Landschaften der deutschen Geschichte: Aufsätze zum 19. und 20. Jahrhundert [1 ed.] 9783666370434, 9783647370439, 9783525370438


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Landschaften der deutschen Geschichte: Aufsätze zum 19. und 20. Jahrhundert [1 ed.]
 9783666370434, 9783647370439, 9783525370438

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann

Frühere Herausgeber Helmut Berding, Hans-Ulrich Wehler (1972–2011) und Jürgen Kocka (1972–2013)

Band 217

Vandenhoeck & Ruprecht

David Blackbourn

Landschaften der deutschen Geschichte Aufsätze zum 19. und 20. Jahrhundert

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 4 Grafiken Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0130 ISBN 978-3-647-37043-9

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Paul Baum: Flusslandschaft in Mecklenburg (um 1895), © Foto: Fotostudio Bartsch, Karen Bartsch, Berlin © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: e Hubert & Co GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Katholiken, Kleinbürger und die Moderne 1. Fortschritt und Frömmigkeit: Liberalismus, Katholizismus und Staat im Kaiserreich . . . . . . . . . 15 2. Katholiken, Zentrumspartei und Antisemitismus . . . . . . . . . . . 41 3. Marpingen: Marienerscheinungen in Deutschland . . . . . . . . . . . 63 4. Handwerker während der Industrialisierung: Gewinner oder Verlierer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5. Mittelstandspolitik im Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

Politik im neuen Stil 6. Demagogie in der Politik des Kaiserreichs . . . . . . . . . . . . . . . . 135 7. Politik als Schauspiel: Bühnenmetaphorik in der deutschen Geschichte (1848–1933) . . . . . 168 8. »Die meisten von ihnen haben Räder«. Kraftfahrzeuge und der Aufstieg des Nationalsozialismus . . . . . . . 189

Umwelt, Natur, Landschaft 9. Landschaft und Umwelt in der deutschen Geschichte . . . . . . . . . 205 10. Die Eroberung der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 11. »Ins Bad reisen«. Treffpunkte der mondänen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 5

12. Der Nimbus der Ostgrenze zur Zeit des Nationalsozialismus . . . . . 251 13. »Der Garten unseres Herzens«. Landschaft, Natur und Heimatgefühl im deutschen Osten . . . . . . 273

Deutschland transnational 14. Deutschland und die Geburt der modernen Welt (1780–1820) . . . . 291 15. »Aufeinander angewiesen wie Mann und Weib«. Kulturkontakt und Kulturtransfer zwischen Deutschland und England im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 16. Das Kaiserreich transnational. Eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . 328

Theorie und Praxis 17. Wie bürgerlich war das Kaiserreich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 18. Mikrogeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 19. Periodisierung in der Geschichtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . 368 20. »Liebling, ich habe die deutsche Geschichte geschrumpft!« . . . . . . 378

Verzeichnis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390

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Vorwort Die in diesem Band versammelten Texte sind über einen Zeitraum von mehr als 35 Jahren entstanden. Der älteste von ihnen wurde für eine Tagung verfasst, die 1978 stattfand. Deutscher Bundeskanzler war damals Helmut Schmidt, und er sollte es noch vier weitere Jahre bleiben. Auch die Praktiken und Hauptinteressengebiete der Historikerzunft in diesen Jahren gehörten einer völlig anderen Epoche an. Sie erinnern uns an die historische Wahrheit, die im Eingangssatz von L. P. Hartleys Buch »The Go-Between« zum Ausdruck kommt: »Die Vergangenheit ist ein fremdes Land; dort gelten andere Regeln.«1 Die späten 1970er Jahre markierten in Deutschland wie auch anderswo den Höhepunkt der Sozialgeschichte. Politikgeschichte und erzählte Geschichte waren, so schien es, im Niedergang begriffen, historische Vergleiche wurden breit diskutiert, und die Historiker, welche die Vorzüge der Interdisziplinarität betonten, meinten damit in der Regel die Zusammenarbeit mit Ökonomen, Soziologen und Politikwissenschaftlern. Seither hat sich viel verändert. Die Sozialgeschichte wurde durch die Kulturgeschichte in Frage gestellt, insbesondere im Zuge der »konstruktivistischen Wende« der 1980er Jahre, der zufolge nunmehr alles – Nationen, Klassen, Traditionen – imaginiert oder erfunden war.2 Die Politikgeschichte kehrte in neuer Gestalt zurück, stark eingefärbt durch die Kulturgeschichte, und Geschichte zu erzählen kam wieder in Mode, insbesondere unter anglo-amerikanischen Historikern. Die transnationale Geschichte hat die vergleichende Geschichtsschreibung in den Hintergrund gedrängt. Interdisziplinarität steht weiter hoch im Kurs, doch die Fächer, mit denen Historiker in einen Dialog getreten sind, sind jetzt andere. In den 1980er Jahren stürzten sich viele auf die Anthropologie. Der Aufstieg der Kulturgeschichte rückte literatur- und kulturwissenschaftliche Studien in den Vordergrund. Heute spielen die Evolutionsbiologie und die Neurowissenschaften eine wichtige Rolle in den Arbeiten von Historikern, die sich für eine »Big History« oder »Deep History« stark machen.3 Das ist eine recht grobe Skizze dieser Veränderungen. Weil die Geschichtswissenschaft eine sehr großzügige Disziplin ist, gilt weiterhin, dass ältere Ansätze 1 L. P. Hartley, The Go-Between, London 1953. 2 Siehe beispielsweise B. Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983 (dt.: Die Erfindung der Nation, Frankfurt a. M. 1988.); E. Hobsbawm u. T. Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983. 3 D. Christian, Maps of Time. An Introduction to Big History, Berkeley 2004; D. Lord Smail, On Deep History and the Brain, Berkeley 2008; A. Shryock u. D. Lord Smail, Deep History. The Architecture of Past and Present, Berkeley 2011; I. Morris, Foragers, Farmers, and Fossil Fuels. How Human Values Evolve, Princeton 2015. Siehe auch das Kap. 19 in diesem Band.

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nie vollständig durch neue ersetzt werden. Es entstehen neue Themenbereiche wie etwa die Umweltgeschichte, die Geschlechtergeschichte und die Gedächtnisgeschichte. Alte Felder erfahren eine Veränderung, so etwa die Wirtschaftsgeschichte durch den Niedergang der Quantifizierung und das Aufkommen der »commodity history«, der Produkt- und Warengeschichte (des Zuckers, der Schokolade, des Kaffees, des Kabeljaus, des Autos, des Stacheldrahts u. v. m.). All diese Zweige der Geschichtswissenschaft existieren nebeneinander. Historiker sprechen gerne davon, in Clios Haus gebe es viele Wohnungen. Ich habe einmal eine etwas andere Metapher vorgeschlagen: das Hotel Historie, in dem neue Gäste einchecken, doch von den alten Bewohnern wird keiner gebeten, abzureisen.4 Die oben skizzierten Entwicklungen innerhalb des Faches haben trotzdem dafür gesorgt, dass Historiker heute anders an ihre Aufgabe herangehen als vor 35 Jahren. Die hier versammelten Aufsätze spiegeln diese Veränderungen wider und haben selbst zu diesen Veränderungen beigetragen. Wie jeder andere Mensch führen auch Historiker ihr Leben mit dem Blick nach vorne und versuchen dem, was sie getan haben, rückblickend einen Sinn zu geben. Es ist deshalb verlockend, einem Werk, das über einen langen Zeitraum in unterschiedlichen Kontexten entstanden ist, ein allzu stringentes Muster überzustülpen. Wenn ich heute zurückblicke, habe ich gleichwohl den Eindruck, dass es einen roten Faden gibt, der viele meiner Aufsätze genauso durchzieht wie die Bücher, die ich in all diesen Jahren geschrieben habe – nämlich die Vorstellung der Moderne: die Hoffnungen und Ängste, die sie weckte, ihre Probleme und Widersprüche. Der vorliegende Band ist in fünf Abschnitte unterteilt. Der erste versammelt Texte, die sich mit zwei gesellschaftlichen Gruppen beschäftigen, nämlich mit den Katholiken und den Kleinbürgern, deren Verhältnis zur Moderne problematisch war. Meine frühesten Arbeiten untersuchen, welche Stellung die katholische Minderheit im Deutschen Kaiserreich einnahm und welche Rolle die Zentrumspartei als deren parlamentarische Vertretung in der damaligen Politik spielte.5 Damals galt das Zentrum gemeinhin als konfessionelle Partei. Ich versuchte zu zeigen, wie sozioökonomische Interessen und das Kalkül der Zentrumsführung gemeinsam die spezifische Politik der Partei bestimmten. Eine entscheidende Rolle kam dabei der sogenannten »katholischen Rückständigkeit« zu. Kapitel 1 zeigt, dass der Kulturkampf der 1870er Jahre mehr war als nur ein Streit zwischen Kirche und Staat, nämlich eine Auseinandersetzung zwi4 Siehe D. Blackbourn, The Long Nineteenth Century. A History of Germany, 1780–1918, New York 1998, S. xviif. 5 D. Blackbourn, The Political Alignment of the Centre Party in Wilhelmine Germany. A Study of the Party’s Emergence in Nineteenth-Century Württemberg, in: Historical Journal, Jg. 18, 1975, S. 821–850; ders., Class and Politics in Wilhelmine Germany. The Centre Party and the Social Democrats in Württemberg, in: Central European History, Jg. 9, 1976, S. ­220–249; ders., The Problem of Democratisation. German Catholics and the Role of the Centre Party, in: R. J. Evans (Hg.), Society and Politics in Wilhelmine Germany, London 1978, S. 160–185; ders., Class, Religion and Local Politics in Wilhelmine Germany. The Centre Party in Württemberg before 1914, London 1980.

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schen zwei unterschiedlichen Vorstellungen von der Zukunft. Kapitel 2 befasst sich mit dem katholischen Antisemitismus und mit der Frage, wie dieser von der Zentrumspartei politisch instrumentalisiert wurde. Ich vertrete dabei die Ansicht, dass der Minderheitenstatus der deutschen Katholiken das antisemitische Ressentiment einerseits befördert, seiner politischen Ausformung zugleich aber auch Grenzen gesetzt hat. Vor allem wollte ich dabei deutlich machen, wie die Dynamik zwischen zwei verschiedenen Minderheitengruppen ihre eigenen Formen von Vorurteil erzeugen kann, in diesem Fall zwischen Katholiken und Juden. Im Zuge meiner Forschungen zur katholischen Volksfrömmigkeit stieß ich auf die Ereignisse in Marpingen, einem Dorf im Saarland, wo drei junge Mädchen 1876 davon berichteten, ihnen sei die Jungfrau Maria erschienen. Kapitel 3 analysiert den Aufstieg und Niedergang des »deutschen Lourdes«.6 Die übrigen Aufsätze des ersten Abschnitts widmen sich dem Kleinbürgertum und der Frage, wie Angehörige dieser hybriden Gesellschaftsschicht die sozioökonomische und kulturelle Moderne erlebten. Zu diesem Thema habe ich in den 1970er und 1980er Jahren ausgiebig gearbeitet, als man sich für das Kleinbürgertum vor allem deshalb interessierte, weil es zu den Hauptunterstützern der NSDAP gehörte.7 Kapitel 4 nimmt Handwerker und ihre Familien in den Blick und vertritt die These, dass weder »pessimistische« noch »optimistische« Darstellungen die komplexen Veränderungsprozess im deutschen Handwerk während der Industrialisierung angemessen beschreiben. Kapitel 5 untersucht die soge­nannte Mittelstandspolitik, die Konservative und Zentrumspartei verfolgten, und kommt zu einem Schluss, der damals gängige Ansichten in Frage stellte: Nicht der Erfolg, sondern der Misserfolg der Mittelstandspolitik im Kaiserreich hat zur späteren politischen Haltung des Kleinbürgertums beigetragen. Die Aufsätze im zweiten Abschnitt befassen sich mit der Entstehung eines neuartigen Politikstils im 19. Jahrhundert. Zwei seiner Hauptmerkmale waren ein »politischer Massenmarkt« (Hans Rosenberg) und eine ausgeprägte Neigung zur »Ästhetisierung der Politik« (Walter Benjamin). Jeder der drei Texte nähert sich dem Thema auf unterschiedliche Weise. Kapitel 5 definiert und er6 Siehe auch D. Blackbourn, Marpingen. Apparitions of the Virgin Mary in Bismarckian Germany, Oxford 1984 (dt.: ders., Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen. Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Reinbek bei Hamburg 1997; Neuauflage u.d.T. Drei Mädchen aus Marpingen. Die Bismarck-Zeit und der Wirbel um das »deutsche Lourdes«, Saarbrücken 2007). 7 Siehe D. Blackbourn, The Mittelstand in German Society and Politics. 1871–1914, in: Social History. Jg. 4, 1977, S. 409–433; ders., Between Resignation and Volatility: the German petite bourgeoisie in the nineteenth century, in: G. Crossick u. H.-G. Haupt (Hg.), Shopkeepers and Master Artisans in Nineteenth-Century Europe, London 1984, S. 35–61; ders., La petite bourgeoisie et l’Etat dans l’Allemagne impérial, 1871–1914, in: Le Mouvement Social, Jg. 127, 1984, S. 3–28; ders., Mittelstandspolitik im deutschen Kaiserreich, in: R. Melville u. a. (Hg.), Deutschland und Europa in der Neuzeit, 2 Bde, Wiesbaden 1988, Bd, 2, S. ­555–573. Zur allgemeineren Diskussion um das Kleinbürgertum in den 1970er Jahren siehe H. A. Winkler, Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus, Köln 1972; A. Leppert-Fögen, Die deklassierte Klasse. Studien zur Geschichte und Ideologie des Kleinbürgertums, Frankfurt a. M. 1974.

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forscht die Demagogie in der Politik des Kaiserreichs. Kapitel 6, das sich der Bühnenmetaphorik in der deutschen Geschichte widmet, nimmt sowohl die Sprache als auch die performative Dimension von Politik unter die Lupe. Dieser Aufsatz hat vor allem dem Einfluss von Nicht-Historikern viel zu verdanken, darunter den Soziologen Richard Sennett und Erving Goffman sowie dem Literaturwissenschaftler Lionel Trilling. Beide Texte erkunden die Möglichkeiten einer Kultur- oder Diskursgeschichte, ohne aber die Sozialgeschichte über Bord zu werfen. Gleiches gilt für Kapitel 7, das den nationalsozialistischen Einsatz von Kraftfahrzeugen als praktisches Mittel der Mobilisierung wie auch als Form der Dramatisierung von Politik untersucht. Als ich 1987 eine englischsprachige Sammlung meiner Aufsätze veröffentlichte, fand sich darin kein Text über Natur oder Umwelt. In den 1980er Jahren gab es einen Moment, in dem ich ernsthaft erwog, ein Buch über Tiere in der deutschen Geschichte zu schreiben, aber dieser Gedanke wurde schon bald durch meine Forschungen über Marienerscheinungen verdrängt. 1989/90 jedoch verbrachte ich ein Jahr als Gastprofessor im kalifornischen Stanford. Dieses Jahr blieb mir besonders nachhaltig in Erinnerung, denn ich erlebte dort ein schweres Erdbeben und verfolgte aus der Ferne den Fall der Berliner Mauer. Es war aber auch noch aus einem anderen Grund wichtig für mich: Der große Eindruck, den die kalifornische Landschaft auf mich machte, und die Lektüre von Arbeiten der »New Western History« nährten mein wachsendes Interesse an der Geschichte von Natur und Umwelt. Meine ersten Aufzeichnungen zu einem neuen Forschungsprojekt stammen von Anfang der 1990er Jahre. Am Ende standen ein Buch und eine Reihe von Vorträgen und Aufsätzen.8 Der dritte Abschnitt enthält eine Auswahl dieser Texte.9 Ihnen allen liegen zwei methodische Überzeugungen zugrunde: dass Umweltgeschichte zur allgemeinen deutschen Geschichte gehört;10 und dass es möglich ist, eine physische, materielle Umweltgeschichte mit einer Kulturgeschichte der Wahrnehmungen und Darstellungen zu verbinden – dass also Natur, Umwelt und Landschaft zugleich ist. 8 Das Buch war D. Blackbourn, The Conquest of Nature. Water, Landscape and the Making of Modern Germany, London 2006 (dt.: ders., Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007). 9 Weitere Aufsätze sind ders., Besiegte Natur. Wasser und die Entstehung der modernen deutschen Landschaft, in: Wasser. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Schriftenreihe Forum, Bd. 9. Elemente des Naturhaushalts I, Bonn 2000, S. 440–453; ders., »Conquests from Barbarism«. Interpreting Land Reclamation in 18th-century Prussia, in: Proceedings, Reports, abstracts and round table introductions. 19th International Congress of Historical Sciences, Oslo 2000, S. 396; ders., »Die Natur also historisch zu etablieren«. Natur, Heimat und Landschaft in der modernen deutschen Geschichte, in: J. Radkau u. F. Uekötter (Hg.), Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2003, S. 65–74; ders., »Conquests from Barbarism«. Taming Nature in Frederician Prussia, in: C. Mauch (Hg.), Nature in German History, New York 2004, S. 10–30. 10 Vgl. D. Blackbourn, Environmental History and Other Histories, in: K. Coulter u. C. Mauch (Hg.), The Future of Environmental History. Needs and Opportunities. München 2011, Bd. 3, S. 19–21.

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Ende der 1990er Jahre interessierte ich mich, wie einige andere Historiker auch, zunehmend für die räumliche Dimension von Geschichte.11 Das war zum Teil  eine Art Nebenprodukt meiner Arbeit an »Die Eroberung der Natur«. Verstärkt wurde mein Interesse allerdings durch zahlreiche andere geschichtswissenschaftliche Strömungen, die um die Jahrtausendwende an Bedeutung gewannen  – eine einsetzende Welle neuer Arbeiten zur deutschen Kolonialgeschichte, Diskussionen über Globalgeschichte, die durch die Globalisierungserfahrung der 1990er Jahre befeuert wurden, ein neuerwachtes Interesse an der Geschichte der weltweiten Migration, des Kulturtransfers und von Netzwerken aller Art. Gleichzeitig bildete die Nation immer weniger selbstverständlich die natürliche Untersuchungskategorie historischer Forschung, nachdem seit den 1980er Jahren immer mehr Arbeiten die Nation als Konstrukt kenntlich gemacht hatten. Vor diesem Hintergrund begannen Historiker Anfang des 21. Jahrhunderts damit, über transnationale Geschichte zu sprechen.12 2002 spielte ich erstmals mit dem Gedanken, aus dieser Perspektive über deutsche Geschichte zu schreiben, und die Aufsätze in Abschnitt 4 spiegeln dieses Interesse wider. Im gleichen Jahr luden mich Jürgen Osterhammel und Sebastian Conrad zu einer Tagung ein, die im März 2003 – während des Irakkriegs – am Blankensee in der Nähe von Berlin stattfand. Kapitel 16 ist der Text, den ich für den späteren Tagungsband verfasste. Die Kapitel 14 und 15 stellen jüngere Erkundungen der transnationalen deutschen Geschichte dar. Wie andere Vorträge und Veröffentlichungen bilden sie Wegmarken hin zu einem Buch über Deutschland in der Welt 1500–2000, das ich gerade abschließe.13 Der fünfte und letzte Abschnitt enthält Texte zu Theorie und Praxis der Geschichtsschreibung. Einer besonderen Erklärung bedarf Kapitel 17, denn dieser kurze Text hat eine lange Geschichte. 1980 veröffentlichte ich zusammen mit Geoff Eley ein Buch mit dem Titel »Mythen deutscher Geschichtsschreibung«, das die damals unter Historikern vorherrschende These vom »deutschen Sonderweg« in Frage stellte. Unter anderem richtete sich unser Buch gegen die damals dominante Ansicht, in Deutschland habe eine »Feudalisierung des Bürgertums« stattgefunden, und verwies stattdessen auf die Bedeutung der »Verbürgerlichung« im Bereich von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Die 11 Siehe D. Blackbourn, A Sense of Place. New Directions in German History. The 1998 Annual Lecture of the German Historical Institute London, London 1999; Vgl. J. Osterhammel, Die Wiederkehr des Raumes. Geopolitik, Geohistoire und historische Geographie, in: Neue Politische Literatur, Jg. 43, 1998, S. 374–397. 12 Siehe J. Osterhammel, Transnationale Gesellschaftsgeschichte. Erweiterung oder Alternative?, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 27, 2001, S. 464–479; S. Conrad, Doppelte Marginalisierung. Plädoyer für eine transnationale Perspektive auf die deutsche Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 28, 2002, S. 145–169. 13 Siehe D. Blackbourn, Festvortrag, in: G. Metzler u. M. Wildt (Hg.), Über Grenzen. 48. Deutscher Historikertag in Berlin 2010, Göttingen 2012, S. 346–359; ders., Germans Abroad and Auslandsdeutsche. Places, Networks and Experiences from the Sixteenth to the Twentieth Century, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 41, 2015, S. 321–346.

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von uns aufgeworfenen Fragen wurden in der Presse und im Rundfunk ebenso heftig diskutiert wie in wissenschaftlichen Fachzeitschriften. Ich erinnere mich daran, dass ich auf dem Historikertag in Münster 1982 an einem Panel teilnahm, das einen riesigen Vorlesungssaal füllte. Kapitel 17 entstand aus einer weiteren Debatte drei Jahre später, und ihr Kontext – eine Tagung zum Thema »Bürgerlichkeit«  – war Ausdruck der damaligen Zeit. Die große Forschungswelle zu Bürgertum und Bürgerlichkeit, die Anfang der 1980er Jahre einsetzte, war nicht zuletzt der provokativen Herausforderung zu verdanken, die unsere Thesen in »Mythen deutscher Geschichtsschreibung« darstellten.14 Von den übrigen Aufsätzen in Abschnitt 5 befasst sich einer mit der Mikrogeschichte (Kapitel 18), ein anderer mit Periodisierungsfragen (Kapitel 19). Der letzte Beitrag ist zugleich der neueste. Kapitel 20 liefert Belege, Erklärungsversuche sowie kritische Bemerkungen zu der Tatsache, dass deutsche Geschichte zunehmend auf das 20. Jahrhundert reduziert wird. Aus Umfangsgründen konnte ich natürlich manche meiner Aufsätze nicht in diese Sammlung aufnehmen, aber die jetzige Auswahl stellt einen Querschnitt meiner Arbeit der vergangenen 35 Jahre zur deutschen Sozial-, Politik-, Kultur-, Umwelt- und Globalgeschichte dar. Ich habe jeweils eine erste Anmerkung eingefügt, welche die Leser darüber informiert, wo und wann der entsprechende Text erstmals erschienen ist. Mit Ausnahme von drei Aufsätzen, die erst vor kurzem publiziert wurden (Kapite 14, 19, 20), verweise ich dort auch auf Literatur, die seit der Erstveröffentlichung zum betreffenden Thema erschienen ist. In einigen Fällen wurde der Titel eines Aufsatzes geändert, und manche Anmerkungen wurden geringfügig an die veränderten Publikationsumstände angepasst. Ansonsten aber sind die Texte unverändert. Ich bin sehr dankbar dafür, dass dieses Buch in der Reihe »Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft« erscheinen kann. Ganz besonders danken möchte ich Jürgen Kocka für seine Ermutigung zu Beginn dieses Unterfangens und Paul Nolte für seine Unterstützung seither. Mein Dank gilt auch Daniel Sander im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Gerhard Wilke und Stig Förster geizten nicht mit ihrer Zeit und verbesserten zwei Aufsätze, die ich auf Deutsch verfasst hatte. Großer Dank gilt auch meinen Übersetzern, den früheren und den jetzigen. Ilse Andrews, Richard Barth, Manuela Thurner und Andreas Wirthensohn haben hervorragende Arbeit geleistet. Ich hätte mir keine besseren Mitarbeiter wünschen können. Mein Dank geht auch an die mir unbekannten Übersetzer, die einige dieser Texte ins Deutsche übertragen haben. Der Vanderbilt University danke ich für die großzügige Finanzierung der Übersetzungskosten. Und ich möchte all den Verlagen, Zeitschriften und Institutionen danken, die mir erlaubten, diese Texte jetzt auf Deutsch zu veröffentlichen. Die genauen Angaben, wo die einzelnen Texte erstmal publiziert wurden, finden sich in der bibliographischen Notiz am Ende des Buches. November 2015

David Blackbourn

14 Weitere Einzelheiten und Literaturhinweise finden sich in Kap. 17, Anm. 1.

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Katholiken, Kleinbürger und die Moderne

1. Fortschritt und Frömmigkeit: Liberalismus, Katholizismus und Staat im Kaiserreich1

Der Liberalismus wird historisch mit der Bourgeoisie assoziiert, und beide in Deutschland mit einem historischen Scheitern. Die gängige Vorstellung von der trägen Bourgeoisie und dem feigen Liberalismus begegnet uns von 1848 bis zur Weimarer Republik. Häufig wird dabei das Bild gezeichnet, die Geschichte in Deutschland stelle eine Abweichung vom größeren Erfolg der Bourgeoisie und des Liberalismus weiter westlich dar. Wie ich im folgenden Aufsatz deutlich zu machen hoffe, gibt es reichlich Gründe, die Basis, auf der derartige Argumente vorgetragen worden sind, in Frage zu stellen.2 Nichtsdestotrotz wirft die langfristige Schwäche des deutschen bürgerlichen Liberalismus ohne Zweifel eine berechtigte historische Frage auf. Um dieser Frage nachzugehen, ist es sinnvoll, die Schwachstellen des Liberalismus in Deutschland (und nicht nur dort) als Folge einer zwischen Staat und Volk eingekeilten Bewegung zu begreifen.3 1 Dieser Aufsatz basiert auf einem Vortrag, den ich erstmals im Rahmen eines Geschichtsworkshops in Oxford gehalten habe, bei dem vom 08.–10. Juni 1984 der Liberalismus in internationaler Perspektive thematisiert wurde. Eine längere Version dieses ursprünglichen Textes ist als Kap. 7 meiner Aufsatzsammlung D. Blackbourn, Populists and Patricians. Essays in Modern German History, London 1987 erschienen. Seitdem ist die Zahl der Publikationen zu diesem Thema beträchtlich gestiegen. Siehe W. Loth, Katholiken im Kaiserreich, Düsseldorf 1984; T. Mergel, Zwischen Klasse und Konfession, Göttingen 1994; R. Schlögl, Glaube und Religion in der Säkularisierung, München 1995; G. Klein, Der Volksverein für das Katholische Deutschland, Paderborn 1996; O. Blaschke u. F.-M. Kuhlemann (Hg.), Religion im Kaiserreich. Milieus, Mentalitäten, Krisen, Gütersloh 1996; A. Liedhegener, Christentum und Urbanisierung. Katholiken und Protestanten in Münster und Bochum, Paderborn 1997; R. J. Ross, The Failure of Bismarck’s Kulturkampf. Catholicism and State Power in Imperial Germany, Washington, DC 1998; C. Clark u. W. Kaiser (Hg.), Kulturkampf in Europa im 19. Jahrhundert, Leipzig 2003; R. Healy, The Jesuit Specter in Imperial Germany, Boston 2003; M. B. Gross, The War Against Catholicism, Ann Arbor 2004; sowie M. Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010, die unter anderem aufzeigt, dass der Begriff »Kulturkampf« anders als stets behauptet wird nicht von Rudolf Virchow geprägt wurde, sondern von dem Schweizer Radikalen Rudolf Snell. Meine eigene Forschung zu Marpingen ist seitdem erschienen als: D. Blackbourn, Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen. Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Reinbek bei Hamburg 1997. 2 Ausführlicher dazu: D. Blackbourn u. G. Eley, The Peculiarities of German History, Oxford 1984. 3 Dies ist ein zentrales Thema der besten allgemeinen Darstellung des Liberalismus J. Sheehan, German Liberalism in the Nineteenth Century, Chicago 1978.

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Diesem Ansatz folgt der vorliegende Aufsatz; er behandelt in etwa die Epoche von der deutschen Einigung bis zum Ersten Weltkrieg. Innerhalb dieses Zeitrahmens und dieses Ansatzes gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, das Dreiecksverhältnis Liberalismus-Staat-Volk plausibel zu veranschaulichen. Eine davon wäre sicherlich, die Folgen des Aufstiegs der SPD zu untersuchen. Es ist zurecht ein historiographischer Gemeinplatz, dass der bürgerliche Liberalismus und die Sozialdemokratie im Falle Deutschlands sehr früh und unumkehrbar getrennte Wege gingen, weil Ersterer aus Angst vor einer organisierten Arbeiterbewegung, die sich anschickte, zur weltweit größten ihrer Art zu werden, in die Defensive geriet. Auch ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Unterstützung von Bismarcks Sozialistengesetz (1878–90) durch die Liberalen von deren Furcht vor dem Volk zeugt, sowie von ihrer scheinbar willfährigen Komplizenschaft, wenn es um die Ausübung staatlicher Gewalt ging. Das Dreiecksverhältnis Liberalismus-Staat-SPD bringt insofern eine Reihe wichtiger Themen auf den Punkt und bietet eine Basis für Vergleiche mit dem Liberalismus in anderen europäischen Staaten. Wenn im Folgenden die Rolle des Volkes stattdessen mit den deutschen Katholiken besetzt wird, so scheint mir das allerdings nicht weniger interessante Fragen aufzuwerfen. Die Verankerung des deutschen Katholizismus in der breiten Bevölkerung stellte Liberale zweifellos vor unangenehme Fragen und trug nicht weniger dazu bei, ihre tiefsitzende elitäre Arroganz zutage zu fördern, als die plebejische Herausforderung durch die Arbeiterbewegung. Besonders deutlich wurde das in den 1870er Jahren, während des sogenannten Kulturkampfs. Der Gedanke ist nicht gerade neu, aber man kann ihn nicht oft genug wiederholen: Wir sollten Widersprüche innerhalb des Liberalismus oder die Ausübung staatlicher Gewalt nicht reflexartig durch die Analyse des auf »historisch progressive« Bewegungen ausgeübten Zwangs zu erklären versuchen. Indem wir das Dreieck Liberalismus – Staat – Volk aus einer weniger vertrauten Perspektive betrachten, können wir zu einem umfassenderen Verständnis der Ziele und Schwächen von Liberalen kommen, sowie der Logik, die dafür sorgte, dass Liberale sich hinter einflussreichen Staatsmännern scharten. Wie im Fall der Arbeiterbewegung sammeln wir auf diese Weise außerdem Quellenmaterial, das zum Vergleich mit anderen europäischen Ländern anregt. Der folgende Aufsatz ist in vier Abschnitte gegliedert. Der erste beschäftigt sich mit der Entwicklung des katholischen Deutschland in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts und untersucht, auf welche Weise Liberale ihren Fortschrittsglauben der »Rückständigkeit« der Katholiken gegenüberstellten. Der zweite ordnet die liberalen Ambitionen während des Kulturkampfes in den Kontext eines breiteren liberalen Programms ein und verfolgt den katholischen Widerstand dagegen. Der dritte erörtert, wie und warum der Mangel an öffentlicher Zustimmung zum liberalen Kulturkampf Zwangsmaßnahmen des Staates zu dessen Durchsetzung nötig machte. Der letzte Abschnitt setzt sich mit dem Vermächtnis des aus dem Kulturkampf hervorgehenden Antagonismus zwischen einem geschwächten Liberalismus und einem gestärkten politischen 16

Katholizismus auseinander und versucht, daraus einige allgemeinere Schlussfolgerungen abzuleiten. Wo es angemessen erscheint, werden europäische Vergleiche angedeutet.

I. Die Katholiken machten ein Drittel der Bevölkerung des 1871 gegründeten, preußisch dominierten kleindeutschen Reiches aus. Sie bildeten eine Art widerstrebende Peripherie um das protestantische Kerngebiet des Reiches. Im Falle der nichtdeutschen Katholiken, wie Elsässern und Polen, galt diese Charakterisierung noch in verstärktem Maße. Geografisch konzentrierten sie sich auf dem Lande und in kleinen Städten, beruflich in Landwirtschaft und Kleingewerbe. Im Laufe des Jahrhunderts engagierten sich Katholiken zunehmend auch in Industrie und Handel; allerdings traf man sie dort eher in Werkstätten oder Bergwerken an, als dass sie zu Kapitaleigentümern, leitenden Angestellten oder Fachkräften aufgestiegen wären.4 Als Max Weber später seine berühmte These über die »protestantische Ethik« und den »Geist des Kapitalismus« formulierte, tat er dies vor dem Hintergrund einer weit zurückreichenden deutschen Debatte über katholische »Rückständigkeit«.5 Kommentatoren im 19.  Jahrhundert, vor allem auf liberaler Seite, neigten dazu, diese »Rückständigkeit« auf das kulturelle Milieu des katholischen Glaubenslebens zurückzuführen  – auf den hohen Status des Klerus, oder auf die Art und Weise, in der die Volksfrömmigkeit zu so vielen Charakteristika des 19. Jahrhunderts im Widerspruch zu stehen schien. Damit lagen sie nicht ganz daneben. Falsch war ihre Sichtweise, bei diesen Merkmalen des katholischen Glaubenslebens, etwa in den siebziger Jahren, handle es sich um Relikte von Traditionen, die der segensreiche Fortschritt noch nicht erfasst habe. Es gibt für Historiker kaum ein heikleres Wort als »traditionell« (vielleicht mit Ausnahme von »modern«), und es gibt kaum eine geschichtswissenschaftliche Idee, die sich in den vergangenen Jahren als fruchtbarer erwiesen hat als der Gedanke, dass Traditionen ebenso häufig erfunden wie gewachsen sind.6 Der deutsche Katholizismus im 19. Jahrhundert ist dafür ein gutes Beispiel. In den ersten Jahrzehnten jenes Jahrhunderts, im Zuge der Katholischen Aufklärung, war die Amtskirche eher damit beschäftigt, später so verbreitete »Frömmigkeitsexzesse« auszumerzen als diese zu fördern. Übereifrige Priester, die im Verdacht standen, nüchterne Grundsätze zu missachten, etwa indem sie allzu viel Zeit auf das 4 Nachweise und Belege in D. Blackbourn, Class, Religion and Local Politics in Wilhelmine Germany, Wiesbaden 1980, Kap. 1. 5 Eine Einführung in diese Debatte gibt H. Rost, Die wirtschaftliche und kulturelle Lage der deutschen Katholiken, Köln 1911. 6 Vgl. v. a. E. Hobsbawm u. T. Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983.

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Segnen von Kühen verwendeten, wurden von ihren Bischöfen zur Rechenschaft gezogen.7 In einem Punkt jedoch stimmten aufgeklärte oder politisch umsichtige Bischöfe mit dem konservativeren oder ultramontanen Klerus überein: darin, dass die religiösen Gefühle der deutschen Katholiken einiges zu wünschen übrig ließen. In den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren kam es immer wieder zu Beschwerden über betrunkene oder rauchende Kirchenbesucher, über den Massenexodus während der Predigt und über Pilgerfahrten oder kirchliche Feste, die als Gelegenheit zu unmoralischem Verhalten genutzt wurden.8 Besonders beklagt wurde die Ungezogenheit und Diesseitsbezogenheit der Jugend. Selbst wenn man die Neigung des Klerus in Rechnung stellt, die Gefahren mangelnder Moral zu übertreiben, scheint sich die Situation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dennoch sehr von der späteren Entwicklung unterschieden zu haben. So wurde zum Beispiel das saarländische Dorf Marpingen, das später, nach einer Folge bezeugter Marienerscheinungen in den siebziger Jahren, als Symbol der Frömmigkeit galt, in den vierziger Jahren vom Priester der Pfarrei noch als ein von Trunkenheit, Kartenspielen, Rüpelhaftigkeit und Respektlosigkeit geprägter Ort beschrieben.9 Doch schon zu diesem Zeitpunkt setzte ein Wandel ein. Als Wendepunkt betrachten viele Beobachter die sogenannten Kölner Wirren von 1837. Sie waren für viele Katholiken der Anlass, sich offen auf die Seite des Kölner Erzbischofs zu stellen, der nach einem Streit mit dem preußischen Staat über Mischehen in Haft genommen worden war. Die äußeren Umstände dieses Vorgehens gaben bereits einen Vorgeschmack darauf, was später während des Kulturkampfs geschehen sollte. Ein vielleicht noch wichtigerer Wendepunkt war die gut organisierte Trierer Wallfahrt zum Heiligen Rock von 1844.10 Ganz sicher erlebte die Zeit ab den vierziger Jahren die geduldige und zielstrebige Schaffung neuer, oder zumindest erneuerter Formen volkstümlicher Frömmigkeit. Diese Jahre sahen im katholischen Deutschland, wie auch andernorts in Europa, die rasche Entwicklung emotional aufgeladener und höchst äußerlicher Andachtsformen wie den Marienkult und die Verehrung des Herzens Jesu.11 Gleichzeitig wurden große Anstrengungen unternommen, Kinder und junge Menschen stärker 7 E. Hegel, Die Katholische Kirche Deutschlands unter dem Einfluß der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, Opladen 1975; G. Korff, Zwischen Sinnlichkeit und Kirchlichkeit. Notizen zum Wandel populärer Frömmigkeit im 18. und 19. Jahrhundert, in: J. Held (Hg.), Kultur zwischen Bürgertum und Volk, Berlin 1983, S. 136–148. Ein Beispiel findet sich in J. Götten, Christoph Moufang. Theologe und Politiker 1817–1890, Mainz 1969, S. 21. 8 J. Sperber, Popular Catholicism in Nineteenth-Century Germany, Princeton 1984, S. 13–38. 9 H. Derr, Geschichte der Pfarrei Marpingen, Trier 1935 (Typoskript: Priesterseminar Trier), S. 27 f. 10 W. Schieder, Kirche und Revolution. Sozialgeschichtliche Aspekte der Trierer Wallfahrt von 1844, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 14, 1974, S. 419–454. 11 H. Jedin (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 6/1. Die Kirche zwischen Revolution und Restauration, Freiburg i. B. 1971, S. 662–670 und Bd. 6/2. Die Kirche zwischen Anpassung und Widerstand, Freiburg i. B. 1973, S. 265–278.

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in das kirchliche Leben zu integrieren. Das Firmalter ging allmählich zurück. All das waren Erscheinungen, die die Kirche im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert noch so weit als möglich einschränken wollte; jetzt versuchte sie sie zu fördern und zu kanalisieren. Diese von der Kirche unterstützten neuen Formen der Frömmigkeit waren ein Versuch, den Zeitströmungen volkstümlicher Praktiken zu folgen, deren Spontaneität jedoch in geordnete Bahnen zu lenken. So waren die neuen, von Gemeindepfarrern gegründeten religiösen Bruderschaften und Kongregationen sehr viel stärker der klerikalen Kontrolle unterworfen als viele ihrer Vorgänger. Daneben entstanden neue Wallfahrten. Diese ersetzten vielerorts ältere Traditionen, die das Missfallen der Amtskirche erregt hatten, und sie fanden nun sehr viel seltener ohne klerikale Aufsicht statt.12 Die Ausübung klerikaler Kontrolle war das hervorstechende Merkmal der in den fünfziger und sechziger Jahren immer rascher voranschreitenden Wiederbelebung katholischer Frömmigkeit. Verstärkt wurde diese Tendenz dadurch, dass die Kirche in jenen Jahren im Vergleich zur nachnapoleonischen Zeit weitgehend ungestört von äußeren Eingriffen in ihre Angelegenheiten operieren konnte. Zu einem Gutteil war dies Folge der besonderen nachrevolutionären Umstände. Wenngleich einzelne Priester den staatlichen Autoritäten 1848 als »Störenfriede« aufgefallen waren, wurde in den reaktionären fünfziger Jahren die Kirche insgesamt doch als Verbündeter des Staates gegen einen revolutionären Umsturz gesehen und ihr deshalb zur Wahrnehmung dieser Rolle auch mehr Autonomie zugestanden.13 Die Wiederbelebung katholischer Frömmigkeit in den fünfziger und sechziger Jahren erfolgte also in erheblichem Maße unter der Ägide einer neuen, ultramontanen und in besonderer Weise spirituellen Priestergeneration, die in wiedereröffneten, von staatlicher Kontrolle unabhängigen Seminaren wie Eichstätt oder Mainz ausgebildet wurde.14 Ebenso bedeutsam war, dass es Jesuiten, Redemptoristen und anderen Orden jetzt erlaubt wurde, auf deutschem Boden in großem Stil Volksmission zu betreiben. Die Rückkehr volkstümlicher Frömmigkeit ging in diesen Jahren also Hand 12 G. Korff, ›Heiligenverehrung und soziale Frage. Zur Ideologisierung der populären Frömmigkeit im späten 19.  Jahrhundert‹, in: G. Wiegelmann (Hg.), Kultureller Wandel im 19. Jahrhundert, Göttingen 1978, S. 102–111; W. K. Blessing, Staat und Kirche in der Gesellschaft. Institutionelle Autorität und mentaler Wandel in Bayern während des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1982, S. 84–98; Sperber, Popular Catholicism, Kap. 2.; H. Schiffers, Kulturgeschichte der Aachener Heiligtumswallfahrt, Köln 1930. 13 Eine ausgezeichnete Schilderung der Übereinkunft zwischen Kirche und Staat in einem Teil der preußischen Rheinprovinz findet sich in den Anfangsteilen der Studie von C. Weber, Kirchliche Politik zwischen Rom, Berlin und Trier 1876–1888, Mainz 1970. Das politische Element der neuen Frömmigkeit hat Gottfried Korff in einer Reihe von Artikeln hervorgehoben. Siehe Anm. 7 und 12 sowie ders., Politischer »Heiligenkult« im 19. und 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 71, 1975, S. 202–220. Eine bemerkenswert ausgewogene Darstellung der Lage im Rheinland gibt Sperber, Popular Catholicism, S. 99 ff.; Blessing, Staat und Kirche, erörtert dagegen eingehend die sich wandelnden Beziehungen zwischen Kirche und Staat in Bayern im Verlauf des 19. Jahrhunderts. 14 Götten, Christoph Moufang, S. 115–137.

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in Hand mit der Neuorganisation und dem Erstarken des Klerus. Vermehrte Aufmerksamkeit wurde dem Transport der Pilger und der Logistik bei Großprozessionen und Einweihungen gewidmet. Wichtig waren in diesem Zusammenhang neue Kommunikationsmittel, genau wie man sich später bei der Ausstellung von Reliquien die von der Erfindung des elektrischen Lichts eröffneten Möglichkeiten zunutze machte.15 In ihren Methoden und internen Organisa­ tionsprinzipien passte sich die Katholische Kirche in Deutschland dem Zeitalter der Eisenbahnen und Telegraphen an, auch wenn sie gleichzeitig im Gefolge des Syllabus Errorum von Pius IX. viele Aspekte der »Moderne« entschieden zurückwies. Es gab zahlreiche Gründe, weshalb bis zum Anbruch der siebziger Jahre viele Liberale dieser scheinbar in sich geschlossenen katholischen Welt feindselig gegenüberstanden. Zunächst zweifelten sie natürlich an der Loyalität der Katholiken gegenüber dem neuen Nationalstaat. Sie betrachteten die Katholiken – in weit stärkerem Maße als die noch wenigen Sozialdemokraten – als potenzielle fünfte Kolonne, deren Loyalität nicht ausschließlich dem preußisch dominierten deutschen Staat galt, sondern einerseits über diesen hinaus Rom und dem »Gefangenen im Vatikan«, andererseits auf lokaler Ebene dem Pfarrer und dem Dorfheiligen, oder zumindest dem partikularen Staat (etwa in Bayern) beziehungsweise der Region (wie im Rheinland). Die Sichtweise vieler, insbesondere nationalkonservativer Liberaler deckte sich daher in erheblichem Maße mit der Bismarcks, der die Katholiken als potenzielle Bedrohung für das Reich ansah. Allerdings war die Schwerpunktsetzung durchaus unterschiedlich: Bismarcks Sorge (sofern sie nicht ohnehin nur taktisch motiviert war) galt der Bedrohung, die vom Katholizismus angeblich für die Sicherheit des deutschen Machtstaates ausging; die Liberalen sahen dagegen den deutschen Kulturstaat und die nationale Identität in Gefahr. Der Unterschied wird deutlich, wenn man sich zum Beispiel die jeweilige Haltung gegenüber der polnisch-katholischen Minderheit im neuen Reich ansieht.16 Dabei sollten wir uns darüber im klaren sein, warum Liberale des rechten wie des linken Flügels dem deutschen Nationalstaat eine so hohe Bedeutung beimaßen. Dies geschah nicht etwa, weil sie sich kritiklos mit den Blut-undEisen-Errungenschaften Bismarcks und der preußischen Armee identifizierten. Zwar gab es, vor allem unter bewusst »realistischen« Nationalliberalen, solche Haltungen, die sich dort in jener Form weltlicher Frömmigkeit manifestier15 Zur Volksmission siehe E. Gatz, Rheinische Volksmission im 19. Jahrhundert, Düsseldorf 1963; zur Inszenierung von Amtseinführungen siehe Weber, Kirchliche Politik, S. 57 f. und zum zunehmenden Sinn der Kirche für die Möglichkeiten dramatischer Inszenierungen allgemein, siehe Korff, Politischer »Heiligenkult«. 16 Zu den unterschiedlichen Motiven, die im Kulturkampf eine Rolle spielten, siehe R. Morsey, Probleme der Kulturkampf-Forschung, in: Historisches Jahrbuch, Bd. 83, 1964, S. 217–245 sowie W. Becker, Der Kulturkampf als europäisches und als deutsches Phänomen, in: Historisches Jahrbuch, Bd. 101, 1981, S. 422–446.

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ten, die viele Liberale den Jahrestag des »Sankt Sedan« mit Andachten begehen ließ.17 Der wahre gemeinsame Nenner jedoch war die liberale Sicht des Nationalstaates als Vorbote des Fortschritts, Bereitsteller von Schulen, Universitäten und neuen Kommunikationsmitteln, sowie Garant der Freizügigkeit von Menschen, Gütern und Ideen. Aus diesem Grunde verdient auch der Begriff Kulturkampf, wörtlich verstanden zu werden. In der Tat war er von einem Linksliberalen, dem Arzt, Patho­ logen und Wissenschaftsvermittler Rudolf Virchow geprägt worden. Und für Liberale ging es im Kulturkampf um sehr viel mehr als die Beziehungen zwischen Staat und Kirche im engeren Sinne. Es handelte sich um das Aufeinander­ prallen ihrer eigenen, im liberalen Nationalismus verkörperten »modernen« Perspektive mit der deutschen Katholiken zur Last gelegten Rückständigkeit und halsstarrigen Kirchturmpolitik. Liberale Angriffe auf die päpstliche Unfehlbarkeit, die Jesuiten und den Klerus allgemein waren eine breit angelegte Offensive gegen den Aberglauben und die Institutionen, derer sich die Kirche angeblich bediente, um diesen zu perpetuieren: dem Einfluss des Staates entzogene Priesterseminare, Orden mit Klausur, katholische Schulen und ein ausgedehntes Netz karitativer Stiftungen. Dieser Sichtweise zufolge »verdummte« der Klerus das Volk und hielt es »am Gängelbande«.18 Orden mit Klausur, über die es eine breite und lüsterne Enthüllungsliteratur gab, wurden als Kerker für Geist und Körper verdammt.19 Karitative Einrichtungen zogen sich den Vorwurf zu, sie schmiedeten »mittelalterliche« geistige und materielle Ketten (obwohl viele von ihnen tatsächlich aus der nach napoleonischen Zeit stammten). Dieser liberale Antiklerikalismus verdankte offensichtlich einiges dem Vokabular der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, war aber auch Ausdruck des ausgesprochen materialistischen Liberalismus Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Begriffe, derer sich die Liberalen bei der Verurteilung des Katholizismus bedienten, offenbaren ihre Herkunft von einer bestimmten Vision wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts. So äußerte ein Akademiker in den siebziger Jahren die Ansicht, katholische Orden wie die Jesuiten sollten genauso bekämpft werden wie »Rebläuse, Koloradokäfer und andere Reichsfeinde«.20 17 Zu »Sankt Sedan«, der jährlichen Feier des Sieges über Frankreich in der gleichnamigen Schlacht siehe Blessing, Staat und Kirche, S. 181, 190 f., 198 u. 236; W. Jestaedt, Der Kulturkampf im Fuldaer Land, Fulda 1960, S. 134 f.; J. B. Kissling, Geschichte des Kulturkampfes im Deutschen Reiche, 3 Bde., Freiburg i. B. 1911–16, hier Bd. 2, S. 279. 18 Die Formulierung »am Gängelbande« stammt aus der Westfälischen Provinzialzeitung, hier zitiert nach L. Ficker, Der Kulturkampf in Münster, bearbeitet und veröffentlicht von O. Hellinghaus, Münster 1923, S. 204. Als ähnliches Beispiel siehe den Versanfang: »Ihr verdammten Volksverdummer«, in: A. M. Birke, Bischof Ketteler und der deutsche Liberalismus, S. 45. 19 Als Beispiele siehe: Pfaffenunwesen, Mönchsskandale und Nonnenspuk. Beitrag zur Naturgeschichte des Katholizismus und der Klöster von Luzifer Illuminator, Leipzig 1871, und Memoiren einer Nonne, München 1874. 20 Kissling, Kulturkampf, Bd. 3, S. 58.

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Es war eine ausgesprochen manichäische Sicht der Welt. Der liberale Diskurs über das Thema Katholiken war um einen festen Vorrat an Metaphern herum organisiert (Dunkelheit/Licht, Flut/Kanalisation, Stagnation/Fortschritt), die einer näheren Textanalyse wert wären.21 Drei allgemeine Charakteristika der Art, wie Liberale ihr Denken über Katholiken und sozialen Wandel miteinander verbanden, verdienen dabei besondere Beachtung. Erstens deren stark elitäre Ausrichtung. Deutsche Liberale fanden in den sechziger und siebziger Jahren zwar immer noch erhebliche Unterstützung im protestantischen Kleinbürgertum und sogar in der Arbeiterschaft. Den Ton gaben jedoch jene Vertreter des Besitz- und Bildungsbürgertums an, die die nationalen Wortführer, lokalen Honoratioren und Intellektuellen sowohl der Linksliberalen wie der Nationalliberalen stellten. Ihr Bild der Katholiken war voller Hochmut. Es seien »nicht gerade Bildung und Wohlstand […], wodurch sich die Römlinge des 19. Jahrhunderts am Bodensee auszeichnen«, schrieb ein linksliberales Blatt in Baden.22 Genauso klang der allgemeine Tenor der Fortschrittspartei, der nationalliberalen Partei, liberaler Akademiker und Zeitungen. Die National-Zeitung gab der Quintessenz dieses Bildes Ausdruck, als sie 1873 feststellte, der Katho­ lizismus sei weitgehend die Religion der Ungebildeten. An seiner Spitze stünden »die Priester, einige Fürsten und Edelleute, dahinter ein Gefolge von Rednern, Sophisten und Wundertätern«, doch »die große Menge seiner Anhänger sind Arbeiter und Bauern«.23 Liberale zogen daraus die gleichen Schlussfolgerungen, die sie auch sonst gegenüber Arbeitern und Bauern zogen. Schon 1848 hatte sie Rudolf Virchow angedeutet, als er die von Typhus heimgesuchten Regionen Schlesiens besuchte. Er legte es dem katholischen Klerus zur Last, dass die örtliche Bevölkerung »faul, unsauber, hündisch ergeben und mit unbiegsamer Abneigung gegen geistige und körperliche Anstrengung« gesegnet sei. »Das Volk«, fuhr Virchow fort, »ist körperlich und geistig schwach und bedarf einer Art von vormundschaftlicher Leitung.«24 Das zweite auffällige Merkmal liberalen Denkens über Katholiken ist, dass das liberale Bild katholischer Unwissenheit und Abhängigkeit besonders stark auf die Frauen fixiert war. Ordensfrauen waren für die Liberalen das perfekte Symbol der Rückständigkeit, und der Einfluss der Priester auf katholische Frauen (sowohl im Beichtstuhl wie außerhalb) gab ein weiteres beliebtes Thema ab. Jesuiten ermunterten Frauen angeblich dazu, für gute Zwecke im Sinne 21 Etwa in der Art der Analyse von Autobiographien mehrerer Mitglieder der Freikorps in K. Theweleit, Männerphantasien, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1977 oder der neueren Studie über die Sprache der Alldeutschen von R. Chickering, We Men Who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan-German League 1886–1914, London 1984, insbes. S. 74–101. 22 G. Zang, Die Bedeutung der Auseinandersetzung um die Stiftungsverwaltung in Konstanz (1830–1870) für die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung der lokalen Gesellschaft, in: ders. (Hg.), Provinzialisierung einer Region. Zur Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in der Provinz, Frankfurt a. M. 1978, S. 307–373, hier S. 315. 23 National-Zeitung, 16. Februar 1873, zitiert nach Kissling, Kulturkampf, Bd. 2, S. 280. 24 E. Meyer, Rudolf Virchow, Wiesbaden 1956, S. 41.

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des Klerus ihre Männer zu bestehlen, und dem Bischof von Münster wurde von einem liberalen Staatsanwalt vorgeworfen, er habe staatsfeindliches Verhalten provoziert, indem er »leicht erregbare Frauengemüter für seine Zwecke benutzt habe.«25 Eine große Zahl ähnlicher Anschuldigungen fand sich in der liberalen Presse, als die Marienerscheinungen der siebziger Jahre diskutiert wurden.26 Zweifellos bot sich den Liberalen immer wieder ein Anlass für diese Art von Vorwürfen, doch sollten sie nicht als bloße »Widerspiegelung« der Realität in der katholischen Welt gesehen werden. Die zentrale Bedeutung des Motivs der abhängigen Frau ist ein erhellender Hinweis auf die gesellschaftlichen Vorstellungen der Liberalen, auch wenn seine ganze Tragweite etwas im Verborgenen liegt. Auf der einen Seite gab es, wie in anderen europäischen Ländern, sicher jene, die die Frauen im Namen von persönlicher Unabhängigkeit und bürgerlicher Würde aus der priesterlichen Vormundschaft befreien wollten. Diese Haltung war vor allem unter Linksliberalen verbreitet.27 Doch das Ideal der in der Öffentlichkeit emanzipierten Frau war bei weitem nicht das einzige Gegenbild zur Klosternonne oder zur »vom Priester beherrschten« Ehefrau und Mutter. Viele deutsche Liberale machten sich zweifellos Sorgen über die »leicht erregbaren Frauengemüter«, da die Art und Weise, in der der Klerus diese Gefühle angeblich missbrauchte, die Regeln des bürgerlichen Familienlebens zu verletzen drohte. Das Mädchen, das den Konvent der Mutterschaft vorzog, oder die Ehefrau, die ihren Mann mit dem Priester »betrog«28, verletzten diesen Kanon auf die eine Art; die Massenauftritte von Frauen (und Kindern) bei großen katholischen Kundgebungen und Umzügen verletzten ihn auf eine andere, denn hier wurde der Klerus dafür verantwortlich gemacht, Frauen zu manipulieren und ihnen eine illegitime – weil öffentliche und politische – Rolle zuzuweisen. Anders ausgedrückt: Liberale sahen darin eine Pervertierung der korrekten Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Während es einerseits einer katholischen Frau nicht ziemte, öffentlich zu demonstrieren – war es nicht andererseits allzu »weibisch«, wenn katholische Männer gemeinsam mit ihren Ehefrauen und Kindern Grotten aufsuchten, in denen angeblich die Jungfrau 25 Zitiert nach Ficker, Kulturkampf in Münster, S.  156. Über das angebliche Schüren weiblicher Empfindsamkeit insbes. durch die Jesuiten siehe B. Duhr, Jesuitenfabeln, Freiburg i. B. 1891, S. 746–779. 26 Die wichtigste davon wurde in Marpingen berichtet, einem saarländischen Dorf, das zur preußischen Rheinprovinz gehörte. Darüber gibt es umfangreiches Archivmaterial im Bistumsarchiv Trier, B III, 11, 14, Bde. 3–8 und im Archivmaterial aus der Rheinprovinz im Landeshauptarchiv Koblenz, 403/16730. Neben Zeitungsberichten habe ich 11 detaillierte Berichte gefunden, u. a. einen in der British Library: Marpingen und seine Gnadenmonate, Münster 1878. Die anderen Erscheinungen wurden in Mettenbuch (Bayern) und Dittrichswalde (Ermland) berichtet. 27 Zu den historischen Berührungspunkten zwischen dem Linksliberalismus und der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland siehe R. J. Evans, The Feminist Movement in Germany 1894–1933, London 1976. 28 Ein Thema, das in Fortsetzungsgeschichten in Familienzeitschriften nationalliberaler Couleur, etwa in der »Gartenlaube«, häufig auftauchte.

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Maria erschienen war? In der Tat scheinen einige Formen katholischer Massenagitation von liberaler Seite generell als »weibisch« gebrandmarkt worden zu sein, gleichgültig ob die Teilnehmer Frauen oder Männer waren  – ebenso wie französische Theoretiker des Verhaltens von Menschenmengen wie Gabriel Tarde und Gustave Le Bon bald alle Menschenaufläufe als »féminin« charakterisierten.29 Wenn Liberale katholische »Betweiber« angriffen, so hatten sie stets eine ganze Reihe von Zielen gleichzeitig im Sinn: die Bevormundung durch Geistliche, den Mangel an materieller Unabhängigkeit und die moralische Schwäche. Dies illustriert sehr gut das dritte Charakteristikum liberalen Denkens, nämlich dass es nahezu unmöglich ist, zwischen materiellen und immateriellen Aspekten zu unterscheiden. Im Kulturkampf ging es um den Stellenwert der Religion und die Beziehungen zwischen Kirche und Staat, zugleich aber auch um die Formung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zukunft Deutschlands. Auf der einen Ebene hatte die Durchsetzung der Kontrolle über katholische Stiftungen die Beseitigung »mittelalterlicher« Überreste zum Ziel, auf der anderen die Befreiung von Arbeit und Kapital aus der »toten Hand« der Kirche, um auf diese Weise wertvolle Ressourcen einer investiven Verwendung zuzuführen und Pauper und marginale Produzenten aus der Abhängigkeit zu befreien.30 Entsprechend waren geschlossene Orden nicht nur, wie es in einer liberalen Petition von 1869 hieß, »die Pflanzstätte des Aberglaubens […] und der Unzucht«, sondern auch – bezeichnenderweise – von »Faulheit«.31 Die vielleicht größte Bedeutung hatten die beiden liberalen Forderungen im Bereich der Erziehung: die Macht der Priester zu brechen und die Voraussetzungen für die Entstehung einer vorbildlichen Arbeiterschaft zu schaffen.32 In all diesen Bereichen stellten die Liberalen dem katholischen barmherzigen Prinzip der »Freigebig­keit für die Dürftigen« ihre Doktrin »Freie Bahn dem Tüchtigen« entgegen.33 Hier zeigen sich sehr deutliche Parallelen zur liberalen Feindschaft­ gegenüber Zünften: Auch diese wurden als Institutionen gesehen, die ihre Mitglieder verhätscheln und jegliche Eigeninitiative untergraben. In den optimistischen sechziger und siebziger Jahren waren Liberale verschiedenster Couleur die wichtigsten Verfechter der Überzeugung, dass materieller Fortschritt, bürgerliche Emanzipation und moralische Besserung Hand 29 S. Barrows, Distorting Mirrors. Visions of the Crowd in Late Nineteenth-Century France, New Haven 1981. 30 Zang, Provinzialisierung, S. 315 f. u. 324–327; D. Blackbourn, Die Zentrumspartei während des Kulturkampfes und danach, in: O. Pflanze (Hg.), Innenpolitische Probleme des Bismarck-Reiches, München 1983, S. 86–88. Details zu den Auseinandersetzungen in Münster über die Ferdinandeische Stiftung und die Seppelersche Stiftung in Ficker, Kulturkampf in Münster, S. 175 ff. 31 M. L. Anderson, Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks, Düsseldorf 1988 (1981). 32 Zang, Provinzialisierung, S. 413 f. 33 H. Reif, Westfälischer Adel 1770–1860, Göttingen 1979, S. 445–448.

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in Hand gingen. Dieser Fortschrittsglaube wurde mit einer geradezu vulgären Offenheit vorgetragen. Durch die Schaffung eines neuen homo oeconomicus in einem freien Markt, eines freien Bürgers in einer schönen neuen Welt, in der Priester, Rosenkranz und kirchliche Stiftungen durch Schulinspektoren, Eisenbahnfahrpläne und mustergültige Waisenhäuser abgelöst würden, sollten die materiellen, gesellschaftlichen und geistigen Fesseln abgeworfen werden. Den Preis für den Erfolg dieses Programms sollten kurzfristig nicht nur die viel verspotteten katholischen »Arbeiter und Bauern« bezahlen.

II. Die Betonung der materialistischen Seite des Liberalismus liefert das Korrektiv zu einem vertrauten aber möglicherweise irreführenden historischen Stereotyp: dem des übermäßig abstrakten, akademischen und weltfremden deutschen Liberalen, der sich zu Hause in seiner komfortablen vorindustriellen Welt Sorgen um »die Moderne« macht. Nicht, dass dieses Bild völlig falsch wäre. Das Frankfurter Par1ament war berühmt für seine liberalen Professoren, und akademische Bildungsbürger spielten in den deutschen liberalen Parteien sicherlich eine größere Rolle als Fabrikbesitzer und Bankiers. Ebenso ist es zutreffend, dass viele Liberale sich schon in den vierziger Jahren, lange bevor diese Haltung gegen Ende des Jahrhunderts alIgemein verbreitet war, angesichts der sozialen Folgen von Industrialisierung, Urbanisierung und sozialer Mobilität pessimistisch zeigten.34 Doch sollte man all dies nicht überbewerten. Ludwig Beutin hatte vermutlich recht, als er schrieb, der gemeinsame Glaube an den Fortschritt um die Mitte des 19. Jahrhunderts habe ganz wesentlich dazu beigetragen, das Bildungs- und das Besitzbürgertum zu einen.35 Lobgesänge auf den Fortschritt gingen liberalen Politikern, Professoren, Journalisten und Beamten in dieser Zeit mindestens ebenso leicht von den Lippen wie den eifrigsten Industriellen. Das sichtbarste Symbol dieses optimistischen Vertrauens auf die Zukunft war die Eisenbahn. Ein typisches Beispiel für die Freude über die neuen Kommunikationsmittel sind die Worte des Journalisten Heinrich Brüggemann: »Gewiß, unsere Freude bei der Eröffnung einer neuen Eisenbahnstrecke ist eine wesentlich liberale Freude; sie ist die Freude über einen neuen Triumph und einen neuen, neue Triumphe verbürgenden Machtzuwachs der liberalen und humanen Prinzipien.«36 Selbstbewusst bürgerliche, liberale Autoren wie Spielhagen und Gutzkow würzten ihre Romane mit schadenfrohen Episoden über hinterwäldlerische Aristokraten, die ihre Pferde in fruchtlosen 34 Sheehan, German Liberalism, S. 29–34. 35 L. Beutin, Das Bürgertum als Gesellschaftsstand im 19.  Jahrhundert, in: H.  Kellenbenz (Hg.), Gesammelte Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Köln 1963, S. 292 ff. 36 Sheehan, German Liberalism, S. 28.

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donquichottischen Versuchen, die Dampfrösser abzuhängen, zu Schanden hetzten, oder über adlige Damen, die gezwungen waren, sich mit der fehlenden Privatheit eines Eisenbahnabteils anzufreunden.37 In der Eisenbahn wurde, wie im Dampfschiff und dem Telegraphen, ein Vorbote sozialer, politischer und moralischer Fortschritte gesehen. Ein liberaler Verseschmied drückte die gleiche Überzeugung während des Kulturkampfes unter umgekehrtem Vorzeichen aus. Nachdem er einen Kompromiss mit der katholischen Kirche verworfen hatte, hieß es bei ihm: »Nach Canossa bringt uns wohl keine Eisenbahn.«38 Industrialisierung und gesellschaftlicher Wandel im Deutschland des 19. Jahrhunderts waren für Liberale keine unangenehmen Erfahrungen. Sie waren vielmehr ein Prozess, an den sie glaubten und den sie  – mitunter leidenschaftlich – voranzutreiben suchten, auch wenn sie seine sozialen Folgen nicht immer schätzten. Ganz gewiss brachte die Ära der nationalen Einigung und Konsolidierung in den sechziger und siebziger Jahren die Erfüllung vieler Teilziele des breiten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Programms des Liberalismus. Dazu gehörten verbesserte Kommunikationsmittel, Freizügigkeit, Gewerbefreiheit (die den Untergang der Zünfte besiegelte und die Gründung von Aktiengesellschaften erleichterte), die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes sowie eine einheitliche Währung, Patentgesetzgebung und allerorts verbindliche Maße und Gewichte. Dies alles wurde, zunächst in vielen Einzelstaaten (einschließlich Preußen) und dann im Reich, im Bündnis mit einer staatlichen Bürokratie erreicht, die – nach den fünfziger Jahren – in diesen Fragen meist­ liberal gesonnen war und der viele liberale Politiker selbst als Beamte angehörten. Der Kulturkampf bildete nur einen, allerdings wichtigen Teil dieses breiten Programms.39 Dies ist der Hintergrund, vor dem wir den breiten katholischen Widerstand während des Kulturkampfs sehen müssen. Im Brennpunkt dieses Wider­standes stand die Verteidigung des Glaubens und der katholischen religiösen Institutionen, insbesondere gegen die Verordnungen über die nicht-kirchliche Schulaufsicht, das Kirchenvermögen und die Wohlfahrtseinrichtungen sowie die Ausbildung und Berufung der Priesterschaft. Bisweilen nahm dieser Widerstand gewalttätige Formen an, häufiger blieb es jedoch bei einer latenten Androhung physischer Gewalt. »Passiver Widerstand«40 war der von Katholiken, Liberalen und den Behörden meistgebrauchte Begriff für die typischsten Formen 37 Siehe Blackbourn u. Eley, Peculiarities, S. 185–188 und die dort zitierten Arbeiten, insbes. jene von Riedel, Schivelbusch und Sternberger. Als Beispiel für den besonderen Stellenwert der Eisenbahnen im liberalen Programm siehe Eisfeld, Entstehung der liberalen Parteien, S. 128 f. 38 Kissling, Kulturkampf, Bd. 2, S. 295. 39 Die Existenz einer »liberalen Ära« in diesem Sinne wird heute von Historikern allgemein akzeptiert, auch von denen, die ansonsten Positionen vertreten, die von meinen abweichen. 40 Pius IX. hatte die deutschen Katholiken in seinem Hirtenbrief vom Februar 1875, in dem die Maigesetze des Kulturkampfs für »null und nichtig« erklärt wurden, zu passivem Widerstand aufgerufen. Siehe Bachem, Zentrumspartei, Bd. 3, S. 299 ff.

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katholischer Unbotmäßigkeit: das Verkleiden und Verstecken flüchtiger Priester, das Begleiten verurteilter Geistlicher zum Gefängnistor und deren Umkränzen mit Blumen nach der Entlassung, der Aufkauf kirchlichen Eigentums bei Zwangsversteigerungen und dessen heimliche Rückgabe an die kirchlichen Autoritäten, das Verstecken von Kirchenvermögen und Stiftungsurkunden für Wohlfahrtseinrichtungen, bevor sie in die Hände von Behördenvertretern fielen, das Hissen der verbotenen päpstlichen Fahne.41 Dieser katholische Widerstand kann mit Fug und Recht als eine breite soziale Bewegung betrachtet werden. Genau wie Liberale die religiösen Institutionen im Namen des materiellen, gesellschaftlichen und moralischen Fortschritts attackierten, macht es die katholische Verteidigung dieser Institutionen gegen die von den Liberalen unterstützten administrativen Maßnahmen schwer, eindeutig zwischen »religiösen« und »sozioökonomischen« Motiven zu unterscheiden. Was ganz offensichtlich auf beiden Seiten auf dem Spiel stand war eine bestimmte Lebensform. Katho­ liken verteidigten karitative Stiftungen und Orden als Träger christlicher Barmherzigkeit – aber ebenso, weil sie für viele die einzig vorstellbare Existenzgrundlage boten. Schulreformen wurden abgelehnt, weil sie die mögliche Einführung der Simultanschule ankündigten – aber auch, weil das Drängen der Liberalen auf eine strikter durchgesetzte Schulpflicht und neue Lehrpläne die Verfügbarkeit über Kinderarbeit in der Landwirtschaft und in Werkstätten einzuschränken und die Erwartungen der Kinder aufzustacheln drohte.42 Katholiken verteidigten ihren Gemeindepfarrer als einen geistlichen Führer  – aber auch als »Vater der Gemeinde« und Organisator der Gesellenvereine und Bruderschaften sowie der Darlehenskassen für Handwerker und Bauern.43 Es ist in diesem Zusammenhang wichtig festzuhalten, dass der Priester in Deutschland (anders als in weiten Teilen Frankreichs, aber ähnlich wie in Belgien, der Schweiz und andernorts) nicht so sehr als Repräsentant der Alten Ordnung und Privilegien gesehen wurde, deren Abschaffung der gemeine Mann sein Stück Land und sein beschränktes Eigentum verdankte, sondern als ein Volkstribun gegen die 41 Diese Darstellung des katholischen Widerstandes stützt sich auf ein ganze Reihe detaillierter Lokalstudien: Ficker, Kulturkampf in Münster; Jestaedt, Kulturkampf im Fuldaer Land; K. Kammer, Trierer Kulturkampfpriester, Trier 1926; H. Schiffers, Der Kulturkampf in Stadt und Regierungsbezirk Aachen, Aachen 1929, sowie auf die Dokumentation bei Kissling, Kulturkampf und eine Reihe weiterer allgemeinerer Darstellungen. 42 Zang, Provinzialisierung, insbes. die Beiträge von Bellmann (S. 183–263) und Zang selbst (S.  307–373); L. Gall, Die partei- und sozialgeschichtliche Problematik des badischen­ Kulturkampfes, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Jg. 113, 1965, S. 151–196; J. Becker, Liberaler Staat und Kirche in der Ära von Reichsgründung und Kulturkampf, Mainz 1973, S. 255–269. Eine interessante österreichische Parallele im Bereich der Erziehung schildert E. Bruckmüller, Bäuerlicher Konservatismus in Oberösterreich, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, Bd. 37, 1974, S. 121–143. 43 Die von Pater Adolf Kolping initiierten Gesellenvereine und der von dem Kaplan Georg Dasbach gegründete und geleitete Trierer Bauernverein sind zwei der frühesten und bekanntesten Beispiele dieser Aktivitäten. Darüber hinaus waren jedoch hunderte von Priestern in weniger bekannten, ähnlichen Projekten engagiert.

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privilegierte neue Ordnung, die gerade als Bedrohung von Landeigentum und kleinem Besitz empfunden wurde.44 Diese soziale Bewegung nahm unterschiedliche Formen an. In mancher Hinsicht war sie sehr spontan. Das galt für die vielen Anlässe, bei denen Staatsvertretern mit stummer Dreistigkeit begegnet wurde, ebenso wie die selteneren, bei denen man sie mit Gewalt hinderte, einen Priester festzunehmen. Vermutlich am deutlichsten trat es bei einigen der am wenigsten bekannten Episoden des Kulturkampfes zu Tage, als Tausende katholische Pilger zur Überraschung und großen Beunruhigung der kirchlichen Autoritäten in jene Dörfer des Saarlandes, des Ermlandes und Bayerns strömten, in denen während der siebziger Jahre angeblich die Jungfrau Maria erschienen war.45 Doch selbst die spontansten kollektiven Reaktionen der deutschen Katholiken auf den Kulturkampf folgten einem bestimmten Muster und einer eigenen inneren Logik. Wenn liberale Nationalisten den Sedanstag feierten, hielten sich Katholiken ostentativ davon fern. Als katholische Prozessionen verboten wurden, schmückten Blumengebinde feierlich die Fenster der katholischen Häuser, und als die päpstliche Fahne aus den Straßen verbannt wurde, wehte sie in den Wäldern. Wenn der Ort einer der Marienerscheinungen zum Bannbezirk erklärt wurde, dann umgingen die Katholiken einfach die Polizeiposten, um ihn dennoch aufzu­suchen. Diese und ähnliche Vorfälle sind Zeichen eines geschärften Bewusstseins für den Kampf um den öffentlichen Raum. Darüber hinaus zeigen die verschiedenen Symbole des katholischen Widerstandes – die Fahnen, Girlanden und die allgegenwärtigen weiß gekleideten Mädchen –, dass wir es mit einer sehr volksverbundenen Bewegung zu tun haben, die, wie die gleichzeitig entstehende Arbeiterbewegung, hoch entwickelte ikonographische Ausdrucksformen besaß. Die katholischen Menschenmengen während des Kulturkampfes waren stark strukturierte Massen.46 Oftmals waren es zudem gut organisierte Massen – und die Liberalen zweifelten kaum daran, dass es Priester waren, die hinter dieser Organisation standen. Dennoch hatten sie in vielen Fällen mit dieser Vermutung schlicht unrecht: Die Marienerscheinungen offenbarten einen katholischen Laienstand, der bereit war, sich über die hierarchische Ordnung seiner Kirche hinwegzusetzen, und auch von anderen Anlässen wird berichtet, dass sich Priester der 44 Für eine breite vergleichende Perspektive siehe Becker, Der Kulturkampf als europäisches und als deutsches Phänomen. Das Konzept des »gemeinen Mannes« wurde von P. Blickle, Die Revolution von 1525, München 1975, auf die Zeit des Bauernkrieges im 16. Jahrhundert angewandt. Auf die hier behandelte Zeit wurde es kürzlich plausibel übertragen von Blessing, Staat und Kirche; H. Lacher, Liberalismus, Staat und Kirche in Baden 1860–1918, in: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte, Bd. 99, 1976, S. 187–195. 45 Die meisten der in Anm.  27 erwähnten Berichte sind aus katholischer Sicht verfasst und spielen die aufgetretenen Spannungen eher herunter. In den archivalischen Quellen treten diese jedoch deutlich zu Tage. Unverkennbar ist auch die Beunruhigung, mit der am Bischofssitz in Regensburg auf die Erscheinungen in Mettenbuch reagiert wurde. 46 Siehe v. a. die in Anm. 41 zitierten Arbeiten; zu Marpingen siehe Anm. 26.

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aufgebrachten Menge der Gläubigen entgegenstellten. Ebenso unbestritten ist jedoch, dass viele der Demonstrationen, Abordnungen, Petitionen und Prozessionen in den Jahren des Kulturkampfes untrügliche Zeichen priesterlicher Inspiration trugen.47 Offener, breiter Widerstand war gewöhnlich in die Disziplin und die Rituale der Kirche eingebettet und wurde von der wiederbelebten Frömmigkeit und den neu entwickelten Andachtsformen gefördert. Gleichzeitig weisen Abordnungen und Petitionen auf eine eindeutig »moderne« Form gesellschaftlichen Handelns hin. Dies ist eine willkommene Erinnerung, auf welche Weise zu Zeiten intensivierter Kommunikation und wachsender Mobilität andere gesellschaftliche Gruppen in der Lage waren, die Liberalen mit ihren eigenen Waffen unter Druck zu setzen. Dies trifft vor allem für die charakteristischste aller liberalen Institutionen zu: den Verein. Die kulturellen, erzieherischen, philanthropischen und politischen Vereine waren das klassische Mittel, dessen sich Liberale bedienten, um die öffentliche Meinung zu mobilisieren und zu beeinflussen. In der Tat war dies der Weg, auf dem sie während der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts versuchten, zunächst eine Öffentlichkeit herzustellen, aber auch ein Symbol für eine Gesellschaft von Bürgern zu schaffen, die in der Lage war, sich unabhängig vom Staat und außerhalb ständischer Organisationen wie der Kirche und den Zünften zu verständigen.48 In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurde der Verein jedoch zunehmend zum Vehikel antiliberaler Agitation.49 Die Art und Weise, in der liberale Arbeiterbildungsvereine die Entstehung unabhängiger Arbeitervereine in den sechziger Jahren förderten, ist hinreichend bekannt. Auch für die politische und gesellschaftliche Mobilisierung des Katholizismus war die Übernahme der Organisationsform des Vereins charakteristisch. Im 19. Jahrhundert wurde Deutschland zu dem, was Hubert Jedin das »klassische Land« des katholischen Vereinswesens nannte.50 Seit der Mitte des Jahrhunderts gab ein dichtes Netz von Berufs-, Wohltätigkeits-, Freizeit- und Bildungsvereinen der katholischen Bevölkerung im Vergleich zu Frankreich oder Italien ihr besonderes Gepräge. Die Vereine unterstützten die seelsorgerische Arbeit des Pfarrers, indem sie ihm in den Piusvereinen oder den Gesellenvereinen eine ganze Reihe zusätzlicher Funktionen eintrugen. Darüber hinaus boten sie den Laien die Möglichkeit, sich zu organisieren. Dies galt selbst dann, wenn der Zweck eines bestimmten Vereines sehr eng an die Belange der Kirche gebunden war, wie etwa im Falle des Bonifazius- oder des Borromäusvereins. Letztlich war das katholische Vereinsleben freilich sehr viel breiter (bisweilen 47 Dies gilt für den Kulturkampf in Baden ebenso wie in Preußen. Eingehend hierzu Gall, Partei- und sozialgeschichtliche Problematik. 48 Siehe T. Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18.  und frühen 19. Jahrhundert, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 174–205; Sheehan, German Liberalism, insbes. S. 32 f. 49 Dieser Frage habe ich mich auch an anderer Stelle anzunähern versucht; siehe z. B. Blackbourn u. Eley, Peculiarities, S. 195–198 u. 224–227. 50 Jedin, Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 6/2, S. 220.

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sogar so breit, dass es selbst die deutsche Bischofskonferenz ernsthaft beunruhigte). So gründeten zum Beispiel westfälische und rheinische Adlige, die ihrer Versorgung durch die vornapoleonischen Kirchengüter verlustig gegangen waren, Bauernvereine.51 Die »Casinos« des katholischen Bürgertums wurden zum Zentrum der Versuche, Organisationen zu schaffen, die auch für die Katholiken der unteren städtischen Schichten attraktiv wären.52 In den siebziger Jahren war diese Entwicklung, durch die das liberale Vereinswesen mit einem katholischen Rivalen konfrontiert wurde, bereits weit gediehen. Der Kulturkampf gab ihr zusätzlichen Schwung. Zudem trug er viel zur Entfaltung des politischen Potentials der Vereine bei, denn die Zentrumspartei, die in den siebziger Jahren entstand, konnte sich auf dieses bereits bestehende organisatorische Gerüst stützen. Gleichwohl – das ist im Rückblick leicht zu vergessen – war die Entstehung des politischen Katholizismus in Deutschland nichts Zwangsläufiges. In Preußen war der Versuch, eine katholische Partei zu etablieren, vor 1870 weitgehend erfolglos geblieben, und schließlich gab es zwischen den deutschen Katholiken viele soziale und politische Unterschiede, die drohten (oder versprachen), das gemeinsame religiöse Band zu überdehnen. Katholische Arbeiter fühlten sich häufig von der entstehenden Arbeiterbewegung angezogen, besonders von deren lassalleanischem Flügel.53 Katholische Adlige teilten dagegen tendenziell die konservativen politischen Neigungen ihrer Standesgenossen.54 Und eine bedeutende Zahl akademisch gebildeter Katholiken, die sich mit dem Syllabus Errorum und dem Unfehlbarkeitsdogma schwer taten, waren besorgt, der deutsche Katholizismus könne sich in ein Ghetto zurückziehen. Wirtschaftliche Liberalisierung und Zivilehe bereiteten ihnen dagegen nicht allzu viel Kopfzerbrechen.55 Was die Unterschiede zwischen den deutschen Katholiken schließlich verwischte, war der Kulturkampf: durch ihn wurden sie 51 Über die Beteiligung westfälischer Adliger am Vereinsleben siehe die ausgezeichnete Darstellung bei Reif, Westfälischer Adel, S. 398–431. 52 Jestaedt, Kulturkampf im Fuldaer Land, S. 120–125, beschreibt dies sehr gut für die Stadt Fulda, v. a. in seiner Darstellung der »Männergesellschaft M. N.« (das »schwarze Casino«). Eine Schilderung der parallelen Casino-Bewegung in Baden gibt F. Dor, Jacob Lindau. Ein badischer Politiker und Volksmann, Freiburg i. B. 1909. 53 Siehe H. Grote, Sozialdemokratie und Religion. Eine Dokumentation für die Jahre 1863 bis 1875, Tübingen 1968. 54 Im Laufe der 1890er Jahre, als an die Stelle der Tendenz zur Geschlossenheit, wie sie die Zeit des Kulturkampfs charakterisiert hatte, heftige innere Auseinandersetzungen traten, verstärkte sich die ablehnende Haltung der katholischen Adligen gegenüber den »demokratischeren« Strömungen in der Zentrumspartei merklich. 55 Allgemein hierzu M. L. Anderson, Windthorst. A Political Biography, Oxford 1981, S. ­119–129. In einem Brief vom 11. Juli 1870 an Georg Hertling, den späteren Zentrumsführer, schrieb der katholische Akademiker Franz Brentano über das Vatikanische Konzil: »Die Nachrichten von Rom erregen mich nicht mehr. Tragisch begonnen wendet sich das Schauspiel mehr und mehr zum Lächerlichen.« Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Hertling 45, 3–4. Zur Frage der Zivilehe siehe die Position der Gebrüder Peter und August Reichensperger bei S. Buchholz, Eherecht zwischen Staat und Kirche, Frankfurt a. M. 1981, S. 93 f.

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allesamt als Parias gebrandmarkt. In den Worten des katholischen Kunsthistorikers August Reichensperger: »Als Ultramontane sind wir so halbwegs unrein.«56 In sozialer Hinsicht hatten solche Männer auch weiterhin mehr mit ihren liberalen Gegenspielern gemeinsam als mit einem marienverehrenden katholischen Bauern; in politischer Hinsicht jedoch ergriffen sie die Partei des Bauern. Auf diese Weise erlangte der politische Katholizismus in Deutschland eine wichtige und später entscheidende Schicht aus bürgerlichen Anführern, die ihm ansonsten vielleicht verwehrt geblieben wäre. Die Ressentiments, die den katholischen Widerstand gegen den Kulturkampf und das Wachstum der Zentrumspartei nährten, speisten sich aus den unterschiedlichsten Quellen, aber in diesem einen Punkt trafen beide sich. Der Kulturkampf konfrontierte alle Katholiken außerdem mit einem gemeinsamen Feind, und dieser Feind hatte zwei Gesichter: Es war das Bündnis von Liberalismus und Staat. Deutsche Staaten, unter ihnen Preußen, das sich in der Folge von 1848 der Kirche gegenüber wohlwollend gezeigt hatte, schienen nun mit dem antiklerikalen Liberalismus gemeinsame Sache zu machen. Und selbst Liberale, die während der Reaktionsjahre verfolgt worden waren, zeigten sich jetzt bereit, die Verfolgung von Katholiken gerade durch Staaten wie Preußen als Preis für den gesellschaftlichen Fortschritt hinzunehmen.

III. Der katholische Widerstand gegen den Kulturkampf und die Entstehung des organisierten sozialen und politischen Katholizismus war nicht nur für Bismarck eine Niederlage, sondern auch für den deutschen Liberalismus. Diese Niederlage des Liberalismus lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die doppelte Schwäche des Kulturkampf-Programms, wie sie sich den Liberalen darstellte: der Zwang, der zur Durchsetzung des Programms nötig war, weil ihm die allgemeine Zustimmung fehlte. Der Kulturkampf war mehr als die kleine Störung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, als die er in einigen Darstellungen hingestellt wird; auch verlief er gewaltsamer als oft vermutet.57 Die Versuche, die mit ihm verbundenen Bestimmungen durchzusetzen, reichten vom Auflösen von Versammlungen über das Versiegeln von Kirchentüren bis hin zu Haus56 L. Pastor, August Reichensperger, 2 Bde., Freiburg i. B. 1899, Bd. 1, S. 424. 57 Einen sehr detaillierten Bericht gibt M. Scholle, Die Preußische Strafjustiz im Kulturkampf 1873–1880, Marburg 1974; Siehe auch R. J. Ross, Enforcing the Kulturkampf in the Bis­ marckian State and the Limits of Coercion in Imperial Germany, in: Journal of Modern History, Bd. 56,1984, S. 456–482. Ross weist ganz richtig auf die Schwierigkeiten hin, die die Durchsetzung des Kulturkampfs bereitete. So wichtig es bleibt, den Zwangscharakter des Kulturkampfs nicht zu beschönigen: Auf der Grundlage meiner eigenen Forschungen erscheint es mir doch frappierend, wie sehr der preußische Staat bemüht war, sich an den Buchstaben des Gesetzes zu halten.

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durchsuchungen. Tausende von Gemeinden blieben ohne Priester, hunderte von Geistlichen wurden eingekerkert und Steckbriefe von Bischöfen ausgegeben (»Dr. theol. und vormaliger Erzbischof von Köln, Paulus Melchers, geboren zu Münster, zuletzt wohnhaft zu Köln, 64 Jahre, 1,70 Meter groß, mit blonden Haaren und Augenbrauen, freier Stirn, braunen Augen, etwas gebogener Nase, gewöhnlichem Mund, spitzem Kinn, länglichem Gesicht, von blasser Gesichtsfarbe und schlanker Statur«).58 Massives Vorgehen der Polizei gegen Katholiken war an der Tagesordnung, wie zum Beispiel in Schweich bei Trier, wo 18 Gendarmen versuchten, den festlichen Empfang eines gerade aus dem Gefängnis entlassenen Kaplans zu verhindern und elf Mädchen später zu je acht Tagen Haft und drei Talern Geldstrafe verurteilt wurden, weil sie mit einer Girlande angetroffen worden waren.59 Bisweilen wurden sogar Agents Provocateurs und selbst die preußische Armee aufgeboten.60 Ohne Zweifel gab es Liberale, die diese Art von Repressionen durchaus begrüßten, insbesondere Beamte und Akademiker nationalliberaler und staatstreuer Gesinnung. Besonders unverblümt brachten ihre Unterstützung des Kulturkampfs in der Regel diejenigen zum Ausdruck, die sich als überzeugte Protestanten verstanden. Aber auch unter gestandenen Politikern brachte der wohlgesetzte liberale Zorn gegen die »finsteren« Katholiken recht heftig artikulierte Forderungen nach harten Maßnahmen hervor. Der Fraktionsführer der Nationalliberalen, Rudolf von Bennigsen, kündigte seiner Frau im November 1875 schadenfroh ein weiteres Kulturkampfgesetz an, das »wie eine Bombe unter die Klerikalen fahren« werde.61 Es war ein liberaler Stadtrat von St. Wendel, der in seiner Eigenschaft als Bürgermeister von Alsweiler die preußische Infanterie gegen katholische Pilger in einem saarländischen Dorf aufbot, in dem angeblich die Jungfrau Maria erschienen war.62 Dies waren deutsche Liberale, die den Staat als soziale und kulturelle Dampfwalze betrachteten und ganz offensichtlich Genuss dabei empfanden, deren verheerende Wirkung an anderen zu beobachten. Es waren Liberale, denen Bismarck wenig Gewissensbisse bereitete. Mit der Feststellung, die meisten Liberalen hätten die Zwangsmaßnahmen im Rahmen des Kulturkampfs begrüßt, würde man es sich jedoch zu einfach machen. In ihren Zeitungen zum Beispiel fanden sich durchaus auch kritische

58 Ficker, Kulturkampf in Münster, S. 251. 59 Kammer, Trierer Kulturkampfpriester, S. 94. 60 Dies gilt zum Beispiel für das preußische Vorgehen gegen die Bewohner von Marpingen. 61 H. Oncken, Rudolf von Bennigsen. Ein deutscher liberaler Politiker, 2 Bde., Stuttgart 1910, Bd. 2, S. 280. 62 Die Rolle, die Bürgermeister Woytt von Alsweiler bei der Entsendung von Truppen nach Marpingen spielte, geht aus allen Quellen, einschließlich der in Anm.  26 zitierten kirchlichen und staatlichen Archivalien, eindeutig hervor. Zu Woytt als liberalem Vertreter im Stadtrat von St. Wendel siehe M. Müller, Die Geschichte der Stadt St. Wendel von ihren Anfängen bis zum Weltkrieg, St. Wendel 1927, S. 394.

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Stimmen. Die liberale »Frankfurter Zeitung«, die die über Katholiken verhängten Freiheitsstrafen mit Unbehagen verfolgte, bemerkte in einem Fall, Deutschland erscheine mittlerweile »als ein einziges großes Gefängnis«.63 In den politischen Parteien waren nahezu alle Linksliberalen und ein Großteil des linken Flügels der Nationalliberalen über den willkürlichen Gebrauch der staatlichen Macht besorgt. Und zwar nicht nur in süddeutschen Staaten wie Baden, sondern auch in Preußen. Selbst Rudolf Virchow, der dem barschen Antlitz des Preußentums im Allgemeinen kritisch gegenüber stand und der Bismarckschen Politik in vieler Hinsicht ebenso feindlich begegnete wie dem »Ultramontanismus«, sprach sich für eine Mäßigung der bisweilen allzu willkürlichen Methoden des Kulturkampfs aus.64 Eines der in den siebziger Jahren verabschiedeten Gesetze über die Schulaufsicht bezeichnete er als nachgerade diktatorisch. Dennoch stimmte Virchow dem Gesetz letztlich zu. Wie Constantin Frantz beißend bemerkte, »konnte [er] darum das Gesetz nur mit schwerem Herzen annehmen, sich aber dadurch wieder erleichtert fühlend, dass solche Dictatur für den Fortschritt der Cultur unentbehrlich erscheine.«65 Ein anderer prominenter Linksliberaler, der Genossenschaftsgründer Schulze-Delitzsch, fand sich auf ähnliche Weise mit den Nebenwirkungen der »rücksichtslose[n] Bekämpfung des Ultramontanismus« ab, die er für unumgänglich hielt. Wie erst kürzlich in einer neueren Biographie über Schulze-Delitzsch bemerkt wurde, waren Linksliberale wie er im Namen des Fortschritts bereit, auf Bismarcks Angebot einzugehen, »Stellvertreterkriege« zu führen.66 In diesem Bereich, wie in anderen, haben wir es daher nicht mit einer umstandslosen Kapitulation des deutschen Liberalismus vor Bismarck und der Staatsmacht zu tun. Die Kom­ plizenschaft der Liberalen bei dem Druck, der während des Kulturkampfs auf Katholiken ausgeübt wurde, ebenso wie ihre spätere Komplizenschaft beim Sozialistengesetz, entsprang dem Wunsch nach der Durchsetzung einer bestimmten wirtschaftlichen und sozialen Ordnung – auch wenn ihnen eine breite Zustimmung zu diesem Programm versagt blieb. Das diesbezügliche Problem der Liberalen hatte zwei Seiten, und das galt nicht nur für ihr Verhältnis zu den Katholiken. Der Mangel an öffentlicher Unterstützung war zum Teil  die Folge ihrer sozialen Isolation und der olym­ pischen Abgehobenheit der Honoratiorenpolitik. In katholischen Regionen, wo die Klassen- und Konfessionsgrenzen zur Deckung kamen, war dieses Problem besonders akut, aber es hatte auch eine allgemeinere Dimension. Die kulturellen und philanthropischen Vereinigungen, die Harmonievereine und Montagsgesellschaften, in denen sich die Liberalen unter Ihresgleichen trafen, waren in aller Regel zu exklusiv, um in der öffentlichen Meinung einen breiten Widerhall

63 Kissling, Kulturkampf, Bd. 2, S. 292. 64 Meyer, Virchow, S. 115–117; Kissling, Kulturkampf, Bd. 3, S. 121 f. 65 C. Frantz, Die Religion des Nationalliberalismus, Leipzig 1872, S. 105. 66 R. Aldenhoff, Schulze-Delitzsch, Baden-Baden 1984, S. 233.

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zu finden.67 Zugleich verstärkten restriktive oder indirekte Wahlverfahren in vielen Einzelstaaten, allen voran Preußen, die politische Gleichgültigkeit breiter Bevölkerungskreise. Allerdings war der Anspruch der Liberalen, für das Volk zu sprechen, zweifellos mehr als bloße Rhetorik, und es gab durchaus Versuche, die gesellschaftliche Basis des Liberalismus zu verbreitern. Prominente preußische Liberale wie Schulze-Delitzsch und Benedikt Waldeck verdankten ihre Führungspositionen in den sechziger Jahren teilweise dem Umstand, dass ihnen Verbindungen zur Schicht der Arbeiter, Handwerker und des Mittelstandes zugesprochen wurden.68 Darüber hinaus schuf in einigen west- und südwestdeutschen Regionen die örtliche Sozialstruktur in Kombination mit historischen Bindungen an Frankreich ein Potential für eine linksliberale Bewegung, die Ähnlichkeiten mit dem französischen Radikalismus aufwies.69 An dieser Stelle tritt jedoch das zweite soziale Problem des Liberalismus zutage. Die Schwierigkeiten der Liberalen, eine breite Anhängerschaft zu finden, lagen nicht immer nur an der Gleichgültigkeit der Bevölkerung; bisweilen waren sie Ausdruck regelrechter Feindseligkeit. Wenn Liberale von Fortschritt sprachen, gaben sie vor, das allgemeine Interesse der Gesellschaft zu repräsentieren. Dabei trug ihr Ideal von Bürgern, die sowohl gleiche Zugangsrechte zum Markt besaßen als auch vor dem Gesetz gleich waren, den substanziellen Ungleichheiten, die ihr eigenes Programm hervorzubringen half, wenig Rechnung. Ebenso wenig waren Liberale geneigt, sich über die kurzfristig entstehenden Nachteile derer auszulassen, die den Preis für diesen gesellschaftlich bewerkstelligten Fortschritt zu zahlen hatten (Die Gesellschaft als »Labor« war damals unter Liberalen eine beliebte Metapher). Politiker wie Schulze-Delitzsch, die Genossenschaften und Bildungsvereine unterstützten, wollten einen dauerhaft unabhängigen Mittelstand als Kern einer klassenlosen Bürgergesellschaft heranbilden. Das Ergebnis eines Großteils liberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik war dagegen fast das genaue Gegenteil: die Klassenbeziehungen wurden frostiger, der Mittelstand wurde fragmentiert und der Abstand zwischen der entstehenden Bourgeoisie und den Arbeitern, Kleinbürgern und Bauern wuchs.70 Die 67 Nipperdey, Verein als soziale Struktur, S. 186 f.; Zang, Provinzialisierung, gibt ausgezeichnete Einblicke in die Konstanzer Montagsgesellschaft; Beschreibungen vergleichbarer Organisationen finden sich in den »Jugenderinnerungen« des preußischen Linksliberalen­ Eugen Richter (Berlin 1892, S. 24 u. 59). 68 L. Krieger, The German Idea of Freedom, Chicago 1957, S. 401. 69 Dies traf in unterschiedlichem Maße auf Baden, Württemberg und Teile des Rhein- und des Saarlands zu. 70 Über den Mittelstand siehe D. Blackbourn, The Mittelstand in German Society and Politics. 1871–1914, in: Social History, Jg. 4, 1977, S. 409–433, sowie ders., Between Resignation and Volatility. The Petty Bourgeoisie in Nineteenth-Century Germany, in: Populists and Patricians, S.  84–113. Über den Liberalismus und den Begriff des Mittelstandes siehe L. Gall, Liberalismus und »Bürgerliche Gesellschaft«. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: Historische Zeitschrift, Jg. 220, 1975, S. 324–356; Sheehan, German Liberalism, S. 88–90 u. 244–254.

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daraus folgende Form der Klassenpolitik in Deutschland, in der die Vertretung von Sonderinteressen eine so große Rolle spielen sollte, erwies sich für die Geschicke und die Moral der Liberalen als gleichermaßen verheerend. Die im Kulturkampf zutage getretenen Streitfragen werfen daher ein Schlaglicht auf die allgemeinen Probleme des Liberalismus. Natürlich war der Kulturkampf ein sehr spezifischer Konflikt über die Autonomie der Kirche im Bereich der Erziehung und bei der Berufung von Geistlichen, und es war eine unbeabsichtigte Leistung der Liberalen, dass sie unter den Katholiken ein klassenübergreifendes Bündnis gegen die Maßnahmen der siebziger Jahre ins Leben riefen. Wie wir gesehen haben, waren die Streitfragen des Kulturkampfes jedoch unentwirrbar mit größeren gesellschaftlichen Fragen verbunden. Und so, wie der Kulturkampf den Teil eines breiteren liberalen Programms bildete, sollten auch die von ihm aufgeworfenen Probleme in einem größeren Kontext gesehen werden. Dies gilt in erster Linie für die Art und Weise, in der der offene katholische Widerstand gegen den Kulturkampf symptomatisch für die Spannungen war, die im Verhältnis des deutschen Liberalismus zu den unteren Gesellschaftsschichten zu Tage traten. Die Entfremdung der katholischen Arbeiter lief parallel zur Entfremdung der protestantischen Arbeiter in den sechziger und siebziger Jahren; die Feindseligkeit zwischen katholischen Bauern und Kleinbürgern war ein Vorbote der Feindseligkeit, die den Liberalen zum Ende des Jahrhunderts hin von Seiten deren protestantischer Standesgenossen entgegenschlagen sollte. In ähnlicher Weise gehörten die vernichtenden liberalen Angriffe auf »abhängige« Katholiken, die weder über Eigentum noch Bildung verfügten, zu einem breiteren (und zerstörerischen) Vokabular liberaler Verachtung für »die Massen«.71 Sowohl Linksliberalen wie Nationalliberalen mangelte es an einer in einer gemeinsamen revolutionären Tradition wurzelnden Politik beziehungsweise Sprache, mit der sie, wie ihre französischen Gesinnungsgenossen, die breite Öffentlichkeit hätten ansprechen können. Auch waren sie außerstande, plausibel an die gemeinsame »Ehrbarkeit« (respectability) zu appellieren, die im Gladstone­ schen Liberalismus so wichtig für die Anbindung des Kleinbürgertums und der Facharbeiterschaft war – wenngleich einige Linksliberale, vor allem außerhalb Preußens, sich in dieser Richtung bemühten. Dies waren allgemeine Schwächen der Liberalen; sie trafen auf Protestanten und Katholiken gleichermaßen zu. Im Falle der protestantischen Mehrheit traten die politischen Folgen dieser Schwäche  – gerade auch bei der Stimmabgabe  – erst später in aller Deutlichkeit ans Licht. Auf kurze Sicht ist es dagegen gut möglich, dass ihr Antiklerikalismus den Liberalen tatsächlich einige Unterstützung in der protestantischen Arbeiterschaft, dem Kleinbürgertum und der Bauernschaft eintrug. Zeugnisse von der untersten Ebene des Kulturkampfes (etwa zu konfessionellen Streitigkeiten über das Läuten der Kirchenglocken oder das Feiern kirchlicher Feste) 71 Siehe Blackbourn u. Eley, Peculiarities, S. 257–259.

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deuten auf ein erhebliches Reservoir allgemein antiklerikaler (und antikatholischer) Empfindungen unter der protestantischen Bevölkerung hin. Es wäre interessant herauszufinden, inwieweit Liberale diese Empfindungen aufgriffen.72 Bis zu welchem Grad wandte sich zum Beispiel die liberale Rhetorik über »Unabhängigkeit« gezielt an protestantische Handwerker und gelernte Arbeiter und versuchte, sie davon zu überzeugen, dass sie in dieser Beziehung ihren katholischen Kollegen überlegen seien? Bislang wartet das Thema des volkstümlichen Protestantismus im Deutschland des 19.  Jahrhunderts noch auf seinen Bearbeiter. Offensichtlich ist jedenfalls, dass die antiklerikale Propaganda den Liberalen als nützlicher Blitzableiter diente, wenn es darum ging, die Aufmerksamkeit von unangenehmeren wirtschaftlichen und sozialen Streitfragen­ abzulenken.73 Sehr viel deutlicher noch ist, dass die deutschen Liberalen nicht in der Lage waren, mehr als eine kleine Minderheit unter den Katholiken gleich welcher Schicht davon zu überzeugen, dass die Kirche und der Klerus Ausbeuter und Parasiten seien; in dieser Rolle fanden sich schließlich die Liberalen selbst wieder. Genau sowenig versuchte der deutsche Liberalismus, abgesehen von seltenen Ausnahmen, den besonderen lokalen Empfindlichkeiten der peripheren katholischen Gemeinschaften in einer Weise gerecht zu werden, wie dies dem Gladstoneschen Liberalismus gegenüber dem britischen »Celtic Fringe« gelang. Verständlicherweise wurden vielmehr die Liberalen selbst von den Katholiken als Zentralisierer angesehen, die der herrschenden protestantischen Konfession angehörten. Als Konsequenz dieser liberalen Schwächen musste der Kulturkampf von oben geführt werden, weil er von unten nicht geführt werden konnte. So scheiterten radikale Befürworter des Kulturkampfs in Südbaden an einem katholischen Widerstand, der mehr und mehr deutlich machte, wie wenig Zustimmung sie in der breiten Bevölkerung fanden. Das Ergebnis war ein sehr viel etatistischer ausgerichteter Kulturkampf, der von den Regierungsbehörden in Karlsruhe geführt wurde.74 In Preußen machte die gleiche Logik die Liberalen ebenso sehr zu Werkzeugen Bismarcks wie umgekehrt. Eugen Richter, einer der wenigen Liberalen, die den Kulturkampf vorbehaltlos ablehnten, kam der Wahrheit sehr nahe, als er zu Bedenken gab, die Liberalen unterminierten ihre 72 Ich gründe diese Beobachtung auf die nachhaltigen Eindrücke, die ich im Rahmen meiner Forschungen zu den Marienerscheinungen sowohl aus den preußischen archivalischen Quellen wie auch aus den zeitgenössischen Flugschriften gewonnen habe. Ich hoffe, in der Zukunft die Gelegenheit zu finden, mich dem vernachlässigten Thema des populären Protestantismus ausführlicher widmen zu können. Nahezu alle Bücher über den deutschen Liberalismus stellen fest, dass die Liberalen eine überwiegend protestantische Anhängerschaft hatten. Dabei wird der Protestantismus jedoch im Wesentlichen als Restkategorie behandelt: Protestanten waren Nicht-Katholiken. ­ ocal­ 73 In Bezug auf eine bestimmte Region siehe hierzu Blackbourn, Class, Religion and L Politics sowie J. C. Hunt, The People’s Party in Württemberg and Southern Germany. ­1890–1914, Stuttgart 1975, S. 80. 74 Siehe hierzu v. a. die Beiträge in Zang, Provinzialisierung.

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eigene Position, wenn sie den Einsatz von Waffen »aus der Rüstkammer der Reaktion« unterstützten.75 Um zu jenem liberalen Verseschmied aus den siebziger Jahren zurückzukehren: Die Liberalen bekamen ihre Eisenbahnen, obwohl Bismarck (letztlich) nach Canossa ging. Es dürfte jedoch Einigkeit darüber herrschen, dass sie für ihren Sieg einen höheren Preis zahlten als er für seine Niederlage. Bismarck machte in dieser Angelegenheit, wie in anderen, gegenüber den wirtschaftlichen und sozialen Forderungen des bürgerlichen Liberalismus zwar echte Zugeständnisse, behielt jedoch die politische Initiative. Die Liberalen erhielten in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht viel von dem, was sie wollten, allerdings zu Lasten ihrer politischen Stellung. Die deutschen Liberalen waren eilige Leute, engagiert in der inneren Zivilisationsmission eines verspäteten Nationalstaates. Im Falle der Katholiken, aber nicht nur dort, lief die Logik der liberalen Position auf den Rückgriff auf die Staatsmacht hinaus – auf das, was einer von ihnen einmal als den »wunderbaren Speer« bezeichnete, »welcher heilt zugleich und verwundet.«76

IV. Der Kulturkampf hinterließ ein politisches Vermächtnis, das dem Gegenteil dessen entsprach, was Liberale erhofft hatten. Es verpflichtete sie gegenüber Bismarck, und es trug dazu bei, den politischen Katholizismus in Deutschland zu konsolidieren. Die Zentrumspartei erhielt bei den Reichstagswahlen während des Kulturkampfes mehr als vier Fünftel aller katholischen Stimmen, und auch in den Folgejahren profitierte das Zentrum von dem moralischen Kapital, das es bei der Verteidigung der stiefmütterlich behandelten Gemeinde der Gläubigen in den siebziger Jahren akkumuliert hatte. Als dieses Kapital zu schwinden begann und in der Wählerschaft des Zentrums bedrohliche Risse auftauchten, stärkte die Partei ihre Position, indem sie weiterhin die vom Liberalismus ausgehenden Gefahren herausstrich. Auf der einen Seite brandmarkte das Zentrum die Liberalen in Fragen der Erziehung und der Sexualmoral erfolgreich als gefährliche Neuerer. Auf der anderen Seite wandte sich die Partei recht scharfsinnig den Beschwernissen katholischer Bauern, Handwerker und – mit geringerem Erfolg – Arbeiter zu, wobei sie Liberalismus mit sogenanntem »Manchestertum« und wirtschaftlicher Ausbeutung gleichsetzte. Zusammengehalten wurden diese Elemente durch die geschickte Konstruktion eines liberalen Buhmanns, die sich mit den ursprünglichen Empfindungen der Zentrumswähler traf. Der Liberalismus konnte dadurch plausibel mit einer fernen 75 Vgl. I. S. Lorenz, Eugen Richter, Husum 1980, S. 111–125, insbes. S. 116. 76 F. Dahlmann, »Rede eines Fürchtenden«, in: Hannoversche Zeitung vom 19.1.1837, hier zitiert nach A. Springer, Friedrich Christoph Dahlmann, Bd. I, Leipzig 1870, S. 477.

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aber bedrohlichen Elite von Spekulanten, Staatsbeamten, Professoren und Journalisten, kurz, mit Parasiten der einen oder anderen Sorte, assoziiert werden.77 An dieser Stelle ist ein Vergleich mit dem benachbarten Ausland nützlich. In Frankreich scheiterten ähnliche politische Bestrebungen, weil sie dort mit einer reaktionären Elite identifiziert wurden und die Bischöfe jegliche Laieninitiative schon im Keim erstickten. In Deutschland war der politische Katho­lizismus erfolgreich, weil das Zentrum es vermochte, sich als volkstümliche und populistische Partei zu geben, die unter anderem den Anspruch erhob, den gemeinen Mann (und die gemeine Frau) gegen einen mit dem Ruch materieller Ausbeutung und gouvernementaler Gesinnung behafteten Liberalismus zu verteidigen. Weiteren Auftrieb erhielt dieser Prozess sowohl durch die Herausbildung einer echten Massenpolitik in Deutschland als auch durch die wachsende Bedeutung der Interessenpolitik. Beides schadete den Liberalen und arbeitete für das Zentrum. Als die Liberalen in den sechziger und siebziger Jahren Wahlerfolge feierten, war dies häufig nur das trügerische Produkt des eingeschränkten Wahlrechts, der indirekten Stimmabgabe oder (im Falle der Reichstagswahlen) der niedrigen Wahlbeteiligung; auf lokaler Ebene war es daneben bisweilen sogar­ lediglich das Ergebnis manipulierter Stimmbezirksgrenzen. L ­ okale Wahlrechtsreformen und eine wachsende Wahlbeteiligung auf allen Ebenen bedeuteten das Ende für viele politische Enklaven liberaler Honoratioren und verschafften dem Zentrum in vielen Rathäusern und Landesparlamenten ebenso eine verstärkte Präsenz wie im Reichstag. Gleichzeitig unterstrich die sehr viel größere Fähigkeit des Zentrums, sich die Forderungen von Interessengruppen zunutze zu machen, wie schwer sich die Liberalen dabei taten, von ihrem hohem Podest der alleinigen Beschäftigung mit dem »allgemeinen« gesellschaftlichen Interesse herabzusteigen. Der Erfolg des katholischen Zentrums war letztlich nur ein Symptom für das Schwinden und die Zersplitterung der liberalen Basis. In den neunziger Jahren stand der mächtigste und am besten organisierte politische Katholizismus in Europa neben der mächtigsten und am besten organisierten Arbeiterbewegung der Welt, sowie neben einem wiederbelebten und populistischen Konservatismus, dessen politischer Stil in protestantischen Gebieten häufig dem des Zentrums in katholischen Gegenden ähnelte. Jede dieser Bewegungen stellte die liberale Definition des gesellschaftlichen Fortschritts in Frage und nagte an der Wählerbasis des Liberalismus. Als Ironie der Geschichte könnte man ansehen, dass das populistische Zentrum die Nationalliberalen zu einem gewissen Grad auch als Regierungspartei ersetzte. Zwar konnte das Zentrum natürlich nicht unmittelbar zur Regierungsbildung beitragen  – das konnte keine Partei im Deutschen Kaiserreich. Aber es setzte seinen geschlossenen Block an Reichstagssitzen ein, um einer Reihe deutscher Reichskanzler parlamentarische Unterstützung zu gewähren. In den Worten eines scharfsichtigen linksliberalen Kritikers des Zentrums 77 Einzelheiten und Verweise hierzu in Blackbourn, Class, Religion and Local Politics.

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wurde die Partei in der deutschen Politik zum »Maß aller Dinge«.78 Bismarcks Nachfolger gewannen in ihr einen Verbündeten bei der Verabschiedung wichtiger Gesetzes­vorhaben, etwa der Marinegesetze, des Bürgerlichen Gesetzbuchs oder der Finanzreform. Das Zentrum erhielt seinerseits politische Konzessionen (in wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen wie auch im engeren Sinne religiösen Fragen) und gewann darüber hinaus eine starke Verhandlungsposition für seine Forderungen nach einer strengeren »Parität« der Konfessionen bei der Besetzung staatlicher Stellen. Sowohl die Methoden, mit denen sich das Zentrum Popularität bei seinen Wählern verschaffte, als auch die Art und Weise, in der es seine strategische Position in der nationalen Politik ausspielte, erregten unter den Liberalen erbitterte Verärgerung. So wie Liberale in den sechziger und siebziger Jahren das katholische Deutschland als Hemmschuh des Fortschritts betrachtet hatten, reagierten ihre Nachfolger eine Generation später mit Empörung darauf, dass Angelegenheiten von größter nationaler Bedeutung, wie das Flottenbauprogramm und die Finanzreform, von der Zustimmung katholischer Politiker im Reichstag abhingen. Liberale hielten das Zentrum für doppelt illegitim: sowohl als Partei der plumpen Demagogie auf der Straße wie auch des Kuhhandels im Parlament. Beide Anschuldigungen hatten einen wahren Kern (und sie wurden auch nicht nur von Liberalen geäußert). Das Zentrum war sehr demagogisch, auch wenn die Beharrlichkeit, mit der die Liberalen diesen Vorwurf immer wieder erhoben, offensichtlich politisch motiviert war. Und das Zentrum zeigte sich sehr geschickt in parlamentarischen Mauscheleien, wenngleich das liberale Bild des Ausmaßes, in dem die Partei angeblich in der Lage war, ihre Position zum Aufbau eines ganzen Netzes von Stellen für Katholiken zu nutzen, sicher überzeichnet war. Köln war nicht Chicago; es war noch nicht einmal Wien. Die Heftigkeit, mit der die Liberalen auf das katholische Zentrum reagierten, und die oft selbst die Feindseligkeit gegenüber den Sozialdemokraten übertraf, war ein Symptom ihrer eigenen Verletzlichkeit. Zumindest in dieser Hinsicht war der »neue Liberalismus« der Jahrhundertwende dem alten sehr ähnlich. Die neuen Wortführer des Linksliberalismus und des jungliberalen Flügels im Nationalliberalismus zeigten Haltungen gegenüber den Katholiken, die stark an die ihrer Vorgänger während des Kulturkampfes erinnerten. Damals hatten deutsche Liberale die Vorzüge des materiellen Fortschritts und der gesellschaftlichen Emanzipation gepredigt und eine Verbindung zur Schaffung eines mächtigen Nationalstaates hergestellt. Jetzt gaben sie sich technokratisch, traten für soziale Reformen ein und knüpften beides an die Verwirklichung eines erfolgreichen Imperialismus. Die Katholiken waren ein Hauptangriffsziel des neuen Liberalismus ebenso wie des alten. In den siebziger Jahren wurde argumentiert, der Katholizismus gedeihe nur in Regionen, in denen Wein getrunken werde und Rationalität einen geringen Stellenwert habe; vierzig Jahre später verstieg sich einer der prominentesten liberalen 78 F. Naumann, Die politischen Parteien, Berlin 1910, S. 39.

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Akademiker Deutschlands zu der Feststellung: »Katholische Geschichtsprofessuren sind und bleiben doch eine Monstrosität.«79 Manche Liberale hatten offensichtlich nichts dazugelernt und nichts vergessen. Doch der Kontext ihrer antiklerikalen und antikatholischen Gesinnung hatte sich zwischen den Jahren des Kulturkampfs und dem letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg gewandelt. In den siebziger Jahren hatte ein selbstbewusster Liberalismus Bismarcks Hilfe für die Durchsetzung seines Programms gegen die angeblich rückständigen und antinationalen Katholiken gewonnen; weniger als vierzig Jahre später musste ein an der Wahlurne geschwächter und politisch entmannter Libera­ lismus zusehen, wie Zentrumsführer mit den Nachfolgern Bismarcks über die Gestaltung der nationalen Gesetzgebung verhandelten.

79 Friedrich Meinecke an C. Varrentrapp am 23.8.1901, in: F. Meinecke, Ausgewählter Briefwechsel, hg. und eingeleitet von L. Dehio u. P. Classen, Stuttgart 1962, S. 25. Zur Spahn-­ Affaire, die der unmittelbare Anlass für Meineckes Bemerkung war, siehe R. J. Ross, Beleaguered Tower. The Dilemma of Political Catholicism in Wilhelmine Germany, Notre Dame (Ind) 1976, S. 26–28, und C. Weber, Der »Fall Spahn« (1901). Ein Beitrag zur Wissenschaftsund Kulturdiskussion im ausgehenden 19. Jahrhundert, Rom 1980.

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2. Katholiken, Zentrumspartei und Antisemitismus1 I. Der katholische Antisemitismus in Deutschland hat nicht annährend die gleiche Beachtung gefunden wie seine Entsprechungen in Frankreich und Österreich, und die Gründe dafür liegen auf der Hand. Frankreich und Österreich waren überwiegend katholische Länder, deren heimische Antisemitismustradi­ tionen sich aus diesem Hintergrund speisten und ihn widerspiegelten. Das gilt für den Antisemitismus, den die französischen »Feuerkreuzler« (Croix de Feu) und die österreichischen »Klerikalfaschisten« in den Zwischenkriegsjahren pflegten; das gilt aber genauso auch für die Bewegung der Anti-Dreyfusards und Karl Luegers Christlichsoziale Partei in Wien vor 1914. In Deutschland war die Situation unzweifelhaft eine andere. Dort bildeten die Katholiken eine Minderheit und waren vermutlich auch deshalb vorsichtiger, wenn es darum ging, politische Bewegungen zu unterstützen, die einen Antisemitismus predigten. Wie man weiß, stimmten Katholiken bei Wahlen vor der »Machtergreifung« 1933 überwiegend nicht für die Nationalsozialisten, und auch vor 1914 unterstützten nur wenige die antisemitischen Parteien eines Stöcker, Liebermann von Sonnenberg und anderer. Stattdessen gaben sie ihre Stimme dem Zentrum, der Partei der deutschen Katholiken, in welcher der Antisemitismus nach gängiger Ansicht von Historikern nur eine unbedeutende Rolle spielte. Was die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg angeht, so wird tatsächlich üblicherweise behauptet, der Antisemitismus bei Katholiken und in der Zentrumspartei habe in den 1870er Jahren seinen Höhepunkt erreicht.2 Ohne Zweifel wurden 1 Der nachfolgende Aufsatz ist der älteste in dieser Sammlung. Ursprünglich verfasst für eine Tagung in Oxford 1978, wurde er 1981 veröffentlicht. Arbeiten jüngeren Datums zu diesem Themenfeld sind U. Mazura, Zentrumspartei und Judenfrage 1870/71–1933, Mainz 1994 und O. Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1997. Siehe auch die Beiträge zu dem Symposium »Christian Religion and Anti-Semitism in Modern German History«, in: Central European History, Jg. 27, 1994, sowie die Beiträge zu dem Sammelband von H. W. Smith (Hg.), Protestants, Catholics and Jews in Germany, 1800–1914, Oxford 2001. Zwei Ereignisse, die ich in meinem Aufsatz schildere, sind inzwischen Thema eigenständiger Monographien. Zum »Fall Spahn« siehe C. Weber, Der »Fall Spahn« (1901), Rom 1980, zu den Geschehnissen in Konitz im Jahr 1900 siehe H. W. Smith, Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen 2002, sowie C. Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen 2002. 2 Siehe beispielsweise P. W. Massing. Rehearsal for Destruction. A Study of Political Anti-­ Semitism in Imperial Germany, New York 1949 und P. G. J. Pulzer. The Rise of Political

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katholische Ressentiments damals ausgesprochen stark zum Ausdruck gebracht, und das war die Folge zweier spezifischer Entwicklungen. Erstens wurden Juden zur Zielscheibe von Katholiken, weil sie angeblich in den liberalen Kreisen besonders einflussreich vertreten waren, die Bismarcks »Kulturkampf« gegen die Kirche unterstützten. Empört stellte man die jüngste Emanzipation der Juden den neuen Benachteiligungen für Katholiken gegenüber. Zweitens geriet der Wirtschaftsliberalismus durch den Börsenkrach des Jahres 1873 und die beginnende Wirtschaftskrise der Großen Depression allgemein in Miss­ kredit.3 Unter Katholiken war eine deutliche Tendenz auszumachen, jüdische »Betrüger« für den Verlust christlicher Ersparnisse verantwortlich zu machen und den offenkundigen Zusammenbruch eines dezidiert »jüdischen« liberalen Kapitalismus mit einer gehörigen Portion Selbstgerechtigkeit zu betrachten. Die Vorstellung vom Antisemitismus als Nemesis, als Vergeltung, die wegen ihrer angeblichen Glaubensintoleranz und ihre materiellen Habgier über die Juden hereinbricht, stand sicherlich als wirkmächtiger Impuls hinter den damaligen katholischen Einstellungen. Das lässt sich beispielsweise ablesen an den antisemitischen Artikeln, die in der Zeitung »Germania« erschienen, und an den Ansichten, die Zentrumspolitiker während der berüchtigten Debatte im Preußischen Landtag über die »Judenfrage« 1880 kundtaten.4 In der Regel wird jedoch geltend gemacht, der katholische Antisemitismus habe nach 1880 nachgelassen, weil auch die Gründe für die Ressentiments, die ihn befeuerten, verschwunden seien. Der »Kulturkampf« war zu Ende. Die Nationalliberale Partei, die ihn unterstützt hatte, verlor an Bedeutung und wurde schließlich als Regierungspartei von der Zentrumspartei selbst ersetzt. Und schließlich nahm die Reichsregierung nach 1879 sichtlich Abstand von einer liberalen Wirtschaftspolitik. Viele Katholiken und das Zentrum erfüllte das ohne Zweifel mit Befriedigung, und man hat die Ansicht vertreten, diese Veränderung habe – genauso wie andere Entwicklungen – deren Hang zum Antisemitismus verringert.5 Überdies Anti-Semitism in Germany and Austria, New York 1964. Während diese beiden Autoren für spätere Jahre zumindest einen katholischen Rest-Antisemitismus konstatieren, bestreitet R. S. Levy das. Siehe Levy, The Downfall of the Anti-Semitic Political Parties in Imperial Germany, New Haven 1975. 3 Zentral für Interpretationen der Wirtschaftskrise ist H. Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967. 4 Siehe J. Lange, Die Stellung der überregionalen katholischen deutschen Tagespresse zum Kulturkampf in Preußen (1871–1878), Frankfurt a. M. 1974, S. 124 f.; R. Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, Göttingen 1975, S. 173, Anm. 40; E. Heinen, Antisemitische Strömungen im politischen Katholizismus während des Kulturkampfs, in: ders. u. H. J. Schoeps (Hg.), Geschichte in der Gegenwart. Festschrift für Kurt Kluxen zu seinem 60. Geburtstag, Paderborn 1972, S. 286–291. 5 Massing, Rehearsal for Destruction, S. 216 f., betont, wie wichtig für die Katholiken die Regierungsbeteiligung über die Zentrumspartei gewesen sei, und vertritt darüber hinaus die Ansicht, das Wirtschaftswachstum in Gebieten wie dem Rheinland und Schlesien habe den katholischen Antisemitismus abgeschwächt. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, sind das zwar die richtigen Fragen, aber womöglich nicht die richtigen Antworten.

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wurde das Zentrum unter Ludwig Windthorst und Ernst Lieber dreißig Jahre lang von Männern angeführt, die sich einer Aufnahme des Antisemitismus als formalem Element der Parteipolitik vehement widersetzten. Insgesamt also scheinen die antijüdischen katholischen Einstellungen in den 1870er Jahren ein zwar hässlicher, aber kurzlebiger Gefühlsausbruch gewesen zu sein. Der vorliegende Aufsatz vertritt die These, dass der Antisemitismus unter deutschen Katholiken in Wirklichkeit von beträchtlicher Bedeutung war. Es geht mir dabei nicht darum, eine spezifisch religiöse Form von katholischem Antisemitismus herauszuarbeiten, sondern um die Formen von Antisemitismus, die sich innerhalb verschiedener Teile des katholischen Deutschlands vor 1914 entwickelten, und um die Art und Weise, wie diese Empfindungen politisch zum Ausdruck kamen. Natürlich gab es gewisse Umstände, die für alle Katholiken galten, allen voran eine gemeinsame Glaubensidentität und das tiefgreifende Gefühl, genau deswegen diskriminiert zu werden. Das daraus resultierende Ressentiment nahm jedoch höchst unterschiedliche Formen an; Gleiches galt für den Antisemitismus, der Teil  dieses Ressentiments war. Gerade diese Vielfalt ermöglicht es, aus den katholischen Erfahrungen allgemeinere Schlussfolgerungen zu ziehen. So beruhte beispielweise der Antisemitismus katholischer Bauern auf einer Abneigung gegen angeblich ausbeuterische jüdische Getreidehändler und Geldverleiher und ähnelte damit in vielerlei Hinsicht dem Antisemitismus unter protestantischen Bauern. Dagegen war der Antisemitismus katholischer Publizisten und Zentrumspolitiker von der verhalteneren, »respektableren« Art, wie man sie auch in anderen nicht-katholischen bürgerlichen Kreisen findet. Die Tatsache, dass der Antisemitismus bei Katholiken diese beiden Erscheinungsformen annahm, zwingt uns überdies dazu, nach dem Verhältnis zwischen beiden zu fragen. Dieses Problem ist von beträchtlicher allgemeiner Bedeutung für die Erforschung des Antisemitismus. Es spielt zudem eine zentrale Rolle für aktuelle Interpretationen des politischen Systems im deutschen Kaiserreich. Denn wir verfügen heute über bedeutsame Arbeiten, welche die manipulativen Absichten der herrschenden Elite im Deutschland dieser Zeit betonen – indem man unter anderem Sündenböcke wie die Juden dazu nutzte, um gesellschaftlich und politisch eine Form von »negativer Integration« zu erreichen.6 Zahlreiche Studien befassen sich zudem mit der politischen Selbstmobilisierung von Gruppen wie der Bauernschaft oder dem Klein6 Vgl. zu diesen Sichtweisen insbes. H.-U. Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1973. Eine gewisse Ahnung davon, welchen Beitrag Wehler und andere, ähnlich gesinnte Wissenschaftler zur historischen Debatte über das deutsche Kaiserreich geleistet haben, vermitteln die Rezensionen und Kommentare zu diesem Werk H.-G. Zmarzlik, Das Kaiser­ reich in neuer Sicht?, in: Historische Zeitschrift, Jg. 222, 1976, S.  105–126; T. Nipperdey, Wehlers »Kaiserreich«. Eine kritische Auseinandersetzung, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 1, 1975, S.  539–560; R. Berghahn, Der Bericht der preußischen Oberrechnungskammer. Wehlers »Kaiserreich« und seine Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 2, 1976, S. ­125–136; R. J. Evans, Wilhelm II’s Germany and the Historians, in: ders. (Hg.), Society and Politics in Wilhelmine Germany, London 1978, S. 11–39.

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bürgertum.7 Der Erläuterung aber bedarf die Interaktion zwischen beiden, und eine Untersuchung des Antisemitismus bei deutschen Katholiken bietet die Gelegenheit, dieses Verhältnis anhand eines speziellen Falles näher zu betrachten. Im Folgenden geht es deshalb sowohl um die Einstellungen führender katholischer Persönlichkeiten als auch um die deutlich anders gearteten Formen von katholischem Antisemitismus in der Bevölkerung. Es geht dabei aber auch um den demagogischen Steg, der zwischen beiden gelegt wurde.

II. Die Katholiken stellten im deutschen Kaiserreich gut ein Drittel der Bevölkerung, waren also eine Minderheit, die sich im Allgemeinen angegriffen fühlte. Am offensichtlichsten war das während des »Kulturkampfs« der Fall, der zur Inhaftierung von Bischöfen, Priestern und Politikern, zu staatlicher Diskriminierung bei der Besetzung offizieller Posten und zu einer gesellschaftlichen Diskriminierung in Gestalt antikatholischer Handelsboykotte führte.8 Wie wir sehen werden, hatte das katholische Gefühl der Angreifbarkeit auch nach dem Ende des »Kulturkampfs« weiter Bestand, und es ist kein Zufall, dass das politische Symbol der Zentrumspartei ein Turm war. Eine Folge davon war sicherlich, dass katholische Spitzenpolitiker zumindest eine besondere Sensibilität zeigten, wenn es um Angriffe auf andere Minderheiten ging. Ähnlich wie die deutschen Juden hatten schließlich auch sie erleben müssen, dass man sie zu »Reichsfeinden« erklärte, und sie hatten unzweifelhaft recht, wenn sie Ähnlichkeiten zwischen Bismarcks Schmähung des liberalen Lasker als »dummer Judenjunge« und seinen unflätigen Beschimpfungen für sie selbst ausmachten.9 Konkret hatte das zur Folge, dass katholische Politiker zögerten, Gesetze zu unterstützen – wie etwa das, das von den antisemitischen Parteien vorgelegt wurde –, mit denen die bürgerliche Gleichstellung der Juden eingeschränkt werden sollte. Derartige Maßnahmen hätten eine Bedrohung auch für Katholiken dargestellt, und der »Kulturkampf« hatte nur zu deutlich gezeigt, was »Aus­ nahmegesetzgebung« bedeuten konnte. Um ein Beispiel für die vorsichtige Zurückhaltung des Zentrums im Gesetzgebungsbereich zu nennen: Die Partei weigerte sich beharrlich, eine formelle Ausnahmegesetzgebung einzuführen, 7 Vgl. zu diesem Prozess bei Ladenbesitzern und Handwerkern R. Gellately, The Politics of Economic Despair: Shopkeepers and German Politics 1890–1914, London 1974 und S. Volkov, The Rise of Popular Antimodernism in Germany: The Urban Master Artisans 1873–1896, Princeton 1978. Das Konzept der Selbstmobilisierung hingegen findet sich verstreut in anderen Arbeiten. Eine Art Leitmotiv bildet es in dem von R. J. Evans herausgegebenen Aufsatzband »Society and Politics in Wilhelmine Germany«. 8 Zum »Kulturkampf« siehe E. Schmidt-Volkmar, Der Kulturkampf in Deutschland, 1­ 871–1890, Göttingen 1962. 9 Zitiert nach Wehler, Das deutsche Kaiserreich, S. 112.

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die auf das Schächtungsrecht abzielte. Ernst Lieber, Parteivorsitzender des Zentrums von 1891 bis 1902, sprach ganz offen aus, welche Überlegungen hinter dieser Zurückhaltung standen: »Wir als Minorität im Reich vergessen nicht, wie es uns ergangen ist, und können schon darum, selbst wenn uns höhere Rücksichten, tiefere Gründe nicht abhalten müssten, nicht die Hand bieten, Waffen zu schmieden, heute gegen die Juden, morgen gegen die Polen, übermorgen gegen die Katholiken.«10 Doch nicht nur gegenüber der Regierung waren Katholiken und Juden in einer ähnlich angreifbaren, gefährdeten Position. Prominente Persönlichkeiten wie Treitschke verunglimpften beide Minderheiten als deutscher »Kultur« fremd, während ein findiger antisemitischer Pamphletschreiber die Öffentlichkeit doch tatsächlich vor der Gefahr des »Juda-Jesuitismus« warnte.11 Der talentierte Verseschmied und Zeichner Wilhelm Busch gehört in eine ähnliche Kategorie; der Antisemitismus, der einen Großteil seines Frühwerks auszeichnet, findet seine Entsprechung in dem oft groben Antikatholizismus in Werken wie »Die fromme Helene« oder »Pater Filuzius«. Aggressivere Antisemiten attackierten Katholiken häufig mit zwei speziellen Vorwürfen, die normalerweise gegen Juden erhoben wurden. So trügen Katholiken, wie die Juden, angeblich die Schuld an einem Verfall deutscher Kultur und Moral.12 Zweitens beschuldigte man Katholiken des Internationalismus und des mangelnden Eintretens für deutsche Interessen – oder anders gesagt: Sie galten als Agenten der Schwarzen Internationale und nicht, wie die Juden, der Goldenen Internationale. Liebermann von Sonnenberg sprach davon, der Katholik habe seine Füße in Deutschland und seinen Kopf in Rom.13 Ähnlich machte Hermann Ahlwardt gegen Ende seiner Karriere als professioneller Antisemit gegenüber Theodor Fritsch den Vorschlag, sie sollten den Kampf gegen diese anderen internationalen Verschwörer aufnehmen, die Freimaurer und die Jesuiten.14 Es überrascht denn auch nicht wirklich, dass sich so wenige Katholiken zu den rassistisch grundierten Ansichten der antisemitischen Parteien hingezogen fühlten, wenn die Verfechter dieser Doktrin  – wie die Deutschsoziale Partei  – ein genealo­ gisches Handbuch produzierten, in dem sie nicht nur Theodore Roosevelt, Jack Johnson und Leopold von Ranke als Juden denunzierten, sondern auch acht Päpste und zahlreiche Kardinäle.15 10 R. Lill, Die deutschen Katholiken und die Juden in der Zeit von 1850 bis zur Machtübernahme durch Hitler, in: K. H.  Rengstorf u. S.  v. Kortzfleisch (Hg.), Kirche und Synagoge, Stuttgart 1970, Bd. 2, S. 384. 11 O. Beta, Darwin, Deutschland und die Juden Oder Der Juda-Jesuitismus, Berlin o. J., zitiert nach Rosenberg, Große Depression, S. 104, Anm. 101. 12 Dieser Vorwurf wurde später von NS-Autoren dem Christentum ganz allgemein gemacht. Siehe A. Miller, Völkerentartung unter dem Kreuz. Der abendländische Geistespolyp als Fluch der Welt, Leipzig 1933. 13 Levy, Downfall of the Anti-Semitic Political Parties, S. 185. 14 Massing, Rehearsal for Destruction, S. 114. 15 Levy, Downfall of the Anti-Semitic Political Parties, S. 248.

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Katholiken wurden damals häufig zusammen mit den Juden als Krebsgeschwür im Innern der deutschen Gesellschaft gesehen. Man sollte sich jedoch vor der Annahme hüten, die wechselseitigen Beziehungen zwischen solchen Minderheiten hätten sich im deutschen Kaiserreich nach dem Prinzip »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« gestaltet. In Wirklichkeit war das Verhältnis höchst ambivalent. Sicherlich widersetzten sich katholische Politiker vehement der formellen, gesetzlichen Diskriminierung von Juden, so wie sie sich – zumindest nach 1890 – auch weigerten, für offen repressive Gesetze gegen die SPD und die Arbeiterbewegung zu stimmen. Doch in keinem dieser Fälle ging diese kluge Zurückhaltung mit irgendeinem echten Gefühl der Verbundenheit einher. Im Gegenteil: Das Gefühl der Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit konnte Katholiken unter bestimmten Umständen eher weniger tolerant gegenüber anderen bedrohten Gruppen machen, wenn sie gegen diejenigen zuschlugen, die sie als Verfolger und weniger als Leidensgenossen betrachteten. Das war zweifellos der Fall, als es in den späten 1870er Jahren zu antijüdischen Ausfällen von Katholiken und der Zentrumspartei kam.16 Tatsächlich lässt sich dieses Phänomen schon 1872 beobachten, nämlich anhand der Bemerkungen, die ein prominenter Politiker der schlesischen Zentrumspartei, von Ballestrem, über das Wahlplakat seines Hauptkonkurrenten machte: »An der Spitze dieses Plakats fiel mir das Eiserne Kreuz und unser altpreußischer Wahlspruch ›Mit Gott für König und Vaterland‹ in die Augen. Ich konnte den inneren Zusammenhang dieser Überschrift mit dem Inhalt des Schriftstücks nicht herausfinden. Nach dem letzteren hätte es besser gepasst, wenn an der Spitze alles, nur nicht ein Kreuz, am besten Schurzfell und Kelle sowie der Wahlspruch: ›Mit den Juden für die Liberalen und Freimaurer‹ angebracht gewesen wäre.«17 Das illustriert sehr schön die Ambivalenzen und Wechselströmungen, welche die Beziehungen zwischen verschiedenen gefährdeten Gruppen im deutschen Kaiserreich bestimmten. Wenn, wie wir gesehen haben, die antisemitischen Parteien Katholiken und Freimaurer in einen Topf warfen, so war es auf katholischer Seite üblich, Freimaurer und Juden in einen Topf zu werfen. Die 1870er Jahre waren denn auch kein Einzelfall eines von Furcht genährten katho16 Bei der »Germania«, der am stärksten antisemitischen Zeitung des Zentrums, verbüßten fünf Redakteure in einer bestimmten Phase des »Kulturkampfs« Gefängnisstrafen, darunter der besonders aggressive Antisemit und Reichstagsabgeordnete Paul Majunke, der während einer Parlamentssitzung unter heftigem Protest verhaftet wurde. Siehe Lange, Die Stellung der überregionalen katholischen deutschen Tagespresse, S.  86, und M.  ­Stürmer, Regierung und Reichstag im Bismarckstaat 1871–1880, Düsseldorf 1974, S. 130. Wie wichtig der Antisemitismus war, wenn es darum ging, angesichts eines Angriffs von außen »die Reihen zu schließen«, zeigt die Tatsache, dass die »Schlesische Volkszeitung«, die die »Germania« wegen ihrer antisemitischen Artikel ursprünglich heftig attackiert hatte, sich nach Vorwürfen, sie lasse es an Solidarität mangeln, der Pressekampagne anschloss. Siehe Heinen, Antisemitische Strömungen, S. 272. 17 Wahlkampfrede in Oppeln, 11. März 1872, Nachlass Ballestrem, Mappe IV, in privatem Familienbesitz. Ich danke der Familie Ballestrem, dass sie mir Einblick in diese Papiere gewährt hat.

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lischen Antisemitismus. So sah sich das Zentrum 1907 mit einem so heftigen antikatholischen Wahlkampf konfrontiert, wie es ihn seit dem »Kulturkampf« nicht mehr gegeben hatte. Verantwortlich dafür machte man, wie in den 1870er Jahren, eine unheilige Allianz aus Regierung und Liberalen; und erneut flackerten in der Partei wieder antisemitische Gefühle auf.18 Und auch nach den Niederlagen des Zentrums und den beachtlichen Erfolgen der SPD bei den Reichstagswahlen 1912 veröffentlichte Martin Spahn, ein junger Zentrumspolitiker, der selbst prominentes Opfer antikatholischer Vorurteile geworden war, einen heftig antisemitischen Artikel in der Zeitschrift »Hochland«, in dem er die Juden zum Sündenbock für den Linksruck in Deutschland erklärte.19 Ein derartiger Antisemitismus entzündete sich somit, wenn sich Katho­liken von außen angegriffen fühlten. Solche Reaktionen hatten demnach etwas Launenhaftes, Unberechenbares an sich; zugleich aber waren sie Ausfluss eines tiefsitzenden Ressentiments gegen den Juden als solchen, das sich aus dem katholischen Empfinden herleitete, nicht nur als religiöse Minderheit, sondern auch wirtschaftlich und gesellschaftlich diskriminiert zu werden. Es waren die Umstände dessen, was als »katholische Rückständigkeit« bekannt wurde, die den katholischen Antisemitismus wirklich befeuerten. Gemessen an der Gesamtbevölkerung nämlich waren Katholiken im deutschen Kaiserreich in ärmeren Landstrichen und Kleinstädten überrepräsentiert, während sie in den wohlhabenderen Orten und Großstädten unterrepräsentiert waren. Überdurchschnittlich viele Katholiken verdienten ihren Lebensunterhalt mit Landwirtschaft und Kleingewerbe, während es in den Bereichen Industrie, Handel und freie Berufe unterdurchschnittlich viele waren. Gradmesser dieser Situation war auch, dass Katholiken relativ wenig Steuern zahlten.20 Im Gegensatz dazu waren Juden aufgrund der historisch völlig anderen Formen von Diskriminierung, denen sie unterworfen waren, in mittleren und großen Städten ebenso überrepräsentiert wie in bestimmten Geschäftsfeldern und in den freien Beru18 So attackierte beispielsweise die »Germania« während des Reichstagswahlkampfs den »nationalkatholischen«, also gegen das Zentrum eingestellten Bürgermeister von Wilms in Posen mit folgendem Hinweis: »Daß ausdrücklich die Juden ihm ihr Wohlwollen geschenkt haben, wird wohl deutlich genug zeigen, wo ein solcher Abgeordneter zu finden wäre, wenn z. B. über den Rest des Jesuitengesetzes u.s.w. abzustimmen wäre.« Zitiert nach H. Bodewig, Geistliche Wahlbeeinflussungen in ihrer Theorie und Praxis dargestellt, München 1909, S. 5. 19 Spahn war 1901, mit gerade einmal 26 Jahren, auf einen Lehrstuhl für Geschichte an der Universität Straßburg berufen worden. Dahinter standen ohne Zweifel politische Erwägungen, aber der Aufschrei, den die Berufung auslöste, war auch von antikatholischen Empfindungen geprägt. Schilderungen der »Spahn-Affäre« finden sich in Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender 1901, München 1902, S. 145–147, und R. J. Ross, Beleaguered Tower. The Dilemma of Political Catholicism in Wilhelmine Germany, Notre Dame 1976, S. 26–28. 20 Zur Frage der »katholischen Rückständigkeit« siehe J. Rost, Die wirtschaftliche und kulturelle Lage der deutschen Katholiken, Köln 1911; A. Neher, Die wirtschaftliche und soziale Lage der Katholiken im westlichen Deutschland, Rottweil 1927; C. Bauer, Deutscher Katholizismus. Entwicklungslinien und Profile, Frankfurt a. M. 1964.

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fen und zahlten relativ viel Steuern. Diese Disparität zwischen Katholiken und Juden spiegelte sich auch in den Bildungsstatistiken. So waren an preußischen Gymnasien 1896 64,1 Prozent der Schüler Protestanten, 27,5 Prozent waren Katholiken und 8,2 Prozent Juden. An den Realgymnasien lagen diese Zahlen bei 79, 12,6 bzw. 8,5 Prozent.21 Noch deutlicher fiel der Gegensatz zwischen der relativ geringen Zahl an Katholiken und der relativ großen Zahl an Juden an den Universitäten aus, insbesondere bei Studentinnen. Als das Problem der »Rückständigkeit« irgendwann im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine ganze Generation katholischer Führungspersönlichkeiten zu beschäftigen begann, wurden solcherart Statistiken häufig zitiert, oft mit antisemitischen Untertönen. Als beispielsweise der prominente Publizist Hans Rost seine katholischen Glaubensgenossen dazu ermuntern wollte, an bayerischen Universitäten eine größere Rolle zu spielen, verwendete er das höchst pejorative Attribut »verjudet«, um einige dieser Universitäten und ihre Professoren zu beschreiben.22 Von ähnlichem Zungenschlag waren Rosts Bemerkungen über die Geschäftswelt. »Wer«, so fragte er klagend, »hätte es nicht schon erlebt, dass Geschäftsaufträge, Weihnachtseinkäufe, Warenbestellungen von Katholiken, ja selbst von katholischen Vereinen und geistlichen Personen an Juden und Andersgläubige« gegeben worden seien. Es sei, fuhr er fort, »höchst bedauerlich, wenn so viele Einkäufe für den Christbaum, wenn Kruzifixe und Heiligenstatuen, Gebetsbücher und Bilder bei Juden gekauft werden«. Doch das war noch nicht alles: »Dass in Lourdes fast alle Verkaufsläden für Devotionalien, Rosenkränze, Gebetbücher, Reiseandenken in Händen von Juden sind, ist eine vielleicht wenig bekannte, aber trotzdem unbestreitbare bedauernswerte Wahrheit.« Rost behauptete, bayerische Pilger seien das Opfer ähnlicher Umstände.23 Rost wollte die Katholiken damit natürlich auch dazu drängen, mehr unternehmerische Energie zu zeigen; dass das wünschenswert sei, meinte auch ein Gegner des Antisemitismus wie Ludwig Windthorst.24 Doch Rosts Argumente enthielten auch einen eindeutigen Angriff auf die »unlauteren« oder geradezu »unanständigen« Methoden, mit denen sich Juden angeblich ihre ökonomische 21 Rost, Die wirtschaftliche und kulturelle Lage, S.  100. Für dieses chronische katholische Bildungsdefizit gab es eine Reihe von Gründen. Dazu gehörten die oft lauwarme oder sogar feindselige Einstellung gegenüber Bildung (vor allem die von Frauen) in vielen katholischen Gemeinden, sowie die Neigung, begabte junge Katholiken für den Priesterberuf »abzuschöpfen«. 22 Ebd., S. 205. Rost fragte, wo in Bayern und in den anderen Staaten der Mann sei, der »mit Luegerschem Freimute die Eroberung der Universitäten für positivgesinnte Katholiken und Protestanten fordert«. 23 Ebd., S. 202 f. 24 Doch selbst im Falle Windthorsts scheint das Thema der unternehmerischen Trägheit von Katholiken unweigerlich das jüdische Gegenbild wachgerufen zu haben: »Die Juden nisten gerne in katholischen Orten, weil die Katholiken faul sind; unsere Geistlichen predigen zu viel von den Vögeln und Blumen des Feldes, die nicht säen und nicht ernten und doch ihren Lebensunterhalt haben.« H. Cardauns, Adolf Gröber, Mönchengladbach 1921, S. 43.

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Vorrangstellung gesichert hatten. So verwies er etwa auf die Tausenden von katholischen Hausfrauen, die sich durch die »jüdischen Warenhäuser« in dem »falschen Glauben [freuten], recht billig und gut gekauft zu haben und [sie] sind hocherfreut, wenn sie bei größeren Einkäufen noch einige Exemplare schlimmer Zolascher Romane geschenkt erhalten«.25 Derartige Argumente wurden, freilich ohne derart fantasievolle Ausschmückung, Allgemeingut bei prominenten Zentrumspolitikern. Karl Bachem, der spätere Historiker der Partei, verwies auf »das vordrängende Judentum«,26 während sein Cousin Julius in den 1890er Jahren mit dem Zentrumsvorsitzenden Lieber über ein Gesetz korrespondierte, das »jüdische Geschäftsauswüchse« eindämmen sollte.27 Tatsächlich erinnerten die Diskussionen, die im Reichstag über Vorschläge des Zentrums zur Eindämmung »unlauteren Wettbewerbs« geführt wurden, an Debatten über die »Judenfrage«.28 Ähnliche Ansichten finden sich in den Reden von Matthias Erzberger während des Reichstagswahlkampfs 1912, wo er sich abschätzig über die angeblichen Machenschaften derjenigen äußerte, die »mobiles Kapital« besäßen.29 Die Erfahrung, einer, wie man selbst sehr wohl wusste, rückständigen Minderheit im deutschen Kaiserreich anzugehören, prägte die Form des Antisemitismus, wie ihn die Führer des Zentrums und andere bürgerliche Katholiken an den Tag legten, in zweifacher Weise. Sie beförderte einerseits Ressentiments, während sie gleichzeitig deren Artikulation Grenzen setzte. Die Wut, die W ­ indthorst angesichts des Antisemitismus verspürte – er drohte deswegen sogar mit seinem Rückzug aus der Partei30 –, war ungewöhnlich; Gleiches galt aber auch für den geifernden Antisemitismus, wie ihn einige katholische Politiker, Journalisten und Akademiker artikulierten. Am verbreitetsten war vermutlich eine Abneigung gegenüber Juden, die einer Feindseligkeit recht nahe kam, aber nicht nur durch ein katholisches Gefühl der Verwundbarkeit, sondern auch durch die bürgerliche Abscheu gegenüber einem hetzerischen Antisemitismus gedämpft wurde. Tatsächlich bildeten solche Einstellungen eine katholische Variante des »respektablen« bürgerlichen Antisemitismus. Diese Tonlage erfasste sehr schön Hermann Cardauns, Redakteur der einflussreichen »Kölnischen Volkszeitung«, in seiner Biographie des süddeutschen Zentrumsführers Adolf Gröber. Über ihn schrieb sein Biograph: »Er ist kein Judenfreund, bekämpft aber das Schächtverbot.«31 25 Rost, Die wirtschaftliche und kulturelle Lage, S. 202. 26 In einer Notiz von 1880, zitiert nach Heiner, Antisemitische Strömungen, S. 282, Anm. 99a. 27 Pfälzische Landesbibliothek Speyer, Nachlass Ernst Lieber, B. 216. Julius Bachem an Lieber, 11. Januar 1893. Auch zitiert nach J. K. Zeender, The German Center Party 1890–1906, Philadelphia 1976, S. 46. 28 S. Zucker, Ludwig Bamberger: German Liberal Politician and Social Critic 1823–1899, Pittsburgh 1975, S. 250. 29 Siehe beispielsweise seine Rede in Wolfegg am 9. Dezember 1911, dokumentiert in Waldseer Wochenblatt, 12. Dezember 1911. 30 Zeender, The German Center Party, S. 14. 31 Cardauns, Adolf Gröber, S. 152.

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III. Zwar wurde die oben geschilderte Form von Antisemitismus in der Regel nur verhalten geäußert, doch galt das nicht für das ganze katholische Deutschland. Im Folgenden geht es deshalb um das Verhältnis zwischen »respektablem« und volkstümlichem Antisemitismus. Letzterer war ebenfalls ein Produkt der katholischen Rückständigkeit: Katholiken waren in den ärmeren, entlegeneren Regionen Deutschlands konzentriert, und dort gab es bei den Bauern beträchtliche Vorbehalte gegenüber dem jüdischen Geldverleiher und Viehhändler,32 so wie es bei katholischen Handwerkern Feindseligkeit gegenüber der gern beschworenen Gestalt des hartherzigen jüdischen Geschäftsmanns und Bankiers gab. Die verbreitete Judenfeindschaft war Teil allgemeinerer Vorbehalte gegenüber angeblich parasitären oder gefährlichen Außenseitern, zu denen zu verschiedenen Zeitpunkten im 19. Jahrhundert auch der Verwalter des Großgrundbesitzers, der Steuerbeamte und der Hausierer gehörten. Doch ähnlich wie der Zigeuner33 blieb auch der Jude dauerhafte Zielscheibe dieser Art von gemeinschaftlicher Missbilligung, was sich an zwei Fällen zeigt, die ein halbes Jahrhundert auseinanderliegen und bei denen die Feindseligkeit bis zur Androhung körperlicher Gewalt ging. 1848 war der Radikalismus katholischer Bauern (wie auch der Radikalismus protestantischer Bauern) durchsetzt mit einem Antisemitismus, der sich gegen den Juden als Symbol des fremden Außenseiters richtete.34 Ähnlich kam es in der niederrheinischen Stadt Xanten 1891 und in der westpreußischen Stadt Konitz 1900 zu zutiefst feindseligen katholischen Gefühlsaufwallungen, als unaufgeklärt gebliebene örtliche Verbrechen bei der Bevölkerung zu Vorwürfen führten, dabei habe es sich um jüdische Ritualmorde gehandelt.35 In diesen Fällen, wie auch 1848, manifestierte sich der Antisemitismus in Gestalt eines gewalttätigen Provinzialismus. Ein zentrales Merkmal dieses Provinzialismus freilich war es, dass bestimmte Außenseiter durchaus Akzeptanz finden konnten, wenn sie lokale antisemi­ 32 In der Autobiographie des Metzgers Bernhard Gottron findet sich eine interessante Schilderung des Verhältnisses zwischen Bauern und Juden in der Gegend von Mainz etwa zur Jahrhundertmitte: »Als es noch keine Darlehenskassen und dergl. gab, wurden die Juden auf dem Lande besonders beim Viehhandel um Kredit angesprochen. In dieser Eigenschaft wurden die Juden von der Allgemeinheit meist einseitig und mitunter ungerecht beurteilt. Wenn z. B. der Geldleiher einem Bauern Sachen verstiegen ließ, weil er trotz allen Wartens weder Zinsen noch Kapital erhalten konnte, dann hieß es allgemein: ›Der schlechte Jude hat den armen Mann aufs Stroh gelegt.‹ Oder wenn einem Kreditlosen mehr als 5 % abverlangt wurden, dann wurde der Jude als Wucherer öffentlich gebrandmarkt.« B. Gottron, Erlebtes und Erlauschtes aus dem Mainzer Metzgergewerbe im 19. Jahrhundert, Mainz 1928, S. 33. 33 Für eine detaillierte Schilderung eines gewaltsamen Zusammenstoßes zwischen den Bewohnern eines kleinen katholischen Dorfes und einer Gruppe von Zigeunern siehe Der Oberländer, 10. November 1896, Bericht mit der Überschrift »Zigeunerschlacht«. 34 Siehe V. Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848/49, 2 Bde., Berlin 1930/31. 35 Massing, Rehearsal for Destruction, S. 108.

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tische Gefühle aufgriffen und bedienten. Das galt etwa für das Verhältnis zwischen dem Banditen Schinderhannes und den katholischen Bauern im Hunsrück.36 Und es galt in einem etwas anderen Sinne für die Bauernadvokaten im katholischen Südwesten Deutschlands, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Wohlwollen stießen, als sie in Fällen von Kreditwucher Bauern vertraten.37 In der zweiten Jahrhunderthälfte jedoch war dieser Freibrief von den Banditen und Advokaten auf die Politiker übergegangen. Es war die Zentrumspartei mitsamt ihren Zeitungen und Unterstützungsorganisationen, die nun für sich in Anspruch nahm, die Interessen der katholischen Bauern und Handwerker zu vertreten; und mit dem Beschützermantel übernahm sie auch einige Ansichten des in der Bevölkerung verbreiteten Antisemitismus. Der Antisemitismus wurde zu einem wichtigen Charakteristikum des sich in den 1860er Jahren herausbildenden politischen Katholizismus. Die Judenemanzipation, die in diesem Jahrzehnt in den meisten deutschen Staaten endgültig erreicht wurde,38 war in den armen katholischen Landstrichen und Kleinstädten unpopulär, vor allem weil sie in Staaten wie Baden und Bayern von liberal-bürokratischen Regimen umgesetzt wurde, deren andere Reformen bei den Katholiken ebenfalls auf allgemeine Ablehnung stießen. Die Emanzipation wurde deshalb, zusammen mit staatlichen Eingriffen in die kirchliche Bildung und Maßnahmen, mit denen größere Handelsfreiheit und Bürgerrechte garantiert wurden, als weiterer Fall einer legislativen Einmischung von »außen« verurteilt, die verbreiteten katholischen Empfindungen und Bedürfnissen zuwiderlief. Unter diesen Umständen wurde der Antisemitismus ohne große Probleme Teil  des allgemeineren antiliberalen und antibürokratischen Kurses, den die politischen Vorläufer des Zentrums – katholische Parteien wie die bayerische Patriotenpartei oder die Katholische Volkspartei in Baden – einschlugen.39 Im Gefolge dessen eroberte der Antisemitismus des Stammtischs die öffentliche Bühne. Welche Rolle der Antisemitismus im Rahmen des politischen Mobilisierungsprozesses der Katholiken spielte, zeigte sich ganz deutlich in den 1870er Jahren anhand der neu gegründeten Zentrumspartei. Angesichts religiöser Verfolgung, wirtschaftlicher Not und liberaler legislativer Dominanz im Reichstag stimmten mehr als 80 Prozent der Katholiken, die zur Wahl gingen, für diese 36 C. Küther, Räuber und Gauner in Deutschland. Das organisierte Bandenwesen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 1976, S. 27, 46, 111, 114, 115, Anm. 63. 37 Siehe beispielsweise den Fall des Andreas Wiest: C. Bauer, Politischer Katholizismus in Württemberg bis zum Jahr 1848, Freiburg i. B. 1929, S. 128. 38 In Bayern wurde sie 1861 erreicht, in Württemberg 1861–1864, in Baden 1862 und in Preußen sowie im Norddeutschen Bund 1869. 39 Zu Baden siehe L. Gall, Die Problematik des badischen Kulturkampfes, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Jg. 113, 1965, S. 151–196; und Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, S. 37–73, insbes. S. 71–73. Die bayerische Patriotenpartei in den 1860er Jahren wird behandelt bei G. C. Windell, The Catholics and German Unity. 1866–71, Minneapolis 1954. Siehe auch K. Möckl, Die Prinzregentenzeit. Gesellschaft und Politik während der Ära des Prinzregenten Luitpold von Bayern, München 1972, S. 36–39.

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Partei.40 Verstärkt wurde diese Einheit noch durch gemeinsame äußere Feinde, zu denen insbesondere der Jude gehörte, der angeblich den religiösen und wirtschaftlichen Frieden störte. Führende Zentrumspolitiker wie Julius Bachem und Peter Reichensperger, wichtige Zeitungen wie die »Germania« und Organisationen wie der Westfälische Bauernverein verliehen gängigen antisemitischen Vorurteilen durch ihre Seriosität Gewicht. Sie alle trugen, in unterschiedlichen Tonlagen, dazu bei, die Vorstellung vom Juden als Christenfeind und Wucherer zu bestärken; und alle rechtfertigten die Artikulation ihrer Ansichten mit dem beliebten Argument, die Juden seien selbst schuld an ihrer Unbeliebtheit.41 Die Bereitschaft der Zentrumspartei, in den 1870er Jahren die antisemitische Karte auszuspielen, war insofern bemerkenswert, weil sich prominente Personen und Zeitungen daran beteiligten und weil es zu einer Zeit geschah, in der ganz allgemein verstärkt antijüdische Ressentiments zum Ausdruck kamen. Wie wir gesehen haben, war das für den politischen Katholizismus in Deutschland nichts Neues; und die 1870er Jahren markierten auch nicht das Ende dieses Kurses. Es ist zweifellos richtig, dass viele der nationalen Voraussetzungen, die das Zentrum in seinem Antisemitismus bestärkt hatten, nur in den 1870er Jahren so gegeben waren: der »Kulturkampf«, der Beginn der Großen Depression, die liberale Dominanz im Reichstag sowie das kurzfristige taktische Bedürfnis, eine gemeinsame politische Basis mit den Konservativen zu finden (was 1879 schließlich auch gelang).42 Richtig ist auch, dass Windthorst und Lieber ein systematisches Einbringen des Antisemitismus in die nationale Politik des Kaiserreichs durch das Zentrum verhinderten. Auf lokaler Ebene aber blieb der Antisemitismus auch über die 1870er Jahre hinaus ein bedeutsames Merkmal der Zentrumspartei. Das hatte auch damit zu tun, dass die Umstände, die ihn in Staaten wie Baden und Bayern in den 1860er Jahren und auf nationaler Ebene in den 1870er Jahren befördert hatten, auf lokaler Ebene weitgehend unverändert fortbestanden. Da war zunächst die weiter bestehende ökonomische Rückständigkeit der Katholiken, die sich weniger rasch verbesserte als das katholische Bewusstsein dafür zunahm. Mit Beginn der Wirtschaftskrise sahen 40 R. Morsey, Die deutschen Katholiken und der Nationalstaat zwischen Kulturkampf und dem Ersten Weltkrieg, in: Historisches Jahrbuch, Bd. 90, 1970, S. 35. 41 Siehe zum Beispiel Reichenspergers Rede, zitiert nach Heinen, Antisemitische Strömungen, S.  286–288, sowie den Artikel in der »Germania« vom 15.  November 1880, zitiert ebd., S. 283. 42 In den Jahren 1878/79 wurden das Sozialistengesetz verabschiedet und Schutzzölle erlassen, es begann eine reaktionäre Säuberung des preußischen Beamtenapparats, der politische Liberalismus geriet in die Defensive, und die Zentrumspartei näherte sich der Regierung und den Konservativen an. Die Bedeutung dieser miteinander zusammenhängenden Ereignisse als Wendepunkte ist in jüngeren Arbeiten besonders – und vielleicht zu sehr – betont worden. Siehe insbes. Rosenberg, Große Depression; H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848–1881, Köln 1966; Wehler, Das deutsche Kaiserreich; Stürmer, Regierung und Reichstag.

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sich katholische Bauernschaft und Kleinbürgertum sogar mit neuen wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, die aus niedrigen Preisniveaus, steigenden Kosten und der zunehmenden Macht großer Industrie- und Handelskonglomerate erwuchsen.43 Da die einzelnen Bundesstaaten innerhalb des Reiches und die lokalen Behörden als Arbeitgeber und bei der Vergabe öffentlicher Aufträge sowie als Wohlfahrtseinrichtungen immer wichtiger wurden, nahmen auch die Möglichkeiten für Diskriminierung und Geringschätzung der Katholiken (ob tatsächlich oder nur gefühlt) entsprechend zu.44 Die Verbitterung der Katholiken über die Regierung war deshalb in den Bundesstaaten und Kommunen weiterhin sehr groß; und sie wurde durch ein weiteres wichtiges Element im lokalpolitischen Leben noch verstärkt. Der liberale Einfluss im Reichstag war nach den 1870er Jahren deutlich geschwunden, doch auf lokaler Ebene war das keineswegs durchgängig der Fall. In zahlreichen Rathäusern und Länderparlamenten waren liberale oder »liberal regierende« Gruppierungen bis zum Jahrhundertende weiterhin einflussreich oder sogar dominant; befördert wurde das üblicherweise durch eine restriktive Handhabung des Stimmrechts und mitunter sogar durch unverhohlene Wahlkreismanipulationen, deren Opfer häufig Katholiken waren.45 Angesichts dieser Umstände überrascht es nicht wirklich, dass das Zentrum erfolgreich die Rolle als »Außenseiter«-Partei übernahm und an das verbreitete katholische Gefühl des Ausgeschlossenseins, der Diskriminierung und der Vernachlässigung appellierte. In den Jahren zwischen 1880 und der Jahrhundertwende wuchs das Zentrum auf lokaler Ebene zu einer mächtigen Massenpartei heran, indem es Katholiken, die bislang nicht wählen gegangen waren, an die Urnen lockte, teilweise ehemals liberale Wähler für sich gewann und teilweise die eigene wachsende Stärke nutzte, um für sich günstige Wahlrechtsreformen durchzusetzen.46 Im Zuge dieser politischen Mobilisierung, die umfassender und nachdrücklicher als frühere Bemühungen erfolgte, war der Antisemitismus wieder Teil  des allgemeiner gegen die Regierung und gegen die Libera43 Ich habe darüber an anderer Stelle mehrfach geschrieben. Siehe etwa D. Blackbourn, The Poli­tical Alignment of the Centre Party in Wilhelmine Germany. A Study of the Party’s Emergence in Nineteenth Century Württemberg, in: Historical Journal, Jg. 18, 1975, S. ­821–850. 44 Verletzte amour-propre konnte es auf persönlicher wie auf gemeinschaftlicher Ebene geben. Sie war eine Reaktion des Katholiken, der aufgrund von Diskriminierung keine Stelle in der öffentlichen Bibliothek oder im Schlachthof bekam. Sie war aber auch eine Reaktion der vielen katholischen Gemeinden, die sich übergangen fühlten, wenn es um die Bereitstellung von Agrarbeamten, Eisenbahnlinien und so weiter ging. 45 Zu den Wahlkreisschiebungen in Baden siehe J. Schofer, Erinnerungen an Theodor Wacker, Karlsruhe 1921, S.  15, 84 f.; für das Rheinland siehe Pfälzische Landesbibliothek Speyer, Nachlass Ernst Lieber, T. 20, Karl Trimborn an Lieber, 1. August 1898, und H. Cardauns, Karl Trimborn, Mönchengladbach 1922, S. 83–87. 46 Zum Drängen des Zentrums auf eine Wahlreform 1906 in Bayern und zu den positiven Aus­ wirkungen siehe Möckl, Die Prinzregentenzeit, S. 491–532. Zu den ganz ähnlichen Auswirkungen der Reform von 1904 in Baden siehe Schofer, Erinnerungen, S. 86–88.

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len gerichteten Programms des Zentrums. Der überhebliche liberale Jurist, der ungreifbare manipulative Kapitalist und der abgehobene Staatsbeamte – allesamt Großstadtbewohner – wurden als Feinde des unterdrückten katholischen Bauern, Handwerkers und Kleinstadtbewohners politisch stigmatisiert; und der Jude wurde entweder als einer von ihnen präsentiert oder zumindest als ihr Handlanger in der unmittelbaren Gemeinschaft.47 Wieder einmal wurden die Werte des Stammtischs in eine umfassendere populistische Ideologie integriert. Es ist nicht leicht zu rekonstruieren, auf welchen Wegen der Rohstoff des »Volksempfindens« in eine derartige politische Ideologie – oder Dämonologie – umgewandelt wurde. Man kann das jedoch versuchen, indem man einige der wichtigsten Institutionen innerhalb der Zentrumspartei unter die Lupe nimmt, über die antisemitische Unterstellungen hoffähig gemacht und befördert wurden. Im Folgenden will ich vier von ihnen näher betrachten, auch wenn diese Auflistung keineswegs vollständig ist. Da waren erstens die katholischen Bauernvereine. Zum Ende des Jahrhunderts gab es sie in allen großen deutschen Bundesstaaten: Institutionell ver­ körperten sie den mächtigen Agrarflügel der Partei und bedienten sich eines politischen Vokabulars, das stark antisemitisch eingefärbt war. Das galt nicht nur für die bekannteren Vereine in Westfalen und im Rheinland, an deren Spitze Adlige standen, die dem konservativen rechten Parteiflügel angehörten.48 Es galt auch für die Vereine in Regionen wie Bayern, Baden, Württemberg und Trier, deren Führung weitgehend in den Händen des örtlichen Klerus lag. Diese Landwirtschaftsorganisationen richteten ihr Augenmerk besonders auf die Alltagsprobleme der katholischen Primärproduzenten  – Kredite, Vermarktung, die Frage von Preisabsprachen unter den Düngemittelherstellern – und übernahmen noch weitaus systematischer die Rolle der einstigen Bauern­ advokaten, indem sie Beschwerden der Landwirte vor Gericht brachten. So reichte der Trierer Verein zwischen 1884 und 1918 in insgesamt 13.500 Fällen Anti-Wucher-Klagen gegen Geldverleiher und Hopfen-, Wein-, Holz-, Getreideund Tabakhändler ein.49 Mit diesen Aktivitäten präsentierten sich die Vereine 47 Zum Hintergrund dieser politischen Attraktivität des Zentrums vgl. D. Blackbourn, The Problem of Democratisation: German Catholics and the Role of the Centre Party, in: Evans (Hg.), Society and Politics, S. 160–185. 48 Der Vorsitzende des Westfälischen Bauernvereins, Burghard Freiherr von Schorlemer-Alst, hatte 1880 zu den prominenten Antisemiten in der Zentrumspartei gehört. Zu seiner konservativ-bäuerlichen Haltung in den 1880er und insbes. in den 1890er Jahren siehe den langen Rückblicksartikel in der Kölnischen Volkszeitung, 28. Mai 1912; K. Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei, 9 Bde., Köln 1927–32, Bd. 5, S. 23 f., 291 f.; T. Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien von 1918, Düsseldorf 1961, S. 277–280. Zu Felix von Loë und dem Rheinbund siehe K. Müller, Zentrumspartei und agrarische Bewegung im Rheinland. 1882–1903, in: K. Repgen u. S.  Skalweit (Hg.), Spiegel der Geschichte. Festgabe für M. Braubach zum 10. April 1964, Münster 1964, S. ­828–857. 49 F. Jacobs, Deutsche Bauernführer, Düsseldorf 1958, S. 76.

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als Beschützer der Bauern; und der Appell an den Bauern, sich zu organisieren und selbst zu helfen, war üblicherweise mit der Aufforderung verbunden, sich aus den Fängen des Juden zu befreien.50 Da war zweitens der Volksverein für das katholische Deutschland. Die 1890 auf Initiative Windthorsts gegründete Vereinigung war bis 1914 auf über 850.000 Mitglieder angewachsen und bildete die Massenorganisation des Zentrums (das selbst keine Parteimitgliedschaft kannte).51 Sie wurde vom Rheinland aus zentral verwaltet, also von der Region aus, in der der politische Katholizismus organisatorisch im Allgemeinen am fortschrittlichsten war und in dem Ruf stand, politisch modern zu sein. Der Verein bildete mit Sicherheit ein institutionelles Gegengewicht zum reaktionären klerikalen Einfluss innerhalb des Zentrums und produzierte eine eindrucksvolle Menge an Pamphletliteratur zur sozialen Frage; sie war auf die Bedürfnisse von Parteirednern abgestimmt, die sich an gesellschaftliche Gruppen aller Art wandten, darunter auch an die katholische Arbeiterklasse.52 Doch in den Kleinstädten und ländlichen Gebieten, wo der überwiegende Teil der Zentrumswähler lebte, zeugten die Treffen des Volksvereins nicht wirklich von fortschrittlichen Gesellschaftsvorstellungen. Geleitet wurden sie üblicherweise vom örtlichen Pfarrer, und der Ton der Berichte lässt darauf schließen, dass Juden ähnlich wie Regierungsvertreter, Liberale und Freimaurer häufig und zumeist automatisch Gegenstand tiefer Verachtung waren. So machte bei einem solchen Treffen beispielsweise der Redner folgende Bemerkung zu lokalen staatlichen Vorschlägen, die, von Links­ liberalen nachdrücklich unterstützt, das Bildungsangebot deutlich ausweiten wollten: »Die Demokraten wollen zwar, daß jeder Volksschüler so weit gebracht wird, daß er sich später gegen jede Not sichern kann und keinem Juden mehr in die Hände fällt. Demgegenüber ist jedoch zu halten, dass schon hochstudierte Bauern ein Opfer der Wucherjuden geworden sind.«53 Drittens müssen wir die Lokalpresse berücksichtigen. Die Zahl der lokalen Blätter der Zentrumspartei nahm in den 1880er und 1890er Jahren enorm zu, und sie verstärkten nur allzu oft antisemitische Einstellungen. Beispielhaft dafür ist der Umgang mit Nachrichten aus Österreich: Angriffe auf die kirchliche 50 Zeender, German Center Party, S. 13. 51 O. Fricke (Hg.), Die bürgerlichen Parteien in Deutschland 1830–1945, 2 Bde., Leipzig ­1968–70, Bd. 2, S. 810. 52 Zum modernen, nicht-klerikalen Auftreten der Volksvereins-Führung siehe Historisches Archiv der Stadt Köln, Nachlass Karl Bachem, 1006/59, Memorandum von Bachem zur Gründung des Vereins; Cardauns, Karl Trimborn, S.  73; Nipperdey, Die Organisation, S. 281. 53 Bericht über das Treffen des Volksvereins in Schussenried, in: Waldseer Wochenblatt, 13.  Mai 1897. Bei einem früheren Treffen im gleichen Jahr am gleichen Ort bezeichnete ein anderer Kleriker die liberalen Bildungsreformer als »Wölfe in Schafskleidern, welche nach jüdischer Vampirart das niedere Volk aussaugen und es nicht bloß um seine irdischen, sondern auch himmlischen und ewigen Güter bringen«. Waldseer Wochenblatt, 11.  Februar 1898.

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Bildung galten als Beleg für »das Juden- und Freimaurer-Regiment in Österreich«. Der Deutschnationale Wolf »geht bei den Wahlen stets Hand in Hand mit den Juden«; und Karl Lueger, einer der Lieblingshelden der Zentrums-­ Redakteure, wurde für seinen Mut gelobt, sich gegen »die Börsianer und die Großjuden samt den Tintenjuden« zu stellen.54 Ganz ähnlich bot die Dreyfus-­ Affäre einen gute Gelegenheit für Attacken gegen »die Juden und Freimauer, die am Steuerruder des französischen Staatsschiffs sitzen«.55 Auch über Neuigkeiten aus Deutschland, landesweite wie lokale, wurde in antisemitischer Manier berichtet. So galt die »Frankfurter Zeitung« gemeinhin als »Judenblatt«, während in Berichten über Insolvenzverfahren jüdischer Unternehmen die Namen der Beteiligten mit einem Ausrufezeichen versehen oder fett gedruckt waren.56 In Artikeln, die sich mit Börsenangelegenheiten, Agrarpreisen oder dem Einzelhandel (und hier insbesondere mit dem Reizthema Warenhaus) befassten, wurde der angeblich üble Einfluss von Juden beinahe selbstverständlich erwähnt. Überdies warben örtliche Zentrums-Blätter in Anzeigen für andere Werke, die ihrerseits antisemitisch waren: beispielsweise für Kirchenkalender57 oder für eine dreißig Pfennig teure Streitschrift, ein »ganz populär und packend geschriebenes Werkchen« mit dem Titel »Vamphyr oder das Wucherjudentum«, das »sich von jeder Übertreibung fernhält. Es wäre sehr zu wünschen, daß dieses Werkchen in allen Schichten der Bevölkerung, hauptsächlich auf dem Lande verbreitet würde«.58 Und da gab es schließlich die lokalen Zentrumspolitiker. So wie die meisten Anhänger des Zentrums eher mit einer Lokalzeitung als etwa mit der deutlich sachlicheren »Kölnischen Volkszeitung« vertraut waren, so hatten sie natürlich auch eher Kontakt zu Lokalpolitikern als zu den Honoratioren des Zentrums im Reichstag und in den Parlamenten der Einzelstaaten (und viele Führungspolitiker der Partei auf einzelstaatlicher Ebene hatten auch in Berlin politische Verpflichtungen). Die Zahl und vermutlich auch die Bedeutung solcher Politiker vor Ort nahmen mit der Intensivierung der Zentrums-Politik für die breite Bevölkerung in den 1880er und 1890er Jahren zu; und mit der wachsenden Präsenz des Zentrums in einzelstaatlichen und kommunalen Parlamenten entstand eine eigene Gruppierung von Hinterbänklern und Stadträten, die als direktes Sprachrohr für lokale, kirchturmpolitische Interessen galten. Sie spielten als Pfarrer, Volksschullehrer oder Schultheissen in ihren eigenen kleinen Gemeinden oft eine sehr prominente Rolle, und ihr Status als gewählte Volksvertreter, die gleichwohl »einer aus dem Volk« waren, verlieh den von ihnen vertretenen Positionen eine gewisse Legitimität, mitunter auch gewaltsamen Ausdrucks­ formen von Antisemitismus. Dafür ließen sich viele Beispiele nennen, aber ein 54 Waldseer Wochenblatt, 15. Januar 1895, 4. Dezember 1897, 6. Februar 1898. 55 Ebd., 14. März 1897. 56 Siehe beispielsweise die Ipf-Zeitung (Bopfingen), 3. Januar 1899. 57 Wie etwa der »Kalender für Zeit und Ewigkeit«. Siehe Lill, Die deutschen Katholiken, S. 376. 58 Waldseer Wochenblatt, 23. April 1895.

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besonderer Fall macht vielleicht das Gefüge dieser populistischen Politik etwas deutlicher. Von 1895 bis zu seinem Tod 1902 vertrat Theophil Egger im Landtag von Württemberg den Wahlkreis Ravensburg.59 Der pensionierte Volksschullehrer beteiligte sich mit seinen über achtzig Jahren unermüdlich an den Parlamentsdebatten.60 Dabei kritisierte er in schöner Regelmäßigkeit »jüdische« Warenhäuser scharf, warf dem Gesetzgeber vor, er orientiere sich zu sehr an jüdischen Finanzinteressen, verlangte, die Militärführung des Landes solle ihre Pferde direkt beim Bauern und nicht »beim Juden« kaufen, und berichtete im Parlament von einem Gerichtsverfahren in seinem Wahlkreis, bei dem es um einen jüdischen Pferdehändler ging. Egger war mit Sicherheit ein eigenbrötlerischer Außenseiter: Er wetterte auch vehement gegen das Fahrrad als Gefahr für die ländliche Lebensweise; doch er war auch typisch für viele andere in der Direktheit, mit der er gängige Ansichten als politische Anliegen artikulierte. Für viele seiner überwiegend ländlichen Wähler personifizierte Egger zweifellos die Politik des Zentrums an der Jahrhundertwende. Landwirtschaft und Kleingewerbe machten bis 1914 mehrheitlich die Wählerschaft des Zentrums aus,61 doch für den Anspruch der Partei, Katholiken aller Gesellschaftsschichten zu vertreten, war besonders wichtig, dass man die wachsende Zahl von Wählern aus der katholischen Arbeiterklasse nicht an die Linken verlor. Auch dabei spielte der Antisemitismus in der Politik des Zentrums eine Rolle. Von Seiten der Partei gab es keinen systematischen Versuch, Adolf Stöckers Unterfangen der 1880er Jahre nachzuahmen: die Arbeiter von der Sozialdemokratie wegzulocken, indem er ihnen den »Sozialismus der dummen Kerle« als Alternative schmackhaft zu machen suchte.62 Die Leiter des Volksvereins etwa, der gegründet worden war, um katholische Arbeiter innerhalb des Zentrums zu halten, enthielten sich aller antisemitischen Appelle. Das galt allerdings nicht überall für die Zentrumspartei. Matthias Erzbergers Charakterisierung der freien Gewerkschaften als »stark verjudet« ist nur zu gut bekannt.63 In Elsass-Lothringen reagierte eine Generation junger klerikaler Aktivisten innerhalb des Zentrums in den 1890er Jahren mit einem ähnlich antisemitischen Gegenangriff auf die Herausforderung durch die Sozial-

59 Zu Egger siehe meine Dissertation D. Blackbourn, The Centre Party in Wilhelmine Germany. The example of Württemberg, Cambridge 1976, S. 150 f., 310 f. 60 1900 behauptete er, in den vorangegangenen fünf Jahren über 300 Mal im Landtag geredet zu haben. Schwäbischer Merkur, 3. Dezember 1900. 61 Wie man errechnet hat, galt das für 78 der 113 Wahlkreise, die das Zentrum und seine Bündnispartner bei den Reichstagswahlen 1907 gewonnen hatten. H. Gabler, Die Entwicklung der Parteien auf landwirtschaftlicher Grundlage von 1871–1912, Diss., Berlin 1934, S. 16. 62 Trotzdem hatte Stöcker einige merkwürdige Bewunderer in der Zentrumspartei wie etwa Karl Trimborn. Siehe Cardauns, Karl Trimborn, S. 106. 63 K. Epstein, Matthias Erzberger and the Dilemma of German Democracy, Princeton 1959, S. 42; G. Lewy, The Catholic Church and Nazi Germany, London 1964, S. 270.

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demokratie.64 Es war üblich, dass die Parteizeitungen und diejenigen, die auf lokalen Versammlungen des Zentrums sprachen, die Aufmerksamkeit auf die Juden lenkten, die in der deutschen (und österreichischen) Sozialdemokratie eine herausgehobene Rolle spielten. Paul Singer, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Deutschen Reichstag, scheint eine besonders beliebte Zielscheibe gewesen zu sein, sowohl als reicher Jude wie als Führungsfigur der SPD. Tatsächlich folgten Angriffe auf Singer und andere Juden einem gängigen Muster: Ehrliche katholische Arbeiter, so wurde behauptet, seien von Natur aus loyal gegenüber der Kirche und der bestehenden Gesellschaftsordnung, würden jedoch durch die Einflüsterungen jüdisch-sozialistischer Agitatoren verführt. Tatsächlich hatte das Zentrum vor 1914 in Städten wie Köln, Dortmund, Straßburg oder München unter einem beträchtlichen Verlust an Unterstützung aus der katholischen Arbeiterklasse zu leiden.65 Die Haltung der meisten führenden Zentrumspolitiker zu sozialen Fragen war weiterhin paternalistisch geprägt, und die Wirtschaftspolitik der Partei, insbesondere ihr Eintreten für Agrarzölle, war bei katholischen Arbeitern weithin ausgesprochen unpopulär. Es ist aber durchaus möglich, dass die Brandmarkung der Sozialdemokratie als jüdisch beeinflusst Auswirkungen auf bestimmte andere katholische Gruppen hatte, für die die SPD attraktiv hätte sein können – beispielsweise kleine Handwerkermeister, die zu kämpfen hatten, Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und Kleinbauern. Fest steht, dass Zeitungen, Politiker und der örtliche Klerus in ländlichen Gebieten die katholischen Bauern und Kleinbürger dazu animierten, möglichst unschöne Schlussfolgerungen hinsichtlich des jüdischen Einflusses innerhalb der Sozialdemokratie zu ziehen.

IV. Dieser Aufsatz hat drei Schlussfolgerungen anzubieten. Zwei betreffen seine Relevanz im Rahmen der fortlaufenden Diskussion über das politische System des deutschen Kaiserreichs; die dritte blickt etwas weiter darüber hinaus auf das allgemeinere Problem des katholischen Antisemitismus und seines Bezugs zur nationalsozialistischen »Machtergreifung«. Zahlreiche jüngere Arbeiten zum 64 D. P. Silverman, Political Catholicism and Social Democracy in Alsace-Lorraine, 1871–1914, in: Catholic Historical Review, Bd. 52, 1966, S. 59. Silverman befasst sich freilich in erster Linie mit den Angriffen des Zentrums auf die Großindustrie als »Judenindustrie« und weniger mit den Versuchen, die Sozialdemokratie als jüdisch beeinflusst zu brandmarken. 65 Zwischen 1874 und 1912 sank der Anteil der katholischen Wählerstimmen für das Zentrum von 83 auf 54,6 %. Vieles deutet darauf hin, dass die größten Verluste dabei in der katholischen Arbeiterklasse zu verzeichnen waren. Zu den Problemen des Zentrums mit der katholischen Arbeiterklasse siehe Ross, Beleaguered Tower, S. 79 ff. Eine zeitgenössische Sichtweise bietet O. Hue, Die katholischen Arbeiter und das Zentrum, in: Neue Zeit, Bd. 2, 1903, S. 473–476.

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deutschen Kaiserreich haben die Vorstellung entwickelt, dass eine schmale herrschende Elite den sozialen und politischen Status quo vor 1914 zu festigen versuchte, indem sie potenziell reformerische Energien in andere Kanäle lenkte. Illiberale und chauvinistische Werte, so die These, seien von oben mittels einer Außenpolitik, die innenpolitischen Zwecken diente, und durch Organisationen wie die Armee, die Kirchen und die Schulen befördert worden. Es besteht kein Zweifel, dass diese Arbeiten einen wertvollen Beitrag zu unserem Verständnis der Politik im Kaiserreich geleistet und wichtige Anregungen für die Forschung zu diesem Thema gegeben haben. Ebenso wenig aber lässt sich bezweifeln, dass Phänomene wie der Antisozialismus, die antienglischen Einstellungen und der Antisemitismus in der Folge vor allem unter instrumentellen Aspekten betrachtet wurden, als Ergebnis einer gezielten Manipulation der in der Bevölkerung bestehenden Unsicherheiten und Ängste durch eine kleine Elite. Wie ich an anderer Stelle ausgearbeitet habe, wird dieses Modell im Allgemeinen weder dem kollektiven Verhalten deutscher Katholiken noch den Ursachen für dieses Verhalten wirklich gerecht.66 Schaut man sich den katholischen Antisemitismus an, so scheint das diese Sichtweise zu bestärken. Der katholische Antisemitismus war mit Sicherheit verbreiteter, als Histo­ riker bislang üblicherweise angenommen haben, aber er war nicht das Er­gebnis einer derartigen Indoktrination oder eines Ablenkungsmanövers. Am wichtigsten für seine Entstehung war die eigene Erfahrung der Rückständigkeit, der Unterdrückung, der Diskriminierung und der Missachtung, die Katholiken in verschiedenster Weise machten. Diese Erfahrung bestimmte, welche Formen der katholische Antisemitismus annahm. Bei bürgerlichen Katholiken richtete sich das Ressentiment vor allem gegen den post-emanzipatorischen Erfolg von Juden in bestimmten Wirtschaftszweigen und Berufen, in Bereichen also, in denen die Katholiken selbst merklich unterrepräsentiert waren. Bei den katholischen Bauern und Kleinbürgern dagegen war der Antisemitismus vernehmlicher Ausdruck der Feindseligkeit gegenüber den Juden als angeblich parasitären Außenseitern. Die Entstehung des katholischen Antisemitismus aus der katholischen Erfahrung bestimmte auch darüber, welche Formen er nicht annahm; und das war genauso wichtig. Die Tatsache, dass der politische Katholizismus in Deutschland seine Basis vor allem auf dem Land und in Kleinstädten hatte und dass die Führung des Zentrums vor allem diesen Anhängerkreis im Auge hatte, trug dazu bei, dass man sich gegen das Aufkommen eines urbanen katholischen »Radau-Antisemitismus« wandte, wie er sich in Berlin oder Dresden entwickelte. Auch mit Blick auf Ausnahmegesetze wurden die natürlichen Überzeugungen der Zentrums-Führung durch die kluge Erkenntnis verstärkt, dass Katholiken ebenfalls eine gefährdete Minderheit waren. In allgemeinerer Hinsicht wurde das offene Eintreten katholischer Spitzenpoli­ tiker für antisemitische Vorstellungen dadurch erschwert, dass sie selbst die 66 Siehe D. Blackbourn, The Problem of Democratisation, in: Evans (Hg.), Society and Politics, S. 160–185.

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Erfahrung machen mussten, als »Reichsfeinde« hingestellt zu werden; ähnlich wurde ihr heißblütiges Eintreten für den Militarismus aufgrund der eigenen Erfahrung antikatholischer Diskriminierung durch die preußische Armee deutlich erschwert. Antisemitische Empfindungen und ähnliche Haltungen wurden im Kaiserreich ohne Zweifel auf zynische Weise manipuliert  – allerdings nicht immer durch die Regierung, die herrschende Elite und deren Institutionen. Im Falle der Katholiken lässt sich ein solches Verhalten durchaus auch der Führung der Zentrumspartei attestieren; denn der Antisemitismus hatte mit Sicherheit seinen Platz in der Politik des Zentrums, und zwar infolge eines Prozesses, der ein gängiges Vorurteil in politische Form gegossen hatte. Der Wesenskern dieses Prozesses liefert die zweite Schlussfolgerung dieses Aufsatzes. Als es darum ging, bei der katholischen Bevölkerung Unterstützung zu mobilisieren, war die Führung der Zentrumspartei sicherlich nicht blind für die politische Nützlichkeit antisemitischer Positionen: Inwieweit sollte man also in diesem Zusammenhang von Manipulation von oben, inwieweit von Druck von unten sprechen? Wie sah die relative Bedeutung von Push- und Pull-Faktoren aus? Dieser Aufsatz hat zu zeigen versucht, dass hier tatsächlich ein Prozess in beiden Richtungen ablief. Einerseits scheinen kaum Zweifel zu bestehen, dass antisemitische Ansichten bei Anhängern des Zentrums weit verbreitet waren. Das galt insbesondere für die katholische Bauernschaft und das Kleinbürgertum, wo der Antisemitismus eine Form von »umgeschlagenem« emanzipatorischem Impuls darstellte: ein widerspenstiges, oftmals gewalttätiges Gefüge von Reaktionen, in denen ein tiefsitzendes Gefühl des Ausgebeutetwerdens und der Missachtung – wirtschaftlich, gesellschaftlich und institutionell – zum Ausdruck kam. Das erinnerte im Grunde an die antielitären Regungen der protestantischen Bauern und Kleinbürger, die zur gleichen Zeit in Hessen, Thüringen und Sachsen zu beobachten waren und die mittels antisemitischer Parteien zum Ausdruck kamen. Wie die allgemeinere bäuerliche und kleinbürgerliche Unzufriedenheit, deren Bestandteil er war, konnte dieser Strang des katholischen Antisemitismus in der Bevölkerung führende Zentrumspolitiker aber auch mit Empörung und Sorgen erfüllen. Politisch gesehen, stellte er sowohl Gefahr als auch Chance dar. So notierte Lieber 1894 voller Sorge, wenn sich das Zentrum auflösen würde, würden die Wähler auf dem Land zu den antisemitischen Parteien wechseln.67 Führende Zentrumspolitiker verschiedener Ebenen trugen jedoch selbst dazu bei, dass dieses Problem auftrat, weil sie sich nur zu gerne verbreitete antisemitische Empfindungen zunutze machten. In dieser Frage – wie auch in anderen Bereichen, die ihre bäuerlichen und kleinbürgerlichen Anhänger betrafen, wie etwa bei Zöllen, Warenhaussteuern und der Wiedereinführung von Zünften – drehten sie ihr Fähnlein nach dem Wind und befeuerten auf dema­ gogische Weise Geisteshaltungen, die sich gegen die politischen Gegner der Partei in Stellung bringen ließen: gegen Regierungen, gegen Liberale, gegen So67 Zeender, German Center Party, S. 46

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zialisten. So gab es beispielweise in Bayern um die Jahrhundertwende bei der Bevölkerung große Vorbehalte gegen die oft in jüdischem Besitz befindlichen großen Warenhäuser: Neben Forderungen nach speziellen Beschränkungen und Steuern für diese Kaufhäuser organisierten verbitterte Ladenbesitzer die physische Störung ihres Geschäftsbetriebs.68 Vor diesem Hintergrund erklärte einer der Zentrums-Führer in Bayern gegenüber dem Kaufhausbesitzer Oscar Tietz: »Lieber Tietz, mir mussten was gegen die ›kochende Volksseele‹ tun; die woll’n ’ne Warenhaussteuer; mir wissen, dass das eine Ungerechtigkeit und eine wirtschaftliche Dummheit ist, aber die anderen sein die mehreren; lassen’s Ehna taufen, dann san’s a Katholik, und wir können’s abbiegen.«69 Doch solche speziellen Umsatzsteuern für Warenhäuser erwiesen sich für die Probleme kleiner Ladenbesitzer als ebenso irrelevant wie die physischen Störmanöver. Die Politik des Zentrums lief in Wirklichkeit darauf hinaus, solche Begehrlichkeiten zu nähren statt sie zu befriedigen, sowie sie antisemitische Haltungen eher bestärkte als zu verhindern suchte. Ein ähnlicher Prozess war auf allen Ebenen des Zentrums zu beobachten. Persönlichkeiten wie Theophil Egger, der württembergische Landtagsabgeordnete, sicherten sich ihre eigene lokale Beliebtheit dadurch, dass sie sich eines antisemitischen Vokabulars bedienten; Egger war überdies nicht der einzige, der diese Popularität seinerseits nutzte, um den Bemühungen der Zentrumsführung, ihm seinen Parlamentssitz wegzunehmen, zu begegnen. Auf der einzelstaatlichen Ebene wiederum wurde die Nützlichkeit dieser Art von Politik stillschweigend anerkannt. Selbst die Führungsspitzen des Zentrums übten sich gelegentlich in ostentativer Demagogie; zwar versuchten sie sich in der Regel von den wüsteren Forderungen eines Mannes wie Egger abzugrenzen, doch das galt eher für die Form als für die inhaltliche Substanz dessen, was gefordert wurde. Politische Strategien mit populären antisemitischen Untertönen wie die Warenhaussteuer wurden offiziell übernommen und lediglich der aggressiv-wuchtigen Terminologie entkleidet, in der in Kleinstädten und Dörfern weiterhin darüber diskutiert wurde. Was den Antisemitismus betraf, so griff die Zentrumsführung ihn auf, ohne ihn beim Namen zu nennen. Das galt auch auf nationaler Ebene. So griff das Zentrum beispielsweise in den 1890er Jahren eine Reihe von Vorschlägen zu Getreidetermingeschäften und »unlauterem Wettbewerb« auf, die in der Bevölkerung als Angriffe auf das »jüdische Kapital« gesehen wurden. Im Reichstag wurden sie nicht in antisemitischer Manier vorgebracht; aber in seiner privaten Korrespondenz verwies Julius Bachem auf die Notwendigkeit, »jüdische Geschäftsauswüchse« einzudämmen, und es gibt keinerlei Zweifel, dass derartige Maßnahmen in den Parlamenten genauso ge­

68 Zum Hintergrund des warenhauskritischen Gefühls in Bayern und anderen Staaten vgl. J. Wernicke, Kapitalismus und Mittelstandspolitik, Jena 1907, S. 546–738. 69 G. Tietz, Hermann Tietz. Geschichte einer Familie und ihrer Warenhäuser, Stuttgart 1965, S. 46.

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sehen wurden. Auch hier fehlten die antisemitischen Etikettierungen; aber jeder wusste, was das Paket enthielt. Der Antisemitismus verschwand somit nach den 1870er Jahren keineswegs aus der Politik des Zentrums. Er existierte nicht als ein Gefüge formaler Forderungen und Strategien; doch seine Grundannahmen hatten stillschweigend Eingang in die Politik der Partei gefunden. Tatsächlich wurde der Antisemitismus auf die gleiche Weise in der Zentrums-Politik institutionalisiert wie bei den Vorkriegskonservativen und dem Bund der Landwirte.70 Über einen längeren Zeitraum war dieser Prozess hier sogar noch erfolgreicher, und das erlaubt uns eine dritte und letzte Schlussfolgerung. In den 1920er Jahren war es für die DNVP und den Reichslandbund schwieriger als für ihre konservativen Vorläufer im Kaiserreich, sich durch derartige demagogische Anpassungen den Rückhalt der Bevölkerung zu sichern. Der Druck von unten war ähnlich stark wie in den 1880er und 1890er Jahren, und Ende der 1920er Jahre mussten die Kräfte auf der politischen Rechten feststellen, dass diejenigen, deren Unzufriedenheit sie zu nutzen versucht hatten, abtrünnig geworden waren. Der Niedergang der DNVP auf politischer Ebene und bei den Wählern trug dazu bei, dass die Unterstützung für die Nationalsozialisten anschwoll. Im Gegensatz dazu konnte die Zentrumspartei in ihrem Eintreten gegen die NSDAP weiter auf ihre Anhängerschaft zählen. Das hatte zumindest zum Teil mit ihrer eigenen erfolgreichen, wenn auch weniger schrillen Demagogie zu tun. Mit dem Antisemitismus – wie auch mit anderen politischen Themen, auf die die Nationalsozialisten setzten, wie dem Antikommunismus, den Nöten des Mittelstands und der Stellung der Frau – hatte das Zentrum für seine Anhänger bereits eine stillere Version des gleichen Angebots zu bieten. Das hatte natürlich auch noch etwas ganz anderes zur Folge: Das Zentrum trug wie die DNVP dazu bei, ein politisches Klima zu schaffen, in dem die Nationalsozialisten zunehmend respektabel erschienen. Damit konnte das Zentrum bei Wahlen bis 1933 überleben; es war jedoch nicht in der Lage, der nationalsozialistischen Machtübernahme moralisch oder politisch irgendwie ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen.

70 Siehe insbes. H.-J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich 1893–1914. Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, Hannover 1966.

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3. Marpingen: Marienerscheinungen in Deutschland1 Im Europa des 19. Jahrhunderts geschah es immer wieder, dass Tausende, wenn nicht gar Hunderttausende von Menschen zu entlegenen Orten strömten, wo angeblich die Jungfrau Maria erschienen war. Diese Wallfahrtsbewegungen wurden von Zeitgenossen mit den Kreuzzügen verglichen. Sie waren eines der offensichtlichsten Zeichen der großen religiösen Erneuerung des 19. Jahrhunderts und bildeten einen Kontrapunkt zu den politischen Umwälzungen, die unser Bild jener Zeit prägen. Das bekannteste Beispiel ist zweifellos Lourdes, und wer sich überhaupt Gedanken über diese Geschehnisse macht, wird sie in der Regel mit vorwiegend katholischen Ländern wie Frankreich, Italien oder­ Irland assoziieren, wo eine ganze Reihe solcher Erscheinungen im 19.  Jahrhundert von der Kirche offiziell anerkannt wurden. Aber auch in Deutschland gab es Marienerscheinungen, und eine von ihnen steht im Mittelpunkt dieses Aufsatzes. Die modernen religiösen Erscheinungen traten in Wellen auf. Zu einer solchen Welle kam es im Anschluss an die französische Revolution, und zwar in Frankreich selbst, in Italien und im französisch besetzten Deutschland. Eine weitere Serie von Erscheinungen finden wir in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, diesmal vor allem in Frankreich. Hierzu zählen die 1 Als dieser Aufsatz 1995 erstmals erschien, hatte ich kurz zuvor eine ausführliche Studie zu diesem Thema veröffentlicht: D. Blackbourn, Marpingen. Apparitions of the Virgin Mary in Bismarckian Germany, Oxford 1993 und New York 1994. In deutscher Übersetzung erschien dieses Buch dann unter dem Titel: Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen – Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Reinbek bei Hamburg 1997. Zehn Jahre später wurde es, mit einer neuen Einleitung versehen, wieder aufgelegt: Drei Mädchen aus Marpingen. Die Bismarck-Zeit und der Wirbel um das »deutsche Lourdes«, Saarbrücken 2007. In einigen Fußnoten verweise ich für Belege und weitere Details auf einzelne Kapitel dieses Buches. In den letzten zwanzig Jahren sind zahlreiche Arbeiten zu Marienerscheinungen entstanden. Vgl. W. A. Christian, Visionaries. The Spanish Republic and the Reign of Christ, Berkeley 1996; R. Harris, Lourdes. Body and Spirit in the Secular Age, Harmondsworth 1999; P. Dondelinger, Die Visionen der Bernadette Soubirous und der Beginn der Wunderheilungen in Lourdes, Regensburg 2003; A. M. Zumholz, Volksfrömmigkeit und katholisches Milieu. Marienerscheinungen in Heede 1937–1940, Cloppenburg 2004; A. Kotulla, Nach Lourdes! Der französische Marienwallfahrtsort und die Katholiken im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, München 2006; M. Scheer, Rosenkranz und Kriegsvisionen. Marienerscheinungskulte im 20. Jahrhundert, Tübingen 2006; M. Hauf, Marienerscheinungen. Hintergründe eines Phänomens, Düsseldorf 2006; H.  Zander, Maria erscheint in Sievernich. Plausibilitätsbedingungen eines katholischen Wunders, in: A. C. T. Geppert u. T. Kössler (Hg.), Wunder, Berlin 2011, S. 146–176.

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Visionen der Novizin Cathérine Labouré in Paris (1830) und die zweier Hirten­ kinder in dem Alpendörfchen La Salette (1846). Die größte Erscheinungswelle im Europa des 19.  Jahrhunderts ereignete sich im Anschluss an die berühmten Geschichte der Bernadette Soubirous in Lourdes im Jahr 1858. In den folgenden zwanzig Jahren grassierten die Marienvisionen: in Frankreich, Italien, Irland, Böhmen und polnisch-sprachigen Gebieten und auch in Deutschland. Bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte sich das Phänomen der Marienerscheinung soweit etabliert, dass es andere Formen religiöser Visionen verdrängte, die noch ein Jahrhundert zuvor weit verbreitet gewesen waren  – brennende Kruzifixe, bärtige, zerlumpte alte Männer, Raupenplagen, Himmelsomen (wenn auch die 1871 aus Pontmain gemeldete »Jungfrau am Himmel« zeigte, dass die neue Form durchaus Elemente der alten Formen integrieren konnte).2 Die Jungfrau Maria stand im Mittelpunkt der Erscheinungswelle zwischen den Weltkriegen, die auf das Wunder von Fatima im Jahr 1917 folgte. Um sie drehten sich die Visionen, die sich in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre quer durch Europa zogen  – von Frankreich und Italien über Deutschland bis nach Ungarn, Polen und Rumänien. Und dasselbe galt auch für die neue Erscheinungsserie der achtziger Jahre in Jugoslawien, der Ukraine, Deutschland und Irland sowie  – außerhalb von Europa  – in Ägypten und Uganda, den USA und Nicaragua. Doch die modernen Erscheinungen gleichen sich auch in anderen Aspekten immer mehr: im 19. Jahrhundert bildete sich das Charakteristikum heraus, dass es sich bei den Sehern vorwiegend um Kinder oder Frauen handelte, und es wurde üblich, dass die Erscheinung eine »Botschaft« offenbarte.3 Dieser Trend zur Gleichförmigkeit lässt sich allgemein auf verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten zurückführen, spezifischer jedoch auf die zunehmende Standardisierung der Devotionalformen. So wurde insbesondere Lourdes zu einer Art Schablone für nachfolgende Erscheinungen.4 Die modernen Erscheinungen lassen sich jedoch nicht gänzlich durch den Nachahmungseffekt erklären, obgleich dieser Faktor nachweislich eine Rolle spielte. Ebensowenig sind sie durch individual-psychologische Erklärungen hinreichend fassbar. Richtig ist, dass sich im Vorleben der Seher gewisse durchgängige Motive finden. Bei den Kindern und halbwüchsigen Mädchen, die den größten Teil  dieser Personengruppe ausmachten, lässt sich generell eine besondere seelische Belastung kurz vor dem fraglichen Zeitpunkt nachweisen – 2 R. Laurentin u. A. Durand, Pontmain. Histoire authentique, 3. Bde, Paris 1970, Bd. 1. Un signe dans le ciel. 3 M. L. Nolan u. S. Nolan, Christian Pilgrimage in Modern Western Europe, Chapel Hill 1989, S. 266–289; V. Turner u. E. Turner, Image and Pilgrimage in Christian Culture, Oxford 1978; dies., Postindustrial Marian Pilgrimage, in: J. Preston (Hg.), Mother Worship, Chapel Hill 1982, S. 145–173. 4 Vgl. Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 1; ebenso H. Thurston, Beauraing and Other Appari­ tions, London 1934; B. Billet u. a. (Hg.), Vraies et fausses apparitions dans I’Eglise, Paris 1973; M. P. Carroll, The Cult of the Virgin Mary, Princeton 1986, S. 115 ff.

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typischerweise der Verlust des Vaters oder der Mutter oder plötzliche elterliche Vernachlässigung, oft in Verbindung mit einer weiteren gravierenden Veränderung, dem Überschreiten einer bestimmten Schwelle. Manche der jungen Seher waren in Pflege gegeben oder zur Arbeit von daheim weggeschickt worden, andere hatten gerade mit der Schule begonnen oder standen kurz vor der Erstkommunion. Die Kinder waren häufig zu einem Zeitpunkt mit Mariengeschichten in Berührung gekommen, da sie besonders empfänglich für die Tröstungen einer »wahren Mutter« waren, die sie nicht verlassen oder vernachlässigen würde. Und wir sollten auch nicht vergessen, dass diese Kinder gewöhnlich arm und auf irgendeine Weise »Außenseiter« waren  – viele von ihnen dienten auf Bauernhöfen oder im Haushalt, andere übten den »unehrlichen Beruf« des Schäfers aus, wieder andere hatten vor kurzem den sozialen Abstieg ihrer Familie erlebt, so etwa die junge Bernadette Soubirous, die mit ihrem Vater, einem bankrotten Müller, Lumpen und schmutzige Krankenhauswäsche sammelte.5 Die Visionen verliehen den Sehern Prestige und Autorität. Unter Berufung auf die Worte der Heiligen Jungfrau konnten sie bestimmen, wer sich dem Erscheinungsort nähern durfte, wie sich die Leute dort zu verhalten hatten, welche Prozeduren absolviert werden mussten, damit eine Wunderheilung eintreten konnte. Sie gaben Anweisung, dass Kapellen errichtet werden sollten, behaupteten, Geheimnisse empfangen zu haben, die sie nicht weitererzählen dürften, prophezeiten schlimme Strafen für die Sünder – und die Skeptiker. Der neue Status eröffnete den Kindern auch Möglichkeiten der Auflehnung. ­Eugène­ Barbedette, einer der kleinen Seher von Pontmain, wurde in Fougères von einer Gruppe prominenter Katholikinnen und Nonnen gefragt, ob die Heilige Jungfrau einer von ihnen ähnlich gesehen habe. »Nein,« antwortete er, »im Vergleich zur Heiligen Jungfrau seid ihr alle häßlich.«6 Wenn viele dieser Kinder und Jugendlichen vor ihrer Vision ein Aschenbrödeldasein geführt hatten, so erlebten sie jetzt die für dieses und andere Märchen so typische Umkehrung der Rollen. Ähnliches gilt auch für die erwachsenen Wunderseher  – der Romantiker Clemens von Brentano verglich eine dieser Personen, Anna Katharina Emmerick, ausdrücklich mit Aschenbrödel.7 Die betroffenen Frauen – und es waren fast ausschließlich Frauen – waren in der Regel kurz vorher mit Krankheit und Tod konfrontiert gewesen und hatten oft innerhalb der Familie oder Gemeinde eine Randposition inne. Erwachsene Frauen erlangten ebenso wie die Kinder oder Jugendlichen große Autorität als Sprachrohr göttlichen Missfallens, und in 5 Zu Lourdes, R. Laurentin und B. Billet, Lourdes. Dossiers des documents authentiques, 7 Bde., Paris 1958–66, Bd. 1, S. 75 ff., 131–135; Carroll, Cult of the Virgin, S. 158 f. Allgemein, Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 1. 6 Laurentin, Durand: Pontmain, ebd., S. 65. 7 C. Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 28:1 u. 28:2: Anna Katharina Emmerick-Biographie, hg. v. J. Mathes, Stuttgart 1981, S.  14. Zu Brentano und Emmerick vgl. H.  Graef, Mary. A history of doctrine and devotion, 2 Bde. London 1963, Bd. 2, S. 386.

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vielen Fällen scheinen sie diese Autorität – bewusst oder unbewusst – genutzt zu haben, um sich an einer unfreundlichen Umwelt zu rächen. Manchmal geißelten sie die Mächtigen für ihre Sünden. Eine 18jährige aus der Normandie, die wegen Brandstiftung inhaftiert worden war, kehrte in ihr Dorf zurück und berichtete von schrecklichen Prophezeihungen der Heiligen Jungfrau für den Fall, dass versäumt würde, eine Kapelle zu Ehren Unserer Lieben Frau von La S­ alette zu errichten. Die himmlischen Maßregeln und Warnungen aus dem Mund der Dienstmagd Estelle Faguette aus Pellevoisin waren kein Einzelfall: andere junge Frauen verkündeten damals in Frankreich ähnliche Dinge.8 Die Umkehr der Autoritätsverhältnisse war zwar gewöhnlich weniger dramatisch und von ihrem Inhalt her weniger apokalyptisch, spielte aber stets eine Rolle. Der Respekt, den die Visionen den Frauen eintrugen, eröffnete ihnen die Möglichkeit, harte Arbeitspflichten abzuschütteln. Genau wie Krankheit war der Status der Seherin eine Zuflucht der Schwachen und zugleich eine Möglichkeit, in verschleierter Form gegen faktische oder vermeintliche schlechte Behandlung aufzubegehren. Viele dieser Elemente finden sich bei dem Erscheinungswunder im kleinen böhmischen Philippsdorf im Jahr 1866. Magdalena Kade war eine dreißig­ jährige ledige Weberstochter, deren Leben von Krankheit gezeichnet war, unter anderem von einem Krampfleiden. Ihr Vater starb, als sie 13 war, und der Bruder übernahm das elterliche Haus. Nachdem auch ihre Mutter 1861 gestorben war, zog Magdalena 1864 zu einer anderen Familie, den Kindermanns. 1865 wurde sie von einem anderen Dorfbewohner in einer Reihe von Schmähschriften verunglimpft. Nachdem ihr Bruder sie wegen erneuter Krankheit wieder zu sich genommen hatte, lag sie zwischen den Schlafgängern ihres Bruders unter einem Bild der »schmerzhaften Mutter«. Die Erscheinungen begannen vier Wochen nach der Rückkehr in ihr Geburtshaus. Nachdem eingetreten war, was die Jungfrau Maria ihr verheißen hatte (»Mein Kind, von jetzt ab heilt’s«), wurde Magdalena großes ärztliches Interesse zuteil. Um sie herum entstand ein lokaler Kult um »Maria, das Heil der Kranken«. Tausende von Pilgern strömten in das Dorf und die Wunderseherin wurde von Priestern und einflussreichen Persönlichkeiten hofiert.9 Dieser Ansatz ist sicher ergiebiger als der Versuch, die Wunderseher lediglich als ein Bündel klinischer Symptome darzustellen. Aber selbst wenn wir die ein-

8 J. Devlin, The Superstitious Mind. French Peasants and the Supernatural in the Nineteenth Century, London 1987, S. 152 f.; R. Ernst, Maria redet zu uns. Marienerscheinungen seit 1830, Eupen 1949, S. 39–41; T. de Cauzons: La magie et Ia sorcellerie en France, Paris 1911, Bd. 4, S. 597–617. 9 F. Storch, Maria, das Heil der Kranken. Darstellung der ausserordentlichen Vorfälle und wunderbare Heilungen, welche im Jahre 1866 zu Philippsdorf in Böhmen sich ereignet haben, Georgswalde o. J.; P. Sausseret, Erscheinungen und Offenbarungen der allerseligsten Jungfrau Maria, Regensburg 1878, Bd. 2, S. 244–249; W. J. Walsh, The Apparitions and­ Shrines of Heaven’s Bright Queen, 4 Bde., New York 1904, Bd. 4, S. 59–70.

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zelnen Vorfälle auf diese Weise interpretieren, statt sie in der Manier von Zeitgenossen wie Charcot oder Krafft-Ebing auf eine Kategorie wie »Hysterie« zu reduzieren, bleibt der Erklärungswert doch begrenzt.10 Denn dies waren keine individuellen, sondern kollektive Phänomene. Äußerer Druck und emotionale Belastung liefern in der Regel Anhaltspunkte dafür, warum die Erscheinungen gerade zu diesem Zeitpunkt eintraten, und äußere Stressfaktoren der einen oder anderen Art erklären sicherlich, warum die Geschehnisse eine solche Resonanz fanden. Wenn wir die Erscheinungswellen einmal genauer betrachten, springen einige gemeinsame Elemente ins Auge. Eins ist der Hintergrund beklemmender Kriegs- oder Nachkriegssituationen, vom Napoleonischen Europa über die italienischen Einigungskriege oder den Preußisch-Französischen Krieg bis hin zu den erscheinungsträchtigen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Vom Inhalt wie vom Timing her waren diese Erscheinungen Interventionen der »Friedenskönigin«. Ferner häufen sich die Erscheinungen vor allem in Zeiten politischer Umwälzungen oder in Phasen, da sich die Katholiken durch die Staatsmacht bedroht fühlten. Dieser Hintergrund findet sich bei den Geschichten der Catherine Labouré im revolutionären Frankreich von 1830 ebenso wie bei der Erscheinungswelle während der antiklerikalen, dem Aufbau des Nationalstaats gewidmeten sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, bei der explizit antikommunistischen Botschaft von Fatima im Jahr 1917 ebenso wie bei den Erscheinungen in der Hochphase des Kalten Krieges in den vierziger und fünfziger Jahren.11 In diesem Aufsatz möchte ich die Marienerscheinungen im Kaiserreich unter verschiedenen Aspekten beleuchten. Gibt es irgendwelche Faktoren in der Vorgeschichte der Wunderseherinnen und ihrer Familien, die darauf hindeuten, wie es zu diesen Geschehnissen kam? Zu welchem Grad können ökonomische und soziale Krisenerscheinungen – so wie zweifellos in den Fällen La Salette, Lourdes, Knock und vielen anderen – die Resonanz dieser Erscheinungen erklären? Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Erscheinungen und allgemeinen Wandlungen des Katholizismus in jener Zeit, und was verdeutlichen solche Episoden über das Verhältnis von Klerus und Laien? Und schließlich will ich versuchen, einige Verbindungen zwischen diesen Erscheinungen und dem Kulturkampf in Preußen herzustellen. Durch die Betrachtung dieses dras­tischen Beispiels für das Wechselspiel von Frömmigkeit und Politik – eines

10 Beispiele finden sich bei R. Krafft-Ebing, Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie, Stuttgart 1875, S. 200 ff.; in ders.: Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage, 3 Bde., Stuttgart 1879–1980, Bd. 2, S. 90–93, 116 f., Bd. 3. S. 87–90. Vgl. Carroll, Cult of the Virgin; M. Oraison, Le point de vue du médecin psychiatre clinicien sur les apparitions, in: ­Billet u. a. (Hg.), Vraies et fausses apparitions, S. 123–147. 11 Ausführlich Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 1; vgl. dort auch die Quellenangaben. T. Kselman, Miracles and Prophecies in Nineteenth-Century France, New Brunswick/NJ 1983; und N. Perry u. L. Echeverria, Under the Heel of Mary, London 1988 behandeln den politischen Kontext ausführlich.

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Falles, der schließlich sogar das Militär, die Bürokratie, die Justiz, die Presse und das Parlament beschäftigte – hoffe ich, die Verhältnisse im Bismarckreich unter einem ungewohnten Blickwinkel erhellen zu können. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden in Deutschland zahlreiche Marienerscheinungen gemeldet, vor allem aus den westlichen und östlichen Randgebieten des neuen Reichs, etwa dem Elsass, der Pfalz, dem Rheinland, Schlesien und Posen. Die drei bekanntesten Fälle ereigneten sich in Mettenbuch (Niederbayern), Dittrichswalde (Ermland)  und Marpingen (Saarland).12 Ich werde mich hier auf den letztgenannten konzentrieren, nicht nur wegen des reichhaltigen und vielfältigen Archivmaterials, sondern auch, weil er das größte öffentliche und politische Echo fand. Marpingen war ein großes Dorf von etwa 1.600 Einwohnern, in der hüge­ ligen Landschaft des nördlichen Saarlands gelegen, gut-katholisch und nicht weiter bemerkenswert.13 Es zählte zur Diözese und zum preußischen Regierungsbezirk Trier, einem Teil der Rheinprovinz, der diese Region des Saarlands seit 1834 zugehörte. Marpingen lag einige Kilometer von der nächsten Bahnstation St. Wendel entfernt und war, wie ein Zeitgenosse es ausdrückte, »auf der gewöhnlichen Karte nicht verzeichnet.«14 Allerdings war es nicht ganz so weltabgeschnitten, wie es später dargestellt wurde. Immer mehr Männer aus dem Dorf verdienten ihren Lebensunterhalt im weiter südlich gelegenen Saar-Kohle­ becken, Bauern verkauften ihre Erzeugnisse in benachbarten Marktflecken und Leute, die weiter herumkamen, wie etwa Postboten, Notare, Geldverleiher, Messerschleifer oder fahrende Musikanten brachten Nachrichten. Anfang Juli 1876 konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Marpinger ganz auf die Heuernte, eine wichtige Etappe im bäuerlichen Jahreszyklus. Die Arbeit begann im­ Morgengrauen und jede Hand wurde gebraucht. Auch die Kinder mussten mit-

12 Zu den zahlreichen Druckwerken, die sich mit diesen Fällen befassen, gehören u. a. A.  F. von Berg [=Adam Fauth], Marpingen und das Evangelium, Saarbrücken 1877; W. Cramer, Die Erscheinungen und Heilungen in Marpingen, Würzburg 1876; F. von Lama, Die Muttergottes-Erscheinungen in Marpingen (Saar), Altötting o. J.; Marpingen – Wahrheit oder Lüge?, Münster 1877; Die Marpinger Muttergottes-Erscheinungen und wunderbaren Heilungen, Paderborn 1877; Marpingen und seine Gnadenmonate, Münster 1877; J. Rebbert, Marpingen und seine Gegner, Paderborn 1877; N. Thoemes, Die Erscheinungen in Marpingen, Stuttgart 1877; zu Mettenbuch: B. Braunmüller, Kurzer Bericht über die Erscheinungen U. L. Frau bei Mettenbuch, Deggendorf 1878; zu Dittrichswalde: Die Erscheinungen der unbefleckt Empfangenen in Dittrichswalde, in: Der Sendbote des göttlichen Herzens Jesu, Bd. 14, 1878, S. 56–62; Die Erscheinungen zu Dittrichswalde, in: St-Bonifatius-Kalender für das Jahr 1879. S. 147–159; zum Elsass: Wunder in Elsaß, in: St-Bonifatius-Kalender für des Jahr 1893, S. 89–104; Berg, Marpingen, S. 26 f.; zu Schlesien: Deutsche Allgemeine Zeitung, 29. August 1876; zu Posen: Kölnische Zeitung, 6. September 1876. 13 Zur Topographie vgl. W. Bungert, Heimatbuch Marpingen, Marpingen 1980; K. Hopp­ städter u. H-W Herrmann, Geschichtliche Landeskunde des Saarlandes, Saarbrücken 1960, Bd. 1, S. 15 f. 14 Cramer, Die Erscheinungen und Heilungen in Marpingen, S. 6.

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arbeiten, und so hatte die Dorfschule »Heuferien«.15 Diejenigen, die noch zu klein waren, um beim Heuen oder im Stall zu helfen, wurden ausgeschickt, um Beeren und andere Waldesfrüchte zu sammeln. Auf der Suche nach Blaubeeren  – »Wälen« im lokalen Dialekt  – befanden sich am 3. Juli, einem heißen Montag, ein paar kleine Mädchen im Härtelwald, einem hügeligen, von felsigen Bachläufen durchzogenen Waldstück, wenige Gehminuten von Marpingen entfernt. Sie waren insgesamt zu fünft: Katharina Hubertus, Susanna Leist und Margaretha Kunz, alle acht Jahre alt und dicke Freundinnen, sowie Katharinas sechsjährige Schwester Lischen und die gleichaltrige Anna Meisberger. Die Mädchen hatten sich zum Beerensammeln zerstreut und machten sich, als das Angelusläuten ertönte, einzeln auf den Heimweg. Zwischen dem Wald und dem Dorf lag ein von dichten Büschen gesäumtes Wiesenstück. Hier geschah es angeblich, dass Susanna Leist durch einen lauten Schrei Katharina und Margaretha herbeirief und sie auf eine »weiße Gestalt« aufmerksam machte. Als die Mädchen erregt und verängstigt heimkamen, erzählten sie alle drei von einer weißen Frau mit einem Kind auf dem Arm, die sie gesehen haben wollten. Wie die Eltern und Nachbarn reagierten, ist umstritten, aber fest steht, dass der Erregungszustand der Mädchen anhielt. Marga­ retha schlief schlecht und betete viel, Katharina träumte von der weißen Frau, und Susanna wollte gar nicht ins Bett gehen. Am nächsten Tag kehrten sie zu der Stelle zurück, um niederzuknien und zu beten. Ihrer Aussage zufolge erblickten, nachdem sie drei Vaterunser hergesagt hatten, Margaretha und Katharina die Erscheinung erneut – nicht jedoch Susanna, die sie am Vortag zuerst gesehen hatte. »Wäschen, wer bint ihr?« fragten sie die Gestalt in ihrem lokalen Dialekt, und die Antwort lautete: » Ich bin die unbefleckt Empfangene.«16 Die Erscheinungen setzten sich fort. Die Gestalt, mittlerweile von Erwachsenen eindeutig als die Heilige Jungfrau identifiziert, erteilte Anweisung, eine Kapelle zu bauen, ermutigte die Kranken, zu ihr zu kommen und Wasser aus einer nahegelegenen Quelle zu entnehmen. Bald schon ging die Kunde von Wunderheilungen um, und binnen weniger Tage strömten Tausende von Pilgern nach Marpingen. Berichte sprechen von 20.000 Besuchern im Dorf und bis zu 4.000 Personen, die am Ort der Erscheinung beteten und sangen und Blätter oder eine Handvoll Erde mitnahmen. Der Gemeindepriester erklärte: »[Lourdes] kommt mir matt vor gegen den gewaltigen Strom, der hier alle Dämme durchbricht.«17 Die drei Mädchen behaupteten in der Folgezeit, auch an anderen Stellen im Dorf Erscheinungen gesehen zu haben  – bei sich zu Hause, in Scheunen und Ställen, in der Schule, auf dem Friedhof und in der Kirche  – und ihre Schil15 Landesarchiv Saarbrücken, Einzelstücke 107, Zusammenstellung des wesentlichen Inhalts der Untersuchungsakten betreffend die Mutter-Gottes-Erscheinungen in Marpingen. Saarbrücken den 9. August 1878. Kleber Untersuchungsrichter [LASB, E 107], S. 293. 16 Berichte über die Erscheinungen finden sich in LASB, E 107, S. 1–14; Bistumsarchiv Trier [BAT], B III, S. 11, 14/3, 1–49; vgl. auch die Angaben von gedruckten Quellen in Anm. 2. 17 LASB, E 107, 424: Jakob Neureuter, Notizbuch, Eintrag vom 11. Juli 1876.

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derungen wurden immer üppiger. Die Jungfrau erschien mit und ohne Christuskind und manchmal in Begleitung von Engeln. Sie war bald weiß, bald golden oder himmelblau gekleidet. Doch die Erscheinungen nahmen auch dunklere Töne an. Einmal wollten die Mädchen die Jungfrau ganz in Schwarz gesehen haben, ein andermal erzählten sie von einer himmlischen Prozession, die über den Friedhof hinweggezogen sei. Auch der Teufel erschien. Die Erscheinungen setzten sich über 14 Monate fort. Marpingen wurde zur cause célèbre. Journalisten, Geistliche und Devo­ tionalienhändler fielen in Scharen ins Dorf ein, und Pilger strömten aus ganz Deutschland und aus dem Ausland herbei.18 Gläubige und Skeptiker nannten Marpingen »das deutsche Lourdes«, ja sogar »das Bethlehem Deutschlands«.19 »Es ist eine unleugbare Tatsache, daß alle Welt von Marpingen spricht,« erklärt ein überzeugter Berichterstatter.20 »Marpingen ist der Mittelpunkt von Ereignissen geworden, welche gleichsam die Welt erschüttern,« meint ein anderer.21 Die Übertreibung war verzeihlich. In einer anderen Gegend Deutschlands entbrannte eine Gasthausschlägerei, weil ein Mann einen anderen beleidigte, indem er ihn einen »Marpinger« nannte. (Das Ortsgericht verurteilte ihn wegen übler Nachrede zu einer Geldbuße von fünfzehn Mark oder drei Tagen Haft.)22 Eine Zeitung verknüpfte die Marienerscheinungen und die Bosporuskrise, das beherrschende Thema jener Tage, in einem Leitartikel mit der Überschrift »Stambul und Marpingen« .23 Bismarck selbst äußerte sich abschätzig über Marpingen, und die Tatsache, dass er sich überhaupt damit befasste, spiegelt einen weiteren Aspekt der plötzlichen Berühmtheit des Dorfes.24 Die Erscheinungsbewegung geriet in Konflikt mit dem Staatsapparat. Das Resultat waren langwierige Auseinandersetzungen, die sich von Marpingen und Um­ gebung bis in die Gerichtssäle der Rheinprovinz und das preußische Parlament in Berlin ausweiteten. Um die Vorgeschichte dieser Geschehnisse zu erhellen, beginnen wir zunächst mit den Mädchen. Nach einhelliger Aussage aller Quellen war Marga­ retha (Gretchen) Kunz unter den dreien am weitesten entwickelt und auch dominierend. Das Wort, das jedem, der sie kannte, spontan in den Sinn zu kommen schien, lautete »aufgeweckt«.25 Ihr Vater war fünf Monate vor ihrer Ge18 Vgl. Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 4. 19 LASB, E 107, 484; An der Gnadenstätte von Marpingen, in: Die Gartenlaube 1877, S. 669; Marpingen und seine Gnadenmonate, S. 16. 20 Marpingen – Wahrheit oder Lüge?, S. 4. 21 Die Marpinger Muttergottes-Erscheinungen und wunderbaren Heilungen, S. 13. 22 Ein Bericht von Deutz in der Saar- und Mosel-Zeitung, 17. Oktober 1876. 23 Breslauer Zeitung, zitiert nach Germania, 13. Januar 1877. 24 Rebbert, Marpingen und seine Gegner, S. 9. 25 LASB, E 107, 87, 99; E. Radziwill, Ein Besuch in Marpingen, Berlin 1877, S.  3 f. Kunz hatte außerdem die kräftige Statur ihrer Mutter geerbt (vgl. LASB, E 107, 325) und auf einem Photo der drei dominiert sie sichtlich: Lama, Die Muttergottes-Erscheinungen in­ Marpingen, S. 36; Bungert, Heimatbuch Marpingen, S. 229.

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burt bei einem Mühlen-Unfall ums Leben gekommen, und es wäre erstaunlich, wenn sie als letztgeborenes und unter jäh verschärften Bedingungen noch zusätzlich zu ernährendes Kind nicht einige Aggression seitens ihrer Geschwister auf sich gezogen hätte. Wir wissen, dass sich das Leben der Familie nach dem Tod des Jakob Kunz änderte. Er hatte einen Anteil an der Mühle von Alsweiler besessen, und die Kunz’ zählten zu den achtbaren »Kuhbauern« von Marpingen: einer von Margarethas Onkeln war unter den Dorfhonoratioren.26 Doch Jakob Kunz hinterließ Schulden, und die Mühle wurde zwangsverkauft, nachdem es der Witwe nicht gelungen war, dies auf gerichtlichem Weg abzuwenden. Gretchens älterer Bruder ging in die Kohlegruben, ihre Schwester Magdalena wurde Dienstmagd im Dorf.27 Bemerkenswert sind die Parallelen zur Situation der vierzehn­jährigen Schneiderstochter Mathilde Sack, der Zentralfigur bei den Marienerscheinungen von Mettenbuch.28 Auch sie musste mit der Auflösung ihrer Familie und dem sozialen Abstieg fertig werden: ihre Mutter war gestorben, als Mathilde elf gewesen war, der Vater saß im Gefängnis, und ihre Stiefmutter konnte sie nicht leiden. Nach kürzeren Arbeitsepisoden bei einem Goldschläger, einem Konditor und im Haushalt (wo sie von einer unzufriedenen Arbeitgeberin entlassen wurde), kehrte Mathilde schließlich, als ihr Bruder zur Armee ging, ihrem wenig glücklichen Zuhause den Rücken, um als Magd zu ihrer Tante nach Mettenbuch zu gehen, wo es bald darauf zu den Erscheinungen kam.29 Beide Fälle erinnern zudem an die Situation der Bernadette Soubirous, ebenfalls Tochter eines verarmten Müllers und unglückliche Dienstmagd.30 Zweifellos wurden die jungen Seherinnen in ihrer neuen Rolle von Schuldgefühlen, Angst und Unsicherheit geplagt, aber sie waren sich auch durchaus der Beachtung bewusst, die sie ihnen verschaffte. Sie hüteten die Erscheinungsorte eifersüchtig, warnten den Gemeindepriester, sich einzumischen, und verwehrten bestimmten Personen mit einem Kopfschütteln den Zutritt. Sie sprachen von Geheimnissen, die sie nicht mitteilen dürften, verhießen Pilgern die 26 Der Onkel war Stephan Kunz IV, ein wohlhabender Bauer und ein Gehilfs-Feldhüter: LASB, E 107, S. 79, 431–2; BAT, B III, 11, 1414, 117. 27 LASB, E 107, 75, 307; Notar Hetz an Edmund Radziwill, 28. November 1876, zitiert nach Marpingen – Wahrheit oder Lüge?, S. 13–15. 28 Die anderen (jüngeren) Kinder standen »unter ihrem Einfluß«, sagte Lehrer Mayr: Staatsarchiv Landshut [SAL], 164/2, 1162, Besprechung mit Lehrer Mayr von Berg vom 7.  Mai 1877. Diese Einschätzung wird durch das Material erhärtet. 29 Zu den Details vgl. Bischöfliches Zentralarchiv Regensburg, Generalia F 115 [BZAR, F 115], Fasc. IV, Untersuchung der Angaben der Mettenbucher Mädchen in Waldsassen – 1878 u. 1879, insbes. das Protokoll, aufgenommen im Kloster der Cisterzianerinnen zu Waldsassen am 7. November 1878; und die nicht verzeichneten Akten zu Mettenbuch. Mathilde Sack in Waldsassen. Weitere Belege in Fasc. I, Bericht des Pfarramtes Metten (23. Juli 1877); und Fasc. I, Beilage 1, Protokoll der Vernehmung der Mathilde Sack, Schneiderstochter, 14 J. alt (25. Dezember 1876). 30 Zu der Situation von Dienstmädchen auf dem Lande vgl. R. Schulte, Dienstmädchen im herrschaftlichen Haushalt. Zur Genese ihrer Sozialpsychologie, in: Zeitschrift für baye­ rische Landesgeschichte, Bd. 41, 1978, S. 879–920.

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Deutung eines Himmelsomens und »prophezeiten« den Tod eines kranken Kindes. Katharina Hubertus erklärte, sie habe die Weisung erhalten, Nonne zu werden.31 Die Wunderseherinnen von Mettenbuch zimmerten sich aus religiösen Versatzstücken das Bild einer besseren Welt. Sie berichteten, Maria habe »goldene Schuhe und weiße Strümpfe« getragen. »Auch Engel hätten sie gesehen, wie sie auf einem goldenen Tisch gebratenen Fisch aßen.« Die Jungfrau hatte ihnen angeblich befohlen, jeden Tag ein Gebräu aus Honig, Wasser und Zucker zu trinken, das wie ein ländliches Ambrosia anmutet.32 Die Madonna von Marpingen war da schlichter und bodenständiger, wenn sie in Wohnhäusern und an anderen wichtigen Stellen des Dorfs erschien. Das hatte zweifellos etwas Beruhigendes: eine Muttergottes, die man mit »Schäfers Wiese« oder dem runden Stein am Ausgang des Oberdorfs assoziieren konnte, war milde und tröstlich und fest in diese kleine Welt eingebettet. Die Botschaft, dass Maria solche alltäglichen Plätze durch ihr Erscheinen ausgezeichnet hatte, ließ diese Orte selbst in einem neuen Licht erscheinen und stärkte zugleich die Position der Übermittlerinnen, denn kraft ihrer privilegierten Stellung konnten sie Orten und Dingen ihren Stempel aufdrücken, die eigentlich Erwachsenen gehörten. Das Verhalten der Marpinger Mädchen war in vielem keck und vorwitzig und gemahnt, vor allem im Fall des Gretchen Kunz, an kindlichen Schabernack.33 Zugleich wurde das, was die Kinder erzählten, von Erwachsenen überformt. Fromme Darstellungen betonten später, die Eltern hätten mit Zuckerbrot und Peitsche versucht, die Kinder zum Widerruf zu bewegen – Frau Kunz soll­ Gretchen erklärt haben: »Dein Bruder Peter wird dich halb todt schlagen, wenn du lügst, du wirst nie in den Himmel kommen, sondern in die Hölle.«34 Aber aus späteren Aussagen der Mädchen selbst geht klar hervor, dass sie nahezu von Anfang an bestärkt und ermuntert wurden und dass Erwachsene die Geschichte von der »weißen Frau« zu einer eindeutigen Erscheinungslegende ausgestalteten.35 Es lässt sich rekonstruieren, wie sich die Unterstützung, die die Kinder mit ihrer Geschichte fanden, vom Oberdorf, wo sie alle drei wohnten, 31 LASB, E 107, S. 6, 64–65, 184, 129–130, 446; BAT, B III, S. I I, 14/3, 9–42; Die Erscheinungen in Marpingen S. 54 u. 81. 32 SAL, 164/2, 1162, Besprechung mit Lehrer Mayr von Berg vom 7. Mai 1877; BZAR, F 115; Fasc. V, Vernehmung des Fr. Xav. Kraus in Regensburg, Nov. 1878. Weitere Vernehmungen in Metten. Dez. 1878. 33 Zu all diesen Punkten vgl. Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 4. 34 BAT, B III, 11, 14/3, 5; LASB, E 107. 301–304, 322; Cramer, Die Erscheinungen und Heilungen in Marpingen, S. 9; Thoemes, Die Erscheinungen in Marpingen, S. 23. 35 BAT, B III, 11, 14/3, 59–65: Margaretha Kunz’ »Geständnis«, 26.  Januar 1889. Frau Leist sagte den Mädchen am ersten Abend: »Geht morgen wieder in Wald, betet und wenn ihr sie dann wieder seht, fragt wer sie sei, gibt sie euch die Antwort: ich bin die unbefleckt Empfangene, dann ist es die Mutter Gottes«. Susanna Leist, befragt, wer gesagt habe, sie sollten wieder in den Wald gehen, schwieg 15 Minuten und antwortete dann: »Meine Mutter hat es doch nicht gesagt«: LASB, E 107, 60–1: Verhör Leist vom 31. Oktober 1876. Zu Erscheinungen als »Fiktionen«, vgl. J. Kent, A Renovation of Images. Nineteenth-Century Protestant »Lives of Jesus« and Roman Catholic Alleged Apparitions of the Blessed Virgin Mary, in:

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auf das übrige Marpingen ausweitete: über ein – vorwiegend weibliches – Netzwerk von Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen. Die Dörflerinnen spielten eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Erscheinungskults, aber das Material deutet darauf hin, dass die öffentliche Meinung entscheidend beeinflusst wurde, als sich auch Dorfhonoratioren und andere »Männer von gutem Charakter« hinter die Erscheinungen stellten.36 Die Mikro-Analyse der Aufnahme, die die Erscheinungsgeschichte in Marpingen fand, lehrt uns eine Menge über die Autoritätsstrukturen im Dorf – das Verhältnis von Erwachsenen und Kindern, Männern und Frauen, Dorfhonoratioren und Armen. Ich konnte hier nur einen kurzen Abriss geben. Die positive lokale Resonanz ist jedoch auch unter anderen Gesichtspunkten aufschlussreich. Die Leichtigkeit, mit der die »weiße Frau« zur Maria Immaculata erklärt wurde, wirft ein Licht auf die religiösen Umwälzungsprozesse in Marpingen im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts. Die Inbrunst, mit der das Erscheinen Marias begrüßt wurde, sagt uns einiges über die Angst, ja, sogar Verzweiflung der Katholiken in diesen siebziger Jahren. Und der Eifer, mit dem die Dörfler den Pilgern das Geld aus der Tasche zogen, ist ein Indiz für die wirtschaftliche Not in Marpingen in jenem Jahrzehnt. Um diese Stränge weiter zu verfolgen, müssen wir uns mit der Situation Marpingens in einem größeren Kontext befassen und vor allem die Frage untersuchen, inwiefern äußere Bedrohungen auf das Dorf einwirkten und es empfänglich für das Erscheinungswunder machten. Eine äußere Bedrohung betraf die Marpinger als Katholiken. Im Jahr 1834 hatte der letzte der rasch wechselnden Landesfürsten, der Herzog von Sachsen-­ Coburg-Gotha, das kleine Fürstentum, zu dem Marpingen gehörte, an den König von Preußen verkauft.37 Seither gehörte das Gebiet zur Rheinprovinz, und es stand ganz im Zeichen des Ausbaus des preußischen Staatswesen unter der Ägide einer protestantischen Dynastie, einer protestantischen Staatskirche, einer protestantischen Landverwaltung und eines protestantischen Offizierscorps.38 Etliche Politiker in Berlin glaubten, dass Preußen auch eine protestantische Mission habe, aber nur wenige gingen soweit wie der Außenminister Ancillon, der 1832 zur »Protestantisierung des katholischen Rheinlands« aufrief.39 Die Diskriminierung der Katholiken griff um sich: ein katholischer Priester D. Jasper u. T. R. Wright (Hg.), The Critical Spirit and the Will to Believe, Basingstoke 1989, S. 37–52. 36 Zu Einzelheiten und Quellenangaben vgl. Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 4. 37 Zu diesem Hintergrund – dem sechsmaligen Herrschaftswechsel zwischen den 1760er Jahren und 1834 – vgl. Bungert, Heimatbuch, S. 94–113, 195–205; M. Müller, Die Geschichte der Stadt St Wendel, St Wendel 1927, S. 189–191, 229; O. Beck, Beschreibung des Regierungsbezirks Trier, 3 Bde., Trier 1868–71, Bd. 2, S. 66–73. 38 Müller, St Wendel, S.  239–244; R. Vierhaus, Preussen und die Rheinlande 1815–1915, in: Rheinische Vierteljahrsblätter, Bd. 30, 1965, S. 152–175. 39 F. E. Heitjan, Die Saar-Zeitung und die Entwicklung des politischen Katholizismus an der Saar von 1872–1888, Saarlouis 1931, S. 17.

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erklärte, er wolle lieber unter den Türken leben.40 Wo, wie im Fall der staatlichen Forst-und Grubenverwaltung, die konfessionellen und sozialen Gegensätze zusammenfielen, wurden die Entfremdungsgefühle und die Unzufriedenheit der Katholiken erst recht genährt. Die Jahrzehnte vor der Einigung Deutschlands unter preußisch-protestantischer Führung waren von dieser Entwicklung geprägt. Im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts verschärften sich auch die konfessionellen Spannungen. Der historisch gewachsene Flickenteppich aus katholischen und protestantischen Gemeinden an der Westgrenze Deutschlands und die Durchmischung der Konfessionen aufgrund der neuen demographischen Bewegungen bewirkten, dass diese Widersprüche gerade im Saarland in extremer Form zutage traten. Die Marpinger Bergarbeiter erfuhren sie in den Kohlegruben.41 Aber auch die übrigen Dörfler erlebten (in Form von Streitigkeiten um gemeinsam genutzte Kirchen, um die Errichtung neuer Gebäude, um das Läuten der Glocken) die grimmige Auseinandersetzung zwischen den Konfessionen, die in einigen umliegenden Orten  – wie Offenbach, Kappeln, Weierbach, Oberreidenbach und Sein  – in heftigen Eruptionen gipfelte.42 Ein solcher Streit erschütterte auch  – zunächst 1863–64 und dann erneut in den siebziger Jahren  – das Nachbardorf Berschweiler, aus dem Margaretha Kunz’ Mutter stammte.43 Zugespitzt wurde die Bedrohung für die Katholiken in den siebziger Jahren durch den preußischen Kulturkampf, einen Vorstoß, bei dem 1.800 Priester verhaftet oder vertrieben, Bischöfe steckbrieflich verfolgt, Häuser durchsucht und Kirchenbesitz im Wert von 10 Millionen Mark konfisziert wurden.44 Die Diözese Trier war davon schwer betroffen. Im Dezember 1873 wurde das Diözesanseminar geschlossen, und im März 1874 wurde Matthias Eberhard als zweiter preußischer Bischof verhaftet. Man verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 130.000 Mark und neun Monaten Gefängnis.45 Er starb sechs Monate nach seiner Haftentlassung, genau einen Monat, ehe die Ereignisse in Marpingen 40 H. Klein, Die Saarlande im Zeitalter der Industrialisierung, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend, Bd. 29, 1981, S. 99. 41 W. Laufer, Bevölkerungs- und siedlungsgeschichtliche Aspekte der Industrialisierung an der Saar, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend, Bd.  29, 1981, S.  l54 f.; K.  J.­ Rivinius, Die sozialpolitische und volkswirthschaftliche Tätigkeit von Georg Friedrich Dasbach, in: Soziale Frage und Kirche im Saarrevier, Saarbrücken 1984, S. 121 f.; K.-M. Mallmann, »Aus des Tages Last machen sie ein Kreuz des Herrn«. Bergarbeiter, Religion und sozialer Protest im Saarrevier des 19. Jahrhunderts, in: W. Schieder (Hg.), Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte, Göttingen 1986, S. 155 f. 42 LHAK, 403110611, 251–358, 429–58, 573–715; LHAK, 403/10612, 11–26. 43 LHAK, 403110611, 517–52. 44 Zu den repressiven Aspekten des Kulturkampfes vgl. M. Scholle, Die Preußische Strafjustiz im Kulturkampf 1873–1880, Marburg 1974. 45 F. R. Reichert, Das Trierer Priesterseminar im Kulturkampf (1873–1886), in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, Bd.  25, 1973, S.  65–105; Bericht über die Gefangen­ nehmung des Herrn Bischofs Dr. Matthias Eberhard sowie über die Austreibung der Professoren aus dem bischöflichen Priesterseminar zu Trier, Trier 1874.

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einsetzten: die Diözese war »verwaist«. Marpingen war unmittelbar von dem sogenannten Brotkorbgesetz betroffen, das Priestern die Zuwendung von Staatsgeldern verwehrte, wenn sie sich (wie es fast alle taten) weigerten, die Maß­ nahmen der Regierung öffentlich zu unterstützen. Es gibt Belege dafür, dass dies im Dorf eine Spannungssituation hervorrief.46 Die Marpinger bekamen mit, wie Priester in anderen Saarlandgemeinden verhaftet wurden, vor allem im benachbarten Namborn, wo die Verfolgung und Festnahme des Jakob Isbert im Juli 1874 eine der heftigsten Szenen des Kulturkampfs heraufbeschwor. Namborn gehörte zum selben Dekanat wie Marpingen, und unter der Menge, die die Bahnstation von St. Wendel stürmte und Pfarrer Isbert zu befreien versuchte, waren viele Leute aus der Umgegend. Der für die Verhaftung verantwortliche Bürgermeister, der antiklerikale Wilhelm Woytt, war auch für Marpingen zuständig und dort äußerst unbeliebt. Es ist wohl ein Maß für die Stimmung im Dorf, dass er »der Teufel von St. Wendel« genannt wurde.47 Die Repression hatte ein Erstarken des Katholizimus zur Folge, das sich teils in Militanz, teils in Mystizismus äußerte. Nach jedem neuen Angriff zeitigten die wachsende Panik und Verzweiflung weitere Berichte von Stigmatisierten und Propheten, Ausdruck einer kollektiven Sehnsucht nach himmlischem Beistand und Errettung.48 Doch der Kulturkampf war nicht der einzige Quell von Angst und Spannung in Marpingen. Die Historiker sind sich zwar über viele Aspekte der »großen Depression« uneins, aber niemand wird bestreiten, dass das Jahr 1873 vom Beginn der Landwirtschaftskrise und der industriellen Rezession geprägt war.49 Marpingen war von beidem betroffen. Die Bodenpreise waren nach einer Spekulationsphase zusammengebrochen, und die Folge waren für viele Menschen hohe Schulden. Die Landwirtschaftserlöse waren niedrig, die Zahlungsfristen strikt, und die Geldverleiher  – wie ein Zeitzeuge schrieb  – »von drei Uhr morgens bis zehn Uhr nachts aktiv.«50 (Später sollten die Dorfbewohner ihre kleinen 46 Das Gesetz traf im allgemeinen die ärmeren linksrheinischen Gemeinden härter. Zu den Pfarreinkünften in Marpingen vgl. BAT, 70/3676, 43–46, 81–84; zu den Spannungen, die hieraus resultierten vgl. BAT, 70/3676a, 158–9: Pfarrer Jakob Neureuter an das General-Vikariat Trier, 30. Oktober 1893. 47 Zu Namborn, LHAK, 403/15716, 12–13; BAT, B III, 11, 14/6[1], 96–99; K. Kammer, Trierer Kulturkampfpriester, Trier 1926, S. 156; Müller, St Wendel, S. 270–273; J. Bellot, Hundert Jahre politisches Leben an der Saar unter preußischer Herrschaft. 1815–1918, Bonn 1954; K.-M. Mallmann, Volksfrömmigkeit, Proletarisierung und preußischer Obrigkeitsstaat. Sozialgeschichtliche Aspekte des Kulturkampfes an der Saar, in: Soziale Frage und Kirche im Saar-Revier, S. 211 f. 48 Über Elisabeth Flesch, die »Blutschwitzerin« im nahen Eppelborn, und andere Fallbeispiele Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 3. 49 H. Rosenberg, Grosse Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967; G. Eley, Hans Rosenberg and the Great Depression of 1873–96, in: ders.: From Unification to Nazism, London 1986, S. 23–41. 50 J. J. Kartels: Die wirthschaftliche Lage des Bauernstandes in den Gebirgsdistricten des Kreises Merzig, in: Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 22, 1883, S. 208; H. Horch, Der Wandel der Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen in der Saarregion während der­

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Wunderseherinnen demonstrativ vor eben jenen Geldverleihern und Viehhändlern in Tholey herumführen.) Gerichtsvollzieher, die Pfändungsbescheide brachten, und Scharen entwurzelter Armer auf den Straßen waren sichtbare Zeichen der Krise.51 Marpingen bekam auch die industrielle Rezession im Saarland zu spüren. Um die Mitte der siebziger Jahre arbeitete die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung fern des Dorfes in den Kohlegruben im südlichen Saarland, deren rasche Entwicklung ihnen den Spitznamen »schwarzes Kalifornien« eintrug.52 Die Entlassungen und Lohneinbußen im Bergbau wirkten nachweislich auf Marpingen zurück.53 Doch diese erste Generation bäuerlicher Bergleute war nicht nur unter dem finanziellen Aspekt von Bedeutung. Durch sie hatte sich das gesamte Dorfleben gewandelt. Sie gingen am frühen Montagmorgen weg und kamen am späten Samstagabend wieder, lebten sechs Tage die Woche gewissermaßen als Gastarbeiter in armseligen Unterkünften, wurden von der Grubenverwaltung einer quasi-militärischen Disziplin unterworfen und von vielen einheimischen Bergarbeitern als Lohndrücker (und »rückständige« Katholiken) verachtet. Sie lebten in zwei Welten und waren in keiner zuhause. Auch für die Marpinger, die im Dorf blieben, veränderte sich vieles – die Art der Landwirtschaft und die Organisation der Arbeit, die Beziehungen zwischen Mann, Frau und Kindern, die Heiratspolitik.54 Die kleinen Wunderseherinnen von Marpingen hatten Brüder und andere Verwandte, die ihren Lebensunterhalt im Bergbau verdienten; viele der »Konkurrenzkinder«, die später ebenfalls von Erscheinungen berichteten, hatten abwesende Väter und Brüder, und es waren auch überwiegend Bergmannsfrauen und -kinder, die »Wunderheilungen« vermeldeten.55 Diese Umstände sind zweifellos bedeutsam, vor allem, wenn man sie im Zusammenhang mit anderen Faktoren sieht. Zerrüttete Familienverhältnisse sind, wie wir schon sahen, ein häufiges Motiv im HinterIndustrialisierung 1740–1914, St. lngbert 1985, S. 234–238; und Müller, St Wendel, S. 212; zu den Geldverleihern und Viehhändlern der Gegend und zur Bodenspekulation in den Bergbauregionen vgl. O. Beck, Die ländliche Kreditnoth und die Darlehenskassen im Regierungsbezirk Trier, Trier 1875; J. Müller, Die Landwirtschaft im Saarland, Saarbrücken 1976, S. 24–27. 51 Zeugenaussage des Gendarmen Hentschel, in: G. Dasbach (Hg.), Der Marpinger Prozess vor dem Zuchtpolizei in Saarbrücken, Trier 1879, S. 163; Müller, St Wendel, S. 276. 52 Bungert, Heimatbuch, S. 301; Laufer, Aspekte, S. 154. 53 LASB, E 107, 434. 54 K. Fehn, Das saarländische Arbeiterbauerntum im 19. und 20. Jahrhundert, in: H. Kellenbenz (Hg.), Agrarisches Nebengewerbe und Formen der Reagrarisierung, Stuttgart 1975, S. 195–214; M. Zenner, Probleme des Übergangs von der Agrar- zur Industrie- und Arbeiterkultur im Saarland, in: Soziale Frage und Kirche im Saar-Revier, S. 70 f.; Bungert, Heimatbuch, S. 303; C. Steffens, »Einer für alle, alle für einen«? Bergarbeiterfamilien in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts«, in: T. Pierenkemper (Hg.), Haushalt und Verbrauch in historischer Perspektive, St Katharinen 1987, S. 187–226; K. Hoppstädter, »Eine Stunde nach der Schicht muß jeder gewaschen sein«. Die alten Schlafhäuser und die Ranzenmänner, in: Saarbrücker Bergmannskalender 1963, S. 77–79. 55 Einzelheiten bei Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 4 u. 5.

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grund von Erscheinungen, in Deutschland wie in anderen Ländern. Wir wissen auch einiges über die Probleme in vergleichbaren Pendlerdörfern in Württemberg und in anderen Ortschaften, wo die Männer regelmäßig auf Arbeitssuche auszogen, so etwa in dem im gleichnamigen Roman von Clara Viebig geschilderten Weiberdorf56 Und schließlich wissen wir von einem eigentümlichen Parallelfall zu den Marpinger Ereignissen zwei Jahre später in Friaul, wo es unter den Frauen von Verzegnis zu einem Ausbruch »kollektiver Hysterie« kam, während die meisten Männer des Dorfs als Saison-Wanderarbeiter unterwegs waren.57 Diese Beispiele sollten uns veranlassen, die durch die Wirtschaftskrise und die zunehmende Entwurzelung bestimmte sozialpsychologische Dimension im Fall Marpingen ernst zu nehmen. Von diesem Ansatz ausgehend, gilt es ferner zu prüfen, welcher Platz Frauen und Kindern innerhalb der von Wandel geprägten Glaubensformen der Jahrzehnte vor 1870 zukam. Das Wort »Wandel« muss hier besonders betont werden, denn es wäre falsch, die Geschehnisse von Marpingen schlicht als »traditionelle« Reaktion einer frommen Gemeinde auf die Bedrohung durch ein »modernes« Staats- und Wirtschaftswesen anzusehen. Wie irreführend diese Betrachtungsweise wäre, zeigt ein Blick auf die Situation in Marpingen einige Jahrzehnte früher. Noch 1840 gibt der Gemeindepriester eine wenig schmeichelhafte Beschreibung des Dorfes:58 »Mit Ausnahme einiger frommen und braven Haushaltungen teilt der Sitten­ zustand der hiesigen Pfarrei alle Mängel und Gebrechen der ganzen Gegend. Prozeßsucht, Neid und Rachbegierde, Kartenspielen und Wirtshausschwärmereien, Branntweintrinken, fahrlässige Kinderzucht, Hinterlist und Tücke im Handelsverkehr, ein leichtfertiger Sinn und grobe Sinnlichkeit, engherziger Eigennutz sind ziemlich allgemein in der Pfarrei. Nächtliches Wirtshaussitzen bei Karten und Branntwein, Kartenspielen während des Sonn- und festlichen Nachmittagsgottesdienstes, nächtliches Umherstreifen der Buben auf den Gassen besonders an Samstagabenden, unsinniges Geschrei und Gebrüll bei Tanzgelegenheiten sind ganz gewöhnliche Exzesse, die durch die laxe Kinderzucht und Mangel an polizeilicher Aufsicht veranlaßt werden.« 56 J. Kuczynski, Geschichte des Alltags des Deutschen Volkes, Bd. 4, 1871–1918, Berlin 1982, S. 414 f.; C. Viebig, Das Weiberdorf. Roman aus der Eifel, Berlin 19017. Zu den Weiberdörfern im Saarland vgl. N. Fox, Saarländische Volkskunde, Bonn 1927, S. 389; Kartels, Die wirthschaftliche Lage, S.  197; Steffens, »Einer für alle«, S.  214–16; als österreichisches Beispiel E. Viethen, Tradition und Realitätseignung. Bergarbeiterfrauen im industriellen Wandel, in: H. Fielhauer u. O. Bockhorn (Hg.), Die andere Kultur. Volkskunde, Sozialwissenschaften und Arbeiterkultur, Wien 1982, S. 241–259. 57 L. Petit, Une Epidémie d’ Hystéro-Démonopathie, en 1878 à Verzegnis, province de Friaul, Italie, in: Revue Scientifique 10. Apr. 1880, 974A-5A. Über die Entwurzelung in Arbeiterdörfern in Friaul vgl. D. R. Holmes, Cultural Disenchantments. Worker Peasantries in Northern Italy, Princeton 1989. 58 Pfarrer Bicking, 2. Juli 1843, zitiert nach H. Derr, Geschichte der Pfarrei Marpingen, Diss. Trier 1935, S. 27–29.

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Selbst relativiert an der Strenge der kirchlichen Maßstäbe, scheinen die Verhältnisse in Marpingen extrem gewesen zu sein, und mehrere Vorfälle in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts sprechen für ein außergewöhnliches Maß an Boshaftigkeit und Feindseligkeit gegenüber den Gemeindepriestern. Pfarrer Licht wurden die Fenster eingeschlagen; Pfarrer Hoff hatte ernsthafte Streitigkeiten mit seinen Pfarrkindern in Bezug auf Tanzvergnügungen und die Anforderungen der Dorfschule. Pfarrer Bicking, der in den vierziger Jahren amtierte, hatte nahezu in allen Bereichen Probleme und war Beschimpfungen und tätlichen Angriffen ausgesetzt, die ihn letztlich dazu getrieben haben mögen, Marpingen zu verlassen.59 Der Wandel, der sich im Lauf der nächsten Generation vollzog, ist sehr wichtig für das Verständnis der späteren Ereignisse. Die Veränderungen waren ähnlicher Art wie jene, die Jonathan Sperber in seiner Studie über den volkstümlichen Katholizismus im Rheinland und in Westfalen beschreibt.60 In Marpingen kam es, wie anderswo auch, zu einer gezielten Erneuerung der Volksfrömmigkeit und Stärkung der Kirchenmacht. Religiöse Bruderschaften und Sodalitäten wurden gegründet; man restaurierte einen Brunnen und einen Schrein, die mit der Legende von einem wundertätigen Bildnis der Muttergottes verknüpft waren; der Kirchenbesuch nahm zu, und die Zahl der unehelichen Kinder ging zurück.61 Gemeindepriester im Jahr 1876 war der seit 1864 amtierende Pfarrer Jakob Neureuther, ein Vertreter des neuen extrem ultramontanischen Priestertyps, den die unabhängigeren Seminare der fünfziger und sechziger Jahre hervorgebracht hatten, und der Marienkult spielte bei der religiösen Erneuerung in Marpingen (wie überhaupt in Europa) eine zentrale Rolle. Er ­beeinflusste alles – die Bruderschaften, die Kirchenlieder, die Statuen, sogar die Liturgie  – und bildete das Herzstück einer emotionsgeladenen Frömmigkeit.62 Parallel zu dieser Entwicklung erfolgten zwei weitere wichtige Veränderungen. Die eine war die »Feminisierung« des Katholizismus (die für Deutsch59 Derr, Pfarrei Marpingen, S.  11 f., 20–29 u. 35. Bicking hatte außerdem Probleme mit der Führung der Kirchenbücher, ein »gehäßiges Geschäft«, wie er es nannte: BAT, 70/3676, 20: Bicking an General-Vikariat Trier, 25. Oktober 1847. Vgl. auch ebd., S. 22–25, 30, 34–37. 60 J. Sperber, Popular Catholicism in Nineteenth Century Germany, Princeton 1984. 61 Derr, Pfarrei Marpingen, S. 30–34, 54–63; und statistische Angaben über uneheliche Geburten Thoemes, Erscheinungen, S. 9–12; Marpinger Mutter-Gottes-Erscheinungen, S. 12 f. 62 Marpingen »strotzt von Muttergottesbildern« sagte ein feindlich gesonnener Beobachter 1876: Polizeikommissar von Meerscheidt-Hüllessem, zitiert nach der Saar- und MoselZeitung 20. Dezember 1876. Zur »Marianisierung« in der Diözese Trier, vgl. A. Heinz, Im Banne der römischen Einheitsliturgie. Die Romanisierung der Trierer Bistumsliturgie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Römische Quartalschrift, Bd. 79, 1984, S. 37–92; ders., Marienlieder des 19. Jahrhunderts und ihre Liturgiefähigkeit, in: Trierer Theologische Zeitschrift, Bd. 97,1988, S. 106–134; B. Schneider, Die Trauben- und Johannesweinsegnung in der Trierer Bistumsliturgie vom Spätmittelalter bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, Bd. 37, 1985, S. 57–74; K. Küppers, Die Maiandacht als Beispiel volksnaher Frömmigkeit, in: Römische Quartalschrift, Bd.  81, 1986, S. 102–112.

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land weit weniger gut untersucht ist als für andere Länder).63 Die zweite war die zunehmende Idealisierung des Kindes als Inbegriff von Reinheit und schlichtem Glauben. Die Kinder ihrerseits wuchsen in einer Welt heran, die erfüllt war von den Liedern, Blumen, Düften und Bildern einer süßlichen Frömmigkeit, in deren Mittelpunkt die Jungfrau Maria stand. Außerdem wurden sie jetzt schon früher auf die Kommunion vorbereitet, was wohl auch einige der kleinen Wunderseher in den siebziger Jahren beeinflusst haben dürfte.64 Bestärkt wurde dieser Wandel durch die großen Missionskampagnen der fünfiziger und sechziger Jahre und auch durch den Segen des Papstes, Pius IX, dem der Marienkult allgemein und besonders die Lehre von der unbefleckten Empfängnis sehr am Herzen lagen.65 Es scheint also doch etwas Wahres an der von Beamten und Liberalen erhobenen Beschuldigung, bei den Wundern handle es sich um die Auswirkungen klerikaler Beeinflussung auf »wahnwitzige« oder »hysterische« Frauen und Kinder (»die von der Gottheit überaus bevorzugten Mägdlein«).66 Im Fall Marpingen haben wir es mit kleinen Mädchen zu tun, die gerade mit dem Katechismusunterricht begonnen hatten, unterwiesen von einem Gemeindepriester, der ein eigenes Ölbildnis der Jungfrau mit dem Kind in der Dorfkirche aufgehängt hatte, und einer Lehrerin, die unter anderem auch die Geschichte der Bernadette erzählt hatte.67 Außerdem begannen die Erscheinungen just an dem Tag – am 3. Juli 1876 – an dem sich 35 Bischöfe, 5.000 Priester und 100.000 katholische Laien zu einer großen »Krönungszeremonie« in Lourdes versammelt hatten.68 Zu jener Zeit verbreitete die katholische Presse die Details des Pyrenäenwunders und es ist anzunehmen, dass auch in Marpingen Katholiken darüber klagten, dass die Heilige Jungfrau noch nie deutschen Boden durch ihr Erscheinen geehrt hatte. Lourdes hatte eine große Wirkung auf die deutschen Katho­liken. Wo immer solche Erscheinungen offiziell anerkannt worden waren, stellte sich die Kirche mit ihrer gesamten institutionellen Macht dahinter. Sie zeigte eine beträchtliche Organisationsgabe, wenn es darum ging, die Erscheinungen zu offiziellen Kulten aufzubauen. Sie entsandte Spezialisten an Stätten wie 63 H. McLeod, Religion and the People of Western Europe 1789–1970, Oxford 1981, S. 28–35; R. Gibson, A Social History of French Catholicism 1789–1914, London 1989, S.  104–106; F. Lannon, Privilege, Persecution and Prophecy. The Catholic Church in Spain 1875–1975, Oxford 1987; B. Pope, Immaculate and Powerful. The Marian Revival in the Nineteenth Century, in: C. W. Atkinson u. a. (Hg.), Immaculate and Powerful. The Female in Sacred Image and Social Reality, Cambridge/Mass 1985, S. 193 f. 64 Zu diesem bisher nicht erforschtem Thema vgl. H. Jedin, Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 6/2, Die Kirche zwischen Revolution und Restauration, Freiburg i. B. 1971, S. 664 f. 65 Zu den Volksmissionen im Saarland, LHAK, 442/6438, 171, 179–183, 241–243, 247–248, 277–280, 307–311, 331–334, 349–350, 399–407, 427–430, 449–464. Zu Pius IX vgl. R. Aubert, Le Pontificat de Pie IX 1846–1878, Paris 1950, S. 466–469. 66 Saar- und Mosel-Zeitung 18. Juli 1876; Nahe-Blies-Zeitung 21. Oktober 1876. 67 Radziwill, Besuch, S. 7; Derr, Pfarrei Marpingen, S. 43; BAT, B III, 11, 14/3, 55; LASB, E 107, 75–76, 84, 102–104. 68 Cramer, Die Erscheinungen, S. 8.

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Lourdes, um den Wallfahrtsbetrieb richtig aufzuziehen, und sie lernte von den großen Weltausstellungen der Epoche, was den Transport von Pilgern per Eisenbahn oder den Einsatz von Lichteffekten betraf. Durch Predigten, weitverbreitete Traktate und persönliche Berichte von Teilnehmern der in den siebziger Jahren aufkommenden »nationalen Wallfahrten« wurden Erwartungen geweckt, und überall lernten die Gläubigen, wie die Heilige Jungfrau auszusehen hatte.69 Die Auswirkungen zeigten sich in Marpingen, wo eine eher banale Geschichte von einer weißen Frau durch die Krisensituation und die damit einhergehenden Erlösungssehnsüchte, durch zufällige äußere Faktoren und nicht zuletzt durch das Zutun einzelner Erwachsener zu einer doch recht anderen Geschichte von Maria der unbefleckt Empfangenen umgestaltet wurde. Das Zutun des Klerus war zunächst nur indirekter Art: die Vertreter der Kirche schwammen mehr mit der allgemeinen Reaktion mit, als dass sie sie prägten. Das blieb auch so, als die Erscheinungen fortdauerten, obgleich man das Ausmaß der Begeisterung unter Kirchenvertretern nicht unterschätzen sollte. Viele Priester strömten nach Marpingen. Unter den ca. fünfhundert Wall­ fahrern, die das Dorf am 28. August 1877 besuchten, waren etwa vierzig Angehörige des Klerus. Unter den gewaltigen Pilgerscharen sechs Tage später befanden sich »hunderte« von Priestern aus Deutschland und dem Ausland.70 Die geographische Ausweitung der Begeisterung lässt sich erahnen, wenn man die unglücklichen 22 Priester betrachtet, die wegen illegalen Abhaltens von Messen in Marpingen verhaftet und angeklagt wurden. Sie kamen nicht nur aus der Rheinprovinz und der nahen Pfalz, sondern auch aus Baden, Westfalen und Ostpreußen.71 Wie weitverbreitet der Erscheinungsglaube innerhalb des Klerus war, ist offensichtlich: Priester weinten, wenn die drei Kinder ihre Geschichte erzählten, Priester geleiteten die »wunderbar« Geheilten im Triumphzug zu den Elternhäusern der Mädchen, nahmen Marpinger Wasser mit, wenn sie wieder aufbrachen.72 Angesichts ihrer Ausbildung und der gesamten Situation in den siebziger Jahren nimmt das nicht weiter wunder. Die Erscheinungen stellten zweifellos für viele einen Trost dar, ein Gnadenzeichen in einer »harten, in Materialismus versunkenen« Welt  – und zwar ein so eklatantes, dass es die Fortschrittler aus ihrer materialistischen Selbstgefälligkeit reißen würde.73 Ein Priester erklärte: 69 Kselman, Miracles and Prophecies; Pope Immaculate and Powerful, S. 185 f.; J. Hellé, Miracles, London 1953, S. 83 f.; G. Korff, Formierung der Frömmigkeit, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 3, 1977, S. 356 f. 70 LASB, E 1 07, 165; Marpingen und seine Gnadenmonate, S. 41. 71 LHAK, 403/15716, 130–131, 134–139, 144–147, 154–155, 158–161. Zu den Schwierigkeiten, sie zu verhaften vgl. LASB, E 107, S. 168 f. 72 LASB, E 107, 372–3; P. Sausseret, Erscheinungen und Offenbarungen der allerseligsten Jungfrau Maria, Bd. 2, Regensburg 1878, S. 230; Saar- und Mosel-Zeitung 30. März 1877. 73 LASB, E 107, S.  359–361: Pfarrer Klotz an Pfarrer Schneider, 19.  August 1876. Konrad Schneider war Pfarrer in Alsweiler, nahe bei Marpingen und hielt sich nach den Erscheinungen über längere Zeiträume im Dorf auf.

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»Ich bin aber der festen Hoffnung und Ansicht, daß hier noch Dinge geschehen werden, ob deren die Culturkämpfer staunen werden und müssen wie einst Kolumbus mit seinen Gefährten, als sie America entdeckten.«74

Priester mit Notizbüchern wurden in Marpingen ein vertrauter Anblick, und es ist davon auszugehen, dass sie die kleinen Seherinnen (wenn vielleicht auch in aller Unschuld) weiter anstachelten, indem sie ihre Berichte aufzeichneten und über die Kirchenpresse billige Traktätchen in die Öffentlichkeit trugen. So halfen zweifellos viele Priester mit, die Geschehnisse zu einer bedeutsamen Angelegenheit zu erheben und zu legitimieren.75 Aber es gab auch Skeptiker unter den Kirchenvertretern, und sie hatten gute Gründe für ihre Zweifel. Etliche Priester, die Pfarrer Neureuther besuchten oder mit ihm korrespondierten, entdeckten in den Visionsberichten und insbesondere in den Schilderungen des Teufels »dunkle Punkte«, »curiose Sachen, die einen ganz ungünstigen Eindruck machen.«76 Doch die Sache hatte noch andere beunruhigende Aspekte. Wallfahrer strömten ohne ihre Gemeindepriester nach Marpingen, eine Bewegung, die gefährlich spontan erschien. Diese großen inoffiziellen Wallfahrtsbewegungen standen in Widerspruch zu dem Bestreben der Kirche, das Pilgerwesen in geordnetere und kontrolliertere Bahnen zu lenken. Zudem zeigten die Menschen, die von den »wunderbaren« Kindern angezogen wurden, eine bedenkliche Neigung, den offiziellen Ort der Marienverehrung (den Marienbrunnen bei der Kirche)  zu ignorieren und sich zu der neuen Stätte im Wald zu begeben, die auf der anderen Seite des Dorfs lag. In Marpingen war, wie auch andernorts, die Topographie der Erscheinungen außerordentlich bedeutsam. Der Glaube der Menschen an die Heilkräfte des Wassers und des Erscheinungsortes selbst trug deutlich animistische Züge. Gleichzeitig beinhalteten die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die das Pilgerwesen dem Dorf bescherte, die Gefahr eben jener Vermengung des Heiligen und des Profanen, die die Kirche so oft beklagte  – obwohl man sagen muss, dass im Fall Marpingen dieser Aspekt weniger kirchliche Kritik auf sich zog als man erwarten könnte.77 Die zentralen Punkte waren zweifellos die Gefahr des »Aberglaubens« und die des kirchlichen Kontrollverlusts. Die emotional aufgeladene Atmosphäre im Umfeld der Erscheinungen trieb Dinge hervor, die die Kirche beunruhigen mussten. Pilger sahen Prozessionen durch die Luft schweben; andere glaubten, dass sie der »wunderbare Stern von Marpingen« an ihr Ziel geführt habe. Es ging die Rede von einer unmittelbar bevorstehenden Pestseuche, von der nur diejenigen verschont bleiben würden, die das heilkräftige Wasser zu sich genommen hatten. Es hieß, dass Himmel und Hölle sich auftun und Dämonen 74 Ebd., S. 364: Pfarrer Schneider an Pfarrer Böllig in Mertesdorf, 10. Oktober 1876 75 BAT, B III, 11, 14/3, S. 59–65. 76 Die Marpinger Mutter-Gottes-Erscheinungen, S. 24; LASB, E 107, S. 119. 77 Über die Pilger, ihr Verhalten und die Kommerzialisierung der Pilgerzüge vgl. Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 5.

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ihr Unwesen treiben würden.78 Zudem lösten die Geschehnisse von Marpingen zahlreiche Nachahmungen aus. Im Dorf selbst reklamierten etliche »Konkurrenzkinder« immer extravagantere Visionen.79 Andere Erscheinungen wurden aus Gronig, Wemmetsweiler, Münchwies und Berschweiler gemeldet. In Münchwies steigerte sich eine Gruppe von Kindern in eine religiöse Ekstase: einmal platzte eine aufgeregte Schar spät in der Nacht »schweißtriefend« bei Pfarrer Neureuter in Marpingen herein und verlangte, die heilige Kommunion zu empfangen. Kinder und Erwachsene sahen den Teufel neben der Heiligen Jungfrau stehen und sie in Gestalt eines Hunds, eines Esels und einer Kuh umtanzen.80 In Berschweiler rangen ein Dutzend Kinder, hauptsächlich Mädchen, vor einer großen Zuschauermenge mit dem Teufel. Es wird berichtet, dass sich »elf Mädchen von neun bis siebzehn Jahren in krampfhaften Zuckungen und unanständigen Bewegungen wälzten, wobei sie unter Schreien und Lärmen von den Erscheinungen sprachen, die sie sahen.«

Diese Vorstellungen dauerten gewöhnlich bis nach Mitternacht.81 Etwas weiter entfernt lockte bei der Mühle von Gappenach die »Muttergottes in einer Flasche«  – derentwegen der Müller, seine Frau, ein verarmter Schneider und die sogenannte »Nonne von Nauheim« vor Gericht gebracht wurden – täglich 5.000 Pilger an. Eine weitere Jungfrau in einer Flasche gab es in Mülheim.82 Solche Geschehnisse stellten, besonders wenn sie nächtliche Aktivitäten beinhalteten, eine eindeutige Provokation und manchmal (vor allem in Berschweiler und Gappenach) sogar eine Bedrohung der kirchlichen Autorität dar. In Münchwies tadelte der Gemeindepriester den » nächtlichen Unfug« mit ähnlichen Worten, wie wir sie aus den früheren Klagen über das unbotmäßige Marpingen kennen.83 Aber auch die »Original« -Erscheinungen in Marpingen selbst beunruhigten einige Priester in der Umgegend so weit, dass sie in ihren Predigten gegen sie zu Felde zogen – ohne sichtbaren Erfolg.84 Während viele 78 Kölnische Zeitung 23. August 1876; Thoemes, Die Erscheinungen in Marpingen, S. 78–81; Berg, Marpingen, S. 44; Saar- und Mosel-Zeitung 6. Februar 1877; Müller, Die Geschichte der Stadt St Wendel, S. 274. 79 LASB, E 107, 126–128, 163, 189, 444, 494; Prozess, 171–172, 193–196; Die Marpinger Mutter-Gottes-Erscheinungen, S. 17; Marpingen – Wahrheit oder Lüge?, S. 84 f.; Marpingen und seine Gnadenmonate, S. 32 u. 42 f. 80 Prozess, 157 (Neureuters Aussage); LHAK, 442/6442, 73–80: Pfarrer Göller an Landrat Ottweiler, 22. Juli 1877, Lehrer Kill an Landrat Ottweiler, 22. Juli 1877, Landrat Ottweiler an Regierungspräsident Trier, 25. Juli 1877. 81 Der Marpinger Prozess vor dem Richterstuhle der Vernunft von einem Unparteiischen, Wien 1881, S. 29; ebenso LASB, E 107, 127, 160; Saar- und Mosel-Zeitung 12. Januar 1878; St.-Paulinus-Blatt 20. Januar 1878; Vossische Zeitung 16. Januar 1878. 82 Berg, Marpingen, S. 29–30; Saar- und Mosel-Zeitung 27. März, 30. März, 1. April, 5. April, 7. April 1877; Kölnische Zeitung 1. Juli 1877 . 83 LHAK, 442/6442, 76–80: Pfarrer Göller an Landrat Ottweiler, 22. Juli 1877. 84 Darunter waren die Pfarrer von Tholey, Bliesen, St. Wendel, Illingen und Hasborn: LASB, E 107, 75, 201; BAT, B III, 11, 14/5, 126; Kölnische Zeitung, 26. Juli und 3. August 1876.

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katholische und evangelische Kommentatoren die Meinung vertraten, der Klerus hätte die Sache gleich im Keim ersticken sollen, zeigt sich eine sarkastische Reportage in der »Gartenlaube« realistischer, wenn sie erklärt, die Kirche sei »einfach nicht mehr Herr der Bewegung, die ihr längst über den Kopf gewachsen ist.»85 Das galt gewiss auch für die Gemeindepriester in Marpingen und Mettenbuch. Beide wurden von den Ereignissen schlichtweg überrollt: Journalisten wollten Informationen und »wundertätiges« Wasser, Pilger verlangten, dass die Messe gelesen und die Beichte abgenommen würde, Kirchenvertreter »quälten« die Gemeindegeistlichen mit Fragen  – von beleidigenden Briefen und inquisitorischen Beamten ganz zu schweigen.86 Neureuter in Marpingen und Pfarrer Anglhuber in Mettenbuch wurden von persönlichen Zweifeln an der Echtheit der Erscheinungen geplagt und fürchteten zeitweilig einen Kinderstreich oder sogar eine Eingebung des Teufels, kamen aber schließlich beide dahin, privat an das Wunder zu glauben. Offiziell hatte jedoch ein Geistlicher in ihrer Position vorsichtige Zurückhaltung zu bewahren. Zugleich gerieten sie unter enormen Druck seitens ihrer Gemeindemitglieder und auswärtiger Pilger, die Erscheinungen rückhaltlos anzuerkennen. Durch ihre Briefe ziehen sich Worte wie »bisher alles niedergehalten« und »Hemmschuh«, »Ich stehe der­ Sache ratlos gegenüber« und »Was ist da zu tun?« Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass Neureuter kurz davor stand, unter dem Stress zusammenzubrechen.87 Das Kirchenrecht verfügte, dass im Fall angeblicher Erscheinungen oder Wunderheilungen eine offizielle Untersuchung von kirchlicher Seite angestellt werden musste. Dies geschah in Marpingen, Mettenbuch und Dittrichswalde, und am Ende stand jedesmal ein negatives Ergebnis. Die Kirche hatte jedoch Probleme, die Untersuchungen durchzuführen und ihrem Urteil faktisch Geltung zu verschaffen. Im Fall Marpingen hatte der Kulturkampf Trier seines Bischofs beraubt: die Diözese wurde von Mitgliedern des Domkapitels verwaltet, die als apostolische Legaten fungierten und lateinische Decknamen benutzten.88 Die Weisungskette innerhalb der Diözese war fragil (eins der Probleme Pfarrer Neureuters) und eine kanonische Untersuchung schwer zu organisieren. Die Aufgabe wurde schließlich dem greisen luxemburgischen Bischof Laurent von Chersones übertragen, der in enger Verbindung mit der deutschen Kirche stand. Er befand 1878 die Aussagen der Mädchen von Marpingen für »un­geziemend«, »unwürdig« und »sakrilegisch« und die Erscheinungen selbst für »unecht«.89 85 »An der Gnadenstätte von Marpingen«, in: Die Gartenlaube 1877, S. 667. 86 Es war der angereiste Pfarrer Wolf, der ihn »sehr gequält habe mit seinen Fragen«, sagte Neureuter, in: Prozess, S. 153. Zu den beleidigenden Briefen, Die Marpinger Mutter-GottesErscheinungen, S. 21 . 87 Zu Einzelheiten und Quellennachweisen vgl. Blackbourn, Drei Mädchen. Kap. 6. 88 C. Weber, Kirchliche Politik zwischen Rom, Berlin und Trier 1876–1888, Mainz 1970, S. 20–27. 89 BAT, B III, 11, 14/3, 43–49. Über Laurent K. Möller, Leben und Briefe von Johannes Theodor Laurent, 3 Bde., Trier 1887–1889; O. Foesser, Johann Theodor Laurent und seine Verdienste

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Das Wechselspiel von Frömmigkeit und Politik machte es jedoch der impro­ visierten Hierarchie in Trier schwer, offen gegen die Erscheinungen einzutreten, denn das hätte den Anti-Klerikalen eine Waffe in die Hand gegeben und die Gläubigen bitter enttäuscht. Das Ergebnis war, dass die Kirche das Urteil im Fall Marpingen hinauszögerte und so selbst dazu beitrug, dass sich auf seiten der Anhänger des »deutschen Lourdes« der Unmut aufstaute.90 Kurzfristig war die Trierer Strategie jedoch vielleicht ganz geschickt, denn im Fall Mettenbuch, wo der Regensburger Bischof Senestrey eine lehrbuchgerechte Untersuchung durchführen konnte, vermochte der Hirtenbrief, der die Erscheinungen für unecht erklärte, den Volksglauben an das Wunder keineswegs zu ersticken. Die Angelegenheit sollte Regensburg noch während der gesamten 80er Jahre zu schaffen machen.91 Der stille Kulturkampf in Bayern bestärkte ebenso wie die offenen Angriffe in Preußen das katholische Volk in seiner Neigung, an die Intervention der Muttergottes zu glauben, ganz egal, was der Klerus sagte. Die Reaktionen auf die Erscheinungen spiegeln nicht nur Unterschiede innerhalb des niederen Klerus sowie zwischen Klerus und Laien, sondern auch eine Spaltung innerhalb der Laien selbst wider, die ganz offensichtlich eine soziologische Dimension hat. Die Erscheinungsorte zogen zahlreiche Angehörige des katholischen Adels aus Deutschland und anderen Ländern an. Die Spees, die Stolbergs, die Löwensteins – alle bedeutenden Familien waren in Mar­pin­gen.92 Erbprinzessin Helene von Thurn und Taxis übernahm eine Art Patronat für Mettenbuch wie auch für Marpingen, wo sie mit einem Gefolge von 17 Bediensteten anreiste.93 Aus den untersten Gesellschaftsschichten lockten die Wunderstätten Bauern, Landarbeiter, Knechte, Mägde und Hausbedienstete, kleine Händler und – vor allem in Marpingen – Arbeiter an. Marpingen wurde eine Art Wallfahrtsort für Bergleute.94 Auffällig ist das Fehlen von – insbesondere

um die katholische Kirche, in: Frankfurter zeitgemäße Broschüren, Neue Folge, Bd.  11, 1890, S. 153–184; J. Goedert, Jean-Theodore Laurent. Vicaire apostolique de Luxembourg 1804–1884, Luxembourg 1957. 90 Vgl. Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 11. 91 Genaueres zu der Untersuchung in BZAR, F 115, Fasc. I, Akten der bischöfl. Commission, vom 21. Sept. bis 14. Nov. 1877, weiteres Material in Supplementakten und in Fasc. II; das Urteil findet sich in Fasc. VI: Gutachten über die Sache. Entscheidung durch den Hirtenbrief v. 23. Jan. 1879. Zu den Folgeproblemen vgl. Fasc. VII: Vollzug der Entscheidung ­1879–81 und die nicht verzeichneten Akten: Mettenbuch 1881–84, Mettenbuch 1885, Mettenbuch 1887–88, Mettenbuch 1886–90. 92 Müller, St. Wendel, 275; LASB, E 107, 162, 166, 361–362; Prozess, S. 84; Marpingen und seine Gnadenmonate, S. 46; Marpingen – Wahrheit oder Lüge ?, S. 44 f. 93 Fürst Thurn und Taxis Zentralarchiv Regensburg, HMA 2699, Nr. 2974–2978, 3211–3217, 2803, 2809–2810; HMA 2700, Nr. 3031 94 Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 4 gibt eine detaillierte soziologische Aufschlüsselung der Pilgerlisten von Marpingen und Mettenbuch. Vgl. auch Mallmann, »Aus des Tages Last­ machen sie ein Kreuz des Herrn«.

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männlichen – Angehörigen des katholischen Bürgertums. Natürlich gab es begeisterte Theologen und Publizisten, und den Unterlagen zufolge besuchte wohl auch eine Handvoll Geschäftsleute Marpingen, wenn auch nicht unbedingt aus tiefer Gläubigkeit.95 Doch nirgends in den umfangreichen Quellen – offizieller wie inoffizieller, wohlwollender wie ablehnender Art – findet sich auch nur ein einziger Hinweis auf Industrielle oder leitende Angestellte, mittlere oder höhere Beamte, Juristen, Ärzte, Ingenieure oder Architekten unter den Pilgern. Natürlich reflektiert die soziale Zusammensetzung der Marpingen-Wallfahrer die ungleiche Verteilung der Katholiken innerhalb der Gesamtbevölkerung. Doch die erstaunlich klare Unterrepräsentiertheit an katholischen Besitz- und Bildungsbürgern in Marpingen spiegelte nicht nur die generelle Sozialstruktur des deutschen Katholizismus wider. Denn selbstverständlich gab es katholische Ärzte, Rechtsanwälte und Beamte, doch das waren genau diejenigen Katho­liken, von denen der Klerus klagte, sie seien »eng mit den Protestanten verbunden und daher lau«, sie führten ein weltliches Leben und läsen Romane.96 Diese Katholiken misstrauten einer »übertriebenen« Marienverehrung und empfanden Episoden wie Marpingen eher als Verlegenheit denn als Inspiration. So dachten keineswegs nur der strenge Gelehrte Franz-Xaver Kraus, der Marpingen ebenso wie Lourdes als papistischen Unsinn abtat, und der Fabrikbesitzer, der das ganze für eine skandalöse Angelegenheit erklärte.97 Diese Haltung war vor allem im Bildungsbürgertum verbreitet und hatte auch prominente Vertreter. So tat etwa der Rechtsanwalt, Publizist und führende Zentrumspolitiker Julius Bachern alles, um sich von der Behauptung übernatürlicher Phänomene in Marpingen zu distanzieren.98 Wohl aber verteidigte Bachem die Einwohner von Marpingen im Parlament und vor Gericht gegen Beschuldigungen, die im Zusammenhang mit den Ereignissen gegen sie erhoben wurden. Diese Kombination von persönlicher Skepsis und öffentlicher Fürsprache war keine Heuchelei, sondern nur bezeichnend für die damalige Zeit. Der preußische Staat und seine liberalen Verbündeten trugen durch den Druck, den sie erzeugten, ungewollt dazu bei, dass die realen Widersprüche zwischen den deutschen Katholiken zugekleistert wurden. Dieselben Faktoren, die es der Kirche schwer machten, ihr negatives Urteil über die Wun95 LASB, E 107, S. 86–92, 236. 96 E. Gatz, Rheinische Volksmission im 19. Jahrhundert, Düsseldorf 1963, S. 97 f. Umgekehrt wurde die Skepsis unter »denkenden Katholiken« in Bezug auf Marpingen von evange­ lischen Autoren ausgeschlachtet Berg, Marpingen, S. 40. 97 F.-X. Kraus Tagebücher, hg. von H. Schiel, Köln 1957, S. 381: Eintrag v. 23. September 1877; Germania, 9. Februar 1877. 98 J. Bachem, Lose Blätter aus meinem Leben, Freiburg i. B. 1910, S. 65–75; ders., Erinnerungen eines alten Publizisten und Politikers, Köln 1913, S. 133–142. Dieselbe Haltung spricht aus Bachems Äußerungen zu Marpingen vor Gericht (s. Prozess) und im Landtag: Sten. Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 3. Oktober 1877 einberufenen beiden Häuser des Landtages. Haus der Abgeordneten, Berlin 1878, Bd. 2, 46. Sitzung, 16. Januar 1878, S. 1151–1159.

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dererscheinungen öffentlich durchzusetzen, bewirkten andererseits ein Zusammenrücken der Katholiken, denn sie saßen alle im selben Boot.99 Um das zu begreifen, muss man sich das Ausmaß der politischen und bürokratischen Offensive klar machen, der die Katholiken in den 70er Jahren ausgesetzt waren. Liberale hatten hierbei in vielerlei Hinsicht eine Schrittmacherfunktion. Immerhin war es ein linksliberaler Fortschrittler – der Arzt, Pathologe, Wissenschaftler und Volksaufklärer Rudolf Virchow – der den Terminus Kulturkampf prägte. Und aus der Inbrunst, mit der so viele Liberale den Kulturkampf unterstützten, spricht der begeisterte Glaube an den Fortschritt, definiert in erster Linie als gegen die »Tote Hand« der Kirche und die katholische »Rückständigkeit« gerichtet.100 Aus den Reaktionen liberaler Politiker und Presseorgane auf die Geschehnisse von Marpingen sprechen grenzenlose Verachtung und Feind­seligkeit. Die Erscheinungen wurden als »Wunderschwindel«, »krasseste Dummheit«, »stumpfsinniger Aberglaube«, »ein kolossaler, auf die Dummheit berechneter Schwindel«, ein Hirngespinst der »leichtgläubigen, bigotten Menge« etc. bezeichnet.101 Doch die Anwürfe kleideten sich zum Teil auch in eine pathologisierende pseudo-wissenschaftliche Sprache. Die Erscheinungsorte wurden zu einem Sumpf erklärt, die Gläubigen (und insbesondere die Frauen) zu Opfern einer »Manie« oder Hysterie«, die Vorfälle zu einer »endemischen Volkskrankheit«.102 Für viele Liberale waren die Erscheinungen auch ein Versuch, »Haß« gegen das Reich zu schüren und den »fanatisierten Pöbel« zu einer »revolutionären Umwälzung« aufzustacheln.103 Verachtung, entmenschlichende Sprache, Angst um die öffentliche Ordnung – das alles führte dazu, dass viele Liberale repressive Maßnahmen unterstützten und die Regierung drängten, »mit aller Energie gegen diese staatsfeindliche und landesverräterische Agitation« vorzugehen.104 Die Nationalliberalen, die sich stark mit Bismarck identifizierten, forderten beständig »energische Maßnahmen«. Kraft, Stärke, Ausdauer, Freiheit von Gefühlsduselei – das war der Katalog der männlichen Tugenden, das Selbstbild, an dem sich die Liberalen aufrüsteten, um den Kampf gegen den klerikalen Feind zu führen (oder den Kampf des Staates gegen diesen Feind zu unterstützen).105 Fortschrittler wie 99 Vgl. D. Blackbourn, Progress and Piety. Liberals, Catholics and the State in Bismarck’s Germany, in: Populists and Patricians, London 1987, S. 143–167, hier 155. 100 Ebd., S. 148–152. 101 L. F. Seyffardt, Sten. Berichte, 30.  November 1877, wiederabgedruckt in: Erinnerungen, Leipzig 1900, S. 195 f.; Saar- und Mosel-Zeitung 16. Juli 1876; Nahe-Blies-Zeitung 24. August, 5. September und 28. Oktober 1876; Kölnische Zeitung 20. Oktober 1876. 102 Eine genaue Untersuchung der Sprache bei Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 9. 103 Nahe-Blies-Zeitung 7.  September 1876. Vgl. Saar- und Mosel-Zeitung 24.  August 1876; Kölnische Zeitung 26. August, 3. November 1876; National-Zeitung 17. Januar 1878; Deutsche Allgemeine Zeitung 17. August 1876. 104 Nahe-Blies-Zeitung 7. September 1876. Dies war absolut typisch für nationalliberale Zeitungen. 105 Zum Topos der »Mannhaftigkeit« vgl. Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 9.

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Virchow und Presseorgane wie die Frankfurter Zeitung standen den Methoden des Kulturkampfs skeptischer gegenüber. Das Blatt argumentierte, Marpingen sei ein Schwindel, »dem weniger Gendarmen und Strafpreußen, als ein mannhaftes und ehrliches Wort und offene Diskussion etwas werden anhaben können.«106 Doch auch diese Linksliberalen zwang die Logik ihrer Position, sich mit Entschlossenheit hinter den anti-klerikalen Kampf zu stellen. Marpingen ist ein Musterbeispiel dafür, wie Fortschrittler es Bismarck übertrugen, »Stellvertreterkriege« für ihre Interessen zu führen.107 Die Folge war, dass der Staat, der noch in den fünfziger und sechziger Jahren liberale Zeitungen zensiert und liberale Beamte entlassen hatte, jetzt in die Rolle des mächtigen Wegbereiters des Fortschritts geriet. Der Preis, den die Liberalen dafür bezahlen mussten, war die stillschweigende Zustimmung zu repressiven Maßnahmen an Orten wie Marpingen. Was unternahm der preußische Staat in Marpingen? Die Behörden erfuhren zunächst eine Woche lang nichts von den Vorgängen. Der Dorfgendarm saß wegen Unzucht im Gefängnis, und die einzige andere Amtsperson, der Ortsvorsteher, leitete keine Informationen weiter.108 Der Landrat, die entscheidende Figur innerhalb der preußischen Landverwaltung, war im Urlaub. Als sein Stellvertreter, Kreissekretär Hugo Besser, und der zuständige Bürgermeister von Alsweiler, Wilhelm Woytt, von den Geschehnissen in Marpingen erfuhren, reagierten sie völlig überzogen. Besser geriet in Panik, und Woytt nutzte offenbar die Gelegenheit, um sich an der Gemeinde zu rächen, die ihm wegen seines energischen Eintretens für den Kulturkampf zürnte und auch an der Höhe seines Salärs rüttelte. Das Ergebnis war der halbherzige Versuch zweier Männer und einiger Gendarmen, 4.000 singende und betende Pilger zur Ordnung zu rufen. Es folgte ein Telegramm an die nächste Garnison in Saarlouis mit dem Ersuchen um Unterstützung.109 Zehn Tage nach Beginn der Erscheinungen, am 13. Juli, kurz nach Mittag, rückte die achtzig Mann starke 8. Kompanie des 4.  Rheinischen Infanterieregiments unter Hauptmann von Fragstein-Riemsdorff in Sankt Wendel ein, um sich von dem Kreissekretär die Lage erläutern zu lassen. Die Soldaten brachen um kurz nach sechs Uhr abends nach Marpingen auf und marschierten querfeldein oder auf Forstwegen. Sie näherten sich gegen acht Uhr abends der Stätte im Wald, schlugen einen Trommelwirbel, der auch in den eigenen Reihen Verwirrung stiftete (einige nahmen ihn irrtümlich für das Signal, die Gewehre zu laden), und machte sich daran, die Menge mit aufgesetztem Bajonett auseinanderzutreiben. Die Infanteristen wurden anschließend auf Kosten der Gemeinde in Marpingen einquartiert und begannen in den 106 Frankfurter Zeitung 16. Januar 1878. 107 R. Aldenhoff, Schulze-Delitzsch: Ein Beitrag zur Geschichte des Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung, Baden-Baden 1984, S. 233. Vgl. O. Klein-Hattingen, Die Geschichte des deutschen Liberalismus, Bd.2, Berlin 1912, S. 49–55. 108 LASB, E 107, S. 428. 109 LHAK, 442/6442, S. 17–20, 133–4; Prozess, S. 14 f., 149–50; BAT, B III, 11, 14/4, 10.

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frühen Morgenstunden Betten, Lebensmittel, Heu und andere Vorräte (darunter auch Wein) zu requirieren.110 Der kommandierende Offizier vermerkte später lakonisch: »Die Einwohner von Marpingen zeigten sich bei der Unterbringung der Leute und Beschaffung der nöthigen Nahrungsmittel etc. am ersten Abend lässig und widerwillig, so daß zur Regelung der desfallsigen Verhältnisse ein energisches Auftreten und direktes Eingreifen meinerseits nöthig war.«111

In der »Kölnischen Volkszeitung« meinte Matthias Scheeben, das Militär habe sich »benommen wie in Feindesland.«112 Autor und Zeitung wurden später wegen dieser Verunglimpfung verklagt. Die staatlichen Behörden verfolgten jetzt eine zweigleisige Strategie, deren eines Ziel darin bestand, den »Anstifter« der ganzen Sache zu fassen. Der Landrat, der Regierungspräsident aus Trier, der Untersuchungsrichter und der Staatsprokurator kamen ins Dorf und setzten langwierige Ermittlungen und eine Reihe von Disziplinarmaßnahmen in Gang. Pfarrer Neureuter und zwei Priester aus Nachbargemeinden mussten Haussuchungen und die Beschlagnahmung ihrer gesamten Korrespondenz dulden. Im Anschluss wurden alle drei Geistlichen verhaftet und ihres Amts als Schulinspektoren enthoben. Ein Lehrer und eine Lehrerin wurden aus dem Dorf wegversetzt, und es kam zu weiteren Verhaftungen. Sämtliche Frauen des Dorfs zwischen 25 und 50 mussten zu einer Massen-Gegenüberstellung antreten, weil aufgeklärt werden sollte, wer ein Kreuz an Erscheinungsort aufgestellt hatte. Zahlreiche Personen wurden verhört, vor allem die drei Mädchen und ihre Eltern – Margaretha Kunz insgesamt 28 mal. Die Kinder wurden aus ihren Elternhäusern geholt und in die Prinz Wilhelm- und Mariannenanstalt gebracht, ein Waisenhaus unter evangelischer Leitung.113 Eine Schlüsselfigur bei all diesen Maßnahmen war ein Berliner Kriminalbeamter, der Anfang Oktober vom Innenministerium nach Marpingen gesandt worden war.114 Er hieß Leopold Friedrich Wilhelm Freiherr von Meerscheidt-Hüllessem und sollte später eine zentrale Rolle bei der Überwachung sozialistischer Aktivitäten in den achtziger Jahren sowie bei der Erstellung einer Liste mutmaßlicher Homosexueller durch die Kriminalpolizei im Wilhelminischen Deutschland spielen.115 Er operierte inkognito in Marpingen 110 LASB, E 107, S. 15–19, 31–45; BAT, B III, 11, 14/4, 27; LHAK, 442/6442, S. 135–41. Vgl. auch Cramer (Anm. 21), S. 19–21; Bachem, Erinnerungen, S. 135–137; Marpingen – Wahrheit oder Lüge?, S. 40 f. 111 LASB, E 107, S. 437 112 Kölnische Volkszeitung 26. September 1876. 113 Zu Einzelheiten und Quellennachweisen siehe Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 7. 114 LHAK, 442/6442, 27: Innenministerium Berlin an Regierungspräsident Wolff (Trier), 30. September 1876. 115 D. Fricke, Bismarcks Prätorianer. Die Berliner Politische Polizei im Kampf gegen die deutsche Arbeiterbewegung 1871–1878, Berlin 1962, S. 68–71; J. Haller, Geschichte der Frankfurter Zeitung, Frankfurt 1911, S. 800.

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und gab sich (nicht ganz erfolgreich) als wohlgesonnener irisch-amerikanischer Journalist des New York Herald aus, eine Rolle, für die er mit entsprechenden Papieren ausgestattet worden war. Sein Deckname als Detektiv lautete  – natürlich  – »Marlow«. In Marpingen übernahm er auch die Funktion des agent provocateur, und sein ganzes Wirken erinnert an die schmutzigen Tricks der preußischen Kriminalpolizei in der Ära Hinckeldey und Stieber während der fünfziger Jahre.116 Die Bemühungen »Marlows« und anderer führten schließlich zur Anklageerhebung gegen zwanzig erwachsene Personen wegen Aufruhr, Landfriedensbruch, Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Gesetze, Betrug, Versuch eines Betruges und Beihilfe zum Betrug.117 Das zweite Bestreben der Behörden war es, die Einwohner von Marpingen und die Besucher daran zu hindern, den Härtetwald in eine Wallfahrtsstätte zu verwandeln. Das ging nur durch massiven Polizeieinsatz. Der Zutritt zum Wald wurde zeitweilig eingeschränkt oder sogar ganz verboten und das Gelände durch regelmäßige Patrouillen gesichert. Dies übernahmen zunächst die Infanteristen (die dann nach zwei Wochen abgezogen wurden), anschließend Gendarmen und eine Kompanie des 8. Jägerbataillons, die im Februar 1877 in Marpingen stationiert wurde.118 Über hundert Dorfbewohner wurden wegen illegalen Betretens des Waldes zu Geldbußen verurteilt, auch wenn sie nur versucht hatten, Stroh zu schneiden, zu ihren Wiesen zu gelangen oder eine Abkürzung zur Bahnstation in St. Wendel zu nehmen. Einmal ergriffen Gendarmen die hochschwangere Katharina Meisenberger, die als einzige aus einer Gruppe von 14 oder 15 Frauen nicht zu flüchten vermocht hatte. Sie wurde »drangsaliert«, die Namen ihrer Begleiterinnen preiszugeben. Andere Dörfler wurden durch jäh hinter den Büschen hervorspringende Gendarmen überrumpelt. Zahlreiche Marpinger wurden verhört und schließlich mit Geldstrafen belegt, weil ihnen angelastet wurde, Pilgern illegalerweise Essen und Quartier geboten zu haben – ein Verdacht, der dazu führen konnte, dass mitten in der Nacht an die Tür von Leuten gehämmert wurde, die in ihrer Scheune nur den Messerschleifer beherbergten, der jedes Jahr ins Dorf kam.119 Es gibt viele Beispiele dafür, dass Dörfler wie Pilger arroganter Behandlung und Schikanen seitens der Ordnungshüter ausgesetzt waren, auch wenn Wallfahrer aus gehobeneren Schichten diesem Los in der Regel entgingen. Das harte Durchgreifen in Marpingen geht zum Teil auf das Konto einzelner Gendarmen und lokaler Beamter – des bigotten Bürgermeisters Woytt, des Hard-­ Liner-Landrats Rumschöttel und des vehement anti-katholischen Regierungs-

116 Zu Stieber und Hinckeldey, A. Funk, Polizei und Rechtsstaat. Die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols in Preussen 1848–1918, Frankfurt a. M. 1986, S. 60–70. 117 Ausführliche Details bei Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 7. 118 Stadtarchiv St. Wendel, Abt. C, 2/56, 134–44, 165–73; LASB, Best. Landratsamt Saarbrücken, 1, 739; LASB, E 107, 156, 350. Zu den Kosten vgl. LHAK, 442/6442, S. 61–65. 119 Die Beispiele, neben vielen anderen, in BAT, B III, 11, 14/4, 71, 174–5, 178.

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präsidenten Wolff.120 Doch das Handeln dieser Individuen lässt sich nicht aus dem größeren Kontext herauslösen – dem eines Systems, dessen berittene, quasimilitärisch organisierte Gendarmerie faktisch wie metaphorisch auf das Volk herabsah, eines Systems, das Rumschöttel nach 1848 als »starken Mann« in St. Wendel postiert hatte, eines Systems, das seine Reihen von Beamten gesäubert hatte, die den Kulturkampf nicht so entschieden unterstützten wie Wolff.121 Außerdem kamen bestimmte Elemente dieser harten Reaktion von oben, so etwa das schändliche Treiben des Herrn »Marlow«. Dass der preußische Staat hier repressiver agierte als sein bayerisches Gegenstück im Fall Mettenbuch, nimmt angesichts der Situation in den siebziger Jahren nicht wunder.122 Erstaunlicher ist die Härte im Fall Marpingen im Vergleich zu Dittrichswalde, wo die kleinen Seher immerhin Polenkinder waren. Der Kontrast weist darauf hin, dass die Westgrenze als sehr heikles Terrain galt – heikler noch als die Ostgrenze, da die Westgebiete erst kürzlich der preußischen Verwaltung einverleibt worden waren und der Preußisch-Französische Krieg noch so frisch im Gedächtnis war. Die strengen Maßnahmen in Marpingen resultierten zum Teil aus übersteigerten Ängsten vor Komplotten der Franzosen. Aus dieser Sicht erschienen die Dörfler als der Feind im Inneren.123 Obgleich der Reaktion in Marpingen durchaus ein strukturelles Muster zugrundelag, lässt sich der Unterschied zu Dittrichswalde letztlich doch nur aus der Eigendynamik des Geschehens erklären. Die anfängliche Überreaktion in Marpingen erwuchs aus der mangelnden Intelligenz und der Inflexibilität der lokalen Amtsträger. So wurde schon früh die Armee gerufen, in Preußen kein seltenes Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung.124 Nachdem dieses schwere Geschütz einmal auf­ gefahren war, konnten die Vertreter des Staats – Armee, Polizei, Innenministerium, Landverwaltung, Justizbehörden  – kaum noch ohne Gesichtsverlust zurückstecken. Dennoch gilt es zu differenzieren. Die Gendarmerie und die Landverwaltung, hinter denen letztlich das Innenministerium stand, verfolgten allgemein eine härtere Linie als die Justizbehörden. Das hatte damit zu tun, dass sich die 120 Der hohe preußische Justizbeamte Karl Schorn benennt die Fehlreaktionen einzelner Personen im Fall Marpingen in seinen äußerst kritischen Lebenserinnerungen, Bd. 2, Bonn 1898, S. 259–62. 121 Differenziertere Argumentationen in Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 7. 122 Die Handhabung des Falls Mettenbuch durch Kreisbeamte in Deggendorf, Regen und Viechtach und die Reaktionen der Provinzialverwaltung in Landshut können in SAL, 164/2, 1161–4; 164/15, 814 und 164/18, 697 nachvollzogen werden. 123 Den Soldaten wurde anfänglich erklärt, dass sich ein Aufstand anbahne: LASB, E 107, 425. Zum Glauben an ein französisches Komplott und einschlägige Gerüchtes, ebd., S. 29, 150– 152, 155, 198. 124 A. Lüdtke, »Gemeinwohl«, Polizei und »Festungspraxis«. Staatliche Gewaltsamkeit und innere Verwaltung in Preußen 1815–1850, Göttingen 1982; R. Koselleck, Die Auflösung des Hauses als ständischer Herrschaftseinheit, in: N. Bulst u. a. (Hg.), Familie zwischen Tra­ dition und Moderne, Göttingen 1981, S. 120 f.; R. Tilly, Popular Disorders in Nineteenthcentury Germany, in: Journal of Social History, Jg. 4, 1971, S. 14, 21.

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Justizbeamten im Saarland durch die Einmischung von Bürokraten in Trier, Koblenz und Berlin (wie sie sich etwa in der Entsendung von »Marlow« niederschlug) in ihrer Berufsehre gekränkt fühlten. Und es steht sicher auch in Zusammenhang mit der Tatsache, dass es im Justizwesen mehr Katholiken gab als in der Landverwaltung. Letztlich stehen dahinter jedoch grundsätzlichere Unterschiede – die zwischen einem Innenminsterium und einer Landverwaltung, denen es darum ging, Exempel zu statuierten, auch wenn dies wie in Marpingen ein aussichtsloses Unterfangen war, und Justizbeamten, die sich über die Aussichtslosigkeit der Sache im Klaren waren und sich über die Zeitvergeudung ärgerten.125 Der Fall Marpingen illustriert diese Spannungen, und er zeigt auch, wie Bürokratenwillkür durch die Macht des Gesetzes konterkariert werden konnten. Es ist bezeichnend, dass alle größeren Prozesse im Zusammenhang mit Marpingen mit Freisprüchen endeten und dass die Gerichte sich weigerten, der Darstellung der Geschehnisse Glauben zu schenken, die ihnen von Armeeoffizieren oder auch von »Marlow« präsentiert wurde.126 Zudem wurde Marpingen – ähnlich wie der in manch vergleichbarem Fall des elsässischen Garnisonsstädtchens Zabern, wo preußische Soldaten wüteten – zur cause célèbre, nicht zuletzt weil ihn die öffentliche Meinung und das politische Aufsehen dazu erhoben.127 Führende katholische Publizisten wie Georg Dasbach und Edmund Fürst Radziwill schrieben über die Sache, Blätter wie die »Kölnische Volkszeitung« beleuchteten die Übergriffe von Staatsseite, und das Verhalten der Ordnungskräfte wurde auf Antrag der Zentrumspartei Gegenstand einer ausführlichen Debatte im preußischen Abgeordnetenhaus.128 Gewiss hat es in Marpingen Überreaktionen und Willkür gegeben, aber man muss auch anerkennen, dass im preußischen Staat der siebziger Jahre solchen Auswüchsen durch Rechtsstaatlichkeit und politische Öffentlichkeit Grenzen gesetzt waren.129

125 Vgl. z. B. LHAK, 442/6442, S. 113 f.; Bericht des Untersuchungsrichters Kleber zum Stand der Ermittlungen in Marpingen v. 17. September 1877. Klebers Resume des Beweismaterials, LASB, E 107, ist voller skeptischer Töne, insbes. was die Rolle von Meerscheidt-Hüllessem betrifft. 126 Zu dem Gerichtsverfahren gegen Matthias Scheeben und die Kölnische Volkszeitung, in dem die Angeklagten auch in zweiter Instanz freigesprochen wurden, vgl. LASB, E 107, 17; BAT, B III, 11, 14/4, 27; LHAK, 442/6442, S. l35–41; Bachem, Erinnerungen, S. 136; Frankfurter Zeitung, 30. Mai 1877. Während des Hauptverfahrens in Saarbrücken vgl. Prozess, v. a. S. 43–50 (Aussage und Kreuzverhör von Meerscheidt-Hüllessem) und S .275 (Verteidiger Bachems grimmige Attacke gegen den Polizisten, die der vorsitzende Richter durchgehen ließ). Zu weiteren Details anderer Gerichtsverfahren vgl. Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 10. 127 D. Schoenbaum, Zabern 1913. Consensus Politics in Imperial Germany, London 1982. 128 Landtagsdebatte in Sten. Berichte, Sitzung v. 16. Januar 1878. 129 Zur Macht des Gesetzes vgl. D. Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, Tübingen 1975; Funk, Polizei und Rechtsstaat; H.-J. Strauch, Rechtsstaat und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: M. Tohidipur (Hg.), Der bürgerliche Rechtsstaat. Bd.  2, Frankfurt a. M. 1978, S. ­525–547.

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Ein Grund für die barschen Verhöre und die Schikanen durch einige Gendarmen und Beamte war zweifellos die Frustration darüber, dass die Ermittlungsbemühungen auf eine Mauer des Schweigens stießen, da zu der Kooperationsunwilligkeit der niederen Beamten vor Ort die stumme Solidarität der Dörfler kam.130 Da Ähnliches während des Kulturkampfs auch andernorts geschah, möchte ich abschließend der Frage nach dem Wesen des katholischen Widerstands gegen diese Offensive nachgehen. Die offensichtlichste Form des Widerstands war die Organisierung. An der Spitze der Organisationen, die die Katholiken in den siebziger Jahren schützten, stand die Zentrumspartei, die auf dem Höhepunkt des Kulturkampfs vier Fünftel aller katholischen Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte.131 Die Zentrumspartei stützte sich wiederum auf ein Geflecht von Vereinen, über die sich katholische Identität Ausdruck verschaffte. Hierzu gehörten die Casinos bürgerlicher Katholiken, die katholischen Bauern- und Gesellenvereine und eine Vielzahl religiöser und karitativer Organisationen wie Piusvereine, Bonifatiusvereine, St. Raphaels-Vereine usw. In vielen dieser Organisationen spielten bürgerliche Katholiken eine führende Rolle. Aber die Vereine boten auch Priestern und Aristokraten eine Reihe »moderner« öffentlicher Funktionen, die sie nutzen konnten, um die Bande ehrfürchtigen Respekts zu stärken, die noch immer viele Katholiken aus den Unterschichten an sie banden. Der Klerus spielte auch eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der katholischen Presse. Der organisierte katholische Widerstand gegen den Kulturkampf über diese Kanäle ist recht gut untersucht.132 Weniger bekannt, aber nicht minder bedeutsam, sind die zahllosen kleinen und großen Beispiele für das, was die Zeitgenossen als »passiven Widerstand« bezeichneten.133 Hierzu gehörte etwa das Verstecken flüchtiger Priester oder der Versuch, ihre Verhaftung zu verhindern, die Ausübung von Druck auf all diejenigen, die (wie beispielsweise Schlosser) mit der Staatsgewalt kollaborierten, das Bergen von Kirchenbüchern oder -geldern, bevor die Behörden sie beschlagnahmen konnten.134 In Marpingen finden sich beide Formen des Widerstands. In dieser Gegend, wo formelle Organisationen dünn gesät waren, arbeiteten Dorfhonoratioren mit prominenten Außenstehenden zusammen, um publik zu machen, was in ihrem Ort passiert war, und Beistand zu suchen. Bekannte Priester-Publizisten wie Edmund Radziwill und Paul Majunke halfen den Dörflern, alle verfüg130 Zu dieser Vergeblichkeit vgl. Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 7. 131 J. Schauff, Die deutschen Katholiken und die Zentrumspartei, Köln 1925, S. 75. 132 Sperber, Popular Catholicism, S. 207 ff.; Blackbourn, Progress and Piety. 133 Pius IX erklärte die Maigesetze in einer Enzyklika vom Februar 1875 für »null und nichtig« und rief die Katholiken zum »passiven Widerstand« auf. Vgl. K. Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei, 9 Bde., Köln 1­ 927–1932, Bd.  3, S. 299 f. 134 Beispiele in Kammer, Trierer Kulturkampfpriester; H. Schiffers, Der Kulturkampf in Stadt und Regierungsbezirk Aachen, Aachen 1929; L. Ficker, Der Kulturkampf in Münster, hg. von O. Hellinghaus, Münster 1928; W. Jestaedt, Der Kulturkampf im Fuldaer Land, Fulda 1960.

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baren Kanäle für ihre Sache zu nutzen: Eingaben an staatliche Organe, gerichtliche Mittel, Presse-Öffentlichkeit. Beide Genannten saßen auch im Reichstag, und insbesondere Radziwill nutzte seine Position als MdR, um sich für die Freilassung der drei Mädchen einzusetzen. Andere prominente Zentrumspolitiker wurden zu Rate gezogen. Längerfristig zeitigten diese Initiativen gute Erfolge, obgleich man sagen muss, dass Marpingen mehr für das lokale Gedeihen der Zentrumspartei tat als diese für Marpingen.135 In der Zwischenzeit wurden im Dorf selbst andere Formen von alltäglichem Widerstand praktiziert. Zuweilen waren sie gewaltsam,136 überwiegend fielen sie jedoch unter die Kategorie »passiver Widerstand«. Gendarmen wurden geschnitten oder verspottet, ein Staatsanwalt beschwerte sich, dass die Bevölkerung »an allen Ecken und Faden Spionirdienste leistet, um die Thätigkeit der Behörde lahm zu legen«; Haussuchungen mussten mit Hilfe auswärtiger Schlosser durchgeführt werden; Dörfler taten sich mit dem Küster und Gemeinderatsmitgliedern zusammen, um Pilgerspenden beiseite zu schaffen, und wie andernorts auch, wurden die Kirchengelder in Sicherheit gebracht.137 Als Pfarrer Neureuter Anfang Dezember 1876 aus der Haft entlassen wurde, bereitete man ihm ein festliches Willkommen, und die jungen Männer von Marpingen ritten ihm auf der Straße nach St. Wendel entgegen, um ihm ein Ehrengeleit zu geben.138 Die Umstände machten aus solchen Glaubensbezeugungen zugleich Widerstandsakte. Die Embleme der Erscheinungsbewegung – das Kreuz, das die Stätte markierte, die Blumen, die sie schmückten, die Bilder und brennenden Kerzen, die Marienhymnen – wurden zu mächtigen Symbolen der Nicht-Unterordnung unter das Diktat des Staates. Immer wieder brachten Marpinger Katholiken die Vertreter der Staatsgewalt in heikle oder lächerliche Situationen. Ordnungshüter verstiegen sich selbst dahin, die an der Erscheinungsstätte hinterlegten Blumen als Indiz für verbrecherische Umtriebe zu werten, und in Schweich wurden elf Mädchen verhaftet, weil sie nach der Willkommensfeier für den freigelassenen Gemeindepriester im Besitz von Girlanden angetroffen worden waren.139 Besonders interessant ist die Weigerung der Dörfler, sich das Betreten des Waldes verbieten zu lassen. Das erinnert an frühere erbitterte Kämpfe mit der preußischen Forstverwaltung um die Rechte an ehemaligem Gemeindewald,140 und es zeigt einen gewissen sturen Unwillen, dem Staat 135 Details in Blackbourn, Drei Mädchen, Kap. 8. 136 LASB, E 107, 18, 38–45, 156–7; LHAK, 442/6442, 157–8; Kölnische Zeitung 24. November 1876; Nahe-Blies-Zeitung 1. Februar 1877; Saarbrücker Zeitung 2. Februar 1877; Saar- und Mosel-Zeitung 6. Februar 1877. 137 LASB, E 107, S. 166–169, 224 ff., 431 f.; Radziwill, Besuch, S. 4; LHAK, 442/6442, 117 (Zitat nach dem Staatsprokurator Petershof, 20. September 1877). 138 LASB, E 107, 375; Germania 6. Dezember 1876. 139 Zum Ereignis in Schweich vgl. Kammer, Trierer Kulturkampfpriester, S. 94. 140 Horch (Anm.  50), S.  57–64, 93–98, 145 f. u. 232–234; O. Beck, Die Waldschutzfrage in Preussen, Berlin 1860; ders., Land- und volkswirthschaftliche Tagesfragen für den Regierungsbezirk Trier, Trier 1866, S. 48–61 u. 72–76.

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das Recht einzuräumen, Katholiken zu diktieren, wohin sie gehen durften und was sie zu tun und zu lassen hatten. Es stellt, kurz gesagt, eine Verteidigung öffentlicher Räume und ihrer Nutzung dar und hatte während des Kulturkampfs überall Parallelen. So gab es etwa in Münster Widerstand gegen Bestrebungen, eine kleine Straße in der Nähe des Bischofspalais für Fahrzeuge zu öffnen, die päpstliche Fahne wurde trotzig im Wald gehisst und eine junge Frau erklomm – als Reaktion auf ein Fahnenverbot während eines Papstjubiläums – eine Statue auf dem Domplatz, um dort weithin sichtbar eine Girlande aus gelben und weißen Blumen zu plazieren.141 In Marpingen haben wir es, genau wie in Münster, mit einer besonderen Art von Widerstandsbewegung zu tun, die eher mit moralischen Mitteln als mit physischer Gewalt kämpfte und äußerst schwer zu zerschlagen war. Sie hatte ihre eigenen Ikonen und Symbole in Form von Rosenkränzen, Kerzen und den allgegenwärtigen Blumen (deren symbolischer Einsatz während des Kulturkampfs eine eigene Abhandlung wert wäre). In ihrer Struktur und ihren Aktionsmustern speiste sich diese Bewegung eindeutig aus der wiederbelebten Volksfrömmigkeit und den Devotionalformen vorangegangener Jahrzehnte. Dennoch sollte man den klerikalen Einfluss nicht überschätzen. Die Geistlichen mussten oft frustrierte Gemeindemitglieder im Zaum halten, ein Gutteil des Widerstands in Marpingen entfaltete sich unter Umgehung des überforderten Gemeindepriesters. Genau wie die begeisterte Reaktion der Gläubigen auf die Erscheinungen selbst, war auch die Selbstverteidigung der Gemeinde, wie ich sie hier geschildert habe, zwittriger Natur. Sie verdankte sich zum Teil der Kirche, konnte aber auch leicht aus deren Kontrolle ausbrechen. Diese Bewegung gingen von einfachen Katholiken aus, die sich zwar von Rang und Namen – adligen Pilgern und ihren Gunstbezeugungen, einem Fürsten Radziwill, der sich für ihre Sache einsetzte – beeindrucken ließen, aber kaum als unterwürfig im herkömmlichen Sinn bezeichnet werden können. Und diese Bewegung zeigt schließlich, wenn man Marpingen als typisches Beispiel nehmen darf, dass Frauen, Kinder und Jugendliche eine ebenso wichtige Rolle spielten wie männliche Honoratioren. Das Faktum, dass die deutschen Marienerscheinungen der siebziger Jahre des 19.  Jahrhunderts so wenig Beachtung gefunden haben, ist schon als solches bezeichnend. Es gibt viele Gründe, weshalb Marpingen nicht so berühmt wurde wie etwa Lourdes, Knock oder Fatima  – nicht zuletzt, weil es nie von der Kirche anerkannt wurde und nur als inoffizieller Kult überdauerte. Doch ein Grund ist auch, dass diese Geschehnisse einfach nicht das sind, was wir von deutschen Katholiken erwarten. Wir denken uns den deutschen Katholizismus irgendwie »moderner«  – was er in vielem (etwa auf der theologischen Ebene) auch war. Wir erwarten, dass deutsche Katholiken auf äußeren Druck und Bedrohungen reagieren, indem sie sich  – wie die deutschen Arbeiter  – organisieren. Und das haben sie natürlich auch getan. Aber formelle Organisa141 Ficker, Kulturkampf in Münster, S. 221–226, 234 f., 241–244.

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tionen sind nicht alles. Kaum jemand würde wohl behaupten wollen, die Geschichte der Arbeiterklasse im Deutschen Reich sei synonym mit der Geschichte der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaftsbewegung. Das gleiche gilt auch für die deutschen Katholiken. Deutschland war zwar, wie Hubert Jedin sagte, das »klassische Land« des katholischen Vereinswesens.142 Aber da ist noch eine andere Geschichte der deutschen Katholiken, die Aufmerksamkeit verdient: eine Geschichte der Mentalität und der Volksfrömmigkeit und ihres Zusammenhangs mit Migrationsbewegungen und sozialem Wandel, eine Geschichte des Verhältnisses von Männern, Frauen und Kindern, eine Geschichte der Bemühungen, die Autorität der Kirche wiederherzustellen. Sich mit dieser Geschichte zu befassen, ermöglicht gleichzeitig und nicht zuletzt, neues Licht auf politische und rechtliche Strukturen zu werfen. Denn so falsch es wäre, die Dimensionen von Macht und Politik ganz auszuklammern, so falsch ist es auch, den Blick zu sehr auf sie zu verengen. In diesem kurzen Abriss zum Thema Marien­ erscheinungen im Kaiserreich habe ich zu zeigen versucht, dass es keinen Grund gibt, weshalb dieser Ansatz zu einer Vernachlässigung der politischen Ebene führen sollte. Unsere Geschichtsforschung kann und sollte die Geschichte von Mentalitäten und Organisationen, von Alltagsleben und Politik integrieren.

142 Jedin, Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 6/2, S. 220.

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4. Handwerker während der Industrialisierung: Gewinner oder Verlierer?1

Bekanntlich gab es in der englischen Historiographie eine große Debatte zwischen »Optimisten« und »Pessimisten« über den Lebensstandard der Arbeiter während der Industrialisierung. Es ist vielleicht bezeichnend für die deutsche Geschichte, dass diese Debatte sich hier mehr um die Frage des Schicksals der Handwerker als um das der Industriearbeiter gedreht hat.2 Schon im Kaiserreich war ein »pessimistischer« Standpunkt spürbar. So meinte zum Beispiel Karl Bücher, der die Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik in den neunziger Jahren über die Lage des Handwerks geleitet hat, dass das Handwerk im Niedergang begriffen sei.3 Das Ende des Nahrungsprinzips und die Schaffung eines nationalen Marktes, die Konkurrenz der Fabrik und der gewerbliche Aufsaugungsprozess – kurz: die Marktkräfte – hätten dem Handwerk geschadet. Handwerker könnten sich schwerlich in dem Kampf gegen große, kapitalkräftige und 1 Dieser Aufsatz geht ursprünglich auf einen Vortrag für eine Tagung 1985 zurück und wurde in überarbeiteter Form veröffentlicht in: U. Wengenroth (Hg.), Prekäre Selbständigkeit. Zur Standortbestimmung von Handwerk und Kleingewerbe im Industrialisierungsprozess, Stuttgart 1989, S.  7–21. Seither ist eine ganze Reihe von Beiträgen zur Diskussion um die Handwerker erschienen. Siehe F. Föcking, Meister und ihre Gesellen. Arbeitskonflikte im Bäckergewerbe Hamburgs 1890–1914, Frankfurt a. M. 1993; W. Reininghaus u. R. Stremmel (Hg.), Handwerk, Bürgertum und Staat, Dortmund 1997; F. Lenger (Hg.), Handwerk, Hausindustrie und die historische Schule der Nationalökonomie, Bielefeld 1998; S.  BarnowskiFecht, Das Handwerk der Stadt Oldenburg zwischen Zunftbindung und Gewerbefreiheit 1731–1861, Oldenburg 2001; H.-G. Haupt (Hg.), Das Ende der Zünfte. Ein europäischer Vergleich, Göttingen 2002; G. Deter, Handwerk vor dem Untergang? Das westfälische Klein­ gewerbe im Spiegel der preußischen Gewerbetabellen 1816–1861, Stuttgart 2005; H.  Hansen, Rethinking the Role of Artisans in Modern German Development, in: Central European History, Jg. 42/1, 2009, S. 33–64. 2 Zur Debatte über den Lebensstandard während der Industriellen Revolution in Großbritannien siehe E. J. Hobsbawm, Labouring Men, London 1964, bes. Kap. 5–7; R. M. Hartwell, The Industrial Revolution and Economic Growth, London 1971, bes. Kap. 13–17. Die Ausnahme, die die Regel bestätigt, ist im deutschen Falle natürlich J. Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, 38 Bde., Berlin 1961–1972. 3 Siehe z. B. Büchers Referat auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik über die Handwerkerfrage von 1897. K. Bücher, Die Handwerkerfrage, in: Verhandlungen der am 23., 24. und 25. September 1897 in Köln a. Rh. abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik über die Handwerkerfrage, den ländlichen Personalkredit und die Handhabung des Vereins- und Koalitionsrechts der Arbeiter im Deutschen Reiche, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 76, Leipzig 1898, S. 16–33.

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mächtige Konzerne behaupten. Andererseits seien sie nicht in der Lage, den im Zeitalter der Massenproduktion neu entstandenen Formen der Nachfrage gerecht zu werden. Die Argumente sind ja durchaus vertraut. Oft war dieser Pes­ simismus das Produkt konservativer Sehnsüchte nach der heilen Welt eines Hans Sachs: Der angebliche Verlust solcher Tugenden wie Ehrbarkeit, Tüchtigkeit und Standesbewusstsein wurde ebenso bedauert wie der vermutete Niedergang der materiellen Stellung der Handwerker. Besonders deutlich wird dies bei konservativen und klerikalen Befürwortern der sogenannten Mittelstands­ politik, die ihre Ängste über die Verdrängung des Handwerks immer wieder betonten.4 Publizisten und Handwerkerorganisationen taten das ihre, um diese Sichtweise zu verbreiten. In der Tat trug ihre Pflege eines gegen die verhasste moderne Welt gestellten idealisierten Handwerkerbildes in vielen Fällen zu einer regelrechten »Erfindung von Traditionen« bei, wie sie Histo­rikern anderer Länder und anderer sozialer Gruppen vertraut sind.5 Doch war die Auffassung, dass sich das Handwerk im Niedergang befände, keineswegs nur auf diese Kreise beschränkt. In seinem Buch »Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert«, dessen erste Auflage 1903 erschien, hat Werner Sombart eine ähnliche Ansicht vertreten. Auch zeitgenössische Marxisten wie Karl K ­ autsky betonten auf gleiche Weise den unaufhaltsamen Abstieg des selbständigen Handwerkers, wie sie überhaupt der Überzeugung waren, dass die unabhängigen Mittelschichten im allgemeinen dazu verdammt waren, zwischen Kapital und Arbeit zerrieben zu werden.6 Nur wenige würden dieser pessimistischen Sichtweise heute noch ohne Einschränkungen zustimmen. In der Tat gibt es zu der bereits erwähnten englischen Debatte interessante Parallelen in der Art, wie sich die Argumentation über das Schicksal der deutschen Handwerker entwickelt hat. Es waren vor allem Sozialhistoriker und Historiker der politischen Bewegungen, die weiterhin an der These der Verdrängung des Handwerks im 19. Jahrhundert festhielten, wobei sie vor allem auf dessen Schwierigkeiten hinwiesen, sich der »Modernität« der neuen Gesellschaft anzupassen, und auf die Folgen, die das für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts haben würde.7 Das Terrain der pessimistischen Argumentation hat sich, in anderen Worten, vom Quantitativ-Materiellen zum Qualitativ-Soziokulturellen verschoben. Wirtschaftshistoriker haben dagegen mit Nachdruck geltend gemacht, dass eine sehr viel positivere Beziehung zwischen der Industrialisierung und den Einkommen der Handwerker bestand. 4 Siehe D. Blackbourn, The Mittelstand in German society and politics 1871–1914, in: Social History, Jg. 4, 1977, S. 409–433. 5 Vgl. E. J. Hobsbawm u. T. Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983. 6 E. Sinner, La politique de la social-democratie allemande vis-à-vis de l’artisanat a la fin du XIXe siècle, in: Le Mouvement Social, Jg. 114, 1981, S. 105–123. 7 S. Volkov, The Rise of Popular Antimodernism in Germany. The Urban Master A ­ rtisans, 1873–1896, Princeton 1978; H. Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschafts­ ablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967; und die Einleitung von H. A. Winkler, Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus, Köln 1972.

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Dies gründete zum Teil auf der Zerstörung des Mythos von des Handwerks goldenem Boden.8 Dank vieler Arbeiten über Handwerkereinkommen und das zahlenmäßige Verhältnis von Meistern und Gesellen wissen wir mittlerweile sehr gut, dass vor der Einführung der allgemeinen Gewerbefreiheit eine große Zahl von Handwerksmeistern in Armut lebten und unter der Unstetigkeit und der geringen Nachfrage in der agrarischen Wirtschaft litten. »Optimisten« wie Wilhelm Abel und seine Schüler und Wolfram Fischer behaupteten, dass es erst die Industrialisierung war, die die Kaufkraft vermehrte, neue Wachstumsbranchen belebte, und es dem Handwerk ermöglichte, sich ein gutes Auskommen durch Reparaturarbeiten anzueignen.9 Außerdem  – so die Argumentation  – wurden durch Gewerbebanken und Genossenschaften neue Quellen des Kredits erschlossen, die die Kapitalinvestition im Kleinbetrieb anregten. Die zunehmende Verwendung des Elektromotors um die Jahrhundertwende ist ein oft zitiertes Symbol dieses Vorgangs.10 Also nicht nur während der ersten Phase der Industrialisierung, sozusagen im Eisenbahnzeitalter, sondern auch während und nach der Großen Depression von 1873–1896, sollen sich Handwerker erfolgreich angepasst haben. Ein gutes Beispiel für diese Thesen ist Adolf Nolls Fallstudie über den sozioökonomischen Strukturwandel in der zweiten Phase der Industrialisierung, die die Entwicklung von Kleinbetrieben in zwei unterschiedlichen Regierungs­ bezirken Westfalens unter die Lupe nimmt.11 Noll zufolge waren Handwerker im industrialisierten Bezirk Arnsberg erfolgreicher als Handwerker im schwach entwickelten Bezirk Münster. Die Arnsberger Betriebe waren größer und kapital­ intensiver wegen des »Reinigungsprozesses« im Laufe der Großen Depression. Die Depression haben sie besser überstanden, da die Flaute für sie später einsetzte und der Aufschwung sich früher geltend gemacht hatte. Kurzum: Handwerker haben aus der Industrialisierung Nutzen gezogen, und die Große Depres 8 J. Bergmann, Das »Alte Handwerk« im Übergang. Zum Wandel von Struktur und Funktion des Handwerks im Berliner Wirtschaftsraum in vor- und frühindustrieller Zeit, in: O. Büsch (Hg.), Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung vornehmlich im Wirtschaftsraum Berlin-Brandenburg, Berlin 1971, S. 224–269. 9 Siehe z. B. die Beiträge in W. Abel (Hg), Handwerksgeschichte in neuer Sicht, Göttingen 1978²; K. Assmann u. G. Stavenhagen (Hg.), Handwerkereinkommen am Vorabend der industriellen Revolution, Göttingen 1969. Siehe auch W. Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, insbes. S. 285–357. 10 W. Fischer, Die Rolle des Kleingewerbes im wirtschaftlichen Wachstumsprozeß in Deutschland 1850–1914, in: F. Lütge (Hg.), Wirtschaftliche und soziale Probleme der gewerblichen Entwicklung im 15.–16. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1968, S. 131–142 (auch abgedruckt in: W. Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 338–148). Zum Einsatz von Elektromotoren siehe auch U. Wengenroth, Motoren für den Kleinbetrieb. Soziale Utopien, technische Entwicklung und Absatzstrategien bei der Motorisierung des Kleingewerbes im Kaiserreich, in Wengenroth (Hg.), Prekäre Selbständigkeit, S. 177–205. 11 A. Noll, Sozio-ökonomischer Strukturwandel des Handwerks in der zweiten Phase der Industrialisierung unter besonderer Berücksichtigung der Regierungsbezirke Arnsberg und Münster, Göttingen 1975.

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sion habe die schwächsten Alleinmeister ausgeräumt, aber trotzdem weniger unabhängige Handwerksbetriebe beseitigt als der industrielle Wachstumsprozess insgesamt ins Leben gerufen habe. Hier werden die pessimistischen Behauptungen auf den Kopf gestellt. Statt des abgesunkenen Handwerks, wird uns hier der mit Schumpeterschem Unternehmungsgeist reichlich versehene small businessman vorgeführt. Statt des erlahmenden traditionellen Meisters, werden wir mit dem Klempner und dem Friseur konfrontiert sowie mit dem Maurer oder Schlosser, die ihren Betrieb erfolgreich modernisiert haben und selbst Unternehmer geworden sind.12 Diese Erfahrungen dienen also als Maßstab, fast als Metapher, der glücklichen Anpassung des deutschen Handwerks. Histo­ riker wie Wolfram Fischer betonten vor allem den Beitrag der handwerk­lichen Kleinbetriebe zum wirtschaftlichen Wachstumsprozess. Ihr Modell ist das einer dualen Wirtschaft, in der ein hochqualifiziertes Handwerk die notwendige Ergänzung zur zentralisierten Massenproduktion liefert. In der jüngsten Vergangenheit hat diese Konzentration auf die historische Bedeutung spezialisierter handwerklicher Produktion zusätzliche Unterstützung auch von solchen Autoren erfahren, die von ganz anderen Fragestellungen ausgegangen waren. War der Kontext früherer optimistischer Darstellungen die Debatte der 1950er und 1960er Jahre über die Stadien wirtschaftlichen Wachstums, so stehen die neueren Thesen vor dem Hintergrund der Debatten über »enterprise culture« in den 1970er und 1980er Jahren, in denen den kleinen Unternehmen eine zentrale Funktion zugesprochen wird. Schließlich erscheint es offensichtlich, dass kleine Betriebe in fortgeschrittenen industriellen (und post-industriellen) Gesellschaften nicht nur fortbestanden haben: In der Anwendung neuester Technologien mit hochqualifizierten Arbeitskräften und dank ihrer Fähigkeit zur flexiblen Anpassung an eine rasch wechselnde Nachfrage haben sie darüber hinaus eine führende und innovative Rolle in der wirtschaftlichen Entwicklung ganzer Gewerberegionen wie Baden-Württemberg, Emilia-Romagna und Thames-Valley gespielt.13 Dieses Phänomen hat sehr stark zur Neubewertung der Bedeutung flexibler Spezialisierung im Handwerk während des Industrialisierungsprozesses im 19. Jahrhundert beigetragen; so vor allem in den Arbeiten von Charles­ Sabel, Michael Piore und Jonathan Zeitlin, die neue Ansätze erarbeitet haben, um die kleingewerbliche Produktion als positive historische Alternative zur standardisierten Massenproduktion empirisch und theoretisch erfassen zu können.14 Diese Sichtweise stützt die in einer wachsenden Zahl von Arbeiten zu den verschiedensten Aspekten europäischer Industriegesellschaften im 19. Jahrhundert vertretene Auffassung, dass die Bedeutung der Dreieinigkeit von zen12 Fischer, Rolle des Kleingewerbes, S. 132 f. u. 137–139. 13 M. J. Piore u. C. F. Sabel, Das Ende der Massenproduktion. Studie über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft, Berlin 1985. 14 C. F. Sabel u. J. Zeitlin, Historical Alternatives to Mass Production. Politics, Markets and Technology in Nineteenth-Century Industrialization, in: Past and Present, Jg. 108, 1985, S. 133–176; Piore u. Sabel, Das Ende.

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tralisierter Fabrik, fixem Kapital und Dampfkraft in vielen Darstellungen der Industrialisierung erheblich übertrieben worden war. Nicht zuletzt gilt das für den Pionier selbst: schließlich war Großbritannien »die Werkstatt der Welt«.15 Die Zielrichtungen der erwähnten Autoren sind selbstverständlich nicht identisch. Die Problematik ist jeweils eine andere, ebenso wie der sozio-politische Zusammenhang und die sozio-politische Schlussfolgerung. Insgesamt haben sie jedoch einen wichtigen Beitrag zu unserem Verständnis kleingewerb­ licher und handwerklicher Produktion geleistet und haben ebenso gezeigt, dass zeitgenössische Figuren wie Proudhon und Schulze-Delitzsch in mancher Hinsicht sehr viel »moderner« waren als ihnen gemeinhin zugestanden wurde.16 In der historischen Literatur Deutschlands wie auch der anderer europäischer Länder haben diese neuen Ansätze ohne Zweifel ihre Spuren hinterlassen. Im deutschen Falle bleiben freilich noch einige Fragen offen, wenn wir das Handwerk und die Handwerker vor dem Hintergrund der optimistischen Interpretation betrachten. Einige sind offensichtlich. So ist es z. B. evident, dass zwischen Unternehmensformen zumindest in zweifacher Hinsicht unterschieden werden muss: erstens horizontal, d. h. zwischen Regionen und Sektoren; und zweitens vertikal, wobei der Binnendifferenzierung innerhalb einer bestimmten Branche Rechnung getragen werden muss. Es ist ebenso deutlich, dass keine überzeugenden Schlussfolgerungen über die Position und Rolle handwerklicher Kleinbetriebe gezogen werden können – selbst nicht über ihre wirtschaftliche Stellung im engeren Sinne – ohne die Beziehungen innerhalb des Handwerks als wirtschaftliche, juristische und sozio-moralische Kategorie zu betrachten.17 Optimistische Darstellungen haben diese Probleme sicher nicht ausgeklammert, doch bleiben hier immer noch einige dornige Fragen. Vielleicht die wichtigste: Was ist eigentlich der Gegenstand der Untersuchung, Handwerk im engen Sinne oder das Kleingewerbe bzw. Kleinindustrie? Und versteht man unter letzterer Kleinbetriebe mit fünf und weniger Arbeitnehmer, oder auch mittelgroße Betriebe, oder einfach Betriebe, die die standardisierte Produktion mittels fortgeschrittener Arbeitsteilung nicht durchgeführt haben? Nicht weniger wich15 Siehe hierzu die zahlreichen Beiträge in: Commission Internationale d’Histoire des Mouve­ ments Sociaux et des Structures Sociales, Petite entreprise et croissance industrielle dans le monde aux XIXe et XXe siècles, Editions du CNRS, 2 Bde., Paris 1981; R. Samuel, The Workshop of the World. Hand Power and Steam Technology in Mid-Victorian Britain, in: History Workshop Journal, Jg. 3, 1977, S. 6–72. 16 Sabel u. Zeitlin, Historical Alternatives, S. 142–144. 17 Vgl. viele der Beiträge zu U. Engelhardt (Hg.), Handwerker in der Industrialisierung. Lage, Kultur und Politik vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984. Dieser Ansatz wurde für das Kleinbürgertum insgesamt eindrücklich illustriert in der Einleitung von H.-G. Haupt (Hg.),·»Bourgeois und Volk zugleich«? Zur Geschichte des Kleinbürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1978, S. 9–36; ders. (Hg.), Die radikale Mitte. Lebensweise und Politik von Handwerkern und Kleinhändlern in Deutschland seit 1848, München 1985, S. 7–31. Siehe auch die Einleitung der Herausgeber in G. Crossick u. H.-G. Haupt (Hg.), Shopkeepers und Master Artisans in Nineteenth Century Europe, London 1984, S. 3–31.

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tig, gleich ob im Falle von Handwerk oder Kleingewerbe: Welche Betriebe in diesen Kategorien werden untersucht – alle, oder nur die erfolgreichen? Jeder Versuch zur Neubewertung der Lage der Handwerker im Kaiserreich muss zunächst diesen Fragen gerecht werden. Denn ironischerweise gehen manche Optimisten das Risiko ein, dass sie das photographische Negativ dessen schildern, was die Pessimisten verallgemeinernd schilderten. Während letztere den Industrialisierungsprozess als einen Moloch darstellten, der die alte Handwerkswelt zerstörte, scheinen erstere diesen Prozess manchmal eher als das Vehikel zu betrachten, das die Kleingewerbe vorwärts brachte. Was in beiden Fällen leicht unter den Tisch fällt, ist eben die Kontinuität, natürlich in verschiedener Form, die die Binnendifferenzierung der Kleinproduzenten kennzeichnete, sowie deren de-facto-Abhängigkeit von Verlegern, Verteilern oder größeren Konzernen.18 Was die Binnendifferenzierung anbelangt, so ist es deutlich, dass manche wichtige Unterschiede innerhalb des Handwerks erhalten blieben. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wie in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts gehörten z. B. Bäcker und Metzger zu den bestverdienenden und wirtschaftlich stabilsten Handwerkern, während Schneider, Schuhmacher und Tischler zu den ärmsten und unsichersten zählten.19 Diese strukturelle Kontinuität manifestierte sich auf vielfältige Art. Da ist zum einen der große Unterschied im Anlagekapital etwa zwischen einer Metzgerei und einer Schneiderei. Das gleiche gilt für die Zahl der Beschäftigten. Von den 364 Mitgliedern der Hamburger Metzgerinnung im Jahre 1887, beschäftigten mit Ausnahme von 14 alle einen oder mehrere Gehilfen, während eine örtliche Enquete von 1890 zugleich besagte, dass bis zu 87 Prozent aller Handwerker in den Bekleidungsbranchen Alleinmeister waren.20 Tatsächlich gab es im Reichsdurchschnitt damals nur neun Gehilfen auf zehn Schneidermeister (und nur sieben auf zehn Schuhmachermeister).21 Diese Unterschiede galten für weite Bereiche der beruflichen und sozialen Existenz. So waren Metzger gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter den Förderern von Innungen und Gründern von Genossenschaften besonders stark vertreten und drängten bei der Regierung entschlossen auf die Wahrung ihrer Interessen in Fragen wie den Schlachthaus-Bestimmungen. Darüber hinaus gibt es Hinweise aus Städten wie Köln und Mainz, dass ihr geschäftlicher Erfolg den Metzgern half, eine bedeutende Rolle in der städtischen Bodenspekulation, im Ver18 Sehr aufschlussreiche Beobachtungen über die Problematik des Verteilungswesens bei P.­ Ayçoberry, Probleme der Sozialschichtung in Köln im Zeitalter der Frühindustrialisierung, in: W. Fischer (Hg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung, Berlin 1968, S. 512–528, hier insbes. S. 519–524. 19 Über den Anfang des Jahrhunderts siehe K. H. Kaufhold, Umfang und Gliederung des deutschen Handwerks um 1800, in: W. Abel (Hg.), Handwerksgeschichte, S. 57–60; D. Saalfeld, Handwerkseinkommen in Deutschland vom ausgehenden 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: ebd., S. 81 f.; Über das späte 19. Jahrhundert siehe Noll, Sozio-ökonomischer Strukturwandel, S. 68 f.; Volkov, Master Artisans, S. 84–94. 20 Volkov, Master Artisans, S. 92 u. 259. 21 J. Wernicke, Kapitalismus und Mittelstandspolitik, Jena 1907, Tabelle, S. 138.

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einsleben und in der Kommunalpolitik zu spielen.22 Schneidermeister blieben dagegen in der Regel die Stiefkinder der Handwerkerwelt, materiell gedrückt und gesellschaftlich am Rande stehend. Dies sind natürlich extreme Fälle  – Idealtypen von den entgegengesetzten Enden des Handwerkerspektrums. Die größte Konzentration innerhalb dieses Spektrums fand sich allerdings am armen Ende. Wenngleich Gustav Schmoller mit seiner Behauptung übertrieb, dass »wohl drei-Viertel« aller unabhängigen Handwerker Alleinmeister waren, so legen die verfügbaren Daten doch nahe, dass es in den 1890er Jahren immerhin etwa 55 Prozent waren.23 Dies ging zum Teil auf die trotz schnellem technischen Wandel anhaltend hohen Zahlen von Meistern in den sogenannten Massenhandwerken zurück: Im Jahre 1895 machten Schneider, Schuhmacher und Tischler ein Drittel aller Meister aus. Außerdem arbeiteten zu dieser Zeit immer noch fünfzig Prozent aller Meister auf dem Lande, wo die durchschnittliche Zahl der Gehilfen geringer war als in der Stadt, und wo – nach Paul Voigt – »es fast scheinen könnte, als ob das dörf­liche Handwerk einem Rückbildungsprozess unterliege, der es zu den primitiven Betriebsformen zurückzuführen droht, in denen es sich in der Zeit des Städtezwangs bewegen mußte, um den Bönhasenjagden der städtischen Zunftmeister zu entgehen.«24 Dies waren offensichtlich nicht die angesehenen Kleinunternehmer optimistischer Darstellungen. Jedoch – und dies ist der springende Punkt – scheinen solche Handwerker den »Reinigungsprozeß« der Großen Depression überlebt zu haben, der an der steigenden Durchschnittszahl der Arbeitskräfte in Kleinbetrieben abzulesen ist. Woher also dieser Überlebenserfolg? Wie erklärt man diese scheinbar widersprüchlichen Tendenzen? Die Lösung liegt wahrscheinlich darin, daß die globale Statistik hinter einer wachsenden Zahl von Klein- und Handwerksbetrieben einen komplexen Doppelprozess verhüllt hat. Einerseits ist die Konzentration vorangeschritten, andererseits fand eine Quasi-Proletarisierung statt. Auf dieses Phänomen der wachsenden Binnendifferenzierung im Handwerk haben bereits einige zeitgenössische Autoren wie Bücher und Sombart hingewiesen.25 Ihre Befunde wurden durch neuere wissenschaftliche Untersuchungen, wie etwa die Arbeit von Helmut Sedatis über Südwestdeutschland, bestätigt. Sedatis zeigte, dass in Baden und Württemberg sowohl die Zahl der Beschäftigten je Handwerksbetrieb als auch die Zahl der Alleinmeister an22 Über die »Wurstbrigade« in Köln siehe Ayçoberry, Probleme der Sozialschichtung, S. 527 f.; über Mainz siehe B. Gottron, Erlebtes und Erlauschtes aus dem Mainzer Metzgergewerbe im 19. Jahrhundert, Mainz 1928. Siehe auch Blackbourn, The Mittelstand, S. 417. 23 Eine ausführliche Diskussion in: Wernicke, Kapitalismus·und Mittelstandspolitik, S. 137 ff.; Volkov, Master Artisans, S. 32–94. 24 P. Voigt, Die Hauptergebnisse der neuesten deutschen Handwerkerstatistik von 1895, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Neue Folge, Bd. 21/33, Leipzig 1897, S. 251. 25 Bücher, Referat, S.  16–33. W. Sombart, Der moderne Kapitalismus. Bd.  1, Leipzig 1902, S. 570 ff.

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stieg.26 Wolfram Fischer selbst hat darauf hingewiesen, dass die zunehmende Durchschnittsgröße der Baubetriebe möglicherweise als Folge einer Konzentrationsbewegung unter einer verhältnismäßig beschränkten Gruppe von Maurern und Schlossern zu erklären ist, die sich effektiv zu Bauunternehmern verwandelten.27 In anderen Branchen gab es Paralellerscheinungen. Diese neuen Unternehmer hatten sich in entscheidender Weise von der Welt des Handwerks abgesetzt und verliehen dem auch dadurch Ausdruck, dass sie die Bezeichnung »Großhandwerk«, die die Mittelstandsbewegung ihren Betrieben zusprechen wollte, in aller Form ablehnten.28 Häufig genug waren dies auch die erfolgreichen Meister, die das Schicksal der handwerklichen Genossenschaften negativ entschieden, indem sie sich weigerten, diesen beizutreten – ein Umstand, der immer wieder von zeitgenössischen Genossenschaftsexperten beklagt wurde und wohl in allen Regionen des Reiches auftrat.29 Eine Stufe tiefer gab es die Handwerker, die versuchen mussten, mit Hilfe von Familienangehörigen und vielleicht eines zusätzlichen Gehilfen auszukommen. Hier haben wir es wesentlich mit proletaroiden30 Existenzen zu tun, die in wirtschaftlichen Krisensituationen oder auch bei Änderungen der Familienverhältnisse vor der Gefahr standen, in die Schicht der wirklich proletarisierten Alleinmeister hinabzusinken. Letzteren fehlte oft ein ausreichendes Betriebskapital; und sie mieteten häufig Hinterzimmer oder Keller zu einer Zeit, als die Mieten in die Höhe stiegen, und  – falls sie noch auf eigene Faust arbeiteten  – konkurrierten stark untereinander. Sie waren kaum als unabhängig zu bezeichnen. Diese Binnendifferenzierung des Handwerks im Kaiserreich war strukturell wie konjunkturell mit der Situation während der dreißiger und vierziger Jahre des 19.  Jahrhunderts zu vergleichen, als der gewerbliche Aufsaugungsprozess und die Zuflucht in das Handwerk als »Notberuf« gekoppelt waren. In Deutschland, wie in anderen europäischen Ländern, waren dies Perioden, in denen das Handwerk mit einer gleichzeitigen Kombination von Konzentration und Krise konfrontiert war.31 Die relativ geringe Zahl der erfolgreichen Unternehmer26 H. Sedatis, Liberalismus und Handwerk in Süddeutschland. Wirtschafts- und Gesellschafts­ konzeptionen des Liberalismus und die Krise des Handwerks im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1979, S. 157–182. 27 Fischer, Rolle des Kleingewerbes, S. 138. 28 Die Entstehung der Frage »Fabrik und Handwerk« in Schrifttum und Rechtsprechung. Denkschrift des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages, Hannover 1926, S. 12 ff. 29 A. Gemming, Das Handwerkergenossenschaftswesen, Stuttgart 1911, S. 82 u. 95–97; H. Crüger, Vortrag über Gewerbliches Genossenschaftswesen, Warenbazare und Großwarenhäuser, gehalten auf dem 41. Verbandstag Württembergischer Gewerbevereine in Calw im Oktober 1899, Stuttgart 1899, S. 28. 30 Über »proletaroide« Meister siehe Ayçoberry, Probleme der Sozialschichtung, S. 522–524. Das Konzept stammt aus Theodor Geigers wichtiger Arbeit über die späte Weimarer Republik T. Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart 1932. 31 Für einen neueren Forschungsüberblick siehe D. Blackbourn, Economic Crisis and the Petite Bourgeoisie in Europe during the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: Social History, Jg. 10, 1985, S. 95–104.

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karrieren, die in einer kleinen Werkstatt begannen, wie z. B. Jürgen Kocka hervorhob,32 müssen also der größeren Zahl der unsicheren unabhängigen Handwerker und den Meistern, die nur Randexistenzen führten, gegenübergestellt werden. Der zahlenmäßige Umfang dieser letzten Kategorie wird von den verschiedensten Quellen dokumentiert. Er zeigt sich einerseits aus den oft zitierten Statistiken über den häufigen Umschlag der Handwerksbetriebe, der sich eindeutig in den Adressbüchern und Gewerbesteuerveranlagungen zeigt. Die Dokumentation über die Gewerbesteuerpflichtigkeit selbst zeichnet ein deutliches Bild der Lage, in der sich die Mehrzahl der Handwerksbetriebe befand. In Bochum, um nur ein Beispiel zu nennen, waren lediglich 15 Prozent der Handwerker normalerweise gewerbesteuerpflichtig. In dem besonders schlechten Jahr 1884 waren es sogar nur 9 Prozent.33 Es ist kaum verwunderlich, wenn wir erfahren, dass gegen Ende des Jahrhunderts bis zu einem Viertel der großstädtischen Mitglieder von Konsumgenossenschaften »Unabhängige« Handwerker waren.34 Die Erfolge, die die Optimisten betonen, hatten ihren Preis. Diesen Preis bezahlten nicht nur die aus der Produktion ganz ausgeschiedenen Handwerker, die in die Fabrik gingen oder in kleine Detaillgeschäfte flüchteten; sondern auch viele der nominell unabhängigen Meister mussten diesen Preis bezahlen. Es wäre sicher übertrieben, ein ganz und gar düsteres Bild zu zeichnen. Das sich beschleunigende Tempo der Industrialisierung bzw. der funktionalen Arbeitsteilung hat nicht nur neue kleingewerblichen Unternehmen hervorgerufen, sondern auch Nischen – etwa in der Reparatur – neu geschaffen, wo Handwerker sich einnisten konnten. Doch gab es auch andere Bereiche, in denen handwerkliche Betriebe Vorteile gegenüber Großbetrieben geltend machen konnten. Darunter war, wie der materielle Wohlstand von Metzgern und Bäckern zeigte, die Versorgung mit frischen und leicht verderblichen Verbrauchsgütern. Ein anderer Bereich war die Herstellung von Kleinserien, Qualitätswaren und all den Gegenständen, die unter dem Namen Kunsthandwerk bekannt wurden. Doch auch ein scheinbar so erfolgreicher Zweig wie das Kunsthandwerk, in dem viele Zeitgenossen die Lösung für die Probleme des Handwerks sahen, sah sich den gleichen strukturellen Schwierigkeiten wie das Handwerk des Kaiserreichs insgesamt gegenüber. Das Kunsthandwerk hatte etwas künstliches an sich: Sein Auftreten war letztlich ein Symbol für die Marginalisierung der handwerklichen Produktionsform im allgemeinen, ebenso wie die bewusste Kultivierung von Handwerkertraditionen im gleichen Zeitraum die stillschweigende Einsicht darstellte, dass innerhalb der veränderten Gesellschaft Handwerkerwerte und -bräuche weder selbstverständlich noch tonangebend geblieben wa32 J. Kocka, Unternehmer in der deutschen Industrialisierung, Göttingen 1975, insbes. S. ­47–50. 33 D. Crew, Town in the Ruhr. A Social History of Bochum 1860–1914, New York 1979, S. 114. 34 Zahlenangaben über die Breslauer Konsumgenossenschaft und die Lübecker Genossenschaftsbäckerei bei F. Naumann, Demokratie und Kaisertum, Berlin 1904, S. 79 f. Der Anteil in Stuttgart lag etwa bei 15 %: E. Hasselmann, Und trug hundertfältige Frucht, Stuttgart 1964, S. 66.

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ren. Wenn ein Phänomen wie das Kunsthandwerk auch eine erfolgreiche Anpassung an eine neue Nachfrage darstellte, so dokumentierte es gleichzeitig die geschwächte Position der handwerklichen Produktion innerhalb des gesamten wirtschaft­lichen Systems.35 In diesem Beitrag wird die Kontinuität in der Geschichte des Handwerks betont, zugleich ist jedoch festzustellen, dass das Handwerk niemals eine dominierende Position innerhalb irgend eines wirtschaftlichen Systems gespielt hat. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war es eine Enklave innerhalb einer agrarisch bestimmten Wirtschaft; danach übernahm es eine stützende Rolle in einem sich entwickelnden industriell-kapitalistischen System. Dennoch fand dabei ein gewichtiger Wandel statt, der sich deutlich an der schwindenden Bedeutung des Handwerks im Rahmen der gewerblichen Produktion insgesamt zeigt. Der Anteil des Handwerks an den gewerblich Beschäftigten kann hierzu als Maßstab gelten. Um 1800 beschäftigten die Handwerksbetriebe zehnmal so viel Menschen wie Industrie und Bergbau.36 1875 arbeiteten immer noch zwei Drittel aller in der gewerblichen Produktion Beschäftigen in Betrieben, die bis zu fünf Gehilfen hatten; 1907 war es nur noch ein Drittel.37 Betrachtet man das Handwerk im engen Sinne alleine, dann waren es wahrscheinlich noch weniger. Die Untersuchungen über den Anteil der Kleinbetriebe am gesamten angelegten Kapital weisen in die gleiche Richtung.38 Während des Kaiserreichs wurde das Handwerk von den größeren Betrieben allmählich in den Schatten gestellt. Das war nicht nur das Ergebnis eines einfachen Existenzkampfes zwischen Fabrik und Werkstatt im Sinne einer schlichten Verdrängung. Vielleicht noch schwerwiegender war, dass »Unabhängige« Handwerker zunehmend in Produktions- und Verteilungssysteme verflochten wurden, die sie selbst weder übersehen noch kontrollieren konnten. Das klassi35 Vergleiche das Urteil der Handwerkskammer von Frankfurt/Oder über die Jahre ­1900–1904, die die Kunsthandwerker als »die geübtesten, die geschicktesten, die am besten ausgebildeten und geschulten Handwerker Deutschlands« beschreibt, aber dann fortfährt: »Doch alle diese Hunderte und Tausende geschickter und geschicktester deutscher Handwerksmeister sind mit herzlich wenigen Ausnahmen heute keine selbständigen Existenzen mehr; sie arbeiten und schaffen im Lohn und Sold der Großbetriebe und Kunstindustrien. Ihre Arbeit ist Lohn- und Tarifarbeit geworden. Für das deutsche Handwerk […] ist das Kunsthandwerk heute ein verlorener Posten, und zwar in dem Maße, daß es in unserm Bezirk ein selbständiges Kunsthandwerk schon so gut wie nicht mehr gibt. Der unternehmende Künstler, der Kaufmann, der Industrielle hat die Führung im Kunsthandwerk an sich gerissen«. Zitiert nach Wernicke, Kapitalismus und Mittelstandspolitik, S. 181. Siehe auch Blackbourn, The Mittelstand, S. 425. 36 Kaufhold, Umfang und Gliederung, S. 37–40. 37 Fischer, Rolle des Kleingewerbes, S. 136. 38 K.-H. Schmidt, Die Rolle des Kleingewerbes in regionalen Wachstumsprozessen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: I. Bog u. a. (Hg.), Wirtschaftliche und soziale Strukturen im säkularen Wandel, Bd. 3, Hannover 1974, S. 720 ff. Noll, Sozio-ökonomischer Strukturwandel, S. 118–20, konstatiert auch eine Abnahme, vermutet jedoch eine Stabilisierung auf einem Niveau von 10 % nach der Mitte der 1890er Jahre.

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sche Beispiel ist das Verlagssystem in den Massenhandwerken wie den verschiedenen Bekleidungsbranchen und der Möbeltischlerei, deren anhaltende Bedeutung gerade in neueren historischen Studien wieder hervorgehoben wurde.39 Dies war die Welt des Schuhmachers, der als verlegter Heimarbeiter beschäftigt war, des Schreiners, der wie jener, von dem Theodor Heuss in seinen Jugenderinnerungen berichtet, vorwiegend Schränke für ein Möbelgeschäft produzierte.40 Hier war das Verlagssystem im Wesentlichen mit Dequalifizierung gleichbedeutend, indem der Tischler zum Stuhlmacher und der Schneider zum Rockarbeiter wurde. Die verarmten Tischler und Schneider bildeten eine echte Reservearmee, die entsprechend den saisonalen oder konjunkturellen Bedingungen eingesetzt werden konnte. Gleichwohl war das Verlagssystem im weiteren Sinne weder ein Überbleibsel, noch blieb es nur auf eine beschränkte Zahl von Massenhandwerken beschränkt. Man denke an eine große Zahl von Handwerkern, die effektiv in größere Konzerne eingegliedert wurden, wie z. B. die Böttcher, die an große Brauereien gebunden waren, oder die Schmiede und Stellmacher, die im Fahrzeugbau arbeiteten.41 Bisweilen waren die nominell unabhängigen Werkstätten auch unmittelbar in einen umfassenden Produktionsprozess eingegliedert, ohne dass die Reichsstatistik davon Notiz nahm, weil sie technische Einheiten, nicht aber Betriebseinheiten zählte.42 In vielfältigen Formen expandierte das Verlagssystem auch nach der Jahrhundertmitte weiterhin, sei es in der Glasbläserei, der Klempnerei, der Töpferei oder bestimmten lederverarbeitenden Branchen. Dieses System bot Verlegern und Großunternehmern nach wie vor große Vorteile. Es bewahrte die Flexibilität kleiner Serien und schuf einen Puffer gegen schlechte Konjunkturen (insbesondere auf den stark 39 Siehe z. B. F. Lenger, Handwerk, Handel, Industrie. Zur Lebensfähigkeit der Düssel­dorfer Schneiderhandwerks in der zweiten Hälfte des Neunzehnten Jahrhunderts, in: U. Wengen­ roth (Hg.), Prekäre Selbständigkeit, S.  71–91; und F. Lenger, Polarisierung und Verlag. Schuhmacher, Schneider und Schreiner in Düsseldorf 1816–1861, in: Engelhardt (Hg.), Handwerker in der Industrialisierung, S.  127–145; K. Hausen, Technischer Fortschritt und Frauenarbeit im 19.  Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte der Nähmaschine, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 4, 1978, S.  148–169; R. Beier, Frauenarbeit und Frauenalltag im Deutschen Kaiserreich. Heimarbeiterinnen in der Berliner Bekleidungsindustrie 1880–1914, Frankfurt a. M. 1983. Die Arbeiten von Pierre Ayçoberry über Köln sind ebenfalls sehr aufschlussreich über verlegte Handwerksbranchen. Siehe Ayçoberry, Probleme der Sozialschichtung; ders., Der Strukturwandel im Kölner Mittelstand 1820–1850, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 1, 1975, S.  78–98; ders., Cologne entre Napoleon et Bismarck, Paris 1982. Diese Arbeiten über Deutschland haben auch andernorts ihre Gegenstücke, insbes. in Studien über das Bekleidungsgewerbe. Die Arbeiten von Duncan Bythell und James Schmiechen für England, und von Christopher Johnson für Frankreich sind hier zu nennen. 40 T. Heuss, Vorspiele des Lebens. Jugenderinnerungen, Tübingen 1953, S. 151. 41 Schmidt, Rolle des Kleingewerbes, S.  726–728; Wernicke, Kapitalismus und Mittelstands­ politik, S.  143. Über die verschwommene Grenze zwischen unabhängigen und abhängigen Handwerkern siehe auch Kocka, Unternehmer in der deutschen Industrialisierung, S. ­19–34; Eckart Schremmer, Die Wirtschaft Bayerns, München 1970, S. 472–479. 42 Fischer, Rolle des Kleingewerbes, S. 134.

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schwankenden Exportmärkten); darüber hinaus wurden keine Arbeitgeberbeiträge für die Kranken-, Invaliden- und Altersversicherung fällig. Die Rolle von Handwerkern in einem solchen Produktionssystem dokumentiert weder Anpassung noch Verdrängung, sondern eine Funktion, die von beidem gekennzeichnet ist. Sowohl Handwerker, die im Verlagssystem beschäftigt waren bzw. in größere Produk­tionsprozesse direkt eingegliedert wurden, wie jene, die sich auf Reparaturen beschränkten oder in der »kunsthandwerklichen« Produktion spezialisierten, bezeugen jeder auf seine Weise, dass die handwerkliche Produktion im Kaiserreich zwar lebensfähig blieb und dennoch ein wirtschaftliches Randphänomen geworden war. Wie das Kleinbürgertum als Ganzes eine wichtige Rolle als sozialer Puffer spielte,43 übernahmen auch Handwerker innerhalb des sich entwickelnden kapitalistischen Wirtschaftssystems eine unentbehrliche Hilfsrolle. Daher wäre es übereilt, von der Verdrängung des Handwerks im Kaiserreich schlechthin zu sprechen. Wohl darf man aber die Handwerker als eine weit­ gehend demoralisierte, teilweise sogar deklassierte Klasse bezeichnen.44 So auch die zeitgenössischen Konservativen, wenn sie das mangelnde »Standesbewußtsein« unter den Handwerkern bedauerten. Liberale bedienten sich dagegen eines anderen Begriffes für das gleiche Problem, wenn sie die Notwendigkeit eines höheren Grades an Selbsthilfe unter den Handwerkern forderten. Es fehlt nicht an Belegen für die weitverbreitete Demoralisierung vieler Handwerker in dieser Zeit: der Mangel an genossenschaftlichem Geist, das Misstrauen gegen technische Neuerungen und neue Arbeitsmethoden, die Tendenz, Sünden­böcke für ihre Probleme zu suchen, die schwindende Bedeutung von Handwerksmeister in den Vereinen, die häufig geäußerte Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die als einfacher und besser verklärt wurde. Dies alles waren Anzeichen einer Stimmung unter vielen Handwerkern (und nicht nur unter den wirklich proletarisierten), die in zahlreichen Autobiographien und Handwerkskammer­ berichten zum Ausdruck kommt. Hier werden freilich subjektive Reaktionen behandelt, die möglicherweise das dokumentieren, was Eugen Richter einmal »klagen ohne zu leiden« nannte. Aber diesen weitverbreiteten und fest verwurzelten Pessimismus sollte man nicht ohne weiteres als unberechtigte, antimoderne Paranoia abtun. Die wirtschaftlichen Verhältnisse, in denen sich viele Handwerker befanden, lassen es völlig plausibel erscheinen, wenn der Verleger oder der Zwischenhändler als Feind begriffen wird, während die Unbeständigkeit vieler Genossenschaften zugleich die Zurückhaltung gegenüber diesen Produktionsformen zeigt. Die 43 Siehe D. Blackbourn, Between resignation and volatility. The German petite bourgeoisie in the nineteenth century, in: Crossick u. Haupt (Hg.), Shopkeepers and Master Artisans, insbes. S. 43–49. 44 Eine Interpretation des Kleinbürgertums in dieser Richtung liefert A. Leppert-Fögen, Die deklassierte Klasse. Studien zur Geschichte und Ideologie des Kleinbürgertums, Frankfurt a. M. 1974.

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Nicht-Beteiligung in Vereinen könnte auch Ausdruck einer gedrückten materiellen Lage sein. Wie der entschieden standesbewusste Buchbinder Paul Adam über Ehrenämter in den Vereinen trocken bemerkte: »[sie] kosten nur und bringen nichts ein«.45 Es kann keinen Zweifel geben, dass sich die Kluft zwischen der sozio-ökonomischen Lage des Handwerks und des Bürgertums seit dem Vormärz geweitet hatte.46 So ist es z. B. bezeichnend, dass sich immer weniger Handwerkerfamilien ein Dienstmädchen leisten konnten.47 Zugleich konnten soziale Sicherheit und sozialer Status für Handwerkersöhne und -töchter seltener innerhalb der Aschenputtel-Welt des Handwerks selbst, sondern eher – wenn auch oft mit Bedauern – durch den Eintritt in die wachsende Gruppe der klei­ nen Beamten und Angestellten, gewahrt werden. Die Handwerkskammern berichteten häufig über diese Entwicklung, und neuere Studien über Angestellte insbesondere zeigen, dass sich diese neue Schicht in hohem Maße aus dem traditionellen handwerklichen Kleinbürgertum rekrutierte.48 Wie sich diese neuen Realitäten in den Familien auswirkten, schildert W ­ alter Hofmann in seiner Autobiographie, als er die Gefühle seines Handwerkervaters um 1900 beschreibt.49 »Er hatte sich zu einem Schritt entschlossen, der noch ein halbes Jahrzehnt früher in den alten Handwerker- und Kleinbürgerkreisen als ungeheuerlich empfunden worden wäre: er schickte seine Töchter in Sprach- und Handelskurse, um sie für einen Büroberuf vorzubereiten! Noch ein paar Jahre weiter, und der Vater, einst so eifrig darauf bedacht, sein ›schönes Geschäftel‹ einmal in die Hände seines Sohnes übergehen zu lassen, wird nun für seine Kinder und Enkel in einer Beamtenstellung das Heil des beruflichen Lebens erblicken, – nicht weil es das ›Bessere‹ war, sondern weil es das ›Sichere‹ erschien.« Trotz allem hochtrabenden Pathos zeigt diese Schilderung doch die resignative Stimmung selbst unter etablierten Handwerkern. Viele hatten tatsächlich genug Anlass zur Nörgelei und zum Pessimismus. Gerade weil so viele Handwerker auf dem Markt die Verlierer waren, wandten sie sich der Politik zu, oder, wenn man so will: waren auf die Politik angewiesen. Das ist auch nicht verwunderlich, hat es doch im Falle der Arbeiterbewegung eine vergleichbare Situa45 P. Adam, Lebenserinnerungen eines alten Kunstbuchbinders, Stuttgart 1951³, S. 95. 46 Die sich wandelnde Bedeutung des Begriffs·»Mittelstand« ist selbst sehr interessant. Im Vormärz wurden sowohl Handwerk und Bürgertum zum Mittelstand gezählt; in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurde dieser Begriff dagegen zunehmend nur noch für kleinbürgerliche Gruppen, wie Handwerker und Kleinhändler, im Unterschied zum wohlhabenderen Besitz- und Bildungsbürgertum benutzt. 47 R. Engelsing, Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten, Göttingen 1973, S. 240 u. S. 253. 48 Vgl. den Bericht der Handwerkskammer Frankfurt/Oder für die Jahre 1900–1904, nach: Wernicke, Kapitalismus und Mittelstandspolitik, S.  175–184. Allgemein hierzu H.  Speier, Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus, Göttingen 1977; J. Kocka, Die Angestellten in der deutschen Geschichte 1850–1980, Göttingen 1981. 49 W. Hofmann, Mit Grabstichel und Feder. Geschichte einer Jugend, Stuttgart 1948, S. 400.

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tion gegeben, in der relative Schwäche im wirtschaftlichen Bereich durch politische Organisation zum Teil  ausgeglichen werden konnte (oder wenigstens: sollte), indem man sich der Möglichkeiten des allgemeinen Wahlrechts zum Reichstag und der neuen Massenpolitik des wilhelminischen Deutschlands bediente. Die Handwerkergesetzgebung ab den achtziger und vor allem ab den neunziger Jahren, die man unter dem Etikett Mittelstandspolitik subsumieren darf, lässt sich als eine Reaktion auf die marktbedingte Schwäche des Handwerkers erklären. »Rettung des Handwerks« durch den interventionistischen Staat hieß die Parole der Handwerkerorganisationen, wie der Mittelstandsbewegung überhaupt.50 Es stellt sich aber die Frage, inwieweit diese äußerlich imposante Mittelstandspolitik des Reiches und der deutschen Einzelstaaten die Lage des Handwerks wesentlich verändert hat. Diese Politik richtete sich ohnehin nur an die bessersituierte Minderheit der Handwerker (wie auch an die bessersituierten Kleinhändler). So hatten z. B. die strenge Regelung des Lehrlingswesen und die Einführung des sogenannten kleinen Befähigungsnachweises für den verlegten Alleinmeister keine Bedeutung und die Veränderungen im Submis­ sionswesen waren für die Schmiede und Stellmacher, die auf die großen Wagenbauer angewiesen waren, ebensowenig von Belang. In gewisser Hinsicht hat die Mittelstandspolitik die Interessen ärmerer Handwerker sogar geschädigt. Die Ausnahmebesteuerung der Konsumvereine belastete z. B. die Handwerker, die diesen Organisationen angehörten, und die Meister, die an Warenhäuser und Filialgeschäfte lieferten, wurden ebenfalls von deren Sonderbesteuerung benachteiligt, denn derartige Geschäfte wälzten bekanntlich ihre zusätzlichen Kosten auf die Lieferanten ab.51 Aber auch die bessersituierten Meister, die in der Handwerkerbewegung den Ton angaben und eine umfassende Mittelstandspolitik verlangten, hatten von den verschiedenen Schutzmaßnahmen nicht allzuviel zu erwarten. Auf den ersten Blick scheinen diese Maßnahmen zwar wirkungsvoll gewesen zu sein, doch ihr Inkrafttreten zeigt, dass die meisten handwerkerfreundlichen Gesetze zu einem Randphänomen des herrschenden Wirtschaftssystems verurteilt waren. Die Neuregelung des Submissionswesens liefert das Beispiel eines Bereichs, wo alles wechselte und zugleich alles beim alten blieb. Die vorgeschriebenen Veränderungen hätten die Kosten staatlicher und städtischer Behörden beträchtlich 50 Allgemein zur Frage der Mittelstandspolitik siehe D. Blackbourn, Mittelstandspolitik im deutschen Kaiserreich, in: R. Melville u. a. (Hg.), Deutschland und Europa in der Neuzeit. Festschrift für Karl Otmar Freiherr von Aretin, Stuttgart 1988, Bd. 2, S. 555–573; ders., La petite bourgeoisie et l’Allemagne impériale. 1871–1914, in: Le Mouvement Social. Jg. 127, 1984, S.  3–28. Eine ganz andere Interpretation liefert H. A. Winkler, Der rückversicherte Mittelstand. Die Interessenverbände von Handwerk und Kleinhandel im deutschen Kaiserreich, in: W. Rüegg u. O. Neuloh (Hg.), Zur soziologischen Theorie und Analyse des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1971, S. 163–179. 51 A. Braun, Die Warenhäuser und die Mittelstandspolitik der Zentrumspartei, Berlin 1904, S. 22 f.; Crüger, Vortrag, S. 14; J. Wernicke, Der Mittelstand und seine wirtschaftliche Lage, Leipzig 1909, S. 44.

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erhöht und wurden daher wenn möglich umgangen. Hinzu kamen weitere Probleme: So beschwerte sich das preußische Kriegsministerium Ende 1905 sowohl über die schlechte Qualität der von den Handwerkern gelieferten Produkte wie auch über die Nichteinhaltung von Lieferungsterminen.52 Es liegt auf der Hand, dass selbst in Preußen bestimmte Ministerien mit einer Strategie des minimalen Entgegenkommens auf die neuen Richtlinien im Submissionswesen reagierten. Ähnliches gilt in anderen Bereichen. Vor allem die Reichsgesetzgebung von 1897, die fakultative Zwangsinnungen und Handwerkskammern einführte und das Lehrlingswesen neu regelte, hat bittere Enttäuschung ausgelöst, da sie die hochgeschraubten Erwartungen nicht erfüllte.53 Wenn man diese Beschwerden nicht für bare Münze halten will, so sollte man sie dennoch nicht nur als unberechtigte Nörgelei oder Paranoia abstempeln. Organisierte Handwerker hatten durchaus Anlass, sich über die vermeintlich um ihretwillen erlassenen Gesetze skeptisch zu äußern. Denn trotz des scheinbar imposanten Gefüges der Mittelstandspolitik, die das Handwerk retten sollte, überschritten die gesetzgebenden Regierungen gewisse Grenzen meistens nicht. Einerseits sprachen die Reichsregierung und die Staatsregierungen aller Richtungen von der Notwendigkeit, ein gesundes Handwerk aufrechtzuerhalten. Andererseits mussten Handwerkerforderungen neben andere Erwägungen gestellt und abgewogen werden. In gewisser Hinsicht hatten die Regierungen im Kaiserreich ein größeres Interesse an der Beschränkung als an der laut gepriesenen Aufrechterhaltung des Handwerkerstandes. Denn die Bedürfnisse des hochentwickelten kapitalistischen Systems, das Anfang des 20.  Jahrhunderts in Deutschland entstanden war, erforderten eine Verschiebung der Arbeitskräfte und anderer Ressourcen, die von dem an den Rand gedrängten Handwerk teilweise »gehortet« wurden.54 Vom bürokratischen-technokratischen Standpunkt aus hätte sich eine derartige Verschiebung nicht nur auf die staatlichen Steuereinnahmen sondern auch allgemein auf die »nationale Effizienz« positiv ausgewirkt und hätte außerdem den Interessen des Staats als Arbeitgeber entsprochen. Was die Interessen des Staats anbelangt, wurde die Funktion des Handwerks als soziales Ventil hoch eingeschätzt. Vieles deutet aber darauf hin, dass die Rettung des Handwerks nicht zu erfolgreich sein sollte. Dagegen war man gerne bereit, den Eindruck entstehen zu lassen, dass das Handwerk geschützt würde. In politischer Hinsicht blieb die Aufrechterhaltung dieses Kernelements des Mittelstands eine heikle Angelegenheit, auch wenn ihre sozialwirtschaftliche Wirkung weniger bedeutend war.55 52 25 Jahre Deutscher Handwerks- und Gewerbekammertages, 1900–1925, Hannover 1925, S. 121–125. 53 W. Wernet, Soziale Handwerksordnung, Berlin 1939, S.  304 ff.; E. Aufmkolk, Die Gewerbliche Mittelstandspolitik des Reiches (unter besonderer Berücksichtigung der Nachkriegszeit), Emsdetten/Westf. 1930, S. 15 f. 54 Schmidt, Rolle des Kleingewerbes, S. 728. 55 Weitere Belege hierfür bei Blackbourn, Mittelstandspolitik.

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Das stärkere politische Auftreten des Handwerks wie des Kleinbürgertums überhaupt im Kaiserreich  – in den Verbänden, Parteien, Parlamenten  – spiegelte paradoxerweise die Tatsache, dass es ökonomisch und sozial in eine immer marginalere Position gedrängt wurde. Damit komme ich zur zentralen Frage zurück: Waren die Handwerker Gewinner oder Verlierer? Die alten pessimis­ tischen Argumente über den Niedergang des Handwerks waren sicherlich übertrieben, nicht zuletzt weil sie den Übergang von der kleingewerblichen Produktion zur fabrikmäßigen Produktion verabsolutierten. In diesem Sinne sind wir jetzt alle Revisionisten, indem wir der fortdauernden Rolle des Handwerks und der Kleinbetriebe im entwickelten Kapitalismus eine größere Bedeutung zuschreiben. Zum Teil heißt dies, dass man den Beitrag solcher Betriebe zum wirtschaftlichen Wachstumsprozess nicht außer acht lassen kann, indem man auf die erfolgreichen aus dem Handwerk hervorgegangenen Unternehmer aufmerksam macht. Wenn man aber das Handwerk als Ganzes betrachtet, dann haben die meisten Handwerker andere, eher sekundäre Rollen gespielt, und zwar als verlegte Handwerker, als Lieferanten, als Hilfskräfte, in der Reparatur. In diesem Sinne waren Handwerker eher Verlierer als Gewinner, indem sie sich anpassten, oder besser: sich anpassen mussten.

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5. Mittelstandspolitik im Kaiserreich1 »Was verstehen wir unter dem Mittelstande«? fragte 1897 Gustav Schmoller.2 Fragen über den Mittelstand – wie er zu definieren war, was aus ihm werden sollte – ordneten sich im Kaiserreich ein in eine Reihe von ›Fragen‹, die von der Arbeiterfrage über die Agrarfrage bis hin zur Beamtenfrage reichten. Die Debatte über den Mittelstand nahm die Aufmerksamkeit von Ministern, Parteipolitikern, Akademikern und Publizisten in Anspruch. Mehr noch: Wie man zur Frage des Mittelstands Stellung nahm, wurde zum Zeichen dafür, wie man im Kaiserreich an die Sozialfrage überhaupt heranging. Zu dieser Frage gab es freilich verschiedene Antworten, wobei sich drei Grundtendenzen erkennen lassen. Sozialdemokraten argumentierten orthodox-marxistisch, dass unabhängige Handwerker und Kleinhändler wie Bauern zum Verschwinden verurteilt waren. Sie behaupteten sogar, dass zahlreiche Kleinmeister und Kleinladeninhaber bereits proletarisiert seien, und hielten dies für eine sowohl notwendige wie auch positiv zu bewertende Entwicklung.3 Zudem betrachtete die SPD den sogenannten neuen Mittelstand als ein geistiges Proletariat. Eine Ausnahme bildeten hier die Revisionisten: Denn es war u. a. der Weiterbestand breiter und anscheinend lebensfähiger Mittelschichten, der Bernstein und gleichgesinnte Genossen veranlasste, die Marxsche Proletarisierungs-Prognose zu bezweifeln. 1 Mein Dank gilt Herrn Gerhard Wilke, der den Text dieses Aufsatzes sprachlich überarbeitet hat. Erstmals erschienen ist er in R. Melville u. a. (Hg.), Deutschland und Europa in der Neuzeit, 2 Bde., Wiesbaden 1988, Bd. 2, S. 555–573. Seither haben sich nur ein paar wenige Arbeiten mit den geschichtswissenschaftlichen Fragen beschäftigt, die ich in meinem Aufsatz erörtere: R. Unterstell, Mittelstand in der Weimarer Republik. Die soziale Entwicklung und politische Orientierung von Handwerk, Kleinhandel und Hausbesitz 1919–1933, Frankfurt a. M. 1989; H.-G. Haupt u. G. Crossick, Die Kleinbürger. Eine europäische Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1998; G. Bayerl u. K. Neitmann (Hg.), Brandenburgs Mittelstand. Auf dem langen Weg von der Industrialisierung zur Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts, Münster 2008. Die letztgenannte Arbeit zeigt bereits, wie sehr sich der Begriff des Mittelstands und der Blick darauf in Deutschland nach 1990 verschoben haben. Im Zentrum stehen jetzt der Mittelstand und die künftige Ökonomie, nicht der Mittelstand und die politische Vergangenheit. Beispiele dafür sind Hoffnungsträger Mittelstand. Entwicklung und Perspektiven in den neuen Bundesländern, Bonn 1995; B.-H. Hennerkes u. C. Pleister (Hg.), Erfolgsmodell Mittelstand, Wiesbaden 1999; F. Welter (Hg.), Der Mittelstand an der Schwelle zur Informationsgesellschaft, Berlin 2005; Mittelstand im globalen Wettbewerb. Referate des 45. FIW-Symposiums, Köln 2012. 2 G. Schmoller, Was verstehen wir unter dem Mittelstande?, Göttingen 1897. 3 E. Sinner, La politique de la social-démocratie allemande vis-à-vis de l’artisanat à la fin du XIXe siècle, in: Le Mouvement Social, Jg. 114, 1981, S. 105–123.

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Hierin kamen die Revisionisten dem Standpunkt der Liberalen in der Debatte über den Mittelstand nahe. Akademiker wie Johannes Wernicke, Politiker wie Gustav Stresemann und Interessengruppen wie der Hansabund äußerten sich alle weitgehend positiv zu den Zukunftschancen des Mittelstands. Sie wiesen auf die steigende Zahl von Angestellten und mittleren Beamten hin, als Beweis dafür, dass auch der moderne Kapitalismus neue, die soziale Stabilität fördernde, Mittelschichten hervorzurufen vermochte und boten dem alten Mittelstand vertraute liberale Heilmittel an, die immer noch Selbsthilfe, Genossenschaftsbildung und ›Anpassungsbereitschaft‹ hießen. Diese frohe Botschaft wurde aber insofern modern beschönigt, als der den elektrischen Motor verwendende Handwerker zum liberalen Symbol der Erneuerung des Mittelstands erkoren wurde.4 Sozialdemokraten und Liberale hatten zwar eine Mittelstandspolitik, aber weder die eine noch die andere Richtung hätte ihre jeweilige Politik als Mittelstandspolitik bezeichnet und stand diesem Begriff misstrauisch, ja sogar feindlich gegenüber. Denn das, was im Kaiserreich unter dem Namen Mittelstandspolitik lief, wurde in erster Linie und zu Recht mit den rechtsstehenden Parteien identifiziert, d. h. mit den Konservativen und dem rechten Flügel des Zentrums bzw. der Nationalliberalen. Die Polarisierungstendenzen in der Gesellschaft sahen vom Standpunkt der Konservativen ähnlich wie von dem der Sozialdemokratie aus, aber die Konservativen zogen gerade die umgekehrten Schlüsse daraus. Sie behaupteten, dass die Handwerker und Kleinhändler zusammen mit der Bauernschaft den besten Garant sozialer Stabilität darboten, fürchteten aber, dass der gewerbliche Aufsaugungsprozess diese unentbehrlichen Existenzen zwischen den Mühlsteinen des organisierten Kapitalismus und heranwachsenden Proletariats zu zerreiben drohte. Der schnell emporkommende neue Mittelstand bildete dagegen für die Konservativen keinen zuverlässigen Ersatz, blieben doch die Mitglieder dieser neuen Schicht, zwar gehobene, aber immer noch ›abhängige‹ Wesen – ein Symptom und kein Heilmittel. Nicht selten lässt sich ein Schuss Verachtung gegenüber der schlimmen Moderne an solchen Urteilen ablesen, so etwa wenn die wachsende Zahl von Detailreisenden (1898: 70.000) als »Hausierer in Lackstiefeln« abgetan wurde.5 Aus diesen Gründen erklärt sich das oft ständisch geprägte konservative Verlangen nach einer Mittelstands­ politik, die den »echten« Mittelstand retten sollte, ebenso wie Agrartarife und

4 Ein umfassender Überblick bei J. Wernicke, Kapitalismus und Mittelstandspolitik, Jena 1922², insbes. Kap. 11 u. 12. Siehe auch A. Leppert-Fögen, Die deklassierte Klasse. Studien zur Geschichte und Ideologie des Kleinbürgertums, Frankfurt a. M. 1974, S. 15–17; G. Eley, Reshaping the German Right, London 1980, S. 306–312; S. Mielke, Der Hansa-Bund für Gewerbe. Handel und Industrie 1909–1914, Göttingen 1976. 5 So der Zentrumspolitiker Karl Walter, hier zitiert nach D. Blackbourn, Between resignation and volatility: the German petite bourgeoisie in the nineteenth century, in: G. Crossick u. H.-G. Haupt (Hg.), Shopkeepers and Master Artisans in Nineteenth Century Europe, London 1984, S. 41. Zu diesem Thema siehe auch F. Weyer, Der reisende Kaufmann, Köln 1948.

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andere protektionistische Maßnahmen einen schollengebundenen und königstreuen Bauernstand angeblich erhalten hätten. Diese konservative Mittelstandspolitik ist es, die das Interesse moderner Historiker hauptsächlich geweckt hat. Die von den rechtsstehenden Parteien geforderten und ab den neunziger Jahren von Reichs- und Staatsregierungen eingeführten Maßnahmen zum »Schutz des Mittelstands« sind in jüngster Zeit häufig thematisiert worden. Der Zusammenhang ist ja vertraut: Mittelstandspolitik wird von Historikern als Musterbeispiel einer breit konzipierten konservativen Sammlungspolitik dargestellt, speziell als einen Versuch, einerseits jene Schichten, die vermeintlich für die Zukunftsmusik der Sozialdemokraten unempfänglich waren, zu erhalten und sie andererseits durch materielle Zugeständnisse an den Status Quo zu binden. Am deutlichsten hat Heinrich August Winkler diese Argumente formuliert, indem er auf eine do-ut-des Politik zwischen einem mittelstandserhaltenden Staat und einem staatserhaltenden Mittelstand hingewiesen hat.6 Weiterführend zu diesen Argumenten über die Rückversicherung des Mittelstands ist oft behauptet worden, dass der Mittelstand auch für die imperialistische Weltpolitik besonders anfällig war, durch die die traditionelle Elite im Kaiserreich vermeintlich versuchte, die Aufmerksamkeit breiter Schichten von innenpolitischen Problemen abzulenken.7 Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Behandlung der Frage, die über das eigentliche Problem hinaus geht, von Bedeutung ist. Die Mittelstandspolitik bezieht sich nicht nur auf die Art und Weise, wie wir Grundprobleme des Kaiserreichs selbst bewerfen, sondern sie ist auch von Belang, wenn wir Fragen über die Kontinuität etwa von Sozialstrukturen und Mentalitäten zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik stellen. Denn trotz der revisionistischen Versuche in letzter Zeit stimmen die meisten Historiker darin überein, dass Handwerker, Kleinhändler und Kleingewerbetreibende eine entscheidende Rolle in der faschistischen Massenbewegung Deutschlands spielten.8 Nehmen wir an, dass eine wirksame Mittelstandspolitik tatsächlich im Kaiserreich zustande kam, dann scheint diese bittere Nachgeschichte allzu verständlich. Demzufolge wäre das Verschwinden der protektionistischen Abschirmung in der Weimarer Republik ein schwerer Schlag für den kleinen Mann gewesen, was seine Ressentiments gegen das neue Regime nur verstärkt hätte. Hinzuzufügen wäre, dass die im Kaiserreich stark legitimierte ›antimoderne‹ Mentalität in den zwanziger Jahren vollends zum Ausdruck kam, indem der Mittelstand die schon eingeübten Sündenböcke  – 6 H. A. Winkler, Der rückversicherte Mittelstand. Die Interessenverbände von Handwerk und Kleinhandel im deutschen Kaiserreich, in: W. Rüegg u. O. Neuloh (Hg.), Zur soziologischen Theorie und Analyse des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1971, S. 163–179. 7 H. Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967; D. Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des wilhelminischen Deutschlands, Köln 1970; H.-U. Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1973. 8 So z. B. die neuere Untersuchung von T. Childers, The Social Foundations of Fascism in Germany 1919–1933, London 1983. Siehe aber auch die revisionistische Arbeit von R. Hamilton, Who Voted for Hitler?, Princeton 1982.

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den ›jüdischen‹ Liberalismus, das Manchestertum und die Sozialdemokratie – für seine drückenden Probleme verantwortlich machte.9 Dies sind wichtige und plausible Argumente, doch sie werfen auch Fragen auf. Zu allererst möchte man wissen, ob die Mittelstandspolitik in der Vorkriegszeit eigentlich funktionierte: Denn Annahmen über deren verhängnisvolle Wirkung sind eben nur Annahmen, solange nähere Untersuchungen ausbleiben. Im Kaiserreich entstand sicherlich eine weit ausgedehnte Mittelstandspolitik, jedoch diese Politik war imposant als politische Rhetorik nicht aber als sozialpolitische Leistung. Wenn jedoch  – wie unten argumentiert wird – der Staat über gewisse Grenzen hinaus den Mittelstand nicht erhalten konnte oder wollte, steht nicht ohne weiteres fest, dass der Mittelstand seinerseits eine eindeutig staatserhaltende Rolle im konservativen Sinne spielte, zumal es vielen Handwerkern und Kleinhändlern an der zugeschriebenen Substanz fehlte. Für die spätere Geschichte des Mittelstands sind diese Argumente natürlich auch nicht unbedeutend. Die Anfälligkeit wichtiger Teile des Mittelstands für den Nationalsozialismus bleibt unbestritten, weit weniger deutlich sind dagegen die Fäden, die die Mittelstandspolitik des Kaiserreichs mit den Ressentiments und dem politischen Verhalten dieser Schichten in der Weimarer Republik verbinden. Auf diese Frage wird im Folgenden näher eingegangen, in der Hoffnung dadurch etwas zur allgemeinen Debatte über die Kontinuität in der modernen deutschen Geschichte beitragen zu können. Schon in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts begegnet man dem Argument, dass der brave Mittelstand ein Recht auf den Schutz des Staats habe, weil er den gesunden Kern der Gesellschaft zwischen Armen und Reichen bilde.10 In diesem Sinne plädierten die Handwerkerpetitionen an das Frankfurter Parlament, wie auch die Nachfolger dieser Handwerker während den erhitzten Debatten der sechziger Jahre über die Gewerbefreiheit.11 Infolge der strukturellen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die im letzten Viertel des Jahrhunderts stattfanden, beklagten sich die Handwerkerorganisationen wiederum laut über den Krieg ›aller gegen alle‹ und den Verlust des goldenen Bo 9 H. A. Winkler, Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk und Kleinhandel in der Weimarer Republik, Köln 1972; M. Schumacher, Mittelstandsfront und Republik. Die Wirtschaftspartei – Reichspartei des deutschen Mittelstandes 1919–1933, Düsseldorf 1972. 10 Grundlegend zur Entstehung des Begriffs »Mittelstand« ist W. Conze, Mittelstand, in: O. Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 49–92. Siehe auch D. Blackbourn, The Mittelstand in German society and politics, 1871–1914, in: Social History, Jg. 4, 1977, S. 409–433; Mack Walker, German Home Towns, Cornell 1971. 11 Zu 1848 siehe T. S.  Hamerow, Restoration, Revolution, Reaction, Princeton 1958; Walker, Home Towns, insbes. S. 390 ff.; J. Bergmann, Das Handwerk in der Revolution von 1848, in: U. Engelhardt (Hg.), Handwerker in der Industrialisierung, Stuttgart 1984, S. 320–346. Zur Frage der Gewerbefreiheit A. Popp, Die Einführung der Gewerbefreiheit in Bayern, Leipzig 1928; U. Branding, Die Einführung der Gewerbefreiheit in Bremen und ihre Folgen, Bremen 1951; H. Sedatis, Liberalismus und Handwerk in der Zeit der Industrialisierung, Stuttgart 1979.

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dens des Handwerks, und wurden nun auch von den Schutzverbänden der Einzelhändler unterstützt, die auf die angebliche Gefahr durch Warenhäuser und Konsumgenossenschaften feindlich reagierten.12 Daher forderten Handwerkerund Detaillistenorganisationen, eben wie die neu auftretenden Dachverbände der Mittelstandsbewegung, den Schutz des Mittelstands gegen unlauteren Wettbewerb. Das Verlangen nach Staatsintervention wurde von rechtsstehenden Politikern aufgegriffen und angeregt, wobei die neunziger Jahre für die Entstehung einer hochprofilierten Mittelstandspolitik von entscheidender Bedeutung waren. In ihrem neuen Tivoli-Programm wiesen die Deutschkonservativen explizit auf den »staatserhaltenden« Mittelstand hin, während der 1893 gegründete Bund der Landwirte für sich ähnliche Argumente vorbrachte. In gleicher Weise wurde im Programm der Nationalliberalen Partei ein neues Gewicht auf die gesellschaftliche Bedeutung des Mittelstands gelegt. Sogar im Zentrum, wo man sich schon lange über die Gefahr sozialer Polarisierung ausgelassen hatte, brachte die heftige Debatte um das extrem konservative Oberdörffersche Programm zum Ausdruck, dass die Einschätzung des Mittelstands als Hilfsmittel im Kampf gegen den Umsturz an Bedeutung gewonnen hatte.13 Bis Ende des Jahrhunderts hatten alle diese Parteien ihre gut einstudierten Mittelstandsexperten, während die Mittelstandspolitik selbst zum großen politischen Schlagwort geworden war. Gleichzeitig gingen auch Regierung und Bürokratie vorsichtig auf Mittelstandsforderungen ein. Das Innungsgesetz von 1881 verlieh den neugestalteten Fachinnungen die Eigenschaft öffentlich-rechtlicher Verbände, kam aber den Forderungen nach obligatorischen Gesellenprüfungen und nach Handwerkskammern nicht entgegen. Im Laufe der achtziger Jahre wurde die Befugnis dieser Körperschaften durch mehrere Novellen allmählich erweitert, bis die Gesetzgebung von 1897 ganz neue Zustände schuf. Die von Historikern zurecht als Wasserscheide betrachteten Maßnahmen von 1897 gestatteten die Gründung von fakultativen Zwangsinnungen überall dort, wo sich die Mehrheit der entsprechenden Handwerksmeister dafür ausgesprochen hatte, und errichteten einen Netz von Handwerkskammern. Eine weitere Forderung der Handwerkerbewegung, die Lehrlingsausbildung betreffend, wurde dann 1908 teilweise erfüllt, indem der sogenannte kleine Befähigungsnachweis eingeführt wurde.14 12 Winkler, Der rückversicherte Mittelstand; S. Volkov, The Rise of Popular Antimodernism in Germany. The Urban Master Artisans, 1873–1896, Princeton/New Jersey 1978; R. Gellately, The Politics of Economic Despair. Shopkeepers and German Politics 1890–1914, London 1974. 13 Zu den Konservativen und dem Bund der Landwirte siehe H.-J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im Wilhelminischen Reich. 1893–1914, Hannover 1966. Zur Zentrumspartei siehe D. Blackbourn, Class, Religion and Local Politics in Wilhelmine Germany, Wiesbaden 1980, S.  53–57, 92–99 u. 141–164. Die entsprechenden Parteiprogramme bei F. Salomon, Die deutschen Parteiprogramme, Bd.  3, Leipzig 1907, S. 73 u. 83 f. 14 Siehe W. Wernet, Soziale Handwerksordnung, Berlin 1939, S. 290 ff.

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Neben diesen wesentlichen Bestandteilen eines wieder ins Leben gerufenen quasi-ständischen Systems – Schmoller sprach von einem Neumerkantilismus – wären andere handwerkerfreundliche Maßnahmen zu nennen. Die wichtigsten waren die Veränderungen im Submissionswesen, die erreichen sollten, dass der Kleingewerbetreibende seinen Anteil an öffentlichen Aufträgen bekam.15 Die Mittelstandspolitik erfasste auch die Sache der Kleinladenbesitzer, wie eine Reihe von Gesetzen auf Reichs- und Staatsebene bezeugt, darunter die Gesetze von 1896 und 1909 über unlauteren Wettbewerb. Versandgeschäfte, Detail­ reisende und Ausverkäufe wurden alle unter die Lupe genommen und die ihnen gestatteten Spielräume mehr oder weniger eingeschränkt. Vor allem aber wurde der »Schutz« des Kleinhandels mit der Ausnahmebesteuerung von Warenhaus und Konsumverein identifiziert. Die erste Warenhaussteuer führte 1899 die bayerische Regierung ein, was dann in Preußen, Sachsen, Württemberg, Baden, Braunschweig und anderen Staaten seine Nachahmung fand. Gleichzeitig machten die Staatsregierungen viele Zugeständnisse an die Gefühle der Kleinhändler. Sie genehmigten z. B. das Entfernen von Automaten auf Bahnhöfen und duldeten die für Ladenbesitzer vorteilhafte Handhabung der Sonntagsruhe.16 Maßnahmen dieser Art wurden ähnlich begründet wie die handwerkerfreundliche Gesetzgebung. So behauptete die hessische Regierung, dass die erhöhte Besteuerung der Konsumvereine »bei der schwierigen Lage des Kleinhandels und dem Interesse des Staats, eine möglichst große Anzahl Existenzen des Mittelstands zu erhalten…dringend geboten [wäre]«.17 Derartige Begründungen wurden bald zu etwas Alltäglichem in der wilhelminischen Politik. Wie ein liberaler Kritiker 1905 bemerkte, waren »mittelstandspolitische Ideen mehr und mehr gouvernmental geworden«.18 Die Mittelstandspolitik lässt sich ohne Zweifel in einen größeren politischen Zusammenhang einordnen. Langfristig war sie ein Zeichen des Übergangs am Ende des 19. Jahrhunderts von der verhältnismäßig liberalen Wirtschaftsund Sozialpolitik der sechziger und siebziger Jahre zu einer mehr protektionis­ tischen und korporatistischen Politik. Die Mittelstandspolitik lief parallel zum Agrarprotektionismus, ebenso wie die 1897 eingerichteten Handwerkskammern ihr Gegenstück in den 1894 gegründeten preußischen Landwirtschaftskammern fanden.19 Kurzfristig verkörperte die Mittelstandspolitik den Bruch mit der arbeiterfreundlichen Sozialpolitik des Caprivischen Neuen Kurses. Johannes Miquel, der eine Schlüsselfigur beim Rechtsrutsch in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre war, verlangte ausdrücklich eine Verlagerung der sozial15 Wernicke, Kapitalismus, S. 739–749. 16 Blackbourn, Class, S. 151; E. Sinner, Zur Durchsetzung der Sonntagsruhe im Kleinhandel in Bremen, in: W. U. Drechsel u. a. (Hg.), Geschäfte, Teil 1. Der Bremer Kleinhandel um 1900, Bremen 1982, S. 177–206. 17 B. Adelung, Der 34. hessische Landtag 1908–11, o. O. 1911, S. 93. 18 Wernicke, Kapitalismus, S. 451. 19 Siehe vor allem H. A. Winkler, Pluralismus oder Protektionismus?, Wiesbaden 1972. Grundlegend zu dieser Frage auch Rosenberg, Depression.

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politischen Zielsetzung. Denn laut Miquel vermochte die Arbeiterfürsorgepolitik nicht, die Arbeiter selbst zu versöhnen, hatte aber das Vertrauen des staatserhaltenden Mittelstands in die Regierung erschüttert.20 Auf den ersten Blick scheint es also angebracht, die Mittelstandspolitik als einen wichtigen Bestandteil der weitreichenden konservativen Sammlungs­ politik zu betrachten, zumal die Mitglieder des Mittelstands als besonders anfällige Adressaten einer säbelrasselnden Weltpolitik galten. Diese Annahme scheint durch das Verhalten vieler Mittelständler selbst bestätigt zu werden. Sicherlich war vor allem in Handwerkerkreisen die Auffassung weit verbreitet, dass der Handwerksmeister Inbegriff des königs- und vaterlandstreuen Deutschen war. Sowohl die Autobiographien »standesbewußter« Handwerker wie auch die Photographien etwa der Schornsteinfeger und Bäcker, die 1913 beim Silberjubiläum des Kaisers in formeller Berufskleidung vorbeimarschierten, lassen diese Mentalität erblicken.21 Konkreter und weniger impressionistisch könnte man auf die Äußerungen der Handwerker- und Kleinhändlerorganisationen bzw. der mittelständischen Dachverbände hinweisen, die ihren Stand als unentbehrlichen Puffer gegen die drohende Gefahr des Proletariats lobpriesen. Der Reichsdeutsche Mittelstandsverband (1914: 630.000 Mitglieder) feierte den Mittelstand als »des Volkes Rückgrat, auch im staatserhaltenden Sinne«, und fügte hinzu: »Im Mittelstand ist ein tüchtiger Kern königstreuer, vaterländischer Gesinnung enthalten, der [sich] als kräftiges Bollwerk allen Umsturzbestrebungen entgegenstellt«.22 Was die Stellung zur »Umsturzbewegung« betrifft, ist es vielleicht bezeichnend, dass organisierte Kleinhändler sogar die Waffe des Boykotts gegen Warenhauslieferanten ablehnten, weil sie mit der »revolutionären Sozialdemokratie« in Verbindung gebracht wurde.23 Die Loblieder des Reichsdeutschen Mittelstandsverbandes über die patriotische Gesinnung des Standes waren auch nicht aus der Luft gegriffen, denn unter den Mitgliedern der nationalen Verbände waren Bäcker, Drogisten, Gasthausbesitzer und Kleingewerbetreibende verschiedener Art überproportional vertreten.24 Gab es also ein enges Verhältnis zwischen Staat und Mittelstand, und stützten sie sich gegenseitig wie zwei Weizengarben?

20 K. E. Born, Staat und Sozialpolitik im Deutschen Kaiserreich, in: E. Heinen u. a. (Hg.), Geschichte in der Gegenwart. Festschrift für Kurt Kluxen, Paderborn 1972, S. 190 ff. 21 Siehe die Photographien bei J. C. G. Röhl u. N. Sombart (Hg.), Kaiser Wilhelm II. New Interpretations, Cambridge 1982. Vgl. auch die Diskussion über die Frage der »Handwerkermentalität« bei Blackbourn, Resignation, insbes. S. 43 f.; und bei Leppert-Fögen, Klasse, Kap. 3. 22 Zitiert nach Winkler, Der rückversicherte Mittelstand, S. 170. Vgl. auch o. A., Der Mittelstand – der letzte oder der erste Stand?, in: Nordwestdeutsche Handwerkerzeitung, 6.1.1912, zitiert nach H.-G. Haupt, Die radikale Mitte. Lebensweise und Politik von Handwerkern und Kleinhändlern in Deutschland seit 1848, München 1985, S. 141–144. 23 Gellately, Shopkeepers, S. 67 f. 24 Eley, Reshaping, insbes. S. 122 ff.

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In der Tat hat man guten Grund, sowohl den mittelstandserhaltenden Staat wie auch den staatserhaltenden Mittelstand skeptisch zu betrachten. Zunächst taucht die Frage über die Adressaten der Mittelstandspolitik auf, denn es lässt sich ernsthaft bezweifeln, ob der Mittelstand wirklich so war, wie seine begeisterten Befürworter gerne behaupteten. Wie viele Handwerker oder Kleinladeninhaber passten zu dem idealisierten Bild eines rettenswerten Mittelstands? Vielmehr war Mittelstandspolitik für viele nominelle Mitglieder dieses Standes bestenfalls irrelevant, wenn nicht sogar schädlich. Man neigt dazu, sich als Paradebeispiel des Wilhelminischen Handwerkers den über die Welt jammernden doch immerhin vermögenden Metzger- oder Glasermeister vorzustellen, der die fiktive Klassenharmonie in seiner Werkstatt als soziales Vorbild vertrat und daraufhin den Befähigungsnachweis verlangte. Die Wirklichkeit war anders: von den 1,3 Millionen im Jahre 1895 gezählten Handwerksmeistern waren etwa 700.000 Alleinmeister.25 Eine Enquête von 1890 legte dar, dass bis zu 87 Prozent aller Handwerker in den Bekleidungsbranchen zu dieser Kategorie gehörten. Diese Klein- und Kleinstbetriebe waren meistens kapitalarm, ihre Inhaber mieteten häufig Hinterzimmer oder Keller zu einer Zeit, als Mieten in die Höhe stiegen, und – falls sie noch auf eigene Faust arbeiteten – konkurrierten stark untereinander. Manche hatten sich bereits auf Reparatur beschränkt, andere waren kaum als unabhängig zu bezeichnen, sondern in Produktions- und Verteilungssysteme verflochten, die sie selbst weder übersehen noch kontrollieren konnten. Das gilt in erster Linie für die ›verlegten‹ Handwerker wie die verarmten Schneider, Schuhmacher und Tischler, die eine echte Reservearmee der Arbeit bildeten, die man gemäß saisonalen oder konjunkturellen Schwankungen verwenden konnte. Ebenso wurden etwas mehr als die Hälfte der 790.000 im Jahre 1907 gezählten Detailgeschäfte von einer Person ohne Gehilfen geführt.26 Die im Kaiserreich schnell steigende Zahl von Kleinhandelsläden umfasste nicht nur die relativ stabilen und »mittelständischen« Kolonial-, Kurz- und Weißwarengeschäfte, sondern auch die ums Überleben ringenden, häufig nur kurz existierenden Tabakläden sowie die im Hausflur untergebrachten Kramläden, wo Frisch- oder Gemischtwaren verkauft wurden. Es ist für die Instabilität in letzteren und ähnlichen Branchen bezeichnend, dass in Bremen zwischen 1890 und 1914 durchschnittlich zwei Drittel aller Kleinhandelsläden nicht länger als sechs Jahre bestanden.27 Geschäfte dieser Art stellten manchmal einen Not­ beruf für ehemalige Handwerker dar, während in den Arbeitervierteln der größeren Städte die Eröffnung eines Ladens oder das Führen einer Kneipe oft eine 25 Schmoller glaubte, dass »wohl drei Viertel« aller Handwerksmeister Alleinmeister waren. Die Berufszählungen von 1895 und 1907 und die Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik deuten jedoch darauf hin, dass dieser Anteil im Durchschnitt eher bei 55 % lag. Eine ausführliche Diskussion hierzu bei Wernicke, Kapitalismus, S. 137 ff.; Volkov, Master Artisans, S. 32–94. 26 Gellately, Shopkeepers, S. 29–33. 27 H.-G. Haupt, Kleinhändler und Arbeiter in Bremen zwischen 1890 und 1914, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 22, 1982, S. 108–110.

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zusätzliche Einkommensquelle für Arbeiter bzw. Arbeiterfrauen oder Witwen war. Prekäre Alleinmeister und Kramladenbesitzer gehörten nur dem Namen nach zum Mittelstand und hatten von der Mittelstandspolitik wenig zu erwarten. Der Befähigungsnachweis und die strenge Regelung des Lehrlingswesens hatten für den verlegten Alleinmeister keine Bedeutung; die Veränderungen im Submissionswesen waren für den Maurer, der seine Arbeitskraft an den Bauunternehmer verkaufte, oder für die Schmiede und Stellmacher, die auf die großen Wagenbauer angewiesen waren, ebensowenig von Belang. Es überrascht kaum, dass es eigentlich die besser gestellten Meister waren, die von Anfang an den Innungen beitraten und in den Handwerkskammern den Ton angaben. In gewisser Hinsicht hat die Mittelstandspolitik die Interessen ärmerer Handwerker sogar unmittelbar geschädigt. Die Ausnahmebesteuerung der Konsumvereine belastete z. B. die Handwerker, die diesen Organisationen angehörten. Um die Jahrhundertwende waren 27 Prozent der Mitglieder der Breslauer Konsumgenossenschaft »Unabhängige«, in der Lübecker Genossenschaftsbäckerei waren es 2 Prozent.28 Die Meister, die an Filialgeschäfte und Warenhäuser lieferten, wurden auch von deren Ausnahmebesteuerung tendenziell benachteiligt; denn derartige Geschäfte wälzten bekanntlich ihre zusätzlichen Kosten auf die Lieferanten ab.29 Die Warenhaussteuer war überhaupt eine fragwürdige jedoch bedeutsame Fixierung der Mittelstandspolitiker; denn angesichts des geringen Anteils der Warenhäuser am gesamten Detailumsatz (1909 waren es nur noch 2 Prozent30) könnte man mit Recht behaupten, dass für die Mehrheit der Kleinhändler außerhalb bestimmter Branchen die Warenhaussteuer von untergeordneter Bedeutung war, im Vergleich etwa zur Regelung des Hausierhandels, dem von Mittelstandspolitikern und Funktionären weniger Beachtung geschenkt wurde. Es lassen sich auch andere Fälle leicht aufzählen, wo die Mittelstandspolitiker an den schlimmsten Problemen zahlreicher Kleinladeninhaber vorbeiredeten. So wurde die vernichtende Konkurrenz unter den Detaillisten nach Möglichkeit als Verlegenheitssache beiseite geschoben. In ähnlicher Weise betonte man nachdrücklich die Parole ›nur gegen bar‹, obwohl Kleinladeninhaber außerhalb der Einkaufszentren in der Praxis oft gezwungen waren, ihren weniger bemittelten Kunden Kredit zu geben. Es ist kein Zufall, dass die Äußerungen der Parteiexperten und Verbandsleiter den Erfahrungen so vieler Kleinhändler nicht entsprachen. Diese Äußerungen entsprangen dem idealisierten Bild eines soliden Kleinhandelsstandes, während tatsächlich nur eine Minderheit aller Ladenbesitzer diesen Status beanspruchen durfte, und es oft die besser situierten waren, die die Interessen des ›Standes‹ definierten. Die Analyse sowohl der führenden Kräfte in den Schutzverbänden wie auch der durch Steuerqualifika-

28 F. Naumann, Demokratie und Kaisertum, Berlin 1904, S. 79 f. 29 A. Braun, Die Warenhäuser und die Mittelstandspolitik der Zentrumspartei, Berlin 1904, S. 22 f. 30 J. Wernicke, Der Mittelstand und seine wirtschaftliche Lage, Leipzig 1909, S. 35.

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tionen beschränkten Mitgliederschaft der Hamburger Detaillistenkammer bestätigt dieses Urteil.31 Die Mittelstandspolitik hatte also eine geringe Bedeutung für rein nominelle Mitglieder des Mittelstands. Das heißt umgekehrt, dass mindestens ein hochgepriesenes Ziel dieser Politik in Frage gestellt wurde. Der Mittelstand sollte als Bollwerk gegen gesellschaftliche Polarisierung aufrechterhalten werden, obwohl eine beträchtliche Zahl Handwerker und Kleinhändler schon in proletarischen Verhältnissen lebte, worauf die SPD nicht ohne Schadenfreude hinwies. Der Mittelstand war tatsächlich eher Symptom als Heilmittel; denn unter den degradierten Mittelstandsschichten kann von einem staatserhaltenden Stand im gängigen Sinne kaum die Rede sein. Das Meister-Lehrling Verhältnis war z. B. als Symbol patriarchalischer Harmonie und Stabilität fehl am Platz, wenn Alleinmeister um ihr Auskommen bangten. Ebensowenig konnte das tüchtige Familiengeschäft verallgemeinernd als Vorbild hingestellt werden, wenn es sich dabei oft um eine Arbeiterwitwe handelte, die Zigarren von einer Tabakbude verkaufte. Unter solchen Umständen teilten Mittelstand und Arbeiterklasse zahlreiche Lebenserfahrungen, von der gefürchteten Auswirkung der Krankheit eines Familienmitglieds auf das materielle Aufkommen bis hin zur Heirat und sozialen Mobilität auf- und abwärts über die unscharfe Klassenlinie. Die Kinder verarmter Handwerker spielten mit Arbeiterkindern auf der Straße, Kleinhändler vermieteten Zimmer an Arbeiter.32 In jener breiten Grauzone, wo der Mittelstand in die Arbeiterklasse überging, war es schwer möglich, ersteren schlechthin als Puffer gegen die gefährlichen Habenichtse darzustellen. Natürlich stimmen materielle Lage und sozialpolitische Ansichten nicht gesetzmäßig überein. Ausgerechnet die Literatur über das Kleinbürgertum hat uns darüber reichlich belehrt. Es ist wohl möglich, dass die Angst vor der Proletarisierung manche proletaroiden Kleinmeister angereizt hat, die realen oder fiktiven ›feinen Unterschiede‹ zu übertreiben, die sie von der Arbeiterklasse unterschieden. Auch das Verhältnis zwischen dem Detaillisten und seinem Kunden bzw. Mieter wird wohl nicht frei von Spannungen gewesen sein. Trotzdem deutet vieles darauf hin, dass eine bedeutende Schicht innerhalb des angeblich staatserhaltenden Mittelstands nicht nur im Arbeitermilieu, sondern auch in der politischen Subkultur der Arbeiterbewegung lebte. Vor dem Ersten Weltkrieg bekam die SPD eine beträchtliche Zahl nichtproletarischer Wahlstimmen, vor allem in den Großstädten, worunter bekanntlich viele Stimmen von Handwerksmeistern, Kleinhändlern und Kleingewerbetreibenden stammten.33 Man denke hier an die Kleinhändler, die streikenden Arbeitern Kredit gewähr31 Haupt, Bremer Kleinhandel, S. 15; Gellately, Shopkeepers, S. 106 ff. 32 Haupt, Kleinhändler und Arbeiter, S. 111–119 u. 128 f.; J. Kocka, The study of social mobility and the formation of the working class in the 19th century, in: Le Mouvement Social, Bd. 111, 1980, S. 97–117; Blackbourn, Resignation, S. 48. 33 R. Blank, Die soziale Zusammensetzung der sozialdemokratischen Wählerschaft Deutschlands, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 20, 1905, S. 507–550.

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ten34, oder an die berühmten Parteibudiger (in der Hamburger Partei 1911/12 gab es nicht weniger als 1.600), die in der wilhelminischen SPD eine so strategische Rolle spielten.35 Die Anziehungskraft der SPD unter den Kleinmeistern ist noch besser belegt, obwohl Bebel übertrieben hat, als er einmal behauptete, »alle Handwerker« wären Sozialdemokraten. Wie die Handwerkskammer Kassel 1904 berichtete, hatte »Gleichgültigkeit und Mutlosigkeit« unter Handwerkern »zur offenen Unterstützung der Umsturzbewegung« geführt.36 Ihrerseits hat die SPD zwar den Handwerkerstand als historisches Fossil abgetan, aber selbst um die »kümmerlich vegetierenden Kleinhandwerker«37 eifrig geworben. Die Zahl von Handwerkern in führenden Posten der Partei braucht auch kaum erwähnt zu werden. Es sind aber nicht nur die verarmten Kleinmeister und Ladeninhaber, deren Treue zur konservativen Sache bezweifelt werden kann. Denn auch in den solideren, sich zum Mittelstand rechnenden Handwerker- und Detaillistenkreisen war die Haltung gegenüber Mittelstandsrettern von Misstrauen geprägt. Die oft bemerkte Unbeständigkeit des Mittelstands hing mit seinem starken Moralismus eng zusammen. Die Fixierung auf den unlauteren Wettbewerb ist ein gutes Beispiel dafür. Die sozialen und politischen Folgen dieses Moralismus waren wiederum ein hoher Grad von Unberechenbarkeit: Die moralisch geprägte Haltung erklärt einerseits den Appel an den Staat, der eine heile Welt harmonischer Sozialverhältnisse wiederherstellen sollte, während andererseits diese gleiche Haltung zu ressentimentgeladenen Angriffen auf den Staat selbst führte, sei es als Steuereinnehmer, als Arbeitgeber oder als Gewährer nivellierender Sozialleistungen.38 Die Rhetorik der Verbandsfunktionäre, dass der Mittelstand eine unentbehrliche Stütze von Staat und Gesellschaft sei, verkörperte eine Art von Erpressung. Denn der Syllogismus mittelstandserhaltender Staat – staatserhaltender Mittelstand bedeutete im Klartext: wenn nicht das eine, dann auch nicht das andere. Vom Standpunkt deutscher Regierungen und rechtsstehender Parteien aus stellten also die Forderungen des standesbewussten Mittelstands nicht nur eine Möglichkeit, sondern auch eine Herausforderung dar. Mittelstandspolitik war deshalb keine mühelose Mobilisierung von oben, sondern ein Versuch, das politische Potential des Standes auszunutzen, während gleichzeitig seine Gefahr neutralisiert werden sollte. Unter diesen Umständen hing viel von der Wirksamkeit der Mittelstandspolitik ab. 34 D. Crew, Town in the Ruhr. A Social History of Bochum 1860–1914, New York 1979, S. ­131–145, bes. S. 142 f. 35 W. L. Guttsman, The German Social Democratic Party 1875–1933, London 1981, S. 160, Tabelle 4.5. Vgl. auch R. Michels, Political Parties, London 1915, S. 269. 36 Zitiert nach Wernicke, Kapitalismus, S. 159. 37 Wahlaufruf der württembergischen SPD 1906, in: Schwäbische Tagwacht, 27.11.1906. Die Partei wollte auch an den »kleinen Handwerker« appellieren, »der sich, obgleich er 2 Gehilfen beschäftigt, in seinem Einkommen und seinen ganzen sozialen Verhältnissen von einem Lohnarbeiter durch nichts unterscheidet«. 38 Ausführlicher hierzu Blackbourn, Resignation, S. 51 ff.

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Wie gut funktionierte eigentlich die Mittelstandspolitik? Diese Frage bleibt überraschend wenig untersucht, doch es gibt Hinweise, dass diese Politik letzten Endes nicht die Wirkung hatte, die ihr stillschweigend zugeschrieben wird. Nehmen wir als Beispiel die vielzitierte Warenhaussteuer: Sie spornte die Warenhäuser zu noch größeren Umsatz an, während die Kosten auf Lieferanten bzw. indirekt auf andere Detaillisten abgewälzt wurden.39 Privat gaben sogar Schwärmer für die Warenhaussteuer zu, dass sie in volkswirtschaftlicher Hinsicht unsinnig war.40 Die gegen die Konsumgenossenschaft gerichtete Gesetzgebung vermochte auch nicht, ihr Wachstum zu verhindern.41 Auf den ersten Blick scheinen die Maßnahmen zugunsten der Handwerker wirkungsvoll gewesen zu sein, doch ihr Inkrafttreten zeigt, dass auch diese Gesetze zu einem Randphänomen des herrschenden Wirtschaftssystems verurteilt waren. Ein Beispiel: Ab den neunziger Jahren nahm die Zahl der in Innungskrankenkassen Versicherten mit der allgemeinen Verstärkung der Innungen zu, dennoch waren das 1913 immer noch nur 2,5 Prozent aller Versicherten.42 Die Neuregelung des Submissionswesens liefert ein weiteres Beispiel eines Bereichs, wo sich alles änderte und doch alles beim Alten blieb. Die vorgeschriebenen Veränderungen hätten die Kosten staatlicher und städtischer Behörden beträchtlich erhöht und wurden daher wenn möglich umgangen. Zusätzliche Probleme tauchten auf: So beschwerte sich das preußische Kriegsministerium Ende 1905 sowohl über die schlechte Qualität der von den Handwerkern gelieferten Produkte wie auch über die Nichteinhaltung von Lieferungsterminen.43 Es liegt auf der Hand, dass selbst in Preußen bestimmte Ministerien mit einer Strategie des minimalen Entgegenkommens auf die neuen Richtlinien im Submissionswesen reagierten. Vor allem litten die 1897 neugestalteten Innungen unter einem Mangel an sozioökonomischer Muskelkraft. Laut § 100q der Reichsgewerbeordnung durften die Innungen keine Preise festlegen, was den handwerkerfreundlichen Wilhelm Wernet dazu veranlasste, den öffentlich-rechtlichen Zwang der fakultativen Zwangsinnungen dem privat-wirtschaftlichen Marktzwang gegenüberzustellen.44 Auch aus anderen Gründen erklärten sich Handwerker mit der Gesetzgebung unzufrieden, wobei die Ablehnung des Befähigungsnachweises seitens 39 Braun, Warenhäuser; H. Crüger, Vortrag über gewerbliches Genossenschaftswesen, Warenbazare und Großwarenhäuser…, Stuttgart 1899, S. 14; Wernicke, Mittelstand, S. 44. 40 G. Tietz, Hermann Tietz, Stuttgart 1955, S. 46. 41 Vgl. E. Aufmkolk, Die gewerbliche Mittelstandspolitik des Reiches, Diss. Münster, Emsdetten/West. 1930, S. 62: »Das positive Ergebnis des Kampfes gegen die Konsumvereine ist gering gewesen«. 42 Wernet, Handwerksordnung, S. 316. 43 25 Jahre Deutscher Handwerks- und Gewerbekammertag 1900–1925, Hannover 1925, S. 121–125. 44 Wernet, Handwerksordnung, S.  312. Vgl. aber auch das Urteil Fritz Kestners, dass trotz § 100q der RGO Zwangsinnungen oft »kartellmäßige Abreden« trafen: F. Kestner, Der Organisationszwang, Berlin 1927, S. 133. Siehe auch R. von Passow, Die Bilanzen der privaten und öffentlichen Unternehmungen, Bd. 2, Leipzig 1919, S. 127.

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der Regierung an die erste Stelle trat. Als das Lehrlingsausbildungswesen im Jahre 1908 durch den sogenannten kleinen Befähigungsnachweis nochmals neu geregelt wurde, konnte auch das neue System die Wünsche der Handwerkerorganisationen nicht erfüllen. Ernsthafte Bedenken gab es angesichts der Definition des Handwerks, die in der Praxis das Ausscheiden vieler der finanziell lebensfähigsten Handwerksbetriebe aus den Innungen nach sich zog, was wiederum nicht ohne Wirkung auf die Finanzierung ihrer Fachschulen und anderer Einrichtungen blieb. Hier begegnen wir tatsächlich einer Ironie, die auf die Probleme eines »Mittelstands innerhalb des Mittelstands« aufmerksam macht: Denn einerseits sprachen die neuen Körperschaften die Bedürfnisse proletarisierter Kleinmeister nicht an, andererseits befürchteten die Innungen und Kammern, wegen der Nicht-Teilnahme der zu Unternehmern aufgestiegenen Großhandwerker nur auf die »Ärmsten der Armen« angewiesen zu sein.45 Vor dem gleichen Dilemma standen die von Handwerkern gebildeten Rohstoff- und Erzeugungsgenossenschaften, die oft eingingen, weil die erfolgreichsten Meister ihnen nicht beitraten bzw. sie bald wieder verließen.46 Deswegen traten die Handwerkerorganisationen für eine Festsetzung des Begriffs »Großhandwerk« energisch ein, um die widerspenstigen Meister zur Erfüllung ihrer Standesverpflichtungen zu zwingen. Der Tendenz nach fielen die juristischen Urteile (vor allem des Reichsgerichts) nach § 100f der Reichsgewerbeordnung meistens nicht zugunsten der Handwerkerorganisationen aus, während die Forderung seitens der Handwerkskammer nach der Einrichtung lokaler Schiedsgerichte, die diese Abgrenzungsstreitigkeiten schlichten sollten, an den Auseinandersetzungen mit den einflussreichen Handelskammern über die Zusammensetzung der Schiedsgerichte scheiterte. Das Argument der Handelskammer, den Vorsitz jedes Schiedsgerichts müsse ein Gewerbeaufsichtsbeamter innehaben, stieß auf die erbitterten Klagen der Handwerkskammer über »die größere Hinneigung dieser Beamten zur Industrie«.47 Wie verärgerte Befürworter der Handwerkersache bemerkten, war es bezeichnend, dass die Reichsstatistik bei der Berufs­ zählung keine Kategorie ›Handwerk‹ aufführte.48 Aus allen diesen Gründen wurden mittelstandspolitische Maßnahmen in den betroffenen Kreisen als unzulänglich kritisiert. Natürlich sollte man diese Beschwerden nicht für bare Münze halten, denn die Handwerkskammern und Detaillistenverbände machten sich häufig dessen schuldig, was Eugen Richter einmal »klagen ohne zu leiden« nannte. Die Mittelstandsorganisationen neigten dazu, ein Maximalprogramm aufzustellen und sich dann wegen dessen Nicht45 Die Entwicklung der Frage »Fabrik und Handwerk« in Schrifttum und Rechtsprechung. Denkschrift des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages, Hannover 1926, S. 12 u. 19 f. 46 A. Gemming, Das Handwerkergenossenschaftswesen, Stuttgart 1911, S. 82 u. 95–97.; Crüger, Vortrag, S. 28. 47 Die Entwicklung der Frage, S. 49. 48 25 Jahre Deutscher Handwerks- und Gewerbekammertag, S. 72.

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erfüllung zu beschweren.49 Jedoch hatten die Betroffenen auch Anlass, sich über die vermeintlich um ihretwillen erlassenen Gesetze skeptisch zu äußern. Denn trotz des scheinbar imposanten Gefüges der Mittelstandspolitik überschritten die gesetzgebenden Regierungen gewisse Grenzen meistens nicht, obwohl die in Frage kommenden Maßnahmen durch bürokratischen Widerstand sowieso wieder entschärft wurden. Als Beispiel dieser Zurückhaltung braucht man nur an den Staatssekretär des Innern, von Posadowsky, zu denken, dessen politisches Schicksal unbestreitbar mit der Miquelschen Sammlungspolitik und der politischen Wende am Ende der neunziger Jahre verbunden war. Posadowsky war es, der sich 1904 im Reichstag gegen eine Mittelstandspolitik wandte, die »ihr Heil in einer veralteten, fast mittelalterlichen Gesetzgebung« suchte – eine Haltung freilich, die den Protest des Mittelstandsvertreters Rahardt auf sich zog.50 Zwei Jahre später reagierte Posadowsky ebenso negativ auf einen Zentrumsantrag, der eine Enquête über die Lage des kaufmännischen Mittelstands verlangte. Er lehnte nicht nur eine solche Enquête als »undurchführbar« ab, sondern deutete auch an, dass er das Hauptübel im Kaufmannsstand in der rücksichtslosen Eröffnung neuer, nicht lebensfähiger Geschäfte sah.51 Während er sich in dieser Weise den vertrauten Argumenten der liberalen Kritiker der Mittelstandspolitik bediente, ließ er auch stillschweigend die Frage unbeantwortet, ob gesetzliche Beschränkungen des Wettbewerbs durch die Warenhäuser und Konsumvereine wirklich geeignet waren, die vom Zentrum und anderen verlangte »Gesundung der Verhältnisse des Mittelstands« herbeizuführen. Eine derartig kühle Zurückhaltung findet man auch in Regierungskreisen auf der wichtigen Ebene der Einzelstaaten. Bayern war zwar der Pionier der Warenhaussteuer, doch die Staatsregierung lehnte 1905 einen Zentrumsantrag ab, der die Warenhäuser noch schwerer belastet hätte.52 Auch die Regierungen im Nachbarstaat Württemberg nahmen Mittelstandsforderungen sehr vorsichtig, wenn nicht ganz skeptisch auf. Daher die Antwort auf eine Eingabe der Centralvereinigung der Vereine für Handel und Gewerbe, die auf die angebliche Gefahr der Beamtenkonsumgenossenschaften für den Kleinhandel hinwies. Die Analyse der Centralvereinigung wurde als »oberflächlich« zurückgewiesen und ihre Vorschläge ignoriert.53 Die Regierungen in Hamburg und Bremen vertraten meistens den gleichen Standpunkt, denn es waren gerade die süddeutschen und hanseatischen Vertreter im Bundesrat, die der Einführung des Befähigungsnachweises am entschiedensten entgegentraten, und auch im allge­ meinen versuchten, die Tragweite der Maßnahmen von 1897 zu beschränken.54 In Sachsen äußerte sich Minister von Metzsch ähnlich wie von Posadowsky und 49 F. Blaich, Staat und Verbände in Deutschland zwischen 1871 und 1945, Wiesbaden 1979, S. 26 f. 50 Stegmann, Erben, S. 134 f. 51 Wernicke, Kapitalismus, S. 399, Anm. 1. 52 Wernicke, Mittelstand, S. 41. 53 Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 130 II, Bü 486, Nr. 84. 54 25 Jahre Deutscher Handwerks- und Gewerbekammertag, S. 24 f.

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die liberalen Kritiker der Mittelstandspolitik, als er zu den Problemen der Detaillisten Stellung nahm: »So ist der Kleinhandel das große Sammelbecken geworden für zahlreiche Personen, die daran verzweifeln, auf anderem Wege ihr Auskommen zu finden. So lange der Kleinhandel den breiten Strom aller dieser Existenzen in sich aufgenommen hat, wird seine Lage trotz Ausnahmegesetzgebung der Großgeschäfte eine schwierige bleiben«.55 Das Engagement der Reichs- und Staatsregierungen in der Sache der Mittelstandspolitik sollte man nicht missdeuten. Einerseits sprachen Regierungen aller Richtungen von der Notwendigkeit, einen gesunden Mittelstand aufrechtzuerhalten – die württembergische ebenso wie die preußische, sowohl ›liberale‹ Staatssekretäre wie Boetticher als auch ›konservative‹ wie Posadowsky. Andererseits mussten Mittelstandsforderungen neben andere Erwägungen gestellt und abgewogen werden. In gewisser Hinsicht hatten die damaligen deutschen Regierungen ein größeres Interesse an der Beschränkung als an der Aufrechterhaltung des Mittelstandes.56 Denn, die Bedürfnisse des hochentwickelten kapitalistischen Systems, das Anfang des 20 Jahrhunderts im Kaiserreich entstanden war, erforderten eine Verschiebung der Arbeitskräfte und anderer Ressourcen, die bislang noch in der ›schwarzen‹ Wirtschaft des an den Rand gedrängten Mittelstandes beschäftigt blieben.57 Hier ging das volkswirtschaftliche Kalkül mit der Staatsräson Hand in Hand. Vom bürokratisch-technokratischen Blickwinkel aus hätte sich eine derartige Verschiebung nicht nur auf die staatlichen Steuereinnahmen, sondern auch allgemein auf die ›nationale Effizienz‹ positiv ausgewirkt und hätte außerdem den Interessen des Staates als Arbeitgeber entsprochen, denn für die Post und Eisenbahn brauchte man immer neue Arbeitskräfte. Die preußische Eisenbahnverwaltung war 1913 der größte Arbeitgeber auf der Welt: bei ihr fanden 560.000 Leute Beschäftigung, davon 200.000 Beamte.58 Es gibt reichliche Belege, dass die Söhne des Mittelstands in dieser Beziehung ein besonders vielversprechendes Rekrutierungsfeld darboten, wie zahlreiche demoralisierte Handwerker selbst zugaben.59 Was die Interessen des Staates anbelangt, deutet also vieles auf den Schluss hin, dass die Rettung des Mittelstandes nicht allzuviel Erfolg versprach. Dagegen war man gerne bereit, den Eindruck aufkommen zu lassen, dass das Handwerk und der Klein55 Braun, Warenhäuser, S. 16. 56 Gellately, Shopkeepers, S. 126 f. 57 So kommt Karl-Heinz Schmidt zu dem Schluss, »daß das Kleingewerbe teilweise Arbeitskräfte ›hortete‹«. K.-H. Schmidt, Die Rolle des Kleingewerbes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: I. Bog u. a. (Hg.), Wirtschaftliche und soziale Strukturen im säkularen Wandel. Festschrift für Wilhelm Abel, Bd. 3, Hannover 1974, S. 728 . 58 K. Saul, Konstitutioneller Staat und betriebliche Herrschaft. Zur Arbeiter- und Beamtenpolitik der preußischen Staatseisenbahnverwaltung 1890–1914, in: D. Stegmann u. a. (Hg.), Industrielle Gesellschaft und Politisches System. Festschrift für Fritz Fischer, Bonn 1978, S. 316. 59 Siehe z. B. W. Hofmann, Mit Grabstichel und Feder. Geschichte einer Jugend, Berlin 1947, S. 255 f.; Crew, Town, S. 141 f.

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handel geschätzt wurden. Denn man machte Mittelstandspolitik nicht zuletzt, um Eindruck zu schinden. In politischer Hinsicht blieb die Mittelstandspolitik eine heikle Angelegenheit, auch wenn ihre sozialwirtschaftliche Wirkung weniger bedeutend war. Wenn es gilt, den Begriff und das Verhalten des mittelstandserhaltenden Staates näher zu prüfen, dann trifft das auch umgekehrt auf das Benehmen des ›soliden‹ Mittelstands selbst zu. Wo lagen die Handlungsräume und Grenzen seiner Bereitschaft, eine staatserhaltende Rolle zu spielen? Die schon erwähnte, auf einen eifrigen Moralismus zurückzuführende Unbeständigkeit des Mittelstands warnt uns davor, ihm eine schlichte Untertanenmentalität zuzuschreiben. Im Kaiserreich blieb ein Überrest von dem kleinbürgerlichen Radikalismus der 48er bestehen, der sich insbesondere durch den Vorwurf ausdrückte, die Staatsbürokratie bevorzuge sowohl die parasitären Reichen wie auch die untauglichen Armen auf Kosten des tüchtigen Mittelstands. Die Ziele mittel­ ständischer Ressentiments waren u. a. staatliche Einrichtungen wie die Post und die Eisenbahn, die angeblich die Zwecke der Großgeschäfte in erster Linie erfüllten. Aus ähnlichen Gründen waren öffentliche Bauprojekte Gegenstand besonders heftiger Angriffe, vor allem wenn ein Anflug von Spekulation oder Skandal ins Spiel kam.60 Als Variante dieser sowohl mürrischen wie auch leicht empörten Einstellung könnte man auch das Motiv des belästigenden Staates deuten. So beschwerten sich etwa die Metzgermeister über die rein akademisch gebildeten Fleischbeschauer, denen man vorwarf, Zeit zu verschwenden und für die Angelegenheiten des kleinen Mannes kein Verständnis zu haben.61 Diese Kritik an diesen oder jenen »jungen Herren« bedeutete freilich keinen Angriff auf die Autorität schlechthin, ebensowenig sind die Vorwürfe gegen »Spekulanten« oder das »mobile Kapital« als Angriff auf das System des Privateigentums zu verstehen. Schon die Sprache der Mittelstandsorganisationen deutet darauf hin, dass sie an eine Lösung ihrer Probleme innerhalb der bestehenden Besitzverhältnisse dachten, wie sie sich gleichermaßen den Staat immer noch gern als pater familias oder als unparteiischen Schiedsrichter vorstellten. Daher die Identifizierung echter Feinde links und symbolischer Feinde (das mobile Kapital, ›überhebliche‹ Beamten) rechts. Das waren also keine Revolutionäre, aber auch keine bequemen Partner für die im Kaiserreich Regierenden. Die in Innungen und Verbänden organisierten Handwerker und Detaillisten schilderten sich einerseits als Angehörige eines staatserhaltenden Standes, hüteten sich andererseits aber misstrauisch davor, »düpiert« zu werden. Dieses Schwanken war für den Mittelstand geradezu bezeichnend, denn sein manchmal maßloses Bekenntnis zu Thron und Altar konnte sich unter Umständen in sein Gegenteil verwandeln. So gab es die bekannte Teilnahme Mittelstandsangehöriger an der nationalen Sache, aber auch 60 Siehe Blackbourn, Resignation, S. 51. 61 Siehe z. B. B. Gottron, Erlebtes und Erlauschtes aus dem Mainzer Metzgergewerbe im 19. Jahrhundert, Mainz 1928, S. 51.

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die aus Teilen der Mittelstandsbewegung auftretende Kritik am Imperialismus und am politischen »Theater« im allgemeinen, wobei letzteres unter Verdacht stand, eine Ablenkung von dringenden sozialpolitischen Angelegenheiten zu sein.62 Eine ähnliche Zweideutigkeit lässt sich auch feststellen, wenn es um die Einstellung zu Fragen des Rechtes und der Gesetzlichkeit ging. Es gab zwar Detaillisten, die die Boykott-Waffe als revolutionär ablehnten, aber es gab gleichzeitig Detaillistenführer, die sich einen guten Namen machten, indem sie ihre Beleidigungsprozesse als Ehrenzeichen trugen.63 Hier werden wir besonders stark an die Wilhelminische Bauernbewegung erinnert. Ironischerweise – aber gar nicht zufällig – hat die Mittelstandspolitik selbst diese Unberechenbarkeit eher gefördert als gezügelt: Zwar wollte der organisierte Mittelstand noch an die staatliche Mittelstandspolitik glauben, doch wurde er von ihren faktischen Ergebnissen – unvermeidlich – enttäuscht. Eine vergleichbare Wechselwirkung ist auch für das Verhältnis zwischen Mittelstand und rechtsstehenden Parteien bezeichnend. Diese Parteien schmeichelten dem Mittelstand und gaben seinen Forderungen insofern nach, als sie die Mittelstandspolitik laut bejubelten. Letzten Endes aber war ihre Engagement zur Sache weniger eindeutig, und zwar aus naheliegenden Gründen. So wollte z. B. die mit der Mittelstandspolitik liebäugelnde Nationalliberale Partei weder ihren Ruf als Mittelpartei gefährden, noch speziell die ihr nahestehenden Großindustriellen entfremden. Für das Zentrum sah die Sache nicht anders aus, denn ausgerechnet diese Partei hatte die ›Politik der ausgleichenden Gerechtigkeit‹ zur hohen Kunst entwickelt. Trotz der anerkannten Bedeutung des Mittelstands für den wahlpolitischen Erfolg der Partei und trotz der damit verbundenen Loblieder auf die Handwerker und Kleinhändler, wollte die Führungsgruppe im Zentrum nicht den Eindruck aufkommen lassen, dass die oft entgegengesetzten Interessen katholischer Beamten, Arbeiter und – vor allem – Bauern dadurch verletzt würden. Was die Deutschkonservativen anbelangt, so blieben bei allen Verbeugungen in Richtung Mittelstand, die Agrarinteressen entscheidend. Aus dieser groben Skizze der Parteien von Rechts und Mitte-Rechts tritt auffallend hervor, dass es nicht etwa die Konsumenteninteressen waren, die die Mittelstandspolitik in den Hintergrund zu verweisen drohten, sondern die Interessen anderer Produzenten, wie die der Großgrundbesitzer und Bauern. Konservative und Zentrumspolitiker redeten gerne über die gegenseitige Abhängigkeit von Mittelstand und Landwirten. In der Tat wirkte sich die von diesen Parteien unterstützte Agrarpolitik negativ auf die Interessen des Mittelstands aus. Das trifft erstens auf die Politik der Agrarpreisstützung, d. h. Tarife, Einfuhrsperren u.s.w., zu, denn Handwerkskammerberichte legten im einzelnen dar, wie »die Fleischteuerung […] dem Fleischgewerbe einen noch nie da gewe62 E. Böhm, Überseehandel und Flottenpolitik, Düsseldorf 1972, S. 183–185; Gellately, Shopkeepers, S. 92 u. 96. 63 Gellately, Shopkeepers, S. 88–93; D. Blackbourn, The Politics of Demagogy in Imperial Germany, in: Past and Present, Bd. 113, 1986, S. 167 f.

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senen schlechten Geschäftsgang gebracht und manchen Meister seiner selbständigen Existenz beraubt [hatte]«.64 Ähnlich sah die Lage bei anderen Branchen und bei Kleinhändlern aus, die von steigenden Lebensmittel- und Rohstoffpreisen betroffen waren. Zweitens förderten sowohl der Bund der Landwirte als auch die Christlichen Bauernvereine die Errichtung bäuerlicher Verkaufsgenossenschaften, die ebenfalls drohten, die Interessen der Kleinhändler zu verletzen, indem sie den direkten Zugang zum Konsumenten anstrebten. So waren die Kleinhändler die beabsichtigten Gegner des sogenannten Milchkriegs.65 Drittens erwies sich die Steuerpolitik des schwarzblauen Blocks keineswegs als mittelstandsfreundlich, war es doch gerade die Finanzreform von 1909, die einen Teil der Mittelstandsbewegung veranlasste, den rechtsstehenden Parteien den Rücken zu kehren und zum liberalen Hansabund überzugehen.66 Es ist üblich, die Politik des Mittelstands als unverbesserlich paranoid abzustempeln. Dennoch, der Mittelstand hatte tatsächlich genügend Anlass zu Verzweiflung und Misstrauen. Die von der Reichsregierung und den einzelnen Staaten erlassene, von den rechtsstehenden Parteien anscheinend geförderte Mittelstandspolitik hat weit mehr versprochen, als sie leisten konnte. Deswegen entstand bei Handwerkern und Detaillisten leicht der nicht unberechtigte Verdacht, man nütze sie einfach aus. In den neunziger Jahren profitierten die antisemitischen Parteien bereits davon, indem sie nicht nur das ›jüdische Kapital‹ angriffen, sondern in populistischer Weise auch die schönen Phrasen der ›Etablierten‹ verpönten. Auch nach der Jahrhundertwende, als die latent gefährliche Mittelstandsbewegung mit gewissem Erfolg von den Rechtsparteien aufgefangen wurde, verschwand das Misstrauen nicht völlig. Die regelmäßig eintretende Zersplitterung in Mittelstandsorganisationen war einerseits auf sachliche, regionale oder persönliche Streitigkeiten zurückzuführen, erklärt sich andererseits aber auch als Folge des ständigen Verdachtes, dass der eine oder der andere Verbandsfunktionär in die Rolle einer Marionette der Rechten verfallen sei67 – hier gibt es wiederum Parallelen mit der Bauernbewegung. Auch die Gründung des konservativ geförderten Reichsdeutschen Mittelstandsverbandes im Jahr 1911 und seine Beteiligung am rechtsradikalen Kartell der schaffenden Stände68 haben diese Angst vor der Bevormundung bzw. Ausbeutung nicht weggeräumt, vielmehr wurde sie auf eine neue Bühne versetzt. Seit den neunziger Jahren hatten sich konservative Politiker als erfahrene Demagogen erwiesen, die die Beschwerden des Mittelstands (aber nicht nur des Mittelstands) geschickt und selektiv anzuregen vermochten. Kurzfristig blieb diese Politik nicht ohne Erfolg. Aber weder haben diese Politiker die Klagen des Mittelstands ins Leben gerufen, noch konnten sie den von ihnen agitierten Mittelstand in eine beliebige politi64 Wernicke, Kapitalismus, S. 162. 65 U. Teichmann, Die Politik der Agrarpreisstützung, Köln 1955, S. 68–70 u. 528 ff. 66 Winkler, Der rückversicherte Mittelstand, S. 169; Mielke, Hansa-Bund, S. 30 ff. 67 Blackbourn, Demagogy, S. 162 ff. 68 Stegmann, Erben, S. 342 ff.

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sche Richtung lenken. Erst später erfuhren sie, dass eine Demagogie dieser Art ebenso gefährlich war wie der Versuch, den Tiger zu reiten. Aus zweierlei Gründen ist Skepsis darüber angezeigt, ob die Mittelstandspolitik im Kaiserreich wirklich als eine gelungene Strategie der Elite oder der konservativen Interessen funktionierte. Dabei ergibt sich jeweils eine Beziehung zur Frage der Kontinuität zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Erstens haben wir das Problem der Adressaten: wie viele nominelle Mitglieder des Mittelstandes passten zu dem konservativen Wunschbild des Mittelstandes und waren also in einer Lage, in der sie aus fakultativen Zwangsinnungen oder Warenhaussteuern Vorteil zogen? Gegen Ende des 19. Jahrhunderts konnten bereits zahlreiche der ›unabhängigen‹ Handwerksmeister und Kleinladeninhaber nicht mehr als gestandene Mittelständler gelten, und in vielen Fällen waren sie es tatsächlich nie gewesen. Sowohl räumlich wie auch in ihren Alltagserfahrungen und Familienverbindungen lebten diese Mittelständler häufig in einem Arbeitermilieu. Je mehr sich der Forschungsschwerpunkt von den Äußerungen der Verbandsfunktionäre auf die sozialen Verhältnisse innerhalb des janusköpfigen Kleinbürgertums verlagert, desto mehr scheint dieses Urteil bestätigt zu werden. Diese Schicht des Mittelstands war für die Mittelstandspolitik im gängigen Sinne nicht zu gewinnen und neigte eher zur politischen Arbeiterbewegung. Wenn vor dem Ersten Weltkrieg Handwerker, Kleinhändler und Gastwirte einen bedeutenden Anteil an den geschätzten 25 Prozent nichtproletarischer SPD-Wahlstimmen hatten, so gilt das auch für die nachrevolutionäre Regierungspartei von Weimar. Nach einer Untersuchung machte der nichtproletarische Anteil 40 Prozent aller Wahlstimmen aus, die die SPD 1930 erhielt und 1928 war dieser Anteil möglicherweise noch größer.69 Gewiss war dies auch Unterstützung für die SPD von einer wichtigen Minderheit der Angestellten und mittleren Beamten, die von vielen Historikern hervorgehoben worden ist, aber man sollte die anhaltende Bedeutung des alten Mittelstands nicht unterschätzen. Neisser lässt den Schluss zu, dass 1930 bis zu einem Viertel aller nominell unabhängigen Handwerker und Kleinhändler ihre Stimme für die Sozialdemokraten abgaben. Inwieweit kleinbürgerliche Führer und Anhänger zur ›Verbürgerlichung‹ der SPD beitrugen, sei dahingestellt. Offensichtlich aber widerstand ein nicht unerheblicher Teil des Mittelstands der Werbung um den kleinen Mann durch die NSDAP, gerade wie ein Teil seiner Vorgänger im Kaiserreich gegen die Anziehungskraft der Mittelstandspolitik immun blieb. Es gibt einen zweiten Grund, die der Mittelstandspolitik zugeschriebenen Bedeutung in Frage zu stellen. Es handelt sich hier um jene Schichten des Mittelstands, die nachweislich Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Standes verlangten und sich selbst überdies gern als den gesunden Kern der Gesellschaft betrachteten. Ohne Zweifel gab es standesbewusste Handwerksmeister und De69 H. Neisser, Sozialstatistische Analyse des Wahlergebnisses, in: Die Arbeit 7 (1930), S. 654– 659. Siehe auch Hamilton, Hitler, S. 47–49; R. N. Hunt, German Social Democracy 1­ 918–1933, New Haven 1964, S. 129 f. u. 140.

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taillisten, die so dachten. Sie sollten sich als besonders anfällig für die Patentlösungen der NSDAP erweisen, und zwar aus scheinbar naheliegenden Gründen. Hatten nicht die Weimarer Arbeiterfürsorgepolitik und die Abschaffung mittelstandserhaltender Schutzmaßnahmen eine ›restaurative‹ Mentalität belebt, an die die Nationalsozialisten erfolgreich anknüpfen konnten? Es besteht sicherlich eine Kontinuität, die das politische Verhalten des Mittelstands im Kaiserreich mit der Haltung seiner Nachfolger am Vorabend der Machtergreifung verknüpft: Doch es war keine lineare Kontinuität. Um es etwas gewagt auszudrücken: Nicht der Erfolg, sondern der Misserfolg der Mittelstandspolitik im Kaiserreich hat zur späteren politischen Haltung des Mittelstands entscheidend beigetragen. Die Forderungen, die den Rohstoff der Mittelstandspolitik bildeten, entsprangen der Verzweiflung und den Ressentiments bestimmter Mittelstandsschichten. Sie waren in diesem Sinne ›authentisch‹, sogar zweckrational, wenn auch unappetitlich. Die Mittelstandspolitik, wie sie dann als Schlagwort ausgenommen und in die Parlamentsakten umgesetzt wurde, war größtenteils auf Effekte berechnet. Daher ihre unbeabsichtigte und explosive Wirkung. Kurzfristig gelang es den Urhebern der Mittelstandspolitik, ebenso wie es den Poincaré-Konservativen in Frankreich gelungen war, die Wut des Mittelstands zu kanalisieren.70 Langfristig musste aber der Preis dafür bezahlt werden; denn die Lawine von Gesetzen und Parolen hat die Erwartungen des Mittelstands eher genährt als befriedigt.71 Schon die zwei Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg hatten gezeigt, dass dieses demagogische Spiel nur schwer kontrollierbar war. Erst während der folgenden zwei Jahrzehnte sollte sich die wirkliche Gefahr herausstellen, als die Erfahrungen von Kriegsverlust, Inflation, parlamentarischer Kuhhandelspolitik und Depression nicht nur das Vertrauen des Mittelstands zur Weimarer Republik zerissen, sondern auch seine Bindung an die konservative Sache zu sprengen drohten. So konnte etwa die DNVP nicht mehr auf die zuverlässige Unterstützung des entsprechenden Teils des Mittelstands zählen, vielmehr wiederholte sich in den zwanziger Jahren die politische Verwirrung der neunziger Jahre, insofern enttäuschte, Schutzmaßnahmen verlangende Handwerker und Kleinhändler nicht nur versuchten, Druck auf die etablierten Parteien auszuüben, sondern auch ihre Wahlstimmen unter einer bunten Sammlung von Sonderparteien verteilten.72 Nach 1928 ist es in erster Linie der NSDAP gelungen, den Ressentiments des Mittelstandes Ausdruck zu geben, indem sie eine Reihe kumulativer, bis in das Kaiserreich zurückreichender Enttäuschungen sehr geschickt ausnutzte. Dieses Ergebnis war kein Betriebsunfall, aber auch nicht die Folge einer linearen Entwicklung. Wie später 70 Vgl. das glänzende Buch von P. Nord, Paris Shopkeepers and the Politics of Resentment, Princeton/New Jersey 1986, S. 465–467. 71 Siehe vor allem Blackbourn, Demagogy. 72 Schumacher, Mittelstandsfront; Winkler, Mittelstand, Demokratie; P. Wulf, Die politische Haltung des schleswig-holsteinischen Handwerks 1928–1932, Köln 1969; C.-D. Krohn u. D. Stegmann, Kleingewerbe und Nationalsozialismus in einer agrarisch-mittelständischen Region. Das Beispiel Lüneburg, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 17, 1977, S. 41–98.

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die Nationalsozialisten, hatten Konservative vorher versucht, die Strömungen im Mittelstand durch eine auf Effekt angelegte Mittelstandspolitik zu kanalisieren. Diese konservative Strategie sollte sich als höchst gefährlich erweisen, weil sie nicht beliebig angewandt werden konnte, sondern drohte, unkontrollierbare Kräfte zu entfachen. Wie sich später herausstellte, war die Logik der konserva­ tiven Mittelstandspolitik im Kaiserreich die Logik des Zauberlehrlings.

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Politik im neuen Stil

6. Demagogie in der Politik des Kaiserreichs1 Hitler, der Terrible Simplificateur, gilt jedermann als der Inbegriff des Demagogen. Die dramatische Rhetorik, die charismatische und zugleich volksnahe Ausstrahlung, das Gerede von unsichtbaren Feinden: in unserem Bild von Hitler als dem großen Schlangenbeschwörer spielt sein demagogisches Geschick eine zentrale Rolle. Doch es ist nicht der »Führer« allein, von dem man annimmt, er habe das deutsche Volk auf diese Weise verführt. Selten fehlt in Darstellungen der Machtergreifung der Hinweis darauf, wie die Nationalsozialisten sich schamloser Lügen bedienten. Neben der Inszenierung nationalsozialistischer Politik – den Märschen, Lichtern und Transparenten – wird das oft als ein wichtiger Grund angesehen, weshalb es der NSDAP gelungen ist, sich die Unterstützung breiter Bevölkerungsteile zu sichern. In der Tat besteht kein Zweifel, dass die Nationalsozialisten erfolgreich einen demagogischen Politikstil pflegten. Sie befleißigten sich bewusst einer populistischen Sprache, zeichneten ein verschwörerisches Bild von Verrat an höchster Stelle und priesen sich selbst als volksnahe, tugendhafte Alternative an. Die demagogische Sprache und Selbstdarstellung der Nationalsozialisten verdient zweifellos unsere Aufmerksamkeit; dabei sollte uns allerdings bewusst sein, dass der Erklärungsansatz des Sirenengesangs Grenzen hat. Denn es bleibt eine unwiderlegbare Tatsache, dass der Nationalsozialismus nicht auf alle Deutschen dieselbe Anziehungskraft hatte. Er war auf dem Land und in Kleinstädten erfolgreicher als in Großstädten, fiel in der Bauernschaft, dem Kleinbürgertum und der Mittelschicht auf fruchtbareren

1 Mein Dank für ihre kritischen Anmerkungen zum Entwurf dieses Artikels gilt Roger Chickering, Geoff Eley und Ray Stokes. Seit seiner Veröffentlichung sind mehrere Arbeiten erschienen, die für dieses Thema relevant sind. Siehe D. Langewiesche, Politikstile im Kaiserreich. Zum Wandel von Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter des »politischen Massenmarktes«, Friedrichsruh 2002; J. Retallack, The German Right 1860–1920, Toronto 2006; A. Biefang, Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im »System Bismarck« 1871–1890, Düsseldorf 2009. Außerdem gibt es zwei Arbeiten, die sich unmittelbar mit den radikalen Nationalisten beschäftigen: P. Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen 2007; J. Leicht, Heinrich Class 1868–1953. Die politische Biographie eines Alldeutschen, Paderborn 2012. Und schließlich wurden drei hervorrragende Bücher zum Thema Wahlen veröffentlicht: T. Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preussen 1867–1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, Düsseldorf 1994; J. Sperber, The Kaiser’s Voters. Electors and Elections in Imperial Germany, Cambridge/New York 1997; M. L. Anderson, Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2009 [2000].

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Boden als bei Arbeitern.2 Wie vielfach beschrieben worden ist, gelang es den Nationalsozialisten sehr gut, die alltäglichen Sorgen und Hoffnungen dieser Gruppen anzusprechen. Demagogie funktionierte dort, wo sie im Einklang mit bestimmten Erfahrungen und Interessen stand. Für die deutsche Politik vor dem Ersten Weltkrieg gilt das nicht minder. Dieser Artikel befasst sich mit der Entstehung demagogischer Formen der Politik im Bereich der deutschen Rechten vor 1914. Er stellt den Versuch dar, Fragen des Politikstils in den Blick zu nehmen, ohne die politischen Inhalte aus den Augen zu verlieren, und beschäftigt sich hauptsächlich mit jenen Bewegungen, die die neue Politik der Wilhelminischen Zeit verkörperten: die antisemitischen Parteien, den Agrarpopulismus, die sogenannte Mittelstandsbewegung des Kleinbürgertums, und den radikalen Nationalismus. Neben der wichtigen Frage, mit der sich dieser Artikel explizit beschäftigt, wirft er implizit noch eine weitere auf. Erstere hat in den vergangenen Jahren einiges an Diskussionen ausgelöst: Welcher Art war die breite politische Mobilisierung im Deutschen Kaiserreich? War es eine Mobilisierung »von oben«, Ausdruck einer Manipulation durch eine sich hartnäckig haltende alte Elite, oder ist es zutreffender, von einer Form der Selbstmobilisierung »von unten« zu sprechen?3 Meine These lautet, dass man die fieberhafte Politik, die sich in Deutschland vor 1914 herausbildete, am besten als Folge des Zusammenspiels beider Prozesse verstehen sollte. Besonders fruchtbar ist in diesem Zusammenhang das Konzept einer demagogischen Politik. Der Begriff wurde von Zeitgenossen reichlich gebraucht, und die unterschiedlichen Bedeutungen, die sie ihm beimaßen, vermitteln einen guten Eindruck von den Interessen, die im Spiel waren. Diese Zweideutigkeit sensibilisiert uns insbesondere für die Gefahren, die mit dem Versuch einhergingen, sich die Stimmung im Volk zunutze zu machen, um die alte Ordnung zu festigen. Demagogie war nämlich ein zweischneidiges Schwert. Persönlichkeiten wie Kanzler von Bülow oder konservative Honoratioren mochten radikale Nationalisten oder Antisemiten als Demagogen betrachten, die unverschämt die Deliberation der politischen Klasse störten. Doch als Kanzler und alte Rechte sich die neue Form der Politik für ihre eigenen Zwecke zunutze machen wollten, wurden sie von jenen, deren Stil sie sich bemächtigt hatten, ihrerseits als Dema­ gogen gebrandmarkt. In diesem Artikel versuche ich nachzuzeichnen, wie und 2 Siehe zuletzt T. Childers, The Nazi Voter. The Social Foundations of Fascism in Germany, 1919–1933, Chapel Hill 1983. 3 Zu dieser Debatte siehe R. J. Evans, Introduction. Wilhelm II’s Germany and the Histo­ rians, in: ders. (Hg.), Society and Politics in Wilhelmine Germany, London 1978, S. 11–39; V. R. Berghahn, Politik und Gesellschaft im Wilhelminischen Deutschland, in: Neue Politische Literatur, Jg. 24, 1979, S. 164–195; W. Mock, »Manipulation von oben« oder Selbstorganisation an der Basis? Einige neue Ansätze in der englischen Historiographie zur Geschichte des deutschen Kaiserreichs, in: HZ, Jg. 232, 1981, S. 358–375; R. G. Moeller, The Kaiserreich Recast? Continuity and Change in Modern German History, in: Journal of Social History, Jg. 17, 1984, S. 655–683. Die beiden neuesten Beiträge stammen von J. Retallack und R. Fletcher, siehe German Studies Review, Jg. 7, 1984.

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mit welch unbeabsichtigten Folgen dieses Wechselspiel zwischen der alten und neuen Rechten vonstatten ging. Das wirft die zweite wichtige Frage auf, die nach der Kontinuität zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Die hier betrachteten Organisationen und die spätere NS-Bewegung sind sowohl formal als auch inhaltlich zweifellos verwandt. Die Antisemiten vor 1914 »probten« mit ihren Aktivitäten die spätere Vernichtung, der Bund der Landwirte war »präfaschistisch«, und der Alldeutsche Verband nahm das Programm der Nationalsozialisten »in erschreckender Weise« vorweg.4 Die gesellschaftlichen Gruppen, die sich von diesen Organisationen angesprochen fühlten, deren Programme, und der ihnen gemeinsame demagogische Politikstil – all das erscheint im Rückblick wie ein Vorbote des Nazismus. In dieser, und nicht nur in dieser Hinsicht, war der Erfolg des Nationalsozialismus nicht das kurzfristige Produkt einer Krise, kein »Betriebsunfall«. Die Frage lautet nicht, ob es eine Kontinuität gab, sondern welche Formen diese annahm. Auch hier erweist sich die Idee einer gefährlich demagogischen Politik als nützlich. Gerade weil sie kein beliebig wiederholbarer Akt der Manipulation war, sondern der Versuch, sich Kräfte zunutze zu machen, die sich nicht restlos kontrollieren ließen, war die Demagogie der alten Elite, im Wilhelminischen Deutschland wie in der Weimarer Republik, ein Spiel mit dem Feuer. Die Logik ihrer politischen Bemühungen entsprach der Logik des Zauberlehrlings. Die Kontinuität zwischen Vorkriegs- und Nachkriegsdeutschland war somit keine einfache, lineare Angelegenheit; es war eine kumulative, konvulsive Kontinuität, und als die demagogischen Anstrengungen der alten politischen Klasse nach hinten losgingen, wurde ihr eigener Handlungsspielraum schmaler und schmaler. Die Anfänge dieses Prozesses in den Jahren vor 1914 möchte ich auf den folgenden Seiten veranschaulichen.

I. Über weite Strecken des 19.  Jahrhunderts wurde der Begriff »Demagogie« hauptsächlich von Regierungen und Eliten verwendet, gegen jene, die angeblich die unteren Schichten aufhetzten. Die Demagogen im Deutschland von vor 1848 waren die Jakobiner und Republikaner, die Studenten vom Jungen Deutschland und die radikalen Bänkelsänger. Die Zensurmaßnahmen von 1836 beispielsweise firmierten unter der Überschrift »Demagogenverfolgung«. Während die Bezeichnung von Linken mitunter als Ehrenabzeichen getragen wurde, brachten Konservative damit ihr Bedauern darüber zum Ausdruck, dass die 4 P. W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt a. M. 1959 [1949]; H.-J. Puhle, Von der Agrarkrise zum Präfaschismus, Wiesbaden 1972; R. Chickering, We Men Who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan-German League 1886–1914, London 1984, S. 1.

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»Massen« seit 1789 überhaupt Gegenstand politischer Aufmerksamkeit waren, sowie ihre Überzeugung, dass es skrupellose Agitatoren waren, die das Volk in Aufruhr versetzten. In diesem Sinn gebrauchte um die Jahrhundertmitte Bismarck den Begriff, als er gegen »Demagogen« wetterte, die unter den Armen Missgunst säten und illegitime Hoffnungen schürten, und der städtischen Bevölkerung vorwarf, sie lasse sich »von ehrgeizigen und lügenhaften Demagogen« leiten. Seine Ablehnung von Tagegeldern für Abgeordnete im Reichstag des Norddeutschen Bundes entsprang ähnlichen Überlegungen: »Die Diäten sind die Besoldung des gebildeten Proletariats zum Zwecke des gewerbsmäs­ sigen Betriebes der Demagogie.«5 Auch im bürgerlichen Liberalismus waren derartige Argumente weit verbreitet. Liberale argwöhnten, da es den Armen und Ungebildeten an echter Unabhängigkeit mangele, seien sie potenzielle »politische Werkzeuge skrupelloser Demagogen«.6 Deutlich zutage traten diese Ängste in der Debatte unter Liberalen über das Männerwahlrecht. Selbst in den im Großen und Ganzen optimistischen 1860er Jahren beispielsweise spiegelten sich die Ängste der Liberalen in der reißerischen Sprache, in der sie vor den Gefahren warnten, die mit dem Wecken der Emotionen der Massen einhergehe. Karl Twesten sorgte sich um die »Charlatanerie«, der man Tür und Tor öffne, wenn man dem Volk gegenüber klein beigebe. Sogar ein Verfechter des allgemeinen Männerwahlrechts wie Schulze-Delitzsch warnte davor, die »Leidenschaften« des Volkes zu erregen. Allzu leicht, argumentierte er, werde dabei jene »dunkle Grenzlinie« berührt, wo das »Thierische an das Menschliche« streife und die »Bestie entfesselt« werde, die alles »mit Löwenklauen zerfleische«.7 Anspielungen auf Demagogen waren in diesem liberalen Diskurs ebenso häufig wie Tiermetaphern. Von Bismarck, der den gesunden Menschenverstand der mit dem Boden verbundenen betonte, unterschieden sich die Liberalen in diesem Punkt hauptsächlich dadurch, dass ihre Ängste sich auch auf die Landbevölkerung erstreckten. Es gab jedoch noch einen anderen wichtigen Unterschied. Während Bismarck und seine konservativen Gesinnungsgenossen die demagogische Gefahr von links fürchteten, drohte diese für Liberale auch von rechts. Landbesitzer oder volksnahe Priester waren in liberalen Augen nicht weniger gefährlich als sozialistische Agitatoren. Sie alle sprachen das Volk über die Köpfe der liberalen Honoratioren hinweg an und spielten mit der vermeintlichen Leicht­ gläubigkeit der Unaufgeklärten. Ab Mitte des Jahrhunderts entwickelte sich das zu einem häufigen Vorwurf. Die liberale Kritik an der Volksverhetzung von rechts war gegen Bismarck selbst gerichtet, den »weißen Revolutionär«. Hermann Baumgarten warf ihm »Cäsaristische Demagogie« vor und meinte damit, dass er »die rohen Instinkte der Massen zur Herrschaft« wecke.8 In den letzten 5 6 7 8

L. Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. M. 1980, S. 104, 148, 388 f. J. J. Sheehan, German Liberalism in the Nineteenth Century, Chicago 1978, S. 32. Zitiert nach M. Gugel, Industrieller Aufstieg und bürgerliche Herrschaft, Köln 1975, S. ­184–188. W. J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik. 1890–1920, Tübingen 1959, S. 6.

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Jahrzehnten vor 1914 wandte sich dieser liberale Vorwurf gegen ein immer breiteres Spektrum an Personen und Bewegungen auf der politischen Rechten. Max Weber, der scharfzüngigste liberale Publizist der Vorkriegsjahre, ging mit dem Etikett »Demagoge« besonders großzügig um. Er verpasste es praktisch jeder rechten Bewegung und jedem rechten Politiker, von den Antisemiten bis zum Bund der Landwirte, von den Alldeutschen bis zu Admiral Tirpitz.9 In dieser (und nicht nur in dieser) Hinsicht war Weber ein typischer Repräsentant liberalen Denkens. Parallel zu dieser liberalen Kritik kam es zu einer radikaldemokratischen Zurückweisung konservativer Demagogie. Ein bemerkenswertes frühes Beispiel dafür ist Heinrich Heine, der »von gotischem Wahn und modernem Lug« sprach.10 Beide Argumentationslinien wurden in der Weimarer Republik weitgehend zum Verstummen gebracht und im Dritten Reich gänzlich ausgemerzt; in den Arbeiten deutscher Historiker seit den 1960er Jahren jedoch sind sie mit Macht zurückgekehrt. Diese Kritik hat sich zu einer vertrauten Version der deutschen Geschichte von Bismarck bis Hitler entwickelt, zu einem ehrgeizigen Versuch, die unheilvolle Kontinuität zwischen der skrupellosen Rechten der Kaiserzeit und jenen Drahtziehern auf den Punkt zu bringen, die zu »Steigbügel­haltern« für Hitler wurden. Die detaillierten Arbeiten dieser Historiker konzentrierten sich auf die Phase vor 1914. Den Vorwurf der Demagogie von rechts in dieser Phase gibt es in einer begrenzten und einer umfassenderen Version. Erstere konzentriert sich auf die Universalschurken der deutschen Geschichte der Neuzeit, die Junker. Dieser Ansatz wird vor allem mit den bahnbrechenden Arbeiten von Hans Rosenberg assoziiert, hat jedoch sehr viel breitere Zustimmung gefunden. Dieser Darstellung zufolge durchliefen die Junker einen Prozess der »Pseudo-Demokratisierung«; sie entgingen in der Weltwirtschaftskrise der drohenden politischen Isolation, indem sie die Bauernschaft und das Kleinbürger­ tum davon überzeugten, dass sie alle ein gemeinsames Interesse und einen gemeinsamen Gegner hätten: den städtischen, liberalen, sozialistischen und jüdischen Feind. Das wichtigste Instrument war bei diesem Unterfangen der 1893 gegründete, von Junkern dominierte Bund der Landwirte.11 So, wie ein liberaler Kritiker 1911 von der »Agrardemagogie in Deutschland« gesprochen hatte, so 9 Beispiele siehe ebd., S. 16, 241 f. 10 Seine Beschreibung der Herrschenden in »Deutschland. Ein Wintermärchen«. Hier zum Vergleich der bissige Kommentar Heines Mitte des Jahrhunderts: »Eine Hand voll Junker, die Nichts gelernt haben als ein bisschen Rosstäuscherei, Volteschlagen, Becherspiel oder sonst plumpe Schelmenkünste, womit man höchstens nur Bauern auf Jahrmärkten über­tölpeln kann – Diese wähnten damit ein ganzes Volk bethören zu können«: H. Heine, Sammtliche Werke, Bd. 8. Französische Zustände, Erster Theil: Das Bürgerkönigthum im Jahr 1832. Hamburg 1868, S. 17 f. 11 H. Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967; ders., Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 1969; ders., Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen, Göttingen 1978; H.-J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus, Hannover 1966.

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schrieb Rosenberg, »dass der […] ›notleidende‹ Landjunker dabei langsam zum Demagogen wurde – auch das war eine Art Demokratisierung«.12 Die zweite Variante des Vorwurfs der Demagogie von rechts ist umfassender. Ihr zufolge haben die herrschendn Eliten in Preußen und Deutschland, die alten Seilschaften in Regierung, Verwaltung und Armee, angesichts der Forderungen nach politischen Reformen und sozialer Emanzipation versucht, von diesen Bedrohungen im Innern durch eine aggressive Außenpolitik abzulenken. Die Ursprünge dieser Hinwendung zur Demagogie wurden in Bismarcks »Sozialimperialismus« verortet.13 In der Folge sollten Flottenbau und »Weltpolitik« das Volk mittels umfangreicher Propagandamaßnahmen und der Bearbeitung der öffent­lichen Meinung durch nationalistische Interessengruppen hinter der unveränderten Elite versammelt werden. Das Programm wurde daher als ein Instrument angesehen, mit dem eine anachronistische Elite ihre Stellung weiterhin zu sichern trachtete. Wie die parallel laufenden Bemühungen der Junker im Bund der Landwirte wurde Demagogie als Instrument der Manipulation betrachtet. Ein Historiker hat die Weltpolitik einmal als »ein Ablenkungsmanöver der herrschenden Klassen« und als »Übung in nationaler Demagogie« bezeichnet.14 Diese Beiträge zur historischen Neubewertung sind sehr verdienstvoll. Für Historiker ist es schwierig geworden, daran festzuhalten, dass es sich bei den Junkern im Bund der Landwirte »keineswegs um Demagogen« handele,15 oder dass der Flottenbau und der deutsche Imperialismus vor 1914 in erster Linie auf das Konto der diplomatischen Balance und des »Primats der Außenpolitik« gingen.16 Stattdessen wurde unsere Aufmerksamkeit auf die innenpolitischen Probleme gelenkt, mit denen Eliten sich Ende des 19. Jahrhunderts konfrontiert sahen, sowie auf die Entstehung eines »politischen Massenmarkts« (Hans R ­ osenberg). Das Problem ist, dass die Massen auf diesem politischen Marktplatz weitgehend als passive Konsumenten dargestellt worden sind. Um die Metapher abzuwandeln: Die Puppenspieler zogen die Fäden und die Puppen

12 C. Bürger, Die Agrardemagogie in Deutschland, Berlin 1911; Rosenberg, Probleme der deutschen Sozialgeschichte, S, 20, 79. Siehe auch S. 39, wo Rosenberg von der »wilden Agrardemagogie der 1890er Jahre« spricht. 13 H.-U. Wehler, Bismarck und der Imperialismus, Köln 1969. 14 I. Geiss, German Foreign Policy, 1871–1918, Boston 1976. Vgl. auch H.-U. Wehlers Beschreibung der deutschen Weltpolitik als Beispiel für »nationale Demagogie«: H.-U. Wehler, Das Deutsche Kaiserreich. 1871–1918, Göttingen 1973, S. 169. 15 H. Haushofer, Die deutsche Landwirtschaft im technischen Zeitalter, Stuttgart 1963, S. 213. 16 Ich sollte allerdings hinzufügen, dass es seit den späten 1970er Jahren zu einem vielkommentierten Wiederaufleben eines methodisch konservativen Beharrens auf dem »Primat der Außenpolitik« gekommen ist. Parallel dazu ist die Neigung gestiegen, Geopolitik ernsthaft als ausschlaggebenden Faktor für die Beziehung Deutschlands zu anderen Mächten zu betrachten. Gegenüber dem von Historikern wie Wehler eröffneten Erklärungspotential erscheinen mir diese Trends als Rückschritt.

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tanzten.17 Einer Darstellung zufolge wartete das Kleinbürgertum geradezu darauf, dass jemand es organisiert, und dieser Wunsch sei in Erfüllung gegangen.18 Allerdings gibt es eine Vielzahl von Belegen, die eine alternative Lesart nahelegen. In den letzten 25 Jahren vor dem Ersten Weltkrieg waren die »Konsumenten« auf dem deutschen politischen Marktplatz um einiges mächtiger als auf dem realen Markt. In diesen Jahren hat es an der Basis der deutschen Gesellschaft wahrhaft gegärt und durch dieses politische Gären kam zum ersten Mal ein qualitativ neues demagogisches Element ins öffentliche Leben.

II. Zwischen den achtziger Jahren und der Jahrhundertwende wandelte sich das Gesicht der deutschen Politik. Im Vergleich zu jenem höflichen, eher distanzierten Ritual der vorangegangenen Jahrzehnte waren Inhalt und Tempo der Politik im Zeitalter von Schreibmaschinen und Diavorträgen kaum wiederzuerkennen. Ein Indikator für diesen Wandel ist die Wahlbeteiligung. Bei Reichstagswahlen stieg diese von wenig über 50 Prozent zu Glanzzeiten Bismarcks auf 84 Prozent bei den Wahlen von 1907 und 1912. Auf der Ebene der Bundesstaaten und Gemeinden fiel die Zunahme oft noch deutlicher aus. Es gab Nachwahlen, bei denen die Wahlbeteiligung 94 Prozent erreichte.19 Der blühende Schwarzmarkt für Eintrittskarten zur Reichstagsgalerie ist ein Indikator dafür, wie sehr Politik zu einem öffentlichen Schauspiel geworden war. Während der Debatten über den Marokko-Kongo-Vertrag von 1911 waren die Leute Berichten zufolge bereit, Preise zu bezahlen, die denen für einen Auftritt von Caruso vergleichbar waren.20 Hier geht es aber nicht nur um die Zuschauer, sondern auch um die politischen Akteure. Schon 1880 bemerkte ein weitsichtiger Konservativer, »die Massen« würden eine immer wichtigere Rolle spielen,21 und da neue politische Organisationen und Interessengruppen aus dem Boden schossen wie die Pilze, sollte dieses Thema immer häufiger zur Sprache kommen.

17 Die Metapher wurde von H.-G. Zmarzlik in seiner Besprechung von Wehlers Buch »Das Deutsche Kaiserreich« (Zmarzlik, Das Kaiserreich in neuer Sicht?, in: Historische Zeitschrift, Bd. 222, 1976, S. 105–126) benutzt und von R. J. Evans in »Wilhelm II’s Germany and the Historians« aufgegriffen. 18 »…waiting to be organized. And organized they became.« V. R. Berghahn, Germany and the approach of war in 1914, London 1973, S. 151. 19 D. Blackbourn u. G. Eley, The Peculiarities of German History, Oxford 1984, S. 275 f. 20 Vossische Zeitung, 09.11.1911, zitiert nach K. Wernecke, Der Wille zur Weltgeltung, Düsseldorf 1970, S. 115. 21 So der bayerische Adlige Fechenbach: J. Retallack, Reformist Conservatism and Political Mobilization. A Study of Factionalism and Movements for Reform within the German Conservative Party 1876–1914 (Diss.), University of Oxford 1983, S. 71.

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Der entscheidende Wendepunkt war das Jahrzehnt zwischen Ende der achtziger und Ende der neunziger Jahre. Der bekannteste Aspekt dieser politischen Mobilisierung ist der Aufstieg der SPD, die mit der Abschaffung des Sozialistengesetzes 1890 soeben legalisiert worden war und bei Mitgliederzahlen wie Wahlergebnissen steile Zuwächse verzeichnete. Das Gären der neunziger Jahre ging darüber jedoch weit hinaus. Dieselbe Epoche sah die Gründung der Deutschen Friedensgesellschaft, der deutschen Frauenbewegung, des Evangelischen Bunds und des Volksvereins für das katholische Deutschland sowie einer Vielzahl von kleineren Bewegungen zu bestimmten Themen, die mit bis dato unbekannter Verve darauf beharrten, dass Politik breiter definiert werden sollte als es bislang der Fall gewesen war. Das Spektrum, das diese Organisationen abdeckten, deutete ein süddeutscher Minister an, als er verdrießlich von »Homöopathen, Impfgegnern, Krematisten, Agrariern, Wirten, u.s.w.« sprach.22 Vor allem jedoch betraten ab dem Ende der achtziger Jahre innerhalb eines Jahrzehnts jene Gruppen die politische Bühne, mit denen wir hier in erster Linie befasst sind. Die Bauernschaft organisierte sich im Bayerischen Bauernbund und dem von Otto Böckel gegründeten Mitteldeutschen Bauernverein.23 Daneben wurden zahlreiche Organisationen für Handwerker, Ladeninhaber, Hausbesitzer und Büroangestellte ins Leben gerufen sowie Dachorganisationen, die für sich in Anspruch nahmen, den Mittelstand als Ganzes zu vertreten. Viele dieser Bauern- und Mittelstandsvereinigungen hatten erhebliche Überschneidungen mit den zur selben Zeit in den Städten wie auf dem Land entstehenden antisemitischen Parteien.24 Neben diesen »völkischen« Gruppierungen wiederum entstanden die radikalen nationalistischen Organisationen wie der All­deutsche Verband (1891) und der Deutsche Flottenverein (1898).25 Man kann sagen, dass es zwischen dem höfischen, elitären Deutschland der Bürokraten und großbürgerlichen Honoratioren auf der einen und dem proletarischen Deutschland auf der anderen Seite zu einer politischen Mobilisierung der Bauernschaft, des

22 Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 41, Anhang II, Bü 4, »Votum des Staatsministeriums«. 23 Zum Bayerischen Bauernbund siehe I. Farr, ›Populism in the Countryside‹, in: R. J. Evans (Hg.), Society and Politics in Wilhelmine Germany, S.  136–159; H.  Haushofer, Der Bayerische Bauernbund 1893–1933, in: H.  Gollwitzer (Hg.), Europäische Bauernparteien im 20.  Jahrhundert, Stuttgart 1977, S.  562–586; K. Möckl, Die Prinzregentenzeit, München 1972, v. a. S. 451–453. Zur Böckel-Bewegung siehe D. S. White, The Splintered Party. National Liberalism in Hessen and the Reich, 1867–1918, Cambridge (Mass.) 1976, v. a. S. 136 ff. Allgemein zu diesem Thema siehe D. Blackbourn, Peasants and Politics in Germany, 1871– 1914, in: European History Quarterly, Jg. 14, 1984, S. 47–75. 24 S. Volkov, The Rise of Popular Antimodernism. The Urban Master Artisans 1873–1896, Princeton 1978; R. Gellately, The Politics of Economic Despair. Shopkeepers and German Politics, 1890–1914, Beverly Hills 1974; D. Blackbourn, The Mittelstand in German Society and Politics, 1871–1914, in: Social History, Bd. 4, 1977, S. 409–433; P. G. J. Pulzer, The Rise of Political Anti-Semitism in Germany and Austria, London 1964; Massing, Vorgeschichte. 25 Chickering, We Men Who Feel Most German; G. Eley, Reshaping the German Right. Radical Nationalism and Political Change after Bismarck, London 1980.

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Kleinbürgertums und der Mittelschicht kam, die parallel zur Arbeiterbewegung verlief. Für diese politische Mobilisierung gab es eine Reihe von Ursachen. In der Bauernschaft gesellten sich zu den langfristigen Problemen Anfang der neunziger Jahre eine Reihe von kurzfristigen Sorgen wie steigende Kosten, Verschuldung und Konkurrenz aus dem Ausland.26 Die Sprunghaftigkeit der Bauern fand ihre Entsprechung in der der Handwerker und Kleingewerbetreibenden, die eine besonderes von Krisen und Sorgen geprägte Zeit durchmachten.27 Einen weiteren Ansporn für viele Berufsgruppen, sich politisch zu organisieren, lieferte die Zunahme staatlicher Vorschriften. Und auch die rapide wachsende Bedeutung der Weiterbildung und die rasche Veränderung der Anstellungsformen und -chancen brachte Spannungen hervor, die an Beamten im Staatsdienst und den Angehörigen vieler freier Berufe nicht spurlos vorübergingen – etwa Spannungen zwischen humanistisch und technischen ausgebildeten, oder zwischen Etablierten und Aufsteigern aus dem Kleinbürgertum.28 Dass es in Deutschland in dieser Zeit politisch gärte, lag jedoch nicht ausschließlich an kleingeistigen materiellen Sorgen. Und auch nicht nur an der Statusangst jener Bauern, Handwerker und Angehöriger der Freien Berufe, die der Ankunft der »Moderne« mit Argwohn gegenüberstanden. Fortschritte in den Bereichen Bildung, Transport und Kommunikation erlaubten die Artikulation neuer materieller wie ideeller Forderungen und eröffneten neue Möglichkeiten, diesen Ausdruck zu verleihen. Waren die fünfziger und sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts die Zeit, in der das Schienennetz zwischen den Großstädten entstand, so markierten die achtziger und neunziger Jahre die Ära, in der Nebenlinien und Nahverkehrsnetze für die Anbindung der Landbevölkerung, Kleinstädte und Vororte an die politische Nation sorgten. Parallel dazu verlief der Ausbau der Presse.29 Was diese Entwicklungen aus Sicht der Bauernschaft und des Kleinbürgertums miteinander verband und so für ein politisches Gären sorgte, war eine schlichte Gleichung: Die Chancen, materielle und gesellschaftliche Forderungen durch politische Mobilisierung durchzusetzen, standen in Deutschland besser als in der ökonomischen beziehungsweise gesellschaftlichen Sphäre selbst. Bekanntlich war die Stärke der SPD in Deutschland in vielerlei Hinsicht die Kehrseite der Schwäche der Arbeiter in den Fabriken – die genau umgekehrte Si26 Dazu gehörten sinkende Preise und drohende Zollsenkungen, Ausbrüche der Maul- und Klauenseuche und schwerwiegende Engpässe bei der Lebensmittelversorgung im Süden (was beides das Problem aufwarf, wie man an günstige Kredite für die Erneuerung des Viehbestands kommen sollte), sowie Vorbereitungen für ein weitreichendes Armeegesetz, das Steuererhöhungen befürchten ließ. 27 Siehe die in Anm. 24 zitierten Arbeiten. 28 Nachgespürt wird diesen Spannungen in K. Jarausch, Students, Society and Politics in Imperial Germany, Princeton 1982. 29 Mehr zu diesen Entwicklungen und Belege zur Argumentation in den folgenden Absätzen in Blackbourn u. Eley, Peculiarities of German History, S. 265–276.

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tuation als in Großbritannien. Im dynamischen, stark konzentrierten Kapitalismus des Wilhelminischen Deutschland traf das auch auf andere Berufsgruppen zu, von den Gerstenbauern bis zu den Metzgern, von den Lebensmittelhändlern bis zu den Apothekern. In der vergleichenden europäischen Perspektive war es für solche Gruppen schwer, sich an der Produktionsstätte beziehungsweise am Handelsplatz erfolgreich zu organisieren – in Produktionsgenossenschaften für Handwerker, in Einkaufsgenossenschaften für Einzelhändler oder in Verkaufsgenossenschaften für Bauern. Die politischen Organisationen der Bauernschaft und des Mittelstands waren demgegenüber vergleichsweise stark. Relativer wirtschaftlicher Misserfolg führte mit anderen Worten zu einer Verlagerung materieller Forderungen auf den politischen Marktplatz. Einer ähnlichen Logik folgend wurden auch unzählige Ärgernisse des Alltags auf der politischen Ebene abgeladen. Die Kränkungen, die Handwerker oder Büroarbeiter in ihrer Berufsvertretung oder ihrem philanthropischen Verein von Seiten »Höhergestellter« über sich ergehen lassen mussten, der unnachgiebige Formalismus, mit dem deutsche Gerichte nach Wahrnehmung vieler die Probleme des »kleinen Mannes« behandelten, die Abgehobenheit hoher Beamter und lokaler Honoratioren: für all diese Klagen versprach die politische Sphäre ein Ventil zu sein. Gleichzeitig stellte sich politisch zu organisieren ein Mittel dar, der Arbeiterbewegung etwas entgegenzusetzen, indem man ihre Methoden imitierte. Auf diese Weise konnte man Behauptungen der SPD von der drohenden Proletarisierung des »kleinen Mannes« entgegentreten und sich für Gesetze stark machen, die verhindern sollten, dass Forderungen der organisierten Arbeiterschaft zu Lasten der Bauern oder Kleinbürger gehen  – etwa im Hinblick auf die Konkurrenz durch Verbrauchergenossenschaften oder den Vormarsch der Gewerkschaften. In gewisser Hinsicht stand der radikale Nationalismus zu dieser neuen Form der Politik im Widerspruch. Interessenpolitik galt als ein »Kuhhandel«, der die nationale politische Aufgabe beeinträchtigt. Radikale Nationalisten strebten eine neue, weniger polarisierende Form der Politik an.30 Von großer Bedeutung ist aber auch, dass sie die neuen Möglichkeiten der politischen Mobilisierung als etwas Positives ansahen. Wie einer von ihnen melodramatisch formulierte: »Die Massen [sind] erwachsen [geworden] (durch Volksschule, allgemeine Dienstpflicht, allgemeines Wahlrecht und die billige Petroleumlampe)«.31 In vielerlei Hinsicht war der radikale Nationalismus selbst ein Produkt des politischen Gärens. Seine Anhänger stammten in erheblichem Maße aus den neuen Gesellschaftsschichten des vereinigten Deutschland, dem Kreis der Gebildeten und Halbgebildeten; gemeinsam war ihnen die ausgeprägte Unzufriedenheit mit der selbstgefälligen Bürokratie und der Arroganz des lokalen Establishments.

30 In diesem Punkt sind sich die zwei neuesten Studien (Eley, Reshaping the German Right, und Chickering, We Men Who Feel Most German) völlig einig. 31 Zitiert nach Eley, Reshaping the German Right, S. 194.

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Bezeichnenderweise wiesen die alldeutschen Aktivisten ein geringfügig, aber signifikant weniger gehobenes soziales Profil als die Crème de la Crème der besseren Gesellschaft auf. Sie waren unsichere Aufsteiger: eher Oberlehrer als Professoren, eher Staatsbedienstete in weniger angesehenen Abteilungen als Richter, oder aber Ingenieure oder Apotheker, die sich erst noch beweisen mussten.32 Die auffällig große Zahl radikaler Nationalisten aus der Generation, die mit dem Reich volljährig geworden waren, entsprach der Rastlosigkeit, mit der sie auf die politische Bühne drängten.33 Weder die Agrar- und Mittelstandsbewegung noch die neu entstandene radikal-nationalistische Öffentlichkeit »wartete« darauf, organisiert zu werden. Gewiss, beide waren antiliberal, antisozialistisch und häufig antisemitisch. Bauern und Handwerker schimpften auf das »Manchestertum«, weil es Juden bevorzuge, christlichen Produzenten schade und dem Sozialismus den Weg bereite. Alldeutsche und Flottenenthusiasten attackierten den verhassten Internationalismus und wetterten gegen den »inneren Feind«, wahlweise ein Synonym für Juden, Sozialisten oder Katholiken. Die Feindseligkeit richtete sich in all diesen Fällen jedoch gegen ein weitgehend unklar definiertes Ziel. Insbesondere die Bauernbewegung war unberechenbar und respektlos gegenüber Autoritäten. Halboffiziellen landwirtschaftlichen Vereinigungen schlug von Bayern bis Schleswig-Holstein Ablehnung entgegen, da sie mit einer distanzierten Obrigkeit und Großgrundbesitzern assoziiert wurden.34 Parteipolitisch betrachtet verweigerten die Agrarier den nationalliberalen Honoratioren den von diesen erwarteten Respekt, verschmähten aber auch konservative Granden. Otto Böckel nahm den Marburger Reichstagssitz 1887 einem Konservativen ab, und der selbsternannte Volkstribun Hermann Ahlwardt begann seine Karriere als Antisemit ganz ähnlich bei einer Nachwahl 1892. Acht der elf im Jahr 1893 von Agrariern und Antisemiten errungenen Mandate gingen zu Lasten der Konservativen.35 Die Böckel-Bewegung wählte den Leitspruch »gegen Junker und Juden«, zu ihrem Programm gehörte die Forderung nach einer progressiven Ein32 Chickering, We Men Who Feel Most German, S. 102–118. Es stimmt zwar, dass Aktivisten des Deutschen Flottenvereins einen höheren gesellschaftlichen Status genossen. Dennoch zeigte sich in der Größe des Vereins und seiner Betonung des »Volkes«, dass wir es mit etwas Neuartigem zu tun haben. Einen Eindruck vom dort herrschenden Umgangston gibt der Appell des Flottenvereinsaktivisten und Juristen Otto Stern, die Organisation dürfe sich nicht »zu einem Kränzchen von Strebern und Ordensjägern degradieren«; Eley, Reshaping the German Right, S. 201. 33 Ein typisches Beispiel für die zweifache nationale Berufung, die so viele in seiner Generation empfanden, ist Heinrich Claß: Die Arbeit der vorangegangenen Generation zu »erfüllen«, es gleichzeitig aber auch nicht zuzulassen, dass die »nationale Errungenschaft« zu einem Quell der Selbstzufriedenheit wird. Siehe beispielsweise die wiederholten Anspielungen auf »uns Jüngere«, in seinem Buch »Wider den Strom« (Leipzig 1932), S. 66, 67, 88, 91. 34 Farr, Populism in the Countryside, S. 137; T. Thyssen, Bauer und Selbstverwaltung, Neumünster 1958, S. 147, 167; Blackbourn, Peasants and Politics in Germany, S. 55 f. 35 Pulzer, Rise of Political Anti-Semitism, S. 122.

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kommenssteuer und der Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen. Ganz ähnlich die Parole des Bayerischen Bauernbundes: »Keine Adeligen, keine Beamten, keine Geistlichen, keine Doktoren oder Professoren, sondern nur Bauern!«. Außerdem forderte er ein demokratisches Wahlrecht und uneingeschränkte Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit.36 Auch die sprunghafte Mittelstandsbewegung bekannte sich zu der Überzeugung, der »kleine Mann« werde vom Staat, der Bürokratie und den etablierten Parteien im Stich gelassen. Die Abkehr von traditionellen Methoden der Einflussnahme und die Forderung nach Gesetzen gegen »unlauteren Wettbewerb« entsprangen dem Ärger und der Frustration des organisierten Mittelstandes darüber, dass er höheren Orts nicht ernst genommen wurde. Die Vielzahl neuer Organisationen und deren Kritik an Regierenden und Beamten waren untrügliche Anzeichen für den Anspruch des Kleinbürgertums auf einen Platz an der Sonne.37 Das politische Aufwärtsstreben der Bauernschaft und des Kleinbürgertums in den neunziger Jahren ähnelte einer Wiederaufnahme von 1848 unter anderen Bedingungen. Sie war gekennzeichnet vom gleichen plumpen, unausgegorenen Radikalismus des kleinen Mannes und den gleichen breit gestreuten Ressen­timents. Die Böckel-Bewegung trug bei ihren Fackelzügen sogar die 1848er rot-schwarzgoldene Fahne.38 Auch der radikale Nationalismus war eine bittere Parodie von 1848. Das gilt nicht nur für die Zusammensetzung der Bewegung – gebildete bürgerliche Generäle, kleinbürgerliche Unteroffiziere und Fußsoldaten –, sondern vor allem für die Ungeduld radikaler Nationalisten mit etablierten politischen Formen. Heinrich Claß, später Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes, erzählte, er habe von einem alten Freund seines Vaters aus der 1848er Zeit gelernt, wie man »ein begeisterter Sohn seines Volkes und doch ein entschiedener Gegner seiner Regierenden« sein könne. Andere brüsteten sich ähnlicher Wurzeln.39 Entsprechend kritisch waren die radikalen Nationalisten gegenüber dem

36 R. S.  Levy, The Downfall of the Anti-Semitic Political Parties in Imperial Germany, New Haven 1975, S. 55–60; White, Splintered Party, S. 136 ff.; F. Jacobs, Deutsche Bauernführer, Düsseldorf 1958, S. 113; Haushofer, Der Bayerische Bauernbund, S. 571; A. Schnorbus, Arbeit und Sozialordnung in Bayern vor dem Ersten Weltkrieg, München 1969, S. 76. 37 D. Blackbourn, Between Resignation and Volatility. The German Petite Bourgeoisie in the Nineteenth Century, in: G. Crossick u. H.-G. Haupt (Hg.), Shopkeepers and Master Artisans in Nineteenth-Century Europe, London 1984, v. a. S. 50 f.; sowie, ausführlicher, D. Blackbourn, La petite bourgeoisie et l’Etat dans l’Allemagne impériale. 1871–1914, in: Le mouvement social, Bd. 127, 1984, S. 3–28. 38 Levy, Downfall of the Anti-Semitic Parties, S. 55–60. 39 Claß, Wider den Strom, S.  19. Der radikalnationalistische Verleger J. F. Lehmann, Mitbegründer der Münchner Ortsgruppe des Alldeutschen Verbandes und ab 1898 Mitglied des geschäftsführenden Ausschusses, war ebenfalls Sohn eines ins Exil gegangenen 1848ers und in seiner Jugend ein Linksliberaler; siehe G. Stark, Entrepreneurs of Ideology, Chapel Hill 1981, S. 19–22. Ein anderes Mitglied des geschäftsführenden Ausschusses des Alldeutschen Verbandes, Adolf Fick, war ein überzeugter Republikaner – ein »nationaler Demokrat«, wie Claß gesagt hätte: Claß, Wider den Strom, S. 50.

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»Byzantinismus«40 der deutschen Herrscher und Beamten, und forderten stattdessen die aktive Partizipation von »Staatsbürgern«, nicht »Untertanen«.41 Sie verachteten die rein formalen, äußerlichen Aspekte des Nationalstaats, die ihren Ausdruck in Denkmälern und Briefmarken fanden. »Schaugepränge und Feste, Paraden und Denkmalenthüllungen«42, argumentierte Claß, verdeckten lediglich, dass es ganz oben keine echte nationale Gesinnung gebe. In dieselbe Richtung zielt die Bemerkung des Journalisten Victor Schweinburg über den Deutschen Flottenverein: Dieser sei nicht gegründet worden, um einmal im Jahr ein großes Aufhebens zu machen, dem Kaiser ein Telegramm zu senden und am Ende des großen Festes von Alkohol benebelt ›Lieb Vaterland, magst ruhig sein‹ zu singen.43 Aktivisten versuchten, die verbrauchten offiziellen Symbole des Reiches in Beschlag zu nehmen und sie mit einem Schuss populärer Energie zu verjüngen. Für die offiziellen Hüter des Nationalgedankens war das eine Herausforderung, im Ton wie in der Sache.

III. Sowohl im Falle der radikalnationalistischen Organisationen wie auch jener entlang der Agrar-Mittelstands-Achse haben wir es mit unabhängigen, ausgesprochen dynamischen Bewegungen zu tun. Das zeigt sich beispielsweise in der Fähigkeit beider Arten von Organisationen, ihre eigenen Anführer hervorzubringen. Diese neue Führungsschicht, die sich häufig durch ihre Herkunft, immer aber durch ihren Stil von den alten, in jedem Gesellschaftsklub gern gesehenen Honoratioren absetzte, trug am meisten dazu bei, im öffentlichen Leben in Deutschland eine neue, demagogische Sprache zu etablieren. Bei näherer Betrachtung kann man bei den neuen Führungsfiguren im Wesentlichen zwei Typen unterscheiden. Den ersten könnte man als »Volkstribun« bezeichnen: Kirchturmpolitiker parexcellence, wie sie vor allem in der Agrarbewegung so häufig anzutreffen waren. Es waren Männer, die für sich in Anspruch 40 Vgl. E. Hasse, zitiert nach A. Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, 1890–1939, Wiesbaden 1954, S. 45. 41 Claß, Wider den Strom, S.  96. Vgl. die Bemerkung von Hermann Heydweiller anlässlich der außerordentlichen Versammlung des Deutschen Flottenvereins im Juni 1908 in Kassel: »Wir sind freie, mündige Bürger und keine Untertanen.« Eley, Reshaping the German Right, S. 201. 42 In seiner Rede »Bilanz des Neuen Kurses«; siehe H. Claß, Führergedanken. Aus Reden und Schriften von Justizrat Claß, 1903–1913, zusammengestellt und eingeleitet von Dr. Alexander Brockdorff, Berlin o. J., S. 6. 43 Zitiert nach Eley, Reshaping the German Right, S. 192. Schweinburg schrieb 1907, zu einer Zeit, als Radikale im Flottenverein tatsächlich argumentierten, dieser sei zu einem geruhsamen Geselligkeitsverein verkommen. Die Ironie: Ende der 1890er Jahre war Schweinburg selbst Gegenstand ähnlicher populistischer Anfeindungen gewesen.

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nahmen, Sprachrohr einer lokalen Gemeinschaft zu sein, weil sie sich bewusst als Teil dieser Gemeinschaft sahen. Ein typisches Beispiel für diesen Typus ist Philipp Köhler, Stellvertreter Böckels und später dessen Nachfolger als Vorsitzender des Mitteldeutschen Bauernvereins. Köhler war in seinem Geburtsort Langsdorf »Dorfkönig«: Bürgermeister, Ortsgerichtsvorsteher, Standesbeamter, Poststellenleiter und Gründer der örtlichen Sparkasse. Außerdem pflegte er herauszustreichen, dass er selbst Landwirt sei.44 Viele Anführer des Bayerischen Bauernbundes brüsteten sich einer ähnlichen Herkunft.45 Der wohlhabende Landwirt und Dorfbürgermeister, der betonte, nach wie vor Ackerbauer zu sein, war in der Agrarbewegung in der Tat eine vertraute Figur. Das Neuartige an diesem Typus der Führungsfigur war die Art und Weise, in der diese Männer lokalen Anliegen größere Bedeutung verschafften, indem sie diese auf der politischen Bühne des Kaiserreichs artikulierten. Ihr Pendant waren jene »politischen Handwerker« an der Spitze der Handwerkerbewegung, die stets betonten, weiterhin den Idealen der ehrbaren Arbeit verpflichtet zu sein, die sie in ihrer kleinen Werkstatt gelernt hätten. Ganz anders der zweite Typus der Führungspersönlichkeit, den diese Bewegungen hervorbrachten. Angehörige dieser Kategorie könnte man als politische Freibeuter charakterisieren, die sich mit ihren politischen und publizistischen Aktivitäten ihren Lebensunterhalt verdienten (beziehungsweise zu verdienen versuchten).46 Im Falle der Agrar- und der antisemitischen Bewegung waren es Männer, die sich große Mühe gaben, ihre Zuhörer davon zu überzeugen, dass ihre Volksverbundenheit wichtiger sei als ihre fehlende Herkunft vom Land. Beispiele für diese Kategorie sind Hermann Ahlwardt, ein wegen Unterschlagung entlassener Schulleiter, der professioneller Antisemit wurde, oder Otto Böckel, der vom Archivar und Volkskundler zum »hessischen Bauernkönig« aufstieg. Aus demselben Holz waren mehrere Angehörige der Führungsriege des Bayerischen Bauernbundes geschnitzt, wie der ehemalige Geistliche Georg 44 K. E. Demandt, Leopold von Sacher-Masoch und sein Oberhessischer ­Volksbildungsverein zwischen Schwarzen, Roten und Antisemiten, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Bd. 18, 1968, S. 191; White, Splintered Party, S. 145 f. 45 Haushofer, Der Bayerische Bauernbund, S. 570. 46 Die Häufigkeit, mit der derartige politische Freibeuter in finanzielle Nöte gerieten, wegen derer sie vor Gericht landeten, sollte man nicht ausschließlich als Hinweis auf eine fragwürdige Lebensführung betrachten. Sie spiegelt auch die Schwierigkeiten, die mit dem Versuch verbunden waren, als »Berufspolitiker« Karriere zu machen, ohne über ein privates Vermögen zu verfügen, wie es für Politiker aus dem Adel typisch war. Die Schwierigkeiten, in denen Ahlwardt steckte, lassen sich aus der Tatsache erahnen, dass er (neben Verleumdung natürlich) sowohl wegen Unterschlagung als auch wegen Erpressung verurteilt wurde. Diese Kombination aus der Unzufriedenheit im Volk und den materiellen Chancen, die ein Leben als Politiker mit sich brachte, schlug sich wohl auch in den verschiedenen Bewegungen und Modeerscheinungen nieder, in die antisemitische und andere Freibeuter involviert waren: Sonnenanbetung, Theosophie, Geisterbeschwörung, Vollkornbrot. Einige aufschlussreiche Exkurse zu diesem Thema finden sich in Pulzer, Rise of Political AntiSemitism.

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Ratzinger oder die Zeitungsverleger Sigl und Schwab.47 Als Rebellen mit volksnaher Ausstrahlung gehörten solche Männer streng genommen weder der gehobenen Klasse noch der breiten Masse an. Sie genossen eine ähnliche Stellung wie die sogennanten »Bauernadvokaten«, jene früheren, nonkonformistischen Außenseiter, die Akzeptanz erlangten, indem sie sich eine Gefolgschaft auf dem Lande sicherten.48 Eine große Zahl ähnlicher Persönlichkeiten ging aus der Mittelstandsbewegung hervor, denn die zunehmend institutionalisierten Organisationen hatten Bedarf an Sprechern, Flugblattschreibern und Funktionären. Die deutsche Handwerkerbewegung bot zahlreichen »politischen Spekulanten« und »Abenteurern«49 eine Heimat, ebenso wie Verbände für Ladenbesitzer und Organisationen für den aus Büroarbeitern bestehenden »neuen Mittelstand«. Friedrich Raab zum Beispiel war einer der Gründer des rechtsradikalen Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes von 1893.50 Ehe er Stadtrat und später Reichstagsabgeordneter wurde, war Raab außerdem ein hochrangiges Mitglied in der Hamburger Antisemitischen Wählervereinigung und in der antisemitischen Deutschen Reformpartei. Wie so viele andere Emporkömmlinge war Raab darüber hinaus an einem Verlag beteiligt.51 Noch allgegenwärtiger war der in Sachsen beheimatete Theodor Fritsch, ein Mittelstandsorganisator und dezidierter Antisemit. Fritsch ist zugleich ein Beispiel für die Verbindungslinien zwischen diesen Bewegungen und dem radikalen Nationalismus, brachten seine antisemitischen (und antikatholischen) Interessen ihn doch häufig mit anderen nationalistischen Gruppen in Kontakt. Besonders enge Beziehungen unterhielt er zu Führungsfiguren des Alldeutschen Verbandes.52 Innerhalb der eng verzahnten radikalnationalistischen Organisationen selbst gab es zahlreiche VollzeitAgitatoren und Publizisten, die mal für die eine, mal für die andere Gruppierung tätig waren. Ein gutes Beispiel stellt der Publizist Albert Bovenschen dar, der zunächst Geschäftsführer des Ostmarkenvereins (der »Hakatisten«) war und später dieselbe Funktion beim Zentralverein zur Bekämpfung der Sozial­ 47 Ebd., S. 108–117; Möckl, Prinzregentenzeit, S. 451–453; Haushofer, Der Bayerische Bauernbund, S. 570–573; Farr, Populism in the Countryside, S. 138 f. 48 Ein Beispiel für einen prominenten »Bauernadvokaten«, Andreas Wiest, beschreibt C. Bauer, Politischer Katholizismus in Württemberg bis zum Jahre 1848, Freiburg i. B. 1929, S. 128. 49 Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit, S. 80. 50 Zu Friedrich Raab, siehe I. Hamel, Völkischer Verband und nationale Gewerkschaft. Der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband 1893–1933, Frankfurt a. M. 1967, mit biografischen Angaben auf S. 45. 51 Nämlich am Hanseatischen Druck- und Verlagshaus. Die Hälfte der 16 Antisemiten, die 1894 im Reichstag saßen, war entweder Besitzer oder Herausgeber einer Zeitung: Levy, Downfall of the Anti-Semitic Parties, S. 116. Viele ähnliche Figuren gab es im Bayerischen Bauernbund; zu den prominenten radikalen Nationalisten mit vergleichbarem Hintergund gehörten Friedrich Lange, Heinrich Rippler, Theodor Reismann-Grone und J. F. Lehmann. 52 Chickering, We Men Who Feel Most German, S.  241 f.; Pulzer, Rise of Political Anti-Semitism, S. 104–107, 197, 231–233, 238. Eine Studie über Fritsch ist ein Desiderat.

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demokratie ausfüllte.53 Ob sie nun im agrarischen und Mittelstandsmilieu oder in radikalnationalistischen Kreisen aktiv waren  – oder, wie Fritsch, hier wie dort –: Diese politischen Freibeuter stellten eine wichtige neue Form von Defacto-Berufspolitikern dar. Es waren Männer, die, wie Max Weber formulierte, eher »von der« als »für die« Politik lebten.54 Gemeinsam war Volkstribunen und Freibeutern die demagogische politische Sprache. Im Mittelpunkt stand dabei ein bewusst betriebener »Authen­ tizitätskult«.55 Ob sie vor Versammlungen sprachen oder für zwanzig Pfennig verkaufte Flugblätter schrieben: Immer stellten sie sich als leuchtende Vorbilder dar, als Männer, die in der angeblich unaufrichtigen und korrupten Welt der Politik offen und ehrlich ihre Meinung sagten. Indem sie ihre persönliche Tugendhaftigkeit öffentlich thematisierten, machten sie sich die weit verbreitete Überzeugung zunutze, dass Regierende, Beamte und etablierte Politiker im besten Fall selbstzufrieden, im schlimmsten Fall käuflich und heimtückisch seien. Agrarische und antisemitische Führungsfiguren hatten einiges über den »jüdischen« Betrug an den Warenbörsen zu sagen, dem die offiziellen Stellen untätig zusähen, und Ahlwardt hielt seine Wähler aus der brandenburgischen Landbevölkerung mit Geschichten über fehlerhafte Gewehre bei Laune, die dem Kriegsministerium angeblich von jüdischen Geschäftsleuten verkauft worden seien.56 Wortführer der Mittelstandsbewegung beschwerten sich über die Ungeheuerlichkeit »jüdischer« Kaufhäuser, die ehrbaren christlichen Geschäften die Luft abschnürten, und stellten laut die Frage, weshalb die Behörden nichts unternähmen, um Kleinbürger vor »unlauterem Wettbewerb« zu schützen. In all diesen Fällen bestand die Kunst der Demagogie darin, den Zuhörern damit zu schmeicheln, dass die Aufrichtigkeit des Sprechers ein Spiegel der ihren sei – im Gegensatz zur höheren Orts vorherrschenden Doppelzüngigkeit. Eine vergleichbare Rhetorik, in der »Enthüllungen« eine wichtige Rolle spielten, fand sich bei radikalen Nationalisten. Der Herausgeber der »Täglichen Rundschau«, Heinrich Rippler, sprach davon, er werde sich nach Kräften für die nationale Sache einsetzen, »selbst wenn ihm von oben gegengearbeitet wurde«.57 Die­ Hakatisten »entlarvten« ständig Beamte, die die Polen mit Samthandschuhe anfassten, und griffen hochrangige Amtsträger  – Generäle, Oberpräsidenten, sogar den preußischen Landwirtschaftsminister – an, wobei die Vorwürfe von »Mangel an Entschiedenheit« und »Feigheit« bis zu »Sabotage« und »natio­nalem

53 Zu Bovenschen siehe A. Galos u. a., Die Hakatisten. Der Deutsche Ostmarken-Verein ­1894–1934, Berlin 1966, S. 50, sowie Eley, Reshaping the German Right, S. 111; auf S. 107– 114 bietet Eley eine hervorragende allgemeine Analyse dieser neuen Politikertypen. 54 M. Weber, Politik als Beruf, München 1919. 55 Wichtige allgemeine Anregungen für meine Analyse verdanke ich R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a. M. 1983. 56 Pulzer, Rise of Political Anti-Semitism, S. 112 f. Außerdem warf Ahlwardt Bismarcks Bankier, Gerson Bleichröder, im Zusammenhang mit einer Unterhaltsklage Korruption vor. 57 Zitiert nach Eley, Reshaping the German Right, S. 97.

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Verrat« reichten.58 Als Bethmann-Hollweg 1911 seine Politik im Hinblick auf das Elsass verkündete, war es, so der vielsagende Kommentar des offiziellen Historikers der Alldeutschen, als hätte er »die Maske fallen lassen«.59 Entsprechend wurde der alldeutschen Leserschaft gesagt, sie bestehe aus »unabhängigen Männern aus dem Volke«, die »Inseln«, »Felsen« und »Burgen« darstellten, die der sozialistischen Flut, der Bedrohung durch Ausländer und den Machenschaften der Jesuiten alleine gegenüberstünden.60 Da sich diese demagogische Art der politischen Anrede sehr stark auf die Idee des Verrats an höherer Stelle stützte, waren Konflikte mit dem Gesetz unvermeidlich. Doch diese verliehen dem Behaupteten ihrerseits nur noch mehr Gewicht. Aus der Verleumdungsklage und Inhaftierung, die auf seine Behauptungen über fehlerhafte Gewehre folgten, schlug Ahlwardt eine Menge politisches Kapital. Böckel und seine Zeitungen führten 1892 insgesamt 52 Prozesse. Auch Sigl und Wieland in Bayern trugen ihre juristischen Niederlagen wie Ehrenabzeichen.61 Die Mittelstandsbewegung kam ebenfalls vielfach mit dem Gesetz in Konflikt. Ein gutes Beispiel ist hier der unbeherrschte ­Amandus Werbeck, der als Führer des Hamburger Vereins gegen Unwesen im Handel und Gewerbe und in anderen Mittelstandsvereinigungen aktiv war.62 Unter radikalen Nationalisten kam es seltener vor, dass das Beharren auf dem Verrat an höherer Stelle in justiziabler Form vorgetragen wurde. Es gab jedoch durchaus Leute wie den Hannoveraner Journalisten Bruno Wagener, ein leidenschaftlicher Nationalist und Antisemit, der wegen seiner heftigen Angriffe auf Beamte und sogar auf den Kaiser ernsthaft in Schwierigkeiten geriet.63 Und es gab noch eine letzte Gemeinsamkeit zwischen der Demagogie der Volkstribunen und jener der politischen Spekulanten. Indem sie Meinungen, die noch zwanzig Jahre zuvor ausschließlich Gegenstand privaten Grolls gewesen wären, eine neue öffentliche Legitimität verliehen, trugen beide dazu bei, dass sich die Grenze zwischen öffentlich und privat verschob. Wenn Böckel und Fritsch auf Juden oder Beamte schimpften, so war das nichts Neues – neu war die Tat­sache, dass sie es öffentlich taten, auf der offiziellen politischen Bühne. Mit ihren »Enthüllungen« brachen die neuen Demagogen mit der gewohnten öffentlichen Zurückhaltung, die für konservative Honoratioren und Patrizier bis dato allgemein typisch gewesen war. Sie brachten Stammtischvorurteile in 58 Galos u. a., Hakatisten, S. 95–100, 187, 220 ff. 59 O. Bonhard, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, Leipzig 1920, S. 87. 60 Class, Wider den Strom, S. 62; Chickering, We Men Who Feel Most German, S. 81–86. 61 Massing, Vorgeschichte, S. 94 f.; Levy, Downfall of the Anti-Semitic Parties, S. 140; Haus­ hofer, Der Bayerische Bauernbund, S. 570 f. 62 Gellately, Politics of Economic Despair, S.  88–93. Die Hamburger Antisemiten bedankten sich 1892 sarkastisch bei der Polizei, dass sie ihnen den Gefallen getan habe, eine ihrer Versammlungen aufzulösen. Innerhalb von 24 Stunden, behaupteten sie, hätten sie so ein­ hundert neue Mitglieder gewonnen. Hamel, Völkischer Verband und nationale Gewerkschaft, S. 48. 63 Eley, Reshaping the German Right, S. 112 u. Anm. 35.

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öffentliche Sitzungen und parlamentarische Debatten ein, verstärkten sie und verliehen ihnen eine neue Legitimität. Ganz ähnlich griff die Sprache radikaler Nationalisten Klagen auf, die im Ratskeller regelmäßig geäußert wurden, und verschafften ihnen politisches Gewicht. Die Anführer der in den 1890er Jahren entstandenen Organisationen hatten erheblichen Anteil daran, dass die öffentliche Debatte in Deutschland andere, demagogischere Züge annahm. Sie leisteten einen substanziellen Beitrag dazu, dass im Wilhelminischen Deutschland, um einen Ausdruck von Carl Schorske zu gebrauchen, »ein neuer Ton in der Politik« Einzug hielt.64

IV. »Wilde Agrardemagogie« und »nationale Demagogie« waren keine raffinierten Erfindungen von Konservativen oder der herrschenden Elite. Tatsächlich reagierte letztere auf die neue Politik meist mit einer Mischung aus Verachtung und Unbehagen. Männer wie der Kaiser oder Philipp Eulenburg betrachteten die Agrarier und Antisemiten mit Entsetzen. Der sächsische Konservative von Friesen wetterte gegen ihren »Lärm und Wühlen«, ihr Appellieren an »Leiden­ schaften«. Sein Parteikollege von Helldorff sprach von einer »erschreckenden Verwilderung der öffentlichen Meinung «.65 Selbst der Hofkaplan Adolf Stoecker, der in den achtziger Jahren  – mit mäßigem Erfolg  – versucht hatte, die Berliner Arbeiterschaft für ein soziales Kaisertum mit einem Schuss Antisemitismus zu gewinnen, hielt es nicht für unangebracht, seiner Verachtung für die »widerliche Demagogie« der ordinären Hetzer Ausdruck zu verleihen. Der Ausdruck »Radauantisemitismus« brachte eine unter Konservativen weit verbreitete Sichtweise auf den Punkt, eine Sichtweise, die sich auch auf die »Exzesse« der Agrarier und des Mittelstands allgemein bezog. Anführer der katholischen Zentrumspartei machten ähnliche Äußerungen über den Bayerischen Bauernbund.66 Auch von Seiten hochrangiger Amtsträger war der radikale Nationalismus Gegenstand heftiger Angriffe. In einer gefeierten Philippika im Reichstag warf Kanzler Bülow den Alldeutschen »Bierbankpolitik« vor.67 Prinz Würtzburg, bayerischer Förderer des Flottenvereins, attackierte die Radikalen in dieser Organisation wegen ihres »demagogischen Chauvinismus«.68 Ob man sich die konservativen Eliten oder die Regierungselite ansieht: Fest steht, dass die neuen Bewegungen Besorgnis auslösten. Ihr Ton wurde als be­ 64 C. E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle, Frankfurt a. M. 1982, S. ­111–168. 65 Retallack, Reformist Conservatism, S. 168, 173. 66 Vgl. die Kritik an einem Mitbegründer des Bauernbundes, Johann Baptist Sigl »mit seinem Demagogeninstinkt«: J. Bachem, Erinnerungen eines alten Publizisten und Politikers, Köln 1913, S. 191. 67 Chickering, We Men Who Feel Most German, S. 67 f. 68 Eley, Reshaping the German Right, S. 281.

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unruhigend illoyal wahrgenommen, und die Programme zumal der Antisemiten und Agrarier wiesen nach Ansicht vieler in Richtung Sozialdemokratie. In den frühen neunziger Jahren, als in konservativen Kreisen Pläne für einen Staatsstreich diskutiert wurden, war häufig zu vernehmen, die Gewährung des allgemeinen Wahlrechts habe sich als unklug erwiesen.69 Über die Parteikonferenz der Deutschkonservativen 1892 in Berlin, die im restlos mit unruhigen Agrariern und Antisemiten gefüllten Festsaal der Tivoli-Brauerei stattgefunden hatte, bemerkte Stoecker: »Es war kein Parteitag im schwarzen Frack und weissen Glacehandschuhen, sondern im Rock. Es war die Konservative Partei unter der Geltung des allgemeinen gleichen Wahlrechts, die uns da entgegentrat.«. Und sein scharfsinniger Parteikollege Manteuffel meinte zum Tivoli-Parteitag und den unwillkommenen Gästen: »Die Judenfrage war nicht zu vermeiden, wollte man nicht den demagogischen Antisemiten den vollen Wind der Bewegung überlassen, mit dem sie einfach an uns vorbeigesegelt wären.«70 Und genau das war natürlich der Punkt. Konservative sahen die Gefahr, aber sie sahen auch die Chance, die in ihr steckte. Sie versuchten (mit erheblichem Erfolg), die auf dem Land und im städtischen Mittelstand entfesselten Kräfte zu zähmen und nutzbar zu machen. »Wir müssten ja Kinder sein, wenn wir nicht die urmächtigen Kräfte, die in der Volksseele schlummern, auf die richtigen Bahnen leiten wollten, wenn wir nicht der Führung dieser urkräftigen Volksströmung uns bemächtigen wollten«71 Im Hinblick auf Wahlen bedeutete das, mit den Neuaufsteigern soweit als nötig zu kooperieren. Freiherr von Friesen mag die Mitglieder der antisemitischen Deutschen Reformpartei als »an­rüchige Personen und verfehlte Existenzen« empfunden haben; dennoch schloss er ein Wahlbündnis mit ihr, dank dessen die Konservativen im Dresdner Stadtrat fast zwanzig Jahre ihre Mehrheit behaupten konnten.72 Zugleich machte sich der deutsche Konservatismus viele der von Bauernadvokaten, Mittelstandsorganisatoren und antisemitischen Freibeutern erhobenen politischen Forderungen zu eigen. Auf dem Tivoli-Parteitag wurde der Antisemitismus zu einem Kern­ element des konservativen Programms, und im Folgenden fand die Partei zahlreiche Gelegenheiten, ihre Feindseligkeit gegenüber den jüdischen »Feinden« der Bauern, Handwerker und Ladenbesitzer zu demonstrieren – seien es Spekulanten an den Berliner Börsen, Fabrikanten und Kaufhauseigentümer, die sich »undeutscher« Methoden bedienten, oder liberale und sozialistische Literaten, die die »schaffenden Stände« verleumdeten. Es war eine beeindruckende Anzahl von Themen, die die Konservativen in den zwanzig Jahren nach T ­ ivoli aufgriffen und integrierten. Dazu gehörten verschiedene Formen des landwirt69 E. Zechlin, Staatsstreichpläne Bismarcks und Wilhelms II. 1890 bis 1894, Stuttgart 1929. 70 Massing, Vorgeschichte, S. 64, 66. 71 A. Klasig (Anwalt aus Bielefeld und christlich-sozialer Sympathisant), Sten. Bericht über den Allgemeinen Konservativen Parteitag, abgehalten am 8. Dezember 1892 zu Berlin, Berlin 1893, S. 17. 72 Baron von Friesen auf dem Konservativen Parteitag in Sachsen am 13. Juni 1892, zitiert nach einem Bericht in der »Antisemitischen Korrespondenz«, 19. Juni 1892, S. 17.

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schaftlichen Protektionismus zum Wohle der Bauern sowie die sogenannte »Mittelstandspolitik« zur »Rettung« der Handwerker und Einzelhändler.73 Der nach dem Tivoli-Parteitag gegründete Bund der Landwirte, der bis 1914 auf über 300.000 Mitglieder anwuchs, spielte in diesem Zusammenhang ebenfalls eine wichtige Rolle. Dort wurde in der Person von Sprechern und Funktionären wie Hahn, Oertel und Kaufhold der neue Typus der demagogischen Führungspersönlichkeit institutionalisiert und zugleich vieles aus der Verschwörungs­ rhetorik von Männern wie Böckel aufgenommen.74 Einer der konservativen Redner auf dem Tivoli-Parteitag, ein Kurzwarenhändler aus Chemnitz, hatte die große Distanz zwischen der Partei und der Stimmung im Volk beklagt: »Es ist heute bei den führenden Kreisen in der konservativen Partei Sitte, dass alles, was aus dem Herzen kommt, was sich aus dem Herzen in klaren Worten auf die Zunge drängt, alles, was das Volk begeistert, sehr leicht mit der Redensart ›demagogisch‹ abgefertigt wird. (Sehr richtig!) Ich möchte unsere verehrten Abgeordneten bitten, dass sie ein wenig mehr ›demagogisch‹ – aber nicht etwa im schlechten Sinne, sondern im guten Sinne – werden (Bravo!)«.75 Zwanzig Jahre später waren die Konservativen und der Bund der Landwirte diesem Ziel ein gutes Stück näher gekommen. Es waren jedoch nicht nur die Junker, die sich die populistische Sprache der neunziger Jahre zu eigen und sie so salonfähig machten. Auch die Nationalliberalen sicherten in manchen ländlichen Gebieten ihr Überleben, indem sie sich vor Wahlen mit agrarischen Antisemiten wie auch mit dem Bund der Landwirte arrangierten. Dies traf beispielsweise auf die Pfalz, Hessen und Thüringen zu, allesamt Teil jenes Gürtels quer durch Deutschland, in dem ein so großer Teil der Annäherung zwischen der Politik alten und neuen Stils stattfand.76 Das Zentrum, dessen Parteiführung die neuen populistischen Kräfte in der ersten Hälfte der neunziger Jahre noch als Existenzbedrohung empfunden hatte, folgte dem Beispiel der Konservativen und passte sich diesen Kräften ebenfalls an, sogar mit größerem Erfolg.77 Die pro-agrarische und mittelstandsfreundliche Ausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik des Zentrums wurde immer deutlicher: Mehr und mehr beschwerte sich der bayerische Zentrums­ 73 Vgl. Puhle, Agrarische Interessenpolitik und Preussischer Konservatismus. Puhles Darstellung neigt dazu, die Rolle der Junker über- und das autonome Rebellionspotenzial auf Seiten der Bauern unterzubewerten, zeigt jedoch sehr gut, wie sich die Konservativen Proteste der Landbevölkerung zunutze machten. 74 Ebd., v. a. das Schlusskapitel zum veränderten Stil des Konservatismus sowie die Kommentare zu Diederich Hahn, S. 296 f. Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch die Arbeiten von H. Rosenberg (vgl. Anm. 11). 75 Der Kurzwarenhändler E. Ulrich, Sten. Bericht über den Allgemeinen Konservativen Parteitag. Abgehalten am 8. Dezember 1892 zu Berlin, Berlin 1893, S. 12. 76 White, Splintered Party, S. 142 ff.; Puhle, Agrarische Interessenpolitik; J. C. Hunt, Peasants, Grain Tariffs and Meat Quotas, in: Central European History, Jg. 7, 1974, S. 329 u. Anm. 47; Levy, Downfall of the Anti-Semitic Parties, S. 183. 77 Allgemein hierzu Blackbourn, Peasants and Politics in Germany, S. 65 f., sowie ders., Class, Religion and Local Politics in Wilhelmine Germany, London 1980, v. a. Kap. 1, 5, 7.

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politiker Georg von Hertling verstimmt, stehe seine Partei für »Kornzölle und obligatorische Innungen«.78 Wie bei den Konservativen, so ging auch beim Zentrum der Kniefall vor den Zielen der Agrarier und des Kleinbürgertums mit einer dezidiert populistischen Rhetorik einher. Besonders ausgeprägt war diese in Bayern, wo Lokalpolitiker des Zentrums oft nur schwer von jenen des Bauern­bundes zu unterscheiden waren.79 Auf dieselbe Sprache trifft man jedoch auch in anderen Bereichen, in denen Lokalpolitiker des Zentrums unbekümmert regierungsfeindliche, anti-elitäre und (häufig) antisemitische Positionen vertraten, die sich von jenen eines Ratzinger oder Böckel nur graduell unterschieden. Zwar machte die Parteiführung in Berlin  – im Gegensatz zu den Konservativen – in ihrer Politik und ihren Stellungnahmen gegenüber dem Antisemitismus keinerlei Zugeständnisse: Prinzipien wie Klugheit (schließlich waren die Katholiken selbst eine angreifbare Minderheit) setzten dem, was Spitzenpolitiker des Zentrums öffentlich zu sagen bereit waren, gewisse Grenzen. Die zunehmend wichtige lokale Maschinerie der Partei jedoch  – kleine Lokalzeitungen, Bauernvereinigungen, Ortsgruppen des nahezu eine Million Mitglieder zählenden Volksvereins für das katholische Deutschland – bediente sich routinemäßig antisemitischen Gedankenguts. Von den Parteiführern, die in ihren eigenen, wohldurchdachten öffentlichen Reden Chiffren wie »unlauterer Wettbewerb« benutzten, wurde das stillschweigend sanktioniert. Bei ihnen fehlte das antisemitische Etikett, aber jedermann wusste, wie ihre Chiffren zu verstehen waren.80 Genau wie die Konservativen legitimierte auch das Zentrum die neue demagogische Rhetorik und gab dem Führungstypus des Kirchturmpolitikers und Rebellen in ihren eigenen Reihen Raum. In diesem Zusammenhang verdienen Männer wie der »Bauerndoktor« Georg Heim und die Mittelstandsexperten der Partei ebenso viel Aufmerksamkeit wie ihre Pendants im Bauernbund. Vor allem durch Liberale war das Zentrum schon seit langem wegen seiner demagogischen »Schmeichelei gegen die Massen« kritisiert worden: es trage dazu bei, »alle politischen und religiösen Leidenschaften bis zum Siedepunkt zu erhitzen und die verderblichsten Ausbrüche derselben vorzu­ bereiten.«81 In den zwei Jahrzehnten vor 1914 wurde es diesem Ruf mehr und mehr gerecht.

78 G. von Hertling, Erinnerungen aus meinem Leben, 2 Bde., München 1919–20, Bd. 2, S. 54. Vgl. Pfälzische Landesbibliothek Speyer, Bestand Ernst Lieber, H. 168, Hertling an Lieber, 05.11.1896. 79 Eine typische Beschwerde darüber findet sich im Brief Adolf Gröbers an Ernst Lieber, zitiert nach H. Gottwald, Zentrum und Imperialismus, Diss., Jena 1966, S. 65 f. Anm. 163; vgl. auch T. Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, Düsseldorf 1961, S. 277. 80 Mehr dazu in D. Blackbourn, Roman Catholics, the Centre Party and Anti-Semitism in Imperial Germany, in: P. Kennedy u. A. Nicholls (Hg.), Nationalist and Racialist Movements in Britain and Germany before 1914, London 1981, S. 106–129. 81 M. Stürmer, Regierung und Reichstag im Bismarckstaat. 1871–1880, Düsseldorf 1974, S. 77 f., 128; G. Zang, Provinzialisierung einer Region, Frankfurt a. M. 1978, S. 241.

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So wie die Konservativen und andere Teile der politischen Rechten versuchten, sich die demagogischen Strömungen der neunziger Jahre zunutze zu machen, betrachtete auch die Regierungselite den radikalen Nationalismus als Herausforderung und Chance zugleich. Trotz seiner Vorbehalte gegenüber dem von den Alldeutschen angeschlagenen Ton hielt Bülow diese für nützlich, um »die nationale Trommel [zu] rühren«.82 Während der Beratungen über das erste Flottengesetz Ende der neunziger Jahre wurde der Flottenverein regelrecht instrumentalisiert und von der durch Tirpitz beim Flottenkommando eingerichteten Informationsstelle freigiebig mit Geldern, Flugblättern und Informationsmaterial ausgestattet. Reserveoffiziere wurden als Redner zu vom Flottenverein oder anderen patriotischen Organisationen ausgerichteten Versammlungen geschickt, es wurden Dias zur Verfügung gestellt und Kundgebungen bezuschusst.83 In all dem zeigt sich unmissverständlich die Absicht der ­Regierung, sich trotz aller Schwierigkeiten die Energie der radikalen Nationalisten zunutze zu machen, um die Meinung der breiten Öffentlichkeit zu be­ einflussen. Nach Ansicht des preußischen Innenministeriums mochte der Journalist Bruno Wagener ein »skrupelloser Politiker« sein – das Flottenkommando, für das er ein »leidenschaftlicher Propagandist« war, hielt das nicht davon ab, mit ihm zusammenzuarbeiten.84 Im Hinblick auf Journalisten meinte der spätere Leiter des Auswärtigen Amtes Kiderlen-Waechter: »Ach, mit zweifelhaften Existenzen – er gebrauchte einen noch stärkeren Ausdruck – lässt’s sich am besten arbeiten«.85 Ein ähnliches Muster zeigte sich bei den sogenannten Hottentottenwahlen von 1907. Nachdem er mit dem Zentrum gebrochen hatte, so wie es die radikalen Nationalisten schon immer gefordert hatten, rief Bülow zu einer Wahl gegen die »Reichsfeinde« auf. In deren Vorfeld stützte er sich in nie dagewesener Weise auf den Einsatz radikalnationaler Organisationen. Das Wahlmanifest der Regierung hatte die Form eines offenen Briefes von Bülows an Eduard von Liebert, den Vorsitzenden des Reichsverbands gegen die Sozialdemokratie, der zugleich Aktivist des Alldeutschen Verbandes und radikales Mitglied des Flottenvereins war. Obwohl sich im Flottenverein zu diesem Zeitpunkt die Unzufriedenheit mit der Politik der Regierung bündelte, profitierte er nichtsdestotrotz im großen Stil von Spenden führender Unternehmer, die von der Regierung an patriotische Organisationen weitergereicht wurden. August Keim, Anführer des radikalen Flügels des Flottenvereins und eifriger Aufdecker von »Unzu­länglichkeiten« der Regierung im Hinblick auf die militärische Einsatzbereitschaft, wurde Bülows oberster Wahlkampfberater. Verständlicherweise gingen die Alldeutschen davon aus, die Regierung sei endlich auf ihre Linie ein­geschwenkt. 82 Bülow an Kaiser Wilhelm II, August 1897: Bernhard von Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. 1, Berlin 1930, S. 59. 83 Ebd., S. 58 f.; Eley, Reshaping the German Right, S. 244; Claß, Wider den Strom, S. 33. 84 Eley, Reshaping the German Right, S. 112, Anm. 35. 85 O. Hammann, Der neue Kurs, Berlin 1918, S. 129.

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Nach der Wahl behauptete Liebert mit einer gewissen Berechtigung, dass »die Reichstags­auflösung und die ganze Wahlbewegung ein deutsch-nationales Gesicht zeigten, und dass alle alldeutschen Forderungen in Heeres-, Flotten-,­ Kolonial- und weltpolitischen Fragen gewissermaßen die Wahlparole bildeten.«86 In den Jahren danach hieß die nationale Trommel zu rühren weiterhin, je nach konkretem Anlass auf die radikalen Nationalisten zurückzugreifen. »Wenn es keine alldeutsche Bewegung gäbe«, so ein Beamter des Auswärtigen Amtes, »müssten wir sie ins Leben rufen.«87 Zum offensichtlichsten und zynischsten Versuch, sich der radikalnationalistischen Aktivisten zu bedienen, kam es 1911 während der zweiten Marokkokrise, als der Leiter des Auswärtigen Amtes Kiderlen dem Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes und ständigem heftigen Kritiker der offiziellen Außenpolitik Heinrich Claß eine »Arbeitsteilung« vorschlug. Die Alldeutschen sollten auf ihren Versammlungen und in der Presse leidenschaftliche Forderungen erheben: »Dann kann ich den fremden Vertretern sagen, das Auswärtige Amt sei zu jedem Ausgleich bereit, aber hinter ihm stünden die bösen Alldeutschen, und ihr Einfluss sei zu groß, dass ich Rücksicht darauf nehmen müsste.«88 Kiderlens riskantes Spiel – er nannte es »alle Hunde bellen lassen« – war ein Versuch, unabhängige Kräfte zu domestizieren, bei dem sich der Vergleich mit den Anstrengungen der politischen Rechten angesichts der lästigen Heraus­ forderung der Agrarier und des Mittelstands aufdrängt. In keinem von beiden Fällen war die betreffende Elite allerdings unschuldig. Sowohl die Politik und Rhetorik, die sie sich zueigen machten, als auch die Art und Weise, in der sie sich diese zueigen machten, war unübersehbar demagogisch – auch wenn Kiderlen, wie der Kurzwarenhändler aus Chemnitz, zweifellos von »Demagogie im guten Sinne« gesprochen hätte. Doch genau diese partielle Aneignung machte sie extrem angreifbar. Denn weder die parteipolitischen Strategen und Konservativen noch Bülow und seine Nachfolger in Berlin hatten diese zweifelhaften Verbündeten aus dem nichts herbeigezaubert. Sie hatten diese nicht erschaffen, und sie konnte sie definitiv nicht vollständig kontrollieren. Der Ritt auf dem Tiger entpuppte sich als gefährliches Unterfangen.

86 Alldeutsche Blätter, Jg. 17, Nr. 7, 16. Februar 1907, S. 51. Allgemein dazu vgl. D. Fricke, Der deutsche Imperialismus und die Reichstagswahlen von 1907, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 9, 1961, S. 538–576. 87 Bonhard, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, S. 233. 88 Claß, Wider den Strom, S. 177 f.; Wernecke, Wille zur Weltgeltung, S. 29 ff.; F. Fischer, Krieg der Illusionen, Düsseldorf 1969, S. 117 ff.

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V. Die Bewegungen, deren Forderungen aufgegriffen und deren Sprache imitiert wurde, werteten das ihrerseits, zumindest anfangs, als Erfolg. Anführer, die viel an ihrer eigenen Authentizität gearbeitet hatten, durften sich dem Gedanken hingeben, die Tugendhaftigkeit habe letztlich gesiegt. Wie die weitere Entwicklung sowohl der agrarischen und der Mittelstandsbewegung als auch der radikalnationalistischen Bewegungen zeigen sollte, ließ die Desillusionierung allerdings nicht lange auf sich warten. Diese Reaktion war keineswegs paranoid. Die etablierten konservativen Parteien bekannten sich nur vorsichtig und teilweise zu der nassforschen neuen Politik. Viele Konservative waren weiterhin der Überzeugung, die »Aufnahme der Demagogie« in ihrer Partei entspreche »der Verschmelzung von Wasser und Feuer«.89 Selbst jene Konservative, die eifrig populistische Neigungen heuchelten, durften dabei aus politischem Kalkül heraus nicht zu weit gehen, um es sich nicht mit dem Regierungsapparat zu verscherzen, dem sie so viel verdankten.90 Die Nationalliberalen, eine Partei, die sich als moderat und staatstragend betrachtete, wurden durch Politiker, die ihr Schicksal allzu eng an das der agrarischen und antisemitischen Bewegungen knüpften, ständig in Verlegenheit gebracht. Das traf insbesondere auf die sogenannte »Wormser Ecke« zu, deren Unterstützung eines Antisemiten bei einer Nachwahl in Gießen 1911 eine parteiinterne Krise auslöste.91 In der Zentrumspartei waren nach der Jahrhundertwende, und verstärkt nach 1907, antipopulistische Konservative wieder im Aufwind, eine Entwicklung, die dazu beitrug, Männer wie Heim, die den Positionen der Agrarier und des Mittelstands am nächsten standen, ins Abseits zu drängen.92 Im Übrigen war die Führung des Zentrums entschlossen, die Vertrauenswürdigkeit der deutschen Katholiken auf der nationalen Ebene unter Beweis zu stellen, indem sie sich offen hinter »deutsche« Ziele wie den ­Flottenbau stellte – 89 So der Kommentar des Berlinkorresponten der Kölnischen Zeitung über den Tivoli-Parteitag; Dr. Franz Fischer an Philipp Eulenburg, 12. Dezember 1892, in: J. C. G. Röhl (Hg.) Philipp Eulenburgs Politische Korrespondenz, 3 Bde, Boppard 1976–83, Bd. 2, S. 993. 90 Besonders betont werden muss hier die Rolle konservativer Junker in der preußischen Kommunalverwaltung und der vielen ökonomischen und steuerrechtlichen Privilegien, die die Junker genossen. Zu Ersterem, vgl. L. W. Muncy, The Junker in the Prussian Administration under Wilhelm II. 1888–1914, New York 1970. Zu Letzterem, siehe die Arbeiten von H. Rosenberg (vgl. Anm. 11), sowie P.-C. Witt, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1903 bis 1913, Lübeck 1970. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass der »moderne« Bund der Landwirte für preußische Konservative wie Limburg-Stirum und Mirbach »fremd und unaristokratisch« war: Puhle, Agrarische Interessenpolitik, S. 275. 91 Levy, Downfall of the Anti-Semitic Parties, S. 183. 92 Zu Heim und zur Situation in Bayern, siehe Möckl, Prinzregentenzeit, S. 535–547, zur nationalen Ebene W. Loth, Der politische Katholizismus in der Krise des Wilhelminischen Deutschlands, Düsseldorf 1984, Kap. 3–5.

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Ziele, die vor allem in der Bauernschaft höchst unpopulär waren.93 Die demonstrative Besorgtheit der Partei um den »kleinen Mann« wurde somit durch politische Positionen konterkariert, die genau in die entgegengesetzte Richtung zu weisen schienen. Das politische System des Kaiserreichs ermutigte Politiker durch die Kombination aus allgemeinem Wahlrecht und fehlender parlamentarischer Verantwortlichkeit der Regierung beziehungsweise der Minister, das Blaue vom Himmel zu versprechen.94 Gleichzeitig erschwerte es dieses System, Versprechen einzuhalten. Viele etablierte Politiker kündigten öffentlich wortreich an, die wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen, die Otto Böckel und der Mittelstand auf die Tagesordnung gesetzt hatten, zu unterstützen. Es gibt jedoch gute Gründe, infrage zu stellen, wie viel tatsächlich erreicht wurde.95 So nehmen sich die verschiedenen Maßnahmen zugunsten von Handwerkern und Kleinhändlern, die von den Konservativen und ihren Verbündeten mitgetragen wurden, auf dem Papier ziemlich beeindruckend aus; ihre Wirksamkeit ist allerdings zweifelhaft. Die Warenhaussteuern beispielsweise wurden entweder auf die Lieferanten abgewälzt oder durch Umsatzsteigerungen mehr als ausgeglichen – genau, wie es die Kritiker von Anfang an vorausgesagt hatten. Tatsächlich gaben Politiker, die Wert darauf legten, die Besteuerung von Warenhäusern öffentlich zu unterstützen, unter vier Augen zu, »dass da eine Ungerechtigkeit und eine wirtschaftliche Dummheit ist«.96 Auch die Maßnahmen gegen Konsumgenossenschaften entfalteten eine deutlich geringere Wirkung, als die Kleinhändler gehofft hatten. Dasselbe galt für die formalen Änderungen der Ausschreibungsbestimmungen, die Kleinproduzenten zugute kommen sollten. In der Praxis wurden sie stark verwässert und von wichtigen Regierungsstellen wie dem Kriegsministerium völlig ignoriert. Vor allem das Kernstück der Maßnahmen zur Förderung des Mittelstands, das Gesetz von 1897, entpuppte sich als Enttäuschung: Den nach den neuen Bestimmungen gegründeten Handwerkskammern mangelte es an Schlagkraft, und im Hinblick auf die Kontrolle von Lehrlingen durch ihren Meister blieb das Gesetz weit hinter dem zurück, was Sprecher der Handwerkerschaft gefordert hatten. Letztlich standen dem Aufstieg des Kleinbürgertums zu viele Interessen entgegen, als dass die Mittelstandpolitik mehr als kosmetische Verbesserungen bewirken konnte. Etwas besser erging es der Bauernschaft: Zölle, Quoten 93 Blackbourn, Class, Religion and Local Politics. 94 Vgl. Volkov, Rise of Popular Antimodernism, S. 275: »Das scheinparlamentarische System ermöglichte es den verschiedenen politischen Parteien, unpraktikable Forderungen zu erheben, ohne die Verantwortung für ihre Umsetzung schultern zu müssen. Es versetzte sie in die Lage, auf der Grundlage nicht zuende gedachter Vorschläge und unverantwortlicher Pläne politische Kampagnen zu führen und politische Unterstützer zu gewinnen.« 95 Diesen Fragen habe ich mich ausführlicher anderswo gewidmet (siehe Anm. 24, 37); dort auch detaillierte Verweise. Eine systematische Untersuchung der Mittelstandspolitik und ihrer Wirksamkeit wäre außerordentlich wünschenswert. 96 G. Tietz, Hermann Tietz, Stuttgart 1955, S. 46.

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für Fleischimporte, das Margarinegesetz und andere Maßnahmen boten ihr in einigen Bereichen wirksamen Schutz,97 wobei die Auswirkungen gestiegener Weltmarktpreise vermutlich größer waren. Tatsache ist und bleibt jedoch, dass Großgrundbesitzer, also nicht zuletzt konservative Junker, vom komplexen wilhelminischen System aus Agrarprotektionismus und Steuererleichterungen noch mehr profitierten.98 Im Übrigen bestand nie die geringste Wahrscheinlichkeit, dass die Konservativen und ihre politischen Verbündeten Forderungen nach der Zerschlagung großer Landgüter und der Einführung einer progressiven Einkommenssteuer, wie sie etwa von der Böckel-Bewegung erhoben wurden, aufgreifen würden. Die etablierten Parteien beraubten die ursprünglich von unten formulierten Programme ihres unausgeformten, aber radikalen Kerns und übernahmen lediglich die rhetorischen Angriffe auf symbolische Ziele: das »jüdische« Kapital oder den feisten städtischen Konsumenten. Diese konservative Variante der Demagogie löste eine Gegenreaktion jener aus, die das Gefühl hatten, betrogen worden zu sein. Durch den Versuch, die Missgunst der Bauern und des Mittelstandes gegen bestimmte Arten von »Außenseitern«, seien es Manchesterliberale, Sozialisten, Bürokraten oder Juden, für ihre eigenen Zwecke auszunutzen, förderten die Konservativen letztlich eine Kultur der Respektlosigkeit, die auf sie selbst zurückfallen konnte. Im Jahr 1898 zum Beispiel war Friedrich Raab gemeinsamer Kandidat der Antisemiten und des Bundes der Landwirte in Flensburg. Er gewann die Wahl und kandidierte im selben Jahr für das Hamburger Stadtparlament – mit einem Programm, das die Enteignung großer Landbesitzer, die Umverteilung des Landes und eine progressive Einkommenssteuer vorsah.99 In Hessen war die BöckelBewegung bis 1904 praktisch im Bund der Landwirte aufgegangen, war dabei Köhler zufolge jedoch zu einem Büttel der Interessen »der Pächter und Manschettenbauern« verkommen. Das Ergebnis waren 1907 neuerliche und teilweise erfolgreiche agrarische, antisemitische Proteste.100 Dieses Muster hielt sich bis zum Krieg. Carl Böhme, der 1907 in Marburg als gemeinsamer Kandidat der antisemitischen Deutschsozialen Partei und des Bundes der Landwirte gewählt worden war, gehörte ab 1909 der Führung des liberalen Deutschen Bauernbundes an und sprach sich 1911 für eine Reform des preußischen Wahlrechts und 97 Hunt, Peasants, Grain Tariffs and Meat Quotas; R. G. Moeller, Peasants and Tariffs in the Kaiserreich. How Backward Were the Bauern?, in: Agricultural History, Jg. 60, 1981, S. 370–384; U. Teichmann, Die Politik der Agrarpreisstützung, Köln 1955. 98 Siehe v. a. die Arbeiten von Rosenberg (Anm. 11), sowie Gerschenkron, Bread and Democracy in Germany, der allerdings den Grad übertreibt, zu dem der Protektionismus den Junkern Vorteile verschaffte. 99 Levy, Downfall of the Anti-Semitic Parties, S. 204 f. 100 K. Holl, Antisemitismus, kleinbäuerliche Bewegung und demokratischer Liberalismus in Hessern. Drei Briefe Philipp Köhlers an Adolf Korell, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde, N. F., Bd.  30, 1967–68, S.  150–159, hier S.  157. Die antisemitische Gruppierung um Max Liebermann von Sonnenberg hatte Böckel bereits als ein »Anhängsel« der konservativen Partei gebrandmarkt: Pulzer, Rise of Political Anti-Semitism, S. 191.

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eine gegen Junker gerichtete Wirtschaftspolitik aus.101 Eine feindselige Haltung gegenüber den »demagogischen« Junkern war unter radikalen Agrariern weit verbreitet; von ähnlichem Misstrauen und politischer Wechselhaftigkeit zeugt die Geschichte rebellischer Wahlkandidaten in ländlichen Wahlkreisen des Zentrums. Auch der Appetit des Mittelstands wurde durch die kosmetische Politik der Rechten eher vergrößert als gestillt. Ein Beispiel dafür ist die Frage, wie viel Macht Meister über ihre Lehrlinge zugestanden wurde: noch ehe der »kleine Befähigungsnachweis« gesetzlich verankert war, setzte bereits die aufgebrachte Agitation für den »großen Befähigungsnachweis « ein und hielt bis 1914 an – ein klassisches Beispiel für die Gefahr, dass Demagogie Erwartungen weckte, die nicht erfüllt werden konnten.102 Außerdem wurde zunehmend deutlich, dass manche von den Konservativen und ihren Verbündeten vorangetriebenen Maßnahmen selbst dem gut situierten Mittelstand erheblich schadeten. Ein spezifisches Beispiel hierfür ist der Schaden, der Metzgern durch Zölle und Quoten für Fleischimporte entstand; ein allgemeines Beispiel ist das regressive Steuersystem.103 Über die Frage der Steuerreform von 1909 kam es zum offenen Bruch mit der Rechten, und ein Teil der Mittelstandsbewegung lief zum liberalen Hansabund über.104 Bei den organisierten Handwerkern und Kleinhändlern hielt sich der latente Verdacht, dass sie von der Rechten instrumentalisiert würden – dass es sich bei deren Parteinahme für ihre Ziele um bloße Lippenbekenntnisse handle. Das war einer der Hauptgründe für die mangelnde Einigkeit der Mittelstandsbewegung und ihre Zersplitterung in Fraktionen, denn immer wieder tauchten neue Anführer auf, die für sich in Anspruch nehmen konnten, von jeglicher Vereinnahmung frei zu sein. 101 Levy, Downfall of the Anti-Semitic Parties, S. 248. 102 Zum Zynismus, mit dem die Handwerker das Gesetz von 1897 quittierten siehe Blackbourn, Mittelstand in German Society and Politics, S. 418 f. Auch Volkov, Rise of Popular Antimodernism, S. 241, 278, 332 f. spricht von einem Muster, nach dem die Hoffnungen der Handwerker durch gesetzgeberische Maßnahmen abwechselnd angestachelt und zunichte gemacht wurden. Andererseits war es gewissermaßen unmöglich, die Handwerksmeister zufriedenzustellen, weil sie Maximalforderungen aufzustellen pflegten und sich dann beschwerten, wenn diese nicht buchstabengetreu umgesetzt wurden. Vgl. F. Blaich, Staat und Verbände in Deutschland zwischen 1871 und 1945, Wiesbaden 1979, S. 26 f. Trotzdem sollte man die reale Wut, die im Mittelstand vorhanden war, nicht unter­ schätzen. 103 Zum Schaden, der Metzgern, Müllern und Bäckern durch Zölle entstand, siehe J. Wernicke, Kapitalismus und Mittelstandspolitik, Jena 1907, S. 162; Blackbourn, Mittelstand in German Society and Politics, S.  414. Allgemein dazu siehe H. A. Winkler, Der rückversicherte Mittelstand. Die Interessenverbände von Handwerk und Kleinhandel im deutschen Kaiserreich, in: W. Rüegg u. O. Neuloh (Hg.), Zur soziologischen Theorie und Analyse des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1971, S. 175; Gellately, Politics of Economic Despair, S. 158–161, 165 ff. 104 Winkler, Der rückversicherte Mittelstand, S. 169; S. Mielke, Der Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie, Göttingen 1976, S. 30 ff., 45–51.

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Im Jahr 1911 schloss sich die Mehrzahl der Mittelstandsvereinigungen zum von den Konservativen geförderten Reichsdeutschen Mittelstandsverband zusammen, der zwei Jahre darauf wiederum Teil des am rechten Rand angesiedelten Kartells der schaffenden Stände wurde.105 Zu diesem Zeitpunkt war außerdem unübersehbar, dass auch die deutsche Bauernschaft besser an die etablierten konservativen Parteien angebunden war als zwei Jahrzehnte zuvor.106 Jedoch hatten die zwanzig Jahre vor dem Krieg gezeigt, dass die Demagogie mitunter ein gefährliches Spiel war. Die tatsächlichen Gefahren wurden indes erst in den folgenden zwei Jahrzehnten offenbar, als die Bande zwischen Bauernschaft und Mittelstand auf der einen und der alten Rechten auf der anderen Seite zuerst durch den Krieg, dann durch die Inflation und schließlich durch die Weltwirtschaftskrise bis an ihre Belastungsgrenze gedehnt wurden. Diese Bande beruhten nämlich kaum auf tief verwurzelter Loyalität. Zwar konnten die auf Vordermann gebrachten konservativen und rechtsiberalen Parteien in der Weimarer Republik, die DNVP und die DVP, ihre Anhängerschaft innerhalb jener Gruppen vorübergehend zurückgewinnen, doch schon in ihren mittleren Jahren erlebte die Republik, dass sich die Demagogiespirale eine weitere Umdrehung weiterdrehte. Neu gegründete agrarische und Mittelstandsbewegungen, einmal mehr mit dezidiert lokaler Ausrichtung, wurden zum Sprachrohr der Desillusionierung der Bauern, Handwerker und Einzelhändler.107 Diesmal allerdings erwiesen sich die Bemühungen der etablierten Rechten, diesen Protest in demagogischer Weise aufzugreifen als weniger erfolgreich. Die Nationalsozialisten waren es, die sich die Stimme des »kleinen Mannes«­ sicherten. Diejenigen, die versucht hatten, der einen Form der Demagogie mit einer anderen, eigennützigen Variante Herr zu werden, mussten sich schließlich einer Partei geschlagen gegeben, die dieselbe Waffe viel geschickter einzusetzen wusste, und die obendrein vom verbreiteten Gefühl profitieren konnte, vom »System« immer wieder verraten worden zu sein – ein Gefühl, dessen Wurzeln bis ins Kaiserreich zurückreichten. Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass diesem Ausgang eine starke innere Logik innewohnte. Ein auffallend ähnliches Muster zeigt sich im Verhältnis zwischen dem radikalen Nationalismus und jenen, die versuchten, ihn sich zunutze zu machen. Auch hier kam es zu einer Demagogiespirale aus radikalen Forderungen, deren versuchten Domestizierung und aus unerfüllten Hoffnungen geborenen, weitergehenden Forderungen. So sahen die Alldeutschen und andere Organisationen 105 Näheres dazu in D. Stegmann, Die Erben Bismarcks, Köln 1970, S. 342 ff. 106 Blackbourn, Peasants and Politics in Germany, S. 63–66. 107 R. Heberle, From Democracy to Nazism. A Regional Case Study of Political Parties in Germany, New York 1970; M. Schumacher, Mittelstandsfront und Republik. Die Wirtschaftspartei  – Reichspartei des deutschen Mittelstandes, 1919–1933, Düsseldorf 1972; H. A. Winkler, Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus, Köln 1972; L. E. Jones, »The Dying Middle«. Weimar Germany and the Fragmentation of Bourgeois Politics, in: Central European History, Jg. 5, 1972, S. 23–54.

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in Bülow und Tirpitz Ende der neunziger Jahre zunächst Männer, die ihre Überzeugungen teilten. Die Regierung wollte jedoch in der Lage sein, den Hahn nicht nur auf-, sondern auch wieder zuzudrehen. Sie erkannte, dass die Forderungen der Alldeutschen Bülows sorgsam errichtete Konstruktion der Zusammenarbeit mit dem Zentrum, die nach Bülows Auffassung für die Durchsetzung zentraler nationaler Gesetzesvorhaben wie dem Flottenbauprogramm unerlässlich war, zerstört, und die deutschen Beziehungen zu Großbritannien und vermutlich auch zur Habsburgermonarchie ernsthaft beschädigt hätten. Doch durch die Erfahrung, dass die Regierung sich auf sie stützte, wurde der Ehrgeiz der radikalen Nationalisten natürlich nicht gestillt, sondern weiter angestachelt. Nach dem scheinbaren Erfolg in Sachen Marine forderten die Alldeutschen an mehreren Fronten eine aktivere Politik, von der Verteidigung »deutscher« Interessen in der Habsburgermonarchie über Samoa bis hin zum Burenkrieg.108 Getragen wurde die Kritik der Radikalnationalen im Zusammenhang mit diesen Kampagnen von dem starken Gefühl, dass einmal mehr die Obstruktion an höherer Stelle zur Abkehr von einer sinnvollen Politik geführt hatte. Selbst in der Frage der Marine, dem Thema, bei dem man mit der Regierung zusammengearbeitet hatte, gab es Konflikte – in inhaltlichen wie auch in Stilfragen. Nach Verabschiedung des ersten Flottengesetzes riefen die Alldeutschen nach einem zweiten, und als das zweite angekündigt wurde, waren sie unzufrieden damit. Tatsächlich entsprang die Einflussnahme der Regierung auf die Gründung des Deutschen Flottenvereins teilweise dem Wunsch nach einem fügsameren außerparlamentarischen Arm.109 Indes entpuppte sich der Flottenverein seinerseits als ein Hahn, der sich leichter auf- als zudrehen ließ. Spätestens 1904 übte der radikale Flügel um August Keim offen Kritik am Tempo des Flottenbaus und an der Abhängigkeit vom Zentrum, das dieses Tempo im Parlament mitbestimmte. Die feindselige Haltung gegenüber der offiziellen Politik stand in einer langen Tradition radikalnationalistischer Rhetorik. Männer wie Keim vermissten »Energie, Zielbewusstsein, Ernst bei den leitenden Persönlichkeiten, eingeschlossen Staatssekretär, Reichskanzler und S. M. der Kaiser Allerhöchstselbst«.110 Solche Aussagen unterschieden sich nur geringfügig von den Angriffen der »Bierbank«-Alldeutschen. Daher überrascht es kaum, dass Keim und seine Anhänger Morgenluft witterten, als Bülow sich 1907 erneut den schwierigen Vertretern des radikalen Nationalismus zuwandte. In einem Brief an Bülow während des Wahlkampfes brachte Keim ziemlich unverblümt die Forderung nach einer politischen Gegenleistung für die geleisteten Dienste zum Ausdruck. Den Flottenverein zu brüskieren, nachdem er sich an die Spitze der nationalen Bewegung gesetzt habe, warnte Keim, wäre ein Fehler. Man sollte den Mut haben, öffentlich

108 Chickering, We Men Who Feel Most German, S. 62–69. 109 Ebd., S. 60 f.; W. Deist, Flottenpolitik und Flottenpropaganda, Stuttgart 1976, S. 147–163. 110 Eley, Reshaping the German Right, S. 181.

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zu seinen Freunden zu stehen.111 Doch einmal mehr hatte Bülow Erwartungen geweckt, die er unmöglich erfüllen konnte. Stattdessen sorgte er für einige Verbitterung, indem er es zuließ, dass Keim und seine Anhänger aus dem Flottenverein hinausgedrängt (und in die Arme des Alldeutschen Verbandes getrieben) wurden, und förderte damit unwillkürlich die in jenen Kreisen vorhandene Überzeugung, die Regierung sei ein unwürdiger Hüter des deutschen Nationalgedankens.112 Im Jahr 1911 wurden die radikalnationalistischen Erwartungen noch eine weitere Umdrehung nach oben geschraubt. Nach den Avancen Kiderlens gegenüber Heinrich Claß empfanden die Alldeutschen das anschließende Zurückrudern des Außenministeriums in der Marokkokrise als unerträglich: »O, wäre uns dieser Augenblick erspart geblieben, dieser Augenblick unsäglicher Schande, tiefer nationaler Schmach«.113 Weniger überschwänglich, aber vom selben Gefühl gespeist, verraten worden zu sein, wurde diese Ansicht auch im Flottenverein, der Kolonialgesellschaft und der nationalistisch eingestellten Öffentlichkeit generell geäußert. Tatsächlich erwies sich im Vorfeld des Krieges die Desillusionierung nach der zweiten Marokkokrise als Katalysator für die Entstehung einer »nationalen Opposition« von rechts. Sie einte die verschiedenen nationalistischen Organisationen und führte zur Gründung des Deutschen Wehrvereins.114 Der Ton der neuen Organisation und die Identität seiner wichtigsten Gründer waren unmissverständliche Hinweise darauf, wie wenig sie sich auf ein Wohlwollen von offizieller Seite angewiesen fühlte. Wie schon in den Jahren um die Jahrhundertwende, und noch einmal 1907, waren die offiziellen Bemühungen, den Radikalnationalismus für begrenzte Ziele einzuspannen, nach hinten losgegangen. Entsprechend eingeengt war der innenpolitische Handlungsspielraum von Kanzler Bethmann-Hollweg in den letzten Jahren vor dem Krieg. Die unterschiedlichen Formen der Demagogie, die im Umgang zwischen radikalen Nationalisten und kaiserlichen Regierungen auf beiden Seiten zu beobachten waren, sind von erheblicher Bedeutung für die Frage der »Kriegsschuld«. Wenn sich das deutsche Kaiserreich im Sommer 1914 tatsächlich in eine »Sackgasse« manövriert hatte, so waren mehrere aufeinanderfolgende 111 Ebd., S. 260. 112 Ebd., S. 271–279. Bülow versuchte dem Druck von Tirpitz und Karl Boy-Ed im Flottenkommando und von moderaten Flottenvereinshonoratioren wie Prinz Rupprecht von Bayern standzuhalten, ließ den schwierigen August Keim am Ende jedoch fallen. Generell war der Ruf des »Aals« Bülow durchaus gerechtfertigt. Einer der wohlwollenderen Ausdrücke, mit denen Kriegsminister von Einem ihn beschrieb, war »der Jongleur«: K. von Einem, Erinnerungen eines Soldaten, Leipzig 1933, S. 117. Siehe aber auch S. 119 f. 113 Wernecke, Wille zur Weltgeltung, S. 71. Wernecke liefert auch die ausführlichste Darstellung der Reaktionen in Deutschland auf den Vertrag von 1911 (ebd., S. 102 ff.). Siehe auch Chickering, We Men Who Feel Most German, S. 265. 114 Eley, Reshaping the German Right, S. 322–330; F. Fischer, Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914. Düsseldorf 1969, S. 159–164.

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Regierungen daran nicht unschuldig.115 Mit der Frage nach den unmittelbaren Absichten Bethmann-Hollwegs in den Jahren 1912–14 ist das Thema der deutschen »Verantwortung« alles andere als erschöpfend abgehandelt. Denn auch wenn Bethmann-Hollweg sich extravaganter Rhetorik enthielt:116 Den von nationalistischen Meinungsmachern auf die Regierung ausgeübten Druck kann man schwerlich als peinlichen Unfall bezeichnen. Bülow, Tirpitz und Kiderlen hatten den Nationalisten oft genug den Gaumen gekitzelt – da war deren Erwartung, ihren Hunger endlich mit einem substanziellen Erfolg stillen zu können, wenig überraschend. Hier liegt eine der tieferen Ursachen für den Fatalismus, der sich 1914 bei der zivilen wie militärischen Elite breit machte. Insofern, als sie sich während der Julikrise innenpolitisch in die Enge getrieben fühlte, hatte sie sich das im Wesentlichen selbst zuzuschreiben. Genau wie die agrarischen, antisemitischen und Mittelstandsorganisationen zündete auch der radikale Nationalismus eine lange Lunte. Der wiederholte Kreislauf aus geweckten und enttäuschten Hoffnungen schärfte das Bewusstsein, dass die verschiedenen Regierungen, und letztlich auch der Kaiser, unangemessene Hüter des deutschen Nationalgedankens waren. Die Art und Weise, in der radikale Nationalisten 1913 den hundertsten Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig als einen Kampf des Volkes feierten, war ein Hinweis darauf, wie sehr in der nationalen Mystik nicht Parteien oder Regierungen und auch nicht der »Allerhöchste« die zentrale Rolle einnahmen, sondern »das Volk«. Durch den Krieg wurden diese Entwicklungen einmal mehr beschleunigt. Insbesondere die Gründung der Vaterlandspartei im September 1917, an der zahlreiche radikale Nationalisten beteiligt waren, markierte die Festigung einer einflussreichen »nationalen Opposition« mit breiter Unterstützung in der Bevölkerung. Innerhalb eines Jahres wuchs die Zahl der Mitglieder auf 800.000 an.117 Der verlorene Krieg und die Abdankung von »Guillaume le timide« 1918 trugen das ihre dazu bei, die »antipolitische« nationalistische Öffentlichkeit in der Weimarer Republik zu radikalisieren und in eine Richtung 115 Vgl. V. R. Berghahn, Das Kaiserreich in der Sackgasse, in: Neue Politische Literatur, Jg. 16, 1971, S.  494–506, sowie generell die Arbeiten von Berghahn, Fritz Fischer und HansUlrich Wehler. Eine gut argumentierte gegensätzliche Sichtweise vertritt G. Schmidt, Innenpolitische Blockbildungen am Vorabend des Ersten Weltkrieges, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 20, 1972, Beilage zum »Parlament«, S.  3–32, sowie ders., Parlamentarisierung oder »Präventive Konterrevolution«? Die deutsche Innenpolitik im Spannungsfeld konservativer Sammlungsbewegungen und latenter Reformbestrebungen, 1907–1914, in: G. A. Ritter (Hg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung, Düsseldorf 1974, S. 249–274. 116 Siehe insbes. den wichtigen Artikel von W. J. Mommsen, Domestic Factors in German Foreign Policy before 1914, in: Central European History, Jg. 6, 1973, S. 3–43. In seiner Antwort auf die berüchtigte Denkschrift Gebsattels aus dem Jahr 1913 sprach Bethmann höhnisch von der Art und Weise, in der das Wahlsystem das »Buhlen um die Gunst der Wähler« belohne. Vgl. H.  Pogge-von Strandmann, Staatsstreichpläne, Alldeutsche und Bethmann Hollweg, in: H. Pogge-von Strandmann u. I. Geiss, Die Erforderlichkeit des Unmöglichen. Deutschland am Vorabend des ersten Weltkrieges, Frankfurt a. M. 1965, S. 20. 117 Stegmann, Erben Bismarcks, S. 497 ff.

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zu lenken, die bereits vor 1914 absehbar war. Darin liegt die Bedeutung des Erbes eines Radikalismus, den die verschiedenen Regierungen des Kaiserreichs vor dem Krieg zwar domestiziert, dabei aber auch salonfähig gemacht haben. Als die Parteien und Regierungen der Weimarer Republik versuchten, sich den Mantel des Nationalgedankens umzuhängen, taten sie das auf der Grundlage all dessen, was die Radikalen mit ihrer Agenda bereits erreicht hatten. Wie im Fall der zynischen demagogischen Appelle der alten Rechten an die Bauern oder Handwerker, wurden solche Versuche, selektiv die nationale Karte auszuspielen, noch gefährlicher, als sie es schon vor 1914 gewesen waren.

VI. Es ist nahezu unmöglich, über Demagogie im deutschen Kaiserreich zu schreiben, ohne sich des Schattens bewusst zu sein, den das Jahr 1933 zurückwirft. Daher müssen wir uns in diesem Zusammenhang in besonderem Maße die Gefahren vor Augen führen, die mit einer Diskussion von Demagogie und »Massenpolitik« einhergehen. Es ist einfach, aber irreführend, die breite Unterstützung der Nationalsozialisten als Produkt eines irrationalen Herdentriebs zu betrachten, sodass Demagogie zu einem Synonym für politische Verführung wird. Vieles gerät dadurch aus dem Blickfeld. Die eigentlichen Schwachstellen des Weimarer Systems fallen weitgehend unter den Tisch und den Funktionen des deutschen Faschismus sowie den Interessen, denen er diente, wird ungenügend Aufmerksamkeit zuteil. Aber selbst als Ansatz zur Erforschung des Nazismus als populäres Phänomen lässt die übermäßige Fokussierung auf Hitler den betörenden Redner zu vieles außer Betracht. Wir müssen erkennen, dass die nationalsozialistische Demagogie mit ganz bestimmten Interessen verwoben und auf ganz bestimmte Gesinnungen ausgerichtet war: die unzähligen Ressentiments der Bauern, die Sorgen der zwischen Kapital und Arbeiterschaft »gefangenen« Kleinbürger und Angestellten, den Provinzialismus des Mittelstands insgesamt, die ungeduldigen, apolitischen Ansichten vieler Freiberufler und Beamter. Die Parallelen zum wilhelminischen Deutschland sind unübersehbar. Denn auch hier haben wir es – anders, als die ältere Geschichtsschreibung behauptete – nicht mit einem gefährlichen, aber undifferenzierten »Aufstand der Massen« zu tun. Wie ich zu zeigen versucht habe, ging die im deutschen Kaiserreich entstandene demagogische Politik Hand in Hand mit ganz bestimmten Interessen – sowohl in der Wahrnehmung der Bauern, des Mittelstands und der Mittelschicht wie auch im Kalkül der Eliten. Dennoch muss die Neuartigkeit der Massenpolitik betont werden, die sich im deutschen Kaiserreich herausgebildet hat. Trotz der »bonapartistischen« Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts und der Manipulation der Presse durch Bismarck haben wir es in den späten achtziger und in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts eindeutig mit einer anderen Qualität der politischen 166

Mobilisierung und Partizipation, der Forderungen von Interessengruppen und der politischen Sprache zu tun. Und der neue politische Stil dieser Ära war anfangs weniger von Taschenspielertricks der Elite geprägt als von einer breiten Stimmung im Volk, die Ähnlichkeiten mit der Bewegung von 1848 hatte. Das gilt für die Wechselhaftigkeit des Bauernstandes ebenso wie für die Verbitterung des Kleinbürgertums, die maßlose Unzufriedenheit der neu entstandenen Gesellschaftsschichten ebenso wie den lautstarken »Volksnationalismus« der Alldeutschen. Wir haben es hier mit Bewegungen zu tun, die sich mit dem Bismarckschen Staat, beziehungsweise mit seiner lokalen Erscheinungsform, der respektvollen Honoratiorenpolitik, nur schwer in Einklang bringen ließen. Die neuen politischen Vereinigungen waren ein instabiles Amalgam aus gescheitertem emanzipatorischem Impuls und Intoleranz, das sich einerseits weigerte, den Konservatismus zu respektieren, andererseits dem Sozialismus, den Juden und anderen vermeintlichen Feinden ablehnend gegenüberstand. Diese Milieus waren es, so meine These, in denen ein wichtiger, neuer Typus des Demagogen entstand. Zunächst verächtliche und bisweilen alarmierte elitäre Gruppen, einschließlich der konservativen Junker und der Architekten der Weltpolitik, versuchten diese schwer einzuschätzenden Kräfte für ihre eigenen Zwecke einzuspannen und zu domestizieren. Ihre Absicht war dabei unbestreitbar demagogischer Natur – in dieser Hinsicht kann man neueren Arbeiten bedeutender Historiker kaum widersprechen. Die Ironie liegt darin, dass Letztere durch das von ihnen gezeichnete Bild einer höchst manipulativen Elite die potenzielle Explosivität der Lage unterschätzt haben. Die Bemühungen der Elite machten die populistische und chauvinistische Demagogie nämlich nicht unschädlich, sondern vielmehr salonfähig. Durch die Versuche, der einen Form der Demagogie mit einer anderen zu begegnen (mit »Demagogie im guten Sinne«), kam es zu einer Wechselbeziehung, die höchst instabil war und bis in die letzten Jahre der Weimarer Republik Bestand haben sollte. Wenn wir uns dieses Zusammenspiel zwischen alter und neuer Rechten bewusst machen, so wirft das ein Schlaglicht auf einen gefährlichen Aspekt der Kontinuität zwischen der Wilhelminischen und der Weimarer Zeit. Hitler war alles andere als ein »Betriebsunfall«: Er war die ultimative Rache jener Demagogen »im schlechten Sinne«, deren Appetit in den Jahren der versuchten Vereinnahmung nicht nachgelassen hatte, sondern gewachsen war.

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7. Politik als Schauspiel: Bühnenmetaphorik in der deutschen Geschichte (1848–1933)1

Die ganze Welt ist bekanntlich eine Bühne, und das theatrum mundi ist wahrlich eine altehrwürdige Metapher. Gleiches gilt für die spezifische Vorstellung von der Politik als Schauspiel. Politik lebt schließlich von der Bildlichkeit, und die Theatermetaphorik erscheint als besonders geeignet, um das politische Treiben zu beschreiben. Sprechen wir nicht ganz selbstverständlich von der politischen Bühne, von Politikern, die Rollen spielen, von dramatischen politischen Szenen? Gerade diese Natürlichkeit aber, die aus wiederholter Verwendung herrührt, stellt eine Herausforderung dar. Denn eine Aufgabe des Historikers besteht darin zu zeigen, wie es dazu kam, dass uns etwas als natürlich erscheint: Er muss die Neuartigkeit von Artefakten und Institutionen wiederherstellen, die wir als selbstverständlich erachten, er muss die Relevanz von Vorstellungen und Metaphern sichtbar machen, die durch Wiederholung abgenutzt sind. Ich will im Folgenden zeigen, dass Metaphern von der Politik als Schauspiel mehr sind als nur rhetorische Mittel: Sie hatten in der deutschen Geschichte von den Revolutionen von 1848 bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten ganz spezifische und vielsagende Bedeutungen. Als wichtiges Motiv in der europäischen Geschichte allgemein tauchte die Vorstellung von der Politik als einer Form von Theater 1848 auf. Kaum einer, der über die damaligen Ereignisse schrieb, vergaß, bei der Beschreibung des Selbstbewusstseins der Revolutionäre auf ihre theatralische Art in Worten,­ 1 Dieser Aufsatz entstand ursprünglich als Vortrag vor der Royal Historical Society in London 1986 und wurde erstmals veröffentlicht in den Transactions of the Royal Historical ­Society, 5th Series, 37, 1987, S. 149–167. Als ich den Text vor dreißig Jahren verfasste, gab es auffallend wenig Literatur zu diesem Thema, und einige der Autoren, die mich bei meiner Herangehensweise am stärksten beeinflusst haben, waren Nicht-Historiker wie Lionel Trilling, Richard Sennett und Erving Goffman. Seither sind wichtige Studien erschienen, die den symbolischen Bereich der Politik erkunden, wie ich das hier getan habe. Erwähnt seien an dieser Stelle nur zwei Arbeiten: T. Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarar Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002, sowie A. Daum, Kennedy in Berlin. Politik, Kultur und Emotionen im Kalten Krieg, Paderborn 2003. Zum politischen Ritual ganz allgemein siehe M. Hettling u. P. Nolte (Hg.), Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19.  Jahrhundert, Göttingen 1993; W. Hardtwig, Nationalismus und Bürgerkultur. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1994; J. Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Regime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000.

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Gesten und Kleidung hinzuweisen. Wir wissen, dass Alphonse de Lamartine seine Reden – und im Grunde einen Großteil seines Lebens – vor dem Spiegel einstudierte, so wie seine öffentlichen Auftritte als Redner den virtuosen Darbietungen seines guten Freundes Franz Liszt viel verdankten. Wir wissen, dass der radikale Republikaner Alexandre Ledru-Rollin aufmerksam darauf achtete, welche Wirkung der berühmte Schauspieler Frédéric Lemaître auf seine Zuhörer hatte.2 Und natürlich haben zwei scharfsinnige Beobachter, nämlich Alexis de Tocqueville und Karl Marx, dazu beigetragen, dass 1848 als eine Zeit in Erinnerung geblieben ist, in der Politik eine Sache der Performanz war. De Tocqueville hat Ereignisse in Frankreich am 24. Februar 1848 mit folgenden Worten beschrieben: »Obwohl ich erkannte, dass die weitere Entwicklung des Stückes furchtbar sein würde, konnte ich die handelnden Personen niemals ganz ernst nehmen; das Ganze erschien mir wie eine schlechte Tragödie, die von Provinzschauspielern gespielt wird.«3 Marx’ Schriften aus dieser Zeit sind voller Metaphern, die politische Entwicklungen als Schauspiel beschreiben: »melodramatische Szene«, »plump angelegte Komödie«, »Kostümwechsel«, »Helden des revolutionären Dramas«, »pathetische Burleske«, »Intrigenkomödie«, »letzte Szene der Komödie«, »unnennbare Komödie« und »blutige Tragödie. In einer typischen Passage in Die Klassenkämpfe in Frankreich heißt es: »Im Nu verwandelte sich die offizielle Szene – Kulissen, Kostüme, Sprache, Schauspieler, Figuranten, Statisten, Souffleure, Stellung der Parteien, Motive des Dramas, Inhalt der Kollision, die gesamte Situation.«4 Das alles sind Beispiele aus Frankreich, und dieses Land könnte als der locus classicus einer nationalen Politik gelten, die als Schauspiel aufgefasst und entworfen wird. War es nicht die revolutionäre Tradition, die französische Politiker dazu verdammte, die gleichen Szenen erneut aufzuführen und die gleichen Bühnenverse zu wiederholen? Viele dieser Themen finden sich aber auch in den deutschen Ereignissen von 1848/49. Der Möchtegern-Dichterrevolutionär Georg Herwegh etwa orientierte sich in hohem Maß an Lamartine.5 Und die Kritik an den französischen Geschehnissen durch den Patrizier Tocqueville und den Revolutionär Marx klang auch im Falle Deutschlands an. So schimpfte König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen auf »die sündlichen Possen 2 R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, übersetzt von R. Kaiser, Frankfurt a. M. 1986, S. 399–407, 415 f. W. Fortescue, Alphonse de Lamartine. A Political Biography, London 1983, enthält Einzelheiten zu Lamartines Freundschaft mit Liszt. 3 A. de Tocqueville, Erinnerungen, übersetzt von D. Forster, Stuttgart 1954, S. 96. 4 K. Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1850, in: K. Marx u. F. Engels, Werke, Bd. 7, Berlin/DDR 1960, S. 47. Die weiteren Zitate ebd., S. 28, 29, 41, 44, 54, 57, 63. Auch in Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon (1852), dem anderen Werk von Marx aus dieser Zeit, finden sich jede Menge Theatermetaphern. Ausführlich behandelt wird dieses Thema in S. S. Prawer, Karl Marx and World Literature, Oxford 1976. 5 W. J. Brazill, Georg Herwegh and the Aesthetics of German Unification, in; Central European History, Jg. 5, 1972, S. 99–126.

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und das häßliche Theaterspiel der modernen Konstitutionen«,6 während die Schriften von Friedrich Engels über Deutschland zahlreiche Parallelen zu denen seines Freundes Marx über Frankreich aufweisen. Als die preußische National­ versammlung von den Truppen Wrangels bedroht wurde, begann in den Augen von Engels jene »grandiose Komödie des ›passiven Widerstandes im Rahmen der Gesetze‹«. Auch die Frankfurter Paulskirchenversammlung war für ihn nichts weiter als »ein bloßer Debattierklub […], bestehend aus einer Anzahl leichtgläubiger Tröpfe, die sich von den Regierungen als parlamentarische Marionetten gebrauchen ließen«. Diese Marionetten, so fuhr er fort, dienten lediglich dazu, die Ladenbesitzer und Handwerker zu unterhalten und abzulenken, ehe die »tragikomischen Ereignisse« um dieses Parlament ein Ende gefunden hätten. Und als es im Südwesten Deutschlands im Sommer 1849 erneut zu Aufständen kam, »verschwand die Nationalversammlung von der politischen Bühne, ohne daß man ihrem Abgang die geringste Aufmerksamkeit geschenkt hätte«.7 Adlige und Revolutionäre waren somit, was 1848 anging, in vielerlei Hinsicht einer Meinung. Beide verwendeten Schauspielmetaphern, um damit implizit Kritik und Hohn zum Ausdruck zu bringen, denn sie waren der Ansicht, die politischen Akteure meinten es nicht ernst. Allerdings kamen sie aus gegensätzlichen Gründen zu diesem Schluss. Adlige gingen davon aus, dass das Volk konservativ war und von Leuten, die die Rolle von Demagogen spielten, in die Irre geführt wurde. Marx und Engels hingegen nahmen an, das Volk sei revo­lutionär und von Leuten in die Irre geführt worden, die lediglich die Rolle von Revolutionären übernommen hätten. Rechte und Linke stimmten aber auch darin überein, dass sie das Theatralische von 1848 mit dem Vorhandensein einer »populären« Politik, eine Politik für das Volk in Verbindung brachten  – mit dem Bestehen einer »Öffentlichkeit«, eines »Publikums«. Aber auch hier zogen sie aus der gleichen Prämisse unterschiedliche Schlüsse. Für einen Kritiker wie Friedrich Wilhelm IV. sorgte allein schon der Zugang des Volkes zu staatlichen Angelegenheiten für eine gefährlich theatralische Politik; für Engels machte die Ablenkung des Volkes die Politik zu einem Schauspiel. Dieser grundlegende Unterschied lebt in Ansichten über den Verlauf der modernen deutschen Geschichte fort. So klingt die Sichtweise der Adligen bei konservativen Historikern nach; das geht sogar so weit, dass sie den Erfolg Hitlers mit der Revolte der von einer Persönlichkeit faszinierten Massen in Verbindung bringen. Für sie finden sich die Wurzeln des Nationalsozialismus in der gefährlichen politischen Mobilisierung des 19. Jahrhunderts, wie sie besonders deutlich 1848 zum Ausdruck kam, als Klugheit und staatsmännische Fähigkeiten durch die trügerische Anziehungskraft des politischen Schauspielers oder Unterhalters ersetzt

6 E. Kaeber, Berlin 1848, Berlin 1948, S. 28. 7 F. Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: K. Marx u. F. Engels, Werke, Bd. 8, Berlin/DDR 1960, S. 76, 79, 84, 103.

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wurden.8 Für liberale oder radikale Historiker stellt nicht die Revolte der Massen, sondern ihre Ablenkung das Verbindungsglied zwischen der Zeit von 1848 und dem Aufkommen des Faschismus dar. So gesehen war es nicht so, dass Staatsmänner die politische Bühne Schauspielern überlassen hätten; sie wurden vielmehr selbst zu Schauspielern.9 Vor diesem vielsagenden Hintergrund will ich einen frischen Blick auf einige Veränderungen und Kontinuitäten deutscher Geschichte zwischen 1848 und dem Aufstieg Hitlers werfen. Die folgenden Ausführungen versuchen, eine Reihe von Themen und Thesen zu erkunden, die aus der Vorstellung erwachsen, Politik sei eine Form von Schauspiel oder Theater. Einerseits will ich danach fragen, wie die Zeitgenossen selbst solche Begriffe verwendeten; andererseits will ich zeigen, wie es kam, dass derartige Metaphern in Darstellungen der neuzeitlichen deutschen Geschichte eine wichtige Rollen spielten, auch wenn das selten explizit eingestanden wurde. In den ersten drei Abschnitten befasse ich mich mit Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, der vierte und letzte Abschnitt versucht die dabei behandelten Themen zusammenzuführen und die Heraufkunft der theatralischsten politischen Bewegung, nämlich des Nationalsozialismus, unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten.

Politisches Drama als Ablenkung Die Vorstellung, mutige politische Handlungen, insbesondere in der Außenpolitik, dienten als Drama, das die öffentliche Aufmerksamkeit ablenkt, ist recht vertraut. Sie ist mindestens so alt wie das Prinzip »Brot und Spiele« bei den römischen Kaisern. In unserem Zeitraum ist der Schlüsselbegriff denn auch der Cäsarismus oder, wie er häufiger genannt wird, Bonapartismus. Die moderne Vorstellung des Cäsarismus bzw. Bonapartismus verdankt nicht wenig Karl Marx, der damit das Regime Napoleons III. beschreibt, das in Frankreich auf die Revolution von 1848 folgte.10 Von den zahlreichen Charakteristika bonapartistischer Herrschaft, über die die Historiker bis heute streiten, sind zwei für uns von besonderer Relevanz. Da ist zum einen die Nutzung außenpolitischer Erfolge, um die öffentliche Meinung zu Hause abzulenken, zum anderen der Ein-

8 Beispielhaft für diesen Ansatz steht der »Doyen der deutschen Geschichtsschreibung«, der 1967 verstorbene Gerhard Ritter. Er zeigt sich auch bei dem einflussreichen amerikanischen Historiker Carlton J. Hayes. Siehe aus jüngerer Zeit N. O’Sullivan, Fascism, London 1983. 9 Siehe das Zitat von Adorno u. Horkheimer am Ende dieses Aufsatzes sowie allgemeiner die unten erwähnten Autoren, die sich mit dem Bonapartismus befasst haben. In die gleiche Richtung weist auch einiges in Lewis Namiers Aufsatz über Napoleon III. (»The First Mounte­bank Dictator«) in dem Band Vanished Supremacies (1958). 10 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon 1852.

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satz plebiszitärer Verfahren, um über die Köpfe der politischen Gegner hinweg direkt an das Volk zu appellieren. In den letzten Jahren haben zahlreiche Historiker Bismarcks Form des Regierens auf diese Weise betrachtet. Sie haben die These aufgestellt, seine Außenpolitik lasse sich als Versuch interpretieren, die Aufmerksamkeit von drängenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme im Innern abzulenken, sei es die liberal-konstitutionelle Herausforderung der 1860er Jahre, seien es die Krisen und Ungewissheiten, die durch die Große Depression entstanden. Als Beispiele wurden die Inszenierung des Krieges gegen Dänemark 1864 für den heimischen Bedarf, das Hochspielen der Esdroht-ein-Krieg-Krise von 1875 und die politische Instrumentalisierung von Kolonialangelegenheiten in den 1880er Jahren genannt.11 Im gleichen Lichte ließe sich auch Bismarcks Eintreten für den Sedanstag als neuen nationalen Gedenktag betrachten.12 Doch diese These gilt nicht nur für die Außenpolitik. So hat Michael Stürmer die Ansicht vertreten, Bismarck habe Zwischenfälle im Innern in den 1870er Jahren auf ganz ähnliche Weise instrumentalisiert. So nutzte er die »dramatische[n] Effekte« des versuchten Attentats eines katholischen Böttchergesellen auf ihn selbst 1874 ebenso wie »ein erst zum Mordversuch dramatisiertes Herumfuchteln mit der Pistole«, bei dem der Kaiser 1878 eine ähnliche Erfahrung machte. Ersteres Ereignis diente dazu, Unterstützung für die antikatholischen Maßnahmen im Zuge des Kulturkampfs zu finden; der zweitgenannte Zwischenfall fungierte als Vorwand, um das Sozialistengesetz einzuführen. Ähnliches geschah 1874: Als sich der Reichstag darüber beschwerte, dass der katholische Abgeordnete Paul Majunke während einer Parlamentssitzung auf eine Anzeige hin verhaftet worden war, beteiligte sich Bismarck an der »Inszenierung der nun entstehenden Krise« und dramatisierte die Lage, indem er mit Rücktritt drohte und vor Unruhen warnte.13 Man kann durchaus der Meinung sein, dass Historiker wie Stürmer und Wehler Bismarcks cäsaristische Absichten übertrieben haben, dass die bonapartistische Herrschaftstechnik weniger schwer wiegt als ein ganz offen opportunistischer (aber auch fatalistischer) Konservatismus.14 Doch die weitsich­tigeren und wendigeren deutschen Konservativen dieser Zeit, von denen Bismarck si11 Siehe insbes. H.-U. Wehler, Bismarck und der Imperialismus, Köln 1969; ders., Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1973, 19947. 12 Zum Sedanstag und den damit verbundenen Feierlichkeiten in Bayern siehe W. Blessing, Staat und Kirche in der Gesellschaft, Göttingen 1982, S. 181, 190 f., 198, 236. 13 M. Stürmer, Regierung und Reichstag im Bismarckstaat 1871–1880. Cäsarismus oder Parlamentarismus, Düsseldorf 1974, S. 128–133. 14 Kritiker der Anwendung des Bonapartismus-Konzepts auf Bismarck brachten eine Vielzahl an Einwänden vor, auf die ich hier nicht näher eingehen kann. Siehe L. Gall, Bismarck und der Bonapartismus, in: Historische Zeitschrift, Bd. 223, 1976, S. 618–637; A. Mitchell, Bonapartism as a Model of Bismarckian Politics, in: Journal of Modern History, Bd. 49, 1977. Diese Ausgabe des JMH enthält darüber hinaus Kommentare von O. Pflanze, C. Fohlen u. M. Stürmer. Siehe auch O. Pflanze, Bismarcks Herrschaftstechnik als Problem der gegenwärtigen Historiographie, in: Historische Zeitschrift, Jg. 234, 1982, S. 562–599.

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cherlich der prominenteste war, betrachteten ohne Zweifel aufmerksam die Regierungsform, die Napoleon III. in Frankreich entwickelte. Constantin Frantz in den 1850er Jahren und Bismarcks enger politischer Verbündeter Hermann Wagener in den 1860er Jahren äußerten sich wohlwollend über den Bonapartismus.15 Und Bismarck selbst meinte, gegen den eingefleischten preußischen Konservativen Ludwig von Gerlach gewandt, der Bonapartismus, wie er in Frankreich praktiziert werde, sei keineswegs revolutionär, sondern stelle revolutionäre Prinzipien in den Dienst der Gesellschaftsordnung.16 Bismarcks Politik trug zumindest bonapartistische Züge, und das Motiv einer bewusst dramatisierten politischen Lage ist sicherlich nicht nur Konstrukt späterer Historiker. Nichts illustriert das deutlicher als der bekannte Zwischenfall, als der neue deutsche Reichstag ein Schreiben des bayerischen Königs Ludwig II. verlesen ließ, in dem dieser Wilhelm I. von Preußen aufforderte, die deutsche Kaiserkrone anzunehmen. Die Szene war sorgfältig vorbereitet, und nach einer inszenierten Frage erhob sich Bismarcks Vertrauter Delbrück und verkündete, er habe zufällig den Brief Ludwigs II. dabei. Dann tat er so, als habe er Mühe, ihn zu finden, was für Gelächter sorgte, als er vermeintlich suchend an sich herumfummelte. Als er schließlich den Brief verlas, trieb seine trockene Vortragsweise das Ereignis noch weiter ins Absurde. Bismarcks Reaktion war vielsagend. Dieser »Kaiserscherz«, so bemerkte er, »musste einen geschickteren Regisseur haben, es musste eine wirksame mise en scène stattfinden«.17 Es kann allerdings kaum ein Zweifel bestehen, dass die Dramatisierung der Politik in diesem Sinne unter Kaiser Wilhelm II. und seinen Ministern, insbesondere unter Bülow, eine neue Dimension erreichte. So meinte der Sozial­ demokrat Bruno Schönlank Ende der 1890er Jahre mit Blick auf die Verabschiedung des Ersten Flottengesetzes durch den Reichstag sarkastisch, jetzt fehlten nur noch ein Flottentheater und eine Flottenoper.18 Viele würden behaupten, dass diese durchaus noch kamen: dass der öffentliche Stapellauf der Schiffe und die offizielle Förderung von Matrosenanzügen zusammen mit den Versammlungen und den Lichtbildvorträgen, die vom Nachrichtenbüro von Tirpitz’ Reichsmarineamt finanziert und vom Flottenverein veranstaltet wurden, den bewussten Versuch markierten, einer alten Regierungselite Unterstützung zu verschaffen, indem man die Begeisterung der Bevölkerung für das Spektakel 15 G. Grünthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49–1857/58, Düsseldorf 1982, S. ­261–295; Stürmer, Regierung und Reichstag, S.  89, 96 ff.; H.  Gollwitzer, Der Cäsarismus Napoleons III. im Widerhall der öffentlichen Meinung Deutschlands, in: Historische Zeitschrift, Bd. 173, 1952, S. 23–75. 16 Zu dem ausgedehnten Briefwechsel der beiden Männer im Jahr 1857 siehe die in Anm. 14 zitierten Arbeiten sowie L. Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. M. 1980, S. 173–184. 17 R. W. Dill, Der Parlamentarier Eduard Lasker und die parlamentarische Stilentwicklung der Jahre 1867–1884, Diss., Erlangen 1958, S. 64 f. 18 J. Steinberg, Yesterday’s Deterrent. Tirpitz and the Birth of the German Battle Fleet, London 1965, S. 167 f.

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nutzte.19 In der Folge umwehten Projekte wie den Bau von Schlachtschiffen die Aura eines öffentlichen Dramas. General von Einem und Friedrich von Holstein sprachen denn auch beide von der Operettenpolitik des Kaisers. Dieser Ansatz hat unbestreitbar einiges für sich. Er ist Teil einer allgemeineren Wiederentdeckung in der Geschichtswissenschaft, nämlich der Frage, welche Rolle Zeremonien, Denkmäler, Nationalsymbole und andere »erfundene Traditionen« im öffentlichen Bewusstsein der damaligen Zeit spielten.20 Die Art und Weise freilich, wie solche Thesen im Falle Deutschlands oftmals vorgebracht wurden, hat einiges an Kritik auf sich gezogen. So behauptete einer dieser Kritiker mit einiger Plausibilität, das Bild vom Deutschen Kaiserreich, das hier gezeichnet werde, ähnele allzu sehr einem »Marionettentheater«: Die Puppenspieler zogen an den Strippen, und die Leute tanzten.21 Meine Kritik hier gilt weniger den Absichten der vermeintlichen Puppenspieler, sondern eher den Auswirkungen ihrer Handlungen. Indem ich diesen Aspekt aufgreife, möchte ich zeigen, dass die Vorstellung einer dergestalt theatralischen Politik für Historiker (wie auch für die damaligen Zeitgenossen) in zweifacher Hinsicht beträchtlich vielfältiger und vieldeutiger ist, als es diese dezidiert »ablenkende« Interpretation gestatten würde. Erstens gab es viele, die vom dargebotenen Spektakel herzlich unbeeindruckt blieben. Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass ein solches Spektakel immer die Vorstellung von Verschwendung mit sich bringt. Je ausgefeilter es ist, desto offener ist die Flanke gegenüber solchen Vorwürfen. Das war durchaus wichtig in einem Land, wo indirekte Verbrauchssteuern einen so großen Beitrag zu den Staatseinnahmen leisteten. Oder anders gesagt: Wo Brot infolge von Zöllen besonders teuer war, war es wahrscheinlich, dass die Kosten solcher Zirkusveranstaltungen auf Widerspruch stießen.22 Das gilt insbesondere für die Sozialdemokraten und für die organisierte Arbeiterbewegung, bei denen der Widerstand gegen teure Lebensmittel und die Feindseligkeit gegenüber Militär­ 19 V. R. Berghahn, Der Tirpitz-Plan. Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhelm II., Düsseldorf 1972; ders., Germany and the Approach of War in 1914, London 1973; W. Deist, Flottenpolitik und Flottenpropaganda. Das Nachrichtenbureau des Reichsmarineamtes 1897–1914, Stuttgart 1976. 20 Vgl. zu diesem Thema allgemein E. Hobsbawm u. T. Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, insbes. die von Hobsbawm verfassten Kapitel 1 und 7. Was Deutschland angeht, so finden sich dazu ausgesprochen wertvolle Fingerzeige in T. Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 133–173; und E. Fehrenbach, Wandlungen des Kaisergedankens 1871–1918, München 1969. 21 H.-G. Zmarzlik in seiner Besprechung von Wehlers Buch über das Deutsche Kaiserreich: Das Kaiserreich in neuer Sicht?, in: Historische Zeitschrift, Bd. 222, 1976, S. 105–126. 22 Nebenbei sei bemerkt, dass der hohe Brotpreis im Deutschen Kaiserreich auch auf eine Abweichung vom klassischen bonapartistischen Modell hinweist. Hitler, auf dessen Regime dieses Modell ebenfalls Anwendung fand, war im Gegensatz dazu immer sehr darum bemüht, die Lebenshaltungskosten aus Gründen der gesellschaftlichen Stabilität niedrig zu halten.

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paraden und Marinegetöse miteinander einhergingen. Es gilt aber genauso für eine Gruppe wie die Bauernschaft, wie die Ablehnung des Flottenbaus in ländlichen Regionen zeigt. Und es gilt sogar für eine gesellschaftliche Gruppe wie das Kleinbürgertum, dessen Empfänglichkeit für die Massenemotionen in nationalistischen Angelegenheiten oftmals  – allerdings zu Unrecht  – als un­ zweifelhaft gilt. Viele Handwerker und Ladenbesitzer scheinen über die Kosten des »Flottentheaters« genauso gemurrt zu haben wie über die Finanzierung anderer Formen von Theater.23 Zweitens gab es diejenigen, die das Theatralische, das die Außenpolitik der Regierung ab den 1890er Jahren umgab, aus einem anderen, aber durchaus verwandten Grund kritisch sahen: nicht wegen der Kosten, sondern weil sie sie im pejorativen Sinne für rein theatralisch hielten. Mitunter kam diese Kritik aus dem Kreis der Elite selbst. Man denke etwa an die Verbitterung des jüngeren Moltke darüber, dass die Vorliebe des Kaisers für farbenfrohe Uniformen und die äußerlichen Symbole des Großmachtstatus unter anderem die militärischen Übungen »zu parademäßigen Theaterstücken« gemacht habe.24 Doch Kritik kam auch von außen. Max Weber stand beispielhaft für viele intelligente Imperialisten, als er eine Kluft zwischen Rhetorik und Taten erkannte. Daher auch sein Spott über »geräuschvolle Intermezzi« deutscher Außenpolitik und seine Ablehnung »unserer theatralischen Marokkopolitik«.25 Derartige Zweifel blieben keineswegs auf liberale Imperialisten wie Weber beschränkt. Ganz offen kamen sie bei der radikalen Rechten zum Ausdruck, bei den Nationalisten vom Alldeutschen Verband und vom Deutschen Flottenverein. So kritisierte der Anführer der Alldeutschen, Heinrich Claß, »Schaugepränge und Feste, Paraden und Denkmalenthüllungen«, indem er meinte, diese würden nur den Mangel an echtem nationalen Willen an der Staatsspitze überdecken.26 Versuche der Reichsregierung, Politik zu inszenieren, konnten somit paradoxerweise gerade wegen ihrer »Theatralik« Kritik auf sich ziehen, insofern sie als etwas Frivoles betrachtet wurden, das die wahren Verhältnisse verbarg. Besonders gehässig und häufig wurde dieser Vorwurf gegen den als »pomadig« und »aalglatt« geltenden Reichskanzler Bülow erhoben. Anders als sein französischer Zeitgenosse Viviani nahm er zwar keine Stunden in der Comédie Française; aber oft klang es so, als hätte er es getan.27 Ein beliebtes rhetorisches Mittel der radikalen Nationalisten lautete, dass die Darstellung auf der Bühne nicht der Realität abseits der Bühne entspreche. Doch dieser Topos war in dieser speziellen Frage nicht auf diesen Teil des Meinungsspektrums beschränkt. Um zu verstehen, warum das so war, müssen wir 23 Einzelheiten dazu in D. Blackbourn, Populists and Patricians, London 1987, Kap. 5 u. 6. 24 E. Ludwig, Kaiser Wilhelm II., München 1976 (zuerst 1926), S. 301. 25 W. J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen 1959, S. 162, 168. 26 H. Claß, Führergedanken. Aus Reden und Schriften von Justizrat Claß 1903–1913, Berlin 1930, S. 6. 27 Zu Viviani siehe T. Zeldin, France 1848–1945, Bd. 1. Ambition, Love and Politics, Oxford 1973, S. 760.

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uns einer anderen wichtigen und verbreiteten Spielart der Bühnenmetaphorik in der politischen Debatte Deutschlands zuwenden: der Beschäftigung mit dem, was sich »hinter den Kulissen« abspielte.

Hinter den Kulissen Bei radikalen Nationalisten war viel die Rede von verborgenen Feinden. Führende Persönlichkeiten des Alldeutschen Verbands sprachen von Verschwörungen und machten »Feinde ringsum« aus.28 Die Verbandsveröffentlichungen behaupteten, die verdeckten Feinde seien gefährlicher als die offenen: diejenigen, die sich »hinter der Maske der Harmlosigkeit« versteckten, die, die »hinter den Kulissen« blieben.29 Zu ihnen gehörten unter anderem drei vertraute Verschwörer: die Rote Internationale des Sozialismus, die Goldene Internationale des jüdischen Finanzkapitals und die Schwarze Internationale des Ultramontanismus. Zu ihnen zählten auch die hochrangigen Beamten, die nach Ansicht der Alldeutschen – wie auch anderer radikaler Nationalisten – die wahren nationalen Interessen opferten. Doch dieses Spiel beherrschten auch andere. Wenn die großen antipolnischen Germanisierer, die Hakatisten, düster von »Sabotage« hochrangiger Stellen raunten, warf der Schriftsteller Fritz Krysiak umgekehrt einen erhellenden Blick »hinter [die] Kulissen des Ostmarkenvereins«.30 Über den konspirativen Blick auf die Geschichte lässt sich leicht spotten, und ebenso leicht vergisst man, dass es (wie schon der echte Cäsar wusste) in der Geschichte tatsächlich Verschwörungen gab, so wie auch Paranoide wirkliche Feinde haben. Ich will deshalb das Gerede von den Leuten hinter den Kulissen ernst nehmen und fragen, warum es im Deutschen Kaiserreich so häufig anzutreffen war. Die Beschäftigung mit verborgenen Strippenziehern war natürlich nichts spezifisch Deutsches. Schon ein kursorischer Blick auf das damalige Frankreich zeigt ähnliche Befürchtungen auf der Linken wie auf der Rechten. Letztere betrachteten Freimaurer und Juden als unsichtbare Einflüsse; Erstere dagegen dachten in erster Linie an die »zweihundert Familien«. Jeder bastelte sich die Skandale von Wilson und Panama bis zu Dreyfus entsprechend dem eigenen Weltbild zurecht. Auch anderswo in Europa ließen sich mit Sicherheit entsprechende Beispiele finden. Gleichwohl ist es so, dass derartige Verdächtigungen im Deutschen Kaiserreich verbreiteter waren, nicht zuletzt deshalb, weil das politische System so zahlreich Anlass dazu bot. 28 Siehe R. Chickering, We Men Who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan-German League 1886–1914, Boston 1984, S. 123. 29 Ebd. 30 F. Krysiak, Hinter den Kulissen des Ostmarkenvereins. Aus den Geheimakten der preus­ sischen Nebenregierung für die Polenausrottung, Posen 1919. Zu den Hakatisten siehe A. Galos u. a., Die Hakatisten. Der Deutsche Ostmarkenverein, Berlin 1966.

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Man nehme auf der offensichtlichsten Ebene die Art und Weise, wie der Reichstag und andere deutsche Parlamente arbeiteten. Das dritte Viertel des 19. Jahrhunderts war das Zeitalter der großen Parlamentsredner gewesen: Eduard Lasker, Rudolf von Bennigsen, Ludwig Windthorst und Bismarck selbst. Doch in den letzten Jahren des Jahrhunderts änderte sich das. Die großen offiziellen Redner traten ab, und das Gleichgewicht verschob sich in Richtung der Ausschussleute, unter denen vor allem Juristen waren. Im Reichstag wie auch in den Parlamenten der Einzelstaaten wurde deutlich länger gearbeitet; doch diese Zusatzarbeit floss nun in Sitzungen außerhalb des Plenums, statt stan­ dardisierter Debatten standen jetzt die Diskussionen in den Ausschüssen im Mittelpunkt.31 Journalisten und Pamphletisten, die einen Blick hinter die Kulissen boten, spiegelten die Erkenntnis wider, dass ein wichtiger Teil der Politik nunmehr dem Blick der Öffentlichkeit entzogen war. Dieses Phänomen findet sich auch anderswo; in Deutschland jedoch wurde es durch die allgemeine Funktionsweise der komplexen politischen Struktur, wie Bismarck sie etabliert hatten, noch verstärkt. Der offene, variable Aufbau des Reiches verlangte ein hohes Maß an Aktivität in den Zwischenräumen des formellen Systems. Das Vermächtnis des Verfassungsdualismus, der eine strikte Trennung zwischen Ministern und Parteivorsitzenden vorsah, beförderte auch intensive Konsultationen hinter den Kulissen und kurzfristige Vereinbarungen, bei denen Politik oft eine Frage des Verhandlungsgeschicks war. Die Parlamentsarithmetik verstärkte diese Tendenz ab den 1880er Jahren, als Bismarck und seine Nachfolger bei ihrem Versuch, die Regierungsgeschäfte am Laufen zu halten, quasi von der Hand in den Mund lebten. All das weckte natürlich Misstrauen gegenüber schmutzigen Abmachungen hinter den Kulissen – der »Kuhhandel« wurde zu einer beliebten Wendung dafür. Für niemanden galt dies stärker als für die katholische Zentrumspartei, die Vertreterin einer Minderheit, deren zentrale Stellung in der deutschen Politik einen Großteil der Nation glauben ließ, über deutsche Regierungspolitik werde in Mauscheleien zwischen führenden Zentrumspolitikern und Ministern entschieden.32 Die Beziehungen des Zentrums zu den verschiedenen Regierungen nach 1890 ließ diese Sichtweise ohne Zweifel noch glaubhafter erscheinen, und die Parteiführung scheint diese Rolle mit einer gewissen Freude am Konspirativen gespielt zu haben. Als beispielsweise Ernst Lieber mit dem Staatssekretär im Reichsschatzamt Graf von Posadowsky 1894 über die Logistik einer ganzen Reihe von Treffen sprach, bediente er sich einer in hohem Maße geheimnisvoll raunenden Sprache. Einmal schlug er einen 31 Diese Veränderungen der parlamentarischen Arbeit im Reichstag finden sich in zahlreichen Erinnerungen aus dieser Zeit. Weitere Einzelheiten bieten P. Molt, Der Reichstag vor der improvisierten Revolution, Köln 1963; M. Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus im Wilhelminischen Reich, Düsseldorf 1972; ders., Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977. 32 Siehe D. Blackbourn, Class, Religion and Local Politics in Wilhelmine Germany, London 1980, bes. Kap. 1.

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Besuch spät nachts in der Wilhelmstraße vor, und zwar ohne Zylinder, um die »Schnüffelmeute« abzuschütteln.33 Doch Kanzler und Minister hatten es dabei nicht nur mit Parteiführern und Fachleuten zu tun. Sie mussten auch zwischen den Interessen im Reich, in Preußen und den anderen im Bundesrat vertretenen Staaten sowie dem Kaiser vermitteln. Des Kaisers spezifische Form persönlicher Herrschaft sorgte dafür, dass eine Vielzahl an Individuen aus bestimmten Gruppen – dem Militär, der Bürokratie, den Höflingen aus der Entourage – persönlichen Zugang zum Allerhöchsten hatten.34 Zeitgenossen fragten sich: Wer regiert in Berlin? Historiker haben darauf präzise, aber nicht gerade elegant geantwortet, bei diesem System habe es sich um »eine autoritäre Polykratie ohne Koordination, einen autokratischen, halbabsolutistischen Scheinkonstitutionalismus« gehandelt.35 Dieses System begünstigte den Aufstieg von Persönlichkeiten wie Admiral von Tirpitz, die Hans-Ulrich Wehler als »geheime Schlüsselfiguren« bezeichnet hat, und von Höflingen wie Philipp Eulenburg, über den Fritz Hartung meinte: »er blieb hinter den Kulissen im Halbdunkel und übte von hier aus, ungesehen und unkontrolliert, den Einfluss aus, den ihm die persönliche Freundschaft Wilhelms II. leicht gewährte.«36 Dieses System erregte natürlich auch Misstrauen und förderte Gerüchte über die Rolle, die diese Männer und andere wie Friedrich von Holstein, General Waldersee sowie die sogenannte Kamarilla hinter der Kulissen spielten. Nicht nur Sozialdemokraten und Linksliberale sprachen in diesem Zusammenhang von Hinterzimmerintrigen und Vertuschung. Die größer werdende radikale Rechte griff ebenfalls in schöner Regelmäßigkeit die »byzantinische« Politik des Kaiserreichs an und nahm zunehmend nicht einmal mehr den Allerhöchsten von ihrer scharfen Kritik aus.37 Besonders offenkundiger Gegenstand des Misstrauens war die Rolle, die ökonomische Interessen angeblich hinter den Kulissen spielten. Im Deutschen Kaiserreich waren Staat und Wirtschaft ungewöhnlich stark miteinander verwoben, und in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurden diese Beziehungen noch enger. Zumindest darin sind sich die Historiker einig, auch wenn sie unterschiedlicher Ansicht sind, ob man das Ergebnis nun als staatsmonopolistischen Kapitalismus, als organisierten Kapitalismus oder als Staats­ 33 Pfälzische Landesbibliothek Speyer, Nachlass Ernst Lieber, L. 39, Lieber an Posadowsky, 10.07.1894. Ähnlich konspirative Kommunikation findet sich ebd., L. 36–38, Lieber an Posadowsky, 24. Juni, 29. Juni und 3. Juli 1894. 34 Siehe dazu J. C. G. Röhl u. N. Sombart (Hg.), Kaiser Wilhelm II. New Interpretations, Cambridge 1982, insbes. die Beiträge von Röhl, Paul Kennedy, Wilhelm Deist, Isabel Hull, Kathy Lerman und Terence Cole. 35 Wehler, Das Deutsche Kaiserreich, S. 60–72. 36 Ebd., S. 70; F. Hartung, Verantwortliche Regierung, Kabinette und Nebenregierungen im konstitutionellen Preußen 1848–1918, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 44, 1932, Teil 2, S. 319. 37 Siehe dazu meinen Aufsatz »Demagogie in der Politik des Kaiserreichs« in diesem Band, S. 135–167.

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korporatismus bezeichnen soll.38 Die politischen Parteien waren ebenfalls von Bedeutung, insofern sie als Vehikel für große Wirtschaftsinteressen fungierten.39 Das von Bismarck entwickelte politische System animierte sie dazu, als Vertreter von Partikularinteressen aufzutreten, weil es sie der positiven Verantwortung im Parlament beraubte. Die steigenden Kosten für politische Organisation und Wahlkämpfe vergrößerte die Abhängigkeit der Parteien von ihren verschiedenen Zahlmeistern noch weiter. Daher spielte, vor allem ab den 1890er Jahren, ein breites Spektrum von Interessengruppen im Hintergrund eine zunehmende politische Rolle: der Bund der Landwirte und der Centralverband Deutscher Industrieller (CVDI), die mit den großen Landwirtschaftsbetrieben und der Schwerindustrie die beiden einflussreichsten Interessen vertraten, der Bund der Industriellen (BdI), der kleinere Produktionsbetriebe repräsentierte, der Hansabund der Bankiers, Reeder, Versicherer und Exporteure, die unzähligen Organisationen der Handwerker, Geschäftsleute und Angestellten sowie die Gewerkschaften und die Konsumgenossenschaften der Arbeiterklasse. Daher rührt auch die wachsende Bedeutung, die Wirtschaftsfragen im politischen Leben Deutschlands spielten. Man hat ausgerechnet, dass sie 1914 direkt oder indirekt neunzig Prozent der Arbeit des Reichstags ausmachten.40 Ein Großteil dieser Arbeit fand in den Ausschüssen statt. Allein in der Legislaturperiode 1890–1893 beschäftigten sich die Parlamentsausschüsse mit folgenden Fragen: Handelsverträgen, Patenten, dem Telegrafen, dem Gütertransport per Eisenbahn, dem Schutz von Waren und Warenzeichen, der Arbeitszeit, dem Mietkaufsystem, dem GmbH-Recht, dem Buchhaltungssystem, der Besteuerung hochprozentiger Alkoholika, Regeln für den Binnenhandel, dem Insolvenzrecht, der Kennzeichnung von Waren und der Arbeitsmarktstatistik.41 Während die Sprache der Wirtschaft Eingang ins politische Leben fand  – in Gestalt des politischen Spekulanten und Maklers oder in Form von politischen Spitznamen, die auf beliebten Werbeanzeigen beruhten42  –, zogen sich die Wirtschafsinteressen ihrerseits in die Sitzungsräume der Ausschüsse oder ganz 38 Siehe dazu die Beiträge in H. A. Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus, Göttingen 1974; zu einer allgemeinen Darstellung dieser Diskussionen G. Eley, Capitalism and the Wilhelmine State. Industrial Growth and Political Backwardness in German Historiography, 1890–1918, in: Historical Journal, Jg. 21, 1978, S. 737–750; U. Nocken, Corporatism and Pluralism in Modern German History, in: D. Stegmann u. a. (Hg.), Industrielle Gesellschaft und Politisches System, Bonn 1978, S. 37–56. 39 Einen Überblick über die sehr umfassende Literatur zu diesem Thema bietet H.-J. Puhle, Parlament, Parteien und Interessenverbande 1890–1914, in: M. Stürmer (Hg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870–1918, Düsseldorf 1970, S.  340–377. Die deutsche Literatur zum Thema wird umfassend herangezogen bei M. Kitchen, The Political Economy of Germany 1815–1914, London 1978. 40 H. Jaeger, Unternehmer in der deutschen Politik, 1890–1913, Bonn 1967, S. 95. 41 Ebd., S. 97. 42 Der Linksliberale Georg Gothein, ein extrem langweiliger Redner, wurde von politischen Witzbolden »Gothe-in« ausgesprochen, nach einem beliebten Schlafmittel. Siehe K. von Einem, Erinnerungen eines Soldaten, Leipzig, 1933, S. 69.

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aus dem Parlament zurück. Gegen Ende des Jahrhunderts sank die Zahl der Unternehmer im deutschen Parlament drastisch.43 Zunehmend waren es nicht Industrielle, Bankiers und Grundbesitzer selbst, die ihre Interessen im politischen Forum vertraten, sondern Sprecher von Interessengruppen und andere Mittelsmänner. Gustav Stresemann, dessen erste politische Erfahrung darin bestand, die sächsischen Schokoladenhersteller organisatorisch gegen das Zuckerkartell zu vereinen, ist nur eines von zahlreichen Beispielen.44 Es gibt jede Menge einzuwenden gegen eine bestimmte Form von »investigativer« Geschichtsschreibung à la Charles Beard, die Politik auf die krude Entfaltung materieller Interessen reduziert. Doch im politischen System des Kaiserreichs waren diese Interessen durchaus real, ja sogar allgegenwärtig; und sie führten häufig zu Kommentaren über die Diskrepanz zwischen der öffentlichen Fassade von Politik und der Wirklichkeit, die sich hinter den Kulissen abspielte. Diese Kritik kam buchstäblich von allen Seiten, von links, aus der Mitte und von rechts. Schon in den 1860er Jahren bemerkte der Nationalliberale von Twesten mit einiger Bitterkeit: »In Deutschland nennt sich das Landinteresse konservativ, das Geldinteresse liberal, das Arbeiterinteresse demokratisch.«45 Dergestalt klagte immer wieder eine Partei, die sich gerne als Vertreterin allgemeiner und nicht partikularer Interessen sah und die das Aufkommen der interessegeleiteten Politik für den eigenen Niedergang verantwortlich machte. Sozialisten und Linksliberale verwiesen mit guten Gründen auf den heimlichen Einfluss der Junker, der Schwerindustriellen und der Waffenproduzenten. Klassisches Ziel dieser Kritik war Fritz Krupp: Er gehörte zur Entourage des Kaisers und empfing Wilhelm II. häufig in der Villa Hügel, er war ein Mann, der mit viel Hingabe und Umsicht gute Beziehungen zu wichtigen Offiziellen pflegte und zahlreiche ehemalige Regierungsbeamte beschäftigte und der deshalb im Ruf stand, arglistig Einfluss auf die Regierungspolitik zu nehmen. So ging beispielsweise das Gerücht – das zwar durchaus plausibel, aber vermutlich trotzdem falsch war –, der Kaiser besitze große Aktienpakete Krupp’scher Unternehmen.46 Weniger nachvollziehbar war die Behauptung der politischen Rechten, 43 Details zu dieser sinkenden Zahl von Unternehmern in den Parlamenten auf lokaler Ebene ebenso wie im Reichstag, finden sich bei Jaeger, Unternehmer, S.  25–106. Eine sehr gute Untersuchung einer spezifischen Gruppe und Region, die zum gleichen Schluss kommt, bietet T. Pierenkemper, Die westfälischen Schwerindustriellen 1852–1913, Göttingen 1979, S. 61–70. 44 G. Eley, Reshaping the German Right, London 1980, S.  311; für weitere Einzelheiten zu Stresemann siehe D. Warren, The Red Kingdom of Saxony. Lobbying Grounds for Gustav Stresemann 1901–1909, Den Haag 1964. 45 Zitiert nach M. Gugel, Industrieller Aufstieg und bürgerliche Herrschaft, Köln 1975, S. 171. 46 R. Owen, Military-Industrial Relations. Krupp and the Imperial Navy Office, in: R. J. Evans (Hg.), Society and Politics in Wilhelmine Germany, London 1978, S.  71–89. Zur Rolle ­ ilhelm II Krupps in der Entourage des Kaisers siehe I. V. Hull, The entourage of Kaiser W 1888–1918, Cambridge 1982, S. 146–174; zum Wechsel von Regierungsmitgliedern in große Privatunternehmen siehe J. Kocka, Die Angestellten in der deutschen Geschichte ­1850–1980, Göttingen 1981, S. 80 f. Dieses Thema beschäftigte 1912 sogar den Reichstag.

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sie würde die verborgene Macht des jüdischen Kapitals hinter den Kulissen sichtbar machen. Ein konkretes Ziel war dabei Bismarcks Bankier Bleichröder, doch der Vorwurf war allgemeinerer Natur. Auf der Rechten hatte man den Kulturkampf in erster Linie als Deckmantel betrachtet, unter dem die »Betrüger« des Laissez-faire-Kapitalismus ganz generell und jüdische Interessen im Besonderen erfolgreich ihre Geschäfte machten. Während der verschiedenen Börsenskandale in den 1890er Jahren tauchte der Vorwurf eines heimlichen politischen Einflusses der Juden erneut auf, diesmal auf der bäuerlichen, antisemitischen und katholischen Rechten.

Parlament als Theater Die reale oder imaginäre Präsenz mächtiger Interessen abseits der Bühne trug in hohem Maße dazu bei, das politische »System« des Kaiserreichs zu diskreditieren. Gleichzeitig wurde die Politik im wilhelminischen Deutschland in gewissem Sinne unbestreitbar zu einer Form von populärem Spektakel, wie sie das bis dahin nicht gewesen war. Im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts war Gleichgültigkeit gegenüber der Politik weit verbreitet, die Wahlbeteiligung war gering, und die Wahlergebnisse spiegelten oft eher die anhaltende Bedeutung der Honoratiorenpolitik wider. Selbst in den 1870er Jahren, als bei Reichstagswahlen das allgemeine Männerwahlrecht galt, lag die Wahlbeteiligung nur bei 55 Prozent, und Wahlkampf fand so gut wie gar nicht statt. Der Anführer der Nationalliberalen, Rudolf von Bennigsen, schrieb im Dezember 1873 an einen Kleriker in seinem Wahlkreis und erläuterte, warum er leider überhaupt keine Zeit mehr haben werde, um vor der Wahl im nächsten Jahr seinen Wahlkreis noch einmal zu besuchen – und brachte zugleich die Hoffnung zum Ausdruck, er werde im kommenden Sommer wenigstens in der Lage sein, seinem Wahlkreis für den Preußischen Landtag eine Visite abzustatten.47 Diese Haltung war typisch. Das öffentliche Leben blieb weitgehend einer Handvoll Honoratioren vorbehalten, die die wahre politische Nation bildeten. Angesichts dessen ähnelten der Reichstag und die Parlamente der einzelnen Staaten tatsächlich – wie­ Rudolf Dill bemerkte – Theatern.48 Doch in diesen Theatern stellte die schmale politische Klasse selbst das Publikum dar. Wenn Abgeordnete sich selbst als »Akteure« auf der »parlamentarischen Bühne« bezeichneten, wenn Parlamentarier im Verlauf ihrer Reden ganze Szenen von Shakespeare zum Besten gaben oder wenn Bismarck Lasker daran erinnerte: »Die Masken, die wir augenblicklich tragen, sind vorübergehende«, dann sollten wir dabei bedenken, dass ein

47 Bennigsen an Pastor Pfaff, 30. Dezember 1873, zitiert nach H. Oncken, Rudolf von Bennigsen, 2 Bde., Stuttgart 1910, Bd. 2, S. 242 f. 48 Dill, Parlamentarische Stilentwicklung.

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breiteres Publikum fehlte.49 Tatsächlich wurden diejenigen, die nach »draußen« sprachen, die »sich in Szene setzten«, oftmals zensiert – das galt insbesondere für Sozialdemokraten, wie das Beispiel der Ordnungsrufe zeigt. In den 1870er Jahren hätte eine Vielzahl von Parlamentsabgeordneten dem Berufsverständnis des Nationalliberalen Jungermann zugestimmt: »Ich bin nicht hierhergekommen meinen Wählern zuliebe, ich bin hierhergekommen, um meine Ansichten, meinen Einfluss auf die Gestaltung unserer Reichsverfassung zur Geltung zu bringen.«50 Diese vornehme Art von Politik zerbröckelte gegen Ende des Jahrhunderts. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Bestrebungen in der breiten Bevölkerung fanden in ganz anderem Maße als bisher politischen Ausdruck, was durch die Bildungsexpansion, verbesserte Kommunikationswege und eine deutliche Ausweitung der Presse befördert wurde. Daraus erwuchs eine sichtlich vergrößerte politische Nation, was sich vor allem an der politischen Mobilisierung neuer Gesellschaftsschichten, einer merklich gestiegenen Wahlbeteiligung und intensiveren Formen des Wahlkampfs ablesen lässt. Bei den Reichstagswahlen lag die Wahlbeteiligung jetzt bei 85 Prozent, bei besonders heftig umkämpften lokalen Urnengängen sogar noch höher. Honoratioren wie Georg von Hertling, der schon in deutlich entspannteren Zeiten im Reichstag gesessen hatte und ihm nach ein paar Jahren Unterbrechung in den turbulenten 1890er Jahren wieder angehörte, waren verwundert ob der enormen Unterschiede.51 All diese Veränderungen deuteten auf eine neuartige Identifikation der Bevölkerung mit der Politik hin. In ländlichen Gebieten wie Brandenburg oder Oberschwaben waren nun häufig Politiker aus Fleisch und Blut anzutreffen, und die Wähler konnten Parlamentsreden nachlesen, die in den aufblühenden Lokalzeitungen ausführlich abgedruckt wurden, neben den Preisen für Gerste und Anzeigen für Korsettagen. Für die Eintrittskarten zur Besuchertribüne des Reichstags entwickelte sich ein florierender Schwarzmarkt.52 Kurz: Im Zeitalter des allgegenwärtigen Lokalblatts und des Politikers auf Wahlkampftour gewann Politik eine ganz neue Dimension als Volksschauspiel. Diese politische Gärung und die wachsende Bedeutung der Entscheidungsfindung hinter den Kulissen standen nicht im Widerspruch zueinander. Im Gegenteil: Sie verstärkten sich gegenseitig. Bürokraten und Unternehmensführer neigten vermehrt dazu, sich dem Blick der Öffentlichkeit zu entziehen, je »knalliger« und lärmender die Politik wurde. So wies Krupp seinen Geschäftsführer Jencke im Zusammenhang mit der Flottenpolitik mit Nachdruck da-

49 Ebd., S. 45 f.; L. Pastor, August Reichensperger, 2 Bde., Freiburg i. B. 1899, Bd. 1, S. 424–426; Bd. 2, S. 179, 201. 50 Dill, Parlamentarische Stilentwicklung, S. 14. 51 G. von Hertling, Erinnerungen aus meinem Leben, 2 Bde., München 1919/20, Bd. 2, S. 175 f. 52 R. S. Levy, The Downfall of the Anti-Semitic Political Parties in Imperial Germany, New Haven 1975, S. 39; K. Wernecke, Der Wille zur Weltgeltung, Düsseldorf 1970, S. 115.

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rauf hin, er möge seine Aktivität auf die eines Beraters beschränken und so gut es gehe hinter den Kulissen agieren.53 Aufs Neue mobilisierte politische Kräfte hingegen sahen im Drama des öffentlichen Lebens eine Chance, die Mächtigen und Einflussreichen zu »entlarven«. Alex Hall hat darauf hingewiesen, dass die SPD-Presse in erster Linie mit »Skandalen und Sensationen« beschäftigt war; die neuen Organisationen der Bauernschaft und des Kleinbürgertums benutzten, ebenso wie die antisemitischen politischen Parteien und die radikalen Nationalisten, ähnliche Begriffe.54 Die Identität derjenigen, die da entlarvt wurden, wechselte, mal waren es die Junker, mal die Jesuiten, mal die Juden, und auch die Glaubwürdigkeit dieser Enthüllungen fiel recht unterschiedlich aus; doch die gemeinsame Metapher der Entlarvung oder Demaskierung zeugt von der explosiven Kluft, die in Deutschland ganz allgemein zwischen oligarchischer, bürokratischer und unternehmerischer Macht, die hinter den Kulissen ausgeübt wurde, einerseits und einer kraftvollen (und oftmals rachsüchtigen) volksnahen Politik, die ihre Energie aus einer sich eingeschränkt fühlenden, misstrauischen Öffentlichkeit bezog, andererseits bestand. Auch hier finden sich natürlich anderswo analoge Phänomene, vom amerikanischen »muckraking« bis zur französischen Vorliebe für den Skandal. Und natürlich gibt es auch außerhalb Deutschlands Beispiele für Politiker, die ihre Wahlkampftour nutzen, um die Identifikation der Bevölkerung mit dem politischen Schauspiel zu befördern. Man denke etwa an William Gladstones Wahlkampfreden in Midlothian und Léon Gambettas große republikanische Tour durch Frankreich 1871/72. Der Unterschied in Deutschland war der gesamtpolitische Kontext. Das deutsche politische System, das eine konstitutionelle, aber nicht parlamentarische Regierung mit den Möglichkeiten verband, die das allgemeine Männerstimmrecht bot, lud geradezu ein zu einer aufreizend theatralischen Politik. Die Nicht-Verantwortlichkeit der Parlamentarier beförderte eine unverantwortliche Politik der Pose. Diesem Spiel frönten nicht nur parlamentarische Außenseiter, Männer wie der Antisemit Hermann Ahlwardt, der die Flure des Reichstags dazu nutze, um der Regierung vorzuwerfen, sie kaufe bei Juden nicht funktionsfähige Gewehre.55 Auch Parteiführer und gestandene Politiker konnten sich effektvoll in Szene setzen, ohne Gefahr zu laufen, für ihre Worte Verantwortung übernehmen zu müssen. In den 1860er Jahren hatte von Twesten erwartungsgemäß davor gewarnt, das allgemeine Männerwahlrecht werde zu politischer »Charlatanerie« führen.56 Seine Zweifel klangen in den Jahren vor dem Krieg bei vielen Konservativen nach, die mit Sorge sahen, was Bethmann Hollweg das »Buhlen um 53 Owen, Military-Industrial Relations, S. 74. 54 Zur SPD siehe A. Hall, Scandal, Sensation and Social Democracy. The SPD Press in Wilhelmine Germany 1890–1914, Cambridge 1977. Zu den anderen Bewegungen siehe Blackbourn, Demagogie in der Politik des Kaiserreichs, in diesem Band S. 135–167. 55 Zu Ahlwardt siehe ebd. 56 Gugel, Industrieller Aufstieg, S. 184–188.

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die Gunst der Wähler« nannte.57 Wir sollten dabei bedenken, dass bei diesem Buhlen oft andere Konservative die schlimmsten Übeltäter waren. Das Entscheidende aber ist: Nicht das allgemeine Wahlrecht in Verbindung mit dem Parlamentarismus, sondern das allgemeine Wahlrecht gekoppelt mit einem Schein-Parlamentarismus erklärt, warum deutsche Politiker sich in den Jahren vor 1914 so schamlos in Szene setzten. Der Reichstag wurde aus dem gleichen Grund zu einem »Theater der Meinungen« – um mit den abschätzigen Worten Ludwig Bambergers zu sprechen58 –, aus dem es auch zu einer Verrechnungsstelle für ökonomische Interessen wurde: weil es nicht zum Sitz politischer Macht und Verantwortung werden konnte und durfte. Populistische und parlamentarische Politik wurden somit zu einer Möglichkeit, um Sehnsüchte und Ressentiments »auszuagieren«. Darin ähnelte das Parlament nur dem Verhalten derjenigen an der Spitze des Staates. Des Kaisers »Operettenpolitik« ist uns nur zu vertraut, und wie oft hat man uns erklärt, er habe die politische Bühne gesucht, um seine Träume auszuleben. Ekkehard-Teja Wilke ist nur einer von zahlreichen Historikern, dessen Sprache den Eindruck vermittelt, die hohe Politik in wilhelminischer Zeit sei nichts weiter als eine »zweitklassige Tragikomödie« gewesen. Doch seine Schlussfolgerung aus den vielen Krisen, Skandalen und Affären in den höchsten Kreisen könnte durchaus auch für die deutsche Politik ganz allgemein in den Jahren vor 1914 gelten: Sie war »Ausdruck politischer Dekadenz – wenn Politik verkommt zu bloßem Rollenspiel und zum rein theatralischen Auftritt«.59

Die Weimarer Republik: Faschismus als Theater, Hitler als Marionette Dekadenz und Theatralik prägen unser Verständnis der Zeit der Weimarer Republik. Beispielhaft genannt sei hier nur Peter Sloterdijk, der davon spricht, welche Vorstellung wir von der Weimarer Zeit bekommen, wenn wir sie im Lichte der Memoirenliteratur und mündlicher Erinnerungen von Zeitgenossen betrachten: »Demnach gab es in Deutschland also eine Zeit, wo das Leben ›noch interessant war‹, wo Politik und Kultur dramatisch, vital, tumultuarisch und voller Auf- und Abschwünge verliefen – als wäre Theaterhaftigkeit der gemeinsame Nenner sämtlicher sozialen Lebensäußerungen gewesen  – vom Expressionismus bis zu Marlene Dietrichs Spektakelbeinen im Blauen Engel, von der blutigen Komödie des Hitlerputsches 1923 bis zur Dreigroschenoper, vom im­ 57 H. Pogge v. Strandmann u. I. Geiss, Die Erforderlichkeit des Unmöglichen, Frankfurt a. M. 1965, S. 20. 58 L. Bamberger, Vertrauliche Briefe aus dem Zollparlament 1868, 1869, 1870, in: ders., Gesammelte Schriften, Berlin 1898, Bd. 4, S. 198. 59 Wilke, Political Decadence, S. 20.

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ponierenden Rathenaubegräbnis 1922 bis hin zum Schurkenstück des Reichstagsbrandes 1933. Die permanente Krise, von der alle redeten, erwies sich als guter Regisseur, der einprägsame Effekte zu setzen verstand.«60 Das ist eine durchaus kluge und ehrenwerte Darstellung einer bestimmten Weimarer Stimmung; doch sie bleibt – wie die meisten ähnlichen Darstellungen – ausgesprochen impressionistisch. Ich glaube, wir gelangen darüber hinaus, wenn wir das Kernthema dieses Aufsatzes weiter verfolgen und zwei spezielle Theater­ metaphern herausgreifen, die die Literatur zu Weimar und zum Aufstieg Hitlers durchziehen. Da ist zum einen die Vorstellung vom Nationalsozialismus als der theatralischen Form einer politischen Bewegung, zum anderen die Vorstellung von Hitler selbst als Marionette verborgener Strippenzieher. Keine von beiden ist für sich genommen überzeugend. Zusammengenommen jedoch verraten uns die beiden Ansätze einiges über den Nationalsozialismus. Sie legen zudem Verbindungen zu dem nahe, was an dieser Stelle bereits diskutiert wurde, und beto­ nen damit die Kontinuitäten deutscher Geschichte vom 19. zum 20. Jahrhundert. Der Vorstellung von der Theatralik des Nationalsozialismus, ja des Faschismus ganz allgemein, begegnet man häufig. In einem Buch zum Thema trug eine Kapitelüberschrift jüngst sogar den Titel »Faschismus als theatralische Politik«,61 und bei denen, die sich mit den äußeren politischen Formen und dem projizierten Bild der Nationalsozialisten befassen, gehört dieser Aspekt zum Standardrepertorie. Durchaus vertraut ist uns die Vorstellung vom National­ sozialismus als Spektakel, bei dem sorgfältig ausgeleuchtete Parteitage und Massenszenen zu einer ganz bewussten mise en scène führen. Benno von Arent, der die Reichsparteitage in Nürnberg inszenierte und den Titel eines »Reichsbühnenbildners« trug, war ursprünglich Ausstatter an Berliner Bühnen gewesen.62 Jede Menge Belege für die Vorstellung vom deutschen Faschismus als Theater finden sich in zeitgenössischen Darstellungen, darunter auch in fiktionalen Werken wie Thomas Manns Erzählung Mario und der Zauberer und es gibt zahlreiche Menschen, die die faszinierende Wirkung der NS-Aufführungen bezeugten.63 George L. Mosse und andere haben daran erinnert, dass dieser Wesenszug des Nationalsozialismus Vorläufer im 19. Jahrhundert hatte, von den Gesangsvereinen bis zu Richard Wagner.64 Nüchterne Historiker sind häufig skeptisch angesichts der umfassenden Thesen derjenigen, die den Nationalsozialismus auf diese Weise betrachten, nicht zuletzt aufgrund all dessen, was damit außen vor gelassen wird. Tatsächlich verrät uns die glitzernde Selbstdarstellung der Nazis nur wenig über die vielen wichtigen Gründe für ihren Erfolg, und das gilt sogar für ihren spezifischen 60 P. Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1983, Bd. 2, S. 705. 61 O’Sullivan, Fascism, Kap. 3. 62 Z. A. B. Zeman, Nazi Propaganda, Oxford 1964, S. 8 f. 63 Siehe dazu die autobiographischen Schilderungen in T. Abel, Why Hitler came to power: an answer based on the original life stories of six hundred of his followers, New York 1938. 64 G. L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen von den Befreiungskriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1993.

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Erfolg als Massenbewegung. Konzentriert man sich allein auf das verführerische Schauspiel, so unterschätzt man beispielsweise leicht die wirklichen Versäumnisse der Weimarer Republik, sowohl als strukturell fehlerhafte Demokratie in den 1920er Jahren wie auch als autoritäres politisches System ab Herbst 1930. Ebenso wenig erfahren wir von den Vertretern dieses Ansatzes, warum das Spektakel bei bestimmten Teilen des Publikums mehr Anklang fand als bei anderen oder ob die Begeisterung für den Nationalsozialismus selbst bei seinen Anhängern nicht vielleicht ganz prosaische, alles andere als dramatische Gründe hatte: etwa der Appell an die materiellen Ressentiments des kleinen Mannes, an das behinderte Karrierestreben ehrgeiziger Experten, an das provinzielle Spießbürgertum. Wir müssen deshalb akzeptieren, dass die Erklärung des NS-Erfolgs mit Hilfe einer theatralischen Form von Politik ihre Grenzen hat. Parteitage und Hitlers Rhetorik allein verführten das deutsche Volk wohl kaum dazu, einen funktionierenden politischen Betrieb abzulehnen; und das NS-Spektakel verstärkte häufig nur die Loyalität derjenigen, die ohnehin Grund hatten, die Partei zu unterstützen. Trotz dieser Einschränkungen und Vorbehalte sollten wir aber nicht zu abgeklärt sein, um nicht auch den Wert dieses Ansatzes zu erkennen. Denn in vielerlei Hinsicht führten die Nationalsozialisten nur eine Entwicklung fort, die schon vor 1914 begonnen hatte und bei der Politik zum Ausleben von Sehnsüchten und Ressentiments wurde. Während die Weimarer Kommunisten diese SPD-Tradition auf der Linken fortsetzten, führte die NSDAP sie für die breite Masse der Bauern, der Kleinbürger und der Mittelschicht weiter, die sich vor dem Krieg vom bäuerlichen Populismus, vom politischen Antisemitismus und vom radikalen Nationalismus angezogen gefühlt hatte. Wie wir gesehen haben, hatten die NS-Kritik am »System« von Weimar und seinen Machenschaften hinter den Kulissen sowie das nationalsozialistische Versprechen, die Strippenzieher im Hintergrund zu entlarven, eindeutige Vorläufer in der Vorkriegs­ politik. Und sie waren in der Tat wichtige Aspekte der Anziehungskraft, die der Nationalsozialismus ausübte. Wenn man sich dergestalt in Szene setzte, richtete sich das an die Sorgen genau dieser Gesellschaftsgruppen, die durch Revolution, Inflation und Wirtschaftskrise noch verschärft worden waren. Das geschah umso wirkungsvoller, weil die Bemühungen der etablierten Mitte-rechts-Parteien, sich der gleichen Methoden zu bedienen (wie sie das schon vor 1914 getan hatten), konterkariert wurden durch das Maß an politischer Verantwortung, das sie, wie zögerlich auch immer, im formellen Rahmen der Weimarer Demokratie nun für ihre Politik übernehmen mussten. Nicht nur in dieser Hinsicht war der Nationalsozialismus immer auf der sicheren Seite: Er versprach eine drastische Lösung für Deutschlands Probleme, indem er die parlamentarische »Farce« überwand, für die er zum Teil selbst verantwortlich war, so wie er Recht und Ordnung versprach als Reaktion auf eine Gesetzlosigkeit, zu der er selbst einen enormen Beitrag geleistet hatte. Insofern vollzog der Nationalsozialismus in der Tat eine »Ästhetisierung der Politik« bzw. des »politischen Lebens«, wie eines seiner Opfer, der Philo186

soph und Kulturkritiker Walter Benjamin, über den Faschismus allgemein bemerkte.65 Das bereichert zweifellos unser Verständnis des Nationalsozialismus als Massenbewegung. Was aber ist mit der anderen zentralen Frage, nämlich nach der Funktion, welche die Inszenierung der NS-Massenbewegung hatte. Wie steht es um die heimlichen Profiteure? Dazu müssen wir uns einem weiteren Motiv zuwenden, das in Darstellungen dieser Zeit immer wieder auftaucht: dem der Marionette. Im Diskurs über deutsche Politik gehört diese Vorstellung offenbar zum gängigen Repertoire. Thomas Manns Adrian Leverkühn bedient sich eines wohlvertrauten Bildes, wenn er im Doktor Faustus verkündet, deutsche Revolutionen seien »der Budenzauber der Weltgeschichte«.66 Das behaupteten revolutionäre Linke ebenso wie reaktionäre Rechte mit Blick auf die Revolution von 1918, wie das schon ihre Vorgänger im Falle der Revolution von 1848 getan hatten. In dieser Metapher kommt zweifellos Verachtung ebenso zum Ausdruck wie die verbreitete Meinung über die Unfähigkeit des »Landes der Dichter und Denker«, seriöse Politik zu betreiben. Doch die Marionette transportiert auch die spezifischere Konnotation einer Kreatur, die von unsichtbaren Händen gesteuert wird. Das implizierte Engels 1848 mit seiner Wendung von den »parlamentarische Marionetten«; und so stellten seine Nach­folger Hitler in den frühen 1930er Jahren dar. »Millionen stehen hinter mir!« heißt es in John Heartfields berühmter Fotomontage, auf der Hitler, die rechte Hand nach Art des Hitlergrußes nach oben gestreckt, Millionen von Reichsmark bekommt. Hier haben wir Hitler als Marionette des deutschen Kapitals. Die Beziehung zwischen der NS-Machtübernahme und dem deutschen Kapitalismus ist wichtig, doch die Frage erschöpft sich beileibe nicht darin, den Untersuchungsgegenstand auf die NS-Gefolgsleute und Zahlmeister in den Großkonzernen zu beschränken. Das aber ist gerade das Problem, wenn man Hitler als Marionette des Kapitalismus betrachtet.67 Tatsächlich nämlich lässt sich die Rolle, die kapitalistische Interessen für den Erfolg des Nationalsozialismus spielten, auf diese Weise nicht wirklich plausibel darstellen, schon gar nicht, wenn man die Unterstützung für Hitler auf einen außergewöhnlich schmalen Teilbereich des Kapitals beschränkt (wie in Dimitrows berüchtigter Faschismusdefinition der Dritten Internationale). Mit dieser Interpretation lässt sich nicht wirklich erklären, wie (oder warum) die Marionette sich mitunter gegen ihren Strippenzieher wandte. Ist diese Metapher letztlich also unbefriedigend, so erkennt man doch leicht, warum sie so viel Anklang und so weite Verbreitung fand. Und wir brauchen nach wie vor eine vergleichbare Vorstellung von Hitler als jemandem, der eine 65 W. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M. 1963, S. 48, 51. 66 T. Mann, Doktor Faustus, Frankfurt a. M. 1961, S. 159. 67 Einen guten Überblick über die sehr umfangreiche Literatur zu diesem Thema bietet D.  Geary, The Industrial Elite and the Nazis in the Weimar Republic, in: P. D. Stachura (Hg.), The Nazi Machtergreifung, London 1983, S. 85–100.

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Rolle spielte, als Gegengewicht und als Ergänzung zu der Art und Weise, wie sich die Nationalsozialisten selbst präsentierten. Denn wahr bleibt, dass das, was die Nazis ihren politischen Gegnern unterstellten, auf sie noch viel stärker zutraf: Das äußere Erscheinungsbild war trügerisch, hinter den Kulissen waren unsichtbare Hände am Werk. Bei Wahlen bekam die NSDAP die Stimmen der nicht-proletarischen Bevölkerung. Und Hitler fand bei wichtigen Teilen der herrschenden Elite Unterstützung, weil er tat, was sie selbst nicht tun konnten oder wollten: ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Für Unternehmer, Generäle, Junker und hochrangige Beamte war die NS-Bewegung attraktiv, weil sie die Quadratur des Kreises versprach: dass sie in gefährlichen, potenziell revolutionären Zeiten die Interessen dieser Gruppen wahrte, ohne dass diese selbst in Erscheinung treten und eine offene politische Rolle spielen mussten.68 So wie ihre wilhelminischen Vorgänger das politische Rampenlicht gemieden hatten, so überließen es auch die Generäle der Reichswehr und die Industriellen Hitler, sich um die politischen Dinge zu kümmern, was ihnen die Freiheit ließ, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Die Tatsache, dass Hitler schließlich eine größere Rolle verlangte als die, für die er engagiert worden war, entkräftet diese Sichtweise nicht. Hitler war keine Marionette. Aber er war in diesem Sinne ein Akteur, ein Schauspieler, der eine Rolle spielte. 1848 hatte de Tocqueville, wie wir gesehen haben, verächtlich von einer »schlechte[n] Tragödie, die von Provinzschauspielern gespielt wird«, gesprochen. Dieses Gefühl klang auch bei Marx und Engels an. Fast ein Jahrhundert später, als die Zeit des europäischen Faschismus sich 1944 dem Ende zuneigte, griffen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer das Thema noch einmal auf. Sie, die intellektuell Marx verpflichtet waren, aber mehr als nur ein bisschen von de Tocquevilles aristokratischer hauteur teilten, sprachen ebenfalls von modernen »Führer«-Gestalten, die an »Provinz­ schauspieler« erinnerten. Und sie fuhren fort: »Die Führer sind ganz das geworden, was sie während der ganzen bürgerlichen Ära stets ein wenig schon waren, Führer-Darsteller.«69

68 Für eine solche Interpretation der Reichswehr plädiert überzeugend M. Geyer, Etudes in Political History: Reichswehr, NSDAP, and the Seizure of Power, in: Stachura (Hg.), Nazi Machtergreifung, S. 101–123. 69 T. W. Adorno u. M. Horkheimer, Dialektik der Aufklärung (zuerst 1944), Frankfurt a. M. 1979, S. 251, 282.

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8. »Die meisten von ihnen haben Räder« Kraftfahrzeuge und der Aufstieg des Nationalsozialismus1

»Die meisten von ihnen haben Räder; sie müssen jeden Augenblick hier sein.«2 Verfasser ist der SA-Mann Hans Hoepner, die Zeit das Frühjahr 1931. H ­ oepner hat ein Treffen der NSDAP in Schönow/Brandenburg organisiert. Im Saal drängt sich aber »die Kommune«, und der Versammlungsbeginn muss verschoben werden, bis die SA-Verstärkung aus dem nahegelegenen Bernau eintrifft. Diese Szene aus der gewalttätigen Politik der Jahre vor der Machtergreifung erreicht ihren Höhepunkt beim Zusammentreffen von drei Ereignissen: Die Kommunisten erheben sich, um die Internationale zu singen, die Bernauer Sturmtruppe stürzt in den Saal, und die Polizei folgt ihr auf den Fersen. Die Versammlung findet daraufhin in Anwesenheit des »Saalschutzes« statt. Die meisten von ihnen haben Räder. Um was für Räder handelte es sich wohl bei der NSDAP und der SA? Die vorliegende Arbeit bemüht sich um die Be­ antwortung dieser Frage, will aber auch zeigen, warum es sich lohnt, sie zu stellen. Die von Partei und Braunhemden benutzten Transportmittel, die Art ihres Einsatzes und ihre Herkunft soll hier untersucht werden sowie die Frage, was wir daraus über die nationalsozialistische Bewegung erfahren können. Eines der von den Nationalsozialisten benutzten modernen Transport­mittel war jenes klassische Symbol der ihnen so verhassten Welt des 19. Jahrhunderts: die Eisenbahn. 1848 brachte die Bahn nicht nur Nachrichten von der Pariser Februarrevolution. Sie brachte auch deutsche Bauern in die Städte, wo sie sich an den Märzereignissen an den Brennpunkten der politischen Macht beteiligten. Im November 1919 wiederholte sich dann dieser Vorgang, als die Revolution sich per Bahn von Kiel nach Lübeck, Bremen und Hamburg und dann weiter ins Rheinland, nach Mitteldeutschland und nach Frankfurt fortpflanzte.3 Auch die »Nationale Revolution« fuhr mit der Bahn – ganz besonders mit der Bahn. Hitler fuhr im Oktober 1922 mit 800 SA-Männern im Sonderzug zum »Deutschen Tag« in Coburg, der ersten großen Ansammlung von National­ 1 Dieser Aufsatz ist 2001 in einer Festschrift erschienen. Seit seiner Veröffentlichung sind zwei Arbeiten erschienen, die für dieses Thema relevant sind. Siehe S.  Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002; D. Hochstetter, Motorisierung und »Volksgemeinschaft«. Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK) 1931–1945, München 2005. 2 H. Hoepner, Braune Kolonne, Berlin 1934, S. 119. 3 P. Fritzsche, Germans into Nazis, Cambridge/Mass. 1998, S. 91.

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sozialisten außerhalb Münchens. Mindestens 23 Sonderzüge brachten die Partei­ genossen zum Reichsparteitag 1927 in Nürnberg. Zwei Jahre später meldete die Reichsbahndirektion Nürnberg 35 Sonderzüge, die ungefähr 28.000 Teilnehmer dorthin beförderten. Bis zu 40 Sonderzüge waren im Oktober 1931 erforderlich, um die Sturmtruppen zu der riesigen SA-Versammlung in Braunschweig zu bringen.4 Der Sonderzug war hervorragend dazu geeignet, große Menschenmengen bequem an städtischen Versammlungsgeländen zusammenzuführen. Selbst für bescheidenere Veranstaltungen wie z. B. das »Patriotentreffen« in Bruchsal im Oktober 1924, zu dem 2.000 Gleichgesinnte im Zug anreisten, eignete er sich.5 Die Bahn hatte aber auch Nachteile. Sonderzüge wurden im letzten Moment von der Polizei abgesagt oder fielen wegen Streikhandlungen des Bahnpersonals aus; manchmal wurden sie auf der Strecke angehalten, wie es Goebbels und w ­ eitere 450 Nationalsozialisten 1927 auf dem Weg von Berlin nach Nürnberg erlebten.6 Darüber hinaus war die Bahn ein wenig anpassungsfähiges Beförderungsmittel, wenn es um die intensive Gestaltung der für NSDAP und SA typischen alltäglichen politischen Arbeit ging, sei dies Propaganda oder paramilitärischer Einsatz. Ein Privatheer auf öffentlichen Transportmitteln? Das waren nicht die Räder, die Hans Hoepner meinte. Der Zusammenhang von­ Hoepners Bericht lässt darauf schließen, dass die Bernauer SA mit größter Wahrscheinlichkeit auf Fahrrädern in Schönow eintraf. Das Fahrrad, um 1920 in Land und Stadt bereits überall in Deutschland vorhanden, war den Nationalsozialisten auf mehrfache Weise dienstbar. Unentbehrlich war es den einzelnen Aktivisten, von denen manche für ihr endloses, stundenlanges Herumfahren im Rahmen ihrer Organisationstätigkeit bekannt waren – Männer wie der Stellvertretende Gau­leiter Hans Dincklage in Niedersachsen und Wolfgang Bergemann in Marburg.7 Zahlreiche von Anhängern verfasste Darstellungen der nationalsozialistischen Bewegung beinhalten Hinweise auf das Fahrrad, wobei oft in typisch pathetischem Ton auf das »Opfer« hingewiesen wird, das mit der Gefährdung durch die Elemente und durch politische Gegner verbunden war. Hans Hoepner selbst besaß ein uraltes Fahrzeug, mit dem er durch Brandenburg fuhr – und das er manchmal schieben musste. Fahrräder dienten aber auch einem anderen Zweck. Die Räder und ihre Fahrer waren in militärischer Formation angeordnet, wenn sich die Sturmtruppen in der Öffentlichkeit zeigten. Fußtruppen marschierten; Radfahrer kamen in Fahrradkolonnen und bildeten 4 G. F.-Willing, Ursprung der Hitler-Bewegung 1919–1922, Preussisch-Oldendorf, S.  249; K. Mutschler, Die Hitler-Bewegung im Kreis Aalen, Aalen o. J., S. 45; M. Broszat, Die Machtergreifung, München 1984, S. 93 f.; R. Hambrecht, Der Aufstieg der NSDAP in Mittel und Oberfranken 1925–1933, Nürnberg 1976, S. 170 f. u. 481, Anm. 552. 5 J. H. Grill, The Nazi Movement in Baden 1920–1945, Chapel Hill 1983, S. 103. 6 F.-Willing, Ursprung, S. 250; Mutschler, Hitlerbewegung, S. 48, 151. 7 J. Noakes, The Nazi Party in Lower Saxony 1921–1933, Oxford 1971, S. 98 f.; R. Koshar, Social Life, Local Politics and Nazism. Marburg 1880–1935, Chapel Hill 1985, S. 189.

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Fahrradabteilungen, die zum »Schutz« politischer Veranstaltungen abgeordnet wurden, wie z. B. der in Karl Mutschlers Geschichte der Aalener SA erwähnten (»eine Abteilung Radfahrer, 16 zuverlässige Hitlerjungen und SA-Männer«).8 Allerdings haben weder die von den Nationalsozialisten verwendeten Züge noch die Fahrräder den nachhaltigsten Eindruck auf die Menschen jener Zeit gemacht, sondern vielmehr ihr Einsatz von Kraftfahrzeugen. Dieser Schwerpunkt existierte seit den Anfängen der Partei. Schon zu Beginn seiner politischen Laufbahn war Hitler von Kraftfahrzeugen fasziniert. Ernst Hanfstaengl versichert, Henry Ford sei der einzige Amerikaner gewesen, für den Hitler sich damals interessierte.9 Im Frühjahr 1922 gründete die Partei eine eigene Motorstaffel unter Leitung des Pferdehändlers und »Münchner Raufbolds« Christian Weber, und im Rahmen der ab 1926 durch den ehemaligen Freikorps­f ührer Franz von Pfeffer durchgeführten Umorganisation der SA wurde eine neue Fahrzeugeinheit gebildet.10 1930 wurde dann das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps gegründet, um parallel zu der Motor-SA zu fungieren. Der Einsatz motorisierter Transportmittel  – Motorräder, Personenkraft­ wagen und Lastkraftwagen  – durch die NSDAP verlieh der deutschen Politik einen neuartigen Aspekt. Andere Parteien versuchten ihn nachzuahmen, aber keiner gelang es. Arno Schröder, der Parteihistoriker für den Gau WestfalenNord, dürfte kaum übertrieben haben, als er später schrieb: »Der Einsatz motorisierter Kräfte im politischen Kampf war neu und blieb, trotz aller Versuche im gegnerischen Lager, der jungen nationalsozialistischen Bewegung vorbe­ halten«.11 Ich möchte drei Hauptbereiche des Einsatzes von Kraftfahrzeugen nennen, wobei es allerdings offensichtlich einige Überschneidungen gibt. Erstens waren Fahrzeuge die Voraussetzung für die Durchführung der dynamischen, pausenlosen Politik, die sich der Nationalsozialismus zu eigen machte. Ortsführern in den ländlichen Gebieten und den Kleinstädten, die zu nationalsozialistischen Hochburgen wurden, ermöglichte das Motorrad oder das Auto eindeutig einen größeren Wirkungskreis als das Fahrrad. Sein »kleines klappriges Motorrad« ermöglichte es auch Hans Hoepners Mentor, dem Landgutpächter »Otto«, seinen Bezirk in Brandenburg auf den Landstraßen zu durchstreifen und so seiner organisatorischen Aufgabe nachzukommen. Ebenso gestattete es das Motorrad dem Günzburger Bezirksleiter Hans Weber, als Redner im bairischen Mittelschwaben von Ort zu Ort zu fahren.12 Dem umfangreichen 8 Mutschler, Hitlerbewegung, S. 193, 228 f. 9 E. Hanfstaengl, Zwischen Weissem und Braunem Haus, München 1970, S. 46. 10 F.-Willing, Ursprung, S.  200, 264. S.  auch das Vorhandensein von Kraftfahrzeugen in Hitlers Liste dessen, was er mit 50 Millionen Mark anfangen würde, aus dem Jahr 1922: A. T ­ yrell (Hg.), Führer befiehl… Selbstzeugnisse aus der ›Kampfzeit‹ der NSDAP, Düsseldorf 1969, S. 54; J. M. Diehl, Paramilitary Politics in Weimar Germany, Bloomington 1977, S. 280. 11 A. Schröder, Mit der Partei vorwärts! Zehn Jahre Gau Westfalen-Nord, Detmold 1940, S. 134. 12 Hoepner, Braune Kolonne, S. 81 f.; Z. Zofka, Die Ausbreitung des Nationalsozialismus auf dem Lande, München 1979, S. 90.

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Kader geschulter Parteiredner war das Auto unentbehrlich. Kraftfahrzeuge boten außerdem den einfachen Parteimitgliedern die Möglichkeit, an den unentwegten Veranstaltungen teilzunehmen, auf denen die NSDAP und die SA bestanden  – Versammlungen, Treffen, Märsche und militärische »Übungen«. Lassen Sie uns als Beispiel die Gründe betrachten, aus denen die vier in schwere Motorradunfälle verwickelten SA-Männer aus einer kleinen Ecke in Württemberg Anfang der dreißiger Jahre ihre Fahrten unternahmen. Einer von ihnen war auf dem Rückweg von einem Treffen von SA-Männern aus dem süddeutschen Raum am Bodensee, ein weiterer fuhr von einem Gauparteitag in Stuttgart zurück, und die übrigen zwei waren unterwegs zu »Felddienstübungen« in Dossingen.13 Die SA machte den Lastkraftwagen zum bevorzugten Beförderungsmittel für Personal und Material  – z. B. Gerät für parteiinterne Filmvorführungen und Theateraufführungen oder Lebensmittel für Volksküchen und für ihre eigenen (häufig arbeitslosen) Mitglieder in SA-Heimen. Auf LKW wurden im Herbst 1931 Tausende von Kilogramm Getreide, Kartoffeln, Kohl, Erbsen und Reis im ländlichen Ostpreußen ausgeliefert; LKW brachten die Hannoversche SA zu »Übungen« in die Lüneburger Heide; und LKW transportierten Hunderte, ja sogar Tausende von SA-Männern vor ihren Aufmärschen an die Sammelstellen.14 Das spektakulärste Beispiel für den letztgenannten Zweck war das riesige Treffen der SA im Oktober 1931, zu dem Hunderte von LKW neben den Sonderzügen und Omnibussen, Autos und Motorrädern dazu mitwirkten, insgesamt 100.000 SA-Männer nach Braunschweig zu bringen. In derartigen Fällen lässt sich der praktische Zweck motorisierter Beförde­ rungsmittel  – also das Zusammenführen von Männern an einem Ort  – nur schwer von einer weiteren, beabsichtigten Wirkung unterscheiden, nämlich der öffentlichen Zurschaustellung von Macht und Dynamik. Jede Fahrt dieser Art wurde zu einer Art Propagandafahrt. Der Einsatz von Fahrzeugen zu Propa­ ganda­zwecken geht bis an die Anfänge der NSDAP zurück. 1920/21 wurden in München Flugblätter von LKW-Ladeflächen aus verstreut. Nach Gründung der Motorstaffel 1922 erfolgten Umzüge von Fahrzeugen »im großen Stil« durch die bayerische Hauptstadt sowie die ersten motorisierten SA-Fahrten ins Umland, d. h. nach Tegernsee, Tölz und Traunstein.15 Bereits Mitte der zwanziger Jahre existierte der Motorsturm im Keim. Von den Wahlen 1928 ab wurden Kraftfahrzeuge in ungeheurem Maße zu Propagandazwecken eingesetzt, und zwar im Zusammenhang mit den sich in Deutschland zu einer Zeit häufenden Wahlen, in der das Gefüge deutschen poli13 Mutschler, Hitlerbewegung, S. 85, 133, 242. 14 C. Fischer, Stormtroopers, London 1983, S. 122; Noakes, Party, S. 40; U. Mayer, Das Eindringen des Nationalsozialismus in die Stadt Wetzlar, Wetzlar 1970, S. 50; R. Bessel, Political Violence and the Rise of Nazism, London 1984, S. 48 f., 82 f.; P. Merkl, Political Violence under the Swastika. 581 Early Nazis, Princeton 1975, S. 405 f. 15 Broszat, Machtergreifung, S. 17; F.-Willing, Ursprung, S. 220 f., 214.

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tischen Lebens auseinanderbrach: Reichstagswahlen, Landtagswahlen, Präsi­ dentschaftswahlen, Kommunalwahlen und Bauernkammerwahlen. Allein 1932 gingen die Wähler zwischen März und November fünfmal zur Wahlurne. Es ist ein Gemeinplatz zu sagen, dass die Nationalsozialisten ländliche und kleinstädtische Bereiche mit Versammlungen, Rednern und Märschen überschwemmten. Vor den Reichstagswahlen 1930 allein gab es in Baden monatlich 1.000 Veranstaltungen, 2.000 in Sachsen allein im September, bis zu 34.000 Veranstaltungen insgesamt in Deutschland innerhalb von sechs Wochen.16 In diesem fieberhaften Wahlkampf stellten die Propagandafahrten von Baden, Bayern und Hessen bis nach Westfalen und Ostpreußen ein Kernelement dar.17 Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps und die Motor-SA spielten auch in der ausschlaggebenden Ortswahl im winzigen Lippe im Januar 1933 eine Hauptrolle, da die NSDAP dort nicht weniger als 800 Versammlungen abhielt. Die Nationalsozialisten waren nicht die Einzigen, die ihre Überlegenheit auf Grund ihres motorisierten Wahlkampfes hervorhoben. Ein Blatt der Zentrums­partei in Paderborn beschrieb, wie die NSDAP ihre Mittel auf den durchgreifenden Wahlkampf in Lippe konzentriert hatte und merkte an, dass keine andere Partei »soviel Zelte, Autos, Motorräder, Lautsprecher besitzt, noch erlangen, noch aufwenden, noch schaffen kann.«18 Der motorisierte Wahlkampf wollte und sollte Aufmerksamkeit erregen. Die NSDAP benutzte Kraftfahrzeuge genauso zur Dramatisierung der Politik wie zahlreiche andere Mittel: Spruchbänder, Flaggen, Lieder, Aufmärsche, Fackelzüge. Man kann die Motorstürme mit Hitlers Einsatz eines Flugzeugs im Wahlkampf vergleichen  – mit seinem Schlagwort: »Hitler über Deutschland«. Der Nationalsozialismus bemühte sich um »eine Ästhetisierung des politischen Lebens«, wie eines seiner Opfer, nämlich Walter Benjamin, in einer berühmt gewordenen Bemerkung über den Faschismus ganz allgemein äußerte.19 Die Beweismittel erlauben wenig Zweifel daran, dass die Parteiaktivisten und SA-Männer der Verführung durch die erregende motorisierte Politik erlagen. Hier haben wir den SA-Mann Hans Hoepner, der diesmal mit dem Omnibus zum Braunschweiger Treffen reist:20

16 Grill, Nazi Movement, S. 181, 194 f.; B. Lapp, Revolution from the Right: Politics, Class, and the Rise of Nazism in Saxony, Atlantic Highlands 1997, S. 198; H. A. Turner, German Big Business and Hitler, Oxford 1985, S. 119. 17 Hambrecht, Aufstieg, S. 240; Grill, Nazi Movement, S. 162; E. Schön, Die Enstehung des Nationalsozialismus in Hessen, Meisenheim am Glan 1972, S. 177; Schröder, Partei, S. 19; Bessel, Political Violence, S. 31. 18 Schröder, Partei, S. 49. 19 »Der Faschismus läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus«: W. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M. 1963, S.  48, siehe auch 51. Zu diesem Thema siehe D. Blackbourn, »Politics as­ Theatre«, in: ders. Populists and Patricians, London 1987, S. 246–264. 20 Die folgenden drei Zitate stammen aus Hoepner, Braune Kolonne, S. 139, 140, 257.

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»Der Motor brummt und saucht sein eintöniges Lied in das Gewirr der lustigen Stimmen und lässt die Wagen leise mitzittern […] Ich lehne mich weit aus dem Fenster. Dicht hinter uns sind die anderen Wagen. Drei davon sind gleichzeitig mit uns abgefahren. Jetzt zieht sich eine ganze Kette von Autolichtern um die Kurve. An jeder größeren Kreuzung hängen sich mehr an. Die Deckenlampen des Wagens blenden.«

Später hören sie auf dieser Fahrt »einen langgezogenen Hupenton«: »Eine Motorradstaffel! Wir stolpern über die Tornister hinüber zur anderen Fensterreihe. Die Jungens liegen auf den Maschinen. Ein ganzer Schwarm. Lederne Rücken glänzen, Metall blitzt, vorbei! Die Schlusslichter tanzen hin und her in der Führerscheibe, nur einen Moment, dann verschwinden sie in der Finsternis.«

Im Januar 1933 kann er dann endlich einen gebrauchten Lastkraftwagen für seine Männer anschaffen: »Freudenlärm der Kameraden. ›Mann! ’n eignes Auto! Klar klappt das.‹ ›Junge, Junge! Nächstens fahren wir mit’m Flugzeug schlauchen‹.«

Hoepners Buch enthält zahlreiche Textstellen dieser Art. In der Tat beschreibt er die ganze nationalsozialistische Bewegung als einen »mächtigen Motor«, einen »Riesenmotor«.21 Der Italiener Marinetti, ein faschistischer Intellektueller, der Kraftfahrzeuge und Flugzeuge als Symbole des faschistischen »neuen Menschen« feierte und die »erträumte Metallisierung des menschlichen Körpers« erwähnte, hätte diesen plebejischen Futuristen mit Sicherheit Beifall gespendet.22 Die Gefühlsausbrüche Hoepners und seiner Männer waren übrigens nicht ungewöhnlich. Arno Schröder lobte die »schnellen Räder« des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps und der Motor-SA in Westfalen und fand den motorisierten Wahlkampf in Lippe erregend: »Das Klingeln der Radfahrer, das Rattern der Motorfahrzeuge und das Hupen von Automobilen wird stärker, je mehr man sich der Versammlungsstätte nähert.«23 Ähnliche Ansichten finden sich in Karl Mutschlers Bericht über den Einsatz von Kraftfahrzeugen durch die NSDAP und SA im schwäbischen Aalen.24 Und die Wirkung all dieser Betriebsamkeit? Mutschler beschreibt eine Ausfahrt durch Kleinstädte und Dörfer im Jahre 1931 und kommentiert: »Die Bevölkerung, die noch nie einen Motorsturm gesehen hatte, machte große Augen«.25 Die Aktivisten gehen davon aus, dass die Bevölkerung ganz all­gemein so be­ eindruckt sein wird, wie sie selbst es sind. Hatten sie recht? Stellt man diese Frage, so wendet man sich dem umfassenderen Thema der Rolle zu, die drama21 Ebd. 22 Marinetti zitiert nach Benjamin, Kunstwerk, S. 49. 23 Schröder, Partei, S. 29, 134. 24 Z. B. Mutschler, Hitlerbewegung, S. 45 f. 25 Ebd. 130.

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tisierte Politik und Propaganda beim Aufstieg des Nationalsozialismus spielten. Richtig ist sicher einerseits, dass die NSDAP mit ihrem Appell viele soziale Barrieren überwand, dass sie sich als echte Volkspartei zu präsentieren verstand und dass neuartige politische Werbemittel zur Mobilisierung ihrer Anhänger beitrugen. Andererseits waren ihrem Erfolg deutliche konfessionelle und soziale Grenzen gesetzt, darunter besonders ihre Unfähigkeit, unter Katholiken oder Angehörigen der politisch organisierten Arbeiterklasse erhebliche Zustimmung zu erringen. Selbst bei jenen, die tatsächlich ihre Stimme für die Partei abgaben, sollte man nicht vergessen, wie erfolgreich die NSDAP alltägliche Gefühle und Vorurteile manipulierte: Ressentiments gegen das »System« und gegen diejenigen, die von den Nationalsozialisten wegen seiner Mängel zur Verantwortung gezogen wurden, die Ängste der Landbevölkerung und des Mittelstands, die vereitelten Aufstiegshoffnungen ehrgeiziger Menschen aus gehobenen Berufen, die Stammtischspießbürger in der Provinz, die Ablehnung der Katholiken und nicht zuletzt Nationalempfinden und Feindseligkeit gegenüber der Linken. Ausschlaggebend ist dabei, dass die »moderne« Arbeitsweise der nationalsozialistischen Politik, gleichgültig, ob von Kraftfahrzeugen, Lautsprechern oder Massenversammlungen die Rede ist, mit der Botschaft der Partei parallel lief. Propagandafahrten und Motorstürme erweckten den Eindruck national­ sozialistischer Dynamik. Ihre größte Wirkung lag aber wahrscheinlich darin, dass sie den Beifall jener verstärkten, die sich schon sowieso von der Partei angezogen gefühlt hatten.26 Auf Grund der Art der nationalsozialistischen Politk ist es schwer, in der Praxis einen deutlichen Strich zwischen Dynamik und Terrortaktik zu ziehen. Die Propagandafahrt glitt nur allzu leicht in motorisierte Gewalttat um. Wie es der westfälische Nationalsozialist Arno Schröder ausdrückte, suchten die MotorSA und das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps »ganze Kerle, die nicht Tod und Teufel fürchteten, wenn es galt, mit ihren schnellen Rädern in stetem, vernichtendem Kampf und Terror das Letzte einzusetzen«.27 Auf dem Lande verbanden SA-Männer im Lastkraftwagen die »Protektion« der Grundbesitzer mit Angriffen gegen die Linke, genau wie es die faschistischen squadristi in Italien taten.28 Kraftfahrzeuge dienten auch dazu, Männer zu Protesten gegen die Zwangsversteigerung von Bauernhöfen zusammenzuführen. Zwar waren ländliche Gebiete gegen diese Taktik besonders anfällig, das Ziel war aber in Stadt

26 Diese Argumentation wird überzeugend vorgetragen in I. Kershaw, » Ideology, Propaganda and the Rise of the Nazi Party«, in: P. D. Stachura (Hg.), The Nazi Machtergreifung, London 1983, S. 162–181. 27 Schröder, Partei, S. 134. 28 Bessel, Political Violence, S. 82 f., 176, Anm. 50, in der die Parallelen zu Italien erwähnt werden. Vgl. Noakes, Nazi Party in Lower Saxony, S. 34. Zu den squadristi: A. Lyttelton, The­ Seizure of Power, London 1973, S. 53 f.; P. Corner, Fascism in Ferrara 1915–1925, London ­ aris 1975, S. 139–142; A. Tasca, Naissance du fascisme: de l’armistice à la marche sur Rome, P 1967, S. 129–147.

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und Land das gleiche: zu zeigen, dass der Nationalsozialismus – in Hitlers Worten – zum »Herrn der Straßen« werden sollte.29 Diese Zielsetzung beinhaltete eine Vielfalt provozierender und aggressiver Maßnahmen. LKW dienten zum Transport von SA-Männern, die politische Versammlungen anderer Parteien überfielen, oder zur Entführung und Misshandlung politischer Gegner aus KPD, SPD oder Reichsbanner. Um aus den unzähligen Beispielen nur eines herauszugreifen: Als im März 1927 evange­lische, katholische und jüdische Redner in Nastätten eine Versammlung organisierten, um gegen die antisemitische Agitation der NSDAP im Rheingau zu protestieren, erschienen hundert mit Gummiknüppel und Totschläger aus­gerüstete Nationalsozialisten aus Koblenz, Wiesbaden und Frankfurt in »mehreren LKW« und sprengten nach einer blutigen Saalschlacht die Versammlung.30 Bei anderen Anlässen »lud« die NSDAP politische Gegner zu ihren eigenen Versammlungen »ein« und überfiel sie dann aus dem Hinterhalt mit Hilfe zahlreicher, in LKW eingetroffener SA-Männer. Schließlich verfolgte die SA auch das Ziel, Herr der Straßen in solchen Gebieten zu werden, in denen ihre politischen Gegner in der Übermacht waren. Kleine »Klebetrupps« fuhren in ihre eigenen Hochburgen (»von dort aus per Lastwagen mit den Kameraden in ein entlegenes Nest zum nächtlichen Plakatekleben«).31 Größere Kolonnen von SAMännern fuhren allen sichtbar und provozierend durch die kommunistischen Viertel deutscher Großstädte. Die motorisierte Invasion »roter« Arbeiterviertel in Berlin, wie z. B. Wedding und Neukölln ist wohl das bekannteste Beispiel hierfür. Die gleiche Taktik fand aber von Schlesien bis Württemberg ihre Anwendung.32 Es ist richtig, dass die NSDAP kein Monopol auf diese Art der politischen Gewalttätigkeit besaß. Das Reichsbanner und vor allem der Rotfrontkämpferbund setzten LKW in ähnlicher Weise ein. Man sollte auch nicht übersehen, dass wenigstens in Berlin Männer, die sich als Fahrer bezeichneten – als Fahrer, Chauffeure, Kraftwagenführer, Transportarbeiter – zahlreich unter den KPDAngehörigen vertreten waren, die um die Beherrschung der Straßen kämpften.33 Jedoch trug die nationalsozialistische Bewegung – besonders nach dem enormen Wachstum der SA von 77.000 Mitgliedern im Januar 1931 auf 470.000 im August 1932 – den größten Teil der Verantwortung dafür, dass die Straßen Deutschlands zu Schlachtfeldern wurden, auf denen Hunderte den Tod fanden

29 Hitler an Franz von Pfeffer, November 1926, zitiert nach H Bennecke, Hitler und die SA, München 1962, S. 238. 30 Schön, Entstehung, S. 89. 31 Hoepner, Braune Kolonne, S. 118. 32 P. Merkl, The Making of a Stormtrooper, Princeton 1980, S. 167–170 (über Berlin); Bessel, Political Violence, S. 83 (über Breslau); Mutschler, Hitlerbewegung, S. 109 (über SA-Männer auf der Fahrt durch das »rote Göppingen«). 33 E. Rosenhaft, Beating the Fascists? The German Communists and Political Violence ­1929–1933, Cambridge 1983, S. 183 f.

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und Tausende verletzt wurden.34 Es ist auch hervorzuheben, dass zu dem im April 1932 verhängten Verbot der SA auch die Beförderung von Männern in LKW gehörte. Allerdings wurde für die Einhaltung des Verbots nicht streng gesorgt, und im Juni hob die Regierung Papen es wieder auf. Zu den Gründen, aus denen Regierung und Reichswehr 1932 über die Verwendung von LKW beunruhigt waren, gehörte deren möglicher Einsatz bei einem Putschversuch. Der sächsische Innenminister Dr. Richter hielt es für angebracht, »alle Vorbereitungen zum Transport von Leuten über Land« sowie »das Bereitstellen von Kraftfahrzeugen« zu unterbinden. Nach Aufhebung des Verbots berichtete Oberst von Bredow im Juli von weiteren Gerüchten: »Aus Pommern sollen Lastkraftwagen mit SA Leuten sich auf dem Marsch nach Berlin befinden«35 Die Beunruhigung überrascht kaum. Das militärische Potential der LKW war Heeresführern wohlbekannt. Schon vor dem ersten Weltkrieg war ihr Einsatz zu einem festen Bestandteil der Militärtheorie, Aufmarschund Operationsplanung geworden.36 LKW waren bei dem fehlgeschlagenen­ Hitler-Putsch im November 1923 eingesetzt worden und waren auch danach regelmäßig an paramilitärischen »Übungen« sowie an Gewalttaten auf den Straßen beteiligt. Außerdem bestanden bekanntlich starke Spannungen zwischen der »politischen« Strategie, wie sie Adolphe Légalité verfolgte, und den teilweise in den Reihen der SA gehegten »revolutionären« Ambitionen. Trotz Allem blieb jedoch der motorisierte Terror der SA einer politischen Strategie untergeordnet. Die Schlachten, in denen es um die Beherrschung der Straßen ging, dienten nicht so sehr strategischen als vielmehr symbolischen Zielen – sie stellten das dar, was Richard Bessel mit dem Ausdruck »Gewalt als Propaganda« bezeichnet hat.37 Hitler umschrieb den Sachverhalt in einer Rede im Düssel­ dorfer Industrieklub im Januar 1932 mit folgenden Worten: »Aber vergessen Sie nicht, dass es Opfer sind, wenn heute viele Hunderttausende von SA- und SS-Männern der nationalsozialistischen Bewegung jeden Tag auf den Lastwagen steigen, Versammlungen schützen, Märsche machen müssen, Nacht um Nacht opfern, um beim Morgengrauen zurückzukommen.«38 Selbstverständ34 Über den Umfang der SA M. Jamin, Zwischen den Klassen. Zur Sozialstruktur der SAFührerschaft, Wuppertal 1984, S. 1 f. Zu politischen Morden und Körperverletzung Merkl, Making of a Stormtrooper, S. 94–100; K. Rohe, Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Düsseldorf 1966, S. 342, der angibt, dass allein in den Jahren 1929–32 42 Reichsbannerangehörige von SA-Männern getötet wurden. 35 T. Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP, Stuttgart 1962, S. 447, 455 (Dokumente Nr. 21, 31). 36 H. Otto, Die Herausbildung des Kraftfahrwesens im deutschen Heer bis 1914, in: Zeitschrift für Militärgeschichte Jg. 28, 1989, S. 227–236. 37 R. Bessel, Violence as Propaganda. The Role of the Storm Troopers in the Rise of National Socialism, in: T. Childers (Hg.), The Formation of the Nazi Constituency 1919–1933, London 1986, S. 131–146. 38 M. Domarus, Hitler, Reden und Proklamationen 1932–1945. 1: Triumph (1932–1938), Würzburg 1962, S. 89.

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lich war dies nicht nur eine euphemistische, sondern auch eine mit Pathos überladene Darstellung dessen, was die SA- und SS-Männer wirklich vorhatten, wenn sie »auf den Lastwagen stiegen«. Da sich aber ihre Gewalttätigkeit in erster Linie gegen die Linke richtete und nicht gegen staatliche Einrichtungen, wurde sie sowohl vom Präsidenten Hindenburg als auch von einem Großteil der national gesinnten bürgerlichen Mitte Deutschlands mit erheblichem Beifall auf­ genommen. Und schließlich: Wie kamen die NSDAP und die SA zu ihren Kraftfahr­zeu­ gen? In den politisch turbulenten Jahren von 1918 bis 1923 kamen offensichtlich viele Fahrzeuge, vor allem LKW, auf ungewöhnlichem Wege in die Hände der Linken wie der Rechten. Die Erklärung dafür liegt bei den Umständen des von Deutschland verlorenen Krieges, der Revolution und der Beschränkungen, welche die Alliierten der Reichswehr auferlegten. Das deutsche Heer verfügte bei Kriegsende über ca. 40.000 Kraftfahrzeuge, darunter 25.000 LKW.39 Es ist bekannt, dass manche heimkehrenden Soldaten LKW verkauften, genauso wie sie auch anderes militärische Gerät verkauften, um Lebensmittel, Zigaretten oder Bargeld zu erhalten.40 Während der Novemberrevolution war die gewaltsame Beschlagnahme von LKW durch radikale Soldaten und Arbeiter an der Tagesordnung. Diese Gewohnheit ist auch noch bei späteren Revolutionären in der Roten Ruhrarmee und in Mitteldeutschland zu beobachten. Max Hoelz erwähnt in seinen Erinnerungen einen Fall, in dem sich nicht weniger als zehn LKW im Besitz seiner Revolutionärsgruppe befanden. Später er­innerten sich SA-Männer mit Abscheu an den Anblick von Revolutionären, die in rot beflaggten LKW durch deutsche Städte rasten.41 Auf der Rechten erhielten das Freikorps und die Einwohnerwehre Fahrzeuge vom Heer. Das Gleiche gilt für ihre paramilitärischen Nachfolgeorganisationen, die sogenannten Wehrverbände  – nicht zuletzt deshalb, weil das Heer darum bedacht war, Gerät vor dem wachsamen Auge der Alliierten zu verbergen. Als Beispiel lässt sich die SA in ihren Anfängen nennen. Die Reichswehr in Bayern gründete eine Feldzeugmeisterei, die wiederum ein als Mietautogeschäft Faber bekanntes Tochterunternehmen aufbaute, das als angebliche Privatfirma von Major a. D. Wilhelm Faber betrieben wurde, in Wirklichkeit aber ausschließlich über Militärfahrzeuge verfügte. Sektionschef der Feldzeugmeisterei war Ernst Röhm. Faber war ein Freund und politischer Anhänger Röhms. Auf diesem Schleichweg erwarb die SA LKW zur eigenen Verwendung, bis Röhm zu weit ging und – zusammen mit Faber 39 S. Modrach, Das deutsche Militärtransportwesen von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, in: Militärgeschichte, Bd. 21, 1982, S. 316. Siehe auch J. M. Laux, Trucks in the west during the first world war, in: Journal of Transport History, Jg. 6, 1985, S. 64–70. Beide Autoren merken an, dass Deutschland weniger Lastwagen herstellte als die westlichen Alliierten. 40 R. Bessel, Germany After the First World War, Oxford 1993, S. 81. 41 M. Hoelz, From White Cross to Red Flag, London 1930, S. 150; Fritzsche, Germans, S. 87; Merkl, Violence, S. 183.

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und Anderen – im Mai 1923, ein halbes Jahr vor dem Putsch in München, seines Amtes enthoben wurde.42 Bis Hitler aus der Festung Landsberg entlassen wurde, hatte sich die politische Lage in Deutschland verändert. Bei der Neugründung der NSDAP und der SA etablierte er nicht nur eine Legalitätsstrategie, sondern bestand auch darauf, dass die SA keinerlei Kontakt zur Reichswehr haben dürfe, z. B. bei Dienst als Hilfstruppen im deutschen Grenzschutz. In der Tat dienten einige SA-Männer in dieser Eigenschaft an der Ostgrenze. Im Gegensatz zu den Jahren vor 1923 besteht allerdings kein Grund zu der Annahme, Heeresgerät sei an die Braunhemden »verschoben« worden. Im Rahmen ihres Aufstiegs zur politischen Macht erwarben die Nationalsozialisten ihre Kraftfahrzeuge auf verschiedenen anderen Wegen. Einer davon waren Speditionsunternehmen. Es ist bekannt, dass manche der früheren Freikorps- und späteren SA-Angehörigen, die 1920 untertauchten, zu politisch sympathisierenden Speditionsfirmen kamen.43 Es gibt außerdem unmittelbare Beweise. Alwin Görlich, ein langjähriger Ortsgruppen- und Bezirksleiter der NSDAP, besaß in Cleve am Niederrhein eine größere Speditionsfirma. Otto Rauenbusch, Eigentümer einer Speditions- und Möbeltransportfirma in Weissenburg in Bayern, stellte der SA Fahrzeuge zum Vorzugspreis zur Verfügung.44 Vermutlich war dies auch bei anderen Firmen der Fall – eine weniger dramatische Parallele zu der Methode, nach welcher der Anhänger der Nationalsozialisten Theo Croneiß von der Deutschen Verkehrsflug AG der NSDAP Flugzeuge zur Verfügung stellte.45 In Anbetracht der ausgeprägten Sympathie von Speditionsfirmen in anderen Ländern für die politische Rechte, ganz besonders in Chile zum Zeitpunkt des Staatsstreiches gegen Salvador Allende 1973, wären systematische Untersuchungen zu diesem Thema zu begrüßen.46 Ausführlich dokumentiert ist die Tatsache, dass von Mitgliedern der NSDAP erwartet wurde, dass sie ihre Privatfahrzeuge der Partei und SA zur Verfügung stellten. Dies war schon zu Anfang in München der Fall gewesen, als Christian Weber das Transportwesen der Partei aufbaute; noch ausgeprägter war es in den Jahren intensiverer motorisierter Politik vor dem Januar 1933.47 In dieser Hinsicht sollte man nicht vergessen, dass die NSDAP viele Anhänger in kleinen und 42 H. J. Gordon, Hitler and the Beer Hall Putsch, Princeton 1972, S. 161–163, 203 f.; F.-Willing, Ursprung, S. 281; B. Campbell, The SA Generals and the Rise of Nazism, Lexington 1998, S. 83. 43 Diehl, Paramilitary Politics, S. 78, 326, Anm. 6. 44 M. Kater, The Nazi Party, Oxford 1983, S. 180; Fischer, Stormtroopers, S. 114; Walther Jaroschek, ein nationalistischer Jugendführer und später Bezirks- und Kreisleiter der NSDAP im Sudetenland, war ein weiterer prominenter Spediteur: E. Stockhorst, Fünftausend Köpfe. Wer war was im Dritten Reich? Velbert 1967, S. 218. 45 Hambrecht, Aufstieg, S. 314 f. 46 I. Roxborough u. a., Chile: The State and the Revolution, London 1977, S. 153, 172–174, 209, 218–221. 47 F.-Willing, Ursprung, S. 280 f.; Turner, Big Business, S. 56, 116; Bessel, Violence, S. 57.

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mittleren Unternehmen hatte, einschließlich solcher, die für ihren Betrieb nicht ohne Kraftfahrzeuge auskommen konnten. Zu denen, die in Lokalstudien über die Partei wiederholt auftauchen, gehören Bau- und Steinbruchunternehmen, Brauereien, Sägewerke und Ölmühlen, Großhändler und Agrarproduktenhändler. Eine große Anzahl von Forschungsarbeiten hat außerdem in jüngster Zeit gezeigt, wie tief verwurzelt die NSDAP in Kreisen der örtlichen Elite auf dem Land und in den Kleinstädten war, die ja die größten politischen Hochburgen der Partei darstellten. Die Forstbeamten, Tierärzte, Gutsverwalter und andere Honoratioren am Ort, die das Rückgrat so vieler Parteibezirke bildeten, waren auch diejenigen, die oft über eigene motorisierte Transportmittel verfügten.48 Dort, wo es sich erwies, dass die von einfachen Mitgliedern zur Verfügung gestellten Autos und die von Firmen wie Nippel & Köhler in Hagen ausgeliehenen LKW nicht ausreichten, wurden Fahrzeuge von Fuhrunternehmen gemietet.49 Es ist durchaus möglich, dass in kleineren Orten selbst diejenigen, die ihre Fahrzeuge vermieteten, Vorzugspreise gewährten. Zum Beispiel mietete die Aalener SA einen LKW, aber die Bemerkungen des Parteihistorikers, wonach die SA-Männer »in dem LKW des Herrn A. Endle« fuhren (und die Aufnahmen des LKW in seinem Buch) lassen darauf schließen, dass der Besitzer ein politischer Sympathisant war.50 In Großstädten handelte es sich bei dem Mieten von Autos vermutlich häufiger um rein geschäftliche Transaktionen. Hans Hoepner beschreibt, wie sich SA-Männer in Berlin vor einer Fahrt durch die roten Stadtviertel versammeln und erwähnt »die großen Mietlastwagen in einer langen Reihe«, die in einer Seitenstraße abgestellt sind.51 Gleichgültig, ob in der Kleinoder Großstadt, es wurde von den NSDAP-Mitgliedern und den SA-Männern erwartet, dass sie für ihre Transportkosten selbst aufkamen. Viele Historiker haben die Bedeutung der Parteiselbstfinanzierung hervorgehoben. Neben den finanziellen Opfern, die von den wohlhabenderen Parteimitgliedern gefordert wurden, wurde Geld auf verschiedene Weise gesammelt. Unter anderem erhob man Eintrittspreise für Versammlungen, verkaufte Programme, organisierte Lotterien und verkaufte Produkte wie Rasierklingen Marke »Stürmer«, »Kampf«-Margarine und »Sturm«-Zigaretten.52 48 Zdenek Zofka stellte allein im Bezirk Günzburg drei Forstbeamte fest, die Mitglieder der NSDAP waren. Zofka, Ausbreitung des Nationalsozialismus, S. 100 f., 103, 138; Siehe auch Grill, Nazi Movement, S. 150 f. (über Baden); Bessel, Political Violence, S. 40 (über Ostpreußen), Noakes, Nazi Party in Lower Saxony, S.  90 (über Niedersachsen); H. A. Turner, Die Selbstfinanzierung der NSDAP 1930–1932, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 3, 1977, S. 65 (über das Rheinland). 49 Zu Nippel & Köhler Fischer, Stormtroopers, S. 114. 50 Mutschler, Hitlerbewegung, S. 45 f. 51 Hoepner, Braune Kolonne, S. 32. 52 S. Turner, Big Business, insbes. S. 116 f.; Hambrecht, Aufstieg, S. 374, 392. Als Hans ­Hoepner im Januar 1933 einen gebrauchten LKW kaufte, wurde dieser zum Teil mit Spenden von einzelnen SA-Männern finanziert, zum Teil aber auch aus staatlichen Zahlungen an Hoepner in seiner Eigenschaft als einer der Führer des Notwerks der Deutschen Jugend.

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Lassen Sie mich nun diese Skizze abschließen. Im 19. Jahrhundert veränderte die Eisenbahn nicht nur von Grund auf die Wirtschaft und Landschaft der sich industrialisierenden Länder, sondern wurde auch zu einem machtvollen Symbol, das in erster Linie mit dem Begriff Fortschritt in Zusammenhang gebracht wurde. Friedrich Harkort war der Meinung, die Lokomotive sei der Leichenwagen, der Absolutismus und Feudalismus zu Grabe tragen werde.53 Auf die Dampfepoche folgte das Zeitalter des Verbrennungsmotors. Kraftfahrzeuge gestalteten die städtisch-industrielle Gesellschaft um und nahmen dabei in gewissem Grade den gleichen symbolischen Charakter an wie die Eisenbahn im 19. Jahrhundert. Vom Prototyp des Volkswagens zum Trabant, vom Autobahnbau der dreißiger Jahre bis zu den heutigen Debatten über die Umweltbeeinflussung des Autos waren Kraftfahrzeuge mit höherer Bedeutung befrachtet. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Rolle, die das Kraftfahrzeug im Aufstieg des Nationalsozialismus gespielt hat. In erster Linie habe ich mich bemüht, einige praktische Fragen zu stellen, denn selbst an symbolischer Bedeutung interessierte Historiker sollten nicht vergessen, solche Fragen zu stellen wie z. B.: Wer hatte Geld? oder: Wer hatte Zeit? In unserem Falle z. B.: Wie kam die NSDAP zu ihren Fahrzeugen? Weitere Forschung hierzu wäre begrüßenswert. Aber schon die vorläufigen Antworten, die in der vorliegenden Arbeit gegeben werden, unterstreichen mehrere, in letzter Zeit von Wissenschaftlern betonte Faktoren. Hierzu gehören die Unterstützung der Partei durch Klein- und Mittelbetriebe, die starke Verankerung der Partei in gutbürgerlichen Kreisen – besonders unter den Honoratioren auf dem Lande und in der Kleinstadt – die hohen Anforderungen an Parteimitglieder sowie die Bedeutung der Selbstfinanzierung für das Aufrechterhalten der politischen Tätigkeit der NSDAP und SA. Welchem Zweck dienten nun die Fahrzeuge? Natürlich Propaganda­zwecken und – besonders im Falle der LKW – als Mittel zur Durchführung politischer Terrorfeldzüge, wenn auch zu bedenken ist, dass die selektive Gewalttätigkeit der SA an sich schon eine Art Propaganda darstellte. Der propagandistische Wert der Kraftfahrzeuge begann in den Reihen der Partei selbst, denn sie stärkten das Gefühl der Zweckgemeinschaft und sorgten für moralischen Auftrieb. Eindeutig erfüllten ihre »schnellen Räder« viele NSDAP-Mitglieder und SAMänner mit einem Gefühl der Begeisterung und Macht. Die Wirkung auf die übrige Bevölkerung ist schwerer zu ermessen. Der Einsatz von Kraftfahrzeugen gehörte zu dem theatralischen und dramatisierenden politischen Stil der NSDAP. Seine propagandistische Wirkung erfolgte jedoch nicht unabhängig davon, dass sich die Partei an ganz bestimmte Interessen materieller und ideeller Art wandte. Autokolonnen und der Anblick von SA-Männern in ihren LKW dienten vermutlich dazu, die Vorstellung von der Dynamik der NSDAP

53 D. Blackbourn, The Long Nineteenth Century. A History of Germany 1780–1918, Oxford 1998, S. 119.

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bei jenen zu festigen, die schon sowieso Gründe für Sympathie zum Nationalsozialismus hatten. Eine letzte Feststellung sei noch gemacht, die mitten in die gegenwärtigen Debatten über den Nationalsozialismus und das Wesen des ab 1933 enstandenen Regimes trifft. Dass die NSDAP so großen Wert auf die Anwendung motorisierter Politik legte, ist ein Hinweis auf die moderne, ja sogar technokratische Tendenz innerhalb der Partei. Gleichzeitig schufen die Autokolonne und der Motorsturm aber auch brutal archaische Werte. Diese widersprüchliche, brisante Kombination – ein Anzeichen für das, was manchmal als »reaktionärer Modernismus« bezeichnet wird – war in vielen Aspekten des Nationalsozialismus erkennbar.54 Sie sollte zu einem der Gründe für den Mangel an Zusammenhang und für die radikale Zerstörungswut des »Dritten Reichs« werden.

54 J. Herf, Reactionary Modernism: Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984.

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Umwelt, Natur, Landschaft

9. Landschaft und Umwelt in der deutschen Geschichte1

Lassen Sie mich mit einer vielleicht etwas einfältig wirkenden Frage beginnen: Mein heutiges Thema befasst sich mit Landschaft und Umwelt in Deutschland im Verlauf der letzten 250 Jahre. Ist das ein großes Thema? Die Antwort lautet selbstverständlich: Das kommt darauf an. Es kommt darauf an, womit man es vergleicht. Ein etwa acht Generationen der Geschichte der Menschheit umspannendes Thema greift zeitlich weit mehr um sich als die meisten historischen Themen  – gleichgültig, ob es sich um eine Biografie (also die Spanne eines Einzellebens) oder um die Geschichte eines politischen Ereignisses handelt. Wenn aber ein Zeitraum von 250 Jahren gemessen an diesen Normen lang ist, dann ist er nach anderen Maßstäben recht kurz. Ich denke da z. B. an Alfred­ Crosbys Arbeit über den biologischen Austausch zwischen Europa und der übrigen Welt über ein Jahrtausend hinweg oder an Fernand Braudels Begriff der longue durée, welche das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt bestimmte – nach Braudel »eine fast unmerklich vorüberziehende Geschichte.«2 In noch größerem Maßstab denke ich aber zum Beispiel auch an Werke, die sich mit dem Feuer in der Geschichte der Menschheit befassen – oder auch an ein neues Genre, das als »Big History« bezeichnet wird, im Sinne von Büchern wie David ­Christians Maps of Time (Landkarten der Zeit).3 Es beginnt mit dem Urknall und erreicht die Geschichte menschlichen Lebens auf Erden im siebten von fünfzehn Kapiteln. Ausschlaggebend ist nicht, ob ein Maßstab sich besser für Geschichte eignet als ein anderer, sondern vielmehr, dass wir uns dessen bewusst sein müssen, dass man Geschichte über ganz verschiedene Maßstäbe hinweg erforschen 1 Dieser Aufsatz wurde ursprünglich im März 2009 als »Besondere Vorlesung« an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften gehalten und in den »Berichten und Abhandlungen« der Akademie veröffentlicht. Seither sind einige Arbeiten zu diesem Thema erschienen. Siehe S. Sörlin u. P. Warde, Nature’s End. History and the Environment, Basingstoke 2011; F. Uekötter, The Greenest Nation? A New History of German Environmentalism, Cambridge/Mass. 2014; und F.-J. Brüggemeier, Schranken der Natur. Umwelt, Gesellschaft, Experimente 1750 bis heute, Essen 2014. 2 F. Braudel, The Mediterranean and the Mediterranean World in the Age of Philip II., London 1972, S. 20. 3 S. Pyne, Vestal Fire. An Environmental History Told through Fire, of Europe and Europe’s Encounter with the World, Seattle 1997; J. Goudsblom, Fire and Civilization, London 1992; D. Christian, Maps of Time. An Introduction to Big History, Berkeley 2004.

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kann. Zum Werkzeug des Historikers gehört das Teleskop ebenso wie das Mikroskop. Das Spiel mit Maßstäben – Jacques Revel nennt es jeux d’échelles – ist wirklich wichtig.4 Der gewählte Maßstab ändert nämlich, was wir sehen und wie wir es sehen. Das haben uns die Theoretiker der Mikrogeschichte gelehrt. Auch die »Big History« erteilt uns eine Lektion darin. Für diejenigen von uns, die sich mit der Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und der Natur befassen, kann es von besonderer Bedeutung sein. Denn wir müssen die Wirkung plötzlicher Veränderungen an der Stelle, die von den Chaostheoretikern als Kritikalität bezeichnet wird, erkennen. (Das beste Beispiel dafür ist der bekannte Schmetterlingseffekt.) Andererseits erforscht Umweltgeschichte die unermesslich lange Geschichte der Biosphäre. Die Auswirkungen unserer Kohlendioxidemission werden noch dann spürbar sein und die Halbwertzeit der abgebrannten Uranstäbe wird noch nicht abgelaufen sein, wenn die Präsidentschaft von George W. Bush kaum mehr erinnert werden wird. Das war eine Bemerkung bezüglich der Zeit, also der primären Dimension, in der wir Historiker arbeiten. Geschichte ereignet sich aber auch im Raum. Und das ist etwas, das Historiker allzu leicht vergessen – allerdings nicht solche Historiker, die sich mit der Umwelt befassen. Meine ganze akademische Laufbahn dreht sich um Deutschland. Es lohnt sich, die gleiche Maßstabfrage über Deutschland im globalen Zusammenhang zu stellen. Die achtzig Millionen Menschen im vereinten Deutschland sind etwa 1,2 Prozent der Weltbevölkerung (im Jahre 1800 war das der doppelte Prozentsatz). Flächenmäßig ist China 27 mal so groß. Deutschland würde sogar zweimal in die Fläche von Texas passen. Und ein noch plastischeres Beispiel: Das historische Königreich Sachsen, dieser Kampfplatz der neueren deutschen und europäischen Geschichte, ist um einiges kleiner als der Yellowstone National Park in Wyoming – jenes Wahrzeichen des amerikanischen »Wildnis«-Schutzes. Solche groben Abmessungen nützen aber wenig. In der Neuzeit hat Deutschland die Welt in einer Weise beeinflusst, die in keinem Verhältnis zu seiner Größe steht – und zwar in kultureller, wirtschaftlicher, politischer und militärischer Hinsicht. Aus der Umweltperspektive betrachtet, haben die heutigen Deutschen einen weit größeren Anteil an den Ressourcen der Welt verbraucht als es ihr Anteil an der Weltbevölkerung rechtfertigt, wenn er auch wesentlich geringer ist als in Texas – und das trifft auch jetzt noch zu und schließt nicht zuletzt die Energieressourcen ein. Andererseits setzt Deutschland nun einen hohen Standard für Umweltschutz und Überwachung des Energieverbrauchs. Seine Unternehmen exportieren weltweit Technologien zur Steuerung der Verschmutzung und zur Erzeugung grüner Energie. Hinzu kommt, dass die Partei der Grünen in Deutschland mehr Wählerstimmen gewinnt und politisch erfolgreicher ist als die grünen Parteien in anderen Ländern. Man sollte sich vielmehr im Bezug auf Maßstäbe fragen, ob der Nationalstaat überhaupt die geeignete Ebene ist, auf der die Fragen der Umweltgeschichte ge4 J. Revel, Jeux d’échelles. Paris 1996.

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stellt werden sollten. Die Aktivisten der 1970er Jahre hatten ein Schlagwort: »Think globally, act locally«, also »global denken, lokal handeln«. In mancher Hinsicht muss auch die Umweltgeschichte sowohl subnational als auch übernational konzipiert und geschrieben werden. Lokal, also subnational, ist sie deshalb, weil das der Maßstab der speziellen Einzugsgebiete der Flüsse oder eines charakteristischen Habitats ist, für welche sich der Historiker interessiert. Mein 2007 in deutscher Übersetzung veröffentlichtes Buch, Die Eroberung der Natur, besteht aus einer Reihe von lokalen Studien  – von den Marschen des Oderbruchs im Osten bis zum Oberen Rheintal im Westen, vom Jadebusen und den Mooren auf der Friesischen Halbinsel im Norden bis zu den Bayerischen Alpen im Süden.5 Dennoch: Umweltgeschichte muss zwar häufig in einem kleineren Maßstab als dem des Nationalstaates betrieben werden, geht aber trotzdem oft über Staatengrenzen hinweg. Die Oder, die Donau, der Rhein – sie alle sind deutsche Flüsse; sie sind aber auch internationale Flüsse. Kommt etwas Unwillkommenes den Fluss herunter  – sei es Chemiemüll oder Hochwasser  – dann hält es nicht an nationalen Grenzen an. So ist es auch mit industrieller Luftverschmutzung – und Schlimmerem, woran uns die Katastrophe von Tscher­nobyl erinnert. Solche Beispiele dienen auch als Mahnung, dass Umweltgeschichte die Politik weder außer Acht lassen kann noch soll. Gerade dies kann unter anderem als Grundlage dienen, um über Umweltgeschichte innerhalb eines National­staates zu sprechen, denn diese Geschichte ist ja so unmittelbar mit der Staatspolitik verflochten. Das ist eines meiner heutigen Themen. Ein ganz besonderer und emotionsgeladener Aspekt des Zusammenhangs zwischen Umwelt und deutscher Politik ist die Frage, wie wir das NS-Regime in seiner Beziehung zum Naturschutz bewerten. Es ist dies eine heikle Frage. Aber auch mein zweites Thema stellt eine schwierige Frage: Welche Haltung nehmen die Historiker gegenüber dem langjährigen Fortschreiten der Umweltveränderung ein? Ich möchte die Behauptung aufstellen, dass wir oft die wenig reizvolle Wahl zwischen »optimistischen« und »pessimistischen« Darstellungen haben  – und möchte einen Ausweg vorschlagen. Mein drittes und letztes Thema führt mich dann geradewegs zu den beiden Schlüsselbegriffen im Titel dieses Vortrags: Landschaft und Umwelt. Mein schon erwähntes Buch heißt Die Eroberung der Natur. In der deutschen wie auch in anderen Sprachen hat das Wort »Natur« mindestens zwei verschiedene Bedeutungen. Es bezeichnet sowohl eine Projektion menschlicher Vorstellungen und Gefühle auf die Welt der Natur, aber auch diese Welt selbst – ihre Atmosphäre, Lithosphäre, Pedosphäre, Hydrosphäre und so weiter. Es handelt sich um den Unterschied zwischen »Natur« und »Natur an sich«. Wie schon oft, wenn meine Zuhörer/Leser Historiker waren, plädiere ich dafür, uns mit beidem zu befassen. 5 D. Blackbourn, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007. Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel The Conquest of Nature. Water, Landscape, and the Making of Modern Germany.

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Man könnte verschiedene Brillen zur näheren Betrachtung der Geschichte einer sich verändernden Umwelt und sich verändernder Beziehungen zur Natur im Verlauf der letzten 250 Jahre aufsetzen. Man könnte die Entwicklung der Umweltverschmutzung nachvollziehen, wie viele deutsche Umwelthistoriker es in den 1980er Jahren taten. Man könnte zum Beispiel mit der bei dem Abbrennen von Mooren entstehenden Luftverschmutzung beginnen, die als blauschwarzer Dunst über Norddeutschland stand und sich je nach Windrichtung bis nach Lissabon oder St. Petersburg ausbreitete.6 Dann würden wir von der Ära der Schwerindustrialisierung berichten mit ihrer Geißel des Fabrikrauches und der Verschmutzung von Flüssen wie der Emscher, die im ausgehenden 19. Jahrhundert als »dunkelschwarz gefärbt und einen wahrhaften Pestilenzgestank verbreitend« beschrieben wurde, ein durch Ammoniak und Teer vergifteter Fluss.7 Diese Entwicklung blieb im Grund dieselbe, bis endlich um 1970 sowohl der Luftverschmutzung als auch der Wasserverschmutzung Einhalt geboten wurde und man beides rückgängig zu machen begann. Genauso gut könnte man die deutsche Umweltgeschichte und Landschaftsgeschichte durch Untersuchungen angehen, was in den letzten 250 Jahren mit der deutschen Flora und Fauna geschehen ist: Botaniker, Zoologen und zahl­ reiche naturkundliche Ortsvereine im deutschsprachigen Europa haben uns durch ihre Forschungsarbeiten reichlich Quellenmaterial geliefert. Vor fast 20 Jahren hatte ich vor, ein Buch über die Deutschen und ihr Verhältnis zu Tieren zu schreiben, habe es aber – leider – dann doch nicht getan. Es gibt bis heute kein Werk, in dem die Schlüsselelemente dieser Geschichte wenigstens teilweise zusammengeführt wären, zum Beispiel die spätestens Anfang des 19.  Jahrhunderts vollzogene bewusste Ausrottung von Arten wie Wolf, Bär und Luchs durch Jagd; das weniger dramatische aber weiter verbreitete Verschwinden vieler Arten in ganz Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert als Folge von Verlust oder Störung ihres Habitats; die Ankunft von »invasiven Arten«; und der Nachdruck, mit dem Tierschutz seit dem 19.  Jahrhundert in Deutschland erfolgt. Friedemann Schmoll und andere haben über die parallele Geschichte der schwindenden Vogelarten berichtet und über die Bemühungen der einflussreichen deutschen Vogelschutzvereine, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Gleichgültig, ob wir über Bruder Tier oder das Schicksal unserer »gefiederten Freunde« sprechen, bedarf es kaum der Versicherung, dass alle Diskussionen über ihren Schutz mit Debatten über Kultur und Werte – deutsche Kultur und ihre Werte – Hand in Hand gingen.8 6 H. Küster, Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa, München 1995, S. 276; Pyne, Vestal Fire, S. 171, 175. 7 T. Rommelspacher, Das natürliche Recht auf Wasserverschmutzung, in: F.-J. Brüggemeier u. T. Rommelspacher (Hg.), Besiegte Natur. Geschichte der Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert. München 1987, S. 54. 8 F. Schmoll, Indication and Identification. On the History of Bird Protection in Germany 1800–1918. in: T. Lekan u. T. Zeller (Hg.), Germany’s Nature, New Brunswick 2005, S. 161– 182. Siehe auch F. Schmoll, Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im

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Das ist auch höchst zutreffend im Bezug auf eine weitere lohnende Art, deutsche Umweltgeschichte der letzten 250 Jahre zu schreiben, nämlich durch Nachforschungen über den deutschen Wald. Interessanterweise tauchten überall, wo ich in den letzten drei Jahren über mein Thema – das sich ja in erster Linie mit Wasser befasst – gesprochen habe, Fragen über den deutschen Wald auf. Über das letztere Thema wollte mich ein Reporter im Sommer 2008 in Berlin interviewen. Es war auch das Thema, über das ich gebeten wurde, für eine Sonderausgabe der Wochenzeitung Das Parlament, die dem deutschen Wald gewidmet war, etwas zu schreiben.9 Kein anderer Aspekt der Natur ist so überzogen mit Mythos, so eng mit dem nationalen Selbstbewusstsein der Deutschen verbunden, wie ihr Wald.10 In der Neuzeit war Deutschland auch das unbestrittene »Vaterland der Forstwirtschaft.« Während die Holländer die Meister der Hydraulik waren und ihre Fachkenntnisse bei Entwässerungs- und Neulandgewinnungsprojekten von den englischen Fenlands bis zur Unteren Weichsel einsetzten, waren die Deutschen im 18. Jahrhundert die Pioniere der ›rational‹ betriebenen Forstwissenschaft und exportierten ihr Fachwissen in die ganze Welt. Und doch war Deutschland gleichzeitig auch das Land, das im 19. Jahrhundert und später noch die ›rational‹ betriebene Forstwissenschaft in Frage stellte. Ich beziehe mich auf die Lehre vom Dauerwald, also auf einen Begriff, den wir aus ökologischen Gründen befürworten, auch wenn er damals stark mit weniger erfreulichen völkischen Gesichtspunkten belastet war.11 Die Geschichte des deutschen Verhältnisses zum Wald hat in unserer Zeit ein bedeutendes Nachspiel: Wenige Streitfragen haben die deutschen Umweltschützer in den 1980er Jahren so erfolgreich mobilisiert wie der Schlachtruf »Waldsterben« – denn das Sterben des Waldes hing ja mit dem sauren Regen zusammen. Allerdings waren, wie Franz-Joseph Brüggemeier gezeigt hat, die Behauptungen über den sterbenden Wald in mancher Beziehung irreführend. Forscher haben bewiesen, dass die Bäume in Europa einschließlich Deutschlands in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts schneller als je wuchsen. Zwischen 1950 und 1990 nahmen die bewaldeten Flächen in Europa um 43 Prozent zu. Der stärkste Zuwachs wurde teilweise in Deutschland erzielt.12 Wie auch der an­ deutschen Kaiserreich. Frankfurt a. M. 2004; A.-K. Wöbse, Lina Hähnle und der Reichsbund für Vogelschutz. in: J. Radkau u. F. Uekötter (Hg.), Naturschutz und Nationalsozialismus. Frankfurt a. M., S. 309–328. 9 D. Blackbourn, Über allen Wipfeln ist Unruh. Der Wald: Ein wichtiger Umwelt- und Wirtschaftsfaktor  – aber auch ein Objekt der Sehnsucht. in: Das Parlament, Jg. 57, Nr.  48, 26.11.2007, S. 1. 10 B. Weyergraf, (Hg.), Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald, Berlin 1987; A. Lehmann, Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald, Reinbek bei Hamburg 1999; A. Lehmann u. K. Schriewer (Hg.), Der Wald – ein deutscher Mythos?, Berlin 2000. 11 M. Imort, A Sylvan People. Wilhelmine Forestry and the Forest as a Symbol of Germandom, in: Lekan u. Zeller (Hg.), Germany’s Nature, S. 55–80. 12 F.-J. Brüggemeier, Waldsterben. The Construction and Deconstruction of an Environmental Problem, in: C. Mauch (Hg.), Nature in German History. New York 2004, S. 119–131.

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gebliche Holzmangel des ausgehenden 18. Jahrhunderts, den Joachim Radkau überzeugend in Frage gestellt hat, erwies sich das Waldsterben als weitere Halbwahrheit.13 Hier darf ich anmerken, dass Brüggemeier und Radkau zu Deutschlands bedeutendsten Umwelthistorikern gehören und dass ihre »grünen« Sympathien außer Zweifel stehen. Was sie erreichten, war, dass sie eine einfache – zu stark vereinfachte  – Schilderung komplizierter gestalteten. Auf dieses Thema komme ich gleich noch einmal zurück. In meinem Buch ist nun von Verschmutzung, bedrohter Flora und dem Schicksal der Fauna vom Wolf und Biber bis zum Lachs und der bescheidenen Köcherfliege ebenso die Rede wie vom deutschen Wald. Ich entschloss mich aber, die deutsche Umweltgeschichte durch eine andere Brille zu betrachten. Mich interessierte hauptsächlich die Umformung der deutschen Feuchtgebiete – der Sümpfe und Moore, Bergbäche und Flusstäler im Tiefland. Darauf möchte ich mich ab hier in meinem Vortrag konzentrieren. Es ist immer problematisch, ein Thema zu diskutieren, über das man bereits ein dickes Buch veröffentlicht hat. Das erinnert mich an einen der weniger bekannten Sketche von Monty Python, den Wettbewerb »Zusammenfassung von Proust«, bei dem die Teilnehmenden innerhalb einer Minute A la Recherche du Temps Perdu zusammenfassen mussten (was sie hauptsächlich durch sehr schnelles Sprechen erzielten). Lassen Sie mich (sehr schnell) hinzufügen, dass ich keineswegs beabsichtige, mich mit Proust zu vergleichen. Allerdings will ich Ihnen auch keine Zusammenfassung meines Buches anbieten. Ich möchte aber die bereits erwähnten drei Schlüsselthemen aus ihm herausgreifen. Ich darf Sie also bitten, sich einen Deutschen des zwanzigsten Jahrhunderts vorzustellen, der in das Jahr 1750 zurückversetzt wird. Viele Aspekte der Landschaft hätten damals völlig anders ausgesehen. Viel weniger Land war bebaut, viel mehr davon von Sand oder Gestrüpp und vor allem von Wasser beherrscht. Der moderne Besucher hätte nicht weit zu gehen, bis er auf zahlreiche, inzwischen längst ausgetrocknete und vergessene Teiche und Seen stoßen würde oder auf Sümpfe, die im 18. Jahrhundert von Deutschen mit den Feuchtgebieten der Neuen Welt – sogar mit Amazonien – verglichen wurden. Solche Sümpfe, wie zum Beispiel der Oderbruch, waren mit ihren engen Wasserläufen und darüber hängenden Schlingpflanzen die Heimat von Stechmücken, Fröschen, Fischen, Wildschweinen und Wölfen. Sie sahen nicht nur anders aus, sondern rochen und klangen ganz anders als die offene Landschaft von Kanälen und Feldern – die holländische Landschaft  – mit der die heutigen Bewohner der norddeutschen Ebene vertraut sind.14 Auch die Stromtäler sind verändert worden – das Rhein- und Elbetal ebenso wie das der Oder. Ganz anders als die moderne Wasserverkehrsstraße, die so 13 J. Radkau, Zur angeblichen Energiekrise des 18. Jahrhunderts. Revisionistische Betrachtungen über die »Holznot«, in: Vierteljahrshefte für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 73, 1986, S. 1–37. 14 Blackbourn, Eroberung, Kap. 1.

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konstruiert ist, dass sie in einem einzigen Bett zwischen ihren begradigten Uferdämmen rasch dahinfließt, schlängelte sich der Strom des 18.  Jahrhunderts durch seinen Überschwemmungsbereich oder zog durch Hunderte von Einzelrinnen dahin, die durch Inseln und Sand- oder Kiesbänke voneinander getrennt waren – ideale Laichplätze für die Fische. Auch die bedeutendsten Ströme flossen je nach Jahreszeit rasch oder langsam, also nicht in dem gleichmäßigen Tempo, das dem heutigen Schiffsverkehr gemäß wäre. Vielfach wurde das Flussufer von dichten Auenwäldern begleitet. So hätte sich der Rhein dem Auge unseres modernen Zeitreisenden dargeboten – der Fluss, in dem Goethe Lachs fischte und in dem Hunderte von Menschen Gold wuschen. Der Rhein, der im 19. Jahrhundert schließlich zum höchsten Symbol des deutschen Selbstbewusstseins wurde, war ein neuer und völlig anderer Fluss.15 Unser in das 18. Jahrhundert zurückkehrende Reisende würde noch viele andere Dinge vorfinden, die seither verschwunden sind. Sich weit erstreckende Hochmoore, die in Tausenden von Jahren entstanden waren, waren fast völlig unberührt. Wie ein protestantischer Pfarrer schrieb, waren sie »entweder ganz unzugänglich oder doch schwer und gefährlich zu betreten«.16 Außerdem hätte der moderne Besucher im Bergland der Eifel, im Sauerland und im Harz im 18. Jahrhundert immer noch durch Hunderte von Tälern wandern können, die heute ebenfalls verschwunden sind. Diese Täler ertranken später hinter Stauwehren. Ihre Dörfer und Felder waren noch nicht vom Wasser bedeckt – so wie die unter Wasser stehenden Hochmoore noch nicht von Feldern und Dörfern bedeckt waren. Soeben habe ich eine Reihe von dramatischen Verwandlungen beschrieben, die durch Deutsche an ihrer Landschaft vorgenommen wurden. Sie wurden in der Regel als »Sieg« über die Gewalt der Natur oder als deren »Eroberung« gepriesen. Die Oder war »in Fesseln geschlagen«, schrieb Carl Heuer.17 Otto Intze, der Pionier des modernen Staudammbaus in Deutschland, schrieb 1902, »es muss doch bei den große Wassermassen führenden Flussläufen an geeigneten Stellen dem Wasser ein Kampfplatz so geboten werden, dass der Mensch Sieger bleibt.«18 Im Lauf der Zeit verschob sich der Ton vom gelassenen Optimismus der Aufklärung zum überzeugten Glauben des 19. Jahrhunderts an Wissenschaft und Fortschritt und zu den technokratischen Gewissheiten, die im ersten und zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts vorherrschten. Dem zugrunde lag die Vorstellung, es sei besser, die Natur zu bekämpfen als die Mitmenschen. Das erinnert uns daran, dass die »Eroberung« der Natur im überwiegenden Teil der letzten 250 Jahre ein Anliegen war, das mit dem Optimismus der fort15 Ebd., Kap. 2. 16 Etwas von der Teich-Arbeit, vom nützlichen Gebrauch des Torff-Moores, von Verbesserung der Wege aus bewährter Erfahrung mitgetheilet von Johann Wilhelm Hönert, Bremen 1772, S. 82 f. 17 W. Christiani, Das Oderbruch, Freienwalde 1901, Gedicht auf den unpaginierten Seiten am Ende des Buchs. 18 O. Intze, Ueber Talsperren, in: Zeitschrift für Gewässerkunde, Bd. 4, 1902, S. 253.

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schrittlichen Meinung  – »Schwerter zu Pflugscharen«  – Hand in Hand ging, eine Einstellung, die in der Deutschen Demokratischen Republik praktisch bis zu deren Ende noch lebendig blieb. Selbstverständlich forderte aber diese Politik nicht nur enorme Umweltkosten. Es war auch illusorisch, anzunehmen, dass diese »Siege« über die Natur eine Art friedlichen Triumphs für die Menschheit ganz allgemein bedeuteten. Betrachtet man diese Veränderungen näher – die Trockenlegung der Sümpfe, die Begradigung der Flussläufe, den Bau von Stauwerken – dann könnte man sie treffend als eine Reihe von »Wasserkriegen« bezeichnen, in denen manche Deutsche in Konflikt mit anderen gerieten. Ein Stauwerkfachmann drückte dies Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts so aus: »Mit der Herrschaft über das Wasser war auch die Gelegenheit des Streits über dasselbe gegeben.«19 Wasser dient dem Menschen auf vielerlei Weise. Schon allein die Flüsse sind eine mögliche Quelle für Trinkwasser sowie Wasch- und Badewasser. Sie dienen der Bewässerung der Felder und liefern mit ihren Fischen unmittelbare Nahrungsenergie. Sie treiben Wasserräder an, sind für eine Vielzahl industrieller Anwendungen unentbehrlich und stellen einen Transportweg dar. Viele Freizeitmöglichkeiten kommen noch dazu. Jede größere Umgestaltung der deutschen Hydrologie in den letzten zwei Jahrhunderten säte Zwietracht zwischen den rivalisierenden Benutzern, während Flüsse und Feuchtgebiete umgestaltet wurden, um neuen Interessen zu dienen. Anfänglich entstand ein Konflikt zwischen Fischern oder Jägern und den Bauern. Später standen sich landwirtschaftliche und industrielle Interessen gegenüber. Und noch später gerieten die mächtigen Industrieinteressen untereinander in Konflikt: Die Binnenschifffahrt zum Beispiel wollte, dass die Stauwehre für ausgeglichenen Wasserstand sorgen, während die Energiekonzerne wollten, dass die Stauwehre der Erzeugung von Wasserkraft dienen. Wasserkraft wiederum war ein Problem, das in Deutschland soziale und politische Differenzen zwischen dem an Kohle reichen Norden und dem nur spärlich mit Kohle begüterten Süden bloßlegte. Quer über all diese Konflikte hinweg gab es in der Regel einen Zusammenstoß zwischen den lokalen oder bescheideneren Ansprüchen und den großen Interessen; die schweren Bataillone gewannen dabei fast immer die Oberhand. Der Staat spielte eine große Vermittlerrolle. Manchmal war er auch der Initiator des Geschehens. In reichlich vielen Fällen, besonders im 18.  und 19.  Jahrhundert, bedurfte es zur Durchsetzung von Veränderungen der offenkundigen Macht des Staates. (Ich denke dabei an die Trockenlegung des Oderbruchs oder an die frühen »Rektifizierungen« am Oberrhein.) Spätere Konflikte wurden dann durch Änderungen im Wasserrecht gelöst. Mit anderen Worten: Sie können bei Betrachtung der Art und Weise, wie Deutsche ihre Landschaften veränderten, deutlich sehen, wo die Machtgrenzen verliefen. Die Herrschaft über die Natur sagt uns viel über die Natur der Herrschaft. 19 P. Ziegler, Der Talsperrenbau, Berlin 1911, S. 5.

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Das, was ich eben als »Wasserkriege« bezeichnet habe, fand nicht nur im Inland statt. Genau wie die heutigen Wasserkriege im Nahen Osten und andernorts, erstreckten auch sie sich über die Grenzen Deutschlands hinaus. Die Veränderung der deutschen Hydrosphäre war oft das Nebenprodukt oder der Handlanger tatsächlicher Kriege. Einer der Zwecke des Trockenlegungsprojekts Friedrichs des Großen in Preußen war die Beseitigung von versteckten Unterschlüpfen, die Heeresdeserteure ebenso beherbergen konnten wie Wölfe; es war durchaus angebracht, dass Soldaten häufig bei diesen Projekten eine zentrale Rolle spielten. Manche davon spielten sich in Gebieten wie zum Beispiel Westpreußen ab, das der expandierende preußische Staat eben erst erworben hatte. Das sechzig Jahre währende Projekt der Rektifizierung des Laufes des Oberrheins  – von einem weiteren Heeresingenieur konzipiert, nämlich dem Badener Johann Tulla – war nur deshalb möglich, weil die französischen Armeen die Landkarte von Europa durch Vernichtung des Heiligen Römischen Reichs vereinfacht hatten. Wiederum war die Trockenlegung der Hochmoore im 19. und 20. Jahrhundert in mindestens zwei Hinsichten mit militärischen Auseinandersetzungen verbunden. Die Arbeiten wurden zum Teil von Kriegsgefangenen des Kriegs zwischen Preußen und Frankreich und des Ersten Weltkriegs ausgeführt. Dazu kommt, dass das Tempo der Landgewinnung in den Moorgebieten nach 1918 zunahm, denn die Deutschen begannen sich nach dem Vertrag von Versailles als »Volk ohne Raum« zu betrachten, so dass jeder landwirtschaftlich bebaute Hektar zählte. Das nationalsozialistische Regime beschleunigte die Veränderungen weiter, und zwar durch vom Reichsarbeitsdienst unternommene Großprojekte – um sich im Rahmen der Vorbereitung auf den nächsten Krieg möglichst weitgehend selbst mit Lebensmitteln versorgen zu können. Nach 1939 und der Besetzung Osteuropas durch die deutsche Wehrmacht plante der NS-Staat groß angelegte hydrologische Projekte. Sie stellten eine Kombination von technokratischer Hybris und rassistischer Verachtung der slawischen Völker dar, deren »verwahrlostes« Land beschlagnahmt worden war. Wohl das größenwahnsinnigste, 1941 von den Planern im Generalgouvernement des besetzten Polens vorgeschlagene Projekt hätte jüdische und slawische Zwangsarbeiter dazu eingesetzt, die (im heutigen Weißrussland gelegenen) Pripjat-Sümpfe, Europas größtes Feuchtgebiet, trockenzulegen.20 Die wenigen, weit verstreuten einheimischen Bewohner sollten vertrieben und an ihrer Stelle Deutsche und Holländer angesiedelt werden. Dieser Plan wurde nie ausgeführt. Wichtig ist dabei, dass in den Köpfen der Nationalsozialisten Rasse, Landgewinnung und Völkermord miteinander verschmolzen, und das vom Weichseltal bis nach Weißrussland und in die Ukraine. Gleichzeitig behaupteten aber dieselben Beamten, die derartige Pläne befürworteten, auch, dass die Deutschen nicht nur »Landschaftsgestalter«, sondern ebenfalls »Landschaftspfleger« seien. Zum Beispiel äußerte Erhard Mäding, die Deutschen hätten in der Vergangen20 Blackbourn, Eroberung, Kap. 5.

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heit die »Wasserwildnis der Brüche« gezähmt, das aber stets »in einem harmonischen Verhältnis zum natürlichen Leben in der Landschaft« getan.21 Dies konfrontiert uns mit einer bedeutenden Frage: Hat das Dritte Reich nicht neben seinen Verbrechen an der Menschheit auch eine deutlich »grüne« Einstellung demonstriert, die auf eine konservative Kritik der modernen Gesellschaft im 19. Jahrhundert zurückging? Das ist es immerhin, was Autoren wie Anna Bramwell und Simon Schama behauptet haben, wobei sie auf Gestalten wie Walther Darré, den Reichsbauernführer und Fürsprecher der biologischen Landwirtschaft hinwiesen.22 Dann war da auch noch Alwin Seifert, der 1936 vor einer »Versteppung« Deutschlands als Folge des durch hydrologische Maßnahmen in gefährlicher Weise gesunkenen Grundwasserspiegels warnte.23 Solche Argumente über die »grünen« Nationalsozialisten haben manchmal dem Versuch gedient, die heutigen deutschen Grünen zu diskreditieren. Es gibt dafür sogar ein Schlagwort: das »Avocado-Syndrom« – Menschen also, die zwar außen grün sind, aber einen »braunen« Kern haben.24 Fragen dieser Art veranlassten den damaligen Minister für Umweltfragen, Jürgen Trittin, einen Kongress zum Thema »Naturschutz und Nationalismus« vorzuschlagen.25 Dieser fand im Juli 2002 in Berlin statt, und ich gehörte zu den Rednern. Schon vorher, aber besonders danach, ist eine ganze Bibliothek voller Bücher zu der Frage »grün und braun« entstanden.26 Wie steht es also damit? Ohne Zweifel gab es ideologische Gemeinsamkeiten zwischen deutschen Naturschützern und den Nationalsozialisten. Beide lehnten den liberalen Kapitalismus, die Landschaft verunstaltende Reklameschilder und das Anpflanzen »nicht-beheimateter« Arten ab. Beide teilten auch einen rassisch-biologischen Diskurs über ein angeblich in seinem »gesunden« Heimatboden verwurzeltes deutsches Volk. Ein führender Naturschützer, Paul Schultze-Naumburg, wurde 1932 als Mitglied der NSDAP in den Reichstag gewählt. Andere, wie z. B. Walter Schoenichen, begrüßten die Machtergreifung. Sie hatten einigen Grund für ihr Vertrauen, wenn man bedenkt, dass prominente Nationalsozialisten über die Erhaltung der Waldungen und über Tierschutz sprachen und dass Wirtschaftstheoretiker der Partei Interesse an Wind- und Solarenergie zeigten. 21 E. Mäding, Die Gestaltung der Landschaft als Hoheitsrecht und Hoheitspflicht, in: Neues Bauerntum, Bd. 35, 1943, S. 23 f. 22 A. Bramwell, Blood and Soil. Richard Walther Darre und Hitler’s »Green Party«, Abbotsbrook 1985; S.  Schama, Der Traum von der Wildnis. Natur und Imagination, München 1995, S. 84–87, 135–137. 23 A. Seifert, Die Versteppung Deutschlands, in: Deutsche Technik, Bd. 4, 1936, wiederabgedr. in: F. Todt, (Hg.), Die Versteppung Deutschlands?, Berlin 1938, später in Seiferts eigener Aufsatzsammlung Im Zeitalter des Lebendigen, Dresden 1941. 24 A. Lorenz u. L. Trepl, Das Avocado-Sydrom, in: Politische Ökologie, Bd. 11, 1993–94, S. 17– 24. 25 Siehe Radkau u. Uekötter (Hg.), Naturschutz und Nationalsozialismus. 26 Siehe z. B. F.-J. Brüggemeier u. a. (Hg.), How Green Were the Nazis? Nature, Environment, and Nation in the Third Reich, Athens OH, 2005; F. Uekötter, The Green and the Brown, Cambridge 2006.

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In der Tat wurde 1935 das Reichsnaturschutzgesetz verabschiedet. Es blieb noch lange Zeit die gesetzliche Grundlage für den Naturschutz in beiden deutschen Nachkriegsstaaten. Aber – selbstverständlich gibt es ein »Aber«: Die Reichsstelle für Naturschutz litt an Personalmangel und mangelnder Vollstreckungsautorität; sie war außerdem nicht in der Lage, Einbrüche in naturgeschützte Gebiete durch wirtschaftliche Interessen oder durch bürokratische Planung zu verhindern. Denken wir zum Beispiel an den Weustenteich in Nordwestdeutschland. Als an Vogelarten reiches Feuchtgebiet wurde er 1936 unter Naturschutz gestellt. Bereits 1943 hatte der Erdgassektor ihn vollkommen zerstört.27 Wasserkraftprojekte wurden fortgesetzt und Autobahnen gebaut, wobei der »Schutz« in der Regel nichts weiter als eine ästhetische Zugabe war. Umweltfragen (wie z. B. Hitlers persönliche Sorge um das Verschwinden der Moorgebiete)  mussten nahezu immer vor Wirtschaftsplanungen zurückstehen, denn letztere sorgten für Lebensmittel und für den Kriegsbedarf. Besonders war dies nach 1936 der Fall, als nämlich derselbe Mann – Hermann Göring – dem als Reichsforstmeister der Schutz der Natur anvertraut worden war, außerdem Beauftragter für die Durchführung des Vierjahresplans wurde  – eine Doppelrolle, die als Musterbeispiel für Interessenkonflikte gelten kann. Es bestanden nie Zweifel darüber, welches Interesse Priorität hatte.28 Das Hitlerregime war, anders als Stalins, prinzipiell nicht der vollkommenen Unterwerfung der Natur verpflichtet. Trotzdem steckt erheblich weniger hinter dem nationalsozialistischen Naturschutz, als man vermuten könnte. Was den »braunen« Ursprung der Grünen in der Nachkriegszeit betrifft, so sind sich wohl die meisten Historiker darüber einig, dass eine echte Kontinuität zwischen dem Naturschutz im Dritten Reich und seinen politisch konservativen Fürsprechern in den Anfängen der Bundesrepublik vorliegt. Die von der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt (dem Umwelt-Willy) nach 1969 und von den späteren Grünen verfolgte Politik bedeutet jedoch eine prinzipielle Wendung: die Sache des Naturschutzes machte einen Linksruck und die Begriffe Ökologie sowie Umwelt nahmen eine dominierende Stellung darin ein. Erlauben Sie mir jetzt, ein Wort über die diversen Gedankengänge der Naturschützer zu sagen, ehe ich mich dem zuwende, was man als die Bilanz deutscher Eingriffe in die Natur im Verlauf der letzten 250 Jahre bezeichnen könnte. Seit der ausgehenden Zeit der Aufklärung und der Romantik zogen die deutschen Bemühungen um die »Eroberung« der Natur Kritik auf sich. Ich möchte vier Hauptrichtungen solcher Argumente unterscheiden, wenn es freilich dabei auch Überschneidungen gibt. Die erste Kritik beruht auf der Religion und lautet, dass die Menschheit der göttlichen Schöpfung als Verwalter dienen solle. Beunruhigt durch die Trockenlegung der Moore und ihre Auswirkungen, schrieb der Bayer Franz von Kobell 1854, die Menschen seien bereit, die Vogel27 F. Hamm, Naturkundliche Chronik Nordwestdeutschlands, Hannover 1976, S. 232. 28 Siehe Blackbourn, Eroberung, Kap. 5.

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arten in den Mooren auszurotten, »als hätten sie das Recht, Schöpfungsverbesserer zu sein.«29 Auch noch ein Jahrhundert später, zu Beginn der Bundesrepublik, konnte man diese Aussage häufig von Naturschützern hören. Zweitens haben Kritiker des menschlichen Eindringens in die Natur die ästhetischen Verluste (Zerstörung »malerischer« Täler) hervorgehoben  – ein Schwerpunkt der Argumente der Naturschützer in der gesamten Neuzeit und immer noch eine wirkungsvolle politische Mobilisierungswaffe. Drittens gibt es das, was wir heute das »Vorsorgeprinzip« nennen, wenn auch das Argument selbst weit länger existiert als diese Bezeichnung. So wurden zum Beispiel vor 200 Jahren in Preußen und den Niederlanden Stimmen laut, die warnten, dass die Begradigung des Oberrheins zu Überschwemmungen stromabwärts führen könnte.30 Schließlich und viertens sind es kritische Aussagen über die gegenseitige Abhängigkeit aller Aspekte der Natur. Diese waren im Grunde post-darwinischer Art. Es ist daher auch einleuchtend, dass die Bezeichnung »Ökologie« 1866 von einem der führenden Darwinisten, nämlich dem Physiologen Ernst Haeckel, geprägt wurde, der Ökologie als die Wissenschaft von dem Verhältnis eines Organismus zu seiner unmittelbaren Umgebung – seinen »Existenzbedingungen« – definierte.31 Wir sind die Erben all dieser Hinterfragungsansätze der menschlichen Hybris, wobei allerdings die Umwelthistoriker geneigt sein werden, sich mehr auf die letzteren beiden zu berufen. An diesem Punkt möchte ich eine schwierige Frage stellen: Sollten wir Historiker dieses Thema mit der vorgefassten Meinung angehen, dass die Eingriffe des Menschen in die Natur immer und unbedingt negativer Art waren? Oder – anders gefragt – bis zu welchem Grad sollten diejenigen von uns, deren eigene Sympathien »grün« sind, dies zur Strukturgrundlage unserer historischen Schriften erheben? Lassen Sie mich hier einige der Schwierigkeiten nennen, denen ich beim Schreiben über die neuzeitliche Verwandlung der deutschen Wassergebiete begegnet bin. Man kann diese Geschichte auf zwei verschiedene Weisen erzählen. Ich will sie die optimistische und die pessimistische Version nennen – die eine im heroischen Pathos, die andere ein Sittenbild der gerechten Vergeltung. Die erste erzählt vom Fortschritt: Zunehmende Beherrschung der Natur durch den Menschen bedeutete Neuland und bessere Versorgung mit Lebensmitteln, Beseitigung von Malaria und lokalem Hochwasser, reichliche Trinkwasserversorgung sowie eine neue Energiequelle dank der Errichtung von Staudämmen. Bis vor einer Generation, als der Begriff der »Modernisierung« seinen Glanz zu verlieren begann, war dies das 29 F. von Kobell, Wildanger, München 1936, S. 10. 30 F. Andre, Bemerkungen über die Rectification der Oberrheins und die Schilderung der furchtbaren Folgen, welche dieses Unternehmen für die Bewohner des Mittel- und Niederrheins nach sich ziehen wird, Hanau 1828, S. iv; C. Bernhardt, Zeitgenössische Kontroversen über die Umweltfolgen der Oberrheinkorrektion im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Jg. 146, 1998, S. 299–311. 31 G. Zirnstein, Ökologie und Umwelt in der Geschichte, Marburg 1994, S. 143–146.

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zuversichtliche Register, in dem die Geschichte in der Regel dargestellt wurde. It’s getting better all the time haben die Beatles 1967 gesungen und die meisten Historiker hätten mitgesungen. Nur wenige würden das heute tun. Wir sind uns der dunklen Seite menschlicher Beherrschung weit stärker bewusst. Der »Sieg« über das Wasser hatte zahlreiche nachteilige Folgen  – verschmutzte Flüsse, anfällige Monokulturen auf Neuland, die umweltfeindliche Gewohnheit des unkontrollierten Wasserverbrauchs. Viele dieser Folgen waren unbeabsichtigt. Wenn Sie zum Beispiel die Geschwindigkeit eines Flusses vergrößern, diesen Fluss in ein schmaleres Bett zwängen und Menschen in seinem Überschwemmungsbereich ansiedeln, haben Sie örtlich begrenztes regelmäßiges Hochwasser gegen weniger häufige, dafür aber wesentlich schädlichere Überschwemmungen eingetauscht, wie uns mehrere »Jahrhundertüberschwemmungen« an Rhein, Elbe und Oder in den letzten 25 Jahren gezeigt haben. Zahlreiche weitere unerwünschte Umweltkonsequenzen folgten der neuzeitlichen hydrologischen Revolution in Deutschland: Niedrigere Grundwasserspiegel, weitverbreitete Verluste an Feuchtgebieten und Arten, erhebliche Zersplitterung des Habitats, unwiderrufliche Veränderungen der Art, die von Ökologen so reizend als »Humpty-Dumpty-Effekt« bezeichnet wird. Warum finde ich »pessimistische« Darstellungen dennoch inadäquat? Lassen Sie mich sofort sagen, dass es nicht mein Ziel ist, eine naiv »ausgeglichene« Darstellung anzubieten – wie zum Beispiel die unberechtigte »Balance« in den Debatten um den globalen Klimawandel. Es gibt keine ernstzunehmende Debatte über die Gefahren des globalen Klimawandels, so wie es auch keine ernstzunehmenden Zweifel an dem zunehmenden Tempo des Aussterbens von Arten oder an der enormen Bedrohung des Süßwasservorrates auf der Welt gibt. Und doch weisen uns diese Beispiele wiederum auf die Frage des Ausmaßes hin. Nichts in der hydrologischen Revolution Deutschlands ist dem Ausmaß der Katastrophen vergleichbar, die durch manche hohen Staudammprojekte in der Dritten Welt hervorgerufen wurden, oder durch das enorme sowjetische Bewässerungsprojekt entstanden sind, das den Aralsee zerstört hat. Auch aus anderen Gründen muss ich meinen Pessimismus qualifizieren. Dazu gehört zum einen, dass uns der Beweis der durch hydrologische Einrichtungen in Deutschland verursachte Schaden nicht blind machen sollte gegenüber den echten Fortschritten an menschlichem Wohlergehen, die ebenfalls ihre Folge waren. Zweitens sollten wir bei der Feststellung nicht mehr rückgängig zu machender Veränderungen nicht ignorieren, dass andere Veränderungen durchaus rückgängig gemacht werden konnten und in der Tat in den letzten Jahrzehnten rückgängig gemacht worden sind. Die deutschen Flüsse sind heute weit sauberer als in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Die gegenwärtige Politik bezüglich der Hochwasserregulierung sowohl in Deutschland als auch in der EU lehnt gleichzeitig das immer stärkere Einzwängen der Flussläufe ab. Jetzt heißt die Parole, dass, wo immer möglich, die Deiche zurückversetzt wer217

den, um Retentionsbecken entlang des Überschwemmungsbereichs entweder zu schaffen oder wiederherzustellen. Diese »Renaturierung«, wie das genannt wird, bringt ihre eigene Problematik mit sich. Und doch beweisen derartige taktische Veränderungen, was die öffentliche Meinung und der politische Willen zu erreichen vermögen. Drittens haben sich manche unbeabsichtigten Ergebnisse menschlicher Interventionen paradoxerweise als nutzbringend erwiesen, wie zum Beispiel die Stauseen, die zu Schlüsselstandorten auf den Flugrouten der Zugvögel wurden und heute selbst als wertvolle Ökosysteme verwaltet werden. Dazu noch ein weiteres Beispiel ähnlicher Art.  Deutsche Naturschützer der 1920er und 1930er Jahre kritisierten häufig ein Rieselfeld am Nordrand der Stadt Münster. Erst eine spätere Generation von Umweltschützern erkannte, dass auf Grund der Einbuße der Feuchtgebiete diese Anlage begann, Vögel in großer Zahl anzuziehen, denen ihre »unnatürliche« Entstehung gleichgültig war. Um 1970 traten die Umweltschützer dann auf den Plan, um das an Vögeln so reiche Rieselfeld gegen Vorschläge über den Bau eines Atomkraftwerks an dieser Stelle zu verteidigen.32 Statt nun einfach die alten Heldensagen vom Fortschritt der Menschheit auf den Kopf zu stellen, was die Pessimisten in der Regel tun, glaube ich – mit dem amerikanischen Historiker Richard White33  –, dass man die Umweltgeschichte nur mit einem Sinn für Ironie schreiben kann. Eine zentrale Ironie ist diese: Was die Naturschützer zu jedem Zeitpunkt erhalten wollten (und immer noch wollen), war (und ist) eigentlich der jeweilige Status quo an einer beliebigen Stelle zwischen einer Serie menschlicher Interventionen und einer anderen – dem Restbestand des »Fortschritts« von gestern, und zwar nachdem er die Patina der »Natürlichkeit« angenommen hat. Hierzu ein Beispiel: Seit der Wiedervereinigung Deutschlands dient die »Natürlichkeit« des Oderbruchs östlich von Berlin als Anreiz. »Die Natur ist noch intakt«, steht in einer Sammlung von Fotografien. Das Gebiet sei »ein einmaliges Naturparadies«, behauptet ein einheimischer Schriftsteller.34 Das ist jedoch schlicht unwahr. Jede Touristikbroschüre schwärmt von dem schönen gelben Teppich von Adonisröschen, die jedes Jahr im Frühling das Gebiet bedecken, verschweigt aber, dass das Adonisröschen eine eurasische Einbürgerung darstellt. Die »Natur« im heutigen Oderbruch ist das, was Menschen aus ihm gemacht haben. Naturschützer haben allzu oft ein unrealistische Bild von der Vergangenheit gemalt und sie mit makellosen Eigenschaften versehen, die seit langem von sich wandelnder Nutzung durch die Menschen gezeichnet waren. Unbewusst tat dies vor einem Jahrhundert der Moormaler Otto Modersohn, der in seinem Tagebuch bekannte, »die Natur ist 32 Uekötter, The Green and the Brown, S. 174 f. 33 Siehe R. White, The Natures of Nature Writing, in: Raritan, Fall 2002, S. 145–161; und The Organic Machine. The Remaking of the Columbia River, New York 1995. 34 Das Oderbruch. Bilder einer Region, o. O. 1992, S.  5; E. Nippert, Das Oderbruch, Berlin 1995, S. 216.

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unsere Lehrerin«  – und dann hinzufügte, dieser ziemlich konventionelle Gedanke sei ihm »auf der Brücke, die dort über den Kanal führt« gekommen.35 Diese Betrachtung führt mich nun zu einem letzten Thema. In meinem Buch beziehe ich mich auf viel Quellenmaterial von Malern, Schriftstellern, Reisenden und anderen Beobachtern der Landschaft. Es war typisch für sie, wie Otto Modersohn, nach unten zu blicken – wenn auch in der Regel aus größerer Höhe als von der Brücke über den Kanal. Und so sehen die Leser einen Stich von Matthäus Merian, einen Blick aus der Vogelsperspektive auf den Oderbruch vor seiner Trockenlegung, gefolgt von den Beschreibungen späterer Beobachter, die auf das neu gewonnene Land hinabblickten und (nach den Worten von Ernst Breitkreutz) »einen großen und schönen Garten« oder (mit Theodor Fontane) eine Landschaft mit dem Eindruck des »Reichtums und beinahe holländischer Sauberkeit« sahen.36 Ich habe ähnliche Aussagen von Malern und Schriftstellern benutzt, die vor und nach seiner Begradigung auf den Oberlauf des Rheines hinunterschauten; und das Buch enthält ebenso Beschreibungen von Beobachtern, die voll Melancholie auf Täler blickten, die kurz darauf hinter Staudämmen ertrinken sollten, wie Schilderungen von Schriftstellern, die von dem neuen Gewässer verzaubert waren, das die gleichen Täler füllte – ein Genre, das als Talsperrenromantik bekannt wurde.37 Solche Panoramen wechseln sich mit Veduten ab, in denen die Erde an das Wasser stößt – das ist der Anblick, der sich den Fischern und Jägern, den Technikern und Bauarbeitern, den Landwirten und Botanikern bot. Diese beiden Perspektiven unterscheiden sich in mehr als nur der Blickhöhe. Sie drücken aus, dass die natürliche Landschaft in zwei verschiedenen Gestalten auftritt: Sie ist eine durch den Beobachter geschaffene Konstruktion; sie ist aber auch die materielle Realität von Stein, Erde, Vegetation, Schlamm und Wasser. Beide verdienen unsere Aufmerksamkeit. In der Neuzeit haben Deutsche ihre natürliche Landschaft zu Fundgruben für kulturelle und politische Inhalte umgemünzt – der Romantische Rhein, der Deutsche Rhein, Deutschland »ein einziger grüner Garten«, usw. Flüsse und Moore wurden zu Wahrzeichen menschlicher Hoffnungen und Ängste  – Eroberung und Verlust, Schönheit und Hässlichkeit, Eintracht und Zwietracht. In den letzten Jahren haben sich viele Historiker um die Vermessung derartiger geistiger Topografien bemüht, und mit gutem Grund. Sie sind nämlich Teil der Geschichte. Manchmal aber, wenn ich schon wieder einen Artikel über eine »imaginierte« oder »konstruierte« Landschaft lese, dann möchte ich am liebsten mit Gertrude Stein (die sich hier auf die Stadt Oakland bezog) klagen: There’s no there there – dort ist aber kein Dort.

35 H. Makowski u. B. Buderath, Die Natur dem Menschen untertan, München 1983, S. 226. 36 E. Breitkreutz, Das Oderbruch im Wandel der Zeit, Remscheid 1911, S.  126; T. Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 3 Bde., München 1992, Bd. 1, S. 560. 37 J. Pauli, Talsperrenromantik, in: Bergische Heimat, Bd. 4, 1930, S. 331 f.

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Ein ausgeprägter Ortssinn war früher einmal in Geschichtsbüchern herkömmlich. Das geschichtliche Terrain war nicht nur eine Metapher; man konnte es abschreiten, und viele Historiker taten das auch. Das traf im 19.  Jahrhundert zu – ehe die auf den Archiven fußende politische Geschichte Oberhand gewann. Unter dem Einfluss der Annales-Schule wurde es wieder aktuell. Jetzt, in unserem Zeitalter der virtuellen Realität, klingt es wieder ziemlich altmodisch. Ich glaube aber, dass wir gegenwärtig das Pendel wieder in Richtung einer stärker geografisch bedingten, materielleren Geschichte schwingen sehen  – und die Umweltgeschichte, die sich zwangsläufig auf die Arbeit von Kartografen, Botanikern und Ökologen stützt, stellt einen bedeutenden Aspekt dieser Tendenz dar. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir die kulturelle Dimension unserer Analyse zum alten Eisen werfen sollten. Es ist durchaus möglich, ja sogar wünschenswert, in unseren Darstellungen – wenn wir uns zum Beispiel für die Geschichte deutscher Moorgebiete seit dem 18. Jahrhundert interessieren – sowohl die berühmte Beschreibung des »schaurigen Moors« durch die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff als auch die Ergebnisse von Pollenanalyse und Moorarchäologie zu erwähnen. Es gibt wohl manchmal eine Spannung zwischen den beiden Vorstellungen; es ist aber eine produktive und illuminierende Spannung. Ich komme also wieder auf den Unterschied zwischen »Natur« (einer kulturbedingten Projektion menschlicher Vorstellungen) und »Natur an sich« (den Komplex der Lebensformen auf der Erde, einschließlich des Menschen) zurück und möchte zum Schluss feststellen, dass die gemeinsame Betrachtung der beiden zu besserer Geschichtsschreibung führt, als wenn sie getrennt vonein­ ander erforscht werden.

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10. Die Eroberung der Natur1 Landschaft kann vieles bedeuten. Das Wort bezeichnet die physische Realität von Stein, Boden, Vegetation und Wasser. Zugleich sind Landschaften jedoch Träger wirkmächtiger kultureller Bedeutungen. Die Menschen projizieren auf sie eine Vielzahl von häufig widersprüchlichen Qualitäten – Schönheit und Hässlichkeit, Überschuss und Knappheit, Harmonie und Disharmonie, das Triviale und das Erhabene. Diese Kulturkonstrukte oder mentalen Topographien fließen nicht selten in das ein, was der Kunsthistoriker Martin Warnke Politische Landschaft nannte.2 Dies ist offensichtlich in Bezeichnungen wie »der deutsche Wald« oder »der deutsche Rhein«. Doch es gilt auch in subtilerer Hinsicht. So assoziieren wir heute beispielsweise das Wort »grün« mit Umweltschutz oder Ökologie: Eine grüne Landschaft ist eine wünschenswerte Landschaft. Als jedoch die deutschen Schriftsteller des 19. und über weite Teile des 20.  Jahrhunderts vom »grünen Garten Deutschland« sprachen oder, wie der nationalsozialistische Landschaftsplaner Heinrich Wiepking-Jürgensmann, behaupteten, der deutsche Bauer »braucht ein grünes Dorf und hasst, weil er fürchtet, die Sandsteppe«3 stand eine eher völkische Bedeutung im Vordergrund. Die Komplexität der Landschaft lässt sich konzeptionell am besten erfassen, wenn wir eine spezifische Landschaft betrachten. Beginnen wir also im Oderbruch. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts war die Region, die sich westlich der Oder von Oderberg im Norden bis Lebus im Süden erstreckt, »eine Wildnis von Wasser und Morast«.4 Ein Stich von Matthäus Merian vermittelt uns einen guten Eindruck davon, wie der Oderbruch damals ausgesehen haben muss. Der Betrachter blickt von oben auf ein Labyrinth von Wasserwegen hinab, die sich durch die Tiefebene winden und dabei zahlreiche Inseln bilden. Die stilisierte, tendenziell romantisierende Darstellung Landschaft und die spezifische Perspektive  – die Betrachtung aus der Höhe  – lassen das Unterholz dichter erscheinen, als es in Wirklichkeit war. 1 Dieser Aufsatz wurde für den Begleitkatalog zu der Ausstellung »Wiederkehr der Landschaft« 2010 an der Akademie der Künste in Berlin verfasst. Erwähnt sei an dieser Stelle nur eine herausragende Arbeit zur Umwelt in Deutschland, die seither erschienen ist: F.-J. Brüggemeier, Schranken der Natur. Umwelt, Gesellschaft, Experimente 1750 bis heute, Essen 2014. 2 M. Warnke, Politische Landschaft. Zur Kunstgeschichte der Natur, München 1992. 3 H. Wiepking-Jürgensmann, Dorfbau und Landschaftsgestaltung, in: Neue Dorflandschaften. Gedanken und Pläne zum ländlichen Aufbau in den neuen Ostgebieten und im Altreich, Berlin 1943 4 M. Warnke, Politische Landschaft: zur Kunstgeschichte der Natur. München 1992.

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Wenn diese Darstellung einerseits romantisierend erscheint, so bleibt sie andererseits doch hinter der romantischen Legende zurück. Im Gegensatz zum Bild des alten Oderbruchs, das Theodor Fontane in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg 1861 zeichnete, handelte es sich nämlich in keiner Weise um einen Urwald. Wie die Kartographie belegt, gab es nur wenige dicht bewaldete Zonen. Offenes Marschland und Bassins, in denen überwiegend Wild­ gräser und Schilf wuchsen, wurden unterbrochen von unter Wasser stehenden Zonen mit Sträuchern und Baumbestand. Zwei Mal jährlich stand der Oderbruch drei bis vier Meter unter Wasser, einmal im Frühjahr nach der Schneeschmelze und dann erneut im Sommer, wenn Stürme und aus entfernten Höhenlagen abfließendes Regenwasser zusammentrafen und der Fluss anschwoll. Zwei Mal jährlich waren dann, wenn sich die Fluten zurückgezogen hatten, alte Passagen geschlossen und neue Nebenflüsse entstanden. Bereits die Ritter des Deutschen Ordens und die Zisterzienser bemühten sich um mehr Kontrolle im Oderbruch und um die Schaffung einer besser strukturierten Landschaft. Die Arbeiten an Deichen und Entwässerungssystemen setzten sich ab dem 16. Jahrhundert vor allem im Süden der Region unter der Herrschaft der Hohenzollern fort. Es gab jedoch kein systematisches Vorgehen. Erst zur Mitte des 18. Jahrhunderts  – als in einem ehrgeizigen Vorhaben über sechs Jahre hinweg ein neuer Oderkanal gebaut wurde – begann man entschlossen mit der Durchführung von Maßnahmen, die der Region ihr uns heute vertrautes, modernes Gesicht gaben: eine »holländische« Landschaft mit Deichen, Gräben, Windmühlen, Wiesen und Feldern. Die Maßnahmen im Oderbruch sind nur ein Beispiel dafür, wie man in Deutschland durch die Trockenlegung von Marschen und Sümpfen, die Begradigung von Flussläufen und den Bau von Dämmen in den Hochtälern Land zur Besiedlung schuf. Dabei war der Wandel an sich nicht neu. Das Innovative an den hydrologischen Projekten, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts realisiert wurden, waren ihre Dimensionen und ihre Auswirkungen. Sie veränderten die Landschaft ebenso, wie die uns vertrauteren Symbole der Moderne: Eisenbahnen, Autobahnen, Fabrikschornsteine und wachsende Städte. Die Triebkräfte des Wandels waren ökonomisch und politisch; Bei jedem Umbauprozess ging es auch um die Konkurrenz rivalisierender Ressourcen. Es entstanden Bruchpunkte, beispielsweise da, wo Feuchtland und Flusstäler neu gestaltet wurden, um einem neuen Zweck zu dienen: Die Trockenlegung des Oderbruchs erfolgte im Interesse der Landwirtschaft gegenüber der Jagd und Fischerei. Das gleiche galt für die Begradigung des Oberrheins im 19. Jahrhundert, in deren Folge 2.200 Inseln verschwanden und der Fluss zwischen Basel und Worms um ein Viertel kürzer wurde. Der Fluss, in dem Goethe Lachse geangelt hatte, mutierte zu dem biegungslosen, schnell fließenden Strom, den wir heute kennen. Bei späteren technischen Eingriffen, so bei den Staudammprojekten des 19. und 20. Jahrhunderts, konkurrierten die verschiedenen Interessen der Moderne: Industrie versus Landwirtschaft, Binnenschifffahrt versus Wasserkraft. Paul Ziegler, einer der führenden Staudammexperten in Deutschland, 222

erklärte bereits 1911: »Mit der Herrschaft über das Wasser ist auch die Gelegenheit des Streites um dasselbe gegeben.«5 Die Geschichte des Landschaftswandels in Deutschland dreht sich also nicht nur um Herrschaft im Max Weberschen Sinn, sondern, wie uns Ziegler erinnert, auch um die Herrschaft des Menschen über die Natur. Die Transformation der Landschaft reflektiert – und wird möglich durch – die Überzeugung, der Mensch habe das Recht, einzugreifen, wo die Natur sich weigert, ihre Fehler zu »reparieren« und eine natura lapsa zu »korrigieren«. Die Menschen jener Zeit rechtfertigten ihr Handeln mit der Bibel. Ihre Hybris fand in ihrem immer reicheren Wissen überdies zusätzliche Nahrung. Die Beherrschung der Natur hing von Landkarten, Schaubildern, Statistiken, Inventaren, wissenschaftlicher Theorie und der Expertise der Ingenieure ab. Der Schweizer Naturwissenschaftler Leonhard Euler wirkte als eine der Schlüsselfiguren bei der Planung der Umgestaltung des Oderbruchs. Sein Partner war Simon Leonhard Haerlem, der Ingenieur, der bereits die »Sanierung« des Warthebruchs und des Netzebruchs konzipiert hatte und nun den Masterplan für die Umleitung des Verlaufs der Oder erstellte. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts gab es einen Kader von Ingenieuren in Deutschland, die voneinander und von ihren Kollegen im Ausland lernten. Zu ihnen gehörte Johann Tulla, der als »Bändiger des wilden Rheins« Berühmtheit erlangte. 1809 legte er einen Plan für die umfassende Begradigung des Oberrheins vor und bot damit eine Antwort auf Fragen, die angesichts der seit 1740 zunehmend häufiger auftretenden Hochwasserprobleme immer drängender wurden. Der vielseitig begabte Tulla wurde 1770 in Baden geboren. Vom Staat subventionierte Reisen führten ihn nach Frankreich und Holland, wo er bei den fortschrittlichsten Hydraulikingenieuren seiner Zeit studierte. Mit großer Begeisterung las er die in Deutschland aufgelegten Schriften zum Ingenieurswesen, darunter die Praktische Anweisung zur Wasserbaukunst der Preußen David Gilly und Johann Albert Eytelwein, deren erster Band 1805 erschien. Gilly und Eytelwein waren nur zwei der zahlreichen Autoren, die sich mit »Technologie« befassten. Der Begriff selbst fand sich zum ersten Mal im Titel eines deutschen Buches aus dem Jahr 1777. Auf seinen Reisen begegnete Tulla anderen deutschen Ingenieuren, so auch Reinhard Woltmann, der selbst an einem Projekt zur Regulierung der Elbe arbeitete. Mit einem von einem Karlsruher Mechaniker erstellten Nachbau des Woltmann-Zählers war Tulla der erste, der jemals die Geschwindigkeit des Rheines maß. Diese Männer waren zuversichtlich, dass sie die Mittel und das Recht hätten, Landschaft im Interesse der Menschheit neu zu gestalten. Dieses Vertrauen wurde später in Organisationen wie dem 1856 gegründeten Verein deutscher Ingenieure institutionalisiert und gefördert durch zahlreiche populärwissenschaftliche Werke, die die Errungenschaften der Technik wie Heldentaten beschrieben. Die Metapher der Eroberung zieht sich durch die Beschreibungen der Maßnahmen, mit denen die Deutschen ihre Welt umgestalteten. Der Ton änderte 5 P. Ziegler, Der Talsperrenbau nebst Beschreibung ausgeführter Talsperren, Berlin 1911, S. 5.

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sich im Laufe der Jahre, vom fröhlichen Klang des aufgeklärten Optimismus im 18. Jahrhundert über den ernsthaften Glauben an Wissenschaft und Fortschritt im 19. Jahrhundert bis zur technokratischen Gewissheit, die das 20. Jahrhundert so nachhaltig geprägt hat. Unverändert jedoch blieb die Grundidee, dass die natürliche Welt ein Gegner sei, den es zu zähmen und zu unterwerfen gelte. Als Friedrich der Große in den 1750er Jahren auf den gerade trockengelegten Oderbruch blickte, sagte er: »Hier habe ich eine Provinz im Frieden erobert.«6 Seine Worte fanden ein Echo bei vielen, die die Errungenschaften dieser Zeit priesen. So schrieb der Deichhauptmann Carl Heuer im Revolutionsjahr 1848 ein langes Gedicht, das den Hohenzollernsieg über die Kräfte der Natur feierte. In einem der Verse heißt es: »Und das eroberte Gebiet, Einst Wildnis weit und breit, Trägt jetzt, soweit das Auge sieht, Zur herrlichen Provinz erblüht, Ein grünes Ährenkleid.«7

Auch in Tullas Schriften über den Rhein findet sich das Faustsche Thema der Rückgewinnung von Land zum Nutzen des Menschen und das Lob des meisterlichen menschlichen Könnens: »In der Regel,« so argumentierte er, »sollten in kultivirten Ländern die Bäche, Flüsse and Ströme, – Kanäle – seyn, und die Leitung der Gewässer in der Gewalt der Bewohner stehen.«8 Mit ähnlichen Worten beschrieb man die zahlreichen Projekte zur Flussregulierung und zur Trockenlegung, von denen im 19. Jahrhundert immer mehr realisiert wurden. Zu den expliziten und nachdrücklichsten Formulierungen zum Recht des Menschen, die Natur zu beherrschen, gehören die um 1900 vorgetragenen Argumente für den Bau von Talsperren. Einen Fluss stauen bedeutet »einer Gabe der Natur Fesseln an[zulegen], um sie unseren Zwecken dienstbar zu machen.«9 Ähnlich formuliert einer der Pioniere unter den deutschen Dammkonstrukteuren, der Ingenieur Otto Intze, anlässlich der Einweihung der mächtigen Marklissatalsperre in Schlesien: »[Es] muss doch bei den grosse Wassermassen führenden Flussläufen … an ge­ eigneten Stellen dem Wasser ein Kampfplatz so geboten werden, dass der Mensch Sieger bleibt. Dieser Kampfplatz der Naturkräfte soll in den grossen Sammelbecken geschaffen werden.«10

6 R. Koser, Geschichte Friedrichs des Grossen. Bd. 3, Darmstadt 1974, S. 97. 7 W. Christiani, Das Oderbruch. Historische Skizze, Freienwalde 1855, S. 68. 8 J. G. Tulla, Denkschrift. Die Rectification des Rheines. Karlsruhe 1822, S. 7. 9 Fischer-Reinau, »Die wirtschaftliche Ausnützung der Wasserkräfte.«, in: Bayerisches Industrie- und Gewerbeblatt, 1908, S. 103. 10 Bericht über Intzes Rede an der Marklissatalsperre. Ueber Talsperren, in: Zeitschrift für Gewässerkunde, Bd. 4. 1902, S. 253.

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Wir haben heute wenig Verständnis für die Hybris, die eine solche Sprache verrät, und hören mit Skepsis die begeisterten Schilderungen von den Chancen, die der Fortschritt bietet. Seit den 1970er Jahren begannen Politiker und die Öffentlichkeit wie auch Ingenieure und Techniker umzudenken. Die meisten Argumente für mehr Vorsicht und Bescheidenheit im Umgang mit der Natur sind jedoch ebenso alt wie die Behauptungen Tullas und Intzes. Kritik an menschlicher Arroganz wird in vielen Formen und Idiomen vorgebracht. Ein ganz praktischer Grund: die unbeabsichtigten Folgen. Was wäre, wenn derartige Eingriffe in die Natur mehr schadeten als nützten oder ihr Nutzen jedenfalls nicht überwöge? Tulla versprach, dass die Begradigung des Oberrheins künftige Überflutungen verhindern würde. Dies erwies sich nicht nur als falsch, sondern die grundlegenden Veränderungen der Fließgeschwindigkeit des Oberrheins erhöhte, wie Experten bereits in den 1820er Jahren gewarnt hatten, die Hochwassergefahr in den flussabwärts gelegenen Regionen.11 Die zeitgenössische Kritik entspricht dem Vorsorgeprinzip der Gegenwart. Ein zweiter Grund fand sich im Religiösen. War den einen der Mensch »als Krone der Schöpfung« die Rechtfertigung für die Herrschaft über die Natur, mahnten die anderen aus Glaubensüberzeugung, der Mensch habe die Pflicht, verantwortlich mit der Erde umzugehen. Dieser Gedanke findet sich im Übrigen bereits in den Klageliedern bei Novalis und anderen Romantikern und traf im zunehmend auf Bewahrung ausgerichteten Bewusstsein des 19.  Jahrhunderts auf großen Zuspruch. So sorgte sich der bayrische Mineraloge Franz von Kobell angesichts der Trockenlegung der Moore um die lokalen Vogelpopulationen und kritisierte 1854: »Die Menschen tun aber, als wäre die Welt allein für sie«. Sie löschten die Sumpfvögel aus, »als hätten sie das Recht, Schöpfungsverbesserer zu sein«.12 Karl Theodor Liebe, der vierzig Jahre lang das Leben der Vögel in seiner Heimat Thüringen aufzeichnete, stößt ins selbe Horn. 1878, das Jahr, in dem er den Deutschen Verein zum Schutz der Vogelwelt gründete, beklagte der Ornithologe, wie viele Arten in dieser Zeit bereits ausgelöscht oder vertrieben worden wären. Liebe war überzeugt, dass Pflanzen und Tiere nicht weniger geachtet werden dürften als der Mensch, denn sie wären, wie dieser, Gottes Geschöpfe. Die verbreitete Sorge angesichts aussterbender Vogelarten in Deutschland verweist auf einen weiteren wichtigen Aspekt der Kritik an menschlicher Hybris: die ökologische Perspektive. 1866 prägte Ernst Haeckel den Begriff »­ Oecologie«, die er als Beziehung eines Organismus zu seiner ihn umgebenden Umwelt definierte, also als ihre »Existenz-Bedingungen«13 Botaniker und Zoologen begannen, ebenso wie die Mitglieder der naturgeschichtlichen Gesellschaften, die 11 F. André, Bemerkungen über die Rektifikation des Oberrheins und die Schilderung der furchtbaren Folgen, welche dieses Unternehmen für die Bewohner der Mittel- und Niederrheins nach sich ziehen wird, Hanau 1828. 12 F. von Kobel, Wildanger, München 1936 [1854], S. 10. 13 G. Zirnstein, Ökologie und Umwelt in der Geschichte, Marburg 1994, S. 143–146.

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Folgen der trocken gelegten Feuchtgebiete, entwässerten Teiche und kanalisierten Flüsse mit Blick auf die komplexen Beziehungen der Arten untereinander zu hinterfragen. Carl Albert Weber äußerte sich alarmiert angesichts des mit dem Rückzug der Moore zu beobachteten Verschwindens von Moorhuhn und Brachvogel. Andere, die spezifische Habitate studierten, wie Karl Gayer (die Wälder), Friedrich Junge (den Dorfteich) oder August ­Thienemann (den See), wiesen nach, dass die Störung einer Spezies oder eines Teils eines Ökosystems mehrfach ansteckend auf andere Spezies oder Systeme wirkte. Der Rhein stand und steht – wenig überraschend – im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die von Tulla initiierte Transformation des Oberrheins und weitere Modifizierungen des Flusses – vollständige Begradigung, dichtere Besiedelung der Ufer, beginnende Industrialisierung und die Nutzung von Wasserkraft – haben sein Ökosystem grundlegend verändert. Der Zoologe Ragnar Kinzelbach stellte fest, dass sich die Fauna am Oberrhein in den 150 Jahren nach Tulla massiver gewandelt hatte als in den 10.000 Jahren zuvor. Für die Pflanzenwelt galt das gleiche. Das Verschwinden der dichten Auenwälder, die einst das Flussufer säumten, hat den Lebensraum für Flora und Fauna drastisch reduziert und zu einem Verlust an Artenvielfalt geführt, schrieb der große Naturforscher ­Robert Lauterborn schon vor einhundert Jahren. Lokale Botaniker wie der Pfälzer F. W. Schulz h ­ atten das bereits fünfzig Jahre zuvor registriert. Der Fluss selbst veränderte sich am stärksten durch das schneller fließende, kältere Wasser, das Zuschütten von Seitenarmen und das Verschwinden der Kiesbänke – alles Folgen der Maßnahmen Tullas, die die Brutstätten von Neunaugen, Meerforellen, Maifischen, Finten, Stören, Lachsen und anderen Wanderfischen zerstörten. Der Niedergang und das Verschwinden der Lachse aus dem Rhein hatte ökonomische und ökologische Folgen und war von kultureller Bedeutung. Wie das Verschwinden der Fischer, Vogelfänger und des Rheingolds – allesamt vertraute Elemente des Rheins in der Zeit vor Tulla und Themen zahlreicher Legenden und Märchen – weckte der Fortzug der Lachse die traurige Sehnsucht nach einer verlorenen Welt. Neben den bereits genannten Gründen für Skepsis angesichts der Folgen technologischer Eingriffe, empfand man auch Bedauern angesichts des ästhetischen Verlusts und des kulturellen Verfalls. Dies bringt uns zurück zum Thema Landschaft. Die Konstruktion eines völlig neuen Oberrheins in den ersten Jahrzehnten des 19.  Jahrhunderts überlagerte eine Entwicklung, die den Studenten der deutschen Geschichte wesentlich vertrauter ist: die Rheinromantik. Auf den ersten Blick betrachtet könnten die beiden Phänomene unterschiedlicher nicht sein. Zum einen Ingenieurskunst, Projekte, die materielle Verbesserungen bringen sollen, gründend in einem instrumentellen, zukunftsorientierten Naturverständnis. Auf der anderen Seite ein im Idealismus wurzelndes Kulturprojekt, basierend auf einem sentimentalen, vergangenheitsbezogenen Verständnis von Natur. Ich meine, dass Tullas Rhein und die Rheinromantik unterschiedliche Aspekte einer seit langem währenden Kontroverse über die Landschaft in Deutschland implizieren, die nicht frei von Ironie ist. 226

Tullas Rheinprojekt war nicht nur eine technologische oder materielle Leistung. Es repräsentierte auch ein Ideal. Tulla selbst malte das verführerische Bild von Vertrauen und Sicherheit, die die Menschen am Fluss genießen würden, wäre dieser erst einmal gebändigt: »Das Klima längs dem Rhein wird durch Verminderung der Wasserfläche auf beinahe ein Drittel, durch das Verschwinden der Sümpfe und die damit in Verhältnis stehende Verminderung der Nebel wärmer und angenehmer und die Luft reiner werden.«14

Die Ergebnisse seiner Arbeiten wurden nicht aus ästhetischen Gründen von allen abgelehnt. Zwar empfahlen Reiseführer, man solle sich südlich vom Mainz vom Rhein abwenden und den Odenwald besuchen, denn der Fluss sei ab hier langweilig, doch die Freunde der Oberrheinebene teilten diese Ansicht keineswegs. So schrieb August Becker Mitte des 19. Jahrhunderts, nachdem Tulla seine Magie entfaltet hatte, dass die Ebene »so fruchtbar und üppig grün, so überaus angebaut und kultiviert [ist], dass sie nur ein einziger grosser Garten dünkt.« Ein späterer Beobachter kommentierte wie folgt: »Wir fühlen die behäbige Fruchtbarkeit dieses Landes wie inneren Segen und freuen uns an den Farben des Vordergrundes, die kraftvoll und warm leuchten.«15 Das positive Bild der fruchtbaren, üppigen Landschaft war im 19.  Jahrhundert nicht neu. Ältere Generationen gebildeter Reisender aus Deutschland und anderen Ländern erschauerten angesichts der düsteren, übel riechenden Landschaften des Oderbruchs oder Warthebruchs und versuchten sich vorzustellen, um wie viel besser es dort aussähe, wenn das Land entwässert und verrottete Pflanzen entfernt würden und Sonnenlicht dorthin scheinen könnte. Nach den großen, friderizianischen Projekten des 18. Jahrhunderts feierte man das neue Land, das man der »Barbarei« abgerungen hatte. Pastor Rehfeld sprach in seiner Gedenkrede anlässlich des Todes eines der wichtigsten Agenten des Königs, Brenckenhoff, von »öden, verwüsteten Gegenden«, die zu »Gefilden der Freude und des Segens« wurden.16 Ernst Breitkreutz beschrieb den zurückgewonnenen Oderbruch enthusiastisch als »grünes Land im märkischen Sand«, »ein großer, schöner Garten«.17 Dieses moralisch aufgerüstete deutsche Landschaftsideal traf auf viel Resonanz in der modernen deutschen Geschichte. Als der Sozialreformer Frank Goerke 1915 versuchte, die Natur für den Krieg zu mobilisieren, war es

14 J. G. Tulla, Über die Rektifikation des Rheines. Von seinem Austritt aus der Schweiz bis zu seinem Eintritt in das Großherzogtum Hessen, Karlsruhe 1825, S. 52. 15 August Becker und Carl Philipp Spitzer: Zitiert nach W. Diehl, Poesie und Dichtung der Rheinebene, in: M. Geiger (Hg.), Der Rhein und die pfälzische Rheinebene, Landau 1991, S. 384. 16 Rehmann, Kleine Beiträge zur Charakteristik Brenkenhoffs, in: Schriften des Vereins für Geschichte der Neumark, Bd. 22, 1908, S. 115. 17 E. Breitkreutz, Das Oderbruch im Wandel der Zeit, Remscheid 1911, S. 116.

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der »grosse, grüne Garten Deutschland«, den er evozierte, um ein Bild von der Heimat zu vermitteln.18 Dies war jedoch nicht die deutsche Landschaft der Rheinromantiker, deren Passion den schroffen Felsen des Rheintals zwischen Bingen und Koblenz galt. Ebenso wie sie den Mond und das Geheimnisvolle Sonne und Transparenz vorzogen, war ihre ideale Landschaft wild, nicht pastoral, und sie sahen Schönheit in Orten, von denen sich andere mit Abscheu abgewandt hatten – Berge, Moore, die Meeresküste. In Deutschland, wie anderswo, wurde die Nähe zur ungezähmten Natur zu einem wichtigen Aspekt der Gefühlswelt der Moderne. Wilhelm Heinrich Riehl wählte starke Worte, als er 1854 in Land und Leute über die Notwendigkeit schrieb, »das Recht der Wildnis zu vertreten neben dem Rechte des Ackerlandes.«19 Riehls Plädoyer und seine Betonung der notwendigen Verteidigung der idiosynkratischen Vielfalt lokaler Landschaften gegenüber ihrer drohenden »geometrischen« Uniformität prägte die Aktivitäten der Heimatbewegungen und der Initiativen anderer Naturschützer, die in den 1880er Jahren aufkamen. Dieser Aspekt spielt auch in der modernen Umweltbewegung eine Rolle, wenngleich ökologische Argumente heute wesentlich wichtiger sind, als sie es bei den Naturschützern vor den 1970er Jahren waren. Natur in diesem Sinn ist, woran viele, vielleicht die meisten, denken, wenn sie sich mit der Wiederkehr der Landschaft befassen. Was jedoch ist eine Naturlandschaft? Der romantische Rhein ist es ein­deutig nicht. Er war von Anfang an ebenso ein menschliches Konstrukt wie der »große Garten« der Oberrheinebene in Tullas Ingenieursprojekt. Drama­tische Felsformationen und verfallene Burgen, ein sich windender Fluss und malerische Dörfer – alles fand Platz in einem tableau vivant. Natur, nett verpackt und leicht konsumierbar, da der Überbau mit Eisenbahnen und Dampfschiffen, Reisebüro und Baedeker den Besuchern – sicheren – Zugang zu den »Panoramen« des Rheintals bot. In den deutschen Sumpflandschaften sah es ein wenig anders aus. Das Problem der Definition einer Naturlandschaft illustriert ein Tagebucheintrag und ein Bild, beides aus dem Kreis der Maler aus Worpswede. So vertraute der große Freund der Moore, Otto Modersohn, seinem Tagebuch an: »Die Natur ist unsere Lehrerin«, und er ergänzte, dass dieser nicht besonders originelle Gedanke ihm gekommen sei »auf der Brücke, die dort über den Kanal führt«.20 Das Bild, das ich meine, ist Fritz Mackensens Holzschuhmacher im Teufelsmoor (1895). Auch Mackensen liebte das Moor. Das Bild verweist auf seine enge, emo­ tionale Bindung an diese Landschaft, zeigt jedoch gleichzeitig das Maß, in dem Menschen sie bereits mit geraden Linien durchzogen hatten – in Form des­ 18 Franz Goerke, Vorwort, in: W. Bölsche, Die Deutsche Landschaft in Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1915. 19 W. H. Riehl, Land und Leute, Stuttgart 1854, S. 62. 20 Zitiert nach H. Makowski u. B. Buderath, Die Natur dem Menschen untertan. Ökologie im Spiegel der Landschaftsmalerei, München 1983, S. 226.

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Kanals mit seinem Torfboot und der Straße in mittlerer Entfernung, die den Kanal kreuzt. Die Vertrautheit mit den bedrohten Feuchtgebieten ist den Botschaften zu verdanken, die von ihrem Ende kündeten. Je mehr Menschen im 19. Jahrhundert reisten, desto mehr suchten sie nach dem »Unverdorbenen« und desto mehr wurden sie selbst zum Teil des Wandels, den sie beklagten. Theodor Fontane fühlte sich durch die Lücher und Brücher der Mark Brandenburg angezogen. Melancholische Überlegungen zu ihnen finden sich in seinen Wanderungen an prominenter Stelle wieder: »Der Brieselang ist eine schwindende Macht, an Terrain verlierend wie an Charakter«21 schreibt er in einer typischen Passage. Dennoch nutzte Fontane die Eisenbahn und das Dampfschiff für seine Reisen, von denen er über verschwindende Ecken der Natur berichtete. Der Dichter war sich der Ironie bewusst. Die Moore, die der Nachwelt in den Arbeiten der Künstler aus Worpswede ebenso erhalten blieben wie der Brieselang und das Havelland, über die Fontane schrieb, sind durch menschliche Eingriffe fundamental geprägt worden. Riehl und seine Nachfolger erinnerten an die Rechte der Wildnis, doch wahre Wildnis gab es in Deutschland nicht. Es gab nur Kulturlandschaften, histo­rische Landschaften, die mehr oder weniger intensiv von Menschen zu unterschiedlichen Zwecken genutzt wurden. Künstler und Schriftsteller machten Schnappschüsse von Phasen in einem längeren Prozess des Übergangs. Ich begann mit dem Oderbruch, und dort will ich auch enden. Das Projekt zur Umwandlung der Landschaft im 18. Jahrhundert trug die Zeichen menschlicher Arroganz gegenüber der Natur. »Wer den Boden verbessert, wüst liegendes Land urbar macht und Sümpfe austrocknet, der macht Eroberungen von der Barbarei«,22 sagte Friedrich der Große. Die Rückgewinnung des Oderbruchs kostete viele Arbeiter beim Ausheben der Gräben und frühe Siedler das Leben oder ruinierte ihre Gesundheit und veränderte das Ökosystem der Region von Grund auf. Die Konsequenzen waren und sind kaum zu rechtfertigen: Ein dünn besiedeltes Gebiet, das unterhalb des Wasserspiegels eines Flusses liegt, der seine Existenz ständig bedroht und es 1997 fast gänzlich untergehen ließ. Nach über 250 Jahren ist diese neue Landschaft jedoch so neu nicht mehr und hat Anspruch auf bestimmte Rechte (um noch einmal auf Wilhelm Heinrich Riehls Begriff zurückzugreifen). Ich möchte gewiss nicht zur »Wildnis von Wasser und Morast« zurückkehren, so wie sie vor ihrer »Sanierung« waren, selbst wenn das möglich wäre. »Wildnis« ist ohnehin ein eminent menschliches und häufig irreführendes Konzept. Der Oderbruch spürte die Folgen menschlichen Handelns – Jagd, Fischerei, Weiden – lange, bevor er im 18. Jahrhundert »erobert« wurde. Rückgewinnung hieß, dass eine Form menschlicher Nutzung durch eine andere ersetzt wurde. Heute ist vieles von dem, was die Naturschützer bewahren wollen, im Oderbruch und anderswo, das Ergebnis frührerer Eingriffe des

21 T. Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2, München 1992, S. 101. 22 M. Beheim-Schwarzbach, Hohenzollernsche Kolonisationen, Leipzig 1874, S. 266.

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Menschen in die Landschaft, die mittlerweile ein wenig Patina angesetzt hat. Es ist keineswegs die unberührte Natur, wie manche sie sehen und präsentieren. Das heißt nicht, dass weniger Kritik angesichts der Hybris angebracht ist, die den Oderbruch zu dem gemacht hat, was er heute ist, oder dass wir weniger energisch nachhaltige, ökologische vernünftige Lebensweisen anstreben sollten. Doch wir müssen uns auch bewusst sein, dass Begriffe wie »Wildnis« nicht weniger mehrdeutig und komplex sind als die Idee der Landschaft.

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11. »Ins Bad reisen« Treffpunkte der mondänen Gesellschaft1

Im Sommer tummelten sich dort die gekrönten Häupter und gesellschaftlichen Eliten Europas. Das taten auch berühmte Künstler, virtuose Musiker, professionelle Glücksspieler und allerlei zwielichtige Gestalten. Das Aufeinandertreffen so vieler unterschiedlicher Welten beflügelte zweifelsohne die literarische Fantasie: Lermontow, Turgenjew, Dostojewski und Tschechow; Zola, Maupassant, Theodor Fontane und Thomas Mann – sie alle schrieben über diese Orte. Die Rede ist von den mondänen See- und Kurbädern. Im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert erfreuen sich diese Kurbäder erneut großer Beliebtheit, dieses Mal bei Verfassern prächtiger Bildbände und Redakteuren von Wochenendbeilagen namhafter Zeitungen.2 Das Interesse erinnert an die zeitlich etwas früher anzusetzende englische Schwärmerei für das Landhaus als Sehnsuchtsobjekt und Symbol einer vermeintlich besseren Vergangenheit. Doch warum sollte das Historiker kümmern? Weil sich bei dem Thema diverse Stränge der Geschichtsschreibung überschneiden: die anhaltende Debatte über die Beziehungen zwischen Adel und Bürgertum im Europa des 19. Jahrhunderts; die neuerdings wieder aktuelle Geschichte der hohen Politik und hö1 Ich möchte folgenden Personen für ihre Anmerkungen zu diesem Artikel danken: den Teilnehmern der Konferenz »Mechanics of Internationalism« am Deutschen Historischen Institut London sowie der Konferenz »Age of Hobsbawm« am Londoner Birkbeck College, den Mitgliedern des Princeton History Department Seminar und Deborah Cohen, die eine frühere Version dieses Artikels gelesen hat. Mein Interesse an Kurbädern wurde durch meine Arbeit an einem größeren Projekt geweckt, in dem ich mich mit dem Thema Deutschland und Wasser im 19.  Jahrhundert beschäftige. Für ihre großzügige Förderung dieses Projekts gilt mein Dank der John Simon Guggenheim Memorial Foundation, der Alexander von Humboldt-Stiftung und dem Clark Fund der Universität Harvard. Ich habe nach Möglichkeit versucht, die informelle, gesprochene Qualität des ursprünglichen Vortrags zu bewahren. Der vorliegende Text wurde im Juli 1997 fertiggestellt und erschien erstmals im englischen Original in M. H.  Geyer u. J. Paulmann (Hg.), The Mechanics of Internationalism. Culture, Society, and Politics from the 1840s to the First World War, Oxford 2001, S. ­435–457. Seit Erscheinen dieses Aufsatzes sind zahlreiche Studien über Kurorte erschienen, darunter z. B. H. Lempa, The Spa. Emotional Economy and Social Classes in Nineteenth-Century Pyrmont, in: Central European History, Jg. 35, Heft 1, 2002, S. 37–73; R. Eßer u. T. Fuchs (Hg.), Bäder und Kuren in der Aufklärung. Medizinaldiskurs und Freizeitvergnügen, Berlin 2003. 2 Siehe z. B. A. L. Croutier, Taking the Waters, New York 1992; Frankfurter Rundschau Magazin, 22. April 1980; Süddeutsche Zeitung, 8. Juni 1990.

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fischen Gesellschaft; und die wachsende kulturhistorische Literatur über das Reisen, Einstellungen zur Natur, über Geschmack und Konsum. In diesem­ Essay möchte ich darlegen, warum die Menschen Kurbäder aufsuchten. Darüber hinaus soll beleuchtet werden, wie sich die Badeorte aus geschäftlicher Perspektive entwickelten, wie sie ausgestattet waren und wie sich das gesellschaftliche Leben dort gestaltete. Das goldene Zeitalter der Bäderkultur tangiert in vielerlei Hinsicht das Thema Internationalismus. Schließlich handelte es sich hier um eine saisonale, grenzüberschreitende Migration der besonderen Art – in diesem Fall nicht von Landarbeitern, sondern von Europas Oberschichten (oder gar internationalen Eliten), deren Bestreben nicht dem Geldverdienen, sondern dem Geldausgeben galt. Ermöglicht wurde diese Wanderbewegung durch neue Formen der internationalen Kommunikation – von denen das Reisen nur einen Aspekt darstellte. Eine meiner zentralen Fragen ist, ob sich an diesen mondänen Orten so etwas wie die Entwicklung einer »internationalen Kultur« beobachten lässt. Gleichzeitig waren die Sommermonate – das heißt, die Monate, in denen sich die politischen Eliten der Großmächte üblicherweise in den Kurorten aufhielten – die Zeit, in der für gewöhnlich die Kriege begonnen wurden. Besteht also ein Zusammenhang zwischen der Welt des Luxus, die ihren Höhepunkt in der Belle Époque erreichte, und den zunehmenden internationalen Spannungen, die sich im Sommer 1914 entluden? Und wenn ja, welcher? Der historische Hintergrund ist relativ schnell abgehandelt. Es ist allgemein bekannt, dass es Wasserkuren bereits zu Zeiten der Babylonier gab, und dass viele der späteren Modebäder – darunter Bath, Wiesbaden oder Vichy – auf antike Vorläufer zurückgehen. Liest man die Kurbroschüren des 19. Jahr­hunderts oder die nostalgisch angehauchten Beschreibungen von heute, so suggerieren diese eine ungebrochene historische Entwicklung: das Kurbad xy wurde ursprünglich von den Römern gegründet, im 16.  Jahrhundert kam Montaigne vorbei und rühmte die heilende Wirkung des Wassers für die Leber, Casanova oder Goethe fanden sich dort zu einem Techtelmechtel ein (in beiden Fällen allerdings kein besonderes Alleinstellungsmerkmal), und im 19.  Jahrhundert wurde das betreffende Bad dann zur Lieblingssommerfrische des jeweils herrschenden Königshauses. Wie wir wissen, erfand das 19. Jahrhundert gern Genealogien und Traditionen.3 Im Gegensatz dazu geht es mir in erster Linie darum, die Brüche in der Geschichte und der Entwicklung der Kurorte hervorzuheben. Zunächst einmal war das elegante Seebad ganz und gar ein Produkt des 18. Jahrhunderts. Es wurde in England erfunden und trat von dort seinen Siegeszug nach Frankreich und Deutschland an.4 Aber auch in anderer Hinsicht 3 E. J. Hobsbawm u. T. Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983. 4 J. Walvin, Beside the Seaside, London 1978; J. Walton, The English Seaside Resort. A Social History 1750–1914, Leicester 1983; A. Corbin, The Lure of the Sea. The Discovery of the Seaside in the Western World, Berkeley 1994; H. Prignitz, Vom Badekarren zum Strandkorb. Zur Geschichte des Badewesens an der Ostsee, Leipzig 1977; Saison am Strand. Badeleben an Nord- und Ostsee. 200 Jahre. Ausstellungskatalog, Altonaer Museum in Hamburg – Norddeutsches Landesmuseum, Herford 1986.

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verlief die Entwicklung der Kurorte nicht immer geradlinig. Beispielsweise gab es Kurorte wie Bad Pyrmont, die bereits im 16. Jahrhundert gegründet worden waren, aber erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts zur Blüte gelangten. Pyrmont ist darüber hinaus ein gutes Beispiel für ein Kurbad, das seine Berühmtheit im Laufe der Zeit wieder einbüßte – ein Schicksal, das es mit Schlangenbad, Baden bei Wien, Teplitz und Spa teilte.5 Umgekehrt handelte es sich bei vielen der großen Kurorte des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen um Nachzügler. So nahm die Entwicklung von Marienbad erst ab 1820 so richtig Fahrt auf, und ein berühmter Gast der damaligen Zeit notierte: »Mir ist als befänd ich mich in den nordamerikanischen Wäldern, wo man in drei Jahren eine Stadt baut.«6 Das deutsche Dreigespann Bad Ems, Bad Homburg und Bad Kissingen trat gar noch später auf den Plan. Zwei allgemeine Punkte sollen hier betont werden. Erstens waren einzelne Kurbäder relativ plötzlichen Schicksalsumschwüngen ausgesetzt, zum Guten wie zum Schlechten. Zweitens entstand die Bäderkultur der Neuzeit, die mich in diesem Aufsatz beschäftigt, im 18. Jahrhundert als Produkt des Absolutismus, der Aufklärung und der kommerziellen Revolution und erreichte ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert. Warum reisten die Menschen ins Bad? Zum einen natürlich des Wassers wegen: um darin zu baden (vornehmlich in den heißen Quellen und im Meer) oder um es zu trinken  – eine Praxis, die ab dem 18.  Jahrhundert immer größeren Anklang fand. Eine Wasserkur war nicht notwendigerweise der Hauptgrund für das Kommen der Gäste, aber es war der Aspekt, in dem sich ein Kurbad von anderen Reisezielen unterschied, auch wenn die Grenzen oft schwer zu ziehen sind. Auch die gesundheitlichen beziehungsweise medizinischen Aspekte veränderten sich im Laufe der Zeit, und die Diagnosen, die zu einer Kur Anlass gaben, wandelten sich von der »Melancholie« und »Hypo­chondrie« des 18.  Jahrhunderts hin zu den »Nervenkrankheiten« und »Neurasthenien« des 19.  Jahrhunderts.7 Auch ein breiterer Umschwung lässt sich feststellen: Reiste man noch im 18. Jahrhundert ins Bad, um gesund zu bleiben, so fuhr man hundert Jahre später zur Kur, weil man krank war. Der aktive Kurgast wurde zum passiven Patienten – ein Prozess, der unter anderem auch im Machtzuwachs der Kurärzte sowie der wachsenden Zahl von Krankenhäusern, Kliniken und Sanatorien in den Kurbädern seinen Ausdruck fand. Zu guter Letzt lässt sich auch 5 Vgl. die hervorragende Studie von R. Kuhnert, Urbanität auf dem Lande. Badereisen nach Pyrmont im 18. Jahrhundert, Göttingen 1984. 6 J. W. Goethe, zitiert nach G. von Hahn u. H.-K. von Schönfels, Wunderbares Wasser. Von der heilsamen Kraft der Brunnen und Bäder, Aarau 1980, S. 100. 7 Zur Melancholie vgl. W. Lepenies, Melancholy and Society, Cambridge/Mass. 1992; zu Nervenkrankheiten und Neurasthenie vgl. E. Shorter, From Paralysis to Fatigue. A History of Psychosomatic Illness in the Modern Era, New York 1992, v. a. S.  201–232, sowie O. Mirbeau, Die Badereise eines Neurasthenikers, Budapest 1902. Die Aufenthalte im damals österreichischen Kurort Meran ziehen sich wie ein roter Faden durch die Chronik von Freuds Patientinnen und den Frauen in seiner Familie, vgl. L. Appignanesi u. J. Forrester, Freud’s Women, London 1992.

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ein Wandel in der Bäderkunde beobachten  – von der ungeheuren Vielfalt an Wasserheilangeboten zur Zeit der Aufklärung, über die romantische Betonung auf den »Brunnengeist« (hier sei als Beispiel die »Ganzkörperkur« des deutschen Arztes Christoph Wilhelm Hufeland genannt), bis hin zur Entwicklung der naturwissenschaftlich-positivistischen Kurmedizin im 19. Jahrhundert mit ihren detaillierten chemischen Heilwasser-Analysen und spezialisierten Behandlungsmethoden (Sprühbad, Traufbad, Tropfbad, usw.). Die zunehmende technische Komplexität und Spezialisierung der Balneologie im 19.  Jahrhundert hatte zur Folge, dass man sich im Gegenzug wieder auf die Einfachheit besann. Ein Beispiel dafür war das spartanische Heilprogramm im österreichischen Kurbad Gräfenberg, das 1820 von Vincenz Prießnitz gegründet wurde. Auch der »Wasserdoktor« und Benediktinermönch Sebastian Kneipp, Autor von »Meine Wasserkur« (1886) und »So sollt ihr leben« (1889), war vom Wunsch nach einer natürlicheren, ganzheitlichen Medizin angetrieben. Der von ihm gegründete bayerische Kurort Bad Wörishofen verzeichnete in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts jährlich 30.000 Besucher, die kamen, um kalt zu duschen, Kaltwasserwickel anzulegen, durchs feuchte Gras zu stapfen und sich anschließend an Sauerkraut, Schwarzbrot und Pfefferminztee zu laben.8 Die medizinische Debatte über das Wasserkuren hatte seit den Anfängen der modernen Bäderheilkunde im frühen 18. Jahrhundert eine wichtige internationale Dimension. Man nehme als Beispiel nur die Familie Hahn, eine Ärztedynastie aus Schlesien, die im 18. Jahrhundert entscheidend zur Popularisierung von Wassertherapien beitrug. Der Patriarch, Siegmund Hahn, hatte in den Niederlanden studiert und kannte die Arbeiten des englischen »Wasserdoktors« Sir John Floyer, eines frühen und eifrigen Verfechters des Kaltwasserbades (wie auch des Meerbadens). Hahns Schriften stützten sich auf Floyer und wurden, wie auch die Schriften seines jüngeren Bruders Johann Siegmund, in regelmäßigen Abständen von späteren Badekundlern im deutschsprachigen Raum, von Prießnitz bis Kneipp, wiederentdeckt. Umgekehrt gewannen die Arbeiten eines weiteren Familienmitglieds, nämlich von Siegmunds Sohn Johann Gottfried, an Einfluss in der englischsprachigen Welt. Sie halfen William Wright, dem Leiter des jamaikanischen Militärkrankenhauses, bei der Entwicklung seiner »Wright-Kur«, einer kalten Gießbadanwendung, die von dem Engländer James Currie weiterentwickelt wurde und dann durch den Wiener Arzt Joseph Frank nach Wien gelangte.9 Diese kurze Familienchronik umreißt nur grob die komplexe ideengeschichtliche Landkarte gegenseitiger Anleihen und Weiterentwicklungen; noch dazu konzentriert sie sich ausschließlich auf englische, deutsche und österreichische Ärzte. Würden wir auch noch die Querverbin­ 8 Zu Prießnitz vgl. V. van der Reis, Die Geschichte der Hydrotherapie von Hahn bis Prießnitz, Berlin 1914; zu Kneipp vgl. E. Schomburg, Sebastian Kneipp, Bad Wörishofen 1976; siehe auch Kneipps Autobiografie Aus meinem Leben, Bad Wörishofen 1891. 9 J. Graetzer, Lebensbilder hervorragender schlesischer Ärzte, Breslau 1889; P. Langer, Gottfried Hahn. Pastor an der Schweidnitzer Friedenskirche und seine Familie, Liegnitz 1903.

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dungen zu Balneologen in der Schweiz (Scheuchzer, Tissot, Herpin) und in Frankreich (Scoutetten, Fleury) ziehen, würde das Liniengewirr der Karte noch größer werden.10 Selbstverständlich waren nicht alle Wasserkur-Befürworter oder Kurärzte weltgewandte Kosmopoliten. Kurorte konnten, vor allem außerhalb der Saison, provinzielle, nach innen gerichtete Orte sein und boten somit den idealen Nährboden für kleinliche Fehden wie sie zum Beispiel in Bad Ems die Arztfamilien Vogler und Döring über mehrere Generationen hinweg entzweite.11 Der beschränkte Horizont mancher Kurärzte wurde von Heinrich Hoffmann, dem Erfinder des Struwwelpeter, auf die Schippe genommen. Im Jahr 1860 verfasste er eine Satire auf den fiktiven »Badeort Salzloch, seine jod-, brom-, eisen- und salzhaltigen Schwefelquellen und die tanninsauren animalischen Luftbäder nebst einer Apologie des Hasardspiels. Dargestellt von Dr. Polykarpus Gast­fenger, Fürstlich Schnackenbergischem Medicinalrathe und Brunnenarzte, Mitglied der aquatischen Gesellschaft, des deutschen Douche-Vereins, des Casinos und des Kegelclubs zu Schnackenberg, sowie vieler anderer gelehrten Gesellschaften correspondirendem und Ehrenmitgliede usw.«12 Gewiss lassen sich genug Beispiele für einen derartigen Provinzialismus finden, doch wirkten ihm auch viele Aspekte entgegen. Die zunehmende Bedeutung universitärer Forschung über das Wasser und seine Eigenschaften, internationale Fachkongresse, die steigende Zahl von Übersetzungen fremdsprachiger Studien sowie von Fachzeitschriften, in denen diese rezensiert wurden  – all das erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass sich zumindest die Ärzte in den größeren Badeorten und die Autoren, die sich mit diesem Thema befassten, einer größeren Welt zugehörig fühlten. Ein gewisser Dr. Armand Mora aus dem französischen Dax bereiste beispielsweise England, Belgien, Deutschland und Italien, um die dortigen Kureinrichtungen zu besichtigen.13 Das geschah auch, weil die Kurorte untereinander um die neuesten, wissenschaftlich anerkannten Techniken oder Einrichtungen wetteiferten. Es liegt eine beträchtliche Ironie darin, dass ganzheitlich orientierte, eher einfache Kurorte wie Bad Wörishofen ebenfalls Teil dieses internationalen Marktes waren, ob sie es wollten oder nicht. Die Einfachheit, mit der sie warben, war bereits im späten 19. Jahrhundert für Teile der gehobenen Gesellschaft ein erstrebenswertes Gut. Trotz der genannten Veränderungen im Laufe der Zeit und trotz der beträchtlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Kurbädern hinsichtlich des Stellenwerts, den sie der Wasserkur selbst einräumten, lassen sich die ärzt10 Ein wertvoller, aber unsystematischer Überblick über diese Querverbindungen findet sich im Werk eines deutschen Hygienebefürworters des frühen zwanzigsten Jahrhunderts vgl. A. Martin, Deutsches Badewesen in vergangenen Tagen nebst einem Beitrage zur Geschichte der deutschen Wasserheilkunde, Jena 1906. 11 H.-J. Sarholz, Geschichte der Stadt Bad Ems, Bad Ems 1994, S. 266 f. 12 So die Titelseite der Originalausgabe von 1860. 13 Dax ville d’eau: exposition, Galerie d’Art Municipale, Dax 1984, S. 49.

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lichen Ratschläge für die Kurgäste durchaus auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Wasser, so hieß es, sei das Gegenmittel zu den sogenannten »Zivilisa­ tionskrankheiten«: Langeweile und Nervosität, Stress und Angstzustände, Völlerei und übermäßiger Verzehr von Genussmitteln wie Alkohol, Tabak und Kaffee. Dennoch reiste man selbstverständlich auch ins Bad, um die angenehmen Seiten der »Zivilisation« zu genießen: um zu essen und zu trinken, zu konsumieren, zu tanzen und der Geselligkeit zu frönen. War die im 18. Jahrhundert aufkommende Kurkultur teils von der Medizin der Aufklärung geprägt, so verdankte sie mindestens ebenso viel zwei weiteren Einflüssen: dem höfischen Leben im Absolutismus und der neuen Konsumgesellschaft, die sich in Europas Städten herausbildete. Der höfische Einfluss zeigte sich in der Präsenz gekrönter Häupter, in der barocken Architektur und den geometrisch angelegten Parks der ersten kontinentaleuropäischen Kurbäder, aber auch in den endlosen »Amüsements« (Feuerwerke, Festlichkeiten) für die verwöhnten Geschmäcker des höfischen Adels.14 Diese Elemente überdauerten in der ein oder anderen Form, selbst nachdem sich die enge Anbindung der Kurbäder an die höfische Gesellschaft aufzulösen begann, was ansatzweise bereits im 18. Jahrhundert zu beobachten ist. Eine ebenso wichtige Rolle spielte die neue Konsumkultur. Kurorte reproduzierten in ländlicher Umgebung einen urbanen Lebensstil mitsamt Theatern, Lesesälen, Läden für Luxusgüter und Kaffeehäusern. Sie verkörperten in konzentrierter Form die »Welt der Waren« und einen Ort zivilisierter Gesprächskultur. Im Gegensatz zu städtischen Vergnügungsparks wie beispielsweise dem Londoner Vauxhall Gardens stellten sie ein exklusiveres und überschaubareres Umfeld dar und boten einem wachsenden Publikum, das nicht nur kuren, sondern auch konsumieren und kommunizieren wollte, die Annehmlichkeiten der Stadt.15 Die Gründe, warum man ins Bad reiste, waren also von Anfang an gemischter Natur. Außerdem sollten wir nicht unterschätzen, dass Menschen die Modebäder frequentierten, weil diese nun mal in Mode waren. Das Verlangen nach Neuem, diese typische Hinterlassenschaft des 18. Jahrhunderts, war der Motor für die Popularität der Kurbäder. Kurärzte und Kurbehandlungen trugen entscheidend zu Rang und Namen eines Kurortes bei; aber auch der gesellschaftliche Ruf und ein breites Angebot an materiellen und kulturellen Attraktionen spielten eine wichtige Rolle. Die Kursaison war durch den größeren Rhythmus der gesellschaftlichen Saison vorgegeben, die sich ihrerseits wiederum am 14 Zur Architektur der Kurbäder siehe die hervorragenden Beiträge in R. Bothe (Hg.), Kurstädte in Deutschland. Zur Geschichte einer Baugattung, Berlin 1984, sowie die Aufsätze von M. Steinhauser (über Baden-Baden) und U. von Hase (über Wiesbaden) in: L. Grote (Hg.), Die deutsche Stadt im 19. Jahrhundert, München 1974. 15 Vgl. J. Brewer u. R. Porter (Hg.), Consumption and the World of Goods, London 1993; N. McKendrick u. a., The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of EighteenthCentury England, London 1982. Dieser Aspekt steht auch im Mittelpunkt von Kuhnert, Urbanität auf dem Lande.

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höfischen Kalender der europäischen Residenzstädte orientierte.16 Gleich­zeitig waren die Kurbäder nur eines von vielen, immer zahlreicher werdenden Reisezielen für wohlhabende Reisende. Bereits im Zeitalter der Aufklärung war es gang und gäbe, das Reisen, das sich nun nicht mehr nur auf die aristokratische »Bildungsreise« beschränkte, als »Sucht« zu bezeichnen. Im 19.  Jahrhundert wurde die Sucht zur Routine. Russen reisten gen Westen, die Engländer in den Süden, der Sonne entgegen, Europäer reisten nach Nordamerika und Nordamerikaner nach Europa. Mit dem Baedeker in der Hand erkundeten die Reisenden die historischen Städte und zunehmend geschätzten Landschaften Europas. Auch das Heilige Land und »Arabien«, einst nur den Unerschrockensten vorbehalten, zogen immer mehr Reisende an. Und innerhalb Europas gewannen bis dato zweitrangige Orte an Ansehen. Ab der Hälfte des 19. Jahrhunderts fällt es besonders schwer, in puncto Attraktivität eine klare Grenze zu ziehen zwischen den Kurbädern und zwei anderen Reisezielen, die zu der Zeit immer mehr in Mode kamen: der Mittelmeerküste und den Alpen.17 So viel in Kürze zu den Gründen, warum die Menschen zur Kur fuhren – was man auch die Nachfrageseite nennen könnte. Aber wie sah es mit der Angebotsseite auf? Enormen Auftrieb erhielten die Kurbäder wie auch andere Modeorte durch die neuen Verkehrsmittel. Vor dem Zeitalter der Eisenbahn waren viele Kurorte aufgrund ihrer gebirgigen oder anderweitig unwegsamen Lage nur sehr schwer zu erreichen. Als prominente Beispiele lassen sich hier Bad Gastein in den österreichischen Alpen, Wildbach im Schwarzwald, Plombières in den Vogesen und Cauterets in den Pyrenäen anführen. Auch Bad Ischl gehörte dazu: vor dem Bau der Eisenbahnverbindung im Jahr 1877 dauerte die Anreise aus Wien vier Tage.18 Bereits 1843 bemerkte Heinrich Heine, ein begeisterter Besucher des frühen Nordseebads Norderney: »Mir ist als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Türe brandet die Nordsee.«19 Eine Generation später hatten die Eisenbahn und das Dampfschiff das Reisen so grundlegend verändert, dass sich die Kurorte auf gänzlich neue Mengen an Kurgästen einstellen mussten. Im späten 18. Jahrhundert konnten selbst die angesagtesten Kurorte 16 L. Davidoff, The Best Circles. Society, Etiquette and the Season, London 1973; K. F. Werner (Hg.), Hof, Kultur und Politik im 19. Jahrhundert, Bonn 1985. 17 W. Löschburg, Von Reiselust und Reiseleid. Eine Kulturgeschichte, Leipzig 1977; B. I. Krasnobaev u. a. (Hg.), Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert als Kulturbeziehungsforschung, Berlin 1980; W. Griep u. H.-W. Jäger (Hg.), Reisen und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts, Heidelberg 1984; J. Pemble, The Mediterranean Passion. Victorians and Edwardians in the South, Oxford 1988; H. Bausinger u. a. (Hg.), Reisekultur, München 1991; W. W. Stowe, Going Abroad. European Travel in Nineteenth-Century American Culture, Princeton 1994. 18 J. Wechsberg, The Lost World of the Great Spas, London 1979, S. 100. 19 Zitiert nach C. L. Küster, Mit der Bahn an die See, in: Saison am Strand, S. 32. Heines Bericht über »Die Nordsee«, den er auf Norderney verfasste, findet sich in: H. Heine, Werke, Bd. 2, Teil 3, Frankfurt a. M. 1968, sowie zusammen mit einigen von Heines Meeresgedichten auch in J. Bieker, Norderney, Dortmund 1989, S. 70–74, 83–94.

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nur relativ wenige Gäste beherbergen: 400 bis 600 Gäste pro Jahr in Bad Ems und Karlsbad, 600 in Bad Pyrmont, 600 bis 1.200 in Spa, 1.000 in Baden-Baden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stiegen die Zahlen langsam aber kontinuierlich an; dann schnellten sie plötzlich rasant in die Höhe. Im Zeitraum von 1840 bis 1870 erhöhte sich die Zahl der Kurgäste in Baden-Baden von 20.000 auf 56.000, in Vichy von 2.500 auf 23.000, in Bad Ems von 5.000 auf 12.000 und in Aix-enSavoie von 5.000 auf 11.000.20 Ein maßgeblicher Wandel vollzog sich also in der Mitte des 19.  Jahrhunderts, dem ersten Eisenbahnzeitalter. Ein weiterer Ausschlag nach oben setzte um die Jahrhundertwende herum ein. Im Jahr 1905 zählte der bescheidene Kurort Bad Soden im Taunus vier Mal so viele Gäste wie Baden-Baden hundert Jahre zuvor, während Baden-Baden selbst fast 70.000 Langzeitgäste verzeichnete. Diese schwindelerregenden Zuwächse waren eine Folge des langen Wirtschaftsbooms, der in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts seinen Anfang nahm, doch spielte auch der Ausbau des Eisenbahnnetzes eine große Rolle. Der offizielle Kurprospekt von Wiesbaden aus dem Jahr 1910 verwies auf die »einige hundert« Eil- und Passagierzüge, die täglich in Deutschland verkehrten, und postulierte: »Wiesbaden liegt jetzt unmittelbar an den Linien des großen Weltverkehrs, ja es ist im gewissen Sinne einer ihrer Zentralpunkte geworden.«21 Es ist verlockend, solche Prahlereien als typische Werbesprache abzutun. Aber vielleicht sollten wir derart hochtrabende Behauptungen – und Wiesbaden war nicht die einzige Stadt, die sich dazu verstieg – durchaus ernst nehmen: als Ausdruck eines real vorhandenen Gefühls, dass die Welt aufgrund der neuen Verkehrsmittel kleiner geworden war.22 Schließlich hatte Heine genau das bereits in den 1840er Jahren angemerkt, und auf dieser Wahrnehmung basierte zu großen Teilen die »Poesie des Dampfes«, der wir im Europa des 19. Jahrhunderts wieder und wieder begegnen.23 Dass die Betonung dieser kleiner gewordenen 20 P. Gerbod, Le loisir aristocratique dans les villes d’eaux françaises et allemandes au XIXe siècle 1840–1870, in: Werner (Hg.), Hof, Kultur und Politik, S.  140 f.; Sarholz, Bad Ems, S. 187, 190 f. 21 Zitiert nach B. Fuhs, Mondäne Orte einer vornehmen Gesellschaft. Kultur und Geschichte der Kurstädte 1700–1900, Hildesheim 1992, S. 361. 22 Ein weiteres Beispiel: 1868 verkündete das Eisenbahnkomitee im süddeutschen Reutlingen seine Pläne für eine Eisenbahnverbindung, die die Stadt mit Sigmaringen verbinden würde, »von wo aus zunächst auf der badischen Linie Sigmaringen, Krauchenwies, Messkirch, Rudolfzell, Singen über Stein, Andelfingen, in südlicher Richtung der kürzeste Weg einerseits zum großen Völkertor des Gotthard und andererseits nordwärts über Würzburg zu den beiden ersten deutschen Seestädten Bremen und Hamburg durch dieses Mittelglied sich herstellen würde«; siehe H. Schindler, Die Reutlinger Wirtschaft von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, Tübingen 1969, S. 60 Fn 89. 23 Mehr dazu in D. Blackbourn u. G. Eley, The Peculiarities of German History, Oxford 1948, S. 185–187, wo ich Deutschland mit Großbritannien und Frankreich vergleiche. Siehe auch W. Schivelbusch, The Railway Journey, Oxford 1980; M. Riedel, Vom Biedermeier zum Maschinenzeitalter. Zur Kulturgeschichte der ersten Eisenbahnen in Deutschland, in: Archiv für Kulturgeschichte, Jg. 43, 1961, S. 106 f.

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»einen Welt« auch gut fürs Geschäft war, muss nicht heißen, dass wir es hier mit Scheinheiligkeit zu tun haben. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts warben die Kurbäder nicht nur damit, dass sie gut erreichbar waren, sondern dass sie bequem und komfortabel erreichbar waren. Ihre Erfolgs- und Expansionskurve im 19. Jahrhundert war untrennbar mit der zunehmenden Ausdifferenzierung des internationalen Zugverkehrs verbunden; Fahrpläne und Reiseführer, Reisebüros und Schlafwagenabteile waren Aspekte dessen, was der Soziologe József Böröcz mit dem Begriff »Reisekapitalismus« bezeichnete.24 Waren die Gäste erst einmal an ihrem Ziel angekommen, legten sie gleichermaßen Wert auf Komfort und Sicherheit. In der Nachromantik verlangten die Gäste nach Natur – allerdings nach gezähmter Natur.25 So ließ man von Landschaftsgärtnern Grünflächen anlegen und unternahm allerlei Anstrengungen, um unerwünschte Störfälle durch Überschwemmungen oder Erdrutsche auszuschalten (auch wenn diese Anstrengungen nie hundertprozentig erfolgreich waren und man machtlos war gegen die kleinen Erdbeben, für die viele Kurregionen anfällig waren). In der ländlichen Umgebung der Kurorte wurden sorgfältig markierte Wege angelegt, auf denen man zu geeigneten »Ausblickspunkten« und »Rundsichten« gelangte.26 Mithilfe von Seilbahnen konnten die Gäste bequem die höchstgelegenen Punkte erreichen – Berggipfel in den Alpen oder auch kleinere Hausberge wie den Neroberg in Wiesbaden oder den Malberg in Bad Ems. Das Kuren als Geschäftsmodell erforderte beträchtliche Investitionen in die Infrastruktur: medizinische Einrichtungen, Brunnenhäuser und öffentliche Versammlungsorte, Hotels, Parks und Promenaden. Doch wer in die Entwicklung investierte und wer davon profitierte, lässt sich nicht für alle Kur­ bäder gleich beantworten; das konnten adelige Grundbesitzer, die Gemeinde oder bürgerliche Unternehmer sein. So verwandelte sich beispielsweise Cromer in East Anglia dank einer Mischung aus Norwicher und Londoner Geld von einem kleinen Kurort, der fest in der Hand einiger weniger prominenter Quäker­familien (Fry, Barclay, Gurney) gewesen war, in ein Modebad, das unter anderem Kaiserin Elisabeth von Österreich, Lord Curzon und Oscar Wilde zu seinen Gästen zählte.27 Im deutschsprachigen Europa finden wir jede nur 24 J. Böröcz, Travel Capitalism. The Structure of Europe and the Advent of the Tourist, in: Comparative Studies in Society and History, Jg. 34, 1992, S. 708–741. 25 Die »Konstruktion« der Landschaft ist Gegenstand einer wachsenden Zahl interessanter Studien, vgl. z. B. D. Cosgrove u. S. Daniels, The Iconography of Landscape, Cambridge 1988. Eines der besten Werke über Kurbäder ist R. L. Herbert, Monet on the Normandy Coast: Tourism and Painting 1867–1886, New Haven 1994. 26 J. Merrylees, Carlsbad and Its Environs, London 1886, S.  109–125; Fuhs, Mondäne Orte, S. 440–459; Bad Ems, S. 371 f.; Siehe auch die äußerst ideenreiche Studie von D. Sternberger, Panorama of the Nineteenth Century, Oxford 1977, und G. M. König, Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780 bis 1850, Wien 1996. 27 M. Girouard, The Birth of a Seaside Resort, in: ders., Town and Country, New Haven 1992, S. 79–90.

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erdenkliche Variante. Die Entwicklung Aachens wurde von der Stadtverwaltung vorangetrieben, die Bad Driburgs von Privatunternehmern.28 In den meisten Fällen behielten jedoch die deutschen Fürsten die Kontrolle über die Bäder und einigten sich mit den Gemeinden über administrative Alltagsbelange wie beispielsweise die polizeiliche Überwachung. Kapital wurde gesammelt und direkt in neue Einrichtungen investiert, oder man vergab Konzessionen zu einem festen Betrag an Pächter. Auch die Verteilung der Einnahmen aus den Mineralquellen oder den öffentlichen Bereichen wurde meist auf diese Weise geregelt. Klassisches Beispiel dafür waren die Kasinos. Ihre Leitung lag ausnahmslos in der Hand von Franzosen, die nach dem Verbot des Glückspiels durch die Julimonarchie im Jahr 1830 die Rheinseite gewechselt hatten, wie zum Beispiel Jacques Bénazet und sein Sohn in Baden-Baden oder François Blanc in Bad Homburg. Bis die Kasinos auch im neu gegründeten Kaiserreich für illegal erklärt wurden, spülten sie, ähnlich den staatlichen Lotterien früherer Zeiten, Einnahmen in die Kassen klammer Herrscher und verringerten deren Abhängigkeit von parlamentarischen Institutionen. Nach dem Verbot des Glücksspiels wurde verstärkt in medizinische Einrichtungen und vor allem in den Verkauf von Flaschenwasser investiert. Ende des 19. Jahrhunderts exportierten Bad Ems, Schlangenbad und Bad Schwalbach jährlich Millionen Liter in die ganze Welt; als diese Nassauer Kurorte im Jahr 1867 Preußen zugeschlagen wurden, flossen die sprudelnden Einnahmen in die preußischen Staatskassen.29 Kurtaxen sorgten für zusätzliche Einkünfte. Kurorte waren ein wichtiges Beispiel für die im 19.  Jahrhundert aufkommenden Dienstleistungsstädte – in diesem Fall Städte, die in mehr als nur einer Hinsicht auf Wasser gebaut waren. Den erfolgreichsten unter ihnen (Vichy, Bad Ems) gelang es, ihren Namen international als Synonym für das in ihnen hergestellte Produkt zu etablieren, ähnlich wie Sheffield oder Solingen in Bereich der Schneidewaren. Die Karlsbad Mineralwasser GmbH hatte Büros in der Londoner Oxford Street und in der Pariser Rue du Helder.30 Diese Entwicklung wurde nicht nur durch immer größere Werbeetats, sondern auch durch die Naturwissenschaften begünstigt. So dauerte es nicht lange, bis man die Entdeckung der Radioaktivität im späten 19. Jahrhundert zu Geld machte: der französische Kurort La Bourboule beispielsweise warb mit seinem »arsenhaltigen und radioaktiven Wasser« (eine gewiss unschlagbare Kombination).31 Darüber hinaus brachte man auch allerlei Zubehör und Produkte wie Schwämme, Seifen, Salze und Zahnpulver auf den Markt.32 Vor allem aber wollten die Bäder mit ihren Anlagen, Parks, Hotels und ihrem Ambiente ein anspruchsvolles 28 Siehe dazu die Beiträge von A. Bernhard u. R. Bothe in: Bothe, Kurstädte. 29 Sarholz, Bad Ems, S. 260–265. 30 Vgl. das Inserat auf den letzten Seiten von J. Kraus, Carlsbad and Its Natural Healing Agents, London 1877. 31 E. Orsenna u. J.-M. Terrasse, Villes d’eaux, Paris 1981, S. 114. 32 Siehe z. B. Kraus, Carlsbad, S. 29–39; Merrylees, Carlsbad, S. 166–169.

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Publikum ansprechen. Diese Ambitionen bestimmten die städtebauliche Entwicklung der Kurorte. Da waren zum einen bau- und steuerrechtliche Erleichterungen zur Förderung von Hotels, Luxusläden und begehrten Wohnimmobilien wie beispielsweise Villen für Sommergäste (und wohlhabende Rentner, die ganzjährig in den Kurorten lebten). Zum anderen wurden Anstrengungen unternommen, um »unerwünschte Elemente« fernzuhalten – ähnlich den Bemühungen, die Bade- und Kurgäste vor unliebsamen Naturgewalten zu schützen. Ein Hauptthema in den Kurorten – angefangen von Bath im 18. Jahrhundert – war die Energie, die darauf verwandt wurde, Landstreicher aus dem Stadtbild zu entfernen. Auch die im 18. Jahrhundert noch präsenten Gaukler und Wanderschauspieler verschwanden nach und nach von der Bildfläche. Ein Hauptproblem blieb dabei aber ungelöst: Wohin mit der einheimischen Unterschicht? In den Seebädern war es möglich, die Fischer als Teil der malerischen Kulisse neu zu definieren; darüber hinaus waren sie auch von praktischem Nutzen, beispielsweise in Norderney, wo sie einen Gast wie Otto von Bismarck aufs Meer hinausruderten, damit er dort Jagd auf Seehunde und Delfine machen konnte.33 Aber bei den im Inland gelegenen Kurbädern lag die Sache nicht ganz so einfach. Dass Teplitz im 19. Jahrhundert von Karlsbad der Rang abgelaufen wurde, hatte unter anderem mit den Braunkohleminen im Westen der Stadt zu tun; Aachens Stern sank, als die Zahl seiner Industriearbeiter anstieg; und Bad Cannstatt, zu Balzacs Zeiten noch ein exklusives Kurbad, hatte seine besten Jahre hinter sich, nachdem es zu einem Stuttgarter Vorort mit einem großen Eisenbahnreparaturwerk mutiert war.34 Erfolgreiche Kurbäder folgten dem Beispiel Wiesbadens und anderer Kurorte und verdrängten mit einer Mischung aus Verboten, Aufkäufen und Planungsvorschriften nicht nur die Handwerksbetriebe (angefangen bei den gesundheitsschädlichen Gerbereien und Bleichereien, die mit schädlichen Stoffen arbeiteten), sondern auch Arbeitstiere und Menschen in Arbeitskleidung aus dem Stadtbild.35 Darüber hinaus versuchten alle Kurorte, ihre Angestellten unsichtbar zu machen, wenn diese nicht gerade im Dienst waren. Ungeachtet des heutzutage vorherrschenden nostalgischen Tonfalls (»Die verlorene Welt der großen Kurbäder«) fällt auf, wie modern die Kurbäder in vielerlei Hinsicht waren. Es handelte sich bei ihnen 33 H. Kohl (Hg.), Briefe Ottos von Bismarck an Schwester und Schwager, Leipzig 1915, S. 15. In Saison am Strand, S.  97, findet sich ein Foto aus dem Jahr 1894, auf dem zwei männliche Kurgäste in Föhr, jeweils ein Gewehr in der Hand und eine Frau am Arm, mit stolzgeschwellter Brust vor sechs toten Seehunden posieren. Bei dem Mann im Hintergrund handelt es sich vermutlich um den Kapitän des Bootes, von dem aus sie Jagd auf die Tiere gemacht hatten. 34 Hahn u. Schönfels, Wunderbares Wasser, S.  111 f., 137; W. Blos, Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten, Bd. 2, München 1919, S. 74. 35 Beispiele in Fuhs, Mondäne Orte, S. 202–206, 219–234, und Sarholz, Bad Ems, S. 245–246, 360, 405. Unschmeichelhafte frühe Beschreibungen von Wiesbaden finden sich in J. Dollwet (Hg.), »Wer an seinem Schöpfer sündigte …«: Ludwig Friedrich Christoph Schmid über seinen Kuraufenthalt 1765 in Wiesbaden, Wiesbaden 1994, S. 14–16.

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um ausgesprochene Orte des Konsums, die vorgaben, mit der Produktion nichts zu tun zu haben. Die Kurbäder offerierten eine Scheinwelt, eine virtuelle Realität – ein Disneyland für die oberen Zehntausend.36 Das im 18. Jahrhundert aufkommende elegante Modekurbad war also etwas gänzlich Neues. Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit waren selbst die Badeorte, die von Fürsten frequentiert wurden, weniger exklusiv; die gesellschaftlichen Gruppierungen vermischten sich, Hoch- und Populärkultur ließen sich kaum voneinander trennen. In der Tat wurde diese moderne Entwicklung Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Schriften über Volksgesundheit und -hygiene bedauert.37 Der Wandel äußerte sich unter anderem darin, dass ambitionierte Kurbäder wie beispielsweise Aachen, Wiesbaden und Baden-Baden ganz bewusst einen neuen, vom alten »Badebezirk« abgetrennten »Kurbezirk« schufen. In der Neuzeit gründete Exklusivität auf der Existenz gesellschaftlich getrennter Bäder und Ferienorte. Die Eisenbahn ermöglichte es auch Menschen, die nicht zur Oberschicht gehörten, zu reisen; doch fuhren diese in der Regel nicht nach Baden-Baden oder Karlsbad. Auch wenn bis Ende des 19. Jahrhunderts populäre Seebäder wie Blackpool in Lancashire oder Westerland auf Sylt entstanden, so reisten die Arbeiter und Kleinbürger  – die Badenden in Seurats Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte und auf Heinrich­ Zilles Bildern von Berlin oder die Angestellten in Jerome K. Jeromes Drei Mann in einem Boot  – meist nicht sehr weit, um ihre Badefreuden zu genießen.38 Es gab Hunderte Kurorte in ganz Europa, die sich am Geschmack und Geld­ beutel des bescheidenen Provinzbürgertums orientierten und die Besucher aus verschiedenen Teilen des Landes anzogen, deren Einzugsgebiet aber nicht über die Landesgrenzen hinausreichte. Das war das gängige Muster in Italien (mit Ausnahme vielleicht von Montecatini Terme) und galt auch für die allermeisten Kurorte in Frankreich und Deutschland. Modebäder mit internationalem Klientel bildeten also die Ausnahme von der Regel – eine erlesene Gruppe, deren Zusammensetzung und Rangordnung sich im Laufe der Zeit veränderte, die aber nie mehr als einige Dutzend Orte umfasste. In ihnen versammelten sich die gekrönten Häupter Europas, aber auch internationale Gäste wie der Schah von Persien, der Aga Kahn und der unermüdliche Don Pedro, Kaiser von Brasilien. Dazu gehörten Orte wie BadenBaden, wo man in den fünfziger Jahren des 19.  Jahrhunderts, wie Sir Horace Rumbold in seinen Erinnerungen wehmütig anmerkte, das »Geschnatter von tausend Zungen in einem Dutzend verschiedener Sprachen hören konnte«.39 Aber selbst in Baden-Baden waren die meisten Besucher selbstverständlich we36 Monika Steinhauser nennt sie eine »Welt der Illusionen«; vgl. Steinhauser, Das europäische Modebad des 19.  Jahrhunderts. Eine Residenz des Glücks, in: Grote, Die deutsche Stadt, S. 112. 37 J. Marcuse, Bäder und Badewesen in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart 1903, S. 81 f. 38 J. K. Jerome, Drei Mann in einem Boot, Berlin 1920. Die Originalausgabe, Three Men in a Boat, erschien 1889 in London. 39 H. Rumbold, Recollections of a Diplomatist, Bd. 2, London 1902, S. 228.

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der Fürsten noch Adlige oder Kulturgrößen. Zwar zogen letztere unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit auf sich, aber der Großteil der Kurgäste entstammte den zahlenmäßig stärkeren höheren Berufsständen und Geschäftskreisen.40 Für Historiker wirft das mehrere Fragen auf. Die in sich geschlossene, künstliche Welt der großen Kurorte (man denkt dabei an Thomas Manns Zauberberg) bietet schier laborähnliche Bedingungen, um zu beobachten, wie und unter welchen Voraussetzungen sich die gesellschaftlichen Gruppen vermischten und begegneten. Eine Spielart davon  – nämlich die Beziehung zwischen der alten gesellschaftlichen Elite und dem Bürgertum – ist in der historischen Forschung über das Europa des 19. Jahrhunderts ausgiebig erörtert worden, wenn auch in anderen Kontexten.41 Ich möchte drei Punkte zu dieser Debatte beisteuern. Erstens scheinen sich in den Kurorten die allgemeineren Erfahrungen widerzuspiegeln, die das Bürgertum im Umgang mit der alten Elite machte, zum Beispiel was die Erhebung in den Adelsstand, den Kauf von adeligem Grundbesitz oder die Einheirat in die Aristokratie anging. So wie das Gros des Bürgertums davon unberührt blieb und in seiner eigenen Welt lebte, so suchte es auch in erster Linie Kurbäder auf, die sich nicht der Anwesenheit von Kaisern und Fürsten erfreuten. Das gilt auch für Deutschland, wo das Bürgertum die Sitten und Gebräuche der Aristokratie angeblich am stärksten »imitierte«. Die große Mehrheit der etwa dreihundert deutschen Kurbäder im ausgehenden 19. Jahrhundert ähnelte weniger Baden-Baden oder Wiesbaden als vielmehr Orten wie Bad Berka in Thüringen oder den Bädern im Schwarzwald, die fest in der Hand des Bürgertums waren. Wie Burkhard Fuhs auf Grundlage der offiziellen Kurführer und Werbeprospekte überzeugend dargelegt hat, betonten diese bescheideneren Kurorte in erster Linie »Komfort«, »Intimität« und das »Private, Familiäre« und präsentierten sich als Rückzugsorte, bei denen nicht der Luxus, sondern die Gesundheit im Vordergrund stand.42 Hinzu kommt, dass sich die ganzheitliche Medizin im späten 19.  Jahrhundert in Deutschland (und vermutlich auch anderswo) großer Beliebheit in der Mittelschicht erfreute, und kleine Kurorte schalteten Inserate in Büchern über natürliche

40 H. O. Schmid, Die Struktur der Bäder und ihrer Kurgäste in früherer und heutiger Zeit, in: Heilbad und Kurort. Zeitschrift für das gesamte Bäderwesen, Jg. 14/6, 1962, S.  107–110; G. Hüfner, Die Sozialkur und ihre statistische Erfassung. Ein Beitrag zur Erhebung und Auswertung von Bäderstatistiken aus den Jahren 1875 bis 1965, Kassel 1969; vgl. auch Sarholz, Bad Ems, v. a. S. 291 f., sowie die dort zitierten Schriften des Lokalhistorikers Karl Billaudelle. 41 Dieses Thema wird verschiedentlich aufgegriffen in Blackbourn u. Eley, The Peculiarities of German History; M. Wiener, English Culture and the Decline of the Industrial Spirit, Cambridge 1981; A. J. Mayer, The Persistence of the Old Regime, London 1981; sowie in zahl­ reichen Beiträgen in J. Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3 Bde., München 1988; D. Blackbourn u. R. J. Evans (Hg.), The German Bourgeoisie, London 1991. 42 Fuhs, Mondäne Orte, S. 342–352.

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Heilweisen.43 Zweitens besaßen die mondänen Kurbäder seit jeher einen gesellschaftlich hybriden Charakter, hatten sie ihren Ursprung doch in der Verschmelzung höfischer, »aristokratischer« Sitten mit denen der aufkommenden »bürgerlichen« Öffentlichkeit. Im Laufe des 19. Jahrhunderts vermischten sich wohlhabendes Bürgertum (später die Plutokratie)  und königliche und adelige Oberschicht immer mehr. Beide Gruppierungen färbten aufeinander ab und verschmolzen im Laufe der Zeit zu einer neuen Oberschicht, die in ihrer Eigenschaft als leisure class (müßige Klasse)  die Kurbäder frequentierte.44 Drittens gab es aber auch bürgerliche oder gar kleinbürgerliche Kurgäste, die eindeutig nicht der neuen Oberschicht angehörten. Ihre Präsenz zeigt sich am deutlichsten in dem beträchtlichen Anstieg der Tages- und Kurzzeitbesucher ab dem späten 19. Jahrhundert, worauf wiederum mit dem Bemühen reagiert wurde, selbst in exklusiven Kurorten exklusive Bereiche beizubehalten. Sie waren Zuschauer, nicht Akteure im gesellschaftlichen Drama der großen Kurorte. Bürgertum und alte Elite waren nicht die einzigen Gesellschaftsschichten, die in den Modebädern miteinander verkehrten. Dort trafen viele verschiedene Welten aufeinander. Als Goethe Karlsbad das »Schachbrett Europas« nannte, verwies er damit pointiert auf die Intrigen und Machenschaften, die einen großen Teil des Kurortlebens ausmachten.45 Angehende Schriftsteller oder Komponisten hielten dort Ausschau nach Mäzenen, erfolgreichen Geschäftsleuten und Selbstständigen diente der Umgang mit anderen Gesellschaftsschichten als Gradmesser ihres Erfolgs, Mütter suchten geeignete Ehemänner für ihre Töchter, Glücksspieler den Kick und alle wollten sie sehen und gesehen werden – auf der Promenade, den Bällen und den Empfängen.46 Kurzum: Das Kurbad war eine Bühne, wo großer Wert auf Selbstdarstellung gelegt wurde.47 Diese Beispiele legen aber auch noch einen anderen, ebenso wichtigen Aspekt nahe. Auch wenn in einem Kurbad in vielerlei Hinsicht ein ausgelassenes Treiben herrschte, 43 Siehe z. B. die Anzeigen für Glotterbad im Schwarzwald und Bad Sommerstein im Thüringer Wald auf den letzten Seiten von F. E. Bilz, Das neue Naturheilverfahren. Lehrund Nachschlagebuch der naturgemäßen Heilweise und Gesundheitspflege, Leipzig, o. J. [1896?]. 44 Zum Aufkommen einer neuen »müßigen Klasse« siehe T. Veblen, The Theory of the Leisure Class, New York 1899 (dt. Übersetzung: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Köln 1958); W. Sombart, Luxus und Kapitalismus, München 1913. Eine kritische Erörterung dieser beiden Texte findet sich in C. Campbell, The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism, Oxford 1987, Kap. 3 u. 4. 45 Zitiert im Vorwort zum Ausstellungskatalog Große Welt reist ins Bad 1800–1914. Eine Ausstellung des Adalbert Stifter Vereins München in Zusammenarbeit mit dem Öster­ reichischen Museum für angewandte Kunst Wien, Passau 1980, S. 5. 46 Zu den Kurbädern als Heiratsmarkt vgl. Fuhs, Mondäne Orte, S.  232–235; zur entsprechenden Nutzung vonseiten der Mütter der jüdischen Mittelschicht vgl. M. A. Kaplan, The Making of the Jewish Middle Class. Women, Family and Identity in Imperial Germany, Oxford 1991, S. 91, 111, 126. Zum Glücksspiel vgl. die Anekdoten in R. T. Barnhart, Gamblers of Yesteryear, Las Vegas 1983. 47 Zur Metapher der »Bühne« vgl. Steinhauser, Das europäische Modebad, S. 112–115.

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so war es doch auch ein Ort, an dem man entspannen und den Strapazen der Arbeit, der Stadt, des Hofes oder der Ehe entfliehen wollte. Hielten Frauen nach geeigneten Ehepartnern für ihre Töchter Ausschau, so suchten Männer die Zerstreuung mit Frauen, die ihre Töchter hätten sein können – oder aber mit Prostituierten, die, solange sie diskret auftraten, in den Modebädern stillschweigend geduldet waren. Nicht nur die moralischen Codes, auch die Kleiderordnung und die Etikette waren in den Kurbädern weniger streng als in der Stadt.48 Bad Ems war einer der wenigen Orte, wo Wilhelm I. von Preußen und Deutschland in Zivil in Erscheinung trat; und auch mit den Regeln, wie man dem Kaiser »vorstellig werden« oder es sich in seiner Anwesenheit bequem machen durfte, nahm man es dort nicht so genau. Das Kurbad war ein Ort jenseits des Alltags, ein Ort, an dem man eine Rolle spielen durfte, und das nicht nur auf dem Maskenball. Goethe merkte einmal an, dass er Karlsbad eine »völlig andere Existenz« verdanke.49 Allerdings konnte die relative Anonymität und die Freiheit, sich neu zu er­ finden, auch Ängste schüren. Literarische Werke, die in Kurorten spielen, drehen sich häufig um weibliche Untreue oder junge Frauen von zweifelhafter Herkunft und Moral, die über ihren Stand hinaus heiraten wollen. Derartige Themen, oder auch Karikaturen von Frauen in Badeanzügen, weisen auf eine Mischung aus männlicher Lüsternheit und Angst hin.50 Die Benimmbücher warnten davor, dass die Anonymität und das Absenken der herkömmlichen Hemmschwellen die Wahrscheinlichkeit erhöhe, mit unerwünschten Personen in Berührung zu kommen – mit Neureichen oder Arrivisten wie der vom Satiremagazin Punch erfundenen Familie von Spangle Laquer, die ihren Zugang zu öffentlichen Orten  – »wo Distinktion erworben wurde, indem man dafür zahlte« – als Mittel zum gesellschaftlichen Aufstieg nutzte.51 Eine ebenfalls vertraute Figur der Kurortliteratur war der Hochstapler – ein Schreckgespenst, das der gesellschaftlichen Angst geschuldet war, Leute nicht richtig »einschätzen« zu können.52 Kurzum, im Kurort manifestierten sich viele unterschiedliche 48 Ein britischer Beobachter deutscher Kurbäder bemerkte in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, dass »Rang, Förmlichkeit und adelige Arroganz durch die entspannte Geselligkeit der Badeorte großteils über Bord geworfen werden«; vgl. D. Lieven, The Aristocracy in Europe. 1815–1914, London 1992, S. 151. 49 N. Boyle, Goethe. The Poet and the Age, Vol. 1. The Poetry of Desire, Oxford 1991, S. 387. 50 Siehe U. Harms, Moderne Susannen. Das Bild der Badenden in der Genrekarikatur der Jahrhundertwende, in: Saison am Strand, S. 34–38. 51 Davidoff, The Best Circles, S. 23 f. 52 Die beste literarische Darstellung dieses Typs ist wahrscheinlich Thomas Manns Spätwerk Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, dessen Hauptfigur (wie Mann selbst) in den 1870er Jahren geboren wurde. Im dritten Kapitel legt der achtjährige Felix zum ersten Mal die Kunstfertigkeit an den Tag, von der er später seinen Lebensunterhalt bestreiten wird: die High Society um den Finger zu wickeln. Im Kurbad Langenschwalbach imitiert er einen Geigenspieler so meisterhaft, dass die Adeligen, die der Familie Krull zuvor die kalte Schulter gezeigt hatten, verzückt das Wunderkind umringen, ihn eine alternde russische Fürstin auf die Stirn küsst und ihm, »unaufhörlich französisch redend«, eine Diamantenbrosche an

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soziale Dynamiken, die eine genauere Untersuchung wert sind: dazu gehört nicht nur der Verkehr zwischen Aristokratie und Bürgertum, sondern auch das Verhältnis zwischen der Welt des Geschäftemachens und der Kultur, zwischen Juden und Nichtjuden53, Männern und Frauen und nicht zuletzt zwischen der ehrbaren Fassade der guten Gesellschaft und den dahinter verborgenen Ängsten. Bisher mochten meine Ausführungen den Eindruck erweckt haben, als seien die großen Kurbäder untereinander austauschbar, und es ist sicherlich richtig, dass die Kurgäste ihre Gunst mal diesem, mal jenem Bad erwiesen, nicht nur von einer Saison zur nächsten, sondern sogar innerhalb derselben Saison. Die Kurbäder standen untereinander in permanentem Wettbewerb, und die verschiedenen, ja widersprüchlichen Formen, die diese Konkurrenz annahm, werfen wichtige Fragen über das Thema des Internationalismus auf. Einerseits hing die Berühmtheit eines Ortes maßgeblich von den Qualitäten ab, die ihn (angeblich) auszeichneten – dem genius loci von Baden-Baden oder Karlsbad. Das war eine der Funktionen, die von den sorgfältig kultivierten Legenden eines jeden Kurortes bedient wurden. Dazu zählten die Inkognito-Besuche gekrönter Häupter (Königin Viktoria quartierte sich als Gräfin von Balmoral in Biarritz ein), die sexuellen Indiskretionen der königlichen Familien, die enge Verbindung eines Kurorts mit bestimmten Schriftstellern oder Komponisten, die Legenden, die sich um die Kasinos rankten (Dostojewskis Verluste in­ Baden-Baden, Prinz Lucien Bonaparte, der in Homburg die Bank sprengte) oder die Geschichten über neue Modetrends (so soll Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen in Bad Pyrmont durch Zufall die Bügelfalte erfunden haben).54 Darüber hinaus betonte ein Kurort auch seine besondere natürliche Lage – die Berge, Seen oder Wasserfälle, die man unweigerlich mit diesem, und nur mit diesem, Ort assoziierte. Zu guter Letzt versuchten sich die Kurorte gegenseitig darin zu überbieten, die einzigartigen Vorzüge ihrer Einrichtungen – Parks, Ballsäle, Rennbahnen usw. – anzupreisen. Über das neue Kurhaus in Wiesbaden, das 1907 vom Kaiser höchstpersönlich eingeweiht wurde, schrieb ein zeitgenössischer Beobachter, dass »selbst der Glanz des Millionenhauses in Ostende der Bluse befestigt und ihn die Kinder des Grafen Siebenklingen einladen, mit ihnen eine Partie Krocket zu spielen. Eine differenzierte Diskussion des Themas des Hochstaplers in der amerikanischen Gesellschaft findet sich in K. Halttunen, Confidence Men and Painted Women, New Haven 1982. 53 Die Kurorte unterschieden sich auch in der Frage, ob und in welchem Maße sie Juden willkommen hießen. Einige Bäder, darunter Bad Ems, waren unter jüdischen Gästen sehr beliebt und avancierten zu Treffpunkten für Juden aus West- und Osteuropa; vgl. Sarholz, Bad Ems, S. 292; Kaplan, Making of the Jewish Middle Class, S. 124–126. 54 Diese Geschichten und Legenden werden in der nichtwissenschaftlichen Literatur ad infinitum wiedergekäut; vgl. z. B. H. Biehn u. J. Herzogenberg, Große Welt reist ins Bad, München 1960; J. Wechsberg, The Lost World of the Great Spas, London 1979; A. Niel, Die großen k. und k. Kurbäder und Gesundbrunnen, Graz 1984; sowie unzählige Lokalchroniken einzelner Kurorte. Der Verfasser von Bath Anecdotes and Characters, London 1782, benutzte das Pseudonym »Genius Loci«.

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mit dem weltberühmten Konzertsaal verblaßt vor den Zaubern dieser neuesten Luxusschöpfung«.55 Doch auch wenn die Kurorte ihre jeweils individuellen Geschichten, Landschaften und Prachtbauten betonten, so verkauften sie auch Traumwelten, die sich spätestens gegen Ende des 19.  Jahrhunderts vor allem dadurch auszeichneten, dass sie sich so frappierend ähnlich waren: die immer gleichen Palasthotels mit den immer gleichen Namen (Grand, Park, Excelsior, Imperial, Palace, Royal), gestaltet nach dem Vorbild der Hotels von César Ritz.56 Die immer gleiche Escoffier-Küche.57 Die immer gleichen Sportarten – Tennis- und Golfanlagen wurden für jedes große Bad, das etwas auf sich hielt, Pflicht. Die gleiche eklektische, historizistische Architektur – ein paar klassische Motive, ein bisschen Renaissance, ein Hauch First Empire, ein Schuss Exotik. Die gleichen bunten Musikprogramme mit Ouvertüren und eingängigen Potpourris.58 Selbst der Eifer, mit dem sich die Kurgäste auf den jeweils angesagtesten Tanzstil, den letzten Schrei der Mode oder den neuesten Starsopran stürzten, hatte etwas Eintöniges an sich. Im ausgehenden 19. Jahrhundert kam es zu einer unverkennbaren Angleichung der Angebote, welche die Kurorte für ihre Gäste bereitstellten. Tatsächlich leuchtet es also ein, Modebäder als Ausdruck für einen »internationalen Stil« der Reichen zu betrachten, wenngleich sich dieser von dem internationalen Stil unterschied, den wir mit der Geburt der Hochmoderne in der Architektur und Kultur in den Jahren vor 1914 assoziieren.59 Vor 1914 – vor dem Ersten Weltkrieg. Sobald man auf das Jahr 1914 zu sprechen kommt, ist es verlockend, die Geschichte als Abgesang auf das Ende einer friedlichen Belle Epoque zu schreiben.60 Zweifelsohne entbehrt es nicht eines gewissen symbolischen Pathos, dass Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau ihre letzten Nächte vor ihrer Abreise nach Sarajewo in Bad Ilidze verbrachten, oder dass Kaiser Franz Joseph das Ultimatum an Serbien in Bad Ischl unterzeichnete, bevor er zwei Tage später seine geliebte Residenz, in der er 66 Sommer verbracht hatte, zum letzten Mal verließ.61 Zweifellos markiert 55 Zitiert nach Fuhs, Mondäne Orte, S. 173. 56 Siehe M. Schmitt, Palast-Hotels. Architektur und Anspruch eines Bautyps 1870–1910, Berlin 1982; Grand Hotel. The Golden Age of Palace Hotels. An Architectural and Social History, New York 1984, v. a. die Aufsätze von D. Watkin (S. 13–15) und H. MontgomeryMassingberd (S. 147–163). 57 Zu Escoffier, dessen Karriere eng mit der von César Ritz verknüpft war, vgl. S. Mennell, All Manners of Food. Eating and Taste in England and France from the Middle Ages to the Present, Oxford 1985, S. 157–163. 58 M. Schönherr, Bademusik, in: Große Welt reist ins Bad 1800–1914, S. 24–32. 59 Eine mögliche Ausnahme bildet das Aufkommen von Art-Nouveau-Motiven bzw. ihrer jeweiligen nationalen Entsprechung (Jugendstil, Stile Floreale) in der Bäderarchitektur. 60 Allgemein stellt die Elegie einen verbreiteten Topos in fiktionalen Darstellungen des Bäderlebens dar, von Goethes Marienbader Elegie (1823) bis hin zu Alain Resnais Film Letztes Jahr in Marienbad (1961); siehe G. Heindl, Ein »weites Land« oder das Bad in der Literatur, in: Große Welt reist ins Bad 1800–1914, S. 33–35. 61 Niel, Die großen k. und k. Kurbäder, S. 27, 127–129.

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der Krieg eine Wasserscheide. Bedienstete und Angestellte wurden kurzfristig an die Front einberufen, verwundete Soldaten trafen ein, ausländische Gäste blieben aus. Hin und wieder tauchten die Kurbäder auch in den Propaganda­ schriften und nationalen Stereotypen der Kriegszeit auf. Französische Orchester strichen deutsche Stücke von ihrem Spielplan und umgekehrt. Noch 1913 hatte der französische Kurarzt Louis Lavielle deutsche Kurorte besucht und sie seinen Landsleuten als positives Vorbild nahegelegt. Nach Ausbruch des Krieges verfasste er zusammen mit seinem Vater, ebenfalls Arzt, ein weiteres Pamphlet. Die Franzosen, so schrieb er nun, hätten immer gewusst, dass die Deutschen ungehobelt, gefräßig, trunksüchtig, raffgierig und grausam seien (»grossiers, gloutons, ivrognes, pilleurs et cruels«), aber in ihren Kurorten zeigte sich außerdem ihre Eitelkeit, Verlogenheit und Unersättlichkeit (»réclamiers, épateurs, piaffeurs, bluffeurs, puffistes, esbroufeurs«).62 Auch langfristig zog der Krieg Veränderungen nach sich. Das hatte weniger damit zu tun, dass sich die Besucherzahlen nicht erholten – oft war sogar das Gegenteil der Fall –, sondern dass in den Modebädern nun eine andere gesellschaftliche Atmosphäre herrschte.63 Durch die Ausweitung der staatlichen Gesundheitsfürsorge änderte sich die Zusammensetzung der Kurgäste, und es erwies sich nach dem Krieg als schwierig, die sorglose Welt der Reichen und Schönen wiederherzustellen. In­ sofern das überhaupt gelang, erhöhte sich aber auch die Vielfalt der dazu auserkorenen Orte, da die gesellschaftliche Elite bemüht war, der breiten Masse, die nun die Kurorte aufsuchte, immer einen Schritt voraus zu sein. Nichtsdestotrotz waren auch schon vor 1914 erste Wolken im Paradies aufgezogen. So hatte die Behauptung von der gesellschaftlichen Exklusivität der Bäder bereits hohl geklungen, als Orte wie Baden-Baden und Wiesbaden einen enormen Anstieg der Besucherzahlen (vor allem von Tagesgästen) verzeichneten. Bereits vor dem Krieg boten die Rivieras und diverse andere europäische 62 Orsenna u. Terrasse, Villes d’eaux, S. 125–131. Die Lavielles stellten die Franzosen als Verkörperung der wahren Kultur dar, die Deutschen als verlogene Profiteure einer materialistischen Zivilisation. Das stellt natürlich die uns geläufigere Rollenverteilung auf den Kopf, die wir mit Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) assoziieren. Während Mann die Überlegenheit der deutschen Kultur über die französische und angelsächsische Zivilisation pries, wurde diese moralische Zuschreibung aufgrund der Erfahrung des Dritten Reichs von Norbert Elias und anderen umgedreht. Mit Verweis auf die angeblich schicksalshafte (und altbekannte) deutsche Neigung, die Kultur über die Zivilisation zu stellen, wurde nun argumentiert, dass der Nationalsozialismus angeblich auf die Besonderheiten des »deutschen Geistes« zurückzuführen sei – eine Interpretation, die im folgenden sehr einflussreich war. Meine Kritik an dieser Sichtweise findet sich in Blackbourn u. Eley, The Peculiarities of German History, v. a. S. 211–221; sowie in D. Blackbourn, The Fontana History of Germany: The Long Nineteenth Century, 1780–1918, London 1997, Kap. 3 u. 8. 63 Ein gutes Beispiel dafür ist Cauterets in den Pyrenäen. Die Anzahl der Besucher stieg von 6.800 vor 1914 auf 50.000 nach dem Ersten Weltkrieg, aber es war nicht mehr das Kurbad der Häuser von Orléans und von Sachsen-Coburg-Gotha, von Edward VII. und von Alfonso XIII. von Spanien; vgl. J.-L. Vallas, Cauterets. Mille ans d’histoire et d’idylle, Cauterets 1982, S. 79.

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und internationale Orte attraktive Alternativen für Alt- und Neureiche, vor allem für die jüngere Generation. Wie Lady Dorothy Nevill 1907 anmerkte, war das »Leben eines reichen Mannes von heute« eine »Art Feuerwerk! Paris, Monte Carlo, Großwildjagd in Afrika, Fischen in Norwegen, ein kurzer Ausflug nach Ägypten, eine Reise nach Japan«.64 Zweitens, und grundlegender, ließen sich die Konflikte und Krisen der größeren Welt, vor denen die Gäste in die Traumwelt der Kurorte entfliehen wollten, nie gänzlich außen vor halten. So hatte der Börsenkrach von 1873 – der ins Gedächtnis rief, dass der Kapitalismus Ähnlichkeiten mit dem Roulette-Rad aufwies – in mehreren mitteleuropäischen Kurbädern einen Rückgang der Gästezahlen zur Folge. Und während die Kur­bäder ihre Besucher gern im Anblick exotischer Palmen und Pagoden schwelgen ließen, wurden dort auch Tropenkrankheiten behandelt (Plombières war darauf spezialisiert)  – eine Erinnerung daran, dass der Zivilisationsauftrag auch an den Europäern selbst nicht spurlos vorbeiging.65 Bereits zu früheren Zeiten hatten Kriege ihre Wirkung gezeigt. Die Napoleonischen Kriege zogen die meisten europäischen Kurbäder in Mitleidenschaft, in den Jahren 1866 und 1870 brachte die Mobilmachung die Saison abrupt zum Erliegen, und nach dem DeutschFranzösischen Krieg kam es in den deutschen Kurbädern zu einem merklichen Schwund französischer Gäste.66 Auch vor 1914 war der Wettbewerb zwischen einzelnen Bädern nicht frei von schwülstigem Nationalstolz gewesen. Und zu guter Letzt kam es im 19. Jahrhundert in den Kurbädern immer wieder zu versuchten Attentaten – so zum Beispiel auf Kaiser Ferdinand I. in Baden bei Wien (woraufhin die Habsburger Bad Gastein und Bad Ischl den Vorzug gaben), auf Wilhelm I. in Baden-Baden oder auf Bismarck in Bad Kissingen. Es hatte also von jeher Menschen gegeben, die der von den Modebädern repräsentierten Welt feindselig gegenüberstanden. Das Kurbad als Opfer? Nicht ganz. Ich habe die These geäußert, dass das Bäderleben auf Illusionen und Verdrängungen gründete. Langeweile  – das zentrale Motiv der Kurbadromane und -memoiren  – konnte in Aggression umschlagen.67 Diese ließ sich in akzeptable Formen lenken: Glücksspiel, Sport, Kartenspiel, gesellschaftliche Eroberungen. Von der Jagd lässt sich das allerdings kaum behaupten (man denke nur an Kaiser Franz Joseph und die über 50.000 Tiere, die er zeit seines Lebens in Bad Ischl erlegte).68 Genauso wenig von den Duellen, die gelegentlich zwischen den Kurgästen stattfanden. In seinem Gedicht »Don Juan«, einer Anklage der »guten Gesellschaft«, reimte ­Byron das 64 D. Cannadine, The Decline and Fall of the British Aristocracy, New Haven 1990, S. 384. 65 Orsenna u. Terrasse, Villes d’eaux, S. 58–61. 66 Sarholz, Bad Ems, S. 214 f., 280, 283; Fuhs, Mondäne Orte, S. 364, 373, über Wiesbaden und Baden-Baden. 67 Für Wolf Lepenies stehen »der Dandy nach dem Vorbild von Beau Brummell« und der Flaneur, beides klassische Kurbadtypen, als Vertreiber der Langeweile bzw. Melancholie in der Nachfolge des Hofnarren; vgl. Lepenies, Melancholy and Society, S. 69, 87–89. 68 Wechsberg, Lost World, S. 100.

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Wort »Ennuyirten« (bored) auf die Bande von »[P]olirten« (the polish’d horde).69 Man könnte argumentieren, dass in den großen Bädern der Vorkriegszeit eine dünne Zivilisationsschicht die vielen niederen Instinkte überdeckte – was übrigens genau die Kritik war, welche die Oberschichten der damaligen Zeit an den niedrigeren Ständen übten. Ein letzter Punkt verdient Erwähnung. Noch vor einer Generation wurde in den Lehrplänen die politische Geschichte Europas im 19.  Jahrhundert anhand großer Ereignisse der hohen Politik abgehandelt  – dazu zählten das Treffen zwischen Napoleon III. und Cavour in Plombières, die Bad Gasteiner Beschlüsse zwischen Preußen und Österreich und Bismarcks Verfälschung der Emser Depesche. Doch auch nach den turbulenten Jahrzehnten zwischen ca. 1850 und 1871, in der die internationale Politik in neue Formen gegossen wurde, ging die »Kurbad-Diplomatie« weiter. Der Zweibund zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn von 1879 wurde in Bad Gastein verkündet, und vor dem Krieg trafen sich Edward VII., die französischen Minister Millerand und Clemenceau und der russische Außenminister Iswolski mehrmals in Karlsbad. Dass auf der Promenade Politik gemacht wurde, erinnert uns daran, dass die politischen Geschicke auch noch im Zeitalter des europäischen Hochkapitalismus in erster Linie von dynastischen Herrschern und einer überschaubaren politischen Klasse gelenkt wurden. Lassen Sie mich diesen Gedanken weiterspinnen. James Joll hat dazu aufgerufen, die »unausgesprochenen Annahmen« der Entscheidungsträger des Jahres 1914 zu untersuchen, und so sollten wir nicht vergessen, dass diese Entscheidungen zwischen Mai und Oktober – im Jahr 1914, im Juli – getroffen wurden, an Orten, an denen die raue Wirklichkeit des Lebens systematisch ausgeblendet wurde.70

69 Zitiert nach P. M. Spacks, Boredom. The Literary History of a State of Mind, Chicago 1995, S. 191 f. Daniel Defoe bemerkte im 18. Jahrhundert mit Blick auf Bath, dass es den Müßigen und Sorglosen dabei half, »den schlimmsten aller Morde zu begehen – die Zeit totzuschlagen«; vgl. Wechsberg, Lost World, S. 16. 70 J. Joll, 1914. The Unspoken Assumptions, London 1968.

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12. Der Nimbus der Ostgrenze zur Zeit des Nationalsozialismus1

Der deutsche Überfall auf Polen im Jahr 1939 und die anfänglichen militärischen Erfolge gegen die Sowjetunion nach dem Juni 1941 entfesselten grandiose Vorhaben für die deutsche Besiedlung des Ostens. Die Pläne sahen die Entwurzelung von Zigmillionen Menschen vor. Deutsche und andere gefällige Rassen würden als Kolonisten fungieren. Einige der ursprünglichen Bewohner würden »germanisiert« werden, der Rest war für die Vernichtung, die Zwangsarbeit oder die Umsiedlung nach Osten auserkoren. Da sich der Schwerpunkt der historischen Forschung zum Dritten Reich in jüngster Zeit von den Jahren 1933 bis 1939 hin zu den darauffolgenden sechs Kriegsjahren verschoben hat, wissen wir heute hinlänglich darüber Bescheid. Dank der Arbeit der Wissenschaftler sind uns die Pläne für einen »deutschen Osten  – ihre Brutalität, ihr nachlassender Optimismus sowie ihre stets von internen Streitigkeiten geprägte Dynamik – bestens bekannt. Eine Vielzahl von Elementen und Motiven wurden näher beleuchtet: der Glaube an das geopolitische Schicksal; die Ausbeutung von Material und Mensch; der technokratische Eifer der Planer und »Experten«; das Streben nach »Lebensraum«; die empfundene Notwendigkeit, das Grenzgebiet militärisch zu sichern; das Gebot, die Wehrmacht mit Nachschub zu versorgen; und der zugrundeliegende (wenn auch in der Praxis äußerst inkonsequente) Glaube an die Überlegenheit der deutschen Rasse, gepaart mit dem daraus folgenden Sendungsbewusstsein, dem rückständigen Osten deutsche »Ordnung« zuteil werden zu lassen. Dieser Aufsatz behandelt zwei Aspekte der deutschen Ostpläne, die bislang noch wenig Beachtung fanden. Sie klingen im Titel an. Die Eroberung der Natur ist ein im Deutschland der Neuzeit häufig gebrauchter Begriff, mit dem die Trockenlegung von Sumpf- und Moorgebieten, die Regulierung von Flüssen und der Bau von Talsperren zur Trinkwassergewinnung, Hochwasservermeidung oder Wasserkrafterzeugung beschrieben 1 Der Aufsatz erschien ursprünglich in R. L. Nelson (Hg.), Germans, Poland, and Colonial Expansion to the East. 1850 Through the Present, New York 2009, S. 141–170. Aus der beständig wachsenden Literatur zu diesem Thema seien nur folgende Veröffentlichungen jüngeren Datums genannt: G. Thum (Hg.), Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006; W. Wippermann, Die Deutschen und der Osten. Feindbild und Traumland, Darmstadt 2007; M. Mazower, Hitler’s Empire, New York 2008; V. Liulevicius, The German Myth of the East. 1800 to the Present, New York 2009; C. Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, Göttingen 2011; S.  Baranowski, Nazi Empire, New York 2011.

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wurde. Mein Interesse gilt der Frage, wie diese Eingriffe in die Natur das Land physisch verändert haben, aber auch, welche kulturellen Bedeutungen diesen Veränderungen beigemessen wurden und durch welche politischen und wirtschaftlichen Machtbeziehungen sie ermöglicht wurden. Denn die Herrschaft der Natur verrät uns viel über die Natur der Herrschaft, um es mit den prägnanten Worten Christof Dippers auszudrücken.2 Dies gilt mit Sicherheit für das Deutschland der Nazizeit und vielleicht in noch stärkerem Maße für die von Deutschland besetzten Gebiete in Osteuropa. Diese wurden zu einem regelrechten Versuchslabor zur Schaffung einer nach deutschem Vorbild »gebändigten« und geordneten Landschaft.3 Und der historisch begründete Nimbus des robusten deutschen Siedlers an der Ostgrenze stand im Mittelpunkt dieses Unterfangens. Lassen Sie mich den Aufsatz in einem sehr feuchten Teil Osteuropas beginnen. In den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts erstreckten sich die Pripjetsümpfe, auch Polesische Sümpfe genannt, entlang der Grenze zwischen Ostpolen und dem sowjetischen Weißrussland. Mit einer Fläche von rund 270.000 Quadratkilometern bilden sie bis heute das größte Feuchtgebiet Europas. Die Region war von Sümpfen, Mooren und Seen durchzogen, eine Landschaft aus Weiden und Schilf, dazwischen immer wieder bewaldete Streifen aus Kiefern, Birken und Erlen. Zuflüsse des Pripjet wie der Stochid entwässerten aus den umliegenden Höhen in ein flaches Becken, wo die Niederschlagsmenge größer war als die Verdunstung. Diese mäandernden Flüsse gaben dem ganzen Gebiet seinen Charakter, vor allem im Frühjahr, wenn Eistau und Schneeschmelze die gesamten Flussniederungen überschwemmten und eine Wasserwelt schufen, die dem alten preußischen Oderbruch vor seiner Trockenlegung unter Friedrich dem Großen ähnelte, wenn auch die Dimensionen weitaus größer waren. Wölfe und Wildschweine lebten in den Waldgebieten, Wildenten erfüllten den Himmel und Mücken fanden dort ideale Brutstätten.4 Manche der damaligen Besucher, darunter beispielsweise die amerikanische Geografin Louise Boyd, schwärmten von dem, was sie dort zu sehen bekamen. Martin Bürgener, ein deutscher Geograf aus Danzig, war aus anderem Holz geschnitzt. Als er 1939 die Pripjetsümpfe als »eines der am wenigsten entwickelten und urtümlichsten Gebiete Europas« beschrieb, war das nicht als Kompliment 2 So lauten die Überschriften des ersten und fünften Kapitels von C. Dipper, Deutsche Geschichte 1648–1789, Frankfurt a. M. 1991. 3 Vgl. dazu die bahnbrechenden Arbeiten von Gert Gröning und Joachim Wolschke-Bulmahn, v. a. G. Gröning u. J. Wolschke-Bulmahn, Die Liebe zur Landschaft. Teil 3: Der Drang nach Osten: Zur Entwicklung im Nationalsozialismus und während des Zweiten Weltkrieges in den »eingegliederten Ostgebieten«, München 1987. 4 L. Boyd, The Marshes of Pinsk, in: Geographical Review, Jg. 26, 1936, S. 376–395; M. Bürgener, Pripet-Polessie. Das Bild einer polnischen Ostraum-Landschaft, Petermanns Geographische Mitteilungen Nr. 237, Gotha 1939; K. Freytag, Raum deutscher Zukunft. Grenzland im Osten, Dresden 1933, S. 84; J. M. Nankivell u. S. Loch, The River of a Hundred Ways, London 1924.

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gedacht. Bürgener sah in dieser »graudunklen Wüste« in erster Linie eine Reihe von Problemen: unkontrollierte Wasserstraßen, Insekten und Ungeziefer, eine instabile Wirtschaft, die auf Jagd, Fischfang und einer primitiven Landwirtschaft basierte, und Menschen, die »in hoffnungslosem Stumpfsinn vegetieren«. Lediglich einige wenige Stellen, wo sich offenbar noch Spuren der frühen »germanischen« Einflüsse bemerkbar machten, waren von dem »chaotischen« Siedlungsmuster ausgenommen.5 Wo Bürgener Probleme sah, bot er auch Lösungen an. Der Pripjet und seine Zuflüsse sollten reguliert und Entwässerungsgraben ausgehoben werden. In dem Schwemmland in den Flusstälern würde dann eine Vieh- und Milchwirtschaft gedeihen, die der holländischen in nichts nachstehen würde. Auf trockengelegtem Sumpfgebiet könnten Feldfrüchte angebaut werden und der aus dem Moor gestochene Torf würde wertvolle Energie liefern. Laut Bürgener würde es dank »einer umfassend durchgeführten Melioration Polessies« zu einem »Zuwachs der agrarischen Nutzfläche um mindestens 2.000.000 ha« kommen.6 Aber das war noch nicht alles. Die Sümpfe befanden sich geografisch an einem europäischen Schnittpunkt zwischen Ost und West, Nord und Süd. Würde man die Verkehrsinfrastruktur der Region, vor allem ihre Wasserstraßen, richtig entwickeln, wäre die Region nicht länger eine Barriere, sondern ein Bindeglied zwischen Deutschland und dem Osten, der Ostsee und dem Schwarzen Meer.7 Wer stand dieser grandiosen Vision im Wege? Bürgener identifizierte drei Schuldige: Slawen, Juden und der polnische Staat. Sein Buch ist durchzogen von einer rassisch begründeten Hypothese, wonach die slawischen Bewohner Pole­ siens träge und untätig waren, unfähig, ihre eigene Umwelt zu gestalten. Die Landschaft sei, wie es ein anderer Geograf im Duktus der damaligen Zeit ausdrückte, »ein Spiegel völkischer Kultur«.8 In Begriffen, die er unmittelbar bei Hans Günther, dem Rassentheoretiker der Nazis, entlehnte, beschrieb Bürgener die polesischen Slawen als typische »Kurzköpfe«, Angehörige der »ostbaltischen Rasse«, eines Volkes, das es per definitionem »aus eigener Kraft und Fähigkeit nicht ver[mochte], seinen Lebensraum zu erweitern«. Er ging allerdings noch weiter und schlug vor, »eine bewusste Eindämmung der entarteten Fruchtbarkeit dieser minderrassigen Bevölkerung […] zu erwägen«.9 Hier verband 5 Bürgener, Pripet-Polessie, S. 9, 46, 53, 56. 6 Ebd., S. 86–90, Zitat S. 90. 7 Ebd., S. 115–121, 127 f. 8 Wilhelm Grotelüschen, zitiert nach H.-D. Schultz, Die deutschsprachige Geographie von 1800 bis 1970, Berlin 1980, S. 205. 9 Bürgener, Pripet-Polessie, S. 56 f. Zwei von Günthers Werken – Rassenkunde des deutschen Volkes und Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes  – erreichten Auflagen, die in die Hunderttausende gingen. Bürgener bezieht sich in seinem Text auf Günther, erwähnt aber keines seiner Werke in der Bibliographie. Gustav Pauls Grundzüge der Rassen- und Raumgeschichte des deutschen Volkes (München 1935) wurde von Bürgener in ähnlicher Absicht verwendet.

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sich die Rassensprache des Dritten Reiches mit älteren kulturellen Vorurteilen, wonach die Slawen aufgrund der angeblich ungenügenden Eigenschaften der von ihnen bewohnten Landschaft stereotypisiert wurden. Bürgener sprach von »Eindämmung« – ein Wort, das normalerweise für das Eindeichen bedrohlicher Gewässer benutzt wurde. Die unverhohlen rassistische Sprache des Dritten Reiches zeigte sich noch deutlicher in Bürgeners Beschreibungen der jüdischen Bevölkerung Polesiens – ungefähr zehn Prozent der Gesamtbevölkerung – als eine »landschaftsfremde und parasitäre Minderheit«.10 Sein Buch, das von der ältesten geografischen Fachzeitschrift in Deutschland veröffentlicht wurde, beschwört Szenen herauf, die gut in den nationalsozialistischen Propagandafilm »Jud Süß« gepasst hätten. Aber worum es mir beim Hinweis auf die hasserfüllten Beschreibungen Bürgeners geht, ist die Verbindung zwischen Landschaft und Rasse. Wenn er zum Beispiel den Entwicklungsbedarf der Region zusammenfasst, so tut er das in einem langen Satz, der mit Plänen zur Trockenlegung anfängt und mit dem Hinweis auf »eine organische Lösung der Judenfrage« aufhört.11 Bürgeners drittes Hindernis auf dem Weg in Richtung Fortschritt war Polen. Dass ein Deutscher aus Danzig die Rechtmäßigkeit und Kompetenz des polnischen Staates anfocht, war nicht weiter verwunderlich; darüber hinaus muss Bürgeners Kritik vor dem Hintergrund der deutschen Ablehnung der Gebietsverluste durch den Versailler Vertrag und des »polnischen Korridors«, der Ostpreußen vom restlichen Deutschland trennte, gesehen werden. Bürgener äußert sich allerdings nicht konkret über die früheren deutschen Gebiete im Westen. Sein Angriff richtet sich darauf, was Polen im Osten angeblich getan – beziehungsweise nicht getan – hatte. Die fehlenden Fortschritte bei der Trockenlegung und Besiedlung der Gegend (die sich tatsächlich schwer bestreiten lassen) werden als Beweis ins Feld geführt, um zu einer radikalen Schlussfolgerung zu gelangen, nämlich »dass Polen sich dieser Aufgabe der Ostkolonisation nicht gewachsen zeigt«.12 Da Warschau sich der Herausforderung des Drangs nach Osten nicht gestellt habe, blieben die Pripjetsümpfe »toter Raum« ohne Anbindung an das restliche Polen, »totes Fleisch am Körper des polnischen Staates«.13 Wieder wurden Trockenlegung und Besiedlung untrennbar mit der Rassenfrage verbunden: In Bürgeners Augen hatte Polen es versäumt, polnische Kolonisten in einer Gegend anzusiedeln, die ethnisch von Ukrainern, Weißrussen und Juden dominiert war. Im Verlauf der weiteren Argumentation  – die er durch (für uns schauerlich surreale)  Behauptungen stützt, wonach die polnischen Volkszähler in Rassefragen »Willkür« walten ließen – wird deutlich, dass es dem Autor in Wirklichkeit um etwas anderes ging. Er entwarf ein Bild dessen, was

10 Bürgener, Pripet-Polessie, S. 61. 11 Ebd., S. 105. 12 Ebd., S. 92. 13 Ebd., S. 91, 122.

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ein echtes Kolonisatorenvolk tun würde, ein Volk, das sich seiner »Mission« im Osten bewusst ist, das sich der umfassenden Trockenlegung der Sümpfe widmen würde und das kühn genug war, um zu erkennen, dass es darum eine »biologisch richtige Lösung« für die einheimische Bevölkerung zu finden galt.14 Es war eindeutig nicht das polnische Volk, das Bürgener im Sinn hatte. Bald nach Erscheinen des Buches wurde Polen durch Deutschland und die Sowjetunion aufgeteilt. Die Pripjetsümpfe fielen unter sowjetische Kontrolle – wenn auch nicht für lange. Vorerst lag Deutschlands Aufmerksamkeit anderswo. Die westlichen Teile Polens wurden unmittelbar in das Deutsche Reich einverleibt. Vor allem im Warthegau wurden deutschstämmige Siedler aus dem Baltikum, Wolhynien und Bessarabien »neu angesiedelt«, während die einheimische polnische und jüdische Bevölkerung in das Generalgouvernement »evakuiert« wurde, das polnische Rumpfgebiet, das dazu auserkoren war, Deutschland mit Zwangsarbeitern und Rohstoffen zu versorgen und als Auffangbehälter für rassisch »unerwünschte« Elemente aus dem Reich zu dienen.15 Aber bereits im Herbst 1939 ersann die SS Mittel und Wege, wie man die Juden noch weiter nach Osten vertreiben könne – der Nisko-Plan war ein Beispiel –, und Anfang 1941, im Vorlauf zur Operation Barbarossa, konkretisierte sich der Euphemismus »nach Osten« nach und nach zu bestimmten Orten, an denen die jüdischen Arbeiter zu Tode geschunden werden konnten.16 Die Pripjetsümpfe waren einer dieser Orte. Im Juni 1941 gab die Planungsabteilung in Himmlers Reichkommissariat für die Festigung deutschen Volkstums, das für die Ostkolonisation zuständig war, eine Studie über die Region in Auftrag.17 Zur selben Zeit wurde die Abschiebung von Polen und Juden ins Generalgouvernement eine Quelle zunehmender Frustration für dessen Gouverneur, Hans Frank. Er beschwerte sich, man behandele das Generalgouvernement wie einen »Misthaufen […], auf dem man allen Dreck des Reiches abkehren und abschieben konnte«.18 Der ehrgeizige Frank, der mit der SS regelmäßig über Zu14 Ebd., S. 56. 15 Siehe M. Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939–1945, Stuttgart 1961; J. von Hehn, Die Umsiedlung der baltischen Deutschen. Das letzte Kapitel baltisch-deutscher Geschichte, Marburg 1982; H. Stossun, Die Umsiedlungen der Deutschen aus Litauen während des Zweiten Weltkrieges, Marburg 1993; V. O. Lumans, Himmler’s Auxiliaries. The Volksdeutsche Mittelstelle and the German National Minorities of Europe 1922–1945, Chapel Hill 1993. 16 Zum Nisko-Plan vgl. H. Safrian, Die Eichmann-Männer, Wien 1993, S. 68–85; C. R. Brow­ ning, Nazi Policy, Jewish Workers, German Killers, Cambridge 2000, S. 6 f.; P. Burrin, Hitler and the Jews, London 1994, S. 72. 17 G. Aly, »Final Solution«. Nazi Population Policy and the Murder of the European Jews, New York 1999, S. 176. 18 Hans Franks Bericht über das Generalgouvernement, 9. Dezember 1942 in: A. J. Kaminski, Nationalsozialistische Besatzungspolitik in Polen und der Tschechoslowakei 1939–1945. Dokumente, Bremen 1975, S. 89 f.; W. Präg u. W. Jacobmeyer (Hg.), Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen 1939–1945, Stuttgart 1975, S. 585 f., verweist ebenfalls auf Franks Rede zum Jahresende, paraphrasiert diese Anfangspassage aber nur kurz.

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ständigkeitsfragen im Clinch lag, wollte aus seinem Lehnsgut mehr als nur eine bequeme Müllhalde machen. Was die Polen anging, betrachtete Frank den brutalen Zwangsarbeitskurs aus rein praktischen Gründen als kontraproduktiv. Hinsichtlich der Juden waren seine Bedenken allerdings anderer Art: er wollte sie genau so wenig in seinem Gebiet haben wie Gauleiter Arthur Greiser sie im Warthegau haben wollte. Und so brüteten Frank und seine Planer in Krakau den Plan aus, die Juden zu »entfernen«, indem man das Generalgouvernement weiter nach Osten ausdehnte. Erneut boten sich die Pripjetsümpfe an. Franks Ökonomen veröffentlichten Artikel und hielten Vorträge in Berlin, in denen sie sich schamlos aus Martin Bürgeners Buch bedienten, um die Region als einen geopolitischen Knotenpunkt und als wertvolle Quelle von Torf und urbar gemachtem Land darzustellen. Einer dieser Technokraten sprach von einem hundert Jahre währenden Projekt der Torfgewinnung und Kolonisation.19 Frank selbst sagte im Juli 1941, dass sich »bei einer konsequent durchgeführten Entwässerung und Urbarmachung […] aus diesem Gebiet zweifellos nicht unbeträchtliche Werte herausholen [lassen]« und er die »Möglichkeit sehe, Bevölkerungselemente (vor allen Dingen jüdische) in eine produktive und dem Reich dienende Beschäftigung zu bringen.«20 Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz innehalten und einige Aspekte dieser Vorschläge herausarbeiten, die von breiterer Bedeutung sind. Da ist zum einen die Betonung auf produktive Ressourcen als Teil einer brutalen Rassen­politik, die sich alle deutschen Behörden mit Interesse am Osten zueigen machten: die Gauleiter in den »eingegliederten Gebieten«; Rosenbergs Ostministerium, Goerings Vierjahresplanbehörde, die Organisation Todt, die Quartiermeister der Wehrmacht, Privatunternehmen, das Generalgouvernement, die SS. So sehr sie sich auch über Nuancen, Taktiken und vor allem Zuständigkeiten stritten, so waren sich doch alle darin einig, dass der Osten Deutschland mit Nahrung, Energie, Siedlungsland und Zwangsarbeitern versorgen würde. Dieser Drang zur wirtschaftlichen Ausbeutung ging einher mit einem ausgeprägten technokratischen Zug (der allerdings bei den Soldaten und Unternehmern weniger ausgeprägt war als bei den anderen). Egal wo wir hinschauen, nahmen

19 H. Schepers, Pripet-Polesien, Land und Leute, in: Zeitschrift für Geopolitik, 1942, S. ­278–287, Zitat S. 287. Siehe auch H. Meinhold, Das Generalgouvernement als Transitland. Ein Beitrag zur Kenntnis der Standortslage des Generalgouvernements, in: Die Burg, Jg. 2, Heft 4, 1941, S. 24–44; R. Bergius, Die Pripetsümpfe als Entwässerungsproblem, in: Zeitschrift für Geopolitik, Jg. 18, 1941, S. 667 f.; D. Pohl, The Murder of Jews in the General Government, in: U. Herbert (Hg.), National Socialist Extermination Policies, New York 2000, S. 86; G. Aly u. S. Heim, Vordenker der Vernichtung, Hamburg 1991, S. 119, 249–252. 20 Hans Frank an Hans-Heinrich Lammers, Chef der Reichskanzlei, 19.  Juli 1941, in Aly, »Final Solution«, S. 175. Keine drei Tage nach dem Brief an Lammers, am 22. Juli 1941, war in Franks »Diskussionspunkten« für ein Treffen im Generalgouvernement die Rede von dem »Ventil, würde man Juden und andere asoziale Elemente nach Osten drängen«; vgl. Präg u. Jacobmeyer, Diensttagebuch, S. 389.

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Wasserbaupläne – die »Ordnung« des Landes durch die »Eroberung« des Wassers – eine herausragende Rolle ein. Es gab Trockenlegungs- und Flusskorrektionspläne für den neuen Warthegau, und Hans Franks Verwalter im Generalgouvernement erdachten eine Vielzahl von Projekten mit dem Ziel, die Bug und die Weichsel zu regulieren, andere Wasserstraßen einzudämmen und zu kanalisieren, Bewässerungsprojekte zu initiieren und in den Karpaten Dämme zur Gewinnung von Wasserenergie zu bauen.21 Dann war da noch Heinrich Himmlers Befehl an den Auschwitzkommandanten Rudolf Höß im März 1941, er möge sich doch der Häftlinge des in der sumpfigen Weichselebene erbauten Lagers bedienen, »damit das ganze Sumpf- und Überschwemmungsgebiet an der Weichsel nutzbar« gemacht werden könne.22 Als Primo Levi Auschwitz später als die »letzte Kloake des deutschen Universums« bezeichnete, fühlte er sich in das Denken seiner Verfolger ein, für die Entwässerung Metapher und Realität zugleich war.23 Aber die grandiosen Pläne gingen über den Bau von Wasserwegen hinaus. Es gab Vorschläge, das Autobahnsystem nach Osten zu erweitern, das Land mit Strom zu versorgen und Städte dort anzusiedeln, wo sie – in Einklang mit der Theorie des Systems zentraler Orte  – sein sollten, nicht wo sie – mit skandalöser Planlosigkeit – tatsächlich waren. Die Besatzer holten sich Rat bei Bodenkundlern, Botanikern, Pflanzenzuchtgenetikern, Demografen, Luftbildfotografen, Meteorologen und nicht zuletzt Regional- und Landschaftsplanern.24 Zu letzteren zählte zum Beispiel Erhard Mäding, der unter Konrad Meyer am sogenannten »Generalplan Ost« arbeitete. Seine Schriften zeugen von dem berüchtigten »Ostrausch«, der die hauptsächlich jungen und ehrgeizigen Planer erfasste. Sie geben uns auch einen Einblick in den Charakter der Pläne. Mäding hatte nur abfällige Worte für die alte, »idyllische« Landschaft, an der viele Deutsche hingen. Aus Mädings Sicht verbargen sich dahinter viele ernsthafte Probleme. Die von den Planern avisierte »bewusst gestaltete Landschaft« wäre »in ihren Linien, Farbwerten und Formen einfacher« und größer.

21 Siehe z. B. den Tagebucheintrag vom 26. Oktober 1943, in dem stolz von der Trockenlegung von 230.000 Hektar Land, dem Bau von Deichen in einer Gesamtlänge von 225 Kilometern, begradigten Flüssen in einer Länge von 1.100 Kilometern, 3.600 Kilometer neue Entwässerungskanäle und dem Baubeginn der Roznower Talsperre die Rede ist; vgl. Präg u. Jacobmeyer, Diensttagebuch, S. 749. 22 Y. Bauer, Rethinking the Holocaust, New Haven 2001. 23 P. Levi, Moments of Reprieve. A Memoir of Auschwitz, New York 1987, S. 124. 24 Zahlreiche Beispiele für diese technokratische Hybris finden sich in Neue Dorflandschaften. Gedanken und Pläne zum ländlichen Aufbau in den neuen Ostgebieten und im Altreich. Herausgegeben vom Stabshauptamt des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums, Planungsamt sowie vom Planungsbeauftragten für die Siedlung und ländliche Neuordnung, Berlin 1943. Siehe auch M. Rössler u. S. Schleiermacher (Hg.), Der »Generalplan Ost«. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993, und S.  Heim (Hg.), Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus, Göttingen 2002.

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»Sie wird […] erkennen lassen, dass sie in hohem Maße ein Erzeugnis menschlichen Geistes ist, eine Kulturform, ja ein Kunstwerk.«25 Die produktivistischen, technokratischen Vorschläge zur Trockenlegung der Pripjetsümpfe waren also lediglich hinsichtlich ihrer Größenordnung außergewöhnlich. Im Sommer und Frühherbst 1941, dem zeitlichen Scharnier des Krieges, legten sowohl Hans Frank als auch Heinrich Himmler einen großangelegten Plan vor, die Sümpfe mit Hilfe von jüdischen Zwangsarbeitern trockenzulegen. Doch dazu kam es nicht. Anstatt man die Menschen dort langsam durch brutale körperliche Arbeit und Auszehrung tötete, wurde in den Sümpfen direkt gemordet. Noch Mitte August 1941 hielt Otto Rasch, der Leiter der Einsatzgruppe C, daran fest, dass die »überzähligen jüdischen Massen nämlich zur Kultivierung der großen Pripjetsümpfe […] ausgezeichnet verwendet und verbraucht werden« können.26 Doch zwei Wochen zuvor hatte Himmler einer SS-Kavallerie-Brigade den direkten Befehl erteilt: »Sämtliche Juden ­müssen erschossen werden. Judenweiber in die Sümpfe treiben.«27 Diese erwiesen sich aber als zu seicht, um darin zu ertrinken. In der Folge wurde das »Treiben in die Sümpfe« ein Euphemismus für das Morden, den Hitler in jenem Herbst in seinen Monologen mehrere Male gebrauchte.28 Spätestens 1942 war die Idee der Landgewinnung nichts weiter als Tarnung für die Konzentrationslager, wie beispielsweise im Fall der Juden, die von Drohobycz nach Belzec deportiert wurden, angeblich weil sie benötigt wurden, »um die Pripjetsümpfe trocken­zulegen«.29

25 E. Mäding, Landespflege. Die Gestaltung der Landschaft als Hoheitsrecht und Hoheitspflicht, Berlin 1942, S. 215. Im Jahr darauf wiederholte er diese Ansichten in seinem Artikel Die Gestaltung der Landschaft als Hoheitsrecht und Hoheitspflicht, in: Neues Bauerntum, Jg. 35, 1943, S. 24. Eine ähnliche Kritik »romantischer« Vorstellungen findet sich bei W. Wickop, Grundsätze und Wege der Dorfplanung, in: Neue Dorflandschaften, S. 46. 26 Burrin, Hitler and the Jews, S. 106 f.; T. Sandkühler, Anti-Jewish Policy and the Murder of the Jews in the District of Galicia, 1941/42, in: Herbert, National Socialist Extermination­ Policies, S. 112; Bauer, Rethinking the Holocaust, S. 170 f. 27 R. B. Birn, Die Höheren SS- und Polizeiführer. Himmlers Vertreter im Reich und in den besetzten Gebieten, Düsseldorf 1986, S. 171; C. Gerlach, German Economic Interests, Occupation Policy, and the Murder of the Jews in Belorussia, 1941/43, in: Herbert, National Socialist Extermination Policies, S. 220. Mitte August 1941 wurden neue Befehle zum Töten der Juden an die Einsatzgruppen ausgegeben, welche die einzelnen Gruppen allerdings zu unterschiedlichen Zeiten erreichten. Siehe A. Streim, Zur Eröffnung des allgemeinen Judenvernichtungsbefehls gegenüber den Einsatzgruppen, in: E. Jäckel u. J. Rohwer (Hg.), Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1985, S. 113–116. 28 Für Beispiele vom 25.  Oktober und 5.  November 1941, siehe Burrin, Hitler and the Jews, S.  111 f.; C. R. Browning, The Path to Genocide, Cambridge 1992; S.  106; I. Kershaw, Hitler 1936–1945: Nemesis, London 2000, S. 48; W. Jochmann (Hg.), Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, Hamburg 1980, S. 128. 29 M. Gilbert, The Holocaust. A History of the Jews of Europe during the Second World War, New York 1985, S. 307.

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Klar ist also, dass in den Sümpfen nicht nur gemordet, sondern durch sie auch die Morde in den Lagern verschleiert wurden. Weniger klar ist, warum das Projekt, die Sümpfe trockenzulegen, nie in die Tat umgesetzt wurde. Die wahrscheinlichste Erklärung ist die, dass Hitler das Vorhaben persönlich gestoppt hatte  – weil sich die Pripjetsümpfe ideal für Militärmanöver eigneten, aber auch, weil ihre Trockenlegung möglicherweise negative Auswirkungen auf das Klima gehabt und zur Versteppung geführt hätte. Für diese Erklärung gibt es allerdings keine konkreten Beweise, da Hitler sich im August und September zwar darüber äußerte, allerdings – was typisch für ihn war – nur in sehr vagen Formulierungen.30 Tatsächlich wurden in den Jahren 1942/43 noch großartigere Pläne zur Trockenlegung der Sümpfe vorgelegt, und zwar durch Gottfried Müller, Planer im Reichskommissariat Ostland, sowie Arthur Seyß-Inquart, Stellvertreter Hans Franks im Generalgouvernement und späterer Reichskommissar für die besetzten Niederlande. Beide schlugen die massenhafte Anwerbung von holländischen Kolonisten vor, um die Pripjetsümpfe trockenzulegen und zu besiedeln  – was im genannten Zeitraum vor allem als Mittel zur Bekämpfung von Partisanenaktivitäten kolportiert wurde.31 Doch wenn wir davon ausgehen, dass Hitler das Projekt zumindest teilweise auch aus Umweltgründen stoppte, dann stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die technokratische Eroberung der Natur und der Naturschutz in der nationalsozialistischen Politik standen – und wie beides mit der Rassenfrage zusammenhing. Hier haben wir es mit einem echten Rätsel zu tun, dessen Lösung meines Erachtens in den deutschen Vorstellungen vom Osten liegt. Nationalsozialismus und Naturschutz ist in jüngster Zeit zu einem heißen Thema geworden und zieht seine Energie aus der Tatsache, dass das Argument tatsächlich zwei Seiten hat. Es geht nicht nur darum, dass Hitler auf seinem biologisch angebauten Gemüse bestand und der Vogelschützerin Lina Hähnle (»deutsche Vogelmutter«) versprach, »seine schützende Hand über die Hecken« zu halten.32 Auch andere Nazis – Walter Darré, Rudolf Hess, Alwin Seifert – teilten seine Sympathien, und zwischen der deutschen Naturschutzbewegung und dem Nationalsozialismus bestanden echte Affinitäten. Beide Seiten kritisierten den Schaden, den ein ungezügelter liberaler Kapitalismus angeblich anrichtete und beide sahen einen Zusammenhang zwischen einer »biologisch 30 Im August verwies er auf den Wert des Gebiets für Truppenübungen, vgl. Jochmann, Adolf Hitler. Monologe, S. 55; am 28. September sowohl auf Militärmanöver als auch die negativen Umweltfolgen, ebd., S. 74. In beiden Fällen werden die Sümpfe nicht namentlich genannt. 31 M. Seckendorf, Die ›Raumordnungsskizze‹ für das Reichskommissariat Ostland vom November 1942, in: Rössler u. Schleiermacher, Der »Generalplan Ost«, S. 180, sowie im Anhang Dokument 6: G. Müller, Vorentwurf eines Raumordnungsplanes für das Ostland, S. 17, November 1942, ebd., S. 196; K. Bosma, Verbindungen zwischen Ost- und Westkolonisation, ebd., S. 198–214; M. Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988, S. 238 f. 32 A.-K. Wöbse, Lina Hähnle und der Reichsbund für Vogelschutz, in: J. Radkau u. F. Uekötter (Hg.), Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2003, S. 320.

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gesunden« Landschaft und der Gesundheit des Volkes. Naturschützer begrüßten die nationalsozialistische Machtergreifung 1933 begeistert, und führende Persönlichkeiten wie Paul Schultze-Naumburg und Walther Schoenichen arbeiteten bereitwillig mit dem neuen Regime zusammen.33 Sie konnten durchaus Erfolge feiern, wie zum Beispiel die Gesetze zum Vogel- und Tierschutz und vor allem das wegweisende Reichsnaturschutzgesetz von 1935.34 Doch das Bild täuscht. Die Tatsache, dass das Gesetz von 1935 ehrenamtlich tätige, freiwillige Ortsbeauftragte vorsah, die keinerlei Vollmachten besaßen, raubte vielen Naturschützern ihre Illusionen. Große Dammbauprojekte liefen weiter und das Reichsautobahnprogramm wurde gestartet; in beiden Fällen wurde dem »Naturschutz« eine rein ästhetische Rolle zuerkannt, um »die Einfügung [dieser Bauten] in den Rhythmus der Landschaft« sicherzustellen, wie Walther Schoenichen es formulierte.35 (Da es ihm im Kern um ästhetische Werte ging, war der deutsche Naturschutz in dieser Hinsicht immer verführbar.) Militärische Erfordernisse hatten stets Vorrang vor Umwelterwägungen, und erste Priorität hatten die Wirtschaftspläne, mit denen der Krieg finanziert werden sollte. Das galt besonders für die Zeit ab 1936 unter dem Vierjahresplan. Denn durch die Doppelfunktion Görings war der »Interessenkonflikt« praktisch vorprogrammiert, hatte er doch den Auftrag, die Wirtschaft auf Touren zu bringen und gleichzeitig die Natur zu schützen. Aber der größte Widerspruch im Nationalsozialismus bestand nicht zwischen dem Naturschutz auf der einen und der Industrie oder Technologie auf der anderen Seite, sondern zwischen dem Naturschutz und dem Ziel einer produktiven Nutzung des Bodens. Die Gewinnung von Neuland, auch »­innere Kolonisation« genannt, war ein zentraler Aspekt der nationalsozialistischen 33 R. H. Dominick, The Environmental Movement in Germany. Prophets and Pioneers, 1871– 1971, Bloomington 1992, S. 81–102; G. Gröning u. J. Wolschke-Bulmahn, Naturschutz und Ökologie im Nationalsozialismus, in: Die Alte Stadt, Jg. 10, 1983, S. 2–5; B. Riechers, Nature Protection during National Socialism, in: Historical Social Research, Jg. 21, 1996, S. 40–47; T. Lekan, Imagining the Nation in Nature. Landscape Preservation and German Identity 1885–1945, Cambridge/Mass. 2004, S. 141–154. 34 M. Wettengel, Staat und Naturschutz 1906–1945. Zur Geschichte der Staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege in Preußen und der Reichsstelle für Naturschutz, in: Historische Zeitschrift, Bd. 257, 1993, S. 382–387; E. Klueting, Die gesetzliche Regelung der nationalsozialistischen Reichsregierung für den Tierschutz, den Naturschutz und den Umweltschutz, in: Radkau u. Uekötter, Naturschutz und Nationalsozialismus, S. 77–105. 35 H. Maier, Kippenlandschaft, »Wasserkrafttaumel« und Kahlschlag. Anspruch und Wirklichkeit nationalsozialistischer Energiepolitik, in: G. Bayerl u. a. (Hg.), Umweltgeschichte. Methoden, Themen, Potentiale, Münster 1996, S. 257. Siehe auch T. Zeller, Ganz Deutschland sein Garten. Alwin Seifert und die Landschaft des Nationalsozialismus, in: Radkau u. Uekötter, Naturschutz und Nationalsozialismus, S.  273–307; D. Klenke, Autobahnbau und Naturschutz in Deutschland. Eine Liaison von Nationalpolitik, Landschaftspflege und Motorisierungsvision bis zur ökologischen Wende der siebziger Jahre, in: M. Freese u. M. Prinz (Hg.), Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, S. 465–498.

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Politik. Nach 1933 schritt die Trockenlegung von Mooren, Sümpfen und der Nordseeküste zügig voran, insbesondere dank der Aktivitäten des Reichsarbeitsdienstes, der allein in den Hochmooren um Oldenburg sechs Arbeitslager einrichtete. Im nationalsozialistischen Denken war dies ein wesentlicher Aspekt, neues Land für das »Volk ohne Raum« zu schaffen. Die Natur musste vor den Erfordernissen des »Lebensraums« weichen.36 Durch die Eroberung riesiger neuer Landgebiete im Osten veränderte sich die Lage. Jetzt war es in den Augen der Naturschützer möglich, mithilfe der dadurch gewonnenen »Ellbogenfreiheit« die Sümpfe und Moore in der Heimat zu retten. Ja, mehr noch, die deutschen Eroberungen eröffneten neue Chancen für den Naturschutz in ganz Europa. Darin waren sich Naturschützer und politische Entscheidungsträger einig. Während man weiter an den Plänen zur Flussregulierung und Wasserkrafterzeugung in den Karpaten festhielt, konnten andere Gebiete – zum Beispiel der Bialowiezer Wald in Polen – entweder zu ausgedehnten Nationalparks deklariert werden oder – wie im Falle der Pripjetsümpfe – vorerst aus Naturschutzgründen verschont bleiben.37 Umweltdenken in diesen Größenordnungen war, wie der Genozid, ein Nebenprodukt der Eroberung. Man könnte durchaus von »Naturschutzimperialismus« sprechen.38 Zweifelsohne haben wir es hier mit der Überzeugung zu tun, dass die Deutschen die besten Treuhänder der Natur seien. Die andere Seite der Medaille war der Glaube, dass die Deutschen beziehungsweise die nordische Rasse, im Gegensatz zu anderen Völkern und Rassen, auch in der Lage waren, das natürliche Umfeld nach ihrem Willen zu gestalten  – das Wort »Gestaltung« findet sich häufig in den Schriften der Politiker, Planer und Ideologen. Das unterschied die Nazis von orthodoxen geopolitischen Denkern wie Karl Haushofer, der an den Umweltdeterminismus glaubte.39 Doch auch die nationalsozialistischen Argumente liefen in beide Richtungen. Indem die Deutschen die physische Umwelt im Osten gestalteten, würden sie – so wurde immer und immer wieder bis zum Überdruss betont – gleichzeitig eine Landschaft schaffen, in der sich das Volk nicht nur »heimisch«, sondern erneuert fühlen würde. Das bringt mich zum zweiten Hauptthema dieses Aufsatzes: dem Nimbus des »Grenzlands« (frontier). Es gibt natürlich bereits eine berühmte Frontierthese: Frederick Jackson Turners Argument, dass die Auseinandersetzung mit der Wildnis und der besondere Charakter des Grenzerlebens die amerika36 E. von Garvens, Land dem Moor abgerungen, in: Die Gartenlaube, 1935, S. 397 f.; J. G. Smit, Neubildung deutschen Bauerntums. Innere Kolonisation im Dritten Reich  – Fallstudien in Schleswig-Holstein, Kassel 1983, S. 280–311; K. K. Patel, »Soldaten der Arbeit«. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933–1945, Göttingen 2003. 37 S. Schama, Landscape and Memory, New York 1995, S. 67–72; H. Rubner, Deutsche Forstgeschichte, 1933–1945. Forstwirtschaft, Jagd und Umwelt im NS-Staat, St. Katharinen 1985, S. 135 f. 38 Wettengel, Staat und Naturschutz, S. 395. 39 M. Bassin, Race Contra Space. The Conflict between German Geopolitik and National­ Socialism, in: Political Geography Quarterly, Jg. 6, 1987, S. 115–134.

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nischen Werte und politischen Institutionen entscheidend geprägt hat. Auch wenn sie von nachfolgenden Historikern zerpflückt wurde, so ist Turners These von der Frontier auch über ein Jahrhundert später noch ein wichtiger Bezugspunkt in Diskussionen über den amerikanischen Westen. Turners Augenmerk galt dem amerikanischen Exzeptionalismus. Aber er war auch der Ansicht, dass die Frontier eine Phase im allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess sei. Das war typisch für ein Zeitalter, das wie besessen war von der Verbindung zwischen Geografie und Nationalcharakter, und es sollte uns nicht überraschen (auch wenn es bisher großteils wenig wahrgenommen wurde), dass Turners Argumente bei prominenten zeitgenössischen deutschen Autoren auf große Resonanz stieß – ja, stellenweise gar auf deutschen Schriften basierten. Der Leipziger Geograf Friedrich Ratzel, der den Begriff des »Lebensraums« in Umlauf gebracht hatte, war ein großer Bewunderer der Frontierthese, während Turner wiederum Ratzels anthropogeografischen Ansatz bewunderte und mit Ellen Churchill Semple, einer amerikanischen Studentin Ratzels, zusammenarbeitete.40 Im Jahr 1893, demselben Jahr, in dem Turner seine erste gefeierte Rede über das Ende der amerikanischen Frontier hielt, schrieb der deutsche Nationalökonom Max Sering ein Buch über »Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland« (das heißt, den Versuch der »Germanisierung« polnischer Gebiete in Ostpreußen), in dem er wiederholt Parallelen zur Geschichte der nordamerikanischen Kolonisation zog.41 Ein weiterer prominenter Ökonom des wilhelminischen Deutschlands, Gustav Schmoller, verglich den deutschen Osten ebenfalls explizit mit dem amerikanischen Westen; Max Weber zog diesen Vergleich indirekt.42 Aber obwohl Turner selbst Parallelen zu Deutschland zog, wie auch zu Russland und den britischen Gebieten in der gemäßigten Zone, wurde der Frontier im Falle Deutschlands weniger Aufmerksamkeit zuteil als anderswo. Die Ausnahmen  – darunter vor allem in letzter Zeit Sidney Pollards An­ merkungen zur deutschen Frontier in seinem Buch »Marginal Europe« – befassen sich nicht mit der Neuzeit, sondern mit dem klassischen Zeitalter der deut40 M. Bassin, Imperialism and the Nation State in Friedrich Ratzel’s Political Geography, in: Progress in Human Geography, Jg. 11, 1987, S. 479 f., 489; W. Coleman, Science and Symbol in the Turner Frontier Hypothesis, in: American Historical Review, Jg. 72, 1966, S. 39 f.; A. E. Steinweis, Eastern Europe and the Notion of the »Frontier« in Germany to 1945, in: Year­book for European Studies, Jg. 13, 1999, S. 60–66. 41 M. Sering, Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland, Leipzig 1893, S.  160, 166, ­172 f., 180, 205, 212, 214, 230 f. Sering hatte, ebenso wie Ratzel, Nordamerika ausgiebig bereist. 42 Dipper, Deutsche Geschichte, S. 26 (zu Schmoller); M. Weber, Capitalism and Rural Society in Germany, in: H. Gerth u. C. Wright Mills (Hg.), From Max Weber. Essays in Sociology, London 1952, S. 363–385. Der von Weber ursprünglich in St. Louis gehaltene Vortrag über Europa und Amerika wurde im Folgenden von Hans Gerth ins Deutsche rückübersetzt: M. Weber, Kapitalismus und Agrarverfassung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Jg. 108, Heft 3, 1953, S. 431–452.

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schen Expansion nach Osten zwischen dem 11.  und 14.  Jahrhundert. Auf die Frage, ob die Frontierthese auch für diesen Zeitraum zutrifft, lautet die Antwort dieser Wissenschaftler: bis zu einem bestimmten Punkt.43 Mir geht es hier allerdings um etwas anderes, nämlich darum, dass der Gedanke einer heroischen, kraftvollen, dynamischen deutschen Frontiergesellschaft im Mittelalter (und in den Phasen der Ostkolonisation durch die Habsburger und Hohenzollern im 17.  und 18.  Jahrhundert) im Deutschland der Neuzeit wieder quicklebendig war.44 Der Historiker Rudolf Kötzschke schrieb im Jahr 1926, dass die deutschen Leistungen im Osten erst innerhalb der letzten Generation über Expertenkreise hinaus erkannt worden seien.45 Damit hatte er zwar recht, doch es wurde alles getan, um dieses Versäumnis aufzuholen. In den Jahren nach 1880 erschienen Hunderte wissenschaftliche und populäre Bücher und Pamphlete zu dem Thema, und nach den »Verlusten« durch den Versailler Vertrag nahm deren Anzahl nochmals deutlich zu. Diese historischen Schriften, zusammen mit einem noch umfangreicheren Korpus an literarischen Werken, bildeten den Grundstock an Ideen und Reflexen über Besiedlung und Frontier, auf den sich die Nationalisten und Naziführer stützten und die von letzteren nach ihrer Machtergreifung bewusst gepflegt wurden. »Unser Missisippi [sic!] müsse die Wolga sein« – so erklärte Hitler im Herbst 1941.46 In Hitlers Tischgesprächen finden sich zahlreiche Äußerungen dieser Art, wenn er über Osteuropa sprach: sie sind sogar noch häufiger als seine Analogien zu Britisch-Indien. Ein Beispiel: »Europa  – und nicht mehr Amerika – wird das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sein.«47 Oder, nach einem seiner typischen Ausbrüche über die mechanisierte und bastardisierte moderne amerikanische Kultur: »Aber eines haben die Amerikaner, was uns abgeht, das Gefühl für die Weite und Leere des Raumes. Daher unsere Sehnsucht nach Ausdehnung unseres Raumes.« Die Deutschen hätten dieses Gefühl verloren, aber es werde wiederkehren: »Was würden wir sein, wenn wir nicht wenigstens die Illusion der Weite unseres Raumes hätten?«48 Hitler spann seine Visionen aus seiner Lektüre von Karl May.49 Damit stand er nicht allein da. Ebenso wenig war Karl May der einzige deutsche Autor, der mit seinen Geschich43 S. Pollard, Marginal Europe. The Contribution of Marginal Lands since the Middle Ages, Oxford 1997, S. 145–160; D. Gerhard, The Frontier in Comparative View, in: Comparative Studies in Society and History, Jg. 1, 1959, v. a. S. 218–223. 44 Darauf hat auch A. Steinweis, Eastern Europe and the Notion of the »Frontier«, hingewiesen. 45 R. Kötzschke, Über den Ursprung und die geschichtliche Bedeutung der ostdeutschen Siedlung, in: W. Volz (Hg.), Der ostdeutsche Volksboden. Aufsätze zu den Fragen des Ostens, Breslau 1926, S. 8 f. 46 Kershaw, S. 431. 47 Diese Äußerung vom 13. Oktober 1941 findet sich in Jochmann, Adolf Hitler. Monologe, S. 78. Für den 25. September 1941 ist dort außerdem folgender Eintrag zu lesen: »In zwanzig Jahren wird die Auswanderung Europas statt nach Amerika nach dem Osten gehen«, ebd., S. 70. 48 Ebd., S. 398 f. (13. Juni 1943). 49 Zu Hitler und Karl May vgl. ebd., S. 281 f., 398.

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ten über die amerikanische Frontier die deutsche Fantasie beflügelt hatte. Da war noch Friedrich Gerstäcker mit »Nach Amerika!« und Abenteuerromanen wie »Die Flusspiraten des Mississippi«.50 Theodor Fontane erzählte den Lesern seiner »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«, er hätte sich nach einer verregneten Bootsfahrt durch das Wustrauer Luch gefühlt, als wäre er »über den Kansas-River oder eine Prairie ›far in the West‹ gefahren«.51 Und an einer Stelle des Romans »Soll und Haben« von Gustav Freytag – die von späteren, auf die antisemitischen Schilderungen Breslaus fixierten Kommentatoren übersehen wurde – tritt eine Figur auf, Herr von Fink, der sich zuerst an der amerikanischen Frontier selbst findet, bevor er dem Helden Anton dabei hilft, »dass auf unkultivierter Fläche ein neues Leben aufgrünte« und »in der Wüste Wasser und grüne Wiesen« entstanden  – das Sinnbild deutscher Überlegenheit über die Polen in Posen.52 Dasselbe Thema findet sich bei den revisionistischen, völkisch gesinnten Historikern der Weimarer Republik, die sich später in den Dienst der Ostforschung stellten. Man nehme nur den Aufsatz von Erich Keyser in der berüchtigten Sammlung von 1926 mit dem Titel »Der ostdeutsche Volksboden«, in dem Historiker, Archäologen, Geografen und Ethnografen den moralischen Anspruch der Deutschen auf Osteuropa bekräftigten. Für frühere deutsche Auswanderer in den neu eroberten Osten, so Keyser, war es das »Land ihrer Sehnsucht, wie in neuerer Zeit für so viele Europamüde Amerika, weil hier ferne von den beengenden Schranken des Mutterlandes nicht nur dem tüchtigen Arme reicherer Lohn winkt, sondern auch das zu Hause erworbene Kapital in Landerwerb und Kornanbau zinsbringend angelegt werden konnte«.53 Lassen Sie mich versuchen, einige Schlüsselelemente dieser deutschen Variante des Frontiermythos herauszuarbeiten. Zum einen war da, wie Keysers Worte nahelegen, der Glaube, dass die Freiheit und die Möglichkeiten der Frontier kühne Geister anzogen, die bereit waren hart zu arbeiten und Opfer zu bringen. Dieses historische Argument findet sich immer wieder. In seinem 1938 erschienenen Buch über die Kolonisierungen Friedrichs des Großen und dessen »Vermächtnisses« an das Dritte Reich hob Udo Froese den »Pioniergeist« der früheren Siedler hervor. Friedrichs Anstrengungen »hätten nichts vermocht, wenn nicht jener Eroberergeist lebendig gewesen wäre, der auch die mittelalterlichen Kolonisten beseelte, der den deutschen Menschen die Enge der heimatlichen Landschaft unerträglich machte und sie bewog, hinauszugehen, um

50 F. Gerstäcker, Die Flußpiraten des Mississippi, Leipzig 1890 [1848]; F. Gerstäcker, Nach Amerika!, Jena 1855. Zu Gerstäcker und Amerika, vgl. A. J. Prahl, Gerstäcker und die Probleme seiner Zeit, Diss., Johns Hopkins University, Baltimore 1933. 51 T. Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. 1, München 1992, S. 353. 52 G. Freytag, Soll und Haben, Berlin o. J. [1855], S. 698 f., 820. Der Roman enthält noch zahlreiche weitere »farbkodierte« Verweise, wobei die deutsche Farbe stets grün und die slawische Farbe stets grau oder gelb ist. 53 E. Keyser, Die deutsche Bevölkerung des Ordenslandes Preussen, in: Volz, Der ostdeutsche Volksboden, S. 234.

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ihrem Lebenswillen in der Weite des deutschen Ostens Raum zu schaffen«.54 Der populäre Nazihistoriker Ekkehart Staritz schlug in seinem Buch über »Die West-Ostbewegung in der deutschen Geschichte« ähnliche Töne an: Wäre der Osten das oft gepriesene »Paradies« gewesen, dann wäre die Rasse bereits »untergegangen, in Wohlleben und Trägheit erstickt«. Die Bedingungen erforderten jedoch sparsame, fleißige Siedler, die »entsagungsfroh und opferbereit im Schweiße ihres Angesichts das Brot essen«.55 Ähnliche Anspielungen fanden sich in den populären Schriften »seriöser« Historiker wie Karl Hampe und Hermann Aubin.56 Der Pioniergeist war auch ein zentrales Motiv im literarischen Genre des Siedlerromans der 1930er Jahre, wie zum Beispiel in Hans Venatiers Bestseller »Vogt Bartold« über die furchtlosen deutschen Siedler im Schlesien des 13. Jahrhunderts.57 Wir begegnen ihm auch in Reiseerzählungen wie Kurt Freytags »Raum deutscher Zukunft – Grenzland im Osten« von 1933, in denen die deutschen Siedler in Lettland als »Wegbereiter« in dem »weiten östlichen Raum […]« des Baltikums bezeichnet werden.58 Dabei handelte es sich natürlich um eine äußerst idealisierte und irreführende Beurteilung der deutschen Siedlungsmuster der Vergangenheit. Als Beschreibung der »Wegbereiter« im Zuge der nationalsozialistischen Besetzung Osteuropas im Zweiten Weltkrieg ist sie geradezu grotesk. Die Volksdeutschen, die das Gros der Siedler stellten, wurden durch Umsiedlungslager geschleust, mit Nummernschildern versehen, von Männern in weißen Kitteln untersucht, selektiert und erhielten (wenn sie für geeignet befunden wurden) blaue Dokumente ausgehändigt, die sie dem Osten zuwiesen. Dann wurden sie mit dem Lastwagen oder mit dem Zug auf Höfe geschickt, deren polnische Besitzer gewaltsam entfernt worden waren, wo sie im Hinblick auf Arbeitsgerät und Material vom Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums abhängig waren und ihre Haushaltsführung, Kinderaufzucht und »Moral« von Freiwilligen des Siedlungswissenschaftlichen Referats auf Schritt und Tritt überwacht wurden.59 Das hatte wahrlich keine Ähnlichkeiten mit dem heldenhaften Treck, der in Zeitungsartikeln und Liedern gefeiert wurde. Das schmeichelhafte Ideal des robusten Siedlers als deutschem Idealtypus war nicht nur ein wesentlicher Bestandteil von offiziellen Verlautbarungen der Nazis, er war auch fest im Denken der Parteiführer verankert. In Hitlers Augen 54 U. Froese, Das Kolonisationswerk Friedrichs des Großen. Wesen und Vermächtnis, Heidelberg 1938, S. 116. 55 E. Staritz, Die West-Ostbewegung in der deutschen Geschichte, Breslau 1935, S. 160 f. 56 Vgl. K. Hampe, Der Zug nach dem Osten. Die kolonisatorische Großtat des deutschen Volkes im Mittelalter, Leipzig 1935 [1921], S. 37; H. Aubin, Die historische Entwicklung der ostdeutschen Agrarverfassung und ihre Beziehungen zum Nationalitätsproblem der Gegenwart, in: Volz, Der ostdeutsche Volksboden, v. a. S. 345–347. 57 H. Venatier, Vogt Bartold. Der große Zug nach dem Osten, Leipzig 194417, S. 147, 186, 235, 435. 58 Freytag, Raum deutscher Zukunft, S. 196, 249. 59 Vgl. Lumans, Himmler’s Auxiliaries.

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schuf die Ostgrenze ein »festes Geschlecht«, das Deutschland davon abhalten würde, in die »Weichheit … zurückzusinken«.60 Himmler hatte seit seiner Jugend ähnliche Ansichten gehegt und sorgte später dafür, dass sie zentraler Bestandteil der SS-Ausbildung wurden. Hans Frank wies bei einer Ansprache 1942 vor einer Parteikundgebung in Galizien die Vorwürfe zurück, dass die Deutschen im Osten auf der faulen Haut lägen und Zigarren rauchten (auch wenn einige Leute in Deutschland die Vorstellung ganz attraktiv fänden); der Osten, so insistierte er, sei keine Kolonie, sondern Siedlungsraum: »Und wenn der Siedlungsraum noch so weit nach Osten geht, es wird immer noch deutsche Menschen, deutsche Persönlichkeiten, deutsche Männer und Frauen geben, die von früh bis abends schaffen, die deshalb gesund und kräftig und auch entschlossen sind, ihren Hof zu verteidigen.«61 Auch hier gilt es die Kluft zwischen Rhetorik und Wirklichkeit zu sehen. Trotz Franks nachdrücklicher Betonung, das Generalgouvernement sei keine Kolonie, war es genau das – ein ungewöhnlich brutales Kolonialregime, das sich auf Plünderungen stützte und durch Korruption am Leben gehalten wurde. Aber es war auch ein Land, auf das Männer wie Frank ihre Besiedlungsfantasien projizierten, in denen das Weichselbecken einst genauso »deutsch« sein würde wie das Rheintal.62 Ein weiterer Aspekt von Franks Bemerkungen lässt sich als ein wesentliches Element der Besatzermentalität identifizieren. Weit weg von der Heimat und verwundbar zu sein, sich aber nicht unterkriegen zu lassen – diese Haltung war das zweite Motiv im Nimbus der Ostgrenze, das ich hier behandeln möchte. Diese sentimentale Gesinnung wird sehr gut in einem Tagebucheintrag des jungen Himmler aus dem Jahr 1919 deutlich: »Ich … arbeite für mein deutsches Frauenideal, mit dem ich einmal im Osten, fern vom schönen Deutschland, mein Leben durchleben und durchkämpfen will als Deutscher.«63 Himmler, wie auch Hans Frank, beziehen sich hier also nicht nur auf Männer, sondern auch auf Frauen. In den nationalsozialistischen Fantasien der Ostbesiedlung spielten Frauen ebenso eine Rolle wie Männer, genauso wie weibliche und männliche Familienoberhäupter ihren Platz in den historischen und literarischen Schilderungen der fleißigen Ostkolonisten der Vergangenheit hatten, die sich dort über Generationen hinweg eine Zukunft aufgebaut hatten. Junge Frauen spielten auch in der Volksdeutschen Mittelstelle eine große Rolle, wo Volksdeutsche zur »Umsiedlung« ausselektiert und vorbereitet wurden, sowie bei der Beaufsichtigung der »Umsiedler«, sobald diese in die enteigneten Häuser eingezogen waren.64 60 Jochmann, Adolf Hitler. Monologe, S. 68 (25. September 1941). 61 Präg u. Jacobmeyer, Diensttagebuch, S. 534 (1. August 1942). 62 Man beachte, dass Frank selbst das Generalgouvernment in der Anfangsphase, bis in die ersten Monate des Jahres 1940 hinein, unverhohlen als »Protektorat« bezeichnete und es mit Tunis verglich. Die Fantasie vom deutschen Siedlungsland griff erst später um sich. 63 Tagebucheintrag vom 11. November 1919, in: J. Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen 1970, S. 198. 64 E. Harvey, Women and the Nazi East, New Haven 2003.

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Dennoch hatte das Pathos der Frontier, wie ich es nenne, eine stark maskuline Qualität. Deutsche Nationalisten hatten sich seit langem als »Burgen« oder »Felsen« des Deutschtums im Osten dargestellt, umgeben von der »slawischen Flut« – ein vertrautes, stark geschlechterkonnotiertes Bild.65 Die Vorstellung, dass eine harte, maskuline »nordische« Rasse für die Siedlungsarbeit besser geeignet war als die »weicheren«, »feminineren« Slawen war bereits durch die Schriften von Heinrich von Treitschke, Paul de Lagarde und Yorck von Wartenburg zum Klischee geworden, noch ehe sie die Rassentheoretiker der Nazis mit ihren pseudowissenschaftlichen Taxonomien unterfütterten. Beide Stränge  – die ältere und die neue rassistischere Variante  – zeigten sich in Martin Bürgeners Schriften über die Pripjetsümpfe. Aber manchmal rief das Grenzgebiet selbst im standhaftesten deutschen Mann Zweifel hervor; ja, der Schauder der Gefahr war Teil des Pathos. Ein exemplarischer Fall ist Hermann Voss, Professor für Anatomie an der neuen Reichsuniversität Posen, der von den, wie er es nannte, »Wildost-Geschichten« hellauf begeistert war, der aber auch seinem Tagebuch anvertraute: »Ja, der ›wilde Osten‹ zerrt dauernd an den Nerven. Eines Tages wird er einen schon fressen.«66 Was machte den »wilden Osten« wild? Eine Antwort lautete: die unwirtliche Umgebung. An dieser Stelle lohnt es sich, kurz über ein vertrautes Wort nachzudenken. Sowohl in den historischen als auch in den zeitgenössischen deutschen Schilderungen der Besiedlung des Ostens taucht ein Wort immer und immer wieder auf: Kultur. Was die Deutschen angeblich im Osten geleistet hatten (und wieder leisten würden), war eine Kulturleistung, ein Kulturwerk, Kulturarbeit. Eine stattliche Anzahl von Ideenhistorikern haben sich ihr Sporen damit verdient, den Unterschied zwischen deutscher Kultur und französischer oder britischer Zivilisation zu analysieren; im Vergleich zur raffgierigen, materialistischen Zivilisation seien die Deutschen, so ihre Argumentation, stolz auf ihre mehr »innerliche« Kultur. Trotz heftiger und berechtigter Kritik ist diese Sichtweise  – gleich einem Stehaufmännchen  – nicht totzukriegen.67 Wenden wir sie auf die deutschen Argumente über Osteuropa an, zeigt sich, dass sie darauf nicht wirklich zutreffen. Wenn die Deutschen behaupteten, sie hätten dem 65 W. Wippermann, Der »deutsche Drang nach Osten«. Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes, Darmstadt 1981; R. Chickering, »We Men Who Feel Most German«. A Cultural Study of the Pan-German League, London 1984. 66 The Posen Diaries of the Anatomist Hermann Voss, in: G. Aly u. a. (Hg.), Cleansing the Fatherland. Nazi Medicine and Racial Hygiene, Baltimore 1994, S. 139, 146. 67 Diese Unterscheidung kann auf die Texte zweier schwergewichtiger Autoren in jeweils kritischen Zeiten zurückdatiert werden: Thomas Mann (während des Ersten Weltkriegs) und Norbert Elias (am Vorabend des Zweiten Weltkriegs). Die angeblich einzigartige Tugend deutscher Kultur genoss eine kurze, polemische Karriere während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, verfolgt man sie aber zurück ins 19. Jahrhundert, erweist sie sich als ein zutiefst unplausibles Konstrukt, das sich nicht mit den empirischen Daten deckt. Die fundierteste Kritik liefert J. Fisch, Zivilisation, Kultur, in: O. Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 679–774.

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Osten Kultur gebracht, dann rühmten sie sich vor allem ihrer materiellen und technologischen »Überlegenheit«, was auch Befürworter des britischen oder französischen Kolonialreichs (oder der amerikanischen Ausdehnung nach Westen) sofort erkannt hätten. Die Deutschen, so das Argument, hätten Städte und Straßen gebracht – und auch Kultur im Sinne von »Kultivierung«. In den Worten Kurt Freytags waren die Deutschen Kulturbringer und Befruchter – deutsche Kultur beziehungsweise Kultivierung habe grüne Felder und Wiesen hervorgebracht und das Land fruchtbar gemacht.68 Solche Behauptungen ziehen sich seit dem Mittelalter wie ein roter Faden (oder ist es womöglich ein grüner Faden?) durch die von Historikern und Journalisten verfassten Heldenepen der deutschen Besiedlung. In den Augen von Max Beheim-Schwarzbach, einem Historiker des 19. Jahrhunderts und ein Lieblingsautor des nationalsozialis­tischen Landschaftsplaners Heinrich Wiepking-Jürgensmann, hatten die Deutschen »unter dem üppig wuchernden Unkraut […] Ordnung« geschaffen, sodass aus den »Sümpfen und Morasten« der Polen »neues Grün germanischen Fleißes« emporspross.69 Sein Zeitgenosse Heinrich von Treitschke zog eine Verbindung zwischen den Siedlungen des Mittelalters und der Kultivierung Westpreußens nach 1772, denn so »wie einst die ersten deutschen Eroberer die Kornkammer der Werder den Strömen entrissen, so stieg jetzt aus den Sümpfen neben dem aufblühenden Bromberg der fleißige Netzegau empor«.70 Erich G ­ ierach fand in den 1920er Jahren noch überschwänglichere Bilder für das, was es bedeutete, wenn die Deutschen die raue Umwelt im Osten bändigten: »Der Heimatschein der Deutschen im Osten ist nicht ein vergilbtes Pergament […], sondern das sind die lachenden Fluren und blühenden Felder, die sie der wilden Natur abgerungen haben.«71 Mit ähnlichen Worten argumentierte ­Himmler, dass deutsche moralische Ansprüche im Osten nicht von »Papier und Perga­ment« kämen, sondern von der Kultivierung des Landes; darin folgten ihm ­Hitler, Walter Darré und die im Osten tätigen nationalsozialistischen Landschaftsplaner wie zum Beispiel Mäding und Wiepking-Jürgensmann. Für sie alle stellten nicht die Staatsgrenzen, sondern die Fähigkeit der Rasse, dem Land ihre Kultur aufzudrücken, die entscheidende Rechtfertigung für den rechtmäßigen Besitzanspruch dar. Gib ödes, vernachlässigtes Schwarzerdeland in die Hände kräftiger deutscher­ Siedler und das Land werde »ein Paradies, […] ein Kalifornien Europas« – so Heinrich Himmler.72 Argumente wie diese dienten zum Teil natürlich auch dem Eigennutz. Wer Papier und Pergament – sprich: eine Eigentumsurkunde – besitzt, äußert sich 68 Freytag, Raum deutscher Zukunft, S. 11. 69 M. Beheim-Schwarzbach, Hohenzollernsche Colonisationen, Leipzig 1874, S. 423 f., 426. 70 H. von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil, Königstein/Ts. 1981 [1879], S. 66; ähnliche Passagen finden sich auf S. 45, 56 f., 76. 71 E. Gierach-Reichenberg, Die Bretholzsche Theorie im Lichte der Sprachforschung, in: Volz, Der ostdeutsche Volksboden, S. 151. 72 H. Himmler, Der Untermensch (Pamphlet, 1942), zitiert nach S. Gröning u. J. Wolschke-Bulmahn, Die Liebe zur Landschaft, S. 132.

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selten abfällig über sie. Oder wie die Juristen sagen, wenn du die Fakten auf deiner Seite hast, argumentiere mit den Fakten; wenn nicht, argumentiere mit der Rechtslage – beziehungsweise in diesem Fall mit den durch lachende Wiesen und den deutschen grünen Daumen erbrachten Beweisen. Aber man würde es sich zu einfach machen, würde man behaupten, dass es sich dabei ausschließlich um einen zynischen Deckmantel für Plünderung und Unterdrückung handelte. Natürlich gab es Opportunisten – Unternehmer, von ihrer neuen Macht trunkene Technokraten, willfährige Historiker –, die den Herrschenden den Mund redeten. Aber in der Partei, der SS und unter den Planern, die von den »Möglichkeiten« des Ostens berauscht waren, fanden sich genügend, die tatsächlich daran glaubten. Falls es sich also dabei um eine rechtfertigende Ideologie handelte, dann war sie (um es mit der Unterscheidung des Soziologen J. G. Merquior zu sagen) eher Schleier als Maske.73 So zweckdienlich diese Behauptungen von der deutschen Fähigkeit, aus von Slawen vernachlässigten Gebieten grüne Gärten zu machen, auch waren, so brachten sie auch tiefsitzende Fantasien über die Kolonisation des Ostens zum Ausdruck. Und diese Fantasien waren integraler Bestandteil eines Frontier-­ Mythos, wonach es den »wilden Osten« zu zähmen gelte. Aber fand er auch Anklang bei der breiten Bevölkerung? Wahrscheinlich erwärmten sich die meisten Deutschen für die heroischen Geschichten früherer deutscher Taten an der Ostgrenze, wie sie in Schulbüchern, populären Geschichtsbüchern, Siedlerromanen und den Propagandabroschüren der Partei erzählt wurden. Und nimmt man die Briefe der Soldaten von der Ostfront als Anhaltspunkt, dann hatte diese Weltsicht durchaus auch Anhänger über die engeren Parteikreise hinaus. Schließlich schmeichelten sie dem Glauben an die deutsche Überlegenheit, der den meisten als selbstverständlich galt. Das hieß allerdings nicht, dass sie selbst Teil dieser neuen Frontier-Gesellschaft sein wollten. Schon die »innere Kolonisation« vor 1914 war nicht sehr erfolgreich gewesen, und ihre Befürworter hatten sich häufig kritisch über das vorstellige »Siedlermaterial« geäußert. Außerdem war das Ausmaß der vom Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums definierten »Besiedlungsaufgabe« enorm: Nach Berechnungen des Generalplans Ost wurden über einen Zeitraum von 25 bis 30 Jahren fast 3,5 Millionen Siedler benötigt.74 Quellen legen nahe, dass selbst die führenden Verfasser dieser Zukunftsfantasien Zweifel hegten. Es gibt eine interessante Formulierung in »Mein Kampf«, wenn Hitler schreibt, das deutsche Volk müsse zu der Einsicht gebracht werden, dass seine Zukunft »in der emsigen Arbeit des deutschen Pfluges« liege.75 Selbst in den optimistischsten Kriegsjahren nagten Zweifel an ihm und er konnte die Befürchtung nicht unterdrücken, die Deutschen seien zu »weich«, zu bequem und zu traditionsverhaftet für die Aufgabe der Ostbesiedlung. Das 73 J. G. Merquior, The Veil and the Mask, London 1979. 74 B. Wasser, Himmlers Raumplanung im Osten. Der Generalplan Ost in Polen 1940–1944,­ Basel 1993, S. 58. 75 A. Hitler, Mein Kampf, München 1943, S. 742.

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Paradoxe daran war, dass die deutsche Rasse an der Ostgrenze »verhärtet« werden sollte, doch um dem Osten den »großen Strom frei beweglicher Volkskräfte« zu bescheren, den er benötigte, musste sie erst aus der »verfestigte[n], ja fast versteinerte[n] Tradition« im Altreich gerissen werden.76 Nicht nur die feindselige Umwelt verlieh dem »wilden Osten« seine Wildheit, sondern auch der vermeintliche Charakter seiner Bewohner. Liest man die deutschen Pläne für die »Besiedlung« des Ostens, fällt auf, wie oft die ursprünglichen Einwohner darin unsichtbar sind. Die nationalsozialistische Vision des deutschen Ostens wurde auf einen leeren Raum projiziert. Man nehme zum Beispiel Goebbels Kommentar zu einer Besprechung auf höchster Ebene im August 1940: »Himmler berichtet von der Umsiedlung. Er hat schon vieles erreicht, aber mehr noch bleibt zu tun. Nur herein damit, denn wir müssen die leeren Osträume besiedeln.«77 Dabei handelte es sich um eine gängige Formulierung, sei es in den unzähligen Büchern über »Raum und Rasse«, den Entwürfen der Planer oder in Hitlers Bemerkungen über den desolaten und leeren Osten. Die lokale Bevölkerung wurde mental entfernt, weil sie zu den »geschichtslosen Völkern« gehörte. Es handele sich bei ihnen nicht um echte Bauern, sondern um »Nomaden«, die der konventionellen Typologie folgend rückständig, kindlich und grausam waren. Kurzum, sie ähnelten Indianern. Diese Frontier-Analogie war nicht neu. Bereits Friedrich der Große hatte das neu eroberte Westpreußen unvorteilhaft mit Kanada verglichen und das »liederliche polnische Zeug« mit den Irokesen.78 Derartige Vergleiche wurden fast Routine. Im Warthebruch klangen diese Vergleiche sogar in den Ortsnamen an: Nachdem die slawischen Fischer den deutschen Bauern gewichen und an die Stelle der sumpfigen KietzSiedlungen die geometrisierten deutschen Dörfern getreten waren, erhielten die neuen Siedlungen Namen wie Florida, Charlestown oder Saratoga.79 Kein Wunder, dass der polnische Schriftsteller Ludwik Powidaj in einem 1864 erschienenen Aufsatz über »Polen und Indianer« das Schicksal der amerikanischen Ureinwohner Revue passieren ließ und fragte: »Welcher Pole wird darin nicht die Lage seines eigenen Landes sehen?«80 Bei der Lektüre späterer deutscher Historienschmonzetten über die kühnen deutschen Siedler in Osteuropa lässt sich unschwer erkennen, wer die grausamen und verräterischen Eingeborenen sind, die sich aus ihren primitiven Hütten im Sumpf und im Wald aufmachten, um 76 Siehe A. von Machui, Die Landgestaltung als Element der Volkspolitik, in: Deutsche Arbeit, Jg. 42, 1942, S. 287–305, v. a. S. 297–304, Zitat S. 304. 77 Goebbels-Tagebücher, 9. August 1940, zitiert nach H.-H. Wilhelm, Rassenpolitik und Kriegführung. Sicherheitspolizei und Wehrmacht in Polen und der Sowjetunion 1939–1942, Passau 1991, S. 99. 78 H. Berger, Friedrich der Große als Kolonisator, Gießen 1896, S.  54; R. Koser, Geschichte Friedrichs des Großen, Bd. 3, Darmstadt 1974, S. 345, 351. 79 O. Kaplick, Das Warthebruch. Eine deutsche Kulturlandschaft im Osten, Würzburg 1956, S. 23–25. 80 L. Powidaj, Polacy i Indianie, in: Dzennik Literacki, Jg. 56, 30. Dezember 1864. Ich danke Patrice Dabrowski für den Hinweis auf diesen Aufsatz und die Übersetzung dieser Passage.

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auf Beutezug zu gehen, Vieh zu stehlen, Häuser abzubrennen und die Träger der »überlegenen« Kultur zu bedrohen. So dachten jedenfalls die Nationalsozialisten über die einheimische Bevölkerung des »wilden Ostens«, egal ob Slawen oder Juden. Hans Frank nannte die Juden Galiziens »Plattfußindianer«.81 Auch Hitler mochte diese Analogie und gebrauchte sie (Karl May hin oder her) im abwertenden Sinne. Im Oktober 1941 schloss er eine seiner typischen Tiraden darüber, dass die Deutschen im desolaten Osten Gärten, Felder und Obstgärten anlegen würden, mit der Bemerkung: »Es gibt nur eine Aufgabe: eine Germanisierung durch Hereinnahme der Deutschen vorzunehmen und die Ureinwohner als Indianer zu betrachten.«82 Als sich die Einheimischen wehrten, gab er im August 1942 zur Antwort: »Mit den Partisanen gibt es hier einen Kampf wie in den Indianerkämpfen in Nordamerika.« Drei Wochen später prahlte er damit, dass man die Partisanen »aufknüpfen« werde: »Das wird ein richtiger Indianerkrieg werden!«83 Es gab in der Tat Parallelen – auch wenn wir sie heutzutage durch eine andere Brille sehen. Wie im amerikanischen Westen überzogen auch im deutschen Osten die Eroberer die indigenen Völker mit Raub und Völkermord, während sie gleichzeitig unablässig ihre Mission verkündeten, das Land zu »zivilisieren« und dann denjenigen, die ihnen im Weg standen, primitive Grausamkeit zuschrieben. Aber der Ausgang war hier ein anderer. Goebbels mochte zwar den Auftrag erteilen, die Umsiedlung der Wohlyniendeutschen zu filmen, aber er hatte nie Gelegenheit, den Film »How the East Was Won« (Das war der Wilde Osten) zu drehen.84 Bereits vor der Gegenoffensive der Roten Armee im Gefolge von Stalingrad wurden deutsche Siedler, Verwalter und Armeeeinheiten von diesen »Indianern«  – Partisanen  – schikaniert. »Auf längeren einsamen Strecken und bei Nachtfahrten ist z. Zt. auch die Mitnahme einer Waffe ratsam«, warnte der Baedeker im Jahr 1943 für Reisen durch das Generalgouvernement.85 Weiter östlich war die Lage noch ernster, was mich zurück zu meinem Ausgangspunkt bringt: den Pripjetsümpfen. Martin Bürgener hatte erkannt, dass die nicht entwässerten Sümpfe strategisch »ein leicht zu verteidigende[r], aber schwer zu erobernde[r] Raum« waren.86 Er dachte an herkömmliche militärische Kampfhandlungen, doch seine Feststellung galt noch weit mehr für den Partisanenkrieg. Juden, die aus den Ghettos flohen, einer Festnahme oder der Rekrutierung zur Zwangsarbeit zu entkommen versuchten, Polen, die der Deportation 81 Präg u. Jacobmeyer, Diensttagebuch, S. 522–523 (1. August 1942). 82 Jochmann, Adolf Hitler. Monologe, S. 91 (17. Oktober 1941). 83 Ebd., S. 334, 377 (8. August 1942, 30. August 1942). 84 Am 13. März 1940 notierte Goebbels in seinem Tagebuch über den Film, den er über die Umsiedlung der Volksdeutschen drehen ließ: »Lorenz berichtet vom Treck der Wolhynien­ deutschen ergreifende Szenen. Das ist in der Tat eine großartige moderne Völkerwanderung«, zitiert nach Wilhelm, Rassenpolitik und Kriegführung, S. 93. 85 Aly u. Heim, Vordenker, S. 189. 86 Bürgener, Pripet-Polessie, S. 129.

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ins Reich zu entkommen versuchen, ukrainische Dissidenten – sie alle zog es in Regionen wie die Pripjetsümpfe, die nicht nur Zuflucht boten, sondern gleichzeitig als Basislager dienten, um Gegenwehr zu leisten. Im Juni 1943 schätzte der deutsche militärische Abwehrdienst, dass dort rund 45.000 Partisanen aktiv waren; im Oktober erhöhte er die Schätzung auf 76.000. Ab dem Sommer 1943 kam es zu wiederholten »Säuberungsaktionen« vonseiten der Wehrmacht und der SS-Kavallerie in Polesien, die allerdings weitgehend erfolglos blieben. Partisanenaktivitäten war einer der Hauptgründe, warum die Idee der Trockenlegung der Sümpfe in den Jahren 1942/43 wiederbelebt wurde. Einige der Partisanenlager sind in Primo Levis Roman »Wann, wenn nicht jetzt?« beschrieben. Am Anfang des Romans laufen die jüdischen Partisanen Leonid und Memel im Juli 1943 auf der Suche nach Nowoselki, der »Republik der Sümpfe«, durch die Pripjetsümpfe: »[…] der Weg wurde immer öfter von großen Wasserpfützen unterbrochen, die zwar nicht tief waren, aber sie doch zu mühsamen Umwegen zwangen. Es waren Tümpel mit klarem, modrig riechendem Wasser, auf denen dicke runde Blätter schwammen, fleischige Blumen und hin und wieder ein Vogelnest […] der Horizont hinter ihnen war noch niemals so weit gewesen, seit die beiden sich auf die Reise gemacht hatten. Weit und trübe, erfüllt vom intensiven Modergeruch der Binsendickichte.«87 Das waren die Pripjetsümpfe, die, zusammen mit ihren Bewohnern, von Martin Bürgener mit so viel Abscheu beschrieben worden waren. Keine vier Jahre später waren sie noch immer nicht trockengelegt, sondern dienten als ein Ort des Überlebens und des Widerstands.

87 P. Levi, Wann, wenn nicht jetzt?, Ü: Barbara Kleiner, München 1986, S. 58–60.

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13. »Der Garten unseres Herzens« Landschaft, Natur und Heimatgefühl im deutschen Osten1

Reist man von Berlin in Richtung Osten, sind es keine siebzig Kilometer bis zur Oder. Nach weiteren fünfzig Kilometern erreicht man Gorzów Wielkopolski. Zur Kaiserzeit hieß die Stadt noch Landsberg an der Warthe und war Teil der preußischen Provinz Brandenburg. Dort, außerhalb Landsbergs, auf dem bescheidenen Familiengut Gennin, wurde 1896 der heute vergessene Schriftsteller Hans Künkel geboren. Nachdem er im Ersten Weltkrieg als Soldat gedient hatte, war er den größten Teil seines Lebens als Lehrer tätig. Im Jahr 1946, zehn Jahre vor seinem Tod, wurde er zum protestantischen Pfarrer geweiht, danach gründete und leitete er in Wolfenbüttel eine Schule für Waisenkinder. Daneben betätigte er sich ein Leben lang schriftstellerisch und schrieb Bücher zur Alltagspsychologie sowie historische und Heimatromane, welche die Landschaft feierten, in der er aufgewachsen war.2 Diese Interessen flossen in einem weiteren Werk zusammen, einer in den fünfziger Jahren verfassten Familiengeschichte, die erst nach Künkels Tod veröffentlicht wurde. Im Mittelpunkt standen das auf den Hügeln über dem Warthetal gelegene Gennin und die Bauern, die es über Generationen hinweg bewirtschaftet hatten. »Auf den kargen Hügeln der Neumark« ist eine Elegie über die Ankunft einer »neuen Zeit«, symbolisiert durch das Evangelium des Profits und die Eisenbahn, in der gelangweilte Passagiere durch eine Landschaft sausten, von der sie nichts mehr verstanden. Keiner, 1 Dieser Aufsatz erschien ursprünglich in D. Blackbourn u. J. Retallack (Hg.), Localism, Landscape, and the Ambiguities of Place. German-Speaking Central Europe 1860–1930, Toronto 2007, S. 149–164. Der »Erinnerungsboom« der letzten Jahre hat zahlreiche Veröffentlichungen zu diesem Thema hervorgebracht, siehe z. B. M. Kittel, Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961–1982), München 2007; C. Lotz, Die Deutung des Verlustes. Erinnerungspolitische Kontroversen im ge­teilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete, Köln 2007; C. R. Unger, Ostforschung in Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Ostforschungsgemeinschaft 1945–1975, Stuttgart 2007; A. Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008; J. Faehndrich, Eine endliche Geschichte. Die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen, Köln 2011; A. Demshuk, The Lost German East. Forced Migration and the Politics of Memory, 1945–1970, New York 2012; A. Jakubowska, Der Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik und Polen (1957–2004), Marburg 2012. 2 Der Autor, ein Nachruf, in: H. Künkel, Auf den kargen Hügeln der Neumark. Zur Geschichte eines Schäfer- und Bauerngeschlechts im Warthebruch, Würzburg 1962, S. 10–12.

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so Künkel, »konnte … abseits leben auf den grünen Triften des 18.  Jahrhunderts«.3 Mehrere Familienmitglieder treten vor dem Hintergrund dieses neuen Zeitalters deutlich hervor. Doch der eigentliche Protagonist der Geschichte ist das Land selbst. Die Erde von Gennin steht für Kontinuität, Beständigkeit und die Rhythmen der Natur. Sie überdauert inmitten der Wechselfälle des Krieges und der Politik. Sie ist da, als Napoleon das umliegende Dorf dem Erdboden gleichmacht, als Hermann Künkel aus den Reichseinigungskriegen heimkehrt und als der Autor selbst mit nur noch einem Arm aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrt. Die Geschichte vom Verlust der Unschuld, die auf eine geliebte Landschaft projiziert wird, ist nicht wirklich originell oder neu. Ich habe sie aus zweierlei Gründen an den Anfang meines Aufsatzes gestellt. Erstens, weil das Gefühl des Verlustes in diesem Fall ein doppeltes ist. Hans Künkel flüchtete 1945, als aus der deutschen Warthe die polnische Warta wurde, mit seiner betagten Mutter in den Westen. Künkel selbst sagt fast nichts darüber: Er starb, bevor er mit seiner Geschichte bis zum Zweiten Weltkrieg gelangt war. Nur vom Herausgeber des posthum veröffentlichten Buchs – ein Juraprofessor der Göttinger Arbeitsgruppe, die sich der Pflege der Erinnerung an die »verlorene« deutsche Heimat im Osten widmete – erfahren wir von Künkels Flucht und von zwei Söhnen, die im Krieg ums Leben gekommen waren. (Dass Künkel auch einen Beitrag zu einem Buch zu Ehren von Hitlers fünfzigstem Geburtstag verfasst hatte, erfahren wir dagegen nicht.) Und doch ist es dieser andere »Verlust«, der dem gesamten Buch seine Stimmung und seine größere Bedeutung verleiht. Die Flucht oder Vertreibung von etwa zwölf Millionen Deutschen in den Jahren zwischen 1944 und 1947 brachte eine umfangreiche Literatur des Verlustes hervor, in der die Landschaft eine absolut zentrale Rolle spielt.4 Doch welche Art von verlorener deutscher Landschaft wurde hier betrauert: die natürliche oder die kultivierte? Das ist der zweite Grund, warum ich mit Künkel beginne. Sein Buch ist ziemlich typisch für Flüchtlingsberichte, indem es suggeriert, dass beides der Fall war. Selbstverständlich feiert es die Schönheit der Natur und Künkel zollt jenen Vorfahren Beifall, die glaubten, dass man sein »Leben in die Erde […] hinein[leben]« solle.5 Aber diese Feier des Natürlichen wird mehr als wettgemacht durch das Lob für die Kultivierung des Landes. Künkels Urgroßvater stammte ursprünglich aus dem Oderbruch entlang des Westufers der Oder und wurde von dort vertrieben, als Friedrich der Große das Sumpfgebiet in der Mitte des 18. Jahrhunderts trockenlegen ließ. Der Urenkel schreibt mit konventioneller Wehmut über diese verlorene Welt, vor allem aber fand er positive Worte für das neue Grün, das Acker- und Weideland, das in den ehemaligen Brüchen geschaffen worden war. Und wenn er über das Warthe­tal 3 Ebd., S. 126. 4 E. Hahn u. H. H. Hahn, Flucht und Vertreibung, in: É. François u. H. Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001, S. 335–351. 5 Künkel, Auf den kargen Hügeln der Neumark, S. 44.

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schreibt, das ebenfalls im 18. Jahrhundert trockengelegt und besiedelt wurde, dann nicht über die früheren, von Wildenten bevölkerten Feuchtgebiete, sondern über das Gut Gennin, den emotionalen Mittelpunkt seiner Familien­ chronik. Was Künkel bedauerte, war nicht die Urbarmachung der Sümpfe, sondern der »Materialismus«, der später kam. Wie so viele deutsche Autoren feierte und betrauerte er eine »unveränderliche« Landschaft, die in Wirklichkeit alles andere als unveränderlich war.6 Ein im Buch geschilderter markanter Ort der Erinnerung macht dies deutlich. Es gab in Gennin eine Wiese, die zu Künkels Lieblingszuflucht wurde, nachdem er als gebrochener Mann aus dem Krieg heimgekehrt war. Es war eine dreieckige, von Bäumen beschattete Wiese, reich an Wildblumen und Schmetterlingen. Doch wie war diese Wiese zu ihrer ungewöhnlichen Form gekommen? Durch die kreuz und quer verlaufenden Linien der Entwässerungsgräben, die im 18.  Jahrhundert zur Trockenlegung des Warthebruchs ausgehoben worden waren.7 Viele heimatvertriebene Autoren beschrieben nach 1945 die verlorene Landschaft im Osten auf ähnlich mehrdeutige Weise – natürlich und kultiviert zugleich. Sie schilderten die natürliche Schönheit der Seen und Wälder, die ­Dünen an der Ostsee und die Brecher vor ihrer Küste, den winterlichen Schnee und die süß duftenden Linden im Frühling, den Wisent und den Elch Ostpreußens. Doch immer betonten sie, dass es Deutsche waren, die das Land gezähmt und fruchtbar gemacht hatten. Als Paul Fechter den »Zauber« des Ostens herauf­ beschwor, stellte er den wilden Drausensee (»ein Vogelparadies«) neben die »holländisch weite, grüne, ebene Weidelandschaft« an der unteren Weichsel.8 In einer 1951 erschienenen Anthologie mit dem Titel »Deutsche Heimat ohne Deutsche« brachte es Karlheinz Gehrmann in seinem Beitrag noch deutlicher auf den Punkt. Das »Wunder« der deutschen Beziehung zum Land lag für ihn darin, dass »Ostpreußen Kulturland geworden und dabei doch ganz Natur geblieben [ist]. Hier können Zivilisation und Urwüchsigkeit noch nebenein­ ander bestehen, ohne sich gegenseitig abträglich zu sein.«9 Die heimatvertriebenen Schriftsteller wollten beides haben: die Deutschen hätten ein besonderes Naturempfinden, zugleich aber auch ein besonderes Talent, das Land zu gestalten. Beide Behauptungen waren gleichermaßen fragwürdig. Doch letztere war vor allem dafür wichtig, die deutschen moralischen Ansprüche auf den Osten zu bekräftigen. Laut diesem eigennützigen Narrativ hatten die Deutschen dort eine »Wildnis« vorgefunden und sie zum Blühen gebracht. »Wildnis« ist in diesen Werken immer negativ besetzt. Das »eintönige Grau« war durch den Fleiß 6 Heinrich Bauers fast zeitgleich erschienenes Buch über Brandenburg trauerte ebenfalls um ein »verlorenes Paradies«, das der »Massenzivilisation« der Gegenwart überlegen sei; siehe H. Bauer, Die Mark Brandenburg, Berlin 1954, S. 47. 7 Künkel, Auf den kargen Hügeln der Neumark, S. 37 f. 8 P. Fechter, Deutscher Osten. Bilder aus West- und Ostpreußen, Gütersloh 1954, S. 29 f. 9 K. Gehrmann, Vom Geist des deutschen Ostens, in: L. Mackensen (Hg.), Deutsche Heimat ohne Deutsche. Ein ostdeutsches Heimatbuch, Braunschweig 1951, S. 137.

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der deutschen Siedler zu »leuchtenden Farben« und einem lebendigen Grün geworden.10 Niemand hauchte diesen Empfindungen mehr Pathos ein als Agnes Miegel. Die als »Mutter Ostpreußens« bekannt gewordene Dichterin ist eine der am häufigsten in Anthologien vertretenen heimatvertriebenen Autorinnen (und wie Künkel auch sie Verfasserin eines Beitrags zu Ehren von Hitlers fünfzigstem Geburtstag). Sie sah sich als ein Kind der »grünen Ebene«, ein immer wiederkehrendes Motiv in ihren Werken.11 In einem autobiografischen Essay schildert sie plastisch das Land, das nach »frischem Grün« duftet – die Entwässerungskanäle entlang des Pregels, die Scheunen und Brücken, den Mühlgraben und die blühenden Apfelbäume, an die sie sich von einem Pfingstspaziergang mit der Familie erinnerte.12 In Gedichten wie »Zum Gedächtnis« und »Es war ein Land« trauerte Miegel um das verlorene »grüne Heimatland«, einen Ort der Fruchtbarkeit.13 Kurzum, der Osten war durch deutsche Anstrengungen in einen grünen Garten verwandelt worden, der durch das Heimweh der Flüchtlinge, so Lutz Mackensen, zum »Garten unseres Herzens« geworden war.14 Bisher habe ich nur eine Momentaufnahme präsentiert. Sie zeigt, wie eine bestimmte Gruppe von Deutschen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt ein Land imaginierte, aus dem sie vertrieben worden war: eine deutsche Idylle, in der die Landschaft zum Identitätsstifter wurde. Das Argument ließe sich nun in mehrere Richtungen fortführen. So könnte man zum Beispiel fragen, ob dieses Konstrukt wirklich so einzigartig war. Schließlich gibt es auch eine englische Tradition der arkadischen Dichtung, die ähnliche Töne anschlägt – darauf hat William Rollins hingewiesen. Er zitiert John Ruskins »Dem Letzten«: »An keiner Landschaft erfreut man sich so unermüdlich immer wieder, wie an einem durch freudige Arbeit der Menschen bereicherten, von gleichmäßigen Feldern, hübschen Anlagen, üppig prangenden Obstgärten umgebenen, schmucken, bewohnten Heim.« Auch Ruskin räumt der Natur neben dem, was der Mensch geschaffen hat, eine wichtige Rolle ein: »die wilde Blume am Wegrain sowohl wie das gebaute Korn, und die wilden Vögel, die Tiere des Waldes sowohl wie die gepflegten Haustiere«.15 Doch die Betonung liegt auf der frucht10 Fechter, Deutscher Osten, S. 20; Gehrmann, Vom Geist des deutschen Ostens, S. 130–137. 11 Siehe die Ballade Die Fähre, in: A. Miegel, Gedichte und Spiele, Jena 1920, S. 45–52; und Abschied vom Kinderland, in: A. Miegel, Aus der Heimat. Gesammelte Werke, Bd. 5, Düsseldorf 1954, S. 129. 12 A. Miegel, Gruß der Türme, in: dies., Aus der Heimat, Bd. 5, S. 118–125, Zitat S. 118. 13 A. Miegel, Zum Gedächtnis, in: dies., Du aber bleibst in mir. Flüchtlingsgedichte, Hameln 1949, S. 14 f.; A. Miegel, Es war ein Land [1952], in: dies., Es war ein Land. Gedichte und Geschichten aus Ostpreußen, Köln 1983, S. 206–208. 14 L. Mackensen, Einführung, in: ders., Deutsche Heimat ohne Deutsche, S. 8. 15 W. H.  Rollins, A Greener Vision of Home. Cultural Politics and Environmental Reform in the German Heimatschutz Movement 1904–1918, Ann Arbor 1997, S. 61. Die deutsche Übersetzung von Ruskins Essay stammt aus J. Ruskin, Ausgewählte Werke in vollständiger Übersetzung, Bd. 5: Diesem Letzten: Vier Abhandlungen über die ersten Grundsätze der Volkswirtschaft, Ü: Anna von Przychowski, Leipzig 1902, S. 175.

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baren Schönheit des Kultivierten. Oder gehen wir noch weiter zurück, zu dem politischen Visionär William Blake. Wo wollte er Jerusalem bauen? »In Englands grünem und lieblichen Land.« Der Ausdruck rührt noch immer an, auch wenn (oder vielleicht gerade weil) uns heutzutage klar ist, dass Luxusimmo­ bilien und Einkaufszentren das Einzige sind, was auf Englands nicht mehr ganz so grünem und lieblichen Land erbaut werden wird. Was ich damit sagen will ist, dass diese Ideen politisch vielseitig verwertbar sind. So konnte Ruskins pastorale Vision von den Konservativen für sich beansprucht werden. Man denke nur an Premierminister Stanley Baldwins idyllisches Bild der Nation in den Jahren nach 1930 oder die erstaunliche Tatsache, dass Blakes »Jerusalem« als Parteitagshymne der Konservativen Partei kooptiert wurde. Man muss allerdings nicht den Ärmelkanal überqueren, um Parallelen zur deutschen Verklärung des Ostens zu finden. Ähnliche positive Darstellungen der Heimat waren auch in anderen Teilen Deutschlands in den Jahren nach 1945 weit verbreitet. Wie Thomas Lekan und Celia Applegate gezeigt haben, fungierte eine idealisierte Heimatlandschaft auch im Nachkriegsrheinland als Form emotionalen Trostes.16 Der bayerische Naturschützer Otto Kraus schrieb später, dass den Deutschen nach der Zerstörung ihrer Städte »Natur und Landschaft allein als wesentliche Grundlage unseres Daseins« geblieben seien.17 Dieser wehmütige – und für die Zeit typische – Kommentar legt nahe, dass die Identifikation mit der Landschaft noch eine weitere psychische Funktion hatte: sie ermöglichte den Deutschen, sich als Opfer zu sehen. Ich will damit nicht sagen, dass es keine Gemeinsamkeiten gab zwischen der Identifikation der heimat­vertriebenen Autoren mit dem Land und der Heimatliebe, welche die Bewohner West- oder Süddeutschlands empfanden. Aber die Ostpastorale hatte eigene, unverwechselbare Merkmale. Diese leiteten sich ab aus den besonderen topografischen und hydrologischen Gegebenheiten des Ostens, seiner ethnischen Zusammensetzung, den historischen Mustern der deutschen Kolonisation und daraus, wie sich die Deutschen im Osten in Bezug auf das restliche Deutschland sahen. Das waren die Zutaten. Wie und wann sie vermischt wurden, ist die historische Frage, auf die der restliche Aufsatz eine Antwort geben möchte. Der Schlüssel zum Verständnis liegt im Nimbus der deutschen Ostkolo­ nisation. Diese reichte selbstverständlich Hunderte von Jahre zurück. Ihren Höhepunkt erreichte sie vom 11. bis zum 14. Jahrhundert und dann wieder im 17.  und 18.  Jahrhundert unter den Habsburgern und Hohenzollern. Die Vorstellung jedoch, dass zwischen diesen Bevölkerungswanderungen eine Verbindung bestand – dass sie »Akte« in einem historischen »Drama« seien – bildete 16 C. Applegate, A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley 1990, S. ­228–236; T. Lekan, Imagining the Nation in Nature. Landscape Preservation and German Identity 1885–1945, Cambridge/Mass. 2004, S. 254. 17 O. Kraus, 1966, zitiert nach L. u. R. Schua, Wasser. Lebenselement und Umwelt, Freiburg i. B. 1981, S. 167.

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sich erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts heraus. Diese Vorstellung war eng verknüpft mit dem deutschen Nationalismus und der Beteuerung, die Deutschen hätten im Osten eine Mission zu erfüllen. Behauptungen, wonach die Deutschen das Land urbar und fruchtbar gemacht hätten, zogen sich wie ein roter Faden (oder sollte ich sagen, wie ein grüner Faden?) durch diesen Nimbus der Kolonisation. Man nehme zum Beispiel Heinrich von Treitschkes Schilderung in seiner 1862 veröffentlichten Geschichte des Deutschritterordens: »Undurchdringliches Gehölz hob sich aus dem Röhricht der weiten Sümpfe zwischen den Armen der Weichsel und Nogat, bis alljährlich im Frühjahr der Schrecken des Landes, der Eisgang, herankam. […] Der Orden war es, der […] durch die nachhaltige Arbeit mehrerer Geschlechter, die Wut des Stromes bändigte. Der güldne Ring der Deiche ward um das Land gezogen […]«18 Dergestalt trockengelegt und geschützt war aus dem Unterlauf der Weichsel eine reiche Kornkammer geworden. Laut Treitschke hatte Friedrich der Große mit seinen Entwässerungsprojekten in Westpreußen nach der Teilung Polens im Jahr 1772 dem Land lediglich seinen früheren deutschen Ruhm zurückgegeben, denn so »wie einst die ersten deutschen Eroberer die Kornkammer der Werder den Strömen entrissen, so stieg jetzt aus den Sümpfen neben dem aufblühenden Bromberg der fleißige Netzegau empor«.19 Max Beheim-Schwarzbach, ein heutzutage unbekannter, aber in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts noch re­ zipierter Zeitgenosse Treitschkes, konstruierte einen ähnlich poetischen Gegensatz, indem er das »neue Grün germanischen Fleißes« neben die »Sümpfe und Moräste« der Polen stellte.20 In den Jahren nach 1870, als Hunderte Bücher über die mittelalterlichen und Hohenzollernschen Kolonisationen erschienen, wurde diese Gegenüberstellung zu einem Allgemeinplatz, eine Brille, durch die der Osten gesehen wurde. Die Deutschen, so die gängige Version, betrieben Ackerbau und Viehzucht, die Slawen blieben nahe am Wasser und lebten vom Fischfang. »Wald- und Sumpfstrecken« wichen dem »vorgeschobenen Posten deutscher Kultur« als Ergebnis »planmäßige[r] Entwässerungs- und Deichbauten«; die »ungesunde, entlegene, brotarme Sumpf- und Wasserwüste« der Slawen wurde durch die »lange, unentwegte Arbeit der Siedler« umgeformt in das »prangende Grün der fruchtbaren Wiesen«.21 Immer mehr Lokalstudien wurden von prominenten, für ein breites Publikum schreibenden Historikern  – Karl Lamprecht vor, Karl Hampe und Hermann Aubin nach dem Ersten Welt18 H. von Treitschke, Das deutsche Ordensland Preußen, in: Preußische Jahrbücher, Jg. 10, 1862, S. 91–104, Zitat S. 102–104. 19 H. von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil, Königstein/Ts. 1981 [1879], S. 66. Ähnliche Aussagen finden sich auf S. 45, 56 f., 76. Der heutzutage veraltete Begriff »Werder« für höhergelegene Gebiete in einem Sumpfdelta findet sich noch im Namen der deutschen Fußballmannschaft Werder Bremen. 20 M. Beheim-Schwarzbach, Hohenzollernsche Colonisationen, Leipzig 1874, S. 423 f., 426. 21 O. Schlüter, Wald, Sumpf und Siedelungsland in Altpreußen vor der Ordenszeit, Halle 1921, S. 2, 7; Dr. Müller, Aus der Kolonisationszeit des Netzebruchs, in: Schriften des Vereins für Geschichte der Neumark, Jg. 39, 1921, S. 3.

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krieg  – in der Absicht zusammengenäht, ein Idiom deutscher Überlegenheit zu schaffen. Was sie schrieben, fand Eingang in die Berichte deutscher Reiseschriftsteller, die ihren Lesern versicherten, die Deutschen im Osten seien »Kulturbringer« und »Befruchter« gewesen; sie hätten »Kultur«  – das heißt, saatgrüne Äcker und Wiesen sowie Städte und Handwerkszünfte  – gebracht und damit das Land erst fruchtbar gemacht.22 Ein vertrauter Reigen von Kultureinrichtungen trug dazu bei, diese Vorstellung der deutschen Überlegenheit noch zu verfestigen. Geschichts- und Heimatvereine, Heimatmuseen und ihre Veröffentlichungen – sie alle hegten und pflegten den Gedanken, dass sich die deutschen Leistungen in die Landschaft eingeschrieben hatten. Auch das Wandern, bei dem man die Frucht deutscher Ordnung bewundern konnte, trug zu dieser Einstellung bei. So war zum Beispiel der spätere heimatvertriebene Schriftsteller Paul Fechter in seiner Jugend die Mündungsgebiete Westpreußens abgewandert und hatte die fetten Weiden und Äcker beschrieben.23 Spätestens um 1880 herum konnte Fechter sogar relativ abgelegene Orte mit dem Zug erreichen. Ironischerweise spielte die moderne Technik – die Eisenbahn und das Dampfschiff, die Fotografie und neue Mittel der Massenkommunikation – eine große Rolle dabei, die deutschen Vorstel­ lungen von diesen »historischen« Landschaften aufrechtzuerhalten. Diese Ideen wurden aber nicht nur durch Geschichts- und Reisebücher verbreitet. Ein Wust an Romanen über die Ostkolonisation blies in dasselbe hero­ ische Horn. Das taten auch literarische Werke von seriöseren Autoren, wie zum Beispiel Gustav Freytags »Soll und Haben«, das erstmals 1855 erschien und bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zahlreiche Auflagen erlebte. Seine Kapitel über die Provinz Posen im 19. Jahrhundert boten den Lesern eine Serie von Gegensätzen zwischen polnischem Ödland und ordentlichem deutschen Feldbau. Als der Protagonist Anton Wohlfart zum ersten Mal nach Posen reist, trifft er auf eine »Wüstenei«, eine sandige und eintönige Ebene, übersät mit Wassertümpeln. Auf dem heruntergekommenen Gut, das er verwalten soll, haben einige leidgeprüfte deutsche Familien Bäume angepflanzt und Gärten angelegt. Während Anton gleichzeitig den Widerstand gegen die aufbegehrenden Polen organisiert – der Roman spielt während der Revolution von 1848 –, macht er sich daran, den kolonisatorischen Leistungen früherer deutscher Siedler nachzueifern. Letztere, so Freytag, »haben Gräben gezogen durch das Moor, haben Menschen hingepflanzt in leeres Gebiet«. Nach seiner Rückkehr in das deutsche Kernland blickt Anton mit Genugtuung auf seine Anstrengungen zurück: »Er hatte durchgesetzt, dass auf unkultivierter Fläche ein neues Leben aufgrünte; er hatte geholfen, eine neue Kolonie seines Volkes zu gründen.« Anton wird dabei von Herrn von Fink unterstützt, einem Aristokraten, der den kühnen Plan entwirft, einen Fluss umzuleiten und auf diese Weise »den dürren Sand in grünes Wiesenland [zu] verwandeln«. Seine Vision wird im weiteren 22 K. Freytag, Raum deutscher Zukunft. Grenzland im Osten, Dresden 1933, S. 11. 23 P. Fechter, Zwischen Haff und Weichsel. Jahre der Jugend, Gütersloh 1954, S. 294 f., 345.

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Verlauf des Romans von deutschen Ingenieuren und Freiwilligen verwirklicht, die »in der Wüste Wasser und grüne Wiesen« entstehen lassen, wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, gegen aufsässige Slawen zu kämpfen.24 Wenn Deutsche die Landschaft charakterisierten, taten sie das unweigerlich, indem sie ihr Farben zuordneten. Die slawische Landschaft war grau, die deutsche stets grün. Diese Farbcodierungen waren vor dem Ersten Weltkrieg in den Köpfen der Deutschen fest verankert. Sie dienten als Kürzel für den Glauben, dass der Osten ohne die Deutschen entweder stets zu trocken oder zu feucht, ent­ weder dürre Wüste oder »slawische Flut« war. Diese Einbildung offenbarte ein Gefühl der Überlegenheit der deutschen Rasse und Kultur. Sie enthielt auch ein geschlechterspezifisches Element: »tätige« und »männliche« Deutsche gestalteten ihre Landschaft in einer Art, wie es die »untätigen« und »weiblichen« Slawen nicht vermochten.25 In dem sozialdarwinistischen Klima der Vorkriegszeit gedieh noch ein weiteres Element des deutschen Denkens über den Osten: der Glaube, dass die deutschen Ostgebiete eine Art Grenzregion (frontier) darstellen. Es gibt in der Geschichte natürlich eine berühmte Frontierthese: Frederick Jackson Turner stellte 1893 die These auf, dass die Auseinandersetzung der Pioniere mit der Wildnis und der besondere Charakter des Grenzerlebens die amerikanischen Werte und Institutionen geprägt hätten.26 Dieses bahnbrechende Werk war aber nicht isoliert entstanden. Turners Hypothese fand nicht nur großen Anklang bei seinen deutschen Zeitgenossen, sie stützte sich teilweise auch auf deren Arbeit. So bediente sich Turner zum Beispiel bei Friedrich Ratzels Schriften über den Einfluss der Geografie auf die Geschichte und arbeitete später mit Ratzels amerikanischer Studentin Ellen Churchill Semple zusammen. Ratzel, der den Begriff des »Lebensraums« popularisiert hatte, schrieb wiederum Turner das Verdienst zu, die dynamischen Auswirkungen der amerikanischen Expansion nach Westen aufgezeigt zu haben.27 Eine imaginierte amerikanische Frontier fand in Deutschland deshalb so großen Anklang, da der amerikanische Westen ein so offensichtliches Pendant zum deutschen Osten darstellte. In demselben Jahr, in dem Turner seine Ideen erstmals vorstellte, schrieb der Ökonom Max Sering ein Buch mit dem Titel »Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland« über den Versuch der Germanisierung polnischer Gebiete in Ostpreußen seit 24 G. Freytag, Soll und Haben, Berlin 1855, S. 536–539, 681–683, 688, 698 f., 820. 25 W. Wippermann, Der »deutsche Drang nach Osten«: Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes, Darmstadt 1981. 26 F. J. Turner, The Significance of the Frontier in American History, in: ders., The Frontier in American History, Tucson 1986, S. 1–38. Der Text wurde ursprünglich am 12.07.1893 als Vortrag auf einem Treffen der American Historical Association in Chicago gehalten. 27 W. Coleman, Science and Symbol in the Turner Frontier Hypothesis, in: American Historical Review, Jg. 72, 1966, S. 39 f.; M. Bassin, Imperialism and the Nation State in Friedrich Ratzel’s Political Geography, in: Progress in Human Geography, Jg. 11, 1987, S. 479 f., 489; A. E. Steinweis, Eastern Europe and the Notion of the »Frontier« in Germany to 1945, in:­ Yearbook for European Studies, Jg. 13, 1999, S. 60 f.

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den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts.28 Ebenso wie Ratzel hatte auch Sering die Vereinigten Staaten besucht. In seinem Buch nannte er die nordamerikanischen Siedler mehrfach als beispielhafte Verkörperung eines kühnen Unternehmungsgeistes, die den Deutschen als Vorbilder dienen könnten.29 Gustav Schmoller verglich den deutschen Osten explizit mit dem amerikanischen Westen, Max Weber zog diesen Vergleich indirekt.30 Die deutsche Faszination für die amerikanische Frontier überdauerte den Ersten Weltkrieg. Sie findet sich in Theodor Lüddeckes Feier der »endlosen Weite« Amerikas sowie zahlreichen einschlägigen Bemerkungen Hitlers, darunter seine Aussage, »unser Missisippi [sic] müsse die Wolga sein«.31 Die Vorstellungen über den deutschen Osten wurden allerdings nicht eins zu eins aus der wilhelminischen Zeit in die Jahre nach 1918 übernommen. Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs verliehen ihnen eine zusätzliche Schärfe. Zum einen wurde das Idealbild einer deutschen Landschaft unmittelbar in den Dienst der Kriegsrhetorik gestellt. 1916 rief zum Beispiel der sächsische Naturschützer und Heimatschriftsteller August Trinius die Deutschen dazu auf, den »große[n] grüne[n] Garten Deutschland« zu verteidigen.32 Zum anderen war Deutschland durch seine militärischen Erfolge in Osteuropa vorübergehend zum Machthaber über Millionen von Menschen geworden, was Aussichten auf eine deutsche Herrschaft und Besiedlung weckte  – bis die Nachkriegsregelungen die Landesgrenzen noch enger schnürten.33 Durch die dadurch erzeugten Ressen­ timents, das Gefühl der schieren Ungerechtigkeit, erhielten die alten Vorstellungen neuen Auftrieb. Reisende, die aus den ehemaligen deutschen Gebieten in Posen und Westpreußen zurückkehrten, behaupteten, es sei leicht zu erkennen, wo die deutsche Kultivierung aufhörte und die polnische Vernachlässigung 28 M. Sering, Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland, Leipzig 1893. Zur versuchten »Germanisierung« vgl. auch W. Hagen, Germans, Poles, and Jews. The Nationality Conflict in the German East 1772–1914, Chicago 1980. 29 Sering, Die innere Kolonisation, S. 160, 166, 172 f., 180, 205, 212, 214, 230 f.. Zu Ratzels USAReise vgl. M. Bassin, Friedrich Ratzel’s Travels in the United States. A Study in the Genesis of His Anthropogeography, in: History of Geography Newsletter, Jg. 4, 1984, S. 11–22. 30 Zu Schmoller vgl. C. Dipper, Deutsche Geschichte 1684–1789, Frankfurt a. M. 1991, S. 26; M. Weber, Capitalism and Rural Society in Germany, in: H. Gerth u. C. Wright Mills (Hg.), From Max Weber. Essays in Sociology, London 1952, S. 363–385. Der von Weber ursprünglich in St. Louis gehaltene Vortrag über Europa und Amerika wurde im Folgenden von H.  Gerth ins Deutsche rückübersetzt: M. Weber, Kapitalismus und Agrarverfassung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Jg. 108/33, 1953, S. 431–452. 31 T. Lüddecke, Amerikanismus als Schlagwort und Tatsache, zitiert nach P. Berg, Deutschland und Amerika 1918–1929. Über das deutsche Amerikabild der zwanziger Jahre, Lübeck 1963, S. 134; I. Kershaw, Hitler 1936–45. Nemesis, London 2000, S. 434. Ähnliche Verlautbarungen Hitlers finden sich in W. Jochmann (Hg.), Adolf Hitler. Monologe im Führer-Hauptquartier 1941–1944: Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, Hamburg 1980, S. 70, 78, 398 f. 32 Rollins, A Greener Vision of Home, S.  246; Siehe auch Lekan, Imagining the Nation in­ Nature, S. 74–85. 33 V. J. Liulevicius, War Land on the Eastern Front. Culture, National Identity and German­ Occupation in World War I, Cambridge 2000.

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begann, sei diese doch ins Land selbst eingeschrieben. Als angebliches Kennzeichen dieser »Kulturgrenze« diente erneut der Gegensatz zwischen deutschem Grün und polnischem Grau.34 Eine ganze Generation von politischen Kommentatoren und Wissenschaftlern klagte, die Deutschen hätten Sümpfe trockengelegt, Flüsse reguliert, Felder und Viehweiden aus dem Boden gestampft, nur damit die Polen diesen deutschen Garten nun verkommen ließen. Der Historiker Erich Gierach drückte es 1926 in dem völkisch angehauchten Band »Der ostdeutsche Volksboden« so aus: »Der Heimatschein der Deutschen im Osten ist nicht ein vergilbtes Pergament […], sondern das sind die lachenden Fluren und blühenden Felder, die sie der wilden Natur abgerungen haben.«35 In einem Deutschland ohne Kolonien und mit schmerzhaften Verlusten in Europa, das sich selbst als »Volk ohne Raum« hinstellte, wurde der Nimbus der Frontier stärker denn je betont, um die deutschen Ansprüche im Osten zu untermauern. Historiker und Volksschriftsteller schrieben den Kolonisten des Mittelalters und der frühen Neuzeit einen »Pioniergeist« zu, einen »Eroberergeist […], der den deutschen Menschen die Enge der heimatlichen Landschaft unerträglich machte und sie bewog, hinauszugehen, um ihrem Lebenswillen in der Weite des deutschen Ostens Raum zu schaffen.«36 Dies war auch die Haupthandlung in sogenannten Siedlerromanen wie Hans Venatiers Bestseller »Vogt Bartold« (1939). Venatiers furchtlose deutsche Siedler im Schlesien des 13. Jahrhunderts haben mit vielen Schwierigkeiten in dem »endlose[n] Ostland« zu kämpfen, doch am Ende gelingt es ihnen, die »Wildnis« zu bändigen.37 Diese Sicht des Ostens wurde zum festen Bestandteil der Schulbücher und politischen Diskurse des Dritten Reichs. Nach 1939 wurde sie für die deutschen Besatzer im Osten zur alltäglichen Selbstverständlichkeit. Das galt sowohl für die »eingegliederten Gebiete« wie den Reichsgau Wartheland, den der Landschaftsplaner Erhard Mäding als eine »verwüstete Raublandschaft« und »eine grauenhaft phantastische Unterweltlandschaft« beschrieb, als auch für noch weiter östlich gelegene Regionen wie die »graudunkle Wildnis« der Pripjet­ 34 Vgl. M. Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988, S.  26, der den Geografen Albrecht Penck aus dem Jahr 1926 zitiert; R. Wingendorf, Polen, Volk zwischen Ost und West, Berlin 1939, S.  89 f. (»Die polnische Landschaft. Graues Land – graue Städte«). 35 E. Gierach-Reichenberg, Die Bretholzsche Theorie im Lichte der Sprachforschung, in: W. Volz (Hg.), Der ostdeutsche Volksboden. Aufsätze zu den Fragen des Ostens, Breslau 1926, S. 151. Die Beiträge von Hermann Aubin, Rudolf Kötzschke und Otto Schlüter in demselben Band beinhalten ähnliche Argumente. Siehe auch E. Keyser, Westpreußen und das deutsche Volk, Danzig 1919, S. 2, 10–12. 36 U. Froese, Das Kolonisationswerk Friedrichs des Großen. Wesen und Vermächtnis, Heidelberg 1938, S.  116; K. Hampe, Der Zug nach dem Osten. Die kolonisatorische Großtat des deutschen Volkes im Mittelalter, Leipzig 1935 [1921], S. 37; H. Aubin, Die historische Entwicklung der ostdeutschen Agrarverfassung und ihre Beziehungen zum Nationalitäts­ problem der Gegenwart, in: Volz, Der ostdeutsche Volksboden, S. 345–347. 37 H. Venatier, Vogt Bartold. Der große Zug nach dem Osten, Leipzig 194417, S. 147, 186, 235, 435.

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sümpfe, auf die sowohl das Generalgouvernement als auch die SS ein Auge geworfen hatten, mit dem Ziel sie trockenzulegen und zu besiedeln.38 Nicht alle Parteigrößen teilten die Kolonisationsfantasien von Hitler, Himmler und den SS-Planern; Göring und Goebbels zählten zu den Zynikern, während Hans Frank wiederholt mit der SS über Zuständigkeitsfragen im Clinch lag. Sie alle aber einte der Glaube, dass sich die Überlegenheit der deutschen Rasse in ihrer Fähigkeit zur Gestaltung des Landes äußerte. Verwendet man Begriffe wie »Wildnis« und »leerer Raum«, so beseitigt man im Geiste natürlich die ursprünglichen Bewohner aus der Landschaft  – eine Vorstufe zu ihrer tatsächlichen Beseitigung. Slawen wurden als Fischer oder als Jäger und Sammler dargestellt, Juden als ›Fremde‹, ›Parasiten‹ und ›Nomaden‹. Tatsächlich finden sich, von Hitler bis Hans Frank, häufige Vergleiche der Slawen und Juden mit »Indianern«.39 Auch hierbei handelte es sich um ein altes Motiv. Es kann auf Friedrich den Großen zurückdatiert werden, der »das liederliche polnische Zeug« im neu eroberten Westpreußen mit den »Irokesen« verglich.40 Die deutsche Gleichsetzung der Slawen mit Indianern war im 19. Jahrhundert gang und gäbe und wurde ein »Lieblingsthema preußischer Politiker«. Die Polen, so behauptete einer von ihnen, seien ebenso wie die »amerikanischen Rothäute« zum Untergang verurteilt; so wie die Indianer der Neuen Welt in die »ewige Wildnis« zurückgedrängt wurden, so würden die Polen »vor der preußischen Zivilisation weichen« müssen.41 Im Zweiten Weltkrieg sprachen die deutschen Planer immer und immer wieder von dem »jungfräulichen Land« im Osten, einer Tabula rasa. Zur Vorbereitung auf die deutschen Siedler müsse die Landschaft »gesund«  – sprich: grün – gemacht werden. Die von Himmler 1942 unterzeichneten Vor­schriften forderten eine »Grüngestaltung« der Landschaft.42 Die Entwürfe von Planern wie Erhard Mäding, Heinrich Wiepking-Jürgensmann, Herbert Frank und

38 G. Gröning u. J. Wolschke-Bulmahn, Die Liebe zur Landschaft. Teil  3: Der Drang nach­ Osten: Zur Entwicklung im Nationalsozialismus und während des Zweiten Weltkrieges in den »eingegliederten Ostgebieten«, München 1987, S. 134; M. Bürgener, Pripet-Polessie. Das Bild einer polnischen Ostraum-Landschaft, Petermanns Geographische Mitteilungen Nr. 237, Gotha 1939, S. 9. 39 Jochmann, Adolf Hitler. Monologe im Führer-Hauptquartier 1941–1944, S.  91, 334, 377; W. Präg u. W. Jacobmeyer (Hg.), Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen 1939–1945, Stuttgart 1975, S. 522 f. 40 H. Berger, Friedrich der Große als Kolonisator, Gießen 1896, S.  54; R. Koser, Geschichte Friedrichs des Großen, Bd. 3, Darmstadt 1974, S. 345, 351. 41 Zitiert nach L. Powidaj, Polacy i Indianie, in: Dzennik Literacki, Jg. 56, 30. Dezember 1864. Ich danke Patrice Dabrowski für den Hinweis auf diesen Aufsatz und die Übersetzung dieser Abschnitte. 42 Allgemeine Anordnung Nr.  20/VI/42 über die Gestaltung der Landschaft in den einge­ gliederten Ostgebieten vom 21. Dezember 1942, in: M. Rössler u. S. Schleiermacher (Hg.), Der »Generalplan Ost«, Berlin 1993, S. 136–147.

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Friedrich Kann gingen in eine ähnliche Richtung.43 Darin war genau festgelegt, wo und wie die neuen Dörfer mitsamt ihren Bauernhäusern und Gemeinschaftseinrichtungen angelegt sein sollten und wie das Land zu bewirtschaften war. Der Großgrünplan sah arbeitssparende Bauernküchen vor, machte aber auch das Pflanzen von Bäumen und die Umwandlung von Ackerland zu Weideland zur Auflage. Konrad Meyer, der für den Generalplan Ost zuständig war, sprach von einer Verschmelzung von »Tradition und Revolution, Natur und Technik«. Himmler selbst forderte »die planvolle und naturnahe Gestaltung der Landschaft«.44 Bei allem, was wir über die Entscheidungsmechanismen im Dritten Reich wissen, versteht es sich fast von selbst, dass auch die Planungen für den Osten von Widersprüchen gekennzeichnet waren. Wären diese Pläne jemals in großem Stil umgesetzt worden, ist es zweifelhaft, ob sie angesichts der deutschen Forderung nach größtmöglicher Ausbeutung der menschlichen und natürlichen Ressourcen im Osten – was Gauleiter Arthur Greiser im Wartheland den Bedarf nach »Getreide, Getreide und noch mal Getreide« nannte  – überdauert hätten.45 Hinzu kam, dass die östliche Landschaft zwar ein nach deutschem Vorbild gestaltetes Versuchslabor war, aber auch als Vorbild für die »Restaurierung« der Landschaft im restlichen Deutschland, dem sogenannten Altreich, gedacht war. Dies wirft die (von Naturschützern durchaus gestellte) Frage auf, warum man überhaupt zugelassen hatte, dass das Altreich, der grüne Garten Deutschland, »degeneriert« war? Die Antwort des Historikers lautet, dass Hitler Produktion über Naturschutz stellte. Hitler oder Himmler selbst hätten hingegen zur Antwort gegeben, dass die kapitalistischen Praktiken der Vergangenheit für den Niedergang verantwortlich waren, wohingegen die strammen Kolonisten des Ostens die Lösung für das Problem darstellten – eine Ansicht, die in den parteitreuen Schriften über den Osten eifrig nachgebetet wurde.46 Natürlich deckte sich der Glaube an die strammen Pioniere kaum mit der Realität, in der die Kolonisten, nachdem sie eine Reihe von Rassentests über sich ergehen lassen mussten, auf Lastwägen in den Osten gekarrt und dort ohne Unterlass kontrolliert und beaufsichtigt wurden. 43 Siehe z. B. E. Mäding, Landschaftspflege. Die Gestaltung der Landschaft als Hoheitsrecht und Hoheitspflicht, Berlin 1942; H. F. Wiepking-Jürgensmann, Aufgaben und Ziele deutscher Landschaftspolitik, in: Die Gartenkunst, Jg. 53, 1940, S. 81–96; H. Frank, Dörfliche Planung im Osten, in: Neue Dorflandschaften. Gedanken und Pläne zum ländlichen Aufbau in den neuen Ostgebieten und im Altreich, hg. v. Stabshauptamt des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums, Planungsamt sowie vom Planungsbeauftragten für die Siedlung und ländliche Neuordnung, Berlin 1943, S. 44 f.; F. Kann, Die Neuordnung des deutschen Dorfes, in: Neue Dorflandschaften, S. 97–102. 44 K. Meyer, Zur Einführung, in: Neue Dorflandschaften; Allgemeine Anordnung Nr.  20/ VI/42 über die Gestaltung der Landschaft, S. 136. 45 H.-E. Volkmann, Zur Ansiedlung der Deutsch-Balten im »Reichsgau« Wartheland, in: Zeitschrift für Ostforschung, Jg. 30, 1981, S. 541 f. 46 Siehe zum Beispiel A. von Machui, Die Landgestaltung als Element der Volkspolitik, in: Deutsche Arbeit, Bd. 42, 1942, S. 287–305.

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Die deutschen Pläne für den Osten gründeten auf einer spannungsreichen Vermählung von Technik und »Naturnähe«. Sie wärmten die mittlerweile altbekannten Ansichten auf, dass die Deutschen wie kein anderes Volk in der Lage waren, die Landschaft nicht nur zu gestalten, sondern auch zu bewahren. Die Planer bedienten sich dazu wohl einstudierter Argumente. Die östliche Landschaft war entweder zu feucht oder zu trocken. Der deutsche Bauer »braucht ein grünes Dorf und hasst, weil er sie fürchtet, die Sandsteppe«, schrieb WiepkingJürgensmann.47 Aber auch für die hochwassergefährdeten Flüsse und Sumpfgebiete des Ostens bedurfte es einer ordnenden Hand. Derartige Überlegungen dienten als Blaupause für umfassende Wasserbauprojekte an der Weichsel und anderswo. Rhetorisch machten sie von Bildern Gebrauch, deren Verwendung im Nationalsozialismus schon fast zwanghafte Züge annahm. Rasse und Landgewinnung gehörten zusammen. In seiner ersten Rede als Reichsprotektor von Böhmen und Mähren spann Reinhard Heydrich ein weitreichendes Argument über die »Germanisierung«, indem er sich aus dem Metaphernfundus von Polderbau und Trockenlegung bediente.48 Damit stand er nicht allein da. Als Primo Levi Auschwitz als die »letzte Kloake des deutschen Universums« bezeichnete, hatte er sich in die Köpfe seiner Verfolger hineinversetzt.49 Dort hatte sich auch das allgegenwärtige Bild vom deutschen Damm gegen die slawische Flut eingenistet. So heißt es in einem Gedicht von Agnes Miegel aus dem Jahr 1940: Über den Stürmen und über den arbeitsmüden Lebenden singt der Wind des grünen Ostlands Ewiges Lied, das Lied seiner schicksalsbestimmten Göttlichen Sendung: Bollwerk zu sein und Deich in unendlicher Ebene.50

1945 brachen die Deiche an der Weichsel, der Nogat und anderen Flüssen im Osten. Die bittere Ironie ist, dass es die Soldaten der zurückweichenden Wehrmacht selbst waren, die sie zum Einsturz brachten und das Land fluteten, um den Vormarsch der Roten Armee aufzuhalten.51 Das Bild vom grünen Land hinter den Deichen lebte nach dem Krieg in den Köpfen der Flüchtlinge und Vertriebenen fort und wurde von Schriftstellern wie Hans Künkel, Paul Fechter und Agnes Miegel wachgehalten. Noch stärker geschah dies vonseiten der Landsmannschaften, die für sich in Anspruch nahmen, als Sprachrohr für die enteigneten Ost- und Westpreußen, die Branden47 H. F. Wiepking-Jürgensmann, Dorfbau und Landschaftsgestaltung, in: Neue Dorflandschaften, S. 42 f. Siehe auch ders., Das Grün im Dorf und in der Feldmark, in: Bauen Siedeln Wohnen, Jg. 20, 1940, S. 442–445. 48 R.-D. Müller, Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik, Frankfurt a. M. 1991, S. 102. 49 P. Levi, Moments of Reprieve. A Memoir of Auschwitz, New York 1987, S. 124. 50 A. Miegel, Kriegergräber, in: dies., Ostland, Jena 1940, S. 37. 51 H. Enss, Marienau. Ein Werderdorf zwischen Weichsel und Nogat, Lübeck 1998, S. 694.

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burger von jenseits der Oder, die Pommern, Sudetendeutschen und Schlesier zu fungieren. Ihre Bemühungen, die Erinnerung an das Verlorene hochzuhalten und den Verlust als etwas darzustellen, was alle Deutschen fühlen sollten, waren mit einem besonderen Pathos befrachtet. Über Generationen hinweg hatten die Deutschen in den östlichen Gebieten des Reiches das Gefühl gehabt, dass ihr Teil Deutschlands unter ihren Landsleuten zu wenig bekannt und geschätzt war. Kursierten einerseits seit den Jahren des Kaiserreichs heldenhafte Geschichten über die deutsche Ostkolonisation, so hielt sich andererseits bei vielen Rheinländern und Bayern das Gefühl, der Osten sei irgendwie fremd – »rückständig«, »preußisch«, ein anderes Land. Selbst die durch den Versailler Vertrag geschürten Ressentiments und der verstärkte Antislawismus nach dem Ersten Weltkrieg konnten diese negativen Gefühle nicht völlig zerstreuen. Erst in der transatlantisch ausgerichteten Bundesrepublik, die politisch auf der Achse des Rheinlands aufgebaut war, fand der Osten endlich auch bei anderen Deutschen Aufnahme. Ehemalige Flüchtlinge besetzten einflussreiche Positionen in Konrad Adenauers Kabinett. Von Nordrhein-Westfalen bis Baden-Württemberg wurden Schulen und Straßen nach Agnes Miegel, der »Mutter Ostpreußens« benannt. Dank der zahllosen historischen Schriften, literarischen Anthologien, Memoiren, Ausstellungen und politischen Aktivitäten der Landsmannschaften wurde der deutsche Osten den Deutschen nach 1945 – das heißt, nachdem er »verloren« war – so vertraut wie nie zuvor. Aber das Bild des Ostens, das sie vermittelten, war ein in der Zeit erstarrtes Stillleben, in dem die Natur stilisiert und die deutschen Kulturleistungen unkritisch in Wort und Bild zelebriert wurden. Es zeigte blühende Dörfer, die dem Sumpf abgetrotzt worden waren, daneben Straßen, Brücken und Dampfschiffen auf der Warthe  – Symbole einer Landschaft, die vom technischen Können der Deutschen geprägt war. Für andere Völker war darin kein Platz, genauso wenig wie für soziale Konflikte. Schriftsteller wie Günter Grass und Peter Härtling, welche die Landschaften des Ostens als ethnisch komplexer und historisch vieldeutiger darstellten, stießen bei den Wächtern der offiziellen Erinnerung auf wenig Gegenliebe.52 Das änderte sich erst mit der Ostpolitik der frühen siebziger Jahre, und erst die Ereignisse des Wendejahrs 1989/90 bewegten die Landsmannschaften dazu, den Wechsel »von der Konfrontation zur Kooperation« zu vollziehen.53 Allerdings taten sich viele schwer, ihnen darin zu folgen. Memoiren und Erzählungen zeichneten nach wie vor das Bild eines (jetzt zerstörten) grünen Landes hinter dem deutschen Deich.54 Oder aber man garnierte einen ansonsten unveränderten Bericht mit einigen unbeholfenen und symbo­ 52 Siehe Hahn u. Hahn, Flucht und Vertreibung. 53 Von der Konfrontation zur Kooperation. 50 Jahre Landsmannschaft Weichsel-Warthe, Wiesbaden 1999; 50 Jahre nach der Flucht und Vertreibung. Erinnerung – Wandel – Ausblick. 19. Bundestreffen, Landsmannschaft Weichsel-Warthe, 10./11. Juni 1995, Wiesbaden 1995. 54 Helmut Enss’ Marienau von 1998 ist dafür ein gutes Beispiel.

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lischen Gesten des Bemühens um Objektivität, wie zum Beispiel Heinz Csallner in seinem Fotoband »Zwischen Weichsel und Warthe«.55 In Fällen wie diesen lässt sich erkennen, wie die jahrzehntelang gleichsam eingefrorene Erinnerung an den deutschen Osten langsam aufzutauen beginnt  – wenn auch ungleichmäßig, gleich einem jener Flüsse im Osten im Frühling, die von den Flücht­ lingen der Nachkriegsjahre und ihren Vorfahren so oft beschrieben worden waren.

55 H. Csallner, Zwischen Weichsel und Warthe – 300 Bilder von Städten und Dörfern aus dem damaligen Warthegau und der Provinz Posen vor 1945, Friedeberg 1989.

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Deutschland transnational

14. Deutschland und die Geburt der modernen Welt (1780–1820)1

Mein Thema ist dem größeren Projekt geschuldet, an dem ich gerade arbeite, nämlich über Deutschland und die Welt seit 1500. Wie Thomas Bender jüngst in seiner transnationalen Geschichte Amerikas schrieb, »kann die Nation nicht ihren eigenen historischen Kontext bilden«.2 Heute ist »transnational« zu einem Modewort geworden, und wir Historiker sollten keine Modegeschöpfe sein. Der transnationale Ansatz entwertet keineswegs die Vergleichende Geschichtsschreibung oder die Mikrogeschichte, ja, er lässt sich im Gegenteil mit beiden verknüpfen. Gleichwohl besitzt die transnationale Geschichte gewisse Reize. Die Vorstellung von der Nation als einem »Gefäß« lässt die Bewegung von Menschen, Dingen und Ideen unberücksichtigt. Sie übersieht, wie porös Grenzen sind, sie unterschätzt die Kontakt- und Austauschzonen und zieht das Homogene dem Hybriden vor. Sie erschwert es zudem, Gemeinsamkeiten zu erkennen – die Geschichte, die eine Nation mit anderen gemeinsam hat. Ich hoffe, mein Aufsatz wird im Folgenden die Vorzüge eines transnationalen Ansatzes deutlich machen. Für den Zeitraum von 1780 bis 1820 habe ich mich zum Teil auch wegen dem entschieden, was er nicht ist: Er ist nicht das 20. Jahrhundert. Ich will sogleich hinzufügen, dass ich selbstverständlich nichts gegen das 20. Jahrhundert habe. Immerhin beschäftigen sich einige meiner besten Freunde mit dem 20.  Jahrhundert, und auch ich selbst habe schon darüber geschrieben. Ich will damit auch nicht nachdrücklich einfordern, wir sollten uns von dem dunkelsten Kapitel in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts abwenden. Mir geht es um die Proportionen. Recht unvermittelt ist deutsche Geschichte in diesem Land fast gleichbedeutend mit der Geschichte der letzten einhundert Jahre. Der Anteil der Aufsätze und Bücher zum 20.  Jahrhundert, die in der Zeitschrift »Central European History« besprochen werden, liegt inzwischen bei 75 Prozent und darüber. Gleiches gilt für die Geschichtsforen bei den Konferenzen der German Studies Association. Zu einer Zeit, da es auf unserem Gebiet in Nordamerika immer weniger Stellen gibt, verwundert es nicht, dass sich Doktoranden für »vermarktbare« Themen entscheiden, wenn vor allem Stellen zu »Deutschland im 20. Jahrhundert« oder »Deutschland nach 1945« ausgeschrieben sind und ihnen von allen Seiten suggeriert wird, das sei die Zukunft. Einer 1 Vortrag anlässlich des 25. Geburtstags des Deutschen Historischen Instituts, Washington, 17. Mai 2012. 2 T. Bender, A Nation Among Nations. America’s Place in World History, New York 2006, S. 4.

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der vielen unerwünschten Effekte dieser Entwicklung ist der, dass bei einem Verkümmern der Geschichtsschreibung der Zeit vor 1914 in Nordamerika ein Ungleichgewicht beim transatlantischen Austausch droht (es sei denn, auch jüngere deutsche Wissenschaftler entscheiden sich überwiegend dafür, alles jenseits der letzten einhundert Jahre zu vernachlässigen; in diesem Fall haben wir alle ein Problem). Es würde zu weit führen, ausgiebiger nach den Gründen dafür zu fragen, aber ich denke doch, dass diese ziemlich dramatische Verschiebung zumindest konstatiert werden sollte. Nun bedarf es beileibe keiner Entschuldigung, wenn man über die Jahrzehnte vor und nach 1800 spricht. Sie sind unbestritten eine Zeit, in der die Saat für die moderne Welt gelegt wurde. Vor einem halben Jahrhundert hat Eric Hobsbawm von der »Doppelrevolution« gesprochen – der politischen Revolution in Frankreich, der Industriellen Revolution in Großbritannien. Die jüngere Forschung hat unser Empfinden, dass diese Zeit eine Art Scharnier der Geschichte darstellt, nur noch weiter verstärkt.3 Eine kriegsbedingte Zeit der Umwälzung erschütterte alle großen Imperien, sie brachte die Revolution nicht nur nach Europa, sondern auch in die nordamerikanischen Kolonien, in die Karibik und nach Lateinamerika. In einem noch größeren Maßstab hat Christopher Bayly von einem Zeitalter der »Protoglobalisierung« gesprochen.4 Die »Industrielle Revolution« ist inzwischen in ihrer Bedeutung etwas reduziert und auf später datiert worden; doch stattdessen haben wir eine Handelsrevolution in der Landwirtschaft sowie das, was ein Historiker so schön als »industrious revolution«, als »Revolution des Fleißes« bezeichnet hat.5 Es war auch eine Zeit des demographischen Wandels, wachsender Bevölkerungen, die den malthusianischen Kreislauf durchbrachen, und eine Zeit, in der man immer mehr unternahm, um die Natur zu »erobern«, wie man das damals nannte. Mit gutem Grund lässt sich mit Fernand Braudel vom »Ende des alten biologischen Ordnungssystems« in Europa sprechen.6 Und das ist noch nicht alles. Bewunderer des verstorbenen Reinhart Koselleck – und wer wäre das nicht? – würden in diesem Zusammenhang auf den vom ihm geprägten Begriff der »Sattelzeit« verweisen, einer Zeit, in der sich die Vorstellungen über Geschichte, ja über das Wesen der Zeit ganz allgemein veränderten.7 3 E. Hobsbawm, Europäische Revolutionen. 1789 bis 1848, übersetzt von B. Goldenberg, Zürich 1962. 4 D. Armitage u. S.  Subramanyam (Hg.), The Age of Revolutions in Global Context, ca. ­1760–1840, New York 2010; C. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, übersetzt von T. Bertram, Frankfurt a. M. 20062. 5 J. de Vries, The Industrial Revolution and the industrious revolution, in: Journal of Economic History, Jg. 54, 1994, S. 240–270. 6 F. Braudel, Die Geschichte der Zivilisation. 15. bis 18. Jahrhundert, übersetzt von R. Nickel u. T. Piehler, München 1971, S. 59–82. 7 R. Koselleck, Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: ders. u. R. Herzog (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein (= Poetik und Hermeneutik. Bd. 12), München 1987, S. 269–282.

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Veränderungen dieser Bandbreite und dieses Ausmaßes, so möchte man glauben, müssten doch interessant genug sein, um wenigstens ein paar Deutschland-Historiker vom 20. Jahrhundert wegzulocken? Aber wo genau fügen sich die Deutschen in dieses Bild des Wandels ein? Darauf gibt es eine vertraute Antwort. Es war in diesen Jahren, als Germaine de Staël Deutschland zum Land der Dichter und Denker ernannte. Und damit war sie nicht allein. Für Friedrich Hölderlin waren die Deutschen »tatenarm und gedankenvoll«.8 Ein wenig später stimmte auch Heinrich Heine in diesen Chor ein: Die Deutschen hätten lediglich gedacht, was andere getan hätten. Der Historiker Rolf Engelsing brachte das vor einer Generation auf den Punkt, als er die Ansicht vertrat, die Briten hätten eine industrielle Revolution und die Franzosen eine politische Revolution erlebt, die Deutschen hingegen eine Leserevolution.9 Das klingt auf den ersten Blick plausibel und hat einen langen Schatten geworfen. Dieses Stereotyp möchte ich auf zweifache Weise in Frage stellen. Zum Ersten erscheint es mir zweifelhaft, dass man genau in dem Moment, da eine moderne Welt entstand, in der Bildung, Kultur und fachliches Wissen eine so enorme Autorität genossen, eine so ungezwungene Haltung gegenüber dem geschriebenen Wort und Ideen einnahm – und ich möchte hinzufügen, dass die abschätzige Meinung, die man der damit verbundenen Vorstellung von der deutschen »Innerlichkeit« oft entgegenbringt, ebenfalls nicht so recht zu den Bemühungen passen will, das, was ein Wissenschaftler (mit Blick auf Großbritannien) als »Erfindung des modernen Selbst« bezeichnet hat, zu verstehen.10 Ich werde auf diese Fragen später noch zurückkommen. Ich möchte aber auch die Ansicht in Frage stellen, wonach die Deutschen nur gedacht hätten, während andere handelten, und diesem Aspekt werde ich mich zunächst zuwenden.

I. Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Welt zu einem kleineren Ort. Natürlich wird die Welt dauernd zu einem kleineren Ort: Der moderne Staat wächst stetig, und die Welt wird immer kleiner. Doch das war damals noch nicht unsere Welt, die Welt, deren beispiellose Globalisierung wir feiern (und übertreiben). Es war noch nicht einmal die Welt von Mitte des 19. Jahrhunderts, die durch Dampfschiff und Telegraf zusammengehalten wurde. Doch die Kommunikationsnetze wurden bereits enger geknüpft durch Reisen und Austausch, die Bewegung von 8 U. Frevert, »Tatenarm und gedankenvoll«? Bürgertum in Deutschland 1807–1820, in: H. Berding u. a. (Hg.), Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Revolution, Frankfurt a. M. 1989. 9 R. Engelsing, Der Bürger als Leser, Stuttgart 1974, S. 256–267. 10 D. Wahrman, The Making of the Modern Self. Identity and Culture in Eighteenth-century England, New Haven 2004.

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Waren, Menschen und Ideen. Als Wilhelm von Humboldt, der sesshaftere der beiden Brüder, an seinem Schreibtisch saß und über die Sprachen dieser Welt schrieb, stand er mit Hunderten von Briefpartnern auf fünf Kontinenten in Verbindung: Gelehrten und Diplomaten, Kaufleuten und Missionaren. Deutsche selbst waren überall. Kaufleute von den Küsten der Ostsee und der Nordsee waren von zentraler Bedeutung für das Transportgewerbe in Nordeuropa. Sie lebten in den großen Handelsknoten London, Antwerpen und Amsterdam. Und sie waren global präsent. Da es kein deutsches Überseeimperium gab, kann man die Rolle, die Deutsche für die Lebensadern des Welthandels, von Westafrika bis Niederländisch-Ostindien, von der Ostküste Nordamerikas bis zum spanischen Kolonialreich, spielten, leicht übersehen. Sie waren Händler, Siedler, Drucker und Buchhändler. Sie dienten auf niederländischen Handelsflotten und skandinavischen Walfangschiffen, und sie dienten zu Land als Soldaten unter vielerlei Flaggen. Die berühmten Gebrüder Schlegel hatten einen älteren Bruder, Karl August, der als Soldat für die britische East India Company tätig war und 1789 in Madras starb, während die Aufmerksamkeit der Welt anderen Dingen galt – ein Tod, der angeblich die Faszination seiner Brüder für Indien begründete.11 In Niederländisch-Surinam machten deutsche Kaufleute, Handwerker und Bauern so großen Eindruck, dass Besucher diese Region in der Karibik eher für eine deutsche als für eine niederländische Kolonie hielten.12 Der deutsche Ort innerhalb der atlantischen Welt wird allmählich deutlicher erkannt. Die deutschen Gebiete waren in die atlantische Ökonomie integriert, welche die Produkte der Sklavenplantagen – Zucker und Kaffee – nach Deutschland brachte, wo ihr Konsum, wie in anderen Ländern auch, in den Zeitungen und Kaffeehäusern Diskussionen über Mode und Geschlechterrollen sowie gelegentlich auch über die Sklaverei befeuerte. Die deutsche Rolle bei der Besiedlung des amerikanischen Kontinents schuf ebenfalls einige bemerkenswerte transatlantische Netzwerke, die religiösen Ursprungs, aber doch von deutlich weiter reichender Wirkung waren. Eines wurde von der Herrnhuter Brüdergemeine aus Sachsen entwickelt (die in Amerika als Moravian Church firmierte). Bis Ende des 18. Jahrhunderts hatte sie die atlantische Welt mit einem Netz aus Missionsstationen in London, Irland, Grönland, Westafrika, der Karibik und Nordamerika überzogen. In letzterem Fall machten sich die Herrnhuter von Pennsylvania aus auf, um von Maine bis zu den Carolinas Glaubensgemeinden und Indianermissionen zu gründen. Für all das brauchte man Geld, und so hatten die Herrnhuter Kaufleute 1758 die Commercial Society gegründet, um damit, wie es einer von ihnen formulierte, »ein Commercium anzufangen, das der Herr heiligen und segnen könne«.13 Lutherische Pietisten schufen von Halle 11 S. L. Marchand, German Orientalism in the Age of Empire, New York 2009, S. 60. 12 P. E. Schramm, Neun Generationen, Göttingen 1963, S. 174. 13 K. C. Engel, »Commerce that the Lord could Sanctify and Bless«. Moravian Participation in Transatlantic Trade 1740–1760, in: M. Gillespie u. R. Beachy (Hg.), Pious Pursuits. German Moravians in the Atlantic World, New York 2007, S. 121.

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aus ein noch eindrucksvolleres Netzwerk. Ihre Missionare waren von Sibirien bis Malabar zu finden. Pietistische Kaufleute transportierten Eisen- und Glaswaren per Schiff auf der Elbe nach Hamburg, handelten mit russischem Getreide und brachten Zucker und Kaffee zum Weiterverkauf nach Venedig und Amsterdam. Über ihr Kuriersystem übermittelten sie Nachrichten und brachten Medikamente ebenso wie Bibeln in die Neue Welt. Ende des 18. Jahrhunderts kam es zu einem verstärkten transatlantischen Austausch von Büchern, Kupferstichen sowie von botanischen und landwirtschaftlichen Proben.14 Bei derartigen Austauschprozessen lässt sich nur schwer zwischen Geisti­ gem und Materiellem unterscheiden. Gleiches gilt für eine weitere Aktivität, die Deutsche in alle Welt brachte – als Bergbauingenieure. Jahrzehnte bevor Deutschland als »Vaterland der Forstwissenschaft« berühmt wurde  – so versorgte es den britischen Raj mit Förstern und gründete in den Vereinigten Staaten die ersten forstwirtschaftlichen Lehranstalten –, waren deutsche Bergbauingenieure von Russland bis zu den Anden äußerst begehrt. Nun ist das Bergwerk (wie der Wald) als Motiv in der Literatur der Romantik allgegenwärtig, als dunkler und geheimnisvoller Ort, und bemerkenswert viele damalige Schriftsteller waren gelernte Bergbauwissenschaftler – Novalis, Brentano, Körner.15 Doch mitunter war ein Bergbauingenieur einfach nur ein Bergbauingenieur. Beispielhaft dafür steht Fürchtegott Leberecht von Nordenflycht, ein an der Bergakademie im sächsischen Freiberg ausgebildeter Bergbauingenieur, der in Polen tätig war und dann in den 1780er Jahren von der spanischen Krone den Auftrag übernahm, die Silberbergwerke Perus zu inspizieren und ihre Produktivität zu steigern. Er und seine 15 Begleiter richteten ein mineralogisches Laboratorium ein, aus dem später die peruanische Bergbauschule hervorging, ehe Nordenflycht sich nach 25 Jahre in der Neuen Welt gemeinsam mit seiner kreolischen Frau in Madrid zur Ruhe setzte. In Lima lernte Nordenflycht Alexander vom Humboldt kennen – ebenfalls gelernter Bergbauingenieur, aber noch viel mehr als das. Auf seiner berühmten, fünf Jahre dauernden »Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents« (so der deutsche Titel seines ursprünglich auf Französisch verfassten Reiseberichts) zusammen mit Aimé Bonpland bewies Humboldt, dass die Stromgebiete des Orinoco und des Amazonas miteinander verbunden waren. Er kletterte auf Vulkane, stieg in Minen hinab, sammelte Gesteinsproben und testete eigenhändig die Wirkung elektrischer Aale; er erkundete Flora und Fauna und schickte Proben nach Europa. Er untersuchte alles, von den Eigenschaften des Guano bis zu den Aussichten für den Zuckerrohranbau, und überall, wohin er kam, vermaß er die Dinge: Größe, Entfernung, Temperatur.16 1804 kehrte er 14 R. Wilson, Pious Traders in Medicine. A German Pharmaceutical Network in EighteenthCentury North America, University Park PA 2000, S. 207. 15 T. Ziolkowski, German Romanticism and Its Institutions, Princeton 1990, S. 18–63. 16 A. v. Humboldt, Voyage aux régions equinoxiales du Nouveau Continent (zusammen mit A. Bonpland), 30 Bde., Paris 1807–1834. Die letzten drei Bände dieser Monumentalausgabe

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als Berühmtheit zurück – Goethe nannte ihn »unseren Welteroberer«. Die Jahrzehnte vor und nach 1800 wurden auch als »zweites Entdeckungszeitalter« bezeichnet. Herder erfasste den Geist der Zeit, als er 1784 schrieb: »Der Mensch, solange er Mensch ist, wird nicht ablassen, seinen Planeten zu durchwandern, bis dieser ihm ganz bekannt sei; weder die Stürme des Meers noch Schiffbrüche, noch jene ungeheuren Eisberge und Gefahren der Nord- und Südwelt werden ihn davon abhalten.«17 Die Nord- und Südwelt – die Pole – mussten noch hundert Jahre warten. Aber es war tatsächlich eine Zeit, in der sich das menschliche Wissen über die Erde rasant vermehrte, und die Deutschen leisteten dazu einen wichtigen Beitrag, wobei sie zugleich auch neue Verbindungen knüpften. 13 Jahre vor Humboldts Reise schickte Joseph II. eine Gruppe österreichischer Botaniker nach Caracas. Sie kehrten nach drei Jahren mit jeder Menge Proben im Gepäck zurück  – und mit neugewonnenen kreolischen Freunden, denen sie Musikinstrumente und Noten von Haydn und Mozart schickten. Humboldts Freund Georg Forster war gemeinsam mit James Cook um die Welt gefahren und hatte darüber auf Deutsch und Englisch einen Bestseller geschrieben. C ­ arsten Niebuhr reiste im Rahmen einer dänischen Expedition auf die arabische Halbinsel und weiter nach Indien. Er überlebte als Einziger dieses Abenteuer und war als Forschungsreisender in Europa kaum weniger berühmt als ­Forster oder Humboldt. Diese Auflistung ließe sich problemlos erweitern, etwa um Peter Simon Pallas’ Reisen nach Sibirien oder Friedrich Hornemanns Expeditionen in Afrika.

II. Reisen, dichter werdende Kommunikationsnetzwerke und die »Belebung des allgemeinen Verkehrs« (wie Fichte das nannte) brachten die Welt immer enger zusammen.18 Sie bestimmten auch darüber, wie sich die Umwälzungen, die aus Frankreich und Amerika kamen und die die Welt politisch grundlegend veränderten, auf Deutschland auswirkten. Die Auswirkungen waren in mehrfacher Hinsicht unterschiedlich. So öffnete die Revolte in den amerikanischen Kolonien amerikanische Häfen für den direkten Handel mit Kaufleuten der Hanse; Napoleons Kontinentalsperre und die Blockade Englands verschlossen sie dann wieder – und brachten damit auch den Informationsfluss zum Erliegen. Die Flut an politischen Schriften aus Frankreich, die in deutscher Übersetzung erschieumfassen den persönlichen Reisebericht: Relation historique du Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent. 17 J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 2 Bde., Berlin 1965, Bd. 1, S. 244 (Fünfzehntes Buch). 18 J. G. Fichte, Der geschlossene Handelsstaat. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Teil 1, Bd. 7, Stuttgart 1988, S. 115. Siehe auch I. Nakhimovsky, The Closed Commercial State, Princeton 2011, S. 109.

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nen (allein in den 1790er Jahren waren es mehr als in den neunzig Jahren zuvor) wurde wettgemacht durch die langsamer fließender Informationen vom amerikanischen Kontinent. Die deutschen Gebiete, die von den Schockwellen erfasst wurden, waren alles andere als einheitlich. Sie umfassten zahlreiche winzige Territorien, und Mack Walkers »Kleinstädte« versammelten sich innerhalb des stickigen, luftleeren Heiligen Römischen Reiches.19 Zu ihnen gehörten aber auch Staaten, die bereits wichtige Schritte auf dem Weg zu einer fürstlich aufgeklärten Reform »von oben« zurückgelegt hatten, und innerhalb dieser Gebiete lebten – wie wir gesehen haben – Individuen und Gruppen, die über zahlreiche Kontakte zur weiten Welt da draußen verfügten. Alexander von Humboldt, der zugegebenermaßen eine Ausnahmeerscheinung war, kannte sowohl Thomas Jefferson als auch Simon Bolívar, den südamerikanischen »Befreier«. Als vorsichtiger Bewunderer der Französischen Revolution (jedenfalls vorsichtiger als sein Freund Forster) lebte er im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts in Paris und korrespondierte mit noch viel mehr Menschen als sein Bruder. Was die Auswirkungen der Revolutionszeit auf Deutschland betrifft, so will ich zunächst Frankreich in den Blick nehmen. Denn es war die Französische Revolution, welche die deutsche Politik ummodelte, ob durch Nachahmung, Aneignung oder Ablehnung. Die Ereignisse in Frankreich zeigten unmittelbare Wirkung, sie sorgten für Aufruhr in der Bevölkerung und lösten bei deutschen Schriftstellern, etablierten wie jungen, eine Welle der Begeisterung aus. Einige gingen als »Revolutionspilger« nach Paris. Doch die Unruhen wurden niedergeschlagen, und der terreur hatte eine Desillusionierung zur Folge. »Sie haben unsere Ideale verraten und in den Schmutz gezogen, die bösen, dummen und niederträchtigen Menschen, die nicht mehr wissen, was sie tun«, klagte­ Caroline Schlegel.20 Klopstock schrieb keine Oden an die Freiheit mehr, sondern stellte in seinem Arbeitszimmer eine Büste von Charlotte Corday auf, die Marat ermordet hatte. Der radikale Verlauf der Französischen Revolution verstärkte den Stolz auf die deutsche »Mäßigung«. Krieg und Besatzung führten dann Anfang des 19. Jahrhunderts sowohl zu präventiven Reformen als auch bei einigen deutschen Intellektuellen zu frankophoben Anwandlungen. Die Französische Revolution wirkte transformativ. Am offenkundigsten zeigte sich das darin, dass sie die Karte Mitteleuropas neu zeichnete, das Heilige Römische Reich zerstörte und Deutschland in ein konstitutionelles Labor verwandelte. Dieser Prozess begann 1806 mit den napoleonischen Marionettenstaaten und den neuen Verfassungen, die in Baden und anderswo erlassen wurden. Das setzte sich, wenn auch ungleichmäßig, in den Zeiten der Reform und der Reaktion sowie während der erneuten politischen Unruhen in den Jahren nach 1815 in Griechenland, Italien, Belgien, Polen und auch Deutschland fort. Die meisten 19 M. Walker, German Home Towns, Ithaca, NY 1971. 20 K. O. v. Aretin, Deutschland und die Französische Revolution, in: ders. und K. Härter (Hg.), Revolution und konservatives Beharren. Das Alte Reich und die Französische Revolution, Mainz 1990, S. 17.

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Herrscher sahen sich nach den napoleonischen Jahren und den Vereinbarungen von 1815 mit neuen Untertanen konfrontiert. Sie mussten zudem auf neuem politischem Terrain agieren. Sie mussten lernen – bei einigen verlief dieser Lernprozess langsamer als bei anderen –, wie man durch Staatenbildung, erfundene Traditionen und rechtzeitige Zugeständnisse Konsens erzeugte. 1847 verfügten lediglich vier der 39 Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes nicht über eine Verfassung. Das könnte man als Umsetzung des Programms betrachten, das Baron von Struensee 1799 gegenüber dem französischen Geschäftsträger so beschrieben hatte: Die Revolution, die Frankreich »von unten nach oben« durchgeführt habe, werde »sich in Preußen langsam von oben nach unten vollziehen« – wobei man sagen muss: sehr langsam, denn Preußen war einer der vier Staaten, die auch nach 1848 noch keine Verfassung hatten.21 Das ist die Sicht von oben nach unten. Doch die Französische Revolution hinterließ auch ein neues politisches Vokabular der Nation, der Rechte und der Freiheit sowie ein neues Arsenal an politischen Symbolen – die Trikolore oder den Freiheitsbaum.22 Die Verwendung dieser Sprache und dieser Symbole während der deutschen Aufstände nach 1815 war Teil des französischen Vermächtnisses, insbesondere im Rheinland. Gleiches galt für den Napoelon-Kult, der überall in deutschen Landen in Form von Flugblättern, Vivat-Rufen für den ehemaligen Kaiser in Gasthäusern und Liedern wie »Napoleon, wo bist du denn?« fortlebte. Die Französische Revolution war jedoch auch für das Aufkommen eines modernen Konservatismus verantwortlich, der über seine eigenen Bezugspunkte – die »historischen« und die »organischen« – und über sein eigenes Vokabular  – Hierarchie, Ordnung, Glaube  – verfügte. Die Lektionen, die man von Frankreich gelernt hatte, flottierten oft jenseits ihres eigentlichen Ursprungs frei umher. Einer dieser feuerspuckenden Frankophoben, von denen ich oben gesprochen habe, Ernst Moritz Arndt, hielt der Französischen Revolution gleichwohl zugute, sie sei inspirierend gewesen. Sie habe, so formulierte er es, »ein reiches Feuermeer des Geistes ausgegossen«.23 Deutsche Nationalisten übernahmen das neue politische Vokabular aus Frankreich und arbeiteten es um, wobei sie ihm oft eine antifranzösische Wendung gaben – wobei das eher nach der Rheinkrise von 1840 und auch nicht überall der Fall war. Eine französische Lektion hatte ein besonders langes Nachleben, nämlich die des terreur. Selbst in den 1790er Jahren fühlten sich Deutsche, die die Revolution begrüßten, eher zu den Girondisten als zu den Jakobinern hingezogen (der große Liebling war Mirabeau). Das entsprach einer verbreiteten Sichtweise, die auch einige deutsche Herrscher teilten, wonach nämlich die Franzosen mit ihrer Revolution 21 Zitiert nach H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, Göttingen 1987, S. 353. 22 J. Sperber, Rhineland Radicals, Princeton, NJ 1991; J. M. Brophy, Popular Culture and the Public Sphere in the Rhineland 1800–1850, Cambridge 2007. 23 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 533.

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lediglich zu den aufgeklärten deutschen Reformen aufschließen würden. Der nachfolgende »Exzess« und das angebliche »Eigeninteresse« der Revolution ließen sie als Vehikel der Vernunft und der Tugend weniger attraktiv erscheinen. Deutschen Liberalen  – allerdings nicht radikalen Demokraten  – lieferte die Französische Revolution das Instrumentarium, mit dessen Hilfe sie eine reformerische, aber antirevolutionäre Botschaft kreierten: Reformen waren nötig, weil eine Reformverweigerung zur Revolution führen würde. Die Lehren, die Deutsche aus den Ereignissen jenseits des Atlantiks zogen, fungierten oft als Gegenstück zu ihrer Rezeption der Französischen Revolution. Die Amerikanische Revolution verlief weniger blutig und war praktischer ausgerichtet als die Französische – »nicht so metaphysisch«, wie ein Bewunderer schrieb.24 (Es lohnt, einen Moment innezuhalten und sich an dieser deutschen Kritik der »metaphysischen« Franzosen zu erfreuen.) Dieses Thema kehrte nach 1815 immer wieder, als die Menge des Schrifttums über die USA deutlich zunahm  – dazu gehörten auch Artikel in neuen Zeitschriften wie »Columbus« oder »Atlantis«, die sich explizit mit der Neuen Welt beschäftigten. Und es blieb auch nach 1830 auf der Tagesordnung, als noch mehr über die USA geschrieben wurde, was zum Teil mit dem Beginn der Massenemigration zu tun hatte. Deutsche Liberale interessierten sich aufgrund des Gewichts, das dem verfassungsmäßigen Regieren, individuellen Rechten, religiöser Toleranz und Rechtsstaatlichkeit beigemessen wurde, für die Vereinigten Staaten. Oder anders gesagt: aus den gleichen Gründen, aus denen auch Großbritannien als Vorbild diente, verstärkt noch durch die Tatsache, dass es sich in den USA um ein föderales System handelte. Vielleicht ließ sich ja der Bundestag nach Art des Kongresses reformieren? Die USA lieferten zudem das Beispiel eines neuen Staates, der quasi aus dem Nichts errichtet worden war, so wie das auch bei den deutschen Staaten nach 1815 der Fall gewesen war. Robert Mohl schrieb 1824, die USA seien der Staat, »welcher die unsere Zeit so gewaltig umwühlenden Ideen am reinsten aufgefasst und dargestellt hat«.25 Der Kernaspekt der Amerikanischen Revolution jedoch  – »we, the people«, also die Volkssouveränität  – wurde aus liberalen (nicht aber radikalen) Diskussionen in Deutschland weitgehend ausgeklammert. Mehr noch: Bei aller Sympathie für das amerikanische Experiment stimmten Liberale mit den Konservativen weitgehend darin überein, amerikanische Institutionen ließen sich den Deutschen nicht so einfach »einimpfen« oder nach Deutschland »verpflanzen«.26 Was zu einem rüde kraftvollen Volk in einem weiten, offenen Land ohne Geschichte passte, musste noch lange nicht das Richtige für eine alte Gesellschaft sein. Den gleichen Schluss zogen deutsche Liberale aus dem lateinamerikanischen Unabhängigkeitskampf. So verwies ein Autor 1821 in der Zeitschrift »Hermes« auf den »Todeskampf und [die] Geburts24 V. Depkat, Amerikabilder in politischen Diskursen, Stuttgart 1998, S. 268. 25 E. G. Franz, Das Amerikabild der deutschen Revolution von 1848/49, Heidelberg 1958, S. 87. 26 Ebd., S. 74 f.

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wehen« der letzten fünfzig Jahre auf dem amerikanischen Kontinent, in denen »das Ende einer alten und das Entstehen einer neuen Ordnung der Dinge« zu bestaunen gewesen seien – eine »Totalrevolution« in Politik, Religion und Wirtschaft.27 Doch auch diese Revolution, so behaupteten er und andere, ließ sich nicht vom »freien Boden« Amerikas auf Europa übertragen. Die Radikalen waren da anderer Meinung. Für sie stellten diese »weltgeschichtlichen Ereignisse« – der Begriff war bereits rege in Umlauf, bevor Hegel ihn aufgriff – die »Keime besserer Zukunft« dar (ich zitiere aus einem Artikel von 1815 aus dem »Politischen Journal«). Die große Revolte in Südamerika werde »auch vielleicht früher, als Manche bedenken möchten, das Europäische Mutterland in ihre gewaltigen Wirbel« reißen.28 Einige wollten diese weltgeschichtlichen Ereignisse noch zusätzlich beschleunigen. Südamerika wurde zum Schauplatz des deutschen Radikalismus. Hunderte Deutsche kämpften in Bolívars Legionen, andere beteiligten sich am uruguayischen Unabhängigkeitskrieg und an den beiden republikanischen Aufständen im Süden Brasiliens. Im zweiten davon, im Jahr 1835, schwenkten die Deutschen, die gemeinsam mit Garibaldi in der Guerra dos Farrapos (dem Krieg der Zerlumpten) kämpften, die schwarz-rot-goldene Fahne des radikalen deutschen Nationalismus. Dabei handelte es sich natürlich um einen entwurzelten Radikalismus – eine physisch gewalttätige Spielart des Verbalradikalismus, wie er von einer neuen politischen Emigration aus Deutschland praktiziert wurde, die von Paris, Brüssel und London bis Amerika unterwegs war. Gelegentlich aber kehrten die Emigrierten zurück, wie etwa Samuel Gottfried Kerst, ein Veteran radikaler Kampagnen in Uruguay und Brasilien, der 1848 in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt wurde und zu einem lautstarken Befürworter einer deutschen Flotte wurde.29

III. Goethe heftete unterdessen eine bewundernde Notiz über Bolívar an seine Schlafzimmertür und legte den Entwurf für eine neue venezolanische Nationalflagge vor, der auf seiner Farbenlehre beruhte (der Vorschlag wurde angenommen). Und damit komme ich wieder auf die Dichter und Denker zurück. Denn wie ließe sich über Deutschland und die Geburt der modernen Welt reden, ohne die Wirkung dieser außergewöhnlichen Blütezeit deutscher Literatur und Philosophie in den Jahrzehnten um 1800 in den Blick zu nehmen? Man denke nur an all die herausragenden Köpfe, die sich 1799 im Kreis der Jenaer Frühroman27 Depkat, Amerikabilder, S. 330. 28 Siehe G. Kahle, Simon Bolivar und die Deutschen, Berlin 1980, S. 12. 29 D. Blackbourn, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, übersetzt von U. Rennert, München 2007, S. 147 f.

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tik versammelten: Schiller, Fichte, die Schlegels, Schelling, Novalis, Schleiermacher, Tieck. Abgesehen von den etwas älteren Schiller und Fichte waren alle innerhalb eines Jahrzehnts geboren, zwischen dem Ende der 1760er und dem Ende der 1770er Jahre, also in den zehn Jahren, in denen auch Hegel, die Gebrüder Humboldt, Hölderlin, Kleist und Beethoven das Licht der Welt erblickten. Ich will gar nicht erst versuchen, die Fülle des Denkens kurz zu skizzieren, die wir mit diesen Namen in Verbindung bringen: den Autoren des Sturm und Drang, den Romantikern, Kant und den Philosophen des Idealismus, die seine Herausforderung annahmen. Damit geriete ich allzu schnell auf der Terrain der Monty Pythons und ihres »All-England Summarize Proust Competition«. Ich will allerdings in Frage stellen, ob wir uns mit der eingangs erwähnten Formulierung zufrieden geben dürfen, wonach die Deutschen lediglich gedacht hätten, was andere taten. Haben nicht auch Ideen die Welt verändert? Deutsche Zeitgenossen haben das mit Sicherheit so gesehen. Als Fichte 1793 über die Fran­zösische Revolution schrieb, die er unterstützte, bezeichnete er die kantische Revolution als »eine andere ungleich wichtigere«. Ähnliche Ansichten vertrat der junge Joseph Görres: »Im vorigen Jahrzehnt«, schrieb er 1797, »fiel in Deutschland bekanntlich jene Revolution vor, wodurch sich dies Land theoretisch um die Kultur der Menschheit beinahe ebenso verdient gemacht hat, als Frankreich praktisch. Ich meine die Reformation der Philosophie durch den unsterblichen Kant.«30 In diesen Jahrzehnten veränderten deutsche Autoren unser Denken über Moral, Erkenntnistheorie, Religion, Recht, Sprache, Musik, Kunst und Ästhetik, Beruf und Berufung, Mensch und Natur und – nicht zuletzt – die Geschichte. Und das, was sie schrieben, hatte weitreichende Wirkung. Deutsche Ideen und deutsche Kultur gingen um die Welt. Namhafte englische Literaten von Coleridge und Carlyle bis zu George Eliot und Matthew Arnold blickten auf Deutschland. Gleiches galt für ihre amerikanischen Kollegen. In einzelnen Fällen können wir nachverfolgen, wie das vor sich ging. So reiste beispielsweise Coleridge zusammen mit Wordsworth nach Deutschland, um dort zu studieren. Dabei lernte er den fast gleichaltrigen Ludwig Tieck kennen, mit dem ihn eine Leidenschaft für die Volkssprache und Shakespeare verband, und übersetzte Schillers »Wallenstein«. Vor allem aber brachte er deutsches philosophisches und literarisches Denken nach England, oft ohne jeden Zusatz. Ein Beispiel ist Schellings Begriff des »Unbewussten«, den er als »the unconscious« ins Englische einführte. Im Falle Amerikas kann man die Rezeption deutschen Denkens recht gut anhand der Einrichtung verfolgen, an der ich einst lehrte, nämlich der Harvard University. Man nehme das Beispiel des radikalen Studenten Karl Follen, der zunächst ins politische Exil in die Schweiz ging, dann nach Massachusetts, wo er seinen Namen in Charles änderte, eine Cabot heiratete und in Harvard erster 30 N. Boyle, Goethe. Der Dichter in seiner Zeit, Bd. 2. 1791–1803, übersetzt von H. Fliessbach, München 1999, S. 52.

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Professor für deutsche Sprache und Literatur wurde, der enormen Einfluss auf seine Studenten ausübte.31 Das war allerdings nicht wirklich schwer. Die Faszination, die deutsches Denken im frühen 19. Jahrhundert in Harvard auf Studenten ausübte, war groß. Der Altphilologe und spätere Harvard-Präsident Edward Everett ging nach Göttingen, um dort zu promovieren. Gleiches galt für zwei der bedeutendsten amerikanischen Historiker des 19.  Jahrhunderts, George Bancroft und John Lothrop Motley. Deutsche Ideen prägten die Absolventen der College and Divinity School, die wir als Transzendentalisten kennen. Für Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau und Theodore Parker wie auch für kleinere Lichter waren deutsche Philosophie, Gelehrtheit und Literatur ein Quell großer geistiger Erregung. Sich Deutsches anzueignen war, wie Thoreau seinem Freund Orestes Brownson überschwänglich erklärte, wie »the morning of a new Lebenstag«.32 Wenn ich von Ideen spreche, die die Welt veränderten, so waren sie mitunter genau das – spezifische Ideen wie der kategorische Imperativ oder die einflussreiche These, die von einem schon bald berühmten deutschen Emigranten vorgebracht wurde, nämlich Karl Marx, wonach frühere Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert hätten, es aber darauf ankomme, sie zu verändern. Doch dieser deutsche Beitrag zur Entstehung der modernen Welt lässt sich vielleicht am besten begreifen, wenn man sich theoretische oder praktische Fachgebiete anschaut. Zwei habe ich bereits erwähnt: die Bergbauwissenschaft und die Forstwissenschaft. Ein drittes, das sich ebenfalls mit der menschlichen Beherrschung der Natur befasste, war das Aufkommen einer eigenständigen Agrarwissenschaft, das mit der Arbeit von Albrecht Daniel Thaer verknüpft ist. Doch wenn man an deutsche Praktiken denkt, die wahrhaft globalen Einfluss bei der Herausbildung der modernen Welt hatten, dann verdienen vor allem zwei Bereiche besondere Erwähnung: die Musik und die Bildung. Die Musik war nicht immer die deutsche Kunstform schlechthin. Im 17. Jahrhundert und bis ins 18. Jahrhundert hinein verlief der Kulturtransfer in umgekehrter Richtung. Der Musikgeschmack in Deutschland war zunächst durch das niederländische und dann durch das italienische Vorbild beeinflusst. Erst in den Jahrzehnten vor und nach 1800 entstand die enge Verbindung zwischen der Musik und den Deutschen. Das war natürlich teilweise eine Frage des Kanons: der ungewöhnlichen Anhäufung von Komponisten, die ein Repertoire schufen, das im heraufziehenden Zeitalter des Konzertsaals wahrhaft global wurde. Doch eine nicht minder wichtige Rolle spielten der deutsche Musikjournalismus und die Musikkritik sowie das musikalische Handwerk der Deutschen. Der deutsche Musiklehrer war außerhalb Deutschlands hoch geschätzt. Gleiches galt für deutsche Dirigenten oder Erste Geiger. Man denke nur daran, welch wichtigen Beitrag die Deutschen zur Entstehung der großen amerika31 E. Spevack, Charles Follen’s Search for Nationality and Freedom in Germany and America. 1795–1840, Baltimore 1993. 32 R. F. Sayre (Hg.), New Essays on Walden, Cambridge 1992, S. 3.

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nischen Symphonieorchester leisteten.33 Derweil zog das deutsche Konservatorium ambitionierte Komponisten und Musiker von überallher magnetisch an. Was die Bildung angeht, so möchte ich zwei Institutionen und die mit ihnen verbundenen Praktiken herausheben. Die eine ist Friedrich Fröbels Kindergarten. Dieses Produkt einer bemerkenswerten deutsch-schweizerischen Achse pädagogischer Reform hatte seine Ursprünge in den Jahren 1816–1820 in Thüringen und erlangte im darauf folgenden Jahrhundert weltweite Wirkung. Die andere ist die deutsche Forschungsuniversität. Auch dazu legte das frühe 19. Jahr­hundert den Keim. In diesen Jahren wurde in Berlin eine neue Universität gegründet, andere wurden reorganisiert, darunter die in Heidelberg und in München. War die Universität von zahlreichen Bildungsreformern des späten 18. Jahrhunderts noch für tot erklärt worden, so wurde sie nun zum Hauptschauplatz der Wissensexplosion im 19. Jahrhundert und darüber hinaus. Die daraus entstehende Struktur der Fachdisziplinen, des wissenschaftlichen Labors und des Forschungsseminars verfügten, wie sich zeigte, über einen längeren Atem als die Spinnmaschine oder der Fabrikschornstein. Und wie das Konservatorium wurde auch die deutsche Universität zu einem Magneten  – George Bancroft und John Motley waren nur zwei von 10.000 Amerikanern, die im 19.  Jahrhundert im Deutschland ihren Doktortitel erlangten  – und zu einem weltweiten Modell, das anderswo nachgeahmt oder in Teilen übernommen wurde. Der Kindergarten und die neue Universität, beides Produkte einer Reform­ ära, passten nicht so recht zum neuen Zeitalter der Staatenbildung – und zu den damit einhergehenden Imperativen der Wirtschaft. Der Kindergarten wurde wegen seiner atheistischen Tendenzen kritisiert; und die Universitäten waren, zumindest vor 1848, Zentren des politischen Widerstands. Eine Idee, die sie gemeinsam hatten, war der Wert, den sie dem inneren Selbst beimaßen  – im einen Fall der Entwicklung des Kindes, im anderen der Selbstkultivierung oder Bildung des Erwachsenen. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass uns deutsche Autoren in diesen Jahren ein Vokabular an die Hand gaben, mit dem sich über Selbstsein und Subjektivität nachdenken lässt, angefangen mit Kant und weitergeführt von der jüngeren Generation, die seinen Fehdehandschuh aufnahm. Kant war misstrauisch gegenüber den Bestrebungen, »sich belauschen zu wollen«, wie er das nannte; er warnte davor, »sich mit der Ausspähung und gleichsam studirten Abfassung einer inneren Geschichte des unwillkürlichen Laufs seiner Gedanken und Gefühle« beschäftigen zu wollen.34 Fichte, für den die erste Person Singular nie weit entfernt war, war in dieser Hinsicht anderer Meinung. Gleiches galt in noch höherem Maß für die Romantiker, die das Sich-Belauschen zu einer Lebensform erkoren. Man kann 33 J. Gienow-Hecht, Sound Diplomacy. Music and Emotions in Transatlantic Relations 1850– 1920, Chicago 2009. 34 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akademie-Ausgabe, Bd. VII, S. 133. Vgl. auch J. Seigel, The Idea of the Self, Cambridge 2005, S. 327.

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das als Kultivierung der »Innerlichkeit« bezeichnen. Man kann das aber auch, ob im Guten oder im Schlechten, als Gründungsmoment der modernen Vorstellungen von Persönlichkeit und Authentizität begreifen.

IV. Ich nähere mich dem Schluss, und man könnte fragen: Gab es denn keine dunkle Seite dessen, über das ich gesprochen habe? Natürlich gab es eine solche. Deutsche spielten in einer expandierenden Weltwirtschaft eine größere Rolle, als man nach der Lektüre von Adam Smiths »Wohlstand der Nationen« erwarten würde, wo sie so gut wie gar nicht erwähnt werden. Das bedeutete, dass Deutsche auch tief in das System der Sklaverei verstrickt waren – entgegen aller Unschuldsbeteuerungen und einer angeblichen besonderen Affinität zu indi­ genen Völkern. Dass die Deutschen beileibe nicht nur verträumte Dichter waren, beweist auch die Tatsache, dass sie bei der Entwicklung einer instrumentellen Naturvorstellung, wie sie für diese Zeit so typisch war, eine wichtige Rolle spielten – einer Sichtweise, auf die die Romantik zum Teil eine Reaktion darstellte. Es gibt weitere, bekanntere Bereiche, in denen das Vermächtnis dieser Zeit ein wenig düsterer ausfällt. Deutsche, insbesondere preußische Bildungserrungenschaften waren durch einen bürokratischen Staat vermittelt, der durch die Herausforderung revolutionären Aufruhrs eine deutliche Stärkung erfahren hatte. Mitunter kam deutsche Musik in Gestalt einer Militärkapelle daher. Das blühende Interesse an deutschen Kulturbräuchen hatte eine antifranzösische Dimension, die in den Jahren nach 1806 bitteren Ausdruck fand und auch später wieder zum Tragen kommen sollte. In all den beeindruckenden kulturellen Errungenschaften dieser Jahrzehnte schlummerte das Potenzial, die deutsche Hybris zu nähren – etwas, das nach 1871 immer deutlicher sichtbar wurde. Nach 1871  – darum geht es. Ich glaube fest an Kontinuitätslinien, die die deutsche Katastrophe des 20.  Jahrhunderts mit dem 19.  Jahrhundert verbinden. Doch die Kernlemente dieser Kontinuität scheinen mir fast alle zum späten 19. Jahrhundert zu gehören, zu einer Zeit, die den Aufstieg eines neuen aggressiven Nationalismus, das Aufkommen eines pseudowissenschaftlichen Rassismus und der Eugenik, staatliche Überwachung in ganz neuen Dimensionen, den modernen Kult des »starken« politischen Führers und die Ausbreitung einer rücksichtslos populistischen Politik erlebte. Irgendwo zwischen den Jahren, die Thema dieses Aufsatzes sind, und den unheilvolleren Ideen und Prak­ tiken der Jahrzehnte vor 1914 verdunkelt sich die Geschichte. Deutschland zwischen 1780 und 1820 war keine unschuldige heile Welt. Es war eine Zeit der Bewegung und des Wandels, wie die Zeitgenossen sehr wohl wussten. Als der Kreis von Jena 1800 zerbrach, verstreuten sich seine Mitglieder überall in Deutschland, Italien Frankreich und Ungarn. In diesem Kontext schrieb Jean Paul 1805 einen Brief, den er an »Ludwig Tieck in Raum und 304

Zeit« adressierte.35 Man kann sich nur schwer vorstellen, so etwas wäre ein paar Jahrzehnte früher geschrieben worden. Christopher Bayly hat in diesem Zusammenhang von einer »Achsenzeit« für die Weltgeschichte gesprochen.36 Sie war ein Gründungsmoment von vielem, das wir als modern betrachten, ob nun im Guten oder im Schlechten. Ich habe versucht, die Deutschen unmittelbar in einer neu entstehenden Welt zu verorten, sie in eine Historiographie einzufügen, die in den letzten Jahren weitgehend ohne Bezug zu Deutschland neu geschrieben wurde. Die Deutschen waren keine trägen Zuschauer, als es zu den damaligen Umwälzungen kam. Die Welt wurde in diesen Jahren kleiner, und die Deutschen leisteten ihren Beitrag dazu. Mit ihren Ideen und Praktiken, durch Reisen, materiellen Austausch und Kommunikationsnetzwerke trugen sie dazu bei, dass eine neue Welt entstand.

35 K. von Holtei (Hg.), Briefe an Ludwig Tieck, 4 Bde., Breslau 1864, Bd. 3, S. 140. 36 Bayly, Die Geburt der modernen Welt, S. 107.

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15. »Aufeinander angewiesen wie Mann und Weib« Kulturkontakt und Kulturtransfer zwischen Deutschland und England im 19. Jahrhundert1

In den 1880er Jahren reiste ein unbekannter protestantischer Pastor aus ­Bremen namens Otto Funcke zum ersten Mal nach England. Seine Erlebnisse stellen einen guten Ausgangspunkt für diesen Aufsatz dar, auch wenn der Beginn von Funckes Reise Zweifel bezüglich seiner Beobachtungsgabe aufkommen lässt. Während er auf dem Dampfschiff den Ärmelkanal überquerte, bewunderte er die Segelschiffe; besonders angetan hatte es ihm ein sehr großes Segel, das näher zu kommen schien. Er fragte einen Schiffsoffizier, was das wohl sei? Die Antwort: »Ja, das ist freilich ein riesenhaftes Segel, es ist 400 Fuß hoch und man nennt es gewöhnlich die Kreidefelsen von Dover!«2 Funcke hatte für die Engländer nie sonderlich viel übrig gehabt, eine Einstellung, die auf eine Reise in seiner Jugendzeit zurückging, auf der er mit seinem Onkel im Rheinland unterwegs war: »Wir fanden in den Hotels und auf den Dampfbooten, auf den Bergen und in den Burgen alles bevölkert von Engländern. Die meisten von ihnen benahmen sich so rücksichtslos, als ob wir Andern gar keine Menschen wären, und sie thaten überall so anmaßend, als ob sie alle diese Herrlichkeiten unseres Rheinlandes für sich gepachtet oder gar gekauft hätten.«3 Sein Aufenthalt brachte diese Sicht ins Wanken. Funcke bewunderte

1 Dieser Artikel ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den ich im März 2006 auf einer Tagung zu Ehren von Hartmut Pogge von Strandmann in Oxford gehalten habe. Veröffentlicht wurde er zwei Jahre später in einer Sammlung von überarbeiteten Tagungsbeiträgen. Seitdem sind eine Reihe von Arbeiten mit Bezug zu diesem Thema erschienen. Dazu gehören S. Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900–1919, Göttingen 2006; Stefan Manz u. a. (Hg.), Migration and Transfer from Germany to Britain 1660–1914. München 2007; M. Schulte Beerbühl, Deutsche Kaufleute in London. Welthandel und Einbürgerung 1660–1818, München 2007; T. Weber, Our Friend »the Enemy«. Elite Education in Britain and Germany before World War I, Stanford 2008; R. Scully, British Images of Germany. Admiration, Antagonism and Ambivalence 1860–1914, Basingstoke 2012; U. Lindner, Koloniale Begegnungen. Deutschland und Grossbritannien als Imperial­ mächte in Afrika 1880–1914, Frankfurt a. M. 2011; J. R. Davis u. a. (Hg.), Transnational Networks. German Migrants in the British Empire 1670–1914, Leiden 2012. Siehe auch das Sonderheft von »German History«, Jg. 26/4, 2008. 2 O. Funcke, Englische Bilder in deutscher Beleuchtung, Bremen 1883, S. 19. 3 Ebd., S.  26. Sein Onkel habe dazu bemerkt, solches Verhalten sei für »diese kaltherzigen fischblütigen Menschen« typisch.

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die Freiheit, die die Engländer genossen, die Disziplin, die von keinem einzigen Polizisten überwachte Menschenmengen an den Tag legten, sowie die körperliche Fitness, die in allen Schichten durch Sport gefördert wurde. Ihn beeindruckte der Respekt, der ihm aufgrund seines Priesterkragens entgegengebracht wurde, die Tatsache, dass die Geschäfte am Sonntag geschlossen blieben, und die Armenmission in London – all das war der Situation in Deutschland eindeutig vorzuziehen. Allerdings nahmen diese Tugenden mitunter auch den Charakter von Lastern an: Die Engländer übertrieben es mit der Einhaltung des Sonntagsgebots ebenso wie mit der Enthaltsamkeit, und wenn sie Alkohol tränken, so fehle dem Trinken »jegliche Poesie«.4 Auch konnten sie sehr unnahbar sein. Tatsächlich erinnerten sie Funcke mit ihrer Mischung aus Geschäftstüchtigkeit und Klüngel an ein anderes »auserwähltes Volk«, die Juden. Wenn die Engländer und Deutschen ihre Tugenden doch nur bündeln könnten, schrieb Funcke; wenn junge Deutsche doch nur nach England reisen und englische Gentlemen in Deutschland leben würden, um die Sprache und Kultur kennenzu­lernen. Denn: »Diese beiden Nationen sind auf einander angewiesen wie Mann und Weib.«5 Diese Mischung aus Erwartetem und Unerwartetem war das Ergebnis der Erfahrungen eines Einzelnen. Funckes Bewunderung für den englischen Sport war durchaus typisch, die Faszination, die der Spurgeon’s Tabernakel auf ihn ausübte, eher ungewöhnlich. Aus dieser Zeit, und aus den Jahrzehnten danach, lassen sich auch ganz andere Reaktionen finden, etwa von Seiten eines deutschen Akademikers, eines deutschen Stammgasts bei Gesellschaften auf englischen Landsitzen, eines Mitglieds in einem der Blasorchester, die jeden Sommer in Großbritannien auf Tournee waren, oder eines der Tausenden deutschen Matrosen, die auf Handelsschiffen in Hull oder Liverpool einliefen (und denen die Kreidefelsen von Dover vermutlich bekannt waren). Ich möchte in diesem Aufsatz eine breite Palette kultureller Bande zwischen Briten und Deutschen untersuchen und zugleich einige allgemeine Anmerkungen zu dieser Art der Geschichtsschreibung machen. Lassen Sie mich daher ein paar Ausgangsfragen zur Geschichte des Kulturkontakts und Kulturtransfers stellen. Wer sind in dieser Geschichte die Akteure? Stellt sie die Erkenntnisse früherer Formen, sich über die Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland Gedanken zu machen, in Frage oder bekräftigt sie diese? Und, um es ganz pointiert zu for­mulieren: Was macht das alles für einen Unterschied? Als ich Anfang der 1970er Jahre begann, mich mit deutscher Geschichte zu beschäftigen – in einer Zeit, die aus heutiger Sicht näher am Zweiten Weltkrieg liegt als an der Gegenwart –, gab es zwei Methoden, mit denen Historiker sich den Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland vor 1914 annäherten. Entweder sie widmeten sich einem Aspekt des wachsenden britisch-deutschen Antagonismus (ich werde am Ende dieses Essays darauf zurückkommen), 4 Ebd., S. 61. 5 Ebd., S. 41–44.

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oder sie stellten beide Länder vergleichend einander gegenüber. Der Vergleich galt in jener Zeit als Königsweg, und er wurde in beiden Richtungen häufig beschritten. Für deutsche Historiker war Großbritannien der Maßstab für politische und gesellschaftliche »Fehlentwicklungen« in Deutschland: Warum war Deutschland nicht England? Umgekehrt diente Deutschland als Messlatte für den relativen ökonomischen Niedergang in Großbritannien. In beiden Argumentationen spielte die zeitgenössische Wahrnehmung des jeweils anderen Landes eine wichtige Rolle – etwa, wenn Lujo Brentano oder Max Weber bewunderten, wie jenseits des Ärmelkanals alles so viel besser lief, oder wenn Günter Hollenberg darlegte, weshalb es ein so reges »Englisches Interesse am Kaiserreich« gebe.6 Doch selbst wenn, wie bei Hollenberg, neben Wahrnehmungen auch tatsächliche Kontakte eine Rolle in der Argumentation spielten, blieb der Analyserahmen doch der zweier getrennter Gesellschaften und ihrer Sichtweise aufeinander. Seitdem hat sich natürlich einiges geändert, und zwar nicht nur wegen der leidenschaftlichen Debatten über den deutschen Sonderweg und den britischen »Gentlemanly Capitalism«.7 Der Vergleich ist selbst unter Beschuss geraten und, wie es ein Historiker formuliert hat, vom »Königsweg« zu einem »Nebengleis« degradiert worden.8 Mancher würde sagen, das Körnchen Wahrheit, das in dieser These stecke, sei darauf zurückzuführen, dass die »weiche« Kulturgeschichte die »harten« analytischen Kategorien der sozialwissenschaftlichen Geschichte, zu denen auch der Vergleich zählte, verdrängt habe. Ich würde es anders ausdrücken und den unverkennbaren Wandel dessen, was in der Geschichtswissenschaft en vogue ist, weitaus positiver bewerten. Am beharrlichsten und überzeugendsten wurde die vergleichende Geschichte in jüngerer Zeit von den Verfechtern der Geschichte des Transfers und Kontakts, der »Verflechtungsgeschichte« (histoire croisée) und der Beziehungsgeschichte in Frage

6 J. J. Sheehan, The Career of Lujo Brentano. A Study of Liberalism and Social Reform in Imperial Germany, Chicago 1966; W. J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen 20043; G. Hollenberg, Englisches Interesse am Kaiserreich. Die Attraktivität Preußen-Deutschlands für konservative und liberale Kreise in Großbritannien 1860–1914, Wiesbaden 1974. 7 D. Blackbourn u. G. Eley, The Peculiarities of German History, Oxford 1984; H.  Grebing, Der »deutsche Sonderweg« in Europa 1806–1945. Eine Kritik, Stuttgart 1986; P. J. Cain u. A. G. Hopkins, Gentlemanly Capitalism and British Overseas Expansion I. The Old Colo­ nial System 1688–1850, in: Economic History Review, 2.  Reihe, Jg. 39 1986, S.  501–525; dies., Gentlemanly Capitalism and British Overseas Expansion II. New Imperialism, 1850– 1945, in: Economic History Review, 2. Reihe, Jg. 40 1987, S. 1–26; M. Daunton, Gentlemanly Capitalism and British Industry 1820–1914, in: Past and Present, Bd. 122, 1989, S. 119–158; M. J. Daunton u. W. D. Rubinstein, Debate, in: Past and Present, Bd. 132, 1991, S. 150–187. 8 K. K. Patel, Transatlantische Perspektiven transnationaler Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 29, 2003, S. 625–647, hier S. 638. Vgl. auch T. Welskopp, Stolpersteine auf dem Königsweg. Methodenkritische Anmerkungen zum internationalen Vergleich in der Gesellschaftsgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 30, 1995, S. 339–367.

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gestellt.9 Diese Kritiker der vergleichenden Geschichte sind definitiv keine Traditionalisten – viele von ihnen sind fest davon überzeugt, dass sich die von ihnen vertretenen Ansätze sinnvoll mit einer vergleichenden Perspektive kombinieren lassen. Doch sie alle werfen ein Schlaglicht auf die dem Vergleich innewohnenden Schwierigkeiten. Dazu gehört, dass es problematisch ist, zwei oder mehr Gebilde (seien es Nationen, Klassen, Institutionen oder ästhetische Praktiken) miteinander zu vergleichen, die als stabil betrachtet werden, obwohl sie es nicht sind, sowie auch die Gefahr des asymmetrischen Vergleichs zweier Nationen, bei dem die eine im Wesentlichen als Folie dient. Vor allem die Kontakte zwischen verglichenen Völkern oder Gesellschaften bringen für vergleichende Historiker Probleme mit sich, die sich diese nicht immer einge­ standen haben. Und so kommt es, dass mehr als ein Autor in letzter Zeit Marc Bloch zitiert hat, der 1928 davor warnte, die vergleichende Geschichte als einen »Talisman« zu betrachten, und darauf hinwies, dass ein echter Vergleich nur möglich sei, wenn der zeitliche oder räumliche Abstand zwischen den betreffenden Gesellschaften so groß sei, dass nur ein minimaler Austausch stattfinde. Im Falle zweier benachbarter, zeitgenössischer Gesellschaften muss berücksichtigt werden, wie sie sich gegenseitig beeinflussen, da der Vergleich sonst durch pseudo-lokale Erklärungen verzerrt wird. Anders ausgedrückt: Ein Vergleich, der den Austausch untereinander ausblendet, behandelt nationale Gesellschaften fälschlicherweise als abgeschottete Gebilde und verstärkt die einseitige Ausrichtung von Historikern auf Nationalstaaten.10 Diese Sichtweise bewirkt das neue Interesse an Kontakten und Transfer; sie ist eine Folge der Entthronung des Nationalstaats als naheliegendstem Untersuchungsgegenstand. Wenn Nationen konstruiert und imaginiert sind, können wir sie nicht mehr als selbstverständlich voraussetzen. Die eine Konsequenz daraus ist die Blüte der Regionalgeschichte, die andere der kometenhafte Aufstieg der transnationalen Geschichte in jüngerer Zeit: Die Zunahme von Arbeiten, die versuchen, die Nationalgeschichte zu »europäisieren« oder zu »globalisieren«. Das Ergebnis, oder vielleicht sollte ich sagen die These lautet, dass unsere beiden Untersuchungsgegenstände – Großbritannien und Deutschland – als weniger nach innen abgeschlossen und stärker nach außen hin offen erscheinen, als Spielball einer Vielzahl von sich überschneidenden Einflüssen, einschließlich der zwischen ihnen stattfindenden Kontakte und Transfers. In 9 J. Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer, in: Historische Zeitschrift, Bd. 267, 1998, S. 649–685; S. Conrad, Doppelte Marginalisierung. Plädoyer für eine transnationale Perspektive auf die deutsche Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 28, 2002, S. 145–169; M. Werner u. B. Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 28, 2002, S. 607–636; J. Osterhammel, Gesellschaftsgeschichte jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001. 10 Die gleichen Passagen von Bloch werden zitiert von Paulmann, Internationaler Vergleich, S. 662 f., 667; Patel, Transatlantische Perspektiven, S. 640.

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seinem Buch »Atlantiküberquerungen« spricht Daniel Rodgers vom Atlantik als »Wasserweg, auf dem Menschen, Waren, Ideen und Sehnsüchte befördert wurden«.11 All das gehört auch zu jeder Darstellung der Beziehungen über die Nordsee beziehungsweise den Ärmelkanal hinweg. In keinem dieser Bereiche begannen die Wechselbeziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland erst im Jahr 1900. Kaufleute waren seit langem in beiden Richtungen unterwegs, und im 18.  Jahrhundert lösten in Großbritannien entwickelte, neue industrielle Verfahren in Deutschland reges Interesse aus.12 Hunderte deutsche politische Emigranten gingen nach 1848 nach England, eine Gruppe, deren Einfluss über ihre schiere Zahl weit hinausging. Umgekehrt schrieben sich im Lauf des 19. Jahrhunderts 10.000 britische Studenten an deutschen Universitäten ein.13 Ab dem späten 18. Jahrhundert übernahmen die Deutschen von den Briten nicht nur die neuesten landwirtschaftlichen Methoden und industriellen Technologien, sondern auch die Idee des Seebads und des englischen Landschaftsgartens.14 Die Briten trugen ihrerseits dazu bei, den »Romantischen Rhein« als ein touristisches Ziel zu erfinden, und waren dort stark vertreten – für viele zu stark (Otto Funcke war nicht der einzige, der das kritisierte).15 In derselben Ära stoßen wir bei englischen Autoren, von Coleridge über Carlyle, George Eliot und Matthew Arnold bis hin zu Anthony ­Trollope und seinen Roman »Orley Farm«, auf einen tiefen Respekt für deutsche Kultur 11 D. T. Rodgers, Atlantiküberquerungen. Die Politik der Sozialreform 1870–1945, Stuttgart 2010, 1998, S. 12. 12 P. Schramm, Kaufleute zu Haus und über See, Hamburg 1949, sowie ders., Neun Genera­ tionen. Dreihundert Jahre deutscher ›Kulturgeschichte‹ im Lichte der Schicksale einer Hamburger Bürgerfamilie, 1648–1948, 2 Bde., Göttingen 1963/64, Bd.  1; M. Schumacher, Auslandsreisen deutscher Unternehmer 1750–1851, Köln 1968; W. Kroker, Wege zur Verbreitung technologischer Kenntnisse zwischen England und Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1971. 13 R. Ashton, Little Germany. Exile and Asylum in Victorian England, Oxford 1986, sowie viele der Essays in: P. Alter u. R. Muhs (Hg.), Exilanten und andere Deutsche in Fontanes London, Stuttgart 1996; P. Alter, Bewunderung und Ablehnung. Deutsch-britische Wissenschaftsbeziehungen von Liebig bis Rutherford, in: L. Jordan u. B. Kortländer (Hg.), Nationale Grenzen und internationaler Austausch. Studien zum Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa, Tübingen 1995, S. 300. Alters Aufschlüsselung zufolge schrieben sich zwischen 1800–1851 eintausend, zwischen 1851 und 1914 neuntausend Studenten ein. 14 Das erste deutsche Seebad in Heiligendamm verdankte seine Existenz im Wesentlichen Georg-Christoph Lichtenberg, den seine Besuche in Margate und Deal beeindruckt hatten und der sich fragte, warum es Vergleichbares nicht auch in Deutschland gebe. Vgl. Warum hat Deutschland kein großes öffentliches Seebad?, nachgedruckt in G.-C. Lichtenberg, Vermischte Schriften, hg. v. L. C. Lichtenberg, Göttingen 1803, S. 93–115. Siehe auch den Ausstellungskatalog »Saison am Strand«. Badeleben an Nord- und Ostsee. 200 Jahre, Herford 1986. Zu Gärten siehe A. von Buttlar, Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik, Köln 1989; L. Parshall, Landscape as History. Pückler-Muskau, the »Green Prince« of Germany, in: C. Mauch (Hg.), Nature in German History, New York 2004, S. 48–73. 15 H. J. Tümmers, Rheinromantik. Romantik und Reisen am Rhein, Köln 1968.

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und Ideen. Der deutsche Einfluss auf das britische Denken im Bereich der Bildung und der Bibelkritik ist unverkennbar. Dasselbe gilt für das Recht – man denke an A. V. Dicey, Ernest Barker und F. W. Maitland.16 Derweil betrachteten gebildete Deutsche seit der Zeit der berühmten Übersetzungen der romantischen Schriftsteller Johann Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel Shakespeare als einen der ihren – lange bevor Julius Langbehn diesen Ende des 19. Jahrhunderts als energischen, norddeutschen Charakter beschrieb.17 An diesem Punkt stellt sich eine Frage: Was bedeutet diese lange Geschichte für den begrenzten Zeitrahmen des britisch-deutschen Austauschs in der Zeit zwischen 1900 und 1914? Ein wichtiger Impuls für die Geschichte des Kulturtransfers kam von deutschen Literaturwissenschaftlern, wobei diese sich meist mit längeren Zeitabschnitten befasst haben. Wenn der Fokus auf der literarischen Rezeption liegt (beispielsweise auf dem Einfluss der Romane Walter Scotts in Deutschland), bietet sich ein längerer Betrachtungszeitraum an.18 Dasselbe mag für andere Formen des Kulturtransfers gelten, etwa für Prinzipien der Rechtsprechung. Ist der Blickwinkel noch weiter, richtet sich das Interesse also zum Beispiel darauf, wie Vorlieben im Hinblick auf Nahrungsmittel oder Möbel den Weg von einem Land ins andere finden – denn der »Transfer« beschränkt sich ja nicht auf die Hochkultur und die Welt des Denkens –, so hilft das Wissen um langfristige Trends zweifellos dabei, sich einen Reim auf kurzlebige Moden zu machen. All das bedeutet jedoch keineswegs, dass Kulturtransfer stets aus der langfristigen Perspektive betrachtet werden muss. Kurzfristige Moden gibt es ja bei der Vorliebe für bestimmte Romanciers und Denkrichtungen ebenso wie in Bezug auf Küche, Inneneinrichtung, Gärten, Tänze  – und die Mode selbst. Außerdem ging der Austausch von Einstellungen zu allem Möglichen über Staatengrenzen hinweg um 1900 bereits sehr viel schneller vonstatten als noch dreißig oder vierzig Jahre zuvor. Und auch die Frage der Generationszugehörigkeit spielt hier mit hinein, denn Menschen sind in der Regel Gefan16 P. Kennedy, The Rise of the Anglo-German Antagonism. 1860–1914, London 1980, S. 110, 121; W. H. G. Armytage, The German Influence on English Education, London 1969; N. Hammerstein, ›Matthew Arnolds Vorschlag einer Reform der englischen Universitäten‹, in: L. Kettenacker u. a. (Hg.), Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen, München 1981, S. 103–129; Hollenberg, Interesse am Kaiserreich, S. 147–198; M. Bentley, Politics without Democracy, Totowa (NJ) 1985, S. 341. Zum Einfluss der deutschen Nazarener auf britische Vertreter der Neogotik wie Augustus Pugin und auf die Präraffaeliten siehe W. Lottes, ›Nazarener und Präraffaeliten. Zwei Künstlerbünde in den deutsch-englischen Kunstbeziehungen des 19. Jahrhunderts‹, in: A. M. Birke u. K. Kluxen (Hg.), Viktorianisches England in deutscher Perspektive, München 1983, S. 109–132. 17 Vgl. J. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, Leipzig 1891. 18 H. Steinecke, Der »reichste, gewandteste, berühmteste Erzähler seines Jahrhunderts«. Walter Scott und der Roman in Deutschland, in: Jordan u. Kortländer, Nationale Grenzen und internationaler Austausch, S.  109–120; Siehe auch M. Espagne u. M. Werner, Deutschfranzösischer Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert, in: Francia, Jg. 13, 1985, S. ­502–510; M. Espagne u. M. Middell (Hg.), Von der Elbe bis an die Seine. Kulturtransfer zwischen Sachsen und Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert, Leipzig 1993.

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gene der Ära, die für sie intellektuell prägend war. Auch wenn die Welt sich veränderte und die Kontakte zwischen England und Deutschland in jener Zeit unverkennbar eine neue Form annahmen, trugen viele historische Akteure  – auf beiden Seiten – geistiges Gepäck aus einer viele Jahre zurückliegenden Zeit mit sich. Es gibt mindestens zwei triftige Gründe, den Fokus auf das frühe 20. Jahrhundert zu richten. Erstens ist das die Zeit, in der die Kontakte und der Transfer zwischen Großbritannien und Deutschland vor dem Hintergrund beziehungsweise als Teil  der zunehmenden Rivalität im Bereich der Wirtschaft, Flotte und Kolonien zu sehen sind. Das macht das Ganze spannend und interessant. Zweitens war die Rivalität auf diesen Gebieten ebenso wenig auf Großbritannien und Deutschland beschränkt wie ein weiteres Charakteristikum der Jahre ­1900–1914. Man kann diese Phase mit gutem Grund als das erste »Zeitalter der Globalisierung« bezeichnen. Es war gekennzeichnet von neuen Kommunikationstechnologien, durch die die Welt näher zusammenrückte (eine Entwicklung, die den Zeitgenossen nur allzu bewusst war), von einer enormen Zunahme des Handels, vom engeren Austausch zwischen Regierungen, von der Gründung zahlreicher neuer internationaler und bilateraler Organisationen und von vertieften Kontakten zwischen Individuen und Gruppen über Staatsgrenzen hinweg. Von der Vielfältigkeit dieser Kontakte im Fall von England und Deutschland zeugt das Spektrum der in diesem Buch19 behandelten Themen, die von der Politik über Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Recht, Sport, Musik und Literatur bis hin zu Wissenschaft und Technik reichen. In diesem Zusammenhang erscheint der Hinweis angebracht, dass der Oberbegriff für all diese Themen »Kultur« lautet. So wie wir einst alle Sozialhistoriker waren, sind wir heute offenbar alle Kulturhistoriker. Angesichts dieser Themenvielfalt mag es kleinlich wirken, auf blinde Flecken hinzuweisen; trotzdem möchte ich zwei erwähnen. Ein Thema, das Aufmerksamkeit verdient, ist die Religion, ein Lebensbereich, der auf vielen verschiedenen Ebenen Kontakte und Austausch zwischen britischen und deutschen Zeitgenossen angeregt hat. Pastor Otto Funcke war nicht der einzige deutsche Protestant, dem es Hochachtung abverlangte, wie stark das öffentliche Leben und die Moral in Großbritannien nach wie vor vom Christentum geprägt war – auch wenn sich seine Bewunderung mit Bedenken angesichts der Schwärmerei vermischte, den Organisationen wie die Abstinenzbewegung und die Heilsarmee an den Tag legten.20 Umgekehrt gab es unter progressiveren Theologen und Philosophen in England und Schottland Anhänger der Arbeiten von Ernst Troeltsch, auch wenn Bemühungen, ihn zu einer Vortragsreise auf die­ 19 Dieser Essay erschien erstmals im Sammelband D. Geppert u. R. Gerwarth (Hg.), Wilhelmine Germany and Edwardian Britain. Essays in Cultural Affinity, Oxford 2008, S. 15–37 (Anm. d. Ü.). 20 Funcke, Englische Bilder in deutscher Beleuchtung, S.  190–221; C. Ribbat, Religiöse Er­ regung. Protestantische Schwärmer im Kaiserreich, Frankfurt a. M. 1996, S. 35–37.

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Insel zu holen und ihm in Oxford die Ehrendoktorwürde zu verleihen, scheiterten.21 Und nicht zuletzt spielten protestantische Geistliche eine wichtige Rolle im »Anglo-German Friendship Committee« (später: Society), dessen Einsatz für die Verbesserungen der britisch-deutschen Beziehungen ab 1905/06 durch eine Vielzahl persönlicher Kontakte und gegenseitiger Besuche zwischen Klerikern ergänzt wurde.22 Eine zweite Form des Kontakts, der Aufmerksamkeit verdient, ist die Migration: Tausende Briten und Deutsche lebten im jeweils anderen Land. Wie so viele britisch-deutsche Wechselbeziehungen war auch diese asymmetrisch (Asymmetrie ist nicht nur ein Thema für Komparatisten, sondern auch für Historiker des Transfers). Die Zahl der in Deutschland lebenden Briten war relativ klein und stieg im späten 19.  und frühen 20.  Jahrhundert nur sehr mäßig an. Sie lag 1900 bei 16.000 und zehn Jahre später nur wenig über 18.000. Unter den nichtdeutschen Bevölkerungsgruppen lagen die Briten lediglich an achter Stelle, weit abgeschlagen hinter den Niederländern, den Italienern, den Schweizern und den Slawen (die aus dem Zarenreich oder der Habsburgermonarchie nach Deutschland gekommen waren). In puncto Größe und Konstanz hatte die britische Bevölkerungsgruppe in Deutschland auffallende Ähnlichkeit mit der amerikanischen.23 Sie umfasste auch Angehörige der Unterschicht (zumeist in den Häfen im Norden stationierte Matrosen), bestand jedoch hauptsächlich aus Kaufleuten und Rentiers, Lehrern und Gouvernanten, Gelehrten und Studenten. Die Zahl der Deutschen in Großbritannien lag 1914 dreimal so hoch, bei 57.000. Bis zum Zustrom an osteuropäischen Juden in den 1890er Jahren hatten sie die größte ausländische Bevölkerungsgruppe gestellt.24 Die Hälfte von ihnen lebte in London, viele aber auch in Liverpool, Manchester, Hull und anderen Städten im Norden. In sozialer Hinsicht war es eine sehr inhomogene Gruppe. Die unterste Schicht bildete eine beträchtliche Anzahl von Mittellosen, Prosti­ tuierten, Kanarienvogelhändlern, Jongleuren, Blackface-Darstellern und dergleichen. Daneben gab es eine große, aber ständig wechselnde Gruppe von Matrosen, sowie eine Arbeiterklasse, die hauptsächlich in der Zuckerverarbeitung, als Schneider, Schuhmacher oder Färber tätig waren. An der Spitze der Pyra21 H. Rollmann, Die Beziehungen Ernst Troeltschs zu England und Schottland, in: H. Renz u. F. W. Graf (Hg.), Troeltsch-Studien, Bd.  3. Protestantismus und Neuzeit, Gütersloh 1984, S. 319–331. 22 Kennedy, Rise of Anglo-German Antagonism, S. 387 f.; Hollenberg, Englisches Interesse am Kaiserreich, S. 60–113. 23 U. Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980, Berlin 1986, S. 25, Tab. 1. 24 Nicht berücksichtigt habe ich hier die Iren, von denen 1861 800.000 auf dem britischen Festland lebten. Obwohl sie nicht selten als solche behandelt wurden, waren sie streng genommen keine »Ausländer«. Man kann sie mit David Feldman am Besten als »interne Immigranten« betrachten; vgl. D. Feldman, Was the Nineteenth Century  a Golden Age for Immigrants?, in: Andreas Fahrmeier u. a. (Hg), Migration Control in the North Atlantic World, New York 2003, S. 169 f.

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mide standen die deutschen Kaufleute und Fabrikanten, Professoren, arrivierten Lehrer und Musiker. Dazwischen existierte ein großes Kleinbürgertum, das hauptsächlich im Dienstleistungsbereich arbeitete: Kellner, Friseure und Barbiere, Schweinemetzger, Musiker, die sich von Engagement zu Engagement hangelten, schlecht bezahlte Gouvernanten, Handelsvertreter, sowie die deutschen Handlungsgehilfen, deren Anwesenheit nach der Jahrhundertwende so lebhaft diskutiert wurde.25 Aufschlussreich ist die Geographie der wichtigsten Wohngebiete der Deutschen in London. Die Armen und Arbeiter konzentrierten sich in den alten Stadtbezirken des East Ends, wie zum Beispiel Stepney, drangen allerdings etwa ab 1900 weiter nach Osten vor, oder westwärts nach Islington, St. Pancras, Mary­ lebone und Paddington, wo auch der Großteil des Kleinbürgertums wohnte.26 Die Handelselite bevorzugte den Süden und pendelte von Sydenham oder Camberwell aus in die Innenstadt; dort hatten bereits viele Deutsche gewohnt, als Theodor Fontane in den 1850er Jahren reiche Landsleute besuchte. Charles Booth notierte 1902, es gebe hier »eine Kolonie reicher Deutscher […]. Es gibt auch eine deutschsprachige Kirchengemeinde […], doch verbringen sie ihre Sonntage eher mit Feiern als mit Beten.« Manche dieser Deutschen seien »englischer als die Engländer selbst.«27 Wie viel Kontakt gab es zwischen der jeweiligen ausländischen Bevöl­ kerungsgruppe und der Bevölkerung des Gastgeberlandes tatsächlich? Viele Briten in Deutschland blieben überwiegend unter Ihresgleichen. Sie waren Teil einer europäischen, ja globalen Diaspora betuchter Briten, die wenig Bedürfnis nach Interaktion mit den Einheimischen verspürten und stattdessen eigene Netzwerke knüpften. Die Deutschen in Großbritannien wiederum schufen sich, ähnlich wie die Deutschen in Amerika, ihr lokales »Kleindeutschland«. Besonders ausgeprägt war diese Selbstgenügsamkeit dort, wo Ketten­migration dazu führte, dass viele Deutsche im selben Ort wohnten. (Beispielsweise stammten viele Deutsche in Liverpool aus Württemberg.) Überall bauten die Deutschen ihre eigenen Kirchen und gründeten ihre eigenen karitativen Organisationen, Gesellschaftsklubs, Musik- und Turnvereine, Schulen, ja sogar Zeitungen wie den »Londoner General-Anzeiger« oder die »Manchester Nachrichten«. Sehr viele heirateten innerhalb der eigenen Bevölkerungsgruppe.28 In der Zeit nach der Jahrhundertwende jedoch sank der Anteil der deutschdeutschen Ehen, und es kam verstärkt zu Kontakten zwischen Deutschen und Briten, die über Geschäftsbeziehungen hinausgingen. Am Besten belegt ist das für die Reichen und Gebildeten. Ein möglicher Treffpunkt waren Musik- und 25 P. Panayi, German Immigrants in Britain during the Nineteenth Century. 1815–1915, Oxford 1995, S. 35–144. 26 Panayi, German Immigrants, S. 93–101. 27 Zitiert nach S. Steinmetz u. R. Muhs, Protestantische Pastoren und andere Seelsorger, in: Alter u. Muhs (Hg.), Exilanten und andere Deutsche, S. 438. 28 Panayi, German Immigrants, S. 145–199.

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Gesangsvereine, ein anderer die Literatur: Deutsche traten der Carlyle Society bei, Briten der English Goethe Society.29 Eine Mittlerrolle zwischen beiden spielte der Emigrant Eugen (Eugene)  Oswald, später Vorsitzender der Carlyle Society und Mitbegründer der Goethe Society, deren Schriftführer er von 1891 bis zu seinem Tod 1912 war. Im Laufe seines Lebens hatte er an mehreren Londoner Schulen unterrichtet, am Working Men’s College gewirkt, Lord Northcote, dem späteren Gouverneur von Bombay, Deutschunterricht gegeben, zwei zukünftigen Königen Privatunterricht erteilt, am Royal Naval College in Greenwich 25 Jahre lang Deutsch gelehrt, manches übersetzt, Artikel auf Deutsch und Englisch verfasst und in beiden Ländern veröffentlicht, und sich in schweren Zeiten Geld bei Friedrich Engels geliehen.30 Oswald war eine Ausnahmeerscheinung. Typischer war die Geschichte von berühmten anglisierten Deutschen wie Sir Ernest Cassel oder die des Chemikers Viktor Mond und seiner Frau Frida, deren Lebensstil auf bescheidenerer Ebene in bürgerlichen Villen in Manchester und im Süden Londons kopiert wurde.31 Dort – in Dulwich, kurz vor dem Krieg –, freundete sich der junge V. S. Pritchett mit Kindern aus deutschen Familien an. Wie er sich in seiner Autobiographie »A Cab at the Door« erinnert, waren diese besser gebildet und hatten mehr Geld zur Verfügung; ein Junge besaß sogar ein Grammophon. Sie wirkten freier, ja »zügelloser«, auch die Mädchen, und das übte auf Pritchett eine große Anziehungskraft aus. Sie zogen ihn in ihren Bann, erschreckten ihn bisweilen aber auch, etwa als ein Junge versuchte, sich im Dulwich Park zu erhängen, nachdem er sich beim Cricket vom Schiedsrichter ungerecht behandelt gefühlt hatte.32 Die Bande zwischen Angehörigen dieser ausländischen Minderheit und der Gastgebernation – Handel, Dienstleistungen, Lehren und Lernen, Musik, Geselligkeit, Eros – stecken das Spektrum der Kontakte zwischen Briten und Deutschen generell ab. Sie zur Kenntnis zu nehmen ist leicht; sehr viel schwieriger ist es, sie zu einem stimmigen Bild zu ergänzen. Nehmen wir das Beispiel Heirat. Darüber, wie Königshäuser über das Konnubium miteinander verbunden waren, sind wir bestens informiert, aber über (die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wachsende Zahl an) Mischehen zwischen Briten und Deutschen aus der Welt des Handels und der Wissenschaft wissen wir nur wenig. Ute Frevert tippte dieses Thema an, als sie kürzlich für eine »Europäisierung« der deutschen Geschichte plädierte.33 Derartige Bande sind, zumindest jenseits des 29 Hollenberg, Die English Goethe Society und die deutsch-englischen kulturellen Beziehungen im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Jg. 30, 1978, S. 36–45. 30 J. F. Flood, »A Man of Singularly Wide Experience of Affairs«. Eugene Oswald as Writer and Journalist, in: Alter u. Muhs, Exilanten und andere Deutsche, S. 77–100. 31 Panayi, German Immigrants, S. 140–142. 32 V. S. Pritchett, A Cab at the Door and Midnight Oil, Harmondsworth 1979, S. 92, 116–120. 33 U. Frevert, Europeanizing German History. Eighteenth Annual Lecture of the German Historical Institute Washington, in: Bulletin of the German Historical Institute, Bd. 36, 2005, S. 17.

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Anekdotischen, schwer zu rekonstruieren. Die Erforschung dieses vielversprechenden Themas setzt eine aufwändige grenzübergreifende Prosopographie voraus. Es gilt, mit Hilfe von nationalen Biographien und amtlichen Verzeichnissen die betreffenden Familien zu identifizieren und dann anhand von Quellen wie der Familienkorrespondenz die Netze zu rekonstruieren, über die diese Familien über Generationen hinweg miteinander verbunden waren. Zahlreicher, aber nur lückenhaft erforscht sind die Kontakte zwischen beruflich mit ihren Pendants in England beziehungsweise Deutschland Befassten: Konsuln und Attachés, Sprachlehrer und Gouvernanten, spezialisierte Buchhändler und Bibliothekare. Und schließlich gibt es da noch die Vermittler par excellence, die Übersetzer. Um ein Fachgebiet herauszugreifen, Sexualwissenschaft und Sexualreform: Wir wissen, dass Richard von Krafft-Ebing und­ Magnus Hirschfeld sehr schnell ins Englische, Havelock Ellis und Edward Carpenter ins Deutsche übersetzt wurden.34 Man darf annehmen, dass es sich beim Übersetzer von Edward Carpenter nicht um die gleiche Person handelte, die ein Buch von dessen Namensvetter, Bischof Boyd Carpenter, ins Deutsche übertrug – eine Übersetzung, die auf Anregung Wilhelms II. entstand, der das Buch im Original gelesen und schätzen gelernt hatte.35 Wer, abgesehen vom Kaiser, entschied, welche Bücher übersetzt wurden? Und war das expandierende Übersetzungsgeschäft vollkommen segmentiert, oder sind in London und Berlin (oder Leipzig) von professionellen Übersetzern bevölkerte Pendants zur berühmten Grub Street entstanden? Wir wissen es nicht. Wissenschaftler, die sich mit Literaturtransfer beschäftigen, weisen darauf hin, dass wir über zahllose dritt- und viertklassige Autoren in den einzelnen Ländern zwar bestens informiert seien, es aber andererseits Menschen gebe, die stapelweise wichtige literarische oder philosophische Werke übersetzt hätten, ohne dass auch nur grundlegende Fakten wie ihr Geburts- und Todestag bekannt seien. Um 1900, in einer Welt, die über neue Publikationen, Organisationen und Zusammenkünfte viel enger vernetzt war, kam ein breites Spektrum britischer und deutscher Architekten, Ingenieure und Angehöriger anderer Berufsgruppen plötzlich sehr viel häufiger mit ihren jenseits des Ärmelkanals beheimateten Kollegen in Kontakt. Oft geschah das in einer der vielen Expertenkommissionen, die internationale Vereinbarungen oder Normen zu Postverkehr, Telegraphie, Seerecht und Zeitzonen ausarbeiteten.36 Solche Zusammenkünfte waren »Kontaktzonen«, ebenso wie internationale Ausstellungen und die wiederbegründeten Olympischen Spiele, die nicht nur Treffpunkte für Athleten 34 U. Frevert, Die Zukunft der Geschlechtergeschichte, in: dies. (Hg.), Das neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 18, Göttingen 2000, S. 170. 35 J. Steinberg, The Kaiser and the British, in: J. C. G. Röhl u. N. Sombart (Hg.), Kaiser Wilhelm II. New Interpretations, Cambridge 1982, S. 127. 36 Vgl. M. H. Geyer u. J. Paulmann (Hg.), The Mechanics of Internationalism. Culture, Society and Politics from the 1840s to the First World War, Oxford 2001, v. a. die Einleitung und die Essays von M. Geyer und M. Herren.

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dar­stellten. Weitere Treffpunkte waren die internationale Musikszene, in der Deutsche eine so bedeutende Rolle spielten und die in England viele wichtige Spielorte frequentierte, sowie die großen internationalen Erholungszentren der Belle Époque, an denen die Engländer so zahlreich vertreten waren und unter denen deutsche Kurorte wie Wiesbaden und Baden-Baden zu den beliebtesten gehörten.37 Kontaktzonen anderer Art wurden durch dezidiert international ausgerichtete Organisationen wie den Esperanto-Weltbund, die sozialistische Zweite Internationale, der Frauenweltbund und die International Woman Suffrage Alliance geschaffen. In den beiden zuletzt genannten spielten britische und deutsche Frauen von Anfang an eine wichtige Rolle. Englisch und Deutsch waren zwei der drei offiziellen Sprachen, und der Internationale Frauenbund traf sich 1896 in Berlin, 1899 in London und 1904 wiederum in Berlin. Wertvolle institutionelle Aufbauarbeit im Hintergrund leistete die deutsch sprechende Korrespondenzsekretärin Teresa Wilson, Schriftführerin war die englisch sprechende Deutsche Alice Salomon. Wie bei den Zusammenkünften von Experten handelte es sich auch hier um ein Umfeld, in dem Deutsche und Britinnen nur Teil (in der Regel aber ein wichtiger Teil) eines größeren Netzwerks für den grenzüberschreitenden Austausch waren.38 Anfang des 20. Jahrhunderts gab es außerdem rings um den Globus, von Ostafrika bis Schanghai, Orte, an denen Briten und Deutsche sich kennenlernen und neben Unterschieden auch Gemeinsamkeiten feststellen konnten, die sie als Vertreter von »Kulturvölkern« einten. Eine Erinnerung daran, dass manche britisch-deutschen Kontakte indirekter Natur waren: Das Wissen übereinander beziehungsweise die Wahrnehmung der anderen Seite wurde durch einen dritten Ort vermittelt, der als Triangulationspunkt diente. Auf der Hand liegt das im Fall der Kolonien. Lassen Sie mich ein Beispiel aus dem Bereich der Ingenieurskunst anführen. Deutsche Wasserbauingenieure waren um 1900 zwar‚ Pioniere von Verfahren wie dem Modellieren von Flussbetten, verfolgten die Aktivitäten der Briten auf diesem Gebiet aber nach wie vor genau. Anders die Bauingenieure, wie zum Beispiel die Erbauer von Staudämmen; sie orientierten sich an Frankreich und den USA. Sie bewunderten und kopierten die schmalen französischen Schwergewichtsdämme, wobei ihnen nicht entging, dass die französische Eleganz bisweilen Talsperren hervorbrachte, die den entscheidenden Test nicht bestanden und einstürzten. Ebenso bewunderten sie die großen amerikanischen Wasserkraftprojekte des frühen 20. Jahrhunderts und deren »kühne« Konstruktion – nicht ohne gequält und ungläubig, aber auch mit einer gewissen Schadenfreude, davon zu berichten, dass viele ohne genaue Vor37 Siehe Kap. 11 in diesem Band. 38 L. J. Rupp, Worlds of Women. The Making of an International Women’s Movement, Prince­ ton 1997; S.  Zimmermann, Frauenbewegungen, Transfer und Trans-Nationalität, in: H.  ­ Kaelble u. a. (Hg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20.  Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002.

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schriften erbaute lokale Talsperren in den USA einen noch größeren Hang zum Einstürzen hätten. Großbritannien würdigten sie praktisch keines Blickes, verfolgten aber sehr wohl, was im Empire vor sich ging, etwa die Errichtung der ersten, von den Briten gebauten Assuan-Staumauer.39 Der zweite logische Triangulationspunkt neben den Kolonien waren die Vereinigten Staaten. Der Atlantik schrumpfte zum »großen Teich«. Frauenbewegungen in Großbritannien und Deutschland nahmen sich Amerika zum Vorbild. Auch in anderen Bereichen – Wissenschaft, Industrieverbände, Städtebau und Umweltschutz, oder den Gepflogenheiten der Reichen und Plutokraten – wurde Amerika für interessierte Zeitgenossen in Großbritannien und Deutschland zusehends zum Maßstab für alles Neue – ob nun die Europäer beide fasziniert dieselben Trends beobachteten oder ob es sich dabei um einen Austausch zwischen drei Stationen handelte.40 Und auch diese Kontakte waren asymmetrisch: Die Faszination und der Austausch mit den USA war auf Seiten der Deutschen intensiver als auf Seiten der Briten. Insofern, als man hier von einem Dreieck sprechen kann, war es jedenfalls kein gleichseitiges Dreieck. Ich habe den Ärmelkanal hier auf einem ziemlichen Umweg überquert, über Schanghai, Ägypten und die USA. Das erscheint insofern angemessen, als man britisch-deutsche Kontakte nicht losgelöst von der Welt insgesamt betrachten sollte, zumal die Zeitgenossen sich dieses größeren Kontextes durchaus bewusst waren. Doch herrschte auch an bilateralen Kontakten kein Mangel. Viele sind wohlbekannt, etwa der Einfluss deutscher wissenschaftlicher Vorbilder und Methoden auf Großbritannien, nicht zuletzt auf britische Historiker. Dieser Einfluss war längst ein Klischee, als J. B. Bury 1902 in seiner Antrittsvorlesung in Cambridge (ziemlich selbstzufrieden) bemerkte: »An die Stelle der Gelehrsamkeit ist heutzutage die wissenschaftliche Methode getreten, und diesen Wandel verdanken wir Deutschland«.41 Als der junge A. F. Pollard einige Jahre später unter Mühen die Historical Association aufbaute und sich dann in London für ein Historisches Seminar (das Institute of Historical Research) einsetzte, kam der Ansporn dafür aus Deutschland.42 Oder man denke an die Rolle von Musik und Musikern aus Deutschland für das Leben in Großbritannien und die britische Vorstellungswelt. Ich möchte hier nur zwei Beispiele von vielen anführen, eine Frau und einen Mann, beide Anfang der 1890er Jahre geboren und beide später auf sehr unterschiedlichen Feldern hoch gefeiert. In ihrer Autobiographie »Testament of Youth« beschrieb Vera Brittain ihren Bru39 D. Blackbourn, Die Eroberung der Natur, München 2007, S. 280, 300. 40 Vgl. A. Schmidt, Reisen in die Moderne. Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich, Berlin 1997; ders., Zukunftsmodell Amerika? Das europäische Bürgertum und die amerikanische Herausforderung, in: Frevert (Hg.), Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, S. 79–112. 41 A. Grafton, The Footnote, Cambridge 1997, S. 59. 42 K. Robbins, History the Historical Association and the National Past, in: ders., History, Religion and Identity in Modern Britain, London 1993, S. 2–4.

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der Edward, der 1914 als begabter junger Komponist Uppingham verließ, voller Vorfreude auf ein Studium in Leipzig oder Dresden.43 Und Neville Cardus, Verfasser vielbeachteter Artikel über Musik und Cricket für den »­Manchester Guardian«, erinnerte sich noch Jahre später daran, wie viel Ehrfurcht er empfand, als er als junger Büroangestellter und Autodidakt auf der Straße in Manchester Hans Richter begegnete, dem Dirigenten des Hallé-Orchesters persönlich.44 Eine Liste der Einflüsse in umgekehrter Richtung enthielte eine ganze Reihe vertrauter Namen: die deutsche Rezeption postdarwinistischer Eugeniker wie Francis Galton, die Anfang des 20. Jahrhunderts von so vielen deutschen Reformern begeistert aufgegriffene englische Gartenstadtbewegung sowie die in Deutschland zur gleichen Zeit von Hermann Muthesius populär gemachten englischen Arts and Crafts-Gärten und die Landhausarchitektur.45 Auf diese Liste gehörte aber auch – und das ist sehr viel weniger bekannt – der Einfluss britischer volksreligiöser Bewegungen in Deutschland. Die methodistischen Kirchen in Deutschland hatten in den Jahren vor 1914 regen Zulauf, auch wenn die Zahl ihrer Mitglieder im Vergleich zu Großbritannien (oder den USA) gering blieb. Wesentlich größer waren die Folgen der Ausbreitung der Heilsarmee. Dank des Einsatzes von Commander Railton, der von der englischen Salvation Army entsandt wurde, um bei der Anwerbung von Mitgliedern zu helfen, breitete sich die Heilsarmee von einer ersten Keimzelle in Stuttgart aus rasch in ganz Deutschland aus; 1914 gab es bereits 224 Korps in 150 Städten. An den Zusammenkünften nahmen pro Jahr schätzungsweise eine Million Menschen teil. Die Heilsarmee war nicht die einzige in Großbritannien entstandene Bewegung, die das Drama der Suche nach dem religiösen Heil auf die deutsche Bühne brachte. Prediger in beiden Ländern trugen dazu bei, dass das »Great­ Awakening« der Jahre 1905/06 in Wales eine Nachahmung in der »Zeltmission« fand, die in Mühlheim Tausende anzog. Angereist kamen sie von überall aus den Kohlebergbaugebieten im Westen in »Hallelujah-Zügen«.46 43 V. Brittain, Testament of Youth, Harmondsworth 1989, S. 73. 44 N. Cardus, Autobiography, London 1947, S. 9; vgl. auch ebd., S. 48. Zum Hallé-Orchester, Hans Richter und weiteren berühmten deutschen Dirigenten in England siehe Panayi, German Immigrants, S. 81 f., 129 f. 45 P. Weingart u. a., Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassehygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988; P. Weindling, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, Cambridge 1989; K. Hartmann, Die deutsche Gartenstadtbewegung, München 1976; K. Repp, Reformers, Critics, and the Paths of German Modernity. Anti-Politics and the Search for Alternatives, 1890–1914, Cambridge/Mass. 2000, S. 217–219, 225–229, 236–240, 274–277, 285–293; U. Schneider, Hermann Muthesius and the Introduction of the English Arts and Crafts Garden to Germany, in: Garden History, Jg. 28, 2000, S. 57–72; M. Umbach, The Vernacular International. Heimat, Modernism and the Global Market in Early Twentieth-Century Germany, in: National Identities, Jg. 4, 2002, S. 45–68. 46 Ribbat, Religiöse Erregung, S. 35–73, 120–131.

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In all diesen Fällen geht es um Vorgänge, die über bloße Kontakte hinausreichen und der komplexeren Kategorie »Transfer« zuzuordnen sind. Damit ist nicht gemeint, etwas unmodifiziert zu importieren. Um bei der Versandmetapher zu bleiben: Das passende Modell ist nicht der moderne Container, sondern das chaotischere Geschäft in den Häfen von London und Hamburg vor einhundert Jahren, wo allerhand passieren konnte, wenn die Kahnführer und Hafenarbeiter gemischte Schiffsfrachten in die Warenhäuser verluden und weitertransportierten. Will man der Geschichte des Transfers gerecht werden, so muss man ein Bündel von Ideen, Praktiken oder Artefakte in einem Land herausgreifen, beschreiben, in welcher Weise, warum und von wem sie in einem anderen Land übernommen wurden, und schließlich aufzeigen, was im Rahmen dieses Übergangs – also in dem Moment, in dem sie zu Hybriden wurden – mit ihnen geschah. Eine beispielhafte Studie dieses Transplantationsprozesses ist Christiane Eisenbergs Buch über »englische« Sportarten in Deutschland.47 Darin zeigt sie, wie Pferderennen, Fußball und Tennis in Deutschland eine andere Färbung und einen anderen Wert annahmen. Ein Grund war die andere Sozialstruktur der aufnehmenden Gesellschaft. Ein weiterer war das Timing: Englische Sportarten kamen im Zeitalter der »Massenkultur« und der »Moderne« nach Deutschland, und das beeinflusste nachhaltig ihre Rezeption. Wie Eisenberg zeigt, war der zunehmende Gebrauch des Begriffs »Leibesübungen«, der für eine Mischung aus Sport, Gymnastik und paramilitärische Manöver steht, ein Anzeichen für die erfolgreiche Integration des Sports in die deutsche Gesellschaft auf eine ihr entsprechende Art und Weise. Was den umgekehrten Prozess betrifft, die selektive Übernahme deutscher Institutionen und Praktiken durch Großbritannien, so ist eines der am besten erforschten Gebiete der Wissenschaftstransfer. Die deutsche Wissenschaft genoss in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ein hohes Ansehen. Die Wurzeln des Respekts und der Bewunderung, die ihr entgegengebracht wurden, reichten weit ins 19.  Jahrhundert zurück; davon legt die hohe Zahl britischer Studierender an deutschen Hochschulen das beredteste Zeugnis ab. Angeblich soll »vor 1914 praktisch jeder Chemieprofessor an einer britischen Universität einen deutschen Doktortitel« getragen haben; nicht weniger attraktiv waren deutsche Universitäten für Physiker.48 Das deutsche Wissenschaftssystem diente in Großbritannien als Leitbild und als genereller Ansporn zu Reformen. Doch erst, als Politiker und Meinungsmacher sich mit der britischen Wettbewerbsfähigkeit zu beschäftigen begannen, mündete die Attraktivität des deutschen Modells 47 C. Eisenberg, »English Sports« und Deutsche Bürger, Paderborn 1999. 48 D. S. L. Cardwell, zitiert nach P. Alter, Science and the Anglo-German Antagonism, in: T. R. Gourvish u. Alan O’Day (Hg.), Later Victorian Britain, 1867–1900, London 1988, S. 277; R. S.  Turner, Unterschiedliche Formen der Universitätsorganisation und der Forschungs­ förderung. Der merkwürdige Fall der Physik um 1900, in: Jordan u. Kortländer (Hg.), Nationale Grenzen und internationaler Austausch, S. 282.

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in praktische Maßnahmen. Und selbst dann nahm man es sich, wie Peter Alter überzeugend dargelegt hat, nur selektiv zum Vorbild. So diente im Fall des 1900 gegründeten National Physical Laboratory in Teddington eindeutig die Physikalisch-Technische Reichsanstalt in Charlottenburg als Blaupause. Als dagegen sieben Jahre später das Imperial College gegründet wurde, entschied man sich gegen das deutsche Modell des unabhängigen Polytechnikums und für eine an die lokale Bildungslandschaft angepasste Mischform. So wurde das Imperial College keine Kopie der deutschen Technischen Hochschule, sondern Bestandteil der University of London.49 Ein ebenso komplexer Prozess wird offenbar, wenn man die Entwicklung einzelner wissenschaftlicher Disziplinen aus dem Blickwinkel des englischdeutschen Transfers betrachtet. Ein gutes Beispiel ist die Botanik. Im späten 19.  Jahrhundert war Deutschland England auf dem hochinnovativen Gebiet der Pflanzenanpassung weit voraus, zum Teil  (ironischerweise) deshalb, weil sich deutsche Forscher intensiver mit Darwin befasst hatten, zum Teil, weil sie über mehr und bessere Mikroskope verfügten. Führende britische Botaniker wie Frederick Bower und Sidney Vines studierten in Deutschland und schrieben begeisterte Zeilen über diese Studienaufenthalte; neue deutsche Fach­ bücher wurden mit Spannung erwartet und rasch übersetzt. Als jedoch Anfang des 20. Jahrhunderts die Pflanzenökologie aufkam, holten die Briten mehr als auf (der berühmteste Forscher war Arthur Tansley). Teilweise war dieser neue Elan darauf zurückzuführen, dass in Großbritannien Ansätze deutscher Botaniker weiterentwickelt wurden, die sich in Deutschland aus unterschiedlichen Gründen nicht durchsetzten. Die Geschichte des deutschen Einflusses hat jedoch noch einen weiteren interessanten Aspekt. Selbst dann, wenn die neuesten Ideen, die in Großbritannien zirkulierten, eigentlich aus den USA oder Skandinavien kamen, wie es im frühen 20. Jahrhundert häufig der Fall war, zogen es die jungen britischen Pflanzenökologen wegen des enormen Prestiges deutscher Wissenschaft vor, sich mit der deutschen botanischen Tradition zu identifizieren.50 Bisher habe ich mich in diesem Aufsatz mit einem breiten Spektrum an­ britisch-deutschen Kontakten und Transfers beschäftigt. Eine große Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist wie man diese komplexen Wechsel­ beziehungen und Netzwerke mit dem zunehmenden britisch-deutschen Antagonismus jener Jahre zusammenbringt, der seinen Ausdruck in imperialer Konkurrenz und Flottenrivalität fand, sowie in beiden Ländern im Aufstieg der radikalen Rechten, der Boulevardpresse und der »Spionenjagd«. Eine mögliche Antwort auf diese Frage besteht in der These, die Kontakte und Wechselbeziehungen seien dem Chauvinismus zum Opfer gefallen. So trifft es zweifellos 49 P. Alter, The Reluctant Patron. Science and the State in Britain, 1850–1920, Leamington Spa 1987, S. 138–172; ders., Bewunderung und Ablehnung, S. 303–307. 50 E. Cittadino, Nature as the Laboratory. Darwinian Plant Ecology in the German Empire 1880–1900, Cambridge 1990.

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zu, dass es gerade die von englischen kaufmännischen Angestellten als ungeliebte »Konkurrenten« betrachteten deutschen Handlungsgehilfen waren, die von der radikalen Rechten als »Spione« identifiziert wurden. Ähnlich erging es deutschen Kellnern: Sie wurden von der Loyal British Waiters Association ebenso diffamiert wie von der ultranationalistischen Presse.51 In Deutschland wiederum wurde die Heilsarmee als englische beziehungsweise englisch-amerikanische »Invasion«, als Hort »fremder Kolporteure und Agenten«, ja in der damals vorherrschenden pseudowissenschaftlichen, mit medizinischen Begriffen gespickten Sprache sogar als »religiöser Virus« oder »religiöse Epidemie« gebrandmarkt.52 Findet sich dieser Hang zur gegenseitigen Dämonisierung auch im Bildungsbürgertum? Definitiv traf das auf die jeweilige radikale Rechte zu, in Groß­ britannien auf die Leser von Leopold Maxses höchst germanophobe »National Review«, sowie auf die zahl- und einflussreicheren Alldeutschen und Flottenverbandsmitglieder, die Heinrich von Treitschkes englandfeindliche Einstellung teilten.53 Paul Kennedy, der in seinem Buch über den englisch-deutschen Antagonismus den kulturellen Kontakten zwischen beiden Ländern zwei nachdenkliche Kapitel widmet, stellt jedenfalls fest, dass diese Kontakte in den Jahren nach 1900 abgenommen hätten und die Herzlichkeit sich auf beiden Seiten spürbar abgekühlt habe. Insgesamt kommt er zu dem Schluss, dass viele Kontakte zwar fortbestanden haben, gegen die harte politische Realität jedoch wenig auszurichten vermochten. Goethe und Shakespeare, die deutsche Universität und die Arts and Crafts-Bewegung fielen im Vergleich zu den sich verändernden politischen Umständen einfach nicht genügend ins Gewicht. In Oxford mag es jede Menge deutscher Rhodes-Stipendiaten gegeben haben (darunter der Sohn von Bethmann Hollweg, der wie der Sohn von Asquith am Balliol College studierte), doch was, fragt Kennedy, machte all das unter dem Strich schon für einen Unterschied?54 Es ist unschwer zu erkennen, dass wir es hier auch mit einer Generationenfrage zu tun haben. Seinen Höhepunkt hatte die gegenseitige Bewunderung von Briten und Deutschen Jahrzehnte zuvor erreicht, bei anglophilen Deutschen wie Eugen Richter und Theodor Mommsen, sowie in der vom deutschen Bildungswesen faszinierten englischen Generation von Bildungsreformern (Benjamin Jowett, Mark Pattison, Matthew Arnold). Aufrechterhalten wurde sie von Leuten, deren intellektuelle Prägung in früheren, unschuldigeren Jahren lag. Diejenigen, die in der Wilhelminischen beziehungsweise Edwardianischen Zeit noch lebten, wie die Mitglieder der einem 51 G. Anderson, Victorian Clerks, Manchester 1976, S. 60–65, 89 f., 132 f.; Panayi, German Immigrants, S. 224–228 (sowie S. 201–251 passim). 52 Ribbat, Religiöse Erregung, S. 37, 205–230. 53 J. A. Hutcheson, Leopold Maxse and the National Review, 1893–1914. Right-Wing Politics and Journalism in the Edwardian Era, New York 1989; P. R. Anderson, The Background of Anti-English Feeling in Germany, 1890–1902, New York 1969; R. Chickering, »We Men Who Feel Most German«. A Cultural Study of the Pan-German League, London 1984. 54 Kennedy, Rise of the Anglo-German Antagonism, S. 389 f.

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Pensionistenverein gleichenden Anglo-German Friendship Society, stellten somit eine gestrandete Generation dar.55 Auf einen der wichtigsten britischen Germanophilen im frühen 20. Jahrhundert passt diese Generationsbeschreibung gut. Richard Haldane ging 1874 als 18-jähriger Student nach Göttingen, eine Stadt, in der seine schottischen Eltern hofften, dass seine Seele weniger Schaden nehmen würde als im anglikanischen Oxford. Bei seiner Rückkehr war er dünner, hatte lange Haare und war voller Begeisterung für die Mischung aus ernsthafter akademischer Forschung und dem von Trinkgelagen und Mensurfechten geprägten deutschen Studenten­ leben. Einmal bezeichnete Haldane Professor Hermann Lötzes Vorlesungssaal als seine »geistige Heimat«, eine unüberlegte Bemerkung, die er später bereuen sollte.56 Er blieb zeitlebens ein Verehrer Goethes (auf der letzten Seite seiner Memoiren, auf der er Überlegungen zum Sinn des Lebens anstellt, zitiert er aus dem Faust) und reiste regelmäßig nach Ilmenau. Haldane war überzeugter Hegelianer (die »Phänomenologie des Geistes« hat er nach eigenen Angaben 19 Mal gelesen) und übersetzte Schopenhauer; der Romanautorin Mrs. Humphry Ward erklärte er in einem Brief einmal den Unterschied zwischen »Vorstellung« und »Begriff«. Seinen Bernhardiner nannte er »Kaiser«.57 Politisch musste Haldane für seine deutschfreundlichen Ansichten zweifellos büßen (Henry Campbell-Bannerman gab ihm den Spitznamen »Schopenhauer«, und das war nicht nett gemeint).58 Jedenfalls macht sein Fall die Argumentation nicht leichter. Schließlich war es Haldane, der als Kriegsminister der liberalen Regierung ab 1906 eine Militärreform durchführte, die letztlich das britische Expeditionskorps erst ermöglichte. Darin lag der Vorteil dessen, was Kritiker als »Hegelianische Armee« verspotteten.59 Haldane war zugleich ein führender Verfechter der Wissenschafts- und Bildungsreform. Deutschland war dabei natürlich das Vorbild, wurde von Reformern aber auch zunehmend als Großbritanniens großer Konkurrent angesehen. Tatsache ist, dass man die Kontakte und Wechselbeziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland in der Zeit nach 1900 nicht losgelöst von der wachsenden Rivalität beider Länder betrachten kann. Die gegenseitige Beeinflussung und die beiderseitige Feindseligkeit verliefen nicht parallel zueinander, sie waren vielmehr miteinander verwoben.60 In Großbritannien war es nicht nur die Ära der Bildungsreform, sondern auch der Zollreform und der »nationalen Effizienz« – beides 55 Hollenberg, Englisches Interesse am Kaiserreich, S. 96. 56 R. B. Haldane, Erinnerungen aus meinem Leben, Stuttgart 1930, S. 24–31; D. Sommer, Haldane of Cloan, London 1960, S. 44–46, 318 f. 57 Haldane, Erinnerungen, S. 83–86, 302; Sommer, Haldane of Cloan, S. 84, 113, 378, 384. 58 Ebd., S. 162. 59 Kennedy, Rise of the Anglo-German Antagonism, S. 392. 60 Vgl. das Sonderheft von »German History«, Jg. 26/4, 2008; J. R. Davis u. a. (Hg.), Transnational Networks. German Migrants in the British Empire 1670–1914, Leiden 2012; R. Scully, British images of Germany. Admiration, antagonism & ambivalence, 1860–1914, Basingstoke 2012.

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»Made in Germany«, um ein ängstlich gebrauchtes Schlagwort aufzugreifen.61 In dieselbe Kategorie gehört das Interesse von Lloyd George und Winston­ Churchill an der deutschen Sozialversicherung, ein Interesse, das Hand in Hand mit der wachsenden Beunruhigung über die deutschen Flottenbaupläne und imperialen Ambitionen ging.62 Auf deutscher Seite verstärkten der Sozialdarwinismus, die Eugenik Galtons und die Ergüsse von Houston Stewart Chamberlain die weit verbreitete Überzeugung, dass Deutschland kraftstrotzend und dynamisch, Großbritannien dagegen schwach und degeneriert sei.63 Dasselbe gilt für den Bereich des Sports. Schon in den 1880er Jahren berichtete Otto Funcke von den durchtrainierten Körpern der Engländer und forderte selbiges auch in Deutschland, denn Sport und Volkskraft, so Funcke, hingen zusammen.64 Das sollte ein wiederkehrendes Motiv des deutschen Interesses an Sport und körperlicher Ertüchtigung werden. Die Briten ihrerseits maßen dem Zusammenhang zwischen Sport und nationaler »Fitness« größere Bedeutung bei. Die »Pall Mall Gazette« schrieb 1913: »Der Eindruck, Berlin eigne sich zusehends den Stoff an, aus dem das Junge England geschnitzt ist, könnte den Gang der Geschichte beeinflussen.«65 Kommen wir noch einmal kurz zurück auf Richard Haldane. Dieser war stolz darauf, sich mit deutschen Politikern in deren Sprache unterhalten zu können, und bedauerte es, dass so wenige seiner Landsleute über Kenntnisse der deutschen Geschichte und Kultur verfügten. Er empfand, wie es in einem schlechten Schlager aus meiner Jugendzeit besungen wurde: »To know, know, 61 Vgl. B. Semmel, Imperialism and Social Reform 1895–1914, London 1960; G. R. Searle, The Quest for National Efficiency 1899–1914, Oxford 1971; K. Rohe, The British Imperialist Intelligentsia and the Kaiserreich, in: P. Kennedy u. A. Nicholls (Hg.), Nationalist and Racialist Movements in Britain and Germany before 1914, London 1981, S. 130–142; P. Cain, Politi­cal Economy in Edwardian England. The Tariff-Reform Controversy, in: A. O’Day (Hg.), The Edwardian Age. Conflict and Stability 1900–1914, London 1979, S. 34–59. Das Buch »Made in Germany« von E. E. Williams (London 1896) machte einen Ausdruck populär, der die Ängste der Briten auf den Punkt brachte. 62 Churchill sagte, er wolle »unserer gesamten Industrie eine ordentliche Portion Bismarckismus verordnen«: Bentley, Politics without Democracy, S.  336. Siehe auch G. A. Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983; P. Hennock, British Social Reform and German Precedents. The Case of Social Insurance 1880–1914, Oxford 1987; Hollenberg, Englisches Interesse am Kaiserreich, S. 230–264; K. Robbins, British Images of Germany in the First Half of the Twentieth Century and their Historical Legacy, Göttingen 1999, S. 24 f.; Kennedy, Rise of the AngloGerman Antagonism, S. 391–393, 428. 63 H.-U. Wehler, Sozialdarwinismus im expandierenden Industriestaat, in: ders., Krisenherde des Kaiserreichs, Göttingen 1979, S. 281–289; Weindling, Health, Race and German Politics; S. F. Weiss, Racial Hygiene and National Efficiency, Berkeley 1987, S. 80, 95, 103; M. Wood­ roffe, Racial Theories of History and Politics. The Example of Houston Stewart Chamberlain, in: Kennedy u. Nicholls (Hg.), Nationalist and Racialist Movements, S. 145–153. Siehe auch die in Anm. 45 zitierten Arbeiten. 64 Funcke, Englische Bilder in deutscher Beleuchtung, S. 76. 65 Zitiert nach Eisenberg, »English Sports« und Deutsche Bürger, S. 297.

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know you, is to love, love, love you.« Aber so war es keineswegs immer, wenn Engländer jenseits des Ärmelkanals auf Deutsche trafen. Bei vielen englischen Hörern der Vorlesungen von Heinrich von Treitschke in Berlin etwa war eher das Gegenteil der Fall. Enge Kontakte zur anderen Kultur über einen längeren Zeitraum hinweg, ja selbst Familienbande waren kein Garant für die Ent­ stehung einer Affinität. Betrachten wir exemplarisch einige einflussreiche britische Persönlich­keiten der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Eyre Crowe, hochrangiger Beamter im Außenministerium und später stellvertretender Staatssekretär, ist in Deutschland geboren und zur Schule gegangen. Als er zum ersten Mal nach England kam, war er 18. Seine Mutter war Deutsche, und 1903 heiratete er eine deutsche Cousine. William Tyrrell, Privatsekretär Sir Edward Greys von 1907 bis 1915, hatte mehrere Jahre in Deutschland gelebt, ehe er ins Balliol College eintrat, und sprach fließend Deutsch.66 Beide gehörten der sogenannten »Hardinge gang« an, der deutschfeindlichen Fraktion im Außenministerium. Sowohl Wickham Steed als auch George Saunders studierten an deutschen Universitäten. Beide warnten als Korrepondenten der »Times« vor den Ambitionen Deutschlands. Der imperialistische Schriftsteller James L. Garvin war in puncto deutsche Literatur, Politik und Wirtschaft sehr belesen, doch sein Respekt nährte auch seinen Argwohn hinsichtlich der deutschen Absichten (vor allem nachdem er Bernhardis »Deutschland und der nächste Krieg« gelesen hatte). Auch Lord Northcliffe las deutsche Bücher und Zeitschriften; trotzdem schürte seine »Daily Mail« die Angst vor deutschen Spionen.67 Der Vorsitzende der Conservative Party, Andrew Bonar Law, war von der deutschen Kultur so angetan, dass er einen seiner Söhne mit nach Deutschland nahm, auf dass dieser die deutsche Sprache und Literatur kennenlerne.68 Das war Anfang 1914. Als später in jenem Jahr der Krieg ausbrach, wurde Bonar Laws schottischer Landsmann Richard Haldane zum Opfer infamer Gerüchte, er habe es versäumt, Insiderwissen über die Pläne Deutschlands weiterzugeben oder wegen seiner Sympathien für Deutschland die Entsendung des britischen Expeditionskorps bewusst verzögert. Bonar Law selbst spielte eine unrühmliche Rolle, als er sich den Angriffen der rechtsgerichteten Presse anschloss und Haldane 1915 aus der Regierung Asquith drängte.69 Der Krieg hat viele in diesem Aufsatz erwähnte Bande gekappt. Gelehrte auf beiden Seiten – nicht zuletzt Historiker –, die bis 1914 in respektvollem und freundschaft66 M. Brechtken, Außenpolitik zwischen »alter« und »neuer Diplomatie«. Die Elite des britischen außenpolitischen Dienstes vom 19.  Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg, in: F. Bosbach u. a. (Hg.), Geburt oder Leistung? Elitenbildung im deutsch-britischen Vergleich, München 2003, S. 143–145. 67 Kennedy, Rise of the Anglo-German Antagonism, S. 309 f., 369, 393 f., 398; J. Steinberg, The Kaiser and the British, S. 121 f., 131. 68 T. Wilson, The Downfall of the Liberal Party 1914–1935, London 1968, S. 60. 69 Sommer, Haldane of Cloan, S. 309–329; Wilson, Downfall of the Liberal Party, S. 57–61.

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lichem Kontakt gestanden hatten, machten nun gegen den Feind mobil.70 Ernst Troeltsch war vor dem Krieg in Großbritannien ein gefragter Gastredner ge­ wesen. Aufgrund seiner Unterzeichnung der »Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches« während des Krieges mussten Anfang der 1920er Jahre Einladungen nach Oxford, Cambridge und Edinburgh auf öffentlichen Protest hin zurückgezogen werden.71 Victor Pritchett sah die »zügellosen« Mädchen Grete und Else nach jenem magischen Sommer von 1914 nicht wieder: Sie waren interniert.72 Damit teilten sie das Schicksal Tausender anderer – aller, die nicht nach Deutschland zurückgekehrt waren; die Anzahl der Deutschen in Großbritannien fiel bis 1919 von 57.000 auf 22.000.73 Dasselbe geschah jenseits der Nordsee. Im Juli 1914 traf das erste Mitglied der English Goethe Society in Deutschland ein, das ein Reisestipendium erhalten hatte. Doch anstatt in den Goethearchiven von Weimar und Frankfurt zu forschen, wurde er prompt interniert.74 In anderen Fällen erreichten deutsch-britische Wechsel­ beziehungen ein finaleres Ende. Vera Brittains Bruder nahm sein Musikstudium in Deutschland niemals auf; er kam in Italien ums Leben. Die Söhne von Bethmann Hollweg und Herbert Asquith, die beide am Balliol College studiert hatten, fielen innerhalb Jahresfrist an der Westfront.75 Das wäre ein ergreifender und dramatischer Schluss dieses Aufsatzes, aber gestatten Sie mir noch eine kleine Coda. Der Krieg von 1914–18 markierte hinsichtlich der deutsch-britischen Wechselbeziehungen, wie auf fast allen Gebieten, ohne Zweifel einen Wendepunkt. Doch die Geschichte ging weiter. Kürzlich hat Ute Frevert in provokanter Manier dargelegt, dass der Erste Weltkrieg (wie andere Kriege)  seinerseits eine eindrückliche transnationale Erfahrung darstellte, die neben den immer zuerst ins Auge fallenden Opfern und Feindschaften auch für neue Begegnungen und Kontakte sorgte (und sogar Ehen stiftete).76 Diese Argumentation widerspricht der gängigen Sichtweise und sollte ernst genommen werden. Sie gleicht in gewisser Weise der des österreichischen Pazi­fisten Alfred Fried, der 1914 die Ansicht äußerte, der Krieg werde die Sache des Friedens voranbringen.77 Fried behielt Recht, zumindest auf lange Sicht. Darauf könnte man antworten, dass wir doch alle wüssten, was John Maynard Keynes über die lange Sicht gesagt hat: Auf lange Sicht sind wir alle tot. Doch diese Antwort ist zu einfach. Wir sollten nicht erwarten, dass sich die Kontakte über Ländergrenzen hinweg linear zum Besseren entwickeln. Man muss die 70 K. Robbins, History, Historians and the British Public Life, in: ders., History, Religion and Identity, S. 18–21. Auf deutscher Seite siehe M. Stibbe, German Anglophobia and the Great War, 1914–1918, New York 2001. 71 Rollmann, Beziehungen, S. 326–331. 72 Pritchett, Cab at the Door, S. 120. 73 Panayi, German Immigrants, S. 202. 74 Flood, Eugene Oswald, S. 78. 75 Kennedy, Rise of the Anglo-German Antagonism, S. 390. 76 Frevert, Europeanizing German History, S. 12–15. 77 R. Chickering, Imperial Germany and a World without War, Princeton 1975, S. 324.

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»Phänomenologie des Geistes« nicht 19 Mal gelesen haben, um zu wissen, dass die Geschichte dialektisch voranschreitet. Vieles davon spielt sich hinter unserem Rücken ab. Zukünftige Generationen ernten manchmal den unbeabsichtigten, vielleicht sogar unverdienten Lohn früherer Feindschaft. Der beste Beweis dafür ist diese Aufsatzsammlung, mit der deutsche und britische Europäer  – auch wenn einige von uns halbe oder ganze Amerikaner sind  – einen in Oxford lehrenden Deutschen ehren. Wer wollte da noch an der List der Vernunft zweifeln?

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16. Das Kaiserreich transnational. Eine Skizze1 Orientierungen »Denkt global, handelt lokal« – das war in den siebziger Jahren die Devise von sozial und umweltpolitisch Engagierten, die frustriert und unzufrieden waren mit dem Nationalstaat als Grundeinheit ihres politischen Engagements. In den vergangenen dreißig Jahren haben Historiker eine ähnliche Unzufriedenheit erkennen lassen. In ihrem Falle drückte sich die Wendung gegen den Primat des Nationalen zunächst in einer Wendung hin zum Lokalen oder Regionalen aus. Erst in den letzten zehn Jahren hat sich eine globale oder transnationale Perspektive wirklich etabliert. Es gibt Gründe dafür, diese scheinbar gegenläufigen Tendenzen, die Mikro- und Makroperspektive, als miteinander verbunden zu betrachten, ja als zwei Seiten derselben historiographischen Medaille. Sicher, sie waren von unterschiedlichen Überlegungen ausgelöst. Die Hinwendung zum Lokalen, Regionalen, Alltäglichen, dem mikrohistorischen Bereich des Überschaubaren, war eine Reaktion gegen eine Sozialgeschichte, die mit Charles Tilly vor allem als Big structures, large processes, huge comparisons begriffen werde. Die Betonung von lokalem Wissen und die Wiedereinführung menschlicher Dimensionen gehören zur bekannten Verschiebung der historischen Zuwendung von Strukturen zu Bedeutungen, von Menschenmassen zu Einzelfällen. Die Wendung zum Globalen dagegen kam später und hatte ihre eigenen Ursachen, darunter sowohl die zeitgenössischen Diskussionen über Globalisierung und grenzüberschreitende Bewegungen als auch den Einfluss postkolonialer Ansätze darauf, wie wir die Geschichte europäischer Metropolen verstehen. Aber das Interesse an Lokalem und das an Globalem haben auch gemeinsame Merkmale, und das nicht nur in dem Sinne, dass sie beide den historischen 1 Im März 2003, inmitten des Irakkriegs, nahm ich in Blankensee bei Berlin an einer T ­ agung zum Thema »Das Kaiserreich transnational« teil. Organisiert wurde sie von Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel, die auch den 2004 veröffentlichten gleichnamigen Sammelband herausgaben. Der hier abgedruckte Aufsatz ist dort erstmals erschienen. Die zahlreichen Monographien, Aufsatzsammlungen, Aufsätze und Sonderhefte, die seither zur transnationalen Geschichte Deutschlands erschienen sind, lassen sich an dieser Stelle unmöglich alle aufzählen. Ich will deshalb nur auf zwei bedeutsame Arbeiten der beiden Herausgeber verweisen: S.  Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006; und J. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, die ebenso ein Meilenstein ist wie Osterhammels schon früher erschienenes Buch ders., Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats, Göttingen 2001.

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Primat nationaler Kategorien in Frage stellen. Zunächst sind beide Ansätze getrieben von einem wachsenden Interesse an Identitäten, vor allem den multiplen, sich überlappenden Identitäten, die das Kennzeichen der neuen Historiographie sind, manchmal fast bis zur Selbstkarikatur. Sowohl lokale als auch transnationale Perspektiven gestatten es uns, eine scheinbar stabile »deutsche« Identität zu hinterfragen. Was bedeutete es zum Beispiel um 1900, ein Deutscher zu sein, der auch Pfälzer und Bayer war, vor allem, wenn er einen Onkel in Milwaukee hatte und Verwandte, die sich zwei Jahrhunderte zuvor im Banat niedergelassen hatten? Ein weiteres Band, das die lokale und die globale Perspektive verbindet, ist das wachsende Interesse am Raum, der – neben der Zeit – zweiten wesentlichen Koordinate für den Historiker. Ich meine den Raum hier sowohl im physikalischen Sinne, wie er in der historischen Fragestellung das Wo dem Wann hinzufügt, als auch in dem übertragenen Sinne einer mentalen Topographie. Zum Beispiel sagte es etwas über deutsche Raumvorstellungen in den 1890er Jahren, wie Wilhelm Raabe in seinem Stopfkuchen die Geschichte der Kleinstadt des Heinrich Schaumann vor dem Hintergrund des geschäftigen Kaiserreichs erzählt (mit Reichspost, Eisenbahn, wirtschaftlichem Aufschwung), während die Geschichte insgesamt gerahmt ist von einem Erzähler, der auf einem Dampfschiff zu seiner Farm »unter den Kaffern« in Südafrika zurückreist. Alles in diesem Roman wird durch Distanz ausgedrückt: die Entfernung des Schaumannschen Hofs von der nahegelegenen Stadt, die der Stadt vom Hamburger Hafen, die Hamburgs von Kapstadt. Nicht umsonst erinnert sich der Erzähler der Worte seines Freundes aus der Kindheit, des Land­ briefträgers Störzer, der so gern Reiseliteratur las: »Die Geographie, die Geographie, Eduard!« Die Untersuchung der Rückwirkungen des transnationalen Kaiserreichs auf das »Mutterland« kann man dann als Teil desselben Unternehmens betrachten, das neue Aufmerksamkeit auf das Wechselspiel zwischen dem Lokalen und dem Nationalen gelenkt hat. Es sind verwandte Formen, und Jacques Revel hat dafür den Begriff vom Jeu d’échelles geprägt, vom Spiel mit den Maßstäben und Untersuchungsebenen. Die Bereitschaft, auf allen drei Ebenen zu arbeiten, scheint im Falle Deutschlands besonders erforderlich, weil das Kaiserreich selbst, also der kleindeutsche Nationalstaat von 1866–71 fast gleichzeitig mit den Kräften der Globalisierung, der Vernetzung und des Imperialismus die historische Bühne betrat. Die Konsolidierung des neuen Nationalstaats, oder genauer: die fortdauernde Auseinandersetzung darüber, was für eine Art von Nationalstaat es denn sein sollte, trat zugleich mit den transnationalen Zusammenhängen auf, in denen das Kaiserreich in dieser Zeit stand. Die beiden Prozesse überschnitten sich. Während das Kaiserreich überall auf der Erde konsularische Vertretungen einrichtete, tauschten die deutschen Länder noch Gesandte aus. Während das Kaiserreich den Goldstandard übernahm und sich auf internationale Normen als Bedingungen für Handel und Wandel (Übereinkommen zu Post und Telegraphie, Patentrecht, Schiffsicherheitsabkommen) festlegte, war der neue deutsche Nationalstaat erst noch damit beschäftigt, eine landesweit ein329

heitliche deutsche Währung einzuführen und die verschiedenen Gesetzbücher zu kodifizieren. Probleme von Herrschaft und Verwaltung in den Kolonien müssen offenen Fragen zum Verhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen in Preußen-Deutschland gegenübergestellt werden, einem Staat, in dem paradoxerweise nur das neu annektierte Elsass-Lothringen als Reichsland direkt verwaltet wurde. Und wenn der Erwerb von Kolonien in den 1880er Jahren Diskussionen über deutsche Bürgerrechte auslöste – dann waren gleichzeitig auch die Polen, die im Kaiserreich lebten, Gegenstand solcher Auseinandersetzungen. Was die »Schwarzen« zu Hause anging, die katholische Minderheit, die von manchen Angehörigen des Evangelischen Bundes als biologisch andersartig und minderwertig bezeichnet (und deren städtische Wohngebiete »Neger­ dörfer« genannt) wurden, so beklagten sie sich im saarländischen Marpingen (und nicht nur dort) über die schlechte Behandlung durch preußische Soldaten, die sich benahmen »als wären sie in Feindesland«. Die Historiker sind sich nicht einig, inwieweit die Spaltungen und Disso­ nanzen im Bismarckschen und besonders im Wilhelminischen Kaiserreich überwunden wurden, oder auch zum Beispiel, inwieweit Reichstag und Reichsgerichtsrat echte »nationale« Legitimität genossen. Noch weniger sind sie sich darüber einig, wie man die fortdauernde Koexistenz von deutschen und anderen Identitäten während des ganzen Kaiserreichs bewerten sollte; deshalb dauert die Debatte über Regionalismus, Milieus, das katholische »Ghetto« und die »doppelte Identität« der Sozialdemokraten an. Aber allgemeine Übereinstimmung herrscht darüber, dass ein zumindest unausgeglichener, manchmal unbeständiger Prozess des inneren Aufbaus der Nation in Zeiten des zunehmenden globalen deutschen Engagements immer noch im Gang war. Den Zeitgenossen war das bewusst. So wie die bekannten Formen deutscher Expansion auch wieder ›zurückkehrten‹ – und zwar in der Form interner »Probleme« (Innere Kolonisation, Innere Mission), so wurden deutscher Welthandel und deutsche Weltpolitik von Befürwortern wie Kritikern gleichermaßen danach beurteilt, ob sie die Sache der Einheit in der Heimat zu fördern schienen oder nicht. Kurzum, der Topos der Hybridität mag eine Möglichkeit sein, durch eine transnationale Perspektive unsere Sicht auf das Kaiserreich zu bereichern, aber tatsächlich war das Kaiserreich innerhalb seiner Grenzen selbst bereits hybrid. Was schließt die transnationale Perspektive nicht ein? Schließt sie irgendetwas aus? Die Antwort scheint zu sein, dass sie alles einschließt außer den offiziellen Beziehungen zwischen Staaten, die das Monopol der internationalen Diplomatiegeschichte sind. Dementsprechend ist die Marokkokrise von 1905 nicht Teil der transnationalen Geschichte, obwohl die bemerkenswerte Neigung der deutschen Geographen, die Sahara kartographisch zu erfassen, es vielleicht ist. Aber der springende Punkt ist sicher, dass die internationale Geschichte selbst nicht mehr ist, was sie früher war. Ihre interessantesten Vertreter beschäftigen sich mit den demographischen, kulturellen und begrifflichen Dimensionen ihres Themas, sie befassen sich mit internationalen Organisationen wie mit den Beziehungen zwischen Regierungen. Selbst das Allerheiligste der Diplomatie330

geschichte, die »Große Politik der Kabinette«, wird von Veränderungen nicht ausgenommen. Der bekannte Notenaustausch wird heute wahrscheinlich eher auf die dahinter liegenden kulturellen und ethnischen Annahmen hin untersucht, oder darauf, was er über die Auswirkung neuer Technik, wie etwa des Telegraphen, auf die diplomatische Praxis aussagt. Sogar das antiquierteste aller historischen Themen, die gekrönten Häupter Europas vor dem Ersten Weltkrieg, ist abgestaubt worden und zu neuem Leben erweckt. Wir haben gelernt, was unsere mit Mittelalter und früher Neuzeit beschäftigten Kollegen längst gewusst haben, dass Dynastien ein wertvoller Gegenstand historischer Forschung sind, und zwar einer, der Staatsgrenzen ständig transzendiert. Überdies kann man in einem Zeitalter, in dem das einzig verbliebene Credo skeptischer Historiker das ist, dass alle Traditionen erfunden sind, kaum an der Tatsache vorbeisehen, dass Willy, Vicky und Nicky zu den führenden Erfindern der Zeit gehörten. Dass Kaiser Wilhelm II., als er das Heilige Land besuchte, sich da als christlicher Kreuzritter präsentierte, wirft ein Schlaglicht auf eine der Fragen (in diesem Fall über kulturelle Aneignung), die eine transnationale Perspektive stellen muss. Mit oder ohne die neuere internationale Geschichte  – die transnationale Perspektive ist umfassend genug. Sie schließt  – auf der einen Achse  – so unterschiedliche Themen wie Handel, Reisen, Migration, Kolonisierung, Forschungsreisen, kulturellen Austausch und den großen aber nicht genau umrissenen Bereich der mental maps ein – das Ausland im Kopf. Auf einer anderen Achse erstreckt sie sich geographisch über Europa und um den Erdball, wobei die ökonomischen, demographischen und kulturellen Strömungen aus und nach Deutschland offenbar nicht gleichmäßig über die Erde verteilt waren. Ich möchte mich zunächst zu einer Reihe thematischer Bereiche äußern: Handel, Bevölkerungsbewegungen, Umwelt und Kulturaustausch, und dann am Schluss mich der zweiten, geographischen Achse zuwenden. Dieser Essay beansprucht dabei nicht mehr zu sein als eine Skizze.

Handel und die Welt der Waren Die Veränderung der Rolle Deutschlands im Welthandel ist in groben Umrissen bekannt. Der Wert der deutschen Importe und Exporte wuchs in der Zeit von 1880 bis 1913 auf das Dreieinhalb- bis Vierfache. Die deutsche Handelsflotte hatte 1880 weniger Tonnage als die spanische; dreißig Jahre später war sie viermal so groß wie die amerikanische. 1914 wurde der Handelswert der im Hafen von Hamburg umgeschlagenen Waren nur von dem in New York und Amsterdam übertroffen. Hapag und Norddeutscher Lloyd waren weltweit präsent, unterstützt von einem globalen Netzwerk deutscher Schiffsmakler und Bunker­ stationen, und deutsche Banken hatten Niederlassungen von Westeuropa und dem Balkan bis nach Südamerika und dem Fernen Osten. 331

Die Geschwindigkeit und die Ungleichmäßigkeit dieser Verwandlung hatten Auswirkungen auf das Kaiserreich, die sich nicht auf die wirtschaftliche Dimension beschränkten. Das deutsche Eindringen in den Weltmarkt nährte einen protzigen Stolz auf die ökonomische Leistung, der noch gestärkt wurde, als britische Kommentatoren besorgt die industrielle Herausforderung durch Deutschland erörterten (z. B. E. E. Williams’ Made in Germany). Umgekehrt verriet der deutsche Vorwurf britischen Handelsneids eine Ansicht vom ökonomischen Wettbewerb, die von sozialdarwinistischen Kategorien geprägt war: England war »alt«, eine Macht im »Niedergang«, ein schwerfälliger »Rentnerstaat« (Otto Hinze); Deutschland dagegen war ein »junger«, »vitaler« Neuling. Zugleich verschärfte die Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Globalisierung im Kaiserreich die sozioökonomischen Bruchstellen innerhalb Deutschlands. Der Übergang vom Agrarland zum Industriestaat, das inländische Gegenstück zur neuen Verflechtung Deutschlands mit den Weltmärkten, rief Diskussionen zwischen Land und Stadt, zwischen Befürwortern des Freihandels und Protektionisten hervor. Vor allem nach den 1890er Jahren, als das Geschäft der Politik zunehmend den Geschäften galt (1914 machten ökonomische Fragen bis zu neunzig Prozent der Tätigkeit des Reichstags aus), als wirtschaftliche Interessengruppen Einfluss auf politische Parteien und auf Entscheidungsprozesse zu nehmen begannen, als gar die Geschäftssprache das politische Leben zu färben begann (politische Makler, politischer Massenmarkt), wurden einige der heftigsten Auseinandersetzungen über Deutschlands Zukunft anhand der Fragen von Handelsverträgen und Zolltarifen geführt. Und wenn wir uns die Ur­sachen und die Schlagwörter ansehen, die die sozialpolitische Debatte im Wilhelminischen Deutschland mit Leben füllten  – Protektionismus, Doppelwährung, Mittelstandspolitik, die Kriegsflotte, Finanzreform, Schutz der nationalen Arbeit, der Ruf nach billigen Nahrungsmitteln – so bezogen sie sich ausnahmslos auf konkurrierende Vorstellungen von dem Platz der Deutschen in der Weltwirtschaft. Wie diese Fragen in die innenpolitische Diskussion traten, ist anhand der politischen Parteien und Verbände (die Alphabetsuppe aus BdI, CVdI, RDMV, HB) verfolgt und erforscht worden. Die Wirkung der Zyklen des Welthandels ist auch chronologisch aufgeschlüsselt worden, vor allem von den vielen Wissenschaftlern, die sich Hans Rosenbergs Ansichten über die Bedeutung der »Großen Depression« von 1873–1896 für die Umgestaltung der deutschen Politik angeschlossen oder sie kritisiert haben. Aber es gibt eine weitere, viel weniger verbreitete Art, die Wirkung von Deutschlands wachsender Verknüpfung mit dem Welthandel zu untersuchen, die zugleich die transnationale und nicht nur die interne Dimension der Verflechtung deutlich macht. Das hat etwa Sven Beckert getan, der sich auf die Geschichte einer einzigen Ware konzentriert. Die Geschichte international gehandelter Waren ist ein Terrain, das unsere mit der Geschichte des Altertums, des Mittelalters und besonders der frühen Neuzeit befassten Kollegen längst beackert haben. Es scheint manchmal, als gäbe es keine Ware in der vorneuzeitlichen Welt, die nicht ihren eigenen Histo­ riker gefunden hätte: Pfeffer, Gewürze, Seide, Bernstein, Tee, Kaffee, Zucker, 332

sogar bescheidene Dinge wie Holz oder Kabeljau. Nicht zu vergessen die wesentlichste Ware des frühneuzeitlichen »Weltsystems«, Sklaven. Warum Neuzeithistoriker diesem Beispiel nicht gefolgt sind, ist eine interessante Frage. Etwa weil die Beschäftigung mit einer einzigen Ware im Industriezeitalter als irgendwie trivial empfunden wurde? Oder weil schon der bloße Umfang des Materials entmutigt? Oder weil verschiedene Zeiträume mit jeweils eigenen historiographischen Herangehensweisen verknüpft sind und die Unterschiede ihre eigene Dynamik gewinnen, so dass die Geschichte des Handels (wie die Geschichte des Verbrechens oder der Volksreligion) für die frühe Neuzeit in einem eher »qualitativen« Stil, die für das Industriezeitalter in einem eher »quantita­ tiven« Stil abzufassen wäre? Was immer der Grund ist, die Geschichte der Waren bietet viele Möglich­ keiten. Zunächst einmal könnte sie, ganz pragmatisch, ein Mittel sein, die zentrale Stellung der Wirtschaftsgeschichte wiederherzustellen. Denn der Lack ist ab bei der Wirtschaftsgeschichte, verglichen mit den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Das Feld ist geräumt worden – in der einen Richtung von denen, die die vorgeblich wissenschaftlicheren Gewissheiten der Ökonometrie suchten, und in der anderen Richtung durch Wissenschaftler, die sich der Sozial- und Kulturgeschichte zugewandt haben. Die Hinwendung zum Handel mit einer einzelnen Ware ist eine Möglichkeit, das Interesse wieder auf das Thema zu lenken, denn sie verbindet (im positiven Fall) das Quantitative mit dem Qualitativen, das Materielle mit dem Kulturellen, das Lokale mit dem Globalen. Die Geschichte einer Ware ist die Mikrogeschichte des Wirtschaftshistorikers. Wenn man den genauen Umständen der Herstellung und Produktion, den Stadien des Transports und des Vertriebs bis zum Verzehr oder Verbrauch nachgeht, so gestattet ihm das die Erfassung historischer Verbindungen über den Raum hinweg. Das hat – um einen berühmten Fall zu nennen – Sidney Mintz mit seiner Geschichte des Zuckers erreicht, und das darf man auch von Sven Beckerts Arbeit über die Baumwolle erwarten. Sollte man nicht diese Geschichten, die gewissermaßen die Biographie einer Ware erzählen, erweitern? »Kolonialwaren« wären da eine Möglichkeit: Kakao, Bananen, Reis. Eine solche Geschichte würde die Realitäten des (formellen und informellen) Imperialismus, der vor Ort Monokultur-Wirtschaften schuf und das Leben unterworfener Völker veränderte, mit anderen Zusammenhängen verbinden. Dazu zählte (jedenfalls in manchen Fällen) die Bedeutung angewandter botanischer Kenntnisse, die Rolle der Handelshäuser und Reedereien, die Ökonomie des Überseetransports, das hypertrophe Wachstum deutscher Hafenanlagen im späten 19. Jahrhundert, Veränderungen im Einzelhandel, die Werbung, allgemeine Konsumstrukturen im Kaiserreich und nicht zuletzt die Geschichte des »Exotischen«. Tabak ist auch so eine Ware, deren Geschichte im Kaiserreich zu betrachten sich lohnen würde, vielleicht auch Elfenbein (ohne Elfenbein kein Billard um halb zehn). Tabak, Kakao und Bananen waren keine Massengüter für deutsche Konsu­ menten, und Reis ebenso wenig – nicht einmal dann, als die großen Brauereien 333

Reis in der Bierherstellung verwendeten, eine Provokation für die hart kämpfenden kleinen Brauereien und die Mittelstandsbewegung. Importiertes Getreide und Fleisch dagegen waren Massenwaren. Um 1900 war die Energieabhängigkeit des zunehmend industrialisierten, urbanisierten Kaiserreichs von der nichteuropäischen Welt genau so groß wie später die Energieabhängigkeit der Bundesrepublik, nur dass es bei der Energie damals nicht um Öl ging, sondern um die Kalorienzufuhr, die den Brennstoff für die Körper der deutschen Arbeiter lieferte. (Zeitgenössische agrarisch-konservative Intellektuelle wiesen schon darauf hin, wenn auch in anderen Worten.) Vor 60 Jahren hat ­A lexander­ Gerschenkron in Bread and Democracy in Germany die These vertreten, dass die liberale Demokratie habe gedeihen können, wo ausreichend Weizenbrot zur Verfügung gestanden habe, während Roggenbrotgebiete mit autoritären Regierungssystemen einhergingen. Diese brillante Polemik über die Gefahren der Macht der Junker und den Zollprotektionismus muss zwar revidiert werden. Unter anderem weil der Ruf von Weizen und Roggen sich im Lauf der letzten sechzig Jahre umgekehrt hat. Aber wie könnte man Gerschenkron besser auf den neuesten Stand bringen, als wenn man die Geschichte des Getreides aus den nordamerikanischen Prärien schriebe, wie es über die Chicagoer Ausfuhr­ stelle nach Deutschland verschifft wurde, in den riesigen neuen Mühlen verarbeitet wurde, die in binnenländischen Hafenstädten wie Mannheim entstanden, und schließlich in Läden (oder Konsumgenossenschaften) verkauft wurde als Teil der zunehmend industrialisierten Nahrungsmittelproduktion des Kaiserreichs. Die Veränderung der Prärien (manchmal auch durch eingewanderte deutsche Bauern), niedrige Schiffsfrachtkosten, neue Technik, industrielle Konzentration und die Nahrungsmittelpolitik – es ist alles da. Wenn wir uns mit den Rückwirkungen des deutschen Welthandels auf das Kaiserreich und seine Bewohner befassen, ist kaum ein Thema vorstellbar, das grundlegender wäre als der Verzehr von Brot, das 8.000 Kilometer entfernt entstanden ist.

Menschen in Bewegung Während Reis, Tabak und Getreide über Bremen und Hamburg nach Deutschland importiert wurden, zählten Menschen zu den Hauptgütern beim »Export«. Die Deutschen spielten eine erhebliche Rolle in den großen transatlantischen Völkerwanderungen des 19. Jahrhunderts, die durch die dramatische Senkung der Kosten für die Überfahrt möglich wurden. Rund 4,5 Millionen Deutsche verließen von den 1840er Jahren bis 1914 ihre Heimat, vier Millionen von ihnen gingen in die USA (Brasilien kam mit großem Abstand an zweiter Stelle mit 86.000.) Die transatlantische Emigration verlief in drei großen Wellen, entsprechend den deutschen wirtschaftlichen Zyklen, 1846–1857, 1­ 864–1873 und ­1880–1893. Danach versiegte der Strom und wurde zum Rinnsal. Der erste deutsche Beitrag zur »Besiedlung« Amerikas traf also mit den skandinavischen 334

und irischen Einwandererwellen zusammen, während die spätere deutsche Immigration (überwiegend aus dem Osten und Nordosten, weniger aus dem Westen und Südwesten) sich mit der Ankunft von Osteuropäern und Italienern überschnitt. Die zeitliche Abfolge war bei der Festlegung der Umrisse der deutschen Diaspora in den USA von Bedeutung. Die frühen Einwanderer waren eher Kleinbauern, und sie neigten dazu, solide deutsche bäuerliche Gemeinden aufzubauen, vor allem im Mittleren Westen. Spätere Einwanderer mit ihrem höheren Anteil an Landarbeitern, Heimarbeitern oder Fabrikarbeitern gingen in größerer Zahl in die wachsenden amerikanischen Großstädte: die Industriegebiete von Pennsylvania und Ohio, Chicago und das »deutsche Dreieck« zwischen Milwaukee, Cincinnati und St. Louis. Selbst in den Städten entstanden deutsche Viertel mit eigenen Zeitungen, Gesangvereinen, Turnvereinen, Theatern, philanthropischen Gesellschaften und Biergärten. Das ganze war mehr eine Verpflanzung als eine Entwurzelung, mit bewusster Pflege der deutschen Identität. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts verloren die ethnischen Netzwerke von Little Germany an Stabilität. Welche Rückwirkungen hatte diese Diaspora? Institutionell entwickelte sich ein Markt, der diesen »Menschen-Verkehr« anzog und abwickelte, betrieben von Auswanderungsagenturen und Vertretern der Reedereien. Als die Zahl der Auswanderer wuchs, gründeten Regierungen und Kirchen Organisationen zu ihrer Unterstützung. Der protestantische Gustav-Adolf-Verein und der katholische Raphaels-Verein, ursprünglich bestimmt, um ihre jeweiligen DiasporaGemeinden zu hegen, trugen zu dem allgemeinen Prozess der Rekonfessiona­ lisierung in Deutschland im 19.  Jahrhundert bei. Die Geistlichen waren oft Quelle der Information auf örtlicher Ebene für angehende Emigranten, eine Mahnung für Historiker, sowohl die fortdauernde Bedeutung der religiösen Identität im Blick zu behalten als auch die Tatsache, dass eine Emigration nicht einfach nur eine anonyme, undifferenzierte Angelegenheit war. Die Emigranten blieben durch Informationen über verwandtschaftliche oder dörfliche Netzwerke mit denen verbunden, die zurückgeblieben waren. Eine kleine Anzahl kehrte zurück. Sehr viele mehr schickten Auswandererbriefe, Geld und vorausbezahlte Schiffspassagen an Verwandte zu Hause und hielten damit die Struktur der Kettenwanderung über Generationen aufrecht. Ihre Briefe stellten eine persönliche oder familiäre Version der amerikanischen Erfahrungen dar, sie ergänzten die Anzeigen von Auswanderungsagenten und populären Berichte wie Friedrich Gerstäckers Nach Amerika! Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass ein Gefühl von Heimweh, von dem, was der Auswanderer verloren hatte, auch ein Teil der amerikanischen Erfahrung war, der nach Deutschland zurück übermittelt wurde. Wir wissen, dass dies zu einer »kultivierten Ethnizität« unter Deutschamerikanern beigetragen hat. Weniger klar ist, welche Wirkung die Briefe der Emigranten auf das Heimatgefühl derjenigen hatte, die die Heimat nicht verlassen hatten. Eine Vorstellung von Amerika setzte sich jedenfalls während des 19.  Jahrhunderts in den deutschen Köpfen fest. Das aufblühende saarländische Kohle­ 335

revier wurde »Schwarzes Kalifornien« genannt, die Stadt Wilhelmshaven, in den zehn Jahren nach 1859 aus dem Boden gestampft, wurde mit einer »Goldgräberstadt« oder mit »Klein-Amerika« verglichen und behielt den Ruf eines Schmelztiegels bis ins 20.  Jahrhundert. Diese Vorstellung von Amerika als einem rauen, aber weit offenen und vitalen Land der Möglichkeiten hatte sich überwiegend bereits entwickelt, als das Kaiserreich entstand. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, Ludwig Max Goldbergers berühmtes Buch über die USA, erschien 1903. Inzwischen waren es jedoch nicht mehr die direkt berichteten Erfahrungen von Einwanderern, die das imaginierte Amerika schufen, sondern Hunderte von deutschen Reiseerzählungen (Ein Besuch bei Uncle Sam, Amerikanische Eindrücke), die auf die gebildete lesende Öffentlichkeit zielten, zusammen mit Westernromanen, die in großen Auflagen billig gedruckt und verkauft wurden und in Leihbüchereien ständig gefragt waren. Diese Genres brachten Amerika auf andere Weise heim ins Kaiserreich; sie boten eine Reihe von Spiegeln (oder Zerrspiegeln), in denen die Deutschen ihre eigene Gesellschaft betrachten konnten. Die transatlantische Emigration stellte, solange sie anhielt, die deutsche Migration innerhalb Europas in den Schatten. Diese wiederum hatte schon eine lange Geschichte, vor allem deutsche Siedlungen in Osteuropa während des späten Mittelalters und die organisierte Kolonisierung des 17. und 18. Jahrhunderts in Südosteuropa unter der Schirmherrschaft Habsburgs. Die deutsche Besiedlung in Südrussland hielt bis ins 19. Jahrhundert an. Im Zuge der Industriali­ sierung entstand jedoch ein neues Muster, als Deutsche als Emigranten oder Teilzeitemigranten nach Westen zogen in die wirtschaftlich weiter entwickelten Nachbarländer: die Niederlande, Belgien, Frankreich. 20.000 Hollandgänger gab es im frühen 19. Jahrhundert, und um 1850 lebten bis zu 100.000 Deutsche in Paris und machten damit die französische Hauptstadt zur sechstgrößten »deutschen« Stadt jener Zeit. Aber die Rückkehr der Hessen und Pfälzer aus Frankreich in den achtziger Jahren symbolisierte dann die große Verschiebung in der Migrations-Struktur des Kaiserreichs. In eben den Jahren, in denen die deutsche Auswanderung über den Atlantik nachließ, wurde Deutschland selbst innerhalb Europas zum Einwanderungs- statt Auswanderungsland. Statt deutschen Fehntjer, die nach Groningen gingen, kamen nun holländische Fehntjer nach Ostfriesland und Oldenburg, und noch viel mehr holländische Preußengänger arbeiteten in der Industrie im Ruhrgebiet. Italienische Bauarbeiter und Maurer veränderten um die Jahrhundertwende das Bild der deutschen Landschaft, indem sie die eleganten gemauerten Talsperren errichteten, die Otto Intze entworfen hatte. Symbole der deutschen Modernität wie die Möhnetalsperre wurden von Männern (und es waren alles Männer) aus dem Veneto und Friaul errichtet. Vor allem aber kamen Polen und Ruthenen über die Grenzen aus dem Habsburger Reich und Kongresspolen, um als Landarbeiter in Deutschland zu arbeiten. 1914 hatte das eingewanderte Arbeitskräftepotential in Deutschland 1,25 Millionen erreicht, und in seiner Abhängigkeit von ausländischen Arbeitskräften 336

stand das Kaiserreich an zweiter Stelle hinter den USA. Man wüsste gerne mehr über die grenzüberschreitenden Gastarbeiter im Westen, die weniger genau erforscht sind als ihre Entsprechungen im Osten. Schließlich gab es vor dem Krieg fast eine Viertelmillion holländischer und italienischer Gastarbeiter in Deutschland. Es gibt jedoch gute Gründe, weshalb die polnischen Immigranten im Osten mehr Beachtung fanden. Seit den Schriften von Max Weber aus der Mitte der neunziger Jahre hat ihre Anwesenheit größere Auseinandersetzungen über den Charakter des Kaiserreichs geschürt. Für sozialliberale Historiker, die sich an Max Weber orientierten (aber sich von seinen unschönen Bemerkungen über das »niedrige Kulturniveau« der polnischen Arbeiter distanzierten), war der menschenverachtende Import von Landarbeitern nach Ostelbien ein Schlüssel für zentrale Konflikte innerhalb des Kaiserreichs: Preußen kontra Deutschland, Landwirtschaft kontra Industrie, Junker kontra Bürgertum. Und ganz zweifelsohne war der Erhalt dieser Quelle billiger Arbeitskräfte von existentieller Bedeutung für viele Gutsbesitzer. Die landwirtschaftliche Produktion im Osten beruhte ebenso stark auf ausländischen Arbeitern, wie die deutschen Industriearbeiter in den Städten von den Produkten der ausländischen Landwirtschaft abhingen. Diese grenzüberschreitende Massenbewegung erklärt noch zwei weitere entscheidende Trends im Kaiserreich. Der eine war die zunehmende staatliche Regle­mentierung und Überwachung. Dass Polen und Ruthenen als Saisonarbeiter zugelassen wurden, nachdem die kurzlebige Politik der Vertreibungen von 1885 aufgegeben worden war, war abgesichert durch eine ganze Reihe von Bedingungen (Legitimationszwang, Rückkehrzwang) und Institutionen (Preu­ ßische Feldarbeiterzentrale, Grenzkontrollen und ärztliche Untersuchungen), die diese Tendenz deutlich zeigen. Die Kontrolle der einwandernden Arbeiter war besonders scharf im Osten, genau wie die umständlichen Prozeduren, mit denen »Ostjuden« und Polen, die deutschen Boden auf dem Weg in die Neue Welt durchquerten, daran gehindert werden sollten, im Kaiserreich zu bleiben. Zugleich wurde jedoch die deutsche Strategie, Fremde auszuweisen, die notleidend waren oder als »bedenklich« oder als »Bedrohung der Ordnung« angesehen wurden, auch im Westen durch eine Reihe von Übereinkünften mit benachbarten Ländern in den Jahren 1890–1906 straffer gehandhabt. In beiden Fällen ging es um Staatsgrenzen, die zunehmende Bedeutung erlangten, weil der Staat mehr von seinen Bürgern forderte (Wehrpflicht) und ihnen auch mehr bot (Sozialhilfe). Aber wer waren die Bürger dieses Nationalstaats? Das ist die zweite wichtige Frage, die die Historiker zunehmend beschäftigt hat, ein Problem mit offensicht­ lich zeitgenössischer Relevanz. Ein ethnisch-deutscher Nationalismus spielte im Kaiserreich eine immer größere Rolle. Besorgnis und Ressentiment über »die slawische Flut« war nur eine seiner Manifestationen. Nicht nur die Alldeutschen betrachteten die deutschen Emigranten in die USA als für die Nation »verloren« und befürworteten deutsche Kolonien als Ziele der Auswanderung. Dabei gehörten dem größten Kontingent deutscher Kolonisten, dem in Südwestafrika, 337

gerade einmal 12.000 Menschen an. Die wachsende Zahl von Nichtdeutschen innerhalb der Grenzen des Kaiserreichs, verbunden mit der wachsenden Zahl von Deutschen außerhalb seiner Grenzen, nährte den Nationalismus: Es war ein Prozess von Einschluss durch Ausschluss. Das Reichs- und Staatszugehörigkeitsgesetz von 1913, beruhend auf dem berüchtigten Prinzip des Ius sanguinis, war die juristische Verkörperung dieser Tendenz. Die Menschen, die nach Deutschland hinein oder aus Deutschland hinaus zogen, wurden Teil einer zeitgenössischen Diskussion, die am Begriff des »Volkskörpers« ausgerichtet war. Hier dient die transnationale Perspektive vor allem dazu, die Richtung zu verdeutlichen, die die jüngste Forschung zum Kaiserreich bereits eingeschlagen hat. Vor allem die Immigration ist ein Ort, an dem beliebte Topoi der neuen Forschung – der reglementierende Staat, Kontrolle und Überwachung, Hygiene, Staatsbürgerschaft – sich schneiden.

Die Umwelt Hygiene war immer eine gute Entschuldigung für die Überwachung der deutschen Grenzen, auch wenn der eigentliche Grund in der Abneigung gegen ausländische Einwanderer bestand. Ebenso dienten tierärztliche Kontrollen importierter Fleischwaren landwirtschaftlich-protektionistischen Zwecken. Aber mit den umfangreichen Verschiebungen von Menschen breiteten sich Krankheiten aus, genauso wie der globale Handelsverkehr mit Menschen und Gütern gefährliche blinde Passagiere beförderte: Krankheitserreger, die bei Tieren, Fischen, Bäumen und anderen Pflanzen in den Ländern, in die sie vordrangen, verheerende Schäden anrichten konnten. Am schnellsten bemerkte man sie, wenn sie, wie die Maul- und Klauenseuche, die Landwirtschaft direkt bedrohten. Ein noch dramatischeres Beispiel bot Phylloxera im frühen Kaiserreich. Adolf­ Wermuth, der Beamte, der die Aufgabe hatte, darauf zu reagieren, schrieb später mit ironischer Distanz über seine Pflichten: »(Denn) ich stritt nicht nur gegen die rebentötende Phylloxera, der Vernichtungskrieg galt allem, was den Kulturgewächsen schadet. Ich jagte, soweit die Zuständigkeit des Reichs es gestattete, auf den Feind der Kartoffel, den Coloradokäfer, auf die Blattlaus, die Blutlaus, den Borkenkäfer, die Nonne und andere, deren Namen ich glücklicherweise vergessen habe.« Das Wort Vernichtungskrieg, in früheren Jahrhunderten im Allgemeinen auf Wölfe und Luchse angewendet, stimmt nachdenklich. Zumindest einige von Wermuths Zeitgenossen zogen zufrieden den Vergleich zwischen Insekten und menschlicher Bedrohung des neuen deutschen Nationalstaats, wie der übergeschnappte Kulturkämpfer, der gegen die Jesuiten einen ebenso heftigen Kampf forderte wie gegen »Rebläuse, Coloradokäfer und andere Reichsfeinde«. Schiffe brachten diese Insekten mit der Ladung nach Deutschland, genauso wie sie am Rumpf und in Ballasttanks invasive Wasserorganismen mitbrachten. Sie gehörten zu den ungewollten Folgen verstärkter globaler Verflechtung, 338

und sie hatten erhebliche Auswirkungen auf die einheimische Flora und Fauna. Ungewollte Folgen hatte es in anderer Weise auch, wenn fremdländische Arten absichtlich eingeführt wurden, zum Zwecke wissenschaftlicher Forschung oder als Trophäen für botanische Gärten, die dann entkamen und sich einnisteten. Sehr große Schäden richtete zum Beispiel die Kanadische Wasserpest an, die sich vom Berliner Botanischen Garten ausbreitete und in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Wasserwege in ganz Norddeutschland zu verstopfen begann. Auch ohne invasive biologische Spezies aus Übersee wäre jede Darstellung der deutschen Flusssysteme im Kaiserreich ungenau, wenn sie die transnationale Dimension ausließe. Während jene Flüsse und Flusstäler zunehmend als Elemente einer »deutschen« Landschaft gefeiert wurden (und das betraf nicht nur den Rhein), wurde gleichzeitig immer deutlicher, dass sie in Wirklichkeit international waren. Rhein, Donau, Oder und Weichsel kreuzten nationale Grenzen, ebenso bescheidenere Flussläufe wie die Mosel. Die positive Seite der Veränderungen im 19. Jahrhundert war die Schaffung eines transnationalen Verkehrsnetzes durch Kanalbau, Flussregulierungen und den Triumph des Dampfschiffs. Die dunklere Seite war die Wirkung, die am fernen Oberlauf eines Stroms oder in seinem Einzugsgebiet unternommene Maßnahmen auf flussabwärts liegende Regionen hatten. Entwaldung in einem Land konnte zu Überschwemmungen in einem anderen führen. Flussbegradigungen, mit denen Mäander abgeschnitten und die Strömungsgeschwindigkeit des Wassers erhöht wurden, hatten oft stromabwärts die gleiche Auswirkung. Die auf dem Wasserweg übertragenen Verunreinigungen sind und waren die bekanntesten, aber nicht unbedingt die schädlichsten dieser ungewollten Folgen, die noch Hunderte von Kilometern stromabwärts spürbar waren. Maßnahmen, die die Fließgeschwindigkeit, die Temperatur oder die Wasserqualität eines Flusses veränderten, wirkten sich über nationale Grenzen hinweg auf Fische und andere Organismen aus. Das bekannteste Beispiel ist der Rhein: Jede mögliche Umweltfolge des Versuchs, einen Strom in eine »organische Maschine« zu verwandeln, wurde hier sichtbar, denn er war der am besten erforschte Fluss, und sein Schicksal betraf die Schweiz, Frankreich, Deutschland und die Niederlande zugleich. Die frühesten, wenn auch erfolglosen paneuropäische Bemühungen, den Lachs zu retten, gehen auf diese Zeit zurück.

Kultureller Transfer, kultureller Austausch, kulturelle Einflüsse Der deutsche Export von Fachwissen und kulturellen Vorbildern verlief parallel zum Export von Turbinen und Operationsbestecken. Tatsächlich wurden bei den Weltausstellungen jener Zeit beide gezeigt. Deutsche Ingenieure arbeiteten an großen internationalen Projekten wie der Gotthardbahn und der Bagdadbahn, deutsche Architekten richteten Büros in aller Welt ein, etwa die Filiale 339

von Ende & Böckmann in Japan, wo der junge Hermann Muthesius in den späten achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts sein Handwerk erlernte. Die Wissensbereiche, in denen Deutsche als Fachleute international gefragt waren, reichten von der Medizin und der Forstwirtschaft bis zur Kriegskunst. Ausländer studierten in Deutschland, Deutsche gingen als Berater ins Ausland. Zwei Gebiete verdienen besondere Beachtung: die Universität und die Musik. In beiden Fällen reichte das deutsche Ansehen auf die Zeit vor 1871 zurück. Die Universitäten hatten schon lange ausländische Studenten angezogen, sie wurden angelockt durch die deutsche Vormachtstellung auf Gebieten, die von der Biologie und Chemie bis zur Philologie und – natürlich – der Geschichte reichten (man denke an Bismarcks Freund aus Studientagen, den Amerikaner John Motley). In Manchester, der Hauptstadt der englischen industriellen Revolution, waren sowohl die reiche Chorkultur als auch das Hallé-Orchester made in Germany. Das späte 19. Jahrhundert war aber auch die Zeit, in der Institutionen aus Deutschland vielfach als Modell übernommen wurden, nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten, wo etwa die Erneuerung der Harvard University, die Gründung der Johns Hopkins University sowie die Schaffung großer neuer Symphonieorchester als bewusste Nachahmungen deutscher Vorbilder und mit Unterstützung von Deutschen entstanden. Diese Form von kulturellem Transfer in andere westliche Länder muss ausdrücklich betont werden. Denn zeitgenössische Deutsche hielten es für selbstverständlich, dass ihre Historiker, Ingenieure, Ärzte, Forstwirte (und schließlich auch: Missionare)  eine »überlegene« Kultur und überlegenes Fachwissen besaßen, das man den Kolonien und anderen nichteuropäischen und »rückständigen« Teilen der Welt wohltätig zuwenden konnte. Mit solchen Ansichten unterschieden sich die Deutschen kaum von ihren britischen, französischen oder belgischen Kollegen. Aber die Annahme, Deutschland könne Vorbilder für Institutionen anderer »Kulturländer« liefern, war sicher noch mehr als andernorts eine entscheidende Quelle des Stolzes auf die deutsche »Kultur« – ein Begriff, der in der Wilhelminischen Ära so mit Bedeutung überfrachtet war, dass er unter der Last zusammenzubrechen drohte. Der kulturelle Einfluss war keine Einbahnstraße, aber der Verkehr in der Gegenrichtung ist schwerer zu identifizieren oder zu definieren. Nehmen wir zum Beispiel die britischen Einflüsse auf Deutschland. In dieser Zeit gehörte sicher die begeisterte Übernahme des Darwinismus dazu, einschließlich der Arbeiten von Postdarwinisten wie Francis Galton über Kriminalität und soziale Kontrolle, die Gartenstadtbewegung, die Wohnhausarchitektur, wie sie der reife Muthesius und andere übernahmen, sowie die Ausbreitung von typisch englischen Sportarten wie Fußball, Rugby und Pferderennen. Es ist eine bunte Mischung, die man kaum direkt mit dem Einfluss der »deutschen Universität« oder der »Deutschen Geschichtswissenschaft« vergleichen kann. Was in jedem Falle auffällt, ist die Gründlichkeit der deutschen Übernahme englischer Vorbilder, ähnlich wie eine frühere Generation von Deutschen Shakespeare als den ihren vereinnahmt hatte. Darüber hinaus fällt auf, wie diese Anleihen zu der 340

eigenartig eklektischen, hybriden Modernität des späten Kaiserreichs beitrugen. Das Panorama ließe sich zu einer beträchtlichen Reihe von Kultureinflüssen erweitern, die nachweisbar in Deutschland wirksam wurden, von der Hochkultur (französische Malerei, skandinavische Literatur) bis zu Vorbildern für Naturschutzgebiete, städtische Bodenreform und modernistische Großstadtarchitektur, die überwiegend aus den USA kamen. Wenn man den Kulturbegriff weiter fasst, so dass er Moden und Methoden einschließt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts en vogue waren, müsste man etwa den Tolstoi-Kult erwähnen, die Welle der Schwärmerei für den Buddhismus und das Wachsen der Theosophie und anderer Arten von okkulten Bewegungen, die besonders von den USA und Russland (Madame Blavatsky!) beeinflusst waren. Natürlich würde niemand leugnen, dass einige dieser Phänomene, wie die zeitgenössische Begeisterung für den Japonismus und andere Formen der Hinwendung zum »Exotischen«, ihre Entsprechung anderswo in Europa hatten. Ich würde auch nicht unbedingt behaupten wollen, dass es in dieser oder irgendeiner anderen Hinsicht einen deutschen Sonderweg gegeben hätte. Aber man kann kaum anders als beeindruckt sein vom Wilhelminischen Deutschland als einem Schnittpunkt des kulturellen Verkehrs. Wenn Paris die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts war, so könnte man die neue Megalopolis Berlin als Hauptstadt einer neuen Art von nervösem Experiment mit der Kultur der Moderne um die Jahrhundertwende sehen (wozu auch ihre Antithese, die Antimodernität gehört). In noch einer weiteren Beziehung stand Deutschland im späten 19. und frühen 20.  Jahrhundert im Zentrum eines globalen Netzes. Ich meine nicht die ständig zunehmenden internationalen Organisationen (die meist in neutralen Ländern wie Belgien oder der Schweiz ihren Sitz hatten), noch auch die wachsende Zahl von internationalen Konferenzen und Kongressen zu gelehrten, wissenschaftlichen oder fachlichen Angelegenheiten (für die Deutschland kein besonders beliebter Tagungsort war), sondern die Reise- und Freizeitkultur der Jahre vor 1914. Wiesbaden, Bad Ems, Baden-Baden: Hier versammelten sich jeden Sommer die gekrönten Häupter Europas, die Ehren-Westbürger wie der Aga Khan und der Kaiser von Brasilien, die Aristokratie, die obere Mittelschicht und die Prominenz aus dem Kulturleben. Sie pflegten eine besondere Art der grenzüberschreitenden saisonalen Migration, befasst nicht mit dem Verdienen sondern mit dem Ausgeben von Geld. Während in den meisten der 300 Kurorte Deutschlands die Gäste aus dem deutschen Bürgertum stammten, waren ein paar Treffpunkte im Kaiserreich (und der Habsburger Monarchie) beliebter Tummelplatz einer wirklich internationalen Klientel. Dort konnte man  – mit den Worten von Sir Horace Rumbold  – »das Plappern von tausend Zungen in einem Dutzend verschiedener Sprachen« hören. Die Jahre vor dem Krieg waren das goldene Zeitalter der großen Badeorte. Sie waren die Schauplätze, an denen eine Reihe von starken Kräften zusammentraf: Der »Reisekapitalismus« (J. Böröcz), die Suche nach einem Heilmittel gegen die »Nervosität« der Zeit, gesellschaftliches Streben und der demonstrative Konsum einer internationalen begüterten Klasse. Mehr als Cowes auf der Insel Wight oder Newport auf 341

Rhode Island, mehr sogar als die Französische Riviera verkörperten die Modebäder des Kaiserreichs eine Kultur, die international und hybrid war. Pagoden und Palmen standen neben neoklassischen öffentlichen Gebäuden. Tennis und Golf waren englisch, die Croupiers waren Franzosen, die Tenöre Italiener und die Femmes fatales kamen aus Russland.

Deutsche Räume Wenn wir an den Rückwirkungen der deutschen Expansion auf das Kaiserreich interessiert sind, gibt es gute Gründe dafür, mit den Kolonien zu be­ginnen. Diese haben in der letzten Zeit neues Interesse geweckt, und sie sind im Gegensatz zu anderen Gebieten, auf denen die Deutschen mit dem globalen Netz verbunden waren – Handel, Migration, Kultur – ein direktes Produkt des Kaiserreichs. Die deutschen Kolonien waren in ihrem Beitrag zum deutschen Handel oder als Siedlungsgebiete statistisch unbedeutend, aber in anderer Hinsicht könnte ihre Bedeutung größer sein, als die Historiker einst angenommen haben. Es gibt zum Beispiel keinen Zweifel, dass der Kolonialismus kulturell und intellektuell Auswirkungen auf so unterschiedliche akademische Disziplinen wie Ethnologie, Geographie, Tropenmedizin und Meeresbiologie hatte, gar nicht zu erwähnen die Pseudowissenschaften Eugenik und Rassenkunde. Letztere erinnern daran, dass die Ansicht, Kolonialvölker böten eine Möglichkeit, frühere Phasen in der Entwicklung der Menschheit zu sehen, quer durch eine Reihe von akademischen Fachgebieten (einschließlich der Geschichte) von großer Wirkung war, wenn auch nicht unbedingt einer positiven. Doch die Existenz der Kolonien spielte andererseits auch eine Rolle dabei, dass Leo Frobenius seine frühen Beiträge zur Negritude leistete oder dass Carl Einstein sein bahnbrechendes Buch Negerplastik verfasste. Auf der Ebene der allgemeinen Einbildungskraft waren koloniale Bilder und Themen allgegenwärtig: bei Kolonialwaren, in populären kolonialen Reisebeschreibungen, Abenteuergeschichten und Artikeln in Über Land und Meer, in Zoologischen Gärten, in städtischen Benennungen (wie dem Emdener Viertel »Transvaal«, erbaut um 1900), in Dioramen, Wachsfigurenkabinetten und Völkerschauen. Es ist erwähnenswert, dass nicht alle Kolonialwaren, Zootiere und »Eingeborenen« (in Fleisch und Blut oder in Wachs) aus deutschen Kolonien kamen und dass bei weitem nicht alle Abenteuergeschichten dort spielten. Ihre begeisterte Aufnahme ist ein Beweis für die Macht des »Exotischen« im Kaiserreich, nicht notwendigerweise für direkte Rückwirkungen aus den deutschen Kolonien. Auf die politische Sphäre trifft das nicht zu, da wirkten sich deutsche Kolonien tatsächlich auf die innenpolitische Diskussion aus. Der Beitrag der »Mischehen«-Frage zum Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 hat neuerdings wieder Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Die koloniale Frage spielte auch eine Rolle bei den Reichstagswahlen der 1880er Jahre und vor allem bei den Wahlen 342

von 1907 (den »Hottentottenwahlen), die auf den völkermörderischen Krieg gegen die aufständischen Herero folgten. Der »Platz an der Sonne« für Deutschland wurde schnell zum geflügelten Wort, und die Kolonien waren in der Politik des Kaiserreichs sehr präsent, nicht nur wegen der Argumente des Kolonialvereins, des Flottenvereins und der sie unterstützenden Politiker, sondern auch wegen der Kritik, die aus der SPD und Teilen anderer Parteien kam. Trotzdem würde man kaum behaupten können, die deutschen Kolonien hätten die gleiche zentrale Stellung in der innenpolitischen Debatte eingenommen wie die viel größeren Imperien in der britischen oder französischen Politik jener Zeit. Selbst die holländischen und belgischen Kolonien waren wahrscheinlich in der Innenpolitik präsenter, wenn man die Größe und Bedeutung des Kolonialreichs in Beziehung zu Größe und Bedeutung der »Mutterländer« setzt. (Der Glaube daran gab der Kritik eines Max Weber, Deutschland unter dem Kaiser sei unfähig eine Weltpolitik zu machen, die eindrucksvoller sei als die der Belgier, besondere Schärfe.) Wenn wir andere Maßstäbe anlegen, etwa den Einfluss des englischen und des französischen Imperiums auf die Benennung von Straßen und den Import von Wörtern, finden wir im Falle Deutschlands nur einen blassen Abglanz davon. Schließlich lässt der Vergleich auch vermuten, dass die deutschen Kolonien viel weniger als »Laboratorien der Moderne« fungierten. Nichts, was in Kamerun oder Samoa unternommen wurde, kam den imperialen Experimenten der Engländer oder Franzosen mit Landreform, Stadtplanung oder Überwachungsregimes gleich. Es gab keine großen Wasserbauunternehmen wie die von den Briten erbaute Assuan-Talsperre in Ägypten, die einige deutsche Autoren neidvoll betrachteten. Die Engländer und Franzosen nahmen in ihren Kolonien oft Projekte in Angriff, die sie zu Hause nicht unternommen hätten. Das Kaiserreich war da weniger zurückhaltend. Die Schutzimpfungen der deutschen Truppen in Südwestafrika sind zwar als Beispiel dafür genannt worden, dass deutsche Kolonien als Labor der Moderne gedient hätten, aber das Experiment scheint weniger imposant, wenn man sich erinnert, dass die Zwangsimmunisierung gegen Pocken im Kaiserreich selbst schon 1874 eingeführt worden war. Es gibt noch einen weiteren Unterschied zwischen dem Kaiserreich und England oder Frankreich. Das eigentliche deutsche Gegenstück zu Indien oder Algerien war nicht Kamerun: Es war Mitteleuropa. Dabei handelte es sich noch um ein Phantasiereich. Geschäftsleute spekulierten über die Ausweitung deutscher Märkte, wie die Briten und Franzosen über die ihrer Kolonien (und die Amerikaner über den mythischen »China-Markt«). 1913 waren die deutschen Exporte nach Rumänien schon dreimal so groß wie die Exporte in alle deutschen Kolonien zusammengenommen, und Mitteleuropa-Schwärmer sahen dort eine zukünftige deutsche Kornkammer und eine Quelle für Öl und Erze. Aber der Reiz Mitteleuropas ging über die ökonomische Buchführung hinaus, weil er Visionen von erweitertem politischem und kulturellem Einfluss einschloss. Es ging ja auch um Gebiete früherer deutscher Siedlung. Das war im Kaiserreich entscheidend. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts – 343

gleichzeitig mit den Vertreibungen von 1885, der ersten Germanisierungskampagne und zunehmend schrilleren Warnungen vor der »slawischen Flut« – brachten Historiker und gelehrte Geschichtsvereine eine wachsende Sammlung von Arbeiten über diese früheren Siedlungen heraus. Was diese Arbeiten enthielten, war eine neuzeitliche koloniale Darstellung, die in eine frühere Zeit zurückprojiziert war; sie erzählte, wie die Deutschen die Natur gebändigt und den Boden bebaut hatten, so dass das »neue Grün germanischen Fleißes« an Stelle von slawischem »Morast« und »Wildnis« blühte. Ebenso offensichtlich war in diesem einflussreichen Narrativ von »Grenzland« und »Pioniergeist« die Rede. Das war eine der Arten, wie Bilder aus dem Amerika des 19. Jahrhunderts ins Kaiserreich zurück importiert wurden, in diesem Fall, indem sie den amerikanischen wilden Westen in den deutschen wilden Osten verlegten. Wir wissen alle, wie diese Ideen nach den territorialen Verlusten durch den Vertrag von Versailles an Boden gewannen und endlos weiterentwickelt wurden durch die Verfechter der Volksgeschichte und einen weiten Kreis von Politikern und Publizisten, bevor sie dann nach 1939 auf barbarischste Weise in Taten umgesetzt wurden. Diese Ideen waren jedoch in der historischen Literatur (und der Belletristik) des Kaiserreichs latent schon vorhanden. Wenn Bismarcks berühmte Karte von Afrika in Europa lag, so verwies die mentale Karte der Deutschen von Kolonisierung und Siedlung ebenfalls auf Europa: Mitteleuropa und Osteuropa. Ich möchte zum Schluss zurückkehren zu einem der Gründe, weshalb das Interesse an der transnationalen Geschichte der europäischen Nationalstaaten so zugenommen hat. Es hat, darüber sind wir uns alle einig, mit der Auflösung der kolonialen Weltreiche und deren Spätfolgen zu tun, vor allem mit dem Aufkommen postkolonialer Theorie. Das Ende des britischen und des französischen Imperiums ermöglichte es, ihre nationale Historiographie in einem globaleren Rahmen umzuschreiben. Die britische imperiale Geschichte wurde »nach Hause mitgebracht«, um die Geschichte des »Mutterlands« zu erhellen. Das gleiche ist offensichtlich in Frankreich geschehen. Der deutsche Fall liegt anders. Das gestutzte Kolonialreich kehrte während der Weimarer ­Republik nach Deutschland zurück, natürlich in verbitterter, grollender Form (Volk ohne Raum), was die aggressive historische und publizistische Aufmerksamkeit, die sich auf Osteuropa richtete, sogar noch verstärkte. Und das ist der entscheidende Punkt. Das deutsche Gegenstück zur Auflösung des Imperiums, die so eine tiefe Wirkung auf die britischen und französischen Vorstellungen von ihrer nationalen Geschichte gehabt hat, war nicht die Auflösung des deutschen Kolonialreiches 1919, sondern die Auflösung der deutschen Siedlungen in Ostund Mitteleuropa nach 1945. Wie Historiker in Deutschland sich mit dieser Geschichte herumgeschlagen haben, hat sich offensichtlich seit 1989/90 geändert, aber sowohl vor als auch nach diesem Datum richtete sich der Brennpunkt deutscher historischer Vergangenheitsbewältigung auf das, was in Osteuropa geschah, nicht in Übersee.

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Theorie und Praxis

17. Wie bürgerlich war das Kaiserreich?1 Als einer jener »Mythenerzähler aus England« freue ich mich sehr über das Interesse, das dem Thema Bürgerlichkeit z. Zt. in Bielefeld gewidmet wird. Ich begrüße natürlich auch Hans-Ulrich Wehlers rundes, ausgeglichenes und größtenteils unpolemisches Referat. Als Kommentator muss ich aber gezwungenermaßen bemerken, dass ich Herrn Wehlers Referat gelegentlich so glatt fand, dass es fast 1 Dieser Aufsatz, der kürzeste in diesem Band, verlangt die ausführlichste Kontextualisierung. Verfasst wurde er als Kommentar zu einem Referat von Hans-Ulrich Wehler (»Wie bürgerlich war das Kaiserreich?«) auf einer Tagung über »Bürgerlichkeit – Bedeutung, Tragfähigkeit und Probleme einer Kategorie zur interdisziplinären Erforschung des 19.  Jahrhunderts«, die 1985 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld stattfand. Ich glaube, der Kommentar kann für sich alleine stehen, denn die Fragen, um die es geht, sind offenkundig. Sowohl Wehlers Referat als auch mein Kommentar erschienen in J. Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987. Unser Austausch hat folgenden Hintergrund. 1980 veröffentlichte ich zusammen mit Geoff Eley ein Buch, »Mythen deutscher Geschichtsschreibung«, das die damals unter Historikern vorherrschende These vom »deutschen Sonderweg« in Frage stellte und unter anderem dafür plädierte, die Vorstellung von einer »Feudalisierung« des deutschen Bürgertums zu revidieren (Eine erweiterte und überarbeitete Fassung dieses Buches erschien auf Englisch unter dem Titel The Peculiarities of German History. Bourgeois Society and Politics in Nineteenth-Century Germany, Oxford 1984.). Unsere Thesen lösten in Deutschland und außerhalb eine intensive Debatte aus. Noch heute, mehr als dreißig Jahre später, taucht das Stichwort »Sonderweg« in Büchern, Aufsätzen und Tagungsbeiträgen häufig auf, ein Zeichen, wie wichtig die damaligen Diskussionen waren. Die Tagung in Bielefeld 1985 und das großangelegte Forschungsprojekt am ZiF 1986/87 zu »Bürger und Bürgerlichkeit« zeugten davon, wie groß das Interesse an dieser Thematik war, das zumindest teilweise durch die Thesen unseres Buches befeuert worden war. Aus diesem Interesse erwuchsen zahlreiche Arbeiten, darunter W. Conze u. J. Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, 4 Bde., Stuttgart 1985–92; J. Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert (wie oben); J. Kocka (Hg.), Bürgertum im 19.  Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, München 1988; H. Siegrist (Hg.), Bürgerliche Berufe, Göttingen 1988; L. Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1990; F. J. Bauer (Hg.), Bürgerwege und Bürgerwelten, Göttingen 1991; K. Tenfelde u. H.-U. Wehler (Hg.), Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994; D. Hein u. A. Schulz (Hg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996. Dieser Auflistung könnte man noch zahlreiche Monographien hinzufügen. An dieser Stelle sei noch eine abschließende Bemerkung gestattet: Der kritische Austausch zwischen Historikern schließt gegenseitigen Respekt und Freundschaft keineswegs aus. Das gilt mit Sicherheit für mein Verhältnis zu Hans-Ulrich Wehler, den ich fast vierzig Jahre lang kannte. Mein Nachruf auf ihn – D. Blackbourn, Hans-Ulrich ­Wehler (1931–2014), in: Central European History, Jg. 47. 2014, S.  700–715  – ist Ausdruck meiner Bewunderung für einen großen Historiker. Mein Dank gilt Stig Förster, der den Text dieses Kommentars sprachlich überarbeitet hat.

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so schwierig anzufassen war wie ein Stück Seife. Aber Wehler hat sich doch ein paar spitze Bemerkungen erlaubt, und zwar u. a. gegen die schon erwähnten Mythenerzähler, »die ein Erfolgsmärchen von der Verbürgerlichung des Kaiser­ reichs zu berichten wissen«. Von mir aus möchte ich fast sagen, das Gegenteil ist der Fall. Ich bin überzeugt, dass man am besten auf die Vorstellung eines bürgerlichen Siegeszuges im althergebrachten Sinne ganz verzichtet. Erfolgsmärchen dieser Art sind zu Recht diskreditiert worden, nicht zuletzt von angelsächsischen Historikern, und zwar von marxistischen und nichtmarxistischen. Das Kaiserreich stellt überdies einen zu kurzen Zeitraum dar, um Bürgerlichkeit oder Verbürgerlichung zu diskutieren. Wenn man dagegen das 19. Jahrhundert als Ganzes betrachtet, ist es durchaus legitim, von einem bescheideneren, aber nicht weniger wichtigen Prozess der Verbürgerlichung zu sprechen, und zwar in eben dem von Wehler selbst angedeuteten Sinn. Hier gilt es, Vereinswesen und Öffentlichkeit, Säkularisierung und Leistungsprinzip, die ­Normen des Rechtssystems und die von den freien Berufen verbreiteten Werte zu berücksichtigen. Dass Wehler heute diesen Themen eifrig und gedankenvoll nachgeht, ist erfreulich. In Mythen deutscher Geschichtsschreibung habe ich mich­ damit beschäftigt, die große Bedeutung dieser Bereiche darzustellen, wollte aber auch versuchen, die damals weniger lebhafte Bürgerlichkeits-Debatte derart zu erweitern, dass die ›bürgerliche‹ Mode und das ›bürgerliche‹ Hotel, die Entstehung der Konzerthalle und die Umgestaltung des Zoos auch als Teil­ elemente des gleichen Prozesses berücksichtigt werden können. Ich muss zugeben, dass ich heute eine Wehlersche Kritik an diesen Argumenten erwartet hatte, denn ein solcher Ansatz bringt sicherlich Probleme mit sich. Herr Siegrist hat uns während dieser Tagung davor gewarnt, allzuviel von dem »kulturhisto­ rischen Ansatz« zu erwarten. Mein englischer Kollege Richard J. Evans hat ebenfalls jüngst angedeutet, dass der Begriff »bürgerlich« in diesem Zusammenhang leicht schwammig wird. Nicht ganz zu Unrecht könnte man aber daran festhalten, dass die Umwälzungen in diesen Sphären zusammengenommen die Bezeichnung »stille Verbürgerlichung« verdienen. Wehler kann ich wiederum nur zustimmen, wenn er von der »stummen Macht« der gesellschaftlichen Entwicklung spricht. Ich würde sogar weiter gehen und die Hypothese aufstellen: je stummer, desto erfolgreicher, d. h. Bürgerlichkeit setzte sich dort am umfangreichsten durch, wo bürgerliche Werte mittels Wirtschaftssystem, Rechtsnormen oder anderer anonymer Kanäle zu Selbstverständlichkeiten wurden. Allerdings sollte man diesen Vorgang keineswegs als mühelos verharmlosen oder den Widerstand jener Sozialschichten außer Acht lassen, die Bürgerlichkeit mit fremder Herrschaft identifizieren. Eins scheint aber festzustehen: Bürgerlichkeit als Programm auszuposaunen hat eher geschadet als geholfen, denn dabei wurde leicht der Eindruck erweckt, als stünden die Interessen des Bürgertums dahinter. Wie jüngste Forschungen zeigen, kann der Kulturkampf als gutes Beispiel dieses EigentorSyndroms gelten. Bürgerlichkeit und Religion ist jedoch generell ein Thema, das wir auf dieser Tagung zu sehr vernachlässigt haben. 348

Ich stimme Wehler auch darin zu, dass es wichtig ist, die Grenzen der Bürger­ lichkeit zu markieren. Nur bin ich ein wenig beunruhigt über die Art, wie er auf diese Frage zu sprechen kommt (»Es gibt überlegene und unterlegene Konkurrenten«). Auch als bloße Redewendung scheint es mir problematisch, Bürgertum, Adel und Arbeiterklasse in dieser Weise als historische Akteure zu vergegenständlichen. Stellt man das Bürgertum als eine Boxhandschuhe tragende Klasse dar, die mit ihren Gegnern kämpft, dann lässt sich leicht beweisen, dass sie keinen unumstrittenen Sieg gewonnen hat. Wenn man aber von einer Gesellschaftsformation spricht, wie es Wehler an anderer Stelle tut, sieht die Sache anders aus. Die Unausgeglichenheit der Gesellschaftsformation im Kaiserreich liegt auf der Hand. Eine bürgerliche Hegemonie ist aber schwieriger zu leugnen als etwa ein bürgerlicher ›Sieg‹ gegen seine ›Konkurrenten‹. Diesen allgemeinen Beobachtungen möchte ich zwei Bemerkungen zum Verhältnis Adel-Bürgertum hinzufügen. Erstens: Vieles von dem, was man unter ›Feudalisierung‹ versteht (oder bei Wehler ›Aristokratisierung‹), hat mit dem Adel oder mit der vermeintlichen aristokratischen Umarmung sehr wenig zu tun. Die allerwenigsten Bürger kauften sich ein Rittergut oder erwarben ein Adelsprädikat. Viel wichtiger war dagegen die Verleihung von Orden und Titeln wie Sanitätsrat, Kommerzienrat usw., was eher etwas über das Verhältnis vieler Bürger zum Staat aussagt. Zweitens: Man sollte Form und Inhalt nicht verwechseln, wenn es um die Feudalisierung bzw. Aristokratisierung des Bürgertums geht. Wehler sagt, dass das Verhältnis zwischen Bürgertum und Adel ambivalent gewesen sei. Darin hat er sicherlich recht, und was er sagt, gilt natürlich nicht nur im deutschen Fall. Diese Ambivalenz hat aber u. a. zur Folge, dass man die gängigen Symbole der Aristokratisierung nicht für bare Münze nimmt. Die bürgerliche Übernahme einer quasiaristokratischen Lebensweise war etwas Bewusstes, Kultiviertes, künstlich Gepflegtes. Bürgerliche Landsitze und Jagdbegeisterung sollte man nicht einseitig als Beweise für Aristokratisierung deuten, sondern auch als Zeichen bürgerlicher Stärke, als Ausdruck bürgerlichen Selbstwertgefühls: Man gab zu erkennen, dass man nunmehr ein wichtiger Teil der gesellschaftlichen Elite war. Dieses Verhalten spricht eher für bürgerliche Zuversicht als für bürgerliche Resignation. Wie Manfred Riedel einmal bemerkte, gibt es an der Übernahme eines solchen aristokratischen Habitus etwas wesentlich ›Bürgerliches‹. Die Frage, wie man die Wechselwirkung zwischen Form und Inhalt inter­ pretiert, taucht erneut auf, wenn wir Wehlers wichtige Bemerkungen zum bürgerlichen Vereinswesen in Betracht ziehen. Der Verein, so das Argument, erwies sich »als eine derart leicht universalisierbare Organisation, daß es schon wieder schwerfällt, unbefangen vom Sieg einer bürgerlichen Assoziationsform zu sprechen, obwohl seine allgegenwärtige Präsenz das auch ist«. Wehlers Sowohlals-auch-Formulierung scheint mir treffend, nur ist sie vielleicht zu zurückhaltend und vor allem zu negativ akzentuiert. Genau die Zweideutigkeit des Vereins ist der springende Punkt, denn sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Doppelbedeutung des Begriffs Bürgerlichkeit. Einerseits war die Rhetorik des 349

Vereins eine universale, jedenfalls bis in das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts hinein. Die Adressaten dieser Rhetorik waren Bürger als Citoyens. Andererseits wurde im Laufe des Jahrhunderts klar, wie empirische Untersuchungen gezeigt haben, dass der klassische Verein faktisch enger und exklusiver war als die Rhetorik zu verstehen gab – also: bürgerlich war in einem anderen Sinn. Infolgedessen ging der ›universale‹ Charakter des Vereins in zweierlei Hinsicht verloren, und zwar sowohl im sozialen wie auch im funktionalen Sinn. Auf der einen Seite haben Arbeiter, Handwerksmeister, Krämer, katholische Priester, Aristokraten u. v. a. zunehmend diese dem Bürgertum entsprungene Waffe zu eigenen, oft anti-›bürgerlichen‹ Zwecken benutzt. Andererseits entstanden aus dem universal-emanzipatorischen Verein der lnteressenverband, der spezialisierte Fach- oder Berufsverein und die Vereinsmeierei schlechthin. Diese Entwicklung stellt keine Abweichung von »Bürgerlichkeit« dar, sondern sie resultierte aus dem zentralen Widerspruch zwischen Bürger als Citoyen und Bürger als Bourgeois. In gleicher Weise verwandelte sich die Rechtssicherheit als emanzipatorischer Begriff in einen engeren, eher antiemanzipatorischen Rechtspositivismus. Sowohl der Rechtspositivismus wie auch das BGB weisen auf die Bürgerlichkeit des Kaiserreichs hin, indem sie die Lücke zwischen formaler Gleichheit und substantieller Ungleichheit an den Tag legen. Die bürgerliche Mode könnte man als Parallelfall zitieren. Hut und Anzug waren, in den Worten des Soziologen René König, Maßstab und Sperre zugleich. Um auf eine von Jürgen Kockas Kernfragen zurückzukommen, blieb bürgerliche Wirklichkeit im Kaiserreich tatsächlich in vieler Hinsicht hinter dem Universalitätsanspruch zurück. Eben diese Schattenseite gehört auch dazu, wenn versucht wird, die Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland darzustellen. Ich hatte oft den Eindruck, dass Wehler das ›eigentlich‹ Bürgerliche mit ›fortschrittlich‹ implizit gleichsetzen und vielleicht auch verabsolu­ tieren will. Wenn die Bürgerlichkeit nicht so aussieht, wie sie hätte aussehen sollen, sei das eben ein bürgerliches »Engagement für die falsche Sache«. Aber was ist, aus historischer Sicht, die falsche Sache? Was ist etwa an Flottenbegeisterung, am Sozialimperialismus, an dem von David Hansemann miterarbeiteten Dreiklassenwahlrecht Preußens unbürgerlich? (Dass das alles keine bürgerlichen »Ruhmesblätter« waren, steht auf einem andern Blatt, und hier sind Wehler und ich einer Meinung.) Ich stelle diese Frage ganz konkret. W ­ ehler hat nicht nur den Theoretiker Max Weber, sondern auch den historischen Weber erwähnt. Meine Frage: Wie kann man den selbstbewusst bürgerlichen, den machthungrigen Bürger Max Weber von dem Flottenprofessor und sozialdarwinistisch geprägten Pangermanist Max Weber trennen, der einmal bemerkte, die Deutschen hätten die Polen zu Menschen gemacht? Mit dieser bösen Frage habe ich nicht im Sinne, den wilhelminischen Bürger Max Weber zu verurteilen. Bürgerliche Tugenden dürfen wir freilich pflegen und empfehlen  – daran haben wir sozusagen ein Bürgerinteresse. Wenn man aber dem Bürgertum des Kaiserreichs seiner Unterlassungssünden halber schlechte Noten erteilt, darf man dabei nicht so weit gehen, die real existierende Bürger350

lichkeit und deren Widersprüche als Mangel an ›eigentlicher‹ Bürgerlichkeit zu missdeuten. Zum Schluss noch zwei Bemerkungen zum Thema Bürgerlichkeit und Politik: Erstens: Wenn Wehler von politischen Parteien spricht, scheint er weder die Konservativen noch das Zentrum als »bürgerlich« zu betrachten. Wird hier wiederum ›bürgerlich‹ mit ›fortschrittlich‹ oder ›liberal‹ gleichgesetzt? Und wenn die Konservativen als »adelig-geleitet« abqualifiziert werden, müsste man nicht konsequenterweise das bürgerlichgeleitete Zentrum miteinbeziehen? Das sind freilich spielerische Fragen, denn letzten Endes bringen Messinstrumente dieser Art immer irreführende Ergebnisse. In Parlamenten sitzen keine Klassen, nur Parteien, die alle mehr oder weniger aus Koalitionen von Klassen, Klassenfraktionen und Klasseninteressen bestehen. Das weiß Wehler natürlich auch, nur wendet er manchmal seinen Lackmus-Test (bürgerlich oder nicht-bürgerlich?) in einer Weise an, dass leicht ein falscher Eindruck entsteht. Zweitens: Wehler fragt in ähnlicher Weise weiter, was am politischen System des Kaiserreichs »spezifisch bürgerlich« gewesen sei, und er kommt zu dem Ergebnis: Der Reichsmonarch und die Länderdynastien seien es nicht gewesen. Verblüffend ist dieser Befund nicht. Es wäre vielleicht eine interessante Aufgabe, sich einen bürgerlichen Monarchen vorzustellen. Hat Wehler als Idealtyp den Bürgerkönig Louis Philippe im Sinn oder vielleicht irgendeinen Fahrrad fahrenden König aus Skandinavien oder den Benelux-Ländern? Die grundsätzliche Frage bezieht sich jedoch auf die Persistenz des Ancien Régime im Kaiserreich, und diese Frage müsste lauten: Wie sind die Diskrepanzen zwischen dem sozio-ökonomischen und dem politischen Bereich in den Griff zu bekommen und zu bewerten? Setzt man voraus, dass Herrschen und Regieren nicht identisch sein müssen, könnte man das politische System des Kaiserreichs aus zwei entgegengesetzten Richtungen betrachten. Aus einer Sicht ist ein Defizit an Bürgerlichkeit im politischen Bereich festzustellen. Man könnte aber umgekehrt fragen, ob das politische System nicht doch gewissen bürgerlichen Anliegen gut entsprach. Diese Frage lässt sich nicht nur für das Kaiserreich stellen. Aber vorausgesetzt, dass sie nicht reduktionistisch gemeint ist, hat sie vielleicht im Falle des Kaiserreichs besondere Geltung. Denn gerade im kaiserlichen Deutschland war die politische Gefahr von unten größer als in vergleichbaren Ländern – eine politische Gärung im Kaiserreich, wie »ominös« sie auch gewesen sein mag, ist kaum zu leugnen. Dank des allgemeinen männlichen Wahlrechts zum Reichstag wurden im Kaiserreich viele Ansprüche und Ressentiments, die einem dynamischen Kapitalismus und einer sich schnell verändernden Gesellschaft entsprangen, in die politische Sphäre übertragen. Die Arbeiterbewegung ist häufig unter diesem Gesichtspunkt untersucht worden. Der Druck auf das politische System von seiten der Kleinbürger, der Bauernbewegung und der verschiedenen Interessenverbände lässt sich in ähnlicher Weise interpretieren. Hier wurde die Lücke zwischen bürgerlichem Anspruch und bürgerlicher Wirklichkeit zum Motor politischer Mobilisierung. Grob gesagt, die Opfer des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems drohten sich auf der Bühne der Politik zu 351

rächen. Um so verständlicher daher, dass so viele bürgerliche Interessen hinter den Kulissen verschwunden sind. Andere immer wieder zitierte Merkmale des deutschen Bürgertums gewinnen an Bedeutung, wenn man diesen Zusammenhang bedenkt – z. B. die Neigung zum starken Staat und der Abscheu vor dem politischen Konflikt, der Rückzug in die exklusivere, leichter kontrollierbare Kommunalpolitik, die Flucht in die Wirtschaft oder in die Verbände. Hans-Ulrich Wehler meint, Weimar habe die Fragilität der bürgerlichen Position in Gesellschaft und Politik enthüllt. Ich würde es anders ausdrücken: In der Wechselwirkung von bürgerlicher Stärke in Gesellschaft und Ökonomie und bürgerlicher Fragilität in der Politik liegt ein Faden der Kontinuität zwischen Kaiserreich und Weimar. Diese Wechselwirkung war kumulativer und oft konvulsiver Art. Insofern wurde 1933 die Quittung nicht für das Defizit an Bürger­lichkeit überhaupt präsentiert, sondern für die Unausgeglichenheit der Bürgerlichkeit in der neueren deutschen Geschichte.

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18. Mikrogeschichte1 Als der Dichter Edmund Blunden über seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg schrieb, stellte er sich die rhetorische Frage: »Halte ich mich zu lange mit den kleinen Dingen auf?« Seine Antwort lautete, das sei sowohl unvermeidlich als auch wesentlich: »Soll meine Neugier ihre kleinen Freuden haben.«2 In diesem Aufsatz will ich unter kleinen Dingen herumlungern, ohne dabei einige große Dinge aus dem Blick zu verlieren. Ich bin von Beruf Historiker, nicht Mikrohistoriker. Aber ich bin möglicherweise eine Art teilnehmender Beobachter, denn ich habe ein Buch geschrieben, das sich einiger mikrogeschichtlicher Perspektiven bedient hat, und dieser Aufsatz bietet einige Überlegungen dazu. Unter Historikern ist heutzutage viel von der Wiederkehr der persönlichen Stimme die Rede. Diese zunehmende Verwendung der ersten Person Singular kann ermüdend sein. Mitunter hat es gar den Anschein, als habe sich die historische Fragestellung verschoben, von »Was ist geschehen?« hin zu »Wie hast du es erlebt?« Aber es gibt durchaus einen ganz realen Punkt, an dem sich das eigene Ich positionieren lässt, wie wir das nennen, und damit möchte ich beginnen. 1993 habe ich ein Buch mit dem Titel »Marpingen« veröffentlicht.3 Es handelte von einer Episode, die sich 1876 zutrug, als drei junge Mädchen behaupteten, ihnen sei die Jungfrau Maria erschienen. Binnen einer Woche strömten 1 Dieser Aufsatz basiert auf einem Vortrag, den ich 1997 im Rahmen einer Tagung zum Thema »Remapping German History« am Deutschen Historischen Institut in Washington gehalten habe. Er ist bislang unveröffentlicht, wenngleich Material daraus Eingang fand in meinen Aufsatz The Madonna of Marpingen: A Likely Story, in: Common Knowledge, Jg. 7, 1998, S.  112–126. Mikrogeschichten werden auch weiterhin verfasst. Dazu zählen beispielsweise H. W. Smith, Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen 2002 und C. Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen 2002, die sich beide mit ein und demselben Ereignis in Konitz befassen. Siehe auch J. Freedman, The Poisoned Chalice, Princeton 2002, und H. Wolf, Die Nonnen von Sant’Ambrogio, München 2013. Seit Abfassung dieses Textes gab es freilich auch einige Plädoyers für eine Rückkehr zur Geschichtsschreibung in deutlich größerem Maßstab. Siehe etwa D. Christian, Maps of Time. An Introduction to Big History, Berkeley 2004; D. Armitage u. J. Guldi, The History Manifesto, Cambridge 2014. 2 E. Blunden, Undertones of War (1928), zitiert nach G. Dening, Performances, Chicago 1996, S. 203. 3 D. Blackbourn, Marpingen. Apparitions of the Virgin Mary in Bismarckian Germany, Oxford 1993; deutsch: ders., Wenn ihr sie wieder seht, fragt, wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen. Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Reinbek bei Hamburg 1997. Neuauflage mit einem Nachwort des Autors: Marpingen. Das deutsche Lourdes in der Bismarckzeit, Saarbrücken 2007.

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20.000 Menschen in ihr saarländisches Heimatdorf, von Hunderten von »wundersamen« Heilungen wurde berichtet, und in den folgenden 14 Monaten wurde Marpingen als das »deutsche Lourdes« berühmt (oder berüchtigt). »[Jedenfalls] ist Marpingen der Mittelpunkt von Ereignissen geworden, welche gleichsam die Welt erschüttern«, schrieb ein zeitgenössischer Beobachter.4 Selbst Bismarck und Kaiser Wilhelm I. nahmen Notiz von den Ereignissen, und zu den unerwünschten Besuchern in Marpingen gehörten preußische Beamte, Soldaten, Gendarmen und ein Detektiv namens Marlow – tatsächlich handelte es sich um einen Geheimpolizisten aus Berlin namens Leopold Friedrich Wilhelm von Meerscheidt-Hüllessem, der versuchte, sich als frommer irisch-amerikanischer Journalist auszugeben. Kurz: Die Erscheinungsbewegung kollidierte mit der Maschinerie des Staates, was zu einer Auseinandersetzung führte, die aus den Gerichtssälen der Rheinprovinz bis in den Preußischen Landtag in Berlin schwappte, wo Marpingen Gegenstand einer großen Parlamentsdebatte war. Nach einem kurzen narrativen Aufhänger, der den Beginn des Geschehens erzählt, folgen drei Teile. Der erste Teil befasst sich mit dem Kontext und den Ursprüngen und bewegt sich vom Allgemeinen zum Besonderen, insofern er den Ort Marpingen in den 1870er Jahren immer schärfer in den Blick nimmt. Der zweite Teil, das Herzstück des Buches, nimmt den umgekehrten Weg. Er untersucht die verschiedenen Bedeutungen des Ereignisses: Am Anfang stehen die »Visionärinnen«, ihre Familien und die anderen Dorfbewohner, dann folgen die Wallfahrer und der Klerus, und am Schluss geht es um die allgemeinere politische Resonanz. Teil drei beschäftigt sich mit den komplexen Folgen, die das Ereignis für staatliche und kirchliche Autoritäten hatte, und endet mit abschließenden Betrachtungen über angebliche neue Erscheinungen in Marpingen im 20. Jahrhundert. Das Buch gehört zu einer vertrauten modernen Gattung. Es greift ein Ereignis auf und versucht dessen Bedeutung herauszuarbeiten. Das Genre ist so vertraut, dass wir versucht sein könnten, es für selbstverständlich zu halten. Doch eine Generation vorher, auf dem Höhepunkt der selbstgewissen neuen Sozial­ geschichte, sah die Sache noch ganz anders aus. Die klassische Arbeit des Historikers widmete sich damals eher langfristigen gesellschaftlichen Prozessen und Strukturen  – der Herausbildung von Klassen oder des modernen Staates, der Modernisierung von Kriminalität und Freizeit, den sozialen Ursprüngen von Diktatur und Demokratie. Selbst die Titel der entsprechenden Bücher strahlen den Charme einer ganz bestimmten Zeit aus. All die »Entstehung«, »Herausbildung« oder »Neugestaltung« war Ausfluss eines bestimmten historischen Moments.5 Heute entsteht nichts und bildet sich nichts heraus, alles wird 4 Die Marpinger Mutter-Gottes-Erscheinungen und wunderbaren Heilungen. Dem katholischen Volke dargestellt von einem geistlichen Priester aus der Diöcese Münster, der wiederholt Marpingen besucht hat, Münster 1877, S. 4. 5 Als Beispiele seien hier nur genannt: E. P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse (orig. 1963) Frankfurt a. M. 1987; P. D. Stachura (Hg.), The Shaping of the Nazi State,

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erfunden oder imaginiert. In diesen fernen Tagen bedienten sich die Historiker freizügig bei den Sozialwissenschaften, sie entdeckten den Reiz der Quantifizierung und liebten die vergleichende Geschichtsschreibung (einige praktizierten sogar das, was sie predigten). »Modernisierung« lieferte das Paradigma, innerhalb dessen ein Großteil dieser Studien konzipiert wurde – und in dieser Hinsicht hatten Marxisten und Nichtmarxisten vieles gemeinsam, auch wenn Nichtmarxisten am ehesten dazu neigten, brav an eine Entwicklungstheorie zu glauben, die Auskunft darüber gab, inwiefern sich Gesellschaften modernisierten oder bei diesem Vorhaben »scheiterten«. Das Ganze war ein ehrgeiziges Unterfangen, das der Titel eines Buches von Charles Tilly schön zum Ausdruck bringt: »Big Structures, Large Processes, Huge Comparisons«.6 Eine seiner größten Errungenschaften bestand darin, die beschränkten Nationalgeschichtsschreibungen aufzubrechen, indem es ein allgemeines Vokabular und einen allgemeinen Bezugsrahmen zur Verfügung stellte. Das galt ganz besonders für Deutschland. Die sozialwissenschaftliche Geschichtsschreibung der 1970er Jahre ähnelte dem internationalen Architekturstil dieser Zeit – im Guten wie im Schlechten. Denn heute scheint klar zu sein: So wie die Modernisierung innerhalb unserer Kultur an Anziehungskraft verloren hat, so bildet auch diese Art von Ansatz nicht mehr die Speerspitze dessen, was Historiker tun. Er eröffnete uns neue Möglichkeiten, die Vergangenheit zu betrachten, ließ jedoch auch vieles unberücksichtigt – zum einen die menschliche Dimension, zum anderen die lokale Vielfalt und drittens die Tatsache, dass Gesellschaften aus Männern und Frauen bestehen. Eine Reaktion darauf war, dass man ein begrenztes und spezifisches Ereignis zum Thema machte; sie war Teil einer Perspektivenverschiebung vom Abstrakten zum Besonderen, von den Strukturen zu den Bedeutungen, von der Gesamtheit von Individuen zu kleinen Menschengruppen. Diese Verschiebung ging einher mit der zunehmenden Vorliebe bei Historikern, sich begrifflicher Instrumentarien zu bedienen, die nicht den Sozialwissenschaften (etwa der Ökonomik, der Soziologie oder der Politikwissenschaft) entstammten, sondern der Anthropologie oder den Geisteswissenschaften (etwa der Literaturtheorie oder der Ikonologie). Letztere erschienen hilfreicher, wenn es darum ging, die Bereiche der gelebten Erfahrung, der Mentalitäten und der Alltagskultur zu decodieren. Zumindest eröffneten sie neue Wege, um die üblichen Weber’schen Kategorien zu befragen: Klasse, Stand und Herrschaft. Zu dieser allgemeinen Verschiebung will ich zweierlei anmerken. Erstens war sie in vielen Fächern zu beobachten. Natürlich nicht in allen. Die »big science« ist nicht verschwunden, und es deutet nicht viel darauf hin, dass auch in anderen Wissensbereichen, die einst als natürliche Bettgenossen der Geschichtswissenschaft galten, eine Wende hin zur Mikroebene oder zum menschlichen London 1978; C. S. Maier, Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I, Princeton 1975. 6 C. Tilly, Big Structures, Large Processes, Huge Comparisons, New York 1984.

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Maß zu erwarten ist. Ich denke hier insbesondere an die mathematisch ausgerichtete Ökonometrie und den Rational-Choice-Ansatz innerhalb der Politikwissenschaft. Gleichwohl vertritt Stephen Jay Gould die Ansicht, dass »genaue Beobachtungen individueller Unterschiede als wissenschaftliche Methode genauso wirkungsvoll sein können wie die Quantifizierung vorhersagbaren Verhaltens in Hunderttausenden von identischen Atomen«.7 Soziologen haben die Mikrolinguistik für sich entdeckt, um damit kurze menschliche Begegnungen zu untersuchen, Archäologen haben auf die »systemgetriebene« Neue Archäologie der 1970er Jahre reagiert und gegengesteuert, Tierverhaltensforscher sind davon abgekommen, die wiederholten Bewegungen Tausender Versuchstiere aufzuzeichnen, und interessieren sich jetzt für die Interaktionen kleiner Gruppen von Tieren in freier Wildbahn. Zweitens vollzog sich diese Schwerpunktverschiebung innerhalb der Geschichtswissenschaft in den 1970er Jahren ohne Rücksicht auf nationale Grenzen. Die ursprüngliche Mikrogeschichte – microstoria – entstand in Italien, und hier vor allem in Bologna, durch eine Gruppen von Historikern aus dem Umfeld der Zeitschrift »Quaderni Storici«: Carlo Ginzburg, Carlo Poni, Edoardo Grendi.8 In Frankreich zählt Jacques Revel zu ihren herausragenden Vertretern, und einige führende französische Gelehrte auf diesem Feld gehörten einst zu den Hauptprotagonisten der seriellen Geschichtsschreibung (histoire sérielle). In den USA hat der mikrogeschichtliche Ansatz bedeutende Arbeiten nicht nur zu Amerika, sondern auch zu anderen Gesellschaften hervorgebracht. Als Erstes fällt einem Natalie Zemon Davis ein, aber auch Jonathan Spence, ein Brite in Yale, der mehrere klassische Mikrogeschichten über die Interaktion zwischen europäischer und chinesischer Kultur verfasst hat.9 Man ist geneigt zu sagen, dass die Mikrogeschichte heute repräsentativ für den internationalen Stil steht. Oder genauer: Sie genießt internationale Legitimität als ein Ansatz unter vielen 7 In einem Artikel aus dem Jahr 1987, zitiert nach E. Muir u. G. Ruggiero (Hg.), Microhistory and the Lost Peoples of Europe, Baltimore 1991, S. viii. 8 Carlo Ginzburg hat darauf hingewiesen, dass der Begriff schon früher bei einer Reihe nicht weiter miteinander in Verbindung stehender Autoren in den USA, Mexiko und Frankreich Verwendung fand und auch in S. Kracauers letztem, posthum veröffentlichten Werk »Geschichte – vor den letzten Dingen« (orig. 1969, übersetzt von K. Witte, Frankfurt a. M. 1971) auftaucht, das von Paul Oskar Kristeller fertiggestellt wurde. Ginzburgs Darstellung widerspricht freilich nicht der Tatsache, dass die microstoria, wie man sie üblicherweise versteht, Ende der 1970er Jahre in Italien entstanden ist. Siehe Ginzburg, Mikrogeschichte. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, in: ders., Faden und Fährten. Wahr falsch fiktiv, Berlin 2013, S. 89–112. 9 N. Zemon Davis, Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, übersetzt von U. u. W. H. Leube, München 1984; dies., Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche u. ihre Erzähler, übersetzt von W. Kaiser, Berlin 1988; dies., Drei Frauenleben. Glikl, Marie de l’Incarnation, Maria Sibylla Merian, übersetzt von W. Kaiser, Berlin 1996; J. D. Spence, Die Geschichte der Frau Wang. Leben in einer chinesischen Provinz des 17. Jahrhunderts, übersetzt von S. Peschel u. E. Wang, Berlin 1987; ders., The Memory Palace of Matteo Ricci, New York 1984; ders., Der kleine Herr Hu, übersetzt von S. Ettl, München 1990.

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in einer Zeit des beispiellosen Stilpluralismus in der Geschichtswissenschaft: der Wiederkehr der Biographie, des aktuellen Interesses an der Repräsentation, »neuer« (und alter) politischer Geschichte und nicht zuletzt – noch immer – der Sozialgeschichte. Wo steht die Mikrogeschichte innerhalb der deutschen Historiographie? Manche verweisen gelegentlich darauf, dass Verleger Bücher aus dem Italienischen, Französischen oder Englischen übersetzen müssten, um ihr Programm auf diesem Feld zu füllen.10 Doch still und leise wurde jede Menge deutscher Mikrogeschichte geschrieben. Es wurde zudem über einige Methodenfragen diskutiert, die von der Mikrohistorie aufgeworfen wurden, wenngleich diese Auseinandersetzungen häufig einem etwas anderen und sehr deutschen Streit über Alltags- oder Erfahrungsgeschichte verhaftet blieben. Insgesamt jedoch ist die Mikrogeschichte in Deutschland auf größeren Widerstand gestoßen als anderswo, und zwar aus Gründen, die historischer, institutioneller und moralisch-politischer Natur sind. Vor allem der Verdacht, die »Petitessen« der Mikrogeschichte seien auch trivial, wiegt in der modernen deutschen Geschichtsschreibung besonders schwer, denn »Trivialisierung« oder »Banalisierung« suggerieren gerade im Falle des Dritten Reiches eine Verharmlosung des Gegenstands. Diese Sorge wurde vor allem in den Debatten der 1980er Jahre über die Alltagsgeschichte deutlich, doch das Problem geht tiefer. Der Argwohn deutscher »Mainstream«-Historiker gegenüber der kleinmaßstäblichen, lokal verorteten Forschung reicht zurück bis zum Misstrauen gegenüber der provinziellen Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts, wie man sie bei Treitschke und anderen findet.11 Dabei ging es um die Landesgeschichte im Gegensatz zur allgemeinen Geschichte. Ohne Frage war und ist ein Großteil der Landesgeschichte peinlich konservativ, oft sogar antiquiert. Trotzdem bleiben die nach wie vor bestehende Vernachlässigung und Geringschätzung auffällig; sie reichen vom Methodenstreit um Karl Lamprecht in den 1890er Jahren bis in die Gegenwart, in der innovative Historiker sich wieder an einer kritischen Landes- oder Regionalgeschichte versucht haben.12 In meinen Augen bedeutete die institutionelle und intellektuelle Abspaltung der Landesgeschichte von der allgemeinen Geschichte einen herben Verlust, und zwar für beide Seiten. Seit 1945 kam als weiteres Problem hinzu, dass sich die Landesgeschichte – wie ihre Halbcousinen Historische Landeskunde und Volkskunde – unter dem Nationalsozialismus für politische Zwecke hatte missbrauchen lassen. Der Stoff lokaler Geschichtsschreibung war für international gesinnte deutsche Histori10 M. Maurer, Geschichte und Geschichten, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. Jg. 11, 1991, S. 674–691. 11 Zu dieser längeren Geschichte der Geringschätzung siehe H. Medick, Mikro-Historie, in: W. Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Göttingen 1994, S. 40–53. 12 Siehe E. Hinrichs, Regionalgeschichte. Probleme und Beispiele, Hildesheim 1980; C.-H. Hauptmeyer (Hg.), Landesgeschichte heute, Göttingen 1987.

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ker durch den üblen Unsinn von Blut und Boden kompromittiert. Allein schon auf die Idee des Ortes und der geographischen Besonderheit reagierte man allergisch. Wenn man im Deutschen von »Land und Leuten« spricht, erkennt man sofort, wo das Problem liegt. Um ein prominentes Beispiel für diese allergische Reaktion zu nennen: Die mehreren tausend gelehrten Seiten von HansUlrich Wehlers »Deutscher Gesellschaftsgeschichte« zeugen von einem hoch entwickelten Gespür für Klasse und Macht, aber ihnen fehlt so gut wie jeder Sinn für Raum oder Ort. Wehlers deutsche Gesellschaft ist eine ohne Küstenstreifen oder Flüsse, ohne Wälder oder Berge, ohne Regionen oder Provinzen. Die Mikrogeschichte hat also in Deutschland zusätzlich zu den methodolo­ gischen Fragen, mit denen sie überall konfrontiert war, mit einer speziellen Bürde des Misstrauens zu kämpfen. Bevor ich mich diesen Fragen zuwende, möchte ich zunächst skizzieren, welche Chancen die Mikrogeschichte in meinen Augen bietet. Sie beschäftigt sich mit zwei Schwachpunkten der strukturellen Sozialgeschichte: ihrer Abstraktheit und ihrer Statik. Mikrogeschichte wirkt der Abstraktion entgegen, weil sie die großen Blöcke, die wir als Staat, Klasse oder Industrialisierung etikettieren, dekonstruiert. Herbert Marcuse meinte einmal, die Abstraktion sei ein Prozess des Vergessens.13 Mikrogeschichte ist ein Prozess des Erinnerns. Zumindest aber zwingt uns die Analyse der Mikroebene, danach zu fragen, was Staat oder Moderne vor Ort konkret bedeuten, in welchem Kontext diese Begriffe stehen. Mitunter wird diese Analyse alternative Taxonomien nahelegen. Wir sind nah genug dran an sozialen Transaktionen, um ihre Qualität zu registrieren – das genaue Gewicht, das der Familie oder Verwandtschaftsbeziehungen zukommt, die Rolle, die Humor, Gesten oder symbolische Formen spielen –, und das kann uns ein greifbares Gefühl dafür vermitteln, wie Macht oder Stand funktionierten. Wichtig dabei ist: Diese Mikrogeschichte ist keine Sozialgeschichte, bei der die Politik »außen vor bleibt«, wie jene weichen Sozialgeschichten der 1970er Jahre, die sich mit Themen wie der Freizeit befassten. Mikrogeschichte beschäftigt sich mit Macht, aber mit Macht in einem breiten Sinne und als etwas, das verhandelbar ist. Mikrogeschichte wirkt aber auch der statischen Sichtweise entgegen, denn im Mittelpunkt steht das Ereignis. Als Ausgangspunkt wählen solche Untersuchungen üblicherweise eine spezielle Episode: einen Fall von Häresie, einen Hexenprozess, ein Charivari, einen angeblichen Betrug. Die Mikrogeschichte betont das Diachrone und weniger das Synchrone: was geschah als Nächstes, welche Wahlmöglichkeiten gab es. Sie präsentiert Geschichte an dem »rohen« Punkt, kurz bevor Ereignisse die Gestalt annehmen, die, rückblickend betrachtet, unvermeidlich erscheinen. Als ich »Marpingen« schrieb, wurde mir immer wieder bewusst, dass ich zu zeigen versuchte, wie Entscheidungen unter dem Eindruck von Ereignissen getroffen wurden, mit oftmals unbeabsichtigten Fol13 Zitiert nach Dening, Performances, S. 204.

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gen. So legte die anfängliche Reaktion lokaler Beamter auf die Marienerscheinungen den preußischen Staat auf eine harte Haltung fest, von der er unmöglich ohne Gesichtsverlust abrücken konnte. Das ist natürlich heikles Terrain. Es gibt ein russisches Sprichwort, das wir immer im Hinterkopf haben sollten, wenn wir uns auf Kontrafaktisches oder Was-wäre-gewesen-wenn einlassen: »Wenn meine Großmutter einen Bart hätte, wäre sie mein Großvater.« Trotzdem glaube ich, dass sich der mikrohistorische Maßstab besonders gut dafür eignet, die Offenheit von Geschichte oder die Rolle des Kontingenten zu erkunden – also den Zwischenbereich zwischen der strukturalistischen Teleologie und der akzidentiellen Geschichtsbetrachtung (Stichwort »Betriebsunfall«). Mikrohistoriker verfügen über die gleichen Möglichkeiten wie Wissenschaftler, die sich mit der großen Politik beschäftigen, befassen sich jedoch mit gesellschaftlichen Gruppen, deren Tun üblicherweise eher spärlich dokumentiert ist. Im Mittelpunkt der Mikrogeschichte stehen das Handeln und Agieren, weshalb besonderer Wert darauf gelegt wird, individuelle Namen zu nennen.14 Sie stellt die Werte, Bestrebungen und Manöver der sozial Marginalisierten gegen die Schranken, vor denen sie stehen, und beschreibt Menschen, die ihre eigene Geschichte zu gestalten versuchen. Der Begriff Erfahrungsgeschichte erscheint zu blass und zu passiv, um klassische Mikrogeschichten wie Carlo Ginzburgs »Der Käse und die Würmer« oder Natalie Zemon Davis’ »Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre« adäquat zu beschreiben.15 Um mit einem Begriff zu sprechen, der dem New Historicism der Literaturwissenschaft entlehnt ist: In diesen Büchern geht es um das »self-fashioning«, die Selbstinszenierung ihrer einfachen Protagonisten. Auf den ersten Blick könnte es so aussehen, als zeichne sich die Mikrogeschichte durch eine intensive Liebe zum Detail aus. »Der liebe Gott steckt im Detail«, sagte Gustave Flaubert einmal. Das war das Lieblingsmotto des Kunsthistorikers Aby Warburg, und auch Carlo Ginzburg – der stark von Warburg beeinflusst war – zitierte diese Sentenz gerne.16 Ginzburg selbst hat darüber geschrieben, wie wichtig das erhellende Detail oder die »Spur« ist.17 Allerdings ist das Detail als solches die gängige Währung jeder geschichtswissenschaftlichen Arbeit. Der Historiker ist der »Dichter der Details«, wie man Michel

14 Siehe beispielsweise C. Ginzburg u. C. Poni, The Name and the Game. Unequal Exchange and the Historiographic Marketplace, in: Muir u. Ruggiero (Hg.), Microhistory, S. 1–10. 15 C. Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, übersetzt von K. F. Hauber, Frankfurt a. M. 1979. Zu Davis siehe die in Anm. 9 genannten Bücher. 16 C. Ginzburg, Kunst und soziales Gedächtnis. Die Warburg-Tradition, in: ders., Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, übersetzt von G. Bonz u. K. F. Hauber, Berlin 2011, S.  83–173, hier S.  91; Ginzburg, Mikrogeschichte. Zwei oder drei Dinge, S. 104. 17 C. Ginzburg, Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, in: ders., Spurensicherung, S. 7–57.

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de Certeau einmal genannt hat.18 Den Büchern von Gerald Feldman oder Hans-Ulrich Wehler mangelt es nun wahrlich nicht an Details, aber niemand wäre je auf die Idee gekommen, sie als Mikrogeschichten zu bezeichnen. Nein, es ist der Maßstab, nicht das Detail, was die Mikrogeschichte auszeichnet und ihr mehr Beachtung verschaffen sollte. Was passiert, wenn man den historischen Maßstab verändert und die Vergrößerung erhöht? Die Antwort lautet: Man kann Dinge erkennen, die vorher unsichtbar waren. Manche erkennen das Universum in einem Sandkorn. So schrieb Karl Lamprecht an Gustav Schmoller: »Hier im Lokalen erscheint das Universelle besonders klar und immanent.«19 Für andere hat das »Drehen« am Maßstab vor allem experimentellen Charakter. Der französische Historiker Jacques Revel meinte einmal zu der Frage, was ihn an der Mikrogeschichte so reize: »Ich interessiere mich nicht besonders für Lokalgeschichte; mich interessiert, wie Gesellschaftsgeschichte funktioniert.«20 Einige Dinge eignen sich besonders gut für die Betrachtung auf dieser Ebene: Familien- und Patronagesysteme, gesellschaftliche Achtung und Konflikte, die Interaktionen zwischen Eliten- und Volkskultur, religiöse Orthodoxie und Heterodoxie. Mikrogeschichte befördert zudem etwas, das sich in einer allgemeinen Darstellung nur schwer bewerkstelligen lässt, nämlich das Wechselverhältnis aufzuzeigen zwischen dem, was wir als das Ökonomische, Soziale, Kulturelle und Politische bezeichnen – allesamt Konstrukte, die als analytische Kategorien unbrauchbar sind, aber auf fast schon sture Weise gerne vergegenständlicht werden. Ich will das an einem Beispiel aus der Wissenschaftsgeschichte erläutern. Wir sind mit einer älteren Art der Darstellung von Wissenschaft und Gesellschaft vertraut. »Wissenschaft« taucht dabei in den Kapiteln 2, 4, 6 und 8 auf, »Gesellschaft« in den Kapiteln 1, 3, 5 und 7. Man vergleiche dagegen »Leviathan and the Air Pump« von Steven Shapin and Simon Schaffer, ein Buch, das auf die gleiche Weise Verbindungen herstellt, wie die Mikrogeschichte das kann.21 Forschung mit diesem Maßstab kann auch dissonante, schrille Elemente in einem historischen Ensemble zu Tage fördern. Ein aufschlussreicher Aspekt der Arbeit an »Marpingen« war der Versuch zu zeigen, auf wie problematische Weise Alt und Neu in einem Dorf, das sich im Wandel 18 T. Conley, Einleitung des Übersetzers zu M. de Certeau, The Writing of History, New York 1988, S. xi. 19 R. Chickering, Karl Lamprecht (1856–1915) und die methodische Grundlegung der Landesgeschichte im Rheinland, in: Landesgeschichte. Historische Grundlagen und neue Herausforderungen, hg. vom Landesverband nordrhein-westfälischer Geschichtslehrer, Paderborn 1992, S. 16–24, hier S. 19. Vgl. auch J. Dewey, »Das Lokale ist das einzig Universelle.« 20 In einem Gespräch am Center for European Studies, Harvard University, 1. Oktober 1997. Vgl. J. Revel, L’histoire aus ras du sol, das Vorwort zur französischen Ausgabe von G. Levis Buch über einen Exorzisten im 17. Jahrhundert (Pouvoir au village, Paris 1989, dt. Das immaterielle Erbe. Eine bäuerliche Welt an der Schwelle zur Moderne, Berlin 1986); J. Revel, Jeux d’échelles. La micro-analyse à l’expérience, Paris 1996. 21 S. Shapin u. S. Schaffer, Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton 1985.

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befand, nebeneinander existierten: Werktätige Bauern untergruben etablierte Familienrollen, neue Formen klerikaler Disziplin liefen dem Volksglauben zuwider, neue Kommunikationsmittel hatten ungleichmäßige Auswirkungen. Mikrogeschichte ist sehr gut geeignet, um ungleiche Gesellschaftsformationen zu erforschen; sie stellt ein ideales Mittel dar, um der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf die Spur zu kommen. Und schließlich, so scheint es, hat die Mikrogeschichte bei denen, die sie betreiben, ein ungewöhnlich hohes Maß an Reflektiertheit darüber bewirkt, wie Historiker ihre historischen Darstellungen konstruieren. Über dieses Thema ist in den letzten Jahren unter Stichworten wie Narrativität, Tropologie und historische Poetik ausgiebig diskutiert worden.22 Doch einer der frustrierendsten Aspekte dieser Debatten war die Tendenz, dass Theorie und beruflicher Common Sense aneinander vorbeiredeten. Ich bin davon überzeugt, dass Historiker stärker über diesen Aspekt ihres Tuns nachdenken sollten – über die verschiedenen Erzählformen, die uns zur Verfügung stehen, über die Möglichkeiten, innerhalb eines Textes die Perspektive zu wechseln, über den Ton oder das Sprachregister, in dem wir schreiben. Kaum jemand ist in diesen Fragen mutiger vorangegangen als Mikrohistoriker.23 Wo aber liegen dann die Probleme der Mikrogeschichte? Eine häufig geäußerte Befürchtung lautet, die Beschäftigung mit den »Petitessen« berge in der Tat die Gefahr der »Trivialisierung«. Es ist wenig gewonnen, wenn wir aus der Bratpfanne der Abstraktion ins Feuer des Nominalismus springen. Es besteht die Gefahr, dass wir der Fragmentierung, der Vervielfachung der pointil­listischen Geschichten Vorschub leisten. An die Stelle der Gefahren eines geschlossenen, homogenen Handlungsfadens (»Modernisierung«, »Klassenkonflikt«) treten die Gefahren des »anything goes«. Ich erkenne darin ein altes Thema und ein neues. Das alte Thema ist, dass wir darauf bedacht sein sollten, nicht methodisch konservativen Historikern in die Hände zu spielen, die der Theorie misstrauen und die Mikrogeschichte als Waffe gegen die strukturalistische Sozialgeschichte weberianischer, marxistischer oder irgendwelcher anderer Provenienz in Stellung bringen wollen. Ich habe meine Studentenzeit an der Cambridge University verbracht, wo sich die vorherrschende Geschichtsphilosophie (so man sie denn überhaupt so nennen kann) auf den Refrain reduzierte: »Ja, ja, interessante Theorie, aber in Wirklichkeit war alles viel kompli22 Siehe H. White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa (orig. 1973), übersetzt von P. Kohlhaas, Frankfurt a. M. 1991; F. Ankersmit, Narrative Logic. A Semantic Analysis of the Historian’s Language, Den Haag 1983; A. Rigney, The Rhetoric of Historical Representation. Three Narrative Histories of the French Revolution, Cambridge 1990; P. Carrard, Poetics of the New History. French Historical Discourse from Braudel to Chartier, Baltimore 1992; F. Ankersmit u. H.  Keller (Hg.), The New Philosophy of History, Chicago 1995. 23 Ginzburg, Mikrogeschichte. Zwei oder drei Dinge; Ginzburg u. Poni, The Name and the Game; G. Levi, On Microhistory, in: P. Burke (Hg.), New Perspectives in Historical Writing, University Park, PA 1991, S. 93–113.

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zierter.« Und es war natürlich auch viel komplizierter, das ist immer so. Aber den Zoom auf der Mikroebene zu vergrößern ist attraktiver, wenn es der kritischen Erkenntnis dient und nicht die antitheoretischen Vorbehalte engstirniger Empiriker bestätigt. Das ist natürlich kein Vorwurf, den man einem Carlo Ginzburg, einem Carlo Poni oder einem Jacques Revel machen könnte, sondern er richtet sich gegen Historiker, für die Mikrogeschichte problemloses, »antistrukturalistisches« Geschichtenerzählen bedeutet. Das neue Thema betrifft das, was der postmoderne französische Philosoph Jean Baudrillard das Problem des »Hyperrealen« in der heutigen Kultur genannt hat. Jeder, dem die Mikrogeschichte am Herzen liegt, muss ein gewisses Unbehagen empfinden, wenn Baudrillard die »Ideologie gelebter Erfahrung« seziert oder über den »Schauer des Realen« spottet.24 Die Gattungen, die Baudrillard in seiner Kritik mit der Geschichtsschreibung verbindet – das Cinema verité, die Dokumentation mit versteckter Kamera –, legen nahe, dass Mikrohistoriker sich mit gutem Grund angesprochen fühlen dürfen, wenn Baudrillard die »panische Produktion des Realen« kritisiert.25 Ein vertrauterer Aspekt betrifft die Frage der Repräsentativität. Warum dieses Ereignis erforschen und nicht jenes? Kann man, da diese Episoden ja nicht zufällig ausgewählt werden, zeigen, dass sie typisch sind oder emblematischen Charakter besitzen? Diese Fragen haben besonderes Gewicht, denn Mikrogeschichten befassen sich (aus quellenbedingten Gründen) häufig mit Ereignissen, die Grenzen überschreiten oder gegen Regeln verstoßen. Die übliche Antwort lautet mit Edoardo Grendi, dass die mikrohistorische Episode »das außergewöhnlich Normale« repräsentiert. Das heißt erstens, dass marginale und exzeptionelle Fälle am deutlichsten sichtbar machen, wie Macht üblicherweise ausgeübt wird, und zweitens, dass die betreffenden Handlungen von den Autoritäten als außergewöhnlich definiert werden mögen, im eigenen Milieu der »Grenzüberschreiter« aber eher typisch sind.26 Das erste Argument erscheint mir überzeugend, und es ist zugleich ein gutes Beispiel für die Sensibilität der Mikrohistoriker dafür, auf welche Weise dokumentarisches Belegmaterial erzeugt wird. Ein »atypischer«, marginaler Fall kann tatsächlich Einblick in unsichtbare Ebenen der Geschichte, in die Spielregeln vermitteln. Das zweite Argument überzeugt weniger. Es besteht die Gefahr, dass Mikro­ historiker für das Häretische empfänglicher sind als für das Orthodoxe, dass sie lieber nach Abweichung als nach Fügsamkeit suchen. Die Tatsache, dass Mikro24 J. Baudrillard, Simulacra and Simulation, Ann Arbor, MI 1994, S. 1–42, hier S. 27 f. 25 Baudrillard, Simulacra and Simulation, S. 7. Vgl. dazu die Kritik von M. Geyer u. K. Jarausch an »berichtenden Geschichten, die Unmengen an Quellenmaterial […] auf einem winzigen Thema abladen«. The Future of the German Past. Transatlantic Reflections for the 1990s, in: Central European History, Jg. 22, 1989, S. 229–259, hier S. 244. Sie beziehen sich dabei allerdings auf Historiker wie Henry A. Turner. 26 Siehe Ginzburg u. Poni, The Name and the Game, S. 7 f.; Ginzburg, Mikrogeschichte. Zwei oder drei Dinge, S. 110.

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historiker nicht viel für statistisches Belegmaterial übrig haben, trägt nicht gerade dazu bei, diese Sorge zu entkräften. Es gibt aber noch ein paar andere Probleme mit der Mikrogeschichte. Sie zeigen sich ganz deutlich bei zwei der berühmtesten Beispiele dieser Gattung, »Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre« und »Der Käse und die Würmer«. Ich habe diese Bücher bewundert (und tue das noch immer). Ich habe beide wieder gelesen, als ich mich daranmachte, »Marpingen« zu schreiben, weil ich dachte, sie könnten als Modell dienen. Stattdessen habe ich ein viel umfangreicheres und langweiligeres Buch verfasst. Warum der Entschluss, länger und langweiliger zu schrieben? Was den Umfang angeht, so war er zum Teil durch die schiere Menge an Quellenmaterial bedingt, das mir zur Verfügung stand. Darin liegt auch ein Unterschied zwischen Historikern der frühen Neuzeit und solchen der Neuzeit. Hätte ich nicht Dinge, die ich wusste, weggelassen, wäre ein 130-seitiges »Marpingen« genauso unwahrscheinlich gewesen wie ein 500 Seiten starker »Martin Guerre«. Gleichwohl wäre ein knappes Buch möglich gewesen, und dass es anders kam, hat auch mit ganz bewussten Entscheidungen zu tun. Ich bin diesen Weg auch gegangen, weil mich zwei Aspekte dieser bemerkenswerten Bücher, die mir einst als mögliche Vorbilder erschienen waren, nachdenklich stimmten. Der eine war die Verwendung der induktiven Schlussfolgerung als Mittel, um noch den letzten Tropfen aus den Quellen zu pressen. Nehmen wir ­Natalie­ Zemon Davis. Auf den ersten beiden Seiten des Kapitels »Der unzufriedene Bauer« finden sich folgende Wendungen: wohl, soweit bekannt ist, vermutlich, mag, vielleicht, offenbar. Dabei spricht Davis ganz offen über die Probleme mit dem Quellenmaterial, und das animiert den Leser dazu, ihrer Darstellung Glauben zu schenken. Gleichzeitig erzielt sie mit Hilfe impliziter rhetorischer Mittel einen Plausibilitätseffekt. Ein wiederkehrendes Mittel ist ein Absatz im Konjunktiv, der mit einem vernehmlichen Indikativ beendet wird, womit all der sorgsam geäußerte Zweifel mit einem Schlag beseitigt wird.27 Carlo Ginzburg wiederum spricht beredt über das, was er als mutmaßliche Schlussfolgerung bezeichnet. Ihm wird sogar eine Regel zugeschrieben, die verhindern soll, dass die Konjektur zu einem Zirkelschluss führt: Die Interpretation, welche die wenigsten Hypothesen erfordert, soll übernommen werden. Nach »Occam’s razor« hat man das als »Ginzburg’s razor« bezeichnet.28 Man lese daraufhin den Anfang von »Der Käse und die Würmer«, kurz nachdem der Müller Menocchio vorgestellt wurde. In nur dreißig Zeilen, in denen es um seinen Reichtum und seinen Status geht, tauchen folgende Begriffe auf: wird gegangen sein, wir wissen nicht, scheint, eventuell, wahrscheinlich, vielleicht, wird gedient haben. 27 Es gab auch noch andere Kritiker von Davis. Siehe R. Finlay, The Refashioning of Martin Guerre, sowie die Antwort darauf von N. Zemon Davis’, On the Lame, in: American Historical Review, Jg. 93, 1988, S. 553–571 bzw. 572–603 (wobei ich Finlays Attacke in mehrfacher Hinsicht unfair finde); M. Maurer, Geschichte und Geschichten. 28 E. Muir, Introduction. Observing Trifles, in. Muir u. Ruggiero (Hg.), Microhistory, S. xixf.

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Wenn das Ginzburgs Rasiermesser ist, dann kann man durchaus den Eindruck gewinnen, als habe er sich damit selbst die Kehle durchgeschnitten. Um es klar und deutlich zu sagen: Ich glaube nicht, dass Fakten für sich selbst sprechen. Quellen müssen gegen den Strich gelesen werden, Unbekannte müssen logisch erschlossen werden. Doch diese klassischen Mikrogeschichten werfen wichtige Fragen dahingehend auf, wie wir unsere Erzählungen konstruieren. Argumente zu diesem Thema bewegen sich allzu oft auf einem hohen Verallgemeinerungsniveau. Autoren wie Hayden White oder Sande Cohen stellen umfassende, globale Behauptungen über die »Modellierung« von Geschichte auf; empirische Historiker reagieren darauf mit einer rigid-absoluten Verteidigung »korrekter« archivalischer Verfahren.29 Diese manichäische Diskussion ist wenig hilfreich. Das Thema lässt sich auf produktivere Weise angehen, wie das Beispiel von Autoren wie Roger Chartier und Michel de Certeau in Frankreich oder Nancy Partner und Allan Megill in den USA zeigt. Sie alle erkennen auf je unterschiedliche Weise den narrativen, »fiktionalen« Charakter von Geschichtsschreibung (ihre »Modellierung«) an, verweisen jedoch zugleich auf die Schranken, auf die wissenschaftliche Disziplin und auf die Verfahren, die verhindern, dass Historiker machen, was sie wollen.30 Es geht dabei nicht um Absoluta, nicht um ein Entweder/Oder, sondern um praktische Fragen. Wenn dabei ein Prinzip im Spiel ist, dann könnte man es das Prinzip der Angemessenheit oder Verhältnismäßigkeit nennen. Wie viel Konjunktiv und Konditionalis verträgt ein Argument? Wie lang sollte die Kette sein, die den Historiker an die Quellen bindet? Was gewinnt man, was verliert man, wenn man sich dazu entschließt, eine historische Darstellung auf eine bestimmte Weise zu k­ onstruieren? Ein Merkmal, das »Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre« und »Der Käse und die Würmer« gemeinsam haben, ist ihre Kürze, ihr Tempo und ihre Spannung als Erzählungen. Als Texte sind sie ausgesprochen zugänglich  – doch das hat seinen Preis. Auch dabei geht es wieder um einen allgemeineren Aspekt. In manchen Mikrogeschichten (nicht in allen und nicht in der Alltagsgeschichte) fällt mir die Tendenz auf, dass menschliche Akteure auf Kosten der Welten, in denen sie leben, dominieren. Es ist ein seltsames Paradoxon, dass eine Gattung, die gerne mit Clifford Geertz’­ Kategorie der »dichten Beschreibung« charakterisiert wird, Studien hervor29 White, Metahistory, und ders., Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses (orig. 1978), Stuttgart 1991, insbes. die Kapitel 1–5; Siehe Cohen, Historical Culture. On the Recoding of an Academic Discipline, Berkeley 1986; und als Beispiel für eine sachlich-nüchterne Antwort A. Marwick, Two Approaches to Historical Study. The Metaphysical (including Postmodernism) and the Historical, in: Journal of Contemporary History, Jg. 30, 1995, S. 5–34. 30 Siehe M. de Certeau, Das Schreiben der Geschichte (orig. 1975), übersetzt von S. M. Schornburg-Scherff, Frankfurt a. M. 1991, insbes. S. 71–133; R. Chartier, On the Edge of a Cliff, Baltimore 1997, insbes. S. 13–47; N. F. Partner, Historicity in an Age of Reality-Fictions; sowie A. Megill, »Grand Narrative« and the Discipline of History, beide in: Ankersmit u. Kellner (Hg.), The New Philosophy of History, S. 21–39 bzw. 151–173.

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gebracht hat, die kaum mehr beschreiben als die geistigen Aktivitäten ihrer dramatis personae. Das Friaul in »Der Käse und die Würmer« ist ein überraschend schütterer, unwirklicher Ort; Artigat in »Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre« wird mit breiten Strichen skizziert. Das hat natür­lich zum Teil  mit unzureichendem Quellenmaterial zu tun. Gleichwohl hinderten die Probleme und Lücken der Quellen aus dem frühen 14. Jahrhundert Emmanuel Le Roy Ladurie nicht, das Dorf Montaillou ausgesprochen detailliert zu schildern, in einem Buch, das Mentalitätsgeschichte mit einem ausgeprägten Gespür für Topographie und materielles Leben verbindet.31 Ebenso wenig hielt die dünne Quellenlage für das frühe 18.  Jahrhundert Jonathan Spence davon ab, seinen Lesern in der Mikrogeschichte »Der kleine Herr Hu« ein genaues physisches Gefühl für Kanton und die brasilianische Allerhei­ ligen-Bucht, Port Louis und Charenton zu vermitteln.32 Wir sind nicht nur Opfer unserer Quellen. Wir treffen Entscheidungen darüber, was wir aufnehmen und weglassen, und das bedeutet unter anderem, dass wir die Bedürfnisse des erzählerischen Schwungs mit den Erfordernissen der begrifflichen Strukturierung, der Informationsvermittlung und der Aufnahme von Quellenmaterial in Einklang bringen. Als ich darüber nachdachte, wie ich mein Buch »­Marpingen« aufbauen sollte, verspürte ich gewisse Vorbehalte eher handwerklicher als philosophischer Art gegenüber dem, was ich alles hätte opfern müssen, wenn ich eine 130-seitige histoire scandaleuse daraus gemacht hätte. Heute bin ich zudem befremdet durch die Ironie der Tatsache, dass die Texte von Ginzburg und Davis als Modelle für heutige Experimente mit der historischen Form gelten. Ginzburgs rhetorische Mittel – kurze episodenhafte Szenen (oder ­takes), plötzliche Verschiebungen der zeitlichen Abfolge, die Wiederholung nicht kontextualisierter Sätze als Leitmotive – sind darauf angewiesen, dem Leser Informationen vorzuenthalten und sie anschließend plötzlich preiszugeben. Davis stellt die psychologische Motivation ihrer Protagonisten in den Mittelpunkt ihrer Erzählung und lässt ganz bewusst fiktionale Formen anklingen ­(»Martin träumte von einem Leben jenseits von Hirsefeldern, Ziegeleien, Besitzungen und Hochzeiten.«).33 Die Ironie dabei ist: Den Historikern wurde immer wieder, von Hayden White und anderen, erklärt sie seien einer vormodernen, aus dem 19.  Jahrhundert stammenden Art der »realistischen« Erzählung verhaftet. Das ist ein wichtiger Punkt, der eine ernsthafte Betrachtung verdient. Doch was ist das Vorbild für die vielgepriesenen formalen Experimente der Mikrogeschichte? Der Sensationsroman des 19.  Jahrhunderts und insbesondere die 31 E. Le Roy Ladurie, Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor 1294–1324, übersetzt von P. Hahlbrock, Frankfurt a. M 1980. Allerdings wurde auch Le Roy Laduries Verwendung der Quellen kritisiert. Siehe L. E. Boyle, Montaillou Revisited. Mentalite and Methodology, in: J. A. Raftis (Hg.), Pathways to Medieval Peasants, Toronto 1981, S. 119–140. 32 J. D. Spence, Der kleine Herr Hu. Das Buch erzählt von dem katholischen Chinesen John Hu, der 1722 einen Jesuitenmissionar nach Frankreich begleitete und schließlich in der Irrenanstalt von Charenton landete. 33 Davis, Martin Guerre, S. 38.

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Detektivgeschichte! In einem berühmten Aufsatz über die »Spurensicherung« verglich Carlo Ginzburg die mutmaßenden Methoden der Mikrohistoriker mit den Methoden eines Sherlock Holmes, während Davis erklärte, die litera­rische Konstruktion des »Martin Guerre« sei dazu gedacht, dass man das Buch in einem Rutsch »wie eine Detektivgeschichte« lesen könne.34 Doch auch dort, wo sie Zweifel weckt, fordert uns die Mikrogeschichte heraus. Sie wirft Fragen im Hinblick auf den auktorialen Ton und auf das Register der Tonlagen auf, in denen wir über geschichtliche Akteure sprechen können, und sie war Experimentierfeld für reflektiertere Formen der historischen Darstellung. Beides ist wichtig, auch wenn wir uns – um Rudolf Haym zu zitieren, der das vor 160 Jahren schrieb – der Gefahr bewusst sein sollten, »dass man aufhör[t]e gründlich zu sein, um geistreich, populär und gefällig zu sein«.35 (So wie es aussieht, scheint freilich kaum die Gefahr zu bestehen, dass deutsche Histo­ riker übermäßig geistreich oder gefällig werden, ganz gleich, welchen Stils sie sich bedienen.) Die Mikrogeschichte konfrontiert Historiker zudem mit der Frage nach dem Maßstab, in dem sie schreiben. Jacques Revelles jeux d’échelles hatten befreiende Wirkung. Erhöht man die Vergrößerung, hat das den Vorteil, dass man den Kontext, den Ort, die Bedeutung, das menschliche Element, die Entscheidungen und – ja – den Bereich der Erfahrung in den Mittelpunkt rückt. Das heißt nicht, dass wir alles andere, was die Sozialhistoriker gelernt haben (und wofür sie häufig gescholten wurden), verwerfen sollten wie etwa die Bedeutung des Zählens, der Formulierung expliziter Theorien, des Vergleichs und der Verortung menschlicher Erfahrung in einem allgemeineren Rahmen – und diese Rahmen sind deutlich weniger monolithisch oder teleologisch als noch in den 1970er Jahren. Ich fände es schön, wenn die Historiker weiter über die vielen verschiedenen Möglichkeiten nachdenken würden, wie sie die kleine Geschichte und das große Bild zusammenbringen können.36 Ist Erstere nur ein Teil eines größeren Puzzles? Hat sie repräsentative oder symptomatische Bedeutung? Ist sie ein Mikrokosmos des größeren Ganzen, wie Lamprecht meinte? Legt sie neue Taxo­nomien nahe oder schafft sie völlig neue Möglichkeiten, wie man das größere Bild sehen kann? All das ist durchaus denkbar. Man kann sich aber auch gelungene Versuche dessen vorstellen, was Natalie Zemon Davis als »dezentrierten Vergleich« bezeichnet hat, zu dem zwei oder mehr räumlich getrennte (und möglichst transnationale)  mikrogeschichtliche Fälle gehören. Ich hoffe, deutsche Historiker werden weiter Möglichkeiten diskutieren, wie sich die wachsende Zahl kleiner Geschichten zu einer neuen Synthese verweben lässt. Diese Metapher aus der Welt der Textilien findet sich mehrfach in dem oben erwähnten 34 Ginzburg, Spurensicherung; Davis, On the Lame, S. 575. 35 R. Haym, Wilhelm von Humboldt, Osnabrück 1856, S. 70. 36 Nützliche Diskussionsbeiträge dazu finden sich in K. Acham u. W. Schulze (Hg.), Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichte und Sozialwissenschaften, München 1990.

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Aufsatz von Michael Geyer und Konrad Jarausch, der sich an einer Bestandsaufnahme der deutschen Geschichtsschreibung nach den Ereignissen von 1989 versuchte. Schließen will ich mit einer Metapher aus dem Gartenbau. Die brauchbarsten Geschichten werden möglicherweise – wie die robustesten Rosen – die hybriden Sorten sein. Aber der Verfasser eines hybriden Texts wie »Marpingen« muss so etwas vermutlich auch sagen.

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19. Periodisierung in der Geschichtswissenschaft1 Für die Zeit interessiert sich jeder, doch Historiker haben ein beruflich bedingtes Interesse daran. Sie haben bemerkenswert vielfältige Methoden entwickelt, um die Zeitläufe zu zerteilen und zu etikettieren. Sie haben sie nach Herrschergeschlechtern oder anderen Individuen benannt (Marc Bloch, der französische Historiker der »Annales«-Schule, sprach davon, die Geschichtsschreiber würden sich »an das ewige Auf und ab von Regentschaften« halten oder gar »von einer Jahreszahl zur nächsten […] humpeln«), sodass Studenten es mit Zeiträumen zu tun bekommen, die man als napoleonisch, viktorianisch oder wilhelminisch, als Meiji-Zeit oder als das Zeitalter Jacksons bezeichnet, um nur ein paar Beispiele aus dem 19. Jahrhundert zu nennen, in dem ich mich am besten auskenne.2 Dann gibt es natürlich die Jahrhunderte als solche, die Bausteine so vieler Seminare und Lehrbücher, dass man sich nur wundern kann, wie eisern das Dezimalsystem die historische Imagination im Griff hat. Und nicht zuletzt wird Geschichte in begriffliche Einheiten untergliedert. Das können Varianten des Gegensatzes zwischen Antike und Neuzeit sein; das können Epochen sein, die sich durch ein Gefüge von Ideen oder Praktiken (Renaissance, Auf­k lärung) oder durch übergreifende politische und soziale Entwicklungen (das Zeitalter der Revolutionen, das imperiale Zeitalter) definieren. Sobald wir das Terrain begrifflich definierter Epochen betreten, sind den Etiketten der Historiker allein durch die Zahl der abstrakten Substantive Grenzen gesetzt, die sich an »Zeitalter des/der« anfügen lassen, beginnend mit »Angst« und dann weiter das ganze Alphabet hindurch. Ich gehe davon aus, dass jeder Leser diese Epocheneinteilungen als willkürliche Konstrukte erkennt. Das ist eine alte Wahrheit. In seinem Aufsatz »Was ist Geschichte?«, warnte Thomas Carlyle, das, was an uns überliefert sei, sei nicht »die wahre historische Tatsache […], sondern nur eine mehr oder weniger glaubhafte Theorie über sie oder das zur Übereinstimmung gebrachte Resultat vieler solcher Theorien«, und wetterte über die Willkürlichkeit gängiger Epochengrenzen: »Unsere Uhr schlägt bei jedem Wechsel von Stunde zu Stunde; aber kein Hammer der Zeitenuhr ertönt durch die Welt, wenn von einem Zeitalter zum anderen eine Veränderung eintritt.«3 Ähnlich streng urteilte Thomas 1 Dieser Aufsatz erschien ursprünglich in PMLA, 127/2 (2012), S. 301–307. 2 M. Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, nach der von E. Bloch edierten französischen Ausgabe hg. von P. Schöttler, mit einem Vorwort von J. Le Goff, übersetzt von W. Bayer, Stuttgart 2002, S. 194. 3 T. Carlyle, Was ist Geschichte?, in: ders., Zerstreute historische Aufsätze, übersetzt von Th. U. Fischer, Leipzig, S. 1–14, hier S. 6.

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Mann in seinem Roman »Der Zauberberg«: »Die Zeit hat in Wirklichkeit keine Einschnitte, es gibt kein Gewitter oder Drommetengetön beim Beginn eines neuen Monats oder Jahres, und selbst bei dem eines neuen Säkulums sind es nur wir Menschen, die schießen und läuten.«4 Eine der am häufigsten zitierten Polemiken gegen konventionelle chronologische Unterteilungen stammt von Lord Acton. In seiner Antrittsvorlesung in Cambridge 1895 gab er seinen Zuhörern neben vielen anderen Hinweisen (»sei auf der Hut vor dem Zauber großer Namen«, »traue nicht ohne zu prüfen«) vor allem folgenden Rat: »studiere lieber Probleme als Perioden.«5 So weit, so gut. Aber ist die Unterscheidung zwischen Problemen und Perioden wirklich so klar? Als Probleme, die eine Erforschung verdienen, nennt Acton »den Stammbaum Luthers, den Einfluß Bacons auf die Naturwissenschaft, die Vorgänger Adam Smiths, die mittelalterlichen Lehrer Rousseaus, die Folgerichtigkeit Burkes, die Feststellung des ersten Whig«.6 Diese Auflistung ist bezeichnend. Trotz seiner Kritik an der Periode als Untersuchungseinheit geht Acton von einer typisch viktorianischen Stufentheorie historischer Perioden, die aufeinander folgen, aus. Die Frage, auf die seine »Probleme« eine Antwort darstellen, ließe sich in etwa so formulieren: »Wo und wann entstand die moderne Freiheit?«. Und Actons Antwort lautet schlicht und einfach: im Westen zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. Mit anderen Worten: Seine »Probleme« verweisen auf eine ganz spezielle Art der Periodisierung, die wir heute als Aufstieg der westlichen Zivilisation betrachten, und es finden sich all die üblichen Verdächtigen. Es ist verblüffend, wie häufig die vertraute Epochenzählung die Arbeit von Historikern des 20. Jahrhunderts bestimmt, die eigentlich völlig anders sind als Lord Acton. Man nehme beispielsweise einen Mann wie Reinhart ­Koselleck. Man darf wohl mit Fug und Recht behaupten, dass kein Historiker des letzten Jahrhunderts so tiefsinnig über die Zeit nachgedacht und geschrieben hat. Das war Teil  des geistigen Erbes, das er Martin Heidegger und Hans-Georg­ Gadamer verdankte. Liest man seine berühmten Aufsätze und Aufsatzsammlungen, so begegnet man einem Historiker, der über Zeiteinheiten reflektiert, die vom »Moment« und »Augenblick« bis zu Jahrtausenden reichen. Er sinnt über die Unterschiede nach zwischen dem, was er als natürliche und als historische Zeit bezeichnet, er erörtert die historische Verwurzelung der kalendarischen Zeit und der Uhrzeit (»Zeitmessung«) und seziert zeitbedingte historische Begriffe wie »Fortschritt« und »Niedergang«. Viele Seiten dieser adstringierenden, gelehrten Aufsätze lassen sich jedoch unmöglich lesen, ohne dass man über Hinweise und Bezugnahmen auf konventionelle Epochenmarkierungen stolpert – Antike, Mittelalter. Und das, obwohl Koselleck, wie er mit Wendungen wie der von der »Erfindung des Mittelalters« zeigt, nur allzu gut weiß, dass 4 T. Mann, Der Zauberberg. Roman, Frankfurt a. M. 1991, S. 311. 5 Lord Acton [J. E. E. Dalberg], Über das Studium der Geschichte. Eröffnungsvorlesung gehalten zu Cambridge am 11. Juni 1895, übersetzt von J. Imelmann, Berlin 1897, S. 29 f. 6 Lord Acton, Studium, S. 30.

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diese Epochen ihrerseits geschichtswissenschaftliche Konstrukte sind.7 Dieses Beharrungsvermögen lässt sich auf verschiedene Weise interpretieren. Pessimisten könnten sagen: Ganz gleich welchem Gegenstand sich Historiker zuwenden, sie sind immer von den Überresten früherer Periodisierungsbemühungen umgeben, selbst wenn sie denen gerade entkommen möchten. Optimisten hingegen könnten behaupten, dass sich die Epochenrahmen trotz aller scheinbaren Beharrlichkeit und Kontinuität in ständiger Veränderung befinden. Dieser Ansicht bin auch ich. Die Geschichtswissenschaft ist eine großzügige Disziplin, insofern so gut wie nichts je »falsifiziert« oder völlig verworfen wird. Manche Historiker sprechen etwas schwülstig von den »vielen Häusern Klios«. Wie ich an anderer Stelle vorgeschlagen habe, sollten wir uns stattdessen lieber »ein großes Hotel« vorstellen, »in dem neue Gäste einchecken, während von den alten Bewohnern keiner darum gebeten wird, abzureisen«.8 Diese Eigenschaft des Hotels Historie, seine Mischung aus Alt und Neu, zeigt sich ganz deutlich an der Art und Weise, wie seine Bewohner mit Periodisierungsfragen umgegangen sind. In ihren Grundzügen bleiben die alten Markierungen erhalten, aber sie werden ständig gedehnt und neu ausgerichtet, zusammengezogen und erweitert, verfeinert und angepasst, damit sie neuen Bedürfnissen entsprechen. Im Folgenden will ich anhand einiger Aspekte zeigen, wie das vor sich gegangen ist. Zunächst haben Historiker neue Untergruppen und Zeiträume entwickelt. Das war ein Prozess der fortwährenden Erfindung und Veränderung, wie er auch in anderen Disziplinen zu beobachten ist.9 Einst gab es nur das Altertum und die Neuzeit. Erst die Autoren der Renaissance entwickelten die Vorstellung von einem Mittelalter, ein Begriff, der sich – wie der Renaissancebegriff selbst, der ursprünglich nur für die Kultur gelten sollte – ungleichmäßig ausbreitete, aber allgemein akzeptiert war, als die Geschichtswissenschaft Anfang des 19.  Jahrhunderts ihre Identität als Fachgebiet erlangte. Seither wurde die Periodisierung immer weiter verfeinert, wobei die Epochen in immer kürzere Zeiteinheiten untergliedert wurden: frühe Antike und Spätantike; frühes, hohes und spätes Mittelalter. Viele dieser Veränderungen erfolgten erst vor kurzem. So hat sich etwa der Begriff des frühneuzeitlichen Europa, der den Zeitraum 7 Vgl. insbes. R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989; ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, dort auch das Zitat S. 322; ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006; ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, Frankfurt a. M. 2010; ders., Zeit und Geschichte, in: Klett Cotta. Das erste Jahrzehnt 1977–1987. Ein Almanach, hg. von T. Weck, Stuttgart 1987, S. 195–216. 8 D. Blackbourn, The Long Nineteenth Century. A History of Germany 1780–1918, New York 1998, S. xvii. 9 James Webster hat beispielsweise gezeigt, dass bei den meisten (aber nicht bei allen) Musikwissenschaftlern an die Stelle der einst strengen Unterteilung des 18. Jahrhunderts in Barock und Klassik die Vorstellung von einem »zentralen« 18. Jahrhundert getreten ist, das von 1720 bis 1780 dauerte. J. Webster, The 18th Century as a Music-Historical Period, in: EighteenthCentury Music, Jg. 1, 2004, S. 47–60.

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zwischen 1500 und 1800 bezeichnet, erst nach dem Zeiten Weltkrieg in Lehr­ veranstaltungen, Büchern und Zeitschriften etabliert. Im deutschsprachigen Raum wurde der erste Lehrstuhl für die Geschichte Europas vom 16. bis zum 18. Jahrhundert 1951 an der neu gegründeten Freien Universität in Berlin eingerichtet. Erst 1959 beschloss der deutsche Historikerverband formell, die Aufteilung von Lehrstühlen in ältere und jüngere Neuzeit voranzutreiben, und erst 1973 wurde der erste Lehrstuhl für die Geschichte der frühen Neuzeit zur Besetzung ausgeschrieben.10 Aus dem Versuch, den Übergang von der frühen Neuzeit zur Moderne zu beschreiben, resultierte der von Reinhart Koselleck geprägte Begriff der »Sattel­ zeit« für eine Übergangsphase, welche die Jahre 1750 bis 1850 umfasst. Für ­Koselleck waren diese Jahre nicht nur durch das vertraute Repertoire sozialer und politischer Veränderungen geprägt, sondern auch durch die veränderte Bedeutung von Wörtern wie ›Staat‹ und ›Bürger‹, durch die Entstehung neuer Begriffe wie dem der ›Klasse‹ und nicht zuletzt durch neue Formen der Geschichts- und Zeiterfahrung.11 Mit anderen Worten: Kosellecks »Sattelzeit« konnte als Neubeschreibung des »Zeitalters der Revolutionen« gelten, bei der Geschichte und politische Philosophie Berücksichtigung finden – wie man das von einem deutschen Historiker erwarten darf. Kosellecks Wortschöpfung verdient breitere Beachtung, als sie bislang erfahren hat, wirft jedoch auch Fragen auf, denen ich mich gleich zuwenden werde. Eine noch jüngere Begriffs­prägung betrifft eine andere Übergangsphase, nämlich die Zeit der »klassischen Moderne«, die in etwa die Jahre zwischen 1880 und 1930 umfasst. Dieser Begriff wird vor allem mit dem Historiker Detlev Peukert in Verbindung gebracht, dessen einflussreiches Buch über die Weimarer Republik den Untertitel »Krisenjahre der Klassischen Moderne« trägt.12 Ihm zufolge erhielt diese Zeit ihre Einheit durch eine Kombination von Entwicklungen, zu denen eine neue Phase der Industrialisierung und der Rationalisierung, die Umsetzung sozialpolitischer Maßnahmen auf weitgehend eugenischer Basis, die verstärkte Rationa­ lisierung zahlreicher Lebensbereiche, die Entstehung der Massenkultur und die gesteigerte Bedeutung der Avantgarde gehörten. Die von Peukert vorgeschlagene Periode der »klassischen Moderne« verdankte sich Debatten innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft, lässt sich jedoch potenziell viel breiter anwenden. Peukert folgte dabei denjenigen, die die Vorstellung von einem deutschen »Sonderweg«, einer von westlichen Normen abweichenden »gescheiterten 10 W. Reinhard, Gebhardt Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd.  9. Probleme deutscher Geschichte 1495–1806, Stuttgart 2001. 11 R. Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: ders., Zeitschichten, S. 298–316, hier S. 302 f.; ders., Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: ders. u. R. Herzog (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein (= Poetik und Hermeneutik. Bd. 12), München 1987, S. 269–282. 12 D. J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987.

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Modernisierung«, ablehnten.13 Stattdessen vertrat er die Ansicht, Deutschland repräsentiere den klassischen Fall – man könnte auch sagen: die destillierte Essenz  – einer allgemeineren Krise der »Moderne«. Über diese These lässt sich streiten, aber, worum es dabei geht, steht außer Zweifel. Zwar haben Ausweitung und Spezialisierung innerhalb des Faches zweifellos zur Erfindung neuer Zeitabschnitte beigetragen, doch mindestens genauso stark wurde die Proliferation durch die intellektuelle Debatte vorangetrieben – also durch den vermeintlichen Inhalt der in Rede stehenden Perioden. Von der polemischen Verwendung des Terminus ›Mittelalter‹ bis zu den nicht minder polemischen Ansichten, die hinter der klassischen Moderne stecken, war die Periodisierung eine Art von Wettstreit. Das gilt großteils auch für die »langen« und »kurzen« Jahrhunderte, die inzwischen bestens vertraut sind. Sie sind in hohem Maße ein Produkt geschichtswissenschaftlicher Diskussionen seit 1945, auch wenn es ein paar Jahre davor ein seltsames Vorspiel gab. Als Marc Bloch über die »merkwürdige[n] Bedeutungsverschiebungen«, schreibt, zu denen es kommt, wenn Historiker sklavisch nach Jahrhunderten zählen, zitiert er aus dem Referat eines Studenten: »Bekanntlich beginnt das 18. Jahrhundert 1715 und endet 1789.« Bloch behauptet, er sei selbst unsicher, ob es sich dabei um »Gedankenlosigkeit oder Hintersinn« handle.14 Welche Motive diesen anonymen Studenten wirklich zu seiner Behauptung veranlassten, werden wir nie in Erfahrung bringen, aber abgesehen davon war es Fernand Braudel, Blochs Nachfolger als Oberhaupt der zweiten Generation der »Annales«-Historiker, mit dessen bahnbrechender Studie über den Mittelmeerraum der Prozess in Gang kam, lange und kurze Jahrhunderte auszumachen. Darin war vom »langen 16.  Jahrhundert« die Rede.15 Der Begriff blieb haften und wurde aufgegriffen von Immanuel Wallerstein, der die Ursprünge des modernen »Weltsystems« – der europäischen Dominanz durch militärische und logistische Überlegenheit in einem globalen Handelssystem – in einem langen 16. Jahrhundert verortete, das von 1450 bis 1650 dauerte.16 Seither mangelt es keinem Jahrhundert an einer langen oder kurzen Fassung, wobei Erstere bevorzugt werden. Nicht alle waren auf so produktive Weise provokativ wie das lange 16.  Jahrhundert von Braudel und Wallerstein. Man gewinnt nicht viel, wenn man von einem »langen 17. Jahrhundert« in Frankreich spricht, das vom Edikt von Nantes 1598 bis zum Tod König Ludwigs XIV. 1715 reicht. Und auch einer Untersuchung der Sterblichkeitsmuster in London zwischen 1675 und 1825 erwächst kein Mehrwert, wenn diese Zeitspanne als »lan13 D. Blackbourn u. G. Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848, Frankfurt a. M 1980. 14 Bloch, Apologie, S. 198. 15 F. Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. (orig. 1949), übersetzt von G. Seib, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1990. 16 I. Wallerstein, Das moderne Weltsystem. Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, übersetzt von A. Schweikhart, Frankfurt a. M. 1986.

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ges 18. Jahrhundert« bezeichnet wird.17 In anderen Fällen freilich bietet die Vorstellung von einem langen Jahrhundert einige Erklärungskraft, denn sie stellt kluge Thesen zur Einheit eines bestimmten Zeitraums auf, etwa wenn ein »langes 17. Jahrhundert« in den Anden nicht nur mit den Reformen Toledos und der Bourbonen verknüpft wird, die seinen Rahmen bilden, sondern auch mit der Auswirkung von Hungersnöten in den 1580er und 1720er Jahren.18 Oder sie bietet die Möglichkeit, Brüche und Kontinuitäten zu hinterfragen. Das von einigen britischen Historikern vorgeschlagene »lange 18. Jahrhundert«, das von der Glorious Revolution 1688 bis zum Reform Act von 1832 reicht, ist auf zweifache Weise provokant: Es beharrt auf dem Primat des Politischen bei der Periodisierung und es behauptet, dass ein Ancien Régime selbst während der Industriellen Revolution fortbestand.19 Das vielleicht vertrauteste all der »langen« Jahrhunderte ist das lange 19. Jahrhundert (von den 1780er Jahren bis 1914) mitsamt seinem Gegenstück, dem kurzen 20. Jahrhundert (1914–1990). Es war Eric Hobsbawm, der 1962 mit dem ersten Band seiner Trilogie, »The Age of Revolution« (die weiteren Bände waren »The Age of Capital« [1975] und »The Age of Empire« [1987]), die Vorstellung von einem langen 19. Jahrhundert in Umlauf brachte.20 Sie ist seither allgegenwärtig geworden. Hobsbawm übernahm die Idee des langen Jahrhunderts von Braudel, und hinter seiner Version des 19. Jahrhunderts stand eine intellektuelle Agenda. Das galt ganz besonders für den Ausgangspunkt, denn sein Buch setzte weder 1815 ein, also in dem Jahr, dem Diplomatiehistoriker huldigten, noch 1800, dem Datum, an dem die moderne europäische Geschichte an der Universität, an der Hobsbawm lehrte, begann (und noch immer beginnt), sondern in den 1780er Jahren mit den beiden Revolutionen – der industriellen in Großbritannien und der politischen in Frankreich. Als Verfasser eines Buches über Deutschland im langen 19. Jahrhundert will ich ein paar Überlegungen darüber anstellen, wo wir heute stehen. Welche Fragen und Themenstellungen ergeben sich, wenn man das lange 19. Jahrhundert konzipiert? Und gibt es Alternativen? Um mit dem Anfang zu beginnen: Ich habe den Eindruck, die Argumente, die dafür sprechen, eine Geschichte des 19. Jahrhunderts Ende des 18. Jahrhunderts einsetzen zu lassen, sind heute noch stärker als damals vor gut fünfzig Jahren, als Eric Hobsbawm das als Erster tat. Er betonte die enge Verbindung 17 J. Landers, Age Patterns of Mortality in London During the »Long Eighteenth Century«, in: Social History of Medicine, Jg. 20, 2007, S. 483–503. 18 D. T. Garrett, Shadows of Empire. The Indian Nobility of Cusco, 1750–1825, Cambridge 2005, S. 45–72. 19 J. C. D. Clark, English Society 1688–1832. Ideology, Social Structure, and Political Practice during the Old Regime. New York 1985. 20 Alle drei Bände sind auch ins Deutsche übersetzt worden: E. Hobsbawm, Europäische Revolutionen. 1789 bis 1848, übersetzt von B. Goldenberg, Zürich 1962; ders., Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848–1875, übersetzt von J. G. Scheffner, München 1977; ders., Das imperiale Zeitalter. 1875–1914, übersetzt von U. Rennert, Frankfurt a. M. 1989.

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wirtschaftlicher und politischer Revolutionen. Heute würden Historiker hinzufügen, dass das späte 18. Jahrhundert auch den Beginn eines großen demographischen Wandels markierte, denn die malthusianischen Beschränkungen wurden durchbrochen und die Bevölkerungszahl stieg steil an. Zur gleichen Zeit entstand eine neue Art von öffentlicher Sphäre, und wie bereits erwähnt vertrat Reinhart Koselleck die Ansicht, eine neue Zeiterfahrung und ein neues Geschichtsverständnis hätten ihre Ursprünge in dieser »Sattelzeit«. Tatsächlich scheint das späte 18.  Jahrhundert auf vielfältige Weise die große Saatzeit der Moderne gewesen zu sein. In den vergangenen zehn Jahren hat Dror Wahrman die These vertreten, in den 1770er Jahren sei – zumindest in Großbritannien, in Frankreich und den amerikanischen Kolonien  – das moderne IchGefühl begründet worden, während andere um 1780 die Geburt einer modernen globalisierten Welt erkennen oder das Zeitalter der Revolutionen als weltweites Phänomen betrachten.21 Ich will an dieser Stelle auf zwei Dinge hinweisen. Erstens bin ich als Historiker Deutschlands gelinde gesagt etwas irritiert darüber, wie wenig die deutsche Erfahrung in diese neuen Narrative über moderne Subjektivität und eine sich globalisierende Welt einbezogen wurde. Kann es wirklich eine angemessene Darstellung des erstgenannten Phänomens geben, in dem die bedeutende Explosion deutscher Philosophie, Literatur und Musik in genau diesem Zeitraum nicht vorkommt? Und wie lässt sich eine globaler werdende Welt adäquat beschreiben, wenn dabei die Kaufleute der Hanse oder die Rolle deutscher Forschungsreisender wie Carsten Niebuhr und Alexander von Humboldt außen vor bleiben? Der zweite Hinweis ist allgemeinerer Art. Die Behauptung, Ende des 18. Jahrhunderts habe auf breiter Front – demographisch, ökonomisch, politisch, kulturell, psychologisch, global  – etwas Neues begonnen, verfügt über eine beträchtliche kumulative Wucht. Könnte es also sein, dass diese viel­f ältigen Neuanfänge das eigentliche 19.  Jahrhundert überschatten und es in ein Zeitalter der Epigonen zu verwandeln drohen? Unter Umständen wird es dadurch schwieriger, ein robustes Gefühl der Periodisierung innerhalb des 19.  Jahr­ hunderts aufrechtzuerhalten oder gar bereit zu sein, über seine inneren Brüche zu diskutieren. Man könnte das als das Problem eines langen 19. Jahrhunderts bezeichnen, das durch seine Anfänge definiert ist. Sein Endpunkt scheint weniger problematisch zu sein. Gewichtige ­Argumente sprechen dafür, 1914 als wahren, weltgeschichtlichen Wendepunkt zu betrachten. Der Krieg brachte vier Vielvölkerreiche zu Fall; er brachte Kommunismus und Faschismus hervor; er veränderte die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, zwischen Stadt und Land, zwischen Europäern und Nichteuropäern. Kein Wunder, dass Thomas Mann die zeitliche Situierung seines Romans »Der 21 D. Wahrman, The Making of the Modern Self, New Haven 2004; C. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, übersetzt von T. Bertram, Frankfurt a. M. 2006²; D. Armitage u. S. Subramanyam (Hg.), The Age of Revolutions in Global Context, ca. 1760–1840, New York 2010.

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Zauberberg« 1924 so beschrieb: »Sie [die Geschichte] spielt, oder um jedes Präsens geflissentlich zu vermeiden, sie spielte und hat gespielt vormals, ehedem, in den alten Tagen, der Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat.«22 Wenn wir freilich die Vorstellung einer Zeit der »klassischen Moderne« ernst nehmen, dann müssen wir auch akzeptieren, dass es über die Zeitenwende 1914 hinweg starke Kontinuitäten gab. Oder anders gesagt: Wir müssen in unserem Kopf zwei Vorstellungen gleichzeitig pflegen, eine des Bruchs und eine der Kontinuität. Zumindest für Historiker, die sich mit der deutschen Geschichte befassen, steht bei der Frage dieser Periodisierung viel auf dem Spiel, denn der Streit um die Kontinuitätslinien spielt in den Diskussionen um die Ursprünge des Dritten Reiches weiterhin eine wichtige Rolle. Die Gefahr dabei ist, dass das späte 19. Jahrhundert nur noch als Vorraum zur Geschichte des 20. Jahrhunderts betrachtet wird – also der Zeit, über die heute zunehmend gelehrt, geforscht und geschrieben wird, während alle anderen Epochen oft gar keine Rolle mehr spielen. Auf der einen Seite in hohem Maße durch das 18.  Jahrhundert geprägt, auf der anderen Seite vereinnahmt von Historikern des 20. Jahrhunderts, die es auf der Suche nach »Ursprüngen« selektiv plündern – das lange 19. Jahrhundert läuft Gefahr, zu einem kurzen 19. Jahrhundert ohne Eigenleben zu werden. Ich will an dieser Stelle noch eine letzte Frage stellen. Wie verändert sich die Art und Weise, in der Historiker über Periodisierung nachdenken? In welche Richtungen bewegen wir uns? Auf den ersten Blick könnte es so aussehen, als hätten die heutigen Historiker entlang der räumlichen Achse mutiger nachgedacht als auf der Zeitachse. Die erneute Anerkennung der Tatsache, dass Geschichte sich im Raum genauso vollzieht wie in der Zeit, stellt tatsächlich eine willkommene Entwicklung der letzten Jahre dar. Auf ihre je eigene Weise waren die Umweltgeschichte, die Geschichte der Ozeane und die transozeanische Geschichte, die Geschichte kultureller Transfers und Verbindungen (Beziehungsgeschichte, l’histoire croisée) allesamt Teil dieses – im weitesten Sinne – spatial turn. Doch es gab auch neue Arten des Denkens, wenn es um die zeitliche Dimension von Geschichte geht. Historiker früherer Generationen würde vermutlich vor allem eines überraschen, nämlich die Bereitschaft der heute praktizierenden Kollegen, über die Bedeutung des Maßstabs und darüber, was das für die historische Erklärung bedeutet, nachzudenken. Ein neues Bewusstsein, wie bedeutsam der gewählte zeitliche Maßstab ist, findet sich sowohl auf der Mikrowie auf der Makroebene. Als Jacques Revel von den »jeux d’échelles« sprach, von den Spielen mit Maßstäben oder Größenordnungen, bezog er sich auf die Mikrogeschichte, also die Erforschung eines einzelnen Ereignisses aus der Überzeugung heraus, dass sich an kleinen Orten große Erklärungen finden lassen.23 Wenn man die Vergrößerung erhöhte und die Ereignisse gleichsam heranzoomte, so bedeutete das, dass man Dinge sah, die sonst unsichtbar geblieben 22 Mann, Zauberberg, S. 7. 23 J. Revel, Jeux d’échelles. La micro-analyse à l’expérience. Paris 1996.

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wären. Eine vielleicht überraschende Parallele dazu findet sich in der neuen Vorliebe für Geschichte, die sich mit ganz kurzen Zeiträumen befasst, mit entscheidenden Ereignissen und Augenblicken – dem halben Jahr, dem einen Monat, den fünf Tagen, die den Geschichtsverlauf verändert haben.24 Derartige Darstellungen und noch stärker die kontrafaktische Geschichtsschreibung im strengen Sinne verweisen auf den Moment der Entscheidung als den Umschlagpunkt in der historischen Kausalität.25 Solche Ansätze sind Bestandteil einer Abkehr von der strukturellen Determiniertheit und der langen Zeitskala zugunsten einer erneuten Betonung der Kontingenz und des Kurzfristigen. Sie stellen die konventionellen Zeitmaßstäbe der Historiker von der einen Seite her in Frage. Eine noch dramatischere Herausforderung kommt aus der entgegengesetzten Richtung. Verfechter der »deep history« treten dafür ein, die Unterscheidung zwischen Geschichte und Vorgeschichte aufzugeben und unsere Darstellungen des menschlichen Lebens auf der Erde nicht mit dem üblichen Ausgangspunkt zu beginnen, also den antiken Hochkulturen und der Entstehung der Agrargesellschaft im Zuge der neolithischen Revolution vor zehntausend Jahren, sondern schon mit dem Paläolithikum.26 Und selbst dieser Ansatz nimmt sich noch bescheiden aus, wenn man ihn mit der »big history« vergleicht, die mit der Entstehung des Universums und dem Urknall einsetzt, den Menschen nach halber Strecke auftreten lässt und erst im letzten Kapitel bei der Französischen Revolution anlangt.27 Weder Thomas Carlyle noch Lord Acton hätten die »deep history« begrüßt, ganz zu schweigen von der »big history«. Marc Bloch und Fernand Braudel wären da vermutlich begeisterter gewesen – weniger deshalb, weil sie es gewohnt waren, in sehr großen Zeitrahmen zu denken, sondern weil die Geschichtswissenschaft in ihren Augen eine »Humanwissenschaft« war und sie die Werkzeuge begrüßten, die ihnen Luftaufnahmen und geographische Erkenntnisse an die Hand gaben. Auf ähnliche Weise sind die heutigen Vertreter der »deep ­history« und der »big history« von den Erkenntnissen der Neurowissenschaft und der Evolutionsbiologie beeinflusst. Es ist eher unwahrscheinlich, dass besonders viele Historiker sich mit Zeiträumen von 13 Milliarden Jahren (dem­ Alter des Universums) oder auch nur den 10.000 Jahren seit der neolithischen Revolution befassen werden – es ist bei vielen schon schwer genug, sie davon zu überzeugen, dass man sich auch mit der Zeit vor 1914 beschäftigen kann. Doch die Vorzüge veränderter Größenordnungen finden sich auf der Makro- wie auf der Mikroebene. Zoomt man die historischen Geschehnisse heran, so erkennt man Dinge, die zuvor unsichtbar waren; tritt man zurück und stellt die 24 M. Macmillan, Paris 1919. Six Months that Changed the World, New York 2001; H. A. Turner, Hitlers Weg zur Macht. Der Januar 1933, München 1997; J. Lukacs, Fünf Tage in London. England und Deutschland im Mai 1940, übersetzt von M. Hanke, Berlin 2000. 25 N. Ferguson (Hg.), Virtuelle Geschichte. Historische Alternativen im 20. Jahrhundert, übersetzt von R. Niemann, Darmstadt 1999. 26 D. Smail, On Deep History and the Brain, Berkeley 2008. 27 D. Christian, Maps of Time. An Introduction to Big History, Berkeley 2004.

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Linse weiter, hat das den gleichen Effekt, auch wenn nun ganz andere Dinge in den Blick geraten. Die Episode oder der kurzzeitige Moment der Entscheidung auf der einen und der sehr lange Zeitrahmen der »big history« auf der anderen Seite – sie bilden die Grenzen der Periodisierung. Die Tatsache, dass es sie als Möglichkeiten gibt, und sei es als Möglichkeiten, welche die meisten Historiker nicht nutzen werden, besitzt den großen Vorzug, dass sie uns dazu zwingt, bewusster mit den zeitlichen Maßstäben umzugehen.

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20. »Liebling, ich habe die deutsche Geschichte geschrumpft!«1

Ein Professor für deutsche Geschichte beschäftigt sich nicht ausschließlich mit der Geschichte Deutschlands. Wenn ich mir die Entwicklungen in meinem Fach in den letzten Jahren anschaue, stoße ich auf allerhand Spannendes. Dazu gehört die höchst begrüßenswerte Renaissance von weit ausgreifenden Geschichtsdarstellungen und kühnen Argumentationen, die große Zeiträume erfassen. Besonders deutlich zeigt sich dieser Trend in der sogenannten »deep history«, deren Vertreter sich dafür einsetzen, die Unterscheidung zwischen Geschichte und Vorgeschichte aufzugeben und unsere Darstellungen des menschlichen Lebens auf der Erde nicht erst mit dem üblichen Ausgangspunkt zu beginnen, den antiken Hochkulturen und der Entstehung der Agrargesellschaft vor zehntausend Jahren. Selbst dieser Ansatz nimmt sich noch bescheiden aus, wenn man ihm die »Big History« eines David Christian gegenüberstellt, der in seinem Buch »Maps of Time« mit dem Urknall einsetzt, den Menschen in der Mitte des Buches auftreten lässt und erst im letzten Kapitel bei der Französischen Revolution anlangt.2 Beides sind bemerkenswerte Beispiele für das, was Jacques Revel als »das Spiel mit Größenordnungen« (jeux d’échelles) bezeichnet hat, und erinnern uns daran, dass Historiker nicht nur durch Heranzoomen einen frischen Blick auf die Dinge gewinnen können, sondern auch durch Herauszoomen. Es gibt noch andere Beispiele. In einer Zeit, in der Historiker – und nicht nur sie – gebannt auf Netzwerke, Wechselwirkungen und Verflechtungen starren, wird Studien, die über Jahrhunderte hinweg die Geschichte großer Reiche nachzeichnen, eine nie dagewesene Aufmerksamkeit zuteil. An Büchern, die sich über lange Zeiträume und Kulturen hinweg mit der Umwelt- oder Warengeschichte auseinandersetzen, herrscht kein Mangel. Und so mögen angesichts der Kürzungen von Mitteln, der prekären Anstellungsaussichten, der sich in ihrer Sprache (und ihren Gehältern) zunehmend an großen Unternehmen orientierenden Universitätsleitungen und vielem mehr, woran ich Sie hier nicht erinnern muss, die Zeiten zwar denkbar schlecht sein, 1 Dieser Artikel ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den ich im Oktober 2013 auf der Konferenz der German Studies Association in Denver gehalten habe. Er wurde im Newsletter der GSA veröffentlicht, allerdings ohne Fußnoten. 2 Vgl. D. L. Smail, On Deep History and the Brain, Berkeley 2008; A. Shryock u. D. L. Smail, Deep History. The Architecture of Past and Present, Berkeley 2012; D. Christian, Maps of Time. An Introduction to Big History, Berkeley 2004.

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Grafik 1: Vorträge zu historischen Themen im Rahmen der GSA-Konferenzen, 1991–2012

um an einer Hochschule Geschichte zu lehren – fachlich und methodologisch gesehen könnten die Zeiten jedoch nicht besser sein, um der Berufung zum Historiker zu folgen. Und das liegt nicht zuletzt an der unverkennbaren Renaissance kühner, zeitlich und räumlich weit ausgreifender Arbeiten. Wende ich mich allerdings der geschichtlichen Disziplin zu, die mir am Vertrautesten ist, so bietet sich mir ein vollkommen anderes Bild. Das auffallendste Merkmal der Deutschen Geschichte, zumindest im Hinblick auf ihre Erforschung in Nordamerika und Großbritannien, ist die Tatsache, wie dramatisch dieser Fachbereich in jüngster Zeit geschrumpft ist. Deutsche Geschichte ist heute fast ausschließlich die Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Bevor ich darauf eingehe, warum das so ist und was es bedeuten könnte, hier einige Zahlen, die meine Beobachtung untermauern. Zunächst ein Schaubild zu den Vorträgen über historische Themen, die im Abstand von drei Jahren auf den Konferenzen der German Studies Association (GSA) gehalten wurden: Man sieht die immer größer werdende Kluft zwischen dem 20.  Jahrhundert, also der Ära seit 1914, und den beiden anderen Zeitabschnitten: dem 19.  Jahrhundert und der Zeit vor 1800. Auffällig ist eine dem allgemeinen Trend entgegen laufende Tendenz, die man hier erkennen kann: Sie geht auf die Pittsburgh-Konferenz von 2006 zurück, als Historiker des 18. und des 19. Jahrhunderts sich ganz gezielt darum bemühten, der wachsenden Dominanz des 20. Jahrhunderts gemeinsam etwas entgegenzusetzen. Seither zeichnet sich als Muster die Verteilung 50–25–25 ab: 50 Prozent der Vorträge beschäftigen sich 379

mit der Zeit nach 1945, weitere 25 Prozent mit der Weimarer Republik und dem Dritten Reich und 25 Prozent mit der gesamten Geschichte davor. Anders ausgedrückt: Drei Viertel der auf Konferenzen der GSA gehaltenen Vorträge zu historischen Themen befassen sich heute mit den letzten einhundert Jahren. Als Zweites hier ein Schaubild über die Buchrezensionen in der führenden in den USA erscheinenden Zeitschrift zur Deutschen und Österreichischen Geschichte, »Central European History«. Rezensionen werden in dieser Zeitschrift erst seit Anfang der neunziger Jahre veröffentlicht. Ich habe Stichproben im Fünfjahresabstand erhoben, beginnend im Jahr 1995. Wie Sie sehen, wurden 1995 fast genauso viele Bücher zur Geschichte des 19. Jahrhunderts besprochen wie zur Geschichte des zwanzigsten. Bis 2010 stieg die Zahl der Bücher zur Ära nach 1914 auf nahezu 70 Prozent an. Auf dasselbe Muster wie bei den Rezensionen stößt man bei den Artikeln im Hauptteil der Zeitschrift. Einige Ausgaben von »Central European History« enthielten in jüngster Zeit mehr Artikel zur Zeitgeschichte als die Zeitschrift »History of the Present«. An diesem Punkt sollte ich etwas klarstellen: Den Herausgebern der Zeitschrift mache ich keinerlei Vorwürfe. Sie tun, was ihre Aufgabe ist, nämlich Artikel und Rezensionen zu veröffentlichen, und zwar entsprechend dem Verhältnis dessen, was auf ihrem Schreibtisch landet. Genauso wenig möchte ich andeuten, die Organisatoren der GSA-Konferenzen hätten bewusst das 20. Jahrhundert bevorzugt – tatsächlich weiß ich, dass die von mir genannten Trends Besorgnis ausgelöst haben. Mein drittes Beispiel sind die Interviews mit Historikern, die Neuerscheinungen zum Gegenstand haben und zwischen 2005 und 2013 in der vom National History Center in Washington, DC geförderten Reihe »New Books in History« als Podcast erschienen sind. Die Interviews decken eine große Bandbreite an Titeln aus allen geschichtlichen Epochen und über alle Erdteile ab – vom Peloponnesischen Krieg über Aberglauben im mittelalterlichen Europa bis hin zu Gewalt im Eurasien der frühen Neuzeit – und beziehen sich unter anderem auf Werke zur Evolution des Menschen und zur globalen Umweltgeschichte. Von den 229 bis August 2013 veröffentlichten Podcasts befassten sich vierzig (mehr als jeder Sechste) mit der deutschen oder österreichischen Geschichte. Von diesen 40 Büchern hatten 36, also neunzig Prozent, die Zeit seit 1914 zum Gegenstand. Tatsächlich ist das zahlenmäßige Ungleichgewicht sogar noch größer, denn eines der Bücher aus der »frühen« Epoche ist kein anderes als die Studie von Christopher Krebs über die Instrumentalisierung von Tacitus’ »Germania«, ein ziemlich teleologisches Buch, das im Original den Untertitel »Vom Römischen zum Dritten Reich« trägt. Und einer der beiden Titel in der Kategorie »19. Jahrhundert« ist das wunderbare Buch »Advertising Empire« von David Ciarlo, das von den Jahren unmittelbar vor 1914 berichtet.3 3 C. Krebs, A Most Dangerous Book. Tacitus’s Germania from the Roman Empire to the Third Reich, New York 2011; D. Ciarlo, Advertising Empire. Race and Visual Culture in Imperial Germany, Cambridge/Mass. 2011.

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Grafik 2: Buchrezensionen in der Zeitschrift »Central European History«, 1995–2010

Grafik 3: Podcasts aus der Reihe »New Books in History« über Bücher zur deutschen Geschichte, 2008–2013

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Mein viertes Beispiel betrifft den akademischen Nachwuchs. Das folgende Schaubild zeigt die Doktorarbeiten über deutsche und österreichische Geschichte, die seit 2008 in Nordamerika und dem Vereinigten Königreich geschrieben wurden. Auch hier finden wir denselben Trend. Übrigens: Hätte ich auch die in Deutschland und anderswo in Europa abgeschlossenen Dissertationen berücksichtigt, würde das Diagramm nicht ganz so extrem ausfallen, aber ähnlich aussehen. Andere Indikatoren, die ich mir angesehen habe, weisen in die gleiche Richtung, etwa die zeitlichen Schwerpunkte der Diskussionsrunden auf der Jahreskonferenz der German History Society im Vereinigten Königreich, oder die Liste der Titel zur deutschen Geschichte der angesehenen University of North Carolina Press, wo sich seit Anfang bis Mitte der neunziger Jahre eine deutliche Verschiebung zugunsten von Büchern über das 20. Jahrhundert beobachten lässt. Der auffallendste Aspekt an dieser generellen Verlagerung hin zum 20. Jahrhundert ist in beiden Fällen, wie auch bei den vier anderen Beispielen, eine deutliche Verschiebung zugunsten der Geschichte der Jahre nach 1945. Soviel zu den Fakten. Die Frage lautet: Was sind die Ursachen? Ein Grund ist, schlicht und einfach, dass die Zeit nicht stehen geblieben ist. Ich habe mein Studium Ende der sechziger Jahre begonnen. Das Kaiserreich, über das ich  – wie damals viele andere  – promovierte, lag damals ein halbes Jahrhundert zurück. Heute sind es die sechziger Jahre, seit denen fünfzig Jahre vergangen sind. Die Zeit bleibt nicht stehen, und deshalb verschiebt sich auch permanent der Zeitpunkt, bis zu dem nach der 30-Jahre-Regel die Archive zugänglich sind. Hinzu kommt, dass 1990 einer der beiden deutschen Teil­staaten zusammengebrochen ist, was eine Woge des Interesses an der Geschichte der DDR ausgelöst hat  – während gleichzeitig die sonst übliche Sperrfrist von 30 Jahren außer Kraft gesetzt wurde. Ein weiterer Grund, vor allem im Hinblick auf Nachwuchswissenschaftler, liegt im Anreizsystem. Einige Institutionen, etwa der German Marshall Fund, vergeben Stipendien ausschließlich für Projekte zum 20.  Jahrhundert. In anderen Fällen, wie beim Berlin Program for Advanced German and European Studies, das Doktoranden fördert, die über »Deutschland und Europa in der Neuzeit und Gegenwart« forschen, stand jahrelang im Kleingedruckten, dies beziehe sich auf »Historiker, die sich mit der Epoche seit der Mitte des 19. Jahrhunderts befassen«  – erst auf Drängen der GSA hin (die das Programm mitfinanziert) wurde der Wortlaut jüngst in »Mitte des 18. Jahrhunderts« geändert. In der Praxis jedoch forschen diejenigen, die ein Stipendium erhalten, fast ausschließlich über das 20. Jahrhundert. Ergo: Wo das Geld ist…. Und dann ist da natürlich noch der Arbeitsmarkt. Praktisch alle Stellen im Bereich der europäischen Geschichte der Neuzeit (was früher hieß: ab dem 18. Jahrhundert) waren letztes Jahr für Historiker mit Schwerpunkt »20. Jahrhundert« oder »nach 1945« ausgeschrieben. Der Eishockeyspieler Wayne Gretzky hat einmal gesagt: »Einhundert Prozent der Schüsse, die Du nicht abgibst, landen nicht im Netz«. Darin steckt eine tiefe Wahrheit. Und 100 Prozent der Stellen, auf die man sich nicht bewerben kann, bekommt man nicht. 382

Grafik 4: Abgeschlossene historische Dissertationen im Newsletter der GSA, 2008–2013

Doch diese zwei Gründe sind nicht ganz zufriedenstellend. Die Zeit ist noch nie stehengeblieben, aber das hat nicht immer zu einem Massenansturm auf die Geschichte der jüngeren Vergangenheit geführt. Und die Anreize, mit denen es Doktoranden zu tun haben, sind zwar nicht von der Hand zu weisen, ebenso wenig wie der Rat, den sie permanent zu hören bekommen, wonach das 20. Jahrhundert das einzige lohnende Forschungsfeld sei. Das erklärt jedoch nicht, weshalb die Etablierten diese Anreize geschaffen haben oder diesen Rat erteilen. Ich glaube, wir müssen die tiefgreifenden Veränderungen unseres Verständnisses der deutschen Geschichte in den Blick nehmen. Ein guter Ansatzpunkt dafür ist das Dritte Reich, jenes große Versuchsfeld für historische Erklärungsansätze, den Lackmustest für unser Tun. Im Lauf meines Historikerlebens hat in diesem Bereich ein bedeutender Wandel stattgefunden. Früher war die große Frage: »Wie kam es zu 1933?«. Heute lautet sie: »Wie war der Holocaust möglich?« – der »Fluchtpunkt«, um einen Ausdruck von Helmut Smith aufzugreifen, ist nicht mehr 1933, sondern 1941.4 Im Zentrum steht nun der Holocaust und alles, was danach kam: Auschwitzprozesse und Wehrmachtausstellungen, Gedächtnis und Gedenken, Mythen und fehlerhafte Erinnerungen. Wir haben die Auseinandersetzungen über den Weg zur Machtergreifung, einst ein zentrales Thema in der Debatte über den Verlauf der deutschen Geschichte der Neuzeit, 4 H. Walser Smith, Fluchtpunkt 1941. Kontinuitäten der deutschen Geschichte, Ditzingen 2010 [2008].

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hinter uns gelassen. Die Kontinuitäten über die »Stunde Null« hinweg sind – zu recht – betont, die Kontinuitäten zu den Jahrzehnten vor 1914 – ebenfalls mit guten Gründen – relativiert worden. Was die Enstehung des Dritten Reichs betrifft, war die Betonung des Kontingenten heilsam. Bedeutende Ereignisse haben nicht immer tief liegende, strukturelle Ursachen. Oder jedenfalls nicht nur tief liegende, strukturelle Ursachen. Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass sich die Frage, wie auf Suzanne Marchands »Tante Neunzehnjahrhundert« Hitler folgen konnte, einfachen Erklärungen entzieht, ja dass sie etwas geradezu Unheimliches hat.5 Einige von Ihnen werden jetzt vielleicht darauf hinweisen, dass die heute nicht mehr ganz so jungen »Wilden«, die einst die These vom Sonderweg kritisierten, an der derzeitigen Lage der Dinge möglicherweise nicht ganz unschuldig sind. Das mag so sein, aber ich sehe keinen Anlass, mich zu entschuldigen. Die Kritik an der Sonderwegthese richtete sich nicht gegen Kontinuitäten an sich, sondern gegen bestimmte Arten der Kontinuität. Und über die Zäsur des Ersten Weltkriegs hinweg gibt es zweifellos Kontinuitäten, die unsere Aufmerksamkeit verdienen – natürlich weisen nicht alle davon auf das Dritte Reich, aber zu denen, auf die das zutrifft, gehören die Verehrung von Führungspersönlichkeiten und die Politik der Massen­ mobilisierung, die zunehmende Bedeutung von Rasse und Hygiene, die durch den Kapitalismus erzeugten Spannungen, die explosive deutsche Mischung aus Provinzialität und technokratischem Modernismus, die ähnlich instabile deutsche Kombination aus Sentimentalität und Hybris – die Liste ließe sich fortsetzen. Meiner Ansicht nach ist das geschwundene Bewusstsein für die Kontinuitäten zwischen dem 19.  und 20.  Jahrhundert Teil  einer intellektuellen Entwicklung, die nicht auf die deutsche Geschichte beschränkt ist. Für meine Generation und unsere Vorgänger bildeten das 19. und das 20. Jahrhundert eine Einheit, die Moderne, entstanden durch die transformierende Kraft zweier großer Ereignisse – der Industriellen und der Französischen Revolution. Diese Tatsache war auf allen Seiten des politischen Spektrums unbestritten. Doch auch in dieser Hinsicht ist die Zeit nicht stehen geblieben. Die klassische Industriegesellschaft, die im 19. Jahrhundert Formen angenommen hat, befindet sich seit fünfzig Jahren im Auflösungsprozess. Und die Französische Revolution ist, wie François Furet Ende der siebziger Jahre provokant formulierte, endgültig vorbei.6 Wir haben unter die Ereignisse, die grundlegend für die einst als »die Moderne« bezeichnete Ära einen Schlussstrich gezogen. Unsere Ära trägt die allge­ genwärtige Vorsilbe »post«: postindustriell, poststrukturalistisch, postmodern. Während Thomas Nipperdey seine Geschichte des 19.  Jahrhunderts mit dem berühmten Satz »Am Anfang war Napoleon« begann, und Hans-­Ulrich Wehler entgegnete: »Am Anfang war keine Revolution«, lautet daher heute die unausgesprochene Annahme meist: »Am Anfang war der Erste Weltkrieg«. 5 Vgl. S. Marchand, Embarrassed by the Nineteenth Century, in: B. Cook u. a. (Hg.), Consortium on Revolutionary Europe 1750–1850. Selected Papers 2002, Gainesville 2004, S. 1–16. 6 F. Furet, Interpreting the French Revolution, Cambridge 1981 [1979].

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Und da sage ich: Nicht so hastig! Viele Historiker haben in den vergangenen Jahren mit überzeugenden Argumenten die Idee wiederaufgegriffen, zwischen 1770 und 1820 sei es zu einer atlantischen Revolution, ja einer »globalen Krise« gekommen – in Europa, Nord- und Südamerika, China, Japan und Südasien. Ich glaube, damit haben sie recht. Es wäre interessant zu erfahren, welche Folgen das für die deutschen Länder hatte und welche Rolle Deutsche dabei gespielt haben. Auf diese Fragen werden wir allerdings niemals eine Antwort bekommen, wenn sie kaum noch jemand stellt. Dabei sprechen wir in dieser Ära nicht nur (nur?) von globalen politischen Umwälzungen. Gleichzeitig war es eine Zeit grundlegender Veränderungen in der Landwirtschaft und im Handel. Es war eine Zeit des demographischen Wandels, in der die Bevölkerung rasant wuchs und das Verhältnis der Menschheit zur Natur sich veränderte, weil diese zunehmend als Mittel zum Zweck betrachtet wurde. Fernand Braudel hat in diesem Zusammenhang vom »Ende des biologischen Ancien Régime« in Europa gesprochen. Andere haben diese Zeit als das »zweite Zeitalter der Entdeckungen« bezeichnet, in dem neue Wissensregimes entstanden sind. Die Welt ist in den Jahrzehnten vor und nach 1800 kleiner geworden, da die Kommunikationsnetze durch Reisen und Handel, durch den Austausch von Waren, Menschen und Ideen enger geknüpft wurden. Deutsche haben dieser Welt als Kaufleute, Buchhändler und Reisende im Dienste der Wissenschaft ihren Stempel aufgedrückt – man denke an Vater und Sohn Forster, die mit James Cook die Welt umsegelten, Carsten Niebuhr in Arabien oder Alexander von Humboldt in Amerika. Oder an die großen Netzwerke pietistischer Missionare und Kuriere, die in der Neuen Welt mit Medikamenten und Bibeln handelten und dabei Bücher, Kupferstiche und Pflanzenproben über den Atlantik transportierten. Und es war auch die Zeit, in der die Grundlagen für den Triumph deutscher kultureller Exportgüter im 19. Jahrhundert geschaffen wurden – Philosophie und »wissenschaftliche« Forstwirtschaft, Musik und neue Bildungseinrichtungen.7 Es geht mir nicht darum, auf der »Sattelzeit« als Schlüssel zur deutschen Geschichte der Neuzeit zu beharren – obwohl ich überzeugt bin, dass es für diese Sichtweise überaus gute Argumente gibt. Aber ich möchte die Annahme hinterfragen, alle wirklich wichtigen Fragen seien im 20. Jahrhundert zu finden und alles, was zwischen der Völkerwanderung und der Julikrise passiert ist, sei eine Art Vor-Geschichte, die für Spezialisten von Interesse sein mag, ein ehrenwertes Unterfangen, sicherlich, dem man die eine oder andere Diskussionsrunde widmen sollte, das vom eigentlichen Puls der Historiographie Deutschlands jedoch ziemlich weit entfernt sei. Als Student  – in einer Zeit, in der das nötig war  – habe ich entschieden die Legitimität der Neuesten und der Zeitgeschichte verteidigt. Heute ist eine andere Argumentation vonnöten. Ich habe nichts gegen das 20. Jahrhundert. Wogegen ich mich wende, um das noch einmal zu betonen, sind unhinterfragte Annahmen. 7 Siehe oben, Kap. 14.

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Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele. Vor wenigen Jahren erschien eine Aufsatzsammlung über Erziehung im »Jahrhundert des Kindes«. Gemeint war, wie könnte es anders sein, das 20. Jahrhundert.8 Wenn man aber einen Augenblick darüber nachdenkt, erkennt man sofort, dass man das »Jahrhundert des Kindes« mindestens ebenso plausibel anderswo verorten könnte. Das wahre »Jahrhundert des Kindes« war meiner Meinung nach die Zeit zwischen 1720 und 1820, eine Ära, in der die Kindheit als eigene Lebensphase gewissermaßen erfunden wurde, in der die Kommerzialisierung der Kindheit ein wichtiger Aspekt der neuen Herrschaft des Konsumismus war, und außerdem die Ära, in der Rousseau und Pestalozzi schrieben und Fröbel den Kindergarten begründete, nicht die Unwichtigste der Institutionen »Made in Germany«. Ein anderes Beispiel ist die Ausschreibung zur Jahreskonferenz der German History Society von 2012 zum Thema »Offizielle Statistiken als Wissenschaft und Regierungswerkzeug«. Was für ein großartiges Thema! Der Aufruf zur Einreichung von Beiträgen beginnt mit den Worten: »Das 20. Jahrhundert steht wie vermutlich kein anderes für das ›Zeitalter der Vermessung‹; gesucht werden Beiträge über Deutschland zwischen 1930 und 1980. «9 Ja, das 20. Jahrhundert war zweifellos von der Statistik geprägt. Aber »wie kein anderes«? Wäre es nicht ebenso fruchtbar, das Thema im 19. Jahrhundert zu verankern? In den Jahren 1820–1840 lehrten bereits achtzig Professoren an deutschen Universitäten Statistik, und es gab eine angeregte Debatte über die deutsche »historische Schule« in der Statistik. Carl Dieterici klagte: »[D]ie Statistik ist tot, ist eine unfruchtbare, meist geistlose und oft leere Kompilation, welche sich etwa darauf beschränkt, Zahlen und Tatsachen, wie sie jetzt sich herausstellen, nackt anein­ander zu reihen […].«10 Das war Anfang des 19. Jahrhunderts, kurz nach Alexander von Humboldts großer Forschungsreise nach Amerika, wo er alles vermaß, was ihm über den Weg lief: die Höhe von Vulkanen, die Tiefe von Bergwerken und die Länge von Flusssystemen; Meereshöhen und Temperaturen, Flora und Fauna. Die fiktionale Darstellung von Daniel Kehlmann trägt mit gutem Grund den Titel »Die Vermessung der Welt«.11 Genau dafür wurde Humboldt von Schiller kritisiert. Und Humboldts Bedürfnis, alles zu vermessen, war 8 D. Schumann (Hg.), Raising Citizens in the »Century of the Child«. The United States and German Central Europe in Comparative Perspective, New York 2010. Zur Verteidigung Schumanns und seiner Mitautoren ist zu sagen, dass das Schlagwort ursprünglich durch ein Buch der schwedischen Feministin Ellen Key allgemeine Verbreitung gefunden hat: E. Key, Das Jahrhundert des Kindes, Berlin 1903. 9 German History Society Annual Conference 2012, University of Edinburgh, 13.–15.09.2012. Organisator Jochen F. Mayer (University of Edinburgh), Call for Panel Participants: Proposed Panel: Official Statistics as a Science and Tool of Government: Fascist, Socialist, and Capitalist Germany c. 1930–1980. 10 Zitiert nach K. Braunreuther, Über die Staatswissenschaften von 1810 bis 1860 an der Humboldt-Universität zu Berlin, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 8, 1960, S. 1604–1633, hier S. 1618. 11 D. Kehlmann, Die Vermessung der Welt, Reinbek bei Hamburg 2005.

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kein ausschließlich deutsches. Schließlich war er ein Zeitgenosse von Lewis und Clark, und bereits 1735 waren Forscher zu einer französisch-spanischen geodätischen Expedition nach Südamerika aufgebrochen. Vielleicht wäre es also angemessener, das 18.  Jahrhundert als Zeitalter der Vermessung zu bezeichnen – ein Projekt der Aufklärung, das perfekt dem Ehrgeiz aufgeklärt-absolutistischer Herrscher entsprach, ihre Reiche zu vermessen, detaillierte Verzeichnisse ihrer menschlichen und nichtmenschlichen Unter­ tanen zu erstellen und so nicht nur die Natur, sondern auch die Menschen einer Art geometrischen Konformität zu unterwerfen. Andererseits könnten wir auf der Suche nach den Ursprüngen der statistischen Erfassung der Welt auch ins 17.  Jahrhundert zurückgehen, zu den einflussreichen Arbeiten von William Petty. Möglicherweise ist es am Ende doch das 17. Jahrhundert, das – um noch einmal die Ausschreibung zu jener Tagung zu zitieren – »für das Zeitalter der Vermessung« steht? Ich möchte dieser einen Tagungsausschreibung nicht zu viel Bedeutung beimessen, aber ich habe den deutlichen Eindruck, dass sie exemplarisch für ein generelles Problem ist. Man findet, was man sucht. Und wenn unser Zeithorizont über 1914 nicht hinausreicht, wird alles davor zu einer Art dunklen Vorgeschichte werden, ähnlich wie man aus Ignoranz und Arroganz einst vom »finsteren Mittelalter« sprach. Gründe, weshalb Historiker weiter in die Vergangenheit zurückblicken sollten, gibt es viele. Lassen Sie mich zum Schluss drei davon nennen. Erstens: Geschichte beruht auf einem Dialog mit der Vergangenheit. Natürlich bringen wir dabei unsere eigenen Anliegen mit – dagegen ist nichts einzuwenden, es ist unvermeidlich. Aber wir müssen auch zuhören. Wir geben unter anderem jenen eine Stimme, die sich selbst nicht mehr äußern können: den Toten. Wenn wir uns weitgehend auf die Geschichte der letzten einhundert Jahre beschränken, dann berauben wir sämtliche Menschen, die vorher gelebt haben, ihrer Stimme. Zweitens: Eine Vielzahl innovativer Methoden in der Geschichtswissenschaft geht auf Historiker zurück, die weiter zurückliegende Zeiträume er­ forschen. Das liegt unter anderem daran, dass diese kreative Wege finden mussten, die Lücken in der Quellenbasis aufzufüllen. Die Mikrogeschichte wurde von Historikern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit entwickelt. Gleiches gilt für den Einsatz moderner Technologien in der historischen Forschung, vom Zurückgreifen auf Luftaufnahmen in den 1920er Jahren bis zur Verwendung der Kohlenstoffdatierung, der Dendrochronologie und der DNA-Analyse heute. Man denke auch an die neuen Spezialgebiete, die aus der Erforschung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit heraus entstanden sind, wie die Warengeschichte, die Geschichte der Volksfrömmigkeit oder die Umweltgeschichte. Es sind Gebiete, auf denen ich selber schon geforscht habe, und deshalb weiß ich aus eigener Erfahrung, wie wertvoll ein größerer Zeithorizont ist. Als ich über angebliche Marienerscheinungen in Bismarcks Deutschland geschrieben habe, waren es Arbeiten über die Volksfrömmigkeit in früheren Jahrhundert, die sich für meine Arbeit als am fruchtbarsten erwiesen. Genauso war es, als 387

ich mich in »Die Eroberung der Natur« der Umweltgeschichte zuwandte. Einige der ersten Publikationen zur Umweltgeschichte in Deutschland stammen aus der Feder von Mediävisten, vor allem im Bereich der Landesgeschichte. Später untersuchten Historiker wie Joachim Radkau und Paul Warde die Entstehung der Idee der »Nachhaltigkeit« in der Frühen Neuzeit.12 Gleichzeitig stellten sie die grundlegende und lange vorherrschende Sichtweise in Frage, die auf der Verfeuerung von Kohle basierende Industrialisierung sei eine unvermeidliche Folge der chronischen »Holznot« im 18.  Jahrhundert gewesen. Wie sich herausstellte, war diese im gleichen Maße Konstrukt wie empirische Tatsache. Es erscheint unwahrscheinlich, dass Franz-Josef Brüggemeier den Begriff des »Waldsterbens« Ende des 20. Jahrhundert hinterfragen hätte können, wenn Joachim Radkau nicht vorher die Idee der »Holzknappheit« zweihundert Jahre zuvor kritisch auf den Prüfstand gestellt hätte.13 Was könnte, um jenen Ausdruck zu gebrauchen, mit dem die Konzentration auf die Gegenwart so häufig unreflektiert gerechtfertigt wird, »relevanter« sein? Und was mir noch wichtiger erscheint: Die längerfristigen Zusammenhänge fest im Blick zu haben ist für Umwelthistoriker eine entscheidende Voraussetzung, um nicht in die Falle zu tappen, Veränderungen der Umwelt schlicht als Verwandlung einer unberührten, natürlichen in eine minderwertige, mechanische Welt zu betrachten, nach dem Muster »vorher« gut, »hinterher« schlecht – eine viel zu simplistische, geradezu irreführende Sichtweise. Drittens schließlich: Je weiter sich unsere Arbeit von der jüngeren Vergangenheit entfernt, desto mehr öffnen wir uns für das Unerwartete, das scheinbar Unerklärliche, für alles (seien es sexuelle Gepflogenheiten, Rechtsordnungen oder Witze), was uns fremd ist, für Zeugnisse aus Lebenswelten, die sich nicht so einfach aus unserer eigenen Erfahrung heraus verstehen oder mit unseren Begriffen beschreiben lassen. Solche Zeugnisse erinnern uns daran, dass die Vergangenheit für uns wahrhaft ein fremdes Land ist. Das trifft natürlich auch auf die 1960er oder 1920er Jahre zu. Doch in der Welt von 1914 gab es bereits Fahrräder, Kraftfahrzeuge, städtische Nahverkehrssysteme, Flugzeuge, das Telefon, die Schreibmaschine und das automatisierte Büro, die drahtlose Tele­ grafie, Kaufhäuser, Flachglasfenster, Lockangebote und moderne Werbung, das Kino, den organisierten Profisport, Musik- und Röntgenaufnahmen, Aspirin, die Chemotherapie – ich könnte die Liste noch eine Weile fortführen, aber Sie verstehen, worauf ich hinauswill: Die Welt vor einhundert Jahren war uns in vielerlei Hinsicht vertraut. Sie war mit der unseren selbstverständlich nicht identisch, aber es ist nicht allzu wahrscheinlich, dass wir in ihr auf Dinge stoßen, die uns seltsam anmuten oder schlicht unverständlich sind. In der Welt von 12 J. Radkau, Natur und Macht, München 2000; ders., Holz. Wie ein Naturstoff Geschichte schreibt, München 2012; P. Warde, Ecology, Economy and State Formation in Early Modern Germany, Cambridge 2006. 13 F.-J. Brüggemeier, Waldsterben. The Construction and Deconstruction of an Environmental Problem, in: C. Mauch (Hg.), Nature in German History, New York 2004, S. 119–131.

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1900 erkennen wir uns in einem Ausmaß wieder, das auf die von 1800 oder 1500 einfach nicht zutrifft. Und wenn wir damit aufhören, diese weiter zurückliegenden Epochen zu erforschen, so wird das unsere historische Vorstellungskraft schwächen und unsere Neugier schmälern. Richtig ist, dass die von mir beschriebene Schrumpfung des zeitlichen Horizonts mit einer überaus begrüßenswerten Entwicklung einhergegangen ist, nämlich mit der Erweiterung dessen, was wir geographisch unter deutscher Geschichte verstehen, ja mit einer Wiederentdeckung des »Raumes« als Schlüsselkategorie historischer Erklärungsansätze. Über diesen spatial turn, diese topologische Wende, habe ich seit den 1990er Jahren immer wieder begeistert geschrieben. Unter dem Eindruck der transnationalen historischen Ansätze der vergangenen Jahre ist die Erforschung der deutschen Geschichte umfassender, aufgeschlossener und interessanter geworden. Doch auch hier fällt mir auf, dass sich der Großteil der einschlägigen Arbeiten mit dem 20. Jahrhundert befasst. Ihr einstiges Korsett, die politischen Grenzen, hat die deutsche Geschichte zwar überwunden, aber ich befürchte, dass wir dabei sind, den räumlichen durch einen zeitlichen Provinzialismus zu ersetzen – den provinziellsten aller Provinzialismen. Ich komme zum Schluss. Die Entwicklungen, über die ich heute mittag gesprochen habe, sind in relativ kurzer Zeit vonstatten gegangen, und ich nehme sie sehr ernst. Sie bereiten mir Sorgen, und insoweit, als sie die Ausschreibung von Stellen betreffen, machen sie mich auch wütend. Denn die willkürliche Entscheidung, Stellen im Bereich der »Neueren Geschichte« für Historiker des »20. Jahrhunderts« oder der Zeit »nach 1945« auszuschreiben, eine Entscheidung, die derzeit eine Universität nach der anderen trifft, ist ebenso unfair wie töricht. Wir tun uns damit keinen Gefallen, und ich bin sicher, in zwanzig, dreißig Jahren werden die Leute sich am Kopf kratzen und sich fragen, wie wir auf diese Idee kommen konnten. Vielleicht ist das aber auch nur Wunschdenken meinerseits. Ich weiß nicht, wie viele Doktoranden und andere Historiker, die am Anfang ihrer Laufbahn stehen, heute anwesend sind. An Sie richte ich mein Schlusswort. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Forschen Sie über das 20. Jahrhundert, so wie alle es Ihnen raten, denn das wird Ihre Chancen auf eine Stelle erhöhen. Veröffentlichen Sie dieses erste Projekt als Buch und suchen Sie sich eine unbefristete Stelle. Machen Sie es anschließend genau umgekehrt wie so viele vor Ihnen, und gehen Sie nicht immer weiter ins 20. Jahrhundert voran, sondern weiter in die Vergangenheit zurück. Ich bin überzeugt: Wenn Sie diesem Rat folgen, dann wird in 25 Jahren hoffentlich einer oder eine von Ihnen auf dieser Tagung einen Vortrag halten, der den Titel trägt: »Liebling, ich habe die deutsche Geschichte erweitert.«

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Verzeichnis der Erstveröffentlichungen 1. »Progress and Piety: Liberalism, Catholicism and the State in Imperial Germany«, History Workshop Journal, 26, 1988, S. 57–78. Veröffentlicht mit Genehmigung des History Workshop Journal und Oxford University Press. 2. »Roman Catholics, the Centre Party and Anti-Semitism in Imperial Germany«, in: P. Kennedy u. A. Nicholls (Hg.), Nationalist and Racialist Movements in Britain and Germany before 1914, London, 1981, S. 106–129. Veröffentlicht mit Genehmigung von Palgrave Macmillan. 3. »›Die von der Gottheit überaus bevorzugten Mägdlein‹: Marienerscheinungen im Bismarckreich«, in: I. Götz von Olenhusen (Hg.), Wunderbare Erscheinungen, Paderborn, 1995, S. 171–201. Veröffentlicht mit Genehmigung des Ferdinand Schöningh Verlags. 4. »Handwerker im Kaiserreich: Gewinner oder Verlierer?«, in: U. Wengenroth (Hg.), Prekäre Selbständigkeit. Zur Standortsbestimmung von Handwerk und Kleingewerbe im Industrialisierungsprozess, Stuttgart, 1989, S. 7–21. Veröffentlicht mit Genehmigung des Franz Steiner Verlags. 5. »Mittelstandspolitik im deutschen Kaiserreich«, in R.  Melville u. a. (Hg.), Deutschland und Europa in der Neuzeit. Festschrift für Karl Otmar Freiherr von Aretin zum 65. Geburtstag, 2 Bde., Stuttgart 1988, Bd. II, S. 555–573. Ver­ öffentlicht mit Genehmigung des Franz Steiner Verlags. 6. »The Politics of Demagogy in Imperial Germany«, Past and Present, 113, 1986, S. 152–184. Veröffentlicht mit Genehmigung der Past and Present Society und Oxford University Press. 7. »Politics as Theatre: metaphors of the stage in German history, 1848–1933«, Transactions of the Royal Historical Society, 5th Series, vol. 37, 1987, S. 149–167. Veröffentlicht mit Genehmigung der Royal Historical Society. 8. »›Die meisten von ihnen haben Räder‹: Kraftfahrzeuge und der Aufstieg des Nationalsozialismus«, in: C. Dipper u. a. (Hg.), Krieg, Frieden und Demo390

kratie: Festschrift für Martin Vogt zum 65. Geburtstag Frankfurt a. M. 2001, S. ­141–152. Veröffentlicht mit Genehmigung des Peter Lang Verlags. 9. »Landschaft und Umwelt in der deutschen Geschichte«, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berichte und Abhandlungen, Bd. 15, 2009, S.  139–56. Veröffentlicht mit Genehmigung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 10. »Die Eroberung der Natur/The Conquest of Nature«, in: D. Valentien (Hg.), Wiederkehr der Landschaft/Return of Landscape, Berlin, 2010 (= Akademie der Künste exhibition catalogue), S.  30–41. Veröffentlicht mit Genehmigung der Akademie der Künste und des Jovis Verlags. 11. »Taking the Waters: Meeting Places of the Fashionable World«, in: M. Geyer u. J. Paulmann (Hg.), The Mechanics of Internationalism, Oxford 2001, S. ­425–447. Veröffentlicht mit Genehmigung von Oxford University Press. 12. »The Conquest of Nature and the Mystique of the Eastern Frontier in Nazi Germany«, in: R. L. Nelson (Hg.), German, Poland, and Colonial Expansion to the East, 1850 through the Present, New York 2009, S. 141–170. Veröffentlicht mit Genehmigung von Palgrave Macmillan. 13. »›The Garden of Our Hearts‹: Landscape, Nature, and Local Identity in the German East«, in: D. Blackbourn u. J. Retallack (Hg.), Localism, Landscape, and the Ambiguities of Place, S. 149–164. © David Blackbourn und James Retallack, 2007. Veröffentlicht mit Genehmigung von Toronto University Press. 14. »Germany and the Birth of the Modern World, 1780–1820«, Bulletin of the German Historical Institute Washington, 51, Fall 2012, S. 3–15. Veröffentlicht mit Genehmigung des Deutschen Historischen Instituts Washington. 15. »›As Dependent On Each Other As Man and Wife‹: Cultural Contacts and Transfers«, in: D. Geppert u. R. Gerwarth (Hg.), Wilhelmine Germany and Edwardian Britain: Essays in Cultural Affinity, Oxford 2008, S. 15–37. Veröffentlicht mit Genehmigung von Oxford University Press. 16. »Das Kaiserreich transnational. Eine Skizze«, in: S. Conrad u. J. Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004, S. 302–324.

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17. Wie bürgerlich war das Kaiserreich?, in J. Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 281–287. 18. Originalbeitrag. 19. »›The Horologe of Time‹: Periodization in History«, in: PMLA, 127/2, 2012, S.  301–307. Übersetzt und wieder abgedruckt mit Genehmigung des Rechte­ inhabers, der Modern Language Association of America. 20. »Honey, I Shrunk German History«, Newsletter of the German Studies Asso­ciation, 38/2, Fall 2013, S. 44–53. Veröffentlicht mit Genehmigung der German Studies Association.

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