aristoteles beschreibt sie dementsprechend in seiner Physik als ein „Sein-Können (dynmei on)“, das der in Erkennen, Handeln und Herstellen sich vollziehenden Selbstgestaltung des Menschen vor- und zugleich aufgegeben ist: Sie eröffnet den Raum des Möglichen, in dem der Mensch im Vollzug seines Handelns seine individuelle Identität ausbildet und zu dem wird, was er dann ist. Zugleich setzt sie ihm durch ihre psycho-physische Verfasstheit wie durch ihre soziokulturelle Situiertheit deutliche Grenzen. Diese Grenze zwischen Vor- und Aufgegebenheit, zwischen ‚geworden‘ und ‚gemacht‘ lässt sich, wie die Kulturgeschichte zeigt, vom Menschen selbst verschieben, nicht aber aufheben. Der Vollzug der Selbstgestaltung wird dementsprechend vom Menschen zugleich als Äußerung seiner Macht wie als Erleiden seiner Ohnmacht10 erfahren. 9 Vgl. dazu ausführlicher L. Honnefelder, Welche Natur sollen wir schützen? (wie Anm. 1), 11-20, 186-213. 10 Zur Dialektik der menschlichen Erfahrung von Macht und Ohnmacht vgl. ausführlicher ebd. 118-130.
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3. Als Realisierung dieses den Menschen kennzeichnenden Selbstverhältnisses folgt die Selbstgestaltung des Menschen denjenigen elementaren Strukturgesetzen des Selbstseins, die man mit Plessner als die einer vermittelten Unmittelbarkeit und einer natürlichen Künstlichkeit bezeichnen kann: – Selbstgestaltung ist demnach als ein in Leiblichkeit, Sprache und sozialer Rolle erfolgendes Ausdrucksgeschehen zu verstehen, in dem aus dem vorgegebenen Sein-Können jene „zweite“ Natur entsteht, die das individuelle Ich in seiner Identität entstehen lässt und dessen Handeln und Erleiden bestimmt. – Als ein solches Geschehen ist Selbstgestaltung zu begreifen als ein in der Zeit verlaufender und deshalb irreversibler Prozess. Denn das Ergreifen bestimmter Möglichkeiten schließt den Verzicht auf andere ein; die ergriffenen führen zu bleibenden Prägungen, positiv wie negativ. – Selbstgestaltung ist ferner als sozio-kulturell vermittelte Größe zu verstehen; denn sie ist auf Sinnvorgaben verwiesen. Sie erfolgt über andere und anderes, vornehmlich durch Orientierung an Gestalten der „zweiten“ Natur, die vom Menschen als sinnvoll und maßgeblich empfunden werden. Es ist diese Struktur, die nicht nur die Größe, sondern auch die Begrenztheit der dem Menschen aufgegebenen Selbstgestaltung erkennen lässt. In besonderer Weise gilt dies für den Umgang mit dem als Leib gegebenen eigenen Körper: – So ist die Leiblichkeit als die nicht aufkündbare Bedingung des Ich-seins zu begreifen. Denn ohne die elementare Wahrung der Integrität von Leib und Leben hebt sich das Subjekt selbst auf. – Auch jenseits dieser Grenze zieht die Leiblichkeit Grenzen, und zwar solche, von der wir wissen, dass sie nicht beliebig veränderbar sind. So spricht alles dafür, das sich die kontingente Ver215 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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bindung, die die genetische Ausstattung des Einzelnen betrifft, nicht als solche aufheben lässt, ebenso wenig wie die mit dem Älterwerden verbundene Alterung und der zum Leben gehörende Tod. Daher hat die Selbstgestaltung immer schon die Sorge um den eigenen Leib in Form von Ernährung und Körperpflege, Körperertüchtigung und Sport, sowie präventiver wie kurativer Medizin umfasst. Neu ist die Frage, welchen Spielraum die Konstitution unserer Leiblichkeit für eine Veränderung im Sinn der Optimierung bzw. Perfektionierung lässt. Die Tradition hat die dem Menschen mögliche und aufgegebene Gestaltung seiner Physis als restitutio ad integrum bzw. ad optimum, als Wiederherstellung bzw. Optimierung der der Physis eigenen Funktionsgestalt verstanden, stets aber als restitutio, nicht als constructio bzw. als eine die strukturellen Verhältnisse betreffende Veränderung der als Zielgröße betrachteten funktionalen Gestalt. Wie aber steht es um die Möglichkeit einer solchen Veränderung? Die bisherigen Erfahrungen im Bereich der synthetischen Biologie zeigen, dass auch die in Angriff genommene artifizielle Herstellung einfacher Lebewesen auf lebende Konstituentien wie die entkernte Zelle angewiesen und – was bemerkenswert genug ist – auf eine veränderte Kombination der genetischen Komponenten beschränkt ist. Der Versuch, ‚neue‘ Lebewesen komplexer Art herzustellen, ist zudem mit der Schwierigkeit konfrontiert, die Balance der Strukturelemente und die damit verbundene Einpassung zu wahren bzw. zu erreichen, die die vorhandenen Lebewesen durch eine über Jahrmillionen verlaufende Evolution gewonnen haben. Komplexe Strukturenensembles lassen sich in einzelnen Teilen verändern, nicht aber als Ganzes neu entwerfen, ist doch das Ganze ein solches, dem wir nicht gegenüber stehen, sondern zu dem wir selbst als ein Teil gehören. Schon die Veränderung einzelner Komponen216 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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te setzte eine Einsicht in die komplexe Gesamtstruktur von Organismus und Umwelt voraus, die sich bislang der Erfassung durch Modellierung entzieht. Durch verändernde Eingriffe Störungen zu verursachen – so lautet die daraus zu ziehende Konsequenz – ist einfach zu erreichen, eine Perfektionierung dagegen höchst schwierig, selbst wenn sie sich auf die Veränderung von Komponenten beschränkt. Hinzu kommt der Zusammenhang, in dem im Falle des Menschen das Lebewesen mit der durch ihn selbst gestalteten „zweiten“ Natur und der damit verbundenen sozio-kulturellen Umwelt steht und der bei gravierenden Veränderungen auf Seiten des organischen Systems gestört oder aufgelöst würde.11 So hat beispielsweise die kulturelle Gestalt der menschlichen Reproduktion in Form von Paarverhalten, Familienstruktur, Generationenbeziehung und Formen der Kinderaufzucht ihre Grundlage in der für die menschliche Spezies kennzeichnenden geschlechtlichen Fortpflanzung und der für den Menschen nicht vorhersehbaren und steuerbaren Zufälligkeit, gemäß der die beiden haploiden Chromosomensätze der Eltern sich zu dem neuen individuellen Genom verbinden, was das individuelle Genom in seinen Stärken und Schwächen jedem Rechtfertigungszwang entzieht. Bei einer Umstellung auf eine asexuelle Reproduktion, wie sie durch reproduktive Klonierung möglich wäre, verlöre dieser kulturelle Zusammenhang seinen Sinn und seine orientierende Leistung. In ähnlicher Weise würden sozio-kulturelle Konzepte wie Gleichheitsgebot, Anspruch auf wechselseitige Anerkennung, Solidarität u.ä. ihren Sitz im Leben verlieren, wenn die genetische Disposition über die pränatale oder präimplantative Diagnostik zur Sache der Wahl oder über den Gentransfer in die Keimbahn des noch ungeborenen Menschen
11 Vgl. ausführlicher L. Honnefelder, Welche Natur sollen wir schützen? (wie Anm. 1), 214-233.
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zum Gegenstand der Intervention Dritter würde. Offensichtlich ist es der ‚Zufall‘, dem sich die Individualität des Genoms verdankt, der die Freiheit des Individuums vor der Manipulation durch Dritte bewahrt. Schon diese wenigen Aspekte, die uns der Blick auf die conditio humana zu zeigen vermag, lassen das Ausmaß der ethischen Fragen erkennen, die mit dem Projekt einer durch Biotechnologie und Medizin in den Bereich des Möglichen gerückten ‚Perfektionierung‘ des Menschen verbunden sind. Denn zu Recht nennt der Menschenrechtstheoretiker Ronald Dworkin die Grenze zwischen „chance“ und „choice“, zwischen dem, was dem Menschen durch den Gang der Natur vorgegegeben ist, und dem, was ihm aufgegeben, also Sache seiner Wahl, seines Schaffens ist, das „Rückgrat unserer Moralität (the spine of our morality)“. Denn es ist diese Grenze, an der der Bereich unserer Verantwortung beginnt. Solange die Natur dem Menschen unverrückbare Grenzen setzt, können diese Grenzen zwar eine beklagenswerte Last oder von besonderem Übel sein, doch sind sie der Selbstgestaltung durch den Menschen entzogen. Fallen solche Grenzen über so weite Bereiche weg, wie dies durch Biotechnologie und Medizin möglich zu werden beginnt, erweitert sich der Verantwortungsbereich in einem bislang unbekannten Maß und die Grenzziehung wird zu einer neuen und in dieser Form ganz ungewohnten Aufgabe des Menschen.
4. Doch woran soll sich die Grenzziehung halten, wenn die Natur in zunehmendem Maß zum Artefakt wird? Es ist diese Frage, die den ‚Schrecken‘ begreiflich macht, den die Möglichkeit der Selbstveränderung der eigenen und der umgebenden Natur schon immer ausgelöst hat. Sich nach dem eigenen Entwurf hervorzubringen, 218 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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hatte Kant im Hinblick auf die Biowissenschaften noch ausgeschlossen. „Woran wollen wir uns denn orientieren“, fragt im Anschluss an Kants Feststellung G. Böhme, „wenn wir die Ordnung der Natur nicht mehr als gegeben hinnehmen, sondern überhaupt erst ‚nach eigenem Entwurf‘ hervorbringen wollen?“12 Ganz anders liest sich das Urteil des Theologen K. Rahner, wenn er in dem Versuch des Menschen, die moderne Genetik auf sich selbst anzuwenden, einen Prozess sieht, der dem Menschen als einem sich selbst transzendierenden Wesen entspricht,13 und der amerikanische Theologe T. Peters, der ihm folgt, wenn er in solchem Gebrauch der Genetik ein für den Menschen als geschaffenen Mitschöpfer Gottes adäquates „playing god“ sieht.14 Gegen Rahners Votum ist eingewendet worden, dass er dabei noch nicht mit dem heutigen (wesentlich erweiterten) Szenario der möglichen Veränderungen konfrontiert war, die Risiken und Negativfolgen nicht angemessen einschätzen konnte hat und deshalb die – auch von ihm betonte – Grenzziehung noch nicht hinlänglich ausgearbeitet hat.15 Die zum Menschen gehörige Selbsttranszendenz, so macht die Debatte deutlich, ist nur dann zulänglich bestimmt, wenn die in der conditio humana als solche gelegene Spannung angemessen in Rechnung gestellt wird.
12 So G. Böhme, „Die Vernunft und der Schrecken. Welche Bedeutung hat das genetische Wissen: Naturphilosophische Konsequenzen“, in: L. Honnefelder, P. Propping (Hgg.), Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, Köln 2001, 189195. 13 Vgl. K. Rahner, Schriften zur Theologie VIII, Einsiedeln u.a. 1967, 286-321; ders., „Experiment Mensch. Theologisches über die Selbstmanipulation des Menschen“, in: H. Rombach (Hg.), Die Frage nach dem Menschen: Aufriss einer philosophischen Anthropologie, FS M. Müller, München 1966, 45-69. 14 Vgl. T. Peters, Playing God? Genetic Determinism and Human Freedom, New York u.a. 1997. 15 Vgl. D. Mieth, „‚Der operable Mensch‘. Karl Rahners Beitrag zur Selbstmanipulation des Menschen (1966) im Disput“, in: Stimmen der Zeit 222 (2004), 807-817.
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Doch damit ist erst der Horizont angegeben, in dem sich die ethische Beurteilung zu bewegen hat, nicht aber sind dadurch schon der Rahmen und die Kriterien bestimmt, in denen eine solche Beurteilung erfolgen kann. Da Handlungen bzw. Handlungsklassen Ziele verfolgen und dazu Mittel einsetzen, empfiehlt es sich nach der Legitimität der mit den neuen Handlungsmöglichkeiten verfolgten Ziele und der Vertretbarkeit der dazu verwendeten Mittel zu fragen, wobei in Rechnung zu stellen ist, dass moderne Technologien als Gesamtszenarien von Zielen und Mittel auftreten. Hinsichtlich der normativen Kriterien nach denen die Legitimität der Ziele und die Vertretbarkeit der Mittel zu beurteilen ist, wird es nicht genügen sich auf den Konsens zu beziehen, den die ‚Logik des Heilens‘ d.h. die Zielsetzung ärztlichen Handelns in der Trias von Diagnose-Therapie-Prävention mit ihrer Orientierung an einem praktischen Krankheitsbegriff zu beanspruchen vermag.16 So unbestritten die Legitimität allen Handelns ist, die unter diese Zielsetzung fällt, so geht es doch im Fall der Optimierung bzw. Perfektionierung um Eingriffe, für die zwar medizinische Mittel eingesetzt werden, deren Ziel aber über die Heilung von Krankheit bzw. deren Prävention weit hinausgeht. Das Ziel der Optimierung oder Perfektionierung ist offenkundig zu vieldeutig, um als solche Legitimität zu beanspruchen, hängt doch seine legitimitätsschaffende Bedeutung ganz und gar davon ab, was mit welchen Mitteln verbessert werden soll und wie sich diese Verbesserung auf das gesamte zu berücksichtigende Ensemble auswirkt. Eindeutiger ist schon das die Mittel betreffende und auch in der Ethik ärztlichen Handelns allen anderen Geboten vorgeordnete Prinzip des Nichtschadens (primum nil nocere), hebt doch eine
16 Vgl. dazu D. Lanzerath, „Krankheit und ärztliches Handeln. Zur Funktion des Krankheitsbegriffs in der medizinischen Ethik“, Freiburg i.Br. 2000; vgl. ferner L. Honnefelder, Welche Natur sollen wir schützen? (wie Anm. 1), 249-259.
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Perfektionierung des Menschen? Paradigmen, Ziele und Grenzen
schädigende Handlung eo ipso das Ziel einer Verbesserung auf. Da aber auch legitime Ziele oft genug nicht ohne Inkaufnahme von schädlichen Nebenfolgen zu erreichen sind, impliziert auch das Nichtschadensprinzip eine Abwägung, was wiederum die Frage nach den Kriterien nach sich zieht, denen eine solche Abwägung zu folgen hat. Sicher kann auf der Ebene der Prinzipien auf die ethische Grundüberzeugung zurückgegangen werden, die allgemeinen Konsens zu beanspruchen vermag, insofern sie sich in Form von Menschen- und Grundrechten auch in fundamentalen Rechtsnormen niedergeschlagen hat. Dazu gehört das auf der Selbstzwecklichkeit des Menschen als Person beruhende und deshalb ebenso grundlegend wie unbedingt geltende Prinzip der Unverletztlichkeit der Menschenwürde. Aus ihm folgt aufgrund der psychophysischen Einheit des Menschen der Schutz derjenigen Güter, die als die Bedingung der Möglichkeit des Subjektseins betrachtet werden müssen wie das Gut der Selbstbestimmung und der Meinungsund Religionsfreiheit, das Gleichheitsgebot und das daraus folgende Diskriminierungsverbot und der Schutz der Integrität von Leib und Leben. Legt man diesen aus der Menschenwürde folgenden Komplex von Prinzipien zugrunde, dann kann eine Manipulation der menschlichen Natur, die nicht mit Zustimmung des Betroffenen erfolgt und die Bedingung der Möglichkeit des Subjektseins zerstört, nicht als legitim betrachtet werden.17 Durch diese als kategorisch zu betrachtende Grenze sind Eingriffe wie das reproduktive Klonen, der zur Optimierung unternommene Eingriff in die Keimbahn oder die zu diesem Zweck vorgenommene Embryoselektion ausgeschlossen, wird doch damit die zukünftige individuelle Natur eines Menschen einer irreversiblen Manipulation durch Dritte unterworfen und dem Betrof-
17 Vgl. näher ebd. 228-232.
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fenen die Möglichkeit genommen, sich zu seiner Natur in der Form von Freiheit zu verhalten, der zu seinem Selbstverhältnis gehört. Solche Eingriffe werden auch nicht durch die Zustimmung des Betroffenen legitimiert werden können, ist doch die Erlaubnis solcher Eingriffe als Verstoß gegen die Würde der Gattung zu betrachten. Dies gilt erst recht für die bislang im Bereich der science fiction anzusiedelnden Manipulationen, die mit der Vision eines „trans-“ oder „posthumanen“ Menschen verbunden sind. Im Blick auf eine so weitgehende Manipulation der naturwüchsigen Natur des Menschen erweist sich erneut die Heteronomie, der der Mensch in seiner naturwüchsigen Natur unterworfen ist, als freiheitsbewahrender denn die Heteronomie, der er durch die Zwecksetzung von Seiten manipulierender Dritter ausgesetzt wäre, auch wenn diese Zwecksetzung vermeintlich hehren Intentionen entspringt. Mit guten Gründen lässt sich hier im Blick auf die Menschen von einer „Unverfügbarkeit des naturwüchsigen Modus ihrer leiblichen Verkörperung“18 sprechen. Geht man von der Selbstzwecklichkeit des Subjekts als dem zentralen Wert und von der strukturellen Kopplung von Subjekt und Organismus aus, werden alle in Absicht auf Perfektionierung unternommenen Eingriffe danach zu beurteilen sein, in welcher ‚Nähe‘ die zu perfektionierenden Funktionen und Eigenschaften zu den psycho-physischen Zuständen und Akten stehen, die als konstitutiv für das Subjektsein – oder wie die Juristen formulieren ‚für den Kern der Person‘ – sind und deshalb als besonders schutzwürdig betrachtet werden müssen, wobei das damit formulierte Kriterium natürlich der näheren Differenzierung bedarf. Besondere Bedeutung hat das Kriterium für die durch die moderne Hirnforschung möglich gewordenen Interventionen in das Gehirn.19 18 J. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a.M. 2001, 41. 19 Vgl. näher Anm. 1.
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Perfektionierung des Menschen? Paradigmen, Ziele und Grenzen
5. Die Grenzen, die im Blick auf die individuelle Menschenwürde und ihre notwendigen Bedingungen wie auch im Blick auf die Gattungswürde in unbedingter Weise zu wahren sind, sind ohne Zweifel eng zu ziehen, so dass sich diesseits dieser Grenzen ein weites Handlungsfeld der Selbstgestaltung erstreckt. Manches, aber nicht alles wird man der Entscheidung durch den Einzelnen überlassen können. Auf die Frage, welche Kriterien für eine verantwortliche Gestaltung des zwischen dem fraglos Verbotenen und dem fraglos Erlaubten liegenden Raums maßgeblich sind, wird man freilich nicht einfach antworten können. Was müssen oder wollen wir an unserer Natur – so lautet die Frage – auch diesseits der unbedingt gezogenen Grenzen festhalten, und zwar nicht einfach, weil es Natur ist, sondern weil es Bestandteil der Lebensform ist, die wir als schutzwürdig betrachten? Natur gewinnt hier nicht als Natur handlungsorientierende Kraft, sondern als ein konstitutiver Teil der Lebensform, die wir als sozio-kulturelle Gestalt menschlichen Gelingens schätzen und ohne die unsere Urteile über das für den Menschen Gute ihre Rechtfertigung, ja ihre Verständlichkeit verlieren.20 Zu dieser unserer Lebensform gehört die schon erwähnte Entscheidung, alle die Einsichten und Eingriffe in unsere Natur als legitim zu betrachten, die zu den medizinischen Zwecken der Diagnose, Therapie oder Prävention (und der darauf bezogenen Forschung) notwendig sind, vorausgesetzt die Risiko-Nutzen-Abwägung ist überzeugend getroffen und der oder die Betroffene hat
20 Vgl. A. Buchanan, „Human Nature and Enhancement“, in: Bioethics 23 (2009), 141150; vgl. auch O. Müller, „Der Mensch zwischen Selbstgestaltung und Selbstbescheidung. Zu den Möglichkeiten und Grenzen anthropologischer Argumente in der Debatte um das Neuroenhancement“, in: J. Clausen, O. Müller, G. Maio (Hgg.), Die „Natur des Menschen“ in Neurowissenschaft und Neuroethik, Würzburg 2008, 185209.
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dem nach entsprechender Aufklärung zugestimmt. Doch bleibt im Blick auf die Möglichkeit der Optimierung die Frage, ob die Aufgegebenheit der menschlichen Natur nicht mehr als nur die unter der ‚Logik des Heilens‘ begriffene ‚Reparatur‘ der eigenen Natur umfasst. Warum sollen wir die Mittel der Selbstgestaltung, die die Menschheit in Antwort auf die Plastizität seiner Natur entwickelt hat und die von der breiten Palette der gezielten Lern- und Bildungsprozesse über die sozio-kulturelle incentives der verschiedenen Form bis hin zu Stimulantien jeglicher Art reicht, nicht erweitern und die von der Biotechnologie eröffneten neuen Möglichkeiten zur Verbesserung und Steigerung (enhancement) bestimmter physischer, kognitiver und emotionaler Funktionen und Zuständen nicht nutzen? Längst hat sich doch eine immer breiter werdende Praxis einer solchen Erweiterung etabliert, die eine von den Experten bis zur breiten Gesellschaft reichende Diskussion des Für und Wider nach sich gezogen hat.21 Dass dabei die Nichtschadensgrenze zu beachten ist versteht sich von selbst. Als problematisch muss auch verbucht werden, wenn solche effizienten, aber zugleich kostenintensiven Möglichkeiten nur von einem Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden können, so das eine Spaltung der Gesellschaft bzw. Verletzungen des Gleichheitsgebots zu befürchten sind.22 Nicht ohne Grund wird auch befürchtet, dass eine breite und gesellschaftlich
21 Vgl. dazu Anm. 2 sowie B. Schöne-Seiffert, D. Talbot, U. Opolka, J.S. Ach (Hgg.), Neuroenhancement. Ethik vor neuen Herausforderungen, Paderborn 2009; ferner M. Fuchs et al., Enhancement (wie Anm. 2); The President’s Council on Bioethics, Beyond Therapy: Biotechnology and the Pursuit of Happiness, Washington, D.C. 2003; M. Sandel, Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik, Berlin 2008; E.-M. Engels, E. Hildt (Hg.), Neurowissenschaften und Menschenbild, Paderborn 2005; vgl. ferner Anm. 1. 22 Vgl. etwa H.T. Greely, „The Social Effects of Advances in Neuroscience: Legal Problems, Legal Perspectives“, in: J. Illes (Hg.), Neuroethics: Defining the Issues in Theory, Practice and Policy, Oxford u.a. 2006, 245-263.
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forcierte Wahrnehmung des biotechnologischen enhancements jene Veränderung des Selbstbilds menschlicher Existenz nach sich ziehen könnte, die A. Huxley bereits 1932 in seinem Roman „Schöne neue Welt (Brave New World)“ beschrieben hat und in der der tradierten Vorstellung einer den Kontingenzen des Lebens abgerungenen, aber selbst bestimmten menschlichen Existenz das Bild eines im permanenten Glückszustand sich befindenden, aber fremd gesteuerten und sich selbst entfremdeten Lebens gegenüber gestellt wird. Damit sind Fragen berührt, die im spezifischen Sinn ethischer Art sind, insofern sie das Selbstbild des Menschen betreffen, dessen recht‑ licher Schutz sich auf die Grundlagen beschränken muss, das als solches aber die Sache der Gesellschaft und des Einzelnen ist. Die hier sich auftuenden Fragen machen mit aller Klarheit deutlich, dass eine Verschiebung der durch die Natur gezogenen Grenzen die Notwendigkeit der Selbstbegrenzung des Menschen erhöht, nicht um den weggefallenen Widerstand der Natur einfach zu ersetzen, sondern um den Menschen in den neu eröffneten Handlungsräumen vor dem Sturz nach vorn zu bewahren. Woran aber soll sich diese Selbstbegrenzung orientieren? In der säkularen Gesellschaft beschränkt sich das Recht auf die Sicherung der Bedingungen der Möglichkeit der moralischen Selbstgestaltung und auch die common morality umfasst nicht mehr (die lange Zeit zum Gegenstand der Ethik gehörenden) „Pflichten gegen sich selbst“. Damit ist die Frage der über Recht und Universalmoral hinausgehenden Selbstbegrenzung zur Sache einer epimeleia, einer „Sorge um sich selbst“ geworden, die der Orientierung an dem in den verschiedenen Ethosformen verankerten Entwürfen gelingenden Lebens oder gar dem Einzelnen anheimgestellt ist. Diesseits der Kategorien des Rechts wird deshalb das biotechnologische enhancement vor allem als Frage nach der „Authentizität“ diskutiert, d.h. die Frage nach der Wahrung der personalen Identität in der Führung des eigenen individuellen Lebens angesichts der 225 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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möglich gewordenen weiteren Verschiebung der Grenze von „geworden“ und „gemacht“, von chance und choice. „Authentizität“ bezieht sich auf die Orientierung des Einzelnen an einer sich selbst verständlichen und erzählbaren Lebensgeschichte und an der fühlbaren Kongruenz mit sich selbst.23 Gerade sie aber wird nicht erreicht mit einer Ausdehnung der Mittel, sondern bedarf einer Verständigung über Ziele.24 Deshalb läuft die mögliche Steigerung von Funktionen so lange ins Leere, als sie nicht an der Frage nach einem überzeugenden Ziel orientiert ist. Dieses Ziel kann aber weder an technischen oder utopischen Paradigmen orientiert sein noch auf die bloße Frage nach den Folgen verwechselt werden. Auch der Verweis auf die Selbstbestimmung des Einzelnen ist zu orientierungsschwach. Offensichtlich ist eine Orientierung an Gütern erforderlich, die über die Selbstbestimmung hinaus schutzwürdig sind und die für das Gelingen jenes Lebewesens konstitutiv sind, das ein endliches Leben unter kontingenten Bedingungen führen muss; zutreffend spricht Ch. Taylor hier von „Lebensgütern“25. Denn offensichtlich besteht das Gelingen des Menschen nicht einfach aus der zeitlichen oder funktionalen Ausdehnung seiner Möglichkeiten, sondern allein in der Realisierung von Zielen, deren Gehalt an den für das Gelingen konstitutiven Gütern orientiert ist. Die Frage nach den Grenzen der biotechnologischen Optimierung bzw. Perfektionierung wird damit zur Frage nach dem, was wir als konstitutive Güter menschlichen Gelingens bzw. als das „Maß“ menschlichen Gelingens betrachten wollen. Dazu gehören
23 Vgl. dazu auch O. Müller, Der Mensch zwischen Selbstgestaltung und Selbstbescheidung (wie Anm. 20). 24 Vgl. dazu L. Siep, „Die biotechnische Neuerfindung des Menschen“, in: G. Abel (Hg.), Kreativität, XX. Deutscher Kongress für Philosophie an der Technischen Universität Berlin. Kolloquienbeiträge, Hamburg 2006, 306-323. 25 Vgl. Ch. Taylor, Quellen des Selbst, Frankfurt a.M. 1994, 544.
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neben der Wahrung der Grunddimensionen, ohne die ein gelingendes Leben nicht möglich ist,26 sicher auch die formalen Momente in der Gestaltung des Selbstverhältnisses, die uns für das Erreichen eines gelingenden Lebens wichtig sind wie Selbststeuerung und Autonomie, Verfolgung eines konsistenten Lebensplans u.ä.27 Ob wir uns auf mehr als auf diese strukturell-formalen Teilantworten verständigen können, wird die gesellschaftliche Diskussion der Zukunft zeigen müssen. In diesem Prozess der Verständigung wird ohne Zweifel den konkreten Mustern gelingenden Lebens, die in Gruppen der Gesellschaft gelebt werden und ein überzeugendes Selbstbild des Menschen zu entfalten vermögen, eine paradigmatische Rolle zukommen.
26 Man denke an die Hinweise auf solche Grunddimensionen, die sich von Aristoteles und Thomas von Aquin bis hin zu J. Finnis (Fundamentals of Ethics, Oxford, 2. Aufl. 1985), M. Nussbaum („Nature, Function and Capabality: Aristotle on Political Distribution“, in: G. Patzig (Hg.), Aristoteles’ „Politik“, Göttingen 1990, 152-186) oder A. Gewirth (Reason and Morality, Chicago u.a. 1978, 48-128) finden und sich auch in den Schutzgütern der Grund- bzw. Menschenrechte niederschlagen. 27 Vgl. etwa den Beitrag von R. Kipke in diesem Band.
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Leben als Konstrukt – Ethische Herausforderungen durch die Synthetische Biologie Thomas Heinemann
Einführung „What I cannot create I do not understand.“ – Dieser Satz des amerikanischen Physikers Richard Feynman, Nobelpreisträger des Jahres 1965, wird oftmals als programmatischer und praktischer Horizont des neuen Forschungsfeldes der Synthetischen Biologie angeführt. Demnach setzt sich die Synthetische Biologie zum Ziel, das Phänomen des Lebens zu erforschen, indem biochemische Bausteine entworfen, synthetisiert und in einer Weise miteinander in Interaktion gebracht werden, dass Lebensvorgänge resultieren. Mit gleichem methodischem Ansatz verfolgt die synthetische Biologie aber auch das Ziel, lebende Organismen in einer Weise zu erzeugen oder bereits vorhandene Organismen so zu verändern, dass sie zielgerichtet bestimmte Funktionen ausführen, z.B. die Vorstufen von Pharmaka oder andere Biomoleküle produzieren. Beiden Zielsetzungen liegt die Vorstellung zugrunde, dass das Phänomen des Lebens vollständig als ein aus modular beschreibbaren biochemischen Reaktionssystemen bestehender Stoffwechsel charakterisiert werden kann. Die Auffassung von einer Modularisierbarkeit von Lebensphänomenen und ihrer Konstruktion durch synthetisch hergestellte Moleküle und molekulare Funktionseinheiten lehnt sich offenbar stark an eine technikbasierte ingenieurswissenschaftliche Herangehensweise an, die die den Lebensvorgängen zugrunde liegende funktionelle Interaktion von biologischen Molekülen wie das Verhalten der Teile einer Maschine 229 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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beschreibt, die im Prinzip von Grund auf konstruiert bzw. in ihrem Bauplan zielgerichtet und kontrolliert verändert werden kann.1 Das Programm eines Erkenntnisgewinns durch synthetische Erzeugung von Lebensvorgängen bzw. deren zielgerichteter Veränderung zum Zwecke der Produktion von Biomolekülen wirft indes grundsätzliche Fragen auf. So wird z.B. darauf hingewiesen, dass mit der Herangehensweise der Synthetischen Biologie durchaus etwas erzeugt werden kann, das man – ganz im Gegensatz zu Feynmans These – nicht mehr zu verstehen vermag, zumindest wenn gängige philosophische Ordnungen und Konzepte zur Beurteilung des Erzeugten angelegt werden.2 Auch erscheint es fraglich, ob der Aspekt des „Unkontrollierbaren“, der der Selbstorganisation von Lebendigem z.B. in Gestalt der Lebensphänomene des Sich-Entwickelns, Sich-Vermehrens und des evolutionären Sich-Veränderns inhäriert, durch die synthetische Biologie überhaupt theoretisch akzeptiert und gegebenenfalls durch ihre Methodik detektierbar ist.3 Beide Einwände verweisen auf epistemologische, ontologische, anthropologische, insbesondere aber auch auf ethische Fragen, die mit der Synthetischen Biologie verbunden sind. Nicht zuletzt die Identifizierung und Beurteilung ethischer Fragen wird die Weiterentwicklung dieser Disziplin, die sich gegenwärtig noch in einem frühen Stadium befindet, mitbestimmen. Dabei ist die Frage von Bedeutung, ob diese im Wesentlichen auf andere, bereits bekannte Handlungskontexte und diesbezügliche ethische Diskurse zurückgreifen kann, oder ob die Synthetische Biologie gänzlich neue ethische Fragen aufwirft, die keine hinreichenden Parallelen zu vorgängigen Szenarien der ethischen Beurteilung aufweisen und eine eigene „Ethik der Synthetischen Biologie“ erfordern. 1 Vgl. Reth M., 2012, S. 44 ff. 2 Vgl. Ingensiep H.W., 2012, S. 133. 3 Vgl. Boldt J., et al., 2008, S. 171.
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Insbesondere einer Einschätzung dieser letzten Frage widmen sich die folgenden Überlegungen. Allerdings ist dabei das frühe Entwicklungsstadium der Synthetischen Biologie zu berücksichtigen, das durch einen gegenwärtig noch recht überschaubaren experimentell gesicherten Wissensstand gekennzeichnet ist, auf dessen Basis die Synthetische Biologie ihre zukünftigen Zielvorstellungen extrapolierend entwirft. Welche dieser Ziele sich in Zukunft tatsächlich realisieren lassen, ist momentan kaum zu beurteilen. Die nachfolgenden Überlegungen beziehen sich daher auf ein in seinen Grenzen und Möglichkeiten gegenwärtig noch weitgehend unbestimmtes Forschungsfeld und können demgemäß nur eine Momentaufnahme darstellen. Diese wird in vier Teilen dargelegt: In einem ersten Teil werden historischer Ausgangspunkt, Begriff und Idee der Synthetischen Biologie näher beleuchtet und damit ihr theoretischer Hintergrund konturiert. In einem zweiten Teil werden der Horizont der gegenwärtigen technischen Möglichkeiten dargelegt und einige repräsentative Ergebnisse der Synthetischen Biologie skizziert. In einem dritten Teil soll beleuchtet werden, welche ethischen Fragen die Synthetische Biologie aufwirft, und in einem vierten Teil der Versuch unternommen werden, diese ethischen Fragen einer Bewertung im Hinblick auf ihre Innovativität in der Bioethik zu unterziehen und auf dieser Grundlage die Frage nach der Notwendigkeit einer speziellen „Ethik der Synthetischen Biologie“ zu beantworten.
1. Begriff und Idee der Synthetischen Biologie Der Gedanke, lebende Materie künstlich zu erzeugen, ist nicht neu. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts postulierte der Biologe Jacques Loeb die „Abiogenesis“ als ein Ziel der Biologie und forderte im Jahre 1912, dass entweder lebende Materie erfolgreich 231 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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künstlich erzeugt oder aber dargelegt werden müsse, warum dies nicht möglich sei.4 Ebenfalls im Jahre 1912 veröffentlichte der französische Biologe Stéphane Leduc das Buch „La Biologie Synthétique“, in dem er u.a. Phänomene von Leben auf physikalische und chemische Mechanismen zurückzuführen sucht.5 In der Folge verhalf ab den 1950er Jahren vor allem die Entwicklung der Molekularbiologie, insbesondere die Entdeckung der Desoxyribonukleinsäuren (DNA) als universaler Träger der Erbinformation, ihre gezielte Manipulation durch Restriktionsenzyme, ihre unbegrenzte Vermehrbarkeit durch DNA-Polymerasen in vitro und in Bakterien in vivo und die hierdurch mögliche Manipulation von Genen und die Konstruktion von beliebigen genetischen Expressionseinheiten dem Gedanken einer Synthetischen Biologie zu einer konkreten Grundlage. Die sich ständig erweiternden Möglichkeiten einer chemischen Synthese von DNA-Oligonukleotiden und Peptiden, die Entwicklung von Hochdurchsatz-Analyseverfahren wie z.B. die next generation-DNA-Sequenzierung und die Miniaturisierung, Automatisierung und Modularisierung zahlreicher ehemals nur sehr aufwändig durchzuführender molekularbiologischer und biochemischer Reaktionen in Verbindung mit rasanten Fortschritten in der Informationstechnologie schufen im ausgehenden 20. Jahrhundert die technischen Voraussetzungen, die es erlaubten, die Synthetische Biologie als eigenes Forschungsgebiet zu konsolidieren und in das öffentliche und politische Bewusstsein zu rücken. Konzeptionell wird die Synthetische Biologie in enger Beziehung zur Systembiologie gesehen. Die Systembiologie geht von der Erkenntnis aus, dass selbst primitivste Organismen, z.B. Bakterien, komplexe biologische Systeme darstellen. Die Grundidee komplexer Systeme besteht darin, dass viele Elemente, die einzeln auf einer Mikroebene beschrieben werden können, durch ihre 4 Loeb J., 1912, zitiert nach Boldt J., 2008, S. 154. 5 Leduc S., 1912, zitiert nach Boldt J., 2008, S. 154.
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komplexe Wechselwirkung neue Eigenschaften des Gesamt‑ systems erzeugen, die nicht auf einzelne Elemente zurückführ‑ bar und ihrerseits auf einer Makroebene beschreibbar sind. In komplexen biologischen Systemen ermöglichen demgemäß die Interaktionen von vielen einzelnen „unbelebten“ Molekülen die Stoffwechselfunktionen und Regulationsaufgaben, die als Charakteristika des Lebendigen aufgefasst und als Emergenz oder Selbstorganisation von neuen Systemeigenschaften beschrieben werden.6 Die Systembiologie zielt darauf ab, eine möglichst vollständige Beschreibung der molekularen Abläufe eines biologischen Systems zu erreichen und dabei dieses System nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ zu erfassen.7 Dieser Ansatz verfolgt das ultimative Ziel, Lebensprozesse durch mathematische Modelle in silico, d.h. im Computer, naturgemäß nachzubilden.8 Demgegenüber ist die Synthetische Biologie auf eine alternative bzw. komplementäre Strategie ausgerichtet: Nicht die umfassende Beschreibung und mathematische Modellierung eines vollständigen biologischen Systems ist das Ziel, sondern seine Unterteilung in funktionelle Subsysteme, die synthetisch nachgebaut werden, gegebenenfalls auch unter Verwendung neuartiger, nicht in der Natur vorkommender Moleküle.9 In Analogie zur klassischen Terminologie in der Chemie, die analytische und synthetische Arbeitsschritte unterscheidet, kann das Vorgehen der Systembiologie als analytische Verfahrensweise angesehen werden, während die Synthetische Biologie eine ergänzende synthetische Herangehensweise darstellt, die darauf abzielt, die analytisch identifizierten molekularen Strukturen und Interaktionen des biologischen Systems in synthetisch erzeugten Subsystemen zu verifizieren und überdies neue 6 7 8 9
Vgl. Mainzer K., 2011, S. 25. Vgl. Reth M., 2012, S. 44. Vgl. Reth M., 2012, S. 44 Vgl. Reth M., 2012, S. 44
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Bioprodukte für weitere Studien oder andere Anwendungsszenarien herzustellen.10 In diesem Verständnis kann die Synthetische Biologie als die anwendungsbezogene Erweiterung der systembiologischen Grundlagenforschung angesehen werden und wird damit zu einem wichtigen Überprüfungswerkzeug für das bisherige Verständnis vom Aufbau und der Funktion komplexer biologischer Netzwerke.11 Die Herangehensweise der Synthetischen Biologie macht es erforderlich, die Funktionszusammenhänge von Lebensvorgängen in einfachere funktionale Partitionen zu zerlegen. Der damit verbundene „technomorphe Blick auf das Leben“12 führt indes zwangsläufig von einem traditionellen, auf ein beobachtendes und experimentell analysierendes Verstehen der Lebensvorgänge zielendes Selbstverständnis der Biologie weg und hin zu einer Neukonstruktion von lebenden Funktionseinheiten auf der Basis des Wissens über das „natürliche“ Leben. Insbesondere in der Synthetischen Biologie verändert sich die Biologie dadurch von einer Naturwissenschaft hin zu einer technischen Wissenschaft und nimmt einen dualen Charakter von Erkennen und Gestalten an.13 Die Synthetische Biologie folgt dabei insofern einem ingenieurswissenschaftlich-technischen Paradigma, als – etwa im Unterschied zur Molekularbiologie, in der durch Veränderung einzelner Moleküle primär deren Funktion innerhalb eines biologischen Systems untersucht werden soll – ganze biologische Systeme mit definierten Funktionen aus biologischen Modulen neu zusammengebaut werden sollen. Dieses Verschmelzen von Biologie und Ingenieurswissenschaften wird als das Charakteristikum der Synthetischen Biologie angesehen. 10 11 12 13
Vgl. Köchy K., 2012, S. 161 ff. Vgl. Köchy K., 2012, S. 163 ff. Grunwald A., 2012, S. 86 Vgl. Grunwald A., 2012, S. 86.
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Gegenwärtig lassen sich verschiedene Forschungsbereiche unterscheiden, mit denen die Synthetische Biologie ihre Ziele zu erreichen sucht:14 (1) Ein wichtiges Ziel stellt eine Optimierung der chemischen Synthese von DNA-Polynukleotiden dar, die es erlaubt, lange DNA-Moleküle mit einer definierten Basensequenz durch Automaten herzustellen. Denkbar, wenngleich derzeit nicht absehbar, wird auf dieser Basis die komplette chemische Synthese einfacher Genome. (2) Zu den vorrangigen – und geradezu paradigmatischen – Zielen der Synthetischen Biologie gehört die Erzeugung von DNA-basierten modularen biologischen Funktionseinheiten und Schaltkreisen. Solche standardisierten Module, sogenannte BioBricks, können z.B. mehrere miteinander interagierende Gene enthalten, die in ihrer Gesamtheit bestimmte komplexe Funktionen in einer Zelle ausüben, etwa die Synthese komplexer Biomoleküle oder Regel- oder Schaltfunktionen für andere Gene ausführen. Diese Module können dann in Zellen eingebracht und dort aktiviert werden. Aus mehreren unterschiedlichen BioBricks können im Prinzip auch höhergradige funktionale Systeme zusammengesetzt werden. Das Design von BioBricks folgt demnach den Konzepten der Modularität und Kompatibilität, indem zunächst eine Registratur von standardisierten genetischen Modulen entwickelt wird, die in einem zweiten Schritt miteinander funktionell verbunden werden. Hierdurch soll ein sich ständig erweiterndes Instrumentarium von genetischen Modulen entstehen, mit deren Hilfe in lebenden Systemen immer einfacher und schneller bestimmte biologische Funktionen erzeugt werden können. (3) Ein weiteres Forschungsfeld betrifft die Erzeugung von Minimalgenomen bzw. minimalen Lebensformen. Hierbei werden die Genome von Organismen, z.B. Bakterien, durch systematisches und zufälliges Eliminieren von Genen oder durch gezielte Neusynthese eines
14 Vgl. im Folgenden Schmidt M., 2011, S. 113.
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ganzen Genoms quantitativ und qualitativ so weit reduziert, bis die Genome nur noch die für den Organismus absolut lebensnotwendigen Komponenten kodieren.15 Auf diese Weise des sogenannten top down-Verfahrens sollen z.B. die genomischen Bedingungen eruiert werden, die für das Phänomen „Leben“ unter definierten Umgebungsbedingungen unabdingbar sind. Zudem können solche lebenden Systeme mit Minimalgenomen wegen ihrer stark reduzierten Modulationsfähigkeit als relativ „störungsfreies“ Chassis für die Aufnahme von funktionellen Modulen, z.B. BioBricks, verwendet werden. (4) Ein anderer Weg, der als bottom up-Verfahren bezeichnet wird, besteht in der modularen Konstruktion von lebenden Zellen von Grund auf, sogenannten Protozellen. Anhand solcher Zell-Konstrukte können zum einen ebenfalls minimale Lebensbedingungen studiert, solche Zellen zum anderen aber auch bereits bei ihrem Design mit bestimmten Funktionen ausgestattet werden, die z.B. ihren Einsatz in Bioreaktoren für die industrielle Produktion von Biomolekülen erlaubt. (5) Ein wichtiges Forschungsfeld der Synthetischen Biologie stellt auch die Entwicklung von xenobiologischen Systemen dar, die auf Molekülen oder auf molekularen Prinzipien basieren, die in der Natur nicht vorkommen. Hierbei kann es sich z.B. um biologische Systeme handeln, deren Erbinformation nicht mehr auf der ubiquitär vorhandenen DNA, sondern auf künstlich erzeugten Polymeren basiert, die eine gänzlich andere chemische Grundlage besitzen oder aus zumindest stark modifizierten Molekülen (sog. Xeno Nucleic Acids, XNA) bestehen. Auf diese Weise würden lebende Funktionseinheiten entstehen, die ihrerseits nicht mehr auf der universal in der Natur vorkommenden Grundlage der durch DNA kodierten genetischen Information funktionieren würden und deren genetischer Code auch von den RNA-Polymerasen natürlicher Orga-
15 Vgl. Billerbeck S. & Panke S., 2012, S. 31.
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nismen nicht mehr gelesen und in RNA transkribiert werden könnte. Durch die Verwendung eines gänzlich anderen genetischen Programms als des natürlichen könnte eine „autarke genetische Enklave innerhalb der natürlichen Welt“16 erzeugt werden. Andere Möglichkeiten einer Modifizierung des natürlichen genetischen Programms bestünden in einer Erweiterung des genetischen Codes von vier auf z.B. sechs Nukleotidbasen oder in einer Erweiterung des ubiquitären Triplet-Codes der DNA auf Quadruplets.17 (6) Denkbar, wenngleich stark futuristisch, sind auch Entwicklungen der Synthetischen Biologie im Sinne einer synthetischen Gewebezüchtung oder der Etablierung synthetischer Ökosysteme, die von synthetisch hergestellten Organismen besiedelt sind. Die Darstellung dieser Forschungsbereiche lässt erkennen, dass die Synthetische Biologie keine eigenständige Disziplin darstellt, sondern in erheblichem Maße auf die Mikrobiologie, Gentechnologie, Nanotechnologie, Biochemie und Informationstechnologie zurückgreift und insofern ein Paradigma für eine Interdisziplin und für die Konvergenz von verschiedenen Feldern der Lebensund der Ingenieurswissenschaften darstellt. Es wird aber auch deutlich, dass die Synthetische Biologie einen recht heterogenen und weit gespannten Zielhorizont verfolgt und sich im Hinblick auf Ziele und Methoden nicht eindeutig von anderen Wissenschaftsdisziplinen abgrenzen lässt; zudem erscheint der Begriff des „Synthetischen“ in der Synthetischen Biologie wenig bestimmt. So verfährt die Synthetische Biologie durchaus auch dekonstruktiv durch Minimalisierung von natürlichen lebenden Systemen. Zudem stellt z.B. die „synthetische“ Produktion von bestimmten Biomolekülen in lebenden Systemen, etwa durch komplexe Expressionseinheiten oder BioBricks, kein Alleinstellungsmerkmal der Synthetischen Biologie dar und wird bisher – recht erfolgreich – 16 Schmidt M., 2012, S. 72. 17 Vgl. Schmidt M., 2012, S. 70.
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von der Disziplin der Molekularbiologie bearbeitet. Der Begriff des „Synthetischen“ bezieht sich offenbar auch nicht auf die Unterscheidung zwischen „natürlichen“ und nicht in der Natur vorfindbaren Biomolekülen, da die Synthetische Biologie sowohl auf nicht in der Natur vorkommende Moleküle (z.B. XNA) als auch auf Kompositionen aus natürlichen Molekülen (DNA) zurückgreift. Auch die Unterscheidung zwischen natürlichen Vorgaben und künstlichem Design scheint nicht den Begriff des „Synthetischen“ zu charakterisieren, da in der Synthetischen Biologie sowohl exakte, wenngleich künstlich hergestellte, molekulare Kopien der natürlichen Vorgabe oder aber gezielte Modifikationen derselben hergestellt und verwendet werden. Am ehesten lässt sich im „Synthetischen“ der Synthetischen Biologie das Programm einer „Vereinfachung“18 von Lebensphänomenen erkennen, die durch Modularisierung, Minimalisierung, Effizienzgerichtetheit und Automatisierung angestrebt wird und hierdurch u.a. Störungseinflüsse möglichst weitgehend eliminieren möchte. Dieses Programm kann sich auf eine Auffassung vom lebenden Organismus als eine „lebende Maschine“19 stützen, deren Verhalten prognostizierbar und durch Austausch der Teile gezielt veränderbar ist. An eine solche Auffassung schließt das Ingenieursparadigma an, wobei es allerdings fraglich bleibt, inwieweit in der Synthetischen Biologie ein Technikverständnis nach dem Vorbild rationaler Handlungslogik möglich ist oder eher „ein Verständnis von Technik nach dem Vorbild der Bricolage, also im Sinne eines dem trial-and-error verpflichteten Bastelns“.20
18 Vgl. Kaebnick G.E., 2012, S. 54. 19 Vgl. z.B. Boldt J., 2012, S. 182. 20 Vgl. Köchy K., 2012, S. 164.
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2. Vorläufige Ergebnisse der Synthetischen Biologie Die Frage nach rationaler Handlungslogik oder irrtumsgelenktem Basteln in der Synthetischen Biologie verweist auf die gegenwärtigen Anwendungsszenarien und Ergebnisse der jungen Wissenschaftsdisziplin. Der Synthetischen Biologie werden – ähnlich wie in anderen neuen Wissenschaftsfeldern, wie etwa der Stammzellforschung – zahlreiche Anwendungspotentiale zugeschrieben, wobei den Absichtserklärungen gegenwärtig allerdings nur relativ wenige experimentell gesicherte Ergebnisse gegenüberstehen. So werden als Anwendungsfelder z.B. die Produktion von Arzneimitteln und die Herstellung alternativer Treibstoffe durch synthetische Mikroorganismen, die Entwicklung von therapeutisch wirksamen und einsetzbaren Viren und Bakterien, die Gewinnung von menschlichem Gewebe durch die Synthetische Biologie und die Entwicklung von molekularen biologischen Schalt- und Regelkreisen sowie Biosensoren benannt.21 Gleichwohl lassen sich einige konkrete Forschungsergebnisse darstellen, die im Sinne einer Grundlagenforschung den oben skizzierten Anspruch der Synthetischen Biologie systematisch erarbeiten. Ein Beispiel für die Erzeugung eines künstlichen Regulationsnetzwerks besteht in der Entwicklung genetischer Kippschalter und Oszillatoren, die aus Regulatorprotein-Genen, Promotoren und Reportergenen bestehen und zu Modulen zusammengefasst wurden.22 Für eine mögliche innovative medizinische Anwendung wurde auf dieser Basis z.B. ein genetisches Netzwerk konstruiert, das bei Mäusen die Harnsäurekonzentration im Blut dauerhaft konstant hält und sich damit in therapeutischer Hinsicht als geeignet erweisen könnte, der Entwicklung einer Gicht vorzubeugen.23 21 Vgl. Boldt J., et al., 2008, S. 160. 22 Vgl. Billerbeck S. & Panke S., 2012, S. 29 f. 23 Kemmer C., et al., 2010, zitiert nach Billerbeck S. & Panke S., 2012, S. 30.
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Das in Zellen eingebrachte genetische Netzwerk misst mittels eines Sensors den Harnsäurespiegel im Blut und gibt diese Information an einen genetischen Schaltkreis weiter, der dafür sorgt, dass das Enzym Uratoxidase, welches Harnsäure abbaut, ins Blut ausgeschüttet wird und den Harnsäurespiegel im Toleranzbereich hält. Die Modularisierung und Standardisierung genetischer Bausteine, eine erklärte Zielsetzung der Synthetischen Biologie, wird durch den jährlich am Massachusetts Institute of Technology (MIT) stattfindenden internationalen iGEM-Wettbewerb (international Genetically Engineered Machine Competition) gefördert, der sich an studentische Gruppen von Universitäten aus aller Welt richtet. In diesem Wettbewerb konstruieren Studenten biologische Regelkreise, Signalelemente und andere funktionelle genetische Einheiten in Form von genetischen Modulen, die miteinander kombinierbar sein müssen und in einer Materialbank am MIT (Registry of Standard Biological Parts) abgelegt werden, wo sie jederzeit zugreifbar sind und nach dem Baukastenprinzip zu neuen Funktionseinheiten, z.B. zu komplexen Regelkreisen, zusammengesetzt werden können (BioBricks).24 Allerdings sind offenbar viele synthetische Teile in der MIT-Registratur im Hinblick auf ihr dynamisches Verhalten unter isolierten sowie unter variablen biologischen Umgebungsbedingungen wenig charakterisiert.25 Ein prominentes Beispiel für die Produktion von Pharmaka durch die Synthetische Biologie stellt die semisynthetische Gewinnung des Artemisinins im Jahre 2003 dar. Diese Substanz und ihre Derivate sind essentielle Bestandteile heutiger hochwirksamer Anti-Malariamittel, den sogenannten ACTs (Artemisinin-based Combination Therapies). Hierfür wurden in Escherichia-coli-Bakterien zehn Gene und die entsprechenden Kontrollregionen aus 24 Vgl. Boldt J., et al., 2008, S. 157 f. 25 Vgl. Anderson J., et al., 2012, S. 586.
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Bakterien, Hefen und der Beifuß-Pflanze Artemisia eingeführt und neu kombiniert, wodurch die Bakterien das Terpenoid Dihydroartemisinsäure, eine Vorstufe des Artemisinins, synthetisierten.26 Artemisinin kann chemisch aus Dihydroartemisinsäure hergestellt werden. Eine weit höhere Ausbeute ließ sich später durch Synthese der Dihydroartemisinsäure in der Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae unter optimierten Bedingungen erreichen.27 Ein Beispiel für die Produktion artfremder Biomoleküle in höheren Organismen stellen die Erzeugung von genetisch veränderten Schafen dar, die in ihrer Milch den menschlichen Gerinnungs-Faktor IX28 exprimieren. Eine Sequenz von Forschungsarbeiten aus dem Labor des USamerikanischen Biochemikers Craig Venter soll in der Folge etwas ausführlicher dargestellt werden, da sie mehrere Zielszenarien der Synthetischen Biologie, so die Erzeugung minimaler Genome, die Erzeugung und Verwendung synthetischer DNA-Moleküle sowie die „synthetische“ Erzeugung von Leben umfasst. Im Jahre 1999 versuchte die Gruppe von Venter, die genetische Minimalausstattung zu identifizieren, die das Genom des Bakteriums Mycoplasma genitalium besitzen muss, um selbstreplizierendes Leben zu unterstützen. Von den 480 proteinkodierenden Genen dieses Bakteriums erwiesen sich zwischen 265 und 350 „essentielle“ Gene als notwendig für ein Leben dieser Bakterien unter Laborbedingungen.29 Für das Ziel, mittels der Synthetischen Biologie „synthetic life“30 zu erzeugen, erwies es sich als Problem, die mehreren hunderttausend bis zu einer Million Basenpaare langen Nukleotide
26 27 28 29 30
Martin V.J., et al., 2003, zitiert nach Koller K.-P., 2011, S. 91 f. Paddon C.J., et al., 2013. Schnieke A.E., et al., 1997. Hutchinson C.A., et al., 1999. Gibson D.G., et al., 2010.
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eines Bakteriengenoms zu synthetisieren. Die Gruppe um Venter entwickelte daher im Jahre 2003 eine Methode, um mit Hilfe von chemisch synthetisierten kurzen DNA-Sequenzen (Oligonukleotiden) ein vollständiges Genom herzustellen.31 Als Testorganismus wurde zunächst der Bakteriophage φX174 verwendet, der ein 5386 Basenpaare langes Genom besitzt. Es wurde ein Pool synthetischer Oligonukleotide erzeugt, die jeweils kleine Stücke des Genoms des Bakteriophagen φX174 repräsentierten. Die Oligonukleotide wurden in einer Weise entworfen, dass sie in der das Genom abbildenden richtigen Reihenfolge enzymatisch durch ein modifiziertes PCR-Verfahren (Polymerase Cycling Assembly, PCA) miteinander verbunden werden konnten. Das solcherart synthetisierte Genom wurde durch PCR vermehrt, in eine zirkuläre Form gebracht und in Escherichia coli-Bakterien eingeschleust, in denen nachfolgend die Bildung von Bakteriophagen φX174 beobachtet wurde. Damit war der Beweis erbracht, dass das synthetische Phagengenom aktiv war, auch wenn die Phagen eine geringere Infektiosität aufwiesen als die natürlichen Wildtypen, was auf geringe Veränderungen in dem synthetischen Genom zurückgeführt wurde. Auf der Basis dieser Ergebnisse konstatierte Venter die prinzipielle Durchführbarkeit der „synthetic genomics“.32 Im Jahre 2007 beschrieb die Gruppe um Venter die Durchführbarkeit eines weiteren notwendigen Schritts bei der künstlichen „creation of life in the laboratory“.33 Die Wissenschaftler ersetzten das native Genom des Bakteriums Mycoplasma capricolum durch das native Genom des Bakteriums Mycoplasma mycoides, einer anderen Spezies, in das vorher ein Antibiotikum-Resistenzgen sowie ein Indikatorgen eingefügt worden waren. Mycoplasmen sind Bakterien, die keine Zellwand besitzen und somit am ehesten eukaryon31 Smith H.O., et al., 2003. 32 Smith H.O., et al., 2003. 33 Lartigue C., et al., 2007.
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ten Zellen ähneln. Die Transplantation des Genoms wurde erreicht, indem die DNA erstens zirkulär (nicht linearisiert) und zweitens von allen Proteinen befreit („nackt“) in die Empfängerzellen eingeschleust wurde, die unter Hungerbedingungen auf die Aufnahme des fremden Genoms vorbereitet worden waren. Unter Selektionsdruck durch Antibiotika nahmen zahlreiche Mycoplasma capricolum-Bakterien den Phänotyp und die molekulare Ausstattung von Mycoplasma mycoides-Bakterien an und konnten als solche anhand des Indikators nachgewiesen werden. Das ursprüngliche M. capricolum-Genom war in diesen Bakterienkolonien nicht mehr nachweisbar und eine Rekombination zwischen beiden Genomen konnte ausgeschlossen werden. Die Ergebnisse zeigten, dass die Transplantation von ganzen Genomen von einer Bakterienspezies auf eine andere möglich ist und dass die Nachkommen der Empfängerspezies der Spezies des Genomspenders angehören. Es wurde somit in Bakterien gezeigt, dass durch Transfer von natürlichen Genomen in Empfängerzellen letztere als Plattformen für die Umwandlung in eine andere Spezies dienen können. Nachzuweisen war anschließend, dass dies auch mit künstlich hergestellten Genomen möglich ist. Im Jahre 2008 beschrieb die Gruppe um Venter die komplette chemische Synthese und die Klonierung des Genoms des Bakteriums Mycoplasma genitalium.34 Das Genom dieses Bakteriums enthält ca. 583.000 Basenpaare, in die bei der Synthese die Gensequenzen für ein Antibiotikum-Resistenzgen sowie funktionell inaktive kurze DNA-Sequenzen als eindeutige und exklusive Identifizierungsmerkmale für das künstlich hergestellte Genom (sogenannte „Wasserzeichen“) eingefügt wurden. Aus synthetischen Oligonukleotiden wurden mittels PCR zunächst größere DNA-Stücke (Kassetten) synthetisiert, mehrere dieser Kassetten dann zusammengefügt und in bakterielle künstli-
34 Gibson D.G., et al., 2008
243 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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che Chromosomen (BAC, bacterial artificial chromosome) in Eschericia coli-Bakterien kloniert und letztere schließlich in künstlichen Hefezell-Chromosomen (YAC, Yeast articifial chromosomes) in der Hefe Saccharomyces cerevisiae zu einem Genom zusammengeführt. Damit wurde eine Technik entwickelt, mit deren Hilfe große Genome artifiziell synthetisiert werden können. Im Jahre 2010 führte die Gruppe um Venter dann die beschriebenen Ergebnisse zusammen: Aus chemisch hergestellten Oligonukleotiden wurde das 1.08 MB große Genom von Mycoplasma mycoides nach der vorher entwickelten Methode synthetisiert und dieses künstliche Chromosom in die Spezies Mycoplasma capricolum transplantiert.35 Unter Antibiotika-Selektionsdruck wurden Bakterien-Klone isoliert, die als einzige nachweisbare DNA die des künstlichen M. mycoides-Genoms einschließlich der in das Genom integrierten „Wasserzeichen“ enthielten, was darauf hindeutet, dass die ursprüngliche native DNA durch die synthetische DNA komplett ersetzt und die Spezies von M. capricolum zu M. mycoides verändert wurde. Venter bezeichnet eine solche Zelle, die durch eine chemisch synthetisierte DNA kontrolliert wird, als „synthetic cell“, wobei er allerdings selbst darauf hinweist, dass das Zytoplasma der Empfängerzelle nicht synthetischen, sondern natürlichen Ursprungs ist. Venter konstatiert, dass mit den erarbeiteten Methoden das Design, die Synthese und die Transplantation von synthetischen Chromosomen und Genomen nicht länger eine Barriere für die Synthetische Biologie darstellen und stellte auf dieser Grundlage die Möglichkeit von „synthetic life“36 in Aussicht. Im Jahre 2014 wurde die vollständig artifizielle Synthese eines genetisch modifizierten eukaryontischen Chromosoms III (synIII) der Bäckerhefe (Saccaromyces cerevisiae) berichtet.37 Die künstliche 35 Gibson D.G., et al., 2010. 36 Gibson D.G., et al., 2010. 37 Annaluru N., et al., 2014.
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Synthese dieses Designer-Chromosoms stand im Kontext der Identifizierung essentieller Gene für die Bäckerhefe, und zu diesem Zweck wurden u.a. bestimmte DNA-Sequenzen (loxPsyms) in das künstliche Chromosom eingefügt, die es erlaubten, bestimmte Gen-Abschnitte gezielt zu entfernen. Auf diese Weise kann untersucht werden, welche minimale Genausstattung für ein Überleben der Hefezelle unter bestimmten Umgebungsbedingungen notwendig ist. Das Chromosom wurde aus DNA-Stücken, die aus Oligonukleotiden mittels PCR synthetisiert wurden, nach dem gleichen Prinzip wie oben beschrieben zusammengesetzt. Es erwies sich nach Einschleusung in Zellen der Bäckerhefe als funktionell aktiv und wurde bei der Zellteilung stabil repliziert und vererbt. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse konstatieren die Autoren, dass das Design künstlicher Chromosomen ein neues Mittel für die Untersuchung von Fragen über die Struktur und Funktion von Genomen darstellen wird, und stellen in Aussicht, dass Fortschritte in der Synthetischen Biologie und die sich verringernden Kosten der chemischen Synthese von DNA die Erzeugung neuer eukaryontischer Genome, einschließlich solcher von Pflanzen und Tieren, mit synthetischen Chromosomen erlauben werden, in die bestimmte Funktionen und phänotypische Eigenschaften nach Wunsch eingeschrieben werden können.38
3. Ethische Fragen der Synthetischen Biologie Die aufgeführten Ergebnisse und Anwendungsbeispiele der Synthetischen Biologie lassen erkennen, dass sich dieses Forschungsfeld gegenwärtig noch im Prozess einer Erarbeitung seiner Grund-
38 Annaluru N., et al., 2014.
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lagen befindet. Gleichwohl lenken bereits die dargestellten Anwendungsszenarien, speziell die funktionale Modularisierung lebender Funktionseinheiten, die Verwendung lebender Organismen als Produktionsplattformen für Biomoleküle, die Reduktion des Lebendigen auf das gerade noch erforderliche molekulare Minimum sowie das gänzlich künstliche Design und die artifizielle Herstellung von komplexen Genomen einschließlich einer damit verbundenen möglichen Veränderung von Spezieszugehörigkeiten, den Blick auf ethische Fragen, die für die Synthetische Biologie relevant sind. Diese Fragen sollen im Folgenden überblickmäßig dargestellt werden. Eine grundlegende Frage bezieht sich auf die Handlungstypen, die die Synthetische Biologie charakterisieren. Die Verfahren der Synthetischen Biologie als „creation of life“39 zu bezeichnen suggeriert Schöpfungsakte des Menschen in Bezug auf die lebendige Natur und insinuiert damit eine Grenzüberschreitung, die nach weit verbreitetem Verständnis dem Menschen nicht zusteht. So ist es nicht verwunderlich, dass gerade in Bezug auf die Synthetische Biologie mit ihrem explizit synthetischen Anspruch, lebende und in dieser Form bisher in der Natur nicht vorkommende Konstrukte zu erzeugen, die Rede von „Gott spielen“ (playing god) Verwendung findet. Im Hinblick auf diese Metapher ist allerdings zunächst zu differenzieren zwischen einerseits der creatio ex nihilo, der voraussetzungslosen Schöpfung von Neuem als göttliche und nur Gott eignende Potenz, und andererseits einem kreativen Erschaffen von Neuem innerhalb der Grenzen des Bestehenden. Es ist offensichtlich, dass auch in der Synthetischen Biologie der Vorstellung von einer creatio ex nihilo keinerlei Berechtigung zukommt und die Rede von „Gott spielen“ damit in einem wichtigen Aspekt relativiert ist. Aber auch die Differenz zwischen einerseits „creation“
39 Smith H.O., et al., 2003.
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im Sinne eines kreativen Erschaffens von Neuem im Rahmen des Bestehenden und andererseits der Anwendung von Technik innerhalb dieses Rahmens besitzt für eine ethische Einordnung der Synthetischen Biologie Bedeutung. Kreatives Erschaffen bezeichnet ein von Vorlagen abgelöstes und spielerisches, nicht-zweckgebundenes Handeln. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses ist es höchst zweifelhaft, ob es sich bei den oben dargestellten Handlungen im Bereich der Synthetischen Biologie tatsächlich um kreatives Erschaffen von Neuem handelt, wie dieses Forschungsgebiet wirksam suggeriert. Vielmehr greift die Synthetische Biologie – zumindest gegenwärtig – auf natürliche Vorgaben zurück und ahmt diese mit technischen Mitteln nach. Auch die vermeintlich spielerische Komponente stellt genauer besehen eine Technikanwendung nach Regeln und keineswegs zweckfreies Handeln dar, auch wenn die Handlungsziele nicht immer durch eine wissenschaftliche oder gesellschaftliche Notwendigkeit diktiert oder durch entsprechende Interessen befördert sein mögen. Solche Handlungen sind Akte einer Technikanwendung und können nur in diesem Rahmen Neues hervorbringen. „Der Mensch tritt hier tatsächlich weniger als Homo creator, sondern eher als Homo plagiator auf, das heißt als ein Akteur, der in seiner kopierenden und modulierenden Kreativität dauerhaft auf die Vorbilder aus der Schöpfung angewiesen bleibt“.40 Vor diesem Hintergrund kann die Verwendung von „religiös imprägnierten Begriffe[n] und Wendungen“41 wie der Rede vom „Gott spielen“ auf ein auch in ethischer Hinsicht problematisches Selbstverständnis der Synthetischen Biologie hindeuten. Solche Wendungen lassen sich vor allem als diskursstrategische Elemente identifizieren, die dazu dienen, „entweder den erreichten wissenschaftlichen Fortschritt in ein noch helleres Licht zu stellen oder 40 Dabrock P. & Ried J., 2011, S. 131. 41 Dabrock P. & Ried J., 2011, S. 129.
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um ihn mit noch größerer Schärfe zu desavouieren“.42 Bei kritischer Betrachtung weist die Verwendung solcher Metaphern auf die Wissenschaft und ihre Protagonisten – wie auch auf ihre Kritiker – zurück. Denn sie geraten in den Verdacht, entweder nicht fähig oder nicht willens zu sein, ihr eigenes Handlungsfeld rational angemessen einzuordnen. Zudem scheint weniger die Lösung von gesamtgesellschaftlichen Problemen oder wissenschaftlichem Erkenntnisstreben im Vordergrund des Interesses zu stehen, als vor allem die „unreflektierte Freude am Machbaren oder vielleicht auch der Stolz auf das Erreichte“.43 Solche Defizite befördern eine Sorge vor Selbstüberschätzung und Fehlinformation, die zu Verunsicherungen in Bezug auf die Verantwortung der Wissenschaften und Wissenschaftler gegenüber der Gesellschaft führen können. Für die Gesellschaft ist weder die Vorstellung akzeptabel, dass selbsternannte Götter, noch dazu spielende, die allen Menschen gegebene und vorgefundene Natur nach ihren Vorstellungen gestalten, noch kann die reduktionistische Vorstellung vom Menschen, auch vom Forscher, als einer allenfalls der Techniklogik verpflichteten living machine diesbezüglich beruhigen. Die Dimension der Verantwortung ist an ein Selbstverständnis des Menschen als Vernunftwesen gebunden, und mit der Übernahme von Verantwortung gelangen im Hinblick auf die Entwicklung in den Wissenschaften, und so auch in der Synthetischen Biologie, Grenzen in den Blick, deren Überschreitung nicht nur nicht klug, sondern ethisch unverantwortlich wäre. Solche Grenzüberschreitungen können z.B. die theoretische Fundierung der Forschung, Folgenabschätzung, Risikobewertung und Beachtung von Sicherheitsaspekten sowie die Kommunikation der Forschungsziele und Ergebnisse betreffen. Insbesondere neue Wissenschaftsfelder stehen in
42 Dabrock P. & Ried J., 2011, S. 129. 43 Gaisser S. & Reiß T., 2014, S. 82.
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der Pflicht, sich dieser Grenzen und Notwendigkeiten zu vergewissern und auf dieser Grundlage ein ethisch angemessenes Selbstverständnis zu entwickeln, das hinreichend kommuniziert werden muss. Wenn sich die Handlungen der Synthetischen Biologie daher am ehesten als Nachahmen und Nachbau der lebendigen Natur charakterisieren lassen, setzt dies allerdings ein Verständnis von Natur voraus, das einen solchen konstruierenden Nachbau zulässt. Tatsächlich verweist die in der Synthetischen Biologie zunächst in Bezug auf ihre Produkte verwendete Metapher der living machine, sofern man diese nicht als bloß wissenschaftsrhetorisches Erheischen von Aufmerksamkeit auffasst, auf ein Verständnis, das das lebende Konstrukt als konstruierbar, in Teilen oder in Gänze austauschbar und letztlich verwerfbar begreift. Unklar bleibt dabei allerdings, inwieweit sich diese Deutung nur auf die produzierten Konstrukte bezieht oder ob damit auch die Natur selbst im Sinne einer Maschine begriffen wird. Die Beobachtung, dass die Produkte der Synthetischen Biologie offensichtlich wie Maschinen funktionieren, berechtigt aber noch nicht zu der Annahme, sie und überdies die gesamte lebendige Natur als Maschinen zu betrachten. Sofern die Synthetische Biologie ein Pendant zur Systembiologie darstellt, liegt allerdings tatsächlich die Vermutung nahe, dass sich eine mechanistische Sicht generell auf die lebendige Natur beziehen kann. In dieser Lesart wäre es dann allerdings wenig plausibel, den Menschen, als Teil der lebendigen Natur, anders als ebenfalls ausschließlich unter dem Maschinenparadigma aufzufassen. Überdies stellte sich dann umgekehrt die Frage, ob sich eine dem Maschinenparadigma in Bezug auf die lebendige Natur verpflichte Synthetische Biologie als Wissenschaft entwickeln kann, ohne ein dementsprechendes Selbstverständnis vom Menschen zugrunde zu legen. Diese Frage ist auch für die Ethik von erheblicher Bedeutung. Denn „[d]ie Weise, wie oder als was der Mensch sich selbst versteht, hat Auswirkungen auf sein Verständnis und sein Verhält249 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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nis zu der Natur, und umgekehrt: Das Naturverständnis hat auch Konsequenzen für die Weise, wie der Mensch sich selbst versteht und damit entsprechend für die Grundlagen unseres Handelns“.44 Vor diesem Hintergrund stehen die Maschinenmetapher und eine dieser Metapher zugrunde liegende reduktionistische Deutung in der Synthetischen Biologie allerdings in fundamentalem Gegensatz zum Selbstverständnis des Menschen als Vernunftwesen. Denn nimmt man den synthetischen Anspruch der Synthetischen Biologie ernst, wäre zu fragen, wie ein scheinbar intentionales, kreatives Handeln, das Lebendiges hervorzubringen vermag, im Rahmen einer mechanistischen Sicht überhaupt zu begreifen ist. Das mit dem Maschinenparadigma verbundene Prinzip des Nutzens kann in Verbindung mit dem Anspruch und der Herangehensweise der Synthetischen Biologie ebenfalls eine problematische Naturdeutung befördern. Zwar nutzt der Mensch die Natur seit jeher in vielfältiger Weise und macht sich innerhalb der naturgegebenen Grenzen auch die lebendige Natur zunutze, etwa durch Tierhaltung, Züchtung, Bioproduktion von Medikamenten etc. Jedoch scheint mit der explizit ingenieurswissenschaftlich-technischen Herangehensweise der Synthetischen Biologie bei der Konstruktion von Lebendigem nicht nur eine erheblich erweiterte Eingriffstiefe in natürliche Lebensvorgänge, sondern auch ein Paradigmenwechsel im Sinne einer durchgängigen, totalen Technisierung von lebendiger Natur verbunden zu sein, die es erlaubt, Nutzenerwägungen – zumindest theoretisch – technisch zu entgrenzen. Vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses kann gerade die Synthetische Biologie mit der technischen Erzeugung lebender Biokonstrukte und Funktionseinheiten die Vorstellung transportieren, dass der Nutzen ihrer Produkte für den Menschen eine Rechtfertigung für eine menschengemachte „Verbesserung“ der
44 Vgl. Müller O., 2012, S. 219.
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Prozesse der Natur und ihrer Evolution liefern kann. Mit der Vorstellung einer solchen durchgängigen anthropogenen Vernützlichung der Natur wäre allerdings nicht nur eine entscheidende Veränderung im Naturverständnis verbunden, sondern mit der konsequenten technischen Anpassung des Menschen an seine Bedürfnisse auch die Gefahr seiner Anpassung an die Bedürfnisse seiner Technik, womit wichtige andere Orientierungsräume verloren gingen.45 Nicht nur sein Naturverständnis, auch sein Selbstverständnis wäre betroffen. Selbstverständnis und Naturverständnis des Menschen in der Perspektive der Synthetischen Biologie werfen die Frage nach dem ontologischen Status des Lebendigen auf und nach den Wertvorstellungen, die mit dem Lebendigen verbunden werden. Für die Synthetische Biologie mit ihrer Zielsetzung einer künstlichen Erzeugung neuer Lebensformen stellen Leben bzw. das Lebendige zentrale Leitbegriffe dar. Jedoch sind diese Begriffe in der Biologie umstritten, und definitorische Ansätze bleiben notorisch unterbestimmt. In der Philosophie der Biologie besteht bereits Unsicherheit darüber, ob Leben überhaupt ein Begriff in einem philosophischen Sinne ist; ein weiterer Dissens betrifft die Frage, welche normativen Implikationen der Begriff des Lebens hat und ob Leben überhaupt als Wertbegriff aufgefasst werden kann.46 Ein Ansatz, Leben begrifflich zu fassen, kann in der Berücksichtigung unterschiedlicher Handlungskontexte bestehen, in denen Lebensphänomene untersucht werden.47 Auf diese Weise lassen sich in den multidisziplinären Handlungskontexten der Synthetischen Biologie drei unterschiedliche, jedoch interagierende Cluster von Lebensbegriffen identifizieren: Leben wird unter dem Leitbild ingenieurtechnischen Designs in Analogie zu technischen Artefakten, 45 Vgl. Müller O., 2012, S. 225. 46 Vgl. Fuchs M., 2014, S. 126. 47 Vgl. Köchy K., 2014, S. 133 ff.
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unter dem Leitbild systembiologischer Simulation in Analogie zu mathematischen Operationen und unter dem Leitbild biochemischer Konstruktion in Analogie zu chemischen Prozessen verstanden.48 Alle diese den spezifischen Handlungskontexten entnommenen Deutungen und Bestimmungen von Leben unterscheiden sich voneinander, können gleichwohl zu einer theoretischen Grundlage für die Erzeugung von „lebenden“ Konstrukten zusammengetragen werden. Jedoch gilt auch für solche begriffliche Konstruktionen, dass sie letztlich immer innerhalb der biologischen Rahmenbedingungen gelten und an biologische Vorgaben gebunden bleiben. Überdies ist es fraglich, ob durch Berücksichtigung kontextgebundener Erklärungsansätze, auch wenn sie unterschiedlichsten Handlungskontexten entstammen, ein bedeutungstragender Begriff des Lebens gewonnen werden kann. Denn es „bleibt insbesondere die Selbstherstellungskapazität oder Autonomie von lebenden Systemen – das Faktum also, dass Lebewesen ihr telos in sich selbst haben – auch im Kontext der Fremdherstellungsabsicht der Synthetischen Biologie erhalten.“49 Folgt man einem solchen Ansatz, ist es offenbar, dass die Phänomene der Selbstorganisation und Selbsterhaltung sich nicht vorhersagbar technisch konstruieren lassen, auch nicht durch einen Ansatz der „Vereinfachung“ lebender Funktionseinheiten. Das Verhalten von Protozellen, Zellen mit Minimalgenomen und solchen mit künstlichen genetischen Modulen ist sowohl unter Laborbedingungen als vor allem in der Umwelt eben nicht exakt vorhersagbar, was als Beleg angeführt werden kann für „die besonderen präoperativen, also ‚ontologischen‘ Qualitäten der in der Praxis behandelten ‚Forschungsgegenstände‘ – in diesem Fall Lebewesen mit je eigenem telos“50; wäre dies nicht der Fall, wäre die Frage nach der Biosi48 Vgl. Köchy K., 2014, S. 133 ff. 49 Köchy K., 2014, S. 164. 50 Köchy K., 2014, S. 165.
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cherheit in der Synthetischen Biologie in einem wesentlichen Aspekt entschärft. Vor diesem Hintergrund stellt sich allerdings die Frage, inwieweit die Synthetische Biologie durch Synthese „lebender“ Funktionseinheiten überhaupt zu einem Begriff des Lebens und damit zur Definierung ihres epistemischen Maßstabs beitragen kann. Ohne einen solchen Maßstab bleibt der Anspruch der Synthetischen Biologie, „Leben“ künstlich zu erzeugen, unbestimmt und auch aus dieser Sicht einem Basteln – in diesem Fall einem Herumbasteln – verhaftet. Diese Unbestimmtheit hat auch eine ethische Dimension. Weit verbreitet verbinden wir die ontologische Differenz von NichtLebendigem und Lebendigem, letzteres zumindest ab einer bestimmten Entwicklungsstufe, immer auch mit einer Differenz in der ethischen Bewertung. Wertungen über lebendige Entitäten verbinden wir ihrerseits im Allgemeinen mit dem seit der Antike festgelegten dreistufigen Ordnungssystem innerhalb des Organischen, in dem nach Aristoteles eine Objektordnung nach Pflanzen (anima vegetativa), Tieren (anima sensitiva) und dem Menschen (anima rationalis) vorgenommen wird. Mit dem Anspruch der Synthetischen Biologie, lebendige Natur nach Vorbildern in der Natur zu konstruieren, verwischt sie die Grenzen zwischen Natur und Artefakt und wirft damit nicht nur die Frage auf, welche der bekannten Referenzpunkte für die ethische Beurteilung ihrer neuartigen lebenden Konstrukte herangezogen werden können, sondern stellt die bekannten Referenzsysteme selbst in Frage, ohne ihrerseits ein ersatzweises Instrumentarium für die Beurteilung lebender synthetischer Funktionseinheiten liefern zu können. „[V]on der Analyse ihres Objektstatus scheint kein Weg zu ihrer ethischen Beurteilung zu führen. Wohl aber von der Seite ihrer Produzenten. Denn soweit die Biomacht der Akteure reicht, soweit reicht auch ihre Verantwortung als ‚Schöpfer‘, deren sich die meisten wohl bewusst sind. Ein blindes Bioplay mit den neuen synthetischen Produkten aber wäre fatal, d.h. eine Forschung, die ständig ‚künstliche‘ Prob253 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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leme schafft, für die sie keine Verantwortung übernimmt, und einer Gesellschaft zuweist, die über keine Maßstäbe verfügt.“51 Vor dem Hintergrund der Frage nach einem Bewertungsmaßstab für lebende Organismen bzw. Funktionseinheiten kann auch die Frage Bedeutung gewinnen, ob es ethisch zu rechtfertigen ist, lebende Konstrukte durch gänzlich spielerisch-ästhetische Eingriffe in die Natur, etwa als Kunst, herzustellen. Auch wenn von manchen bezweifelt wird, dass innerhalb der Synthetischen Biologie als einer technisch-funktional ausgerichteten Wissenschaftsdisziplin ein künstlerisches Schaffen im eigentlichen Wortsinn möglich ist,52 kann nach Ansicht anderer das Entwerfen, „Designen“, von lebenden Organismen nicht nur unter technischen, sondern auch unter ausschließlich ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet und als Kunst aufgefasst werden. So müssen z.B. die Erzeugung von grün blinkenden Zellen oder das Einbringen kodierter, funktional inaktiver „Botschaften“ in die genomische DNA lebender Organismen nicht zwangsläufig in funktional ausgerichteten Kontexten, sondern können „zweckfrei“ unter ausschließlich künstlerisch-ästhetischen Aspekten erfolgen. Freilich ist in diesem Fall nicht mehr in erster Linie die Verantwortung des Wissenschaftlers angesprochen, sondern die Verantwortung des Künstlers. Gleichwohl besteht die Möglichkeit, „dass naturphilosophisch-moralische und künstlerische Wertvorstellungen zumindest interferieren, vielleicht auch in Konkurrenz treten, denn auch wenn wir sowohl Natur als auch Kunst auf jeweils unterschiedliche Weise als wertvoll erachten, verbinden wir bislang mit dem Lebendigen andere Wertvorstellungen als mit Kunstwerken.“53 Die Frage nach einer ethischen Vertretbarkeit der Herstellung lebender Konstrukte als Kunst
51 Ingensiep H.W., 2012, S. 134. 52 Vgl. Boldt J., 2013, S. 111. 53 Vgl. Müller O., 2012, S. 229.
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verweist damit erneut auf die Notwendigkeit von ethischen Bewertungsmaßstäben für die lebendige Natur. Nicht nur im Kontext einer spielerischen Konstruktion von Lebendigem bezieht sich eine in ethischer Perspektive höchst bedeutsame Frage schließlich auf die Sicherheit der Synthetischen Biologie bzw. die mit ihr verbundenen Gefahren. Der deutsche Begriff der Biosicherheit wird in zweifacher Bedeutung verwendet: Zum einen umfasst Biosicherheit „den Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen, der Umwelt oder sonstiger bedeutsamer Rechtsgüter vor einer unbeabsichtigten Gefährdung“,54 etwa durch ungewollte Freisetzung von Toxinen oder Mikroorganismen aus Laboreinrichtungen; dieser Aspekt wird im englischsprachigen Raum als Biosafety bezeichnet. Zum anderen umfasst Biosicherheit „den Schutz von Menschen, Tieren, der Umwelt und anderen Gütern vor einem Missbrauch von biologischen Agenzien, etwa in terroristischer Absicht“;55 dieser Aspekt wird im englischsprachigen Raum als Biosecurity bezeichnet. Beide Aspekte besitzen auch für die Synthetische Biologie Bedeutung. Ein bewährtes Instrument, um Gefahrensituationen wahrzunehmen und zu beschreiben, sie auf dieser Grundlage zu beurteilen und möglichst angemessen zu bewältigen, ist der Begriff des Risikos.56 Die Bestimmung des Risikos einer Handlung, aufgefasst als Produkt aus numerisch ausgedrücktem Schaden und numerisch ausgedrückter Eintrittswahrscheinlichkeit, erlaubt eine Klärung der Akzeptabilität von Folgen einer Handlung, die man jemandem (einschließlich sich selbst) zumuten will.57 Für die Bestimmung der Akzeptabilität werden zum einen kritisch einzusetzende Standards und Normen benötigt, von deren Erfüllung abhängig gemacht wird, ob ein be54 55 56 57
Deutscher Ethikrat, 2014, S. 12. Deutscher Ethikrat, 2014, S. 13. Vgl. Deutscher Ethikrat, 2014, S. 67 ff. Vgl. Deutscher Ethikrat, 2014, S. 70 f.
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stimmtes Risiko akzeptiert werden kann bzw. sollte oder nicht; das Risiko einer Handlung muss daher vergleichbar und zudem kleiner oder höchstens gleich groß sein mit demjenigen von bekannten Handlungen eines ähnlichen Risikotyps, um die ethische Vertretbarkeit der Handlung zu plausibilisieren. Zum anderen sind die Risiken einer Handlung mit den Chancen zu vergleichen, die mit der Handlung verbunden sind, wobei allerdings bei der RisikoChancen-Abwägung für die Inkaufnahme von Schäden grundsätzlich normative Grenzen gezogen werden können, die eine entsprechende Handlung auch bei großen Chancen verbieten.58 In Wahrnehmung einer grundsätzlichen Verantwortung der Wissenschaften gegenüber der Gesellschaft erfordert Forschung daher Risikobestimmung, Risikovergleich und Risiko-Chancen-Abwägung sowohl in Bezug auf Biosafety als auch Biosecurity. Neue Forschungsgebiete wie die Synthetische Biologie treffen allerdings auf die Schwierigkeit, dass die Bestimmung von Risiken und somit ein Risikovergleich wie auch eine Risiko-Chancen-Abwägung aufgrund fehlender Erfahrungen und fehlenden Wissens oftmals nicht im hinreichenden Maße möglich ist. Für den Bereich der Biosafety werden diesbezüglich verschiedene mögliche Probleme genannt.59 So stellt sich bei der Konstruktion von standardisierten genetischen Modulen, die in lebende Zellen eingebracht werden, die Frage nach den Auswirkungen von Mutationen, die zu einer unvorhergesehenen Änderung der Eigenschaften des genetischen Netzwerks führen können. Zudem kommt dem Prinzip einer größtmöglichen Orthogonalität von genetischen Modulen in natürlichen Zellen nicht nur unter funktionalen, sondern auch unter Sicherheitsaspekten eine erhebliche Bedeutung zu. Unter Orthogonalität wird die größtmögliche Trennung eines komplexen, in eine Zelle eingeführten modularen genetischen Netzwerks von 58 Vgl. Deutscher Ethikrat, 2014, S. 69 59 Vgl. im Folgenden Schmidt M., 2011, S. 117 ff.
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den Informationsflüssen der Zelle verstanden.60 In eine Zelle eingeführte genetische Module sollen möglichst unabhängig ihre Funktionen ausüben und nicht untereinander oder mit Signalen der Zelle interferieren, da die Folgen solcher Interferenzen äußerst komplex sein können und kaum vorhersagbar sind. Orthogonalität von genetischen Modulen lässt sich in lebenden Organismen gegenwärtig praktisch kaum verlässlich erreichen, nicht zuletzt wegen der störenden Umgebungseinflüsse (engl.: noise), denen ein Organismus unterliegt. Überdies kann sich die gezielte Erzeugung neuer Funktionen in lebenden Organismen durch Einführung mehrerer genetischer Module nach dem Baukastenprinzip unter Sicherheitsaspekten als problematisch erweisen, da das Verhalten eines einzelnen genetischen Moduls unter isolierten Bedingungen wenig über sein Verhalten in einem Ensemble von interkonnektierten Modulen aussagt.61 Auch im Hinblick auf die Erzeugung von Organismen mit Minimalgenomen, zudem mit gezielt veränderten und synthetisch erzeugten Genomen, ergeben sich Unsicherheiten bezüglich ihrer Eigenschaften, etwa ihrer Infektiosität sowie ihrer reproduktiven und evolutionären Eigenschaften. Ähnliches gilt für Protozellen mit völlig neu konstruierten ungewöhnlichen Fähigkeiten.62 Lebewesen unterliegen den Mechanismen der Evolution, d.h. einer Veränderung im Verlaufe ihrer Vermehrung, die eine sichere Prognose über die Eigenschaften der Organismen kaum zulassen. Auch die Verwendung von xenobiologischen Molekülen, z.B. Xeno-Nukleotiden, könnte mit erheblichen Gefahren verbunden sein, so z.B. durch die Produktion metabolisch stabiler, weil durch natürliche Organismen nicht abbaubarer Bioregulatoren, die einen physiologisch geordneten Stoffwechsel zum Erliegen bringen können. 60 Vgl. Reth M., 2012, S. 46. 61 Vgl. Anderson J., et al., 2012, S. 586. 62 Vgl. Schmidt M., 2011, S. 118.
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Im Hinblick auf den Aspekt der Biosecurity birgt die Synthetische Biologie ebenfalls potentiell Gefahren, die nicht zuletzt aus ihrer Zielsetzung einer Modularisierung und Standardisierung entspringen. Mit dieser Zielsetzung kann die Synthetische Biologie auch wenig erfahrenen Personen ermöglichen, durch Verwendung von genetischen Standardmodulen umfangreiche Manipulationen in Mikroorganismen vorzunehmen. Durch diesen Prozess eines sogenannten de-skilling wird der Zugang zu diesen Technologien und ihre mögliche Anwendung für schädliche Zwecke erheblich vereinfacht. Für die Biosecurity ist zudem die Zugänglichkeit von bioinformatorischen Daten von zunehmender Bedeutung, da solche Daten vor dem Hintergrund automatisierter und vereinfachter Syntheseund Analyseverfahren den Nachbau und gegebenenfalls die gezielte Veränderung von Biomolekülen für schädliche Zwecke erlauben, ohne auf Ausgangsorganismen materialiter zurückgreifen zu müssen. Im Hinblick auf eine Risikoeinschätzung steht die Biosecurity zudem vor dem grundsätzlichen Problem, dass zwar die Schäden, die z.B. durch einen missbräuchlichen Einsatz eines schädlichen Mikroorganismus entstehen, möglicherweise quantifizierbar sind, nicht jedoch die Eintrittswahrscheinlichkeit bei bioterroristischem Handeln.63 Die herkömmlichen Instrumente der Risikobeurteilung können daher nur sehr begrenzt eingesetzt werden. Die im Zusammenhang mit der Synthetischen Biologie verbundenen Unsicherheiten bei der Risikobewertung werfen u.a. die Fragen auf, inwieweit die Wissenschaft selbst Verantwortung für die Sicherheit und einen möglichen Missbrauch ihrer Forschung und Forschungsergebnisse zu übernehmen hat, inwieweit eine Gesellschaft oder der Staat diesbezüglich Vorgaben verbindlich machen kann und anhand welcher Kriterien und Prinzipien Entscheidungen über die Entwicklung der Forschung getroffen werden kön-
63 Vgl. Deutscher Ethikrat, 2014, S. 69.
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nen. Ein international etabliertes ethisches Entscheidungskriterium im Falle wissenschaftlicher Unsicherheit stellt das Vorsorgeprinzip (precautionary principle) dar, das in einer starken und einer schwachen Variante vertreten wird.64 Die starke Variante fordert, dass eine risikoreiche Handlung so lange unterlassen und auch verboten werden muss, bis nachgewiesen ist, dass ein bestimmtes Niveau an gesellschaftlicher Sicherheit gewährleistet ist. Damit birgt die starke Variante das Problem, dass die Umkehrung der Beweislast unter Umständen zu weitreichenden Beschränkungen von Forschung und der Entwicklung von innovativen Techniken führen kann, obwohl der Nachweis der Schädlichkeit dieser Forschung gar nicht erbracht ist. Hingegen besagt die schwache Variante des Vorsorgeprinzips, dass in Situationen der Ungewissheit zwar Maßnahmen der Schadensabwehr geboten sind, wenn schwerwiegende negative Folgen für hochrangige Güter wie Menschenleben oder die Umwelt durch risikoreiche Handlungen drohen, darüber hinaus jedoch nicht per se eine Pflicht zum Unterlassen der Handlung abgeleitet werden kann. Die Frage, welcher Variante des Vorsorgeprinzips im Kontext der Synthetischen Biologie gegebenenfalls unter welchen Umständen zu folgen ist, stellt angesichts der mit diesem jungen Forschungsgebiet verbundenen Unsicherheiten eine ethische Herausforderung dar.
4. Bedarf es einer speziellen „Ethik der Synthetischen Biologie“? Der obige Überblick über wichtige mit der Synthetischen Biologie verbundene ethische Fragen ermöglicht es, die Frage nach der Notwendigkeit einer speziellen Bereichsethik im Sinne einer
64 Vgl. Deutscher Ethikrat , 2014, S. 79 ff.
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„Ethik der Synthetischen Biologie“ genauer in den Blick zu nehmen. Grundsätzlich ist festzustellen, dass sich die Synthetische Biologie und die Molekularbiologie unter dem Begriff des „genetic engineering“ hinsichtlich ihrer Zielsetzungen und Methoden in weiten Bereichen überlappen. Zwar wird der Molekularbiologie mit der vornehmlichen Zielsetzung der Charakterisierung von Molekülen und biologischen Funktionszusammenhängen insbesondere eine analytische Herangehensweise bei der Erforschung von Lebensphänomenen zugesprochen, während die Synthetische Biologie mit ganz ähnlicher Zielsetzung einen explizit synthetischen Ansatz verfolgt, jedoch erscheint es fraglich, ob sich beide Wissenschaftsgebiete anhand dieser Unterscheidung letztlich hinreichend voneinander abgrenzen lassen. Auch im Hinblick auf die zur Anwendung kommenden Methoden, z.B. die Rekombination, Mutation, Amplifizierung und Analyse von Genen, der Einsatz modifizierter Nukleinsäuren, die genetische Modifikation von Organismen etc., sind große Ähnlichkeiten zu konstatieren. Gleichfalls stellen sich viele ethische Fragen der Synthetischen Biologie im Hinblick auf ihre Zielsetzungen und Methoden in ähnlicher Weise auch in der Molekularbiologie, etwa bei der Überschreitung von Speziesgrenzen, der Bioproduktion etc., und sind in diesem Sinne nicht neu bzw. nicht spezifisch für die Synthetische Biologie. Auffallend ist indes der Unterschied zwischen beiden Wissenschaftsgebieten im Hinblick auf den Umgang mit Unsicherheiten und Risiken. Während in den frühen Tagen der Molekularbiologie die Unsicherheiten bezüglich der Risikobewertung z.B. mit der Asilomar II-Konferenz in einem strukturierten, konzertierten und öffentlichen Diskurs behandelt wurden, auch wenn sich dieser auf technische Lösungen konzentrierte und gesellschaftliche Fragen der Molekularbiologie kaum berücksichtigte, treten Protagonisten der Synthetischen Biologie durch die Verwendung einer epistemologisch problematischen und offenbar wenig reflektierten Meta260 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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phorik in Erscheinung, die geeignet ist, Besorgnis hinsichtlich einer rationalen Einordnung der Chancen und Risiken dieses Forschungsgebietes zu erwecken. Im Hinblick auf die Bewertung von Chancen und vor allem von Risiken der Synthetischen Biologie sendet auch die Weiterentwicklung dieses Wissenschaftsgebietes durch den Aufbau einer Registratur von BioBricks ausgerechnet in Form eines unter Studenten ausgetragenen Wettbewerbs (iGEM Competition) irritierende Signale aus. Die Notwendigkeit eines strukturierten gesellschaftlichen Diskurses, der sich zudem nicht nur auf technische und Sicherheitsfragen beschränkt, stellt allerdings kein ethisches Alleinstellungsmerkmal der Synthetischen Biologie dar. Auch das scheinbar technische Naturverständnis der Synthetischen Biologie scheint nicht spezifisch für die Synthetische Biologie zu sein. Der Ansatz der Systembiologie, aber auch derjenige der Molekularbiologie, ist ebenfalls stark von einem technischen Paradigma bestimmt. Auch im Hinblick auf den Begriff des Lebens und auf die Frage nach Maßstäben für die Bewertung von lebender Natur scheint die Synthetische Biologie keine spezifischen Ansätze zu verfolgen, die in anderen Bereichen der Naturwissenschaften nicht anzutreffen wären und dort nicht diskutiert und auch ethisch reflektiert würden. Gleichwohl besitzt die Synthetische Biologie das Potenzial, durch ihren expliziten Anspruch, lebende Konstrukte nach Maß zu erzeugen, die diesbezüglichen naturwissenschaftlichen, insbesondere aber auch die philosophischen und ethischen Diskurse anzufachen und thematisch zu fokussieren. Nicht neu ist zudem die Frage nach der Biosicherheit, sowohl bezüglich der Biosafety als auch der Biosecurity. Zweifelsohne werden, den spezifischen Anforderungen der Synthetischen Biologie entsprechend, maßgeschneiderte Sicherheitskonzepte entworfen und implementiert werden müssen, jedoch trifft dies auch für alle andern Bereiche der Biowissenschaften zu, und etablierte Instru261 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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mente sind vorhanden. Wie in anderen Bereichen der Biowissenschaften stehen auch in der Synthetischen Biologie die Wissenschaftler nicht nur gegenüber der Wissenschaft, sondern auch gegenüber der Gesellschaft in der Verantwortung und müssen eine angemessene Risikoabschätzung und gegebenenfalls das Vorsichtsprinzip beachten. Insofern lässt sich zumindest auf der Grundlage der gegenwärtigen Anwendungsszenarien und Prognosen der Synthetischen Biologie schwerlich eine Notwendigkeit für eine spezielle „Ethik der Synthetischen Biologie“ erkennen. Die Synthetische Biologie macht allerdings deutlich, dass weder die Biologie noch die Philosophie und die Ethik auf hinreichende Konzepte von Leben zurückgreifen können und dass diesbezügliche Bewertungsmaßstäbe fehlen, solange sie sich nicht auf den Menschen als Subjekt beziehen. Daher bietet die Entwicklung dieser Wissenschaftsdisziplin aufgrund ihrer thematischen Fokussierung die Chance für eine Etablierung eines konsequenten interdisziplinären Diskurses mit Philosophie und Ethik mit dem Ziel, angemessene Deutungsansätze und Bewertungskriterien für die lebendige Natur und für Eingriffe in dieselbe zu entwickeln. Zudem kann im interdisziplinären Diskurs eine geeignete Öffentlichkeitsarbeit und Risikokommunikation entworfen und etabliert sowie die in der Öffentlichkeit geführte Debatte und schließlich auch die gegenwärtigen Forschungsprozesse und die Weiterentwicklung der Synthetischen Biologie gestaltet werden. Danksagung Frau Barbara Advena-Regnery, Frau Kathrin Rottländer und Frau Birte Wienen danke ich für wertvolle Vorschläge und Kommentare.
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Legitimationsdruck und Akzeptanzentwicklung bei neuen Forschungsfeldern. Das Beispiel Synthetische Biologie Rüdiger Goldschmidt
1. Synthetische Biologie in der gesellschaftlichen Diskussion Die gesellschaftliche Diskussion um die Synthetische Biologie hat längst begonnen. Neben sachlichen Berichten (Spiegel, 27. März und 08. Mai 2014) finden sich kritische Haltungen auch in Meldungen der Presse jenseits des Boulevards. Zum Beispiel „DIE ZEIT“ brachte vor einer Weile Schlagzeilen an wie: „Gefahr aus dem Labor. Monstermikroben, Killerviren, Biowaffen. Die Synthetische Biologie birgt Gefahren. Die Forscher sind sich uneins: Die einen trauen ihr zu viel zu, die anderen zu wenig.“ (Die Zeit, 07. März 2011) oder „Herumschrauben am Gengerüst“ (Die Zeit, 20. April 2012) oder „Leben 2.0. Was passiert, wenn es der Bio-Industrie gelingt, den menschlichen Körper neu zu programmieren.“ (Die Zeit, 05. Juni 2010). Die gesellschaftlichen Deutungen zu den in Aussicht stehenden wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten finden teilweise in provokanten Metaphern Ausdruck. Die mitunter kreativ überzogenen Schöpfungen von Fabelwesen oder von aus Legosteinen zusammengepuzzelten menschlichen Körpern verfehlen gerade bei den verantwortlichen Forschern ihre Wirkung nicht.1 Die Situation ist geprägt von gegenseitigem Unverständnis zwischen den verschiedenen Akteursgruppen, die gerade dabei 1 In mehreren Vorträgen der Görres-Tagung 2012 gingen Forscher auf diese Darstellungen kritisch ein.
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Rüdiger Goldschmidt
sind, die Gräben für die Auseinandersetzung auszuheben. Dabei ist die Synthetische Biologie kein Einzelfall, eher ein Thema unter vielen, bei dem gesellschaftlicher Verständigungsbedarf besteht und bei dem das Verteilen von Informationen als Kommunikationsaktivität allein nicht ausreicht. Wie im folgenden Beitrag gezeigt wird, stellt es eine schwierige, aber notwendige Aufgabe in modernen westlichen Demokratien dar, Akzeptanz aktiv zu ent‑ wickeln. Nach der Untersuchung der Frage nach den Ursachen des gesellschaftlichen Legitimationsdrucks fokussiert der Beitrag auf die Frage, welche Faktoren die erfolgreiche dialogorientierte Akzeptanzentwicklung und Wissenschaftskommunikation unterstützen können.
2. Legitimationsdruck in Demokratien und Notwendigkeit wirksamer Akzeptanzentwicklung In der Gesellschaft müssen stets geeignete Wege gefunden werden, durch Entscheidungen Sachprobleme zu lösen, ohne den Zusammenhalt der gesellschaftlichen Akteure zu gefährden oder gar zu verlieren. Dabei ist es für Entscheidungsträger von hoher Bedeutung, Entscheidungsprozesse angemessen zu strukturieren (Bradbury, 1989: 380). Entscheidungsfehler resultieren häufig daraus, dass die gesellschaftlichen Aufgaben nicht in all ihren Problemdimensionen angemessen bewertet werden, was langfristige und tiefgreifende Folgen wie zunehmende soziale Ungerechtigkeit haben kann (Okrent, 1998: 19 u. 22). Falsche Entscheidungen können von gesellschaftlichen Akteuren genauso kritisiert werden, als wenn gar keine Entscheidungen getroffen werden. Grundsätzlich existieren zwei Kernformen, wie gesellschaftliche Entscheidungen getroffen werden können (Bradbury, 1989: 380; vgl. auch Stirling, 2005: 219; Papadopoulos, 2007: 451; Mid268 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Legitimationsdruck und Akzeptanzentwicklung bei neuen Forschungsfeldern
dendorf et al., 1997: 46; vgl. auch Fiorino, 1990: 226). Bei technokratischen Entscheidungsprozessen beeinflussen Experten maßgeblich die Entscheidung der Autorität. Neben sachlich-substantieller Expertise zur Auswahl einer Entwicklungsoption können ebenso die Konsequenzen der Technikentwicklung durch Experten bestimmt werden (Hennen et al., 2008). Der partizipative Ansatz öffnet Entscheidungsprozesse für die Perspektiven weiterer Akteursgruppen, insbesondere für jene Akteure, die von den Entscheidungen betroffen sind. Demokratische Entscheidungssysteme sind vielschichtig und dynamisch (Gastil et al., 2005: 6; Beierle et al., 2002: 3; Renn, 2004: 342). Die konkreten Ergebnisse gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse sind nur bedingt vorhersagbar, weil sie in Form von Mehrheiten bestimmt werden. Machtverhältnisse beeinflussen jedoch nicht nur substantielle gesellschaftliche Entscheidungen, Risikodefinitionen und -bewertungen (Okrent, 1998: 21; Stirling, 2005: 223), sondern auch Entscheidungen darüber, wie entschieden wird. Zur Frage, ob die Bevölkerung an gesellschaftlichen Entscheidungen zu beteiligen ist, gibt es in Gesellschaften in der Regel Befürworter, aber auch Gegner (Dietz et al., 2008: 1), was je nach Mehrheitsverhältnissen Trends und Gegentrends erzeugt. Für die meisten gesellschaftlichen Entscheidungsprobleme gibt es etablierte, über demokratische Bestätigung regelmäßig verwendete und damit reproduzierte Wege. Aber es existiert trotzdem kein Standardweg der Entscheidung. Demokratische Systeme lassen sich sogar als Ordnungen ansehen, bei denen der Kampf um Demokratie legitimiert wird bzw. sich selbst legitimiert (Barber, 1996: 357), was das jeweilige System reproduziert. Pluralistische Perspektiven (Politik, Moralvorstellungen) und Interessen (Markt) stehen nebeneinander und häufig gegeneinander. So stehen gesellschaftliche Institutionen und Organisationen sowie auch einzelne Entscheidungsprozesse unter Legitimationsdruck. Sie stehen vor der Aufgabe, eine effektive 269 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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Kommunikation und Akzeptanzentwicklung anzubieten, die sich auf eine Vielzahl von gesellschaftlichen Zielgruppen richtet und diese anspricht. Das betrifft besonders die Wissenschaft sowie die Akteure des Wissenschaftsbereiches. Denn die Wissenschaft hat eine gesellschaftliche Sonderstellung, da sie systematisch gewonnenes Wissen und Informationen in Entscheidungsprozesse einspeist. Ihre Rolle bei Entscheidungsprozessen ist also zentral (Stern et al., 1996: 24; vgl. auch Beierle et al., 2002: 75). Als Impulsgeber und Innovationsquelle besitzt die Wissenschaft in den gesellschaftlichen Debatten somit eine exponierte Position. Das verdeutlichen neue, sich entwickelnde Techniken oder Forschungsbereiche wie die Synthetische Biologie, die einerseits mit Nutzenpotentialen und Hoffnungen, aber ebenso mit potentiellen Risiken verbunden ist und soziale Diskussion sowie Widerstand auslöst (vgl. erstes Kapitel). Dabei sprechen mehrere Argumente für einen intensiven, aber gleichsam reflektierten Einsatz von Dialog und Beteiligung in Kommunikationsstrategien, um Legitimität zu entwickeln und Legitimationsfallen zu entgehen. Diese Argumente skizziert der folgende Abschnitt. 2.1 Der Inglehart-Faktor als Katalysator des Legitimationsdrucks Für die Risiko- und Wissenschaftskommunikation sowie die Akzeptanzentwicklung ist die Forschung von Inglehart (1998: 414 u. 431) beachtenswert, der auf die Wirkung des Wertewandels hinweist (nachfolgend „Inglehart-Faktor“). Inglehart erklärt das empirisch sinkende Institutionsvertrauen nicht allein aus der tatsächlichen Effektivität oder anderen Leistungsindikatoren von Institutionen. Vertrauensentzug gegenüber Institutionen ist ebenfalls eine Folge des gesellschaftlichen Wertewandels und letztlich des Wohlstands. Der steigende Bildungsgrad bzw. -stand der Bevölkerung 270 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Legitimationsdruck und Akzeptanzentwicklung bei neuen Forschungsfeldern
erhöht die Möglichkeiten der Öffentlichkeit, kritischer und anspruchsvoller gegenüber Entscheidungen aufzutreten. Entscheidungen werden stärker hinterfragt und politische Autorität erodiert (Inglehart, 1998: 414). Gleichzeitig nimmt das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung in der Bevölkerung zu. Das lässt sich auch als Individualisierungsprozess von Legitimitätsansprüchen interpretieren. Positiv formuliert verlieren Institutionen kein Vertrauen, sondern müssen stetig Legitimität entwickeln. Wie das geschafft werden kann, zeigt der folgende Abschnitt. 2.2 Legitimationsentwicklung und Legitimationsfallen Mehrere sozialpsychologische Modelle erklären die Anerkennung von Entscheidungen und die Akzeptanz von Autorität damit, dass die Aktivitäten der entsprechenden Institutionen als fair wahrgenommen werden (Tyler et al., 2001: 71 u. 74; Fair-Process Effect vgl. van den Bos, 2005: 274). Ein zentraler Aspekt für die Fairnesswahrnehmung ist dabei der sogenannte „VOICE-Effekt“ (Tyler et al., 2001: 68 u. 71 u. 1992: 163; Thibaut et al., 1975; Lind et al., 1988). Er besagt, dass Akteure einen Entscheidungsprozess als fair wahrnehmen, wenn ihnen ernsthaft die Möglichkeit eingeräumt wird, ihre Perspektive einzubringen. Die prozedurale Fairness oder die Wahrnehmungen prozeduraler Fairness sind sogar relevant, wenn Institutionen bewertet werden, zu denen Akteure gar keinen direkten Kontakt haben (Tyler et al., 2001: 72). Die Akteure müssen dabei auch nicht zwangsläufig eine Entscheidung beeinflussen können, solange die VOICE-Möglichkeit wahrhaftig besteht. Die sozialpsychologischen Erkenntnisse zeigen ebenfalls, wie Akteure auf Bedingungen reagieren, die sie als unfair oder nicht akzeptabel wahrnehmen (Conlon et al., 2005: 303). Individuelle Abwehrreaktionen auf unfaire Aktivitäten in Organisationen sind z. B. Absentismus, stille Gegenwehr oder der sogenannte Vendetta-Effekt, bei 271 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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dem eine Person versucht, der Autorität ungeachtet eigener Kosten maximalen Schaden zuzufügen. Die Relevanz der angemessenen Akzeptanzentwicklung verdeutlicht sich mit dem Blick auf empirische Erkenntnisse zu Protestaktivitäten in Deutschland, aus denen sich zwei zentrale Schlussfolgerungen ableiten lassen (Rucht, 2010: 6; Hutter et al., 2012: 13 f.). Im Zeitbereich zwischen den Jahren 1950 bis 2002 sind mehrere heftige Anstiege in Bezug auf die Anzahl der Protestereignisse zu beobachten, wobei auf einen heftigen Anstieg oft ein ebenso rapider Abfall folgt. In den Zeitphasen mit viel Protestaktivität werden viele Personen mobilisiert. Bei einer Mindestanzahl von etwa 100 Protestereignissen bzw. 1 Million Aktiven pro Jahr ist Deutschland erstens kein Land des Dauerprotestes. Zweitens besteht jedoch stets ein hohes Potential für Protestaktivitäten, die in kurzer Zeit eine Vielzahl von Personen mobilisieren. Deutsche Bürger vertreten also ihre Meinung auch auf der Straße. Andere Formen des Widerstandes bilden Blockadeaktivitäten oder Klagen vor Gericht. Der Inglehart-Faktor und die sozialpsychologischen Erkenntnisse konvergieren zudem mit Annahmen der Diskurstheorie. Danach sind Normen oder Entscheidungen nur dann kollektiv gültig und akzeptabel, wenn ihnen alle potentiell Betroffenen rational zustimmen können (Habermas, 1998: 138; vgl. auch Habermas, 1991: 134). Vor dem geschilderten Hintergrund des Legitimationsdrucks besteht die Aufgabe der Akzeptanzentwicklung also darin, Betroffene bzw. die Bevölkerung mit Erklärungen zu überzeugen, freiwillig eine Entscheidung als verbindlich anzuerkennen. Das wird dadurch befördert, dass Akteursgruppen an Entscheidungsprozessen beteiligt werden oder hier zumindest ihre Perspektive ernsthaft berücksichtigt wird. So sprechen mehrere Argumente für den Einsatz von Beteiligung, was aber sehr reflektiert erfolgen sollte, wie auch die beiden folgenden Legitimierungsfallen verdeutlichen. 272 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Legitimationsdruck und Akzeptanzentwicklung bei neuen Forschungsfeldern
1. Hinlänglich bekannt ist, dass Entscheidungsprozesse und -institutionen in eine Legitimationsfalle geraten (zusammenfassend Renn et al., 1997: 69), wenn sie nicht ausreichend auf Dialog und Beteiligung setzen. Zum Beispiel können gesellschaftliche Akteure die Lösung des Müllproblems fordern, sich aber gegen den dafür notwendigen Neubau von Entsorgungsanlagen wehren und selbst kaum bestrebt sein, das eigene individuelle Handeln umweltfreundlicher zu gestalten. Ohne ausreichende kollektive Willensbildung und Kommunikation zwischen Interessengruppen geraten dann die Entscheidungsprozesse in die Legitimationsfalle. In der geschilderten Konfiguration werden dringende gesellschaftliche Entscheidungen gar nicht oder verzögert getroffen. Die Paralyse der Entscheidungsverfahren auf der Sachebene führt dazu, dass beteiligte Akteure und vor allem die für Entscheidungen verantwortlichen Institutionen an Legitimität verlieren. Der Legitimationsdruck wirkt nicht nur auf die Sachentscheidung zurück, sondern kann sogar die Legitimität des Entscheidungsprozesses aussetzen. Beispiele lassen sich ebenso für die Synthetische Biologie finden: So können gesellschaftliche Akteure neue Heilverfahren und die Lösung medizinischer Probleme fordern, aber die dazu notwendige Forschung missbilligen sowie individuell nur unzureichende Maßnahmen ergreifen, um das eigene Krankheitsrisiko zu mindern. Die Synthetische Biologie wird derzeit kaum gezielt diskutiert. Eine daraus entstehende Paralyse bzw. der sich aufstauende unkanalisierte gesellschaftliche Handlungsdruck kann Falschentscheidungen begünstigen, z. B. weil die zur Entwicklung von Heilverfahren notwendige Forschung massiv beschnitten wird oder falsche Prioritäten gesetzt werden. Faktisch werden Dialog- und Beteiligungsverfahren häufig zur Klärung gesellschaftlicher Fragestellungen eingesetzt (u. a. Papa273 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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dopoulos et al., 2007: 446; Newig, 2007: 51; Rowe et al., 2000: 4). Neben dem legislativ vorgeschrieben Einsatz bestimmter Verfahren (Gabriel et al., 2005: 526; Dietz et al., 2008: 36-43; Moore, 1996: 154; Daniels et al., 1996: 15) öffnen sich mehr und mehr Regierungsstellen (Carnes et al., 1998: 386) sowie der Privatsektor für dialogorientierte Kommunikationsstrategien. Der Wunsch nach Beteiligung besteht ebenso in der Bevölkerung (Inglehart, 1998: 413; Rowe et al., 2004: 88; Smith et al., 2001: 239). 2. Mit dem verstärkten Einsatz von Dialog- und Beteiligungsverfahren entwickelt sich derzeit eine zweite Legitimationsfalle. Befunde aus systematischen empirischen Vergleichsuntersuchungen (u. a. Dietz et al., 2008: VII; Beierle et al., 2002: 74; Goldschmidt et al., 2012: 241-255) bestätigen insgesamt, dass sich mit Dialog- und Beteiligungsverfahren relevante Ergebnisse und Wirkungen erzielen lassen. Doch dafür gibt es keine Garantie (Renn et al., 1998: 68; zusammenfassend Newig, 2011: 66). Scheitert ein Verfahren, bleiben den Beteiligten die negativen eigenen Erfahrungen. Die oben genannten negativen Effekte der ersten Legitimationsfalle werden um den Faktor persönlicher negativer Erfahrung verstärkt. Durch ineffektive Kommunikationsprozesse können sich z. B. Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Akteuren verschlechtern (zusammenfassend Papadopoulos et al., 2007: 458) und die soziale Kooperationsbereitschaft kann gemindert werden, was Risiken für die soziale Integration produziert. Schlussendlich erbringen Dialog und Beteiligung viel Potential für Akzeptanz- und Legitimationsentwicklung. Ein unreflektierter, falscher Einsatz ist jedoch ebenfalls problematisch, was zur Frage des nächsten Kapitels führt, welche Faktoren wirkungsvolle Entscheidungs- und Kommunikationsprozesse sowie Legitimitäts- bzw. Akzeptanzentwicklung begünstigen.
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3. Faktoren erfolgreicher Kommunikation Die Entscheidungen bei Kommunikationsplanung, Prozessdesign und -implementation etc. sind komplex, da die Diskussionsthemen vielschichtig sind, viele unterschiedliche Akteursgruppen, Kontextbedingungen sowie unterschiedlichste Verfahrensformen vorliegen und mit Ressourcen oft sparsam umgegangen werden muss. Wie bei demokratischen Entscheidungsprozessen allgemein gibt es keine Standardprozeduren zur Legitimations- und Akzeptanzentwicklung, die den Erfolg garantieren. Aus der Fülle von Aspekten (Goldschmidt, 2014) werden nachfolgend fünf Faktoren skizziert, die für den Erfolg von Kommunikationsstrategien bzw. für die Legitimitäts- und Akzeptanzentwicklung bedeutsam sind. Diese Faktoren lassen sich grundlegenden Organisationsaufgaben (kursiv) zuordnen: Strategische Gestaltung, 1. Kommunikationsstrategie passend zum Entscheidungsproblem, 2. Auswahl von passenden Kommunikationsformaten und -designs, Ausgestaltung bzw. Durchführung der Verfahren, 3. Offenheit der Kommunikation und Souveränität der Teilnehmenden, 4. Kompetenzentwicklung – Austausch zwischen Laien und Experten, Qualitätssicherung 5. Profunde Evaluation.
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3.1 Kommunikationsstrategie passend zum Entscheidungs‑ problem Die Ausrichtung der gesamten Kommunikationsstrategie, insbesondere die Auswahl von Akteursgruppen, kann nach der Art des Entscheidungsproblems effektiv strukturiert werden (Renn, 2008: 276 u. 290; Renn, 2004: 300 u. 326 f.): – Komplexe Entscheidungsprobleme lassen sich durch den Austausch von systematischem Wissen und speziell durch die Aufklärung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen lösen. Das erfordert den Austausch zwischen Experten. Dialog und Beteiligung sind z. B. nicht notwendig, wenn der Zusammenhang zwischen dem Einschleusen von Erbgut in eine Zelle und den dadurch erreichten Stoffwechselprozessen zu klären ist. – Entscheidungsprobleme unter Unsicherheit entstehen durch unvollständige, ungesicherte oder konkurrierende Wissensbestände z. B. in Bezug auf angenommene Kausaleffekte (Renn, 2008: 290). Neben Experten sollten möglichst breit andere Wissensträger in den Entscheidungsprozess einbezogen werden, bspw. relevante und interessierte Stakeholdergruppen wie im Entscheidungsbereich tätige und erfahrene Interessenvertreter. Die Aufgabe besteht darin, die Konsequenzen von Entscheidungen möglichst sicher abzuschätzen und die verfügbaren Entscheidungsoptionen auf möglichst breiter Wissensbasis gegeneinander abzuwägen. Ein Beispiel ist ein Projekt zur Entwicklung eines mit Bioparts auszustattenden Minimalorganismus für medizinische Anwendungszwecke. – Bei mehrdeutigen Entscheidungsproblemen existieren unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten und Perspektiven auf das Problem und die Lösungsoptionen. Das Entscheidungsproblem, die Lösungswege und deren Konsequenzen müssen daher anhand unterschiedlicher gesellschaftlicher Wertmaßstäbe bewertet werden. Aussagekräftige und vor allem breit akzep276 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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tierte Entscheidungen setzen einen angemessen starken und breiten Einbezug gesellschaftlicher Akteursgruppen voraus. Dialog und Beteiligungsverfahren bilden hier die Basis einer effektiven Gesamtstrategie zur gesellschaftlichen Kommunikation und Entscheidung (Renn, 2004: 326 f.; Stern et al., 1996: 160). Diese Herangehensweise lässt sich mit der Kernannahme des partizipativen Ansatzes begründen, dass Expertenmeinungen oder wissenschaftliche Erwägungen als einzige Grundlage für moralische, ethische bzw. gesellschaftliche Entscheidungen nicht ausreichen (Bradbury, 1989: 383). Ein Beispiel wäre ein breiter Diskurs zu den sozialen Implikationen der Synthetischer Biologie und zur Wünschbarkeit von zukünftigen Forschungszielen. Dialog- und Beteiligungsverfahren eignen sich also nicht pauschal für alle Fragen und Entscheidungsprobleme im Zusammenhang mit der Synthetischen Biologie. Vielmehr besitzen dialogbasierte Verfahren eine hohe Relevanz in Entscheidungssituationen, die mit Mehrdeutigkeit verbunden sind, bei denen also mehrere begründete Perspektiven nebeneinander stehen. 3.2 Auswahl von passenden Kommunikationsformaten und -designs Es existiert eine Vielzahl von Dialog- und Beteiligungsverfahren, mit denen gesellschaftliche Akteure bzw. allgemein die Bevölkerung an Entscheidungsprozessen beteiligt werden, strukturiert über Risiken kommunizieren können und mit denen sich Akzeptanz entwickeln lässt. „Formate“ (Goldschmidt, 2014: 49) bezeichnen dabei abstrahierte Gruppen von Kommunikationsverfahren, die sich durch ähnliche Strukturen und Funktionen auszeichnen. „Designs“ (Goldschmidt, 2014: 254) legen den Aufbau und die 277 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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Funktionen von konkreten Vorhaben, Veranstaltungen oder von einzelnen Veranstaltungsphasen fest. Ein Design ist damit ein Konglomerat verschiedener organisatorischer Entscheidungen z. B. zur Rekrutierung von Teilnehmenden, zum Verfahrensablauf und zum konkreten Modus von Entscheidungsprozessen oder zur Frage, wie Expertise in den Prozess eingebunden wird.2 Bei einem systematischen Vergleich3 der Formatwirkung auf die Veranstaltungsteilnehmenden in Bezug auf Aspekte wie die Steigerung von Sachwissen, Urteilsfähigkeit, Interesse am Diskussionsthema sowie von Aufgeschlossenheit zeigte sich, dass Dialogund Beteiligungsformate jeweils sehr spezifische Wirkungen erzielen (detaillierte Darstellung in Goldschmidt et al., 2012). Es lässt sich von charakteristischen Wirkungsmustern sprechen. Neben den Formatwirkungen ist auch die Anzahl von ins Verfahren involvierten Personen ein wichtiger Faktor, der das Wirkungspotential bestimmt. Auch wenn die Wirkungen hier im Einzelnen nicht behandelt werden können, ist der Einsatz von Dialog- und Beteiligungsformaten insbesondere dann effektiv, wenn das konkrete Verfahren zu den Zielsetzungen der Organisatoren und den Kontextbedingungen passt. Der praktische Profit aus diesen Erkenntnissen besteht darin, dass aus dem systematischen Vergleich der Wirkungsunterschiede zwischen Formaten spezifische Empfehlungen zur Formatwahl in Form eines Entscheidungsschemas abgeleitet werden können (vgl. dazu: ebenda). Die Passung von For2 Ein Beispiel verdeutlicht den Unterschied zwischen „Design“ und „Format“. Beim Format der Bürgerkonferenz können neben Präsenzveranstaltungen mit persönlichen Kontakten zwischen den Teilnehmenden als einer Designoption z. B. OnlineTische mit Diskussionen via Internet durchgeführt werden. 3 Im Verbundprojekt „Wissenschaft debattieren!“ übernahm die Partnereinrichtung „Wissenschaft im Dialog“ (Berlin) die Hauptkoordination und ZIRN (heute ZIRIUS) von der Universität Stuttgart die Begleitforschung. Wir danken den zahlreichen Institutionen und Einzelpersonen, die das Projekt unterstützt haben, insbesondere dem Bundeministerium für Bildung und Forschung für die Förderung.
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maten an die Zielsetzungen der Organisatoren bzw. die richtige Formatwahl bildet also einen wichtigen Erfolgsfaktor für die Effektivität von Maßnahmen zur Kommunikation und Akzeptanzentwicklung. 3.3 Offenheit der Kommunikation und Souveränität der Teilnehmenden Die ersten Kapitel und Abschnitt 3.1 verdeutlichen, warum bei Entscheidungsproblemen, die mit ethisch-moralischen Aspekten verbunden sind, eine offene gesellschaftliche Debatte notwendig ist, um breit akzeptierte Lösungen entwickeln zu können. Dieser Anspruch gilt ebenso für einzelne Dialog- und Beteiligungsverfahren. Die Ausgangsbedingungen zur Entwicklung einer Kommunikationsstrategie für die Synthetische Biologie ähneln in vielen Aspekten dem Kontext der Hirnforschung vor einigen Jahren. Bei der Hirnforschung handelt es sich um eine sogenannte Converging Technology (Hennen et al., 2008: 16), also um ein multidisziplinäres Forschungsfeld, das eine Vielzahl von Implikationen für die gesellschaftliche Entwicklung haben kann (ebenda: 11). Diskussionen zu solchen Themen schließen grundlegende moralisch-ethische Fragen ein (ebenda: 9-16). Erkenntnisfortschritte der Hirnforschung können z. B. im medizinischen Bereich als Basis für Heilverfahren dienen, aber auch missbraucht werden.4 Das Beispiel der Hirnforschung wird hier deshalb erwähnt, weil mit dem sogenannten Meeting of Minds-Projekt Erkenntnisse eines Referenzvorhabens vorliegen, die für die Kommunikation und Akzep4 Hirnkrankheiten sind auf dem Vormarsch, bedrohen Volkswirtschaften, so dass Heilverfahren dringend gebraucht werden. Jenseits der medizinischen Notwendigkeit nimmt dagegen der Gebrauch und Missbrauch von Mitteln zur Leistungssteigerung zu (Hennen et al., 2008: 14 f.).
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tanzentwicklung im Feld der Synthetischen Biologie relevant sein könnten. Als ein Einwand gegen ein Dialogverfahren kann z. B. angebracht werden, dass sich die Forschung zur Synthetischen Biologie momentan noch selbst strukturieren muss. Das Meeting of MindsProjekt fand zu einem frühen Zeitpunkt statt, als die gesellschaftliche Diskussion und die Regulation zum Thema Hirnforschung begann (King Baudouin Foundation, 2005: 1). Das Projekt bot daher Akteursgruppen aus Bereichen wie der Politik und der Wissenschaft die sonst seltene Gelegenheit, sich über das gesellschaftliche Meinungsbild zur Hirnforschung und zu den Perspektiven von Laien zu informieren. Dies lässt sich als Erfolgsfaktor ansehen, der dazu führte, dass das Projekt externe Wirkungen z. B. in Medien erzielen konnte und relevante Organisationen bis hin zu hohen politischen Entscheidungsinstanzen Rückmeldungen zu den Empfehlungen der Bürger gaben (Goldschmidt et al., 2015). Vorteilhaft sind demnach Kommunikationsstrategien, die möglichst früh auf eine offene Diskussion setzen (vgl. Rowe et al., 2000: 14 u. 2004: 101; Chess et al., 1999: 2691; Stern et al., 1996: 91). Das Meeting of Minds-Projekt war in seiner Art ein Meilenstein im Bereich der Dialog- und Beteiligungsverfahren. Bei den ambitionierten Zielsetzungen des Projektes5 hätte ein Scheitern des millionenteuren Vorhabens deutliche Signalwirkung gehabt. Obwohl das Projekt erfolgreich abgeschlossen werden konnte,
5 Gemäß ihren Zielsetzungen (King Baudouin Foundation, 2005: 1) stellt die Initiative den ersten Versuch dar, das Thema „Hirnforschung“ im Kreise von Bürgern aus verschiedenen Nationen Europas diskutieren zu lassen, um eine Bürgererklärung zum Thema zu entwickeln. Die Zielsetzungen heben den ambitionierten, innovativen Charakter des Vorhabens heraus, dass das Projekt auch als Exploration angesehen werden kann, ob Dialoginitiativen dieser Art überhaupt erfolgreich durchführbar sind.
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verdeutlicht eine Krisensituation besonders gut, dass Bürgerinnen und Bürger in Dialogprozessen bereit sind, die Souveränität ihrer Entscheidungen zu schützen (detaillierte Darstellung in Goldschmidt et al., 2006: 26). Ein ganzes Bündel von Faktoren, speziell jedoch Prozessschwächen in Bezug auf die Metakriterien der Fairness und Transparenz führten dazu, dass die Teilnehmenden in der Endphase des Dialogprozesses aufbegehrten und der gesamte Veranstaltungsprozess stehen blieb, um dann schrittweise wieder in Gang zu kommen (vgl. zusammenfassend Goldschmidt, 2014: 201). Das Zitat einer Teilnehmerin verdeutlicht die brisante Situation: „Wir (Anmerkung: meint die Teilnehmenden ihrer Arbeitsgruppe) sind alle mit dem Projekt einverstanden. Und wir haben das Projekt auch getragen bis zu einem gewissen Punkt hundertprozentig … Wir haben … viel Zeit investiert und unseren Geist eingebracht und ich möchte, dass uns dieser Respekt auch entgegengebracht wird. Ich habe den Eindruck, dass in den letzten zwei Tagen die Qualität der Arbeit in den Keller gefallen ist und glaube, dass das alle anderen Länder und alle anderen Bürger auch so empfunden haben … Und wenn wir jetzt nur noch kurze Zeit (Anmerkung: für die Klärung der Probleme) haben, dann müssten wir sagen, wir machen einen Schnittpunkt. Entweder wir hören jetzt auf und nehmen uns die Zeit zu einem anderen Termin, aber alles was jetzt passiert, ist nicht mehr ehrlich.“ Die Ursachen der Krise sind im Detail für den vorliegenden Beitrag weniger interessant. Wichtiger ist die Erkenntnis, die ebenfalls durch empirische Befunde aus anderen Projekten (Goldschmidt et al., 2012: 104 f. u. 300) gestützt wird: Das Beispiel verdeutlicht im Sinne des oben vorgestellten Inglehart-Faktors, dass Teilnehmende in Dialog- und Beteiligungsverfahren sehr empfindlich auf entsprechende Eingriffe oder Einflüsse reagieren, die ihre Entscheidungssouveränität einschränken. Insofern stellt die Bewahrung der Entscheidungssouveränität einen wichtigen Erfolgsfaktor dar. 281 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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Das gilt ebenso im Zusammenhang mit der Frage der Wissensvermittlung in Dialog- und Beteiligungsverfahren. Monodirektionale Wissensvermittlung gilt als überholt (Kerlen et al., 2002: 3; Office of Science and Technology, 2000: 12). Kompetenzentwicklung bzw. Urteilskraft bedeuten daher gerade nicht, dass Laien die Meinung der Experten unreflektiert übernehmen. Das verdeutlichen zwei Zitate eines Experten, der im Verbundprojekt „Wissenschaft debattieren!“ an einer Konsensus- und einer Bürgerkonferenz teilgenommen hatte: – „Ich hätt‘s vielleicht umgekehrt auch lieber gehabt, man trifft sich anderthalb Stunden mit ein paar Leuten und dann sind die bekehrt und man hat was davon und das war‘s. – Das scheint offensichtlich so eben nicht zu funktionieren.“ – „Das ist vielleicht auch ein Fehler von Seiten der Wirtschaft …, dass man Akzeptanz herstellen will, ohne mit den Leuten in engeren Austausch zu kommen, ohne dass man sich bemüht zu verstehen, was das Anliegen der Leute ist. … oder umgekehrt, dass die Leute das Gefühl haben, sie werden ernst genommen.“ Wenn akzeptierte Entscheidungen in einem Dialog entwickelt werden sollen, sind nicht allein technische Machbarkeit, sondern auch die Wünschbarkeit sowie die moralische Begründbarkeit des Machbaren relevante Aspekte. Eine Voraussetzung für die Akzeptanzentwicklung ist daher die Offenheit des Entscheidungsprozesses für das Wissen und die Perspektive aller Beteiligten. So wird auch Urteilskompetenz erst erreicht, wenn in ausreichendem Maße moralisch-ethische Erwägungen in einem interaktiven kollektiven Austauschprozess von Wissen und Perspektiven behandelt worden sind (Bögeholz, 2006: 17 u. 2007: 214). Wie der folgende Abschnitt zeigt, besteht eine wichtige organisationale Aufgabe bei Dialogund Beteiligungsverfahren trotzdem darin, relevante systematische Wissensbestände und Informationen in die Entscheidungsprozesse zielführend einzubinden. 282 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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3.4 Kompetenzentwicklung – Austausch zwischen Laien und Experten Die Kompetenzentwicklung bildet eine der zentralen und zugleich komplexesten organisationalen Aufgaben bei Dialog- und Beteiligungsverfahren. Wissensbestände zwischen Prozessbeteiligten müssen möglichst effizient ausgetauscht (vgl. auch Newig, 2007: 58) und erforderliche Informationen unter Beachtung der gesetzten Projekt- bzw. Verfahrensziele eingesetzt werden, um kompetente, das heißt, informierte und reflektierte Entscheidungen und Ergebnisse zu entwickeln. Moderne Dialog- und Beteiligungsverfahren setzen dabei auf den interaktiven Wissensaustausch und nicht mehr nur auf monodirektionale Wissensvermittlung. Ein bedeutendes Teilproblem bleibt jedoch die Vermittlung des notwendigen systematischen Wissens an Akteursgruppen wie Laien. Expertise kann nur langfristig entwickelt werden (vgl. auch Krems, 1994: 55). Somit liegt das Ziel eines Dialog- und Beteiligungsverfahrens nicht darin, aus Laien Experten zu machen. Das verdeutlichen Zitate eines Experten, der an der Konsensus- und der Bürgerkonferenz des Verbundprojektes „Wissenschaft debattieren!“ teilgenommen hat: „Ich glaube nicht, dass man so sehr ins Detail sollte. – (Anm.: Man kann …) auch den Leuten das nicht so vermitteln, dass sie, …indem sie drei Informationen mehr haben, jetzt auf einmal urteilsfähiger sind vom inhaltlichen, weil das sind sie definitiv nicht. Sie fühlen sich vielleicht sicherer in ihrer Beurteilung von ihrer persönlichen Meinung, aber sie können sehr schnell umschwenken.“ – „Was … schlecht ist, ist dieses gefährliche … Halbwissen und dann noch ‚Zupicken‘ von weiteren Fachinformationen, die das Halbwissen verstärken“ (Goldschmidt et al., 2012: 156 f.).
Um über soziale oder ethische Fragestellungen angemessen diskutieren zu können, sind keine detaillierten wissenschaftlichen Kenntnisse, sondern ein angemessener konzeptueller Überblick über den Forschungsbereich erforderlich (Office of Science and 283 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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Technology, 2000: 13). Das Ziel von Kompetenzentwicklung liegt im Aufbau eines grundlegenden Verständnisses erstens des Entscheidungsproblems und seiner Teilaspekte und zweitens in einem entsprechenden Überblick zu relevanten Argumenten (Laird, 1993: 347 f. u. 353; Office of Science and Technology, 2000: 12; vgl. auch Dietz et al., 2008: 176). Voraussetzung für reflektiertes Entscheiden ist, dass in ausreichendem Maße die Folgen von Entwicklungsoptionen und Präferenzen aufgezeigt werden (Benhabib, 1996: 71). Unterschiede zwischen Experten und Laien bestehen jedoch nicht nur im Hinblick auf die Wissensbestände (Krems, 1994: 9-12, 48), sondern auch in der Wahrnehmung und Bewertung von Risiken (Slovic, 1987: 285; Fiorino, 1990: 227; Bradbury, 1989: 384; Beierle et al., 2002: 14; Renn, 2008: 3). Es gibt momentan relativ wenige dezidierte Arbeiten zu dem Thema, wie die Kompetenz in Dialog- und Beteiligungsverfahren tatsächlich entwickelt werden kann. Neben einigen praktischen Gestaltungshinweisen in Goldschmidt et al. (2012: 158-160) widmet sich ein Kapitel einer umfassenderen Arbeit ausführlich dieser Fragestellung (Goldschmidt, 2014). Neben den bisher behandelten strategischen Entscheidungen und der Ausgestaltung ist die fachgerechte und leistungsfähige Evaluation ein wichtiger Faktor, der kurz skizziert wird. 3.5 Qualitätssicherung durch profunde Evaluation Allein die Aufgabe der Auswahl eines passenden Formats und angemessener Designs, aber auch die operative Ausgestaltung von Dialog- und Beteiligungsverfahren stellen Organisatoren vor komplexe Aufgaben, was Fehlentscheidungen begünstigt, die den Erfolg eines Vorhabens mindern oder sogar ganz gefährden können. Die Evaluationsforschung verdeutlicht, dass selbst in Bezug auf anscheinend „selbstverständliche“ Anforderungen wie Fairness 284 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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oder Transparenz mitunter ausgewachsene Prozessschwächen festzustellen sind (Dietz et al., 2008: 223; Befunde z. B. in Goldschmidt et al., 2006: 26). Deshalb ist der Einsatz einer umfassenden Evaluation notwendig, die Stärken und Schwächen einer Maßnahme bzw. resultierender Ergebnisse aufzeigt und Hinweise zur Optimierung liefert (Carnes et al., 1998: 403). Von bestehenden Ansätzen zur Qualitätssicherung in Produktionsprozessen (historische Übersicht in Becker, 2006: 7-9; Timischl, 1995: 2 f.) können dabei der Ansatz einer umfassenden und ganzheitlichen Qualitätssicherung und das Prinzip des Qualitätsmanagements übernommen werden. Die zielgerechte Qualitätssicherung setzt eine angemessene Evaluation bzw. Begleitforschung als Wissensbasis voraus. „Angemessen“ sind Evalautionen, wenn sie ausreichend systematisierte Kataloge aus begründeten Bewertungsmaßstäben verwenden und sich die Bewertungen auf ausreichende empirische Belege stützen, was eine sachgerechte Operationalisierung und Datenerhebung voraussetzt (zusammenfassend Goldschmidt, 2014: 79). Die Evaluation setzt damit gleichermaßen theoretisches Wissen über Dialog- und Beteiligungsverfahren, umfangreiches Wissen in qualitativen und quantitativen Verfahren der empirischen Sozialforschung und entsprechende Forschungserfahrungen voraus. Fundierte Evaluationen können so als konstruktiver Impulsgeber Lerneffekte generieren und zur Verbesserung von Dialog- und Beteiligungsvorhaben beitragen.
4. Schlussfolgerungen Das sich momentan entwickelnde Forschungsfeld der Synthetischen Biologie bietet zweifellos viel gesellschaftliches Entwicklungs- und Innovationspotential. Die in dieser Forschung und Technologie verborgenen Veränderungspotentiale können lang285 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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fristig so tiefgreifend sein und Unsicherheit sowie Risiken erzeugen, dass die Gesellschaft und das Zusammenleben grundlegend beeinflusst werden. Je stärker das Forschungsfeld ausdifferenziert, umso mehr wissenschaftliche Perspektiven werden existieren, welche Zielsetzungen verfolgt und gefördert werden sollten. Doch schon jetzt regt sich Widerstand bei gesellschaftlichen Akteursgruppen. Auch wenn das Thema noch nicht voll auf der Agenda steht, hat die Diskussion längst begonnen, was von dem potentiell Machbaren überhaupt wünschbar ist. Was sollte verwirklicht und was lieber unangetastet bleiben? Früher oder später werden sich die Synthetische Biologie als Forschungsfeld, die mit der Forschung betrauten Einrichtungen sowie die einzelnen Wissenschaftler der gesellschaftlichen Akzeptanzfrage und der Diskussion um die sozialen Implikationen der Forschung stellen müssen. Wie soziale Institutionen oder andere sich entwickelnde Forschungsfelder steht die Synthetische Biologie also unter Legitimationsdruck vor einer fordernden bis kritischen Öffentlichkeit, die neben sachtechnischen Erklärungen nach Begründungen verlangt. Über die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten der Forschung wird schwerlich an der Öffentlichkeit vorbei zu entscheiden sein. Wenn dies doch geschieht, drohen nach den bestehenden Erkenntnissen der Beteiligungsforschung zumindest langfristig der fundamentale Akzeptanzentzug und umfassender gesellschaftlicher Widerstand. Darauf sollen auch die im ersten Teil des Beitrags präsentierten Argumente hinweisen. Freiwillige Akzeptanz lässt sich über einen offenen Diskurs zwischen den relevanten Akteuren entwickeln, was auch die Frage aufwirft, wie hier vorgegangen werden sollte bzw. welche Faktoren die erfolgreiche dialogorientierte Akzeptanz- und Legitimationsentwicklung und Wissenschaftskommunikation unterstützen können. Die Entwicklung von wirkungsvoller Kommunikation sowie von Akzeptanz und Legitimation ist eine vielschichtige Aufgabe. Patentrezepte oder ein Standardverfahren zur Erfolgssicherung 286 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
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sind nicht in Sicht. Bei aller Komplexität stellt der Beitrag für die anstehende Kommunikationsaufgabe grundlegende Faktoren sowie auch Legitimationsfallen heraus, deren Beachtung in jedem Falle notwendig ist. So sollte die Kommunikationsstrategie und speziell die Auswahl von Zielgruppen der Kommunikation am jeweils zu klärenden Entscheidungsproblem orientiert sein. Die Effektivität von Dialog- und Beteiligungsverfahren wird dadurch erhöht, dass zu den Zielsetzungen des Kommunikationsvorhabens passende Kommunikationsformate ausgewählt werden. Die Offenheit der Kommunikation ist ein weiterer Erfolgsfaktor, wobei die Entwicklung der Entscheidungssouveränität der beteiligten Akteure einen zentralen Punkt darstellt. Zudem ist die angemessene Kompetenzentwicklung bei allen einbezogenen Akteursgruppen bedeutsam. Aus profunden Evaluationen, die sich auf wohl begründete Evaluationskriterien und solide empirische Begleitforschung stützen, resultieren Lerneffekte und Informationen für Anpassungen und Verbesserungen von Kommunikationsverfahren. Zwar werden stets neue Verfahrensformen entwickelt. Jedoch ist die Zeit vorbei, in denen Dialog- und Beteiligungsverfahren bzw. allgemein Kommunikationsaktivitäten im Verständnis von „Experimenten“ oder „Übungen“ durchgeführt werden können. Die Teilnehmenden in Dialogveranstaltungen, Sachverständige, Auftraggeber, aber auch projektexterne gesellschaftliche Akteure erwarten kompetent geplante und durchgeführte Kommunikationsverfahren, was hohe Anforderungen an die Organisatoren stellt. Die erfolgreiche Kommunikation sowie die Akzeptanz- und Legitimitätsentwicklung ist keine periphere Aufgabe mehr und fordert den Einsatz gut ausgebildeter und erfahrener Spezialisten.
287 https://doi.org/10.5771/9783495808283 .
Rüdiger Goldschmidt
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Rüdiger Goldschmidt Der Spiegel, 27. März 2014: Künstliches Leben: Biologen erschaffen erstmals Chro‑ mosom im Labor. Downlaod: http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/ kuenstliches-leben-chromosom-von-baeckerhefe-im-labor-erzeugt-a-961043.html, 22.05.2014.. Der Spiegel, 08. Mai 2014: Manipuliertes Erbgut: Biologen erschaffen ersten Organismus mit künstlichen Bausteinen. Download: http://www.spiegel.de/wissenschaft/ natur/bakterium-mik roo rgan ismus-mit-kuenstlichem-basenpaar-in-dnaerschaffen-a-968208.html, 22.05.2014.
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Zu den Autoren Rüdiger Goldschmidt, Dr., ist Soziologe. Er arbeitet auf dem Gebiet der empirischen Sozialforschung sowie im Bereich der integrativen Analyseverfahren und Metaanalysen. Als Mitarbeiter am Forschungsinstitut ZIRIUS an der Universität Stuttgart liegen seine inhaltlichen Forschungsinteressen in den Bereichen Dialog- und Beteiligungsverfahren, Wissenstransfer von komplexen Inhalten zwischen Akteursgruppen, Akzeptanzentwicklung, Wissenschafts- und Risikokommunikation, Einstellungsforschung zu Techniken, Innovation, Risiken insbesondere vor dem Hintergrund Nachhaltiger Entwicklung (inklusive CSR). Zudem ist er als Dozent an der Universität und als Berater von Organisationen und Unternehmen tätig. Thomas Heinemann, Prof. Dr. med. Dr. phil., Lehrstuhl für Ethik, Theorie und Geschichte der Medizin an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Studium der Humanmedizin und der Philosophie an der Universität Bonn, 1985 - 1998 Wissenschaftlicher Assistent an der Medizinischen Klinik II (Allgemeine Innere Medizin) der Universität Bonn; Arzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Arzt für Biochemie. 1999-2010 Mitarbeiter des Institut für Wissenschaft und Ethik der Universität Bonn. Seit April 2012 Mitglied des Deutschen Ethikrats. Ludger Honnefelder, Dr. phil., Otto-Warburg Senior Research Professor an der Theologischen Fakultät der Humholdt-Universität zu Berlin (seit 2009). Guardini-Stiftungsprofessor für Religionsphilosophie und katholische Weltanschauung an der Humbolt-Universität zu Berlin (2005-2007). Professor für Philosophie an den Universitäten Trier (1972-1982), Berlin FU (1982-1988) und Bonn (1988-2005). Mitglied der Nordrhein-Wcstfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste (seit 1992). Zahlreiche Publikationen aus den Forschungsgebieten Metaphysik, Ethik Geschichte der Philosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit.
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Zu den Autoren Ulrich Lüke, Dr. theol., geb. 1951, Studium der Philosophie, Theologie und Biologie in Münster und Regensburg; 1980 - 92 Gymnasiallehrer im Ruhrgebiet; 1992-1997 Pfarrer im Münsterland; 1990 Promotion; 1996 Habilitation; nach Professuren an der KFH Freiburg und der Theologischen Fakultät Paderborn seit 2001 Prof. für Systematische Theologie an der RWTH Aachen; Forschungsschwerpunkt Grenzfragen zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie; seit 2012 Direktor des Instituts für interdisziplinäre Forschung der Görresgesellschaft. Peter Neuner, Dr. theol., em. Professor für Theologie. Priesterweihe, Kaplan in Traunstein (1966), Promotion (1976), Habilitation in München (1978). Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Passau (1980). Professor für Dogmatik und Ökumenische Theologie an der Universität München (1985-2006). Gastdozenturen am Nationalseminar der katholischen Kirche in Peking (seit 2006). Zahlreiche Publikationen zu Themen der Ökumene, des katholischen Modernismus und zur religiösen Erfahrung. A. Pühler, Dr. rer. nat. habil., Senior Research Professor für Genomforschung industrieller Mikroorganismen am Centrum für Biotechnologie (CeBiTec) der Universität Bielefeld (seit 2008). Mitglied des Wissenschaftsrats (1999 - 2005). Mitglied in drei Akademien, der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech). Foreign Secretary für die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften. Günter Rager, Dr. phil., Dr. med., Promorion in Philosophie und Medizin, Forschung im Bereich der Neurtowissenschaften und der Entwicklungsbiologie. Ordentlicher Professor und Direktor des Instituts für Anatomie und Embryologie der Universität Freiburg, Schweiz (1980-2006). Dekan der Mathematisch-Narurwissenschaftlichen Fakultät (1986-1987). Direktor des Instituts der Görres Gesellschaft
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Zu den Autoren für Interdisziplinäre Forschung (1999-2006). Seit 2006 emeritiert. Zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich der Entwicklungsneurobiologie und der funktionellen Architektonik der Hirnrinde sowie im interdisziplinären Bereich (philosophische Anthropologie, Medizinethik und Medizintheorie). Jan Szaif, Dr. phil. (FU Berlin, 1993), Professor für Philosophie (University of California at Davis, seit 2006). Studium an der FU Berlin und an der University of Cambridge, Habilitation an der Universität Bonn (2001). Veröffentlichungen vor allem zu Themen der antiken Philosophie, unter anderem: Platons Begriff der Wahrheit (Freiburg/ München 1996/1998); Gut des Menschen. Untersuchungen zur Problematik und Entwicklung der Glücksethik bei Aristoteles und in der Tradition des Peripatos (Berlin 2012). Manfred Stöckler, Dr. phil., seit 1991 Professor für Theoretische Philosophie mit dem Schwerpunkt Naturphilosophie und Philosophie der Naturwissenschaften an der Universität Bremen. Arbeitsgebiete sind philosophische Grenzfragen der Naturwissenschaften, insbesondere philosophische Probleme der Quantentheorie und der Kosmologie sowie methodologische Fragen der Wissenschaften, die sich mit komplexen Systemen beschäftigen. Gerhard Wegner, Dr. rer. nat, Dr. h.c mult., em. Direktor des MaxPlanck-Instituts für Polymerforschung, Mainz. Professor für Makromolekulare Chemie an der Universität. Freiburg (1974-1984). Professor für Physikalische Chemie an der Universität Mainz (seit 1985). Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Instituts für Mikrotechnik Mainz (IMM) (2006-2011). Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft (1996-2002). Vizepräsident der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur (seit 2005). Zahlreiche Publikationen aus den Forschungsgebieten Materialwissenschaften, Physikalische Chemie und Festkörperphysik.
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