Grenzüberschreitungen - Synthetische Biologie im Dialog 9783495808306, 9783495487266


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Table of contents :
Grenzüberschreitungen – Synthetische Biologie im Dialog
Inhalt
Vorwort
Friedemann Voigt: Zur Einleitung
I. Leben
Jörg Hacker/Sandra Kumm: Synthetische Biologie im Dialog – Leben
1. Einleitung
2. Definition Leben
3. Moleküle des Lebens
4. Synthetische Biologie
5. Die moderne Biologie und das menschliche Leben
6. Zur Bestimmung des menschlichen Lebens
Gerald Hartung: Über den Begriff des Lebens – in unterschiedlichen Gebrauchsweisen
1. Ein deskriptiver, nur in einem schwachen Sinnenormativer Lebensbegriff
2. Ein offensiv normativer, nur in einem schwachen Sinne deskriptiver Lebensbegriff
3. Ein integrativer Gebrauch des Lebensbegriffs, der dessen deskriptive und normative Aspekte in Spannung hält
4. Zusammenfassung
II. Komplexität
Klaus Mainzer: Die Wissenschaften vom Künstlichen und Komplexen: Synthetische Biologie als Technikwissenschaft des 21. Jahrhunderts
1. Technikwissenschaft im 21. Jahrhundert
2. Vom Künstlichen Leben zur Künstlichen Intelligenz
3. Von der Systembiologie zur Synthetischen Biologie
III. Synthetisch
Nediljko Budisa: Xenobiologie, künstliches Leben und genetische Firewall
1. Vorwort: Philosophie in Bezug zur Biologie des 21. Jahrhunderts
2. Biologie als Wissenschaft der Synthese
3. Beweggründe für die Entwicklung der Xenobiologie, Biosicherheitsbedenken
4. Gegenwärtiger Stand der xenobiologischen Idee und Forschung
5. Trophische und semantische Eindämmung im Designvon alternativem genetischem Code
6. Xenobiologie, Astrobiologie und der Ursprung des Lebens
Kristian Köchy: Synthesen – Zu Konzept und Grenzen der Synthetischen Biologie
1. Synthetische Biologie als Synthese
2. Synthesen: Fremdherstellung von selbstorganisierenden Systemen?
3. Fremdherstellung und Selbstherstellung als ethisch bedeutsames Spannungsfeld
Daniel Falkner: Epilog: Zur Einordnung der Beiträge in den gegenwärtigen Stand der Debatte um die Synthetische Biologie
1. Kurze Darstellung des Verlaufs der Debatteum die Synthetische Biologie
2. Zentrale Themen und gegenwärtiger Stand der (ethischen) Debatte
Literaturverzeichnis
Autorinnen und Autoren
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Grenzüberschreitungen - Synthetische Biologie im Dialog
 9783495808306, 9783495487266

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https://doi.org/10.5771/9783495808306 .

LEBENSWISSENSCHAFTEN IM DIALOG

A

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Der Anspruch der Synthetischen Biologie, durch Eingriffe in das Erbgut Organismen mit gewünschten Funktionen herzustellen und sogar aus unbelebter Materie lebendige Organismen zu schaffen, wirft Fragen auf, die weit über die Fachwissenschaften hinausgehen: Werden damit unsere Vorstellungen von Leben und Natur, aber auch Wissenschaft und Forschung, grundlegend verändert? Entfernen sich spezialisierte Forschung und Lebenswelt zusehends voneinander? Wie können wir die Einsichten der Lebenswissenschaften in unser Alltagswissen integrieren? Anhand zentraler Begriffe der Synthetischen Biologie gehen Natur- und Geisteswissenschaftler diesen Fragen nach und zeigen unterschiedlichen Zugangsweisen, Vorverständnisse und Konzeptionen im Dialog lebenswissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Betrachtungen auf.

Der Herausgeber: Dr. Friedemann Voigt ist Professor für Sozialethik mit Schwerpunkt Bioethik an der Universität Marburg. Er ist Mitglied des Steering Committees des LOEWE-Zentrums für Synthetische Mikrobiologie (SYNMIKRO) und leitet dort den Arbeitsbereich Bioethik.

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Friedemann Voigt (Hg.)

Grenzüberschreitungen – Synthetische Biologie im Dialog

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Lebenswissenschaften im Dialog Herausgegeben von Kristian Köchy und Stefan Majetschak Band 19

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Friedemann Voigt (Hg.)

Grenzüberschreitungen – Synthetische Biologie im Dialog

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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Gefördert mit Mitteln des LOEWE-Zentrums für Synthetische Mikrobiologie, Marburg (SYNMIKRO)

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: Frank Hermenau, Kassel Einbandgestaltung: Ines Franckenberg Kommunikations-Design, Hamburg Herstellung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany

ISBN 978-3-495-48726-6 E-ISBN 978-3-495-80830-6

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Friedemann Voigt Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I. Leben Jörg Hacker/Sandra Kumm Synthetische Biologie im Dialog – Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Gerald Hartung Über den Begriff des Lebens – in unterschiedlichen Gebrauchsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

II. Komplexität Klaus Mainzer Die Wissenschaften vom Künstlichen und Komplexen: Synthetische Biologie als Technikwissenschaft des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

III. Synthetisch Nediljko Budisa Xenobiologie, künstliches Leben und genetische Firewall . . . . . . . . . 77 Kristian Köchy Synthesen – Zu Konzept und Grenzen der Synthetischen Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

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Inhalt

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Daniel Falkner Epilog: Zur Einordnung der Beiträge in den gegenwärtigen Stand der Debatte um die Synthetische Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

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Vorwort

Dieser Band geht zurück auf die Vorlesungsreihe „Synthetische Biologie im Dialog“, die im Wintersemester 2013/14 an der PhilippsUniversität Marburg vom LOEWE-Zentrum für Synthetische Mikrobiologie (SYNMIKRO) und dem Graduiertenzentrum Lebens- und Naturwissenschaften veranstaltet wurde. Mein Dank gilt Frau Dr. Ute Kämper vom Graduiertenzentrum Lebens- und Naturwissenschaften der Philipps-Universität und Dr. Andres Schützendübel von SYNMIKRO, mit denen ich die Idee zu dieser Veranstaltungsreihe entwickelt habe und die durch vielfältige Unterstützung die Umsetzung ermöglicht haben. Besonders zu danken habe ich den Vortragenden, die sich auf die Schwierigkeit eingelassen haben, über Fachgrenzen hinaus ihre Forschung sowie ihre Überlegungen zur ethischen Verantwortung der Synthetischen Biologie zu erörtern. Bei den Diskussionen zu den Vorträgen haben mich die Kollegin Regine Kahmann sowie die Kollegen Michael Bölker und Bruno Eckhardt fachkundig unterstützt. Bruno Eckhardt sei als Geschäftsführender Direktor von SYNMIKRO für den Druckkostenzuschuss bedankt, der das Erscheinen dieses Bandes ermöglicht Mein Dank gilt darüber hinaus Frau Dr. Gundula Meißner für ihr gekonntes Management der Veranstaltungen sowie Daniel Falkner für die Betreuung der Beiträge für den Druck, bei der er von Annika Lisiecki, Ellen Hartmanshenn und Amelie Rüppel tatkräftig unterstützt wurde. Dem Verlag Karl Alber danke ich in der Person von Herrn Lukas Trabert für die umsichtige Begleitung sowie Kristian Köchy und Stefan Majetschak für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Lebenswissenschaften im Dialog“. Marburg, im Februar 2015

Friedemann Voigt

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Friedemann Voigt

Zur Einleitung

Am Beginn dieses Bandes zur „Zukunftstechnologie“ Synthetische Biologie soll eine wissenschaftsgeschichtliche Erinnerung stehen: Vor knapp 200 Jahren gab es in Berlin Streit zwischen dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und dem protestantischen Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Schleiermacher war nicht nur 1815/16 Rektor der Berliner Universität, er war auch 1814 zum Sekretär der philosophischen Abteilung der Berliner Akademie der Wissenschaften ernannt worden. Als solcher war er stark an der Reorganisation der Akademie im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts beteiligt. In dieser Funktion setzte Schleiermacher nun alle Hebel in Bewegung, um zu verhindern, dass Hegel in die Akademie gewählt würde. Was war der Grund? Der lag in den unterschiedlichen Auffassungen, wie Wissenschaft zu verstehen und zu organisieren ist. In seiner Wissenschaftslehre wie in seinem Wirken als Wissenschaftspolitiker hatte Schleiermacher stets von einer relativen und einander ergänzenden Selbständigkeit der unterschiedlichen Wissenschaften gesprochen. Die Akademie war für ihn eine sittliche Gemeinschaft, in der sich die Individualität der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen als Kommunikationsgemeinschaft wieder vereinigt. Hegels Verständnis von Wissenschaft war davon unterschieden: Philosophie, Theologie und Jurisprudenz bildeten für ihn die rein auf Wahrheit ausgerichteten normativen Wissenschaften, die als solche gegenüber Naturwissenschaften und historisch-philologischen Disziplinen einen privilegierten Status erhielten. Die Wissenschaft als Einheit war für ihn also nicht die Kommunikation prinzipiell Gleichgestellter, sondern hierarchisch gegliedert. Vorzustellen ist dies in der Form einer Pyramide: An der Spitze steht die Philosophie und ihr untergeordnet und von ihr regiert rangieren die weiteren Disziplinen. So erschien Hegel die faktische Pluralität wissenschaftlicher Weltdeutung als zu überwindende Station auf dem Weg zu einer höheren Einheit gestaltbar.

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Friedemann Voigt

Es ist zum Wohl der Berliner Akademie und auch der Wissenschaft über Preußen und Deutschland hinaus gewesen, dass sich in diesem Streit Schleiermacher durchgesetzt hat. Es geht um das Verständnis von Wissenschaft als Ausbreitung und wechselseitiges Durchdringen der unterschiedlichen Wissensformen. Auch heute noch ist dieses Wissenschaftsverständnis als Grundlage unseres Gebrauchs wissenschaftlichen Wissens zu vergegenwärtigen.1 Das Unzeitgemäße einer solchen Reminiszenz besteht schon darin, die Synthetische Biologie sowie die sie begleitende ethische Debatte in den größeren Zusammenhang der Wissenschaftsgeschichte einzustellen. Zwar geht der Begriff der Synthetischen Biologie auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück2, doch erst weitere 100 Jahre später ist dieser Forschungszweig in das breitere Bewusstsein getreten. Die von großer medialer Aufmerksamkeit begleitete Erschaffung der ersten synthetischen Zelle durch das Team um Craig Venter im Jahr 2010, hat die Frage aufgeworfen, ob es sich mit der Synthetischen Biologie um einen echten wissenschaftlichen „Paradigmenwechsel“3 handelt. Nicht nur die Biologie verändere sich von der beobachtenden zur herstellenden Wissenschaft, vielmehr sei der Mensch durch die Synthetische Biologie in die Lage versetzt, aus unbelebter Materie Leben zu erschaffen. Die Metapher des „Playing God“ machte alsbald die Runde.4 Die Synthetische Biologie ist treffend als eine „Hope-, Hype- und Fear-Technologie“ bezeichnet worden.5 Die relative Unschärfe in der Definition und Ausrichtung einer solchen Disziplin geht mit einer hohen Varianz der sie begleitenden Interessen und Erwartungen einher.6 In der Debatte um solche „Hope-, Hype- und Fear-Technologien“ ist es charakteristisch, dass sie von Anfang an von einer Vielzahl moralischer Bewertungen durchzogen sind, die zum großen Teil eher in1

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Vgl. vor allem die Darstellung dieser Vorgänge bei G. Scholtz, „Die Philosophie und die Wissenschaften in der Akademie. Schleiermacher und Hegel“, in: ders., Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1995, S. 147-169. S. Leduc, „La biologie synthetique“, in: A. Poinat (Hrsg.), Études de biophysique, Paris 1912. Vgl. T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1976. Vgl. J. Schummer, Das Gotteshandwerk. Die künstliche Herstellung von Leben im Labor, Berlin 2011. TAB-Brief Nr. 39, August 2011, Schwerpunkt: Hope-, Hype- und Fear-Technologien. Vgl. A. Grunwald, „Einführung in das Schwerpunktthema“, in: TAB-Brief Nr. 39, August 2011, Schwerpunkt: Hope-, Hype- und Fear-Technologien, S. 6 f.

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Zur Einleitung

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tuitiv und präreflexiv erfolgen.7 Das ist insofern ein verständlicher Reflex auf diese neuen Technologien, als diese durch ihre Aufladung mit unterschiedlichsten Erwartungen auch auf unsere Lebenswelt einen Druck derart ausüben, dass der Eindruck entsteht, die Verhältnisse und normativen Regeln des Zusammenlebens würden durch sie verändert oder sogar außer Kraft gesetzt. Es stellt sich an dieser Stelle die geradezu klassische ethische Frage, wie die Veränderungen, die mit den neuen Wissenschaften eintreten oder zumindest möglich sind, sich zum Ethos der Lebenswelt verhalten. An dieser Stelle liegt die tiefere Bedeutung der ethischen Begleitforschung zur Synthetischen Biologie. Ihr ist nicht dadurch gerecht zu werden, dass die Ethik zur Forderung nach autoritärer Begrenzung der ambivalenten Möglichkeiten von Wissenschaft durch eindeutige Moral zu einer Verbotswissenschaft degeneriert, wie es einem gewissen gegenwärtigen Trend zu entsprechen scheint.8 Eine andere problematische Entwicklung ist es, immer weiter differenzierte „Bereichs­ ethiken“ für unterschiedliche Wissenschaftszweige zu fordern, also eine „Nano-Ethik“, eine „Gen-Ethik“ und dann eben auch eine eigene Ethik der Synthetischen Biologie. Mit solchen Forderungen wird zwar das berechtige Interesse an einer angemessenen Wahrnehmung der zunehmenden Spezialisierung und Eigenart der unterschiedlichen Wissenschaftszweige artikuliert. Werden diese individuellen Eigenheiten der Wissenschaften jedoch in eigene Bereichsethiken aufgeteilt, geht die entscheidende Einsicht verloren, dass es sich bei ethischen Fragen nicht um Fragen der Differenzen von Technikfeldern handelt, sondern um die Beschäftigung mit normativen Unsicherheiten im Bereich von Handlungsorientierung und um Fragen der angemessenen Verantwortungsübernahme.9 Das heißt, es geht darum, die wissenschaftsspezifischen Bedingungen mit den grundlegenden ethischen Fragen in 7

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Zu dieser Charakteristik biowissenschaftlicher Debatten vgl. T. Rendtorff, „Ein­ leitende Stellungnahme zur embryonalen Stammzellforschung aus der Perspek­ tive der Ethik“, in: D. Groß, G. Keil, U. R. Rapp (Hrsg.), Ethische Fragen zur Stammzellforschung. Import oder Eigenbau, Würzburg 2002, S. 35-40, bes. S. 36. Zur Kritik dieses Verständnisses vgl. auch H. Kreß, „Dogmatisierung ethischer Fra­ gen. Kirchliche Stellungnahmen zu ethischen Themen: Neue Dogmatisierungen, Konfessionalisierungen und die Retardierung der kirchlichen ethischen Urteilsfin­ dung“, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 61(1)/2010, S. 3-9. Vgl. dazu auch A. Grunwald, „Plädoyer gegen eine Inflation von Bereichsethiken. Das Beispiel der vermeintlichen Nano-Ethik“, in: M. Maring (Hrsg.), Bereichsethiken im interdisziplinären Dialog, Schriftenreihe des Zentrums für Technik- und

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Friedemann Voigt

Verbindung zu bringen. Die Bedeutung der Ethik als Begleitwissenschaft moderner Lebenswissenschaften liegt in besonderer Weise in dieser hermeneutischen Aufgabe.10 Es geht bei dieser hermeneutischen Dimension der Ethik in einem ersten Schritt um die „erst noch zu schaffenden begrifflichen und konzeptionellen Voraussetzungen damit Fragen des Handelns in den neu entstehenden Feldern überhaupt erst sinnvoll gestellt, ethisch reflektiert und dann möglicherweise auch beantwortet werden können.“11 In einem zweiten Schritt wird diese hermeneutische Erkundung dadurch selbst zur praktischen Stellungnahme, dass sie jedem Zugang zu den Objekten und Begriffen auferlegt, sich in seiner individuellen Beschaffenheit neben anderen Zugriffen und Beschreibungen wahrzunehmen. Das hat eine Selbstrelativierung der jeweiligen Position zur Folge und weist auf die Ergänzungsbedürftigkeit partikularer Wahrnehmungen hin. Darüber hinaus führt schließlich der dritte Schritt: Eine solche diskursive Interdisziplinarität zeigt zugleich, dass die Unterschiede, die in den fachwissenschaftlichen und ethischen Auffassungen zu Tage treten, nicht unendlich sind. Die Benennung dessen, was die unterschiedlichen Positionen voneinander trennt, ist gar nicht anders möglich, als dass auch das erkennbar wird, was sie miteinander teilen.12 Freilich sind solche Prozesse langwierig und, wie jeder weiß, der sich in diesen Zusammenhängen bewegt, nicht mühelos umzusetzen. Der vorliegende Band möchte ein Beitrag dazu sein und das Lohnenswerte einer solchen hermeneutischen Anstrengung erkennbar werden lassen. Bereits im ersten Themenfeld des vorliegenden Bandes, „Leben“, wird deutlich, wie im Sinne einer für die ethische Aufgabe notwendigen Vorklärung die verschiedenen Perspektiven von Geistesund Naturwissenschaften einander ergänzen und geradezu suchen und Wirtschaftsethik am Karlsruher Institut für Technologie, Band 6, Karlsruhe 2014, S. 131-146. 10 Vgl. F. Voigt, „Religion in bioethischen Diskursen. Perspektiven der Forschung“, in: ders. (Hrsg.), Religion in bioethischen Diskursen. Interdisziplinäre, internationale und interreligiöse Perspektiven, Berlin/New York 2010,S. 1-17, bes. S. 9-15. 11 A. Grunwald, „Plädoyer gegen eine Inflation von Bereichsethiken. Das Beispiel der vermeintlichen Nano-Ethik“, in: M. Maring (Hrsg.), Bereichsethiken im inter­ disziplinären Dialog, Schriftenreihe des Zentrums für Technik- und Wirtschaftsethik am Karlsruher Institut für Technologie, Band 6, Karlsruhe 2014, S. 142. 12 Diese Dreistufigkeit der hermeneutischen Aufgabe der Ethik ist ausführlich dar­ gelegt in: F. Voigt, „Vom Ethos der Ethik. Die protestantische Sozialethik und die modernen Lebenswissenschaften“, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 58(3)/2014, S. 203-216, bes. S. 208-211.

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Zur Einleitung

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benötigen. Der Beitrag von Jörg Hacker und Sandra Kumm entwickelt über einen evolutionären naturwissenschaftlichen Lebensbegriff nämlich gerade die zu dieser Evolution gehörigen geistigen Fähigkeiten des Menschen zu Selbstreflexion, moralischer Urteilskraft und sprachlicher Kommunikation. Das weist in Richtung der Lebensphilosophie und ihrer Aufnahme in der Anthropologie Helmuth Plessners. Daran knüpft in seinem Beitrag Gerald Hartung an, der auf eine interdisziplinäre Anthropologie abzielt, welche eben jenen Bereich des Verstehens von Sinn, also die klassische Domäne der Geisteswissenschaften, mit den objektiven Beschreibungsleistungen der Naturwissenschaften verknüpfen möchte. Auch Klaus Mainzer verbindet in seinem Beitrag diese beiden wissenschaftlichen Betrachtung in seiner Beleuchtung zur Komplexität, die ein Schlüsselbegriff der modernen Lebenswissenschaften für den inneren Aufbau des Lebens ist, das nicht mehr als linearer Kausalzusammenhang, sondern als dynamischer Prozess aufgefasst wird. Die Eigenschaften, die ein Organismus entwickelt, sind also das Ergebnis von Wechselwirkung zahlreicher Elemente und Subsysteme. Das stellt erhebliche Anforderungen an die Planbarkeit und Vorausberechenbarkeit von synthetisch hergestellten Organismen. Dieser selbst wieder komplexe Zusammenhang von „evolvability“ und „engineerability“ spielt dann eine wichtige Rolle in der Debatte der Differenz von „natürlich“ und „synthetisch“ in den Beiträgen von Nedilijko Budisa und Kristian Köchy. Dieser Aspekt führt insofern direkt in die aktuellen ethischen Debatten hinein, weil damit auch die Frage der Beherrschbarkeit der synthetisch-biologischen Forschung und ihrer Folgen angesprochen ist. Es ist jedoch auch deutlich, dass die innere komplexe, evolutive Kraft des Lebens einschließlich des zu ihm gehörigen Bereichs des menschlichen Geistes und also der Wissenschaft selbst von der Ethik begriffen werden muss und nicht autoritativ begrenzt werden kann. Insofern führen die hermeneutischen Überlegungen zu Leben, Komplexität und Natürlichkeit über den Objektbereich des Lebens hinaus und wenden sich reflexiv auf ihren Gebrauch in ethischen Debatten, wie Daniel Falkner abschließend zeigt, der die Überlegungen der in diesem Band versammelten Autoren in den Zusammenhang der ethischen Debatte zur Synthetischen Biologie einordnet. Dieser Band mag insgesamt ein Beitrag dazu sein, die Zukunftstechnologie Synthetische Biologie mit ihrer Herkunft in Wissenschaft und Gesellschaft so in Verbindung zu bringen, dass das Neue, das sie zu bringen vermag, als etwas zu verstehen und verantworten ist, das nicht ohne die Verbindung zum Bestehenden und Gegebenen wirken kann.

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I. Leben

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Jörg Hacker/Sandra Kumm

Synthetische Biologie im Dialog – Leben

1. Einleitung Leben ist so vielfältig wie seine Definitionen. Es hängt davon ab, von welchem Standpunkt aus man den Begriff betrachtet. Naturwissenschaft, Philosophie oder Religion – alle haben unterschiedliche Auffassungen und Vorstellungen vom Leben. Der folgende Beitrag erklärt den Begriff des Lebens aus naturwissenschaftlicher Sicht und geht gleichzeitig darauf ein, wie sich die Definition von Leben auf die noch relativ junge Forschungsrichtung der Synthetischen Biologie auswirkt.

2. Definition Leben „Was ist Leben?“ ist eine der wenigen Fragen, welche die Menschheit unaufhörlich begleitet haben. Dabei verdeutlichen die beeindruckenden Erfolge der empirischen Forschung an Lebewesen zugleich die Schwierigkeit, eine allgemein gültige Antwort auf die Frage nach den entscheidenden Eigenschaften des Lebens zu geben. Viele Nicht-Naturwissenschaftler wird verwundern, dass es Biologen äußerst schwerfällt, auf diese Frage eine allgemein akzeptierte Definition vorzulegen. Durch die Erforschung der Grundstrukturen des Lebendigen erhalten wir immer wieder neue Einblicke in komplexe Systeme, die wir „Lebewesen“ nennen. Was also haben diese Lebewesen gemeinsam? Was verbindet Bakterien, Pflanzen oder Tiere? Und welche notwendigen Bedingungen müssen erfüllt sein, um ein Lebewesen zu klassifizieren? Drei wesentliche Eigenschaften haben sich für alle Lebewesen als Definitionskriterien herauskristallisiert: 1. Die erste Eigenschaft ist der Stoffwechsel oder Metabolismus, der zumindest während einer Lebensphase vorhanden sein muss. Dieser bedingt wiederum die Kompartimentierung durch Membranen.

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2. Das zweite Merkmal ist die Fähigkeit zur Selbstreproduktion. 3. Die dritte Eigenschaft ist die mit der Selbstreproduktion verbundene genetische Variabilität als Voraussetzung für evolutionäre Entwicklung. Während den ersten beiden Kriterien – autonomer Metabolismus und Reproduktionsfähigkeit – sicherlich alle Naturwissenschaftler zustimmen können, ist dies beim evolutionären Potential schon anders. Nanowissenschaftler, die im Labor mit Hilfe der synthetischen Biologie tätig sind, würden das evolutionäre Potential vielleicht als ein Kriterium für Leben bezeichnen, das nicht so fundamental ist wie die beiden anderen Kennzeichen. Aber selbst Vermehrungsfähigkeit und selbstständiger Stoffwechsel haben als fundamentale Kennzeichen von Lebewesen ihre Tücken. Die genannten Einschränkungen würden viele hypothetische Frühstadien der Entwicklung des Lebens sowie Grenzformen des Lebens, wie Viren, kategorisch ausschließen. Wolfhard Weidel beschrieb Viren als „geborgtes Leben“1. Orientiert man sich an den obigen Kriterien, dann können Viren nicht als Lebewesen bezeichnet werden. Viren kommen einerseits als „nackte“ Nukleinsäuren in den Wirtszellen vor und andererseits außerhalb von Zellen als Entitäten, die aus Nukleinsäure und einer Proteinhülle bestehen. Viren sind nicht zur selbstständigen Vermehrung fähig. Sie injizieren zur Vermehrung ihre Erbsubstanz in Wirtszellen von z. B. Pflanzen, Tieren oder Bakterien. Man könnte sie deshalb als Zellparasiten bezeichnen. Viren sind also biologische Entitäten, die sich, wenn auch nicht selbstständig, vermehren können – das ist jedem bewusst, der schon einmal eine Grippe hatte – und die ein evolutionäres Potential besitzen – ansonsten müssten wir nicht kontinuierlich nach neuen Impfstoffen suchen. Sind Viren also gleichsam zwischen Leben und NichtLeben hin und her pendelnde Objekte? Für den evolutionären Ursprung der Viren gibt es bis heute keine definitiven Beweise. Entweder sind Viren gewissermaßen eine Schwundstufe von einst vollständigen Organismen. Oder sie entstanden bereits in jener chemischen „Ursuppe“, die auch die primitivsten Lebensformen hervorgebracht hat.

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W. Weidel, Virus. Die Geschichte vom Geborgten Leben, Verständliche Wissenschaft, Band 60, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1957.

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Vor mittlerweile 12 Jahren ist es Wissenschaftlern gelungen, erstmals ein Virus künstlich herzustellen, indem sie Nukleinsäure mit der Sequenz des Kinderlähmungsvirus durch DNA-Synthese künstlich erzeugt haben.2 Schleust man dann in dieser Weise erzeugte DNAStränge in Zellen ein, entstehen in Folge komplette, natürliche Polioviren. Die Synthetische Biologie eröffnet in diesem Zusammenhang neue Möglichkeiten der Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Zum Beispiel könnte ein neuer Impfstoff gegen Polio erzeugt werden, der Lebendviren verwendet. Deren Erbgut kann gezielt synthetisiert werden, was eine bessere Kontrolle des Impfstoffs ermöglicht. Gezielt eingebaute „Fehler“ könnten Mutationen verhindern, die das Virus erneut gefährlich machen würden. Bisher nur als Computermodell an der State University of New York entwickelt, könnte diese Strategie auch gegen das Grippevirus zur Anwendung kommen. Die Grenzstellung der Viren zwischen Unbelebtem und Belebtem wirft für die heutige Forschung Probleme auf, bei denen konzeptionelle und experimentelle Fragen Hand in Hand gehen. Dies ist insbesondere in der Forschungsrichtung der Synthetischen Biologie der Fall. Um diese zu charakterisieren, ist es notwendig, zunächst einige grundlegende Bemerkungen zu den Molekülen des Lebens zu machen.

3. Moleküle des Lebens Im Jahr 1865 veröffentlichte Gregor Mendel in dem Aufsatz „Versuche über Pflanzenhybride“ seine Ergebnisse, die er anhand von Kreuzungsexperimenten mit Erbsen erlangte.3 Die darin beschriebenen drei Grundregeln legen dar, nach welchen Regelmäßigkeiten in einfachen Erbgängen die Merkmalsausprägung erfolgt. Die wichtigste Erkenntnis war, dass das Erbgut aus voneinander unabhängigen Einheiten aufgebaut ist, wodurch das Auftreten von Neukombinationen und Spaltungen erst erklärbar wurde. Seine Resultate blieben jedoch jahrzehntelang unbeachtet bzw. unverstanden. Erst im Jahre 1900, sechzehn Jahre nach Mendels Tod, entdeckten die drei Botaniker, Hugo de 2 3

J. Cello, A. V. Paul, E. Wimmer, „Chemical synthesis of poliovirus cDNA: Generation of infectious virus in the absence of natural template“, in: Science, 297/2002, S. 1016-1018. G. Mendel, Versuche über Pflanzenhybriden, Leipzig 1911.

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Jörg Hacker/Sandra Kumm

Vries, Carl Correns und Erich Tschermak seine Ergebnisse wieder, als sie ähnliche Forschungen zur Vererbung durchführten. Seitdem gilt Mendel als „Vater der Genetik“ bzw. Entdecker der Grundlagen der Vererbungslehre. Fast achtzig Jahre nach Mendels Entdeckung hielt der Physiker Erwin Schrödinger in Dublin Vorlesungen zum Thema „Was ist Leben“. Daraus entstand eine kleine Schrift mit dem Titel „What is Life?“4 Diese hat seither viele Naturwissenschaftler dazu gebracht, sich mit Grundlagenfragen der Biologie auseinanderzusetzen, vor allem mit einem Problem: der physikalischen Struktur der genetischen Information. Schrödinger stellte unter anderem die Hypothese auf, dass die Erbsubstanz ein aperiodisches Kristall sein müsse, dessen Struktur die Information enthalte, dank der sich aus einer befruchteten Eizelle ein voll ausgewachsenes Individuum einer bestimmten Art entwickle. Schrödingers Überlegungen übten in einem Fall einen ganz direkten Einfluss aus. James Watson las 1946, als achtzehnjähriger Student, eine Rezension über Schrödingers Werk im „New York Time Book Review“. Er war von dem Buch so beeindruckt, dass er unbedingt wissen wollte, was ein Gen ist. Sieben Jahre später, 1953, hatte er zusammen mit Francis Crick die Antwort gefunden. Der Stoff, aus dem die Gene sind, besteht aus einer Doppelhelix aus Desoxyribonukleinsäure (DNA).5 Bereits 1944 war entdeckt worden, dass vererbbare Eigenschaften an das Vorhandensein einer bestimmten Sorte von Molekülen gebunden sind, der DNA.6 Durch die Aufklärung der Struktur der DNA wurde erkannt, dass die Gene den Bauplan für die Übersetzung in Proteine vorgeben und in diesem Sinne die Grundlage des Lebens darstellen. Damit hatte das Zeitalter der Molekularbiologie begonnen und Watsons und Cricks Entdeckung der DNA-Struktur bildete nur den Anfang einer ganzen Reihe bahnbrechender Entdeckungen, aus denen sich die moderne Gentechnik in den letzten vier Jahrzehnten nahezu explosionsartig entwickelt hat.

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E. Schrödinger, What is Life?, Cambridge 2012. J. Watson, D. Crick, „Molecular Structure of Nucleic Acids”, in: Nature, 4356/1953, S. 737-738. O. T. Avery, C. M. MacLeod, M. McCarty, „Studies on the chemical nature of the substance inducing transformation of pneumococcal types. Induction of trans­ formation by a desoxyribonucleic acid fraction isolated from pneumococcus type III”, in: Journal of Experimental Medicine, 79(2)/1944, S. 137-158.

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Anfang der 1960er Jahre entdeckten die Arbeitsgruppen um die Biochemiker Marshall Nirenberg, Har Gobind Khorana und Robert Holley die Regeln für die Entschlüsselung des genetischen Codes7 und 1965 wurde entdeckt, wie die Aktivität von Genen an- oder abgeschaltet wird8. Etwa zeitgleich entdeckten Werner Arber, Hamilton Smith und Daniel Nathans die Restriktionsenzyme, sogenannte Genscheren, die DNA an spezifischen Stellen schneiden9. Damit stand genug Wissen über die Bausteine des Lebens zur Verfügung und die Wissenschaftler besaßen die wichtigsten Werkzeuge, um die Erbsubstanz neu zu gestalten. Erstmals nutzten Biochemiker 1973 die Genscheren, um Erbanlagen von einem Organismus auf einen anderen zu übertragen. Sie schleusten ein kreisförmiges DNA-Molekül, ein Plasmid, in das Bakterium Escherichia coli ein.10 Damit war es zum ersten Mal gelungen, Gene im Labor von einem Organismus auf einen anderen zu übertragen. Die Grundlage für die heutige „konventionelle“ Gentechnik war geschaffen, die aus der modernen Medizin und Biotechnologie nicht mehr wegzudenken ist. Aber auch Kritik wurde laut: War es richtig, artfremde Erbinformation in andere Organismen zu übertragen? War es ethisch vertretbar, Erbeigenschaften zu manipulieren? Daraufhin fand im Februar 1975 die Asilomar-Konferenz in Kalifornien statt. Dort diskutierten 140 Molekularbiologen aus 16 Ländern über Sicherheitsauflagen, unter denen die Forschung weiter stattfinden solle. Die Ergebnisse dienten 7 M. W. Nirenberg, J. H. Matthaei, „The dependence of cell-free protein synthesis in E. coli upon naturally occurring or synthetic polyribonucleotides”, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 47/1961, S. 1588-1602; H. G. Khorana, H. Büuchi, H. Ghosh, N. Gupta, T. M. Jacob, H. Kössel, R. Morgan, S. A. Narang, E. Ohtsuha, R. D. Wells, „Polynucleotide synthesis and the genetic code”, in: Cold Spring Harb. Symp. Quant. Biol., 31/1966, S. 39-49; R. W. Holley, J. Apgar, G. A. Everett, J. T. Madison, M. Marquisee, S. H. Merrill, J. R. Penswick, A. Zamir, „Structure of a ribonucleid acid”, in: Science, 147/1965, S. 1462-1465. 8 J. Monod, „From enzymatic adaption to allosteric transitions”, in: Nobel Lectures, Physiology or Medicine 1963-1970, Amsterdam 1972, S. 188-209. 9 W. Arber, S. Linn, „DNA modification and restriction”, in: Annual Review of Bio­ chemistry, 38/1969, S. 467-500; H. O. Smith, K. W. Wilcox, „A restriction enzyme from Hemophilus influenzae. I. Purification and general properties”, in: Journal of Molecular Biology, 51/1970, S. 379-391; K. Danna, D. Nathans, „Specific changes of simian virus 40 DNA by restriction endonuclease of Hemophilus influenza”, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 68/1971, S. 2913-2917. 10 S. Cohen, A. Chang, H. Boyer, R. Helling, „Construction of biologically functional bacterial plasmids in vitro“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 70(11)/1973, S. 3240-3244.

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als Grundlage für staatliche Regelungen in den Vereinigten Staaten und später in vielen anderen Staaten. 1977 entwickelten Walter Gilbert, Allan Maxam11 und Frederick Sanger12 unabhängig voneinander Methoden zur effizienten DNASequenzierung, für die sie 1980 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet wurden. Ab dem Jahr 1995 konnten die ersten kompletten bakteriellen Genomsequenzen publiziert werden13 und 2003 wurde schließlich die erste menschliche Genomsequenz offengelegt. Damit war und ist aber kein Schlusspunkt gesetzt. Die Sequenziertechnologie wurde seitdem dauerhaft verbessert und weiterentwickelt, sodass zurzeit mit den Methoden des next generation sequencing individuelle menschliche Genome in einem Zuge mit vertretbarem finanziellen Aufwand sequenziert werden können.

4. Synthetische Biologie Verfolgt man diese obige Zeitskala weiter, so gelangt man 2008 zu einem Experiment, mit welchem sich der Kreis zur Synthetischen Biologie schließt.14 In diesem Jahr gelang es Wissenschaftlern um den USBiochemiker Craig Venter erstmals, das komplette Genom eines Bakteriums synthetisch herzustellen. Nur zwei Jahre später machte das 11 W. Gilbert, A. Maxam, „A new method for sequencing DNA”, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA, 74/1977, S. 560–564. 12 F. Sanger, S. Nicklen, A. R. Coulson, „DNA sequencing with chain-terminating inhibitors”, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 74/1977, S. 5463– 5467. 13 R. D. Fleischmann, M. D. Adams, O. White, R. A. Clayton, E. F. Kirkness, A. R. Kerlavage, C. J. Bult, J. F. Tomb, B. A. Doughtery, J. M. Merrick, K. McKenney, G. Sutton, W. FitzHugh, C. Fields, J. D. Gocyne, J. Scott, R. Shirley, L.-I. Liu, A. Glodek, J. M. Kelly, J. F. Weidman, C. A. Philips, T. Spriggs, E. Hedblom, M. D. Cotton, T. R. Utterback, M. C. Hanna, D. T. Nguyen, D. M. Saudek, R. C. Brandon, L. D. Fine, J. L. Fritchman, J. L. Fuhrmann, N. S. M. Geoghagen, C. L. Gnehm, L. A. McDonald, K. V. Small, C. M. Fraser, H. O. Smith, J. C. Venter, „Whole-genome random sequencing and assembly of Haemophilus influenza Rd“, in: Science, 269(5223)/1995, S. 496512. 14 D. G. Gibson, G. A. Benders, C. Andrews-Pfannkoch, E. A. Denisova, H. BadenTillson, J. Zaveri, T. B. Stockwell, A. Brownley, D. W. Thomas, M. A. Algire, C. Merryman, L. Young, V. N. Noskov, J. I. Glass, J. C. Venter, C. A. Hutchison III, H. O. Smith, „Complete Chemical Synthesis, Assembly, and Cloning of a Mycoplasma genitalium Genome”, in: Science, 319(5867)/2008, S. 1215-1220.

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Forscherteam um Venter und den Nobelpreisträger Hamilton Smith erneut Schlagzeilen mit der Erschaffung einer sogenannten „synthetischen Zelle“ – eines Bakteriums, dessen vollständiges, natürliches Erbgut durch ein künstliches Genom ersetzt wurde.15 Alfred Pühler bezeichnete dies als die „mediale Geburtsstunde der Synthetischen Biologie“.16 Die Publikation der Gruppe um Craig Venter erschien im Mai 2010 mit dem Titel „Creation of a Bacterial Cell Controlled by a Chemically Synthesized Genome“. Dabei wurde das Genom eines Bakteriums im Reagenzglas synthetisiert und dieses nach Transplantation in eine Zelle „zum Leben erweckt“. Die Forscher haben damit eine synthetische Zelle erschaffen, die von einem chemisch-synthetisierten Genom gesteuert wird. Ihnen ist damit ohne Zweifel ein aufsehenerregendes Experiment gelungen. Die Frage, ob es sich dabei aber um künstliches Leben handelt, muss wohl verneint werden, denn die Experimente greifen auf existierende biologische Systeme zurück. Wodurch ist jedoch künstliches Leben gekennzeichnet? Die Leopoldina hat 2009 zusammen mit der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech und der Deutschen Forschungsgemeinschaft eine Stellungnahme zur Synthetischen Biologie veröffentlicht.17 Darin wird ausgeführt, dass sich die Protozellforschung – als ein Forschungsfeld der Synthetischen Biologie – mit „künstlichem Leben“ beschäftigt. Protozellen werden dabei wie folgt definiert: „Sie sind im Labor konstruierte, selbst replizierende Nanosysteme, die viele Eigenschaften von lebenden Zellen aufweisen wie zum Beispiel das Vorhandensein eines mutierbaren Informationsspeichers, eines Stoffwechselsystems und einer umhüllenden Membran, die das System abgrenzt, dennoch für den Austausch von Energie und Materie mit der Umge-

15 D. G. Gibson, J. I. Glass, C. Lartigue, V. N. Noskov, R.-Y. Chuang, M. A. Algire, G. A. Benders, M. G. Montague, L. Ma, M. M. Moodie, C. Merryman, S. Vashee, R. Krishnakumar, N. Assad-Garcia, C. Andrews-Pfannkoch, E. A. Denisova, L. Young, Z.-Q. Qi, T. H. Segall-Shapiro, C. H. Calvey, P. P. Parmar, C. A. Hutchinson III, H. O. Smith, J. C. Venter, „Creation of a Bacterial Cell Controlled by a Chemically Synthesized Genome”, in: Science, 329(5987)/2010, S. 52-56. 16 A. Pühler, „Einblicke in die Synthetische Biologie“, in: A. Pühler, B. Müller-Röber, M.-D. Weitze (Hrsg.), Synthetische Biologie – Die Geburt einer neuen Tech­nik­ wissenschaft, Berlin, Heidelberg 2011, S. 11-17. 17 Deutsche Forschungsgemeinschaft, acatech – Deutsche Akademie der Technikwissen­ schaften, Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Synthetische Biologie. Stellungnahme, 2009.

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bung selektiv offen ist.“18 Besondere Betonung liegt hierbei auf dem Begriff „im Labor konstruiert“, also nicht der lebendigen Natur entnommen. Die bisherigen Ergebnisse zur Protozellforschung machen jedoch deutlich, dass die Untersuchungsobjekte noch weit von der oben genannten Definition entfernt sind. Im Moment ist künstliches Leben nicht verwirklichbar und wird es wohl auch in absehbarer Zeit nicht sein. Die Synthetische Biologie bietet aber ein großes Potential sowohl für einen erheblichen Erkenntnisgewinn auf Ebene der Grundlagenforschung als auch für die Entwicklung neuer medizinischer und biotechnologischer Verfahren. Ein wichtiger Anwendungsbereich der chemischen Synthese von Genen liegt beispielsweise in der Möglichkeit, durch den Einsatz synthetischer DNA in der somatischen Gentherapie oder in Form von DNA-Impfstoffen „mit Genen zu heilen“. Ein Beispiel, das bereits in die Großproduktion eingegangen ist, ist die gentechnische Veränderung von Hefen, sodass diese eine Vorläufersubstanz vom sogenannten Artemisinin in größerem Maßstab erzeugen können. Artemisinin wird in der Malariatherapie eingesetzt.19 Wie bei jeder neuen Technologie, die einen bedeutenden Einfluss entwickelt, ist neben den wirtschaftlichen Chancen und dem wissenschaftlichen Forschungsinteresse auch die Frage der nicht beabsichtigten Nebenfolgen frühzeitig zu behandeln. Dies bedeutet vor allem, dass Risiken und Chancen, soweit möglich, abgeschätzt werden und die Lehren daraus bereits in das Design und die Anwendungsbedingungen der neuen Technologie einfließen müssen. Zudem ist der frühzeitige und offene Dialog mit der Öffentlichkeit wie bei jeder neuen Technologie wichtig. So ist nicht nur die Hoffnung auf Erkenntnis groß, sondern auch der Bedarf für eine breite wissenschaftliche sowie öffentliche Erörterung der Fragen bei zukünftigen Anwendungsmöglichkeiten, da die Chancen und Herausforderungen einer sorgfältigen Abwägung unterzogen werden sollen. Im Falle der Synthetischen Biologie wurde und wird versucht, dies kontinuierlich zu berücksichtigen. Die systematische Beobachtung neuer wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen mit mög18 Deutsche Forschungsgemeinschaft, acatech – Deutsche Akademie der Technik­wis­ senschaften, Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Synthetische Bio­ logie. Stellungnahme, 2009, S. 20. 19 C. J. Paddon, J. D. Keasling, „Semi-synthetic artemisinin: a model for the use of synthetic biology in pharmaceutical development“, in: Nature Reviews Micro­bio­ logy, 12/2014, S. 355-367.

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licher gesellschaftlicher, insbesondere sozioökonomischer Relevanz wird seit Jahren zumindest von allen wichtigen Industriestaaten betrieben. Die EU-Kommission thematisierte die Synthetische Biologie bereits im Dezember 2003 im Bereich „Künftiger Wissenschafts- und Technologiebedarf“ und startete im Herbst 2005 ein Ausschreibungsprogramm im Umfang von 50 Millionen Euro. In den vergangenen Jahren erschienen dann Berichte und Stellungnahmen von unterschiedlichen Gremien und Einrichtungen der Politikberatung, unter anderem in den Niederlanden, Großbritannien, der Schweiz, Deutschland und den USA. 2009 erschien die bereits erwähnte Stellungnahme der Leopoldina zusammen mit acatech und der DFG zur Synthetischen Biologie. Dabei wird deutlich, dass keiner der Berichte die Chancen oder Risiken der Synthetischen Biologie überzeichnet. Dennoch wird die Synthetische Biologie als ein wichtiges Entwicklungsfeld mit großem Potential eingeschätzt, das systematisch erfasst und umfassend gefördert werden soll. Es ist eine wichtige Intention, mögliche Risiken von vornherein intensiv zu thematisieren, einerseits aus Vorsorgegründen und andererseits um zu verhindern, dass eine resultierende gesellschaftliche Debatte die Nutzung möglicher Chancen verhindert. Als wichtigste Handlungsempfehlungen resultieren daraus die konsequente weitere Beobachtung des Wissenschafts- und Technikfeldes einschließlich regelmäßiger Überprüfung, ob nationale und übernationale Förder- und Regulierungsmaßnahmen angemessen erscheinen, sowie ein umfassender gesellschaftlicher Dialog über Chancen, Risiken und den weiteren Umgang damit. Vor diesem Hintergrund führt die Leopoldina derzeit in Kooperation mit dem Institut für Demoskopie Allensbach eine Studie zur Akzeptanz wissenschaftlicher Innovationen am Beispiel der Synthetischen Biologie durch. Gleichzeitig werden die Chancen analysiert, diese Akzeptanz durch eine systematische Wissenschaftskommunikation zu verbessern. Die Möglichkeit, mit Hilfe der Synthetischen Biologie neue lebende Systeme zu generieren, verlangt den Forschern ein hohes Maß an Verantwortung gegenüber der Gesellschaft ab. Das zeigte sich sehr öffentlichkeitswirksam vor geraumer Zeit, als darüber berichtet wurde, dass in zwei Laboratorien Grippeviren – genauer gesagt Vogelgrippeviren vom Typ H5N1 – mit neuen Eigenschaften hergestellt wurden. Dieser Erreger breitet sich normalerweise zwischen Vögeln aus. Die Experimente von Fouchier und Imai haben gezeigt, dass die Viren durch wenige Mutationen auch zwischen Säugetieren übertragbar werden. Durch weitere Untersuchungen möchte die Gruppe um Fou-

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chier jetzt klären, welche genetischen Eigenschaften dazu führen, dass H5N1 wie andere Influenzastämme zwischen Menschen übertragbar wird. Mit diesem Wissen könnte man die Virulenz neu auftretender Varianten einschätzen. Wie zu erwarten, entfachte sich eine intensive Diskussion über die Notwendigkeit, derartige Forschungsergebnisse überhaupt zu veröffentlichen. Auch die Leopoldina hat sich in diese Debatte eingemischt und darauf hingewiesen, dass Ergebnisse der Grundlagenforschung nicht durch staatlich angeordnete Publikationsverbote weltweit und über längere Zeiträume geheim gehalten werden können. Das bestätigte sich auch in dem Fall der neuen Grippeviren: Anfang Mai 2012 veröffentlichte Nature den ersten der beiden umstrittenen Fachartikel über sie, kurz darauf folgte Fouchiers Artikel in Science.20 Es ist weder das Ziel noch ein für absehbare Zeit realistisch erscheinendes Ergebnis der Synthetischen Biologie, durch Synthese oder Manipulation neuartige höhere Lebewesen zu schaffen. Es geht ihr vielmehr um die Veränderung und die de novo Synthese von Mikroorganismen, Zellen und Zellpopulationen. Gleichwohl führt bereits diese begrenzte Zielsetzung zu grundlegenden Fragen nach der Definition des Lebens. In der Debatte um die Herausforderung der Synthetischen Biologie ist es notwendig, immer wieder eine problem-angemessene Bestimmung des Lebendigen, auch in möglicher Abgrenzung gegen das Nicht-Lebendige, zu formulieren.

5. Die moderne Biologie und das menschliche Leben Leben oder sogar den Menschen künstlich erschaffen zu können, ist eine Vorstellung, welche die Menschheit schon lange beschäftigt. So ist die Idee des „Homunculus“ – einer Art künstlich geschaffenem 20 M. Imai, T. Watanabe, M. Hatta, S. C. Das, M. Ozawa, K. Shinya, G. Zhong, A. Hanson, H. Katsura, S. Watanabe, C. Li, E. Kawakami, S. Yamada, M. Kiso, Y. Suzuki, E. A. Maher, G. Neumann, Y. Kawaoka, „Experimental adaptation of an influenza H5 HA confers respiratory droplet transmission to a reassortant H5 HA/H1N1 virus in ferrets”, in: Nature, 486/2012, S. 420-430; S. Herfst, E. J. A. Schrauwen, M. Linster, S. Chutinimitkul, E. de Wit, V. J. Munster, E. M. Sorrell, T. M. Bestebroer, D. F. Burke, D. J. Smith, G. F. Rimmelzwaan, A. D. M. E. Osterhaus, R. A. M. Fouchier, „Airborne transmission of influenza A/H5N1 virus between ferrets”, in: Science, 336/2012, S. 1534-1541.

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Menschen – häufig in der Literatur anzutreffen. Johann Wolfgang von Goethe lässt zum Beispiel Wagner im zweiten Teil des Fausts einen Menschen im Glaskolben erschaffen. Solchen Selbsterschaffungsphan­ tasien stehen wir – wie auch schon Goethe – sehr kritisch gegenüber. Wir wissen, dass bereits die Veränderung menschlichen Lebens differenziert betrachtet werden muss. Ethisch geboten ist es, aus meiner Sicht, „mit Genen zu heilen“, wie dies in der Gentherapie möglich ist. Bisher hat das Ersetzen und Einfügen eines intakten Gens in Form von DNA nur bei sogenannten monogenetischen Erkrankungen Aussicht auf Erfolg. Seit kurzem ist erstmals in der westlichen Welt ein modifiziertes Adeno-assoziiertes Virus für die klinische Gentherapie zugelassen. Es dient zur Behandlung einer seltenen, erblich bedingten Stoffwechselerkrankung.21 Eine Gentherapie darf jedoch nur in somatischen Zellen durchgeführt werden. Die künstlich hergestellten Gene dürfen aus meiner Sicht keinesfalls in die Keimbahn des Menschen gelangen, denn so könnte die neue genetische Information an die Kinder des behandelten Individuums weitergegeben werden. Sie wären somit nicht rückholbar, und ich selbst – wie auch die bei weitem überwiegende Mehrzahl meiner Kollegen – bin der festen Überzeugung, dass der genetischen Veränderung des Menschen an dieser Stelle eine ganz klare Grenze zu setzen ist. Impliziert eine solche strikte Grenzziehung aber auch, dass menschliche embryonale Stammzellen überhaupt nicht für Forschungszwecke verwendet werden dürfen? Hieran entzünden sich immer wieder – aus meiner Sicht notwendige – Diskussionen, in Deutschland vor allem anlässlich von Revisionen des Embryonenschutzgesetzes. Die Leopoldina hat sich zu dieser Frage geäußert und angemerkt, dass menschliche embryonale Stammzelllinien für Forschungszwecke unabdingbar sind. Letztlich hat die Politik einen Kompromiss gefunden, der darin besteht, dass in Deutschland derartige Zelllinien, wenn sie im Ausland hergestellt wurden, zwar verwendet, aber nicht im Inland produziert werden dürfen.22 Ein solcher Kompromiss versucht, unterschiedlichen Auffassungen über den Beginn des individuellen menschlichen Lebens entgegenzu21 K. Gruber, „Europe gives gene therapy the green light”, in: The Lancet 380/2012, e10. 22 Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen. „Stammzellgesetz vom 28. Juni 2002 (BGBl. I S. 2277), das zuletzt durch Artikel 2 Absatz 29 u. Artikel 4 Absatz 16 des Gesetzes vom 7. August 2013 (BGBl. I S. 3154) geändert worden ist“.

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kommen, die in unserer Gesellschaft vorhanden sind und den politischen Entscheidungsprozess beeinflussen. Es gibt Vertreter der Theo­ rie, dass menschliches Leben in voller Würde und voller Schutzbedürftigkeit schon mit dem Zusammentreffen von Ei und Samenzellen sowie der Verschmelzung des genetischen Materials anfange. Andere sind der Ansicht, das menschliche Leben beginne mit der Einnistung in die Gebärmutter, also mit der Nidation. Darüber hinaus gibt es die Auffassung, dass erst mit der Geburt vollwertiges menschliches Leben vorliege. Meiner Ansicht nach können die Naturwissenschaftler, indem sie über ihren aktuellen Wissensstand bestmöglich informieren, der politisch-gesellschaftlichen Debatte über bindende Handlungsnormen eine Verankerung in der empirischen Welt anbieten – sie können aber nicht das Ergebnis der demokratischen Willensbildung vorwegnehmen. Wo wir den Anfang des individuellen menschlichen Lebens juristisch verbindlich setzen, ist keine naturwissenschaftlich beantwortbare Frage. Darüber soll in einer pluralistischen Demokratie die gesamte Gesellschaft debattieren und ihre politischen Repräsentanten müssen nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden.

6. Zur Bestimmung des menschlichen Lebens Ohne Frage ist ein breiter gesellschaftlicher Diskurs über den Umgang mit der modernen Biomedizin und der Synthetischen Biologie nötig, der die Chancen und Risiken dieser Forschungszweige mit all ihren Konsequenzen für das menschliche Leben und die Zukunftssicherung der Menschheit, aber auch für das Selbstbild und die Würde des Menschen einbezieht. Der Begriff Lebenswissenschaften muss dabei weitaus mehr als Biologie und Medizin umfassen. Diese Ansicht vertritt auch der Berliner Theologe Christoph Markschies in seinem Aufsatz „Ist Theologie eine Lebenswissenschaft?“, die ich nur unterstützen kann. Das Wirken der Gene und Eiweiße bestimmt die fundamentalen Lebensprozesse, jedoch ist menschliches Leben allein damit nicht zu beschreiben. Hier spielen auch die Verantwortung und die Selbstreflexion des Geistes sowie die Fähigkeit zur Kommunikation eine wesentliche Rolle. Dabei richtet sich diese Aussage durchaus nicht gegen die naturwissenschaftliche Sicht auf den Menschen, denn eine biologische Sichtweise, die

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Geist, Gewissen und Sprache ausschließt, würde hinter ihren eigenen Möglichkeiten zurückbleiben. An dieser Stelle möchte ich ein zweites Mal auf Goethe zurückgreifen. Sein naturphilosophisches Denken kann aus meiner Sicht als eine Orientierung für das Verständnis des Lebendigen im Allgemeinen und des menschlichen Lebens im Besonderen dienen. So schrieb er: „In jedem lebendigen Wesen ist das, was wir Teile nennen, dergestalt unzertrennlich vom Ganzen, dass sie nur in und mit Demselben begriffen werden können und es können weder die Teile zum Maß des Ganzen noch das Ganze zum Maß der Teile angewendet werden.“23 Goethe lässt in diesem Zitat erkennen, dass nach seinem Verständnis ein Organismus erst dann wissenschaftlich erklärbar wird, wenn der notwendige Zusammenhang zweier Beschreibungsebenen erkannt worden ist. Einerseits können die Teile eines Organismus, seine Organe, sobald wir ihre jeweilige Funktion und ihren durch diese Funktion bestimmten Aufbau begreifen wollen, nicht ohne ein Verständnis des ganzen Organismus betrachtet werden. Andererseits folgt aus dem Verständnis des Organismus als einem Ganzen noch keinesfalls, dass wir damit schon jedes seiner Teile begriffen hätten. Und zum menschlichen Ganzen als einem Organismus gehören wesentlich und gleichermaßen die Fähigkeiten zur Selbstreflexion, zur Gewissensentscheidung und zur sprachlichen Verständigung. Wie kann die Frage nach dem Lebensbegriff beantwortet werden. Was also ist Leben? Aus der Sicht des Mikrobiologen antworte ich: Wir sollten solche Objekte für lebendig halten, die sich fortpflanzen können, einen autonomen Stoffwechsel aufweisen und evolutionär veränderbar sind. Aus der Sicht des Lebenswissenschaftlers füge ich hinzu: Zu den evolutionären Möglichkeiten des Lebens gehören auch Fähigkeiten, die menschliches Leben wesentlich ausmachen, nämlich das Vermögen zur Selbstreflexion, zum Gewissensurteil und zur sprachlichen Verständigung. Wer eine solche umfassende Bestimmung des Lebensbegriffs ernst­ nimmt, der weiß auch, dass sich die Frage „Was ist Leben?“ nicht nur diejenigen Wissenschaftler stellen müssen, die sich für theoretische Definitionsprobleme interessieren. Dies ist eine Frage, mit der alle Lebenswissenschaftler konfrontiert sind, da sie die Konsequenzen ihrer Forschung vor allem für das menschliche Leben betrachten müssen. 23 J. W. von Goethe, S. Seidel (Hrsg.), Berliner Ausgabe, Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17-22], Band 18, Berlin 1960.

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Dabei geht es nicht nur um direkte praktische Folgen etwa für die Gesundheit. Sondern es geht auch um die oft langfristigen kulturellen Auswirkungen des wissenschaftlichen Experimentierens mit dem Lebendigen. Erst eine Lebenswissenschaft, die sich selbst in einer solchen umfassenden Perspektive zu sehen versucht, ist eine Wissenschaft, die ihrer Verantwortung für das Leben gerecht wird.

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Über den Begriff des Lebens – in unterschiedlichen Gebrauchsweisen

Schon für das frühe 20. Jahrhundert hat der Philosoph Helmuth Pless­ ner attestiert, dass das einfache Wort Leben zu einem „Zauberwort“ avanciert ist. Er meint damit, dass es sich um ein Wort handelt, das sich in unserer Alltagssprache als omnipräsent erweist und Zeitströ­ mungen einen Namen gibt – um 1900 ist von der „Lebensreform“, der „Lebensanschauung“, der „Lebenswelt“, der „Ehrfurcht vor dem Leben“ usw. die Rede. Diese Redewendungen zeichnen sich durch be­ griffliche Unschärfe aus und produzieren einen erheblichen metapho­ rischen Überschuss. Es liegt nah, hier von einer Gegenbewegung zur mächtigen Strö­ mung des Naturalismus (Stichwort: Darwinismus) zu sprechen. Im Begriff des Lebens sucht man, wie der Lebensphilosoph und Literatur­ nobelpreisträger Rudolf Eucken anmerkt, das grundlegende Konzept für eine neue Lebensanschauung.1 Und Georg Simmel fügt hinzu, dass hier ein Grundkonflikt zutage tritt, der, obwohl er in allen geschichtli­ chen Epochen der Menschheit produktiv wirksam war, sich erst in der modernen Kultur „zum Akuten gesteigert hat und die ganze Breite der Existenz“ erfasst hat.2 So findet der Diskurs der deutschen Philo­ sophie im frühen 20. Jahrhundert im Begriff des Lebens sein „erlösen­ des Wort“. Auf die Entzauberung der Welt des Menschen durch die empirischen Wissenschaften und die aus Kriegen und Revolutionen resultierende „Kulturnot“ folgte die Sehnsucht nach einer neuen „Be­ zauberung“. „Bezaubern konnte“ – so noch einmal Plessner – „nur

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R. Eucken, Grundlinien einer neuen Lebensanschauung, Leipzig 1907. G. Simmel, „Der Konflikt der modernen Kultur“, in: M. Landmann (Hrsg.), Georg Simmel. Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, Frankfurt a.M. 1987, S. 173. Vgl. M. Landmann, Creatura creatrix. Ursprünge und Zielsetzungen der philosophischen Anthropologie, Berlin, Friedenau 1962, insb. S. 11 ff.

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etwas Unbestreitbares, das diesseits aller Ideologien, diesseits von Gott und Staat, von Natur und Geschichte zu fassen war [...]: das Leben.“3 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Lage verwandt. Zwar hat der Naturalismus sein weltanschauliches Gewand abgelegt und ist zu einer wissenspolitischen Strategie geworden, der zufolge wir für alle „Lebensfragen“ eine Antwort in den empirischen Wissenschaften finden werden, aber der Konjunktur unserer metaphorischen Rede vom Leben ist auch dies nur förderlich. Wir sprechen von der „Le­ benskunst“ und wir kennen Initiativen unter dem Namen „Für das Leben“, „Bewahrung des Lebens“, wir suchen die Kriterien für ein „gutes Leben“ und wir sind unnachahmlich kreativ, wenn es darum geht, allen möglichen Substantiven das Präfix „Bio-“ zu verpassen.4 Das „Bio-Siegel“ als ein Güte- und Prüfsiegel für Erzeugnisse aus ökologischem Landbau und der immerwährende Kampf, den Zusatz „Bio“ durch europäisches Recht zu schützen und die entsprechenden Rechtsverordnungen in ihrer Wirksamkeit auch zu überprüfen, er­ scheint wie eine Signatur unserer Zeit. Die „Lebenswissenschaften“ haben sich institutionell etabliert und bilden, je nach Standort variie­ rend, entweder ein Drittes zur klassischen Zweiteilung in Geistes- und Naturwissenschaften oder ein integratives Ganzes, eine Synthese zur Überwindung der nun bald anderthalb Jahrhunderte währenden Dis­ junktion im Wissenschaftsbetrieb. Das ist wahrscheinlich der zeitgemäße Ausweis einer neuen Weise der Bezauberung durch einen exzessiven Wortgebrauch und Symptom eines Ringens um Vertrauen in die menschliche Fähigkeit der Produk­ tion und Reproduktion von lebendigen Strukturen (Zellen, Organis­ men). Zugleich handelt es sich um performative Akte, in denen Selbst­ verständlichkeit und Werthaltigkeit erzeugt wird. Wer ist heute nicht für die Erforschung des Lebens? Aber was heißt das? Wer würde nicht den Satz unterschreiben, dass das Leben selbst einen Wert hat? Aber was meinen wir damit? Handelt es sich nicht bloß um bekenntnishafte 3

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H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die phi­ losophische Anthropologie, Berlin, New York 1975, S. 4. Vgl. H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt a.M. 1983, S. 180: „Leben wird in der Lebensphilosophie zu dem Totalitätsbegriff, dessen die Philosophie nach dem Idealismus und dem Historismus allein noch mächtig zu sein glaubt.“ Vgl. bspw. die Beiträge und Diskussionen in dem neueren Band M. C. M. Müller, S. Schaede u. G. Hartung, Was ist ein gutes Leben? Mehr als eine flüchtige Frage nach dem schnellen Glück (Loccumer Protokoll 12/14), Evangelische Akademie Loccum 2014.

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Leerformeln? Was meinen wir, wenn wir die Rede im Namen des „Le­ bens“ führen? Ich möchte im Folgenden eine Unterscheidung zwischen drei Ge­ brauchsweisen des Lebensbegriffs skizzieren. Die eine ist vor allem deskriptiv und nur in einem schwachen Sinne normativ; diese rechne ich den Naturwissenschaften zu. Die andere ist offensiv normativ und nur in einem schwachen Sinne deskriptiv; jene rechne ich den Geistes­ wissenschaften zu. Von diesen konträren Gebrauchsweisen, die ich nur skizzieren kann, möchte ich in einem dritten Schritt einen integrativen Gebrauch des Lebensbegriffs unterscheiden; dieser wird in einer viel­ fach unterschätzen philosophischen Subdisziplin, der philosophischen Anthropologie, vertreten. Meine These lautet: Wir kommen gar nicht umhin, an einem die deskriptiven und normativen Anteile integrierenden Begriff des Le­ bens zu arbeiten, weil die alltagsweltliche Dimension, die von indi­ viduellen, aber auch kulturellen Erfahrungshorizonten durchdrungen ist, mit den Forschungsinteressen in den Lebenswissenschaften immer wieder in Kollision gerät – das gilt meines Erachtens für die syntheti­ sche Biologie in verschärftem Maße. Diese Aufgabe wird m. E. in einer Meta-Disziplin angemessen verhandelt, für die in metaphysikarmen Zeiten der Titel einer „Interdisziplinären Anthropologie“ sachgerecht und wegweisend ist.5

1. Ein deskriptiver, nur in einem schwachen Sinne normativer Lebensbegriff Innerhalb der Naturwissenschaften wird der Lebensbegriff nicht defi­ niert. Wenn wir Definitionen des Begriffs finden, dann an ihren Rän­ dern, beispielsweise früher in der „Philosophie der Biologie“ (Hans Driesch) oder heute in der „Biophilosophie“ (Kristian Köchy). Ein solchermaßen, immer schon auf die philosophische Reflexion hinweisender biologischer Lebensbegriff lässt sich – herkommend aus der Tradition (Stichwort: Aristotelische Naturteleologie6) – in aller 5 6

Vgl. dazu das Projekt einer neuen Zeitschrift der Herausgeber G. Hartung und M. Herrgen: www.interdisziplinaere-anthropologie.de. Vgl. G. Hartung: „Aristoteles. V. Wirkung A. 1.7. 19. Jahrhundert“, in: C. Rapp u. K. Corcilius (Hrsg.), Aristoteles-Handbuch, Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2011, S. 450-455.

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Kürze auf die drei Bestimmungen der Selbstbewegung, Selbsterhal­ tung und Selbstorganisation zurückführen. Doch reichen diese Kri­ terien für eine hinreichende Bestimmung des Lebens nicht aus, weil sie entweder nicht präzise genug sind oder nicht exklusiv Lebewesen zugerechnet werden können. In der Biologie des 20. Jahrhunderts hat sich deshalb die Ansicht durchgesetzt, dass „Leben“ durch eine Liste von Kriterien gekennzeichnet ist, wobei es nicht auf die Einzelkriteri­ en selbst, sondern ihre Kombination oder Gesamtheit ankommt. Be­ dauerlicherweise sind die aufgestellten Listen nicht konsensfähig und das Ergebnis ist das Eingeständnis einer „realen Vagheit“ des Begriffs, die nur dann punktuell an Robustheit gewinnt, wenn „Leben“ als ein Abgrenzungsbegriff zu „Geist“, „Tod“, „Leblosem“, „Technik“ usw. benutzt wird.7 Verfolgt man die Debatte im Detail, so können wir vorläufig fest­ halten: In der Biologie schließt der Gebrauch des Lebensbegriffs fol­ gende Kriterien ein. Was lebt, das ist 1. ein System im Sinne einer Einheit von Teilen und Teilprozessen, die aufeinander bezogen sind und sich wechselseitig bedingen, 2. ein System, das sich durch Offenheit für ein Außen, seine Ange­ wiesenheit auf ein Außen und die Regulation interner Prozesse im Hinblick auf diese Außenbeziehung auszeichnet, 3. ein System, das sich selbst reproduziert und in dieser Reprodukti­ on seine Strukturen transformieren sowie die Komplexität seiner Strukturen steigern kann. Diese allgemeinen Kriterien sind der Rahmen eines deskriptiven Ver­ fahrens am Einzelorganismus, mit dem Ergebnis, dass eine Antwort auf die Frage „was lebt?“ auf eine Funktionsanalyse hinausläuft. Es geht in der empirischen Beobachtung darum, ob man zeigen kann, dass eine bestimmte Organisationsform, eine bestimmte Weise der Regu­ lation und eine Möglichkeit der Transformation tatsächlich stattfindet. Die Beschreibung geht mit einem schwachen normativen Anspruch einher, weil in der Beschreibungssprache von „Zweckmäßigkeit“ die Rede sein muss: Ein bestimmtes Wechselverhältnis von Teil/Teil, Teil/ Ganzem ist zweckmäßig für die Erhaltung des Organismus, eine be­ stimmte Form der Regulation ist zweckmäßig für die Integration der Teilprozesse und eine bestimmte Weise der Transformation ist von 7

Vgl. G. Toepfer, „Der Begriff des Lebens“, in: U. Krohs u G. Toepfer (Hrsg.), Phi­ losophie der Biologie. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2005, S. 157-174, insb. S. 163 ff.

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evolutivem Vorteil, sprich: die Anpassung des Organismus an seine Umwelt usw. Der in einem solchen Sinne funktionale Gebrauch der Kategorie „Zweckmäßigkeit“, die eine Verkettung von beobachtbaren Ereignissen ermöglicht, ist als Maximalbegriff deskriptiver Verfahren zwar leistungsfähig, aber er kommt an seine Grenzen, wenn es darum geht, die beschriebenen Funktionszusammenhänge in eine sinnverste­ hende Perspektive einzurücken.8 Um nicht missverstanden zu werden: In methodologischer Hin­ sicht bewährt sich die Ausklammerung der sinnverstehenden Per­ spektive in den Lebenswissenschaften. Doch wenn es darum geht, was es heißt, vom Leben als Sinn-Konzept zu handeln, oder wenn gar die metaphysische Frage gestellt wird: Warum gibt es überhaupt Leben und nicht vielmehr nichts? – dann artikuliert sich ein Orientierungs­ bedürfnis, das sich mit einer – wenn auch umfassenden – Beschreibung der Funktionszusammenhänge eines lebendigen Organismus nicht zufrieden gibt. Wir können an dieser Stelle folgendes festhalten: Der Lebensbegriff liefert neben dem Versprechen, ein naturwissenschaftlicher Leitbegriff zu sein und die verschiedenen Forschungsrichtungen integrieren zu können, auch die Möglichkeit, sich in Berufung auf ihn vom methodi­ schen Naturalismus in den Lebenswissenschaften abzugrenzen. Diese „Doppelrolle des Lebensbegriffs“ (Georg Toepfer) gilt es im Auge zu behalten.

2. Ein offensiv normativer, nur in einem schwachen Sinne deskriptiver Lebensbegriff Auf der anderen Seite des Spektrums der möglichen Optionen steht die normative Aufladung des Lebensbegriffs, die weitgehend ohne Rücksichtnahme auf deskriptiv-empirische Verfahren auskommt. Gleichsam paradigmatisch für eine solchermaßen normative Auf­ ladung des Lebensbegriffs um 1900 steht das Werk des Philosophen Rudolf Eucken. Euckens schriftstellerisches Werk, für das er auch den Literaturnobelpreis erhalten hat, nimmt im ersten Jahrzehnt des 8

Vgl. zum Überblick die Beiträge in G. Hartung, S. Schaede u. T. Kleffmann (Hrsg.), Leben II. Historisch-Systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Tübingen 2012.

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20. Jahrhunderts Gestalt an. Eucken stellt sein Schreiben explizit in den Dienst einer umfassenden Lebensreform.9 Die Grundlinien einer neu­ en Lebensanschauung (1907) sind zupackend im Griff auf das histori­ sche Material; der Philosophiehistoriker verzichtet auf Fußnoten und ein Literaturverzeichnis. Und die Schrift ist thetisch in der Diagnose „vorhandener Lebensanschauungen“, in der Analyse einer „neuen Le­ bensanschauung“ und in der Formulierung von Therapievorschlägen. Aufgabe und Ziel dieser Schrift sind schnell genannt: es geht um den Versuch, „unser Leben mit dem All zusammenzuschließen“10 oder um eine „Versetzung des Menschen in das seiner Selbständigkeit innewer­ dende Geistesleben“11. Eucken wird zum Verkünder eines neuen Lebens. Dieses offenbart einen Forderungskatalog, der hier nur in Stichworten wiedergegeben werden kann: 1. Selbsttätigkeit oder Bekenntnis zum Aktivismus 2. Gestaltung des Lebens oder das Lebenswerk 3. Arbeit in der Kulturarbeit oder Überschreitung von Welt (auch: Er­ neuerung von Religion) 4. Potenzierung des Daseins oder neuer Lebenstypus 5. Vertiefung der Wirklichkeit oder Konzentration des Lebens Das alles war lebensweltlich anschlussfähig, auch wenn uns das merk­ würdig erscheint. In Deutschland gründete sich in Thüringen der Eucken-Bund, der eine eigene Schriftreihe (Schriften aus dem EuckenKreis) herausgab, in New York wurde eine Eucken Assoziation und in Gettysburg ein Eucken Club gegründet.12 In seiner äußerst populären Schrift Der Sinn und Wert des Lebens (in erster Auflage 1908 im Jahr der Nobelpreisverleihung erschienen13), die in viele Sprache übersetzt wurde, wird der Mantel akademischer Gelehrsamkeit gänzlich abge­ legt und der Übergang zum „literarischen Prophetentum“ (Barbara Beßlich14) vollzogen. 9 Vgl. die Beiträge in G. Hübinger, R. vom Bruch, F. W. Graf (Hrsg.), Kultur und Kul­ turwissenschaften um 1900, Bd. 2., Stuttgart 1997. 10 R. Eucken, Grundlinien einer neuen Lebensanschauung, Leipzig 1907, S. 187. 11 R. Eucken, Grundlinien einer neuen Lebensanschauung, Leipzig 1907, S. 198. 12 Vgl. P. Hoeres, Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn u.a. 2004, S. 214 und die dort zitierte Literatur. 13 R. Eucken, Der Sinn und Wert des Lebens, Leipzig 1913. 14 Vgl. B. Beßlich, Wege in den „Kulturkrieg“. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914, Darmstadt 2000, S. 83.

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Der Gegensatz von älterer und neuerer Lebensordnung wird vor­ gestellt und das Motiv der Zerrissenheit des modernen Menschen stra­ paziert. Jetzt geht es Eucken darum, die Vorzüge einer realistischen Lebensanschauung, die auf die sichtbare Welt vertraut, die Außenseite des Lebens in Funktionseinheiten aufteilt und eine Technisierung der Lebenswelt fördert, nicht in Frage zu stellen, sondern ihre fehlende Mitte aufzuzeigen. Der „gewaltige Strom der Tatsächlichkeit“15 soll nicht bestritten werden, sondern ein Ziel der Lebensführung ein­ geklagt werden. Dafür ist es notwendig zu erkennen, dass auch die moderne, technisierte Lebenswelt nicht in Kontinuität mit der Natur steht. Wir wählen Mittel der Lebensbewältigung, die wir nicht in der Natur vorfinden. Dieser bereits vollzogene „Bruch mit der Natur“16 verlangt eine angemessene geistige Form. Eucken fordert eine Wandlung des Bewusstseins und der Haltung zur Welt, die sich nicht im Umgang mit der Außenwelt verliert, sondern ein „Selbstleben“17 oder „Beisichselbstsein“18 ermöglicht. Dazu gehört es, die Deutungshoheit über den Lebensbegriff wiederzugewinnen. Leben ist, so Eucken, kein bloßes Entwicklungsgeschehen oder Steige­ rung innerhalb der Natur. Leben, richtig verstanden, meint Bruch mit dem Leben, Diskontinuität. Aber auch nicht bloße Diskontinuität von Natur und Geist, denn so könnten wir von einer dramatischen Steige­ rung der Antagonismen und, wie bei Simmel, von einer tiefen Aporie des Kulturlebens sprechen. Nein, Eucken sieht hinter den Gegensätzen der Außenwelt und der ihnen korrespondierenden Zerrissenheit des menschlichen Gemüts eine Identität gewahrt, die er mit der Totali­ tät des Lebens anspricht. Wie bei Hegel der Idee eine Dynamik ihrer Entfaltung inhärent ist, so bei Eucken dem Leben. Dementsprechend preist Eucken den Vorzug seiner Studie mit folgenden Worten: „wir suchten das Leben bei sich selbst zu fassen und aus sich selbst zu ver­ stehen, wir verfolgten es in seine eigne Bewegung, erkannten in ihm Zusammenhänge, Verwicklungen und Überwindungen, und gelangten damit schließlich zu einem Gesamtbilde, das zugleich eine Aufklärung über den Sinn und Wert des Ganzen bringt.“19

15 16 17 18 19

R. Eucken, Der Sinn und Wert des Lebens, S. 29. R. Eucken, Der Sinn und Wert des Lebens, S. 59. R. Eucken, Der Sinn und Wert des Lebens, S. 65. R. Eucken, Der Sinn und Wert des Lebens, S. 66. R. Eucken, Der Sinn und Wert des Lebens, S. 132.

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Das zu verstehen, also zugleich eine Wendung zu einem Erfassen der Welt von innen her und auf ein Erleben im Ganzen zu vollziehen, das meint „Geistesleben“ und bezeichnet den Kerngedanken des Euc­ kenschen „Neoidealismus“.20 Im Terminus „Geistesleben“ verdichten sich bei ihm die Aufgaben der Gegenwart. Zu ihnen gehören:21 1. Eine Anthropologie des ganzen Menschen: Aufhebung der Ent­ fremdung. 2. Eine Hermeneutik des Lebens: Aufhebung des Mensch-Welt-Ge­ gensatzes. „Verstand man früher die Welt vom Menschen her so heißt es jetzt den Menschen von der Welt her verstehen.“ 3. Eine Form des Beisichselbstseins: die Aufhebung der Subjekt-Ob­ jekt-Spaltung. 4. Eine Form der Lebensbejahung zwischen „flachfröhlichem Opti­ mismus“ und Pessimismus. Im Blick auf die bekannte, schon das 19. Jahrhundert seit dem Ma­ terialismus-Streit durchziehende Frage, ob Geist nur eine graduelle Fortführung von Natur ist oder etwas wesenhaft anderes, bleibt Euc­ ken merkwürdig unbestimmt. Einerseits vertritt er eine bottom upTheorie, wenn er erörtert, dass im Menschen eine große Wendung der Wirklichkeit einsetzt und dieser zu einer „neuen Art des Lebens“ getrieben wird. Dementsprechend kann seine Theorie durchaus „[…] den engen Zusammenhang des Menschen mit der Natur vollauf aner­ kennen, das langsame Werden von tierischen Anfängen her, auch das Beharren elementarer Naturkräfte und Naturtriebe inmitten hochge­ bildeter Kultur; unser Leben enthält in Wahrheit weit mehr Bindung und bloße Tatsächlichkeit, auch in unsere Seele reicht weit mehr Natur hinein, als die herkömmliche Meinung annahm; […]. Aber alles mit­ einander zwingt mich nicht im mindesten dazu, die Überlegenheit des Geisteslebens aufzugeben.“22 Das ist vage und hat Appellcharakter. Über das neue Leben erfah­ ren wir nur, dass es eine Gemeinsamkeit unserer divergierenden In­

20 Vgl. F. W. Graf, „Die Positivität des Geistigen. Rudolf Euckens Programm neoidea­ listischer Universalintegration“, in: G. Hübinger et al. (Hrsg.): Kultur und Kultur­ wissenschaften um 1900, Bd. 2., S. 53-85. 21 R. Eucken, Der Sinn und Wert des Lebens, S. 165-173. 22 R. Eucken, Der Sinn und Wert des Lebens, S. 174-175.

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teressen, eine Einheit unserer vielfältigen Ausdrucksformen und eine Richtung unserer Lebensführung beinhalten wird. Ein weiterer Verzauberungskünstler des frühen 20. Jahrhunderts, einer der Virtuosen an der Grenze von Wissenschaft, Kunst, Philoso­ phie und Theologie, war zweifelsohne Max Scheler. Scheler kann als Vollender der lebensphilosophischen Denkrichtung angesehen wer­ den. In einer kleinen Abhandlung mit dem Titel Versuche einer Phi­ losophie des Lebens (1914) resümiert Scheler diese Denkrichtung von Nietzsche bis Bergson und legt ihre Stärken und Schwächen frei. Auch für Scheler ist die Lebensphilosophie vor allem eine Gegenbewegung zum Darwinismus in der Zeit um 1900. So zeigt Scheler, dass die Le­ bensphilosophie von Nietzsche bis Bergson nur ein erster Schritt in die richtige Richtung war, deren nächster Schritt aber impliziert, dass jedes Fragen nach dem Leben notwendigerweise aus einer deskriptiven in eine normative Perspektive führt. Der Grund liegt darin, dass wir als Menschen nach einer angemes­ senen Beschreibung des Lebens suchen und darüber hinaus, weil wir nicht nur explanans (Forschender), sondern auch explanandum (For­ schungsgegenstand) sind, uns nicht in einer neutralen Beobachterper­ spektive befinden, sondern involviert sind. Anders gesagt: Wer nach dem Leben fragt, der fragt nach der Stellung des Menschen im Leben. In seiner wegweisenden Abhandlung Zur Idee des Menschen aus dem Jahr 1914 unterstreicht Scheler denn auch, dass sich „alle zentra­ len Probleme der Philosophie [und er schließt damit die Wissenschaf­ ten ein] auf die Frage zurückführen [lassen], was der Mensch sei und welche metaphysische Stelle und Lage er innerhalb des Ganzen des Seins, der Welt und Gott einnehme.“23 Wird die Frage nach dem Leben (des Seins, der Welt) in radikaler Weise auf den Fragesteller selbst zurückgeworfen, dann kommt damit eine Doppeldeutigkeit sowohl im Begriff des Menschen als auch im Begriff des Lebens zum Ausdruck, die nicht mehr auflösbar erscheint. Einerseits ist der Mensch Teil der natürlichen Entwicklungsgeschichte allen Lebens (also explanandum der Lebenswissenschaften), anderer­ seits ist er zugleich das einzige Wesen, das als Fragender (explanans) die natürlichen Grenzen des Lebens überschreitet. Der Mensch ist das, wie Scheler sagt, „sich selbst transzendierende Wesen“. Aus der Dop­ peldeutigkeit wird des Weiteren eine Vieldeutigkeit, insofern die Rede 23 M. Scheler, „Zur Idee des Menschen“, in: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, Bern 1955, S. 173-195; hier: S. 173.

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über das Leben und den Menschen in einen geschichtlichen Horizont einrückt. Damit ist gemeint, dass sich die materialen Befunde in der Forschung ständig verändern, dass aber auch unsere Perspektiven auf die Gegenstandsbereiche unendlich variieren können. Nach Scheler gehört damit – nur scheinbar paradoxerweise – „die Undefinierbar­ keit […] zum Wesen des Menschen. Er ist nur ein ‚Zwischen‘, eine ‚Grenze‘, ein ‚Übergang‘, ein ‚Gotterscheinen‘ im Strome des Lebens und ein ewiges ‚Hinaus‘ des Lebens über sich selbst.“24 Auf diese Weise wird eine strukturelle Ambivalenz (deskriptiv, normativ) und semantische Vieldeutigkeit in den Lebensbegriff einge­ schrieben, die noch einmal verständlich macht, warum heute die Fra­ ge „Was ist Leben?“ oder, vorsichtiger formuliert, „Was meinen wir, wenn wir vom Leben handeln?“ im Zentrum einer Debatte steht, an der verschiedene Wissensdisziplinen beteiligt sind. Es ist eine bleiben­ de Aufgabe, sich vom exzessiven Wortgebrauch „Leben“ nicht bezau­ bern zu lassen, sondern seine semantische Vieldeutigkeit zu erkennen und als Chance zu begreifen.

3. Ein integrativer Gebrauch des Lebensbegriffs, der dessen deskriptive und normative Aspekte in Spannung hält Weder Eucken noch Scheler bieten uns eine Einsicht in die strukturelle Ambivalenz des Lebensbegriffs. Weil es Scheler um die Rehabilitie­ rung der Philosophie als Einheitswissenschaft geht, ist er kein guter Gewährsmann für unsere Überlegungen zu einem integrativen Le­ bensbegriff, der ja – wie bereits eingangs erwähnt – die Gleichberechti­ gung eines deskriptiven und normativen Zugangs zum Phänomenbe­ reich „Leben“ voraussetzt und damit echte Inter-Disziplinarität – glei­ che Augenhöhe der beteiligten Disziplinen – fordert. Zur Absicherung meiner These möchte ich wiederum zwei Den­ ker – und damit zwei Argumentationsstrategien – zu Wort kommen lassen, die dem Bereich einer von mir favorisierten philosophischen und zugleich interdisziplinären Anthropologie zuzurechnen sind. Ge­ meint sind die Philosophen Helmuth Plessner und Hans Jonas.

24 M. Scheler, „Zur Idee des Menschen“, S. 186.

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3. 1. Helmuth Plessner über die Kategorien des Lebens Nach Plessners Auffassung bleibt von der Lebensphilosophie als einer Gegenbewegung zum Naturalismus nur die Feststellung, dass allein unsere Intuitionen – beispielsweise: Schelers Rede von der Selbsttran­ szendenz des Lebens – die unheilvolle Allianz einer mechanischen Naturentwicklung und der ihr korrespondierenden, weil sich in ihr formierenden, Herrschaft eines mechanisch operierenden Verstandes durchbrechen. Diese Verkettung von Forschungsprogramm und Er­ kenntnisinteresse zu einem ideologischen Gefüge kann nach Maßgabe der Lebensphilosophie nur zerschlagen werden, wenn wir außerhalb der Praxis in den Wissenschaften die Intuition einer Ganzheit des Le­ bens wagen. Plessner spricht dieser Denkrichtung jedoch ein belast­ bares und konstruktives Moment ab. Wer dem Denken den Mut und der wissenschaftlichen Erkenntnis ihren Wert nimmt, und in einem Anti-Szientismus verharrt, der gerät in eine Sackgasse und verschärft nur eine Konstellation, die bereits der Philosoph Hegel als Entzweiung unserer Lebenswirklichkeit diagnostiziert hat. Die Lebensphilosophie scheitert demnach, so Plessner, an einer Problemstellung, die sie zwar richtig aufspießt, vor deren Ernst als einer Aufgabe für die Philosophie und die Wissenschaften zugleich sie aber zurückweicht. Eine angemessene Problemstellung beinhaltet, die Forschungser­ gebnisse der empirischen Wissenschaften aufzunehmen und den Ver­ such zu unternehmen, uns auf ihrer Basis ein kategoriales Verständnis unserer Lebenswirklichkeit zu erarbeiten. In anderen Worten: Die Le­ benswissenschaften liefern Merkmale für eine Bestimmung des Le­ bens; die philosophische Reflexion geht auf dieser Grundlage der Fra­ ge nach, was in der Beschreibung empirischer Datensätze, die in den Modi der Selbstbewegung, Selbsterhaltung und Selbstorganisation vollzogen wird, das zur Sprache kommende „Selbst“ ist. Erfragt wird hier ein Moment von Reflexivität, das in den elementaren Strukturen des Lebens vermutet wird (weil es nicht vom Himmel gefallen sein kann). Das Ziel ist es, einen Dualismus von Materie und Geist zu un­ terlaufen und, wie Plessner sagt, den Menschen im Gesichtskreis des Lebens verstehen zu wollen. Das ist das Programm eines „kritischen Monismus“.25 25 Vgl. G. Hartung, „Critical Monism. Ernst Cassirers sprachtheoretische Grundlegung der Kulturphilosophie“, in: B. Recki (Hrsg.), Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert, Hamburg 2012, S. 359-376.

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Aus der unüberschaubaren Fülle der Definitionen des Lebens und der Lebendigkeit werden von Plessner zwei exemplarisch herausge­ griffen.26 Das ist zum einen Wilhelm Roux’ funktionale Definition des Lebens, der gemäß die Elementarfunktionen des lebendigen Körpers Selbsterhaltung, Selbstregulation, Selbstveränderung, Selbstausschei­ dung, Selbstaufnahme, Selbstassimilation, Selbstwachstum, Selbstbe­ wegung, Selbstvermehrung usw. sind.27 Albert Meyer nennt die Kri­ terien der Ernährung, Vermehrung, Entwicklung, Vererbung, Wachs­ tum, Reizbarkeit, Regulation, Bewegung und Struktur.28 Schon auf den ersten Blick wird ersichtlich, dass wir es hier nicht mit Definitionen des Lebens zu tun haben, sondern lediglich mit einer Beschreibung des weiten Phänomenbereichs lebendiger Körper. Plessner sieht in diesem Zusammenhang als eine besondere Leistung seines Lehrers Driesch an, einen einheitlichen Gesichtspunkt gesucht zu haben. Sein Prinzip der „Entelechie“ als Ordnungsprinzip lebendiger Körper hat allerdings, so Plessner, den entscheidenden Nachteil, dass seine Verbindung zu den deskriptiv-phänomenalen Befunden ungeklärt bleibt.29 Plessner geht einen neuen Weg, um ein einheitliches Prinzip des Lebens zu konstruieren, das die differenten Modale der Lebendigkeit integriert, wie sie von Roux und Meyer summarisch erfasst werden. Der erste Schritt hierfür liegt in der Einsicht in die Notwendigkeit der verschiedenen Modale in der Erscheinung des lebendigen Körpers. Das heißt, sie werden als kategoriale Bestimmungen des Lebens anerkannt, wobei ihr kategorialer Charakter am Anfang der Analyse nur hypo­ thetisch gefasst werden kann. Plessner vermerkt, dass die Erforschung des Phänomenbereichs des Lebendigen und der Kategorien des Lebens noch in den Anfängen steckt, und er vergleicht bezeichnenderweise „den gegenwärtigen Zustand der Lehre von den Wesensmerkmalen des Lebens mit dem der Kategorien vor Kant.“30 26 Vgl. darüber hinaus G. Toepfer, „Der Begriff des Lebens“, in: U. Krohs u. G. Toepfer (Hrsg), Philosophie der Biologie. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 2005, S. 157-174. 27 W. Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmäßigkeitslehre, Leipzig 1881. 28 A. Meyer, Logik der Morphologie im Rahmen einer gesamten Logik der Biologie, Berlin 1926. 29 H. Driesch, Die Philosophie des Organischen (Gifford-Vorlesungen, gehalten an der Universität Aberdeen in den Jahren 1907–1908), Leipzig 1921, S. 400-415: Die Kennzeichen der Entelechie. 30 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philo­ sophische Anthropologie, Berlin, New York 1975, S. 113; vgl. dazu aber auch H. Driesch, Die Philosophie des Organischen, S. 536-542, der mit Kant und über

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Der Hinweis auf Kant ist entscheidend. Dieser hat gegen Aristote­ les, dessen Kategorienlehre über die Jahrhunderte hinweg den Stan­ dard philosophischer Forschung begründete, den Vorwurf erhoben, Analyse der Phänomene und Ausweis von Prinzipien nicht deutlich unterschieden zu haben. „Man sieht nicht, woher sie [die Kategorien] kommen und wohin sie gehen. Daher ist es geschehn, dass Kant sie für ‚aufgerafft‘ und Hegel für eine blosse ‚Sammlung‘ ansah“.31 Kant hat die Kategorien als Urteilsformen einerseits an den Prozess der Er­ fahrung und der Verarbeitung von Erfahrungsdaten geknüpft – und damit einen Rückgriff auf metaphysische Prinzipien, wie z. B. die En­ telechie – zurückgewiesen, und er hat andererseits kategoriales Den­ ken paradigmatisch auf das Newtonsche Modell mechanisch-kausaler Naturwissenschaft beschränkt. Plessners Stellung zu Kant ist ambivalent. Zum einen dürfen wir nicht vor Kant zurückgehen – die Wesensmerkmale des Lebendigen aus irgendeinem Lebensbegriff deduzieren – noch bei Kant stehen bleiben – nur das als Wesensmerkmal des Lebendigen gelten lassen, was die Biologie ihrem mechanisch-kausalen Selbstverständnis ge­ mäß als „Kategorien“ ihrer empirischen Arbeit ausprägt –, sondern wir müssen die Kategorien des Lebendigen in phänomenologisch-de­ skriptiver Weise beschreiben und sie dann in Relation zu den Katego­ rien der empirischen setzen. Während die Empiriker in der Biologie an empirischen Merkmalen festhalten, wie z. B. Stoffwechsel, Vererbung usw., muss in einer philosophischen Biologie nach dem ‚Wesen‘ dieser Merkmale gefragt werden. Es ist die vorrangige Aufgabe einer philosophischen Analyse, bei der Sichtung der Forschungsergebnisse in den empirischen Wissen­ schaften zwischen Begriffen und Kategorien zu unterscheiden. „Unter Kategorien verstand ein sogenannter Neukantianismus, der bei den Empirikern populär geworden ist, Denkformen, Urteilsweisen, typi­ sche Begriffe. „[… Dagegen:] Kategorien sind keine Begriffe, sondern ermöglichen sie, weil sie Formen der Übereinstimmung zwischen heterogenen Sphären, sowohl zwischen Denken und Anschauen wie zwischen Subjekt und Objekt, bedeuten.“32 Weder transzendentalphi­ diesen hinaus das Ziel verfolgt, Kategorien des Lebendigen zu deduzieren, so z. B. ‚Ganzheit‘, die für die Naturphilosophie konstitutiven Charakter haben. 31 Vgl. F. A. Trendelenburg, Geschichte der Kategorienlehre (= Historische Beiträge zur Philosophie. Bd. 1), Berlin 1846 (ND Hildesheim, New York 1979), S. 10. 32 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 116-117.

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losophisch noch auf dem Weg bloß empirischer Analyse kann festge­ legt werden, ob die von der empirischen Forschung fixierten Phäno­ mengruppen, wie z. B. Stoffwechsel, Entwicklung usw., aposteriorische oder apriorische Bestimmtheit haben. Die Aufgabe, der sich Philoso­ phie und Wissenschaften gemeinsam stellen müssen, ist es, herauszu­ finden, was an den jeweils bestimmten Phänomenen der kategoriale Anteil ist. In diesem Zusammenhang aber treten die Probleme massiv auf. Plessner formuliert die paradoxe Einsicht, dass der allgemeine Lebens­ prozess in der organischen Sphäre eine Lebensform schafft, vorberei­ tet oder bloß ermöglicht, die in Distanz zu diesem Prozess tritt. Ein philosophisches Befragen der empirischen Daten in den Lebenswis­ senschaften zielt auf das große Rätsel, das die Geschichte des Lebens selbst uns aufgibt: Gemeint ist die Tatsache einer Kluft zwischen Leben und Erleben. Das Konzept eines integrativen Lebensbegriffs steht vor der Aufgabe, in der Analyse der empirischen Daten die verschiedenen Komplexitätsstrukturen organischen Lebens, also die „Stufen der or­ ganischen Welt“ (so der erste Teil des Titels von Plessners Hauptwerk) zu markieren und weitergehend das Aufbrechen der Differenz im Le­ ben selbst – Leben, das sich in seinem Lebensvollzug selbst erlebt – zu begreifen. Plessner weiß um die Schwierigkeit, vielleicht sogar Unlösbarkeit dieser Aufgabe. Dubois-Reymonds „Ignorabimus“, dieser berühm­ te Ausdruck wissenschaftstheoretischer Demut, klingt bei ihm nach. Sein letztes Wort in dieser Sache lautet demzufolge: Der Mensch ragt aus dem Lebensprozess, der ihn trägt, heraus. „Leben birgt Existenz“ – aber offenbart sich in der Existenz des Menschen das Rätsel des Le­ bens? Skepsis ist hier angebracht. 3.2. Hans Jonas über das Prinzip Leben Jonas’ Philosophische Biologie setzt beim „Prinzip Leben“ an. Dieser, für einen an den dargestellten Debatten zum Lebensbegriff geschul­ ten Leser des späten 20. Jahrhunderts und unserer Tage, verblüffende Einsatzpunkt erklärt sich allerdings im Blick auf Jonas’ theoretische Prämissen. Der „philosophische“ Denkansatz in der Biologie steht und fällt mit der Plausibilität seiner These, dass das Freiheitsprinzip bereits auf der Ebene der Individuation des Lebens im Organismus anzutref­ fen ist. Bei dieser Beweisführung muss er vermeiden, was seit Kants

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Kritik an Herders Bestimmung organischer Kräfte ein gewichtiger Punkt ist: Es gilt, die Betrachtung der Natur von anthropomorphen Zügen freizuhalten, denn eine Vermenschlichung der Natur kommt einem Rückfall in mythisches Denken gleich.33 Der Ausgangspunkt bei Jonas ist eine Theorie des Organismus, in dem sich das Leben objektiviert und individuiert. Der Übergang von der anorganischen zur organischen Seinsstufe ist markiert durch den Stoffwechsel als ein neuartiges Verhältnis des Seienden. Der Stoff­ wechsel kommt einem Vermögen des Organismus und Anzeichen sei­ ner Bedürftigkeit gleich.34 Der organische Prozess des Stoffwechsels ist gekennzeichnet durch ein Abstandnehmen des Organismus von seiner Umwelt, in die er nicht – wie Materie unter Materie – eingefügt ist, sondern der er als aufnehmende, verbrauchende, sich selbst verbrau­ chende und regulierende Einheit und Ganzheit gegenübersteht. Der Stoffwechsel setzt eine Grenze des Organismus voraus und damit eine erste Unterscheidung von „Innen“ und „Außen“. Was hier als blo­ ße Deskription erscheint, wird von Jonas emphatisch ergänzt durch die Rede vom „ursprünglichen Wagnis der Freiheit“ in der Struktur des Organismus. Von diesem Punkt aus schreitet die Philosophische Biologie voran und vermisst die Stufung natürlicher Vermögen, die dem Organismus Begegnung mit Welt ermöglichen: Neben dem Stoff­ wechsel werden die Empfindung, die Bewegung, der Affekt, die Wahr­ nehmung, die Einbildungskraft und der Geist genannt.35 Wohlgemerkt, es handelt sich um ein Kontinuum des Lebens in seiner Objektivationsform „Organismus“, unter Berücksichtigung der zunehmenden Objektivation der Organismus-Umwelt-Beziehung. Eine Pointe bei Jonas ist die strikte Ablehnung der cartesianischen Unterscheidung: Im Organismus sind denkendes und ausgedehntes Sein strikt aufeinander bezogen, ihre Separation ist ein künstliches Konstrukt. Selbst wenn dieses Beisammensein im Organismus auch für uns heute noch ein Rätsel ist, so steht doch außer Zweifel, dass der Organismus die Überbrückung dieser Differenz und die Einheit von Materiellem (res extensa) und Immateriellem (res cogitans) ist. Als Koinzidenz von Innerlichkeit und Äußerlichkeit ist er „ein Stück 33 G. Hartung, Das Maß des Menschen – Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2003, S. 164-175. 34 H. Jonas, Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt a. M. 1994, S. 19. 35 H. Jonas, Das Prinzip Leben, S. 21.

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Welt“, wahrscheinlich das zentrale Stück in der Ordnung des Seins.36 Gleichwohl stehen wir vor einem Rätsel der Ontologie. „Der lebendige und sterben könnende, Welt habende und selber als Stück zur Welt gehörige, fühlbare und fühlende Körper, dessen äußere Form Organis­ mus und Kausalität und dessen innere Form Selbstsein und Finalität ist – er ist das Memento der immer noch ungelösten Frage der Onto­ logie, was das Sein ist […].“37 Wir wissen aber, so Jonas, dass wir nur von diesem Punkt aus die Lösung des ontologischen Rätsels in Angriff nehmen können. Der Weg, den uns die Frage nach dem Sein eröffnet, führt über die Analyse des Lebendigseins eines Organismus, der wir Menschen sind – und nicht über die Frage nach dem Sinn von Sein (Heidegger) oder nach dem Seienden als solchem (Hartmann) in ihrer jeweiligen Allgemeinheit und Neutralität. Jonas’ Philosophische Biologie ist jedoch nicht nur eine Theorie des Organismus als ausgezeichnetem Seinsbereich, sondern auch und vor allem eine Theorie des Organismus-Umwelt-Verhältnisses. Die Be­ stimmung des Organismus unter dem genannten Aspekt der Bedürf­ tigkeit setzt ihn in ein eigenartiges Verhältnis zur Außenwelt. Diese ist für den Organismus nicht einfach „Außenwelt“, auch nicht „Welt“ in einem abstrakten Sinn, sondern seine „Umwelt“. Die Konjunktur des Entwicklungsgedankens seit dem 19. Jahrhundert führt nach Jo­ nas’ Ansicht dazu, die Konstitution des Organismus von seiner Be­ dingtheit her zu erfassen; diese wird in Gestalt der „Umwelt“ ein not­ wendiges Korrelat zum Begriff des Organismus. Diese „konstitutive Funktion der Umwelt haben der Lamarckismus und der Darwinismus gemeinsam.“38 In einer Philosophischen Biologie, die die evolutionsgeschichtliche Hypothese („Modification through natural selection“39) ernst nimmt, wird der Begriff „Leben“ nicht mehr über die Vorstellung einer Vi­ talseele oder einer Lebenskraft als Leistung einer autonomen Natur verstanden, sondern von der „Organismus-Umwelt-Situation“ her in den Blick genommen. Die „formative Rolle der Umwelt“ für den Or­ ganismus ist, so betont Jonas, unbezweifelbar.40

36 37 38 39 40

H. Jonas, Das Prinzip Leben, S. 30. H. Jonas, Das Prinzip Leben, S. 39. H. Jonas, Das Prinzip Leben, S. 84-85. G. Hartung, Das Maß des Menschen, S. 36-46. H. Jonas, Das Prinzip Leben, S. 85.

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Jonas geht an dieser Stelle ins Detail: Der Organismus zeichnet sich dadurch aus, dass er in einem Verhältnis bedürftiger Freiheit zum Stoff steht. Aus dieser Ambivalenz resultiert die Notwendigkeit einer aktiven Selbstintegration des Lebens.41 Das neue Element der Freiheit auf der Stufe organischen Lebens ist die Form. „Ontologisch ausge­ drückt: In der organischen Konfiguration hört das stoffliche Element auf, die Substanz zu sein (die es in seiner eigenen Ebene weiterhin ist), und ist nur mehr Substrat.“42 Im Organismus kommt zum Kontinuum der Lebensentwicklung der Aspekt der „Selbstfortsetzung“ hinzu. Mit der Einführung des „Selbst“ in eine der elementaren Einheitsstruk­ turen des Lebens tritt die Polarität von Selbst und Welt, von Innen und Außen hervor. Die Selbstheit des Organismus ist ein Sonderfall; sie markiert die „radikale Einzelheit und Heterogenität inmitten eines Universums homogen wechselbezogener Seiender.“43 Genau hier haben wir den Keim der Freiheit, die sich in den aufstei­ genden Stufen organischer Entwicklung entfalten wird. Und wir sehen die Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit in ihrer elementarsten Struktur, insofern der Stoffwechsel als Tätigkeit des Organismus in einer Welt lebloser Materie durchaus ein exklusives Vermögen deut­ lich macht, das zugleich Indiz seiner Angewiesenheit auf eine Umwelt markiert. Das „Selbst“ des Organismus realisiert sich nur als Teil einer Umwelt, in die hinein er sich integriert. „Bedürftig an die Welt gewiesen, ist es [das Leben] ihr zugewandt; zugewandt (offen gegen sie) ist es auf sie bezogen; auf sie bezogen ist es bereit für Begegnung; begegnungsbereit ist es fähig der Erfahrung; in der tätigen Selbstbesorgung seines Seins, primär in der Selbsttäti­ gung der Stoffzufuhr, stiftet es von sich aus ständig Begegnung, aktua­ lisiert es die Möglichkeit der Erfahrung; erfahrend ‚hat‘ es ‚Welt‘. So ist die ‚Welt‘ da vom ersten Beginn, und die grundsätzliche Bedingung der Erfahrung: ein Horizont, aufgetan durch die bloße Transzendenz des Mangels, der die Abgeschlossenheit innerer Identität in einen kor­ relativen Umkreis vitaler Beziehung ausweitet.“44 41 H. Jonas, Das Prinzip Leben, S. 150. 42 H. Jonas, Das Prinzip Leben, S. 151. Und weiter: „Der Organismus ist immer, d. h. jeweils, die Form einer bestimmten Mannigfaltigkeit von Stoff.“ 43 H. Jonas, Das Prinzip Leben, S. 155. 44 H. Jonas, Das Prinzip Leben, S. 159. Und S. 160: „M. a. W., die Selbsttranszendierung des Lebens in die Richtung auf Welt, die in der Sinnlichkeit zum Gegenwärtighaben einer Welt führt, entspringt mit all ihrem Versprechen höherer und umfassende­ rer Stufen der primären Antinomie der Freiheit und Notwendigkeit, die im Sein

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Gerald Hartung

Die Bedürftigkeit des Organismus, die sich im stoffwechselnden Verhältnis zu seiner Umwelt zeigt, ist die elementare Struktur der Weltoffenheit. Von der Bedürftigkeit ausgehend, und diese wie auch den Abstand zur Umwelt steigernd, eröffnet der Organismus dem „Selbst“, das er ist, auf höheren Stufen der Entwicklung zu komple­ xeren organischen Gefügen eine immer weitere Welt. Das Leben ob­ jektiviert sich im Organismus und transzendiert diesen in drei Aspek­ ten, wie Jonas hervorhebt. Neben die Transzendenz der Bedürftigkeit treten die Dimension der Innerlichkeit und der Horizont der Zeit als Zukunft. Bereits in der Sphäre des Organischen ist die Zukunft der dominante Zeithorizont, denn hier „ist das Leben immer auch schon, was es sein wird und gerade sich anschickt zu werden.“45 Struktur und Horizont der Bedürftigkeit des Organismus eröff­ nen ihm eine Umwelt und bestimmen seine korrelative Offenheit zur Umwelt. Mit dieser Überlegung findet Jonas’ Philosophische Biologie im Organischen einen bemerkenswerten Ausgangspunkt: das Orga­ nische Gefüge ist die erste Stufe der Abstandnahme des Lebens von der Welt bei gleichzeitiger Bezogenheit auf Welt. In der begrifflichen Fassung der „Umwelt“ ist beides zusammengedacht. Eine Umwelt ist keine Welt im abstrakten Sinne, sondern immer nur die Umwelt des jeweiligen Organismus, der sich in ihr – durch eine besondere Weise der Abstandnahme und des Bezogenseins – individuiert.

4. Zusammenfassung Wir haben bei Plessner und Jonas gesehen, wie die Bemühungen um eine Integration empirischer Forschung und deskriptiver Begriffsana­ lyse mit einem ausgewiesenen Maß an Normativität verlaufen kön­ nen. Dass auch die Philosophische Biologie im Kern eine Anthropo­ des Organismus als solchen wurzelt.“ Vgl. Hartmann, Philosophie der Natur, S. 527-528: „Man kann dieses ganze Verhältnis auch so ausdrücken: das Leben des Individuums geht in der sichtbaren Gestalt des Organismus nicht auf; der Organismus ist eben nicht das in seiner Epidermis eingeschlossene, sondern von Anbeginn das über sich hinausreichende und in seine reale Umwelt hineingespannte Wesen. Die Gegenglieder der Relationen, die seine Lebendigkeit ausmachen, liegen jenseits seiner Körpergrenze. Kurz, das organische Gefüge ist das in seinen inneren Wesensfunktionen stets zugleich außer sich seiende Wesen.“ 45 H. Jonas, Das Prinzip Leben, S. 159-163; hier: S. 163.

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logie ist, liegt daran, dass erst im Menschen der Prozess des Lebens auf das Niveau seiner Selbstdeutung kommt – und daher erst retro­ spektiv die Leistungen der Elementarfunktionen des lebendigen Kör­ pers (Pless­ner) oder der Organismus-Umwelt-Verschränkung (Jonas) erfassen kann. Auf diese Weise vermeiden beide Denker einen meta­ phorischen und zutiefst unklaren Gebrauch des Lebensbegriffs und gehen zurück auf die Phänomene und auf kategoriale Bestimmungen für eine angemessene Beschreibung der Phänomene. Das ist ein me­ thodologischer Kerngedanke einer Interdisziplinären Anthropologie, die zwischen den einseitig normativ und deskriptivorientierten For­ schungsrichtungen einen Vermittlungsweg auslotet. Mein Fazit lautet: Die Aufgabe, vor der wir angesichts der Frage stehen, in welcher Weise und zu welchem Zweck wir den Begriff des Lebens im alltäglichen Sprachgebrauch und in den Wissenschafts­ sprachen verwenden (sollten), hat ein Janushaupt, das der in unserem Gebrauch des Lebensbegriffs offensichtlichen Doppeldeutigkeit ent­ spricht. Einerseits muss es uns um eine Integration der sinnverste­ henden Perspektive in die Beschreibungssprache der Wissenschaften gehen, so dass einerseits klar wird: Immer wenn wir vom „Leben“ han­ deln, wir auch Teil des Zusammenhangs sind; nicht nur explanandum, sondern auch explanans. Andererseits muss unsere Reflexion über das Leben, das wir sind und das unsere Existenzweise auf rätselhafte Weise „birgt“, mit der in den Wissenschaften voranschreitenden Objektivati­ on im Phänomenbereich des Lebens verknüpft werden. Nur eine Inter­ disziplinäre Anthropologie, deren Arbeit am Phänomen ausgerichtet ist und sich nicht in abstrakte Begriffsbildungen verliert, kann meines Erachtens dieser Aufgabe gerecht werden. Wer weiterhin von einer Konstellation „Geisteswissenschaften versus Lebenswissenschaften“ spricht, der hat nicht verstanden, vor welchen Aufgaben wir heute stehen. Wir benötigen einen komple­ mentären Zugang zu den Grundlagenthemen unserer Zeit. Wie wir Menschen uns „im Horizont des Lebens“ verstehen und welche Kon­ sequenzen wir daraus für unseren Alltag (als ethisch Handelnde, als Konsumenten), in der Politik (als Entscheider über Anfang und Ende des Lebens, über den Schutz des Lebens) und in der Wissenschaft (als Forscherinnen und Forscher an den Grenzen des natürlichen und künstlichen Lebens) ziehen, das wird entscheidend sein für unsere Zu­ kunftsfähigkeit als Menschheit.

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II. Komplexität

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Klaus Mainzer

Die Wissenschaften vom Künstlichen und Komplexen: Synthetische Biologie als Technikwissenschaft des 21. Jahrhunderts

1. Technikwissenschaft im 21. Jahrhundert Die Bezeichnung „Die Wissenschaften vom Künstlichen“ geht auf einen Buchtitel des amerikanischen Nobelpreisträgers Herbert A. Simon zurück, der 1969 „The Sciences of the Artificial“ veröffentlichte. Simon, einer der bedeutendsten interdisziplinären Denker des 20. Jahrhunderts, war gleichermaßen einer der Begründer der Künstlichen Intelligenz (KI) als auch Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften mit wichtigen Beiträgen in Philosophie, Psychologie, Mathematik, Statistik und Computerwissenschaften. Geradezu prophetisch beschreibt er in seinem Buch die Zukunft der Forschung als Technikwissenschaft, die sich mit dem Künstlichen und Komplexen auseinandersetzen muss. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe von 1990 problematisiert er die Vorstellung einer „natürlichen“ Welt: „Mit der Zunahme unserer Fähigkeit, die uns umgebende Welt zu verändern, wird es gleichermaßen wichtig für uns, den Zusammenhang zwischen den natürlichen und den künstlichen Welten besser zu verstehen. Auch Weizenfelder hat es nicht zu Zeiten des ursprünglichen Naturzustands gegeben – sie sind Artefakte des Menschen. Und heute sieht es so aus, als ob auch das Klima der Erde zu einem unbeabsichtigten Ergebnis der Abhängigkeit des Menschen von fossilen Brennstoffen für die Herstellung und den Gebrauch seiner Produkte werden könnte. Es ist daher nicht genug damit getan, dass unsere Wissenschaft die Naturphänomene umfasst. Wir müssen auch ein wissenschaftliches Verständnis des Künstlichen entwickeln.“1 Eine Schlüsselrolle in den Wissenschaften vom Künstlichen nimmt der Computer ein, mit dem nicht nur gerechnet, sondern jede Art von Informationsverarbeitung symbolisch in Computerprogrammen 1

H. A. Simon, Die Wissenschaften vom Künstlichen, Berlin 1990.

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repräsentiert werden kann. Jedenfalls war das der Anspruch der von Simon mitbegründeten KI-Forschung. Grundlegend dafür war Alan M. Turings logisch-mathematisches Konzept einer universellen Re­ chenmaschine, das den Begriff der Berechenbarkeit unabhängig von technischen Entwicklungsstandards definiert. Ende der 1950er Jahre bewies John von Neumann, dass sich selbst reproduzierende Maschinen mathematisch möglich sind. Damit war das Tor zum Künstlichen Leben (KL) theoretisch aufgestoßen.2 Die darauf aufbauende Theorie der zellulären Automaten zeigte in der Computersimulation, wie sich aus einem komplexen System vieler Elemente zelluläre Muster und Strukturen selber organisieren können. Die Evolution komplexer Sys­ teme, von der Simon im Schlussteil seines Buchs spricht, wurde zunächst in den Wissenschaften vom Künstlichen simuliert. Die neu aufkommende Biochemie und Molekularbiologie inspirierte aber nicht nur Logiker und Mathematiker. Umgekehrt griffen Genetiker und Molekularbiologen wie Jacques L. Monod und Francois Jacob bereits in frühen Arbeiten Anfang der 1960er Jahre auf technische Modelle für genetische Netzwerke zurück, die der digitalen Logik bistabiler Schalter entsprachen.3 Damit war die Entwicklung zur heutigen Systembiologie eröffnet. Die durch Gene kodierten Proteine sind Zellbausteine mit Nano­ skalierung. In diesem Größenbereich traf sich biologische Forschung mit supramolekularer Chemie und Nanophysik. „Converging scien­ ces“ lautete der neue Trend zu gemeinsamen Forschungsclustern, in denen technische Modelle von „Nanomaschinen“, „Schaltern“, „Schaltplänen“ etc. eine fachübergreifende Verständigung4 erlaubten und gleichzeitig zum technischen Nachbau und zur technischen Innovation anregten. Der Computer bildet aber nicht nur Lebensvorgänge „künstlich“ in Symbolen und Mustern nach. Die Nanowelt zellulärer Bausteine erweist sich als derart komplex, dass sie ohne Unterstützung von Rechen- und Speicherkapazitäten moderner Computer nicht erschlossen werden kann. Das zeigte sich schon bei den Sequenzierungsmaschinen im Genomprojekt, umso mehr bei den komplexen genetischen Regula2 3 4

K. Mainzer, Leben als Maschine? Von der Systembiologie zur Robotik und Künst­ lichen Intelligenz, Paderborn 2010. F. Jacob, J. Monod, „Genetic regulatory mechanisms in the synthesis of proteins“, in: J. Mol. Biol. (3)/1961, S. 318-356. E. F. Keller, Making Sense of Life: Explaining Biological Development with Models, Metaphors, and Machines, Cambridge Massachusetts 2003.

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tionsnetzwerken einzelner Zellen in der Systembiologie. Die Wissenschaften vom Künstlichen bilden also die komplexe Nanowelt des Lebens nicht nur nach, sondern machen ihre Erschließung erst möglich.5 Der nächste Schritt ist dann die Konstruktion neuer künstlicher Mikroorganismen. In einem top-down Verfahren wird eine minimale Zelle („Protozelle“) erzeugt, indem schrittweise von allen Teilen und Funktionen einer Zelle abstrahiert wird, bis nur noch die minimalen Anforderungen zur Lebensfunktion erfüllt sind. In einem bottom-up Verfahren beginnt man (ähnlich wie beim Automobilbau) mit einem biophysikalischen Chassis und baut dann schrittweise Teile (Gene und Proteine) mit charakteristischen Funktionen ein. Dabei spielt die sup­ ramolekulare Chemie eine entscheidende Rolle, die bereits künstliche zellähnliche Nano-Kapseln herstellt.6 Neben minimalen Zellen geht es auch um die Herstellung kleinster möglicher Genome, die eine Zelle steuern können. Anwendungsbeispiele sind von der DNA-Synthese und der Transplantation des Bakteriums Mycoplasma genitalium bekannt. Daneben wird die Herstellung alternativer Biomoleküle angestrebt, mit denen sich eine parallele Welt des Lebens erzeugen lässt. Gemeint sind chemische Veränderungen von DNA, Polymerase, Aminosäuren und Proteinen. So könnte das genetische Alphabet durch „unnatürliche“ Basenpaare ersetzt oder erweitert werden.7 „Unnatürliche“ Nukleinsäuren könnten zu neuen Biopolymeren als Informationsträgern führen, die wiederum neuartige Eigenschaften von Organismen verursachen.8 Schließlich werden DNA-basierte Bioschaltkreise nach dem Vorbild von Computer- und Elektrotechnik realisiert. Davon wird im 3. Abschnitt nach Vorstellung der „Wissenschaft vom Künstlichen“ in der Computer- und Informationstechnologie noch ausführlich die Rede sein. 5 6

7 8

W. Banzhaf, G. Beslon, S. Christensen, J. A. Foster, F. Kepes, V. Lefort, J. F. Miller, M. Radman, J. J. Ramsden, „Guidelines: From artificial evolution to computational evolution: A research agenda“, in: Nat. Rev. Genet. (7)/2006, S. 729-735. M. Freemantle, „Artificial cells allow ion entry: porous inorganic capsules serve as model for biological ion-transport processes“, in: Chemical & Engineering News (83)/2005, S. 10; A. Müller, L. Toma, H. Bögge, C. Schäffer, A. Stammler, „Porus capsules allow pore opening and closing that results in cation uptake“, in: Angew. Chemie (117)/2005, S. 7935-7939, Int. Ed. Angew. Chem. (44)/2005, S. 7757-7761. A. M. Leconte, G. T. Hwang, S. Matsuda, P. Capek, Y. Hari, F. E. Romesberg, „Dis­ covery, characterization, and optimization of an unnatural base pair for expansion of the genetic alphabet“, in: J. Am. Chem. Soc., 130(7)/2008, S. 2336-2343. W. Liu, A. Brock, S. Chen, P. G. Schultz, „Genetic incorporation of unnatural amino acids into proteins in mammalian cells“, in: Nat. Methods (4)/2007, S. 239-244.

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Wie keine andere Schlüsseltechnologie ist die Entwicklung der Computerbranche seit einem halben Jahrhundert durch exponentielles Wachstum bestimmt. Das Mooresche Gesetz, nach dem sich alle 18 Monate die Rechenkapazität der Computer verdoppelt, hält ununterbrochen an. Die Grenzen der Miniaturisierung auf Silizium sind zwar theoretisch abschätzbar, aber technisch längst noch nicht erreicht. Seit dem Genomprojekt sind die Erfolge der Lebenswissenschaften mit diesem Wachstumsgesetz verbunden. DNA-Sequenzierungskapazität, DNA-Synthesekapazität und andere wichtige Verfahren der synthetischen Biologie zeigen ähnliche Wachstumskurven wie das Mooresche Gesetz. Exponentielle Wachstumstendenzen werden zum Kennzeichen der Wissenschaften vom Künstlichen.

2. Vom Künstlichen Leben zur Künstlichen Intelligenz Der Computer begann als Rechenmaschine. Rechnen ist nämlich eine mechanische Manipulation von Symbolen, die von einer Maschine ausgeführt werden kann. Anschaulich stellte sich Turing den Prototyp einer Rechenmaschine wie eine Schreibmaschine vor. Wie ein beweglicher Schreibkopf kann ein Prozessor nacheinander einzelne wohlunterschiedene Zeichen aus einem endlichen Alphabet auf ein Schreibband drucken. Das Schreibband ist in einzelne Felder unterteilt und nach links und rechts im Prinzip unbegrenzt. Das Programm einer Turingmaschine besteht aus einfachen Elementarbefehlen, die nacheinander (sequentiell) ausgeführt werden. Danach kann ein Symbol des Alphabets in dem jeweiligen Arbeitsfeld eines Schreibbands gedruckt oder gelöscht, der Schreibkopf um ein Feld nach links oder rechts verschoben werden und der Rechenprozess schließlich nach endlich vielen Schritten stoppen. Im Unterschied zu einer Schreibmaschine kann eine Turingmaschine den Inhalt einzelner Felder des Bandes nacheinander lesen und in Abhängigkeit davon weitere Schritte ausführen. Das Rechenprogramm einer Turingmaschine besteht also aus endlich vielen Anweisungen und Zeichen eines endlichen Alphabets. Anweisungen und Zeichen können durch Zahlen kodiert werden. Daher lässt sich eine Turingmaschine eindeutig durch einen Zahlenkode (Maschinennummer) charakterisieren, der das entsprechende Maschinenprogramm mit seinen endlich vielen Zeichen und Anordnungen verschlüsselt. Diese Maschinennummer kann wie jede Zahl als Folge

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von Nullen und Einsen auf einem Turingband notiert werden. Damit war es Turing möglich, das Verhalten einer beliebigen Turingmaschine mit einer beliebigen Bandschrift durch eine bestimmte Turingmaschine mit vorgegebenem Turingband zu simulieren. Turing nannte eine solche Maschine universell. Sie übersetzt jede Anweisung der simulierten Maschine, deren Maschinenkode auf ihrem Band notiert ist, in einen entsprechenden Bearbeitungsschritt einer beliebig vorgegebenen Bandinschrift.9 Vom logischen Standpunkt ist z. B. jeder PC oder Laptop nichts anderes als die technische Realisation einer solchen universellen Tu­ ringmaschine, die jedes mögliche Turingprogramm ausführen kann. Ein Computer ist nämlich heute ein Vielzweckinstrument, das wir als Schreibmaschine, Rechner, Buch, Bibliothek, Videogerät, Drucker oder Multimedia-Show verwenden können, je nachdem, welches Programm wir einstellen und laufen lassen. Jedes dieser Programme lässt sich im Prinzip auf ein Turingprogramm zurückführen, wenn auch unter Umständen sehr viel komplizierter als in den bekannten Computersprachen. Neben Turingmaschinen wurden verschiedene andere Verfahren zur Definition berechenbarer Funktionen vorgeschlagen, die sich als mathematisch äquivalent mit der Berechenbarkeit durch Turingmaschinen erwiesen. Daher stellte Alonzo Church in einer nach ihm benannten These (Churchsche These) fest, dass der Begriff der Berechenbarkeit überhaupt durch eine Definition wie die Turing-Berechenbarkeit vollständig erfasst sei. Die Churchsche These kann natürlich nicht bewiesen werden, da sie präzise Begriffe wie Turing-Berechenbarkeit mit intuitiven Vorstellungen von Rechenverfahren vergleicht. Sie wird allerdings dadurch gestützt, dass alle bisherigen Definitionsvorschläge von Berechenbarkeit mathematisch äquivalent sind. Der Rechenaufwand zur Problemlösung, der auch praktisch-ökonomische Bedeutung hat, kann unterschiedlich komplex sein. In der Komplexitätstheorie der Informatik wird die Rechenzeit als Anzahl der Elementarschritte eines Turingprogramms in Abhängigkeit von der Länge der Bandinschrift bei Rechnungsbeginn (Input) bestimmt. So hat die Addition lineare Rechenzeit, da die Rechenzeit nur proportional zur Länge der Summanden zunimmt. Bei der Multiplikation wächst die Anzahl der Rechenschritte proportional zum Quadrat der Inputlänge. Wächst die Anzahl der Rechenschritte proportional zu ei9

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nem Quadrat-, Polynom- oder Exponentialausdruck in Abhängigkeit von der Inputlänge, spricht man von quadratischer, polynomialer und exponentieller Rechenzeit. Probleme, die in polynomialer Zeit durch eine deterministische Maschine entschieden werden, heißen P-Probleme. Manchmal scheint es ratsamer, sich unter einer endlichen Anzahl von Möglichkeiten durch eine Zufallsentscheidung eine Lösung auszuwählen als alle Lösungswege systematisch zu durchsuchen. In der Evolution führen die Zufallsereignisse der Mutationen zu neuen Organismen. So verfährt eine nicht-deterministische Turingmaschine. Werden Probleme in polynomialer Zeit von einer nichtdeterministischen Maschine entschieden, sprechen wir von NP-Problemen. Nach dieser Definition sind alle P-Probleme auch NP-Probleme. Es ist allerdings nach wie vor eine offene Frage, ob alle NP-Probleme auch P-Probleme sind, also nichtdeterministische Maschinen bei polynomialer Rechenzeit durch deterministische Maschinen ersetzt werden können.10 Ein Problem p heißt NP-schwer, wenn sich jedes Problem q, das in NP liegt, in deterministisch polynomieller Zeit auf p reduzieren lässt. Ein Problem p heißt NP-vollständig, wenn es NP-schwer ist und selbst in NP liegt. Ein NP-schweres Problem ist also mindestens so schwer wie das schwerste Problem in NP. Ein NP-vollständiges Problem ist NP-schwer und liegt selbst in NP. Damit gehört es selbst zu den schwersten Problemen in NP. In Abschnitt 3 werden NP-Probleme und NP-vollständige Probleme am Beispiel von DNA-Computern erörtert. Im Prinzip lassen sich Zahlen ebenso wie andere symbolische Ausdrücke durch Folgen von Nullen und Einsen, also durch Bitzustände eines Computers, kodieren. Jede Art von symbolisch dargestelltem Wissen kann also auf einem Computer verarbeitet werden. Daher trat 1956 die erste KI-Konferenz um den interdisziplinär gebildeten Simon für ein Forschungsprogramm ein, das kognitive Prozesse menschlicher Problem- und Entscheidungsfindung auf dem Computer symbolisch simulieren sollte. Ein erstes Beispiel waren wissensbasierte Expertensysteme. Dabei handelte es sich um KI-Programme, die Wissen über ein spezielles Gebiet (z. B. abgegrenztes und überschaubares Spezialwissen menschlicher Experten wie Ingenieure und Ärzte) symbolisch speichern und aus dem Wissen automatisch Schlussfolgerungen ziehen, um konkrete Lösungen zu finden oder Diagnosen von Situationen bereitzustellen. 10 K. Mainzer, Computerphilosophie, Hamburg 2003.

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Die bisher erwähnten Beispiele von symbolischen Wissensrepräsentationen setzen explizite und deklarative Programmierung voraus. Wissen im Sinne von Können (Know how) ist nur begrenzt durch symbolische Regeln erfassbar. So kann Autofahren, Schachspielen oder Fußballspielen nur in den Anfängen durch Spiel- und Verhaltensregeln vermittelt werden. Wir sprechen in diesem Fall von implizitem und prozeduralem Wissen. Tatsächlich sind wir Menschen auf diesem Gebiet besonders stark: Unsere ‚grauen Zellen‘ (Neuronen) im Gehirn schalten zwar langsamer als die Chips jedes ordinären Laptops. Ihre gigantische Anzahl und synaptischen Verbindungen (mehr als Sterne in unserer Galaxie) erlauben aber eine Vielzahl von komplexen Mustern und Assoziationen, die uns Gesichter, Situationen und Zusammenhänge blitzschnell wiedererkennen und entdecken lassen. Da uns die Details dieser Vorgänge nicht bewusst sind, sprechen wir auch von ‚Intuition‘. Parallelrechner wie Deep Blue mit ihrer gewaltigen Rechenleistung lösen Schachaufgaben einfach anders als menschliche Schachspieler. Während Deep Blue gigantische Kombinationsmöglichkeiten in allen Details ‚brutal‘ durchrechnete, setzte der Schachweltmeister auf intuitive Mustererkennung komplexer Spielsituationen, die er als Meister in einer langen Spielerfahrung erlernt hatte. Es gibt zwar keine Erfolgsgarantie für Gehirne mit neuronalen Netzen und Lernstrategien, die in der Evolution entwickelt wurden. Ihre bestechenden Erfolge mit häufig bescheidenem Aufwand zeigen sich aber überall in der Natur: Ein einfacher Organismus wie eine Stabheuschrecke bewegt sich sicher und elegant in unbekanntem Gelände, ohne auf ein zeitaufwändiges Rechenprogramm zur Optimierung und Entscheidung über den besten nächsten Schritt zurückgreifen zu müssen. Auf solche Rechenprogramme greifen künstliche Roboter zurück, um komplizierte Bewegungsgleichungen in kürzester Rechenzeit zu lösen. Mit seinen überschaubar vielen Neuronen wäre dieses Tier dazu überhaupt nicht in der Lage.11 Daher ist die Theorie neuronaler Netze mit Lernalgorithmen von zentraler Bedeutung. Tatsächlich ist es solchen Netzen nicht nur möglich, einmal gelernte Muster wiederzuerkennen (‚überwachtes Ler­ nen‘). Mit Trial-and-Error Verfahren auf der Grundlage von Selektion und zufälligen Veränderungen (‚Mutation‘) nach Darwinschem Vor-

11 M. S. Livstone, R. Weiss, L. F. Landweber, „Automated design and programming of a microfluidic DNA computer“, in: Natural Computing (5)/2006, S. 1-13.

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bild können sie auch neue Zusammenhänge entdecken (‚nicht-über­ wachtes Lernen‘). Dabei sind neuronale Netze einem ‚konventionellen‘ (programmgesteuerten) Computer nicht prinzipiell verschlossen. Neuronale Netze können mathematisch im Prinzip durch eine Turing-Maschine und damit im Sinne der Churchschen These durch einen Computer simuliert werden. Tatsächlich ist das heute noch weitgehend bei der technischpraktischen Anwendung von künstlichen neuronalen Netzen der Fall. Solche Simulationen treffen auch auf die zellulären Automaten zu, für die John von Neumann die Möglichkeit der Selbstreproduktion mathematisch bewies. John Conway’s Evolutionsspiel „Game of Life“, also eine „künstliche“ (virtuelle) Evolution, hat die Rechenkapazität einer universellen Turingmaschine. Evolutionäre und genetische Al­ gorithmen arbeiten nach den ‚Blaupausen‘ der Evolution. Durch Mutation, Selektion und Reproduktion von Programmen entdecken sie in nachfolgenden Programmgenerationen neue und unverhoffte Lösungen. Wie in der biologischen Evolution gibt es zwar häufig keine Pro­ grammverifikation, die Sicherheit und Erfolg garantieren. Genetische Algorithmen werden aber bereits in unterschiedlichen Bereichen zur technisch-praktischen Problemlösung mit großem Erfolg eingesetzt. Im Rahmen der Bionik haben sich Ingenieure seit den 1960er Jahren für Evolutionsstrategien der Natur interessiert. Die Gesetze der biologischen Evolution sollten im Computer angewendet werden, um geeignete Baupläne für technische Verfahren zu finden. Auch das komplexe Netzwerk des World Wide Web (WWW) ist tatsächlich ein gigantischer Computer. Viele einzelne Computer kommunizieren dort in einer gemeinsamen Programmsprache (z. B. Java) auf der Grundlage einer virtuellen Maschine, die sich als universelle Turingmaschine verstehen lässt. Mit genetischen Algorithmen können dort virtuelle Agentenpopulationen für bestimmte Dienstleistungen (z. B. Informationssuche nach den Präferenzen von Nutzern) geradezu „gezüchtet“ werden. Künstliches Leben aus solchen virtuellen Organismen als Agentenprogrammen, die sich selbständig im Internet ausbreiten, beschränkt sich keineswegs auf menschenfreundliche Dienstleistung. Immer neue und gefährlichere Generationen von Computerviren bevölkern mittlerweile das Internet und legen unsere computerisierte Lebenswelt lahm. Ähnlich dem menschlichen Organismus werden virtuelle Viren zwar durch Virenscanner und virtuelle Antibiotika bekämpft. Aber auch im Internet wächst die Immunität der feindlichen virtuellen Organismen mit jeder Generation.

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Klassische Computersysteme zeichneten sich durch eine strikte Trennung von physischer („natürlicher“) und virtueller („künstli­ cher“) Welt aus. Steuerungssysteme der Mechatronik, die z. B. in modernen Fahrzeugen und Flugzeugen eingebaut sind und aus einer Vielzahl von Sensoren und Aktuatoren bestehen, entsprechen diesem Bild nicht mehr. Diese Systeme erkennen ihre physische Umgebung, verarbeiten diese Informationen und können die physische Umwelt auch koordiniert beeinflussen. Damit steht die Computertechnik vor der neuen Herausforderung, die digitale Welt des Computers mit der physischen Welt der Analogsignale, die von Sensoren und Aktuatoren verarbeitet werden, zu verbinden. Die Evolution hat die Integration von analoger und digitaler Infor­ mationsverarbeitung in ihren Organismen längst realisiert. Organismen verfügen über Sensoren zur Registrierung von Analogsignalen der physischen Umwelt (z. B. Ohren für akustische Wellen der Luft, Augen für elektrodynamische Wellen des Lichts, Haut für Druckempfindungen), die im Nervensystem und Gehirn mit feuernden und nicht feuernden Neuronen digital verarbeitet werden. Mechatronische Systeme waren erste Schritte einer entsprechenden technischen Entwicklung. Der nächste Entwicklungsschritt nach den mechatronischen Systemen sind die „Cyberphysical Systems“ (CPS), die sich nicht nur durch eine starke Kopplung von physischem Anwendungsmodell und dem Computer-Steuerungsmodell auszeichnen, sondern auch in die Arbeits- und Alltagsumgebung eingebettet sind (z. B. integrierte intelligente Energieversorgungssysteme von Ländern und Erdteilen).12 Durch die vernetzte Einbettung in Systemumgebungen gehen CBSSysteme über isolierte mechatronische Systeme hinaus. CPS bestehen aus vielen vernetzten Komponenten, die sich selbständig untereinander für eine gemeinsame Aufgabe koordinieren. CPS zielen daher darauf ab, Steuerungsprozesse und (digitale) Informationsflüsse auf die (analogen) physischen Prozesse ihrer Anwendungen abzustimmen, wie es die Evolution bei der Entwicklung ihrer Organismen und Populationen geschafft hat. Ein erstes Beispiel sind intelligente Stromnetze (smart grids), die neben dem herkömmlichen Stromtransport auch Datenkommunikation erlauben, um den Anforderungen für einen hochkomplexen Netz12 M. S. Livstone, R. Weiss, L. F. Landweber, „Automated design and programming of a microfluidic DNA computer“, in: Natural Computing (5)/2006, S. 1-13.

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betrieb zu genügen. Der Trend geht zu globalen und länderübergreifenden Netzstrukturen wie dem Internet, in dem Blockheizkraftwerke zur Erzeugung von Strom aus fossiler Primärenergie ebenso vertreten sind wie erneuerbare Quellen mit Photovoltaikanlagen, Windkraftanlagen, Biogasanlagen. Verbraucher wie z. B. Wohnhäuser oder Büroanlagen können mit Voltaikanlagen zugleich lokale Stromerzeuger sein, die sich selbst oder ihre Umgebung mit Energie versorgen. Smart Grids bezeichnen ganzheitliche Organisationen des Stromnetzes zur Steuerung, Lastenverteilung, Speicherung und Erzeugung von elektrischer Energie. In ihrer Dynamik und Struktur besitzen Smart Grids auffallende Ähnlichkeit mit den komplexen Proteinnetzen in der Systembiolo­ gie, mit denen der Energiehaushalt einer Zelle reguliert wird. Cyberphysical Systems sind die Antwort auf die zunehmende Komplexität unserer Versorgungs- und Kommunikationssysteme, mit denen die Menschheit in einem computergestützten Superorganismus zusammenwächst. Sollten wir diesen Superorganismus „künstlich“ nennen oder ist er die „natürliche“ Fortsetzung einer technisch von uns Menschen induzierten Ko-Evolution?13

3. Von der Systembiologie zur Synthetischen Biologie Nach den Wissenschaften vom Künstlichen im und mit dem Computer können wir nun über ihre Anwendung auf die Lebenswissenschaften sprechen.14 Biomoleküle, Zellen, Organe, Organismen und Populationen sind hochkomplexe dynamische Systeme, in denen viele Elemente wechselwirken. Komplexitätsforschung beschäftigt sich fachübergreifend in Physik, Chemie, Biologie und Ökologie mit der Frage, wie durch die Wechselwirkungen vieler Elemente eines komplexen dynamischen Systems (z. B. Atome in Materialien, Biomoleküle in Zellen, Zellen in Organismen, Organismen in Populationen) Ordnungen und Strukturen entstehen können, aber auch Chaos und Zerfall. 13 E. F. Keller, Making Sense of Life: Explaining Biological Development with Models, Metaphors, and Machines, Havard University Press: Cambridge Mass 2003; K. Mainzer, Leben als Maschine? Von der Systembiologie zur Robotik und Künstlichen Intelligenz, Paderborn 2010. 14 K. Mainzer, Leben als Maschine? Von der Systembiologie zur Robotik und Künst­ lichen Intelligenz, Paderborn 2010.

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Allgemein wird in dynamischen Systemen die zeitliche Veränderung ihrer Zustände durch Gleichungen beschrieben.15 Der Bewegungszustand eines einzelnen Himmelskörpers lässt sich noch nach den Gesetzen der klassischen Physik genau berechnen und voraussagen. Bei Millionen und Milliarden von Molekülen, von denen der Zustand einer Zelle abhängt, muss auf Hochleistungscomputer zurückgegriffen werden, die Annäherungen in Simulationsmodellen liefern. Komplexe dynamische Systeme gehorchen fachübergreifend in Physik, Chemie, Biologie und Ökologie denselben oder ähnlichen mathematischen Gesetzen. Die Grundidee komplexer Systeme ist immer dieselbe: Erst die komplexen Wechselwirkungen von vielen Elementen erzeugen neue Eigenschaften des Gesamtsystems, die nicht auf einzelne Elemente zurückführbar sind. So ist ein einzelnes Wassermolekül nicht „feucht“, aber eine Flüssigkeit durch die Wechselwirkungen vieler solcher Elemente. Einzelne Moleküle „leben“ nicht, aber eine Zelle aufgrund der molekularen Wechselwirkungen. In der Systembiologie ermöglichen die komplexen chemischen Reaktionen von vielen einzelnen Molekülen die Stoffwechselfunktionen und Regulationsaufgaben von ganzen Proteinsystemen und Zellen im menschlichen Körper. Wir unterscheiden daher bei komplexen dynamischen Systemen die Mikroebene der einzelnen Elemente von der Makroebene ihrer Systemeigenschaften. Diese Emergenz oder Selbstorganisation von neuen Systemeigenschaften auf der Makroebene wird in der Systembiologie berechenbar und in Computermodellen simulierbar. In diesem Sinn ist die Systembiologie der Schlüssel zur Komplexität des Lebens. In einem nächsten Schritt liefert die Systembiologie die „Baupläne“ für die Synthetische Biologie: Hier geht es um die Erschaffung (Synthese) neuer Lebensformen nach Art der Ingenieurwissenschaften. Demgegenüber könnte die Systembiologie mit ihren Differentialgleichungen und Computermodellen auch als analytische Biologie bezeichnet werden. Dort stehen Rechnung und mathematische Modellierung im Vordergrund. In den Ingenieurwissenschaften wird das Modell (z. B. Design eines Flugzeugs mit Strömungs- und Materialgleichungen) implementiert (d. h. gebaut), getestet und validiert, Ver-

15 K. Mainzer, Komplexität, UTB Profile, München 2008; K. Mainzer, Thinking in Com­plexity. The Complex Dynamics of Matter, Mind, and Mankind, 5. Aufl., New York 2007.

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änderungen spezifiziert, im Modell eingefügt, erneut implementiert etc. in einem optimierenden Kreislauf.16 Die Lebenswissenschaften operieren auf einer Größenskala von den Biomolekülen über zelluläre Systeme (z. B. Organe) bis zu Organismen und Populationen. Im Unterschied zum Genomprojekt, in dem nur einzelne Genomsequenzen mit Computern entschlüsselt werden sollten, zielt die Systembiologie auf eine ganzheitliche Modellierung der komplexen Netzwerke von Genen bzw. durch Gene kodierten Proteinen einer Zelle. Bevor an eine technische Herstellung in der synthetischen Biologie zu denken ist, muss das Wissen über diese komplexen Systeme aufgearbeitet werden. Ontologien bieten den Vorteil, die Bausteine des Wissens in standardisierter Form von Software bereit zu stellen. Entlang der Größenskala der Hierarchiestufen des Lebens lassen sich Ontologien der Gene, Proteine, Zellen, des Gewebes, der Organe und Organismen unterscheiden, die Wissen mit verschiedenen Standards von Mark-up Computersprachen (z. B. XML) repräsentieren und die entsprechenden Gegenstandsbereiche visualisieren und virtualisieren. Aus ingenieurwissenschaftlicher Sicht liegt es nahe, komplexe Netzwerke als Schaltkreise von Basiselementen zu verstehen, die miteinander wechselwirken, um kollektive Verhaltensmuster zu erzeugen. So werden DNA Sequenzen in mRNA (messenger RNA) transkribiert und mRNA Sequenzen durch Ribosome in die Aminosäuren von Proteinen übersetzt, die wiederum die Aktivität und Produktion anderer Proteine regulieren.17 Um „künstliche“ Zellen zu erzeugen, müssen solche genetischen Netzwerke in der synthetischen Biologie konstruiert werden. Aus der analytischen Sicht der Systembiologie lässt sich die Dynamik eines solchen Netzwerks durch Differentialgleichungen modellieren. Sie beschreiben die Konzentrationen der Transkriptionsfaktoren von Proteinen, die stetig exponentiell anwachsen oder zerfallen. Die Synthese der Proteine steht unter der Kontrolle von entsprechenden Genen, die ein- oder ausgeschaltet werden. Ein- und Ausschalten hängt davon ab, ob bestimmte Schwellenwerte der Konzentrationen über- oder unterschritten werden. Die Differentialgleichungen der 16 The Royal Academy of Engineering, Synthetic Biology: Scope, Applications and Implications, London 2009. 17 S. A. Benner, A. M. Sismour, „Synthetic biology”, in: Nature Reviews Genetics (6)/ 2005, S. 533-543.

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Konzentrationen hängen also zusätzlich von Booleschen Variablen mit Werten 1 und 0 ab, die dem Ein- und Ausschalten der Gene entsprechen. Für diese Gleichungen werden Lösungen gesucht, um das zukünftige Verhalten des Netzwerks präzise voraussagen zu können.18 Aus der ingenieurwissenschaftlichen Sicht der Elektrotechnik beschreiben diese Gleichungen einen hybriden Analog-Digitalschalt­ kreis. Der Schaltkreis lässt sich so konstruieren, dass seine Spannung exponentiell zu- und abnimmt. Die Spannung im elektrotechnischen Modell entspricht dann der Konzentration der Protein-Transkriptionsfaktoren im biochemischen Modell. Um die Regulation durch die Gene zu modellieren, werden kombinatorische Schaltelemente (z. B. CMOS-Chips) eingebaut. Sie entsprechen den Booleschen Variablen und sind der digitale Teil des Schaltkreises. Mit diesem hybriden Analog-Digitalschaltkreis kann die Dynamik des biochemischen Systems technisch simuliert werden. Den mathematischen Lösungen der Differentialgleichungen entsprechen dann elektrotechnische oder zelluläre Zustände. Bereits mit linearen Differentialgleichungen können stabile und voraussagbare Oszillationen realisiert werden. Mit nichtlinearen Gleichungen erhält man auch die Attraktordynamik komplexer Systeme mit z. B. Chaosattraktoren. In elektrotechnischen Schaltkreisen werden digitale Schalter als lo­ gische Operatoren verstanden, die z. B. NICHT-, ODER- und UNDSchaltungen simulieren. Tatsächlich lassen sich solche digitalen Schaltungen durch biochemische Reaktionen wie z. B. Transkription, Translation und Proteinzerfall darstellen.19 Beispiel: Entsprechend dem logischen NICHT-Operator ist in einem NICHT-Schalter der Output 1 („an“), wenn der Input 0 („aus“) ist und umgekehrt. Biochemisch repräsentieren die Konzentrationen zweier Proteine X und Y die logischen Input- und Output-Signale. Fehlt das Inputsignal X (0), transkribiert die Zelle die Kodesequenz für Output-Protein Y (1). Ist umgekehrt ein Inputsignal von Protein X vorhanden (1), dann bindet es ein Gen derartig, dass die Zelle an einer Genexpression von Protein Y gehindert wird (0). Bei einem UND-Schalter wird nur dann ein Outputsignal erzeugt, wenn zwei Inputsignale zusammen vorliegen. Bei einer ODER-Schal18 J. Mason, P. S. Linsay, J. J. Collins, L. Glass, „Evolving complex dynamics in electronic models of genetic networks“, in: Chaos 14(3)/2004, S. 707-715. 19 R. Weiss, „Challenges and Opportunities in Programming Living Cells“, in: The Bridge Winter 2003, S. 39-46.

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tung muss wenigstens eines von zwei möglichen Inputsignalen eingegangen sein. Um entsprechende Schaltkreise in der Elektrotechnik zu realisieren, sind Bauteile wie Dioden, Transistoren, Widerstände und Kondensatoren notwendig. Diese Bauteile erfüllen bestimmte Funktionen, die im Schaltkreis erforderlich sind.20 Andererseits setzen sie sich aus vielen technischen Details zusammen, die für den Designer des Schaltkreises uninteressant sind. Analog gilt es auch im molekularbiologischen Netzwerk einer Zelle, die Bausteine zu identifizieren, die zur Erfüllung der Schaltkreisfunktionen notwendig sind. Unter der Abstraktion dieser Funktionen verbergen sich ebenfalls viele biochemische Details, die für den Designer in der synthetischen Biologie keine Rolle spielen. In der synthetischen Biologie wurden bisher einfache synthetische genetische Netzwerke gebaut, um spezifische genetische regulatorische Funktionen in vivo zu realisieren.21 Ein Beispiel ist der Schaltkreis eines Autorepressors. Als Repressor wird ein Protein bezeichnet, das sich an eine spezielle Seite der DNA bindet und damit die Expression bestimmter Gene verhindert. In einem Autorepressor reguliert ein Repressor die eigene Produktion und reduziert die Variationen in der Genexpression. Aus der Elektrotechnik ist der Kippschalter bekannt.22 Im entsprechenden biochemischen Schaltkreis hindern sich zwei Repressoren gegenseitig an ihrer Produktion, um ein bistabiles System zu realisieren. Ein biochemischer Kippschalter wurde erstmals im genetisch regulatorischen Netzwerk des Bakteriums Escherichia coli konstruiert. In einem Repressilator sind drei Repressoren in einer Ringschaltung verbunden, um wiederholte Oszillationen zu reproduzieren. Die Bezeichnung „Repressilator“ erinnert an Namen für Grenzzyklen und Chaosattraktoren (z. B. Prigogine’s Brüsselator) in der Theorie komplexer Systeme. Eine Anwendung sind Biosensoren. Durch interzelluläre Kommunikation können Zellen ihr kollektives Verhalten koordinieren. Ein Beispiel sind Zellen (z. B. Bakterien) mit einem genetischen Schaltkreis, dessen Proteine grün fluoreszieren, wenn z. B. toxische Stoff-

20 S. Panke, Synthetic Biology – Engineering in Biotechnology, im Auftrag der Schwei­ zerischen Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW). 21 R. McDaniel, R. Weiss, „Advances in synthetic biology: on the path from prototypes to applications“, in: Current Opinion in Biotechnology (16)/2005, S. 476-483. 22 T. S. Garner, C. R. Cantor, J. J. Collins, „Construction of a genetic toggle switch in Escherichia coli“, in: Nature (403)/2000, S. 339-342.

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konzentrationen auftreten. Sie können als Warnsysteme eingesetzt werden. Ingenieure genetischer Schaltkreise müssen mit erheblichem Rauschen in Genexpressionen zurechtkommen. Im Unterschied zu den isolierten und fest verdrahteten Schaltkreisen der Elektrotechnik sind nämlich genetische Schaltkreise einer Zelle in das stochastische Rau­ schen molekularer Wechselwirkungen eingebettet. Ziel der synthetischen Biologie sind daher genetische Schaltkreise, in denen Voraussagen mit derselben Präzision möglich sind wie in der Elektrotechnik. Wenn synthetisch hergestellte genetische Schaltkreise in einen lebenden Organismus implementiert werden, ist zudem mit Wechselwirkungen des „künstlichen“ Schaltkreises mit den im lebenden Organismus vorhandenen „natürlichen“ Netzwerken zu rechnen. Dabei kann es im Sinn der Komplexitätsforschung zu unkontrollierbaren und nicht beabsichtigten („nichtlinearen“) Seiteneffekten kommen. Hier liegen erhebliche Herausforderungen der Komplexität z. B. bei medizinischen Anwendungen. Biomolekulare Systeme, die DNA und RNA in Zellen verarbeiten, lassen sich als Turingmaschinen verstehen.23 Beide Systeme verarbeiten nämlich Informationen, die in Sequenzen von Symbolen aus einem festen Alphabet darstellbar sind. Die DNA setzt sich aus einem Alphabet mit vier Buchstaben, die RNA aus einem Alphabet mit zwanzig Buchstaben für entsprechende Moleküle zusammen. Beide Systeme, Turingmaschine wie biochemische Informationsverarbeitung, operieren schrittweise entlang von Strängen, auf denen Symbole bzw. Moleküle entsprechend bestimmter Regeln verändert werden. Ein Beispiel für solche molekularen Turingmaschinen sind Ribosome, die in Zellen mRNA Sequenzen „einlesen“ und in Ketten von Aminosäuren übersetzen, die Proteine bilden. Das symbolische Alphabet von mRNA besteht aus Tripeln von Nukleotiden, also den Bausteinen der DNA, die jeweils einer Aminosäure entsprechen. Diese Analogie mit Turingmaschinen inspiriert zum Bau von DNAComputern. Erstmals erprobte L. M. Adleman24 einen DNA-Computer an einem bekannten NP-Problem (vgl. Abschnitt 2), das für elektronische Digitalcomputer sehr komplex ist: Das Problem des Handlungsreisenden (engl. Traveling Salesman Problem) besteht darin, eine 23 The Royal Academy of Engineering, Synthetic Biology: Scope, Applications and Im­ plications, London 2009. 24 L. M. Adleman, „Computing with DNA“, in: Scientific American August 1998.

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Reihenfolge für den Besuch mehrerer Orte so zu wählen, dass die gesamte Reisestrecke des Handlungsreisenden nach der Rückkehr zum Ausgangsort möglichst kurz ist. Adleman verwendete DNA-Moleküle in einem Reagenzglas, um die Orte und Reiseverbindungen zu repräsentieren. Aufgrund der Paarungsaffinitäten dieser Moleküle konnte in wenigen Minuten unter Billionen von Kombinationsmöglichkeiten eine Lösung gefunden werden. Allerdings dauerte es beträchtlich länger, um mit den damaligen Labormitteln diejenigen Moleküle herauszufischen, die einer korrekten Lösung des Problems entsprachen. Ziel wäre eine universelle molekulare Turingmaschine im Sinne eines Vielzweckcomputers.25 Erste einfache Beispiele sind endliche Automaten, die z. B. entscheiden können, ob in einer (molekularen) Sequenz aus zwei Grundbausteinen a und b eine gerade Anzahl von Bausteinen b vorkommt. Langfristiges Ziel wären Automaten, die zur medizinischen Diagnose von Krankheitssymptomen in regulatorischen Netzwerken von Zellen (z. B. bei der Krebsdiagnose) eingesetzt werden. Sie hätten den großen Vorteil, dass sie die molekulare „Sprache“ lebender Zellen sprechen und in Organismen implementiert werden könnten. Ingenieure der synthetischen Biologie können von der VLSI-Elek­ tronik in der Halbleiterindustrie lernen. Standardisierung von Technologien ermöglicht Chip-Ingenieuren, die Herstellung von Schaltkreisen in Industrieproduktion zu überführen und komplexe Probleme auf verschiedenen Abstraktionsstufen zu bewältigen. Die Rede ist von „Bio Fab Design“, also einer Fabrikation (Fab), die sich auf jeder Ab­ straktionsebene auf die Zusammensetzung der jeweiligen Bausteine beschränkt, die auf der vorherigen Abstraktionsebene bereitgestellt wurden.26 So beschäftigt sich der Bio Fab Designer auf der Systemebene mit dem ganzheitlichen System, das aus standardisierten Bauteilen mit biologischen Funktionen zusammenzusetzen ist. Beispiel ist ein Oszillator aus drei Invertern bzw. NICHT-Schaltern. Auf der darunter liegenden Abstraktionsstufe werden die Inverter aus genetischem Material zusammengesetzt. Auf der darunter liegenden Ebene werden die genetischen Bauteile mit ihren biologischen Funktion wie 25 K. Rinaudo, L. Bleris, R. Maddamsetti, S. Subramanian, R. Weiss, Y. Benenson, „A universal RNAi-based logic evaluator that operates in mammalian cells“, in: Nature Biotechnology (Advance Online Publication 21 May 2007), S. 1-7. 26 D. Baker, G. Church, J. J. Collins, D. Endy, J. Jacobson, J. Keasling, P. Modrich, C. Smolke, R. Weiss, „Engineering Life: Building a FAB for Biology“, in: Scientific American June 2006, S. 44-51.

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z. B. bestimmte Proteine erzeugt. Auf der untersten Abstraktionsebene werden die DNA Sequenzen für das genetische Material wie z. B. die Proteine bereitgestellt. In dem Zusammenhang spricht man auch von „BioBricks“ als standardisierten Bauteilen wie z. B. Inverter, Schaltern, Zählern27 oder Verstärkern, die quasi als Industrieprodukte zur Verfügung stehen und aus denen sich komplexe Schaltkreise nach dem Vorbild der Elektrotechnik zusammensetzen lassen. Das Chip-Modell liegt auch einem Lab-on-a-chip (LOC) zugrunde, mit dem ein biochemisches Labor auf ein strömungstechnisches Mikrosystem aus millimetergroßen Mikroreaktoren und Mikrokanälen miniaturisiert wird.28 Tatsächlich realisiert ein Lab-on-a-chip einen DNA-Computer: In den winzigen Röhren fließen DNA-Stränge, die durch Schaltelemente durchgelassen oder gebunden werden und damit die Bedingungen von logischen (Booleschen) Schaltmustern aus z. B. UND-, ODER und NICHT-Schaltern erfüllen. Im logischen Sinn lassen sich damit Erfüllbarkeitsprobleme (englisch: SAT=satisfiability) für logische Schaltungen prüfen, d. h. welche DNA-Stränge erfüllen welche Schaltbilder und damit logische Verknüpfungen.29 Das Erfüllbarkeitsproblem der Aussagenlogik ist ein Entscheidungsproblem. Es fragt, ob eine Boolesche Formel aus UND-, ODER- und NICHT-Verknüpfungen (elektrotechnisch ein Schaltmuster aus UND-, ODER und NICHT-Schaltern) „erfüllbar“ ist, d. h. ob es eine Belegung (Interpretation, Bewertung) der Booleschen Variablen mit Wahrheitswerten „wahr“ (1) und „falsch“ (0) gibt, für die der Wahrheitswert des gesamten Ausdrucks „wahr“ (1) ist. An die Stelle von Wahrheitswerten treten in den LOC-Schaltungen eines DNAComputers DNA-Stränge, die an den Schaltelementen gebunden (1) oder durchgelassen (0) werden. Das Erfüllbarkeitsproblem ist im Allgemeinen NP-vollständig (vgl. Abschnitt 2) und gehört damit zu den schwersten NP-Problemen überhaupt. DNA-Computer können heute Spezialfälle in linearer und quadratischer Rechenzeit lösen. 27 A. E. Friedland, T. K. Lu, X. Wang, D. Shi, G. Church, J. J. Collins, „Synthetic gene networks that count“, in: Science (324)/2009, S. 1199-1202. 28 M. S. Livstone, R. Weiss, L. F. Landweber, „Automated design and programming of a microfluidic DNA computer“, in: Natural Computing (5)/2006, S. 1-13; S. Panke, Synthetic Biology – Engineering in Biotechnology, im Auftrag der Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW); The Royal Academy of En­ gineering, Synthetic Biology: Scope, Applications and Implications, London 2009. 29 M. S. Livstone, R. Weiss, L. F. Landweber, „Automated design and programming of a microfluidic DNA computer“, in: Natural Computing (5)/2006, S. 1-13.

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Bisher wurden nur recht einfache genetische Schaltkreise wie z. B. Kippschalter und Repressilatoren gebaut. Eine Herausforderung zukünftiger synthetischer Biologie werden komplexe genetische Schalt­ kreise der nächsten Generation sein, um robuste Funktionsabläufe verlässlich voraussagen zu können.30 Elektroingenieure haben digitale Elektronik entwickelt, mit denen Analogsignale von technischen Sensoren in Digitalsignale umgewandelt werden können. Entsprechend wäre es wünschenswert, „künstliche“ biologische Zellen herzustellen, die als Biosensoren Analogsignale in Digitalsignale umwandeln. Solche Biosensoren könnten als Kontroll- und Überwachungseinheiten für Krankheiten im lebenden Organismus implementiert werden. Umgekehrt sind Anwendungen von Digital-in-Analog-Umwandler denkbar, die bei der Ansteuerung von lebendem Gewebe Anwendung finden. Biomolekulare Netzwerke in Bakterien könnten zu adaptiven ler­ nenden Systemen ausgebaut werden. Ähnlich wie bei synaptischen Verbindungen zwischen Neuronen könnte Lernen und Anpassen durch einen assoziativen Speicher auf genetischer Basis verwirklicht werden. Bakterien könnten damit lernen, sich auf veränderte Bedingungen und Störungen selbstständig einzustellen. Sie könnten sich an besondere Orte „erinnern“ und auf bestimmte chemische Signale (z. B. von toxischen Stoffen) reagieren. Gegenüber DNA- und RNA-basierten Schaltkreisen wären auch Protein-basierte Systeme wünschenswert, da sie mit kürzerer Rechenzeit arbeiten. Entsprechend der Evolution biologischer Uhren und zirkadianer Rhythmen könnten lichtempfindliche Schaltkreise zur Steuerung des Hormonhaushalts gebaut werden. Analog zu einem Mikroprozessor lässt sich ein genetischer Schaltkreis auch als Zähler einrichten, der nach einer festen Anzahl zellulärer Umläufe bzw. Folge von zellulären Ereignissen den programmierten Zelltod auslöst.31 Damit würde der Lebenszyklus von Zellen kontrollierbar, sowohl für die Verlängerung der Lebenserwartung einer Zelle als auch bei der gezielten Zerstörung einer Krebszelle. Auf der Grundlage von komplexen genetischen und Protein-basierten Schaltkreisen werden medizinische Therapien gegen Krebs und Infektionskrankheiten ebenso denkbar wie 30 T. K. Lu, A. S. Khalil, J. J. Collins, „Next-generation synthetic gene networks“, in: Nature Biotechnology 27(12)/2009, S. 1139-1150. 31 A. E. Friedland, T. K. Lu, X. Wang, D. Shi, G. Church, J. J. Collins, „Synthetic gene networks that count“, in: Science (324)/2009, S. 1199-1202.

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biotechnologische Anwendungen bei der Produktion von Biobrennstoff und Biomaterialien. Die Wissenschaften vom Künstlichen weisen uns den Weg zur Programmierung von Zellen, um Fehlentwicklungen der Evolution zu korrigieren oder um neue wünschenswerte Lebensformen zu schaffen.32 Was heißt aber dann noch „künstlich“ und „natürlich“? Wenn wir die Regeln der molekularen Evolution formal fassen und alle ihre Entwicklungsmöglichkeiten im Computer simulieren können, dann erweisen sich die Strukturen der faktisch auf dieser Erde abgelaufenen Entwicklungen nur als spezielle Auswahl, die sich unter mehr oder weniger zufällig vorliegenden Nebenbedingungen realisiert haben. Unter anderen Bedingungen hätten sich auch andere Strukturen bilden können.33 Bereits in der chemischen Evolution hätten sich z. B. andere Nukleinsäuren ergeben können, die tatsächlich in der synthetischen Biologie berücksichtigt werden.34 Veränderte genetische Schaltkreise bewirken veränderte biologische Funktionen. Andere Genome würden andere Zellen steuern, andere Zellen zu anderen Organismen mit neuen Eigenschaften führen. Wenn wir dann im Labor der synthetischen Biologie den Zufall der Natur simulieren und die Nebenbedingungen variieren, warum sollen die so entstehenden neuen Strukturen „künstlich“ heißen? „Künstlich“ ist eine Entwicklung nur, wenn sie symbolisch im Computerprogramm und in virtueller Realität einer Computersimulation stattfindet. Hinzu kommt, dass die Produkte der faktischen Evolution keineswegs immer optimal waren, sondern unter geeigneten Bedingungen durchaus bessere denkbar wären. Richard Feynman’s berühmtes Diktum „There is plenty of room“ bezieht sich auf den Raum der Möglichkeiten in der Nanowelt, der durch unsere Technik ausgelotet wird. Dieses Argument lässt sich auf die Möglichkeitsräume der synthetischen Biologie von den Spielregeln der molekularen Evolution bis zur Evolution der Organismen 32 R. Weiss, „Challenges and Opportunities in Programming Living Cells“, in: The Bridge Winter 2003, S. 39-46. 33 K. Mainzer, Leben als Maschine? Von der Systembiologie zur Robotik und Künst­ lichen Intelligenz, Paderborn 2010. 34 A. M. Leconte, G. T. Hwang, S. Matsuda, P. Capek, Y. Hari, F. E. Romesberg, „Discovery, characterization, and optimization of an unnatural base pair for expansion of the genetic alphabet“, in: J. Am. Chem.Soc., veröffentlicht im WWW D1/25/2008; W. Liu, A. Brock, S. Chen, P. G. Schultz, „Genetic incorporation of unnatural amino acids into proteins in mammalian cells“, in: Nat. Methods (4)/2007, S. 239-244.

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und Populationen erweitern. Darunter können sich durchaus bessere Möglichkeiten (z. B. mit Blick auf die Medizin) finden, die im Zufallsspiel der faktischen Entwicklungen noch nicht realisiert wurden. Bezeichnen wir den Raum der Möglichkeiten als Natur und nicht nur, wie in der Tradition, einen spezifischen Lösungsweg, dann schafft auch unsere Technik im Labor „Natur“. Der Vorwurf, dass wir im Labor der synthetischen Biologie „Gott spielen“ und „Künstliches“ schaffen, würde dann schon auf das von Simon zitierte Weizenfeld zutreffen, das in der vom Menschen unbeeinflussten Evolution nicht vorkommt. Die Vorstellung schließlich, dass die „unberührte“ Natur als eine von Gott geschaffene Welt ausgezeichnet sei, träfe nur zu, wenn sie die beste aller möglichen Welten wäre, worüber sich schon Voltaire mit einschlägigen Gegenbeispielen amüsierte. Jedenfalls lässt sich diese Auffassung nach den bekannten Spielregeln der Evolution keineswegs rechtfertigen. Theologisch bleibt die Interpretation, den gesamten Raum der Möglichkeiten als Werk der Schöpfung zu betrachten, in dem Handlungsspielräume und damit Verantwortung des Menschen eröffnet werden. Unabhängig von jeder weltanschaulichen Interpretation zeigt der Raum der Möglichkeiten aber unmissverständlich die ethische Verantwortung, die jeder Forschende der synthetischen Biologie bei der Herstellung und Implementierung neuer Lebensformen trägt.35 Die synthetische Biologie ist also eine Technikwissenschaft des Künstlichen und Komplexen. Sie gehört zu den Wissenschaften vom Künstlichen, sofern sie auf Computersimulation und mathematische Modelle zurückgreift. Als Wissenschaft vom Komplexen modelliert sie die Evolution des Lebens durch die Selbstorganisation komplexer Systeme. Als Technikwissenschaft untersucht sie Bedingungen, unter denen neue Systeme entstehen und realisiert werden können.

35 J. Boldt, O. Müller, G. Maio, Synthetische Biologie. Eine ethisch-philosophische Analyse, Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Außer­human­ bereich EKAH und Ariane Willemsen (Hrsg.), Bern 2009; M. Schmidt, A. Kelle, A. Ganguli-Mitra, H. Vriend (Hrsg.), Synthetic Biology. The Technoscience and Its Societal Consequences, London 2009.

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III. Synthetisch

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Xenobiologie, künstliches Leben und genetische Firewall1

1. Vorwort: Philosophie in Bezug zur Biologie des 21. Jahrhunderts „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“2

Ingenieure sehen lebende Zellen als Einheiten, die durch ein genetisches Programm, eine Art „Software des Lebens“, gesteuert sind.3 Sind wir in der Lage, diese „Software des Lebens“ zu lesen und zu interpretieren? Wenn ja, dann sollten wir auch in der Lage sein, vollständig zu verstehen, wie das Leben funktioniert und es darüber hinaus durch neue Versionen dieser „Software“ verändern und verbessern können. Die Synthetische Biologie sieht lebende Zellen als kleine, programmierbare Produktionseinheiten (z. B. als Roboter oder chemische Maschinen) an. Sie sucht nach Wegen, synthetische Zellen zu erschaffen, die für uns Menschen praktischen Nutzen haben: die Produktion von nahezu jeder gewünschten medizinisch oder technisch interessanten Substanz.4 Seit den Anfängen der Gentechnik nimmt der Abstand zwischen natürlichen und modifizierten Organismen immer mehr zu. Am 1

2 3 4

Dieser Essay basiert auf meinen Ideen und Konzepten, die ich in den letzten Jahren in verschiedenen Journalen, Büchern und Monographien, überwiegend in deut­scher Sprache, veröffentlicht habe. Bei dieser Gelegenheit danke ich herzlich Phil­lip Marlière, Sven Panke, Carlos G. Acevedo-Rocha und Markus Schmidt für den fruchtbaren und lebendigen Austausch von Ideen und Visionen über die Jahre unserer gemeinsamen wissenschaftlichen Aktivitäten. K. Marx, „Thesen über Feuerbach“, in: Friedrich Engels (Hrsg.), Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1886. Siehe z. B.: G. M. Church, E. Regis, Regenesis: How synthetic biology will reinvent nature and ourselves, New York 2012; J. C. Venter, Life at the Speed of Light: From the Double Helix to the Dawn of Digital Life, New York 2013. N. Budisa, „Buchrezension: Life at the Speed of Light – From the Double Helix to the Dawn of Digital Life von Craig J. Venter“, in: Angew. Chem., 126/2014, S. 95759576.

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Ende dieses Weges steht künstliches Leben, das genetisch und metabolisch so weit vom natürlichen entfernt ist, dass es außerhalb des Labors auf der Erde nicht überleben kann.5 Die neuen Lebensformen sollten sogar genetisch isoliert sein, d.h. eine Art genetischer Firewall haben.6 De Lorenzo hat dazu ein Stufenmodell mit acht Entwicklungsphasen bis zur Schaffung künstlichen Lebens vorgeschlagen.7 Budisa hat dieses mit Xenobiologie und genetischer Firewall ergänzt (Abbildung 1) und die aktuellen Forschungen zwischen Stufe 5 (Synthetische Allele, transgene Organismen) und 6 (Synthetische Genome) eingeordnet.8 Gegenwärtig ist der Begriff „genetische Firewall“ nur eine Idee.9 Selbst in diesem Stadium sind aber mindestens von radikalen Umweltschützern sowie traditionellen Philosophen ablehnende Reaktionen zu erwarten. Die einen werden sagen: „Die Natur weiß es besser“ und die anderen werden die Idee der Firewall als „Irrtum“ anprangern, da die Natur (ist doch klar) immer „alle Barrieren überwindet“.10 Experimentelle Wissenschaftler, in erster Linie die kreativen Ingenieure und Designer, sollten sich nicht auf spekulative Diskussionen einlassen, sondern experimentell überprüfen, ob eine genetische Firewall etabliert und wie dicht sie gemacht werden kann. Einer der Grundpfeiler des Darwinismus ist, dass genetisch isolierte Populationen im Lauf der Zeit separate und vererbbare Veränderungen entwickeln. Was für Darwin-Finken gilt, trifft auch auf Zellen zu.

5 M. Schmidt, „Xenobiology: A new form of life as the ultimate biosafety tool“, in: BioEssays, 32(4)/2010, S. 322-331. 6 C. G. Acevedo-Rocha, N. Budisa, „Auf dem Weg zu chemisch veränderten Organis­ men mit genetischer Firewall“, in: Angew. Chem., 123(31)/2011, S. 7094-7096. 7 V. de Lorenzo, „Environmental biosafety in the age of Synthetic Biology: Do we really need a radical new approach?“, in: Bioessays, 32(11)/2010, S. 926-931. 8 N. Budisa, „Parallele biologische Welt mit genetischer Firewall – Wahrheit oder Dichtung?“, in: E. M. Herzog, H.-C. Bauer, A. Lametschwandtner (Hrsg.), Blick­ punkt: Leben: Am Rande des Daseins?, Norderstedt 2014, S. 93-106. 9 M. Schmidt, „Safeguarding the Genetic Firewall with Xenobiology“, in: Institute on Science for Global Policy & University of Arizona (Hrsg.), 21st Century Borders/ Synthetic Biology: Responsibility & Governance, 2013, S. 55-65. 10 Siehe z. B. Bericht „Leben überwindet jede Brandmauer“, in: Marburger UniJour­ nal, 43/2014, S. 5, über der dritten Runde der Gespräche „Synthetische Biologie im Dialog“ vom Marburger „LOEWE“-Zentrum Synmikro: „Unter evolutionären Gesichtspunkten gibt es nichts, was wirklich isoliert ist“ (…) Der Begriff der ge­ netischen „Firewall“ sei irreführend, erklärte der Philosoph: Weil sich synthe­ti­ sche Organismen evolutiv weiter entwickelten, könnten einmal in Gang gesetzte Prozesse nicht mehr aufzuhalten sein. „Eine Firewall evolviert nicht.“

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Abbildung 1: Die acht Stufen des Übergangs zwischen natürlich vorkommenden Organismen und komplett synthetischen Mikroben.

Nach einiger Zeit werden sich Zellen von der elterlichen Population reproduktiv isolieren (Artentstehung oder Artbildung). Hier möchte ich argumentieren, dass die anthropogen gesteuerte gerichtete Evolution von Lebewesen noch einen Schritt weiter gehen kann: zu Versuchen, die die Einführung von neuen und erfinderischen Chemien (Elemente, Reaktionen, Synthesewege) in das Protoplasma von Lebewesen ermöglichen. Wir sollten experimentell überprüfen, wie weit man in diese Richtung gehen kann. Denn für die Idee der Firewall ist es wichtig, dass wir in Erfahrung bringen, ob die chemische Standardzusammensetzung von terrestrischen Lebewesen (invariant seit fast 4 Milliarden Jahren!) prinzipiell geändert werden kann und ob wir die Tür zu einer parallelen biologischen Welt öffnen können. In der Natur begründet der Energiefluss der Erde einen zyklischen Materialfluss unter kontinuierlicher Aufrechterhaltung der Ordnung, welcher zur Formation von lebenden Systemen führt.11 Morowitz hat 11 H. J. Morowitz, Energy Flow in Biology, Woodbridge, Connecticut 1968.

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argumentiert, dass dieser Prozess unerlässlich und deterministisch sei und in diesem Sinne „alles auf Wasser und Kohlenstoff basierende Leben überall im Universum charakterisieren werde“.12 Alle für den Energie- und Materialfluss notwendigen Informationen sind im Genom von Lebewesen kodiert. Diesem Paradigma folgend beeinflussen sowohl die chemische Zusammensetzung als auch die Auswahl der grundlegenden Basiseinheiten den Lebensprozess.



Abbildung 2: Die chemische Beständigkeit des Lebens am Beispiel des genetischen Informationsflusses. Das „Zentrale Dogma“ der molekularen Biologie postuliert, dass in allen Lebewesen der Informationsfluss zwischen Informationsspeicher (DNA) und Proteinen unidirektional verläuft. Der fast universelle genetische Code ist im RNA-Format dargestellt.

12 H. J. Morowitz, J. D. Kostelnik, J. Yang, G. D. Cody, „The origin of intermediary metabolism“, in: Proc. Natl. Acad. Sci. USA, 97/2000, S. 7704-7708.

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Die Moleküle des irdischen Lebens umfassen hauptsächlich Aminosäurepolymere (Proteine) und Nukleinsäuren (DNA, RNA) sowie Lipide und andere kleinere Moleküle wie Coenzyme und Cofaktoren. Obwohl die Anzahl an monomeren Baueinheiten des Lebens sehr klein ist, zeigen ihre vorübergehenden Kombinationen eine sehr hohe Variation.13 Dabei bilden die Naturgesetze der Physik und Chemie sowie das genetische Programm die Grundlagen des Lebensprozesses. In allen lebenden Zellen basiert das genetische Programm auf den Informationen, die in den Strukturen der Nukleinsäuren kodiert sind. Die meisten biologischen Aktivitäten sind durch die Struktur der Proteine bestimmt. Gemeinsam sind den Zellen darüber hinaus ein großes Repertoire an anderen Makromolekülen wie Fettsäuren und Kohlenhydraten und kleinen Molekülen sowie metabolische Stoffwechselwege und Wege der Informationsverarbeitung. Die Kodierung aller genetischen Informationen lebender Systeme basiert auf einer hoch standardisierten Chemie, welche aus vier „Buchstaben“ oder Nukleotiden in den Informationspolymeren (DNA oder RNA) sowie 20 α-Aminosäuren als grundlegenden Bausteinen in den katalytischen Polymeren (Proteine) besteht (Abbildung 2). Der genetische Code ist der Übersetzungsschlüssel, mit dem diese 20 kAs von molekularen Maschinen, den Ribosomen, zu Proteinen polymerisiert werden. Die Wissenschaft hat einen Punkt erreicht, an dem durch die Verwendung von nicht-kanonischen Buchstaben oder Bausteinen Xeno-DNA oder Xenoproteine hergestellt werden können (Abbildung 3).

2. Biologie als Wissenschaft der Synthese In den ersten Jahren der Entwicklung der modernen Synthetischen Chemie galt die Synthese von komplexen Substanzen, wie sie von Pflanzen oder Tieren hergestellt werden, als unmögliche Aufgabe. Außerdem waren viele physiologische Phänomene unzugänglich für experimentelle Ansätze. Dies ließ Raum für metaphysische Konzepte wie die Idee, dass sich organische Verbindungen nur unter der Kontrolle 13 N. Budisa, „Prolegomena zum experimentellen Engineering des genetischen Codes durch Erweiterung seines Aminosäurerepertoires“, in: Angew. Chem., 116/2004, S. 6586-6624.

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einer besonderen vitalen Kraft („vis vitalis“), welche nur in Lebewesen agiert, formieren könne. So wurden auch metaphysische Konzepte als Hauptkriterium benutzt, um zwischen lebender und unbelebter Materie zu unterscheiden. Schon Anfang des 19. Jahrhunderts wurden diese metaphysischen Anwandlungen mittels der chemischen Synthese, vor allem durch die Synthese von Harnstoff, widerlegt.14 Obwohl dies nicht der erste Meilenstein der Synthese von natürlich auftretenden organischen Verbindungen war, verbreitete sich erst daraufhin die Erkenntnis, dass natürliche organische Verbindungen chemisch synthetisierbar sind. Komplexe Verbindungen konnten von simplen Strukturen ausgehend in einer ansteigenden und kontrollierten Art und Weise synthetisiert werden. Weniger als 50 Jahre später war die organische Synthetische Chemie schon eine Wissenschaft, welche sich das ambitionierte Ziel setzte, alle natürlichen organischen Stoffe zu synthetisieren.15 Heutzutage hat die Synthetische Biologie ähnliche Ziele: biologische Teile von Lebewesen als Module zu definieren und durch Neukombination neuartige biologische Systeme zu generieren. Die Xenobiologie geht noch einen Schritt weiter: Sie will die chemische Zusammensetzung dieser Module neu gestalten.16 Die Grundvoraussetzung der Synthetischen Biologie basiert auf dem Konzept der Modularität, welche aus der Softwareentwicklung oder auch der Elektrotechnik stammt.17 Eine modulare Herangehensweise soll bei der Vereinfachung biologischer Systeme helfen und es ermöglichen, erste Prinzipien einer biologischen Hierarchie zu definieren, um von Grund auf (Bottom-Up Prinzip) biologische Systeme entwerfen zu können.18 Sobald diese modularen Einheiten, z. B. synthetische Netzwerke auf der Ebene der Transkription, Translation und Signaltransduktion sowie des Stoffwechsels, von ihrer spezifischen biologischen Eingliederung orthogonalisiert (entkoppelt) sind, sollte es möglich sein, einem System neue Teile hinzuzufügen, ohne dabei

14 R. P. Multhauf, The Origins of Chemistry, Oldbourne, London 1966. 15 E. Fischer, „Synthetical chemistry in its relation to biology“ (Faraday Lecture), in: J. Chem. Soc., Chem. Commun., 91/1907, S. 1749-1765. 16 N. Budisa, „Xenobiology, New-to-Nature Synthetic Cells and Genetic Firewall“, in: Curr. Org. Chem., 18/2014, S. 936-943. 17 C. M. Agapakis, P. A. Silver, „Synthetic biology – exploring and exploiting genetic modularity through the design of novel biological networks“, in: Mol. Biosyst., 5/2009, S. 704-713. 18 D. Endy, „Foundations for engineering biology“, in: Nature, 438/2005, S. 449-453.

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unerwünschte Nebeneffekte oder Kreuzreaktionen zu generieren.19 Natürlich ist dies eine Idealisierung der Ingenieurbiologie, denn in der Realität treten unvorhergesehene Effekte hervor, sobald die Komplexität des Zielorganismus zunimmt. Sogar idealisierte Moleküle haben auf molekularer Ebene viele unbestimmte Freiheitsgrade und ihre Orthogonalisierung im biologischen Kontext ist extrem schwierig. Dies kann anhand der Methodik veranschaulicht werden, mit der derzeit synthetisches Leben geschaffen wird: Die Erschaffung der ersten „synthetischen selbstreplizierenden bakteriellen Zellen“20 wurde durch die Kopie eines natürlichen Genoms erreicht, in das zusätzliche synthetische, aber funktionslose DNA-Sequenzen eingefügt worden waren. Das ist zwar ein technischer Fortschritt, gehört aber immer noch zur klassischen Gentechnologie (Schritt 6 in Abbildung 1).

3. Beweggründe für die Entwicklung der Xenobiologie, Biosicherheitsbedenken Die Synthetische Biologie bietet Aussicht auf die Entwicklung einer Vielzahl interessanter, neuer, chemisch diversifizierter Biokatalysatoren zur Herstellung von Treibstoff, neuen aktiven Zusatzstoffen, Medizinprodukten und vor allem umweltfreundlicher Biomasse, um nur einige Anwendungen zu nennen. Der interessierte Leser kann sich darüber in zahlreichen Büchern und Veröffentlichungen informieren.21 Im Windschatten der Synthetischen Biologie entwickelt sich die Xenobiologie, da mit den Mitteln der Synthetischen Biologie nur derjenige Teil unserer technologischen Bedürfnisse befriedigt werden kann, für den die Natur Bausteine und Chemie bereitgestellt hat. Für weiter19 M. Heinemann, S. Panke, „Synthetic biology – putting engineering into biology“, in: Bioinformatics, 22/2006, S. 2790-2799. 20 D. G. Gibson et al., & C. A. Hutchison, H. O. Smith, J. C. Venter, „Creation of a bacterial cell controlled by a chemically synthesized genome“, in: Science, 329/2010, S. 52-56. 21 Siehe z. B.: W. Weber, M. Fussenegger, „Emerging biomedical applications of syn­ thetic biology“, in: Nature Rev. Gen., 13/2012, S. 21-35; W. C. Ruder, T. Lu, J. J. Collins, „Synthetic biology moving into the clinic“, in: Science, 333/2011, S. 12481252; J. D. Keasling, „Manufacturing molecules through metabolic engineering“, in: Science, 330/2010, S. 1355-1358.

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gehende Anwendungen wurden in der anthropogenen Chemie viele Bausteine und Syntheseprozesse entwickelt, die nicht in der Natur vorkommen. Die Mission der Xenobiologie ist der Einbau dieser menschengemachten Chemie in lebende Zellen. Die einfachsten biologischen Modelle, die der Xenobiologie zur Verfügung stehen, sind Mikroorganismen, die als vorfabrizierte, durch genetische Programme beherrschte Produktionssysteme betrachtet werden (siehe Ref. 1). Durch die Einführung kleiner Änderungen im genetischen Programm eines Organismus kann ein Bioingenieur große Veränderungen im Produktionsergebnis bewirken. Experimentell erreicht man das durch Umfunktionalisierung, Umprogrammierung und Umcodierung natürlicher Prozesse.22 Der grundlegende Unterschied zwischen Synthetischer Biologie und Xenobiologie ist, dass die Synthetische Biologie lebende Systeme durch Austausch und Kombination von standardisierten Teilen (Module, Biobricks), die auf natürlichen Vorbildern basieren und von genetisch modifizierten Organismen (GVOs) hergestellt werden, umkonstruiert (Abbildung 5). Dagegen nutzt die Xenobiologie nicht-natürliche Moleküle, um Xenoorganismen oder CVOs (chemisch veränderte Organismen), die nicht unter die derzeitige GVO-Gesetzgebung fallen, herzustellen. Diese CVOs können bisher nicht verwendete chemische Elemente (z. B. Fluor und Bor), neuartige Buchstaben, Bausteine und Gerüste enthalten. Die Forschung will dieses Ziel durch einen alternativen genetischen Code oder eine alternative Leseweise des genetischen Codes erreichen, wofür der ganze Fluss der genetischen Information neu gestaltet wird (Abbildung 3). Gelingt es, die Lesart des genetischen Codes in einem lebenden Organismus zu verändern und chemisch neue Buchstaben oder Bausteine einzufügen, wird er Einschränkungen des Genaustauschs mit natürlichen Zellen unterliegen und eine genetische Enklave bilden.23 Das ist ein wichtiger Aspekt in Bezug auf Biosicherheit, da die Gefahr einer Freisetzung künstlicher Zellen vermindert wird. Deshalb sucht die Xenobiologie Bedingungen, unter denen Zellen unbegrenzt, jedoch in genetischer Isolation von natürlich existierenden Spezies kultiviert werden können. 22 Siehe z. B.: N. Budisa, „Tailored Life for the Biotechnology of the Future“, in: AlumniTU Berlin-News from our Campus and about our Research, 2/2014, (Web: http:// www.alumni.tu-berlin.de/forscher-alumni/newsletter001/newsletter00000/ budisa/). 23 P. Marlière, „The farther, the safer: a manifesto for securely navigating synthetic species away from the old living world“, in: Syst. Synth. Biol., 3/2009, S. 77-84.

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Abbildung 3: Zusammenfassung von experimentellen Ansätzen und Konzepten, denen eine Neuorganisation des natürlichen genetischen Informationsflusses zu Grunde liegt. Es handelt sich im Wesentlichen um Methoden, Ebenen und Angriffsstellen für den Neuentwurf des genetischen Codes.

4. Gegenwärtiger Stand der xenobiologischen Idee und Forschung Noch ist die überwältigende Mehrheit der Forscher in den Biowissenschaften überzeugt, dass Xenobiologie und sogar Synthetische Biologie unnötig sind, da die Natur durch vorhandene Strukturen und Informationsübertragungswege (z. B. horizontalen Gentransfer, Mutation, Rekombination) ausreichende Mittel bereitstellt, um allen

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technologischen Fragestellungen zu begegnen. Reprogrammierte Zellen oder Proteine - ausgestattet mit synthetischen Strukturen – sehen sie nur als nützliche Werkzeuge für akademische Fragestellungen oder kleine Anwendungen. Interessanterweise ist die Xenobiologie aber keine junge Entwicklung. Bereits in den 1950er und 1960er Jahren wurde demonstriert, dass die Inkorporation von z. B. nkAs in die Proteome von Organismen tatsächlich möglich ist.24 Dabei hat man auxotrophen mikrobiologischen Stämmen, die nicht in der Lage sind, einen essentiellen Nährstoff selbst herzustellen, durch Fütterung eine naturfremde Verbindung aufgezwungen und Zellen erzeugt, die mit diesem Stoff leben können.

Abbildung 4: Experimentelle Evolution von codonemanzipierten Zellen mit unnatürlichem genetischem Code. Das ultimative Ziel ist es, einen Stamm mit emanzipierten Sense-Codons zu evolvieren.25 Die Langzeitkultivierung hat bereits ihr Potential in der substantiellen evolutiven Reorganisation der zellulären Biochemie gezeigt.

Gegenwärtig fokussiert sich die Synthese von alternativen biologischen Systemen im Rahmen des Genome Engineerings hauptsächlich auf die drei universellen Biomoleküle DNA, RNA und Proteine, sowie das genetische Code Redesign mittels gerichteter Evolution mikrobieller Stämme (Abbildungen 2 und 4). Alle grundlegenden Bestandteile der DNA, also die Nukleotidbase, die Desoxyribose und auch das Phosphoesterrückgrat, können gegenalternative chemische Strukturen wie

24 D. B. Cowie, G. N. Cohen, „Biosynthesis by Escherichia coli of active altered proteins containing selenium instead of sulfur“, in: Biochimica et Biophysica Acta, 26/1957, S. 252-261. 25 B. Wiltschi, N. Budisa, „Natural history and experimental evolution of the genetic code“, in: Appl. Microbiol. Biotechnol., 74/2007, S. 739-753.

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Xeno-DNA (XNA) ausgetauscht werden.26 Dies bedeutet für die Zukunft, dass wir einen zunehmenden Fortschritt in der Konstruktion von neuen, mit Xenonukleinsäuren arbeitenden biologischen Systemen erleben werden.27

5. Trophische und semantische Eindämmung im Design von alternativem genetischem Code Der genetische Code ist auf der Erde fast universal und sein Ableseverfahren ist ein wichtiger Schritt für den Transfer genetischer Information. Die experimentelle Veränderung dieser Universalität sollte uns durch die Herstellung eines veränderten mikrobiellen Stamms mit genomweiter Codonreprogrammierung gelingen.28 Die natürliche Beschränkung des genetischen Codes auf eine Auswahl von Codons als Buchstaben und Aminosäuren als Bausteine könnte man durch trophische und/oder semantische Eindämmung (Containment) überwinden. Unter trophischer Eindämmung versteht man die Durchsetzung von Xenonährstoffen und die Verhinderung der metabolischen Kreuzfütterung (s. voriges Kapitel), während die semantische Eindämmung auf der Verhinderung des genetischen Informationsaustauschs durch z. B. XNA, einem alternativen genetischen Code, beruht (siehe Ref. 21). Ein alternativer genetischer Code könnte eine kleinere29 oder größere Anzahl an Aminosäuren kodieren. Ebenso könnte eine Auswahl von Aminosäuren durch nkAs ersetzt (Genetic Code Engineering) oder eine Auswahl von nkAs dem Repertoire des genetischen Codes hinzugefügt (Genetic Code Expansion) werden.30 Um den genetischen Code mit neuartigen chemischen Funktionalitäten auszustatten, müs26 V. B. Pinheiro et al. & P. Herdewijn, P. Holliger, „Synthetic genetic polymers capable of heredity and evolution“, in: Science, 336/2012, S. 341-344. 27 P. Marlière, J. Patrouix, V. Döring, P. Herdewijn, S. Tricot, S. Cruveiller, M. Bouzon, R. Mutzel, „Chemical evolution of a bacterial genome“, in: Angew. Chem. Int. Ed. Engl., 50/2011, S. 7109-7114. 28 N. Budisa, Engineering the genetic code, Weinheim 2005. 29 V. Pezo, V. Guérineau, J.-P. Le Caer, L. Faillon, R. Mutzel, P. Marlière, „A metabolic prototype for eliminating tryptophan from the genetic code“, in: Scientific Reports, 3/2013, e1359. 30 M. G. Hoesl, N. Budisa, „Recent advances in genetic code engineering in Escherichia coli“, in: Cur. Op. Biotechnol., 23/2012, S. 751-757.

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Abbildung 5: Die Beziehungen zwischen CVOs und GVOs in einem hypothetischen Experiment des genomweiten Neudesigns des standardisierten genetischen Codes in einem bestimmten Organismus. Das Aminosäurerepertoire kann durch Emanzipation von beispielsweise seltenen Codons erweitert sowie bestimmten nkAs subsequent neu zugeordnet werden. Obwohl genomisch-rekodierte Organismen (GROs, Stufe 7 in Abbildung 1) wie die vor kurzem designten E. coli-Bakterien31 resistent gegenüber Bakteriophageninfektionen und horizontalen Gentransfers sein sollen, sind diese immer noch GVOs, da sich ihre grundlegende Chemie nicht verändert hat. (GV – genetische Veränderung, MAGE – Multiplex Automated Genome Engineering)

sen einige bereits besetzte Codons von ihrer ursprünglichen Funktion befreit und in diesem Sinne Zellen von der kanonischen Leseart der spezifischen Codontripletts entkoppelt werden (Codonemanzipation, Abbildung 4).32 Dafür sollten nicht nur mikrobielle, sondern auch eukaryotische Zellen geeignet sein. Beispielsweise gibt es Saccharomyces cerevisiaeStämme, in denen künstliche Chromosomen erzeugt worden sind. Vor kurzem wurde das gesamte Hefegenom synthetisiert.33 Durch Nutzung dieser Plattformen könnten terminierende Codons oder verwandte tRNA-Gene genomweit entfernt oder ausgetauscht und ein neuartiges Leseverfahren des genetischen Codes erreicht werden (Abbildung 5). Einen Machbarkeitsnachweis für solch eine experimentelle 31 M. J. Lajoie et al. & G. M. Church, F. J. Isaacs, „Genomically recoded organisms expand biological functions“, in: Science, 342/2013, S. 357-360. 32 N. Bohlke, N. Budisa, „Sense codon emancipation for proteome-wide incorporation of noncanonical amino acids: rare isoleucine codon AUA as a target for genetic code expansion“, in: FEMS Microbiol. Lett., 351/2014, S. 133-144. 33 J. S. Dymond et al. & J. D. Boeke, „Synthetic chromosome arms function in yeast and generate phenotypic diversity by design“, in: Nature, 477/2011, S. 471-476.

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Evolution von mikrobiellen Stämmen basierend auf Langzeitkultivierung und Isolierung von Missense-Stämmen wurde bereits berichtet (siehe Ref. 29).

6. Xenobiologie, Astrobiologie und der Ursprung des Lebens Forschung in der Xenobiologie steht durch ihre Forschung am genetischen Code im Zusammenhang mit Studien zum Ursprung des Lebens und speziell dem Ursprung des genetischen Codes. Sie wird sich auch zunehmend mit der Astrobiologie austauschen, die extraterrestrische Bausteine liefern kann.34 Zum Beispiel zeigte die intensive chemische Analyse von kohlenstoffhaltigen Meteoriten wie dem Murchison Meteoriten die Anwesenheit von mehr als 70 extraterrestrischen Aminosäuren, wobei linksdrehende Enantiomere dominant vertreten waren.35 Durch Tests der Eignung dieser Aminosäuren als Bausteine für die Proteinherstellung in irdischen Organismen (Viren, Archaea, Eubakterien, Fungi, Bakterien, Pflanzen und Eukaryonten) würden wir neue Erkenntnisse hinsichtlich der experimentellen Regeln und Determinanten erlangen, durch die der fast universelle genetische Code auf der Erde auf 20 kAs beschränkt ist.36

34 D. Schulze-Makuch, L. N. Irwin, Life in the Universe: Expectations and Constraints, Berlin, Heidelberg 2008. 35 J. R. Cronin, S. Pizzarello, „Enantiomeric excesses in meteoritic amino acids“, in: Science, 251/1997, S. 951-953. 36 A. L Weber, S. L. Miller, „Reasons for the occurrence of the 20 coded protein amino acids“, in: J. Mol. Evol., 17/1981, S. 273-284.

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In den letzten Jahren ist die Etablierung einer neuen technisch ausgerichteten Subdisziplin der Lebenswissenschaften festzustellen, die als ‚Synthetische Biologie‘ sowohl innerwissenschaftlich-technische als auch außerwissenschaftlich-technologische Fragen hervorruft. Der Status der neuen Verfahren, deren disziplinäre Zuordnung sowie deren technologische Bedeutung wurde sowohl von den im Labor arbeitenden Akteuren oder den einschlägigen Fachzeitschriften2 als auch von fachwissenschaftlichen Standesorganisationen3 oder wissen1

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Die folgenden Ausführungen basieren auf den Überlegungen in K. Köchy, „Kon­ struktion von Leben? Herstellungsideale und Machbarkeitsgrenzen in der Synthe­ tischen Biologie“, in: V. Gerhardt, K. Luca, G. Stock (Hrsg.), Evolution. Theorie, Formen und Konsequenzen eines Paradigmas in Natur, Technik und Kultur, Ber­ lin 2011, S. 233-242; K. Köchy, „Zum Verhältnis von Natur und Technik in der Synthetischen Biologie“, in: J. Boldt, O. Müller, G. Maio (Hrsg.), Leben schaffen? Philosophische und ethische Reflexionen zur Synthetischen Biologie, Paderborn 2012, S. 155-176; K. Köchy, „Sind die Überlegungen von Hans Jonas zum Sonderstatus biologischer Technik angesichts der Entwicklungen in der Syn­ the­tischen Biologie noch haltbar?“, in: M. Gadebusch-Bondio, H. Siebenpfeiffer (Hrsg.), Konzepte des Humanen, Freiburg, München 2012, S. 81-102; K. Köchy, „Lebensbegriffe in den Handlungskontexten der Synthetischen Biologie“, in: Jahr­ buch für Wissenschaft und Ethik 19/2014, S. 133-172. Diese Arbeiten liefern den Hintergrund und das weiterführende Material für die hier vorgelegte Studie, die 2014 in J.S. Ach, B. Lüttenberg, M. Quante (Hrsg.), wissen. leben. ethik. Themen und Positionen der Bioethik, Münster (S. 315-33) publiziert wurde und mit der Fokussierung des Synthesekonzepts einem neuen Gedanken folgt. Vgl. S. A. Benner, „Act natural“, in: Nature 421(9)/2003, S. 118; S. A. Benner, M. Sismour, „Synthetic Biology“, in: Nature Reviews Genetics 6/2005, S. 533-543; G. M. Church, „From systems biology to synthetic biology“, in: Molecular Systems Biology 2006; S. 1-2, H. Breithaupt, „The engineer’s approach to biology“ in: EMBO reports 7(10)/2007, S. 21-24; D. A. Drubin, J. C. Way, P. A. Silver, „Designing biological systems“, in: Genes & Development 21/2007, S. 242-254; L. Serrano, „Syn­thetic biology: promises and challenges“, in: Molecular Systems Biology 3(158)/ 2007, S. 1-5. Vgl. Royal Academy of Engineering, Synthetic Biology: scope, applications and implications, London 2009; Acatech (Deutsche Akademie der Technikwissenschaften),

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schaftspolitischen Förderinstitutionen4 kontrovers diskutiert. An diese Debatten schließt sich fast nahtlos eine Metareflexion von Technikfolgenabschätzung5, Philosophie6 oder Ethik7 an, in der sowohl methodologische als auch ontologische oder moralische Fragen erörtert werden. Um einen neuen Akzent in dieser bereits elaborierten Diskussion zu setzen, soll im Folgenden die in diesem Kontext erfolgende Zuschreibung von Synthese im Fokus stehen. Das Ziel ist es, den Anspruch genauer zu verstehen, der erhoben wird, wenn eine neue, synthetische Biologie als Ergänzung der vormals analytischen Biologie etabliert werden soll. Welche spezifische Art von Synthese oder Synthesen ist dabei konkret gemeint? Was bedeutet dieser Anspruch für den Status der so synthetisierten Produkte? Welche Syntheseziele sind überhaupt formuliert? Und schließlich: Ergibt sich möglicherweise gerade mit Blick auf den so postulierten Syntheseanspruch und die mittels eines spezifischen Synthesemodus zu etablierenden Syntheseprodukte auch eine neue Sicht auf die ethische Dimension der ‚Synthetischen Biologie‘?

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A. Pühler, B. Müller-Röber, M.-D. Weitze (Hrsg.), Synthetische Biologie. Die Geburt einer neuen Technikwissenschaft, Berlin, Heidelberg 2011; K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Interdisziplinäre Arbeitsgruppe ‚Gentechnologiebericht‘ der Ber­ lin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Synthetische Biologie. Ent­ wicklung einer neuen Ingenieurbiologie?, Dornburg 2012. Vgl. European Commission, Synthetic Biology. Applying Engineering to Bio­logy. Report of a NEST High-Level Expert Group, Luxemburg 2005; Health Coun­ cil of Netherlands, Synthetic biology: creating opportunities, The Hague 2008; DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft, acatech Deutsche Akademie der Tech­ nikwissenschaften, Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina), Synthe­ tische Biologie, Stellungnahme, Weinheim 2009. Vgl. J. B. Tucker, R. A. Zilinskas, „The Promise and Perils of Synthetic Biology“, in: The New Atlantis. A Journal of Technology and Society, 12/2006, S. 25-45; Rathenau Instituut, Constructing Life. The World of Synthetic Biology, The Hague 2007; International Risk Governance Council, Synthetic Biology. Risks and opportunities of an emerging field, Genf 2008. Vgl. P. Dabrock, M. Bölker, M. Braun, J. Ried (Hrsg.), Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zur Ethik der Synthetischen Biologie, Freiburg, München 2011; J. Schummer, Das Gotteshandwerk. Die künstliche Her­ stellung von Leben im Labor, Frankfurt a. M. 2011; J. Boldt, O. Müller, G. Maio (Hrsg.), Leben schaffen? Philosophische und ethische Reflexionen zur Synthetischen Biologie, Paderborn 2012. Vgl. A. Balmer, P. Martin, Synthetic Biology: Social and Ethical Challenges, Not­ tingham 200; Eidgenössische Ethikkommission, Synthetische Biologie – Ethische Überlegungen. Bericht der Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich EKAH, Bern 2010.

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1. Synthetische Biologie als Synthese Bei dieser Aufgabenstellung ist zunächst zu berücksichtigen, dass ‚Synthetische Biologie‘ eine relativ grobe Sammelbezeichnung8 für ein heterogenes Gefüge von technischen Ansätzen und methodischen Verfahren der modernen Biowissenschaften darstellt. Eine wichtige Gemeinsamkeit der verschiedenen Ansätze wird dann jedoch eben darin gesehen, dass sie biologische Laborforschung auf eine neue Stufe der technischen Konstruktion, der Synthese von Produkten heben sollen. Eine für unser Thema entscheidende erste Spezifizierung dieser Forderung liefert Steven A. Benner, der sich zu seiner Kennzeichnung an der Chemie orientiert: Nach ihm sind in der Chemie – entsprechend der klassischen Maxime des solve et coagula – zwei methodische Verfahrensweisen zu unterscheiden. Zunächst geht es um die Aufklärung der Zusammensetzung von komplexen Naturprodukten über analytische Verfahren, danach um die Überprüfung dieser so bestimmten Struktur natürlicher Bildungen vermittels synthetischer Verfahren. Hier gilt: „[...] chemists used synthesis simply to prove that the structure proposed for their natural product was correct.“9 In einem weiteren Schritt könnten dann aber auch neue oder modifizierte Eigenschaften von künstlichen Produkten das Ziel solcher Synthesen sein. Die Übernahme dieser auf die klassische Chemie gemünzten Synthesevorstellung bestimmt dann auch die elaborierteren Aufgabenstellungen und Zielsetzungen der Synthetischen Biologie, der es darum gehe, „advanced, dynamic behaviours of biological systems, including genetics, inheritance and evolution“10 zu synthetisieren. Eine erweiterte Sicht auf dieses Zusammenspiel von Analyse und Synthese liefert die mittlerweile leitbildhafte Bestimmung der Synthetischen Biologie durch eine NEST High-Level Expert Group der Europäischen Kommission.11 Demnach folgt die Synthetische Biologie dem ingenieurwissenschaftlichen Paradigma des Systemdesigns. Insofern sei Synthetische Biologie vor allem ein neuer Weg, Dinge zu 8 Nach A. Balmer, P. Martin, Synthetic Biology: Social and Ethical Challenges, Nottingham 2008, S. 7, handelt es sich um einen ‚umbrella term‘, nach L. Serrano, „Synthetic biology: promises and challenges“, in: Molecular Systems Biology 3(158)/2007, S. 1, um ein ‚buzzword‘. 9 S. A. Benner, „Act natural“, in: Nature 421(9)/2003, S. 118. 10 S. A. Benner, „Act natural“, in: Nature 421(9)/2003, S. 118. 11 Vgl. European Commission, Synthetic Biology. Applying Engineering to Biology. Report of a NEST High-Level Expert Group, Luxemburg 2005, S. 10 ff.

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machen (‚a new way of making things‘). Ähnlich wie in der Chemie sei dabei die Stufe des bloßen Nachbaus von vermittels der Analyse bekannten molekularen Strukturen bereits überschritten. Dem Nachbau (‚reproduction‘) inhärent sei stets die Kapazität, modifizierte Versionen zu produzieren. In diesem Sinne gehe es auch in der Synthetischen Biologie um mehr als bloß um eine einfache mimetische Reproduktion natürlicher Vorgaben. Ziel sei es „[…] to go one step further by […] synthesizing novel biological systems from scratch using the design principles observed in nature but with expanded, enhanced and controllable properties.“12 Die diesen Prozess vorbereitende und begleitende Kombination von Analyse- und Syntheseschritten ist dann allerdings (neben der notwendigen biochemischen oder genetischen Analytik) vorrangig eine solche, die über die Verfahren und Ansätze der Systembiologie zur Verfügung gestellt wird. Die stets Methoden der elektronischen Datenerfassung, -verarbeitung und -integration involvierende Systembiologie ermöglicht durch ihre informatische Aufbereitung und Zusammenstellung der analysierten Strukturen nun eine wissensbasierte Synthese. Während Systembiologie die Untersuchung und Strukturdarstellung (‚mapping‘) sowie die Integration von Stoffwechselwegen (‚pathways‘), Gen-Protein-Interaktionen oder Regelungseinheiten (‚logical «circuitry»‘) erlaube, sei die Synthetische Biologie das auf materielle Herstellung ausgerichtete Gegenstück (‚design counterpart‘) dieses Ansatzes. In diesem Sinne zitiert auch Holger Breithaupt den spanischen Synthetischen Biologen Victor de Lorenzo: „Synthetic biology is the other side of the coin of systems biology.“13 Wie in diesen Bestimmungen bereits chemische und mathematisch-informatische Synthesekonzepte ineinander übergreifen, so liefern die Bestimmungen von Jonathan B. Tucker und Raymond A. Zilinskas einen zusätzlichen Aspekt, wenn sie Synthetische Biologie als neue transformative Innovation der Lebenswissenschaften verstehen, deren Syntheseansatz massiv durch Vorbilder aus der Computer- und Elektrotechnologie geprägt werde: „[…] to build living machines from 12 Vgl. European Commission, Synthetic Biology. Applying Engineering to Biology. Report of a NEST High-Level Expert Group, Luxemburg 2005, S. 11. 13 H. Breithaupt, „The engineer’s approach to biology“, in: EMBO reports 7(10)/2007, S. 21. Vgl. auch Health Council of Netherlands, Synthetic biology: creating oppor­ tunities, The Hague 2008, S. 18 f.: „There is a clear affinity between synthetic biology and systems biology. The committee regards systems biology as the study and mapping cellular and intracellular networks, whereas synthetic biology manipulates these networks.“

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off-the-shelf chemical ingredients, employing many of the same strategies that electrical engineers use to make computer chips.“14 Ziel dieser Synthesen sei sowohl das Nachbauen (‚redesign‘) biologischer Systeme mit gegenüber den natürlichen Vorgaben gesteigerter Effizienz als auch die Konstruktion funktioneller genetischer Regelkreise mit definierten praktischen Anwendungszwecken. Insofern ist es das Ziel der Synthetischen Biologie als einer Amalgamierung von Biologie und Ingenieurwissenschaft – so auch David A. Drubin und seine Mitautoren –, biologische Systeme zu erstellen (‚engineering‘), die spezifische Zwecke erfüllen können. Diese Synthese komplementiert nicht nur die Analyse15, sondern auch für ihre technischen Zwecke könne die Synthetische Biologie viel von der Systembiologie lernen, da die letztere versuche, funktionale Systeme als Ganzheiten zu verstehen. Insofern sei die Relation von ‚System‘ und ‚Synthese‘ reziprok „[…] as what is learned from building working systems can be applied to better understanding natural systems and components.“16 In diesen Bestimmungen werden mindestens drei verschiedene, offensichtlich jedoch eng miteinander verwobene Konzepte von Synthese als Leitbild der Synthetischen Biologie vorgestellt: die chemische Synthese, die mathematische Synthese und die technische Synthese.17 Im Folgenden seien diese drei Synthesen näher charakterisiert und in ihr Verhältnis zu den über sie zu synthetisierenden Systemen (allgemein als Biosysteme oder modifizierte Biosysteme verstanden) gesetzt. Die sich hierbei herauskristallisierende dialektische Relation von Fremdherstellung (vermittels einer chemischen, mathematischen oder ingenieurwissenschaftlichen Synthese) und eines bis dato vor allem über seine Fähigkeiten zur Eigenherstellung (Selbstorganisation, Selbsterhaltung) bestimmten Systems macht dann die eigentlich ethisch relevante Spannung der Verfahren der Synthetischen Biologie aus.

14 J. B. Tucker, R. A. Zilinskas, „The Promise and Perils of Synthetic Biology“, in: The New Atlantis. A Journal of Technology and Society 12/2006, S. 25. 15 Vgl. D. A. Drubin, J. C. Way, P. A. Silver, „Designing biological systems“, in: Genes & Development 21/2007, S. 242. 16 Vgl. D. A. Drubin, J. C. Way, P. A. Silver, „Designing biological systems“, in: Genes & Development 21/2007, S. 242. 17 Diesen Gedanken verfolge ich vor allem in K. Köchy, „Lebensbegriffe in den Hand­ lungskontexten der Synthetischen Biologie“, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19/2014, S. 133-172.

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2. Synthesen: Fremdherstellung von selbstorganisierenden Systemen? Zunächst ist festzuhalten, dass die oben aufgezeigte Kennzeichnung von Synthese durch technologienahe Akteure (Laborforscher oder Autoren von Reviews in Fachjournalen mit direktem Kontaktschluss zur Disziplin) sich aus dem gängigen, durchaus umfänglicheren Fundus der methodischen Analyse- und Synthesekonzepte18 speist, der grundsätzlich philosophische, mathematische, physikalische, chemische, technische oder kognitive Verfahren beinhaltet, sodass ‚Synthese‘ durchaus verschiedene Ansätze des Zusammenfügens, Verbindens oder Konstruierens bezeichnen kann. ‚Synthese‘ steht u. a. für logische oder geometrische Beweis-, Konstruktions- oder Begründungsverfahren, für die Ableitung von physikalischen Phänomenen aus mechanischen Prinzipien oder für informatische Problemlösungsstrategien von wissensbasierten Systemen durch sogenannte ‚Vorwärtsverkettung‘.19 Neben dieser methodisch-methodologischen Trennung, die häufig auf Ergänzung und Zusammenarbeit der gegensätzlich arbeitenden Verfahren von Analyse und Synthese hinaus läuft, finden sich grundsätzlichere Verständnisweisen, nach denen das analytische oder synthetische Vorgehen besondere Denkstile oder Forschungshaltungen auszeichnet und möglicherweise gar für die unterschiedlichen Wissenschaftskulturen in Natur- und Geisteswissenschaften steht.20 Das idealtypische analytisch-diskursive Zergliedern repräsentiert dann die Gegenposition zum Idealtyp des synthetisch-intuitiven Zusammenfügens und insofern finden sich auch Abgrenzungen von elementaristisch-reduktionistischen respektive systemisch-holistischen Ansätzen in den genannten Grenzziehungen wieder. In der Biologie kamen beide Verwendungsformen – die für konkrete Verfahren und die für allgemeine Denkstile – im Laufe der Geschichte immer wieder zum Einsatz und repräsentierten verschiedene Biologieverständnisse, die Abgrenzung von Verfahren oder Disziplinsträngen sowie die Orientierung an je unterschiedlichen Referenzwis18 Vgl. G. Wolters, „Methode, synthetische“, in: J. Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 2, Stuttgart, Weimar 2004, S. 885-886. 19 Vgl. K. Mainzer, „Synthese“, in: J. Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 4, Stuttgart, Weimar 2004, S. 179-181. 20 Vgl. S. Vogel, „Komplementarität in der Biologie und ihr anthropologischer Hinter­ grund“, in: H.-G. Gadamer, P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Biologische An­ thropologie. Erster Teil, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 153, vgl. F. M. Wuketits, Biologische Erkenntnis: Grundlage und Probleme, Stuttgart 1983, S. 83, S. 103.

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senschaften (wie Mathematik, Physik, Chemie, Technik oder gar an der Kunst). So bestimmte sich etwa die an morphologischen Gestaltphänomenen ausgerichtete Biologie, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Orientierung auf Goethe betrieben wurde, u. a. durch ihre Kritik an der analytischen Zergliederung.21 Zwar galt die Analyse von Lebewesen als ein erfolgversprechendes Verfahren der primär physiologischen Forschung, aber holistische Gegner des alleinigen Einsatzes dieses analytischen Vorgehens betonten, es würde nur die „maschinellen Eigenschaften der Lebewesen voll zur Darstellung bringen“, deren „übermaschinelle Fähigkeiten“ wie Wachstum, Regulation oder Regeneration jedoch nicht.22 Auch die organismische Biologie versteht sich in deutlicher Abgrenzung zur rein analytischen Biologie. Da Organismen komplexe, durch spezielle Systemgesetze gekennzeichnete Ganzheiten seien, deren Glieder in dynamischer Wechselwirkung zueinander stünden, sei die analytische Betrachtungsweise durch eine ganzheitliche, die summative durch eine systemische, die statisch-maschinelle durch eine dynamisch-organismische zu ersetzen.23 In diesem 21 Vgl. K. Köchy, Ganzheit und Wissenschaft, Würzburg 1997, S. 277 ff. Die Zusam­ menhänge zwischen dem analytischen Ansatz in der Biologie und elementaristischen Konzepten auf der Suche nach ‚Elementarorganismen‘ schildert E. Radl, Geschichte der biologischen Theorien in der Neuzeit, Bd. 2., Hildesheim, New York 1970, S. 386 ff. 22 J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, Frankfurt a. M. 1973, S. 145 f. Anders sieht es R. Virchow, „Atome und Individuen“, in: Vier Reden über Leben und Kranksein, Berlin 1862, S. 51, für den die Analyse als erste Aufgabe des Forschers in die Zuständigkeit der Morphologie fällt, während die Physiologie die Aufgabe hat, die Zusammenfügung (Synthese) zu leisten. Analyse bedeute zwar den Tod des Untersuchungsobjekts, aber: „Es giebt nur einen Weg des Forschens, und das ist der der Beobachtung, der Zerlegung, der Analyse, mag sie nun an Begriffen oder an Körpern geschehen müssen.“ (R. Virchow, „Atome und Individuen“, in: Vier Reden über Leben und Kranksein, Berlin 1862, S. 51 f.). Im Gegensatz zu den unten aufgeführten Postulaten von Loeb, Roux u. a. weiß Virchow durchaus in Goethes Sinne, dass der Naturforscher den tierischen Körper, den er einmal zerlegt hat, nicht mehr zusammensetzen kann. 23 Vgl. L. v. Bertalanffy, Das Gefüge des Lebens, Leipzig, Berlin 1937, S. 10ff., insbes. S. 14. Vgl. L. v. Bertalanffy, „Biologie und Weltbild“, in: M. Lohmann (Hrsg.), Wohin führt die Biologie? Ein interdisziplinäres Kolloquium, München 1970, S. 13-31. So ist v. Bertalanffy, der im Zentrum seiner Systemtheorie das „Problem der Ganzheit, der Synthese, der Integration“ (L. v. Bertalanffy, „Biologie und Weltbild“, in: M. Lohmann (Hrsg.), Wohin führt die Biologie? Ein interdisziplinäres Kolloquium, Mün­chen 1970, S. 13.) sieht, auch später noch der Überzeugung, wegen der Wech­ selwirkung vieler variabler Glieder in komplexen ganzheitlichen Systemen müss­ ten die analytischen Methoden der „Isolierung einzelner Kausalketten“ (L. v. Bertalanffy, „Biologie und Weltbild“, in: M. Lohmann (Hrsg.), Wohin führt die Bio­ logie? Ein interdisziplinäres Kolloquium, München 1970, S. 26.) versagen.

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Sinne fordern auch die Anhänger einer ganzheitlich ausgerichteten Entwicklungsbiologie die Ergänzung der bisherigen entwicklungsmechanischen Analyse durch ein synthetisches Verfahren. Analyse könne demnach „nie Selbstzweck sein“24, denn mit der Nennung aller einzelnen Faktoren und Ereignisse des Entwicklungsgeschehens sei der Gesamtvorgang noch nicht erklärt. Man müsse somit nach der Analyse, nach der Zergliederung, eine Synthese vornehmen. Ob sich dabei „ein Wiederzusammenfügen aus den gefundenen Einzelelementen […] so wie es etwa in der Chemie sich ausführen läßt“25 auch in der Entwicklungsbiologie erlaube, bliebe dabei zunächst offen. Synthese in diesen historischen Kontexten meint also vorrangig die Erweiterung einer elementaristisch-mechanischen Konzeption in Richtung auf eine systemisch-organismische Biologie. Umgekehrt jedoch äußern die Befürworter elementaristischer und mechanistischer Theorien nicht nur die Hoffnung, dass „die künstliche Herstellung von Lebewesen einmal gelingen wird“26, sondern sie betonen in diesem Zusammenhang auch, dass deren physiologische Morphologie alles andere sei als bloß analytisch. Vielmehr ermögliche gerade sie einen synthetischen und konstruktiven Ansatz, indem sie neue Kombinationen der Elemente der lebenden Natur erlaube – ähnlich wie ein Physiker oder Chemiker neue Kombinationen in der nichtlebenden Natur umsetze.27 In diesem Sinne erfordere der Fortschritt im Projekt der „künstlichen Herstellung von Lebewesen“ ein „methodisch synthetisches“ Vorgehen, verstanden als sukzessive „Herstellung und Häufung der einzelnen elementaren Lebensleistung“, worunter u. a. auch Selbstveränderung, Selbstausscheidung oder Selbstassimilation rangieren.28 So gilt schon zu dieser Zeit: „Der einzig gangbare Weg, auf dem wir einen sicheren Einblick in den Bau der lebenden Substanz erhalten könnten, wäre nicht die

24 B. Dürken, Entwicklungsbiologie und Ganzheit. Ein Beitrag zur Neugestaltung des Weltbildes, Leipzig, Berlin 1936, S. 11. 25 B. Dürken, Entwicklungsbiologie und Ganzheit. Ein Beitrag zur Neugestaltung des Weltbildes, Leipzig, Berlin 1936, S. 12. 26 J. Loeb, Das Leben. Vortrag gehalten auf dem Ersten Monisten-Kongresse zu Ham­ burg 10.09.1911, Leipzig 1911, S. 9. 27 Vgl. das Zitat von Jaques Loeb in H. Fangerau, „Zur Geschichte der Synthetischen Biologie“, in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie?, Dornburg 2012, S. 67. 28 W. Roux, „Das Wesen des Lebens“, in: C. Chun, W. Johannsen (Hrsg.), Allgemeine Biologie, Die Kultur der Gegenwart, Leipzig, Berlin 1915, S. 184 ff.

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chemische Analyse, sondern die Synthese, d.h. die Darstellung eines lebenden Organismus von chemisch kontrolliertem Material […].“29 Damit wird deutlich, dass bereits am historischen Beginn der heutigen Debatten30 eine bedeutende Opposition von analytischer und synthetischer Biologie steht und dass mit diesen Begriffen jeweils komplexe Forschungsprogramme angesprochen sind, die sich nicht nur durch konkrete methodische Verfahren, Apparate oder Erklärungsansätze unterscheiden, sondern die darüber hinaus in ihrem ‚inneren Kern‘ eine ganze Reihe von quasi weltbildhaften Vorannahmen transportieren. Auch in den auf den ersten Blick rein technischen Verwendungsformen des Synthesebegriffs der aktuellen Debatte um die Synthetische Biologie machen sich diese impliziten Rahmenannahmen noch bemerkbar. Gerade indem die relevanten Synthesebegriffe aus den Bereichen der Mathematik, der Technik oder der Chemie in die Biologie exportiert werden, färben sie das neue Verständnis von Biologie und bringen zugleich ein je bestimmtes Vorverständnis des biologischen Gegenstandsbereichs zum Ausdruck.31 Insofern gilt auch in diesem Fall, dass die Methode der Untersuchung in die Definition des Untersuchten einwandert. Gerade im Kontext einer auf praktische Umsetzung und technischen Erfolg ausgerichteten operationalisierten Forschung wie der Synthetischen Biologie jedoch werden dann auch die in der zu behandelnden Sache selbst liegenden Grenzen von Umsetzungsidealen deutlich, die als biologisch bedingte Widerständigkeit quasi den Bereich des Präoperativen auszeichnen.32 29 B. Lidforss, „Protoplasma“, in: C. Chun, W. Johannsen (Hrsg.), Allgemeine Biologie, Die Kultur der Gegenwart, Leipzig, Berlin 1915, S. 238. 30 Vgl. D. J. Haraway, Crystals, Fabrics, and Fields. Metaphors of Organicism in Twentieth-Century Developmental Biology, New Haven, London 1976. 31 Nach S. A. Benner, „Act natural“, in: Nature 421(9)/2003, S. 118, sind lebende Systeme vorrangig besondere Arten von chemischen Systemen: „To a synthetic biologist, life is a special kind of chemistry, one that combines a frequently en­ countered property of organic molecules (the ability to undergo spontaneous trans­ formation) with an uncommon property (the ability to direct the synthesis of self-copies), in a way that allows transformed molecular structures themselves to be copied.“ Das Rathenau Instituut (Constructing Life. The World of Synthetic Biology, The Hague 2007, S. 2) hingegen bezieht sich auf die technische Perspektive und betont, dass in der Synthetischen Biologie lebende Systeme und Maschinen analogisiert werden: „If we view life as a machine, then we can also make it: this is the revolutionary nature of synthetic biology“. 32 Vgl. dazu vor allem meine Überlegungen in K. Köchy, „Lebensbegriffe in den Hand­ lungskontexten der Synthetischen Biologie“, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19/2014,S. 133-172.

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Wenden wir uns vor diesem Hintergrund deshalb dem Gedanken der Synthese in den drei genannten Konzepten zu. Unter mathema­ tischen Vorzeichen wird zunächst die Gegenüberstellung von Analyse und Synthese als Ergänzungsverhältnis erkennbar zwischen der systembiologischen Rekonstruktion biologischer Strukturen einerseits und der biosynthetischen Konstruktion von biomimetischen Systemen im Modus des Nachbaus respektive von zunehmend veränderten Systemen im Modus des Neubaus andererseits. Schon mit Blick auf die Systembiologie kommen offensichtlich sowohl analytisch-trennende als auch synthetisch-verbindende Verfahren zusammen, weil sowohl biologisch-chemische Schritte der Strukturanalyse als auch informationstechnische Schritte der Datensammlung, -aggregation, -integration etc. diesen Ansatz bestimmen. Konzentriert man sich jedoch auf den oben erwähnten Systemanspruch, den Systembiologie und Synthetische Biologie miteinander teilen und der immer wieder als ein zentrales Element ihrer Besonderheit genannt wird, dann ist in beiden Ansätzen insbesondere das Moment des Zusammenfügens (Synthese) bedeutsam, erlangt jedoch eine je unterschiedliche Konnotation entweder als Datenintegration zu einer formalen Einheit in dem einen Fall (Systembiologie) oder als technische Konstruktion einer materialen Einheit in dem anderen Fall (Synthetische Biologie). Betrachtet man zunächst den ersten Fall einer Synthese qua Datenintegration, also im Modus mathematischer oder logischer ‚Herstellung‘, dann gelangt man letztlich in das Fahrwasser der Debatten um die Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen biologischen Systemen und deren modellhaften Simulationen vermittels Computertechnik, die als soft artificial life Debatte geläufig ist.33 Solche Synthesen qua Computersimulationen oder anderen informatischen Konstrukten vernachlässigen allzu häufig die materielle Basis des Lebens. Man folgt der Annahme, ‚zu leben‘ sei eine Struktureigenschaft und deshalb weitgehend unabhängig von den materiellen Trägern, die solche Systeme konstituieren.34 Strukturidentische Systeme müssten letztlich auch strukturidentische Leistungen vollbringen. Diese Annahme, die ebenso Teile der Debatten um künstliche Intelligenz geprägt hat, hat 33 Vgl. M. A. Bedau, C. E. Cleland (Hrsg.), The Nature of Life. Classical and Con­ temporary Perspectives from Philosophy and Science, Cambridge 2010, S. 217. 34 Vgl. G. Toepfer, „Künstliches Leben“, in: ders. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 2011, S. 403, der Langton zitiert: „[Artificial Life (AL)] views life as a property of the organization of matter, rather than a property of the matter which is so organized.“

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allerdings eine berechtigte Kritik erfahren, nach der die materielle Basis der lebenden Systeme keinesfalls zu vernachlässigen ist, sondern vielmehr wesentliche Bedeutung besitzt (‚matter does matter‘). So hat für den Kontext der modernen Entwicklungsbiologie Alfred Gierer deutlich gemacht, dass mathematische Formalisierung angesichts der Größenverhältnisse der zur Erklärung des Entwicklungsgeschehens zu berücksichtigenden Daten und Parameter eine unverzichtbare denkökonomische Vereinfachung garantiert, dass jedoch ohne die Anbindung solcher mathematischer Vereinfachungen an die materiellen Systembestandteile keine angemessene, d.h. biologisch relevante Erklärung gelingen kann. Somit sind biologische Erklärungen der Gestaltbildung insofern stets materiell, als sie auf die räumliche Anordnung, Wechselwirkung und Bewegung von Molekülen oder Zellen Bezug nehmen.35 Um sicherzustellen, in welchem Maße eine formale Erklärung oder Simulation zutrifft, ist diese materielle Bestätigung durch die Analyse molekularer und zellulärer Vorgänge der Gestaltbildung unverzichtbar. Eben diesen Zweck einer materiellen Bestätigung formaler Modelle erfüllt dann nach den aktuellen Überlegungen nicht nur die systembiologische Strukturanalyse, sondern insbesondere die technische Synthese qua Konstruktion von Biosystemen wie sie die Synthetische Biologie auf der Basis von systembiologischen Modellen ermöglicht. Dieses als ‚proof of principle‘ zitierte Verfahren der Überprüfung theoretischer Modelle durch technischen Nachbau (eine moderne Version des verum-factum-Arguments) bringt dann einen neuen Aspekt von materieller Synthese in den Vordergrund: die konstruktive Zusammenfügung von materiellen Bauteilen nach dem Vorbild von Ingenieurtechnik und Maschinenbau. Neben dem Überprüfen theoretischer Postulate geht es dann jedoch vor allem um die Umsetzung technischer Produkte. Technische Synthesen im Bereich der synthetischen Biologie folgen dabei zwei eigentlich unvereinbaren, im Kontext der Synthetischen Biologie jedoch gemeinsam verwendeten Synthesevorstellungen:36 Einerseits folgt das Zusammenfügen von Teilstrukturen dem Ideal eines durch Versuch und Irrtum geleiteten pragmatischen Verfahrens (Basteln oder ‚tinkering‘). Andererseits wird mit der Idee der Synthese aber auch die Vorstellung einer mo35 Vgl. A. Gierer, Die Physik, das Leben und die Seele. Anspruch und Grenzen der Naturwissenschaft, München 1988, S. 178 ff. 36 Vgl. dazu die Ausführungen in meinen unter Fußnote 7 genannten Arbeiten.

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dellgestützten (‚blueprinting‘) rationalen Konstruktion (Planen oder ‚rational design‘) verbunden. Die Synthese folgt insbesondere im letzten Fall alten Bausteinvorstellungen, wonach ein neues System aus Standardbausteinen (‚biobricks‘)37 und austauschbaren Modulen „in a manner analogous to the pieces in a Lego set“38 zusammengesetzt werden soll. Entweder setzt man dabei auf den ‚bottom up‘ Ansatz und will ganze Systeme aus einfachsten Grundelementen erstellen39 oder man setzt auf den komplementären ‚top down‘ Ansatz40 und beginnt dann mit einem (analytischen) Abbauschritt, geht also von einer komplexen Systemsituation aus, minimiert diese, um sie schließlich in einem dritten Schritt erneut gezielt mit gewünschten Einheiten zu komplettieren (‚Chassistechnik‘).41 In all diesen Fällen ist jedoch mit der technischen Konstruktionsidee das biologische System wie ein technisches Artefakt (Maschine, Bauwerk) verstanden und behandelt. Dabei bleibt jedoch erstens festzuhalten, dass das Baumaterial besonderer Art ist. Bereits ‚biobricks‘ oder ‚building blocks‘ sind zumeist relativ hoch organisierte Glieder (‚genetic circuits‘) eines biologischen Regulationsgeschehens.42 Zweitens sind auch die Prinzipien des Bauens besondere, denn man orientiert sich explizit an biologischen Prinzipien der Selbstorganisation,

37 Vgl. L. Serrano, „Synthetic biology: promises and challenges“, in: Molecular Systems Biology 3(158)/2007, S. 1: „[…] Synthetic Biology is an engineering discipline and as such needs standard parts that can be put together using bioinformatic and simulation tools to build circuits that will introduce or modify biological functions.“ 38 J. B. Tucker, R. A. Zilinskas, „The Promise and Perils of Synthetic Biology“, in: The New Atlantis. A Journal of Technology and Society 12/2006, S. 30. Vgl. auch Rathenau Instituut, Constructing Life. The World of Synthetic Biology, The Hague 2007, S. 5: „Biobricks is an open source Internet catalogue containing a range of standard genetic building blocks: Lego blocks of DNA.“ 39 Vgl. A. C. Forster, G. M. Church, „Towards synthesis of a minimal cell“, in: Mo­ lecular Systems Biology 2006, S. 1: „[…] the aim is to put together an organism from small molecules alone.“ 40 Vgl. European Commission, Synthetic Biology. Applying Engineering to Biology. Report of a NEST High-Level Expert Group, Luxemburg 2005, S. 24. 41 Vgl. Rathenau Instituut, Constructing Life. The World of Synthetic Biology, The Hague 2007, S. 5: „These minimal cells can then serve as a living chassis into which standardised biological building blocks can be plugged in.“ 42 Vgl. European Commission, Synthetic Biology. Applying Engineering to Biology. Report of a NEST High-Level Expert Group, Luxemburg 2005, S. 23, vgl. J. B. Tucker, R. A. Zilinskas, „The Promise and Perils of Synthetic Biology“, in: The New Atlantis. A Journal of Technology and Society 12/2006, S. 29 f.

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um diese Konstruktion umsetzen zu können.43 Drittens sind die Bedingungen des Bauens durch den Anspruch auf Systemdesigns bestimmt, womit die biologische Komplexität („the daunting complexity of living systems“44) zur größten Herausforderung der technischen Konstruktion wird. Und durch eben diese Bezugnahmen auf biologische Materialien, biologische Konstruktionsprinzipien sowie die Tatsache, dass die Umsetzung der Konstruktion (insbesondere beim ‚in vitro‘ Ansatz45) im Rahmen vorgegebener biologischer Systeme (etwa Zellen) erfolgt oder aber solche biologischen Systeme für den Einbau neuer Stoffwechselkomponenten zu berücksichtigen hat (‚metabolic engineering‘), ist viertens die gesamte technische Synthese biologischen ‚Sachzwängen‘ unterworfen. So sind die biologischen Anforderungen an die Weiterexistenz und Entwicklungsfähigkeit von Systemen (‚evolvability‘) und die technischen Erfordernisse (‚engineerability‘) nicht immer zur Deckung zu bringen.46 Bevor dieser letzte Punkt in seiner ethischen Relevanz betrachtet wird, sei vorab kurz die mit den obigen Überlegungen deutlich werdende dritte Variante von Synthese als biochemischer Synthese gewürdigt. Durch die Ausrichtung auf biologische Prinzipien, Materialien und ‚Fertigungsbedingungen‘ erlangt Synthese zunehmend den Status einer biochemischen Zusammenfügung. Im Unterschied zu mathematischen oder technischen Synthesen, die sich letztlich als theoretisch-formale und/oder praktisch-materiale Kompetenzen menschlicher Akteure verstehen lassen (auch wenn sie möglicherweise durch natürliche Vorbilder inspiriert oder an diesen orientiert sind), womit ‚Synthese‘ also für die menschliche Fertigung von Artefakten oder Kulturprodukten steht, bezeichnet die (bio-)chemische Synthese 43 Vgl. European Commission, Synthetic Biology. Applying Engineering to Biology. Report of a NEST High-Level Expert Group, Luxemburg 2005, S. 11: „[…] syn­ thesizing, novel biological systems from scratch using the design principles observed in nature […].“ 44 L. Serrano, „Synthetic biology: promises and challenges“, in: Molecular Systems Biology 3(158)/2007, S. 1. Vgl. auch H. Breithaupt, „The engineer’s approach to biology“, in: EMBO reports 7(10)/2007, S. 23: „[James Collins, Boston USA] also conceded that the complexity of organisms is a problem for straight-forward en­ gineering approaches […].“ 45 Vgl. Health Council of Netherlands, Synthetic biology: creating opportunities, The Hague 2008, S. 17 f. 46 So für das Beispiel der synthetischen Regelkreise (‚bio-circuit design‘) vgl. D. A. Drubin, J. C. Way, P. A. Silver, „Designing biological systems“, in: Genes & Development 21/2007, S. 245.

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deutlich mehr: Sie steht einerseits erneut für eine bestimmte methodische Kompetenz oder ein Verfahren menschlicher Akteure. In dieser Hinsicht drückt sie im obigen Sinne ein bestimmtes methodisches Vorgehen in der Chemie als Kompetenz einer menschlichen Wissenschaft aus. Zugleich bezeichnet ‚Synthese‘ in diesem Kontext jedoch auch eine Reaktionsmöglichkeit natürlicher (chemischer oder biologischer) Systeme als dem Gegenstandsbereich eben dieser Wissenschaft. Synthese steht für die Fähigkeit dieser Systeme, sich bei geeigneten energetischen Verhältnissen auch ohne menschliche Einwirkung zu höher organisierten Einheiten mit neuen Stoff- und Struktureigenschaften verbinden zu können. Diese quasi ‚natürliche Synthese‘ kann sogar einen solchen Grad an innerem Systembezug (Selbstreferentialität) erlangen, dass sie als zunehmend unabhängig von variierenden Außenbedingungen erscheint, wofür die Sammelbezeichnung ‚Selbstorganisation‘ steht (die mit Blick auf die je unterschiedliche Beschaffenheit und den je verschiedenen Organisationsgrad der jeweils berücksichtigten Systeme zu differenzieren wäre). Selbst wenn man im eingangs erwähnten Sinne in der Modellvorstellung verbleibt, nach der Leben nur eine besondere Art von Chemie ist, dann muss man doch zur Spezifizierung eben dieser Besonderheit darauf verweisen, dass hier eine bei Molekülverbünden der organischen Chemie durchaus verbreitete Eigenschaft (die Fähigkeit spontaner Transformationen) mit einer eher seltenen Eigenschaft („the ability to direct the synthesis of self-copies“47) in einer Weise kombiniert ist, dass es den transformierten Molekülen möglich wird, sich selbst zu kopieren. Jedes System, das diese beiden Eigenschaften in sich vereinigt, unterliegt nach den heutigen Modellvorstellungen einer Darwinschen Evolution („evolving in structure to replicate more efficiently“48) und erfüllt damit eine Minimalanforderung für ‚Leben‘. Ähnlichen Minimaldefinitionen folgt auch die Protozellforschung49, nach der Leben durch die Eigenschaften Selbsterhaltung (‚self-maintenance‘), Selbstreproduktion und Evolvierbarkeit50 bestimmt ist. Die Verkürzungen, die man bei dieser Fokussierung auf die chemische Synthese und die chemischen Bedingungen des Lebens in Kauf nimmt, 47 S. A. Benner, „Act natural“, in: Nature 421(9)/2003, S. 118. 48 S. A. Benner, „Act natural“, in: Nature 421(9)/2003, S. 118. 49 Vgl. A. C. Forster, G. M. Church, „Towards synthesis of a minimal cell“, in: Mo­ lecular Systems Biology 2006, S. 1-10. 50 Vgl. P. L. Luisi, F. Ferri, P. Stano, „Approaches to semi-synthetic minimal cells: a review“, in: Naturwissenschaften 93/2006, S. 1.

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werden ersichtlich, wenn man nicht nur berücksichtigt, dass erstens viele der lebende Systeme auszeichnenden Makromoleküle (trotz deren Herstellbarkeit im Labor) in der Natur eben an diese lebenden Systeme gebunden sind und dass zweitens auch die stofflichen Abläufe in lebendigen Syste­men eben durch die spezifischen Rahmenbedingungen der Systeme bestimmt sind, in denen sie ablaufen, was ja gerade durch die Bezeichnungen ‚Organisation‘, ‚Selbsterhaltung‘ oder ‚Selbstreproduktion‘ zum Ausdruck gebracht wird. Selbst die Versuche der Synthetischen Biologie, neue Stoffwechselwege in bestehende zelluläre Zusammenhänge einzubauen, entweder um die Beobachtungsbedingungen für wissenschaftliche Zwecke zu vereinfachen und damit kontrollierbarer zu gestalten oder aber um die Produktionsbedingungen für technische Zwecke zu optimieren, sind ebenso nicht nur Ausdruck für technisch-apparative Finesse der menschlichen Akteure, sondern als ‚Robustheit‘ eben auch Ausdruck für die systemerhaltende Kompetenz der biologischen Einheiten vermittels Systemplastizität. Damit gerät ein wesentlicher Aspekt der beiden sich ergänzenden Verständnisse von (bio-)chemischer Synthese in den Blick: Indem die Synthetische Biologie nach dem Obigen dadurch bestimmt sein soll, dass sie die Designprinzipien und die Organisations- und Bildungskapazitäten biologischer Systeme für technische Zwecke nutzt, indem sie also dem Ziel einer ‚gerichteten Selbstorganisation‘ folgt, wird sie nicht nur ihrerseits abhängig von biologischen Vorgaben, sondern es erhält die geplante Synthese auch den Status einer Art von Ko- oder Hybridsynthese. Die Synthesen der Synthetischen Biologie als technische oder wissenschaftliche Verfahren von menschlichen Laboranten werden so verbunden und verwoben mit den Synthesekapazitäten von biologischen Systemen selbst. Während Synthesen im Kontext einer technischen Herstellung (aber letztlich auch einer mathematischen Konstruktion) die klassische Bestimmung als ‚Gemachtes‘ rechtfertigen, wohingegen Synthesen qua biologische Bildungsfähigkeit die entgegengesetzte Bestimmung als ‚Gewachsenes‘ rechtfertigen, umgreift die Synthetische Biologie in ihrem Anspruch offensichtlich beides und wird zu einer Art von Hybridsynthese oder Synthese der Synthesen. Zwei Formen der Synthese, die technische und die natürliche Produktion, sollen ihrerseits synthetisch vereint werden.

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3. Fremdherstellung und Selbstherstellung als ethisch bedeutsames Spannungsfeld Diese Dialektik von Fremdherstellung und Selbstherstellung macht den besonderen Spannungsbogen aus, in dem abseits von konkreten Fragen nach möglichen Risiken der Techniken oder nach einer gerechten Verteilung ihrer zukünftigen Produkte die grundsätzliche ethische Relevanz der Synthetischen Biologie aufscheint. Herausfordernd ist insofern an dem Anspruch der Synthetischen Biologie, Leben vollumfänglich zu operationalisieren, also zum Gegenstand einer technischen oder chemischen Synthese werden zu lassen, dass gerade ‚Leben‘ stets den Gegenpart zum Operativen bildete. Entsprechend der genannten Gegenüberstellung von Gewachsenem und Gemachtem zeichnete sich gerade das Leben durch seine Opposition zum Technischen aus. Die Frage, ob und in welchen Grenzen solche Oppositionen angesichts der Entwicklungen der Synthetischen Biologie noch zu halten sind, wird damit zur Grundfrage auch der ethischen Erörterung dieses Technologiezweiges. Weil die genannte Opposition des Gewachsenen und des Gemachten auf die Gegenüberstellung eines autonomen Bereichs (des Lebens) und eines heteronomen Bereichs (des Technischen) hinausläuft, werden mit dem Postulat der technischen Gestaltungs- und Verfügungsgewalt über vormals autonome Bereiche (des Lebendigen) wesentliche Aspekte der Relation von Anerkennung und Unterwerfung tangiert. Damit liegt die ethische Dimension des Themas auf der Hand. Allerdings wird, wie gesehen, ‚Leben‘, von jeher der Inbegriff des Selbstständigen, zwar einerseits durch den Anspruch der Synthetischen Biologie in den Modus der technischen Synthese (Konstruktion) und damit der Instrumentalisierung und Abhängigkeit überführt und die Opposition von Gewachsenem und Gemachtem scheint aufgehoben. Andererseits jedoch kann mit Blick auf die besondere Art der postulierten Synthese von einer Aufhebung des Lebens im Technischen eigentlich gerade keine Rede sein. Die Synthetische Biologie als eine technische Synthese bedient sich vielmehr in essentieller Weise biologischer Materialien, Prinzipien und Fähigkeiten. Als ‚gerichtete Selbstorganisation‘ wird sie, genau betrachtet, zu einer hochorganisierten Form von technisch unterstütztem oder verändertem ‚Wachstum‘ (biologische Synthese). Weil beide Synthesen hier so eng miteinander in einen aktiven Kontakt geraten, dass man den Charakter von Koproduktion (oder Ko-Synthese) unterstellen könnte, wäre die Frage neu zu stellen, welchen ontologischen Status die solchermaßen kooperie-

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renden Entitäten oder Prozesse eigentlich haben. Die sich damit ebenfalls stellenden Fragen nach Anerkennung und Unterwerfung besitzen dann eine eindeutig auch ethische Qualität, was umso offensichtlicher wird, je mehr die involvierten Bildungen lebenden Systemen gleichen, denen nicht nur nach tradiertem Verständnis, sondern selbst noch unter den Vorzeichen der Synthetischen Biologie selbst, die Qualitäten einer aktiven Selbstintegration und Autonomie zukommen sollen. Somit bleibt insbesondere die Selbstherstellungskapazität oder Autonomie von biologischen Systemen – klassisch gesprochen das Faktum, dass Lebewesen ihr Telos in sich selbst haben – auch im Kontext der Fremdherstellungsabsicht der Synthetischen Biologie erhalten. Diese selbst im Modus der Fertigung qua technischer Synthese anerkannten biologischen Rahmenbedingungen sind etwa die biologische Komplexität oder die Evolvierbarkeit der Systeme. Bereits daraus ergibt sich eine ethische Dimension über die gesteigerte Eingriffstiefe möglicher Veränderungen, denn solche veränderten oder technisch synthetisierten Systeme wären nun in der Lage, sich selbst evolutiv zu verändern, womit die ‚Nichtrückholbarkeit‘ als ethisch bedeutsames Faktum in Rechnung zu stellen wäre. Die methodisch-ontologische Frage, inwieweit ‚evolvability‘ und ‚engineerability‘ miteinander korrespondieren, hat also eine bioethisch relevante Seite: „A major issue raised by the critics of this technology is that by their very nature biological machines are evolutionary machines […]“.51 Mit dem Anspruch des Systemdesigns ergibt sich wegen der komplexen Interaktionsmöglichkeiten zwischen den Systemteilen ein Konflikt zwischen dem technischen Konstruktionsanspruch (Synthese) und der biologischen Komplexität (System), der eine ebenfalls ethisch bedeutsame Unvorhersagbarkeit möglicher Folgen von Handlungen zur Folge haben kann. 51 Vgl. A. Balmer, P. Martin, Synthetic Biology: Social and Ethical Challenges, Nottingham 2008, S. 17; J. B. Tucker, R. A. Zilinskas, „The Promise and Perils of Synthetic Biology“, in: The New Atlantis. A Journal of Technology and Society 12/2006, S. 31: „[…] because engineered microorganisms are self-replicating and capable of evolution, they belong in a different risk category than toxic chemicals or radioactive materials.“ In die gleiche Richtung zielt Eckard Wimmer, den Breithaupt zitiert (vgl. H. Breithaupt, „The engineer’s approach to biology“, in: EMBO reports 7(10)/2007, S. 23.): „An engineer’s approach to looking at a biological system is refreshing but it doesn’t make it more predictable. […] If you have incomplete knowledge then it is highly possible that you are up for a few surprises.“ Vgl. auch Eidgenössische Ethikkommission, Synthetische Biologie – Ethische Überlegungen. Bericht der Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Außer­ humanbereich EKAH, Bern 2010, S. 22 f.

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Betrachten wir noch einmal die genannte Spannung: Die Tatsache, dass die modellhaft auf das Anliegen der Synthetischen Biologie übertragenen Syntheseformen aus anderen Bereichen (mathematische, technische, chemische Synthese) im Vollzug ihrer Anwendung (bisher) ein Moment des Nichtaufgehens der biologischen Systeme und ihrer spezifischen Syntheseleistungen in den konstruktiven Akten und Absichten zeigten, belegt Bereiche der Unverfügbarkeit. Dabei ist dieser Verweis auf die Autonomie biologischer Systeme, die selbst in den technischen und methodischen Verfahren der Synthetischen Biologie Berücksichtigung und damit letztlich Anerkennung findet, ambivalent: So bleibt auf der einen Seite der methodische Umgang mit dem biologischen Gegenstand wegen der Konfrontation von Komplexität und Konstruktion latent unvollständig. Momente faktischen Nichtwissens über mögliche Folgen technischer Syntheseabsichten schlagen dann als Momente des Nichtbewältigens möglicher negativer Folgen ethisch zu Buche. Umgekehrt wäre aber auch der bisher nur denkmögliche Fall eines vollständigen methodischen und konzeptionellen Aufgehens biologischer Systeme und Synthesen in technischen Synthesen – die vollständige Überführung der Autonomie des Lebens in die Heteronomie der Technik also – nicht nur eine ontologisch-epistemologische Revolution, sondern sie hätte ebenso gravierende Konsequenzen für unsere ethischen Rahmenvorstellungen.

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Epilog: Zur Einordnung der Beiträge in den gegenwärtigen Stand der Debatte um die Synthetische Biologie

Die Synthetische Biologie ist eine junge interdisziplinäre Forschungsrichtung, die sich im Schnittfeld von Biologie, Ingenieurwissenschaft, Chemie und Informatik bewegt.1 In den letzten zehn Jahren konnte sie sich „international als eine hochinnovative Disziplin in der modernen Biotechnologie und als wichtige Triebfeder der biologischen Grundlagenforschung“2 etablieren. Von Anfang an wurde die Synthetische Biologie dabei von einer Debatte begleitet, die sowohl von den Forscherinnen und Forschern in einschlägigen Fachzeitschriften, als auch von wissenschaftspolitischen Einrichtungen, Gremien und Kommissionen und innerhalb der Technikfolgenabschätzung und einer Begleitforschung zu den ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen (ELSI) bis heute geführt wird. Im Folgenden werden diese Diskussionen um die Synthetische Biologie in ihrem Verlauf und anhand der zentralen Themen skizziert sowie die Beiträge, die im vorliegenden Band versammelt sind, in den gegenwärtigen Stand der Debatte eingeordnet. Dabei sollen die fruchtbaren Perspektiven und Anhaltspunkte eines Dialogs zwischen Naturund Geisteswissenschaften hervorgehoben und in ihrer ethischen Bedeutung noch einmal verdeutlicht werden.

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Einen sehr guten und aktuellen Überblick über die Synthetische Biologie und die anschließenden Fragen zu wissenschaftshistorischen, philosophischen und ethi­ schen Implikationen bietet der 2012 von der Interdisziplinären Arbeitsgruppe „Gen­ technologiebericht“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften herausgegebene Themenband: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie?, Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologie, Band 30, Dornburg 2012. Dechema Biotechnologie, Thesenpapier zum Status der Synthetischen Biologie in Deutschland, 2011, S. 5.

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1. Kurze Darstellung des Verlaufs der Debatte um die Synthetische Biologie Eine erste Nennung des Terminus Synthetische Biologie wird in der Regel Stèphane Leduc in seinem 1912 veröffentlichten Buch „la biologie synthetique“ zugeschrieben.3 Auch wenn Luis Campos nachweisen konnte, dass die Namensgeber der heutigen Synthetischen Biologie von Leducs Werk keine Kenntnis hatten und den Begriff vielmehr in Analogie zur Synthetischen Chemie wählten4, lassen sich begrifflich und konzeptionell Traditionslinien bis in das 19. Jahrhundert etwa zu den Ansätzen einer Technischen Biologie von Jaques Loeb ziehen.5 Ebenfalls gibt es auffällige Parallelen zu den Debatten um die Gentechnik als Lebensherstellung, die vor allem in den 1970er Jahren durch die populären Arbeiten von James Frederic Daniellis angestoßen wurden.6 Als weitere Gründungsfiguren der Synthetischen Biologie werden unter anderen der Genetiker Waclaw Scybalski7, die Biologin und Wissenschaftsjournalistin Barbara Hobom8 oder der Biochemiker Eric T. Kool9 aufgerufen. Die Schwierigkeiten, die heutige Synthetische Biologie wissenschaftshistorisch einzuordnen und ihre Vorläufer zu benennen, setzen 3

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Leduc, S., „La biologie synthetique“, in: A. Poinat (Hrsg.), Études de biophysique, Paris 1912. Vgl auch L. Campos, „That Was the Synthetic Biology That Was“, in: M. Schmidt, A. Ganguli-Mitra, A. Kelle, H. de Vriend (Hrsg.), Synthetic Biology, The technoscience and its societal consequences, Dordrecht 2009, S. 5-21, S. 7; M. Engelhard, „Die synthetische Biologie geht über die klassische Biologie hinaus“, in: P. Dabrock, M. Bölker, M. Braun, J. Ried (Hrsg.), Was ist Leben - im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zu einer Ethik der Synthetischen Biologie, Frei­ burg, München 2011, S. 43-60, S. 47. L. Campos, „That Was the Synthetic Biology That Was“, in: M. Schmidt, A. GanguliMitra, A. Kelle, H. de Vriend (Hrsg.), Synthetic Biology. The technoscience and its societal consequences, Dordrecht 2009, S. 5-21. H. Fangerau, „Zur Geschichte der Synthetischen Biologie“, in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie?, The­ menband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologie, Band 30, Dornburg 2012, S. 61-80. J. Schummer, Das Gotteshandwerk. Die künstliche Herstellung von Leben im Labor, Berlin 2011, S. 88 ff. Vgl. K. Mainzer, Leben als Maschine? Von der Systembiologie zur Robotik und künst­lichen Intelligenz, Paderborn 2010, S. 85. B. Hobom, „Surgery of genes. At the doorstep of synthetic biology“, in: Medizin. Klinik 75/1980, S. 14-21. Vgl. R. L. Rawis, „‚Synthetic Biology‘ Makes Its Debut“, in: Chemical & Engineering News, 78(17)/2000, S. 49-53.

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sich in den Versuchen fort, eine einheitliche Beschreibung des Forschungsprogramms und der wissenschaftlichen Ziele zu formulieren. 2009 richtete sich die Zeitschrift Nature Biotechnology mit einer Umfrage an 20 Experten aus dem Feld und fragte nach ihrem Verständnis von Synthetischer Biologie.10 Die Antworten spiegeln die Heterogenität des Forschungsfeldes und die Vielzahl an Ansätzen und beteiligten Disziplinen gut wieder und lassen sich schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Daher wird der Terminus „Synthetische Biologie“ oft auch als „grobe Sammelbezeichnung“11, „umbrella term“12 oder „buzzword“13 verstanden. Bis heute ungeklärt ist zudem die Beziehung der Synthetischen Biologie zur Gentechnologie.14 Trotz dieser Unklarheiten und Schwierigkeiten einer Klassifikation und Kennzeichnung der Synthetischen Biologie lassen sich eine ingenieurwissenschaftliche Ausrichtung15 sowie Prozesse der Standardisierung und Modularisierung auf allen Hierarchie- und Komplexitätsebenen biologischer Systeme16 als gemeinsame, orientierende Merkmale angeben. Dies kommt auch in der Definition einer NEST High-Level Expert Group der Europäischen Kommission zum Ausdruck, die mittlerweile weithin Anerkennung gefunden hat: „Synthetic biology is the engineering of biology: the synthesis of complex, biologically based (or inspired) systems which display func10 Vgl. „What’s in a name?“, in: Nature Biotechnology, 27(12)/2009, S. 1071-1073. 11 Köchy in diesem Band 12 A. Balmer, P. Martin, Synthetic Biology. Social and Ethical Challenges, Nottingham 2008, S. 7. 13 L. Serrano, „Synthetic biology: promises and challenges“, in: Molecular Systems Biology, 3(158)/2007, S. 1. 14 Vgl. M. Bölker, „Revolution der Biologie?“, in: P. Dabrock, M. Bölker, M. Braun, J. Ried (Hrsg.), Was ist Leben - im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zu einer Ethik der Synthetischen Biologie, Freiburg, München 2011, S. 27-42; M. Engelhard, „Die synthetische Biologie geht über die klassische Biologie hinaus“, in: P. Dabrock, M. Bölker, M. Braun, J. Ried (Hrsg.), Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zu einer Ethik der Synthetischen Biologie, Freiburg, München 2011, S. 43-60; H. Fangerau, „Zur Geschichte der Synthetischen Biologie“, in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie?, Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologie, Band 30, Dornburg 2012, S. 61-80. 15 Vgl. u. a. H. Breithaupt, „The engineer’s approach to biology“, in: EMBO reports, 7(1)/2006, S. 21-23; D. Endy, „Foundations for engineering biology“, in: Nature, 438(7067)/2005, S. 449-453. 16 S. Panke, S. Billerbeck, „Synthetische Biologie – Biotechnologie als eine Ingenieurs­ wissenschaft“, in: J. Boldt, O. Müller, G. Maio (Hrsg.), Leben schaffen? Philosophische und ethische Reflexionen zur Synthetischen Biologie, Paderborn 2012, S. 20-40.

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tions that do not exist in nature. This engineering perspective may be applied at all levels of the hierarchy of biological structures – from individual molecules to whole cells, tissues and organisms. In essence, synthetic biology will enable the design of ‚biological systems‘ in rational and systematic way.”17 Mediale Aufmerksamkeit und öffentliches Interesse erlangte die Synthetische Biologie spätestens im Jahr 2010, als Craig Venter verkündete, er habe die erste lebende künstliche Zelle, Mycoplasma mycoides JCVI-syn 1.0., geschaffen.18 Dies war, wie Pühler treffend formuliert, die „mediale[n] Geburtsstunde der Synthetischen Biologie“.19 Während die wissenschaftliche Publikation den Erfolg dieser Experimente selbst als Demonstration der Methodik („proof of concept“20) einordnet, überboten sich die medialen Reaktionen auf die Pressemitteilung zur Erschaffung der „ersten synthetischen Zelle“ im Aufrufen des aus anderen Diskursen bekannten Motivs der künstlichen Lebensherstellung und dem „Playing God“ Topos.21 Damit setzten Venter und sein Team nicht nur einen wissenschaftlichen Meilenstein in der Geschichte der Synthetischen Biologie, sondern bestimmen auch bis heute die Themen der ethischen Debatte und beeinflussen so maßgeblich das „‚Framing‘, also […] die sprachliche Prägung und Darstellung des Forschungsfeldes“.22 17 European Commission: Synthetic biology. Applying engineering to biology: report of a NEST High-Level Expert Group, Luxembourg 2005, S. 5. 18 D. G. Gibson, J. I. Glass, C. Lartigue, V. N. Noskov, R.-Y. Chuang, M. A. Algire, G. A. Benders, M. G. Montague, L. Ma, M. M. Moodie, C. Merryman, S. Vashee, R. Krishnakumar, N. Assad-Garcia, C. Andrews-Pfannkoch, E. A. Denisova, L. Young, Z.-Q. Qi, T. H. Segall-Shapiro, C. H. Calvey, P. P. Parmar, C. A. Hutchison, H. O. Smith, J. C. Venter, „Creation of a Bacterial Cell Controlled by a Chemically Synthesized Genome“, in: Science, 329(5987)/2010, S. 52-56. 19 A. Pühler, „Einblicke in die Synthetische Biologie“, in: A. Pühler, B. Müller-Rö­ber, M.-D. Weitze (Hrsg.), Synthetische Biologie – Die Geburt einer neuen Tech­nik­ wissenschaft, Berlin, Heidelberg 2011, S. 11-17, vgl. auch Hacker/Kumm in diesem Beitrag. 20 D. G. Gibson, J. I. Glass, C. Lartigue, V. N. Noskov, R.-Y. Chuang, M. A. Algire, G. A. Benders, M. G. Montague, L. Ma, M. M. Moodie, C. Merryman, S. Vashee, R. Krishnakumar, N. Assad-Garcia, C. Andrews-Pfannkoch, E. A. Denisova, L. Young, Z.-Q. Qi, T. H. Segall-Shapiro, C. H. Calvey, P. P. Parmar, C. A. Hutchison, H. O. Smith, J. C. Venter, „Creation of a Bacterial Cell Controlled by a Chemically Synthesized Genome“, in: Science, 329(5987)/2010, S. 52-56, S. 55. 21 Vgl. J. Schummer, Das Gotteshandwerk. Die künstliche Herstellung von Leben im Labor, Berlin 2011, S. 113-124. 22 J. Achatz, M. O’Malley, P. Kunzmann, „Der Stand der ethischen Forschung“, in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen

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2. Zentrale Themen und gegenwärtiger Stand der (ethischen) Debatte23 Bereits sehr früh in der Entwicklung der Synthetischen Biologie als eigenständigem Forschungsfeld wurden ethische, rechtliche und soziale Fragen thematisiert. Die ersten Anstöße dazu kamen zunächst von den Protagonisten der Forschung selbst.24 Bald wurde die Debatte dann von ethischen Beratungsgremien und forschungspolitischen Kommissionen der einzelnen Länder aufgegriffen und führte zu verschiedenen Stellungnahmen und Empfehlungen in den Niederlanden25, Deutschland26, der Schweiz27, Großbritannien28, den USA29 sowie auf Europaebene30. Übereinstimmender Tenor dieser Bewertungen ist, dass die Synthetische Biologie zwar großes Potential im Sektor biotechnolo-

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Ingenieurbiologie?, Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechno­ logie, Band 30, Dornburg 2012, S. 165-186, S. 166. Vgl. auch M. Lehmkuhl, Die Repräsentation der synthetischen Biologie in der deutschen Presse. Abschlussbericht einer Inhaltsanalyse von 23 deutschen Pressetiteln, Berlin 2011, S. 13-16 . Vgl. auch die Analyse zum Stand der ethischen Debatte von Achatz, O’Malley und Kunzmann: J. Achatz, M. O’Malley, P. Kunzmann, „Der Stand der ethischen Forschung“, in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie?, Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologie, Band 30, Dornburg 2012, S. 165-186. Vgl. etwa M. K. Cho, „Ethical Considerations in Synthesizing a Minimal Genome“, in: Science, 286(5447)/1999, S. 2087-2090. H. de Vriend, Constructing Life. Early social reflections on the emerging field of synthetic biology, The Hague 2006; H. de Vriend, B. Walhout, R. van Est, Con­ structing Life – The World of Synthetic Biology, The Hague 2007. Deutsche Forschungsgemeinschaft, acatech – Deutsche Akademie der Technik­ wis­senschaften, Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Synthetische Biologie – Stellungnahme, Weinheim 2009, sowie Deutscher Ethikrat, „Perspekti­ venpapier Synthetische Biologie (Ethikrat)“, 2009, unter: http://www.ethikrat. org/dateien/pdf/Perspektivenpapier_Synthetische_Biologie_2009-04-23.pdf (eingesehen am 28.02.2015); Deutscher Bundestag, „Wissenschaftliche Dienste, „Synthetische Biologie“, 2009, unter: http://www.bundestag.de/blob/190720/ bc605aca84bda4a5f6610ff4b68104cd/synthetische_biologie-data.pdf (eingesehen am 28.02.2015) Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH), Synthetische Biologie. Ethische Überlegungen, Bern 2010.. A. Balmer, P. Martin, Synthetic Biology. Social and Ethical Challenges, Nottingham 2008. Presidential Commission for the Study of Bioethical Issues (PCSBI), New directions. The ethics of synthetic biology and emerging technologies, Washington, D.C 2010. European Commission, Synthetic Biology. Applying Engineering to Biology. Report of a NEST High-Level Expert Group, Luxembourg 2005, European Group on Ethics in Science and New Technologies to the European Commission (EGE), Ethics of synthetic biology, opinion 25, Brüssel 2009.

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gischer Entwicklungen verspricht, aber auch eine Reihe von philosophisch-ethischen Fragen aufwirft, die vertieft im interdisziplinären Austausch erforscht werden müssen.31 Neuer Regulierungsbedarf wird nicht gesehen, die potentiellen Risiken und Gefahren werden als durch die bestehenden gesetzlichen Regelungen und Sicherheitsrichtlinien ausreichend abgedeckt eingeschätzt.32 Allgemein wird zu einer Haltung des „wait and see“ geraten.33 Die daran anschließenden Forschungen zur Technikfolgenabschätzung und Reflexionen zu den philosophischen, ethischen, sozialen und rechtlichen Aspekten der Synthetischen Biologie orientieren sich vorrangig am Ingenieurparadigma, der künstlichen Lebensherstellung und der meist impliziten Annahme, die Synthetische Biologie stoße in der öffentlichen Wahrnehmung auf Irritationen, Bedenken und tendenzielle Ablehnung. Die zentralen Themen in dieser Debatte lassen sich in drei Blöcke zusammenfassen: philosophische und ethische Reflexionen zum Lebensbegriff und zum methodisch-ontologischen Status synthetischer Organismen (2.1), Fragen zu Biosafety und Biosecurity (2.2) und die daran anschließende Diskussion um die sozioökonomischen, sozialen und rechtlichen Folgen sowie weiterführende Überlegungen im Hinblick auf die öffentliche Wahrnehmung, Akzeptanz und gesellschaftliche Legitimation der Synthetischen Biologie, die vor dem Hintergrund von Verantwortung und Vertrauen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Gesellschaft erörtert werden (2.3). 2.1 Philosophische und ethische Reflexionen zum Lebensbegriff und zum methodisch-ontologischen Status synthetischer Organismen Vor allem in der deutschsprachigen Diskussion um die Synthetische Biologie nimmt die Auseinandersetzung mit den Fragen „Was ist 31 Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft, acatech – Deutsche Akademie der Technik­ wissenschaften, Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Synthetische Biologie - Stellungnahme, Weinheim 2009, S. 23-32. 32 Deutscher Ethikrat, „Perspektivenpapier Synthetische Biologie (Ethikrat), 2009, unter: http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/Perspektivenpapier_Synthetische_ Biologie_2009-04-23.pdf (eingesehen am 28.02.2015). 33 J. Achatz, M. O’Malley, P. Kunzmann, „Der Stand der ethischen Forschung“, in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie?, Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentech­ nologie, Band 30, Dornburg 2012, S. 165-186, S. 165.

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Leben?“34 und „Leben schaffen?“35 eine zentrale Stellung ein. Die ingenieurwissenschaftliche Ausrichtung der Synthetischen Biologie mit dem Anspruch der Lebensherstellung berührt die kulturell tief verwurzelten und normativ aufgeladenen Unterscheidungen von Lebendigem und Nicht-Lebendigem, organischer und anorganischer Materie, natürlichen Organismen und künstlichen Artefakten. Diese Herausforderung an das wissenschaftliche und lebensweltliche Verständnis vom Leben wirft zunächst Verständigungsfragen zur Konzeption und Logik des Lebensbegriffs selbst auf.36 „Zwischen gesetzesförmiger Erklärung und hermeneutischem Verstehen“37 wird dabei deutlich, wie ambivalent und vieldeutig der Lebensbegriff in den verschiedenen Kontexten seiner Verwendung ist; aber auch, dass die Synthetische Biologie die Frage nach dem Leben zwar (wieder) aufwirft, aber letztlich bei der Beantwortung immer auf schon vorhandene Lebenskonzepte und -verständnisse zurückgreifen muss, die nicht ihr selbst entnommen sind.38 „Was also ist Leben?“ fragen auch Hacker und Kumm in ihrem Beitrag angesichts dieser Schwierigkeiten, eine allgemein akzeptierte naturwissenschaftliche Definition des Lebens vorzulegen. Aus Sicht der Molekularbiologie ist ihre Antwort: „Wir sollten solche Objekte für lebendig halten, die sich fortpflanzen können, einen autonomen 34 P. Dabrock, M. Bölker, M. Braun, J. Ried (Hrsg.), Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zu einer Ethik der Synthetischen Biologie, Freiburg, München 2011; siehe auch J. Hacker, M. Hecker (Hrsg.), Was ist Leben? Vorträge anlässlich der Jahresversammlung vom 23. bis 25. September 2011 zu Halle (Saale), Nova acta Leopoldina. Abhandlungen der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, 116, Stuttgart 2012. 35 J. Boldt, O. Müller, G. Maio (Hrsg.), Leben schaffen? Philosophische und ethische Reflexionen zur Synthetischen Biologie, Paderborn 2012. 36 A. Deplazes-Zemp, „The Conception of Life in Synthetic Biology“, in: Science and Engineering Ethics, 18(4)/2012, S. 757-774; M. Bedau, E. C. Parke (Hrsg.), The ethics of protocells. Moral and social implications of creating life in the laboratory, Basic Bioethics, 25, Cambridge, Massachusetts 2009. 37 J. Boldt, „„Leben“ in der Synthetischen Biologie. Zwischen gesetzesförmiger Er­ klärung und hermeneutischem Verstehen“, in: J. Boldt, O. Müller, G. Maio (Hrsg.), Leben schaffen? Philosophische und ethische Reflexionen zur Synthetischen Bio­ logie, Paderborn 2012, S. 177-191. 38 J. Schummer, Das Gotteshandwerk. Die künstliche Herstellung von Leben im Labor, Berlin 2011, S. 125 ff. Hierzu auch Georg Töpfer: „In gewisser Weise ist das Lebendige in biologischen Untersuchungen immer schon vorausgesetzt und liegt vor jeder wissenschaftlichen Analyse bereits in sehr unterschiedlichen Beschrei­ bungskontexten vor.“ (G. Toepfer, Leben, in: Ders. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 2, Stutt­ gart, S. 420-483, S. 468).

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Stoffwechsel aufweisen und evolutionär veränderbar sind.“ Zugleich machen Hacker und Kumm darauf aufmerksam, dass hierin die Normativität und Reflexivität menschlichen Lebens nicht erfasst sind. So sei aus der Sicht einer Lebenswissenschaft hinzuzufügen: „Zu den evolutionären Möglichkeiten des Lebens gehören auch Fähigkeiten, die menschliches Leben wesentlich ausmachen, nämlich das Vermögen zur Selbstreflexion, zum Gewissensurteil und zur sprachlichen Verständigung.“ Hartung greift diese Idee einer die Kluft von Naturund Geisteswissenschaften überbrückenden Lebenswissenschaft auf. Er fordert zur angemessenen Aufarbeitung des Lebensbegriffs eine Interdisziplinäre Anthropologie, die einerseits „eine Integration der sinnverstehenden Perspektive in die Beschreibungssprache der Wissenschaften“ vornimmt, andererseits „unsere Reflexion über das Leben, das wir sind und das unsere Existenzweise auf rätselhafte Weise ‚birgt‘, mit der in den Wissenschaften voranschreitenden Objektivation im Phänomenbereich des Lebens verknüpft“. Soll im Rahmen der Synthetische Biologie also eine Beantwortung auf die Frage „Was ist Leben?“ erfolgen, so kann dies nur im interdisziplinären Austausch und im Sinne einer umfassenden Wissenschaft vom Leben geschehen, die sowohl einen deskriptiven naturwissenschaftlichen Lebensbegriff als auch ein normativ lebensweltliches Konzept von (menschlichem) Leben zu integrieren und zu vermitteln weiß. Denn, so Hacker und Kumm: „Dies ist eine Frage, mit der alle Lebenswissenschaftler konfrontiert sind, da sie die Konsequenzen ihrer Forschung vor allem für das menschliche Leben betrachten müssen.“ Die begrifflichen-historischen Bestimmungen und konzeptionellen Einordnungen des Lebensbegriffs können nun durch philosophische Überlegungen zum ontologischen und ethischen Status der hergestellten synthetischen Organismen sowie um die wissenschaftstheoretische Einordnung des technischen Zugangs zum Leben ergänzt werden. Unter dem ingenieurwissenschaftlichen Paradigma und dem epistemischen Anspruch, Leben zu verstehen, indem es konstruiert wird (angelehnt an das berühmte Zitat des Physikers Richard Feynman: „what I cannot create, I do not understand“), wird die Lebensherstellung zum rationalen Design und das Leben zum „Werkzeugkasten“.39 Kristian 39 A. Deplazes-Zemp, „Leben als Werkzeugkasten. Die Auffassung von Leben in der Synthetischen Biologie“, in: P. Dabrock, M. Bölker, M. Braun, J. Ried (Hrsg.), Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zu einer Ethik der Synthetischen Biologie, Freiburg, München 2011, S. 95-116; vgl. auch A. Deplazes-

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Köchy sieht einen solchen Wandel der Handlungslogik vom homo faber zum homo creator40 vor allem im Konzept der technischen Synthese „qua Konstruktion von Biosystemen“ vollzogen. Mit dem Ziel der „konstruktive[n] Zusammenfügung von materiellen Bauteilen nach dem Vorbild von Ingenieurtechnik und Maschinenbau“ werde das biologische System wie ein „technisches Artefakt verstanden und behandelt“. Allerdings weist Köchy darauf hin, dass sowohl das „Baumaterial“ als auch die „Prinzipien des Bauens“ besondere sind und den Gesetzen biochemischer Synthese unterliegen. Diese biologischen Vorgaben und Bedingungen, an die auch die Synthetische Biologie gebunden bleibt, können in Konflikt mit dem Anspruch des rationalen Designs und der technischen Konstruktion treten. „So sind die biologischen Anforderungen an die Weiterexistenz und Entwicklungsfähigkeit von Systemen (‚evolvability‘) und die technischen Erfordernisse (‚engineerability‘) nicht immer zur Deckung zu bringen.“ Aus diesem Spannungsfeld von Fremdherstellung und Selbstherstellung schließen sich nahtlos Fragen zu den ethischen Implikationen und Folgen eines technischen und instrumentalistischen Umgangs mit dem Lebendigen an. Boldt, Müller und Maio formulierten bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Debatte das Argument eines möglichicherweise in ontologisch und ethisch bedenklicher Weise veränderten Lebensbegriffs.41 In der Kritik stehen vor allem die Begriffe und Metaphern, mit denen die Produkte der Synthetischen Biologie sprachlich geprägt werden.42 Technomorphe Metaphern wie „artificial cells“ oder „living machines“ würden als „Artifizialisierung des NaZemp, „The Conception of Life in Synthetic Biology“, in: Science and Engineering Ethics, 18(4)/2012, S. 757-774. 40 K. Köchy, „Philosophische Implikationen der Synthetischen Biologie“, in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie?, Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologie, Band 30, Dorn­ burg 2012a, S. 137-180, S. 143 ff.; vgl. auch O. Müller, „Vom homo faber zum homo creator? Synthetische Biologie und menschliches Selbstverständnis“, in: J. Boldt, O. Müller, G. Maio (Hrsg.), Leben schaffen? Philosophische und ethische Reflexionen zur Synthetischen Biologie, Paderborn 2012, S. 217-230. 41 J. Boldt, O. Müller, G. Maio, Synthetische Biologie. Eine ethisch-philosophische Analyse, Beiträge zur Ethik und Biotechnologie, 5, Bern 2009, S. 42 ff. 42 Vgl. hierzu auch K. Brukamp, „Lebenswelten formen. Synthetische Biologie zwi­ schen Molekularbiologie und Ingenieurtechnologie“, in: P. Dabrock, M. Bölker, M. Braun, J. Ried (Hrsg.), Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zu einer Ethik der Synthetischen Biologie, Freiburg, München 2011, S. 69-74, A. Cserer, A. Seiringer, „Pictures of Synthetic Biology“, in: Systems and Synthetic Biology, 3(1-4)/2009, S. 27-35.

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türlichen“ eine „echte Gefahr“ darstellen und zu „ernsthaft ethischen Problemen“ führen, da „sich der grundlegende Respekt gegenüber dem Lebendigen aufzuweichen beginnt“.43 Daran schließen sich in der Debatte weitere Beiträge an, die aus deontologischer Perspektive den moralischen Status synthetisch-biologischer Organismen diskutieren oder an die naturethische und theologische Debatte zum Wert des Lebens anknüpfen.44 Hartungs einleitende Überlegungen zum „Zauberwort“ Leben lassen allerdings vermuten, dass es sich bei den genannten Metaphern und Begriffen weniger um eine der Synthetischen Biologie inhärente ontologische und ethische Gefahr handelt, als vielmehr, dass diese metaphorischen und weitere Gebrauchsweisen des Lebensbegriffs als „Symptom eines Ringens um Vertrauen in die menschliche Fähigkeit der Produktion und Reproduktion von lebendigen Strukturen“ zu verstehen sind. In einer direkten Antwort auf Boldt kritisieren daher Ganguli-Mitra und weitere Autorinnen und Autoren die Thesen zu den intrinsischen ethischen Implikationen des Lebensbegriffs durch die Synthetische Biologie.45 Auch sie verorten die eigentliche ethische Herausforderung in einer Sphäre gesellschaftlichen Vertrauens gegenüber der Wissenschaft, in der sich öffentliche Vorbehalte und Bedenken am Lebensbegriff entzünden und etwa als „Playing God“ Vorwurf an die Forschung herangetragen werden. Dass dieser Vorwurf, der Mensch spiele Gott, wenn er mittels der Synthetischen Biologie Leben herstelle, theologisch nicht begründet werden könne, sondern vielmehr als Ausdruck eines vagen Unbehagens der Gesellschaft gegenüber biotechnologischen Neuerungen interpretiert

43 J. Boldt, O. Müller, G. Maio, Synthetische Biologie. Eine ethisch-philosophische Analyse, Beiträge zur Ethik und Biotechnologie, 5, Bern 2009, S. 60 und 64. Ähnlich findet sich dieses Argument auch in J. Boldt, O. Müller, „Newtons of the leaves of grass“, in: Nature Biotechnology, 26(4)/2008, S. 387-389. 44 Vgl. etwa N. Knoepffler, K. Börner, „Die Würde der Kreatur und die Synthetische Biologie“, in: J. Boldt, O. Müller, G. Maio (Hrsg.), Leben schaffen? Philosophische und ethische Reflexionen zur Synthetischen Biologie, Paderborn 2012, S. 137-152; Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH), Synthetische Biologie. Ethische Überlegungen, Bern 2010, S. 15 ff.; G. E. Kaebnick, Synthetic biology and morality. Artificial life and the bounds of nature, Basic Bioethics, Massachusetts 2013. 45 A. Ganguli-Mitra, M. Schmidt, H. Torgersen, A. Deplazes, N. Biller-Andorno, „Of newtons and heretics“, in: Nature Biotechnology, 27(4)/2009, S. 321-322.

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werden müsse, ist im Wesentlichen das Ergebnis der Arbeiten von Dabrock, Ried und Braun.46 2.2 Biosafety und Biosecurity Der zweite große Themenkomplex in der Debatte um die Synthetische Biologie sind Fragen zur Biosicherheit (Biosafety) und zur möglichen Gefahr des Missbrauchs von Wissen, Anwendungen und Produkten der Forschung (Biosecurity).47 Der Bereich der Biosicherheit umfasst zum einen die Arbeitssicherheit im Labor, um etwa eine mögliche Infizierung mit pathogenen synthetischen Organismen zu verhindern; zum anderen die Sicherheit vor ungewollter Freisetzung solcher Organismen in die Umwelt, wo sie eine Gefahr für Menschen und natürliche Ökosysteme darstellen könnten.48 Diese Fragen zur Biosicherheit sind aus der Gentechnik bekannt und bereits in entsprechende Regularien und Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt, die weitgehend auch für die Synthetische Biologie angewandt werden können. Eine spezifische Herausforderung stellt hierbei die Komplexität und „Naturferne“ (divergence from nature) synthetisierter biologischer Systeme dar, da die bewährten Kriterien der Orientierung an bekannten natürlichen Organismen, wie sie etwa aus der Beurteilung transgener Pflanzen bekannt sind, nur noch begrenzt angewandt werden können.49 46 Vgl. J. Ried, M. Braun, P. Dabrock, „Unbehagen und kulturelles Gedächtnis. Be­ obachtungen zur gesellschaftlichen Deutungsunsicherheit gegenüber Synthetischer Biologie“, in: P. Dabrock, M. Bölker, M. Braun, J. Ried (Hrsg.), Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zu einer Ethik der Syn­ thetischen Biologie Freiburg, München 2011, S. 345-369; P. Dabrock, J. Ried, „Wird in der Synthetischen Biologie „Gott gespielt“? Eine theologisch-ethische Dekonstruktion“, in: A. Pühler, B. Müller-Röber, M.-D. Weitze (Hrsg.), Synthetische Biologie. Die Geburt einer neuen Technikwissenschaft, Berlin, Heidelberg 2011, S. 129-137. 47 Vgl. J. B. Tucker, R. A. Zilinskas, „The Promise and Perils of Synthetic Biology“, in: The New Atlantis, Journal of technology and society, 2006, S. 25-45; M. Schmidt, „Biosicherheit und Synthetische Biologie“, in: A. Pühler, B. Müller-Röber, M.-D. Weitze (Hrsg.), Synthetische Biologie. Die Geburt einer neuen Technikwissenschaft, Berlin, Heidelberg 2011, S. 111-127; M. Engelhard, „Biosicherheit in der Synthe­ tischen Biologie“, in: Die Politische Meinung, (493)/2010. 48 J. Boldt, O. Müller, G. Maio, Synthetische Biologie. Eine ethisch-philosophische Analyse, Beiträge zur Ethik und Biotechnologie, 5, Bern 2009, S. 74. 49 K. Köchy, „Was ist Synthetische Biologie?“, in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Syn­ thetische Biologie, Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie?, Themenband der

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Deutlich wird dies auch anhand der Forschungsprojekte innerhalb der Xenobiologie, die Budisa in seinem Beitrag vorstellt. Budisa sieht diesen Forschungszweig am Ende eines Weges, der seinen Anfang in der Gentechnik nimmt und über die Synthetische Biologie zu „künstliche[m] Leben [führt], das genetisch und metabolisch so weit vom natürlichen entfernt ist, dass es außerhalb des Labors auf der Erde nicht überleben kann.“ Ziel der Xenobiologie ist es, nicht nur „biologische Teile von Lebewesen als Module zu definieren und durch Neukombination neuartige biologische Systeme zu generieren“, sondern „die chemische Zusammensetzung dieser Module neu [zu] gestalten“. Dabei verspricht die Erschaffung einer „parallelen biologischen Welt“ sogar einen erheblichen Gewinn an Biosicherheit für die Synthetische Biologie.50 Dem Risiko unabwägbaren Verhaltens synthetischer Organismen bei ungewollter Freisetzung oder gezielten Anwendungen in der Umwelt begegnet die gegenwärtige Forschung mit dem Vorhaben, eine Art inhärente Sicherheitsstufe, z. B. in Form eines genetischen „safety lock“51 oder einer „genetischen Firewall“52, in die Organismen zu integrieren und diese so genetisch zu isolieren. Eine unkontrollierte Vermehrung oder Interaktion mit natürlichen Arten soll dadurch verhindert werden. Die größte Herausforderung bei der Entwicklung einer genetischen Firewall und ähnlichen Vorhaben zur Erhöhung inhärenter Biosicherheit dürfte allerdings die Komplexität der Zielorganismen darstellen, wie Budisa selbst einräumt: „Sogar idealisierte Moleküle haben auf molekularer Ebene viele unbestimmte Freiheitsgrade und ihre Orthogonalisierung im biologischen Kontext ist extrem schwierig.“ Damit ist eine prinzipielle Schwierigkeit der Kontrolle und Voraussagbarkeit technisch konturierter biologischer Systeme angesprochen, die im Ininterdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologie, Band 30, Dornburg 2012, S. 33-48, S. 45; Health Council of the Netherlands, Synthetic biology. Creating opportunities, The Hague 2008, S. 28. 50 Vgl. auch M. Schmidt, „Xenobiology: A new form of life as the ultimate biosafety tool“, in: BioEssays, 32(4)/2010, S. 322-331; P. Marliere, „The farther, the safer: a manifesto for securely navigating synthetic species away from the old living world“, in: Systems and Synthetic Biology, 3(1-4)/2009, S. 77-84. 51 D. J. Mandell, M. J. Lajoie, M. T. Mee, R. Takeuchi, G. Kuznetsov, J. E. Norville, C. J. Gregg, B. L. Stoddard, G. M. Church, „Biocontainment of genetically modified organisms by synthetic protein design“, in: Nature, 518(7537)/2015, S. 55-60. 52 C. G. Acevedo-Rocha, N. Budisa, „Auf dem Weg zu chemisch veränderten Organis­ men mit genetischer Firewall“, in: Angewandte Chemie, 123(31)/2011, S. 70947096.

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geniuerparadigma und dem Herstellungskonzept der Synthese selbst liegt. Wie Mainzer in seinem Beitrag zur Synthetischen Biologie als einer Wissenschaft des Künstlichen und Komplexen schreibt, lassen sich „Biomoleküle, Zellen, Organe, Organismen und Populationen […] [als] hochkomplexe dynamische Systeme, in denen viele Elemente wechselwirken“, beschreiben. „Die Grundidee komplexer Systeme ist [dabei] immer dieselbe: Erst die komplexen Wechselwirkungen von vielen Elementen erzeugen neue Eigenschaften des Gesamtsystems, die nicht auf einzelne Elemente zurückführbar sind.“ Wenn es also das Ziel der Synthetischen Biologie und der Xenobiologie ist, solche komplexen biologischen Systeme zu konstruieren, dann sind, wie Budisa feststellt, die Idealisierungen der Ingenieurbiologie damit konfrontiert, dass „in der Realität […] unvorhergesehene Effekte hervor[treten], sobald die Komplexität des Zielorganismus zunimmt“. Auch Köchy weist darauf hin, dass der Konflikt von technischer Konstruktion und biologischen Systemen nicht nur bedeutend für den ontologischen Status und die methodologische Ausrichtung der Synthetischen Biologie ist, sondern auch den Kern einer ethischen Spannung ausmacht, die das Risiko der Nicht-Rückholbarkeit synthetischer Organismen und der Unvorhersagbarkeit möglicher Folgen birgt: „Die methodischontologische Frage, inwieweit ‚evolvability‘ und ‚engineerability‘ miteinander korrespondieren, hat also eine bioethisch relevante Seite“. Letztlich wird es die Aufgabe der forschenden Wissenschaftler wie Budisa sein, unter Berücksichtigung der angesprochenen Spannung zwischen Konstruktion und Komplexität „experimentell [zu] überprüfen, ob eine genetische Firewall etabliert und wie dicht sie gemacht werden kann“. Ergänzend zu den Fragen von Biosicherheit wird unter dem Konzept Biosecurity das Risiko möglichen Missbrauchs von Erzeugnissen der Synthetischen Biologie diskutiert. Vor allem vor dem Hintergrund der Anfang 2012 geführten Debatten um die künstlichen H5N1 Viren von Ron Fouchier und Yoshihiro Kawaoka wurde auch die Synthetische Biologie zunehmend in den Kontext sogenannter „dual-use“Technologien gestellt und als biosecurity relevantes Forschungsfeld eingeschätzt.53 Die Gefahr eines Dual Use, d. h. der missbräuchlichen 53 Bei den Forschungen von Fouchier und Kawaoka ging es um die Modifikation von H1N1 Vogelgrippeviren, die normalerweise nicht zwischen Säugetieren über­tragbar sind. Durch fünf gezielte Mutationen ist es dem Team von Fouchier gelungen, das Virus per Luft zwischen Frettchen zu übertragen. Kawaoka und sein

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Verwendung von Wissen (wissensbasierter Dual Use) oder Produkten (materialbasierter Dual Use) der Forschung54, wird in der Synthetischen Biologie vor allem darin gesehen, dass der Zugang zu Technologien und die Verfügbarkeit von Methoden und Wissen durch die Tendenzen der Modularisierung, Automatisierung und Standardisierung zunehmend leichter und auch für biotechnologische Laien möglich wird. Veranstaltungen wie der jährlich stattfindende Wettbewerb iGEM55 sowie eine wachsende Bewegung von „DIY-Biologen“ und

Team erhöhten die Übertragbarkeit des Virus von Vogel auf Mensch, indem sie ein Oberflächenpro­tein des H5N1 Virus gezielt modifizierten und in ein H1N1Virus einschleusten. In beiden Fällen ist von einem hochansteckenden Virus auszugehen, der eine Pandemie in noch nicht dagewesenem Ausmaß und mit vielen Todesfällen auslösen könnte. Die Ergebnisse von Fouchier wurden erstmals auf der Influenza Konferenz in Malta im September 2011 vorgetragen. In der folgenden kontroversen Debatte wurden vor allem die Themen Wissenschaftsfreiheit vs. Zensur sowie die Gefahren (Bioterrorismus) und Chancen (Verständnis der Übertragbarkeit von H5N1 Viren, Entwicklung von Impfstoffen) virologischer Forschungen verhandelt. Beide Publikationen wurden von dem National Science Advisory Board for Bio­ security (NSABB) im November 2011 nicht zur Veröffentlichung freigegeben. Die Forscherteams haben daraufhin freiwillig ein 60-tägiges Moratorium ausgerufen und weitere Forschungen sowie Veröffentlichungen eingestellt. Der Aufsatz von Kawaoka wurde schließlich am 2.5.2012 in Nature veröffentlicht. Fouchier konnte seine Ergebnisse am 22.06.2012 in Science publizieren. (M. Imai, T. Watanabe, M. Hatta, S. C. Das, M. Ozawa, K. Shinya, G. Zhong, A. Hanson, H. Katsura, S. Watanabe, C. Li, E. Kawakami, S. Yamada, M. Kiso, Y. Suzuki, E. A. Maher, G. Neumann, Y. Kawaoka, „Experimental adaptation of an influenza H5 HA confers respiratory droplet transmission to a reassortant H5 HA/H1N1 virus in ferrets“, in: Nature, (486)/2012, S. 420-428; S. Herfst, E. J. A. Schrauwen, M. Linster, S. Chutinimitkul, E. de Wit, V. J. Munster, E. M. Sorrell, T. M. Bestebroer, D. F. Burke, D. J. Smith, G. F. Rimmelzwaan, A. D. M. E. Osterhaus, R. A. M. Fouchier, „Airborne Transmission of Influenza A/H5N1 Virus Between Ferrets“, in: Science, 336(6088)/2012, S. 15341541; vgl. auch Presidential Commission for the Study of Bioethical Issues (PCSBI), New directions. The ethics of synthetic biology and emerging technologies, Washing­ ton, D.C 2010, S. 71-74; C. Viggiani, Adressing Biosecurity Concerns Related to Synthetic Biology. Report of the National Science Advisory Board for Biosecurity (NSABB), Washington, D.C 2010). 54 P. Dickmann, Biosecurity. Biomedizinisches Wissen zwischen Sicherheit und Ge­ fährdung, Science studies, Bielefeld 2012, S. 117 ff.; vgl. auch S. Miller, M. J. Selgelid, „Ethical and Philosophical Consideration of the Dual-use Dilemma in the Biological Sciences“, in: Science and Engineering Ethics, 13(4)/2007, S. 523-580. 55 Die international Genetically Engineered Machine (iGEM) competition ist ein in­ ternationaler Wettbewerb für Studierende auf dem Gebiet der Synthetischen Biolo­ gie, der seit 2003 von der iGEM Foundation am Massachusetts Institute of Techno­ logy (MIT) in Cambridge veranstaltet wird. Die teilnehmenden Teams bekommen ein Labor-Kit mit DNA-Bausteinen (sog. „Biobricks“) zur Verfügung gestellt. Mit

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„Biohackern“ verdeutlichen, dass das Wissen und die Technologien der Synthetischen Biologie durch sogenanntes de-skilling aus den akademischen und industriellen Forschungskontexten herauswandern und sich so der institutionellen Kontrolle und Regulierung entziehen.56 Um einem möglichen Missbrauchsrisiko zu begegnen und einem drohenden Forschungsmoratorium, wie es im Falle der Viren von Fouchier und Kawaoka ausgerufen wurde, zu entgehen, werden in der Synthetischen Biologie etwa genetische Signaturen („watermark sequenzes“57) entwickelt, die die Organismen hinsichtlich ihrer Herkunft und Verwendung kennzeichnen und zu identifizieren erlauben. Auch Biotechnologiefirmen und die DIY- und Biohacker-Bewegung reagieren mit verschärften Kontrollmethoden, selbst auferlegten Vereinbarungen und einer engen Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden. In Deutschland stellen die aktuellen Stellungnahmen des Deutschen Ethikrats sowie der DFG und Leopoldina die Fragen zu sicherheitsrelevanter Forschung sowie die Synthetische Biologie zunehmend in den größeren Themenkomplex von Wissenschaftsfreiheit und Verantwortung. Ihre Empfehlung sind die Erstellung eines übergreifenden und institutionell verankerten Forschungskodex und die Einrichtung wissenschaftsinterner Selbstverpflichtungs- und Überwachungsregularien, wie etwa ein begleitendes Biosecurity-Monitoring.58

diesen Bausteinen werden synthetische, biologisch aktive Module entwickelt, die dann in Zellen eingebracht werden und dort neue Funktionen ermöglichen. 56 Deutscher Ethikrat, Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft. Stellungnahme, 2014, S. 40 ff. 57 D. G. Gibson, J. I. Glass, C. Lartigue, V. N. Noskov, R.-Y. Chuang, M. A. Algire, G. A. Benders, M. G. Montague, L. Ma, M. M. Moodie, C. Merryman, S. Vashee, R. Krishnakumar, N. Assad-Garcia, C. Andrews-Pfannkoch, E. A. Denisova, L. Young, Z.-Q. Qi, T. H. Segall-Shapiro, C. H. Calvey, P. P. Parmar, C. A. Hutchison, H. O. Smith, J. C. Venter, „Creation of a Bacterial Cell Controlled by a Chemically Synthesized Genome“, in: Science, 329(5987)/2010, S. 52-56, S. 52. 58 Deutscher Ethikrat, Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissen­ schaft. Stellungnahme, 2014; Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Na­tio­nale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Wissenschaftsfreiheit und Wissen­ schaftsverantwortung. Empfehlungen zum Umgang mit sicherheitsrele­vanter Forschung, 2014.

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2.3 Verantwortung und Vertrauen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Gesellschaft Der dritte Themenkomplex in der Debatte um die Synthetische Biologie umfasst Fragen, die die sozioökonomischen, sozialen und rechtlichen Folgen sowie die öffentliche Wahrnehmung und Akzeptanz der Synthetischen Biologie in der Gesellschaft betreffen. Wie sich bereits bei den Reflexionen zum Lebensbegriff und der Debatte zu Biosecurity und Biosafety angedeutet hat, führen auch diese Fragen letztlich zu einer Auseinandersetzung mit einem Verantwortungs- und Vertrauensverhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, das durch die modernen Lebenswissenschaften und biotechnologische Fortschritte herausgefordert zu sein scheint. Vor allem von verschiedenen NGOs und sozialen Gruppen, wie etwa Friends of the Earth oder der ETC Group, wird sowohl der Forschung als auch der begleitenden Risiko- und Technikfolgenabschätzung vorgeworfen, dass sie die direkten und längerfristigen sozio-ökonomischen Folgen der Synthetischen Biologie nicht genügend berücksichtigen und die sozialen und wirtschaftlichen Risiken für betroffene Gruppen unterschätzen würden.59 Die Kritik zielt dabei zum einen gegen das Forschungsprogramm selbst und stellt damit die Synthetische Biologie und Gentechnologie als „genetic engineering on steroids“60 gleichermaßen unter den Verdacht einer unverantwortlichen Risikotechnologie. Zum anderen richten sich die Forderungen auch gegen die unzureichende Transparenz in der Kommunikation und Darstellung vorhandener Risiken und gegen die mangelnde Einbindung aller betroffenen Akteure und Interessensgruppen in die Diskussion um die ethischen Implikationen der Synthetischen Biologie. Das betrifft vor allem Fragen der gerechten Verteilung von Chancen und Risiken neuer Biotechnologien und der ökonomischen Verwertung und Patentierbarkeit von künstlichen Organismen, die in einer gewissen Spannung zu den Ansprüchen auf freien Zugang zu Wissen und Erkenntnissen

59 Friends of the Earth, International Center for Technology Assessment, The ETCGroup, The Principles for the Oversight of Synthetic Biology, 2012; The ETC Group, Extreme Genetic Engineering. An Introduction to Synthetic Biology, 2007; The ETC Group, The new Biomassters. Synthetic Bilogie and the next Assault on Biodiversity and Livelihoods, 2010. 60 The ETC Group, Extreme Genetic Engineering. An Introduction to Synthetic Bio­ logy, 2007, S. 1.

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der Forschung stehen.61 Die zunehmend kostengünstigeren und effizienteren Produktionsverfahren sowie die „Open Access“ Bewegung der Synthetischen Biologie versprechen zwar die Chance, eine offene Wissenschaftslandschaft zu etablieren und zu einer „Demokratisierung“ der Biologie beizutragen.62 Allerdings scheinen die Ökonomisierung der Forschung sowie eine aggressive Patentpolitik etablierter Biotechnologiefirmen die bestehenden Ungleichheiten im Zugang zu Technologien und Wissen zwischen den westlichen Industrieländern und ärmeren Ländern der Südhalbkugel eher zu verfestigen.63 In engem Zusammenhang mit dieser Diskussion um die sozialen, ökonomischen und rechtlichen Folgen stehen Fragen zur Wahrnehmung und Akzeptanz der Synthetischen Biologie in der Öffentlichkeit.64 Vor allem die mediale Thematisierung und Darstellung der Forschung bestimmt dabei das Bild von Wissenschaft in der Öffentlichkeit und prägt entscheidend, welche normativen Wertungen, kulturellen Deutungsmuster und emotionalen Verknüpfungen hierbei aufgerufen werden.65 Einer Umfrage nach haben zwar bislang nur 17 % der Menschen in Europa (19 % der Deutschen) überhaupt je von Synthetischer Biologie gehört66 und auch in der medialen Berichterstattung bleibt 61 Presidential Commission for the Study of Bioethical Issues (PCSBI), New directions. The ethics of synthetic biology and emerging technologies, Washington, D.C 2010, S. 161; Deutsche Forschungsgemeinschaft, acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Syn­ thetische Biologie – Stellungnahme, S. 23-25. 62 Deutscher Ethikrat, „Perspektivenpapier Synthetische Biologie (Ethikrat)“, 2009, unter: http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/Perspektivenpapier_Synthetische_Bio­ logie_2009-04-23.pdf (eingesehen am 28.02.2015), S. 40. 63 The ETC Group, Extreme Genetic Engineering. An Introduction to Synthetic Biology, 2007, S. 32 und 36; Deutscher Ethikrat, „Perspektivenpapier Synthetische Biologie (Ethikrat)“, 2009, unter: http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/Perspektivenpapier_ Synthetische_Biologie_2009-04-23.pdf (eingesehen am 28.02.2015), S. 7. 64 Vgl. J. Achatz, M. O’Malley, P. Kunzmann, „Der Stand der ethischen Forschung“, in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen Inge­ nieurbiologie?, Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologie, Band 30, Dornburg 2012, S. 165-186, S. 182. 65 A. Cserer, A. Seiringer, „Pictures of Synthetic Biology“, in: Systems and Synthetic Biology, 3(1-4)/2009, S. 27-35; J. Diekämper, A. Hümpel, „Die Synthetische Bio­ logie in den Medien“, in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie, Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie?, Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologie, Band 30, Dornburg 2012, S. 215-231. 66 G. Gaskell, Europeans and biotechnology in 2010. Winds of change? a report to the European Commission’s Directorate-General for Research, Brussels 2010, S. 29 ff.; J. Hampel, „Synthetische Biologie – Eine unglaubliche Technologie“,

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die Synthetische Biologie weithin ein Nischenthema67. Dennoch besteht die Befürchtung, dass die Synthetische Biologie aufgrund ihrer Nähe zur Gentechnologie und der erzeugten Bilderwelt von der künstlichen Lebensherstellung bei großen Teilen der Bevölkerung auf vages Unbehagen, Bedenken und Ablehnung stoßen wird. Durch die in der medialen Vermittlung verkürzten Argumente von Schöpfungshybris und Wissenschaftsspiel68 könnten sich die Positionen und Meinungen innerhalb der Gesellschaft schnell in den bestehenden Fronten der Gentechnologiedebatte verfestigen.69 Auch wenn die Synthetische Biologie bislang wenig bekannt ist und die ersten Anwendungen und Produkte gerade erst in den lebensweltlichen Alltag einwandern, wird jetzt schon ausgehandelt, welche Akteure sich im unausgefochtenen Kampf um das „Framing“ durchsetzen werden.70 Forscher wie Craig Venter oder Georg Church prägen durch ihre medienwirksamen Darstellungen der Synthetischen Biologie die Bilder von der künstlichen Lebensherstellung und dem Wissenschaftsspiel und propagieren deren hohen gesellschaftlichen Nutzen sowie philosophisch-ethische Bedeutung. Damit bestimmen sie auch die Themen der begleitenden ELSI-Debatte, die die Annahme einer wissenschaftshistorischen, philosophischen und ethischen Relevanz der Synthetischen Biologie dankbar aufnimmt und in einer Vielzahl von Publikationen und Veranstaltungen bearbeitet.71 Zugleich formie-

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in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie, Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie?, Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechno­ logie, Band 30, Dornburg 2012, S. 237-254, S. 239. B. Gschmeidler, A. Seiringer, „‚Knight in shining armour‘ or ‚Frankenstein’s creation‘? The coverage of synthetic biology in German-language media“, in: Public understanding of science (Bristol, England), 21(2)/2012, S. 163-173. J. Diekämper, A. Hümpel, „Die Synthetische Biologie in den Medien“, in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie, Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie?, Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologie, Band 30, Dorn­ burg 2012, S. 215-231, S. 229. Vgl. H. Torgersen, M. Schmidt, „Frames and comparators: How might a debate on synthetic biology evolve?“, in: Futures, (48)/2013, S. 44-54. J. Achatz, M. O’Malley, P. Kunzmann, „Der Stand der ethischen Forschung“, in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen Inge­ nieurbiologie?, Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologie, Band 30, Dornburg 2012, S. 165-186, S. 185. Arnold Sauter beschreibt die Synthetischen Biologie im Rahmen einer metaethischen Kritik als eine „Hope- Hype- und Fear- Technologie“ (A. Sauter, „Synthetische Biologie: Finale Technisierung des Lebens – oder Etikettenschwindel?“, in: TABBrief Nr. 39, August 2011, Schwerpunkt: Hope-, Hype- und Fear-Technologien),

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ren NGOs und andere soziale Interessengruppen Widerstand gegen die Synthetische Biologie und bekräftigen ihre Forderung nach einem Forschungsmoratorium.72 Es ist ersichtlich, dass die Debatte um die Synthetische Biologie nicht ausschließlich wissenschaftsintern und auch nicht allein im Rahmen einer ethischen Begleitforschung geführt werden kann. Vielmehr muss es verstärkt um Fragen von Forschungsfreiheit und Verantwortung gehen, die auf das grundlegende ethische Vertrauensverhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft zielen und im Rahmen deliberativer Demokratien öffentlich kommuniziert und artikuliert werden müssen.73 Die European Group on Ethics in Science and New Technologies (EGE) spricht in diesem Zusammenhang von einer „sphere of trust that provides the space for new technologies to be developed as part of a societal endeavour – and not against it“74. Damit ist ein Vertrauensvorschuss angesprochen, der sich an ein der Wissenschaft inhärentes Ethos richtet und die grundsätzliche Erwartung ausspricht, die Forschungspraxis gegenüber gesellschaftlichen Werten und normativen Grundeinstellungen auszuweisen und zu begründen. Auch der Dialog zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, wie er in diesem Band zwischen den Beiträgen zu den Themen Leben, Komplexität und natürlich/synthetisch stattfindet, ist vor diesem Hintergrund eines ethischen Vertrauens- und Verantwortungsverhältnisweitere Kritik an der ethischen Kritik findet sich bei B. Prainsack, „Wer fürchtet sich vor dem Prothesenchromosom? Ein Blick aus sozialwissenschaftlicher Perspektive auf den ethischen Diskurs der Synthetischen Biologie“, in: Zeitschrift für evan­ gelische Ethik, 57(2)/2013, S. 102-113 und J. Schummer, Das Gotteshandwerk. Die künstliche Herstellung von Leben im Labor, Berlin 2011, S. 160-189. 72 Vgl. Friends of the Earth, International Center for Technology Assessment,ETCGroup, The Principles for the Oversight of Synthetic Biology, 2012, S. 4; C. Then, „Was ist biologische Integrität? Plädoyer für eine strikte Regulierung der Synthetischen Biologie“, in: GID (Hrsg.), GID Spezial 10: Synthetische Biologie, Berlin 2010b, S. 23-36; C. Then, „‚Lückenlose Kontrolle notwendig‘. Zur Kritik der Synthetischen Biologie“, in: Forschung und Lehre, 17(8)/2010a, S. 564-565. 73 A. Grunwald, „Synthetische Biologie: Verantwortungszuschreibung und Demokra­ tie“, in: J. Boldt, O. Müller, G. Maio (Hrsg.), Leben schaffen? Philosophische und ethische Reflexionen zur Synthetischen Biologie, Paderborn 2012, S. 81-102. 74 European Group on Ethics in Science and New Technologies to the European Commission (EGE), Ethics of synthetic biology, opinion 25, Brüssel 2009, S. 37; vgl. auch J. Achatz, M. O’Malley, P. Kunzmann, „Der Stand der ethischen Forschung“, in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie?, Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gen­ technologie, Band 30, Dornburg 2012, S. 165-186, S. 183.

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ses von Wissenschaft und Gesellschaft einzuordnen. „Die Möglichkeit, mit Hilfe der Synthetischen Biologie neue lebende Systeme zu generieren, verlangt den Forschern ein hohes Maß an Verantwortung gegenüber der Gesellschaft ab“, schreiben Hacker und Kumm. Diese Verantwortung der Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft, so haben auch die anderen Beiträge und ihre Stellung innerhalb der Debatte gezeigt, kann nicht auf die Fragen zum Lebensbegriff, Biosicherheit oder Dual-Use reduziert werden, sondern erfordert eine umfassende Reflexion des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Status der Synthetischen Biologie, die sich am gegenwärtigen Stand der Forschung orientiert und diese an die Lebenswelt und das gesellschaftliche Ethos rückbindet. Die Synthetische Biologie steht dabei paradigmatisch für ethische Konflikte und Kontroversen, die durch die modernen Lebenswissenschaften und Biotechnologien hervortreten und die nicht einseitig aufgelöst werden können. Die ethische Beurteilung und Einordnung der Synthetischen Biologie kann vielmehr nur im Dialog von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, Technikfolgenabschätzung und Ethik und unter Einbeziehung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit sowie aller betroffenen Akteure und Interessengruppen erfolgen. Der vorliegende Band versteht sich als ein Beitrag zu einem solchen interdisziplinären und öffentlichen Dialog und bietet der laufenden Debatte in diesem Sinne einen Überblick über die zentralen Themen der gegenwärtigen Auseinandersetzungen sowie Anknüpfungspunkte für die weitere Reflexion und ethische Evaluierung der Synthetischen Biologie.

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Autorinnen und Autoren

Nediljko Budisa, Dr. rer. nat., ist Professor und Lehrstuhlinhaber für Biokatalyse am Institut für Chemie der Technischen Universität Berlin. Daniel Falkner, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der AG Bioethik im LOEWE-Zentrum für Synthetische Mikrobiologie (SYNMIKRO) in Marburg. Jörg Hacker, Prof. Dr. rer. nat., ist Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher ­­– Nationale Akademie der Wissenschaften in Halle (Saale) und Mikrobiologe mit Schwerpunkt Molekulare Infektionsbiologie. Gerald Hartung, Dr. phil., ist Professor für Kulturphilosophie und Ästhetik am Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal. Kristian Köchy, Dr. rer. nat, Dr. phil., ist Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Theoretische Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Kassel. Sandra Kumm, Dr. rer. nat., ist wissenschaftliche Referentin des Präsidenten der Deutschen Akademie der Naturforscher – Nationale Akademie der Wissenschaften, Halle (Saale). Klaus Mainzer, Dr. phil., ist Professor und Lehrstuhlinhaber für Philosophie und Wissenschaftstheorie und wissenschaftlicher Direktor der Carl von Linde-Akademie der Technischen Universität München. Friedemann Voigt, Dr. theol., ist Professor für Sozialethik mit Schwerpunkt Bioethik am Fachbereich Evangelische Theologie der PhilippsUniversität Marburg und Leiter der AG Bioethik im LOEWE-Zentrum für Synthetische Mikrobiologie (SYNMIKRO) in Marburg.

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