Kunstgeschichte und Gegenwartskunst: Vom Nutzen und Nachteil der Zeitgenossenschaft 9783412333867, 9783825229726, 9783825230845, 9783825227753, 9783412202569


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Kunstgeschichte und Gegenwartskunst: Vom Nutzen und Nachteil der Zeitgenossenschaft
 9783412333867, 9783825229726, 9783825230845, 9783825227753, 9783412202569

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kunstgeschichte & gegenwartskunst

k u ri stgeschichte Ägegenwartskunst v o m nutzen & nachteil der Zeitgenossenschaft

herausgegeben von v e r e n a krieger

§ 2008 B Ö H L A U VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2008 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-41 2-20256-9

einführung Verena Krieger Zeitgenossenschaft als Herausforderung für die Kunstgeschichte

5

gegenwart der kunst - historizität der gegenwart Christian Demand Emphatische Gegenwart. Über „Zeitgenossenschaft" als Wertbegriff

29

Reinhard Steiner Die Schwelle des Augenblicks Anmerkungen zu einer Kunstgeschichte der Gegenwart

47

Sebastian Egenhofer Bild der Kunstkritik als Schwimmerin

59

Kunsthistoriker als Zeitgenossen Hans-Rudolf Meier Geschichtlichkeit der Form — Formen der Geschichtlichkeit Siegfried Giedion und die Zeitgenossenschaft der Architekturgeschichte

69

Beat Wyss Meyer Schapiro. Die Zeitgenossenschaft eines Mediävisten

81

Richard Hoppe-Sailer Max Imdahl und die Bochumer Sammlung zur Kunst der Moderne

95

schuss/gegenschuss - im Wechselspiel der Perspektiven Antje von Graevenitz Erdloch, Erdraum und Bodenplatte Konkurrenz von Zeugen- und Kunstwissenschaft im Blick auf die amerikanische Kunst der sechziger Jahre in München

117

Verena Krieger Der der Postmoderne durch dieKrauss Moderne auf sich selbst Zur Blick Originalitätskritik von Rosalind

143

Hans Dickel Der erste und der zweite Blick Albert Renger-Patzsch und Andreas Gursky in der Sicht der Zeitgenossen und der Fotografiegeschichte

163

kunstgeschichte der gegenwart - zwischen distanz und teilhabe Anne-Marie Bonnet Kunstgeschichte Museum Gegenwart

181

Julia Gelshorn Der Produzent als Autor Kiinsderische Theorie als kunsthistorische Herausforderung

193

Philip Ursprung Performative Kunstgeschichte

213

autorinnen und autoren

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abbildungsnachweis

233

Zeitgenossenschaft als herausforderung für die Kunstgeschichte

verena krieger

In seiner frühen Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie fur das heben, der unschwer erkennbar der Titel dieses Buches endehnt wurde, hat Friedrich Nietzsche heftig gegen einen Umgang mit historischem Wissen polemisiert, der sich in antiquarischer Gelehrsamkeit ergeht anstatt im Heute präsent zu sein, gegen eine „Belehrung ohne Belebung". Sein Gegenmittel war die Jugend — ihre Kraft zum „Vergessen", zum „Unhistorischen", zur absoluten Präsenz in der Gegenwart und damit letztlich zum „Überhistorischen". 1 Mit dieser pointierten Sicht hat Nietzsche die fundamentale Polarität von Geschichte und Gegenwart programmatisch formuliert, die zu einem Grundmotiv der klassischen Moderne geworden ist. Seither ist keinem modernen Zeitgenossen mehr jener unkomplizierte Einklang mit der Tradition vergönnt, der in vormodernen Epochen selbstverständlicher Usus war und dessen Auflösung bereits Hegel konstatiert hatte. Die Moderne hat aber nicht nur das Kontinuum von Geschichte und Gegenwart aufgesprengt, sondern mehr noch: indem sie sich selbst als das radikal Neue, prinzipiell Andere unterstellte, sich selbst strukturell der historischen Betrachtung entzogen. Infolgedessen musste ihr die jeweils aktuelle Gegenwart in ihrer Flüchtigkeit zum Problem werden. 2 Ein Feld, in dem dieses Auseinandertreten von wiss- und verfügbarer Geschichte und erleb- aber zugleich ungreifbarer Gegenwart geradezu paradigmatisch vor Augen tritt, ist die Kunst. Entsprechend herausgefordert ist die Kunstgeschichte — insbesondere dann, wenn sie als eine genuin historische Disziplin sich der Gegenwartskunst zuwendet.

die „schwierigen Zeitgenossen" gibt es eine historisierung der gegenwart im .posthistoire'? Der Kunstgeschichte stellt sich der Konflikt zwischen historischem Wissen und zeitgenössischer Präsenz in einer Schärfe wie kaum einem anderen Fach, sind doch ihre Gegenstände immer gleichermaßen historisch wie aktuell, und dies in 1 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fur das Leben, in: KSA ), hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, S. 243-334. 2 Baudelaires Rede vom doppelten Charakter der Kunst - dem ewigen und dem flüchtigen - wird insofern nicht nur den neuen Anforderungen der Modernität gerecht, sondern ist zugleich ein Versuch, im Flüchtigen der Moderne das Ewige zu bewahren. Vgl. Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens (1863), in: Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, Bd. 5 (Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857-1860), München/Wien 1989, S. 213-258, insbes. Kap. Die Modemitat.

doppelter Hinsicht: Einerseits begegnen wir jedem Kunstwerk, auch dem historischen, im Hier und Jetzt. Deshalb betrachten wir Kunstdenkmäler vergangener Epochen niemals nur als historische Dokumente, sondern suchen immer auch ihre aktuale Präsenz zu erfahren und erfahrbar zu machen. Andererseits ist selbst die aktuellste Kunst, schon bevor die Flüchtigkeit des Gegenwärtigen sie zur gestrigen Kunst hat werden lassen, immer auch (und unabhängig davon, ob es ihren Urhebern und Rezipienten bewusst ist) historisch und folglich notwendig Objekt historischer Forschung. Die doppelte Eigenschaft von Historizität und Aktualität ist allen Kunstwerken gleichermaßen eigen. Gleichwohl unterscheiden sich historische und zeitgenössische Kunst, betrachtet man sie unter dem Gesichtspunkt, welchen Zugang sie der kunstgeschichtlichen Analyse erlauben, in einigen grundlegenden Punkten: Erstens sind bei zeitgenössischer Kunst die wahrzunehmenden und zu beschreibenden Prozesse, deren integraler Bestandteil das jeweilige Kunstwerk ist, noch nicht abgeschlossen, sie bilden damit noch keine (gedanklich zu vollziehende) Totalität und sind folglich schwieriger zu erkennen und begrifflich zu benennen. Beispiele für solche Prozesse sind stilistische Entwicklungen wie etwa die Ablösung expressionistischer durch neusachliche Malerei in den 1920er Jahren oder ideengeschichtliche Entwicklungen wie der Einfluss poststrukturalisrischer Theorie auf die bildenden Künste seit den 1970er Jahren. Diese Prozesse zu konstatieren und aktiv zu begleiten blieb bislang meist Kunstkritikern und Ausstellungsmachern vorbehalten, so etwa Gustav Hardaub, der 1925 für eine Ausstellung den Terminus ,Neue Sachlichkeit' geprägt, oder Douglas Crimp, der 1979 erstmals den Begriff des ,Postmodernismus' auf zeitgenössische Künsder bezogen hat - der akademischen Kunstgeschichte blieb nichts anderes, als diese Entwicklungen aus historischem Abstand nachzuvollziehen. Zweitens ist bei zeitgenössischer Kunst die Masse und der Komplexitätsgrad an verfügbarer Information im Vergleich zur nur aus einer vergleichsweise simplifizierenden Fernsicht zu betrachtenden historischen Kunst unvergleichlich viel höher und daher schwieriger zu systematisieren und nach (jeweils aktuell gesetzter) Relevanz zu hierarchisieren. Während wir beispielsweise bei Künsdern der frühen Neuzeit oder selbst noch der klassischen Moderne mühsam rekonstruieren müssen, mit welchen zeitgenössischen Persönlichkeiten sie in Kontakt gestanden haben, sind uns solche Informationen über zeitgenössische Künsder leicht verfügbar - ja sie werden von Kunst- und Lifestylemagazinen in schier unüberschaubarer Menge präsentiert. So besteht die Aufgabe einer Kunstgeschichte der Gegenwartskunst weniger darin, in Archiven verborgene Informationen aufzuspüren, als gerade umgekehrt darin, irrelevantes (oder als irrelevant beurteiltes) Material auszufiltern. Und drittens ist bei zeitgenössischer Kunst das Subjekt der Analyse aufgrund seiner Zeitgenossenschaft selbst Teil des zu analysierenden Phänomens, da es mehr oder minder aktiv in die zu beschreibenden historischen Prozesse involviert ist. Diese unmittelbare Teilhabe wirkt gleichermaßen hemmend wie befördernd auf die Analysefähigkeit — hemmend, insofern sie ,blinde Flecke' der Wahrnehmung erzeugt (denn das allzu Vertraute, allzu Selbstverständliche ent6

zieht sich ihr), befördernd, insofern sie ein besonders ausgeprägtes Verständnis oder sogar Empathie für aktuelle Tendenzen erweckt. Als Partizipanten der Gegenwart sind Kunsthistoriker in höherem Maße parteiisch denn als Analytiker des Vergangenen (wenngleich bekanntlich zeitgenössische Wertmaßstäbe stets auch die historische Analyse beeinflussen), denn sie agieren notwendig interessegeleitet, mehr noch: als Kommentatoren aktueller Entwicklungen werden sie zu handelnden Akteuren im .Betriebssystem Kunst' und nehmen Einfluss auf das künstlerische Geschehen, das sie wiederum kommentieren. An die Stelle klassischer Hermeneutik tritt eine Kritik, die ihren Gegenstand selbst generiert, der hermeneutische Zirkel verkehrt sich zu einem Zirkel, in dem die Bedeutungsermittlung tendenziell bedeutungskonstituierend wird. Neben diese allgemeinen strukturellen Differenzen zwischen je historischer und zeitgenössischer Kunst, die im Wesentlichen auch schon für die vormoderne Kunsthistoriographie galten, tritt eine weitere Differenz, die sich aus den Spezifika der Moderne und Postmoderne ergibt: In der klassischen Moderne (vorbereitet seit der Renaissance) hat der Künstler hinsichtlich der Deutung und Kommentierung seines Werks eine aktiv mitgestaltende Rolle eingenommen, die Künsderäußerung in der öffentlichen wie in der wissenschaftlichen Rezeption eine qualitative Bedeutungssteigerung erhalten. Nicht nur sind im 20. Jahrhundert neue Quellengattungen wie das Manifest und das Interview entstanden und wirkmächtig geworden,3 sondern generell ist die Künsderäußerung, wie Max Imdahl konstatierte, de facto an die Stelle der tendenziell funktionslos gewordenen traditionellen Ikonographie getreten. 4 Welche methodischen Konsequenzen die Kunstgeschichte daraus zu ziehen hätte, wurde bislang nur vereinzelt reflektiert.5 Während Panofsky 1920 noch betont hatte, dass Künsdertheorien „ein der Deutung fähiges und bedürftiges Parallelphänomen" zu den Kunstwerken sind, „Objekte, nicht Mittel der sinngeschichtlichen Interpretation", 6 hat sich seither vielfach eine Kunstgeschichtsschreibung der Moderne etabliert, die das Künstlerwort zum Ausgangspunkt der Deutung macht. Seit den 1960er Jahren hat die Sperrigkeit der Kunst gegen den analytischen Zugriff der Kunstgeschichte eine neue Qualitätsstufe erlangt: Hatten schon die Künsder der klassischen Moderne behauptet, mit der Tradition gebrochen zu

3

Vgl. Friedrich Wilhelm Malsch, Künstlermanifeste. Studien zu einem Aspekt moderne Kunst am Beispiel des

italienischen Futurismus, Weimar 1997; Christoph Lichtin, D a s Künstlerinterview. Analyse eines Kunstprodukts, Bern u.a. 2004. 4

Max Imdahl, Probleme der Optical Art. Delauney - Mondrian - Vasarely, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch XXIX,

1967, S, 291-308, hier S. 294. Allerdings nimmt die Künstleräußerung damit bemerkenswerteiweise in Imdahls später entwickeltem methodologischen Dreischritt "Ikonographie - Ikonologie - Ikonik" eine niedere Stellung ein, s o wie er ohnehin die Auffassung vertrat, dass die Wahrnehmung des Rezipienten mit derjenigen des Künstlers keineswegs zwingend übereinstimmen müsse. 5

Wichtige Ausnahmen: Felix Thürlemann, Kandinsky über Kandinsky. Der Künstler als Interpret eigener Werke,

Bern 1986, hier: Erster Teil: Theorie der Selbstinterpretation, S. 17-34; Peter Schneemann, Who is afraid of the Word? Zur Strategie der Texte bei Barnett Newman und seinen Zeitgenossen (Quellen zur Kunst Bd. 6), Freiburg i.Br./Rombach 1998; Peter Schneemann, Von der Apologie zur Theoriebildung. Die Geschichtsschreibung des Abstrakten Expressionismus, Berlin 2003. 6

Erwin Panofsky, Der Begriff des Kunstwollens, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft,

14,1920,321-339.

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haben und das radikal Neue zu vertreten, so beansprucht nun eine künstlerische postmoderne' nicht nur ebenso dezidiert, mit allen Kategorien und Ansprüchen der Moderne gebrochen zu haben, sondern — mehr noch — gänzlich aus der Geschichte ausgestiegen zu sein, folglich prinzipiell nicht mehr historisierbar zu sein. Als „schwierige Zeitgenossen" tendieren Künstler in den letzten Jahrzehnten, wie Stefan Germer treffend beschrieben hat, dazu, die Historisierung und Kontextualisierung ihrer Kunst strukturell zu „blockieren", indem sie Strategien einer permanenten Aktualisierung verfolgen. 7 Gleichzeitig sind zahlreiche Künsder dazu übergegangen, das hermeneutische Geschäft der Kunstgeschichte an sich zu ziehen und systematisch selbst zu betreiben nicht nur mittels der Produktion von Selbstdeutungen, sondern auch, indem sie die Dokumentierung und Kontextualisierung des eigenen Werks in ihre künsderische Tätigkeit integrieren und sich so zu „Autoritäten" ihrer eigenen Historiographie aufschwingen. 8 Vor diesem Hintergrund gerät die Kunstgeschichte in ernsthafte Legitimationszwänge, sie droht in die Zwickmühle zu geraten zwischen dem apologetischem Nachvollzug künsderischer Selbstdeutungen und dem Konstatieren eines „Endes der Kunstgeschichte" (Hans Belting), wobei ersteres mit letzterem tendenziell zusammenzufallen droht.9

Wissenschaft versus Zeitgenossenschaft der lange weg der Kunstgeschichte zur gegenwart Die geschilderte Problemlage ist neu, ein Phänomen der Gegenwart. Lange Zeit — die weitaus längste Zeit in ihrer Geschichte — stellte sie sich für die Kunstgeschichte nicht. Die frühen Kunsthistoriographen — Vasari, van Mander, Sandrart etc. — hatten weder Legitimationsprobleme bei ihrer Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst, noch stellten sie sich die methodologische Frage, wie sie einen der unparteiischen Erkenntnis förderlichen Abstand zu ihrem Gegenstand gewinnen könnten. Ganz im Gegenteil: bei ihnen erschien die Kunst der Gegenwart nicht nur in einem Kontinuum mit derjenigen der Vergangenheit, sondern ihre Geschichten der historischen Kunst standen immer auch im Dienste einer - offenherzig parteiischen — Förderung aktueller Kunst und Künsder. Mit der Verwissenschaftlichung der Kunstgeschichtsschxeibung und der Herausbildung der akademischen Kunstgeschichte wurde hingegen Parteilosigkeit und damit historische Distanz zur Voraussetzung adäquater Erkenntnis erho-

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Stefan Germer, Die schwierigen Zeitgenossen. Über die Probleme der Historisierung aktueller Kunst (1994), in: Julia Bernard (Hg.), Germeriana. Unveröffentlichte oder übersetzte Schriften von Stefan Germer (Jahresring, Bd. 46), Köln 1999, 219-232. 8 Vgl. Julia Gelshom (Hg.), Legitimationen, Künstlerinnen und Künstler als Autoritäten der Gegenwart, Bern u.a. 2004; siehe hierzu auch den Beitrag von Julia Gelshorn in diesem Band. 9 Hans Belting, Das Ende der Kunstgeschichte, München 1983; Ders., Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München 1995.

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ben.10 Zeitgenossenschaft wurde so zu einem strukturellen hermeneutischen Problem der Kunstgeschichte, der notwendig die einstige Unbefangenheit etwa eines Vasari gegenüber der Gegenwart verloren gegangen ist. Es war nur folgerichtig, dass die Kunstgeschichte als institutionalisierte akademische Disziplin die zeitgenössische Kunst, deren Kommentierung und Kanonisierung als Forschungsgegenstand weitgehend ausgeschlossen und bis auf weiteres der Kunstkritik überlassen hat. Nachhaltige Wirkung auf die Rezeption der modernen Kunst haben daher im 19. und 20. Jahrhundert nicht akademische Kunsthistoriker, sondern Kunstkritiker entfaltet: John Ruskin, Carl Einstein, Clement Greenberg, um nur wenige Beispiele zu nennen. Zwar gab es innerhalb der akademischen Kunstgeschichte immer wieder einzelne Gelehrte, die sich auch — freilich niemals ausschließlich — der zeitgenössischen Kunst zuwandten, so etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts Josef Strzygowski, Hans Tietze oder auch Max Sauerlandt, doch als Ausnahmen haben sie die Regel letztlich nur bestätigt.11 Bemerkenswerterweise hat in der westdeutschen12 Nachkriegszeit die Offenheit akademischer Kunsthistoriker gegenüber moderner und zeitgenössischer Kunst im Vergleich zum Jahrhundertbeginn und den zwanziger Jahren keineswegs zugenommen.13 Anders als die westdeutschen Geschichtswissenschaften, die sich mit der Gründung des Instituts für Zeitgeschichte in München (1949) und der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" (1953) frühzeitig, an die Anfänge der modernen Zeitgeschichte in der Weimarer Republik anknüpfend, verstärkt der „Epoche der Mitlebenden" (Hans Rothfels) zuwandten, blieb in der Kunstgeschichte nach 1945 die Skepsis gegenüber dem aktuellen Zeitbezug ungebrochen.14 Eine theoretische Fundierung erhielt diese Zurückhaltung durch Hans Georg Gadamer, der einzig dem „Zeilenabstand" das Vermögen zuschrieb, dem wissenschaftlichen Rezipienten „sichere Maßstäbe" zu verleihen, er lasse „den wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen". Das Urteil über gegenwärtige Kunst dagegen sei „von verzweifelter Unsicherheit", getragen durch „unkontrollierbare Vorurteile" und von „Voraussetzungen, die uns viel zu sehr einnehmen, als dass wir sie wissen könnten". Erst das , Absterben 10

Vgl. Hubert Locher, Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750 -1950, München 2001, S. 52. Joseph Strzygowski publizierte als erster Kunsthistoriker aus dem Umfeld der Wiener Schule ein der zeitgenössischen Kunst gewidmetes Buch: „Die bildende Kunst der Gegenwart. Ein Büchlein für jedermann" (1907). Mans Tietze publizierte über den Blauen Reiter und engagierte sich für die moderne Kunst, in „Die Methode der Kunstgeschichte" (1913) schrieb er, dass man „nur in einem unmittelbaren Verhältnis zu einer noch lebenden Kunst den Schlüssel zu den Rätseln der Vergangenheit finden" könne (zit. nach Locher 2001, S. 58). Max Sauerlandt gelang es noch in der NS-Zeit, ein Buch über „Die Kunst der letzten 30 Jahre" (1935) zu veröffentlichen, wobei er den Begriff „Moderne" freilich systematisch vermied. 12 In der DDR vertilelt es sich anders: Wie Peter Feist auf der Tagung „Kunstgeschichte an den Universitäten in der Nachkriegszeit (1945 -1955) am 14./15. Oktober 2005 in Karlsruhe schilderte, war in der DDR die Beschäftigung mit der zeitgenössischen Kunstproduktion üblich und unhinterfragt. Die Gründe dafür lagen allerdings zum einen im stark eingeschränkten Zugang zu historischen Kunstdenkmälem und zum anderen in der ständigen Notwendigkeit, den gesellschaftlichen Nutzen des Faches durch eine hinreichende Würdigung aktueller politischer Kunst unter Beweis zu stellen. 13 Die Erforschung der Kunstgeschichte der Nachkriegszelt unter diesem Gesichtspunkt steht noch aus; es ist zu erwarten, dass die Dissertation von Ruth Heftrig über die „Modernerezeption in der universitären deutschen Kunstgeschichte 1930-1960" hier genauere Informationen bringen wird. 14 Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeltgeschichte, 1,1953, S. 1 -8. 11

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aller aktuellen Bezüge" ermögliche ein Verständnis des Kunstwerks, „das verbindliche Allgemeinheit beanspruchen kann", und „nur aus einem gewissen geschichtlichen Abstände heraus" sei „objektive Erkenntnis erreichbar".15 Exemplarisch hat Heinz Ladendorf die bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein vorherrschende Auffassung der westdeutschen akademischen Kunstgeschichte zum Problem der zeitgenössischen Kunst formuliert: „Alle Kunstbetrachtung", schrieb er im Jahr 1955, „(vermag) eine mehr oder weniger große Zeitspanne in der Entwicklung der Kunst nur sehr undeutlich zu erkennen", weil sie sich „einer Art Dunkelfeld gegenübersieht, in dem ein gerechtes Verstehen und ein verbindliches Urteil nicht möglich ist. Dieses Dunkelfeld umfasst im Allgemeinen höchstens neunzig Jahre" und es „hellt sich meist gegen die jeweilige Gegenwart, aus dem Bemühen jeder Epoche um Selbstverständnis, und gegen die weiter zurückliegende Vergangenheit, offenbar wegen des gewonnenen Abstandes, auf." An der „Kunst nach dem Impressionismus" nehme der Kunsthistoriker „vornehmlich als generationsbestimmter Zeitgenosse Anteil", jedoch könne man „über den wissenschaftlichen Wert derjenigen Arbeiten, die sich mit der jüngeren Vergangenheit beschäftigen, (...) vorerst (...) wenig aussagen".16 Es ist bemerkenswert, dass Ladendorf nicht nur eine größere historische Distanz von bis zu 90 Jahren als Voraussetzung eines angemessenen wissenschaftlichen Urteils ansah, sondern zugleich ein relatives „Aufhellen" des „Dunkelfelds" in der unmittelbaren Gegenwart konstatierte, das sich aus der Zeitgenossenschaft des Kunsthistorikers begründe. Wirklich ,ungerecht' und parteiisch urteilt man demnach nicht primär gegenüber zeitgenössischen Phänomenen, sondern vor allem gegenüber den künsderischen Erscheinungen der unmittelbaren Vergangenheit — eine feinsinnige Beobachtung, denn schließlich artikuliert sich der Zeitgenosse nirgendwo deutlicher als in seiner Verachtung der Mode von gestern! Ungeachtet solcher Differenzierung galt nach 1945 eine wissenschaftliche Bearbeitung zeitgenössischer Kunst — und dazu zählte in den 50er Jahren selbst noch die Klassische Moderne vor dem Ersten Weltkrieg — überwiegend als unmöglich, gar unseriös.17 Zeitgenossenschaft und wissenschaftliche Forschung schienen Ladendorf und den meisten anderen Fachvertretern in dieser Zeit unvereinbar. Ein historischer Mindestabstand von 30 Jahren galt allgemein als unabdingbar, diese Zahl hat sich gegenüber Ladendorfs weitaus längerem „DunHans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, Kap. »Die hermeneutische Bedeutung des Zeilenabstandes" S. 275ff, hier S. 281f. 16 Heinz Ladendorf, Kunstwissenschaft, in: Werner Schuder (Hg.), Universitas Litterarum. Handbuch der Wissenschaftskunde, Berlin 1955, S. 605-634, hierS. 622f. 17 Wie massiv die Legitimationszwänge bis in die 60er Jahre hinein selbst für die Beschäftigung mit dem Expressionismus vor dem 1. Weltkrieg war, offenbart exemplarisch das Vorwort von Richard Hamann und Jost Hermand Im ersten Band ihres fünfbändigen Pionierwerks „Epochen deutscher Kultur von der Gründerzeit bis zur Expressionismus", in dem die Autoren die mögliche Kritik an ihrem Unterfangen selbst vorwegnehmen: „Das Thema ,Die Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus' ist in geistiger Hinsicht immer noch so gegenwartsnah, dass es selbst den objektivsten Betrachter in Fragen verstrickt, die sich nicht ohne eine bestimmte Stellungnahme behandeln lassen." Daher könnte man „von streng wissenschaftlicher Seite den Einwand erheben, mit der nüchternen Analyse der hier aufgeworfenen Probleme lieber noch etwas zu warten, um nicht in den aktuellen Streit der Meinungen hineingezogen zu werden." (Bd. 1, Gründerzeit, Berlin 1965, S. 7). 15

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kelfeld" von 90 Jahren durchgesetzt - vermutlich in Analogie zur bundesdeutschen Rechtslage, die Akten eine Schutzfrist von 30 Jahren gewährt. Nicht zufallig waren es daher keine Hochschullehrer, sondern prominente Museumsleute wie Werner Haftmann und Werner Hofmann, die ab den 1950er Jahren erste systematische Anstrengungen unternahmen, das qualitativ Neue an der modernen Kunst vor und nach den Weltkriegen historisch und theoretisch zu fassen.18 Innerhalb der akademischen Lehre und Forschung waren dagegen Spielräume, sich mit neuerer Kunst zu befassen, kaum gegeben. Wer es dennoch tat, musste sich bis weit in die 70er Jahre hinein gegen Widerstände behaupten und — wie z.B. Max Imdahl — mit dem Image eines Exoten leben.

ende des historismus? kunstgeschichtliche methoden und gegenwartskunst Es ist vermutlich kein Zufall, dass gerade Imdahl einer der ersten deutschen Hochschullehrer war, die sich ausdrücklich der zeitgenössischen Kunst gewidmet haben, repräsentiert er doch jene methodologische Richtung innerhalb der Kunstgeschichte, die dezidiert für einen ahistorischen und formästhetischen Zugang zum Kunstwerk plädiert. Deshalb konnte Imdahl zeitgenössische wie historische Kunst stets gleichermaßen „als gegenwärtige" behandeln.19 Nicht primär kultur- und ideengeschichtliche Kenntnisse erscheinen aus dieser Sicht vonnöten, sondern eine intime Nähe zum Künstler und zum schöpferischen Vorgang, vor allem aber die Fähigkeit zum „sehenden Sehen" des Werks.20 Nicht nur Imdahl kam ursprünglich von der Malerei her, auch sein großer Vorläufer Heinrich Wölfflin hatte ursprünglich selbst Malunterricht genommen und ging in seinem wissenschaftlichen Nachvollzug künsderischer Prozesse explizit „vom Atelier aus". Das „Interesse der Gegenwart" und „das sichere belebende Gefühl nächster Vergangenheit" waren nach seiner Auffassung der „Ausgangspunkt" jeder kunstwissenschaftlichen Interpretation.21 Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe" sind denn auch als Folge seiner Zeitgenossenschaft zur „damaligen künstlerischen Avantgarde" gedeutet worden.22 Wenngleich Wölfflin der zeitgenössischen Avantgardekunst eher reserviert gegenüber

18 Vgl. Werner Hofmann, Grundlagen der modernen Kunst. Eine Einführung in ihre symbolischen Formen, Stuttgart 1966; Werner Haftmann, Menschliche Existenz und moderne Welt, Berlin 1967. 19 Angeli Janhsen-Vukucevic, Moderne Kunst und Gegenwart, in: Max Imdahl, Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften Bd. 1, hg. von Angeli Janhsen-Vukicevic, Ffm 1996, S. 7-31, S. 8. 20 Max Imdahl, Giotto Arenafresken. Ikonographie - Ikonologie - Ikonik, München 1980; Ders., Cézanne - Braque - Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Wirklichkeitssehen, in: Ders., Bildautonomie und Wirklichkeit. Zur theoretischen Begründung modemer Malerei, Mittenwald 1981, S. 9-68. 21 Zit. nach Norbert Schmitz, Kunst und Wissenschaft im Zeichen der Moderne. Exemplarische Studien zum Verhältnis von klassischer Avantgarde und zeitgenössischer Kunstgeschichte in Deutschland. Holzel Wölfflin Kandinsky Dvorâk, Alfter 1993, S. 141. 22 Martin Warnke, Sehgeschichte als Zeitgeschichte: Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe" in: Merkur, 5/1992, S. 442-449. Vgl. auch die ausführlicheren und kritischeren Bemerkungen von Norbert Schmitz 1993 (wieAnm. 21).

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stand,23 bot seine rein auf visuelle Parameter zielende Methode einen Ansatz zur Interpretation auch gegenstandsloser Kunst. Vor allem aber hat die formästhetische Schule einen leichteren Zugang zur Gegenwartskunst, weil sie einen prinzipiellen Gegensatz von „Kunst versus Geschichte" (Boehm), d.h. von ästhetischer Erfahrung versus historischer Reflexion behauptet und folglich eine historische Distanz zum künsderischen Werk keineswegs als Voraussetzung der kunstwissenschaftlichen Analyse ansieht.24Allerdings erweist sich der formanalytische Zugang vorzugsweise bei bestimmten Kunstrichtungen als fruchtbar, denen er auch historisch korrespondiert. So hat sich denn Imdahl vorzugsweise mit informeller und konkreter Kunst auseinandergesetzt, während er sich etwa mit Malewitsch oder der Conceptual Art nicht befasste — bei solcher Kunst, die ohne diskursiven Zusammenhang nicht zu erschließen ist, stößt die Ikonik an ihre Grenzen. Hier ist die ikonologische Schule im Vorteil: aufgrund ihres Textbezuges scheint sie geradezu perfekt adaptierbar auf solche Kunstrichtungen im 20. Jahrhundert, die mit theoretischen Ansprüchen aufgeladen sind. Jedoch ist die Ikonologie wiederum dem hermeneutischen Postulat unterworfen, dass es einer gewissen historischen Distanz bedürfe, um aus der Fernsicht die geistesgeschichtlichen und soziokulturellen Kontexte eines Kunstwerks rekonstruieren zu können. Dies mag erklären, weshalb die — durchaus vorhandenen — Ansätze einer reflexiven Integration der zeitgenössischen Perspektive in die kulturhistorisch-ikonologische Methode nicht weiter verfolgt worden sind. Immerhin hat schon Alois Riegl die Involviertheit des Kunsthistorikers als Zeitgenosse thematisiert, als er in der Einleitung seiner Spätrömischen Kunstindustrie davon sprach, dass „selbst die Wissenschaft trotz aller anscheinenden Selbständigkeit und Objektivität ihre Richtung im letzten Grunde doch von den jeweilig führenden geistigen Neigungen erhält und auch der Kunsthistoriker über die Eigenart des Kunstbegehrens seiner Zeitgenossen nicht wesentlich hinauskann."25 In diesem Umstand sah er die Erklärung dafür, dass die spätantike Kunst bis dahin von der Kunstgeschichte gering geschätzt und vernachlässigt wurde. Bemerkenswerter Weise beanspruchte Riegl aber nicht etwa, dass er selbst über solchen zeitbedingte Geschmacksvorlieben „erhaben" sei und aus einer wissenschaftlichen Metaposition heraus seine Neubewertung der spätantiken Kunst vorgenommen habe, vielmehr erklärte er, die allgemeine „geistige Entwicklung" sei „an einem Punkte angelangt", wo es überhaupt möglich geworden sei, diese Neubewertung vorzunehmen. Die Zeitgenossenschaft der Kunstgeschichte erscheint bei ihm also nicht nur als Blockade, sondern auch als Chance, in jedem Falle aber als unüberschreitbare Voraussetzung auch der Wissenschaft. Wie Schmitz erläutert, blieb Wölffirn in seiner Sicht der neueren Kunst letztlich einem .erweiterten Klassizismus" verhaftet. Vgl. Norbert Schmitz, Heinrich Wölfflin - ein Kunsthistoriker der Moderne, in: Heinrich Wolfflin, Kunstgeschichte des 19. Jhts. Akademische Vorlesung aus dem Archiv des Kunsthistorischen Instituts der Universität Wien, hg., eingeleitet und kommentiert von Norbert M. Schmitz, Alfter 1994, S. 145-174. 24 Gottfried Boehm, Kunst versus Geschichte. Ein unerledigtes Problem. Zur Einleitung in George Kutters ,Die Form der Zeit', in: George Kubler, Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt am Main 1982, S. 7-26. 25 Alois Riegl, Spätrömische Kunstindustrie (1901), Wien 1927, S. 3. 23

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Einen gedanklichen Ansatz, die in der Zeitgenossenschaft liegende Chance zu ergreifen und sie zugleich wissenschaftlich zu überschreiten, unternahm der frühe Erwin Panofsky, der — was m.W. nie zur Kenntnis genommen wurde — sehr wohl bedacht hat, dass die Partizipation des Kunsthistorikers an den kulturellen Werten und Normen seiner Gegenwart in eine kunsthistorische Methodologie zu integrieren wäre. In seinem Vortrag über das Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst von 1931 nimmt das „weltanschauliche Urverhalten" des Rezipienten eine Schlüsselstellung als „subjektive Quelle" der dritten Interpretationsstufe, also der Entschlüsselung des „Dokument-" bzw. „Wesenssinns" ein. Die etwas verquaste Formulierung, die er später nicht mehr verwendete, bezeichnete nichts anderes als die unbewusste Partizipation des Rezipienten an der Weltanschauung seiner eigenen Zeit. Da diese notwendig subjektiv und für die Analyse eines Kunstwerks (zumal eines historischen) nicht hinreichend ist, führte Panofsky zugleich als „objektives Korrektiv" die Kenntnis der „allgemeinen Geistesgeschichte" ein, die er auch als „Inbegriff des weltanschaulich Möglichen" umschrieb.26 Das bedeutet mit anderen Worten: In diesem seinem frühesten Entwurf der ikonologischen Methode hat Panofsky die subjektive Teilhabe des Kunsthistorikers am kulturellen Wertesystem seiner Gegenwart explizit als Erkenntnismedium anerkannt und ihm das (geistes-)geschichtliche Wissen als Korrektiv zur Seite gestellt. In der späteren, ausgereifteren Version seines hermeneutischen Modells Ikonographie und Ikonologie von 1939/1955 ist dies nicht mehr in gleicher Weise der Fall: zwar tauchen hier die „Intuition" sowie „persönliche Psychologie und ,Weltanschauung'" des Rezipienten als dessen „Ausrüstung" für die dritte Interpretationsstufe auf, jedoch ist ihre Rolle darauf reduziert, sein Bildungswissen über die „wesentlichen Tendenzen des menschlichen Geistes" zu „prägen" im Sinne von verunklären oder stören — statt als eigenständige Erkenntnisquelle zu dienen. Die stärkere Betonung des Psychologischen, die in der früheren Fassung noch nicht gegeben war, trägt in dem neueren Modell zusätzlich dazu bei, den subjektiven und zeitbedingten Anteil der Interpretation als minderwertig, gar „gefährlich" erscheinen zu lassen.27 Damit war die — in der ersten Version noch gegebene — Chance vertan, der Zeitgenossenschaft des Kunsthistorikers eine fruchtbare Funktion innerhalb des erkenntnistheoretischen Modells zu2uweisen. Der theoretischen Entwertung der Zeitgenossenschaft entsprach die kunsthistorische Praxis der Gründerväter der ikonologischen Schule. So hat Aby Warburg trotz seiner Sympathie für aktuelle künstlerische Entwicklungen wie den Futurismus darauf verzichtet, diesen zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung zu machen. Panfosky richtete sein Konzept der ikonologischen Analyse auf die Analyse historischer Kunst aus. Sein Drei-Stufen-Modell ist denn auch, wie ihm vielfach vorgeworfen wurde, für eine bruchlose Adaption auf die Kunst der Moderne und der Gegenwart ungeeignet, da es die gegenständliche Erwin Panofsky, Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst (1931/32), in: Ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Darmstadt 1985, S. 85-97, insbes. S. 95. 27 Erwin Panofsky, Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in der Kunst der italienischen Renaissance, in: Ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1978, S. 36-67, insbes. S. 5 0 , 4 8 26

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Darstellung ebenso voraussetzt wie die Existenz ikonographischer Bezüge. Vor diesem Hintergrund muss das Scheitern eines produktiven Dialogs von Panofsky mit Barnett Newman als nur folgerichtig erscheinen.28 Der historisierende Werkzugang der ikonologischen Methode ist vielfach kritisiert worden, der grundsätzliche, zuletzt von Georges Didi-Huberman wiederholte Einwand lautet dahingehend, dass die Ikonologie mit ihrer „Tyrannei des Lesbaren" einen „Mythos von der Allübersetzbarkeit der Bilder" produziere, bei der das dem Kunstwerk eigene „Dunkle" in scheinbaren Gewissheiten aufgehe, das nur in der aktuellen Begegnung mit dem Werk erfahrbar sei und eben nicht in der auf Klarheit zielenden historisch-kritischen Analyse.29 Einen denkbar radikalen Ausweg aus diesem Dilemma hat Martin Warnke skizziert. Er schlug vor, der kunsthistorischen Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst ganz zu entsagen und die Begegnung mit dem aktuellen Kunstwerk allein dem ,,Einzelne(n) als mündig wahrnehmende(m) Subjekt" zu überlassen.30 Dem hat Monika Wagner entgegengesetzt, dass auch die moderne und zeitgenössische Kunst ungeachtet ihrer Autonomie und vermeintlichen „Undienstbarkeit" der kunsthistorischen Analyse bedarf. Wenn das von der ikonologischen Schule zur Verfügung gestellte Instrumentarium sich hierfür als nicht mehr ausreichend geeignet erweise, so müssten eben neue Analysemethoden entwickelt werden.31 Tatsächlich hat sich längst eine ikonologische Praxis zur modernen und zeitgenössischen Kunst jenseits der engen Vorgaben von Panofskys Interpretationsmodell bzw. in dessen schöpferischer Abwandlung und Erweiterung entwickelt.32 Ohnehin ist inzwischen die alte Polarisierung der beiden am Beginn des 20. Jahrhunderts begründeten kunsthistorischen Schulen ihrerseits historisch geworden, insofern die Kunstentwicklung im Verlauf dieses Jahrhunderts so viele neue Fragen und Aspekte aufgeworfen hat, dass neue Zugangsweisen unabdingbar geworden sind. Längst werden sozialgeschichtliche, medientheoretische, institutionskritische, systemtheoretische, semiotische, feministische, psychoanalytische und andere Perspektiven miteinander verschränkt. Auffällig ist dabei eine allgemeine Tendenz zur Enthistorisierung und zu strukturalistischen Betrachtungsweisen im Sinne der postmodernen Abkehr

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Beat Wyss, Ein Druckfehler. Panofsky versus Newman - verpasste Chancen eines Dialog, in: Bruno Reudenbach (Hg.), Erwin Panofsky. Beiträge des Symposiums Hamburg 1992, S. 191-199; Regine Prange, Ein Zeitgenosse wider Willen: Panofeky Witz und die Ikonologie der Moderne, in: Zeitenspiegelung. Zur Bedeutung von Traditionen in Kunst und Kunstwissenschaft. Festschrift für Konrad Hoffmann zum 60. Geburtstag am 8. Oktober 1998, hg. von Peter K. Klein und Regine Prange, Berlin 1998, S. 331-320.- Vgl. auch den Beitrag von Beat Wyss in diesem Buch. 29 Georges Didi-Huberman, Vor einem Bild, München Wien 2000 (Paris 1990), S, 11,16. 30 Martin Warnke, Die zu sich selbst entlassene Kunst, in: Uwe M. Schneede (Hg.), Re-Visionen de Politischen, Im Blickfeld. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle, 3/1998, Hamburg 1998, S. 155-162. 3 ' Monika Wagner, "Die zu sich selbst entlassene Kunst" oder: die Selbstabschaffung der Kunstgeschichte, in: Uwe M. Schneede (Hg.), Re-Visionen de Politischen, Im Blickfeld. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle, 3/1998, Hamburg 1998, S. 163-166. 32 Hierzu ist nicht zuletzt auch das von Monika Wagner selbst vorgelegte Funkkolleg Moderne Kunst zu zählen: Monika Wagner, Moderne Kunst. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, Reinbek 1991.

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von den „großen Erzählungen", gegen die explizit oder implizit Foucaults synchronisches Konzept der „tableaux" gesetzt wird. 33 Für diesen methodologischen Wandel trifft Wölfflins Diktum „Kunstgeschichte und Kunst laufen parallel" wieder einmal auf bemerkenswerte Weise zu: 34 Denn erstens fallt die verstärkte Zuwendung der Kunstgeschichte zur Gegenwartskunst zeitlich zusammen mit der postmodernen Wendung in der Kunst der 70er Jahre, die einen Bruch zwischen sich und der Moderne konstruierte und sich zugleich des Historischen als beliebig verfugbaren Materials bemächtigte. Zweitens tritt seit den 70er Jahren noch deutlicher zutage als schon bei der Klassischen Moderne, dass ästhetische Normen, Kanones und kunsthistorische Stilabfolgen historisch obsolet sind, Stile, Normen und Kanones vielmehr durch beständig sich wandelnder Marktprozesse und Diskurse hervorgebracht werden und dabei einem generellen Primat der Pluralität unterliegen.35 Eine Kunstgeschichtsschreibung als teleologisch angelegte Geschichte notwendig aufeinander folgender und auseinander resultierender Einzelphänomene erscheint folglich dem Gegenstand nicht mehr angemessen. Mancher Kunsthistoriker hat auf die empirisch an der Kunst der letzten 30 Jahre beobachtete Tendenz zu einem ahistorischen Selbstverständnis mit einem prinzipiellen, theoretisch fundierten Antihistorismus reagiert, der die poststrukturalistische Sicht auch auf die ältere Kunstgeschichte zurückprojiziert.36 Dem Ahistorismus der postmodernen Kunst korrespondiert somit ein Antihistorismus postmoderner Kunstgeschichtsschreibung — beide erweisen sich als eng verknüpfte historische Parallelphänomene.

modemität des gegenwärtigen Zeitgenossenschaft als ethischer konflikt Ein Aspekt, der das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Gegenwartskunst zweifellos wesentlich mit geprägt hat, ist die Diskreditierung der Moderne. Nicht erst in der nationalsozialistischen Entartungskampagne, sondern schon im Konflikt um Edouard Manet oder den reaktionären Attacken gegen die Berliner Secession, ja noch weiter zurückliegend: in der zeitgenössischen Kritik an Caspar David Friedrichs Tetschener Altar manifestierte sich ja nicht nur eine beliebige Kritik an zeitgenössischen Werken, sondern eine grundsätzliche Abwehr gegen das spezifisch Moderne an ihnen. Eine Folge dieser prinzipiellen, durch ihre gesellschaftspolitische Aufladung geradezu ins Universelle gesteigerten Dimension

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Stefan Germer, Mit den Augen des Kartographen - Navigationshilfen im Posthistoire, in: Anne-Marie Bonnet/Gabriele Kopp-Schmidt (hg.), Kunst ohne Geschichte?, Ansichten zu Kunst und Kunstgeschichte heute, München 1995, S. 140-152; Anne-Marie Bonnet, Kunst der Moderne, Kunst der Gegenwart. Herausforderung und Chance, Köln 2004, S. 40-49. 34 Zit. nach Warnke 1992 (wie Anm. 22), S. 446. 36 Arthur C. Danto, Kunst nach dem Ende der Kunst (1992), München 1996; Ders., Das Fortleben der Kunst (1997), München 2000; ähnlich Belting, Germer u.a. 36 So etwa Germer 1995 (wie Anm. 33), S. 146.

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dieser Abwehr war, dass jede Kontroverse um die Möglichkeiten und Grenzen des Fachs, sich der neueren Kunst adäquat zu widmen, zu einem Gesinnungskonflikt werden musste für oder wider die Moderne. Die Frage einer Öffnung der akademischen Kunstgeschichte für die neueste und zeitgenössische Kunst berührte daher nicht nur ästhetische Geschmacksfragen, sondern letztlich immer auch — explizit oder implizit — die grundsätzliche Legitimation der modernen Kunst. Es ist anzunehmen, dass diese Koppelung der Zeitgenossenschaftsfrage mit dem ,Kampf um die Moderne' ein wichtiger Grund dafür gewesen ist, weshalb gerade in den 1970er Jahren — also mit dem Auftreten der 68er Generation — verstärkte Bestrebungen eingesetzt haben, dem traditionellen Verdikt gegen die Befassung mit zeitgenössischer Kunst entgegenzutreten. Die dezidierte Zuwendung der Kunsthistorikergeneration von Monika Steinhauser, Franz-Joachim Verspohl u.a. zur Kunst nach 1945 und der Gegenwart war letztlich Teil der nachholenden Rehabilitation der Moderne in Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Damit erhielt das Für und Wider die Zeitgenossenschaft jenseits methodologischer Fragen eine eminent moralische und politische Dimension. So wird im Rückblick deutlich, wie sehr das Problem kunstgeschichtlicher Zeitgenossenschaft ein spezifisch deutsches Thema ist. Nicht nur war die Betonung der notwendigen hermeneutischen Distanz ein Postulat der deutschsprachigen Kunstgeschichte von den Anfängen ihrer Institutionalisierung an, während sich in der angelsächsischen Wissenschaftstradition eine vergleichbar strikte Trennung von akademischer Kunstgeschichte und aktueller Kunstkritik nie durchgesetzt hat. Vor allem sind auch die aggressiven Abwehrreaktionen gegen die Moderne in Deutschland ungleich radikaler ausgefallen als in allen anderen westlichen Ländern, sodass jede positive oder auch nur sachliche Bezugnahme auf die zeitgenössische Kunst das gesamte 20. Jahrhundert hindurch — sei es bewusst oder unbewusst, intendiert oder unfreiwillig — zwangsläufig einen programmatischen Charakter erhielt.

kritiklos im hier und jetzt? der aktuelle hype um die gegenwartskunst Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, kann man sich die einstigen Widerstände gegen eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst kaum mehr vorstellen. Gerade in einer Zeit, die laut der Diagnose Hermann Lübbes von der Empfindung einer „Gegenwartsschrumpfung" geprägt ist,37 scheint sich die Verabsolutierung des Gegenwärtigen als „Imperativ der Moder-

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Hermann Lübbe, Zeit-Erfahrungen. Sieben Begriffe zur Beschreibung modernen Zivilisationsdynamik, Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abhandlungen der gelstes- und sozialwlssenschaftlichen Klasse, Jahrgang 1996, Nr. 5, Stuttgart 1996, S. 12.

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ne" auf breiter Front durchgesetzt zu haben.38 Nicht nur auf dem Kunst- und Buchmarkt ist ein regelrechter Hype um die Gegenwartskunst zu konstatieren. Auch Museen und universitäre Kunstgeschichte haben sich der zeitgenössischen Kunst geöffnet, mehrere Lehrstühle sind ihr mittlerweile exklusiv gewidmet. Gleich welcher kunsthistorischen Methode der Vorzug gegeben wird: die Beschäftigung mit moderner und zeitgenössischer Kunst hat sich seit den 1990er Jahren in der deutschen akademischen Kunstgeschichte in Forschung wie Lehre etabliert.39 Zudem betätigen sich akademische Kunsthistoriker nach amerikanischem Vorbild zunehmend auch als Kritiker, sodass sich die traditionelle Differenz zwischen Kunstkritik und Kunstgeschichte tendenziell auflöst. Fast schon zu selbstverständlich, zu glatt scheint die Integration der Gegenwartskunst in den akademischen Kanon vollzogen zu sein. Vor allem hat dieser Prozess weitgehend unreflektiert stattgefunden: Welche theoretischen und methodologischen Herausforderungen daraus erwachsen, dass eine genuin historische Wissenschaft sich zeitgenössischen Phänomenen zuwendet und dass Kunsthistoriker/innen unmittelbar im aktuellen Kunstgeschehen gestaltend mitwirken, ist bislang nur vereinzelt thematisiert worden.40 Es besteht die Gefahr eines Verlustes an methodologischer Substanz des Fachs. Wie Wolfgang Ullrich konstatierte, geraten kunstgeschichtliche Deutungen zur Gegenwartskunst allzu oft „beliebig oder devot".41 Zugleich bietet sich heute mehr denn je die Chance einer neuen Selbstreflexion und Selbstpositionierung der Kunstgeschichte im Blick auf ihre eigene Zeitgenossenschaft: Denn in dem Maße, wie die Moderne historisch und die moderne Kunst klassisch geworden ist, scheint die unheilvolle Kopplung des Zeitgenossenschaftsproblems an den Konflikt um die Moderne obsolet zu werden. Damit wird es (auch in Deutschland) möglich, die strukturellen Schwierigkeiten einer Historisierung der Gegenwartskunst zu thematisieren, über ,Nutzen und Nachteil' des zeitgenössischen Zugangs zur Kunst nachzudenken, ohne sich dem Generalverdacht des Antimodernismus auszusetzen. Nun kann die Fragestellung darauf gerichtet werden, unter welchen heuristischen Prämissen eine kritische Kunstwissenschaft zeitgenössische Kunst rezipieren kann. In den Blick genommen werden kann die paradoxale Struktur jeglichen Versuches einer Historisierung des Gegenwärtigen. Im Folgenden sollen hierzu einige thesenhafte Überlegungen angestellt werden.

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Einleitung in: is it now? - Gegenwart in den Künsten, hg. von Sigrid Adorf/Sabine Gebhardt Fink/Sigrid Schade/Steffen Schmidt, Zürcher Jahrbuch der Künste 2006, Zürich 2007, S.10-17, hier: 10. 39 Ein Dokument dieses Wandels ist auch der Tagungsband: Molger Birkholz/Mathias Butte/Martina Dlugaiczyk/Jörg Meißner/Thomas Niemeyer/Janine Roloff (Hg.), Zeitgenössische Kunst und Kunstwissenschaft. Zur Aktualisierung ihres Verhältnisses, Weimar 1Θ95. 40 Anne-Marie Bonnet, Willkommen in der Jetzt-Zeit. Gegen den bisherigen Jetlag zwischen universitärer Disziplin und Gegenwart. Für eine retro-perspektivische Kunstwissenschaft und -geschichte, in: Hans-Jörg Heusser (Hg.), Visions of a future. Art and art history in changing contexts, Zürich, 2004, S. 3142, Peter Schneemann, Nähe und Distanz als Herausforderung einer Kunstgeschichte der Gegenwart. Fragen zum Konzept einer erweiterten Dokumentation, ebenda, S. 293-306 sowie Bonnet 2004 (wie Anm. 33), Germer 1994 (wie Anm. 8) und Germer 1995 (wie Anm. 33). 41 Wolfgang Ullrich, Fatale Liebe zum Geheimnis, in: Die Zeit, Nr. 10,2008, S. 54.

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das paradoxe unterfangen einer historisierung der gegenwart acht thesen 1.

Alle Deutungen zeitgenössischer (Kunst-) Phänomene sind vorwegnehmende Entscheidungen über zukünftige kunstgeschichtliche Äußerungen, insofern sie kanonbildend wirken und folglich mit darüber entscheiden, welche Werke, Künsder und künsderischen Ideen an die Nachwelt überliefert werden und welche nicht.42 Dieser Vorgang der „Präzeption" (Lübbe) ist ebenso unvermeidlich wie kontingent.43 Die Kunstgeschichte kann sich ihm nicht entziehen (sie würde ihn dann lediglich anderen überlassen), sondern nur versuchen ihn mit einem Höchstmaß an Verantwortungsbewusstsein zu bewältigen. 2. Dabei führt nichts an der Notwendigkeit vorbei, Strategien einer Historisierung der Gegenwart zu entwickeln. Zwar hat Gottfried Boehm zu Recht darauf hingewiesen, dass das „historistische Vorurteil" von der erforderlichen historischen Distanz zum Gegenstand für die „erstaunliche Blindheit [der Kunstgeschichte, V.K.] gegenüber der neuen Kunst" wesentlich mitverantwortlich ist,44 doch ist Historisierung etwas anderes als die triviale Vorstellung von einer in Jahren quantifizierbaren historischen Distanz. Historisierung der Gegenwart bedeutet auch nicht, „auf das Ende der Geschichte [zu] warten, um das Material in seiner bestimmten Totalität zu begreifen" (Wilhelm Dilthey), 45 sondern vielmehr das Bewusstsein der eigenen Historizität zu kultivieren und das Bestehende als Gewordenes und als Reaktion auf Gewesenes zu reflektieren. Die Verabschiedung eines linearen und teleologischen Geschichtsverständnisses muss nicht den Abschied von diachronen Sinnzusammenhängen bedeuten. Nichts Gegenwärtiges geschieht voraussetzungslos. Genetische Zusammenhänge können auch dort bestehen, wo diese von ihren Akteuren negiert werden. Im demonstrativen Bruch mit dem Vergangenen verbergen sich oftmals untergründige Kontinuitäten, ebenso wie vordergründig Gleiches sich unter gewandelten historischen Voraussetzungen als neues Phänomen erweist. So wie die Negation historischer Zusammenhänge durch Theoretiker des ,Posthistoire' selbst eine historische Erscheinung ist, die mit parallelen historischen Entwicklungen korrespondiert und historischem Wandel unterliegt,4*5 ist die Abgrenzung der künsderischen Postmoderne gegen die Moderne eine Zeiter-

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Vgl. Rainer Metzger (Hg.), Über das Kanonische - Was ist Kunst?, Kunstforum international, Bd. 162, Ruppichteroth 2002. «Lübbe 1996(wieAnm. 37), S. 12. 44 Gottfried Boehm, Die Krise der Repräsentation, Die Kunstgeschichte und die moderne Kunst, In: Lorenz Dittmann (Hg.), Kategorien und Methoden der deutschen Kunstgeschichte 1900 -1930, Wiesbaden 1985, S. 113128, S. 114f. 45 Zit. nach Zygmunt Baumann, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992, S. 11. 46 Wie Lutz Niethammer treffend bemerkte, wird die .Posthistoire' ihrerseits „geschichtlich, wenn sie nicht als allgemeine Diagnose, sondern als eine für den Perepektivverlust fortgeschrittener Industriegesellschaften spezifische negative Utopie gelesen wird." Vgl. Lutz Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Hamburg 1989, S. 169.

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scheinung — noch dazu eine, die in ihrer Rhetorik unmittelbar an die Klassische Moderne anknüpft.47 Die synchrone Perspektive, die mit dem Erstarken strukturalistischer Positionen an Gewicht gewonnen hat, ersetzt die diachrone Perspektive nur vermeintlich,48 weil sie ebenso wie diese letztlich eine historisch bedingte Konstruktion und als solche veränderlich ist. Deshalb besteht die Aufgabe der Kunstgeschichte im Umgang mit der Gegenwartskunst darin, gleichermaßen Kontexte wie Entwicklungen aufzuzeigen. Dabei bedeutet das Aufzeigen von Entwicklungen nicht etwa die zwanghafte Konstruktion von Kontinuitäten und Traditionslinien, vielmehr erfordert es, auch Traditionsbrüche als ein Element geschichtlicher Entwicklung zu analysieren. 3. Die Historisierung des Gegenstandes schließt eine Historisierung der eigenen Betrachterposition mit ein. Die Perspektive des Erkenntnissubjekts ist ebenso als Reaktion auf Vorangegangenes und als geprägt durch zeitgenössische Perspektiven aufzufassen wie das Kunstwerk selbst. Der rezeptionstheoretische Vorbehalt gilt für jede kunstgeschichtliche Analyse, doch für die Auseinandersetzung mit Gegenwartskunst in besonderem Maße, da sie auf der bewussten oder uneingestandenen Teilhabe an deren kulturellen, sozialen und geistigen Voraussetzungen basiert. Eine Kunstgeschichte der Gegenwartskunst bedarf daher einer doppelpoligen Perspektive, die einen Standpunkt im aktuellen Geschehen einzunehmen und diesen gleichzeitig zu reflektieren vermag. 4. Von der benachbarten Disziplin der Zeitgeschichte, die nicht nur ähnliche strukturelle Schwierigkeiten kennt, sondern sich auch — anders als die Kunstgeschichte — in den vergangenen Jahrzehnten mit diesen explizit auseinandergesetzt hat, kann die Kunstgeschichte lernen:49 Das Problem der Distanz wird hier vor allem als Problem der Parteilichkeit bzw. in gesteigerter Form als Gefahr der direkten politischen Indienstnahme diskutiert. Die Antwort der Zeithistoriker auf diese Herausforderung lautet, dass historische Distanz ebenso wenig eine unabdingbare Voraussetzung für wissenschaftliche Distanz ist, wie sie diese zu garantieren vermag.50 Distanz ist demnach ein ethisches Postulat, das nur durch eine adäquate wissenschaftliche Methodik einzulösen ist. Ausgehend von diesem ethischen Postulat gilt es, Essentials für den wissenschaftlichen Umgang mit zeitgenössischer

Ein Beispiel hierfür ist die Argumentation von Rosalind Krauss, vgl. meinen Beitrag in diesem Buch. Eine solche Präferenz der Rahmenerzählung gegenüber der chronologischen Erzählung in der Kunstgeschichte vertrat explizit Germer 1994 (wie Anm. 8). 49 Zeitgeschichte als Geschichtsschreibung von Ereignissen der unmittelbaren Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit ist so alt wie die Geschichtsschreibung selbst. Der Begriff .Zeitgeschichte" existiert im Deutschen seit dem 17. Jahrhundert. Mit der Verwissenschaftlichung der Geschichte im 19. Jahrhundert hat eine gewisse Problematisierung der Zeitgeschichte eingesetzt, die jedoch nie zu dem Verzicht auf diese führte. Als Disziplin unter dieser Bezeichnung entstand sie am Beginn des 20. Jahrhunderts und erfuhr nach 1945 einen großen Aufschwung. Vgl. Eberhard Jäckel, Begriff und Funktion der Zeitgeschichte, in: Ders./Emst Weymar (Hg.), Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit, Stuttgart 1975, S. 162-176. 50 Vgl. Jäckel 1975, S. 173f sowie Horst Möller/Udo Wengst (Hg.), Einführung in die Zeitgeschichte, München 2003, S. 20; Gabriele Metzler, Einführung in das Studium der Zeitgeschichte, Paderborn u.a. 2004, S. 39ff. 47 48

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Kunst zu formulieren.51 Die Frage der Parteilichkeit und Indienstnahme stellt sich bezogen auf die Kunst als Frage nach der Unabhängigkeit des Erkenntnissubjekts vom Kunstmarkt und monetären Interessen. Nur durch die klare Abgrenzung akademischer Kunsthistoriker gegenüber einer unmittelbaren propagandistischen und ökonomischen Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse kann sich das Fach gegenüber einer Vereinnahmung in das B e triebssystem Kunst' verteidigen und seine kritische Eigenständigkeit bewahren. 5. Distanz zum Gegenstand ist zwar eine prinzipielle Voraussetzung wissenschaftlicher Analyse, doch gilt dies für die Kunstgeschichte nur mit Einschränkungen, da diese ohne ein empathisches Verhältnis zu ihrem Gegenstand — der Kunst — nicht auskommt. Für sie heißt es deshalb, das Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz nicht einseitig aufzulösen, sondern beide Haltungen miteinander auszutarieren. Zwar ist es erforderlich, aus einer Position der Nähe heraus Distanz zum Gegenstand zu gewinnen, doch zugleich gilt es, die eigene Teilhabe am behandelten Phänomen nicht nur als Problem anzusehen, sondern auch zur Stärke werden zu lassen - mehr noch: die eigene Empathie für den analysierten Gegenstand mit zum Objekt der Analyse zu machen und daraus verallgemeinerte Erkenntnisse zu ziehen. 6. Hierfür kann die Kunstgeschichte Anregungen von den empirischen Sozialwissenschaften beziehen: die ursprünglich in der Ethnologie entwickelte, heute als qualitative Methode der Feldforschung weithin gebräuchliche teilnehmende Beobachtung' kann einer methodisch reflektierten Kunstgeschichte der Gegenwartskunst als Modell dienen. Der teilnehmende Beobachter befindet sich in einer Zwischenstellung zwischen sozialer Partizipation an dem zu untersuchenden kulturellen Feld und wissenschaftlicher Distanz, er akzeptiert eine relative Nähe und Empathie zu seinem Untersuchungsgegenstand und bleibt dennoch „^Außenseiter' in einer ihm fremden Kultur". 52 Nähe und Distanz haben dabei gleichermaßen wichtige Funktionen: Während Nähe dazu dient, Einsichten zu erlangen, die sonst verschlossen blieben, ermöglicht (kulturelle) Distanz „das ,Sehen' von nahezu Ausgeblendeten, aber auch von routinisierten Abläufen, von standardisiertem Verhalten und als normal geltenden Ansichten und Gefühlen". 53 Die .teilnehmende Beobachtung' als Modell einer Kunstgeschichte der Gegenwartskunst bezieht sich jedoch nicht oder jedenfalls nicht primär auf das 51

Vgl. hierzu Anne-Marie Bonnet, „Sand im Getriebe" oder „Durchlauferhitzer für den Kunstmarkt"?, in: Oskar Bätschmann/Julia Gelshorn/Norberto Gramaccini/Bernd Nicolai/Peter Schneemann (Hg.), Dienstleistung Kunstgeschichte? Art history on demand? (100 Jahre Institut für Kunstgeschichte Universität Bern, Festschrift Bd. 2), Emsdetten/Berlin 2008, S. 119 ff. 52 Roland Girtler, Methoden der qualitativen Sozialforschung, Wien/Köln/Graz 1988, zit. nach Reinar Aster/Michael Repp, Teilnehmende Beobachtung - zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Reiner Asten/Hans Merkens, Michael Repp (Hg,) Teilnehmende Beobachtung. Werkstattberichte und methodologische Reflexionen, Frankfurt am Main/New York 1989, S. 122-133, hierS. 127. 63 Brigitta Hauser-Schäublin, Teilnehmende Beobachtung, in: Bettina Beer (Hg.), Methoden und Techniken der Feldforschung, Berlin 2003, S. 33-54, hierS. 37f.

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soziale Feld des Betriebssystems Kunst' (dies Missverständnis liegt bei einer sozialwissenschaftlichen Methode nahe), sondern auf die Kunst selbst. Das heißt, im Falle der Beziehung des Kunsthistorikers zur Gegenwartskunst manifestiert sich die ,Nähe' durch die Partizipation des Erkenntnissubjekts an der Gegenwartskultur, die ,Fremdheit' wird durch die historische Perspektive und das methodische Instrumentarium des Fachs erzeugt. 7. Das so aus verschiedenen Perspektiven beschriebene Spannungsverhältnis von Nähe — Distanz, ästhetischer Wahrnehmung — wissenschaftlicher Analyse, Teilnahme — Beobachtung, Empathie — Fremdheit funktioniert analog zu nietzscheanischem Modell von Dionysischem — Apollinischem, welches wiederum Ergebnisse der neueren Kreativitätsforschung vorwegnimmt, wonach Kreativität immer aus dem Wechselspiel von (mindestens) zwei Zuständen erwächst: einem Zustand der Ich-Vergessenheit, Entgrenzung und des völligen Aufgehens im Tun (,Flow') und einem Zustand der kontrollierenden Reflexion und (Weiter-) Bearbeitung des so Geschaffenen (,Verifikation'). 54 So betrachtet, basiert jede kunstwissenschaftliche Forschung - behandele sie Gegenwartskunst oder historische Kunst — ebenso wie der künsderisch-kreative Prozess auf einem ständigen Wechsel zwischen verschiedenen Zuständen und auf der (bewusste, methodisch fundierte) Bewältigung dieses Wechsels. Insofern ist die Tätigkeit des Kunsthistorikers zwar einerseits eine wesensmäßig andere als die des Künsders, doch gleichzeitig weist sie auch eine strukturelle Verwandtschaft zu der des Künstlers auf. 8. Nietzsches eingangs zitierte Philippika ist nicht nur als wohlfeile Kritik am Historismus zu deuten. Er selbst hat sie nicht ohne Grund unter den Obertitel der Unzeitgemäßen Betrachtungen gestellt. Die radikale Zeitgenossenschaft der Jugend, die er sich vorstellte, ist kein modisches ,mit der Zeit gehen' im Sinne einer Apologetik des jeweils aktuell Bestehenden — bewusst .unzeitgemäß' ist ihr Blick auf die Zukunft gerichtet. Sollte es nicht auch das Ziel einer Kunstgeschichte der Zeitgenossenschaft sein, bewusst .unzeitgemäß' sich an ihrer eigenen Zeit zu reiben? zu diesem buch Dieser Band ist bewusst pluralistisch angelegt, die darin versammelten Beiträge sind Statements und Reflexionen über das skizzierte Problemfeld mit unterschiedlichen Zugängen und Positionen. Ihre Autorinnen und Autoren vertreten verschiedene Generationen der akademischen Kunstgeschichte: Manche gehören zu den Pionieren einer kunstgeschichtlichen Auseinandersetzung mit zeit54

Zur neueren Kreativitätsforschung und Kreativitätstheorien vgl. u.a. Joachim Hertlein, Persönlichkeit, Motivati-

on und der Schaffensprozess bildender Künstler, Diss. Uni Bamberg, 1990; Mihaly Csikszentmihalyi, Kreativität, Stuttgart 1997; Claudia Schuh/Heidi Werder, Die Muse kiisst - und dann? Lust und Last Im kreativen Prozess, Basel/Freiburg 2006. Die Begriffe „flow" und „Verifikation" gehen auf Csikszentmihalyi zurück.

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genössischer Kunst, andere zu einer jungen Generation von Kunsthistorikerinnen, der das wissenschaftliche Forschen über Gegenwartskunst längst selbstverständlich ist. Ein Teil der Beiträge geht auf das im Sommer 2006 an der Universität Stuttgart vom Institut für Kunstgeschichte in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung durchgeführte Symposium Nutzen und Nachteil der Zeitgenossenschaft — »-um Paradox einer Historisierung der Gegenwartskunst zurück (Demand, Hoppe-Sailer, Krieger, Steiner, Wyss). Die anderen Beiträge entstanden teils (auch) in anderen Zusammenhängen und wurden aufgrund ihres inhaltlichen Bezugs zur Fragestellung des Buches leicht verändert aufgenommen (Gelshorn, Graevenitz, Meier, Ursprung), teils sind sie eigens für diese Publikation erstellt worden (Bonnet, Dickel, Egenhofer). Die Autorinnen und Autoren durchqueren das komplexe Feld von unterschiedlichen Ausgangspunkten und in verschiedene Richtungen. Vier hauptsächliche Fragestellungen und Zugänge zum Thema werden gewählt:

gegenwart der kunst - historizität der gegenwart

Am Beginn steht die theoretische Frage nach der qualitativen Differenz zwischen der zeitgenössischen und der historischen Perspektive. Ist nicht jede Begegnung mit dem Kunstwerk — sei es historisch oder aktuell — eine gegenwärtige? Ist eine Historisierung der Gegenwartskunst überhaupt möglich? Welchen Beitrag kann die Kunstgeschichte zur Analyse von Gegenwartskunst leisten? Christian Demand hinterfragt Zeitgenossenschaft als „Wertbegriff'. Im Grunde stehen Kritiker wie Historiker vor derselben Aufgabe: Werturteile abzugeben, die außer auf historischer Kenntnis auch auf dem aktuellem Zeitgeschmack basieren. Damit gehen sie zwar stets das Risiko ein, vor dem „test of time" zu versagen, doch letztlich ist auch dieser kein verlässlicher Indikator für Qualität. Reinhard Steiner analysiert die paradoxale Struktur einer Kunstgeschichte der Gegenwartskunst, die beider Kompetenzen des Kunsthistorikers — der ästhetisch-kennerschaftlichen und der historischen — gleichermaßen bedarf. Ausgehend von Baudelaires Theorie des Schönen wendet er sich gegen eine falsche Konstruktion von Aktualität ebenso wie gegen die Illusion einer Historisierbarkeit des Gegenwärtigen. Nach Auffassung von Sebastian Egenhofer wird die Kunstgeschichte, wenn sie sich der Kunst ihrer Zeit zuwendet, notwendig zur Kunstkritik. Statt die fehlende Distanz zu beklagen oder womöglich künstlich herstellen zu wollen, sollte sie die ihr so gegebene Möglichkeit bewusst annehmen, aktiv an der Produktion ihres Gegenstands teilzuhaben.

Kunsthistoriker als Zeitgenossen Als einer historischen Wissenschaft bietet es sich für die Kunstgeschichte an, aktuelle Fragen wie die der Gegenwartskunst auch im Blick auf die eigene Fachgeschichte zu reflektieren: Wie haben sich Kunsthistoriker im vergangenen 20. 22

Jahrhundert mit der Kunst ihrer jeweiligen Gegenwart auseinandergesetzt? Auf welcher theoretischen und kulturellen Basis haben sie agiert und unter welchen Voraussetzungen sind ihre Analysen wirkmächtig geworden? Drei bedeutende Kunsthistoriker und aktive Förderer der künsderischen Moderne werden exemplarisch ins Licht gerückt. Hans-Rudolf Meier zeigt am Beispiel von Siegfried Giedions Verhältnis zur Architekturgeschichte und zum zeitgenössischen Neuen Bauen, dass eine die zeitgenössische Moderne parteilich unterstützende Kunsthistoriographie die historische Kunstproduktion kaum weniger als der Historismus des 19. Jahrhunderts zum „Materiallager" degradiert: Giedion hatte die Sicht auf die Architekturgeschichte umgekehrt und diese einzig unter dem Gesichtspunkt ihrer Vorläuferschaft für die moderne Architektur gewürdigt. Beat Wyes würdigt den amerikanischen Kunsthistoriker Meyer Schapiro, der sich als Mediävist dagegen wandte, Abstraktionstendenzen in der Frühromanik als Verfallserscheinung zu deuten, und der gleichzeitig als Freund der Abstrakten Expressionisten die publÌ2Ìstische Fehde Barnett Newmans gegen Erwin Panofsky unterstützte. Er steht damit beispielhaft für eine an der zeitgenössischen Kunst geprägte Kunstgeschichte. Einer der ersten deutschen Kunsthistoriker, die seit den 60er Jahren die klassisch moderne und vor allem auch die damals zeitgenössische Kunst in die Universität geholt haben, ist Max Imdahl. Richard Hoppe-Sailer zeichnet die philosophische Prägung Imdahls durch die Ritter-Schule nach und analysiert seine kuratorische Methode der gemeinsamen Präsentation antiker und zeitgenössischer Kunst als Ausdruck einer „rigiden Zeitgenossenschaft".

schuss/gegenschuss - im Wechselspiel der Perspektiven In der Konfrontation mit konkurrierenden Perspektiven vermag sich der Erkenntniswert einer dezidiert zeitgenössischen Sicht zu erweisen. Die vergleichende Betrachtung — ein traditionelles Verfahren der Kunstgeschichte — ermöglicht es, zeitgenössische Deutungen einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Sie wird hier in drei verschiedenen Varianten erprobt: Antje von Graevenitz reflektiert die fruchtbare Konkurrenz von Zeugen- und Kunstwissenschaft am Beispiel ihrer eigenen Teilhabe am künstlerischen Geschehen der 1960er und 70er Jahre in München im Spannungsfeld zu ihrer später einsetzenden Deutungsarbeit in der Rolle der Kunsthistorikerin. Auch wenn die Zeitzeugin manche Zusammenhänge noch nicht in derselben Klarheit erkennen kann wie die spätere Kunstwissenschaftlerin, ist ihre unmittelbare sinnliche Erfahrung von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Kunst. Verena Krieger untersucht Rosalind Krauss' Schrift Die Originalität der Avantgarde als Paradebeispiel einer Kunstwissenschaft, die aus den Konzepten avancierter zeitgenössischer Kunst - der Appropriation Art — neue Perspektiven auf historische Kunst — Rodin - entwickelt. Aus dem historischen Abstand von gut 25 Jahren erweist sich, dass Krauss' Thesen in Bezug auf historische wie zeitgenössische Kunst von nur begrenztem Erkenntniswert sind — aber dessen ungeachtet historische 23

Wirkmächtigkeit entfaltet haben. Hans Dickel konfrontiert die begeisterten zeitgenössischen Kommentare zu dem neusachlichen Fotografen Albert Renger-Patzsch mit der ebenso hymnischen aktuellen Rezeption Andreas Gurskys. Nach seiner Diagnose gelang und gelingt es den Zeitgenossen in beiden Fällen nur höchst selten, der „Betriebsblindheit" zu entkommen und jenen kritischen „zweiten Blick" zu entwickeln, der Voraussetzung einer ikonologischen Analyse ist, wie Dickel selbst sie beispielhaft für Gursky skizziert.

Kunstgeschichte der gegenwart - zwischen distanz und teilhabe Wie kann die Kunstgeschichte ihre Rolle im jeweils gegenwärtigen Kunstgeschehen definieren, wie sich in der Polarität von wissenschaftlicher Distanz und engagierter Teilhabe situieren? Bedarf es einer Aktualisierung ihres Selbstverständnisses und ihrer Methoden? Welche Rolle spielen dabei Museum und Ausstellungswesen als Hauptbetätigungsfelder von Kunsthistorikerinnen? AnneMarie Bonnet analysiert die komplexen Beziehungen zwischen Gegenwartskunst, Museum und Kunstgeschichte unter den spezifischen Voraussetzungen der aktuellen politischen, ökonomischen und kulturellen Entwicklung. Sie plädiert dafür, dass die akademische Kunstgeschichte ihre Freiräume dafür nutzt, gerade im Aufgreifen innovativer künstlerischer Impulse ihr eigenes analytisches Instrumentarium zu schärfen. Julia Gelshorn thematisiert die methodologischen Herausforderungen, die für die Kunstgeschichte aus dem gewandelten Selbstverständnis zeitgenössischer Künstler erwachsen. Wenn Künsderinnen einen eigenständigen theoretischen Anspruch erheben, sollten Kunsthistoriker deren Selbstkommentare und Theorien weder rein exegetisch nachvollziehen noch einen autoritären Anspruch auf letztgültige Bedeutungserzeugung erheben, vielmehr auf den eigenen spezifischen Zugängen und Methoden der Kunstwissenschaft im Umgang mit solchen Texten insistieren. Als einen bewusst subjektiven und dabei reflektierten Umgang mit der Gegenwartskunst schlägt Philip Ursprung eine „performative Kunstgeschichte" vor, die den Standort und die Interessen des analysierenden Ichs mit zum Gegenstand der Analyse macht und zugleich beansprucht, ihren Gegenstand auch aktiv zu beeinflussen. Am Beispiel seiner Rezeptionserfahrungen mit dem Œuvre Allan Kaprows beschreibt er verschiedene Facetten eines solchen Umgangs mit zeitgenössischer Kunst. Sein Beitrag ist ein Plädoyer für den Verzicht auf die traditionelle distanzierte Beobachterrolle des Kunsthistorikers. Die Übersicht lässt deutlich werden, dass die Autorinnen und Autoren durchaus unterschiedliche Standpunkte beziehen hinsichtlich der Möglichkeit oder Notwendigkeit einer kritisch-reflexiven .Distanz' zum aktuellen Kunstgeschehen als Voraussetzung kunsthistorischer Urteile und Deutungsarbeit. Ihnen allen gemeinsam sind das Bestreben und die Erfahrung, aus der eigenen Zeilgenossenschaft heuristischen Nutzen zu ziehen. Als Kunsthistoriker sich Phänomenen der Gegenwart zu nähern, ist eben nicht nur ein theoretisches Problem oder ein strukturelles Dilemma, sondern auch eine produktive Herausforderung 24

— und nicht zuletzt eine immer wieder erneut sich bietende Gelegenheit neue Perspektiven zu gewinnen! Die Herausgeberin bedankt sich bei allen Autorinnen und Autoren für ihre Beteiligung an diesem Projekt, bei Elena Mohr und Julia Beenken vom Böhlau Verlag für die wie stets verlässliche und angenehme Kooperation und nicht zuletzt beim Förderverein der Freunde des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart für die großzügige finanzielle Unterstützung von Tagung und Drucklegung.

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emphatische gegenwart über „Zeitgenossenschaft" als wertbegriff

Christian Demand I

„There really is no such thing as Art", schrieb Ernst Gombrich vor mehr als fünfzig Jahren: „There are only artists. Once these were men who took coloured earth and roughed out the forms of a bison on the wall of a cave; today they buy their paints, and design posters for the Underground; they did many things in between. There is no harm in calling all these activities art as long as we keep in mind that such a word may mean very different things in different times and places, and as long as we realize that Art with a capital A has no existence. For Art with a capital A has come to be something of a bogey and a fetish." 1 Gombrichs auch später immer wieder geäußertes Misstrauen gegenüber dem Singular ,Kunst' hatte bekanntlich weniger mit dem spezifischen Gegenstandsbereich seiner Forschungen zu tun, als vielmehr — darin folgte er dem streng antiessentialistischen Denken seines Freundes Karl Popper — mit einer grundsätzlichen Abwehrhaltung gegenüber dem versteckten normativen Sog abstrakter Singularsubjekte als solcher, ob es sich dabei nun um Art handelte, um Beauty, Progress, Reason oder auch History. Durch den skeptisch pragmatischen Umgang mit derartigen Begriffen, so das methodologische Credo beider Wissenschaftler, unterschied sich Historiographie von Geschichtsphilosophie.2 Der besondere Reiz der Gombrichschen Präambel lag nun allerdings darin, dass er sie ausgerechnet seiner Story of Art vorangestellt hatte, einem Buch also, das den inkriminierten Singular nicht nur ausdrücklich im Titel führte, sondern überdies beanspruchte, die historische Entwicklung des Singulars Art — ob nun mit kleinem oder großem A — in einer ebenso singulären Erzählung angemessen darzustellen. Natürlich war sich Gombrich dieser Paradoxie bewusst. Er hielt sie aber offensichtlich nicht für so gravierend, als dass er sich in aufwendige methodologische Scharmützel hätte verstricken lassen wollen. Die mitreißend geschriebene Geschichte die er anbot, und zwar ausdrücklich als Story und nicht etwa als History, schien das auch gar nicht zu erfordern. Sie entwickelte schließlich weder eine orgamzistische Stilgeschichte, noch stellte sie unsolide Geschmacksdiktate auf. Sie orientierte sich vielmehr ausschließlich an konkreten

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Emst H. Gombrich: The Story of Alt, London 1950, S.5. Für Gombrich vgl. dazu Kunst und Fortschritt. Wirkung und Wandlung einer Idee, Köln 1978 sowie Vom Jahrmarkt der Eitelkeiten. Die Wandlungen von Mode, Geschmack und Stil im Lichte der Logik, in: Die Krise der Kulturgeschichte. Gedanken zum Wertproblem in den Geisteswissenschaften. Stuttgart 1983, S. 65-101. Karl R. Popper hat seine wichtigste Einwände gegen den Essentialismus 1957 in The Poverty of Mistorizism (deutsch: Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965) formuliert. 2

Gestaltungsaufgaben, den dabei aufgetretenen Problemen und ihren Lösungen („What has been done before presents no problem any more")3 und das derart überzeugend, zugleich aber auch so sympathisch undogmatisch, dass man als Leser kaum gewahr wurde, wie sehr der Gedankengang auch dieses Textes von den normativen Gravitationskräften eines ganz bestimmten Kunstbegriffs auf Kurs gehalten wurde. Gombrichs ostentatives Bemühen um größtmögliche ästhetische Liberalität ging so weit, dass er jegliche Festlegung auf eine positive Definition von ,art' konsequent vermied. Die einzige normative Prämisse, zu der er sich in der Einführung hinreißen ließ, war bezeichnenderweise negativ, als Absage an jedwede definitorische Verengung von ,art' zu ,Art' formuliert: „There are wrong reasons for disliking a work of art."4 Wer aufmerksam weiter las, dem dürfte zwar kaum entgangen sein, dass das Wort ,art' in „work of art" nicht nur an dieser Stelle de jure hätte groß geschrieben werden müssen. Doch erst auf der letzten Seite des Buches sprach Gombrich seine impliziten Wertprämissen offen an. „Here, at last, we are back at our starting point", hieß es da: „There really is no such thing as Art. There are only artists — men and women, that is, who are favoured with the wonderful gift of balancing shapes and colours till they are .right', and, rarer still, who possess that integrity of character which never rests content with halfsolutions but is ready to forgo all easy effects, all superficial success for the toil and agony of sincere work. Artists, we trust, will always be born."5 Hinter dieser betont optimistischen Feststellung verbarg sich, wie wir wissen, der nur mühsam kaschierte Zweifel daran, ob die Künstler der Zukunft unter den Bedingungen der fortgeschrittenen Moderne auch die Möglichkeiten hätten, ihre wundervolle Gabe überhaupt zu entfalten. Je näher The Slory of Art der Gegenwart kam, desto dünner wurde dann auch die Aufzählung exemplarischer Namen und Werke — eine historiographische Behutsamkeit, die Gombrich dadurch zu kompensieren versuchte, dass er seine Leser aufrief, sich den künstlerischen Experimenten, die ihnen die Zukunft noch bescheren werde, doch bitte möglichst wohlmeinend zu nähern. Als der Text im Lauf der Jahrzehnte immer weitere Neuauflagen erlebte und sein Autor sich dadurch gezwungen sah, in regelmäßigen Abständen nachzuzeichnen, wie die Geschichte seither weitergegangen war, wurde schnell deutlich, dass sie aufgrund ihrer speziellen normativen Prämissen gar nicht wirklich weitergehen konnte. Die gestalterischen Leitprobleme, an denen Gombrich sich kurz nach Kriegsende orientiert hatte, waren für den Museums- und Ausstellungsbetrieb spätestens seit den 60er Jahren nicht mehr repräsentativ. Mit jedem weiteren Postskriptum vergrößerte sich deshalb die Kluft zwischen dem grundsätzlichen Singularitäts- und Kontinuitätsanspruch seiner Erzählung und der Unmöglichkeit, in sie zu integrieren, was die einschlägigen Institutionen zwischenzeitlich als legitime Gegenwartskunst anerkannt hatten. Das ist der Grund dafür, dass The Story of Art zwar nach wie vor als „klügste Kunstgeschichte, die 3 4 5

Gombrich 1950 (wie Anm. 1), S. 445. Ebd., S. 5. Ebd., S.446.

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wir besitzen" (W. Sauerländer) gerühmt und auch von jedermann jederzeit bereitwillig als allgemeine Einfuhrung für Schüler und Studenten empfohlen, diese Empfehlung aber in aller Regel mit der Einschränkung versehen wird, es sei ratsam, sich zumindest für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit alternativer Literatur zu munitiomeren.

II Es sieht somit ganz so aus, als sei der erklärte kunsttheoretische Nominalist Gombrich ausgerechnet in die essentialistische Falle gegangen, vor der er selbst seine Leser so nachdrücklich gewarnt hatte: Seine präskriptiven Prämissen vereitelten das deskriptive Ziel seines historiographischen Unternehmens. Ohne es zu bemerken hatte er den Begriff ,Art' mit großem, normativem A verwendet und sich damit selbst um die Möglichkeit gebracht, ein ästhetisch unvoreingenommener Chronist des Zeitgenössischen sein und die reale Vielfalt von ,art' (mit kleinem a) auch künftig angemessen würdigen zu können. Kein Wunder also, dass The Story of Art nach ihrem Erscheinen von der tatsächlichen Entwicklung der Gegenwartskunst schlicht überholt wurde. Doch liegen die Dinge wirklich so einfach? Was macht uns beispielsweise so sicher, dass hinter dem Wort Gegenwartskunst nicht ebenfalls ein präskriptives ,Art' mit großem A lauert? Diese Frage wird erstaunlicherweise höchst selten thematisiert. Nicht nur bei Kritikern, Kuratoren und Programmgestaltern öffentlicher Kultureinrichtungen, auch bei Kunsthistorikern — und die Grenzen zwischen diesen ehedem sauber getrennten Feldern verfließen bekanntlich zunehmend — ist die Bereitschaft erstaunlich hoch, als Kunst der Gegenwart im großen und ganzen all das anzuerkennen, was sich unter den prekären aufmerksamkeitsökonomischen Rahmenbedingungen des zeitgenössischen Kunstbetriebs so weit durchgesetzt hat, dass es auch größere Institutionen in ihre Sammlungen integrieren. Auf diese Weise scheint der Begriff,Gegenwartskunst' in der Tat rein deskriptiv verwendet werden zu können: Sein Inhalt ist schließlich nicht durch normative Vorgaben präformiert, sondern umfasst, im Sinne von ,art' mit kleinem a, all das, was im Kunstbetrieb zu einem gegebenen Zeitpunk jeweils als Produktion zeitgenössischer Künstler präsentiert wird. Das wäre in der Tat eine höchst elegante Lösung, wüssten wir nicht ganz genau, dass, was Museen, Messen oder Kunsthallen mit dem vermeintlich harmlosen Label Gegenwartskunst versehen, zuvor schon aus rein quantitativen Gründen zahllose Auswahlentscheidungen überstehen musste. Welche Kriterien kommen nun aber bei den einschlägigen Selektionsverfahren zur Anwendung? Sind sie ebenfalls deskriptiver Natur oder walten hier nicht möglicherweise doch eher präskriptive Mächte? Wenn wir Glenn Lowry, dem Direktor des New Yorker Museum of Modern Art, folgen wollen, dann ist diese Frage leicht zu beantworten. „Für uns", erklärte er vor einiger Zeit in einem Interview, „entwickelt sich moderne Kunst ständig weiter, in einer Kontinuität, die vom späten

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19. Jahrhundert bis heute reicht."6 Halten wir zunächst einmal fest, dass Mr. Lowry, wenn er in dieser Weise von ,Modern Art' spricht, offensichtlich ebenfalls mit einem Singularbegriff arbeitet. Er gibt auch einen Grund dafür an, weshalb er dies für sinnvoll hält. Die moderne Kunst, so argumentiert er, verändert sich zwar ständig, die historischen Kontinuitätsbeziehungen zwischen den von seiner Institution präsentierten Exponaten sind jedoch seiner Auffassung nach so stark, es gibt also ein solch hohes Maß an Einheit in der Vielheit, dass man hier berechtigterweise einen homogenisierenden Singular einsetzen und die Begriffe ,Moderne Kunst' und .Gegenwartskunst' bzw. .zeitgenössische Kunst' synonym gebrauchen kann. Hätte er damit recht, dann hieße das zugleich, dass wir seit fast 150 Jahren in ein und demselben Zeitalter leben, nämlich der Moderne im Singular. In der Tat ist genau das Lowrys Ansicht, weshalb er im selben Atemzug allen Debatten um mögliche alternative Epochenbegriffe wie Postmoderne, Zweite Moderne etc. pauschal eine Absage erteilt: „Die These vom Ende der Moderne, eine Idee, die ohnehin schwer geistig zu fassen war, hat sich ganz einfach als eine These von vielen zur Kultur der Moderne erwiesen. Ich glaube, der Begriff der Moderne ist elastisch genug, um auch die heutige künsderische Praxis zu beschreiben." Als Leiter einer Institution, die die Moderne schon im Namen trägt, hat Lowry an einer solchen Elastizität natürlich ein vitales Interesse, verleiht sie doch seiner Sammlungstätigkeit eine unschätzbare, historische Legitimation. Ganz so selbstverständlich, wie er suggeriert, ist es allerdings nicht, wenn ausgerechnet in Bezug auf die künsderische Moderne, eine Begriffserfindung, die doch, wie längst die Schulbücher lehren, in aller Regel über die mythische Figur des Bruchs mit den alten Göttern Autorität und Vorurteil legitimiert wird, die also für programmatische Diskontinuität steht, wenn ausgerechnet dort also auf einmal derart wohlgemut mit Kontinuitätsbeziehungen operiert wird. (Dass dieses Verfahren übrigens durchaus gängiger Praxis entspricht und keine bloße Privatidee von Glenn Lowry ist, kann man unter anderem an dem bemerkenswerten Ahnentafelkult sehen, der sich in der Literatur zur zeitgenössischen Kunst etabliert hat und dort längst dieselbe Funktion versieht wie einstmals die Anrufung der Kirchenväter in der scholastischen Theologie.) Noch Anfang der 30er Jahre vertrat der damalige Programmverantwortliche des MoMA, Alfred Barr jr., die Ansicht, das Museum müsse „wie ein Torpedo" durch die Zeit schießen, dabei das Neueste aufnehmen und das museal Gewordene wieder abstoßen. Ihm schwebte ein Zeitkanal von 50 bis 60 Jahren vor. Der board president des Hauses, Mr. Goodyear, ging sogar noch weiter. Er meinte, was älter als 20 Jahre sei, könne doch wohl nicht mehr ernsthaft als modern bezeichnet werden. Auf dieser Grundlage diskutierte man weiter. 1947 wurde tatsächlich eine Vereinbarung zwischen MoMA und Metropolitan Museum getroffen, derzufolge das MoMA all seine Werke nach einer gewissen Frist dorthin abgeben sollte, um den Charakter einer rein zeitgenössischen Sammlung auch künftig beibehalten zu können. Sie hielt gerade einmal sechs Jahre, so lange, bis auch die radi6

Interview zur Wiedereröffnung des M o M A in der Süddeutschen Zeitung vom 17.11.2004, S, 15.

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kalsten Visionäre des MoMA eingesehen hatten, dass sie mit den mitderweile längst museal gewordenen Werken Geld und Prestige zum Fenster heraus werfen würden.7 Und das, wohlgemerkt, weniger deshalb, weil sie dadurch um die Wertsteigerung der jeweils zu veräußernden Objekte gebracht worden wären, sondern weil der Verzicht auf diesen Bestand zugleich den Verzicht auf die Möglichkeit bedeutet hätte, die von Lowry angesprochenen, vermeintlich selbstverständlichen Kontinuitätsbeziehungen suggestiv als Ahnenreihe in Szene zu setzen, lim auf diese Weise die eigenen Neuerwerbungen historisch nobilitieren zu können.

III Nun wäre das allein noch kein Einwand gegen Lowrys flexible Modernekonzeption. Mag ,modern' auch ein verdeckter Wertbegriff sein, so ist doch zeitgenössisch' ein normativ vorbildlich unverdächtiger, temporaler Deskriptor. Warum also sollte das wertfrei Zeitgenössische nicht zufällig auch das in einem werthaften Sinn Moderne sein? Die Antwort darauf lautet: Weil ein Modernebegriff, dessen Umfang unendlich ausgeweitet wird, inhaltlich zwangsläufig gegen null tendiert. Ein leerer Begriff aber bietet kein Kriterium für irgendeine Programmentscheidung mehr. Ich glaube deshalb auch nicht, dass es die Lage vereinfachen würde, wenn man künftig Museen der Post-, Trans-, Post-Trans- oder einer sonstigen Nachfolgemoderne eröffnen würde. Denn die Situation bliebe ja auch dann strukturell die gleiche. Sinnvoller dürfte es sein, ab und zu an ein Faktum zu erinnern, das, so trivial es zunächst auch erscheinen mag, offenbar leicht in Vergessenheit gerät: dass nämlich Kunst (ob modern oder nicht) nun einmal per se ein Wertbegriff ist und man Werturteile nicht unter Verweis auf historische Ordnungsraster legitimieren kann. Die Legitimationsrichtung verläuft vielmehr genau umgekehrt: Mittels Werturteilen rechtfertigen wir die historischen Ordnungsraster. Vergangenheit ist nämlich keineswegs identisch mit Geschichte: Vergangenheit haben wir, Geschichte dagegen müssen wir uns geben* Wir tun dies, indem wir der Vergangenheit, diesem gestaldosen Möglichkeitsraum für endlos viele Ordnungsangebote, durch narrative Synthese, also etwa das Erzählen von Geschichten über die Geburt der Moderne aus dem Geist des Widerspruchs, eine spezifische Form geben. Das zentrale Ziel eines derartigen Bemühens um eine strukturierende Aneignung des Vergangenen ist Sinnstiftung und eine der wichtigsten Maßnahmen bei diesem Projekt besteht darin, das Erinnerungspflichtige vom Entbehrlichen zu trennen. Was aber entbehrlich ist, das zeigt das Beispiel Gombrich, versteht sich nicht von selbst - es gibt kein wertfreies Kriterium für Entbehrlichkeit. Das ist keineswegs ein Spezifikum der Beschäftigung mit Kunst. Ich habe kürz7

Vgl. Bruce Altshuler, Collecting the New: A Historical Introduction, in: Ders. (Mg.), Collecting the New: Museums and Contemporary Art, Princeton/Oxford 2005, S. 1-9, hier: S. 6f. Vgl. dazu Rudolf Burger, Kleine Geschichte der Vergangenheit. Eine pyrrhonische Skizze der historischen Vernunft, Wien 2004. 8

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lieh im Vorübergehen eine Titelzeile der Bildzeitung aufgeschnappt, die mir aus rätselhaften Gründen im Gedächtnis geblieben ist: „Nicole Kidmans Hochzeit: Allein die Blumen kosteten 73.000 Euro". Ich persönlich halte diese Information für ziemlich entbehrlich und vermutlich dürfte man sich im Kreis akademischer Fachkollegen problemlos auf diese Bewertung einigen können. Wenn wir diese Einschätzung allerdings gegen ernst gemeinten Widerspruch verteidigen müssten, würden wir sehr schnell bemerken, dass man sich dazu auf eine hochkomplexe Debatte über die Legitimität des eigenen Menschenbilds einlassen muss. Wie eine solche Debatte endet, in der man sich mit den jeweiligen Diskussionspartnern über normativ gesättigte Singularbegriffe wie Vernunft, Seriosität, Persönlichkeit, Verantwortung ins Benehmen zu setzen hätte, lässt sich nicht vorhersagen. Ihr Ausgang ist grundsätzlich offen. Analoges gilt für jede noch so liebgewonnene Erzählung über Moderne Kunst, denn auch auf diesem Terrain ist Unentbehrlichkeit keine absolute Größe. Der Verweis auf die vermeintliche Evidenz historischer Kontinuitätsbeziehungen ändert daran nichts. Auch Kontinuität ist uns nicht als Faktum gegeben, wir bringen sie als Resultat einer bestimmten narrativen Synthese selbst erst hervor. Ein simples Beispiel: Die Mischung aus manischer Maßlosigkeit und lauterer Leidenschaftlichkeit, mit der der ambitionierte Basder im heimischen Hobbykeller den Kölner Dom aus Streichhölzern nachbaut, stellt ganz offensichtlich eine Parallele zu zahlreichen monomanen Praktiken dar, die wir aus dem zeitgenössischen Kunstbetrieb kennen. In beiden Fällen wird offenbar reine Selbstzweckhaftigkeit zelebriert. In beiden Fällen begegnet ein Mensch der Kontingenz der Wirklichkeit durch eine in ihrer Willkürlichkeit — wenn man so will — .absolute' Setzung. Augenfälliger kann sich der Gedanke an eine Kontinuitätsbeziehung eigentlich nicht mehr aufdrängen. Dennoch gelten für die Kunstgeschichte in erster Linie solche Privatobsessionen als erinnerungspflichtig, die auf den Erzählzusammenhang ,Kunst' bezogen werden können, etwa indem man sie als glaubwürdigen Ausdruck für eine Haltung exemplarischer Askese verklärt. Nun stellen Hobbybasder in der Regel keinerlei Anspruch auf Teilhabe am Sinnkontinuum der Kunst. Im Gegensatz etwa zur repetitiven Mühsal von On Kawaras Datumsbildern oder Hanne Darbovens Schönschreibexerzitien gilt die nicht weniger eindimensionale Hingabe an den mühseligen Bau hölzerner Miniaturdome deshalb lediglich als erinnerungsunpflichtige Verhaltensauffälligkeit. Man sieht: Selbst die Großartigkeit des Großartigen bedarf einer sinnstiftenden Rahmenerzählung. Andernfalls bleibt sie unsichtbar. Was erinnerungspflichtig an der Moderne ist, ja ob es so etwas wie die Moderne im Singular überhaupt gibt, ob man also die Gegenwart in einem nichttrivialen Sinne als eine Epoche, ein Zeitalter mit einer singulär charakteristischen Physiognomie ansehen kann, beantwortet sich folglich keineswegs von selbst, sondern muss bei jedem neuen Dissens stets neu ausgehandelt werden. Nach vielen mühseligen und fruchüosen Debatten zum Thema Epochenmarkierungen lautet meine Antwort mitderweile kurz: Wir leben im Stand der vollendeten Unübersichtlichkeit — aber das ist natürlich weniger eine Antwort als vielmehr eine Ausweichbewegung, wenn nicht gar eine Kapitulationserklärung. 34

Anfang des 19. Jahrhunderts, als das Kerngeschäft der Philosophie noch die Weltdeutung war und nicht die ameisenhaft fleißige Verwaltung der Geschichte der eigenen Disziplin, scheinen Antworten auf Fragen nach der Berechtigung von Zeitdiagnosen und Epochenmarkierungen eine leichtere Übung gewesen zu sein. Nach Johann Gottlieb Fichtes eindrucksvollem fünfstufigen System etwa, das er den Hörern seines Seminars im Jahr 1809 vorstellte, hatte das Menschengeschlecht, dessen Historie einst bekanntlich im Stand der Unschuld begonnen hatte, unlängst den Wechsel von Stufe zwei, „Stand der anhebenden Sünde", zu Stufe drei, „Stand der vollendeten Sündhaftigkeit" hinter sich gebracht. So bedenklich dieser Vorgang auch war, so wenig Grund bestand doch seiner Ansicht nach zur Verzweiflung. Denn wie philosophische Deduktion eindeutig demonstrieren konnte, würde der weitere Weg über den „Stand der anhebenden Rechtfertigung zum Stand der vollendeten Rechtfertigung und Heiligung", also sowohl geistig als auch moralisch eindeutig nach oben führen. Damit war die Geschichte dann glücklich abgeschlossen, denn ein Zeitalter, „da die Menschheit mit sicherer, und unfehlbarer Hand sich selber zum getroffenen Abdrucke der Vernunft aufbauet", konnte in Sachen innere Vollendung offensichtlich nicht mehr überboten werden. Fichte war bekanntlich nicht der einzige, der seinerzeit einen derart ambitionierten Entwurf wagte. Schon 1794 hatte Condorcet ein wesentlich simpleres, aber ebenfalls menschheitsumgreifendes historisches Fortschrittspanorama vorgestellt.9 1822 las Fichtes Kollege Hegel zum ersten Mal seine Philosophie der Weltgeschichte, die wiederum dem Studenten Karl Marx so wenig behagte, dass er sich vornahm, schnellstens eine eigene auf die Füße zu stellen. Man hat das beginnende 19. Jahrhundert deshalb auch das Zeitalter der Geschichtsphilosophie genannt. Dass nach den Wirren von Revolutionen und Gegenrevolutionen, Friedensfesten und Völkerschlachten das Verlangen nach Orientierung groß war, ist gut nachvollziehbar. Tatsächlich präsentierten sich die res gestae damals ähnlich unübersichtlich wie heute. Aber vielleicht konnte philosophische Spekulation die Fragmente ja doch noch zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzen. Die vielfältigen Bemühungen in dieser Richtung führten bekanntlich zu denkbar widersprüchlichen Lösungsvorschlägen, die aber nahezu alle in einem zentralen Punkt übereinkamen: der Überzeugung, dass Geschichte ein gerichtetes Singulargeschehen ist, in dessen Entfaltung ein Singularsubjekt, die Menschheit, dem Zustand der Vollendung näher kommt. Der Begriff der Gegenwart bezeichnete somit nicht allein einen prosaischen temporalen Deskriptor, sondern eine wichtige Sinnkategorie. Schließlich befand sich jede Gegenwart auf einem bestimmten Punkt einer allgemeinen Entwicklungslinie, sie gehörte also einem bestimmten Zeitalter an, das sich in einer bestimmten Entfernung vom Telos der geschichtlichen Bewegung befand. Ob das allerdings auch für die Menschen galt, die in ihrer jeweiligen Gegenwart als Zeitgenossen lebten, war schon nicht mehr so sicher. Außerhalb des Hörsaals schert geschichtsphilosophische Über-

Jean Antoine Nicolas de Caritat de Condorcet, Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain (1794), Paris 1988.

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sichtlichkeit die Menschen ja bekanntlich denkbar wenig und sie nehmen es deshalb mit der Erfüllung des ihnen aufgegebenen Telos nicht allzu genau. Schon Fichte gab zu, es könnten durchaus „verschiedene Zeitalter in einer und derselben chronologischen Zeit in mehreren Individuen sich durchkreuzen und nebeneinander fließen (...) Es kann einer hinter seinem Zeitalter zurück sein, weil er während seiner Bildung nie mit einer sattsamen Masse der allgemeinen Individualität in Berührung gekommen, der enge Zirkel aber, in welchem er sich gebildet, noch ein Überrest der alten Zeit ist. Es kann ein anderer seinem Zeitalter vorgeeilt sein, und in seiner Brust schon den Anfang der neuen Zeit tragen, indes rund um ihn her die alte, in der Wahrheit aber wirkliche, dermalige, und gegenwärtige herrscht."10

IV Fichtes Versuch einer Synopsis der Weltgeschichte war bekanntlich wenig Erfolg beschieden. Die Unterscheidung zwischen wirklicher und vermeintlicher Gegenwart machte dagegen Schule. Als zwei Generationen später der junge Friedrich Nietzsche seine ersten ernsthaften philosophischen Gehversuche unternahm, erklärte er sich in eben diesem Sinne programmatisch gleich selbst für unzeitgemäß. Nietzsche war fest davon überzeugt, dass die Mehrzahl der Deutschen nur im prosaisch chronologischen Sinne, nicht aber im emphatisch eschatologischen Sinn der Geschichtsphilosophie seine Zeitgenossen waren. Konsequenterweise richtete er seine Schrift auch nicht an die wirklichen Leser der Gegenwart, sondern an den verlockenden Kollektivsingular „die Jugend", sprich: an die möglichen Leser der Zukunft. Weshalb sich Nietzsche seinen Zeitgenossen derart radikal entfremdet fühlte, versuchte er an einem Phänomen darzulegen, das für ihn symptomatischen Charakter hatte: dem Glauben der Gegenwart an die Geschichte. Seine chronologischen Zeitgenossen, klagte Nietzsche, seien derart geblendet von ihrer historischen Bildung, dass sie, im Gegensatz zu ihm, gar nicht bemerkten, wie gerade diese Bildung den Lebensnerv ihrer Kultur schädige. Der Aufsatz datiert von 1874 — Nietzsche lehrte damals noch als Altphilologe —, er entstand also in einer Zeit, in der der Prozess der Professionalisierung der Historiographie, an dessen Ende das noch heute verbindliche, arbeitsteilige Modell universitärer Forschung stehen sollte, gerade in vollem Gange war. Durch methodologische Disziplinierung, also etwa durch die Forderung nach differenzierter Quellenkritik, nach umfangreicher Archiverfahrung und fundierten Literaturkenntnissen formten die maßgebenden Historiker des 19. Jahrhunderts aus einem komplexen, jedoch weitgehend ungeregelten Spiel für gelehrte Liebhaber eine moderne Wissenschaft. Dieser Umbau ließ sich als konsequente Durchführung der Kantischen Maxime deuten, nach der es der Menschheit auf-

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Johann Gottlieb Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806), Neudruck der Ausgabe von 1922, Hamburg 1956, S.16f.

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gegeben ist, sich durch konsequenten Verstandesgebrauch aus ihrer „selbstverschuldeten Unmündigkeit" herauszuarbeiten. Genau das beansprucht ja eine Historie, die als Wissenschaft auftritt. Sie will ihrem Gegenstand, der Vergangenheit, „interesselos", d.h. ohne partikuläre Parteinahme, in programmatischer Unvoreingenommenheit, ohne Rücksicht auf Autorität und Vorurteil gegenübertreten, um auf diese Weise, zumindest idealiter, zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen". Genau das stand auch hinter Gombrichs methodologischem Bekenntnis zu ,art' mit kleinem a. Man kann diese Auffassung aus guten Gründen naiv nennen, aber damit schafft man die Tatsache nicht aus der Welt: Auf der Vorstellung von Objektivität durch Urteilsenthaltung, einem wie auch immer im einzelnen formulierten Wertfreiheitspostulat, beruht das eigentümlich paradoxe Ethos nicht nur der Geschichtswissenschaft, sondern von Wissenschaft überhaupt. Es geht ihr im Kern darum, den Dingen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Mit spekulativer Geschichtsphilosophie hat das, so möchte man meinen, denkbar wenig zu tun. Genau an diesem Punkt setzt Nietzsche an. Er weist — und zwar, wie mir scheint, völlig zu Recht — darauf hin, dass der Stolz auf die historische Bildung seinerseits sehr wohl ebenfalls auf einer spezifischen Geschichtsdeutung beruht: auf der Überzeugung nämlich, dass der Umbau der Historiographie zu einer Wissenschaft Teil einer allgemeinen Fortschrittsbewegung sei, in deren Verlauf die Menschheit sich durch einen Akt der geistigen Selbstdisziplinierung von den Fesseln des mythischen und religiösen Denkens befreit, um zur Freiheit des Logos zu gelangen. Seine Strategie ist dabei nicht ganz so originell wie er uns Lesern weismachen machen möchte. Die Betrachtung über Nutzen und Nachteil der Historie für das heben bietet im Grunde lediglich eine rhetorisch hochgerüstete und zugleich ästhetizistisch verengte Neuauflage der Argumentation, die Rousseau, ein anderer selbsterklärt Unzeitgemäßer, in seiner berühmten ersten Preisschrift aus dem Jahr 1750 entwickelt hatte. „Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und der Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen?", lautete die Frage der Akademie von Dijon, die Rousseau bekanntlich negativ beantwortete. Nietzsche tritt nicht als Anwalt republikanischer Sittlichkeit auf, sondern als Sachwalter einer ästhetischen Erweckungsbewegung, als deren Gipfel er in den 1870er Jahren noch das Wagnersche Musikdrama ansieht. Die Frage, die er stellt, ist jedoch strukturell die gleiche: ,Hat die Verwissenschaftlichung der Historie zu einer qualitativen Verbesserung unserer Kultur beigetragen?' Und auch seine Antwort ist ein klares Nein. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit mag uns zwar zu einem größeren Gesichtskreis verholfen haben und damit, wenn man will, auch zu größerer Objektivität. Doch eine solche Erweiterung des Blicks führt auf dem Gebiet der Kultur unweigerlich zu größerer Unübersichtlichkeit. Was bringt das „rastlose Zusammenscharren alles einmal Dagewesenen"? Nichts Gutes, sagt Nietzsche. Im schlimmsten Fall drückt uns die „große und größere Last" der Vergangenheit, wie eine „unsichtbare und dunkle Bürde" nieder und macht uns zu jeder eigenständigen Leistung unfähig. Im besten Fall werden wir zu ,,verwöhnte(n) Müßiggängern) im Garten des Wissens", ge37

schmäcklerisch und weichlich, nehmen „alles Alte als gleich ehrwürdig hin" und sind zu keinem kernhaften Urteil über die eigene Gegenwart mehr fähig. Das, so Nietzsche, sei schließlich bereits den Griechen passiert, diesen ,,Erstlinge(n) und Vorbilder(n) aller kommenden Culturvölker"11, die mit der „Ueberschwemmung durch das Fremde und Vergangne" lange Zeit produktiv umgingen, zuletzt aber doch den Verfall ihrer Kultur hinnehmen mussten. Das gilt erst recht für die Gegenwart. „Wie der Römer der Kaiserzeit unrömisch wurde im Hinblick auf den ihm zu Diensten stehenden Erdkreis, wie er sich selbst unter dem einströmenden Fremden verlor und bei dem kosmopolitischen Götter-, Sitten- und Künste-Carnevale entartete, so muss es dem modernen Menschen gehen, der sich fortwährend das Fest einer Weltausstellung durch seine historischen Künstler bereiten lässt"12 Übersättigt und indifferent „so laufen wir Modernen durch die Kunstkammern, so hören wir Concerte. Man fühlt wohl, das klingt anders als jenes, das wirkt anders als jenes", aber diese Differenz bedeutet uns letztlich nichts. Angesichts der unendlichen Möglichkeiten, mit denen uns die Geschichtsschreibung konfrontiert, so Nietzsche, schwindet unser Wille und unsere Kraft, uns wertend wählend für eine endliche Wirklichkeit zu entscheiden. Die Historie als Wissenschaft erstickt das Leben also gerade durch ihre Objektivität. „Wenn sich der Sinn eines Volkes derartig verhärtet, wenn die Historie dem vergangenen Leben so dient, dass sie das Weiterleben und gerade das höhere Leben untergräbt, wenn der historische Sinn das Leben nicht mehr conservirt sondern mumisirt: so stirbt der Baum, unnatürlicher Weise, von oben allmählich nach der Wurzel zu ab — und zuletzt geht gemeinhin die Wurzel selbst zugrunde."13 Die Historie schafft also offenbar kulturelle „Eunuchen" 14 — nur dort entwickelt sich Kultur zu ihrer höchste Form, wo deren Akteure ungerecht, parteiisch, einseitig sind; nur wer sich von der Historie keine Erinnerungspflichtigkeit aufschwatzen lässt, kann auch selbst Geschichte machen. Das bestätigt, was ich bereits zu Anfang festgestellt habe: Kultur und Kunst sind Wertbegriffe, sie setzen ein Ethos voraus und jedes Ethos, zumindest jedes, das sich ernst nimmt, da hat Nietzsche zweifellos recht, setzt sich absolut und ist deshalb notwendig ungerecht. Der Schwachpunkt an seinem Plädoyer für historische Ungerechtigkeit und produktives Verdrängen ist gleichwohl leicht auszumachen: Nietzsche schreibt hier ganz offensichtlich aus der Warte des Künstlers bzw. des Kritikers, die sich beide nicht damit begnügen können, unparteiisch zu beobachten, sondern die bei ihrem Geschäft nun einmal nicht umhin kommen auswählen, Urteile fällen, Stellung beziehen, bewerten zu müssen. Der Historiker aber ist weder Künsder noch Kritiker. Er arbeitet deskriptiv, nicht präskriptiv. Er muss sich weder für noch gegen eine bestimmte Ästhetik entscheiden, sondern kann

11 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874). In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, herausgegeben von G. Colli u. M. Montinari, Bd. 1, Berlin (u.a.) 1999, S, 243-334, hier: S. 268, 249, 245,269,333. 12 Ebd., S. 278. « Ebd., S. 268. « Ebd., S. 281.

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sich damit begnügen, von den Entscheidungen zu berichten, die zur jeweiligen Zeit von anderen getroffen wurden. Das ist die Voraussetzung für seine privilegierte Beobachterposition, die ihm wiederum die Autorität verleiht, im isomorphen Fluss der Geschehnisse das Erinnerungspflichtige markieren zu können.

V Ist das wirklich so selbstverständlich? Betrachten wir ein Beispiel aus der Zeit vor der Erfindung der Moderne: Im Jahr 1748 veröffentlichte La Font de Saint Yenne, ein bis dahin unbeschriebenes Blatt im Pariser Kulturleben, eine umfangreiche Besprechung der Salonausstellung des Vorjahres, die einigen Wirbel auslöste. Dass sich hier ein Laie erdreistete, öffentlich über Malerei zu urteilen, führte auf Seiten der Académie zu schwersten Verstimmungen. Die officiers des Instituts stellten sich auf den Standpunkt, dass hier eine Demarkationslinie überschritten worden sei. Uber Malerei konnte und durfte nur urteilen, wer das Metier selbst beherrschte. Als der Comte de Caylus, der erst kurz zuvor als Amateur Honoraire in die Académie aufgenommen worden war, zwei Jahre später seine erste Salonkritik im Mercure de France veröffentlichte, stellte er dem Artikel deshalb prophylaktisch eine begütigende Präambel voran, die derjenigen Gombrichs erstaunlich nahe kommt. Er gebe hier, so Caylus, nicht etwa sein eigenes Urteil, sondern das des Publikums wieder, trete also nicht als Kunstrichter auf, sondern vielmehr als Historiker: „non comme juge, mais comme historien". 15 E s dürfte sich dabei zwar sehr wahrscheinlich um eine Schutzbehauptung handeln — der überwiegende Teil der zahlreichen kunstrichterlichen Urteile, die der kurze Text vorträgt, geht wohl in Wahrheit auf seine eigene Rechnung. Tatsache aber ist auch, dass der engagierte Kritiker Caylus in seinem Salon bewusst hinter Formulierungen verschwindet, die genau den Anspruch der Historiographie auf überparteiliche Objektivität geltend machen, von dem bei Nietzsche die Rede ist. Caylus schreibt also nicht etwa: „diese beiden Gemälde gefallen mir ausgezeichnet", sondern begnügt sich mit der Feststellung: „diese beiden Gemälde haben die Aufmerksamkeit des Publikums durch die Entschlossenheit angezogen, mit der sie gemalt wurden" 16 u.ä. Das Verfahren ist bekanntlich auch heute noch beliebt. Wer als Kritiker das eigene Urteil mit dem Nimbus der Objektivität versehen oder einfach nur der Schwierigkeit aus dem Weg gehen will, es ausführlich begründen zu müssen, schreibt einfach: „In Basel (...) war man sich einig: McCarthys furiose Reise durch die Welt amerikanischer Mythen im Münchner Troost-Tempel ist eine der besten Museumsschauen der vergangenen Jahre." 1 7 Das wirkt dann so, als liege hier keine präskriptive Kritik, sondern ein deskriptiver (sprich: geschichtsphilosophiefreier) Zeitzeugenbericht über den all-

15

Comte de Caylus, Vies d'Artistes du XVIIIe Siècle, Paris 1910, S. 195.

16

Ebd., S. 199.

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Molger Liebs, Nie mächtiger, nie besser, Süddeutsche Zeitung vom 17.6.05, S. 13.

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gemeinen Konsens eines wunderbar irrtumsimprägnierten Singularsubjekts namens Publikum vor. Genau das macht auch Caylus beim Salon von 1750, dem von 1751 („Außerhalb von Paris wird man uns mehr Vertrauen entgegenbringen, wenn man weiß, dass wir nur Historiker sind.")18 und dem von 1753, dem er ausdrücklich voranstellt, er werde sich „damit begnügen, einige der Urteile wiederzugeben, die wir am häufigsten hören konnten."19 Nehmen wir den Autor einmal treuherzig beim Wort. Auch dann fällt auf, dass in seinen Texten, die übrigens überwiegend freundliche bis euphorische Anmerkungen enthalten, ein äußerst rigides Selektionsprinzip waltet. Ich zähle nur einmal unkommentiert die Namen derer auf, die an der Ausstellung von 1750 teilgenommen hatten, aber von Caylus nicht mit einem Wort erwähnt werden: Louis de Silvestre, Galloche, de Favanne, Dumont le Romain, Collin de Vermont, Hallé, Chaufourrier, Courtin, Lajoue, Delaistre, Huillín^ Francisque, Delobel, Boizot, Lundberg, Oudry fils, Falconet, Vernet, Perronneau, Vassé. Diese Liste enthält, wohlgemerkt, ausschließlich Künstler, die der Akademie durch ordentliche Mitgliedschaft oder Agrégation angehörten, deren Status als zeitgenössische Profis ihres Metiers also außer Frage stand und die schon aus diesem Grund ein Recht gehabt hätten, wenigsten genannt zu werden. Nun verschweigt Caylus all diese Namen sicher nicht aus Nachlässigkeit oder Böswilligkeit, sondern schlichtweg deshalb, weil sie diesmal seiner Ansicht nach keine besonders erwähnenswerten Beiträge eingesandt hatten. Die Frage, die sich da natürlich aufdrängt, lautet: Was ist eigentlich erwähnenswert? Wie zentral sie für den Historiker ist, liegt auf der Hand. Schließlich muss, wer Geschichte schreiben will, nicht nur berichten, er muss vor allem auch weglassen und dafür eine Begründung liefern können. Caylus beantwortet sie (in einem Akademievortrag von 1748)20 zunächst ähnlich wie Nietzsche: Erwähnenswert, d.h. des Erinnerns und somit der Historie würdig ist, was der Steigerung, der Vervollkommnung der Kunst dient. Und woher weiß man, was das ist? Indem man sich, so der Comte, zu einem Kunstliebhaber bildet, zu einem „vrai amateur", einem vollkommen unvoreingenommen, von Moden unbeeinflussbaren, der Kunst als solcher mit wohlwollendem Interesse zugewandten Experten. Ein „vrai amateur" darf keinerlei Vorlieben für eine bestimmte Manier oder ein bestimmtes Genre hegen, jede Art der Malerei, „so sie nur diesen Namen verdient", muss ihm gefallen, denn es gibt kein Werk, das nicht auch „gelungene Partien" aufwiese, von denen man profitieren kann. Der ideale Betrachter verbindet also den engagierten Blick des Kritikers mit dem unparteiischen des Historikers. „Die Basis, der Grund und die einzige Quelle" seiner Autorität, schreibt Caylus, sei sein Geschmack.21

18

Caylus 1910, S. 199. Ebd., S. 206. 20 Comte de Caylus, Discours sur la peinture et la sculpture (1748), in: ders. Vies d'Artistes du XVIIIe Siècle, Paris 1910, S. 119-194. 21 Ebd., S. 121. 19

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VI

Hier ist allerdings nicht vom natürlichen Geschmack, dem „goût naturel", die Rede, dieser einer intellektuellen Begründung nicht zugänglichen bloßen „Neigung" („pente"). Zur wahren Liebe und zur wahren Objektivität ist man erst fähig, wenn man den natürlichen Geschmack ausreichend kultiviert und optimiert, also einschlägige Expertise, einen „goût acquis" erworben hat. Dazu sollte man nach Caylus nicht allein die Grundlagen des künstlerischen Handwerks kennen und eine umfangreiche literarische Bildung mitbringen. Denn seinen Geschmack verfeinert man in erster Linie durch Vergleich. Voraussetzung für einen solchen Vergleich aber ist, dass wir profundes Wissen über die Geschichte der Kunst erworben haben, dass wir also nicht nur die Qualitäten der Zeitgenossen, sondern auch die Schönheiten der alten Meister und die eleganten Proportionen der griechischen Antike kennen, sprich: dass wir wissen, was vor unserer Zeit gewesen ist. Im Gegensatz zu Nietzsche verstellt für Caylus historische Bildung also nicht etwa den Blick für das Recht der Gegenwart. Vielmehr befördert sie die Urteilskompetenz für Kunst als solche, ob diese nun der Vergangenheit oder der Gegenwart angehört. Warum beide Autoren zu einer derart unterschiedlichen Beurteilung gelangen, liegt auf der Hand. Für Caylus umfasst der Begriff der zeitgenössischen Kunst (er benutzt natürlich nicht das Adjektiv .zeitgenössisch', sondern spricht von „l'art de nos peintres modernes") ausnahmslos jedes Stück Malerei oder Skulptur, solange es nur einige handwerkliche Mindestanforderungen erfüllt und in der Gegenwart geschaffen wurde. Die Frage nach einer möglichen Verschiebung zwischen temporaler und emphatischer Zeitgenossenschaft stellt sich vor dem Hintergrund der Geschmacksästhetik des 18. Jahrhunderts gar nicht erst. Die Künstler der Gegenwart wissen sich der Kunst der Vergangenheit schließlich gleich in zweifacher Kontinuität verbunden. Zum einen durch die Teilhabe an der einen und einzigen ruhmreichen Historie, der sie Muster exemplarischer Vollendung verdanken und deren Teil zu werden sie hoffen dürfen. Zum anderen dadurch, dass ihre Werke, ebenso wie die der Tradition, dem Urteil ein und derselben Instanz unterworfen sind: dem gebildeten Geschmack, der, auch wenn er sich am historischen Einzelfall bilden und bewähren muss, doch überhistorische Geltung beansprucht. Schönheit, Harmonie, Eleganz, Vollendung mögen sich zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Weise manifestieren, als universale Prinzipien aber sind sie absolute, dem Wechsel der Zeitläufe entzogene Größen, die sich dem goût aquis intuitiv mitteilen. Es ist dieser Glaube an den notwendigen Konsens der ästhetisch Willigen, der es Caylus erlaubt, als Kritiker kurzerhand in den Talar des Historikers zu schlüpfen. Dementsprechend unproblematisch gestaltet sich die Beurteilung eines Kunstwerks. Man müsse eigentlich nur aufmerksam hinsehen, denn seine Schönheiten, so Caylus, lassen seine Schwächen nur umso mehr hervortreten.22 Mit dieser Auffassung befindet er sich in prominenter Gesellschaft. Auch David Hume, der 22 Ebd., S. 128.

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Mitte des Jahrhunderts ebenfalls über die Möglichkeiten einer Schulung des Geschmacks nachdachte, hielt kritische Urteile in letzter Konsequenz für evident: „Wer auch immer behaupten wollte, Ogilby sei ebenso talentiert wie Milton, oder Bunyan schreibe ebenso elegant wie Addison, von dem würde man annehmen, er verteidige eine Meinung, die nicht weniger extravagant ist, als die Behauptung, ein Maulwurfshügel habe dieselbe Höhe wie der Berg auf Teneriffa oder eine Pfütze sei so groß wie der Ozean." 23 Und noch Joshua Reynolds verkündete 1776 vor der Royal Academy apodiktisch: „The arts would lie open for ever to caprice and casualty, if those who are to judge of their excellencies had no settled principles by which they are to regulate their decisions, and the merit or defect of performances were to be determined by unguided fancy."24 Natürlich, das geben all diese Autoren bereitwillig zu, kann sich auch der kompetenteste .amateur' einmal irren, doch das ist unter den gegebenen Umständen kein wirkliches Problem. Denn glücklicherweise — in diesem Punkt besteht Einigkeit von Horaz bis Burke — gibt es für das fehlbare Urteil des Einzelnen einen verbindlichen Prüfstein: das übereinstimmende Urteil der idealen Betrachter aller Zeiten (der „habiles de tous les tem(p)s", wie es bei Félibien heißt) 2 5 Über den wahren Wert eines Kunstwerks befindet die kumulative Unfehlbarkeit des „test of time", durch dessen historische Weitwinkeloptik gelegentliche statistische Ausreißer als Anomien erkennbar werden.26 „Autorität oder Vorurteil", heißt es bei Hume, „mag einen schlechten Dichter oder Redner vorübergehend nach oben spülen („give a temporary vogue"), aber seine Reputation wird niemals von Dauer oder von weitreichender Geltung sein. (...) Mit dem wirklichen Genie verhält es sich so, dass, je länger sich seine Werke halten und je weiter sie verbreitet sind, desto aufrichtiger die Bewunderung ist, die ihm entgegengebracht wird."27 Noch heute ist die Überzeugungskraft dieser Vorstellung groß. So wird beispielsweise auf dem Werbefilmfestival von Cannes jedes Jahr neben dem Hauptpreis ein sogenannter TEST-OF-TIME AWARD vergeben. Dazu sieht sich die Cannes-Jury die Gewinnerrolle von vor 20 Jahren an und zeichnet den Spot aus, der nach heutigem Empfinden der beste ist. Auch hier regiert offenbar die Überzeugung, dass eine zeitversetzt kumulative Bewer-

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David Hume, Of the Standard of Taste (1757), in: ders., Selected Essays, Oxford/New York 1993, S. 137 (Übersetzung C.D.). 24 Sir Joshua Reynolds, „Discourses on Art", edited by Robert R, Wark, San Marino, California 1959, S. 123 (Discourse VII, lines 213ff). 25 „l'Antiquité a toûjours été regardé par les habiles de tous les tem(p)s comme la règle de la Beauté." André Félibien, L'Idee du Peintre Parfait pour servir de règle aux jugements que l'on doit porter sur les ouvrages des peintres (1707), Genf 1970, S. 4. 26 Bruce Altshuler spricht vom „dilemma central to the museum's engagement with contemporary art: since the eighteenth century the traditional view of the art museum has been that it is an institution intended to preserve and display works that have withstood the test of time." Altshuler 2005 (wie Anm. 7), S.1. Zum Begriff des .test of time" siehe die klassische Formulierung von Samuel Johnson: „As among the works of nature no man can properly call a river deep or a mountain high without knowledge of many mountains and many rivers; so in the productions of genius, nothing can be styled excellent till it be compared with other works of the same kind. (Preface to Shakespeare, in: Selected Writings, Harmondsworth 1968, S. 261). 27 Zit. nach Anthony Savile, The test of Time, An Essay in Philosophical Aesthetics, Oxford, Clarendon 1982, S. 34.

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tung gerechter sein müsse als eine zeitnahe. Nach demselben Prinzip arbeiten bekanntlich auch die Kompilatoren von Sammlungen der hundert wichtigsten Sommerhits, Sachbücher oder Videoclips aller Zeiten.

VII Kritiker und Historiker, die mit der Kunst ihrer jeweiligen Gegenwart konfrontiert sind, scheinen somit offenbar vor ein und derselben Aufgabe zu stehen: Sie müssen aufgrund ihres durch Kenntnis der Kunstgeschichte gebildeten Geschmacks eine Prognose darüber abgeben, welche Werke den „test of time" bestehen werden, welche also langfristig erinnerungsrelevant bleiben werden und welche nicht. (Diesen Test nicht bestanden zu haben war dann ja auch der Kernvorwurf gegen Gombrichs Story ojArt und ihre knappen Postskripta.) Diese Auffassung basiert im wesentlichen auf der Vorstellung einer kontinuierlichen Optimierung von gestalterischen Lösungen (,gestalterisch' verstanden im weitesten Sinne), deren verbindlichen Fluchtpunkt kennt, wer den Konsens derer kennt, die über einschlägige Expertise verfugen — wobei perfider weise umgekehrt offenbar nur der sich eines goût aquis rühmen darf, der seinerseits diesem Konsens ebenfalls beistimmt. Am Grad der jeweils erreichten Optimierung bemisst sich naheliegender weise der Grad ihrer Erinnerungspflichtigkeit: Die Gerechtigkeit der Historie (und zugleich des Museums, sofern es, wie das seit Ende des 18. Jahrhunderts gefordert wird, die Geschichte der Kunst sichtbar machen soll) fußt auf der Verbindlichkeit des vermeintlich unüberbietbar Vollendeten.28 Nietzsches Beobachtung besteht nun darin, dass eine derartige Verbindlichkeit sich noch nie einfach so von selbst ergeben hat und sich auch niemals von selbst ergeben wird. Der Eindruck, die Selektionskriterien der wissenschaftlichen Kunstgeschichte wären Ausdruck eines unproblematischen ästhetischen Generalkonsenses und damit die Suggestion, es könne einen verbindlichen Indikator für Erinnerungspflichtigkeit geben, kommt stets durch rigide Selektion zustande. Also etwa dadurch, dass man die widersprüchlichen Erwartungshaltungen, Geschmackspräferenzen und Interessen der realen Rezipienten kurzerhand zum singulären Urteilsspruch eines imaginären Singularsubjekts namens ,das' Publikum oder ,der' Betrachter eindampft. Das war das Verfahren, dessen man sich im 18. Jahrhundert bediente. Man kann jedoch, wie es im 19. Jahrhundert Usus wurde, Kunstgeschichte ebenso gut als Emanzipationsepos erzählen, als vermeintlichen Tatsachenbericht über die Erfolge des imaginären Singularsubjekts ,Kunst' auf dem Weg zur vollendeten Selbstbestimmung. Und man kann, wie das im 20. Jahrhundert häufig praktiziert wurde, die Heterogenität und Überfülle gestalterischer Produktion auch dadurch homogenisieren, dass man zwischen der temporalen und der emphatischen Gestalt des imaginären 28

Vgl. dazu Hermann Lübbe, Die Kunst und der Fortschritt. Über Historisierung und Ästhetisierung, in: Karen Gloy (Hg.), Philosophie und Kunst, Wien 2003, S. 61-75.

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Singularsubjekts ,Gegenwart' unterscheidet. Man gelangt dann zwanglos zur Vorstellung von wahrer im Gegensatz zu vermeintlicher Zeitgenossenschaft und kann die Erinnerungspflichtigkeit auf diese Weise auf einen kleinen Ausschnitt des tatsächlich Möglichen einschränken. So lassen sich etwa faschistische Architektur oder Sozialistischer Realismus elegant als beschränkt erinnerungspflichtig aus der Geschichte des imaginären Singularsubjekts .ästhetische Moderne' ausklammern. Wie immer man aber auch vorgeht — kulturhistorische Sinnstiftung ist stets selbst ein wertender, sprich: gestalterischer Prozess. Sie stellt, wie Nietzsche schreibt, den Versuch dar, „sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt"29 und das hat, wie ich fürchte, letztlich doch mehr mit unguided fancy als mit setded principles zu tun. Dass wir dies in der Regel klaglos hinnehmen, hat vermutlich nicht zuletzt damit zu tun, dass wir unsere eigenen Wertvorstellungen in der Regel als natürliche Gegebenheit erleben. Wir empfinden es deshalb als legitim, sie in apodiktische Sätze nach dem Muster „Art is about a novel way of looking at the world" 30 zu kleiden. Nach fast 200 Jahren modernistischer Mission klingt das so unverdächtig selbstverständlich, dass man es fast glauben wollte. Wie könnte man dieser Behauptung ernsthaft widersprechen wollen? Aber andererseits: Weshalb eigentlich nicht? Denn auch wenn es mitunter so aussehen mag: Wir stehen weiterhin nicht am Ende der Geschichte und wir sehen auch weiterhin nicht mit dem Auge Gottes. Ob spätere Zeiten dieselben kulturellen Präferenzen haben werden wie wir, ist also reine Spekulation. Man sollte nicht vergessen, dass auch Hethiter, Goten und Skythen einmal der Ansicht waren, ihre Wertvorstellungen würden die Zeiten überdauern. Und Zweitens: Dass ein bestimmter Korpus kanonischer Referenzpunkte zeitlich relativ stabil ist, muss noch kein Beweis dafür sein, dass man nicht auch andere, ebenso sinnvolle Kontinuitätsbeziehungen hätte stiften können. Es scheint mir eher plausibel, dass das Phänomen dauernder Geltung in steigendem Malìe schlicht aufmerksamkeitsökonomische Gründe haben könnte. Angesichts eines nicht zuletzt auch Dank der unermüdlichen Arbeit der Geschichtswissenschaften immer unüberschaubarer werdenden kulturellen Angebots wird Komplexitätsreduktion wichtiger als Komplexitätsproduktion. „Es liegt auf der Hand", schreibt Hermann Lübbe, „dass vor dem Hintergrund der Erfahrung moderner Zivilisationsdynamik sowie der Erfahrung der Überforderung unseres historischen Sinns durch sie diejenigen kulturellen Bestände auffälliger werden müssen, die sich in der Rezeptionsgeschichte faktisch als Bestände von fortdauernder Geltung erwiesen haben."31 Das aber würde bedeuten, dass der „test of time" keineswegs ein verlässlicher Indikator für künsderische Qualität wäre, sondern lediglich die 29

Nietzsche 1874 (wie Anm. 11), S. 270, „it's not about skill, it's about unique qualities of seeing. That's what makes Picasso a better artist than Andrew Wyeth. Art is about a novel way of looking at the world." Jonathan Flneberg, Direktor des Center of the Study of Modern Art der Phillips Collection Washington in der The New York Times, Supplement der Süddeutschen Zeitung, Montag, 26.6.06, S.8. 31 Lübbe 2003 (wie Anm. 28), S. 72. 30

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Schauseite des in der kulturellen Sphäre waltenden Mechanismus positiven Rechts, der — man kann das an der Popularität von Unterhaltungs- und Medienstars gut verfolgen — in aller Regel mit noch mehr Aufmerksamkeit belohnt, was bereits Aufmerksamkeit erhalten hat. Eine München Volksweisheit drückt denselben Sachverhalt etwas derber aber dafür umso deutlicher aus: „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen." Das ist vermutlich nicht zu ändern. Als Kunsthistoriker sollte man sich dennoch gut überlegen, ob man sich unbedingt den gleichen Haufen aussuchen muss.

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auf der schwelle des augenblicks anmerkungen zu einer Kunstgeschichte der gegenwart

reinhard Steiner Was zeitgenössische Kunst ist, hängt davon ab, dass deren Zeitgenossen bestimmte Phänomene und Objekte als Kunst an-erkennen. Ob sie als Kunst erkannt und akzeptiert werden, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass es einsehbare und, vermutlich noch wichtiger, einigermaßen verbindliche Kriterien gibt, die erlauben zu sagen, dies sei Kunst und jenes nicht. In solcher Allgemeinheit formuliert dürfte es, sollte man meinen, keinen Unterschied zwischen historischer und gegenwärtiger Kunst geben. Und wenn es ihn gäbe, dann sollte er zumindest nicht kategorial sein, d.h. die Kriterien sollten prinzipiell vergleichbare sein. Es lässt sich zwar nicht aufs Jahr oder Jahrzehnt genau festlegen, aber noch vor etwa 40 bis 50 Jahren hätte man von einer solchen Zustandsbeschreibung ausgehen können, auch wenn es durchaus ernsthaften Einspruch gegen eine derartige Kontinuitätsbehauptung gegeben hätte.1 Die historische Praxis der Betrachtung und Bewertung von Kunst lässt solch simple Alternativen aber zumindest naiv erscheinen, wird doch die Urteilsfähigkeit selbst eines Betrachters, den wir als einigermaßen historisch und ästhetisch gebildet voraussetzen, im Umgang mit heutiger zeitgenössischer Kunst eher auf die Probe gestellt als im Umgang mit historischer Kunst. Was nicht daran liegen kann, dass die Kunst unserer näheren Gegenwart zeitgenössischer wäre als die einer nahen oder fernen Vergangenheit es einmal war, sondern weil sich bei unserer zeitgenössischen Kunst — bei aller chronologischen Unschärfe — schon seit etwa hundert Jahren die Frage immer dringlicher stellt, ob sie Kunst ist. Und das vor allem deshalb, weil der Status als Kunst durch die theoretische Akklamation, in ihr seien auch Nicht- oder Anti-Kunst gut aufgehoben, sowie deren Pragmatisierung zunehmend der eines Kollektivsingulars wurde. Mit der Kunst im Kollektivsingular wurden die Fragen nach den Kriterien allerdings nicht gegenstandslos, nur der Kampf um die Deutungshoheit wurde hitziger. Passé sind daher weder die Fragen noch die Objekte, die in Frage kommen; passé sind allenfalls die Zeiten, in denen einer Einheit der Künste mit den „Methoden und Kategorien einer einheitlichen Kunstgeschichte" 2 - wenn es die je wirklich gab — begegnet werden konnte. Die Rede vom Ende der Kunstgeschichte, so wenig sie apokalyptisch gemeint sein mochte, hat das Fach in Zugzwang gebracht, sie 1 Man denke nur an Hans Sedlmayrs 1948 publiziertes Buch „Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol derzeit", 2 Heinrich Klotz, Anfang der Kunstgeschichte? Ein Fach noch immer auf der Suche nach sich selbst, in: AnneMarie Bonnet/GabrieleKopp-Schmidt (Hg.), Kunst ohne Geschichte? Ansichten zu Kunst und Kunstgeschichte heute, München 1995, S. 38ff, hier S. 40.

hat nicht nur die Bildwissenschaften hervorgebracht, sie hat auch neue Anfänge' provoziert, in deren Gefolge bis dahin unangreifbare Kernaxiome des Fachs zur Disposition gestellt wurden. So jenes vom „historischen Abstand", das etwa Heinrich Klotz zu verabschieden vorschlug. Denn, so Klotz: „Die Gegenwart erlaubt zwar keinen .historischen Abstand' und damit ein Äquilibrium wissenschaftlichen Erkennens. Gegenwart erlaubt das Privileg der personalen und wissenschaftlichen Nähe wie auch der Authentizität (...)"3 Womit eine Allianz von Einstellungen bzw. Prädispositionen behauptet wird, deren harmonisches Zusammenspiel alles andere als selbstverständlich ist: Wissenschaftlichkeit und Authentizität. Wenn und solange es ein Axiom der Kunst-Geschichte ist, dass historische Distanz eine kognitive bzw. wissenstheoretische Bedingung der Fachdisziplin als solche ist, dann ist und muss Authentizität ihr genaues Gegenteil sein. Wenn die Kunst der Gegenwart aber notwendig Authentizität impliziert, ist dann die in der historischen Wissenschaft vorausgesetzte Distanz überhaupt möglich? Lassen sich das Historische und das Gegenwärtige unter den Bedingungen der Wissenschaftlichkeit überhaupt zusammen denken, bzw. lässt sich die Kunst der Gegenwart historisieren? Mit dem Begriff der Historisierung ist das konkrete Problem angesprochen, das Paradox einer Historisierung der Gegenwart dialektisch aufzulösen, d.h. trotz zeitlicher Nähe kritische Distanz zu wahren. Wenn Historisierung lexikalisch und ziemlich allgemein verstanden jene Denkweise meint, „die nicht nur alle Taten, Leistungen und Werte aus der geschichtlichen Lage, in der sie entstanden sind, zu verstehen versucht, sondern in diesem Rückgang auf die Entstehung und Fortbildung auch die zureichende Erklärung ihres sachlichen Gehalts und ihrer gegenwärtigen Bedeutung zu haben glaubt", dann entsteht ein schwer aufzulösendes Dilemma.4 Wie lange muss oder darf Gegenwart dauern, damit geschichtliche Lage auf der einen und Taten, Leistungen und Werte auf der anderen schon so weit distanzierbar und differenzierbar sind, dass ein souverän verstehender Blick möglich wird, wie sollte gar ein Rückgang auf Entstehung und erst recht auf Fortbildung der Taten, Leistungen und Werte möglich sein, da der Kunst-Historiker als Zeitgenosse doch viel eher Tagebuchschreiber als historischer Biograph ist ? Und die vielleicht noch peinlichere Frage: wie und warum sollten wir sofort, ohne dem Objekt seine eben erst, im Moment sich entfaltende Wirkung zu nehmen, kritische Distanz zu ihm beziehen? Passiert dann nicht, was Friedrich Nietzsche, der Stichwortgeber des Tagungs- und Buchtitels, folgendermaßen formuliert hat: „Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist und noch schlimmer: er wird nie etwas thun, was Andere glücklich macht."5 Für den Kunst-Historiker, so scheint es, kann der Mangel an Distanz zur Gegenwart nur Schwindel und Furcht erzeugen. 3

Ebd., S. 45. Johannes Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 21955, S. 302. 5 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 250. 4

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Befreit man sich für einen Moment von den Schwanengesängen des Endes und den Fanfaren des Neuanfangs und akzeptiert, dass es die Kunstgeschichte auch heute noch mit Gegenständen oder Phänomenen — wie heterogen auch immer - zu tun hat, die dominant visuelle Objekte sind und visuelle Erfahrung affizieren und evozieren, dann können diese auch, um einen weitere These von Heinrich Klotz abzuwandeln, „in den Begriffen der Vergleichbarkeit ästhetischer Eigenschaften" erfasst und erklärt werden. Zumindest prinzipiell. In der Praxis, daran ließ er indes keinen Zweifel, hieße dann Aktualisierung der Kunstgeschichte aber auch, „das Kunsturteil der Kunstkritik anzunähern oder es mit dieser zu identifizieren."6 Auf der Schwelle des Augenblicks winkt nicht nur Nietzsches Glücksversprechen, sondern warten auch „Gefahren, die mit der Einmischung in die Gegenwart drohen und die Korrumpierung begünstigen". Weniger dramatisch ausgerückt, bedeutet die Annäherung des Kunsthistorikers an den Kritiker nichts anderes als die Schwerpunktverlagerung auf den KunstHistoriker und damit auf jenen Part seiner Profession, der gerade keine historische Distanz verlangt, der sich nicht nur den ,Befleckungen des Lebens', sondern dem hic et nunc ästhetischer Erfahrung von Kunst hingibt. Ohne der Aktualisierung der Kunstgeschichte durch Annäherung oder Konkurrenz zur journalistischen Kunstkritik zu bedürfen, hat sich in der Disziplingeschichte längst eine Art Distribudonsmodell für Kompetenz etabliert, das zwar nicht sonderlich beliebt ist, weil es bei den Mitgliedern der beiden Parteien' häufig zu negativen Überzeichnungen des Habitus des je anderen kommt, das aber im groben geeignet scheint, den Hiat von •KOTZJT'-Historiker und KunstHistoriker zu überwinden. Man kann das Modell mit dem ,Kenner' Max J. Friedländer ein wenig zugespitzt so charakterisieren: „Die Gemeinschaft der Kunstgelehrten zerfällt in zwei Gruppen, man kann wohl sagen: zwei Parteien. Auf den akademischen Lehrstühlen sitzen zumeist Herren, die sich gern Historiker nennen, in den Amtsstuben der Museen trifft man auf,Kenner'. Die Historiker streben vorzugsweise vom Allgemeinen zum Speziellen, vom Abstrakten zum Konkreten, vom Gedanklichen zum Sichtbaren, die Kenner bewegen sich in umgekehrter Richtung, beide bleiben zumeist auf halbem Wege stecken, übrigens ohne sich dabei zu begegnen."7 Cum grano salis steckt in dieser noch immer weitgehend gültigen Analyse des Fachgelehrtentums auch eine zutreffende Beschreibung der gespaltenen bzw. doppelten Grundausstattung eines jeden Kunsthistorikers. Diese als richtig unterstellt, lässt sich das Modell mit einigem Gewinn auch auf die Frage anwenden, ob und unter welchen Bedingungen es eine Kunstgeschichte der Gegenwart geben könne. Den Historiker im Kunsthistoriker könnte man dann als professionellen Kriterienausleger, den Kenner als genuinen Kriterienfinder bezeichnen und damit als grundsätzlich geeigneter für den Umgang mit der Kunst der Gegenwart — was nicht heißen kann, dass der eine ohne den anderen ernsthaft reüssieren könnte.8 Durch Friedländers « Klotz 1995 (wie Anm. 2), S. 47. 7 Max J. Friedländer, Von Kunst und Kennerschaft, (zuerst 1942) Leipzig 1992, S. 91f. 8 Das sah schon Panofeky so, vgl. Heinrich Dilly, Deutsche Kunsthistoriker 1933 -1945, München/Berlin 1988, S. 15.

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Modell werden vielmehr deutlich unterscheidbare Kompetenzen und Haltungen pointiert — auf der einen erzielt durch Distanznahme, auf der anderen durch Authentizität und Nähe - , die sowohl in der Befassung mit historischer wie zeitgenössischer Kunst gefragt sind — mit je anderer Gewichtung. Dass sich das auch ästhetiktheoretisch so sehen lässt, kann am Beispiel Baudelaires gezeigt werden. *

„Die Vergangenheit ist nicht bloß um der Schönheit willen interessant, die die Künsder ihr zu entnehmen wussten, fur die sie die Gegenwart war, sondern ebenso sehr auch als Vergangenheit, um ihres historischen Wertes willen. Ebenso verhält es sich mit der Gegenwart. Das Vergnügen, das uns die Darstellung der Gegenwart bereitet, entspringt nicht bloß der Schönheit, mit der sie angetan sein mag, sondern ebenso sehr auch ihrem eigentümlichen Gegenwartscharakter."9 In diesen Sätzen Charles Baudelaires aus der berühmten und trotz aller Klarheit und Unmissverständlichkeit oft missverstandenen SchriftL·?peintre de la we moderne von 1859 ist in nuce enthalten, was das Hauptargument der folgenden Überlegungen sein wird: dass es Baudelaire zuallererst um Schönheit — und dann auch um das Erhabene in seinen diversen Erscheinungsformen —, jedoch nicht um Neuheit geht. Zweitens, dass diese Schönheit sowohl in der Gegenwart wie in der Vergangenheit, als und insofern sie Gegenwart war, zu finden sei, dass aber drittens Vergangenheit und Gegenwart anderen Status besitzen und unter je anderen Prämissen zu rezipieren sind. Die Vergangenheit um ihres „historischen Wertes" willen, die Gegenwart, so Baudelaire, ihres „eigentümlichen Gegenwartscharakters" wegen. Nur auf den ersten Blick sind das selbstverständliche, auf derselben Ebene liegende Relata. Auf den zweiten sind sie kategorial verschieden: der historische Wert der Vergangenheit — als Vergangenheit — kann nur unter Bedingungen historischer Betrachtung, Analyse und Kritik des künsderischen Werkes erfasst werden; was aber ist der „eigentümliche Gegenwartscharakter"? Erklärt wird er zunächst nicht, aber offenkundig ist er von anderer Art als der historische Wert. Das Vergnügen, das er bereitet, kann nicht — oder jedenfalls nicht nur — die „Schönheit" der Gegenwart sein, das scheint festzustehen. Aber um ihn geht es eigentlich, auch das steht fest. Zu dieser Annahme ist man jedenfalls gezwungen, wenn man Baudelaires Absicht ernst nimmt, „eine vernünftige und geschichtliche Theorie des Schönen aufzustellen gegenüber der Theorie von dem einen und absoluten Schönen". Derzufolge wird „das Schöne (...) aus einem ewigen, unveränderlichen Element gebildet, dessen Quantität außerordentlich schwierig zu bestimmen ist, und aus einem relativen bedingten Element, das, wenn man will, nacheinander oder zugleich von der Epoche der Mode, dem geistigen Leben, der Leidenschaft dar9

Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens (1863), in: Ders., Der Künstler und das moderne Leben. Essays, .Salons', Intime Tagebücher, Leipzig 1990, S. 290.

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gestellt wird. Ohne dieses zweite Element, welches gleichsam der amüsante, glänzende, appetitanregende Überguss des göttlichen Kuchens ist, wäre das erste Element für die menschliche Natur unzuträglich, ungeeignet, unverdaulich. Ich glaube, man wird schwerlich irgendwelche Probe von Schönheit ausfindig machen, die nicht diese beiden Elemente enthielte."10 So offenkundig die Absage an eine reine Theorie von dem einen und absoluten Schönen ist, darf doch die emphatische Beschwörung des flüchtigen „Übergusses" nicht als radikaler Akt der Abschaffung oder Negation „alles Überkommenen" verkannt werden, wie erst jüngst wieder in einer der im übrigen ziemlich raren Publikationen, die sich an einer prinzipiellen Grundlegung kunsthistorischer Befassung mit der „Kunst der Moderne/Kunst der Gegenwart" versuchen.11 Dort heißt es u.a.: „Mit den Impressionisten kehrte die Malerei der Religion, der Mythologie, der Vergangenheit sowie der Verherrlichung von Staat und Politik definitiv den Rücken, um sich der Feier der ,vie moderne', wie Baudelaire es genannt hatte, hinzugeben. Baudelaire hatte diese Ästhetik, die das Rasche, Ephemere und radikal Aktuelle beschwört, bereits 1859 im Essay Le peintre de la vie moderne vorweggenommen. Sich statt dem Idealen, Absoluten und Immerwährenden dem Banalen und Vergänglichen zu widmen, musste die akademisch geschulte Mehrheit als Affront empfinden."12 Unzulässig verkürzt und damit verfälscht wird hier nicht nur der Wortlaut des Baudelaireschen Textes, verkannt wird vor allem seine Argumentationsstruktur. Der moderne Künsder, den Baudelaire proklamiert, „hat ein höheres Ziel als ein reiner Müßiggänger, ein anderes, umfassenderes Ziel als das flüchtige Plaisir des Augenblicks. Er sucht jenes Etwas, das ich mit Verlaub als die Modernität bezeichnen will (...) Es handelt sich für ihn darum, von der Mode das loszulösen, was sie im Geschichtlichen an Poetischem, im Flüchtigen an Ewigem enthalten mag", weshalb für ihn gilt: „Die Modernität ist das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige, ist die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist. Es hat eine Modernität für jeden alten Maler gegeben (.. .)"13 Moderne bzw. gar eine historische Moderne also dadurch zu bestimmen, dass — so Bonnet — ein sie „charakterisierender Grundimpuls (...) das Bewusstsein von Zeitgenossenschaft mit radikaler Ablehnung alles Überkommenen" verbindet, ist unter Berufung auf Baudelaire jedenfalls unmöglich. Ein Missverständnis, das umso folgenreicher ist, als es die „vie moderne" Baudelaires mit Zolas Platitude, die Kunst sei nur ein Produkt ihrer Zeit, verwechselt und mit dessen Propagierung der „actualistes" die Theorie einer historischen Schönheit trivialisiert.14 Baudelaire nämlich liefert keine Geschichtstheorie - und kann da-

« Ebd., S. 292. 11 Anne-Marie Bonnet, Kunst der Moderne. Kunst der Gegenwart. Herausforderung und Chance, Köln 2004, S. 16. 12

Ebd., S. 18. Baudelaire 1863 (wie Anm.98), S. 300f. 14 Vgl. u.a. Émlle Zola, Mon Salon (1868), in : Dens., Le bon combat. De Courbet aux Impressionlstes, Paris 1974, S. 110ff (dt. in: Émile Zola, Die Salons von 1866 - 1 8 9 6 . Schriften zur Kunst, Frankfurt/M. 1988, S. 105ff). 13

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her immerhin in der Hinsicht als spiritus rector des Ansatzes von Bonnet gelten, als er eine übereifrige Historisierung ablehnt —, sondern eine Theorie der Schönheit, die immer eine doppelte ist: „Man betrachte, wenn es beliebt, den ewig währenden Anteil als die Seele der Kunst und das veränderliche Element als ihren Körper."15 Alles andere als radikale Ablehnung von jeglicher Theorie des Schönen, wird Baudelaires Schönheit weder in eine modellhaft klassische Antike als vergangene zurückversetzt noch in der Gegenwart als flüchtig vergängliche situiert. Anagrammatisch könnte man sagen: Schön ist die vergangene Kunst nur um der in ihren Werken enthaltenen Gegenwärtigkeit, um ihrer ästhetischen Qualität willen, schön dagegen die gegenwärtige aufgrund des Anteils an Unvergänglichem. Die Theorie des Schönen bei Baudelaire bewährt sich zwar an der Gegenwart, die aber auch die je vergangene ist. *

Im Gegensatz zum ,historischen' Kunstwerk hat das gegenwärtige' diesseits aller anderen möglichen Bestimmungen oder Unbestimmtheiten einen eigenen Zeitmodus, der mit Rücksicht auf den Zeitgenossen der je gegenwärtigen Kunst ,authentisch' ist. Ihm ist nicht beizukommen mit historischem Urteil, das vom Allgemeinen zum Speziellen schreitet und nur bekannte Kriterien an Neues anlegt. So scheint es keine andere Möglichkeit zu geben, als die herkömmlichen Methoden generell infrage zu stellen, wie es zumindest die Einleitung von Bonnets Buch insinuiert: „Die Fülle an Wissen, die kunsthistorisch zusammengetragen werden kann, kolonisiert die Gegenstände eher, als dass sie deren Eigenarten vermittelt, denn deren Neu- und Fremdartigkeit wird gleichsam ,gezähmt', weil sie immer an dem gemessen werden, was bereits bekannt ist, und mit vorhandenen Maßstäben betrachtet werden. Die sinnliche Präsenz der Werke wird aufgelöst in diagnostische Stil-, Datierungs- und Deutungsdebatten. Die Kunst von Moderne und Gegenwart verschärft diese Problematik noch, indem sie sich zunehmend kollektiven Vereinbarungen entzieht und eine Fülle ureigener Mitteilungsweisen entwickelt, die bewusst sprachliche Übersetzungen erschweren bzw. unmöglich machen."16 Proklamiert wird daher eine „offensive Zeitgenossenschaft", die sich nicht auf den ausgetretenen Trampelpfaden des Fachs ohne Rücksicht auf die Individualität des einzelnen Werks bewegt. Der Kunst der Gegenwart müsse man sich ohne Anspruch auf Deutungshoheit nähern, sie nicht den Zumutungen von Entwicklungsgeschichte etc. aussetzen, überhaupt sei kein „Kriterienkatalog zu entwickeln, der dann den Werken auferlegt wird und meistens in einem Kanon mündet."17 Beim schlechtesten Willen ist gegen eine „offensive Zeitgenossenschaft", die für das Neue und Fremde und gegen Kolonisierung und Domesti15 16 17

Baudelaire 1863 (wie Anm. 9), S. 293. Bonnet 2004 (wie Anm. 11 ), S. 7. Ebd., S. 10.

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zierung ist, zunächst nichts einzuwenden; sie verspricht immerhin zuzulassen, dass es nicht nur um die positivistische Zuordnung eines Kunstwerkes zu dieser oder jener Gattung oder Stilphase geht, sondern auch um die Respektierung von „sinnlicher Präsenz" und ureigenen Mitteilungsweisen der Kunst.18 Allerdings provoziert eine derart „offensive Zeitgenossenschaft" notwendig die Frage, inwiefern, wenn denn alle „bisherigen kunsthistorischen Zugriffe durch Moderne und zeitgenössische Kunst vielfach außer Kraft gesetzt" wurden, Kunstgeschichte überhaupt noch ein Zugriffs- oder Mitspracherecht besitzen sollte und wenn, welche eigenen Mittel und Kompetenzen diese Kunstgeschichte noch zur Verfugung stellen könnte. Sollte man nicht einfach den Begriff Kunstgeschichte vergessen? Offensichtlich reichen wissenschaftlich historische Neugier und praktische Erfahrung — die im besten Fall aus einem erprobten deskriptiven und analytischen Instrumentarium und einigermaßen bewährten Fachmethoden besteht - auch dann nicht aus, wenn richtige oder triftige Fragen gestellt, entsprechende Schlüsse gezogen und adäquate Sachaussagen gemacht werden. Nach Bonnet ist die konventionelle Kunstgeschichte prinzipiell falsch gepolt, weil ihre Methoden — ein wenig überspitzt gesagt - auf Werke der zeitgenössischen Kunst generell nicht anwendbar sind. Das aber wird nicht mit einer Kritik des historisierenden Redens und Argumentierens begründet, sondern mit der Behauptung einer sozusagen a- bzw. anti-historischen Stellung der (historischen) Moderne. Die Behauptung des Sonderstatus der historischen Moderne wird jedoch mit einer falschen Konstruktion von Aktualität erkauft. In Fortschreibung der Eindimensionalität der Modernitätsauffassung eines Zola, „dass das Werk von morgen nicht das von heute sein kann. Ihr könnt keine Regel aufstellen und keine Vorschrift angeben", manifestiert sich das Manko einer Kunstgeschichte der Gegenwart, die nicht zwischen Kunst und Geschichte unterscheidet.19 Es besteht in der Verengung der Gegenwart auf das punktuell, geschichtslos Aktuelle und damit in der Verkennung ebenjener Differenz, die Baudelaire eingeführt hat. Zugleich wird bei erster Gelegenheit einer eigenen konkreten Darstellung der Moderne, die sich in reflektierter Attitüde „Phantombild" nennt, deutlich, dass die eingangs behauptete Kriterienlosigkeit der Moderne überraschend schnell in bekannten Diskurs- und Deutungsmodellen aufgeht. Ein Selbstwiderspruch, der zeigt, dass die prätentiöse Fundamentalkritik am traditionellen Fach Kunstgeschichte andere Gründe hat als berechtigten Unmut über Mangel an Professionalität. Zwar könnte man sie auf einer sozusagen offiziellen Ebene als den Versuch verstehen, um jeden Preis das Menetekel eines Endes der Kunstgeschichte als Fachdisziplin zu vermeiden; im Grunde aber ist sie als Dokument eines Rückfalls in eine „uralte mythologische Empfindung" zu lesen. Indem er den Künstler als einen Illusionisten unvermittelter Gegenwärtigkeit charakterisierte, warnte schon Nietzsche davor, „die Frage nach dem Werden zu unterlassen". Seiner Analyse zufolge weiß „der Künsder (...), dass sein Werk nur voll 18 .Erkannt" hat man es damit nicht, wenn Kunstgeschichte darin besteht, aus der Unmittelbarkeit sinnlichleiblicher Präsenz urteilend charakteristische Merkmale zu filtern, die den einzelnen Gegenstand profilieren. « Zola 1868 (wie Anm. 14), S. 20

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wirkt, wenn es den Glauben an eine Improvisation, an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung erregt (··.)", weshalb „die Wissenschaft der Kunst (...) dieser Illusion, wie es sich von selbst versteht, auf das Bestimmteste zu widersprechen und die Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellects aufzuzeigen (hat), vermöge welcher er dem Künstler in das Netz läuft."20 Der Kunsthistoriker als .Zeitgenosse', der mit Künstler und Werk synchron läuft, sich den Kriterienkatalog der Geschichte der Kunst aus dem Kopf schlagt, um auf keinen Fall in die wissenschaftspolitisch inkorrekte Falle der Historisierung zu tappen, verfängt sich im Netz einer wundergleichen Illusion, wenn er auf Kriterien überhaupt, vor allem aber ästhetische, die der Erfahrung und Deutung des Kunstwerks gelten, verzichtet.21 Wenn es auch keine Kunst-Geschichte der Gegenwart geben kann, eine ,K«»j'/-Geschichte gibt es in jedem Fall dann, wenn und insofern Kunstwerke bzw. -phänomene als Objekte begriffen werden, die „nur unter den Begriffen einer Vergleichbarkeit ästhetischer Eigenschaften" (Klotz) erklärbar sind. Vergleichbarkeit ästhetischer Eigenschaften aber ist nicht durch historische Amnesie, sondern allein auf der Grundlage dauernder Anamnese der Kriterien ästhetischen Urteils möglich. Ohne jegliche Kriterien kann auch ästhetische Vergleichbarkeit nicht funktionieren.

*

Die neuerliche Lektüre einer bestrickenden, Kant fortschreibenden Formulierung Jean-François Lyotards aus seinem 1982 deutsch erschienenen Aufsatz Beantwortung der Frage: was ist postmodern vermag dem Nachdenken über eine Kunstgeschichte der Gegenwart eine interessante Pointe geben: „Ein Werk ist nur modern, wenn es zuvor postmodern war. So gesehen bedeutet der Postmodernismus nicht das Ende des Modernismus, sondern den Zustand von dessen Geburt, und dieser Zustand ist konstant." Und deshalb soll gelten: „Ein postmoderner Schriftsteller oder Künstler ist in derselben Situation wie ein Philosoph: der Text, den er schreibt, das Werk, das er fugt, sind grundsätzlich nicht durch schon feststehende Regeln geleitet und können nicht nach Maßgabe eines bestimmenden Urteils beurteilt werden, dadurch, dass auf einen Text oder ein Werk nur bekannte Kategorien angewandt würden. Diese Regeln und Kategorien sind vielmehr, was der Text oder das Werk suchen. Künstler und Schriftsteller arbeiten also ohne Regel; sie arbeiten, um die Regel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird. Daher rührt, dass Werk und Text den Charakter 20

Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I und II (Bd. 2 der KSA, München (2) 1988), Viertes

Hauptstück. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller, Nr. 145, S. 141. 21

Er huldigt damit nur mehr dem Fetisch der Innovation, wie Donald Kuspit klarstellt: „Der berühmte Bruch der

Moderne mit der Tradition' hat, so Rosenberg, buchstäblich seine .eigene Tradition' geschaffen. Geboten wird nurmehr die rituelle Perpetuierung dieses Bruchs in der flüchtigen Form der bloßen Neuigkeit, in der Phantomgestalt oberflächlicher Kontrasteffekte. Jene seltsam substanzlose Qualität der Neuigkeit, die nichts weiter ist als die bloße Sensation des Neuen, gewinnt nun selbst an Substanz. Es ist die Substanz einer Massenware, eines Fetischs der Innovation." (Dialektik der Dekadenz. Die Last der Geschichte in der zeitgenössischen Kunst, Ostfildern vor Stuttgart 1997, S. 15)

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eines Ereignisses haben. Daher rührt auch, dass sie für ihren Autor immer zu spät kommen, oder, was auf dasselbe fuhrt, dass die Arbeit an ihnen immer zu früh beginnt. Postmodern wäre als das Paradox der Vorzukunft zu denken." 22 Das meiste entspricht nicht nur Erfahrungen, die sich mit der Postmoderne, sondern, was die Regel- bzw. vorgängige Kriterienlosigkeit anlangt, ebenso mühelos mit ,der' Moderne in toto in Beziehung setzen lassen; wenn man es im ungefähren belässt, sogar mit allen Künstlern, die sich nicht in ein akademisches oder sonstiges Regelsystem einpassen lassen, und das wären nicht wenige. Was aber sagt das futurum perfectum, das die Apperzeption des Satzes ein wenig kompliziert macht, aber zweifellos der Angelpunkt der Argumentation ist? Doch wohl nichts anderes, als dass Gegenwart prozessual gedacht werden muss, dass nicht zuerst Regeln und dann Werke oder zuerst Werke und dann Regeln erarbeitet werden. Werk und Regel sind gar nicht zu trennen, Werke setzen die Regel ins Werk und Regeln prozessieren Werke: „Daher rührt, dass Werk und Text den Charakter eines Ereignisses haben", wie Lyotard formuliert und daraus folgt, dass es keine gleichzeitige Position, sozusagen von außen oder von oben oder von sonstwo geben kann, die es erlauben würde, ein Urteil, gar ein kritisches oder historisches zu fällen. Einzig eine Gegenwart, die punktuell und statisch, im Moment des Entstehens schon vollendet und abgeschlossen wäre, würde logisch und historisch einen Beobachterstandpunkt legitimieren, der ein kunst/¿rtorisches Urteil möglich machte. Ein intuitives oder ästhetisches Urteil dagegen ist keineswegs ausgeschlossen. Das kunsthistorische bleibt historisch, d.h. nachträglich. Wann es möglich ist, ist zwar nicht arbiträr, aber auch nicht in Jahreszahlen anzugeben. Wenn es für eine Kunstgeschichte (der Gegenwart) einen Ausweg aus dem Dilemma gibt, dann indem sie den Anteil an Aktualem und den Bereich des ,nur' ästhetisch Zugänglichen genauer als bisher definiert, indem sie nicht historische Kriterien vergisst, sondern sie im Sinne des kennerschaftlich-ästhetischen Urteils erarbeitet; will sie nicht dezisionistisch verfahren, kann sie auf Kriterien jedenfalls nicht verzichten. Akzeptiert man diese Analyse oder vielleicht auch nur Spekulation für den Moment, dann ergeben sich daraus allerdings Konsequenzen, denen man durchaus auch tröstliche Aspekte abgewinnen kann. Erstens nämlich fuhrt eine solche Situation zu dem Schluss, dass wir vorläufig — zumindest in der historischen Moderne — nicht eindeutig zwischen ästhetischen Objekten und Kunstwerken unterscheiden können bzw. dass die Grenze je neu verhandelt werden muss. 23 Darüber muss man nicht lamentieren. Wieso sollten wir über das (je) aktuelle ,anything can be art' unglücklich sein, wenn die dadurch bedingte Entgrenzung im selben Atemzug (d.h. seit etwa hundert Jahren) eine schier unendliche Zahl von Objekten in unser Blickfeld rückt und unsere Aufmerksamkeit fesselt, die vorher zwar nicht als Kunstwerke, sondern als Volkskunst, Fetisch o.ä. gegolten haben, die aber einen Gestaltungsgrad aufweisen, der sie weit über Jean-François Lyotard, Beantwortung der Frage: was ist postmodern, in: Tumult, Nr. 4 (1982), S. 131-142, Zitat S. 142. 23 Vgl. zur Differenzierung von Kunstwerk und ästhetischem Objekt u.a. Wilhelm Weidlé, Arthur C. Danto, Heinrich Klotz. 22

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bloße, semantisch unterkomplexe Objekte24 heraushebt und sie nicht aufgehen sieht in bloß magisch-religiöser Funktion. Vielleicht wird sogar so erst (wieder) deutlich, mit welch außergewöhnlicher Form künstlerischer Produktion wir es in drei oder vier Jahrtausenden abendländisch-mittelmeerischer Kunst zu tun gehabt haben. Verändert diese Entgrenzung unseres Begriffs der Gegenwart nicht auch den Blick auf die Vergangenheit, entwertet und ästhetisiert sie nicht die Lebendigkeit, Unmittelbarkeit, Wahrheit der religiösen Bilder und Skulpturen, der magischen und sakralen Objekte? Das tut sie ganz gewiss und zudem schon eine längere Zeit als es eine traditionsverneinende Moderne gibt. Es ist zwar optisch nicht zu beweisen, aber als Erfahrungstatsache plausibel zu machen, dass sich nur aus der Weitsicht die Formen oder gar Formgesetze klarer sehen lassen, weil die Stoffe — die Götter, die Heiligen und ihre Martyrien - sich wiederholen und längst jene Macht verloren haben, die sie im ,Ursprung' auf den frommen Menschen ausübten. Das hegelianische „Es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr", ist daher nicht bloß das Eingeständnis des Verlusts der Unmittelbarkeit und der Beginn eines reflexiven und daher abgeleiteten, vermeintlich unwahren Verhältnisses zur Kunst, es ist auch ein aufgeklärtes, reicheres, in dem die magische oder religiöse Funktion des Objekts zwar nicht mehr in geglaubter, aber immer noch in gestalteter Weise anwesend ist, historisch erinnert werden und ästhetisch erfahren werden kann, ohne dass wir uns vor einem wirklichen Zauber in Acht nehmen müssen. Wobei im übrigen nichts fragwürdiger, weil historisch eindimensionaler ist als die Universalisierung des Hegeischen Arguments, dass in der Antike angebetet worden sei, was wir musealisiert und damit seiner Lebendigkeit und Wahrheit beraubt hätten.25 Es genügt, an den berühmten Prozess Ciceros gegen Verres zu erinnern, in dem letzterer u.a. deshalb angeklagt wird, weil er aus höchst profanen und ästhetischen Gründen Götterstatuen gesammelt und in seinem Privathaus aufgestellt habe. Dass Verres den Prozess verloren hat, beweist weniger als die Tatsache, dass er überhaupt wegen eines solchen ,modernen' Verbrechens verklagt werden konnte. Wir erleiden nachhegelianisch daher keinen unersetzlichen Verlust an existentieller Bedeutung der Kunst - kein „nicht mehr" —, sondern erleben vielmehr sogar eine Kumulation an Bedeutung, weil und wenn wir diese Kunstobjekte nicht als bloße formale Experimente oder Ornamente taxieren. Allerdings ist das, wie es scheint, nur für das je einzelne Kunstwerk der Vergangenheit zutreffend. Für die alten Medien — Malerei, Plastik, Ornament — scheint das im Moment nicht (mehr) zu gelten. Was aufs Ganze gesehen kein Schaden ist, ist doch etwa mit dem Film gerade zu der Zeit, als sich die alten Medien autonom setzten und damit ihre Marginalisierung betrieben, ein Medium entstanden und etabliert worden, in dem sich nicht nur die verlorenen Stoffe der alten Kunst,

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Michael Fried, Art and Objecthood (1967), dt. Kunst und Objekthaftigkeit in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden 1995, S. 334-374. 25 Nietzsches Argument in Menschliches Allzumenschliches, das mehr darauf abzielt, dass wir die vormalige psychische Energie, die wir auf die Religion verwendet haben, nun auf die Kunst verlegen.

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sondern auch die affektiven Präsentationsweisen anderer Künste in vorher nie gekannter Art vereinen. Vielleicht kann historisches Wissen nicht verhindern, dass aus der — im übrigen im musée imaginaire Malraux' längst versammelten — Weltkunst ein kulinarisches Touristenmenu wird, das im Zuge der Globalisierung den Stein des Anstoßes eines clash of cultures abgibt. Historisches Wissen kann der ästhetischen Faszination den Respekt vor Inhalten hinzufügen, die für den Gläubigen nom de guerre sind, für uns dagegen historische, aber nicht völlig untergegangene und verwehte Werte, die wir anschauend erinnern und noch immer staunend genießen. Historisches Wissen kann jedoch keinen emphatischen, irrationalen, kennerschaftlichen Zugang ersetzen, der die ästhetische Erfahrung der Gegenwart ausmacht.

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bild der kunstkritik als Schwimmerin

sebastian egenhofer Einen Begriff von Kunst und Kunstwerk zu besitzen, gilt als Tod oder Sterilisierung der Kritik. Der Begriff reduziert die Erfahrung des Singulären und Neuen - die tastende Bewegung der reflektierenden Urteilskraft - zur Arbeit der Klassifikation. Wenn ich dennoch einen Kunst- und Werkbegriff zu formulieren versuche, der den Ort der Kritik angibt, dann eingedenk dieser Gefahr. Dieser Begriff trägt daher die Züge einer regulativen Idee. Er umreißt und rastert kein geschlossenes Feld, er gibt die Vektoren an, die es aufspannen, in dem sie es entgrenzen. Er schreibt keine Ableitungen und Unterteilungen vor (die Kunst/die Künste/das Werk), sondern zeichnet die Topik einer einfachen Unterscheidung, im Verhältnis zu der sich das Kunstwerk wie das menschliche Subjekt situieren. Dieser Begriff oder diese Idee im kantischen Sinn lässt sich in dem einen Postulat formulieren: Kunst expliziert im Endlichen dessen Beziehung aufs Unendliche. Sie markiert das Ungenügen des Endlichen mit sich selbst und unterbricht dessen selbstapologetischen Monolog. Kunst geschieht als die Krise des Endlichen, der konstituierten Objektivität oder der Welt, in der dieses an das Unendliche grenzt, von dem es getragen wird. Kunsterfahrung ist in das Geschehen dieser Krise versetzt. Kunstkritik ist ihre sprachliche Artikulation. Statt die singulare Begegnung mit Kunst einem allgemeinen Begriff zu subsumieren, zeichnet diese regulative Idee die Nicht-Systematisierbarkeit und Unabschließbarkeit der Werkerfahrung und ihrer Versprachlichung vor. Sie versetzt das Kunstwerk an die Schwelle zu dem, was der Verbegrifflichung, was der Vergegenständlichung und Aneignung durch ein Subjekt des Wissens widersteht. Die Dimension dieses Widerstands das Un-endliche zu nennen, verpflichte Kunst nicht auf Transzendenz. Es ist damit im Gegenteil die primordiale Dimension einer präphänomalen .Materialität' angezeigt, die in den Sprachspielen der modernen Philosophie und Kunst verschiedene Namen trägt: das Chaos oder das Außen, das Universale oder die Ungegenständlichkeit, die noumenale Differenz oder das Nicht-Identische. Ihre Konkretion nimmt diese Dimension in Relation zu der komplementären Bestimmung der Endlichkeit an. Mit dieser minimalen Opposition sind daher keinerlei formale oder inhaltliche Normierungen von Kunst vorgegeben. Ich möchte einige Grundzüge dieser Topik skizzieren und die Funktion und Stellung von Kunstkritik und Kunstgeschichte in ihrem Rahmen verdeutlichen.

kunstgeschichte und kunstkritik In der Annäherung an die Kunst ihrer eigenen Zeit wird Kunstgeschichte notwendig zu Kunstkritik. Sie kann ihren Gegenstand nicht mehr aus der historischen Distanz erblicken. Der Zeithorizont der Rezeption und der Welthorizont des Werks fallen zusammen oder überlagern sich. An die Stelle der schwierigen Aufgabe der Rekonstruktion einer vergangenen Welt, in der ein Kunstwerk materiell lokalisiert und als Sinngeschehen eingelassen war, tritt die manchmal schwierigere, den eigenen, mit dem Werk geteilten Gegenwartshorizont als solchen zu sehen. Wenn Welt das Ensemble der unhinterfragten Selbstverständlichkeiten bezeichnet, in deren Licht einer Gesellschaft die Tatsachen und Fakten der Realität erscheinen, hat Kunstkritik ein Herausrücken aus diesem Horizont zur Voraussetzung, das in ihrem Gegenstand, dem Kunstwerk, angelegt ist. Kunstwerke sind keine umgrenzbaren Gegenstände in der Welt und sie sind auch nicht ausreichend bestimmt als innerweltliche Objekte, die zusätzlich als ,Sinnträger' fungieren. Zur Struktur des Kunstwerks gehört, dass es einen Welthorizont aufspannt oder expliziert. Um Stabilität und autonome Lesbarkeit zu gewinnen, muss dieser Horizont querstehen zu dem der schon gegebenen Welt. Die Ebene der geteilten Selbstverständlichkeit des Sinns zu verlassen, gehört daher zur Struktur von Kunst. Es gibt keine Kunst ohne die kritische Überschreitung dessen, was, wie Adorno sagt, „bloß ist".1 Kunst, die diesen Uberstieg nicht vollzieht, die in ihrer Formungsarbeit allein auf schon Seiendes und dessen Umgestaltung bezogen bleibt, wird zur Innenausstattung, zum Dekor oder Design, sei es, wie heute so oft, Kommunikationsdesign. In dieser Funktion nimmt sie Teil am Ablauf der Welt, den sie in homöopathischem Maß mit Reibung und .Irritationen' versorgt, die als Erlebnisrohstoff höher im Preis stehen, als alles, was nur funktioniert. Den Rückhalt, den Weidauf zu unterbrechen, die Kraft der Befremdung und der Zäsur hat sie verloren. Zu dieser Unterbrechung setzt Kunst sich durch die Überschreitung des ihr historisch vorgegebenen Welthorizonts, durch die Krise ihrer Gegenwart in Stand. Diese Krise entgrenzt den Gegenwartshorizont auf das Inkommensurable. Die Positionierung des Rezipienten in Bezug auf die Kunst seiner eigenen Gegenwart schließt daher den Verlust eines als sicher geglaubten Standpunkts ein. Im Vollzug der Kritik, die nichts anderes ist als die Explikation der Erfahrung von Kunst, steht der/die Kritiker/in mit auf dem Spiel. Kritik nimmt Stellung in Bezug auf ihren Gegenstand, gerade sofern sie diesen nicht von sich distanzieren und als (historisches) Objekt stillstellen kann. Da das Kunstwerk kein Gegenstand unter anderen ist, kein Objekt in der Welt, sondern sich selbst zur Welt verhält oder sein Weltverhältnis artikuliert, verschränken sich in der Rezeption das Geschehen dieser Artikulation, das ich das Werkgeschehen nenne, und der Weltbezug des Rezipienten. Die Gegenüberstellung von Werk-Objekt und Betrachter-Subjekt wird zur Durchdringung und Interferenz zweier Welt-

1 Siehe etwa Theodor W. Adomo, Negative Dialektik, in: Ders., Gesammelte Schriften 6, Frankfurt a. M„ 51996, S. 202.

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horizonte. Kritik zieht die Linien dieser Durchdringung nach und artikuliert die Momente dieser Interferenz. Dies sind die Umrisslinien des Werks, wie sie sich für einen selbst gegenwartsgebundenen Blick abzeichnen. Die Kritik kann nicht beanspruchen, die einzigen oder die objektiv maßgeblichen Linien zu ziehen, da ihre methodisch auf keine Weise zu sichernde Stellung zum Werk diese Linien in actu mitkonstituiert. Ihre Aufgabe — die ihre Verantwortlichkeit ausmacht — ist es allein, die Linien so weit wie möglich auszuziehen, bis dahin, wo sie den Rand des eigenen Selbst- und Weltverständnisses berühren und so dessen Explikation ebenso erlauben, wie die des Welthorizonts des Werks. kunstkritik und ästhetische erfahrung Kritik erfährt so einen Grundzug von Kunst, den diese mit dem Schönen, wie es seit Kant als Gegenstand oder Anlass ästhetischer Erfahrung beschrieben wurde, teilt. Das Schöne lässt die Versuche der begrifflichen Bestimmung vielleicht nicht ,ins Leere laufen', aber schneidet ihnen die Spitze der gelingenden Synthesis ab. Es schreibt sich ein ins Netzwerk der Sinnbezüge der Welt, aber es bildet nicht den Knoten eines innerweltlichen Zwecks. Die Erfahrung des Schönen findet in der Gestalt und im sinnlichen Widerstand dieses Objekts daher nur den Anlass, den Katalysator einer Stimmung oder Proportion der Gemütskräfte „zu einem Erkenntnisse überhaupt". 2 Das Zusammenspiel von Einbildungkraft und Verstand wird angesichts des schönen Gegenstands so über den Moment und das Zentrum der Wahrnehmung hinausgetragen und in eine expansive, welterschließende Bewegung versetzt. Diese Erschließungsfunktion kehrt weder zum Gegenstand noch zum Subjekt als prädikative Erkenntnis zurück. Sie bleibt Spiel in jenem Zwischenraum von Subjekt und Objekt, der die Dimension von dessen Erscheinen ist — oder die Welt. Kriterien der ästhetischen Urteilsbildung lassen sich daher nicht als Eigenschaften des Objekts, von dem wir sagen, es sei schön, begrifflich exponieren. Die ästhetische Erfahrung unterläuft den Horizont begrifflicher Subsumption, da ihr Gegenstand die Erfahrung ausschwingen lässt auf das selbst ungegenständliche Element der Gegenwart (oder des Erscheinens) der Gegenstände, das jede mögliche Synthesis, jede auf ein Objekt zurückkommende Prädikation und Begrifflichkeit trägt. Das Schöne wird zum Spiegel des Sinnzusammenhangs der Welt, wie sie für das menschliche Subjekt sich erschließt. Es zeigt an, „dass der Mensch in die Welt passe" 3 — allerdings, wie das kantische Denken im Ganzen zeigt, nicht passgenau. Denn die Welt ist nichts Seiendes, sondern der Spielraum des Erscheinens, der den Menschen von den Dingen trennt. So ist in der ästhetischen Erfahrung des Schönen die singuläre Begegnung mit dem einzelnen Gegenstand zum Bezug des Subjekts auf den nicht seienden Spielraum seiner Welt entgrenzt. In analoger Weise öffnet sich die Erfahrung

2

Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Hamburg 7 1990, S. 56; siehe auch S. 80.

3

Immanuel Kant, Reflexionen zur Logik, Akademieausgabe Bd, 16, Berlin 1902, S. 127 (Nr. 1820a).

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von Kunst auf den selbst ungegenständlichen Horizont, in den das Werk als sinnlicher Gegenstand und Sinnträger eingelassen ist, aber der sich nicht an es riickbinden lässt, da er das Element der Prädikation oder Synthesis und keine ,Eigenschaft' des Gegenstands ist. Die regulative Idee, die das Werkgeschehen als Krise seiner endlichen Anschaulichkeit entwirft, zielt jedoch noch über dieses ungegenständliche Feld der Welt und des Spiels der Gemütskräfte hinaus. Sie zielt auf die Verfasstheit und die Konstitution des Spielfeldes selbst, des Abstände der Welt von den Dingen, die dem Subjekt im Spielraum ihrer Leere erscheinen. Was diesen leeren Ab-stand konstituiert, ist die scheiternde Synthese von Endlichem und Unendlichem, die in der kantischen Ästhetik den Namen des Erhabenen trägt. Die Krise, in der das Kunstwerk das Element seiner Anschaulichkeit überschreitet, ist daher nicht mehr in der Orientierung am Schönen und der Vorzeichnung einer gewaltlosen Harmonisierung gegenständlich-formaler wie intersubjektiver Differenzen zu denken, wie es von Friedrich Schiller bis Jacques Rancière angelegt war. Ihr Modell ist die unmögliche Beziehung des Felds der Differenzen mitsamt ihres Spiels auf das präsynthetische, formlose Unendliche, das Außen oder die noumenale Differenz. Der Umriss des Kunstwerks ist mit dem Aufriss des Felds seiner anschaulichen Gegenwart verschränkt. Worauf die Krise des Werkgeschehens die unmittelbare Gegenwart des Kunstwerks entgrenzt, ist daher keiner Vergegenwärtigung zugänglich. Die Überschreitung seines Gegenwartshorizontes durch das Werk ist als Bruch auch mit seiner eigenen Anschaulichkeit zu denken, des Elements der Bildgebung und der Synthesis selbst. Diese Überschreitung, die Herausrückung des Werks aus der ihm vorgegebenen Welt ist daher horizontlos und blind. Die Unmöglichkeit, Kriterien des ästhetischen Urteils begrifflich zu exponieren, wird daher auch nicht durch eine inhaltlich motivierte Abstützung aufgefangen — wie im Kantischen Kunstschönen, das an das „Ideal" der menschlichen Gestalt gebunden zum „Symbol der Sittlichkeit wird".4 Es ist dies wohl ein Charakteristikum, das unser ,post-modemes' Heute von der Tradition der Aufklärung und der Moderne trennt. Walter Benjamin konnte noch darauf setzen, dass die „Qualität" und die „Tendenz", die avancierte ästhetische Praxis und der emanzipatorische politische Antrieb und Effekt von Kunst zusammenfallen.5 Im Rahmen einer marxistischen Topik, die das Missverhältnis von Produktionsmitteln und Produktionsverhältnissen explizierte, konnte die Welt, wie sie ist, als kritisierende und ψ verändernde gezeigt und die „Technik" (das ästhetische Verfahren) des Kunstwerks in den eschato-teleologischen Prospekt eingespannt werden. Dieser Modus einer zugleich formal und inhaltlich orientierten Überschreitung des Gegebenen ist heute kaum mehr einsichtig zu machen. Die Selbstunterscheidung des Kunstwerks von dem, was schon ist, muss ohne die Orientierung am Bild einer voll emanzipierten Welt und Gesellschaft auskommen. 4 5

Siehe Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, bes. §§ 17 und 59. Siehe exemplarisch Walter Benjamin, Der Autor als Produzent, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. N.2., hg.

v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 21989, S. 683-701.

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Dennoch können die Begriffe von Emanzipation, Freiheit und Glück nicht preisgegeben werden. Sonst reduziert sich, wie so oft, die kritische Funktion, die man von Kunst gegenwärtig dennoch fast einstimmig erwartet, auf die journalistische Beleuchtung partikularer Missstände oder erschöpft sich in jenen poetisch-ephemeren ,Irritationen', durch die Kunst ihr Anderssein gegenüber den sonstigen Waren der Unterhaltungsbranche markiert. Zwar hat der Emanzipationsbegriff sich, wohl unumkehrbar, von programmatischen Doktrinen emanzipiert. Zwar ist ein universelles Subjekt der Geschichte nicht mehr zu identifizieren, wie es für die Aufklärung und die marxistisch orientierte Moderne der Fall war, und die Freiheitsidee findet nicht mehr den Rahmen einer bildfähigen Utopie. Die Verbindung dieser regulativen Ideen der Geschichte mit der Praxis der Kunst und eben mit der Selbstunterscheidung des Kunstwerks von seiner Welt bleibt aber essentiell. Kunst, die am Anderswerden der Welt teilhat, indem sie ihren Gegenwartshorizont auf das Außen, auf das Chaos oder die NichtWelt überschreitet, zeichnet dem Subjekt kein Bild und keine Maxime richtigen Handelns vor — sie macht in dieser Öffnung auf das Unkontrollierbare ein Glück und eine Freiheit erfahrbar, die nicht unter Bedingungen der Zukunft versprochen, sondern als Bedingung der Veränderung des Heute gegeben sind.

historizität der gegenwart, gegenwart der geschichte

In der Annäherung an die Kunst ihrer Gegenwart wird Kunstgeschichte zur Kunstkritik. In einem mit dem Werk geteilten Welthorizont zieht sie die Linien nach, die die Form des Werks auf die Nicht-Welt verlängern. Sie hat teil an der Krise des Werkgeschehens, indem sie das Element ihrer eigenen Selbstverständlichkeiten, ihrer „Vorurteile", wie Gadamer sagt,6 jener Erschütterung aussetzt, die die Konsistenz, die Historizität dieses Elements als solche erfahrbar macht. „Wir sind völlig im Teig", sagt Duchamp einmal, „und wir sehen nichts um uns herum. Immer erst fünfzig Jahre später nehmen die Dinge Gestalt an."7 Kunstkritik riskiert und muss riskieren, in diesem Teig, der das Element ihres Sehens und ihrer Blindheit ist, die ersten Linien zu ziehen, die eine zukünftige Sichtbarkeit konstituieren. Auch die Arbeit des Historikers findet aber in der Gegenwart statt. Sie gewinnt ihre Orientierung und Notwendigkeit im Horizont ihrer eigenen Zeit. Der Abstand zum Objekt der Forschung ermöglicht dabei ebenso die Objektivierung des ungegenständlichen Sinnzusammenhangs einer vergangenen Welt, wie sie zur Selbstbefremdung, zur Bewusstmachung der Kontingenz und strukturalen Veränderbarkeit der eigenen Welt beiträgt. Das ist der emanzipatorische Effekt historischer Arbeit, der jene Krise des eigenen Weltbezugs zusätzlich profiliert, die die Erfahrung von Gegenwartskunst auslösen kann. Die mögliche und, wie man weiß, schwer zu sichernde Objektivität, die die historische Forschung dieser eigentümlichen Distanz verdankt, die das Alter der ja

6 7

Hans-Georg Gadamer, Wahrtieit und Methode, Tübingen 1990, S. 270ff. Marcel Duchamp, Interviews und Statements, übers, u. hg. v. Serge Stauffer, Stuttgart 1992, S. 235,

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dennoch im Hier und Jetzt gegebenen Werke oder sie bezeugenden Reste ist, ist der Kritik im Ansatz verwehrt. Ihr im Entstehen begriffener Gegenstand bedarf der Aktivität des Blicks zu seiner vollen Konstitution. Dabei denke ich weniger an die Koautorschaft der Rezipienten oder der „Anschauer", die, wie wiederum Duchamp sagt, „die Bilder machen".8 Diese Abhängigkeit betrifft auch die Kunst der Vergangenheit. Es ist immer die Gegenwart, in der das schon entstandene Kunstwerk zur Erscheinung oder zum Bild wird und in einen Sinnzusammenhang einrückt. Für die in der Nähe unserer Gegenwart entstandene, noch neue Kunst kommt als Konstitutionsleistung der Rezeption aber die banalere und unbeliebte Aufgabe ihrer Unterscheidung von der Nicht-Kunst hinzu. In der Unmenge dessen, was heute als Kunst produziert, ausgestellt und gehandelt wird, gilt es zu markieren, was ,hält', was weiterträgt, was den Namen Kunst oder Werk verdient. Natürlich kann sich die Kunstgeschichte aus dem Geschäft dieser Unterscheidung heraushalten und warten, bis sich der Nebel gelichtet hat und eine historische Situation in der Retrospektive Kontur gewinnt. Es ist aber sicher, dass diese Konturierung, die Zerteilung des Nebels oder des Teigs der aktuellen Vorurteile, die das Element unserer Blindheit und unseres Sehens sind, nicht von allein geschieht. Der Kunstmarkt, die Museen, die Kritiker und vor allem die jeweils folgenden Künsder, die sich auf bestimmte Werke und Positionen beziehen und sie dadurch neu belichten und in der Sichtbarkeit halten, werden an der Herausbildung der künftigen Lesbarkeit des Heute mitgewirkt haben. Das Element des retrospektiven Blicks — jene Transparenz, in der sich einige wenige Werke zur kanonischen Überlieferung verketten - ist das Produkt einer doppelten Arbeit des Vergessens und der Selektion, die den Schutt des Archivs vom Narrativ der Geschichte trennt — und durch die Trennung allererst als solche konstituiert. Diese Arbeit Anderen zu überlassen, trägt nicht zur Neutralität jenes Mediums, des Zeitenabstands bei, durch den oder in dem der Historiker das Bild einer Vergangenheit erblickt. Kunstkritik hat insofern an der Produktion des Elements teil, in dem die kunsthistorische Forschung sich bewegt. Die Linien, die die Kritik am Kunstwerk nachzieht und in den mit ihm (noch) geteilten Welthorizont verlängert, tragen zu dem gebrochenen Bild bei, das das Werk aus zeitlicher Distanz abgeben wird. Bei dieser Produktion ihres eigenen Elements, der strukturierten Transparenz des Zeitenabstands, den jede historische Erzählung durchläuft und voraussetzt, mitzumischen, kann eine Aufgabe von Kunstgeschichte sein, die Aufgabe einer Kunstgeschichte, die nicht für .Kontinuität' oder für die Aufrechterhaltung tradierter ,Werte' plädiert, sondern die die Selbstentfremdung, die zur historischen Erfahrung gehört, in den Gegenwartshorizont zurückschlagen lässt. Der Vollzug des ,krinein', die Beteiligung an der Produktion nicht der historischen Gegenstände, aber ihrer zukünftigen Sichtbarkeit trägt gegenläufig zur Schärfung des methodischen Bewusstseins der Historie bei. Denn auch angesichts des ganzen Spektrums der Mittel historisch-kritischer Absicherung und 8

Ebd., S. 52 (Anschauer [franz. regardeurs] i. Orig. in Großbuchstaben).

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Ausweisung historischer Rekonstruktionen — jede historische Frage bleibt schon als Frage (mehr als die mögliche Antwort) an die Zeit, in der sie gestellt wird, gebunden. In diese Zeit, die Gegenwart in ihrer eigenen trügerischen Transparenz, ist Kritik per sei eingelassen. Ohne die Erfahrung der Konsistenz ihrer Gegenwart kommt Kritik nicht aus. Ebensowenig aber ohne eine minimale Abrückung von ihr, die zum Schwimmende»»?« gehört. Die Kritik kennt das Element, in dem sie sich bewegt. Sie zieht Linien auf der Oberfläche dieses Bads der Zeit, in dessen imaginärer Tiefe der Historiker seine versunkenen Objekte sucht und an chronologischen Skalen verorten will — Vergangenheiten, deren Reste im Wasser derselben, der einen und einzigen Gegenwart treiben, die jeweils die unsere ist.

kritik und an-archie Von Kritik wird zu Recht keine Objektivität und keine Gewissheit ihrer Urteile erwartet. Wenn sie die Linien der Überschneidung und Interferenz zwischen dem Welthorizont des Werks und des Subjekts nachzieht, kann sie dies nicht im Stil von Prädikationen tun, die auf das Werk als innerweltlichen Gegenstand verweisen. Deskriptive Genauigkeit, Fixierung von Bedeutungsmomenten, historische Ableitungen — das Wissen und das methodische Instrumentarium, die ihre Professionalität ausmachen, sollten natürlich so weit getrieben werden wie möglich. Sie können aber die Arbeit der Kritik nicht ersetzen, wenn diese erst dort, wo sie den Rand ihres eigenen Selbstverständnisses berührt, eigentlich produktiv wird. Bis zu dem Moment, wo man nicht weiter weiß, ist die Auseinandersetzung mit Gegenwartskunst (und mit Kunst überhaupt) bloß eine Arbeit der Klassifikation. In ihr ist die Dimension des Werkgeschehen nicht erreicht, was am Versagen der Kritik liegen kann oder daran, dass es sich nicht um ein Kunstwerk handelt. Die Produktion des Neuen, die Produktion von Welt, kann nur am Rand zur Nicht-Welt stattfinden. Geschichte ereignet sich am Rand der Gegenwart. Sie erscheint nur retrospektiv als die narrative Verkettung der Bilder innerhalb eines Gegenwartshorizonts. Kunstgeschichte — die historische Forschung — bleibt dort notwendig und trägt zum Weiterleben ihrer Gegenstände bei, wo die Rekonstruktion einer vergangenen Welt ins Element der Vergegenwärtigung selbst zurückschlägt und sich bis an die Grenze zur Zukunft verlängert. Nur wo die narrative Kontinuität der Historie sich der Möglichkeit des Bruchs, die das Heute ist, aussetzt, trägt sie zur Transformation der Gegenwart bei und hat damit selbst Teil an der Produktion von Geschichte. Kritik findet in der Aktualität dieses Bruchs zwischen Vergangenheit und Zukunft ihr Element. Alle ihre Bestimmungen, alle ihre Kriterien laufen auf diese Linie einer möglichen Diskontinuität zu, die der Horizont der Gegenwart ist. Deren Transparenz auf die Dimension der historischen Überlieferung hilft nur bis dahin, wo der Blick aus dem Wasser taucht, und nach Zeichen der Zukunft sucht, deren Reflexe unscharf und flüchtig bleiben. Die Abrückung von der eigenen Gegenwart, die Selbstunterscheidung von Werk und Kritik gegenüber dem Heute, 65

dem sie angehören, muss daher ohne das Gebälk einer Utopie, ohne rettende Arche auskommen, die eine Vergangenheit mit der Zukunft zur Sinngeschichte verbindet. Das Risiko des Sinnverlusts ist jeweils vollständig. Ihm sich auszusetzen gehört zur irreduziblen Aufgabe von Kritik — wie zuvor und vor allem zur künsderischen Produktion.

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geschichtlichkeit der form formen der geschichtlichkeit Siegfried giedion und die Zeitgenossenschaft der architekturgeschichte1

hans-rudolf meier Als (Kunst-)Historiker diskutiert man auch die Zeitgenossenschaft der Architekturgeschichte sowie die Frage nach ihrer Bedeutung für das aktuelle Schaffen und die Ausbildung von Architekten zunächst einmal mit einem Blick zurück in die Geschichte. Klare Antworten findet man in der Frühzeit des Faches, und das heißt der Frühzeit sowohl der wissenschaftlichen Sicht auf die Geschichte der Architektur als auch der Frühzeit der modernen polytechnischen Architektenausbildung. 2 Carl Alexander Heideloff (1789-1865) etwa, seit 1822 Professor an der von ihm mitbegründeten polytechnischen Schule in Nürnberg, erläutert diese Frage einleitend in seinem 1837 „zum Handgebrauch für Architekten und technische Lehranstalten" publizierten „Taschenbuch des byzantinischen Baustyles", das sich jener Baukunst widmete, die man in den bis heute gebräuchlichen epochedefinierenden Stilbegriffen als „romanische" bezeichnet (Abb. I). 3 In Deutschland begann sich der aus dem Französischen übernommene Neologismus „Romanik" ab 1823 eher zögerlich auszubreiten; dass Heideloff ihn noch nicht verwendet, sondern für sein Lehrbüchlein am älteren (und offenbar noch nicht als objektiv falsch erkannten) Begriff „byzantinisch" festhält, bezeugt einen Rest der damaligen Unsicherheit in der für uns heute so selbstverständlichen geschichtlichen Zuweisung architektonischer Formen.

1 Die folgenden Ausführungen basieren auf einem Vortrag an der Fakultät Architektur der Universität Stuttgart, der zur Frage nach der Bedeutung der Architekturgeschichte in Lehre und Forschung Stellung nehmen zu nehmen hatte. Zur Publikation in neuem Kontext wurde er diesem sanft angepasst; Verena Krieger sei für die Aufnahme in diese Publikation, Marco Rossi für Literaturhinweise herzlich gedankt. 2 Dazu generell: Ulrich Pfammatter, Die Erfindung des modernen Architekten. Ursprung und Entwicklung seiner wissenschaftlich-industriellen Ausbildung, Basel/Boston/Berlin 1997; Klaus Jan Philipp, Gänsemarsch der Stile. Skizzen zur Geschichte der Architekturgeschichtsschreibung, Stuttgart 1998. 3 Carl Alexander Meideloff, Der kleine Byzantiner. Taschenbuch des byzantinischen Baustyles. Zum Handgebrauch für Architekten und technische Lehranstalten, Nürnberg 1837. Zu den Begriffen: Henrik Karge, Zwischen Naturwissenschaft und Kulturgeschichte. Die Entfaltung des Systems der Epochenstile im 19. Jahrhundert, in: Bruno Klein/Bruno Börner (Hg.), Stilfragen zur Kunst des Mittelalters. Eine Einführung, Berlin 2006, S. 39-60.

Der

kleine Byzantiner. €öfcl)ettbttd) d«β

byzantinischen Baustiles. ZUM HANDGEBRADCH rat Architekten und technische Lehrenetalten

it'BSBEBG , Verit$ von Riedel und WÌMUWT. 188 7.

Zur Bedeutung tond zum Nutzen seiner Schrift führt Heideloff aus, wie sich in der damals jüngsten Vergangenheit das Interesse der Kunstinteressierten dem von ihm behandelten Stil zugewendet habe: „Mehrere ausgezeichnete Künsder und Gelehrte" hätten „treffliche Beiträge zur Kunde der mittelalterlichen Baukunst" geliefert und so den Sinn für eine Kunst geweckt, die bis dahin zu Unrecht verachtet worden sei. Gekrönt würde dieses neue Interesse an der mittelalterlichen Baukunst dadurch, dass man nicht zufrieden sei, die Schönheit erkannt zu haben, sondern nun auch Gebäude, Möbel etc. in diesem Stile herstelle. „Es ist daher von großer Wichtigkeit (...) für den praktischen Gewerbsmann, (...) sich mit einem Styl bekannt zu machen, der immer mehr und mehr in Aufnahme kommt." Darüber hinaus seinen die Kenntnisse der mittelalterlichen Architektur auch notwendig für die „jetzt so häufig vorkommenden Reparaturen", um Verunstaltungen der Bauwerke aus Unkenntnis ihres Stiles zu vermeiden.4 Wie Heideloff also ausführt und wie er selber es als Architekt und Denkmalpfleger praktizierte, liegt die Bedeutung der Architekturgeschichte — oder vielleicht besser: der Kenntnis der Formen und Techniken der Vergangenheit — einerseits darin, den Un-

tltel- und eine tafelseite von carl

heideloffs taschenbuch des byzantinischen baustyles, 1837

4

Heideloff (wie Anm. 3), S. 9.

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terhalt der „ehrwürdigen Gebäude" fachlich sichern zu können, andererseits, sich den historischen Formenapparat als Rohstoff für eigene Projekte anzueignen. Im Zentrum steht ganz der praktische Zugriff. Geschichte ist verfügbar, und dies nicht nur für Bauleute, sondern für die Gesellschaft als Ganzes. Wie schon kritische Zeitgenossen konstatierten, wurde die beschleunigte Modernisierung gerne historisch kaschiert, und in dem mit dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel einher gehenden Prozess der modernen Nationenbildung diente die Geschichte zur Legitimierung und Herrschaftssicherung. Wie Heideloffs Zeitgenosse Karl Marx 1852 über seine Mitmenschen spöttisch bemerkte: „Wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen (...) beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparolen und Kostüm, um in ihrer altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen."5 Die Historie als „Verkleidung" und „erborgte Sprache" findet sich auch bei Heideloff. Für ihn war die Geschichte der Architektur eine Abfolge von Stilen, denen er bis 1852 eine ganze Reihe von Folgebändchen des „Kleinen Byzantiners" — vom „Altdeutschen (gothischen) Baustyle" bis zum „kleinen Vignola" — widmete. Diese Stile stehen aber nicht beliebig zur Wahl, vielmehr ist für Heideloff die wenige Jahre vor seinem „Kleinen Byzantiner" von Heinrich Hübsch publizierte berühmte Frage „In welchem Style sollen wir bauen?"6 eindeutig zu beantworten: Während Hübsch für einen neuen Rundbogenstil plädierte, folgt Heideloff den Kölner Romantikern, für welche die Gotik der Baustil der Deutschen Nation schlechthin ist. Was Heideloff über die Ritterkapelle von Hassfurt schreibt, mit deren Wiederherstellung er ab 1856 betraut war, klingt wie eine Projektion vom Kölner Dom auf die mainfränkische Kirche: „... dieses kirchliche Teutsch Nationale Denkmal der Einigkeit und Bruderliebe Kaiser Ludwigs des Bayern und Friedrichs des Schönen von Österreich hat als Urbild und Vorbild für das, was uns Deutschen Noth thut, eine solche Begeisterung hervorgerufen, welches uns gewiß zum Segen gereicht, so dass dieses heilige Denkmal als ein Orakel des Jetzt und Nachmals zu unserer Sicherheit sich darstellte."7 Entsprechend der postulierten Bedeutung der aufgrund ihres umfangreichen Wappenfrieses an der Choraußenseite bekannten Hassfurter Kirche plante Heideloff, nach der Renovation des neugotisch aufgerüsteten Chors den Langhaussaal auf drei Schiffe zu erweitern und das Ganze mit zwei Türmen zu vervollständigen, „da dieser herrliche Tempel den Rang einer Kathedrale hat".8 So fantastisch das auch erscheinen mag: Wichtig war für Heideloff — ganz wie er das in 5

Kail Mai*, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (1852), in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke (MEW) Bd. 8, S. 115. Heinrich Hübsch, In welchem Style sollen wir bauen?, Karlsruhe 1828. 7 Entwurf eines Aufsatzes; Hassfurt a. Main, Pfarrarchiv, Bauakten zur Restaurierung der Ritterkapelle, zitiert nach: Urs Boeck, Karl Alexander Heideloff, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 48, 1958, S. 314-390, hier: S. 336f. 8 Hassfurt a.M., Pfarrarchiv, Bauakten zur Restaurierung der Ritterkapelle, Brief an Minister von der Pforten, 8.10.1857, zitiert nach Boeck (wie Anm. 7), S. 345. 6

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seinem Lehrbüchlein gefordert hatte — vor allem, „dass der Styl der Ornamentik an der Kapelle streng gewissenhaft eingehalten" werde. 9 Zur vorgeschlagenen Erweiterung der Anlage ist es dann allerdings nicht mehr gekommen, nicht zuletzt, weil schon 1860 der Historiker und Diözesanarchivar Nikolaus Reininger in einem auf archivalischen Forschungen gegründeten Aufsatz zur Baugeschichte der Hassfurter Kapelle nachweisen konnte, dass Heideloffs Darstellung der Stiftungsgeschichte eine romantische Projektion war, die wenig mit der historischen Realität zu tun hatte.10 geschichte als präfiguration der moderne Erforschen und Nachahmen der Alten waren fortan unterschiedliche Gewerbe: die Kunst- und Architekturgeschichte etablierte sich als eigenständiges Fach mit eigenen Professuren an den damals noch jungen Polytechnika — exemplarisch etwa die 1855 gegründete ΕΤΗ Zürich mit dem praktischen Dingen gänzlich abholden Jakob Burckhardt. Der Ubergang vom gewerblichen oder aber künstlerisch-akademischen zum technisch-wissenschaftlichen Unterricht ging einher mit der Trennung von Architektur und Architekturgeschichte; letztere hatte ihre Bedeutung nun nicht mehr in der handwerklich-praktischen Grundlage des Entwerfens, sondern rückte angesichts des für die Moderne konstituierenden Bewusstseins von Historizität in den Kreis der den wissenschaftlichakademischen Status von Architektur mitbegründenden theoretischen Reflexionsfächer. Das wiederum war Voraussetzung dafür, dass Architekturgeschichte auch dann Grundlagenfach für angehende Architekten blieb, als die Geschichte der Architektur nicht mehr als Materiallieferant für das eigene Schaffen diente und auch das nachahmende Zeichnen — das bei Heideloff noch eng mit der Stilgeschichte verknüpft war — zusehends aus den Lehrplänen gestrichen wurde. Mit der Uberwindung des Historismus und dem Bewusstsein von der unwiederbringlichen Vergangenheit von Geschichte war diese zwar als formale Fundgrube für eigenes Gestalten zumindest vorerst erledigt, blieb aber Referenz nicht nur für die heute unter dem Begriff der „anderen Moderne" zusammengefassten eher reformerischen Strömungen, sondern auch für jene Avantgarde, die den Bruch mit der Tradition propagierte. Wie eng die Architekturgeschichte dabei weiterhin mit der zeitgenössischen Architektur verknüpft sein konnte, wie sie ihre Bedeutung also noch immer aus dem aktuellen Baugeschehen bezog, wird deutlich bei dem Historiker der Klassischen Moderne, bei Siegfried Giedion. Zeitgenossenschaft mündet bei ihm in die „Geschichtsbetrachtung als Parteigänger" 11 bzw. lässt ihn als „Zauberlehr9

Ebd. Nikolaus Reininger, Die Marien- oder Ritterkapelle zu Haßfurt. Ein Beitrag zur Baugeschichte, in: Archiv des Historischen Vereins von Unterfranken und Aschaffenburg 15, H. 1,1860, S. 1-42. 11 Sokratis Georgiadis, Signed Giedion und die Krise der kritischen Historiographie, in: Siegfried Giedion 18881968. Der Entwurf einer modernen Tradition, mit Beiträgen von Jos Bosmann et al. Ausstellungskat. Museum für Gestaltung Zürich, Zürich 1989, S. 224-231. 10

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ling fur Le Corbusiers Theoriebildung" erscheinen.12 Tatsächlich stand Giedion als Sekretär der Congrès Internationaux d'Architecture Moderne (CIAM) mitten im Geschehen, als er 1928 — im Jahre des ersten CIAM-Kongresses — die Aufgabe des Historikers wie folgt beschrieb: „Auch der Historiker steht in der Zeit, nicht über ihr. (...) Wir haben keine Furcht vor der Vergangenheit. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft sind für uns ein untrennbarer Prozeß. Aber wir leben nicht nach rückwärts, wir leben nach vorn. Die Vergangenheit stärkt uns, denn sie gibt Sicherheit, dass unser Wille nicht individuell begrenzt ist. Aber wichtiger, gleichviel wie sie ausfallen möge, erscheint uns die Zukunft. (...) Aufgabe des Historikers ist es, vorab die Keime zu erkennen, und — über alle Verschüttungen hinweg - die Kontinuität der Entwicklung aufzuzeigen. Leider benützte der Historiker den Überblick, den seine Beschäftigung mit sich brachte, um die ewige Berechtigung des Vergangenen zu verkünden, und die Zukunft damit totzuschlagen. Zumindest aber, um hemmend die Entwicklung aufzuhalten. Die Aufgabe des Historikers scheint uns heute die entgegengesetzte zu sein: Aus dem ungeheuren Komplex einer vergangenen Zeit jene Elemente herauszuschälen, die zum Ausgangspunkt der Zukunft werden." 13 Die Geschichte — und gemeint ist damit in erster Linie die Architektur- und Kunstgeschichte — erscheint also auch in der Moderne Giedions als Materiallager, in dem sich nun aber nicht mehr der produzierende Architekt bedient, sondern der Historiker, der das zukunftsgerichtete Schaffen der Architekten begleitet und der aus dem ganzen Wust des vergangenen Alltäglichen jene Perlen herauszusuchen hat, die bereits die Zukunft anzeigen. Die Schwierigkeit dürfte dabei nicht zuletzt darin bestehen, diese „Perlen" dann doch zu einer „Kontinuität der Entwicklung" aufzureihen. Mit Nietzsches Diktum aus dem Zweiten Stück seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen wird der (Architektur-)Historiker damit immerhin metaphorisch (erneut) zum „Baumeister": „Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten (...). Der Spruch der Vergangenheit ist immer ein Orakelspruch: nur als Baumeister der Zukunft, als Wissende der Gegenwart werdet ihr ihn verstehen." 14 Allerdings ist, um zu Giedion zurückzukehren, auch dieses „Verstehen" zu historisieren: „Die Geschichte ist ein Zauberspiegel: Wer in ihn hineinblickt, sieht sein eigenes Bild in Gestalt von Entwicklungen und Geschehnissen. Die Geschichte steht nie still, sie ist ewig in Bewegung, wie die sie beobachtende Generation. Nie ist sie in ihrer Ganzheit zu fassen, sondern enthüllt sich nur in Bruchstücken, entsprechend dem jeweiligen Standpunkt des Beobachters." 15 Wie das funktioniert und was bei dieser Sicht auf die Architekturgeschichte herauskommt, welche Bedeutung diese dabei in der Lehre hat, zeigt in exemplari12

Jos Bosmann, Die Quintessenz von Giedions Architekturtheorie der Moderne: Die Deutung einer neuen Raumkonzeption, in: Siegfried Giedion 1989 (wie Anm. 11), S. 185-190, insbes. 190. 13 Siegfried Giedion, Bauen in Frankreich - Eisen - Eisenbeton, Leipzig/Berlin 1928, S. 1. 14 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Friedrich Nietzsche, Werke in zwei Bänden, Zürich 1977, Bd. 1, S. 111-174, hier: S. 146f.; den Hinweis auf Nietzsche in diesem Zusammenhang bei Georgiadis 1989 (wie Anm. 11 ), S. 228ff. 15 Siegried Giedion, Mechanization Takes Command, 1948, zitiert nach der deutschen Übersetzung: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt a.M. 1982, S. 19.

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scher Weise das Kultbuch Space, Time and Architecture, das aus Giedions Charles Eliot Norton-Vorlesungen in Harvard entstanden, 1941 erstmals publiziert, danach mehrfach ergänzt und vielfach übersetzt worden ist und während längerer Zeit den Blick von Architekten auf die Geschichte der Architektur vorgeprägt hat. Der Untertitel Die Entstehung einer neuen Tradition gibt das Programm bekannt, nennt gewissermaßen das Ziel, mit dem in den Zauberspiegel der Architekturgeschichte geschaut wird. Stark verkürzt resümiert: Von Bedeutung ist das, was unter bestimmten Sichtweisen — insbesondere einer als Paradigma vorgegebenen Raumauffassung und der Rationalisierung der Konstruktion - als Vorläufer der wohl gerade dadurch ,klassischen' Moderne gesehen werden kann, das, was aus der Geschichte als zeitgenössisch erkannt wird. Obwohl Raum, Zeit und Architektur mehrheitlich chronologisch gegliedert ist, lösen sich durch solche Quer- und Gegenwartsbezüge die als zukunftsträchtig erkannten Elemente aus der Geschichte: Formen werden dadurch autonom. Die Windungen von Lansdowne Crescent in Bath (1744) werden unter diesem Fokus zusammen gesehen mit Francesco Borrominis konvex-konkaver Fassade von San Carlo alle Quattro Fontane (1662-67) in Rom (Abb. 2): „Borrominis Anwendung der wellenförmigen Wand, um eine unerwartete Bewegung und

„die entstehung einer neuen tradition": siegried giedions vergleich der geschwungenen fassade vonsSan carlino in rom mit dem wellenband von lansdowne crescent...

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LH CORBUSIER Entwurf für Walkenkratzer in Algier, 1931.

Nähe moderner Lösungen wie dieser hier.

Spätbarocke

Raumkonzeptionen

kamen in die

85«. LE CORBUSIER. Planung des «Quartier «le Ja Marine« in Algier, 193^-1^41. Immer wieder hat Le Corbusier,

und zwar in immer reiferer form, die Planung von Algier bestéiífiigt. Das »Quartier de la Marine* ist das Verwaltungs· Zentrum von Algier. Die DommanU bildet der Wolkenkratzer, rjo Meter hoch. Die eintönige Vertikalfläche wird plastisch verstärkt: die Fassadenßache stößt in stumpfem Winkel vor. Ungefähr ein Vierteljahrhundert später taucht sie in verschiedenen lindern an verschiedene» Sauten auf. Zum erstenmal taucht sie bei Le Corbusier in dem bescheideneren Sau der Zürcher Rentenanstalt {19}*) auf. In Algier allerdings wird die kühne Wiederbelebung und plastische Durchbildung der Wand und schließlich die Verwendung des Sonnenschutzes ( brise-soleil) in ein Ausdrucksmtttel umgesetzt, wie dies spater etwa in den Bauten des Kapitals von Chandigarh verwirklicht wird. Der Wolkenkratzer steht auf vorspringender Landzunge mit semer Schmalseite gegen das Meer, wie eine ungeheure Magnetnadel.

**5

3 ...als Vorstufen von le corbusiers wellenförmigen Wolkenkratzern für algier (oben)

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Flexibilität in die engen römischen Straßen zu bringen, erscheint wieder in den schlangenförmigen Kurven dieser Umrisse."16 Die eigentliche Bedeutung sowohl von Lansdowne Crescent als auch von San Carlino liege aber — so Giedion — in der „Beziehung zur Gegenwart: Le Corbusiers wellenförmige Wolkenkratzer". Damit dabei nicht fälschlicherweise der Eindruck entsteht, Corbusier habe sich einfach in der Geschichte bedient, sorgen Formulierungen wie jene in der Bildlegende zum Wolkenkratzer-Entwurf des Meisters für Algier von 1931 (Abb. 3): „Spätbarocke Raumkonzeptionen kamen in die Nähe moderner Lösungen wie dieser hier."17 Die Begründung der Gegenwart bestimmt die Bedeutung der Vergangenheit in einer Weise, die als Determinismus kritisiert werden kann, in jedem Fall aber eine starke geschichtsphilosophische Komponente aufweist. Zugleich besteht wohl bereits ein Zusammenhang mit Giedions späterer Suche nach der „Ewigen Gegenwart", der sein Alterswerk von 1962 gewidmet ist, das die „Anfänge der Kunst" und den „Beginn der Architektur" zu ergründen sucht.18 Giedion bemühte sich in diesen Schriften, die Architektur- und Kunstgeschichte von den prähistorischen Anfängen bis in die Gegenwart neu zu schreiben und dabei die „unveränderlichen Elemente menschlicher Natur" zu erfassen, die Symbole, mit denen der Mensch mit der Welt in Beziehung tritt und die Giedion in den ersten menschlichen Kunstäußerungen ebenso erkennt wie in den großen Schöpfungen seiner Zeitgenossen. Die Suche nach den Konstanten, nach dem, was die Werke der Vergangenheit noch heute gegenwärtig macht, führt freilich zum Verlust der Zeitlichkeit, zum Verblassen der Geschichtlichkeit der Dinge. An die Stelle der Aichxtektmgeschichte tritt eine Art Anthropologie und damit ein Blick auf die Geschichte der Baukunst, der die Suche nach dem Absoluten und (End-) Gültigen mit der Architektur der Moderne gemein hat.

die rückkehr historischer formen in die planung Mit der Postmoderne sind geschichtliche Formen in die architektonische Planung zurückgekehrt, freilich weder naiv mit der Vorstellung einer Kontinuität und Gegenwart von Geschichte, noch im Glauben an die Eindeutigkeit von Form-Funktions-Relationen und fern vom geschichtsphilosophischen Modell der Progression in eine erhoffte Zukunft. „Doppelkodierung", Mehrdeutig- und Widersprüchlichkeit sowie ironische Brechung bestimmten zumindest in den Anfangszeiten der ,Nachmoderne' den zumeist ebenso demonstrativen wie augenzwinkernden Rekurs auf die Geschichte. Dazu war es freilich unumgänglich, sich in der Architekturgeschichte auch auszukennen, weshalb diese auch für die Entwerfer wieder interessant wurde. 16 Siegried Giedion, Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Basel etc. 1976 (6. Auflage 2000), S. 122. 17 Ebd., S. 125, Abb. 85. 18 Siegried Giedion, Ewige Gegenwart - ein Beitrag zu Konstanz und Wandel. Bd. 1: Die Entstehung der Kunst; Bd. 2: Der Beginn der Architektur, Köln 1962.

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Nicht zufällig ist einer der Schlüsseltexte der frühen Postmoderne, Robert Venturis 1966 erstmals publizierte Schrift Complexity and Contradiction in Architecture, Produkt eines längeren Aufenthalts des Verfassers an der American Academy in Rom - und damit in jener durch die Präsenz von 2000 Jahren Architekturgeschichte geprägten Stadt, von der Le Corbusier einst sagte, Architekturstudenten dorthin zu schicken, hieße, diese für ihr ganzes Leben zu ruinieren.19 Borrominis San Carlino, der bei Giedion als Antizipation von Le Corbusiers wellenförmigen Wolkenkratzern figurierte, erscheint auch in Venturis Buch, nun freilich als Beispiel für die Ambivalenz und die Widersprüchlichkeiten in Grundund Aufriss.20 Als einer der Schlüsselbauten für die Postmoderne in Deutschland gilt James Stirlings Stuttgarter Staatsgalerie, und als solchen fuhrt er die damals neue Weise

4 j a m e s Stirling, staatsgalerie Stuttgart, 1 Θ 7 7 - 8 4 : inszenierter w a n d a u s b r u c h

des Zugriffs auf das Formenvokabular der Geschichte anschaulich vor Augen. Anlässlich der Eröffnung im Jahre 1984 wurde der Bau als „Zitatenmuseum" bezeichnet, in dem u.a. der Portikus vor einem Nebeneingang an einen Grabmalentwurf Friedrich Weinbrenners, die Rampen an Le Corbusier, die bunten Rohre an das Centre Pompidou und die Rotunde an Schinkels epochales Museum am Lustgarten erinnern sollen.21 Das Spektrum der verwendeten Zitate lässt 19 Le Corbusier, 1922, Ausblick auf eine Architektur (Bauwelt Fundamente 2), 4Braunschweig/Wiesbaden 1982, S. 132. 20 Robert Venturi, Komplexität und Widerspruch in der Architektur (Bauwelt Fundamente 50), Braunschweig 1978, S.41f. 21 Manfred Sack, Das Zitatenmuseum, in: Die Zeit 11/1984 (http://zeus.zelt.de/text/archiv/1984/11/Zt19840309_043_0071 (31.10.2006).

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nach ihrer semantischen Relevanz fragen: Offensichtlich wird bewusst mit verschiedenen Ebenen gespielt, ist nicht alles gleich ernst gemeint. Manches erscheint als Spielerei, anderes ist tragendes Element des Entwurfs. Zu dessen Kerngedanken gehört die Abkehr von der Tradition quasi neutraler übersichtlicher Raumschöpfungen im Museumsbau der Moderne durch Stirlings ausdrücklichen Bezug zur Museumsarchitektur des frühen 19. Jahrhunderts. Dieser erklärte Rekurs auf die Anfangszeiten der Museen lässt erwägen, auch den inszenierten Mauerausbruch in einer der Außenwände (Abb. 4) als bewusst eingesetztes Motiv in der Tradition der Vanitassymbolik zu verstehen, wie sie in den einschlägigen Bildern Hubert Roberts aufscheint. Mit seinem Umbauprojekt der Grande Galérie des Louvre, die Robert zugleich als Ruine malte, ist nicht zufällig ein Museum Motiv der „prospektiven Erinnerung"22. „Erinnerung" ist eines der Schlagworte, das in jüngerer Zeit eine bemerkenswerte Rückkehr in den Architekturdiskurs erlebte. Man denkt an John Ruskins Seven Lamps of Architecture von 1849, worin die Baukunst als Erhalterin und Beschützerin „Heiliger Erinnerungen" gewertet wird: „We may live without her, and worship without her, but we cannot remember without her."23 Etwas weniger emphatisch, aber nicht weniger grundsätzlich wird Erinnerung in Aldo Rossis Architettura della città thematisiert, dem Buch, das bezeichnenderweise im selben Jahr erschien wie Venturis Komplexität und Widerspruch. Die beiden Schriften belegen paradigmatisch die Rückkehr der Geschichte in den architektonischen Entwurf. Beide rekurrieren dabei auf die historische Stadt, wenn auch in freilich höchst unterschiedlicher Weise, die jeweils charakteristisch ist für den unterschiedlichen kulturellen Erfahrungshorizont der beiden Autoren. Rossi bezieht sich explizit auf den Soziologen und Erinnerungsforscher Maurice Halbwachs, wenn er die Stadt als Kollektivgedächtnis der Völker bezeichnet; in ihr spreche — nach Jacob Burckhardt — die Geschichte durch die Kunst, die Architektur sei konkreter und anschaulicher Ausdruck der Stadt und ihrer Geschichte.24 Die Entwicklung der Stadt vollziehe sich nach bestimmten Regeln, und an diese Regeln hätten sich auch die Entwerfer neuer Projekte zu halten, wenn diese dem Stadtganzen förderlich sein sollen. Rossi selber hat versucht, aus seiner Analyse eine angemessene Architektur zu entwickeln, und sich dafür in unterschiedlicher Weise auf die Architekturgeschichte gestützt: in den 1960er und 70er Jahren durch ein auf Quatremère de Quincy fußendes typologisches Verfahren der „Città analoga", später dann auch durch Zitate bis hin zum

22

Monika Steinhauser, Die ästhetische Gegenwart des Vergangenen. Architektur- und Ruinenbilder zwischen

Geschichte und Erinnerung, in: Hans-Rudolf Meier/Marion Wohlleben, Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege (Veröffentlichungen des Instituts für Denkmalpflege an der ΕΤΗ Zürich Bd. 21), Zürich 2000, S. 99-112, bes. 106; vgl. zuletzt: Hubert Locher, Das Museum als Schauplatz der Kritik, in; Bilder, Räume, Betrachter. Festschrift für Wolfgang Kemp zum 60. Geburtstag, hg. von Steffen Bogen et al., Berlin 2006, S. 307-321, bes. 309f. 23 24

John Ruskin, The Seven Lamps of Architecture, Orpinton 2 1880 (Reprint 1989), S. 178. Zitiert nach: Aldo Rossi, Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen

(Bauwelt Fundamente 41), Düsseldorf 1973, S. 117. Dazu: Vittorio Magnago Lampugnani, Die Erfindung der Erinnerung. Die Abenteuer der typologischen Stadt in Italien 1966-1997, in: Meier/Wohlleben 2000 (wie Anm. 22), S. 145-157.

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Nachbau dreier Achsen der Hoffassade des Palazzo Farnese an der Berliner Schützenstraße (Abb. 5).

Zeitgenossenschaft Die Architektur bedient sich also seit der Postmoderne wieder der Architekturgeschichte - aber worin liegt darüber hinaus deren Nutzen und Zeitgenossenschaft als eigene Disziplin? Architekturgeschichte ist wieder Teil der Architekturkritik geworden, und wie im Historismus des 19. Jahrhunderts kann man heute erneut munter nach den Vorbildern für Zitate und historische Formen suchen. Allerdings werden diese — auch darin dem 19. Jahrhundert nicht unähnlich — von den Planern oft gleich selber offengelegt, wobei die wenigsten so weit gehen wie Hilmer & Sattler und Albrecht, die bei ihrem Bürogebäude im Berliner Beisheim-Center das unverkennbare Referenzobjekt, das 1879 eingeweihte First Leiter Building in Chicago, nicht nur in der Büromonographie mit abbilden, sondern auf der am Neubau angebrachten Bronzeplakette - als solche selber historische Reminiszenz — gleich mit nennen. Z u Recht bemerkt der die Publikation der Bauten und Projekte einleitende Architekturhistoriker daher, dass es nicht das Verdienst seiner Profession sei, solche Bezüge aufzuspüren. 25 E s gehe nicht um ein intellektuelles Spiel zur Geschichte der Architektur, sondern um qualitätvolle Baukunst. Warum freilich heute diese Qualität wieder vermehrt mittels Rückgriffen in die Geschichte der Architektur erreicht wird oder erreicht werden soll, ist eine Frage, der nachzugehen für die Architekturgeschichte lohnend sein kann. Denn bekanntlich werden nicht einfach bewährte Traditionen weitergeführt; der moderne Bruch mit diesen ist nicht zu kitten, sondern höchstens aus einer reflektierten Zeitgenossenschaft durch bewusste Rückgriffe zu überbrücken. Längst sind es nicht mehr nur Zitate, die für die Rückkehr der Geschichte sprechen. Aus dem Spiel ist Ernst geworden; S was in den 1970er Jahren noch mit Ironie a k j o r o s s ¡ WO hnblock verbunden war, ist zu einer nicht allein arschützenstraße berlin mit zitat der chitektonischen Retro-Programmatik mufassade des palazzo farnese in rom Klaus Jan Philipp, Kontinuität in sich wandelnder Zeit. Die Architektur von Hilmer & Sattler und Albrecht, in: Hilmer & Sattler und Albrecht. Bauten und Projekte, London 2004, S. 8-41, hier: 38.

25

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tiert. Von Doppelkodierung keine Spur mehr; für die von Giedion gesuchte „ewige Gegenwart" scheint mit dem erneuten Zugriff auf Formen des Klassizismus eine einfache und mehrheitsfähige Lösung gefunden. Angesichts solcher Phänomene und des Ausmaßes, das neue Historismen oder wertfreier: formale Rekurse auf geschichtliche Formen — in der Gegenwartsarchitektur inzwischen angenommen haben, erschöpft sich die Bedeutung der Architekturgeschichte jedoch nicht mehr in der Untersuchung und Vermittlung der Geschichtlichkeit der Formen, der Konstruktion und Materialien, der Gattungen und Bauaufgaben. All dies sind zweifellos wichtige Themen, um Gebautes in Raum und Zeit zu verorten. Noch immer bzw. in jüngerer Zeit wieder verstärkt gilt auch das, was bereits Heideloff als Begründung für sein Lehrbüchlein mit anführte: Dass nämlich „bei den jetzt so häufig vorkommenden Reparaturen eine Unkenntnis des Karakters (...) leicht zu Verunstaltungen (...) führen kann", wobei wir den Begriff „Reparatur" in diesem Kontext etwas großzügig auslegen und damit das ganze Baugeschehen im historischen Bestand bezeichnen wollen. Die gegenwärtige Bedeutung der Architekturgeschichte geht aber über diesen gewissermaßen praktischen Aspekt hinaus. Sie hat die vielfaltigen Formen der Geschichtlichkeit zu untersuchen, nach dem Wesen und der Bedeutung von architektonisch vermittelter und vermittelbarer Historizität zu fragen. Denn wie hier skizziert werden sollte, hat die Architekturgeschichte seit ihrer Etablierung in der modernen Architektenausbildung ihre Bedeutung immer auch — wenn auch gewiss nicht nur - aus dem Verhältnis der aktuellen Architektur zur Geschichte bezogen. Giedions Postulat der Zeitgenossenschaft des Historikers ist, so gesehen, evident. Giedion hat dazu den schönen Vergleich angestellt: „Die Geschichte vermag unserer Zeit die vergessenen Elemente ihres Wesens zu enthüllen, so wie unsere Eltern jene Eigentümlichkeiten unserer Kindheit und Vorfahren übermitteln können, die aus unserem Gedächtnis entschwunden sind, aber trotzdem unsere Natur prägten."26 Zu unterschiedlichen Zeiten richten wir unterschiedliche Fragen an unsere Eltern. Damit ist freilich weder eine Geschichtsschreibung als Parteigänger der gerade aktuellen Architekten, quasi eine „embedded-history" gemeint, noch postuliert, sich ausschließlich oder auch nur überwiegend mit der Architektur der Gegenwart und neusten Vergangenheit zu beschäftigen. Nikolaus Pevsner, eine Art Gegenpol zu Giedion in der Architekturgeschichte der Moderne, konnte sich noch damit begnügen, die „Wiederkehr des Historizismus" als eine Haltung zu beklagen, „in der die Betrachtung und die Benutzung der Geschichte wesentlicher ist als die Entdeckung und Entwicklung neuer Systeme, neuer Formen der eigenen Zeit" 27 . Heute sollten wir uns bemühen, solche Phänomene differenziert zu sehen und verstehen zu lernen, wie aus der „Betrachtung und Benutzung der Geschichte" „Formen der eigenen Zeit" generiert wurden und werden. 26

Giedion 1976 (wie Anm. 16), S. 50. Nikolaus Pevsner, Moderne Architektur und der Historiker oder die Wiederkehr des Historizismus, in: Deutsche Bauzeitung 66,1961, S. 757. 27

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meyer schapiro die Zeitgenossenschaft eines mediävisten

beat wyss der Souffleur des künstlers Im Frühjahr 1961 erhielt Meyer Schapiro folgende Briefzeilen: „I am sending you a copy of my letter. Panofsky has written an other one in attempt to weasel out, which I will refute in the next ARTNews... I want to thank you again for your .sublime' help." 1 Der Absender des Briefs war Barnett Newman, der seinem Freund Schapiro dafür dankte, ihm in einem Leserbriefduell gegen Erwin Panofsky als Souffleur beigestanden zu haben. Der Mediävist hatte Schützenhilfe in Sachen lateinischer Philologie gegeben, womit der Professor aus Princeton und der abstrakte Maler aus New York im Streit lagen. Die Geschichte, von der ich bereits an anderer Stelle gehandelt habe, 2 ist es wert, von Anfang an erzählt zu werden, zeugt sie doch von zwei Arten der Kunsthistorik, deren eine sich von der Gegenwart abschottet, während die andere sich nicht nur für die Geschichte, sondern auch für die eigene Zeit verantwortlich fühlt. Panofsky und Schapiro vertreten beispielhaft diese zwei gegensätzlichen Positionen. Hier soll nun das Augenmerk auf Schapiro gerichtet sein. Im Februarheft der ARTNews von 1961 war eine Besprechung von Panofskys Renaissance and renascenses in western art erschienen.3 Allein dieser Tatsache ist es zu verdanken, dass Panofsky eine Zeitschrift in die Hand nahm, die als Sprachrohr der neuesten Tendenzen der Kunst gilt. Der gelehrsame Kunstgeschichtsprofessor war offenbar so verblüfft von dieser Aufmerksamkeit von unerwarteter Seite, dass er einen Leserbrief schrieb, in dem er sich über die Rezension - übrigens von keinem Geringeren als George Kubler — bedankte. Doch der alte Herr aus Princeton zeigte sich nicht nur geschmeichelt, er hatte auch den Rotstift gezückt. „I find it increasingly hard to keep up with contemporary art", bekennt er freimütig und gibt den aktuellen Grund an: einen Druckfehler im Artikel über Colourfteld Painting, der im gleichen Heft erschienen war wie die Buchkritik (Abb. 1). Panofsky brauchte dabei den Text des jungen Autoren, Robert Rosenblum, nicht einmal zu lesen, um seine überlegenen Lateinkenntnisse ins Feld zu füh1 Zitiert nach Barnett Newman, Selected writings and interviews, hg. v. John P. O'Neill, kommentiert von Mollie McNickle, Einführung von Richard Shiff, Univ. New York 1990, S. 218. 2 Beat Wyss, Ein Druckfehler, in: Eiwin Panofsky. Beiträge des Symposiums Hamburg 1992, hg. v. Bruno Reudenbach, Berlin 1994, S. 191-199. 3 Erwin Panofsky, Renaissance and renascences in western art, Stockholm 1960.

ren: „Vir Heroicus Sublimus" prangte als Legende unter einer Abbildung von Barnett Newmans also betitelten Werk. Panofsky fand sich in seinen Vorurteilen über die Künsder der Gegenwart vollauf bestätigt und holte mit bissiggelehrsamer Ironie gegen Newman aus: „I find myself confronted with three different interpretations of the curious form .sublimus'. Does Mr. Newman imply, that he, as Aelfric says of God, is ,above grammar'; or is it a misprint; or is it plain illiteracy? In the optimistic assumption that the first of these possibile interpretations are true, and with my best thanks... Erwin Panofsky, The Institute of Advanced Study, Princeton, New Jersey." 4 Die Standpauke ex cathedra hatte nicht den gewünschten Effekt. Panofsky glaubte wohl, einem Halbwilden zu begegnen, der sich von so viel Bildung fuglich einschüchtern ließe. Doch da kannte er einfach die New Yorker Kunstszene zu wenig, die aus höchst gebildeten Leuten bestand. Barnett Newman entstammte zudem einem Panofsky vergleichbaren Milieu. Die Neumanns waren als jüdische Emigranten um 1900 aus dem russisch-polnischen Lomza eingewandert. In der damals noch gutbürgerlichen Bronx übte sich Barnett in Hebräisch, dem Pianospiel und studierte Philosophie am City College. Newman gehörte zu den älteren Künstlern im Kreis der Irascibles-, von diesen war er ge-

28

doppelseite des aufsatzes von robert rosenblum, artnews, februar 1961

4

Zit nach Newman (wie Anm. 1), S. 216.

82

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Meyer Schapiro:

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frontispiz der bibliografie zu meyer schapiro (1977) mit einigen Zeichnungen des autors

schätzt als ein guter Schreiber, der sich in Debatten einmischte und für seine Freunde Katalogtexte verfasste. Er verkörperte im Kreis der Abstrakten Expressionisten eine intellektuelle Autorität. Im selben Kreis bewegte sich auch Meyer Schapiro, auch er ein jüdischer Immigrant, der mit seiner Mutter Fanny Adelman Schapiro im Alter von drei Jahren aus Litauen in New York ankam. Als Knabe nahm er Abendkurse bei John Sloan, dem realistischen Illustrator und Maler der Ashcan School, zu deren Umkreis auch der berühmtere Edward Hopper gezählt wird. Das Zeichnen und Malen begleitete Meyer Schapiro Zeit seines Lebens, wohl wissend, dass er nicht genügend Talent besäße, um als Künstler zu bestehen. So schlug er den Weg der Wissenschaft ein. Er war der unbestrittene Guru im überfüllten Hörsaal der New School for Social Research, wo er, neben seiner Lehrtätigkeit an der Columbia University, Vorlesungen hielt. Er lehrte dort exakt in der Zeit von

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1936 bis 1952, als die New Yorker Kunstszene dabei war, sich vom europäischen Vorbild zu emanzipieren. Die jungen Künstler lagen Schapiro zu Füßen. Robert Motherwell kam eigens nach New York, um ihn zu hören. Zu seinen vielen Künsderfreunden gehörten Jacques Lipchitz, Willem de Kooning, Wolf Kahn, Jan Muller, George Segal, R.B. Kitaj und eben jener Barnett Newman, dessen Anekdote zu Ende erzählt sei. Als College Student hatte Schapiro unter anderem auch Latein studiert. Mit diesem Wissen begünstigte er jetzt seinem Malerfreund im Kampf gegen Panofsky und stellte so die Solidarität mit einem Vertreter aktueller Kunst über die Zunftzugehörigkeit mit einem berühmten Kunsthistoriker. Rhetorisch geschickt bläst der geübte Polemiker Newman zum Gegenangriff: Hätte Panofsky den Aufsatz von Rosenblum auch nur gelesen, wäre ihm sofort aufgefallen, dass hier ein blanker Druckfehler vorlag, denn im laufenden Text steht die übliche Schreibweise: „Vir heroicus sublimis." Doch Panofsky nur der Oberflächlichkeit zu bezichtigen, reichte Newman nicht. Er wollte ihn auf dessen eigenen Feld schlagen. Die Ehre der Setzer und Korrektoren von ARTNews zu verteidigen, wies er nach, dass „sublimus" tatsächlich auch möglich ist. Gewiss, auch Newman hatte seine Lateinkenntnisse, doch es war Meyer Schapiro, der hinter den Kulissen den entscheidenden Hinweis gab: Im Dictionnaire étymologique de la langue latine nachzuschauen. 5 Hier findet sich in der Tat „sublimus" als archaisierende Nebenform, nachzuweisen etwa beim Dichter Accius und bei Cicero. Diese philologische Belehrung bekam Panofsky brühwarm serviert. Nicht nur wegen fahrlässiger Lektüre, sondern auch wegen „poor scholarship" müsse der Professor aus Princeton bei ARTNem in Latein durchfallen.

angriff auf den elfenbeinturm Bei dieser Episode von Schapiro als Einflüsteret hinter den Kulissen handelt es sich in der Tat nicht nur um eine Anekdote, vielmehr ist der Vorfall bezeichnend ist für die Art und Weise, wie Schapiro unter den zeitgenössischen Künstlern präsent war. Er war der Sokrates der Szene, der seinen Einfluss mündlich geltend machte: im Hörsaal, bei Ausstellungen und bei Einladungen zu Hause, wo die Diskurse mit heißer Nadel gestrickt wurden. Schapiro war ein Mann an der Front des Kunstgeschehens. Dagegen blieb die Zahl der Veröffentlichungen seit der Dissertation über Moissac im Jahr 1931 geradezu belanglos und stand in keinem Verhältnis zu seinem glänzenden Ruf als Hochschullehrer und mitreißendem Redner. Seine Aufsätze und Kollegnachschriften gingen als Geheimtipp von Hand zu Hand. Erst 1977, Schapiro war inzwischen schon vier Jahre emeritiert, begann George Braziller mit der auf vier Bände angelegten Publikation von Essays und Vorträgen (Abb. 2). Hinter den Veröffentlichungen, die sich

5

Alfred Emout/Antoine Meillet, Dictionnaire étymologique de la langue latine, histoire des mots, Parisi 939.

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über Schapiros Tod im Jahr 1994 hinaus erstreckten, stand seine Frau Lilian Milgram als treibende Kraft. In einem undatierten kurzen Text kritisiert Schapiro die Rede vom ,Humanismus' als einem „hangover of classical education". Es habe sich gezeigt, dass ausgerechnet die faschistische Barbarei sich auf humanistische Sendung berufe. Der Ansprach des Humanismus isoliere Kunst und Philosophie „from the sciences and social life (...), just as did the classical pedagogues of the nineteenth century with their teaching of Latin and Greek." 6 Klassische Bildung verkomme zur Fluchtburg des Intellektuellen: Damit bezieht Schapiro eine Position, die zu Panofskys Wissensethos im genauen Gegensatz steht. Anlässlich einer Tagung über „Soziale Verantwortung der Künstler und der Kritiker", 1953 veranstaltet an der Universität Princeton, hielt Panofsky eine Rede „In defense of the Ivory Tower*'.1 Darin wurde das Vorrecht des Intellektuellen zur Abkehr vom Lärm der Welt beschworen. Schapiro hat mit Panofsky die Klinge nie direkt gekreuzt. Doch in seinem Aufsatz Berenson's values vori 1961, mithin im selben Jahr, als das AriNeivs—Dut\i stattfand, kritisiert er eine Kunsthistorik, welche die Kunst so abgespreizt vom Alltagsgeschehen zelebriert wie vornehme Damen den kleinen Finger vor der Teetasse. 8 Dabei teilte Schapiro mit Berenson nicht nur das Judentum und das Emigrantenschicksal, ja selbst die gemeinsame Herkunft aus Litauen, das Berenson, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, eine Generation zuvor mit seinen Eltern verlassen hatte. Es konnte den herzenslinken Schapiro schon in Wallungen bringen, wenn er so überlegte, wie einer Seinesgleichen das Kunstverständnis der „fortunate few" zelebrieren konnte. Berensons Kenntnis der Moderne fußte auf der Lektüre von Walter Pater und John Ruskin, seine Ästhetik war die eines epigonalen Präraffaeliten, der sich an Botticelli und Perugino ergötzte und die zeitgenössischen Maler von Cézanne bis Matisse kritisch an solchen Vorbildern maß. Sein Haus, I Tatti, ist ein Hort akademischer Kunstgeschichte geblieben, beherbergt es doch das Harvard Center for Renaissance Studies, wo der amerikanische Elitenachwuchs auf der Veranda der Villa von Settignano, mit Blick auf Pinien, den schönen Künsten sich nahe fühlt. Das war nicht Schapiros Welt. Wissenschaft, .Zeitgeist' und gegenwartsinteresse Schapiro, der Zeit seines Lebens aus seinen linken Positionen keinen Hehl machte, hat seine Tätigkeit immer im Horizont eines sozialen Auftrags verstanden. Er knüpfte eine hohe Erwartung an die Kunst als ein kulturelles Band, das die Menschheit zu vereinen bestimmt sei, wie ein undatiertes Manuskript, ent6

Meyer Schapiro, Worldview in painting, Art and society, New York 1999, S. 113f. Publiziert in: The Association of Princeton Graduate Alumni (3), Report of the third conference (...) January 13,1953, S. 76-85. 6 Meyer Schapiro, Theory and philosophy of art, Style, artist, and society, Selected papers, New York 1994, S. 209-225.

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standen zwischen 1943 und 1947, festhält.Eine ganze Reihe von Texten handelt von den gesellschaftlichen Grundlagen der Kunst, von Kunst und sozialem Wandel, Kunst unter dem Sozialismus; diskutiert werden Despotismus, Freiheit und künstlerische Qualität, aber auch kirchliche Kunst und der Kunstmarkt.10 Unter den Texten befinden sich auch kompilierte Manuskripte und Nachschriften seiner Vorlesungen und Vorträge. Der zum Teil undatierte Nachlass bedarf noch der zeitgeschichtlichen Einbettung. Daher verzichte ich hier auf die Analyse dieser Zeitdokumente und verfolge eine Spur, die auch Schapiro methodisch interessierte: die unbewusste Zeitgenossenschaft zwischen Kunst und Wissenschaft: das, was er „worldview" nannte.

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9

The fine arts and the unity of mankind, in: Schapiro 1999 (wie Anm. 6), S. 232-247. Herausgegeben in Schapiro 1999 (wie Anm. 6).

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3 doppelseite aus schapiros world view in painting

links: picasso, l'aficionado (1912) rechts: mondrian, komposition mit linien (1917)

Wie sind Vergleiche zwischen Philosophie, Naturwissenschaft und Kunst möglich? Diese Frage in der Tradition der Kantschen Erkenntnistheorie stellt sich Schapiro in Philosophy and worldmew in painting (Abb. 3). Gibt es eine die verschiedenen Wissensdiskurse unbewusst verbindende Weltanschauung Wie wir noch sehen werden, knüpft Schapiro damit an eine Hypothese, die der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl um 1900 gestellt hatte. Wenn Schapiro die „worldview" definiert als „an attitude, unarticulated, unformulated, implicit in values, choices, and reactions",11 so ergibt sich eine Verwandtschaft mit der französischen Historik der Mentalitätengeschichte eines Marc Bloch, Fernand Braudel und Georges Duby. Lassen sich zwischen einem künsderischen Stil und einer wissenschaftlichen Theorie Zusammenhänge bestimmen? Das Problem behandelt Schapiro beispielhaft in Einstein and cubism.n Der methodische Zweifel beherrscht die Argumentation. Gleich zu Beginn werden Hoffnungen auf eine Korrespondenz zwischen Wissen und Kunst gedämpft mit der ziemlich schroffen Äußerung Einsteins aus dem Jahr 1947, der sich entschieden dagegen verwahrte, Picassos Kunst mit seinen physikalischen Theorien verbunden zu sehen.13 Einstein mochte diesen Stil nicht; wenn zeitgenössische Kunst schon sein musste, dann eher die figurative Richtung eines Diego Rivera, wo es lesbare Aussagen zu Mensch und Gesellschaft gab. Doch wenn Einstein ganz ehrlich war, gefiel ihm moderne Kunst sowieso nicht. Der Zeit-Raum mochte sich bei Lichtgeschwindigkeit krümmen, wie er wollte: Einstein schwärmte für Rembrandt. Doch die Ignoranz war gegenseitig. So wenig Einstein etwas von moderner Kunst verstand, verstanden die modernen Künsder etwas von Relativitätstheorie. Ihr Gerede von der nicht-euklidischer Mathematik, von Simultaneity und Vierter Dimension entsprach einer intellektuellen Mode der zwanziger Jahre, die weniger von Max Plancks Quantenphysik als von der Esoterik eines Rudolf Steiner, einer Helena Blavatzky, eines Vladimir Solov'ev zehrte. Damit geht Schapiro auf kritische Distanz zu einer Ikonologie, die allzu schnell zwischen Ideen und Bildern eine Gleichung herstellt. Im Falle von Einstein und Kubismus betrifft dies die Aussagen zweier prominenter Kunsthistoriker: Siegfried Giedion und Erwin Panofsky, der eine in Space, time, and architecture, der andere in Oie Perspektive als symbolische Form. Beide ziehen eine Parallele zwischen der Relativitätstheorie und dem Kubismus als zwei entsprechenden Erscheinungen, die das Ende von Newtons absolutem Raum besiegelt hätten. Schapiro zitiert in diesem Zusammenhang Einsteins Kritik an einer Ideengeschichte im Stil von Oswald Spengler, dem Giedion und Panofsky an Oberflächlichkeit nicht nachstehen: „schoolteacher mathematics — Euclid versus Descartes is brought into everything."14

11

Schapiro 1999 (wie Anm. 6), S. 21.

12

Meyer Schapiro, Einstein and cubism: science and art, in: Ders.: The unity of Picasso's Art, New York 2000,

S. 49-150. ' 3 Schapiro 2000 (wie Anm.12), S. 50. 14

Zit. nach Schapiro 2000 (wie Anm. 12), S. 92.

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Schapiro entwickelt dagegen eine dekonstruktive Rezeptionsgeschichte der Relativitätstheorie im Kreis der modernen Künstler. Albert Gleizes und Jean Metzinger, die 1912 als erste Kubismus-Theoretiker auftraten, bezogen sich noch nicht auf Einsteins Theorie, sondern auf Poincarés La science et l'hypothèse von 1902.15 In den kubistischen Theorien stecke mehr Bergson als Einstein, vermerkt Schapiro zu Recht, wenn sie den Zeitbegriff der „durée" hochhalten. Die von den italienischen Futuristen beschworene Simultaneität hat mit Einsteins Relativitätstheorie nichts zu tun. Dagegen findet sich ausgedehnte Zeit bereits in mittelalterlichen Bildkonzepten, wo der Ablauf von Handlungen simultan in der Raumbühne auftreten kann. Juan Gris war der erste Maler, der 1921 sich zu Einstein äußert.16 Nachdem bis zu Ende des Ersten Weltkriegs die Spedile Relativitätstheorie nur in einschlägigen Kreisen diskutiert worden war, sorgte erst die Publikation der Allgemeinen Relativitätstheorie für eine größere Öffentlichkeit. Das war 1916, ausgerechnet in dem Jahr, wie Schapiro belustigt feststellt, da der Kubismus als dernier cri verhallte und Picasso seine neoklassizistische Epoche antrat. Die ideengeschichtliche Parallele, die Giedion und Panofsky zwischen Kubismus und Relativitätstheorie setzen, ist eine nachträgliche Konstruktion der Kunstgeschichte, die ihre Hypothese aufstellt, ohne sich in der Physik wirklich auszukennen. „Can Giedion have meant that the painters, in determining the still life of the table in their small canvases, applied the physicist's metric of space-time, with its unit of 186"000 miles per second (the distance traversed by light in a second)?"17 Für Geschwindigkeit, die nötig ist, ein Stillleben mit Gitarre und Absinthglas mit Pinsel und Augen zu durchqueren, reichten die klassischen Zeitkoordinaten Galileis noch durchaus. Hier diskutiert ein Kunsthistoriker das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, der seine Pappenheimer kennt: Schapiro weiß nur zu gut, wie die theoretischen Positionen seiner Künstlerfreunde gestrickt sind, wie unscharf und willkürlich ihre Rezeption wissenschaftlicher Erkenntnisse bleibt. Modewörter aus Physik, Chemie und Mathematik sind eine Inspirationsquelle für kreative Missverständnisse, als Versatzstück werden Wörter wie Vierte Dimension ins Werkverständnis einmontiert — in Form der Assemblage. Begriffe aus der Wissenschaft dienen „as a common connecting term without sufficient searching of the history, qualities, and significance of that feature in the fields presumed analogous."18 Jedes Wissensfeld hat seine eigene Diskurstradition und entwickelt dabei eine Autonomie, die sich mit zunehmender Ausdifferenzierung abkapselt. Am Ende bleibt Schapiro nur die Skepsis über vorschnelle Übereinstimmungen zwischen Kunst und Wissen. Er gesteht, dass er zu dem Thema keine These formulieren könne.

15

Albert Gleizes/Jean Metzinger, Du cubisme, Paris 1912. Schapiro 2000 (wie Anm. 12), S. 75. Schapiro 2000 (wie Anm. 12), S. 55. 16 Schapiro 2000 (wie Anm. 12), S. 112. 16 17

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Im Verlauf seiner Überlegungen nimmt Schapiro Zuflucht bei Werner Heisenberg, der Parallelen zwischen Kunst und Physik durchaus anerkennt, da Axiome der Physik, wie ein Kunststil, Idealisierungen von Welt darstellten. In diesem Zusammenhang spricht Heisenberg vom Zeitgeist einer Epoche, der Kunst und Wissen verbinde. Selbst diese Aussage eines Nobelpreisträgers für Physik kann Schapiro nicht gan2 überzeugen. Zu Recht stellt er fest, dass Weltanschauungen formal unspezifisch sind. Zeitgeist ist physiognomisch nicht fassbar im Gegensatz zu jedem spezifisch künsderischen Ausdruck. Kandinsky und Mondrian glaubten beide, die Vierte Dimension zu malen. Herausgekommen sind zwei völlig verschiedene Formrepertoires. Diskursparallelen zwischen Kunst und Wissen lassen sich auf der visuellen Oberfläche nicht darstellen. Schließlich entzieht sich auch die Relativitätstheorie jeder visueller Evidenz; sie lässt sich nur durch mathematische Formeln exakt ausdrücken. Der Kunsthistoriker Schapiro bleibt der Formanalyse verhaftet, es fehlt ihm die poststrukturalistische Methode der Diskursanalyse nach Michel Foucault. Halten wir an der Annahme von Parallelen zwischen Kunst und Wissen fest, so wären diese nicht an phänomenalen Oberflächen, sondern an epistemischen Strukturen nachzuweisen. Es ist hier nicht der Ort, eine sorgfältige Diskursanalyse anzustellen. Ein skizzenhafter Versuch sei jedoch angedeutet: Es ließe sich eine Hypothese aus dem Umkreis von Heisenbergs Physik übernehmen, nämlich die Annahme der Quantentheorie, wonach der Beobachter eine physikalische Gegebenheit durch bloße Beobachtung beeinflusst. Was in der Physik über Fallstudien nachgewiesen wurde, lässt sich auch im Fach Kunstgeschichte feststellen. Die Quantentheorie wurde 1900 von Max Planck formuliert, zur selben Zeit, als Alois Riegl, völlig unabhängig davon, die Spätrömische Kunstindustrie verfasste. Das Buch lässt sich leiten von der Annahme, wonach das wissenschaftliche Interesse eines Kunsthistorikers abhängig sei von der „Eigenart des Kunstbegehrens seiner Zeitgenossen."19 Das heißt: So wie die Gegenwart eines Quantenphysikers bei der Versuchsanordnung den Elektronenstrom aus dem Detektor beeinflusst, so beeinflusst der Kunsthistoriker das alte Dokument schon durch seine bloße Beobachtung. Das gegenwärtige Wissensinteresse verwandelt unwillkürlich, dem Kunsthistoriker selber unbewusst, das Zeugnis aus der Vergangenheit in einen Gegenstand von zeitgenössischer Bedeutung. Es entsteht eine Interaktion zwischen Beobachter und seinem Gegenstand: Im passiven Sinne ist, erstens, die Beobachtung an einem historischen Dokument von Gegenwartsinteressen geleitet; Im aktiven Sinne werden, zweitens, alle historischen Dokumente durch die Brille von eben diesen Gegenwartsinteressen interpretiert. Diese Annahme lässt sich an Schapiros Interesse für romanische Skulptur beschreiben (Abb. 4). Seine Dissertation über das Kloster Moissac reichte er 1929 an der Columbia University ein.20 Fünf Jahre lang hatte er daran gearbeitet. Zu den methodischen Vorbildern, neben Wilhelm Vöge, gehörte Alois 19 20

Alois Riegl, Spätrömische Kunstindustrie (1901,1927), Reprint Darmstadt 1973, S.3. Meyer Schapiro, The Romanesque Sculpture of Moissac (1929), Photographs by David Finn, New York 1985.

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Riegl, dessen Spätrömische Kunstindustrie 1927 neu aufgelegt wurde und dabei, jenseits des engeren Fachpublikums, auf ein breites Interesse stieß. Selbst Walter Benjamin schrieb eine begeisterte Rezension.21

4 doppelseite aus schapiros dissertation the romanesque sculpture of moissac (1929) 52. penthesileasarkophag, 2. jh., rom, vatikanische museen; 53. Sarkophag, 4. jh., ravenna, san francesco; 54. boetiusdyptichon, 5. jh., brescia, museo civico eh ristiano; 55. portratbüste des commodus, 2. Jh., rom, museo capitolino; 56. georges braque, femmes, 1908

Schapiros Moissac-Monografie baut auf Riegls zentraler These von der Ablehnung der Zerfallszeiten auf. So wie Riegl in der spätrömischen Kunst einen produktiven Willen zur Abstraktion erkennt, erkennt Schapiro im Reliefschmuck des Klosters nicht epigonales Unvermögen, antike Standards zu zitieren, sondern einen Formwillen, der sich an der zeichnerischen Ästhetik zeitgenössischer Buchmalerei orientiert — eine These die auf Emile Mâle zurückgeht. Während Mâle die illuminierten Handschriften jedoch nur beizieht, um ikonografische Fragen zu klären, unternimmt es der junge New Yorker in Moissac, die formalen Parallelen von Buchillustrationen und Reliefs zu analysieren. 21

Siehe dazu Beat Wyss, Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne, Köln 1996, S. 129.

Nach Schapiro ist bei der Skulptur von Moissac nicht von Archaik sondern von Archaismus zu sprechen: „The primitive convention (...) constitutes not the initial stages of an art, but a practized archaism with a heritage of more realistic models from an unarchaic style."22 Auf hohem Niveau pflegen die anonymen Steinmetze von Moissac eine abstrahierende Reduktion von römischen Vorbildern ins Ornamentale. Ornamental meint aber nicht ,schematisch', im Gegenteil: Die Steinmetze erfanden „Fresh combinations from figure to figure", jede Gestalt wird über eine ihr eigene Ornamentik charakterisiert. Sehr schön kommt der abstrakte Formwillen in der Behandlung der Haare zur Geltung. Betrachten wir dazu einige Pfeilerreliefs von Aposteln im Kreuzgang (Abb. 5 — 8):

S/6 köpfe der heiligen philipp und simon aus dem kreuzgang von moissac (fotografíen aus schapiros romanesque sculpture of moissac)

Die Locken des Hl. Philipp legen sich wie fischgrätiges Gefieder übereinander; Die Haare des heiligen Simon laufen in langen Strähnen von der Stirn zum Nacken; In Fransen auslaufend sind Haartracht und Bart des heiligen Andreas, deren gekräuselte Enden das Gesicht des Apostels wie Knospen umrahmen. Individuell abgewandelt sind auch die Gewänder, deren Faltenwürfe nach antikem Vorbild ins Lineare übersetzt sind. Nicht nur der Faltenwurf, sondern auch der Habitus der Standfiguren wird aus dem antiken Formular in den romanischen Flächenstil übertragen. Die Asymmetrie unterschiedlicher Beinstellungen zitiert den Kontrapost. Die Figuren stehen nicht in ,primitiver' Frontalität da. 22

Schapiro 1985 (wie Anm. 20), S. 16.

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Die Dreiviertelansicht der Gesichter ist inspiriert von perspektivischen Darstellungen. Perspektive ist auch in den rahmenden Arkaden angedeutet: So steht die Figur des Andreas auf einem trapezoid geformten Podest.

7/8 moissac, kreuzgang, köpf und gewandfigur des heiligen andreas (fotografíen aus schapiros romanesque sculpture of moissac)

Die frühromanischen Reliefs von Moissac bilden eine künstlerische Abstraktionsleistung, umgesetzt von raumplastischen Vorbildern der römischen Antike ins Flächenhaft-Zeichnerische und Ornamentale. Was Riegl 1901 an der Spätantike feststellte, als gleichzeitig die Kunst des Jugendstils den Prozess ornamentaler Stilisierung im 20. Jahrhundert eröffnete, überträgt Schapiro in sein Forschungsfeld des Frühmittelalters, als gleichzeitig, zur Zwischenkriegszeit, die Debatte um ,Realismus' und Abstraktion' erbittert ausgetragen wurde. In diesem Streit, der als ideologischer Grabenkampf enden sollte, nahm Schapiro als Mediävist Partei für die Abstraktion, wenn er deren Bewegungsgesetz ins Frühmittelalter zurückverfolgte. Schapiros wissenschaftlicher Diskurs ist also untergründig von einem kulturpolitischen Interesse geleitet: Sowenig Moissac als Zerfallsstil des antiken Kanons angesehen werden kann, so wenig darf der Abstrakte Expressionismus als kultureller Niedergang abgetan werden, wie es der Renaissance-Forscher Panofsky gern täte. Panofskys Betrachterstandpunkt, der Elfenbeinturm, entspricht einer Kunstgeschichte im Geist des Historismus, der naiver Weise annimmt, der wissenschaftliche Beobachter stehe, unangefochten von seiner eigenen Zeit, auf archi-

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9 Vincent van gogh schuhe, 1886 (fotografie aus schapiros the still-life as personal object, a note on Heidegger and van gogh)

medischem Punkt jenseits der Geschichte, die er da schreibt. Von Schapiro hingegen ist zu lernen, dass Kunsthistorik, wie weit auch immer sie ihren Blick in ferne Vergangenheit schweifen lässt, immer auf den Boden eigener Gegenwart bezogen bleibt. In einem kurzen prägnanten Aufsatz setzt sich Schapiro mit Heideggers Ursprung des Kunstwerkes auseinander, ein Essay, der 1964 in englischer Übersetzung erschienen war.23 Heidegger gibt darin eine Beschreibung der Schuhe von van Gogh, als deren Trägerin er eine Bauersfrau vermutet.24 Schapiro kritisiert diese rückwärtsgewandte Blut-und-Boden-Semantik und weist nach, dass es die Schuhe des Künstlers sind, der diese als „personal object" und symbolisches Selbstporträt gemalt habe. Metaphorisch können wir diese Aussage verallgemeinern und sagen: Auch Kunstgeschichte porträtiert nichts anderes als ihre eigenen Wanderschuhe durch die Zeit. Die Vergangenheit ist ein Feld, das sie bestellt; ihre Schritte bleiben als Spuren eines von Gegenwartsinteressen geleiteten Wegs immer sichtbar. Man muss sie nur sehen wollen und lesen können.

Martin Heidegger, The origin of the work of art, in A. Hofstadter/R. Kuhns (Hg. und Übers.), Philosophies of art and beauty, New York 1964, S. 649-701. Meyer Schapiro, The Still-Life as Personal Object. A Note on Heidegger and van Gogh, in: Marianne L. Simmel (Hg ), The Reach of Mind. Essays in memory of Kurt Goldstein, New York 1968, S. 203-209. 24 Schapiro Identifizierte es als das Werk de la Faille Nr. 255, das sich heute im Amsterdamer Vincent van Gogh Museum befindet. 23

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rigide Zeitgenossenschaft max imdahl und die bochumer Sammlung zur kunst der moderne

richard hoppe-sailer „Eigentlich ist die Museumswand die Manuskriptseite, auf die der reine Museumsmann seine Kunstgeschichte schreibt."1 Hinter dieser Pointe steht die Überzeugung, dass die Hängung einer Ausstellung oder die Präsentation einer ständigen Sammlung die Visualisierung eines intellektuellen Raisonnements darstellt. Ihr alleiniges Medium sind die architektonischen Räume, in denen es sich realisiert. Im Zeitalter von .Kontext Kunst' und von institutionskritischen Interventionen der Künstler befinden wir uns mit Blick auf diese Überlegungen in einer ,posthistoire', in einer Zeit, die diese Erkenntnis selbst wieder zum Gegenstand reflektierender Theoriebildung macht. 2 Das bedeutet aber nicht, dass sie obsolet geworden ist. Im Gegenteil: das Wechselverhältnis von kuratorischer Inszenierung, von Anschauung und Theoriebildung wird in jüngster Zeit intensiv diskutiert und die Anzahl institutionskritischer Ausstellungen und Publikationen ist Legion. An dieser Stelle soll nun nicht diese Debatte nachgezeichnet werden. Ich möchte vielmehr an einem mehrfach exponierten Beispiel — an der Präsentation der Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum — der Frage nachgehen, wie sich in ihr theoretische Überlegungen ihres Begründers und langjährigen Leiters, Max Imdahl, widerspiegeln und ob wir es dabei möglicherweise mit einem speziellen Beispiel praktischer Kunstgeschichte zu tun haben. Überdies sollen die Quellen dieses Denkens in einigen Strängen der ästhetischen Debatten der Nachkriegszeit, insbesondere aber in der Philosophie Joachim Ritters nachgezeichnet werden und damit auch ein Beitrag zur Historisierung der Kunstgeschichte der Moderne geleistet werden. Als Museumsmann tritt Imdahl in den Augen der Öffentlichkeit und in der Rezeption des Faches kaum in Erscheinung. Zwar gehört er 1968 zum Documenta-Rat, äußerte sich jedoch nie explizit zu kuratorischen Fragen. Allerdings finden sich in seinen Texten immer wieder Hinweise auf Motivation und Funktion seiner Hängung in den Kunstsammlungen

1

Eduard Hüttinger, Vorwort, in: Günter Busch, Hinweis zur Kunst. Aufsätze und Reden, Hamburg 1977, S. 3. 2 vgl. dazu u.a.: Harald Szeemann, Museum der Obsessionen, Berlin 1981. Peter Noever (Hg.), Das diskursive Museum, Wien/Ostfildern-Ruit 2001.

der Bochumer Universität. Überraschenerweise fehlen diese Bemerkungen in der Ausgabe der Gesammelten Schriften. 3 Es ist nicht möglich, eine homogene Konzeption aus diesen wenigen Quellen herauszulesen, so wenig wie Imdahls Ankaufsentscheidungen und seine Hängung in den Kunstsammlungen auf ein durchgehendes Konzept hin idealisiert werden können. Dennoch ist es im Rahmen einer Historisierung der Moderne angezeigt, die Arbeit Imdahls an und mit den Kunstsammlungen der Bochumer Universität als eine Quelle zu einer solchen Historisierung zu lesen und Texte und Ausstellungsinszenierung darauf hin zu befragen, ob sich Indizien finden lassen, die einen Bezug zwischen der kuratorischen Tätigkeit und dem theoretischen Interesse Imdahls belegen könnten. Dazu soll eingangs die Entstehungsgeschichte des Bochumer Campus-Museums kurz skizziert werden, um daran anschließend in den Texten Imdahls zu Werken der Sammlung Spuren aufzufinden, die einen neuen Blick auf die Präsentation des Museums ermöglichen.

die Sammlungen der ruhr-universität bochum Den Grundstock der Museen der Ruhr-Universität Bochum bilden zwei umfangreiche Stiftungen: Die Antikensammlung Julius und Margot Funke, die vom Archäologischen Institut der Universität betreut wird und die Sammlung des langjährigen Kunst- und Kulturredakteurs der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Albert Schulze Vellinghausen (1905 - 1967). Letztere wurde in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zusammengetragen, sie enthält vorwiegend Werke der ungegenständlichen Kunst und hinterlässt innerhalb dieses Konvolutes einen eher heterogenen Eindruck. Gestische Malerei im Gefolge von Action Painting und Informel steht neben streng konstruktiven und konkreten Werken. Schulze Vellinghausen sammelte nicht sehr systematisch, er verfolgte kein ausgeprägtes Programm außer dem einer deutlich der zeitgenössischen Kunst verpflichteten Ungegenständlichkeit. Der Sammler war bestrebt, seine Werke der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen und stiftete 1967 seine Kollektion der 1964 gegründeten Ruhr-Universität in Bochum mit der Auflage, für eine angemessene Präsentation zu sorgen

3

Daher werden diese Passagen hier nach den Erstveröffentlichungen zitiert: Max Imdahl, Zu einigen Werken aus der Sammlung Albert Schulze Vellinghausen, in: Jahrbuch 1975 der Ruhr-Universität Bochum, herausgegeben im Auftrag des Senats und des Vorstandes der „Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität Bochum e.V.", Bochum 1975, S. 111-126. Max Imdahl, Moderne Kunst, in: Jahrbuch der Ruhr-Universität Bochum, herausgegeben Im Auftrag des Senats und des Vorstandes der „Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität Bochum e.V.", 1982, S. 93-107. (Die existierenden Sonderdrucke dieser Publikationen folgen leider einer anderen Paginierung. Hier ist nach der Paginierung der Erstveröffentlichungen zitiert.)

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und durch einen jährlichen Ankaufsetat ihre Fortschreibung zu sichern.4 Imdahl notierte in einem ersten Kommentar zu einigen Werken aus der Sammlung Schulze Vellinghausen anlässlich einer Ausstellung der Bestände in der Kunsthalle Bremen: „Mit der Schenkung der Sammlung selbst, wie auch mit der Auflage, sie zeitgemäß zu erweitern, verband Albert Schulze Vellinghausen den Wunsch nach einer vermehrten Beschäftigung der Studierenden der Ruhr-Universität mit den Ausprägungen der jeweils modernsten Kunst. Die Universität sollte in den Stand gesetzt werden, einerseits über die neuesten Entwicklungen der bildenden Kunst zu informieren und andererseits ihren eigenen Bezug zur Gegenwart immer aufs Neue zu bezeugen." 5 Betrachtet man die Veröffentlichungsliste Imdahls, so ist auffällig, dass sich seine Publikationen zur aktuellen Kunst und zur amerikanischen Kunst ab Anfang der 70er Jahre häufen. Waren es zuvor Publikationen zu Macke (1957), Nay (1962), Picasso (1964) und Delaunay (1967), so schließen sich nun in rascher Folge Untersuchungen zu Johns (1969), Stella (1970, 1971), zu Morellet (1971) und Newman (1971) an. Auch wenn diese Künstler, bis auf Morellet, nicht zum Anfangsbestand der Bochumer Sammlung zählen, so wird doch ein Perspektivwechsel deutlich, der nicht monokausal zu erklären ist, von der Initiative Schulze Vellinghausens aber sicherlich unterstützt worden ist. Imdahl war nun in die Rolle eines Museumsleiters hineingeraten, ohne eine solche Position je angestrebt zu haben. Dennoch deuten sich bereits früh Wechselbeziehungen zwischen seiner praktisch-kuratorischen Tätigkeit und seinen theoretischen Schriften an. Dies gilt sowohl für sein Interesse an zeitgenössischer Kunst, als auch für das Verhältnis von historischer zu aktueller Kunst, das für seine Theoriebildung eine nicht unbedeutende Rolle spielt und das sich ebenfalls in der Bochumer Sammlungskonzeption widergespiegelt findet. Am 15. Januar 1975 wurden die Kunstsammlungen der RuhrUniversität eröffnet. In einem zum zentralen Campus orientierten Gebäudeteil der Universitätsbibliothek, der ursprünglich für den Betrieb einer Cafeteria vorgesehen war, kamen die Bestände unter. Die Räume erfüllen bis heute in keiner Weise museale Erfordernisse und mussten mit viel Phantasie für die neuen Anforderungen hergerichtet werden. 1976 bereits wurde das Museum durch eine weitere umfangreiche Stiftung ergänzt. Der Kasseler Verleger Paul Dierichs stiftete eine Ankaufssumme, Vgl. Ausst.-Kat. Aspekte zeitgenössischer Kunst. Die Sammlung Schulze Vellinghausen der RuhrUniversität Bochum, Kunsthalle Bremen 1972. In dieser Publikation finden sich kurze Texte von Günter Busch, Jürgen Schulze und Max Imdahl zum Sammler, zur Sammlung und zu den Umständen der Stiftung. Letztere Passagen sind wiederabgedruckt in: Max Imdahl: „Autobiographie", in: Ders.: Reflexion - Theorie - Methode, Gesammelte Schriften, Band 3, hg. v. Gottfried Boehm, Frankfurt/Main 1996, S. 641. 5 Max Imdahl, Zur Sammlung Albert Schulze Vellinghausen der Ruhr-Universität Bochum, in: Ausst.Kat. Aspekte zeitgenössischer Kunst (wie Anm. 4), O.P. 4

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die zum Erwerb einer Gruppe von Großplastiken antiker und moderner Kunst bestimmt war. Die Bochumer Archäologen Bernhard Andreae und Norbert Kunisch waren für die Antike, Max Imdahl für die Ankäufe der Moderne zuständig. Werke von Alberto Giacometti, George Rickey, Frank Stella, David Rabinowitch, Giuseppe Spangnulo, Anthony Caro, Nicola Carrino, Richard Serra, James Reineking, Thomas Lenk und Jan Jaap Schoonhoven kamen auf diesem Wege in die Sammlung. Der Begriff der Skulptur wurde auf Objekte ausgedehnt und abgesehen von Giacomettis Arbeit sind alle übrigen Werke in der Sammlung der ungegenständlichen Kunst zuzurechnen.

1

françois morellet, grilles se déformantes, 1963

Die Bochumer Sammlung entspringt also zum einen aus sehr heterogenen Quellen und zum zweiten ist eines ihrer bis heute aufrecht erhaltenen Grundkonzepte die Konfrontation von antiker mit moderner, genauer: mit zeitgenössischer Kunst. Auch wenn diese Konstellation in den vergangenen Jahren etwas in den Hintergrund geraten ist, so ist doch die Grundidee deutlich von dieser Konzeption geprägt. Sie verdankt sich nicht einer Nodösung, der räumlichen Zusammenführung zweier Sammlungen, sondern wurde durchaus bewusst angelegt. Die Konfrontation der Antike mit der Moderne korreliert direkt mit Imdahls Grundüberzeugung, die Beschäftigung mit der zeitgenössischen Kunst eröffne neue und innovative Zugänge zur Kunst zurückliegender Epochen. In einigen

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Passagen seiner Texte weist er auf die in der Hängung des Museums deutlich werdenden Bezüge zwischen antiker und moderner Kunst explizit hin. Die innovative Kraft und die jeweilige Modernität historischer Kunst erschließt sich ihm auf der Folie einer reflektierten Zeitgenossenschaft, die die aktuelle Modernität angemessen zu bewerten vermag. In seinen autobiographischen Notizen entfaltet er dieses Problem mit Blick auf die möglichen methodischen Probleme seiner Deutung der Malerei des Codex Egberti6 und fasst es zusammen in der These: „Vor allem das Bewusstsein von einer gegenwärtigen, noch nicht überholten Modernität sensibilisiert für vergangene Modernitäten. Wiederum also kann das, was jetzt gegenwärtig und noch gültig ist, als ein point de départ fungieren."7

beispiele aus der Sammlung

Liest man die Interpretationen Imdahls zu den Werken der Sammlung, so trifft man darin auf eine überraschende Häufung der Begriffe „Technik", Gerät", „Instrument" und „Meditation". An einigen Beispielen möchte ich dem nachgehen, um anschließend die Frage zu stellen, ob sich dahinter möglicherweise eine übergreifende Argumentationsstruktur verbirgt. Abschließend soll dann ein Blick auf das Problem der Konfrontation von Antike und Moderne geworfen werden. In Imdahls Beschreibung und Analyse von François Morellets kinetischer Skulptur Grilles se déformantes (Abb. 1) aus dem Jahre 1963 taucht der Begriff des „Apparates" erstmals auf. Nachdem er die Bewegungsabläufe dieses Werkes und die komplexen Seherfahrungen, die dadurch ausgelöst werden, beschrieben hat, kommt er zu dem Schluss: „Man kann sich nur schwerlich einen Apparat vorstellen, der real das vollzieht, was ein agierendes Gitter Morellets optisch sichtbar macht."8 Zentrales Thema der Diskussion dieses Werkes ist ihm die Darlegung einer „Totalerfahrung (...) unter der Bedingung eines wirkenden und nicht eines tatsächlichen Sachverhalts, nämlich im Anblick eines kinetischen Systems, das selbst nicht realisiert, was es für die Anschauung bewirkt."9 Damit nimmt er einen Gedanken auf, der ihm für die Beschäftigung mit der modernen, ungegenständlichen Kunst zentral ist. Imdahl geht davon aus, dass insbesondere die ungegenständliche Kunst ein Medium eigener 6

Vgl. Max Imdahl, Bildsyntax und Bildsemantik. Zum Centurioblatt Im Codex Egberti, In: Zur Kunst der Tradition, Gesammelte Schriften, Band 2, hg. v. Gundolf Winter, Frankfurt/Main 1996, S. 78-93. 7 Max Imdahl, „Autobiographie" (wie Anm. 4), S. 637. Vgl. zum Verhältnis Moderne - Tradition bei Imdahl: Gundolf Winter, Das Werk als Ereignis. Max Imdahls Texte zur Kunst der Tradition, in: Max Imdahl, Zur Kunst der Tradition (wie Anm. 6), S. 7-32. 8

Max Imdahl, Zu einigen Werken aus der Sammlung Albert Schulze Vellinghausen (wie Anm. 3), S. 119. 9 Ebd.

gg

Sinnstiftung ist, angesichts dessen „die Anziehung und Fesselung des Blicks zu tun hat mit einer Auflösung des Begriffsvermögens oder der Auffassungskraft, dass also die Sinnenwelt in d e m Maße zu faszinieren beginnt, in welchem sie die Begriffswelt verdrängt." 1 0 Diese Vorstellung geht zurück auf die Theorie Konrad Fiedlers, auf die er sich in seinen Texten immer wieder bezieht. 11 Fiedler definiert das Kunstwerk als ,,bruchstiickhafte[n] Ausdruck für etwas, was sich in seiner Gesamtheit nicht ausdrücken lässt." 12 Diese Gesamtheit ist zwar nicht begrifflich zu fassen, wohl aber in der Komplexität eines visuellen Anschauungsprozesses, in der sinnlichen „Totalerfahrung". Aber Imdahl begnügt sich nicht mit solchen zum Vagen oder Diffusen tendierenden Aussagen, er versucht das Ziel einer solchen Erfahrung angesichts von Morellets kinetischer Skulptur genauer zu bestimmen, indem er en detail das „Spannungsverhältnis" analysiert, „das zwischen der mechanischen Simplizität der faktischen Ebenenaktionen und der Komplexität der räumlichen Wirkungen besteht." 1 3 Imdahl ist offensichtlich an einer ästhetischen

adolf luther, hohlspiegelobjekt, 1965 Max Imdahl, Die Rolle der Farbe in der neueren französischen Malerei. Abstraktion und Konkretion, In: Ders., Reflexion - Theorie - Methode (wieAnm. 4), S. 141. " Vgl. Max Imdahl, Marées, Fiedler, Hildebrand, Cézanne. Bilder und Zitate, in: Ders., Reflexion Theorie - Methode (wie Anm. 4), S. 42-113. , 2 Konrad Fiedler, Beurteilung von Werken der bildenden Kunst, in: Ders., Schriften zur Kunst, Band I, hg. v. Gottfried Boehm, München 2 1991, S. 36. 13 Imdahl, Zu einigen Werken aus der Sammlung Albert Schulze Vellinghausen. a.a.O. (wie Anm. 3), S. 119. 10

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Operation interessiert, die auf der Basis einer einfachen, instrumentartigtechnischen Installation ein visuelles Phänomen zu generieren vermag, das den reinen Instrumentcharakter transzendiert. Dies genau gelingt, so seine These, im Vollzug der von Morellet durch sein Kunstwerk provozierten Seherfahrung. Angesichts von Adolf Luthers Hohlspiegelobjekt von 1965 (Abb. 2) treffen wir diese Argumentationsfigur wieder. Zu der wandfüllenden Spiegelinstallation notiert Imdahl: „Die mechanische Aneinanderreihung

günther uecker, sandmühle, 1968

identischer Teile ist die einzige, jede schöpferische Intuition verweigernde syntaktische Regel. (...) Luther beabsichtigt die Simplizität, um die prinzipiell instrumentale Funktion seiner Hohlspiegelobjekte nicht durch kompositionelle Eigenwerte zu überfremden. Denn jedes Hohlspiegelobjekt ist allererst ein Instrument."14 Auch hier geht es darum, in der Analyse des Werkes zu zeigen, wie die spezielle Inszenierung des Künstlers darauf abzielt, den reinen Instrumentcharakter der Spiegel deutlich herauszustellen, zugleich aber ästhetisch so zu überbieten, sodass dessen potentielle Irrationalität zu Tage tritt. 14

Ebd., S.120/121.

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Handelt es sich bei dieser Lesart möglicherweise um eine sehr spezielle Akzentsetzung, so expliziert und verallgemeinert Imdahl seine These in einem Text zu Günther Ueckers Sandmühle von 1968 (Abb. 3). Nach der Beschreibung und Analyse der Arbeit fügt er präzisierend hinzu: „(...) so bleibt noch eigens hervorzuheben, dass Ueckers Sandmühle ein mechanisch-technisches Werk ist und dass es, ohne diese Bedingung zu verleugnen, die Erfahrung des Beschauers über das Mechanisch-Technische hinausführt. Gerade diese Mehrbedeutung über das MechanischTechnische hinaus ist dessen ästhetische Legitimation." Ziel einer solchen Interpretation sei die Herausarbeitung einer im Werk angelegten Versöhnung von „Technizität und Emotionalität."15 Ähnliche Formulierungen finden wir auch in der Analyse einer Arbeit George Rickeys, über dessen Two Open Rectangels von 1977 (Abb. 4) es heißt: „Insgesamt ist die Plastik eine Art technisches Gerät",16 dem es an seinem Aufstellungsort, dem Campus der Bochumer Universität, gelingen könne, „die technischfunktionale Architektur ihrer Umgebung [zu] relativieren oder sogar [zu] poetisieren."17 In Imdahls Vorstellung kommt der Kunst, jedenfalls einer Reihe von Werken der ungegenständlichen Kunst der 60er Jahre, offensichtlich die Funktion zu, im Zeichen einer hochindustriellen und entfremdeten Welt mit den Mitteln dieser Technisierung, mit den Formen von Gerät, Instrument und Maschine einen ästhetischen Mehrwert zu produzieren, der die negativen Seiten dieser Erscheinungen zu kompensieren vermag. In der Analyse zweier Arbeiten Morellets heißt es zusammenfassend, Sinn der modernen Kunst sei es, „eine Wirklichkeit zu bezeugen, die sich der Anschauung offenbart, der rationalen Aneignung aber verschließt. Gerade diese Erfahrung dient unserem menschlichen Selbstverständnis in einer Zeit, die dem Leitbild des Machbaren folgend das rational Uneinholbare verdrängt und in der wir bedroht sind, sozusagen technokratisch programmiert zu werden. Im Grunde geht es bei der Kunst heutzutage weniger um die Kunst als vielmehr um die Rolle, ein Bewusstsein davon wach zu halten."18 Imdahl bezieht sich mit diesen Vorstellungen auf eine breite Diskussion der fünfziger und sechziger Jahre. Die nach dem zweiten Weltkrieg geführten Debatten um die angemessene Weiterentwicklung einer zeitgenössischen Kunst reflektierten immer wieder auf die Art und Weise, wie Kunst sich auf die neu formierende Gesellschaft, auf deren histori-

,5

Imdahl, Moderne Kunst (wie Anm. 3), S. 96/97. Max Imdahl/Norbert Kunisch, Plastik. Antike und moderne Kunst der Sammlung Dierichs in der Ruhr-Universität Bochum, Kassel 1979, S. 160. 17 Ebd., S. 162. 18 Max Imdahl, « Grilles se déformantes » und « 4 trames superposées », In: Ders., Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften, Band 1, hg. v. Angeli Janhsen-Vukióeviò, Frankfurt/Main 1996, S. 310. 16

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sehe Traumata und zugleich aber auch auf die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und technischen Entwicklungen beziehen solle. Kunst wurde als eine klare und deutliche Stellungnahme im wissenschaftlich-gesellschaftlichen Kontext verstanden. Ob dies als fundamentale Kritik an einem fehlenden Gottesbezug und ein Lamento über den

4 george rickey two open rectangles

1977 „Verlust der Mitte" (Sedlmayr) geschah oder als Postulat einer Ästhetik, in der Kunstwerke als „ein monumentales Symbolzeichen, als ein rätselhaftes Ideogramm, das nicht mehr teilbar ist und in seinem Gehalt undeutbar bleibt",19 erscheinen - immer war die Frage nach der Stellung der Kunst in der Gesellschaft leitend. Dies galt insbesondere auch für die

19

Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst, Stuttgart 1947, S. 173.

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ungegenständliche Kunst, die doch auf den ersten Blick bestrebt ist, jede Vorstellung von Erzählung und unmittelbar begrifflich organisiertem Wirklichkeitsbezug zu negieren. Nicht zuletzt das Darmstädter Gespräch von 1950 ließ diese Ambivalenzen deutlich zu Tage treten. Neben dem Hauptstrang der Debatten, der Auseinandersetzung um Sedlmayrs Thesen und Baumeisters Replik, finden sich im Subtext dieser Diskussion genau jene Erwartungen an die zeitgenössische Kunst, die uns auch in Imdahls Ausführungen begegnet. So äußert sich der Kunstkritiker Kurt Leonhard in einem Diskussionsbeitrag mit den Worten: „Es ist eine (...) Verkennung, einem Künsder vorzuwerfen, er opfere dem Götzen der Maschine, weil er sich ihre vom Techniker selbst gar nicht beachteten Schönheiten - als Ausdruck von Gesetzen und Kräften der Natur — zueigen macht, um sie zu andern, nicht mehr technischen, sondern spirituellen Zielen zu lenken. (...) Gerade das Erlebnis der Ganzheit ist es, was die besten und repräsentativsten Künsder unserer Zeit vermitteln wollen."20 Beide Argumentationsfiguren, die Transzendierung des Technischen und die Erfahrung einer Ganzheit, begegnen uns bei Imdahl wieder. Eine der Quellen für diese Ideen ist die Philosophie der RitterSchule. Möglicherweise hat Imdahl 1948 Joachim Ritters Ästhetikvorlesung in Münster gehört. Selbst wenn er nicht Philosophie studierte, so ist er doch über das Seminar Benno von Wieses eng mit den Schülern Ritters verbunden.21 Liest man Joachim Ritters Rede „Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft" von 1961,22 so stellen sich weitere überraschende Parallelen zu Imdahls Argumentation ein. Ohne die Philosophie Ritters hier im Detail nachzeichnen zu wollen, möchte ich doch auf die Verwandtschaften etwas näher eingehen, lässt sich doch daran nicht nur eine bedeutsame Quelle der Imdahlschen Konzeption nachweisen, sondern auch seine Eingebundenheit in die geisteswissenschaftliche Landschaft der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Ritter weist in seinem Text darauf hin, dass die Geisteswissenschaften gegenüber dem technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritt im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts insbesondere die Aufgabe der Historisierung und der Transzendierung der Ergebnisse dieses Fortschrittes haben. Die Gesellschaft bringe, so Ritter, in dieser Epoche „eine Klasse von Wissenschaften hervor (...), die im Verhältnis zur geschichtlichen und geistigen Welt des Menschen die Aufgabe der ,Theorie' übernehmen und so zur Basis einer Bildung werden, die nicht auf die Praxis abzielt 20

Kurt Leonhard, in: Darmstädter Gespräch. Das Menschenbild in unserer Zeit, hg. im Auftrag des Magistrats der Stadt Darmstadt und des Komitees Darmstädter Gespräch 1950 von Hans Gerhard Evers, Darmstadt o.J., S. 113. 21 Imdahl, „Autobiographie" (wie Anm. 4), S. 623. 22 Joachim Ritter, Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, in: Ders., Subjektivität. Sechs Ausätze, Frankfurt am Main 1974, S. 105-140.

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und so auch nicht aus ihren Zweckanforderungen begründet werden kann."23 Dem in Technik und Gesellschaft herrschenden Utilitarismus hätten die Geisteswissenschaften notwendig entgegenzuwirken. Im weiteren Verlauf seiner Argumentation wechselt Ritter den Fokus und untersucht das Wechselspiel von Kunstwerk und deutender Geisteswissenschaft. Dabei scheint er Gedanken Imdahls zu präfigurieren, wenn er schreibt. „Alles, was die Geisteswissenschaften in ihren historischen und hermeneutischen Methoden zum Gegenstand haben, Dichtung wie Kunstwerk, Vergangenes und Gegenwärtiges, ist immer dann, wenn es unvermittelt in Beziehung zur Gesellschaft tritt, dem Druck einer Bestimmung ausgesetzt, die es dem eigenen Wesen zu entfremden droht. Dem wirken die Geisteswissenschaften entgegen; sie haben, ohne dass sie hierin überhaupt ersetzt werden können, die unendlich wichtige Aufgabe, die Schöpfungen und Objektivationen des menschlichen Geistes immer aus ihnen selbst und in ihrem je eigenen Zusammenhang zu .verstehen' und zu begreifen, um sie so als sie selbst in die Gegenwart einzubringen: Von der Praxis getrennt und in die Freiheit reinen Erkennens gestellt, geben sie so dem Menschen die Möglichkeit eines Wissens von seinem nicht mit der Gesellschaft identischen Sein, das ohne sie ins Ferne gerückt oder seiner durch die Gesellschaft gesetzten Bestimmung geopfert würde."24 Es ist auffällig wie zahlreich sich hier die Querverbindungen zwischen Ritters Konzept von Geisteswissenschaft und Imdahls Vorstellung der Bedeutung zeitgenössischer Kunst und der Notwendigkeit ihrer Realisation im Akt einer anschaulich rekonstruierenden Interpretation auftun. Ganz so überraschend ist diese Beobachtung nicht, liest man in einer der Anmerkungen dieses Textes den Dank, den Ritter Imdahl für Hinweise zu einigen wissenschaftsgeschichtlichen Bemerkungen, die Kunstgeschichte betreffend, abstattet.25 Ritter redet expressis verbis von der Bedeutung einer deutenden Geisteswissenschaft, die ihre Gegenstände dem jeweils zeitgenössischen Betrachter und Leser entschlüsselt und in dieser Entschlüsselung deren über den reinen Zweck hinausweisenden Sinn enthüllt. Er bezieht sich dabei als Gegenbild auf eine Gesellschaft, die in der Technik und im Gerät allein auf Nützlichkeit und Ertrag ausgerichtet ist, und die zu ihrer Selbstbestimmung einer Instanz bedarf, die deutlich machen kann, dass gerade dieser Technik durchaus ein über ihre reine Nützlichkeit hinausweisendes erkenntnisstiftendes Potential innewohnt. Ein solcher Vorgang der Interpretation ist immer auf die jeweilige Gegenwart bezogen. Dieser Vorstellung folgt Imdahl, wenn er grund-

23 Ebd., S. 125. 24 Ebd., S. 133/134. 25 Ebd., S. 171, Anm. 33.

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sätzlich davon ausgeht, dass jeder Blick auf historische Kunst nur im Horizont jeweiliger Gegenwart geschehen kann.26 Kunst als sie selbst im Sinne einer selbstreflexiven ästhetischen Manifestation steht nicht im Vordergrund seines Interesses. Sie wird vielmehr gedacht als klar und deutlich auf die Sinnbedürfnisses eines jeweils zeitgenössischen Betrachters orientiert. Diese Sinnstiftung ist bei Imdahl nicht eine allgemeine, kein bürgerliches Bildungsprogramm, sondern sie steht in Bezug zum Menschen im Zeitalter der Industrialisierung und einer dadurch ihm unterstellten emotionalen und intellektuellen Überforderung und Entfremdung. Eine solche Kompensationsleistung ist nach Imdahl insbesondere in Werken der ungegenständlichen Kunst angelegt, da nur sie die eigenständigen, sinnstiftenden Potentiale der künstlerischen Medien freisetzen können.

meditation als anschauungsform Es mag überraschen, wie oft Imdahl zur angemessenen anschaulichen Rezeption solcher, auf den ersten Blick technisch-apparativer Kunstwerke die Haltung der „Meditation" fordert. So heißt es unter anderem über Morellets Trois grillages se déformantes und über Ueckers Sandmühle, sie regten „den Beschauer zu meditativer Betrachtung an"27.Eine solche meditative Haltung kann im gelungenen Falle zur „Erfahrung einer nachhaltigen Betroffenheit" angesichts eines Kunstwerkes fuhren.28 Es liegt auf der Hand, dass es die Spannung der Imdahlschen Kategorien des „sehenden Sehens" und des „wiedererkennenden Sehens" ist, die hier aufscheint.29 Allein im Akte eines sogenannten sehenden Sehens, das sich in erster Linie und in unverstellter Form an Werken der ungegenständlichen Kunst vollzieht, kann eine solche, auf das sinnstiftende Potential des Sehaktes selbst abzielende Erfahrung gemacht werden. Das sehende Sehen rekurriert in besonderer Weise auf den Wahrnehmungsakt selbst und vermag so das medienspezifische Ausdruckspotential der Kunstwerke zu erschließen. Da Imdahls grundlegende methodische Innovation im expliziten Einbezug eines solchen Sehens in den Methodenkanon des Faches besteht, muss er mit Blick auf die zeitgenössische Kunst an Werken interessiert sein, die diesen Wahrnehmungsakt des sehenden Sehens in spezifischer Weise veranlassen. Mit anderen Worten: für Max Imdahl wird die Kunstsammlung der Ruhr-Universität in dem Maße zu einer 26

Vgl. Imdahl, .Autobiographie" (wie Anm. 4), S. 636 mit explizitem Bezug auf Ritter. Imdahl, Moderne Kunst (wie Anm. 3), S. 107. Imdahl in: Imdahl/Kunisch, Plastik (wie Anm. 16), S. 115. 29 Zum Begriffspaar „sehendes Sehen und wiedererkennendes Sehen" vgl.: Max Imdahl, Cézanne Braque - Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen, in: Ders.: Reflexion - Theorie - Methode (wie Anm. 4), S. 303-380. 27

28

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Lehrsammlung, in dem sie genau diese Erfahrungen freisetzt. Auffällig, mit Blick auf seine Theoriebildung aber kaum überraschend, ist in diesem Zusammenhang die Formulierung, der Anschauungsakt habe das Ziel, die „Erfahrung einer nachhaltigen Betroffenheit" zu evozieren, sowie die Wahl des Begriffes der Meditation. Hier lassen sich wiederum Spuren der Lektüre Fiedlers nachweisen, der in seiner Schrift „Zur Beurteilung von Werken der bildenden Kunst" dem besonderen Stellenwert der Anschauung zur Explikation seiner Methode ein eigenes Kapitel widmet, in dem es unter anderem heißt: „Man gelangt, wenn man bei der Anschauung beharrt, sehr bald zu einer Fülle, die kein begrifflicher Ausdruck mehr bezeichnen und umfassen kann."30 Bei Imdahls Begriff der Meditation könnte es sich demnach um ein Konstrukt handeln, mit dessen Hilfe er seine Vorstellung des sehenden Sehens mit Fiedlers auf höchste Konzentration abzielenden Anschauungsbegriff zu verbinden sucht. Liegt ein Interesse Imdahls an der zeitgenössischen Kunst also in der Möglichkeit der Kontingenzbewältigung angesichts einer als übermächtig empfundenen technisierten Welt mit deren eigenen Mitteln, so liegt ein zweites in der Bereitstellung einer allgemeinen Versuchsanordnung zur Erkundung bildlicher Strukturen, die sich in nuce in Werken ungegenständlicher Kunst auffinden lassen. Zugleich postuliert er deren generelle Relevanz für Werke bildender Kunst unterschiedlicher Epochen. Ein Modus dieser Erfahrung ist die Haltung einer konzentrierten und zugleich reflektierenden Meditation, die nicht auf religiöse Erbauung abzielt, sondern deren Ziel eine spezifische, nur in der Wahrnehmung des Kunstwerkes zu gewinnende, Erkenntnis ist. Dieser Ansatz ist von unterschiedlichen Seiten her kritisiert worden. Schon früh monierte Martin Gosebruch die starke Konzentration auf Anschauung und Beschreibung als zentrale methodische Mittel.31 Später kritisierte Werkmeister im Zeichen einer „konsequent historischen Wissenschaft" Imdahls Interpretation von Picassos Guernica und verfehlte darin notwendigerweise das Spezifische der Imdahlschen Konzeption.32 Man wird angesichts der Imdahlschen Methode genauer von einer rigiden Zeitgenossenschaft sprechen müssen, die die Rezeption historischer wie moderner Kunst ihren Regeln zu unterwerfen sucht.

Fiedler (wie Anm. 12), S. 22. Martin Gosebruch, Methodik der Kunstwissenschaft, in: Enzyklopädie der geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden, 6. Lieferung: Methoden der Kunst- und Musikwissenschaft, hg. v. Manfred Thiel, München/Wien 1970, insbes. S. 7/8. Ders., Unmittelbarkeit und Reflexion. Erprobung der kunstwissenschaftlichen Begriffe auf dem Neuland des 19.-20. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd.23/1,1978, S. 10, Anm. 9. 32 Otto Karl Werkmeister, Rezension über Max Imdahl, Picassos Guernica. Eine Kunst-Monographie, in: Kunstchronik, 39. Jg., 1986, S. 4 2 4 4 3 5 . 30

31

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die Inszenierung Wie versucht Imdahl, dieses Anliegen in der Präsentation der Sammlung zu vermitteln? 33 Es sind dazu nur einige wenige Bemerkungen in seinen Texten enthalten. Als exemplarisch sieht er offensichtlich die Präsentation der Skulptur Giacomettis in einem schmalen, schlauchartigen Raum, in dem die im Rekurs auf Sartre beschriebene Ambivalenz von Nähe und Distanz, die eines der zentralen ästhetischen Charakteristika dieses Werkes ausmacht, unmittelbar in eine Rauminszenierung übertragen wird. Der Betrachter kann die Skulptur gar nicht anders wahrnehmen als in ei-

blick auf serras right angel prop (1969) und giacomettis diego (um 1950) in der kunstsammlung der ruhr-universität bochum

nem Bewegungsablauf, der exakt die Imdahlsche Deutung des Werkes nachzeichnet. 34 Solche Inszenierungen sind selten und in den provisorischen Räumen der Bochumer Sammlung sonst auch kaum zu realisieren. An der Präsentation Giacomettis wird darüber hinaus noch ein weiteres

33

In der heutigen Präsentation der Sammlung ist das Imdahlsche Konzept nur noch in Ansätzen nachvollziehbar. Lediglich an Hand zeitgenössischer Abbildungen lässt es sich rekonstruieren. Siehe dazu insbesondere die Publikationen in den Jahrbüchern der Ruhr-Universität 1975 und 1983 (vgl. Anm. 3). 34 Vgl. Max Imdahl, Alberto Giacometti, „Diego", in: Ders.: Zur Kunst der Moderne (wie Anm. 18), S. 355-363.

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Charakteristikum der Imdahlschen Inszenierung deutlich. Er spricht immer wieder davon, dass einzelne Werke und ganze Teile der Sammlung in einem ausgesprochenen Kontrast zueinander erscheinen. So heißt es: „Giacomettis Diego-Porträt und Serras Right angle prop stehen aus bestimmter Perspektive nebeneinander sichtbar als extreme Exponenten der modernen Skulptur (...). Serras Right angel prop ist neu konfrontiert mit Bildern und Zeichnungen von Lucebert, Soutter und Nay, also mit Werken von ganz anderer, spontan-expressionistisch bestimmter Art."35 (Abb. 5) Kontraste - nicht Ableitungen, nicht organische Entwicklungen, nicht Rekonstruktionen historischer Kontexte — sind das leitende Interesse für seine Sammlungspräsentation. Er ist hier, wie in seinen Texten, an der isolierten Betrachtung eines Einzelwerkes interessiert, dessen anschaulicher und inhaltlicher Kern sich im Nebeneinander zu anderen Werken höchstens erhellt. Immer aber ist der Rekurs auf das Einzelwerk gedacht, nicht die Herstellung eines übergreifenden, thesenartigen Zusammenhanges, der sich aus der Konstellation unterschiedlicher Einzelwerke erst ergibt. Es ist nicht verwunderlich, dass im Rahmen einer vornehmlich historisch argumentierenden Kunstgeschichte diese Bestrebungen kaum fortgesetzt werden und andere Zusammenhangsbildungen in den Mittelpunkt des Interesses rücken.

moderne und antike In besonderer Weise kann Imdahl diese Spannung in der Konfrontation von Antike und Moderne realisieren. Wie weit auch immer die gemeinsame Unterbringung der archäologischen und der kunsthistorischen Sammlungen in einem räumlichen Provisorium pragmatischen Überlegungen geschuldet ist, so bleibt doch die durchaus programmatische Entscheidung, diese beiden Sammlungen in Teilen miteinander zu verzahnen und zueinander in Kontrast zu setzen. Voraussetzung für eine solche Konfrontation ist ein Geschichtsverständnis, das weniger an der Rekonstruktion historischer Sachverhalte, als vielmehr an deren Aktualisierung für den heutigen Betrachter interessiert ist. Eingedenk der unmittelbaren Unvergleichbarkeit von antiker und moderner Kunst betont Imdahl die extremen Kontraste, die es erst erlauben, strukturelle Besonderheiten des Werkes der je anderen Epoche zu erkennen. Dass heißt, die Konfrontation erfolgt weniger auf eine Harmonisierung oder eine Scheinidentität der Inhalte hin, als vielmehr auf die Untersuchung struktureller Ähnlichkeiten. Eine Konfrontation Giacomettis mit den Köpfen der Antikensammlung beispielsweise hätte nahegelegen, wird aber dezidiert vermieden. Zwar erwähnt Imdahl einen solchen Bezug, macht ihn 35

Imdahl, Moderne Kunst (wie Anm. 3), S. 102.

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aber nicht in der Inszenierung der Sammlung deutlich.36 Es geht ihm in der Hängung, ähnlich wie im Text, eher um eine ferne Anspielung auf Gesehenes als um einen deutlich behaupteten Bezug.

jan jaap schoonhoven, relief R 74-8 (1974) und ein abguss der laokoongruppe in der kunstsammlung der ruhr-universität bochum

Anders verfährt er in der Gegenüberstellung eines Reliefs Jan Jaap Schoonhovens aus dem Jahre 1974 und einer frühen Skulptur Krickes aus dem Jahre 1955 mit dem Abguss der Laokoongruppe (Abb. 6). „In den Kunstsammlungen der Ruhr-Universität befindet sich das Relief Schoonhovens links neben einem Abguss der Laokoongruppe. Rechts von der Laokoongruppe steht Krickes Raumplastik. Die beiden modernen Werke sind für diesen Kontext geradezu erworben. (...) was die Raumplastik Krickes betrifft, so ist das Vergleichsmoment mit der antiken Gruppe der Ausdruck von Energie und Bewegung als einer den Raum dynamisierenden Gebärde: In der modernen Raumplastik steht unter dem Anspruch auf Absolutheit, das heißt in möglichster Entmaterialisierung und Entliterarisierung vor Augen, was im Laokoon sozusagen körperpositivistisch an Figuren und in Bindung an ein mythisches Ereignis zur Darstellung kommt. Dagegen bildet Schoonhovens Relief 36

Vgl. Imdahl, in: Imdahl/Kunisch, Plastik (wie Anm. 16), S. 118f.

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einen äußersten Gegensatz zur Laokoongruppe durch die Negation eines jeglichen Pathos und jeder organischen Form und Komposition." Er fügt dem anschließend eine Beobachtung hinzu, die deutlich macht, wie er, von der Wahrnehmung einer ungegenständlichen Arbeit aus, die antike Figurengruppe, losgelöst von ihrem erzählerischen Inhalt, in Hinsicht auf ein spezielles formales Problem betrachtet, dass erst erkannt wird, wenn es in dieser Konfrontation erscheint. Er spricht von den unterschiedlichen Lichterscheinungen beider Skulpturen und notiert: „Selbstverständlich ist ebenso wie das moderne Relief auch die antike Plastik dem natürlichen Licht ausgesetzt, auf das sie in Helldunkel-Bildungen gleichsam antwortet: Während aber in der antiken Plastik die komplizierte (...) plastische Konfiguration durch das lichtbedingte Helldunkel verdeutlicht, sozusagen optisch organisiert und strukturiert wird und dem-

blick in die kunstsammlung der ruhr-universität bochum mit einem relief schoonhovens neben einer antiken Skulptur

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nach das Licht eine Funktion der Form ist, ist im Falle des modernen Reliefs die einfache, serielle, nichts außer sich abbildende (...) Form eine Funktion des Lichts."37 Die Konfrontation einer Arbeit Schoonhovens mit einer antiken Skulptur ist kein Einzelfall in der Sammlung, wie die Aufnahme der historischen Präsentation zeigt (Abb. 7). Hier ist es ein schmales, hochrechteckiges Relief, das einem kleinen, ebenfalls äußerst schlanken Torso gegenübergestellt wird. Was auf den ersten Blick leicht dekorativ anmutet, veranlasst bei genauerer Betrachtung zu Reflexionen über die Möglichkeiten der Veranschaulichung von Individualität und Serialität und ließe sich damit unmittelbar anschließen an die kulturpessimistischen Überlegungen Imdahls und die Hoffnung, die er auf die Erkenntniskraft und die kompensatorische Wirkung der zeitgenössischen Kunst setzte. Diese Beispiele zeigen Chancen und Risiken eines solchen theoretischen Konzeptes. Während die Referenz auf die Bewegung bei Kricke und in der antiken Gruppe durchaus einen zentralen Aspekt der beiden Werke trifft, bezieht sich die Parallelfuhrung in Hinsicht auf das Licht auf eine allein am Werk Schoonhovens entwickelte Kategorie, die dann auf die antike Figurengruppe übertragen wird, um vice versa die Innovation des zeitgenössischen Werkes zu unterstreichen. Die Gegenüberstellung des schmalen Reliefs Schoonhovens mit dem Torso wiederum kann durchaus eine produktive Interpretation beider Werke provozieren. Innerhalb der Imdahlschen Überlegungen folgt dies einer inneren Logik, wenn er generell zum Inszenierungskonzept der Bochumer Sammlungen schreibt: „Die Konfrontation von Antike und Moderne biete(t) die Möglichkeit, die heutige Rezeption der heutigen Kunst zu der damaligen Rezeption der damaligen Kunst in ein analoges Verhältnis zu setzen, derart auch, dass die Innovationen innerhalb der Antike sich im Lichte der Moderne verdeutlichen und umgekehrt die Innovationen der Moderne im Lichte der Antike eine grundsätzliche Berechtigung gewinnen."38 Diese Gegenüberstellung besitzt für ihn also auch die Funktion einer Nobilitierung der aktuellen Kunst und deren Aufnahme in einen, hinsichtlich der Werke der Antike bereits gesicherten, Kanon. Umgekehrt vermag gerade die zeitgenössische ungegenständliche Kunst der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts in ihrer Unverstelltheit und in ihrer Konzentration auf die Veranschaulichung visueller Strukturen einen neuen, unverstellten Blick auf Werke der alten Kunst zu ermöglichen. Für Max Imdahl sind die Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum ein Ort der praktizierten Theorie, der Möglichkeit einer Aufführung der Werke im Akt einer meditativen Anschauung und einer reflektierenden Versprachlichung dieser Anschauung mit dem Ziel der 37

Imdahl in: Imdahl/Kunisch, Plastik (wleAnm. 16), S. 180.

» Imdahl, Moderne Kunst (wie Anm. 3), S. 93.

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Freisetzung der kompensatorischen Möglichkeiten der Artefakte.39 Aktuelle und historische Kunst werden in einem Kontrast inszeniert, der sie wechselseitig erhellen soll, dessen Kategorien aber in erster Linie aus der zeitgenössischen Kunst entwickelt werden. Nur dann ist es für Imdahl möglich, die humanitäre Dimension von Kunst herauszustellen. Dies kann allein gelingen, so seine These, wenn die Kunst aus ihren eigenen medialen Möglichkeiten heraus auf Entwicklungen und Erscheinungsformen der Gesellschaft reagiert und diese in einer originär ästhetischen, durch keine andere Kommunikationsform zu ersetzenden Art und Weise reflektiert.

38

Vgl. Imdahl, Moderne Kunst (wie Anm. 3), S. 93

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erdloch, erdraum und bodenplatte konkurrenz von zeugen- und kunstwissenschaft im blick auf die amerikanische kunst der sechziger jähre in münchen

antje von graevenitz Die Zeitzeugin und die Kunsthistorikerin in mir konkurrieren miteinander. Zu überraschend und unbegreiflich fand ich als Studentin der Kunstgeschichte in München im Alter von 24 - 32 Jahren oft, was ich von 1964 an in der dortigen Galerie Friedrich und Dahlem an amerikanischer Kunst sah, um es nicht zumeist harsch abzuweisen, — und zu bedeutend finde ich als Kunsthistorikerin das damals Gesehene und Erlebte, um es nicht immer wieder zu überdenken und ihm in der Kunstgeschichte einen entscheidenden Platz einzuräumen. Dabei erkannte ich, dass dasjenige, was die Zeugin unbegreiflich fand, später gerade die besondere Bedeutung ausmachte. Was war denn das Unbegreifliche? Zumeist gab es im eigentlichen Sinne kein Bild zu sehen, keine übliche Bildhauerkunst, kein Kunst-Objekt als solches, sondern in der Ausstellung von Walter de Maria alle Galerieräume voller Torferde — ein befremdender Anblick, der den Besucher zunächst sprachlos ließ. Oder aber: Der Weg durch alle Galerieräume war mit rostigen Stahlplatten von Carl Andre ausgelegt, auf denen man notgedrungen stehen musste, wollte man sich in der Galerie hin- und herbewegen. Seine Skulptur zeigte keine Darstellung und keine nennenswerte Gestaltung, dafür Allzubekanntes, das man nun als Kunst munter mit Füssen treten konnte. Oder es gab auch nur ein paar farbige Wollfáden zu betrachten, die geometrische, nicht vorhandene Körper in der Ecke oder am Boden über die Plinthe hinweg an der Wand suggerierten, wie die Werke von Fred Sandback. Waren es des Kaisers neue Kleider? Keine anregende Darstellung gab es zu besichtigen, keine bildliche Fabel zu entschlüsseln, keinen künsderischen Ausdruck auf sich wirken zu lassen, keine individuellen Spuren als Gestensprache eines Künsders nachzuempfinden sowie keine Konstruktion von Bildelementen als kosmische Vision zu erfahren. Das alles nicht. Wir Betrachter waren an sich wenig gewohnt: An München waren wesentliche avantgardistische Kunstbewegungen vorbeigegangen, die man andernorts schon erlebt hatte: die amerikanisch-europäische Fluxus-Bewegung oder auch die internationale Kunstrichtung der Nouvelle Tendance hatten nicht wie in Nordrhein-Westfalen nennenswerte Manifestationen in der bayrischen Hauptstadt gehabt. Stattdessen kannte man in München das deutsche Informel und die Ecole de Paris, die CoBrA-Bewegung sowie die Münchner Gruppen Spur und Wir. Auch die Pop Art hatte München noch nicht erreichen können. Rados standen wir Eröffnungsbesucher regelmäßig in der Galerie Friedrich und

Dahlem in der Maximilianstr. 15: Kunstkritiker wie Reinhard Müller-Mehlis, Wolfgang Christlieb, Doris Schmidt,1 Ingrid Seidenfaden und Laszlo Gloser ebenso, wie der Kunstsammler Franz Prinz von Bayern, sowie Ludwig Rinn (ein späterer Kunstsammler), aber auch einige Künstler wie Helmut Sturm, Lothar Fischer, Gerhard von Graevenitz, Uwe Lausen, Karl Bohrmann und andere. Wir blieben jedoch nicht sprachlos, sondern diskutierten bald über das Fehlende, das wohl gerade als Abwesendes das jeweilige Kunstwerk besonders und sinnvoll machen könnte. Wer wusste das damals schon mit Nachdruck zu behaupten! Wie kaum ein anderer Galerist war Heiner Friedrich mit Engelsgeduld, aber auch mit eindringlicher Stimme bereit, mitzudiskutieren, während Franz Dahlem diese Geduld vor allem für notorische Ablehner und geistig Verschlossene nicht immer aufbrachte, nicht gegenüber Autoren, die in den Medien ihr Unverständnis zum Maßstab für dieses .unglaublich Neuartige' machten, wie beispielsweise Wolfgang Christlieb von der Abendzeitung. Darin wussten sich diese dann mit all' ihren Lesern einig. Das war zu einfach. Aber rados blieb man dennoch, stets fasziniert, ohne das Vermögen, die amerikanische Kunst zu erfassen. Als erste jedoch von Ende der 60er Jahre an waren Laszlo Gloser, der zunächst für die Abendzeitung, dann für die Süddeutsche Zeitung schrieb, und bald auch Eduard Beaucamp von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dazu fähig.

cy twombly (ratlos voor doodles) Unser Lernprozess konnte kaum größer sein. Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen: Der Prager Kunstkritiker Miroslav Lamac, ein vehementer Vertreter des Prager Frühlings, und ich besuchten 1964 die Galerie und amüsierten uns über die Kritzeleien auf Papier von Cy Twombly.2 Als ob man am Telefon ein Blatt Papier mit seinen doodles mehr oder weniger bewusst vollgezeichnet hätte, schien die jeweilige Fläche mit schräg fliegenden Fensterformen oder auch reduzierten Geschlechtsmerkmalen gefüllt: automatisch, indifferent, achdos. (Abb. 1) Alles, was einem beim Zeichnen so einfällt, ist unter dieser Maxime gleich richtig. War dies genug, um Kunst genannt zu werden? Achselzuckend gingen wir hinaus zu einer anderen Galerie. Dort sahen wir wohlgeordnete, all-

Die Kunstkritikerin Doris Schmidt schrieb zu Ostern 1969 eine Kritik über Zeichnungen der Minimal-Art in der Galerie Heiner Friedrich und bemühte sich, Positives zu entdecken. Die Besonderheit in dieser Kunst, die Erfahrung und Handlung des Betrachters einzubeziehen, wie es von den Künstlern intendiert wurde, hatte sie nicht erkannt. „Konstruktiv" wollten diese Künstler ja unter keinen Umstanden genannt werden. Das war ein europäisches Missverständnis, das auch in dieser Kritik verlautet wurde. Wohl erklärte die Kritikerin, „gefesselt zu sein, von der „kühlen Feststellung sachlicher Entscheidung (...) von der Verlässlichkeit, die in jedem Strich liegt; von der Gewissenhaftigkeit im Aufbau." In: Doris Schmidt, Protokolle konstruktiven Denkens. Amerikanische Zeichnungen in der Galerie Friedrich, in: Süddeutsche Zeitung S./6./7. April 1969. 2 Dazu hatte die Galerie mit einem Faltblatt eingeladen, auf dem viele Informationen und Abbildungen standen. Twombly zeigte 10 Bilder The Northern Climate (Leinwand/Öl/Bleistift/Ölkreide sowie 20 Zeichnungen Notes from the Tower, die er in einem Schlossturm in den Alpen hergestellt hatte. Vgl. Manfred de la Motte, Cy Twombly, in: Quadrum Vol. 16, 1964, S. 35-46. - 1970 zeigte dieselbe Galerie nochmals eine Ausstellung von Twombly: Gouachen Roman Notes, 1970 und eine Mappe mit 6 Farblithographien, 1970 (siehe Einladungskarte). 1

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zu glatte Farbkreise des polnischen Malers Kantor. Plötzlich blieb Lamac stehen und zerrte mich zurück in die Galerie Friedrich und Dahlem mit der Erklärung:

iti#>ψ-

*m

cy twombly, untitled, 1964 münchen

„Wir haben falsch geurteilt, der Twombly ist ja lOOOmal besser." Also sahen wir uns Blatt für Blatt nochmals an, dieses Mal ernsthaft. Nun lernte ich: Kunst durfte irritieren, wenn auch der althergebrachte Schönheitsbegriff auf der Strecke blieb. Ganz andere Gesichtspunkte kamen auf: die Mentalität des Künsders als abwesend Anwesender; sein Versuch, der Wahrheit seiner automatisch gesetzten Motive — unbewusst aus dem Hirn in die Hand - ganz nahe zu sein; sein Unwille, formend zu gestalten, dagegen sein Gleichmut den Motiven gegenüber. Farbinseln erhielten keinen Bezug zu rasend und doch sensibel hingeworfenen Motiven, Hier gab es nur Unklarheit, Vieldeutigkeit; jede Begrifflichkeit scheuend: Die Rolle des Künsders schien nicht auf bestimmten kreativen Entscheidungen zu beruhen, sondern auf nicht-kreativen. Jedoch war auch dies eine kreative Entscheidung, typisch für das allgemeine Paradox, das die Kunst der 1960er Jahre in vielfacher Hinsicht betraf. Unbestimmheit konnte ein Wert in der Kunst sein. Das wusste man schon seit dem dem Surrealismus, Abstract Expressionism, Action Painting, Tachismus und Informel,3 hier aber schien es weitaus naiver apostrophiert.

robert ryman (tesafilm als kreative entscheidung) An eine weitere Wende in meiner Bewertung für diese neue Kunst erinnere ich mich: Normalerweise werden Bilder an der Wand so aufgehängt, dass man die angebrachten Nägel und Schrauben nicht sieht. Dagegen wurden unregelmäßig 3 Willi Baumeister und Conrad Westpfahl hatten sich um 1950 mit dem Phänomen der Unbestimmtheit theoretisch auseinandergesetzt. Vgl. Sylvia Maitin, Das Unbestimmte in den informellen Werken Conrad Westpfahls, Diss. Köln 1997, o.0.1998.

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weiß gestrichenen Papierblätter von Robert Ryman 1968 - Paintings genannt — in der Galerie Heiner Friedrich 1968 so präsentiert, dass diese sichtbar mit Tesafilm an die Wand geklebt wurden. Die damalige Einladungskarte zeigte ein Foto aus einer anderen Galerie.4 (Abb. 2) Auf Fotos von der Ausstellung bei Friedrich ist der Tesafilm an der Wand kaum zu erkennen. In Wirklichkeit sah es im Gegensatz zu den weißen Bildern grob und liederlich aus. Da wir in der herge-

robert ryman, standard, 1967, partial Installation, galerie heinerfriedrich, müncben 1969

brachten Ästhetik davon ausgingen, dass jede Entscheidung eines Künsders für seine Präsentation etwas Besonderes zu bedeuten hat, fragten wir Ryman nach dem Sinn seiner Präsentation. Der Maler antwortete wenig interessiert, leise und langsam. Er sei einfach in einen Laden gegangen und habe passende Nägel und Schrauben für seine Ölbilder und Tesafilm für bemalte Papierbögen gekauft. Die Frage nach einer kreativen Entscheidung und ihrer Möglichkeit, in Bedeutung transzendieren zu können, blieb unbeantwortet, worauf wir etwas verärgert reagierten, so, als habe man eine dumme Frage gestellt. Auf dem Nachhauseweg kam uns schlagartig der Gedanke, dass Rymans Schweigen gerade sinnvoll war: Anscheinend wollte er etwas Konkretes, Reales im Umgang mit Kunst zeigen, nicht eine erhabene Bedeutung, über die man sich im philosophischen Sinne äußern könnte. Das erschien uns auf rätselhafte Weise indifferent. Später beim

4

Einladungskarte zu Robert Rymans Ausstellung. In: ZADIK, Köln. 1973/1974 stellte Ryman in der Galerie Six Friedrich eine Mappe mit 7 Aquatintaradierungen aus, dazu eine Serie von 4 Radierungen aus der Mappe On the Bowery, Lithographien,Two Stones, und Orele Print. Gleichzeitig wurde von Sol LeWitt eine Mappe mit 10 Siebdrucken als Einzelblätter gezeigt.

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Lesen seiner Aussprüche fugte sich diese Erinnerung zu Rymans lapidaren Satz: „Malen heißt Farbe mit einem Hilfsmittel auf einen Bildträger auftragen." 5 Pragmatismus war anscheinend Trumpf. 6 Heute aber weiß ich als Kunsthistorikerin, dass die radikale Absage an Kunsttraditionen, vor allem an die europäischen, gar nicht ohne Philosophie auskam und dass deren Negation geradezu eminent philosophiehaltig war. Der Titel der demonstrativen amerikanischen Ausstellung amerikanischer Kunst The Art of the Real, die 1968 im Museum of Modern Art in New York stattfand, kam uns erst später zu Ohren. Damals wurden Kapitel für eine neue Ästhetik aufgeschlagen, die es in München schon 1964 und 1966, aber in besonderem Maße 1968 zu erkunden galt. Der Titel eines erst 2007 erschienen Buches einer französischen Philosophin macht dies noch heute deutlich. Anne Cauquelin nannte ihr in deutscher Übersetzung erschienenes Bändchen, in dem sie auf die amerikanischen Kunst der Minimal Art verweist: Verkehr mit den Unkörperlichen? In der Tat ist das Unkörperliche das eigentlich Neue in der auch visuell körperlichen amerikanischen Kunst, die die Galerie Friedrich und Dahlem in München zeigte, übrigens auch noch nach 1968, als sie sich nur noch Galerie Heiner Friedrich nannte und weiterhin von 1970 an, als die unter dem geänderten Namen Editionen der Galerie Friedrich (1970 — 1978) firmierte, aber doch immer noch oft Galerie Friedrich oder Heiner Friedrich auf den Einladungskarten stand.8 Heute ist ihre Künstlerschar weltberühmt, aber damals bedeutete es noch ein volles materielles und geistiges Risiko, diese Kunst zu zeigen.

die Studenten revolte (und wende in der kunst) Die Ausstellungen fielen mit einer Zeit der weltweiten soziokulturellen Wende zusammen. Wir waren jung und schlössen uns 1967/68 dem Protest gegen hierarchisch gefällte Beschlüsse in der Politik und an den Universitäten an, kämpften für Chancengleichheit und Mitspracherecht, gegen den „Muff von 1000 Jahren unter den Talaren", gegen die jugendfeindliche und allgemein intolerante Berichterstattung des Springerverlages, gegen den Vietnamkrieg, gegen Rassismus und die Einführung der Notstandsgesetze etc., jedoch für eine antiautoritäre Erziehung und für mehr Offenheit über die Zeit des Dritten Reiches. Anderswo, in Kent State, Warschau, Paris, Berlin und Köln, mag die Studentenre-

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Zit. in: Zeitgenössische Kunst aus der Sammlung des Migras-Genossenschaft-Bundes, Lugano 1994, S. 144 (Text von Rein Wolfs). 6 Suzanne Hudson, Ryman's Pragmatism, In: October, winter 2007, Nr. 119, S. 121-138. 7 Anne Cauquelin, Verkehr mit dem Unkörperlichen. Beitrag zu einer Kunst der zeitgenössischen Kunst. Aus dem Französischen von Ronald Voulliè, Berlin 2007, S. 21-52,64 ff. s Lisa Zeitz, Lisa Zeitz besucht den ehemaligen Galeristen Meiner Friedrich. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 13.10.2007, Vgl. Rupert Walser/Bernhard Wittenbrink (Hg.), Ohne Auftrag. Zur Geschichte des Kunsthandels, Bd. 1: München, München 1989, S. 142-153; Uta Grosenick/Raimar Stange (Hg.), Insight. Inside. Galerien 1945 bis heute, Köln 2005, S. 132,136; Kunstforum international, Bd. 104, Nov./Dez. 1989, S. 242-244, Galerie Sixt Friedrich: 246-249; Margit Brinkmann, Minimal Art - Etablierung und Vermittlung moderner Kunst in den 1960er Jahren, Diss. Universität Bonn 2006, im Internet S. 335 ff.

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volte und der allgemeine Protest Jugendlicher stärker gewesen sein und sich sogar als APO (Außerparlamentarische Opposition) etabliert haben, - in München gab es auch keinen Rudi Dutschke und keine Gebrüder Wolf, keinerlei Köpfe der Revolte. Dennoch demonstrierten auch wir auf der Straße, z.B. vor dem amerikanischen Konsulat, im Münchner Residenztheater und in den Kammerspielen, wo wir Vorstellungen mit der rabiat vorgetragenen Bitte um politische Diskussionen störten, auf Bahnhofsgleisen Züge beim Einfahren behinderten und die Professorenschaft von der Einführung eines Institutsrates für unser Mitspracherecht überzeugten. Damals war ich Studentensprecherin des Kunsthistorischen Institutes und engagierte mich für solche Ziele. Die Öffentlichkeit reagierte aufs Höchste gereizt. Als Revoltierende fühlten wir zum ersten Mal, dass wir vereint eine gewisse Macht ausüben konnten, die sich in Demonstrationen, Sit-ins, d.h. durch Blockaden und Diskussionen an öffentlichen Plätzen äußerte. Theatermacher, Jungfilmer und Literaten waren aufgerüttelt; viele verlangten mehr politisches Engagement in ihren Kunstgattungen, andere, wie ich selbst, meinten, Kunst dürfe sich nicht vereinnahmen lassen, sie müsse in Freiheit und im Namen der Freiheit ihre Inhalte selbst finden. Politisch zu wirken sei nun einmal in der bildenden Kunst keine Frage mimetischer Abbildungen. Tatsächlich blieb die bildende Kunstszene in München still.9 Dennoch vollzog sich auch hier eine beispiellose Wende, die die Kunst von innen her erneuerte. Der Ort für diese Wende hieß Maximilianstr. 15.

carl andre (das körperliche trägt das unkörperliche) Damals, 1968, legte Carl Andre durch die beiden Türen, die die drei Galerieräume, einen größeren zwischen zwei kleineren, miteinander verbanden, einen Weg aus 14 ausgerollten Stahlplatten (je 0,5 χ 60 χ 130 cm groß).10 (Abb. 3) Die Ausstellung war also vor Ort, in situ entstanden. Auch das war damals durchaus etwas Besonderes. Die rostigen Stahlelemente trugen viele Spuren ihres Entstehungsprozesses. Typisch für die Besucher war es, im ersten Raum wie angekettet stehen zu bleiben, weil man es zunächst aus Respekt vor der Kunst nicht wagte, sich auf Kunst zu stellen, geschweige denn darauf zu gehen. Bald aber wurde Andres Motto „Sculpture as form, sculpture as structure, sculpture as place" 11 für eine Aufforderung zur Bewegung akzeptiert und lächelnd erkundet. Wie war der Befund? Horizontale, identische Elemente auf dem Boden. An sich hatte auf der Einladungskarte und auf dem Plakat zu Andres Einzelausstel-

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Bezeichnenderweise geht deshalb die Literatur über die damalige Wende nicht auf die in München gezeigte Kunst ein: Gli anni 60. Le imagini al potere, Milano 1996; Um 1968. konkrete Utopien in Kunst und Gesellschaft, Ausst.-Kat. Städtische Kunsthalle Düsseldorf 1990. 10 Im Juni zeigte er 14 Stahlplatten aneinander, im August 22 Stahlplatten; 1971 kündete die Einladung für Andres Ausstellung 39 Parts retrograde Invention and Three Etudes an. 11 Zit. in: Interview von Dodie Cust: Andre: Artist of Transportation, in: The Aspen Times. 18.7.1978.

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3 carl andre 22 steel row galene heiner friedrich münchen 1968 (grundrisszelchnung von katharina sattler, münchen)

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lung in München auch eine Reihe identisch großer, schwarzer Rechtecke gestanden. 12 Andre erläuterte denn auch Phyllis Tuchman später: „My first problem has been to find a set of particles, a set of units and to combine them according to laws which are particular to each particle, rather than a law which is applied to a whole set, like glue or riviting or welding." 13 Wie das Verleimen oder Verlöten wolle er auch andere gestalterischen Kräfte vermeiden. Darin betonte Andre seine äußerst pragmatische Haltung. Aber offensichtlich war dieser Befund unzureichend beschrieben. Andre erklärte 1969, es gäbe für sein Werk keinerlei symbolische (auf einen Sinn hin transzendierende) Bedeutung, eher sei es einer chemischen Formel ähnlich. Was sollte hier wie in einer chemischen Formel aneinander geschlossen werden können und miteinander reagieren? „As the people walk on them, as the steel rusts, (...) as the material weather, the

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Carl Andre. Sculptor, Ausst.-Kat. Museum Haus Lange, Krefeld/Kunstmuseum Wolfsburg 1996 S. 243. Phyllis Tuchman, Interview with Cart Andre, in: Artforum Vol. VIII, Nr. 10, June 1970, S, 55-61.

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work becomes its own record of everything that's happen to it."14 Diese Ereignisse tragen zum Aussehen des Werkes bei und machen für Andre „sculpture as a place" aus.15 „Art is the exclusion of the unnecessary,"16, gab Andre in negativer Aussage zu verstehen, also ist dafür alles Erdenkliche notwendig, auch die Leere über den Platten, die ja nicht wirklich leer ist, weil auch die Säule aus Luft darüber etwas wiegt, sich bewegt und weil sie mit Besuchern auf eine beliebige Weise gefüllt werden kann. Es kam noch etwas hinzu: „Gravity", das Gewicht der Platten und das individuelle Gewicht der Besucher. Man könne es vielleicht fühlen, aber sicher wissen, dass es existiert. Vorzustellen wäre sogar das Ge1®! sÁjMtfcAcií EfSjwuNG Ifclig

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fred sandback, plakat zu seiner ausstellung in der galerie heiner friedrich, münchen 1968

wicht der daraufruhenden Luft. Andre machte mich darauf 1968 beim Aufbau seines Weges aus Trottoirplatten für die Ausstellung der documenta 4 in den Neuen Hallen von Kassel aufmerksam. Bedächtig schreitend trug er jeweils drei Platten von der Straße in den Saal und ließ sich nicht zur Benutzung einer Karre für die schweren Steine überreden. Er gab mir zu verstehen, dass er das Gewicht der Platten am eigenen Leib fühlen müsse, weil er immer nach den wahren Grenzen einer Sache suche. Eine weitere Grenze ergäbe sich, wenn man das Werk als „road" in Bewegung erlebe, nicht etwa als statisches Ganzes, aber als ein Ganzes auf den Platten oder an ihnen endang in Bewegung als Weg. „Roads 14

Carl Andre, Ausst.-Kat. Haags Gemeentemuseum, Den Haag 1969 S. 5. Gleiches erklärte Andre Jeanne Siegel: Interview with Andre, in: Studio International, Nov. 1970, in: Dies., Artworks. Discourse on the 60 and 70s, New York 1985, S. 130-139. 16 Dorothy C. Miller (Hg.), 16 Americans, with Statements by Artists and Others, New York, Museum of Modem Art 1959, S. 76 (Andre über Frank Stella). 15

appear and disappear."17 Bewegung habe auch etwas mit der inneren Balance zu tun, fuhr er fort. Dieses Erlebnis mache erst sein Werk aus. Es erstaunt deshalb nicht, dass Andre im Interview mit Phyllis Tuchman Konfuzius zitierte.18 Die ost-asiatische Philosophie ist davon durchdrungen, dass nicht das Ziel, sondern der Weg das Ziel sei. Auch der römische Dichter Lukrez sei sein Gewährsmann, erklärte Andre, da er nur die tatsächlich existierenden Dinge in der Welt bestätigt haben wollte.19 Jegliche Mystik lehne er ab, ebenso bloße Ideen, stattdessen lege er vor allem Wert auf Vergegenwärtigung („awareness" und „consciousness"). Sobald man dies alles weiß, erscheinen Andres Bodenplatten auf eine spektakuläre Weise unspektakulär, d.h. identisch mit der Welt, wenn sie auch in der Galerie einen fremden Anblick boten. Doch der bloße Anblick zählte damals nicht, es handelte sich auch um eine mentale Skulptur — nur wusste man es noch nicht. Anscheinend hatte auch Richard Wollheim diese Erweiterung der sichtbaren Werke noch nicht mitgedacht, als er 1964 zum ersten Mal den Begriff ,Minimal Art' für diese Art einer ganzheitlichen Kunst erfand.20

fred sandback (scheinquader und realer räum) Gleichermaßen gilt dies für das Werk von Fred Sandback. Er reduzierte die materielle Seite eines geometrischen Objektes nur noch auf seine Konturen.21 Zu diesem Zweck verankerte er acrylfarbene Wollfäden oder auch mit farbigem Stoff bezogene, bleistiftdicke Drähte in Wände und Fußboden und knickte sie zu Ecken um, so dass sich in der Vorstellung des Betrachter beispielsweise ein geometrischer Quader oder eine schräggestellte Wandplatte ergab.22 (Abb. 4) So ergaben sich Trugbilder aus an sich echtem Raum, so dass man nicht mehr wusste, ob man sie wirklich Trugbilder nennen durfte. Verschmolzen hier Objekt und Architektur in einem Vexierspiel? Schließlich ist von etwas auszugehen, was jedem Ding eignet: einer Kontur. 1968 stellte Sandback bei Heiner Friedrich aus und überließ es dem Besucher, Fragen zu stellen. Vorbilder gab es etliche in der Kunstgeschichte: Bereits Maler wie van Gogh, Gauguin, aber auch Gustave Moreau hatten die gemalte Kontur vom ebenfalls gemalten menschlichen Körper getrennt und damit eine neue Kunsttradition entwickelt. Mondrian malte angeschnittene Konturen, die der Betrachter in den Raum verlängern und Auch zit. in: Tuchman 1970 (wie Anm. 13), reprint in: Carl Andre Sculptor, (wie Anm. 12) 1996. S. 47. ' i Ebd. S. 48. ,s Tuchman 1996 ( wie Anm. 17) S. 49. 20 Richard Wollheim, Minimal Art, in: Arts Magazine Vol. 39, no 4, January 1965 S. 26-32. 21 Das quadratisch blaue Quadrat des Plakates zeigte 1968 eine gezeichnete halbe Quaderkontur, wobei die Linien der Architektur negiert wurden. - 1 9 7 1 kündigte die Galerie Sandbacks Ausstellung mit einem Faltblatt an, das die isometrische Darstellung des Galerie-Aufrisses einschließlich eingezeichneter Wollfäden Im ersten Raum enthielt. Außerdem wurde darin seine Mappe mit 8 zweifarbigen Grafiken angesagt. 1975 publizierte die Galerie einen kleinen Kat. Fred Sandback. Druckgrafik 1975. Ed. Der Galerie Heiner Friedrich. Text von Fred Jahn. Sandback hatte mit geätzten Zink- und Kupferplatten gearbeitet. 22 Konstruktionsbeschreibung auf 3 DIN A 4-Seiten der Galerie Heiner Friedrich in: ZADIK, Köln. Verwiesen sei hier auch auf Ausstellungen von James Turrell, den Heiner Friedrich aber erst 1977 und 1980 in Köln ausstellte. Turrells Lichtquader aus realen Lichtprojektionen im Raum erinnern in ähnliche in Gemälden von Hopper. 17

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als Illusion von Flächen vervollständigen kann. Erst der Betrachter sorgt so für ein vollkommenes Bild. Auch gemalte Quader können sich als reine Illusion darstellen. Aber zu Sandbacks Vorgehen gibt es große Unterschiede: Während beispielsweise der amerikanische Maler Edward Hopper Bilder malte, auf denen das einfallende Licht in einem Innenraum die immerhin tatsächliche Projektion von Lichtquadern auf dem Fußboden und den Wänden erzeugt, obwohl es diese weder in der Wirklichkeit, noch auf dem gemalten Bild zu ergreifen gibt (Room by the Sea, 1950/51 oder Light in an Empty Room, 1963), hat Sandback immerhin die Konturen körperlich vorgegeben. Seine Skulpturen kamen nun aber auf den ersten Blick ohne ein Inneres aus — auf den zweiten jedoch nicht. Damit wird die Kontur in die Wirklichkeit gezogen, während der Objektkörper zwischen Illusion und realem Luftkörper schillert. Sandback dekonstruierte das Objekt als Ganzheit von körperlichen und unkörperlichen Bedingungen wie Linie (d.h. Kontur), Farbe, Form, Material, Raum und Zeit. Letzteres kann zweierlei bedeuten: Zeit als die Dauer eines Werkes im Raum oder in der Vorstellung (bis man sich davon abwendet) oder auch Zeit als Zeitraum für Ereignisse. Sandback versteht deshalb auch die jeweilige Präsentation als Choreographie und meinte: Es habe damit zu tun, dass man etwas herauf beschwöre, wie wenn man einen Steinblock nimmt und all die Teile weghaut, die nicht wie einElefant aussähen. Das alte Thema „Figur oder Grund" sei viel komplizierter.23 Man könne dann fragen, wo die Skulptur denn eigentlich sei. Das Ding sei lauter Illusion, der von der Kontur umschriebene Raum jedoch real. In dieser Eigenschaft wollte Sandback es in die Architektur stellen und fragen, ob es sich nun noch um vergleichbare Raumbedingungen handele. Stereometrie besteht nicht um ihrer selbst willen, sondern wird erst im Handeln und Erleben des Betrachters geboren. Beides waren damals neue Faktoren für die Wahrnehmung von Kunst.

sol lewitt (an- oder abwesenheit von kuben) Auch Sol LeWitts Werk, das 1968 und 1970 in München zu sehen war, und Environments (1967) von Mel Bochner schillern zwischen der Anwesenheit von Konturen und der An- oder Abwesenheit von Körpern, auf die sie sich beziehen. Zumeist waren es Seriel "Projects, die Sol LeWitt als eine Art Kubus-Garten aus offenen oder gefüllten Kuben ausstellte, die er auf einer grauen Bodenplatte angeordnet hatte.24 In München zeigte er vier offene Würfelformen. Handwerkliche Spuren, wie sie traditionelle Bildhauer oft belassen, beispielsweise Rodin und Giacometti, lehnte Sol LeWitt ebenso ab wie Andre. Die Ausführung des Werkes konnte ruhig einer Maschine überlassen werden. Ohnehin würde der 23

Gespräch mit Fred Sandback, Michael Govan, Fred Sandback, Marianne Stockebrand, Gianfranco Verna, in: Friedemann Maisch/Christiane Meyer-Stoll (Hg.), Fred Sandback, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz 2006 (S. 153-161) S. 154. 24 1970 zeigte die Galerie Zeichnungen von Sol LeWitt. Das Faltblatt brachte die Zeichnungvon drei offenen Kuben aneinander.

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Künstler das Werk konzipieren. Darin ging Sol LeWitt soweit, vom neuen ästhetischen Wert des Konzeptes zu sprechen.25 Andre war jedoch die Ganzheit des Werkes in situ viel wichtiger als ein rein intellektuelles Konzept, das sich von der realen Ausführung lösen ließe und nur einen Plan, ein System oder auch nur die Grammatik des Werkes beträfe.

mei bochner (die gemessene architektur ist nicht die wand) Mei Bochner vermaß 1967 für seine Ausstellung einzig Wände in der Galerie Heiner Friedrich, schrieb die Zahl hinzu und nannte die Installation Measurement Series: Group Β. 26 Das schien lapidar und einfach, war es aber bei Lichte gesehen nicht. Handelte es sich um eine Wandmalerei? Nein, erklärte Bochner in seinem Pariser Katalog von 1981, „The wall is not a depiction of a wall. It's „thereness" is immediate and inescapable. The wall is continuous, it's surface turns comers. Therefore, space rather than surface is the support. However, the issue is NOT to make the space into the artwork. The space is not the object of the work, the experience is not its subject. My wallpaintings are first and foremost something to look at as placement, size, and orientation distance specific to the time and place of installation, physical as well as visual and ATTACK rather than react to the space."27 Wiederum sind es die Bedingungen („conditions") fur die Platzierung, Form und die Orientierung des Betrachters aus der Distanz, abhängig von Zeit und Raum, die das Kunstwerk in seinem Dasein („thereness") bestimmen. So pragmatisch und konkret lautet Bochners Statement.

dan flavin (die atmosphäre gehört zum Objekt) Dan Flavin führte mit seiner Einzelausstellung bei Heiner Friedrich 1968 unter dem Titel Two Primary Series and One Secondary die Problematik des in sich geschlossenen Objektes in ganz neuer Weise vor.28 Er brach das Objekt buchstäblich auf, indem er seinen Schatten und seinen Lichtschein hinzufügte. In Europa war man es von den Zero-Leuten in Düsseldorf und von den Künstlern der Lichtkinetik in der Nouvelle Tendance seit Beginn der 1960er Jahre schon gewohnt, dass auch das Licht als Material der Kunst eingesetzt wurde, nur geschah dies im romantischen Sinne in der Kunst der Zero-Leute und mit dem Ziel Chance mitspielen zu lassen, d.h. im Hinblick auf Zufallsstrukturen sowie einem Wahrnehmungsspiel in der Nouvelle Tendance. Das war in Dan Flavins

LeWitt, Sol: Paragraphs on Conceptual Art,in: ArtforumVol 5 No. 10, Juni 1967 S. 79-83. Abb. in: httD://territoiresinoccuDes.free.fr/art/oartie212.html: vgl. Brinkmann 2007 (wie Anm. 8) S. 317. 27 »Murs'. Ausst.-Kat. Centre Pompidou, Paris 1981 S. 6. 28 Dan Flavin, Ausst.-Kat. Pinakothek der Moderne. Kunstareal München 2007; Das damalige weiße quadratische Plakat der Galerle Friedrich von 1968 zeigte in seiner Mitte die fotografische Abbildung eines nicht ausgestellten Werkes: Barner of blue, red and blue fluorescent light (to Flavin Starbuck Judd), 1968, about sixty feet long as installed in the Gemeente Museum of the Mague." 25

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Kunst grundsätzlich anders.29 Nur wurde es damals nicht gleich erkennbar, zu sehr waren wir als Zeuge trunken von der europäischen Tradition. Flavin zeigte in der Maximilianstraße zwei Facetten eines Objektes: einerseits die materielle der vorfabrizierten und käuflichen farbigen Neonröhren, z.B. einer roten und einer grünen darunter, wobei eine weitere grüne beiden nach Bauziegelweise seitlich angelegt worden war (in einer Gesamthöhe von 180 cm), und andererseits die kaum materiell zu nennende, unkörperlich wirkende Erscheinung des Lichtes auf der Wand in einem Schimmer von rotem Lichtschein oben, rötlich/ grünem in der Mitte und rein grünen im unteren Feld. Die Übergänge der Farbfelder verliefen progressiv oder auch degressiv. Flavin hatte die grünrote Konstellation seiner Neons in der Münchner Galerie in die Vertikale gedreht und neben das Fenster montiert (Abb. 5). Die Abbildung zeigt deutlich beide Facetten des Objektes, die Röhren und ihren Schein.30 Auf der handgeschriebenen Einladungskarte für Galerie Friedrich hatte Flavin horizontale Neons mit wenigen Strichen angegeben und sie „K.F.", also Konrad Fischer, gewidmet.31 Aus dem Nachbarraum schien orangenes Licht herüber, dort hatte er auf der

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dan flavin einblick in seine ausstellung in der galerie friedrich münchen 1968

Flavin besuchte Gerhard von Graevenitz im Münchner Atelier in der Ainmillerstrasse. Beide besprachen Unterschiede ihrer Auffassungen vom Licht als Material der Kunst. Dem Lichtkinetiker war es nicht wie Flavin um die Auflösung des Objektes bei gleichzeitigem Vorzeigen des Objektcharakters der Neonröhren zu tun, sondern um die Auflösung der Materie im zufälligen Lichtspiel, wobei die Lichtquellen, d.h. die Glühbirnen unsichtbar blieben. 30 Abb, einer der Präsentationen aus der Ausstellung bei Gal. Heiner Friedrich, München 1968 mit dem betreffenden Lichtschein: Tate online. BTMp://www.tateora .uk/archiveioumevs/reisehtml/mov artworld.html Die Kopien dreier schwarz/weiß Fotos, auf denen der Lichtschein und die Mischung der Farben nicht erkennbar sind, sowie zweier Konstruktions-Zeichnungen befinden sich im ZADIK, Köln. 31 Sammlung Speck, Ausst.-Kat. Museum Ludwig, Köln 1996, S. 248/249. 29

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langen Wand je eine Serie von drei Objekten rot-gold und rot-grün montiert. Im dritten Raum gab es nochmals ein Fenster-Objekt aus vier Röhren und in der Ecke aus sechs weiteren zu besichtigen. Augenscheinlich wurde die Objekthaftigkeit des Objektes in Frage gestellt, indem es auch auf seine lichtatmosphärische Ausdehnung ankam. Zwar hatte Michael Fried erst 1964 in einer Besprechung von Flavins Werk in New York32 und wiederum 1967 in seinem vielbesprochenen Aufsatz Art and Objecthoo¿P3 auf die theatrale Komponente des Objektes gewiesen und mit dem Hinweis auf Marcel Duchamps objet trouvé seine Vorführbarkeit in der Kunst betont, weshalb es dort mehr sei als es selbst. Aber Fried bleibt in seiner Analyse ganz dem Objektcharakter der Werke verhaftet und sieht nicht, dass dieser ja in entscheidendem Maße von Künstlern wie Flavin reflektiert, erweitert sowie außer Kraft gesetzt worden ist. Man achte dabei einmal auf die vorsichtige Art, wie Flavin seine Arbeiten genannt haben will. Er spricht nicht von plastischen Werken, sondern von „proposals", Vorschlägen, und nicht von Environments, sondern von Konstellationen, einem Begriff, der die Kombination des körperlichen Objektes und die unkörperlich wirkende Streuung des Lichtes auf der Wand meint.34 Ferner bezieht er sich wohl auf den besonderen Umstand, dass sich in dieser Lichtstreuung die Farben stellenweise vereinigen, obwohl sie in den materiellen Neonröhren unterschieden sind. „Verlagerungen" nennt Flavin diesen Umstand, nicht etwa Ausdehnung. Flavin suchte dafür den richtigen Begriff und befand 1966: „I still feel that the composite term ,image-object' best describes my use of the medium."35 Wiederum muss man feststellen, dass es sich um eine Kunst handelt, die zwischen Sein und Schein, Fiction und Non-Fiction schillern soll, trotz rein pragmatischer Gegebenheiten.315 Da der Darmstädter Philosoph Gernot Böhme die Atmosphäre als konkrete Eigenheit bezeichnet, die der Materie anhaften könne, die aber nicht zu ihrem Charakter gehöre, betont auch er den unromantischen, pragmatistischen Aspekt einer Atmosphäre.37 Mit Flavins Installaton in München lässt sich Böhmes Argument beweisen. Dazu passt Flavins Aussage, das Licht sei in seinem Werk nur Instrument. Es vertrete dort keine weitere spirituelle Funktion und solle nicht auf eine soziologische Weise die Phantasie anregen.38

Michael Fried, Dan Flavin, in: Village Voice, 26.11.1964. Ebd. und Michael Fried, Art and Objecthood, in: Artforum 5, Juni 1967, S. 12-23 (Reprint in: Gregory Battcock (Hg.), Minimal Art. A Critical Anthology. New York 1968, S. 116-147. Fried wird kritisiert von: James Meyer, Minimalism: Art and Polemics In the Sixties. The Social critique of Minimalism, New Haven/London 2001/2004, S. 240/241. 34 Dan Flavin, Einige weitere Kommentare... Mehr Seiten aus einem spleenigen Tagebuch, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Hannover 1995, S. 178. 35 Alloway, 1975, S. 125 zit. in: Artforum 5, Nr. 4, Dec. 1966, S. 27-29. 36 Viele seiner Arbelten widmete Flavin Heiner Friedrich, vgl. Michael Govan/Tiffany Bell, Dan Flavin. The Complete Lights. 1961-1996. With an essay by Brydson E. Smith: Catalogue of Lights by Tiffany Bell with David Gray, Dia Foundation New York/New Haven/ London 2005, fig. 9 , 2 6 , 4 7 , 2 3 9 , 2 5 2 . 37 Gemot Böhme, Atmosphäre. Essays zur Neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995; ders., Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern 1998; ders., Licht und Zeit. München 2004.- Mirjana Beneta arbeitet an ihrer Dissertation über Phänomene der Atmosphäre in der Kunst seit den 60er Jahren, wobei sie Flavins Werk in den Mittelpunkt stellt (Universität zu Köln). 38 Zit. in Ausst.-Kat. American Sculpture of the Sixties. Los Angeles County Museum of Art 1967, S. 45. 32 33

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donald judd (ganzheit trotz serie) Gegen eine außerkünstlerische Funktion von Kunst entschied sich auch Don Judd. Sein Werk wird prototypisch der Minimal Art zugeordnet, obwohl es sich kaum um einfache Reduktionen, sondern um ein ganzheitlich bestimmtes Werk handelt.39 Gerade Judd stritt einen Kampf gegen die Auffassung, das Objekt sei nichts als dieses selbst im rein materiellen Sinne. Stattdessen sei es eine Einheit („unity") in der gezeigten Gestalt, je nach Lage, Ordnung, Präsenz, Luft im Umund Zwischenraum, im massiv-körperlichen, wie im negativ unkörperlichen Sinne, beispielsweise der Dauer.40 Im Ding kulminieren also die Beziehungen aller Eigenschaften miteinander. Es ist deshalb „relational", wie man in Amerika sagt. In all diesen Eigenschaften gleiche es den Bedingungen für Architektur.41 Auch sie zeige ihre Eigenschaften in einer Ganzheit und nicht nur in rein materiellen Gegebenheiten. Ein Objekt trüge die Summe aller Eigenschaften vor und nicht aneinandergereihte Einzelteile.42 Bei oberflächlicher Betrachtung denkt ein Betrachter angesichts von Judds Werken oft an eine serielle Reihung. Er muss seine Wahrnehmung umpolen und erkennt auf einmal andere Werte, das machte die Ausstellung in München deutlich: 1970 gab Judd 8 Skulpturen (später nochmals 6) aus türkisfarbigem emaillierten Aluminiumblech für die Galerie Friedrich in München in Auftrag.43 (Abb. 6) Das Blech wurde gefaltet und damit raumhaltig. Jede der gefalteten Kästen stand nun wie ,Rippen' im Galerieraum.44 Es lag also am Betrachter, den gedachten und den tatsächlichen Zwischenraum als ganzheitliche Form zu betrachten, die nur das Gehirn wahrnimmt, wie beispielsweise ein Gesicht, dass aus den gezeichneten Einzelteilen ,Punkt, Punkt, Komma, Strich' erkannt wird. In dieser Auffassung zeigte sich Judd nicht nur als radikaler Gegner der Tradition des europäischen Konstruktivismus, in dem Bildelemente komponiert werden, sondern auch als Künstler, der für die Gestalt neue, dreidimensionale Lösungen fand.45 1971 wurden Zeichnungen und Graphik in der Galerie gezeigt, die diese WahrnehmungsunDonald Judd, Specific Objects, in: Art Yearbook 8,1965, S. 74-82; reprint in ders., Compiete Writings 1959 1975 Halifax, Nova Scotia 1975, S. 115-124; ders.: Complete Writings 1975 - 1 9 8 1 , Van Abbemuseum Eindhoven O.J., S. 116 (Der Text Ist dort fälschlich mit dem Erscheinungsdatum 1986 angegeben). 40 Bruce Glaser, Questions to Stella and Judd, in: Gregory Battcock, Gregory (Hg.), Minimal Art, New York 1968, S. 149ff. 41 Interview der Studenten der Ruhruniversität Bochum mit Judd (1.2.1990), in: Ausst.-Kat. Donald Judd, Kimstverein St. Gallen 1990. « Judd.1965 (wie Anm. 39), S. 74-82. 43 Vgl. Brief von Don Judd an Franz Meyer, Direktor des Kunstmuseums Basel, vom 1.4.1970: „The space between the boxes is important." In: ZADIK, Köln. Weitere Briefe zur Entstehungsgeschichte des Werkes und zu 17 wall boxes of V» inch plywood, 1979 im Auftrag der Galerie Six Friedrich, in: ZADIK, Köln.; vgl. Brinkmann 2006 (wie Anm. 8), Bd. II, S. 230, 251, Fussnote 378. Abb. in: Brydon Smith, Donald Judd. Catalogue Raisonnée of paintings, Objects and Wood-Blocks, National Gallery of Canada, Ottawa 1975, S. 150. 1971/73 gab Judd für die Galerie Friedrich in München 18 Skulpturen aus galvanisiertem Eisenblech in Auftrag. Dokumente in: ZADIK, Köln. 1976 zeigte die Galerie Judds Zeichnungen und Grafiken. Auf dem Faltblatt warb sie mit der isometrischen Zeichnung von 1967, die für die bei Friedrich 1970 ausgestellte Arbeit als Vorlage gedient hatte. 44 Vgl. isometrische Zeichnung auf einem Einladungsblatt (DIN A 4) der Galerie Heiner Friedrich, München. 45 Don Judd, Aust.-Kat. Kunstverein Hannover, 1970, S.40. Vgl. Judd in: Bruce Glaser, in: Battcock 1968 (wie Anm. 33), S. 154. 39

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β donald judd eight sculptures 1970

tersuchung von Gestalten als Einheit von gereihten Objekten erneut vorführten. Aber die Wahrnehmung einer Ganzheit war für Judd entscheidend. Gleiches gilt auch für die vier Werke der Land-Art, die in der Galerie, aber sogar erstmals auch außerhalb auf freiem Münchner Gelände verwirklicht wurden. Das war damals etwas ganz Außerordentliches. Bis heute werden in der Kunstgeschichte diese Meilensteine weitergereicht.

mike heizer (ausgrabung als negation) Als Munich Depression begann die Reihe der Land-Art-Projekte 1969 in Europa wie ein Paukenschlag. (Abb. 7) Auf einem Baugelände in München-Perlach ließ Heizer ein weites Loch im Durchmesser von 30 m und mit einer Tiefe von 4 m ausgraben und 1000 Tonnen Erde wegschaffen, so dass sich daneben kein Wall oder Hügel bildete.46 Franz Dahlem stand ihm dabei als Galerist zur Seite. Zunächst nannte Heizer diese Ausgrabung Vague Depression, war dann aber mit dem Titel Munich Depression zufrieden.47 Gleichzeitig konnte man sich in der Galerie in einer Nicht-Ausstellung über das Werk anhand von Fotos, Zeichnungen48 und Entwürfen über vorangegangene Werke von Heizer informieren. Er selbst betrachtete diese Ausstellungsstücke nicht als Kunstwerke, doch waren sie käuflich. Diese Zweiteilung wurde bald nach für die neue Land-Art typisch. Einerseits übernahm man in die Kunst die vielseitige Praxis der Projekt-Offices in Amerika, die mit ihren Fotos, Karten, Berechnungen, Beschreibungen und 46

Florian Hüttner, Michael Heizers Erdskulpturen In der „Wüste" von Perlach. In: Helmut Draxler (Hg.), Die Utopie des Designs, München 1994, O.S. Pressemitteilung, abgedruckt in: Thomas Kellein, Land Art - ein Vorbericht zur Deutung der Erde, in: Europa/Amerika. Die Geschichte einer künstlerischen Faszination, Ausst.-Kat. Museum Ludwig 1986, S. 389. 48 Eine Zeichnung zeigt das Internet: Study for City-Depression, 1969, Pencil and Ink on paper. The Mayor Gallery, London, http://www.artnet.de/artworW424391789/725/michael-heizer-studv for City Depession. Anders als Richard Long wollten Heizer und Walter de Maria Fotos nicht als Kunstwerke auffassen. Vgl. Kellein 1986 (wie Anm. 47), S. 390. 47

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Zeichnungen in Aufsicht oder Durchschnitt, manchmal sogar Reliefmodellen, Projekte nach allen Regeln ihrer Kunst visualisierten, und andererseits gab es die Ausführungen der Land Art irgendwo auf der Erde, zumeist fernab auf unzivilisiertem Grund. Dass Heizer jedoch der Verwirklichung eindeutig den Vorzug

7 michael heize r munich depression, 1969

gab, macht folgender Ausspruch deutlich: „Jegliche Sprache ist der Vorstellung inadäquat. Sie ist bestenfalls hieroglyphisch und provinziell; Lesen ist nicht Sehen."49 In diesem Fall erklärte auch die Pressemitteilung der Galerie, warum das Sehen ein außerordentliches Erlebnis bedeuten würde: „This work has no measurements as its limits are infinite.50 Aber, so fugte man hinzu: „The permanent placements of this work is for sale." Der Erdarbeit war keine Permanenz beschieden, der umgekehrte Kegel wurde wieder zugeschüttet und diente bald als Baugrund. So lange es bestand, war das Werk begehbar, „outdoor" - ein Novum in Europa. Natürlich kannte man die Gartenkunst mit ihren sorgfältig gestalteten Heckenlabyrinthen, jedoch handelte es sich hierbei um angewandte Kunst. Die Münchner Versenkung galt als autonome Kunst. Sie sah jedoch alles andere als sorgfältig gestaltet aus. Damalige Fotoserien zeugen noch von der brockelig steinigen Erde. 51 Überall, auch im Erdtrichter selbst, gab es kalügrafische Rillen als Streifenspuren von Lastwagen und Planierraupen. In sicherer Entfernung ragten die Kräne gen Himmel. Sie mussten so weit entfernt bleiben, dass ihre Schatten oder die der Häuser niemals an die Erdversenkung her-

49 50 51

Zit. in: The Art of Mike Heizer, in: Artforum Vol. Vili, No. 4, Dez. 1969 (1). Kellein 1986 (wie Anm. 47 ) S. 390. Germano Celant, Michael Heizer, Fondation Prada, Milano 1997, S. 145-151,176.

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anreichen -würden.52 Hätte man an eine Baustelle oder einen Landschaftsgarten denken sollen?53 Heizers Hintergrund war ein anderer: Als Sohn eines Archäologen hatte er formal gesehen eine Ausgrabung als solche für ein skulpturales Programm eingesetzt. Gleichsam wie eine Reliefplatte wurde die Erde ausgehöhlt. Ihre Negativform glich älteren Gestaltungen in der Bildhauerkunst, die ein Loch integriert. Henry Moore und Barbara Hepworth, aber auch Hans Arp, bald auch Lucio Fontana, hatten bereits in den 30er Jahren Negativformen und Zwischenräume der Masse kontrapunktisch entgegengesetzt. Die Negation des Volumens gehört dort zum Werk. Aber ein 30 m breites Loch in einer kunstfremden Stadtgegend hatte ein ganz anderes Kaliber - als wäre es sozusagen fremdgegangen und wolle mit echten Baugrundlöchern konkurrieren. Wie kein anderes machte dieses Werk den Münchnern schlagartig klar, was die oft beschworene Grenzerweiterving der Kunst eigentlich bedeuten konnte. Die Grenze war in der Tat überschritten. Konnte ein derartig rauhes Werk noch Kunst sein? Es war eine harte Übung, vom Erlebnis dieser Durchstoßkunst auf ein Abstractum nach Art der Hegeischen ,These-Antithese-Sythese' zu schließen: Die sogenannte Versenkung („Depression") schloss sich dem holistisches Denkrahmen an, in dem die Negativform zur positiven Erdmasse hinzugerechnet werden soll, die trichterförmige Luft zur Erdplatte, Körperliches zu Unkörperlichem.

waiter de maria (der erdraum als handlungs- und meditationsraum) Zwar hatte auch Heizers Freund Walter de Maria .Earthworks' gemacht, bevor er seinen Earthroom 1968 in der Galerie Friedrich als Gallery Earth Show oder auch Diri Sculpture einrichtete,54 doch war dieser nicht eigentlich ein typisches Werk der Land Art, übrigens ebenso wenig ein typisches Werk der Minimal Art. Es war eher eine weit ausholende Geste, mit der Erde in die zivilisierten Räume der Galerie geholt wurde. Zu meinem damaligen Erstaunen durfte der 60 cm hoch gestapelte und sodann geglättete Torf den Galerieboden nicht beschmutzen. An Rändern war hier und da noch die unterlegte Plastikplane zu erkennen. Photos vom Aufbau bezeugen diesen Umstand. 55 Das gab der Ausstellung trotz der revoltierenden Geste des Ausstellers einen artigen Anstrich. „Meaningless" war dieses Werk, wie de Maria andere schon 1960 herzustellen beabsichtigte, 56 sicherlich nicht! — Konkret gewiss, aber sonst das Gegenteil einer solchen Ei52

Vgl. Zitat in: Ausst.-Kat. Michael Heizer, Museum Folkwang, Essen, Rijksmuseum Kröller-Müller, Otterio 1979, S. 13/14. 53 Ebd. S. 144. Vgl. Patrick Werkner, Land Art USA. Von den Ursprüngen zu den Großraumprojekten in der Wüste, München 1992, S. 61, Abb. S. 65. 54 Brigitte Jacobs, Walter de Marias erster Earthroom: Aus dem Zentralarchiv 24, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.4.2004. 55 Fotodokumente in: ZADIK, Köln. 56 1961 hatte Walter de Maria Boxes for meaningless Work hergestellt. Vgl. de Maria, Walter: Meaningless Work. (March 1960), in: La Monte Young (Hg.), An Anthology, New York 1962, reprint in: La Monte Young/Jackson Mac Low (Hg.): 1963, reprint von Galerie Heiner Friedrich Köln, 1970.

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genschaft: Dieses Environment wurde damals als Affront gegen alles empfunden, was eine Galerieausstellung und eine Galeriearbeit bis dahin ausmachte. Ließ sich ein solches Werk verkaufen? Versilbern ließ es sich nicht. Der Earthroom wanderte (angepasst) 1974 nach Darmstadt ins Hessische Landesmuseum weiter und wird seit 1977 bis heute permanent als Eigentum der Dia Art Foundation in Soho/New York ausgestellt. Die Präsenz des Werkes ist dort immer noch gewaltig, denn sie enthält Verweigerungen: Diese Erde ist keine Erde mehr, sondern einer Boden-Skulptur gleich — sie erzeugt zwar einen künstlichen Raum, aber keinen Landschaftsraum, und sie durfte und darf nicht betreten werden. Also war sie auch kein Galerieraum mehr. So zeigt sie sich als Bühne ohne Schauspieler, ganz sich selbst, Erde im fremden Land der Galerie. So bot denn dieser Blick einerseits Sicht auf einen stillen Meditationsraum, in dem Erde auf eine erhabene Weise zur Schau gestellt wird, und andererseits den Nachvollzug einer Aktion. Entfernt erinnert sie an das Action Painting von Jackson Pollock, das auch den Atelierboden betraf, worauf seine Bilder während der Tropfprozedur lagen. De Maria stellte wie alle anderen Künsder bei Friedrich die Sinnfrage nach der Kunst, in seinem Falle aber waren die auseinander driftenden Perspektiven: hier Meditation, dort die Ausstellung als Akt bzw. Handlung und die Attacke auf die Galeriearbeit besonders heftig. Eine Präsentation der reinen Erde als ,nur Material von 50 Kubikmetern und nichts weiter' war es keineswegs. Vielleicht meinte Franz Meyer diese Kunst der Widersprüche, als er meinte, sie mobilisiere „geistige Energien".57 Insofern fällt gerade bei de Maria kaum jemandem ein, seine Kunst minimalistisch zu nennen, zu energiegeladen scheint die Geste, den Galerieboden voller Torf zu schütten. Bereits 1960 hatte er davon gesprochen, einen „art-yard" zu machen,58 sozusagen als zur Schau gestellten Bezirk der Kunst, an sich damals schon als erhabener Vorschlag. Sein Earthroom war in holistischer Weise alles in einem: Kunstzone, zur Kunst erhobene Erde, zur Schau gestellte Erdbühne, Handlungs- und Meditationsraum und damit eine Grenzüberschreitung, die das Werk zu vielen und damit zu komplexen Sichtweisen öffnete.

olympia-projekte (die anders geführte diskussion) Solche vielseitigen Ausgangspunkte waren vermutlich gewünscht, als Heiner Friedrich dem Olympia-Komitee für die wichtigste Sportveranstaltung der Welt von 1972 im Jahr zuvor ein Land Art-Projekt anbot, das eine — dann doch nicht eingereichte - von Carl Andre, das andere — wohl vorgeschlagene — von Walter de Maria. Beide Projekte hätten fürwahr eine besondere Grenzüberschreitung für die Galeriearbeit, aber auch für die Kunst bedeutet! Dazu gab es eine Versuchsaufstellung von Carl Andre (Abb. 8). Ein Foto zeigt einen Hügel, der wie

57

Franz Meyer, Walter de Maria, Museum für Moderne Kunst, Frankfurt a.M. 1991, S.8. GIE, Guggenheim International Exhibition, New York 1971, S.17 (Kassette mit gebundenem Text zur Einführung und lose Blattsammlung).

58

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von einem Netz von dünnen Metallrahmen überzogen ist.59 Schon zuvor hatte sich Andre mit sehr dünnen auf dem Boden aneinander gelegten Metallstäben eine Möglichkeit geschaffen, den Ausstellungsbesucher fragen zu lassen, ob er denn vor einem Werk der Bildhauerkunst stehe oder ob der Bezirk davor, in dem er sich selbst befand, oder die Zone dahinter, in die er hineinsehen konnte, zum Werk hinzugerechnet werden müsste. Das war Ansichtssache und von Andre in seiner holistischen Auffassung gewünscht. Auf dem Münchner Hügel hätte es wohl zu verwandten Sichtweisen kommen sollen. Allerdings erwies sich das Projekt wegen der feinen Metallstäbe nicht als Vandalismus-tauglich. De Marias Vorschlag hatte zunächst sehr viel mehr Aussicht auf Erfolg. Er war so ungewöhnlich, dass er bald landauf/landab auch Gemüter erhitzte, die sich sonst von Kunst fernhielten (Abb. 9). Sein Projekt bestand in einer tiefen Bohrung in den Münchner Schuttberg hinein, der sich an das Olympia-Gelände an schloss. Wohl wegen der Art der Aufschüttung von Trümmern aus dem Zweiten Weltkrieg, aber auch, weil die Leerstelle nicht einzusehen, sondern nur

ί

carl andre, Versuchsaufstellung für ein olympiade-projekt, 1972

vorzustellen sei, sprach man bald ironisch vom „Denkloch". So ganz unrecht hatte man nicht. Auch Gedanken bohren sich in Materie ein. Das Loch hätte dafür als leere Hülle wie eine Leerstelle offengestanden, um den Schuttberg als Ort der Geschichte zu begreifen. Wiederum hätte es sich um eine Negation in der Masse gehandelt, vermutlich war dieser Gedanke de Maria wichtiger, als der auf einen historischen Bezug. Kunstkritiker wie Laszlo Gloser und Eduard Beaucamp widmeten dem Vorschlag damals in ihren Zeitungen zur Unterstüt59

Abb. in: Cuts. Carl Andre. Texts 1959 - 2004., hg. von James Meyer, Cambridge, Mass./London o.J., S. 187.

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zung gründliche Analysen, wie sie sonst Kunstprojekte in den Feuilletons selten erhalten.60 Gloser diskutierte, ob es möglich sei, auf dem Gebiet der Olympiade mit Hilfe der Kunst über die bloße „Funktionalität" hinauszuweisen. Beaucamp erklärte das Projekt selbst wegen der historischen Komponente zur „konkreten Utopie".61 Es blieb leider eine. Da das Projekt vom Komitee nicht so hoch geachtet wurde wie von einer ganzen Reihe hochrangiger Kunstspezialisten, die sich in letzter Minute für die Verwirklichung des Entwurfes brieflich aussprachen, wurde es letztlich doch zu Gunsten von Zero-Künstlem verworfen.62 Anders als die Land Art und Minimal Art setzte die Pop-Art trotz der damals neuen Bildmotive aus dem amerikanischen Alltag und der banalen Medien, die uns damals erregten, auf traditionellere Sehweisen der Kunst: auf narrative Strategien, Assoziationsketten, Collage-Techniken, Ausdrucksmittel, Objekthaftigkeit. Es war eine Kunst der Mimesis auf ganzer Linie. Der schwieriger zu verstehenden Pragmatismus von Land Art und Minimal Art war der figurativen Pop Art fremd.

waiter de maria, die olympische erd Skulptur, Projekt für d a s

olympiadegelânde manchen 1971 (Zeichnung von katharina sattler münchen)

philosophische Inspirationen (empfindung, handlung und ganzheit) Mit dem Stichwort Pragmatismus' ist eine vorwiegend amerikanisch orientierte Linie der Philosophie gemeint, die ausgehend von ihrem Begründer Charles Sanders Peirce bereits am Ende des 19. Jahrhunderts feste, vorgeprägte Ideen und Überzeugungen ablehnte. Stattdessen machte Peirce Erkenntnis immer von

60

Laszlo Gloser, Die Endskulptur. Materialien zu einem olympischen Projekt, in: Süddeutsche Zeitung 16717.12.1972; Eduard Beaucamp, Denkmal, in die Erde gebohrt. Olympische Kunst und Walte de Marias Projekt, In: Frankfurter Allgemeine Zeltung 9.11,1971, reprint in: Ders.: Das Dilemma der Avantgarde. Aufsätze zur bildenden Kunst, Frankfurt a.M. 1976, S. 206-209. 61 Ebd. S. 207. 62 Der Briefwechsel Ist im ZADIK, Köln, archiviert.

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der Praxis von Beobachtungen und Handlungen abhängig.63 Allem vermeintlich Absoluten wurde das Relative in der Wirklichkeit vorgezogen. Auf dieser Grundlage argumentierte in den 20er Jahren auch John Dewey und in den 60er Jahren erneut Willard von Orman Quine.64 Beide Philosophen bauten die Theorie des Pragmatismus aus. Dewey ließ Erkenntnis von subjektiver Erfahrung abhängen und stellte dabei dem Postulat rationaler Erkenntnis verstärkt solche von Empfindungen zur Seite, während Immanuel Kant mehr als ein Jahrhundert zuvor Empfindungen nur als eine Vorstufe zum „reinen" Bewusstsein anerkennen wollte, das in für ihn selbstverständlichen Weise aus der Vernunft und dem Vermögen zum Urteilen bestehen sollte.65 Dies änderte sich in Deweys Philosophie grundlegend. Seine Bücher wie das bekannte Experience and Nature (1925)66 wurden unter amerikanischen Künsdern herumgereicht. Quine machte dagegen auf der Basis der europäischen Sprachphilosophie nun einen Unterschied zwischen Sprache und Erkenntnis auf Grund von Handlungen in der Wirklichkeit, die alle von ihrem Kontext abhängen würden. Sprache könne deshalb diese Wirklichkeit nicht widerspiegeln, jedoch würden beide gemeinsam in einem holistischen Ganzen zu einer akzeptablen Erkenntnis fuhren. Den Holismus, wie die Lehre von der Ganzheit als solche genannt wird, fand als philosophische Richtung auf Grund einer Theorie des Südafrikaners Jan Christiaan Smuts mit seiner Schrift Holism and Evolution (1926) Eingang in Amerika. Smuts hielt es für möglich, dass alle Teile, so unterschiedlich und miteinander widersprüchlich sie auch seien, in einem Ganzen mit einander kommunizieren und korrelieren würden. Der Begriff Korrelismus war denn auch seit den 20er und 30er Jahren in Ost und West en vogue. In einem Punkt waren sich alle diese philosophischen Richtungen einig: Sie lehnten reine Ideen, auch religiöse, als nicht zu verifizieren ab, und sie waren deshalb extreme Gegner einer wie auch immer gerichteten Metaphysik. Darin stimmten sie mit Ludwig Wittgenstein überein, dessen berühmter Satz: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen" viele Philosophen nach ihm und besonders die Pragmatisten in Amerika beeinflusst hatte.67 Ihr Pragmatismus war auf eine Ganzheit bezogen, aber diese Ganzheit musste verifizierbar bleiben. Auffallend oft beziehen sich die hier genannten amerikanischen Künsder auf pragmatische Schlüsselbegriffe, ohne jedoch den Begriff Pragmatismus selbst zu erwähnen. Beispielsweise verstehen sie ihre Skulptur als Erfahrung und Handlung wie Carl Andre. Dies erklärte auch Beatrix Zug in ihrem Buch Kunst als Handeln, in dem sie jedoch auf keine bestimmte Kunst eingeht.68 In der Tat 63

Charles S. Peirce, O n a New List of Categories, in: Proceedings of American Academy of Art and Sciences, 7

1867, S. 287-298; ders., Upon Logical Comprehension and Extension, in: ebd., 1987, S. 418-432. 64 65

Willard von Orman Quine, Word and Object, Boston 1960. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 1. Teil, Werkausgabe, Bd. X, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt

a.M. 1974, S. 115 ff., 122-127,131-134,142-183, 231-236, 240ff, 297 ff. 66 67

John Dewey, Erfahrung und Natur (1925). A u s dem Amerikanischen von Martin Suhr, Frankfurt a.M. 2007. Ludwig Wittgenstein, tractatus logico philosophicus. Logisch philosophische Abhandlung (Orig. 1918/1922),

Frankfurt a.M. 1963, S.115 (7.Satz). 68

Beatrix Zug, Kunst als Handeln. Aspekte einer Theorie der schönen Künste im Anschluss an John Dewey und

Arnold Gehlen, Tübingen/Berlin 2007.

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hat der von ihr in Anspruch genommene John Dewey erwogen, wie Objekte durch Ereignisse einen Sinn erhalten, mit dem sie quasi etwas sagen sollen. Die Erfahrung (z.B. von Dingen) habe ihre eigenen objektiven Eigenschaften. Qualitäten könnten beschrieben werden ohne Bezugnahme auf ein psychologisches Selbst, sondern auf ein objektivierbares, universelles. Die Kenntnis der Entstehungsbedingungen erfahrener Objekte sei erst dann vollständig, wenn darin ebenso organische wie extra organische Bedingungen eingeschlossen seien. Dass Dewey dabei keine psychologischen, individuellen Erfahrungen meinte, sondern solche, die ein jeder gleichermaßen und austauschbar machen kann, ist dabei selbstverständlich. Das Gleiche gelte für Tätigkeiten, die Dewey als „Basis für die Empfindungsfähigkeit" bezeichnet. Sprache diene nun dazu, diese empfundenen Tätigkeiten zu identifizieren, sie würden so „objektiviert". All dieses liefe praktisch darauf hinaus, Beziehungen von Ereignissen untereinander als die eigentlichen Objekte der Erkenntnis zu nehmen. Der so generierte Sinn sei als Mittel einer Generalisierung universal, denn Sinn sei ebenso objektiv wie allgemeingültig. In diesem Zusammenhang führt Dewey sogar das Wort „minimal" auf, da die in der Sprache benutzten Eigenschaften, die Ereignisse oder Dinge beschreiben, einen Minimal-Sinn (das Wort wird von Dewey kursiv gestellt) ergeben, „der für die Zwecke eines intellektuellen Sicherheitsdenkens absichtlich beschränkt" sei.69 In dieser Hinsicht nahm Dewey den Faden wieder auf, der in der Zeit der deutschen Romantik ausgelegt worden war. Friedrich Wilhelm J. Schelling erklärte beispielsweise in seiner Philosophie der Kunst·. „Die Schönheit ist weder bloß das Allgemeine oder Ideale (dies = Wahrheit) noch das bloß Reale (dies im Handeln), also sie ist nur die vollkommene Durchdringung und Ineinsbildung beider. Schönheit ist dann gesetzt, wo das besondere (Reale) seinem Begriff so angemessen ist, dass dieser selbst, als Unendliches, eintritt in das Endliche und in concreto angeschaut wird."70 Weiter betont hier Schelling: „Kunst beruht (...) auf der Identität der bewussten und bewussdosen Tätigkeit." Solche Worte lassen uns an die von Heizer, Judd und Andre denken. Auch ferner findet man in den Schriften von Philosophen des 19. Jahrhunderts verwandte Auffassungen, beispielsweise bei Arthur Schopenhauer, über den übrigens Heiner Friedrich eine philosophische Dissertation plante, die er aber 1963 zu Gunsten der Galeriearbeit aufgegeben hat. Fand er sich deshalb schon in den 1960er Jahren seinen Künsdern im Denken nahe?71 Bei Schopenhauer hätte er in dem zentralen Werk Die Welt als Wille und Vorstellung die Äußerung finden können: Schön sei etwas, wenn uns sein Anblick objektiv mache, nicht etwa als Individuum, sondern weil uns als reines, willenloses Subjekt die

» Dewey 2007 (wie Anm. 66), S. 167,168,186, 226,231,249, 251,254. 70 Michael Hauskeller (Hg.), Was die Schönheit sei. Klassische Texte von Platon bis Adomo, München 1994, S. 296. 71 Im Telefongespräch mit der Autorin im März 2008 meinte Heiner Friedrich allgemein auf die Frage, ob er und seine Künstler der Minimal Art Inspirationen aus der Philosophie des 19. Jahrhunderts gefunden hätten, er glaube fest an die Tradition, nicht an die Konvention.

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eigene Erkenntnis bewusst würde.72 Zwar hielt Schopenhauer daran fest, dass sich die Erkenntnis auf ein Ding konzentriere, er glaubte aber, dass „das reine Subjekt des Erkennens (...) als nothwendige Korrelater immer zugleich ins Bewustseyn" trete. Beide Philosophen, Schelling wie Schopenhauer, betonten also, ohne Immanuel Kant selbst als Quelle anzuführen, dass es so etwas wie das Postulat ,das Ding an sich' nicht gäbe, sondern dass die Erkenntnis immer auch im Bewusstsein von sich selbst hinzukäme und sich mit dem Erkannten vereinige. An sich definierten diese Philosophen schon damals eine hermeneutische Auffassung. Es erstaunt deshalb nicht, dass Judd Immanuel Kants Begriff des „interesselosen Wohlgefallens" kommentierte. Er meinte zwar, „a work needs to be interesting",73 aber das gelte nicht für das ,Ding an sich', sondern für das Ganze und die Eigenschaften als ein Ganzes. Ebenso betonte Fred Sandback in einem öffentlich geführten Gespräch, er wolle über Kants Auffassung „vom Ding an sich" und den Piatonismus hinausgehen.74 Auch Heiner Friedrich schloss sich dieser Auffassung an, die ja seine Künstler der Minimal Art alle teilten, als er in The National Post vom 26. Juni 2005 zitiert wurde: „Objects ,speak for themselves, very clearly and very powerfully', that's nonsense, of course. They often mutter rather than speak, and they don't speak at all until someone shows them." Ohne den Akt des Vorzeigens in der Kunst und im Ausstellungsraum könne die Erkenntnis des Realen in seine Ganzheit nicht gelingen. Nicht nur der Kantianismus wurde von den Künstlern der Minimal Art beiseite geschoben, sondern auch der Piatonismus. Das Objekt der Minimal Art sollte nicht mehr sein Wesen, seine wie auch immer geartete Seele ausdrücken,75 sondern Eigenschaften innerhalb und außerhalb seiner selbst: Raum, Dauer, Leere und den Augenblick. In einem autopoetischen Prozess setzt beim Betrachter die Erkenntnis ein, dass sein Leib und seine Wahrnehmung dieses Bewusstsein vom Kunstwerk mitprägen. Anregungen hierzu konnten die genannten Künstler in dem entscheidenden Werk des französischen Existentialisten Maurice Merleau-Ponty Phénoménologie de la perception (1945) finden, das 1962 in New York auf Englisch erschien und sogleich viel beachtet wurde.76 MerleauPonty machte Erkenntnisse von der Erfahrung des Leibes, der Motorik und ganz allgemein vom Empfinden abhängig, jedoch nicht dem psychologischen Gefühl. Er postulierte Sinnlichkeit77 und nicht etwa die Idee eines Werkes als entscheidend für die Erkenntnis, insgesamt: die Einheit des Leibes und des 7

* Hauskeller 1994 (wie Anm. 70), S. 353. Judd 1965 (wie Anm. 39). 74 Vgl. Immanuel Kants „Analytik des Schönen" in: Kritik der Urteilskraft. 1. Teil, Werkausgabe, Bd. X, hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1974, in: Hauskeller 1994 (wie Anm. 70), S. 219 ff. die Paragraphen 5, 9, 20; Sandback in: Malsch/Meyer-Stoll 2006 (wie Anm. 23), S.163.- Heiner Friedrich meinte im Telefongespräch mit der Autorin im Februar 200Θ, Sandback habe sich nicht intensiv mit Kant beschäftigt. 75 Bumham diskutiert, ob Judds Werke nicht doch platonisch aufgefasst werden könnten. In: Oers. 1968 (wie Anm. 39) S. 147-148. 76 Ein weiterer Text von Merleau-Ponty erregte damals in Amerika Aussehen, weil er das Primat der Wahrnehmung herausstellte: Ders., An Unpublished Text. Transi, by Arieen Β. Dallery, in: The Primacy of Perception, Chicago 1964, S. 3-11. 77 Rosalind Krauss, Sinn und Sinnlichkeit: Reflexionen über die nachsechziger Skulptur (1973), in: Stemmrich 1995 (wie Anm. 34), 471496. 73

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Kunstwerkes. Somit erschlossen sich die Künstler ,verborgene Dimensionen', die am Objekt selbst nicht direkt abzulesen sind, obwohl diese, wie im Werk von Andre, Judd, Sandback, Bochner etc. impliziert sind.78 Auch Heizer behauptete strikt: Jegliche Sprache sei der Vorstellung inadäquat. Sie sei bestenfalls hieroglyphisch und provinziell. Lesen sei nicht Sehen.79

brancusi (der körperlose teil der endlosen säule) Dies war der Hauptgrund, weshalb sich viele von ihnen auf die End/ose Säule von Constantin Brancusi in der rumänischen Kleinstadt Tirgu Jiu bezogen.80 Der Rumäne hatte seine Zickzacksäule aus gleichen Elementen aneinandergereiht und nach fast 30m Höhe mit einem halben Element enden lassen. Als Weltenachse lässt sie sich in den unendlichen Raum hinein verlängern. Ohne den Betrachter, ohne seine mentale Gestaltung, gäbe es das Werk nicht. Andre meinte 1966, er wolle mit seinem Werk die Säule auf die Erde legen.81 Ob er dabei wusste, dass vor dem Hügel, auf dem in Tirgu Jiu die Endlose Säule von Brancusi errichtet wurde, Eisenbahnschienen liegen? Immerhin arbeitete Andre von 1960 — 1964 als Bremser und Rangierer von Güterzügen. Die Essenz seines Werkes sei nicht dies oder das, sondern hier und nicht hier, notierte er sich in einem undatierten Satz.82 Außerdem seien auch seine Bodenplatten endlos („infinite")83 Auch Flavin bewunderte das epochemachende Werk von Brancusi 1969. Er sah darin einen archaischen Totempfahl, wird aber sicherlich die Raumkonzeption der hinzu gehörigen Leere für sich erkannt haben, obwohl er sich dazu nicht äußerte.84 Donald Judd fotografierte die Säule so, dass sie sich in einem Teich spiegelte und sich so sogar in die Tiefe hin zu verlängern schien.85 Anders als Brancusi fügte er jedoch Zwischenräume zwischen seine Werkteile ein.

76

.Verborgene Dimensionen' waren damals ein Schlagwort, wie es auch an dem damaligen Bestseller des Behavioristen Hall abzulesen ist: Edward Hall, The Hidden Dimension. An Anthropologicalist examines Human Use of Space in Public and Private, New York 1966. 73 Heizer zit. in: The Art of Michael Heizer, in: Artforum Voi Vili, No. 4, Dec. 1969, S. 32-39. 80 Vgl. Antje von Graevenltz, Brancusis Passage und Tempel, in: Zeichen des Glaubens - Geist der Avantgarde. Religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. hg. von Wieland Schmied. Schloss Charlottenbung, Berlin 1980, S. 211-218. 8 ' David Boudon, The Razed Sites of Carl Andre, in: Artforum Vol 5, No. 2, Oct. 1966, S. 15; Andre sprach mit Phyllis Tuchman über Brancusi in: Artforum 1970 (wie Anm. 13) S. 55-61; vgl. auch Andres Text in: Cuts. Carl Andre o.J. (wie Anm.59), S. 67. 62 Cuts. Carl Andre o.J. (wie Anm, 59), S. 181. 83 ebd. S. 112. 84 Zit. in: Fluorscent Light etc. from Dan Flavin, Ausst.-Kat. National Gallery of Canada, Ottawa and other locations, 1969, S. 18. 85 Johannes Gachnang, Das Reihenphänomen in der Bildenden Kunst, in: Schweizerisches Kunstbulletin 4, 1976, S. 5 (ani. der Ausstellung: Don Judd, Kunsthalle Bern 1976, die Gachnang kuratiert hatte).

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john cage (.conditions' bestimmen das werk) Entscheidende Impulse erhielten die Künsder auch von John Cage, der zu Beginn der 1960er Jahre während seiner Dozentur in New York lehrte, dass es keine festen Kunstgattungen gäbe und dass man zunächst die Wirklichkeit als gegeben akzeptieren müsse. Bald sprach es sich herum: Grenzen seien nicht vorgegeben, wohl aber Bedingungen, die man für Operationen nutzen und sogar zum Inhalt des Werkes machen könne. Übrigens sei auch die Negation einer Form durchaus geformt, wie für ihn als Komponisten die Pause und die Stille.86 Weitere Bedingungen, die zum Thema des Kunstwerkes werden können und als solche in ihren entscheidenden Eigenschaften für die Mitgestaltung herausgestellt werden sollten, waren fur Cage auch die Form, das Material, aber auch alles Unkörperliche wie das Geräusch, das auch existiert wie der menschliche Atem oder der Aufprall des Regens an der Fensterscheibe, dazu Raum und Zeit als vorstellbare Faktoren. Somit war auch Cage für die Ästhetik des Unkörperlichen in der Kunst in den 60er Jahren in Amerika ein entscheidender Anreger. Solchen Auffassungen, blieben die Künstler der Minimal Art und Land Art in der Münchner Galerie treu. Mel Bochners Installation bei Friedrich macht dies besonders deutlich. Cage bedeutete ihnen das, was ihnen der damals bekannteste Kunsttheoretiker in Amerika, Clement Greenberg, nicht mehr geben konnte, da sich dieser auf das ,reine' Kunstwerk als ,art for art's sake' einschwören wollte, in dem alle Standards, alle möglichen Reflexionen bereits enthalten seien. Greenbergs immer wieder zitierter Gewährsmann war Kant als „erster Modernist". 87 Davon wollte Friedrichs Künstlerschar der Minimal Art Abschied nehmen zu Gunsten einer Selbstbeobachtung des Betrachters, die ihn mit dem Objekt und seinem Kontext, der sinnlichen Wahrnehmung aller Bedingungen verschmelzen ließ. Das war etwas anderes als die normale Aufforderung an den Betrachter, ein Kunstwerk zu interpretieren — nein, in der Galerie Friedrich wurde die Fiktion der mimetischen Darstellung verworfen, jedoch das Reale in seinen körperlichen und unkörperlichen Facetten als Ganzes zum Bild seiner selbst erhoben. Schon zuvor, 1962 und 1964 prophezeite die amerikanische Kulturkntikerin Susan Sontag in ihrem Text Against Interpretatiorr. „What is important now is to recover our senses. We must learn to see more, to hear more, to feel more. (...) Our task is to cut back content so that we can see the thing at all." Sie meine nicht Interpretation im weitesten Sinne, sondern „I mean here a conscious act of the mind which illustrates a certain code, certain rules of interpretation." 88 Darunter verstand die Autorin keinen Stil. Wir ahnten es damals, aber mussten es erst erkennen lernen.

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Vgl. Richard Kostelanetz, John Cage. Eine Einführung, in: Ders., American Imaginations. Ives, Stein, Cage, Cunningham, Wilson. Aus dem Amerikanischen übersetzt von A. Carstens, Berlin 1983, S. 46. 87 Greenberg: „I conceive of Kant as the first real Modernist." In: Clement Greenberg, Modernist Painting, in: Form Lectures (Voice of America, Washington DC, 1960), reprint in: Art & Literature 4, Spring 1965, S. 193. Greenberg kritisierte Brancusi sogar zunächst, 1948/1958, als nicht „rein" genug im Sinne des Modemismus: Ders.: The New Sculpture, in: Art and Culture. Critical Essays, United States of America 1961, S. 141, 88 Susan Sontag, Against Interpretation. New York 1966, S. 3-14.

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der wert der zeitzeugenschaft für die Kunstwissenschaft (Unvereinbarkeit und ergänzung) Standen Zeitzeugen- und Kunstwissenschaft in Konkurrenz zueinander? Auf den ersten Blick wohl, da es sich um divergierende Erkenntnisse handelte: Die Zeugin blickte nur auf das Visuelle und erkannte den Faktor der Verfremdung des Realen im Galerieraum und der Dislocation von Kunst im Außenraum, wo es, wie in Neu-Perlach, überraschenderweise zur Kunst deklariert wurde. Darüber empörte sie sich zunächst, kam dann aber ins Grübeln. Die Kunstwissenschafderin erkannte erst später das Unsichtbare im Werk als zugehörig. Künstler sprechen sich an sich nicht gern präzise über ihre Inspirationsquellen aus und schon gar nicht auf Eröffnungen ihrer Ausstellungen. Einzig ihr Werk soll da wirken. Ein paar Fragen kann man auf Vernissagen stellen, aber zu mehr kommt es nicht. Erst ein langes Gespräch kann den Künstler dazu bringen, sich auf philosophische Bezüge einzulassen, wie es bei Andre, Judd und Sandback geschah. Dennoch muss sich der Interviewer auch dabei oft mit Andeutungen zufrieden geben. Es ist speziell die Aufgabe der Kunstwissenschaft, hier Zusammenhänge zwischen Werk und Ikonologie herzustellen, sie geradezu auszugraben beziehungsweise sie oft sogar zu kreieren, da es sie zuvor zumindest in der Evidenz so nicht gab. Hinzu kommt, dass der amerikanische Pragmatismus damals in Europa wenig wahrgenommen wurde, wohl aber das Hauptwerk von Maurice Merleau-Ponty und die Schriften von John Cage.89 Als Studentin war die Zeitzeugin aber noch nicht in der Lage, analysierend und die Kunstgeschichte der Gegenwart konstruierend vorzugehen. Nur die eigene Wahrnehmung und die Konfrontation mit dem Neuen in der aktuellen Zeit zählten damals. Beides kann einen auf die falsche Fährte setzen, wenn man nicht die Chance hat, sich bleibend mit dem Werk der Künstler auseinanderzusetzen. Die Vergegenwärtigung des Nur-Neuen ist faszinierend und sensationell — sogar noch in der Erinnerung - kann aber zu ernstlichen Verzeichnungen und Missverständnissen führen. Letztlich gehören beide Erfahrungen, Zeugenschaft und Kunstwissenschaft, in diesem Falle zusammen, denn die Minimal und Land Art der Galerie Heiner Friedrich wenden sich an die sinnliche Wahrnehmung ebenso wie an das sinnliche Erlebnis der Handlung. Hinzu kommt nun als funere Sinnlichkeit' die Vorstellung einer mentalen Skulptur. Darin besteht eine eigene, zusätzliche Sensation, auf die einen diese pragmatistische Kunst einschwört.

Beispielsweise hatte Gertiard von Graevenitz deren Bücher im Regal stehen, war von Cage und David Tudor im Atelier besucht worden, bevor ich ihn 1967 kennenlernte, und hatte einen Text von Cage in seiner Zeitschrift nota veröffentlicht.

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der blick der postmoderne durch die moderne auf sich selbst zur Originalitätskritik von rosalind krauss

verena krieger

Die akademische Kunstgeschichte habe keine Beziehung zur vitalen Gegenwart, sie sei isoliert von der zeitgenössischen Kunst und deshalb — man beachte die Kausalität! — auch nicht imstande zur angemessenen Analyse historischer Kunst. 1 Diesen Vorwurf richtete der inzwischen verstorbene Craig Owens, damals Mitautor der ambitionierten amerikanischen Kunsttheorie-Zeitschrift October, im Jahr 1982 gegen seine akademischen Kollegen. Man kann aus dieser Polemik getrost den Umkehrschluss ziehen, dass die Autorinnen und Autoren von October (selbst etablierte akademische Kunsthistoriker) ihrem Selbstverständnis nach dicht am Puls der Zeit und gerade deshalb zum Verständnis historischer Kunst besonders in der Lage sind. In der Tat: Wenn man den Umstand, dass Kunsthistoriker gleichzeitig als Kunstkritiker tätig sind und in ihrer Forschung die Auseinandersetzung mit historischer und Gegenwartskunst vereinen — wenn man dies als Modell einer .gelungenen' Zeitgenossenschaft betrachtet, so ist dies bei October gegeben. Gegenstand meiner folgenden Untersuchung ist mithin ein geradezu idealtypisches Beispiel gelungener' Zeitgenossenschaft: der 1981 von der Kunsthistorikerin, Kunstkritikerin und Orfo^w-Mitherausgeberin Rosalind Krauss veröffentlichte Text Oie Originalität der Avantgarde.2 Dieser Aufsatz erlangte eine gewisse Berühmtheit, spätestens seitdem die Autorin ihn 1985 zusammen mit weiteren Texten in einem Sammelband Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne erneut herausgegeben hat.3 Dieses Buch wurde lebhaft und kontrovers rezipiert und ist inzwischen auch in deutscher Sprache veröffentlicht worden. 4 Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass Krauss' Buch und insbe1

Craig Owens, Representation, Appropriation, and Power, in: Art in America, May 1982, erneut in: Craig Owens, Boyond Recognition. Representation, Power, and Culture, ed. By Scott Bryson, Barbara Kruger, Lynne Tillman, and Jane Weinstock, Berlekey/Los Angeles/Oxford 1992, S. 88-113, hier S. 111. 2 Rosalind Krauss, The Originality of the Avant-Garde. A Postmodernist Repetition, in: October, 18, fall 1981, S, 47-66. 3 Rosalind Krauss, The Originality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths, Cambridge/London 1985. 4 Rosalind Krauss, Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, hg. von Herta Wolf, Amsterdam/ Dresden 2000; darin auf S. 197-219 die deutsche Fassung des titelgebenden Aufsatzes „Die Originalität der Avantgarde". Im Folgenden wird nach der deutschen Ausgabe zitiert- Unmittelbar nach Veröffentlichung des Buches 1985 erschienen 17 Rezensionen in amerikanischen, englischen und kanadischen Fachzeitschriften. Eine Auflistung sämtlicher Rezensionen und sonstiger Auseinandersetzungen mit Krauss1 Schriften befindet

sondere der titelgebende Aufsatz in den Kanon der Kunstgeschichtsschreibung eingegangen sind. Im Folgenden werde ich zunächst den Argumentationsgang von Rosalind Krauss rekapitulieren; anschließend gehe ich der Frage nach, welchen Erkenntnisgehalt der Text in bezug auf die historische Kunst - hier: die klassische Moderne — und welchen Erkenntnisgehalt er in bezug auf die zeitgenössische Kunst — hier: die Appropriation Art — enthält, um dann zu diskutieren, welchen heuristischen Nutzen oder Nachteil die enge argumentative Verknüpfung beider Gegenstände mit sich bringt.

Wiederholung versus Originalität

Thema des Aufsatzes ist die Vorstellung vom Kunstwerk als einer originären Neuschöpfung des Künsders, in der sich dessen individuelles Genie manifestiert. Diese Konzeption der künstlerischen Originalität, die sich im 18. Jahrhundert herausgebildet hat,5 ist nach Auffassung der Autorin ein Mythos. Als Beispiel zieht sie Auguste Rodin heran. Um ihn habe sich schon zu Lebzeiten ein „Kult der Originalität" entwickelt, „den er selbst herausgefordert hat"; mit entsprechender publizistischer Unterstützung u.a. durch Rainer Maria Rilke habe er gezielt sein Image als „Formgeber, Schöpfer und Schmelztiegel der Originalität" gestaltet.6 Seine tatsächliche künsderische Praxis stehe jedoch in direktem Gegensatz zum Originalitätsgedanken; dies beweise das Höllentor. Zahlreiche Figuren und Körperfragmente sind hier Abgüsse derselben Form, also identische Formen, die mehrfach verwendet wurden, so bestehen z.B. die das Tor bekrönenden Drei Schatten (Abb. 1) aus ein und derselben Figur, die aus unterschiedlichen Ansichten zu sehen ist. Dieses Verfahren der mehrfachen Verwendung und immer neuen Kombination seiner Gestalten ist charakteristisch für Rodin.7 Hinzu kommt, dass kein einziger Bronzeguss des Höllentors zu Lebzeiten des Künsders geschaffen wurde; selbst das zugrunde liegende Gipsmodell stammt nicht von seiner Hand, sondern wurde kurz vor seinem Tod durch den späteren Direktor des Musée Rodin auf der Grundlage einer älteren eigenhändigen Version und wahrscheinlich (aber nicht sicher) mit Billigung des nicht mehr arbeits-

sich auf der Internetseite http://sun3.lib.uci.edu/-scctr/Wellek/krauss/. Die früheste Reaktion auf Krauss' Aufsatz war ein offener Brief des Direktors der National Gallery of Art in Washington, Albert E. Elsen (vgl. Anm. 9). 5 Vgl. Jens Häseler, Original/Originalität, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Band 4, Stuttgart/Weimar 2002, S. 638-655. 6 Rosalind Krauss, Die Originalität der Avantgarde (wie Anm. 4), S. 201. 7 Das hatte Krauss bereits in Passages in modern Sculpture, Cambridge/London 1981 (1977) festgestellt, wo sie von seiner „Strategy of repetition" (17) spricht und die Verdreifachung der Figuren in den drei Schatten als Parodie auf die klassizistische Tradition der Dreiergruppe (z.B. die drei Grazien) deutete. Während die Dreieranordnung im Klassizismus dazu diente, die menschlichen Körper von mehreren idealen Seiten zu präsentieren, unterlaufe Rodin durch die kunstlose Anordnung dreier identischer Formen diese Intention und schaffe ein vollkommen selbstreferentielles Zeichen, das nichts erzähle außer den repetitiven Prozess seiner eigenen Erschaffung (20).

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fähigen Künstlers erstellt.8 Da Rodin dem französischen Staat die Reproduktionsrechte an allen seinen Werken vermacht hat, kann dieser seit dem Tod des Künsders mit voller Legitimation Abgüsse veranlassen, die denn auch sämtlich als zweifelsfreie Originale gelten. Dies gilt ebenso für eine Ende der 70er Jahre für die Stanford University gefertigte Ausführung des Höllentors, deren filmische Präsentation im Rahmen einer großen Rodin-Ausstellung in Washington 1981

1 auguste rodin drei schatten bekrön ung des

höllentors, 1880 (abgebildet in rosalind krauss'

die Originalität der avantgarde und andere mythen der moderne)

Krauss als Anlass für ihre Polemik diente.5 Krauss folgert aus diesen Umständen, der moderne Originalitätsmythos werde gerade von dem Künsder, der dieVgl. Albert E. Elsen, The Gates of Hell: What They Are About and Something of Their History, in: Albert E. Elsen (ed.), Rodin Rediscovered, National Gallery of Art, Washington/New York Graphic Society, Boston, Boston 1981, S. 63-79; Nicole Barbier, Das Höllentor. Ein Resümee der bildhauerischen Experimente Rodins, in: Ausst.-Kat. Auguste Rodin. Das Höllentor. Zeichnungen und Plastik, hg. von Manfred Fath in Zusammenarbeit mit J.A. Schmoll gen. Eisenwerth, Städtische Kunsthalle Mannhelm, München 1991 S. 9-11, 9 Vgl. Ausst.-Kat. Rodln Rediscovered (wie Anm. 8).- Der Direktor der National Gallery of Art in Washington und zugleich verantwortliche Kurator der Rodin-Ausstellung, Albert E. Elsen reagierte auf Krauss1 Aufsatz mit einem ausführlichen Schreiben, das in der Folgenummer von October abgedruckt und von Krauss mit einem langen Schreiben beantwortet wurde (dt. .Mit freundlichen Grüßen" in Krauss 2000, S. 220-245). Elsen hatte im Katalog zur Ausstellung ausführlich das Problem der Originalität von Rodins Bronzen behandelt, dabei aber strikt technisch und juristisch argumentiert. Demnach können die posthum gefertigten Bronzegüsse als Originale gelten, wobei er darauf hinweist, dass der Begriff des Originals bei einer reproduktiven Gattung wie dem Bronzeguss generell problematisch ist. Der Originalitätscharakter der Rodin-Bronzen sei insofern am ehesten vergleichbar mit dem einer Rembrandt-Radierung (vgl. Ausst.-Kat. Rodin Rediscovered, National Gallery of Art, Washington/New York Graphic Society, Boston, Boston 1981, S. 11-16 und 63-79). Aus Eisens Brief geht hervor, dass er Krauss' inhaltliches Anliegen verkannte und glaubte, den späten Abguss gegen den Vorwurf unrechtmäßigen Plagiierens verteidigen zu müssen. Tatsächlich sind einige Passagen in Krauss1 Aufsatz geeignet, ein sojches Missverständnis hervorzurufen, in denen es heißt, dass „wir den Abguss des Höllentors von 1978 als eine Über8

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sen idealtypisch verkörpert, gründlich unterlaufen. Rodins Kunst sei letztlich „eine Kunst der Reproduktion, eine Kunst von Multiples ohne ein Original".10 Als Paradigma solcher „Multiples ohne Original" macht Krauss die Fotografie aus, die sie ohnehin als Leitmedium der modernen Kunst ansieht und in einem ähnlich einflussreich gewordenen Essay auf den semiotischen Begriff des Indexikalischen gebracht hat.11 Auch in der Fotografie hat jeder Abzug von einem Negativ prinzipiell denselben Status, ist also kein Original, sondern — wenn man mit Krauss hier den aus der Fluxusbewegung stammenden Begriff anwenden möchte — ein .Multiple', und der Umstand, dass man heute den vom Künstler selbst und direkt nach der Aufnahme abgezogenen ,Vintage-print' als das eigentliche ,Original' einer Fotografie besonders hoch bewertet, ist in ihren Augen nichts als ein hilfloser Versuch, den Originalitätsmythos um jeden Preis aufrecht zu halten, wo er eigentlich gar nicht mehr aufrecht zu halten ist. Nicht anders verhält es sich aus ihrer Sicht bei Rodins Höllentor, das als originales Werk, ja als sein Meisterwerk schlechthin gilt, obwohl des Meisters Anteil daran nur indirekter Natur sei. Unter Berufung auf Walter Benjamins berühmtes Diktum, wonach die technische Reproduzierbarkeit von Kunstwerken mittels der Fotografie deren „Aura" zerstöre — ein Theorem, das bekanntlich gleichfalls aus der Fotografie abgeleitet ist12 — proklamiert Krauss, dass durch die technische Reproduktion des Kunstwerks auch die Originalität zerstört werde. Indem Rodin seine eigenen künstlerischen Ideen reproduziert und zur Reproduktion freigegeben hat, unterlaufe und zerstöre er folglich den modernen Originalitätsmythos, wenn auch unbeabsichtigt. Ahnlich verhält es sich laut Krauss mit der modernen Rastermalerei. Nicht zufällig hätten Ad Reinhardt, Agnes Martin oder Robert Ryman gerade die durch Mondrian eingeführte Form des Rasters für ihre Malerei gewählt, stehe dieses doch in seiner unhierarchischen Abstraktheit emblematisch für die Interesselosigkeit und Zweckfreiheit der Kunst und für die absolute Flächigkeit des Bildes — also für Kriterien, die durch Clement Greenberg als Inbegriff modernistischer Malerei eingeführt worden sind. Hier taucht nach Krauss der Mythos der Originalität erneut auf, denn das Raster stehe für die Fiktion eines unhintergehbaren Nullpunkts, und auf diese gründe sich die Fiktion von Singularität, Authentizität und Originalität, die den Werken der genannten Künsder gemeinhin zugeschrieben wird. In Wirklichkeit aber handele es sich bei all den gemalten Rasterbildern um Wiederholungen eines vorgängigen Prinzips, so wie das

tretung empfinden" und man unabhängig von der urheberrechtlichen Korrektheit des Vorgangs „Betrug" schreien möchte (Originalität der Avantgarde, S. 204). Krauss beschreibt hier zwar nicht ihre eigene, sondern die von ihr kritisierte - modernistische Position, doch ist der generelle moralisierende Duktus ihres Textes einem solchen Missverständnis zweifellos förderlich. 10 Rosalind Krauss, Die Originalität der Avantgarde (wie Anm. 4), S. 203. 11 Rosalind E. Krauss, Das Photographische: eine Theorie der Abstände, München 1998; Rosalind E. Krauss, Anmerkungen zum Index, Teil 1 (1976) und Teil 2 (1977), in: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne (wie Anm. 4). 12 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1937), in: Das Kunstwerk Im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/Main 1963, S. 7-44.

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Raster selbst letztlich die zugrundeliegende Bildfläche wiederholt. Das Prinzip der Wiederholung denunziert das Originalitätsprinzip. Krauss' Schlussfolgerung lautet: Moderne und Avantgarde seien „eine Funktion dessen, was wir den Diskurs der Originalität nennen könnten, und (...) dieser Diskurs (dient) weit umfassenderen Interessen", er bildet nämlich das Konstituens für die Kunstinstitutionen der Moderne: das Museum, die Kunstgeschichte und den Kunstmarkt. Diese benötigen „das Thema der Originalität, das die Vorstellungen von Authentizität, Original und Ursprung mit einschließt", als Grundlage ihrer Existenz. Daher waren diese Institutionen „das ganze 19. Jahrhundert hindurch (...) in dem Ziel verbunden, das Kennzeichen, die Gewähr, die Beglaubigung des Originals zu finden".13 Die Kritik der Originalität zielt also nicht nur auf das moderne Subjekt, sondern auch auf die modernen Kunstinstitutionen. Diese betrachtet Krauss ebenso wie die anderen October-Autoren als Machtzentren, die auf der Fiktion der Originalität gegründet sind — und die diese Fiktion mit aller Macht aufrechterhalten obwohl sie unter ihnen längst wegbröckelt, weil sie seit der Existenz der Fotografie ausgehöhlt wird und weil auch die künstlerische Praxis etwa eines Rodin sie praktisch unterläuft.14 Es gelte, so die Quintessenz ihres Aufsatzes, diese Fiktion endgültig hinwegzufegen, und das bedeute, dass der Gegenpol der Originalität, die Kopie, die in der Moderne „unterdrückt" und „verdrängt" werde (wie so oft bedient sie sich hier einer psychoanalytischen Terminologie), neubewertet werden müsse.15 Hier führt sie nun Sherrie Levine auf den Plan: eine Vertreterin der Appropriation Art, die sich Ende der 70er Jahre in New York gebildet hat. Levine ist bekannt geworden dadurch, dass sie Werke anderer Künstler reproduziert, so etwa die in Amerika sehr bekannten sozialkritisch-realistischen Fotografien aus den 30er Jahren von Walker Evans oder Landschaftsfotografien von Eliot Porter (Abb. 2). Wichtig ist dabei, dass Levine nicht Originalabzüge, sondern Reproduktionen der Fotos abfotografiert hat. Es besteht also eine Mehrschichtigkeit, in der verschieden Stufen von vermeintlicher ,Originalität' einander überlagern: das ,originale Foto', das ja selbst schon die Kategorie des originalen Meisterwerks problematisiert durch seinen multiple-Charakter, die Reproduktion dieses Fotos in einem gedruckten Katalog und schließlich die Fotografie der reproduzierten Fotografie, die nun ihrerseits als .neues' Original Kunstcharakter beansprucht. Formell handelt es sich um Raubkopien (daher auch die Bezeichnung als Appropriation Art, von Appropriation = Aneignung), jedoch betitelt Levine ihre Werke After Walker Evans bzw. After Eliot Porter; es sind also kein Plagiate, sondern konzeptuelle Arbeiten, die das Modell von Original, Kopie und Plagiat dekonstruieren. In Rosalind Krauss' Argumentation erhält nun dieser künsderische Ansatz den Status des Kronzeugen, mehr noch, des historischen Subjekts: er repräsentiert für sie den Bruch mit dem Originalitätsmythos und mit der Moderne überhaupt, ist postmodern. Die Postmoderne führe „mit 13

Rosalind Krauss, Die Originalität der Avantgarde (wie Anm. 4), S. 211. Douglas Crimp, Über die Ruinen des Museums. Mit einem fotografischen Essay von Louise Lawler, Dresden/Basel 1993. 15 Rosalind Krauss, Die Originalität der Avantgarde (wie Anm. 4), S. 211. 14

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der Dekonstruktion der Schwesterbegriffe von Ursprung und Originalität (...) ein Schisma zwischen sich und dem Begriffsfeld der Avantgarde herbei. (...) Die historische Epoche, die die Avantgarde mit der Moderne teilte, ist vorüber. (...) Eine entmythologisierende Kritik und eine genuin postmoderne Kunst" arbeiten gemeinsam darauf hin, „die Grundannahmen der Moderne für ungültig zu erklären und durch die Enthüllung ihres fiktiven Charakters zu liquidieren".16

sherrie levine after eliot porter, 1981 (abgebildet in rosalind krauss' die Originalität der avantgarde und andere mythen der moderne)

Diese emphatischen Schlusssätze sind natürlich durch und durch modern — in jeder Hinsicht. Das gilt für den radikalen Bruch mit dem Alten und die Verkündigung einer qualitativ vollkommen neuen Epoche, verbunden mit dem Bewusstsein, im Ubergang dieses Wechsels zu stehen, sowie mit dem Pathos, in diesem Ubergang für das Neue zu streiten. Das gilt für die kompromisslose, polemische Härte und das Verlangen, das ungeliebte Vergangene zu „liquidieren". Und das gilt nicht zuletzt auch für den rhetorischen Gestus, mit dem zunächst die zu überwindenden künsderischen Positionen entlarvt werden, um anschließend die neue, wahre, alle alten Lügen überwindende Kunst wie Phönix aus der Asche steigen zu lassen! Das radikal Neue, das Krauss mit Texten wie diesem tatsächlich in die Kunstwissenschaft eingeführt hat, ist das postmoderne Denken', die poststrukturalistische Kritik der Moderne. Ihre theoretischen Hauptgewährsleute, auf die sie sich immer wieder bezieht, sind Jean Baudrillard mit seiner Simulationstheorie, wonach ein authentisches, originales Reales angesichts der Omnipräsenz 16

Ebenda, S. 219.

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medial erzeugter Simulakren gar nicht mehr existiert, Jacques Lacan, der die Vorstellung vom ,Ich' als einer autonomen, substanziellen Instanz im menschlichen Individuum zur reinen Imagination und Wunschprojektion erklärte, sowie Roland Barthes, der Ende der 60er Jahre den „Tod des Autors" verkündet hat.17 Autorschaft ist demnach eine dem Werk letztlich äußerliche „Funktion", eine Fiktion, die es zu verabschieden gilt.18 Krauss' Attacke auf die Originalität ist denn auch im Kern gegen die dieser zugrunde liegende Vorstellung vom Künstlersubjekt gerichtet. Doch welchen Erkenntnisgewinn bringt Rosalind Krauss' Text konkret für unser Verständnis der Kunst der Moderne? lüge versus ambivalenz Wenn sie Originalität als einen „Mythos" bezeichnet, verwendet sie den Begriff des Mythos gleichbedeutend mit dem der Ideologie: Originalität erscheint bei ihr als eine falsche Vorstellung, die mit der Realität nicht übereinstimmt. Demnach haben wir es mit einer paradoxalen Struktur zu tun: Einerseits konstituiert sich die Moderne mittels des Originalitätsmythos, andererseits bringt sie künstlerische Praktiken hervor, die genau das Gegenteil davon sind, nämlich reproduktiv. Nun ist das Prinzip der Wiederholung in der Kunst ja keine Erfindung der Moderne, sondern ein uraltes Verfahren, das etwa in der hellenistischen Skulptur, in der byzantinischen Ikonenmalerei oder in der Kopierpraxis neuzeitlicher Akademien zur Anwendung gekommen ist. Es basierte stets auf der Vorstellung von einem idealen Urbild, dem man nachahmend möglichst nahe zu kommen suchte, um an seiner Idealität zu partizipieren. Neu an den reproduktiven Verfahren der Moderne ist demgegenüber, dass sie einen quasi-industriellen Charakter haben. Sie beziehen sich nicht auf ein ideales Vorbild, sondern erzeugen eine tendenziell unabgeschlossene Anzahl von Versionen ohne Vorbild. Aber gerade weil sie sich nicht auf ein historisches Vorbild beziehen, können sie im Sinne des modernen Originalitätsbegriffs alle als Originale gelten, als prinzipielle Neuschöpfungen und authentische Emanationen der Subjektivität des Künstlers. Deshalb konnte auch Leo Steinberg, der als Erster das Wiederholungsmoment in Rodins Kunst thematisiert hat, dieses als eine subtile Mystifikation, gar als Ausdruck einer Obsession deuten. 19

17 Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod (1976), München 1982; Jacques Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, in: Schriften, Bd. 1, Weinheim/Berlin 1986. S. 63-70; Roland Barthes, The Dead of the Author, in: Image-Music-Text, New York 1968. 18 Michel Foucault: .Was ist ein Autor (1969), in: Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main 1993, S. 7-31.- Zur poststrukturalistischen Subjektkritik vgl. auch Peter Bürger, Das Verschwinden des Subjekts - eine postmoderne Utopie?, in: Ich ist etwas Anderes. Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts, hg. von Armin Zweite, Ausst.-Kat. Düsseldorf / Kunstsammlung NRW, Köln 2000, S. 51-59. 19 Leo Steinberg, Other Criteria. Confrontations with Twentieth-Century Art, London/Oxford/New York 1972, S. 322-403, insbes. 355-358.

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Rodin ist keineswegs das einzige Beispiel für solche geradezu obsessive Wiederholung. Krauss selbst verweist an anderer Stelle auf Ingres, der von etlichen seiner Hauptwerke mehrere Versionen geschaffen hat — so von R a f f a e l und die Forηαήηα vier und von Paolo und Francesca sogar elf — von denen keine als das eigentliche Original' gelten kann.20 Die Bemühungen von Ingres hatten sich ursprünglich erklärtermaßen darauf gerichtet, eine Version hervorzubringen, die den Anspruch auf absolute Wahrheit und Perfektion erfüllt; dieses eine ideale Werk sollte alle vorhergehenden übertreffen und überflüssig machen. Da es ihm aber nicht gelang, dieses Ziel zu erlangen, publizierte er schließlich alle Versionen gleichberechtigt in einem großen Reproduktionsstichwerk. Ingres, der gemeinhin als konservativer Antipode von Delacroix gilt, erweist sich damit als ein Wegbereiter der Moderne.21 Denn er nahm so das Prinzip der Serie vorweg, dessen wohl berühmtestes Exempel Monets 28 Ansichten der Kathedrale von Rouen sind.22 Mit der Tendenz zum Seriellen reflektiert das Prinzip der Wiederholung in der modernen Kunst nicht nur die industrielle Produktionsweise, sondern auch die von Walter Benjamin beobachtete „technische Reproduzierbarkeit" von Bildern. Wie Benjamin überschätzt Rosalind Krauss die aurazersetzende Macht der „technischen Reproduzierbarkeit" ganz kolossal, und ebenso unterschätzt sie die Kraft des Originalitätstopos, der nicht nur über die technische Reproduktion hinaus wirksam wird, sondern durch diese sogar eine zusätzliche Bestätigung erfährt — wie gerade das Beispiel Rodins beweist. Es bedurfte eben nicht des persönlichen Handanlegens des Meisters, sondern seine Billigung der Bemühungen eines Kurators, der sich in die schöpferischen Absichten des Meisters eingedacht hat, reichte völlig aus! Theoretisch war seit der Hochrenaissance die künsderische Erfindung gegenüber der materiellen Ausführung längst aufgewertet, technisch war der Bronzeguss längst Sache von Spezialisten und damit vom kreativen Akt vollkommen abgetrennt, sodass Rodin sich schon zu Lebzeiten damit kaum mehr abgeben musste.23 Der Genie- und Originalitätstopos kulmiRosalind E. Krauss, Retaining the Original? The State of the Question, sowie: Dies., You Irreplaceable You, in: Studies in the History of Art, vol. 20: Retaining the Original, Multiples, Originals, Copies, and Reproductions, Center for Advenced Study in the Visual Arts Symposium Papers VII, Washington 1989, S. 7-12 und S. 151160. 21 Die Modernität Ingres erörtert Uwe Fleckner, Jean-August-Dominique Ingres, Das türkische Bad. Ein Klassizist auf dem Weg in die Moderne, Frankfurt am Main 1996. Den Aspekt der Serialität erwähnt er allerdings nicht. Krauss (You irreplaceable You, wie Anm. 20) wiederum geht auf die Frage nach der Modernität Ingres gar nicht ein, sie nimmt ihn einfach neben Rodin als weiteres Exempel für die moderne Doppelbödigkeit von Originalitätsideologie und gleichzeitigem .Multiple'-Charakter des Werks. 22 Zum Seriellen als Prinzip der Moderne vgl. Katharina Sykora, Das Phänomen des Seriellen in der Kunst: Aspekte einer künstlerischen Methode von Monet bis zur amerikanischen Pop Art, Würzburg 1963; Christoph Heinrich, Serie - Ordnung und Obsession, In: Kat. Monets Vermächtnis. Serie. Ordnung und Obsession, Hamburg 2001. 23 Vgl. u.a. Erwin Panofsky, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Hamburg 1924; Vinzenz Rüfner, Homo secundus Deus. Eine geistesgeschichtliche Studie zum menschlichen Schöpfertum, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, Jg. 63,1955, S. 248-291; Hans Blumenberg: „Nachahmung der Natur". Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: Studium generale, Jg. 10,1957, H. 5, S. 266-283; Alfons Reckermann, Das Konzept kreativer imitatio im Kontext der Renaissance-Kunsttheorie, in: Walter Haug und Burghart Wachinger (Hg.), Innovation und Originalität, Tübingen 1993, S. 98-132, 20

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niert ja gerade in dem Umstand, dass die Werkidee höher gilt als die Werkrealisadon.24 Mit anderen Worten: das Prinzip der Wiederholung in der Kunst der Moderne steht keineswegs in Widerspruch zum Originalitätsprinzip, sondern bestätigt es sogar.25 Nicht nur ist das Verhältnis von Originalität und Reproduktion in der Moderne weitaus komplexer, als Rosalind Krauss mit ihrer simplen Formel von „Mythos" \and „Fiktion" nahe legt; sie hat auch Unrecht mit der Behauptung, erst die Postmoderne habe eine Kritik des Originalitätsprinzips hervorgebracht. Gerade die von Krauss so heftig gescholtenen historischen Avantgarden haben künstlerische Verfahren entwickelt, die - anders als die von ihr herangezogene Wiederholung - tatsächlich die auktoriale Position des Künstlersubjekts relativieren, so etwa Hans Arp durch die Einbeziehung des Zufalls als Mit-Urheber des Kunstwerks. Arp hatte die Schnipsel einer aus Unzufriedenheit zerrissenen eigenen Zeichnung in genau der Anordnung auf einen Papierbogen aufgeklebt, wie sie zufällig auf den Boden gefallen waren und die so entstandene Konstellation „Nach den Gesetzen des Zufalls geordnet" betitelt.26 Auch wenn der Originalitätstopos damit letztlich nicht außer Kraft gesetzt worden ist — denn Arp hat sich den Zufall nur dienstbar gemacht, aber seine Subjektposition als Künstler nicht aufgegeben27 — so macht das Beispiel doch deutlich, dass Krauss' grobschlächtige Ineinssetzung der Begriffe .Originalität', ,Moderne' und .Avantgarde' unhaltbar ist. Schließlich waren es Künstler der historischen Avantgarden wie Max Ernst, die zuerst den Originalitätstopos als „Mythus", „Märchen" und „letzten Aberglauben" verhöhnt haben 28 Krauss' Kritik der Originalität steht also nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalt nach in bester avantgardistischer Tradition. Betrachtet man also die Voraussetzungen von Rosalind Krauss' Kritik der Originalität als eines „Mythos der Moderne" genauer, so zerbröselt einem diese gewissermaßen zwischen den Fingern. Es erweist sich einerseits, dass die Wirkungsmacht des modernen Originalitätstopos viel grundlegender ist, als dass er durch den Hinweis auf das Wiederholungsmoment aus den Angeln zu heben wäre, und andererseits, dass es schon die Moderne selbst in Gestalt der Avantgarde war, die die Kritik des Originalitätstopos hervorgebracht hat. Die Moderne nimmt mithin eine höchst ambivalente Haltung zur Originalität ein, indem sie diese gleichermaßen ausformuliert wie hinterfragt, auf die Spitze treibt und unterhöhlt. Zygmunt Baumanns Rede von der „Ambivalenz der Moderne" oder Für die Moderne vgl. Hans Belting, Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 2001. 25 Deshalb können ja auch Wartiols Siebdrucke als originäre Zeugnisse eines genialen Meta-Künstlers rezipiert und Duchamps ready-mades als Originale in Museen ausgestellt werden. 26 Vgl. Ausst.-Kat. Zufall als Prinzip. Spielweit, Methode und System in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Bernhard Holeczek, Lida von Mengden, Heidelberg 1992, S. 18. 27 Vgl. Verena Krieger, Sieben Arten, an der Überwindung des Künstlersubjekts zu scheitern. Kritische Anmerkungen zum Mythos vom verschwundenen Autor, in: Martin Hellmold/Sabine Kampmann/Katharina Sykora (Hg.), Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst, München 2003, S. 117-148. 28 Max Emst, Was ist Surrealismus? in: Was ist Surrealismus? Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich 1934, dokumentiert in: Günter Metken (Hg.), Als die Surrealisten noch recht hatten: Texte und Dokumente, Stuttgart 1976, S. 323325, Zitats. 323. 24

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Silvio Viertas Bezeichnung der Moderne als einer ,,epochale(n) Ambivalenzzone" finden an der Frage der künsderischen Originalität ihre Bestätigung. 29 Aufschlussreich ist nun, wie Rosalind Krauss mit dieser Ambivalenz umgeht. Statt sie als solche zu analysieren, weist sie mit geradezu moralischer Empörung auf die angeblichen Widersprüche hin. Das epistemologische Modell, mit dem sie arbeitet, ist das einer Doppelstruktur, bestehend aus einer scheinund lügenhaften Oberfläche und einer dahinter befindlichen wahren Wirklichkeit. Auf der Oberfläche erscheint das Paradigma der Originalität, während sich die Realität dahinter als reine Wiederholung erweist. Diese Doppelstruktur ist nichts anderes als eine simplifizierte Version der Ideologiekritik. Damit kehrt gerade das Erkenntnismodell, gegen das der Poststrukturalismus sich eigentlich so entschieden wendet, durch die Hintertür zurück. Wiederum erweist sich Krauss als tief in den Diskurs der Moderne verstrickt, gegen den sie sich so radikal abzusetzen sucht. Der Grund für diesen einseitigen und verkürzten und daher unproduktiven Zugang zum Problem liegt darin, dass der ganze Text auf einen zeitgenössischen Fokus ausgerichtet ist, die Appropriation Art. Getragen von demselben poststrukturalistischen Diskurs, scheinen die Appropriation Artists und Rosalind Krauss mit ihren jeweils eigenen Mitteln — einmal auf künsderischem, einmal auf theoretischem Wege — ein gemeinsames Projekt zu verfolgen. Grund genug, Rosalind Krauss' Analyse der Appropriation Art einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. aneignung als postmoderne subversion Die Deutung der Appropriation Art als postmoderne Dekonstruktion der modernen Mythen von Autorschaft und Originalität geht zurück auf einen anderen October-Autor, Douglas Crimp. Crimp hatte Sherrie Levine und die Appropriation Art 1977 in New York mit der berühmt gewordenen Ausstellung Pictures bekannt gemacht. In einem programmatischen Text attestierte er den beteiligten Künsderinnen und Künsdern, sie hätten mit dem Modernismus gebrochen. 30 Postmodern sei, dass sie, anstatt neue Bilder zu schaffen, sich mit der Welt gegebener Bilder auseinandersetzen (daher der Titel „pictures") und dadurch das Prinzip der Repräsentation als solches thematisierten. Sherrie Levine etwa hatte stereotype Mutter-und-Kind-Fotografien, die sie Zeitschriften entnommen hat, extrem vergrößert und in die emblematischen Silhouetten verschiedener amerikanischen Präsidenten gesetzt. Nach Crimps Deutung hat sie durch die Kombination zweier mythischer Gestalten diese ihrer konventionellen Bedeutung beVgl. Zygmunt Baumann, Die Ambivalenz der Moderne. Das Ende der Eindeutigkeit, Hannover 1992; Silvio Vietta/Dirk Kemper, Ästhetische Moderne, in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, München 1998. 30 Douglas Crimp (Hg.), Ausst.-Kat. Pictures, New York 1977; in erweiterter Fassung in: October, Nr. 8, Frühjahr 1979, S. 75-88, auch in: Brian Wallis/Marcia Tucker (Hg.), Art after Modernism: Rethinking Representation, New York/Boston 1984, S. 175-187. 29

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raubt, folglich ihren mythologischen Gehalt untergraben.31 Der entscheidende Punkt ist dabei das spezifische ästhetische Verfahren, mit dem Levine dem konservativen Frauenbild zu Leibe rückt: Mittels der Verarbeitung existierender Bilder suchten sie die diesen inhärenten Bedeutungsschichten aufzudecken und zu unterhöhlen. Dies ist es, was Crimp im Einklang mit den anderen OctoberAutoren als „postmodern" definiert, wobei er einen spezifischen Begriff von Postmodernismus zugrundelegt. Das zu diesem Zeitpunkt bereits verbreitete Verständnis von Postmoderne als einer Art spielerischen Pluralismus lehnt er denn auch explizit ab.32 Postmodern sei, wie er ein Jahr später (1980) in einem weiteren October-Aufsatz The Photographic Activity of Postmodernism erläutert, vielmehr eine Haltung, die in bewusstem Gegensatz zum Modernismus die „Aura" des Kunstwerks untergräbt.33 Ausgangspunkt dieser Überlegung ist wiederum Walter Benjamins Theorie der Fotografie und seine Feststellung, dass die fotografische Reproduktion die „Aura" des Kunstwerks „zerstört" habe. Der Modernismus habe, konstatiert Crimp, diesen Umstand „verschwiegen", doch der Postmodernismus bringe die „Wiederkehr des Unterdrückten", er „repräsentiert einen spezifischen Bruch mit dem Modernismus, mit jenen Institutionen, die die Vorbedingungen für den Modernismusdiskurs schaffen und ihn formen", gemeint sind v.a. das Museum und die Kunstgeschichte.34 Sie erscheinen in Crimps Argumentation ebenso wie bei Krauss als Machtzentren, die das ideologische Konstrukt „Kunst" mitsamt den daran hängenden Konstrukten Originalität, Aura und Künsdersubjektivität zwanghaft aufrecht zu halten suchen. Ein vorläufiger Höhepunkt dieser Versuche ist der Umstand, dass selbst die Fotografie — dieses anti-auratische Medium schlechthin - musealisiert worden ist. Die reproduzierenden Verfahren der Appropriation Artists, die „fotografische Aktivität des Postmodernismus", wie Crimp es bezeichnet, richten sich nun seiner Auffassung nach genau darauf, diesen Prozess zu konterkarieren. Vordergründig operieren sie dabei mit den „Modi der Fotografie-als-Kunst", dies „aber nur, um sie zu untergraben oder um über sie hinauszugehen". Ebenso vordergründig setzen sie auratisierende Verfahren ein, dies nicht etwa, um die Aura tatsächlich wiederherzustellen, sondern einzig mit dem Interesse, „sie zu deplatzieren, um zu zeigen, dass auch sie jetzt nur ein Aspekt der Kopie und nicht des Originals ist". Es geht darum, „diese Ansprüche als bestehende Fiktion (aufzuzeigen) und die Fotografie als ständige, immer-schon-gesehene Repräsentation" erkennbar zu machen. Ohnehin ist die Aura, so Crimp, „in unserer Zeit" unwiderruflich zerstört, sie existiert nur mehr als „Spuk".35 Douglas Crimp hat damit die entscheidenden Stichworte zur Appropriation Art formuliert und ihr das Etikett einer postmodernen Repräsentationskritik

31 Ebenda. S. 185. 32 Ebenda, S. 186, Anm. 14. 33 Douglas Crimp, The Photographic Activity of Postmodernism, in: October, Nr. 15, Winter 1980, S. 98ff; deutsch in: Douglas Crimp, Über die Ruinen des Museums. Mit einem fotografischen Essay von Louise Lawler, Dresden/Basel 1993, S. 123-140. 34 Ebenda, S. 123. 35 Ebenda, S. 136,139.

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verliehen, das fortan für die Rezeption prägend geworden ist. Als Rosalind Krauss ihre Attacke gegen die „Originalität der Moderne" schrieb, konnte sie also auf ein aktuelles Gegenmodell zurückgreifen. Crimps Argumentation, die ja auf demselben theoretischen Boden fußt, ließ sich in die ihrige bruchlos integrieren. Sie verschob lediglich den Akzent von der Institutionskritik hin zur Kritik der Originalität, was aber keinen Widerspruch, sondern eine Erweiterung des argumentativen Feldes darstellt. Kurz darauf haben zwei weitere Autoren des October-Umfelds diese Interpretation der Appropriation Art um zusätzliche Nuancen angereichert: Craig Owens erörterte unter Berufung auf Michel Foucault, Louis Marin und Frederic Jameson in einem breiten historischen Abriss, dass das klassische System der Repräsentation in der westlichen Neuzeit und Moderne als ein Machtappart funktioniere, insofern es erstens ein kontrollierendes Subjekt voraussetzt und zweitens einen Wahrheitsanspruch erhebt.36 Die gesamte moderne Kultur und letztlich auch die Kunstgeschichte stehe dieser Machtstruktur vollkommen unkritisch gegenüber, ja sei ein Teil von ihr. Erst den postmodernen Künsdern gelinge es, mittels „Appropriation, Manipulation und Parodie" diese unsichtbaren Mechanismen sichtbar zu machen.37 Auch ihm dient Sherrie Levine als Exempel, er zeigt von ihr Reproduktionen gemalter Tierbilder Franz Marcs. Nicht ohne Grund, schreibt Owens, wähle Levine als Vorlagen zumeist Bilder von Tieren, Frauen oder armen Menschen, also von Subjekten, die außerhalb oder am Rande der dominanten Kultur existierten. Es seien Bilder von „Anderen", in denen deren Alterität bildlich konstruiert wird; Levines fotografisches Werk sei folglich eine „Untersuchung kultureller Repräsentationen von Alterität" und ihrer psychologischen, sozialen und ökonomischen Funktionen.38 Uber die theoretische Repräsentationskritik hinaus erhält Appropriation bei Owens eine politisch-emanzipatorische Dimension. Auch Benjamin Buchloh sieht im Verfahren der Appropriation den Königsweg einer kritischen Ästhetik, jedoch reflektiert er ihre Möglichkeiten und Grenzen bereits kritischer.39 Appropriation kann laut Buchloh aus verschiedenen Motiven heraus stattfinden: aus dem Bedürfnis nach Infragestellung existierender Codes ebenso wie aus dem Wunsch, sich in eine Tradition zu stellen und Kontinuität zu erzeugen. Schon die Klassische Moderne habe Appropriation betrieben, etwa indem sie japanische Kunst oder die Malerei von Psychotikern verarbeitet hat. Jeder Akt der Aneignung erzeuge dabei — selbst wenn dies nicht so intendiert ist - eine hierarchische Struktur, in der die angeeignete Kultur gegenüber der aneignenden minderwertig und unterlegen erscheint. Einzig eine Craig Owens, Representation, Appropriation, and Power, in: Art in America, May 1982; erneut in: Craig Owens, Boyond Recognition. Representation, Power, and Culture, ed. By Scott Biyson, Barbara Kruger, Lynne Tillman, and Jane Weinstock, Berlekey/Los Angeles/Oxford 1992, S. 88-113. 37 Ebenda, S. 111. 38 Craig Owens, Sherrie Levine at A&M Artworks, in: Art in America, summer 1982; erneut in: Owens 1992, S. 114-116. 39 Benjamin Buchloh, Parody and Appropriation in Francis Picabia, Pop, and Sigmar Polke, In: Artforum, March 1982, S. 28-34; erneut in: Ders,, Neo-Avantgarde and Culture Indutry. Essays on European and American Art from 1955 to 1975, Cambridge/London 2000, S. 343-364. 36

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„parodistische Appropriation" sei imstande, diesen Mechanismus zu unterlaufen, indem sie die „double binds" offenbar werden lässt, denen der Künstler unterliegt, und „das Scheitern jedes Versuches, die herrschende Kodifizierung zu unterlaufen, antizipiert".40 Stärker als Owens betont Buchloh das parodistische Moment; dementsprechend erscheint bei ihm auch nicht Levine als Paradebeispiel, sondern der ironische Sigmar Polke. Aufbauend auf Crimp, Craig und Buchloh hat sich in den 80er Jahren auch ein feministischer Deutungssträng zur Appropriation Art entwickelt, der sich vor allem auf psychoanalytische Ansätze sowie auf Judith Buders Theorie der Parodie stützte. Demnach ist es kein Zufall, dass primär Künsder/««£» das ästhetische Verfahren der Appropriation verwenden, und ebenso wenig ist es ein Zufall, dass Künstlerinnen wie Elaine Sturtevant und Sherrie Levine vorzugsweise auf renommierte männliche Vorbilder rekurrieren. Denn das Paradigma der Originalität ist ja traditionell an das männliche Geschlecht gebunden, wohingegen Frauen die Fähigkeit zur originalen Neuschöpfung abgesprochen wird.41 In dem bewussten Verzicht auf den Originalitätsanspruch manifestiert sich daher nach Elisabeth Sussmann eine prinzipielle Kritik der Ideologie des männlichen Künsdergenies.42 Dieser Gedanke wurde zuletzt von Isabelle Graw dahingehend variiert, dass die künstlerische Aneignung männlicher Vor-Bilder eine „Strategie der ,ödipalen Fixierung'" sei, d.h. Versuche der ,Töchter', sich die Privilegien der übermächtigen ,Väter' anzueignen.43 Eine bemerkenswerte Illustration der feministischen Auffassung liefert einer der schärfsten Gegner des Appropriationismus, Donald Kuspit, der in den 90er Jahren eine wahre Philippika gegen diesen formuliert hat. Kuspit sieht in der Appropriation Art den „Höhepunkt der Pseudo-Avantgarde-Kunst" und die Speerspitze einer allgemeinen décadence-Bewegung am Ende des 20. Jahrhunderts.44 Getrieben von Neid, Perspektiv- und Ideenlosigkeit betreiben seiner Auffassung nach die Künsderinnen eine „Ausbeutung und Unterwerfung (...) von AvantgardeKunst, die über elementare Lebendigkeit verfügt (...) hatte", um diese „bis zum letzten Tropfen (auszusaugen)". Dahinter verberge sich nicht nur eine „destruktive paranoid-schizoide Einstellung zur ,Mutter'-Kunst", sondern auch weiblicher Neid auf männlichen Erfolg: Indem Levine die Kunst erfolgreicher männlicher Künsder „voll depressiver Ironie in Besitz nimmt (...) und indem sie den Erfolg anderer Künsder ausschöpft, indem sie ihn aushöhlt, zerstört sie ihre

« Ebenda, S. 351. 41

Vgl. u.a. Linda Nochlin, Why have there been no great women artists? (1971), dt. Warum hat es keine bedeu-

tenden Künstlerinnen gegeben? in: Beate Söntgen (Hg.), Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als Kulturwissenschaft in feministischer Perspektive, Berlin 1996, S. 27-56; Rozsika Parker/Griselda Pollock, Old mistresses. Women, art, and ideology, London 1981; Carola Muysers (Hg.), Die bildende Künstlerin: Wertung und Wandel in deutschen Quellentexten, 1855 - 1 9 4 5 , Dresden 1999. 42

Zit. nach Stefan Römer, Künstlerische Strategien des Fake. Kritik von Original und Fälschung, Köln 2001, S.

105. 43

Isabelle Graw, Die bessere Hälfte. Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrtiunderts, Köln 2003, S. 39ff.

44

Donald Kuspit, Der Kult vom Avantgarde-Künstler (1993), Klagenfurt 1995; S. 217ff; Ders., Dialektik der De-

kadenz. Die Last der Geschichte in der zeitgenössischen Kunst, Ostfildern 1997, S. 14; Ders., The end of art, Cambridge/New York 2004, S. 9Iff.

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Männlichkeit".45 Eine bessere Bestätigung der feministischen Deutung dürfte kaum aufzufinden sein. Kuspit beschreibt im Grunde denselben Effekt aus einer anderen Perspektive: was die Autorinnen als weibliche Aneignungsversuche charakterisieren, empfindet er als kastrierende Attacke. Beide Seiten beschreiben das ästhetische Verfahren der Appropriation unter Verwendung psychoanalytischer Terminologie als einen Geschlechterkonflikt. In die Kunstkritik hat die feministische Deutung ungeachtet ihrer Plausibilität allerdings weit weniger Eingang gefunden als ein anderer Argumentationsstrang, der gleichfalls die Orföfer-Deutungen fortschreibt, dabei aber weniger den Aspekt der Repräsentationskritik als vielmehr den der Institutionskritik betont. Eine Schlüsselrolle erhielt dabei ein von der Buchloh-Schülerin Andrea Fraser im Jahr 1985 veröffentlichter Kommentar über die Fotokünsderin Louise Lawler, die mit Levine zu den Pictures- Kün s dem gehört: Lawler zeige „den Platz der Kunst in der Marktwirtschaft auf', sie lege „die Position des Künsders in diesem Rahmen neu fest" und ihre Arbeiten reflektierten eine „Strategie des Widerstandes und der Nicht-Konformität".4*5 Diese Deutung, die die von Crimp, Krauss, Craig und Buchloh entwickelten theoretischen Überlegungen konkretisiert und gleichzeitig vereinfacht, hat die Rezeption der Appropriation Art auf Jahre hin geprägt. Fast durchgängig behauptete daraufhin die Kunstkritik der 80er und 90 Jahre, die Arbeiten von Levine und Lawler stellten eine kritische Reflexion des Kunstsystems dar 47 Louise Lawler ist bekannt geworden mit Fotografien, die Kunstwerke in ihren jeweiligen Kontexten zeigen, dabei kann es sich um Situationen wie Verkauf, Lagerung oder Transport handeln, aber auch um Arrangements von Kunstwerken in einem häuslichen oder repräsentativen Ambiente (Abb. 3). Diese bewegen sich meist an der Nahtstelle zwischen Kitsch und ,Geschmack', Kommerz und individuellem Wohlbehagen, wobei die von Lawler gewählten Ausschnitte die vorgefundene Situation nicht nur verdichten, sondern auch ästhetisieren. Das s hier der Kontext von Kunst zum Gegenstand von Kunst gemacht wird, ist unbestritten, fraglich allerdings, ob dies in kritischer Weise geschieht. Rosalind Krauss schreibt treffend, Lawler halte bei ihrer Fotografie sich „selbst so zurück, dass es schwer ist, in der Aufnahme Ärger oder Verachtung oder andre provozierende avantgardistische Aussageweisen zu finden". Mit einer „seltsam gelähmten, aber sanften Neutralität" richte sich ihr Blick auf den „gegenwärtigen Warencharakter moderner Kunst".48 Gerade aufgrund ihres 45

Kuspit 1995 (wie Anm. 44), S. 223, 225,224. Andrea Fraser, Louise Lawler. in and out of place, in: Art in America, Juni 1985, erneut in: Peter Wetbel (Hg.), Kontext Kunst. Kunst der 90er Jahre, Ausst.-Kat. Neue Galerie am Landesmuseum Johanneum Graz, Köln 1994, S. 384-395, Zitate S. 384, 394. 47 Vgl. Johannes Meinhardt, Louise Lawler: As Serious as a Circus, in Kunstforum International, OKtVNov. 1987, S. 363f; ders., Louise Lawler. Die Orte der Kunst - Kontext Situation, Markt, in: Weibel 1994 (wie Anm, 46), S. 167-177; Thomas Weski, Kunst als Analyse. Zu den fotografischen Arbelten von Louise Lawler, In: Dietmar Elger/Thomas Weski, Louise Lawler. For Sale, Ostfilden 1994, S. 53-57; Stefan Römer, Künstlerische Strategien des Fake: Kritik von Original und Fälschung, Köln 2001, zu Lawler S. 150-179. 48 Rosalind Krauss, Louise Lawler: Souvenir Memories, in: A spot on the Wall, Ausst-Kat. Kunstverein München, Neue Galerie Graz, De appel Amsterdam, Köln 1998, S 35-44 (auch in: aperture, Nr. 145, Fall 1996, S. 36-39 sowie in Bachelors, Cambridge/London 1999, S. 191-205, hier: S. 39-41. 46

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Verzichts auf eine eindeutig kritische Perspektive erscheinen Lawlers und Levines Fotoarbeiten als nicht-avantgardistisch, nicht-modern und folglich postmodern' - im Sinne einer Haltung, die existierende Mechanismen - den Markt, die Aura, die Kunstinstitutionen - lakonisch nutzt, um eben diese Mechanismen vorzuführen: eine Kritik, die nicht als Kritik auftritt, eine affirmativ verkleidete Subversion. 3 louise lawler pollock and turreen, arranged by mr. and mrs. burton tremaine, Connecticut, 1984

Ausgerechnet Douglas Crimp, der Urheber dieser Deutung der Appropriation Art als einer untergründig-widerständigen Kunststrategie, hat sich aber schon 1982 (also nur ein Jahr nach Rosalind Krauss' Artikel), wieder von dieser Interpretation verabschiedet. Er stellte fest, dass die Appropriation von Bildern keineswegs zwangsläufig in kritischer Absicht geschehen müsse, sondern zu einem „generelle(n) Modus der Zeit" geworden sei. Konkret warf Crimp einem Teil der einst durch ihn protegierten Pz' t nui ¡ Ι·4ιιΐι l'l'lVtiltil l.titi-ititl Pttit tifH7?. W MatttiMtitviitti· '{Χ&νκίΜΡορι S&*titiitíi IVtrfttiçrnl 'MI.*" ¡Att«f Ι'·ψ: ' • • ' ' ' . lim ·,·• - . ' ; . . ai t í * Intimiti! Iii Util» Ott M i Ihr Wiittt h st iteti ptitiitiimi a. (Vint Mawttiii, Cuti., tt.it u y tum.. 'Hl .1 (Itltitlt. A m « Htítttttllí i - V l t f t t , : t t . ï ' i t t i - «

® eduardo kac

telepresence & bio art. networking humans, rabbits, & robbots

2005

59

1rit Rogoff, Was ist ein Theoretiker?, in: Hellmold et al. 2003 (wie Anm. 10), S. 273-283. so Ebd., S. 278.

209

Institutionen ausgehandelt werde.61 Auch wenn unter ,Kunstkritik' in den USA eine stärker theoretisch und historisch ausgerichtete Textgattung zu verstehen ist als im deutschsprachigen Raum, sind Osthoffs Beobachtungen wohl nicht einfach auf die Kunstwissenschaft übertragbar, da die Wissenschaft zum Beispiel keine direkten Werturteile zu fállen hat.62 Dennoch ist die Gefahr eines .partizipativen' Schreibens und eines .Aushandelns' von Bedeutungen durch eben die von Osthoff beschriebene Verflechtung, auf die ja auch Lawrence Alloway 1984 hingewiesen hatte,63 für die Kunstgeschichte ebenso gegeben wie für die Kunstkritik. Die Erkenntnis, dass das kunsthistorische Wort nicht das .letzte Wort' ist, sondern immer nur Teil eines komplexen Prozesses der Wissensproduktion sein kann, bedeutet daher umso mehr, dass sich die Stimmen innerhalb dieses Prozesses voneinander differenzieren sollten. Dabei geht es nicht um eine ontologische Unterscheidung oder kategorische Arbeitsteilung zwischen Theorie, Wissenschaft und Praxis oder um eine Entmündigung von Künsderinnen und Künsdern, ebenso wenig wie um einen „deconstructive criticism" im Sinne Donald Kuspits, der für Wissenschaftler und Kritiker einfordert, quasi ,metakünsderisch' zu wirken, um die popularisierte Kunst wieder theoretisch aufzuladen.64 Vielmehr zielt eine Differenzierung der Stimmen auf ihre unterschiedlichen Funktionen ab: Denn auch wenn es um einen gemeinschaftlichen Prozess der Wissensproduktion geht, heißt dies nicht, dass alle Parteien dabei das gleiche ,wissen' wollen, obwohl die Kunst mit der hier beschriebenen postmodernen .Infiltration' der ästhetischen Praxis durch den Text ihren Anspruch auf eine Aufhebung der traditionellen Arbeitsteilung zwischen Theorie und Praxis belegt. Dehierarchisierung ist jedoch nur fruchtbar, wenn die Stimme des Künstlers insofern ernst genommen wird, als dazu kritisch Position bezogen werden kann, was bedeutet, dass auch dem Künsderwort keine .höhere' Wichtigkeit, Autorität oder Wahrheit zugesprochen werden darf als allen anderen Stimmen im Netzwerk. Die Produktion von Wissen als einem kontinuierlichen und netzwerkartigen Prozess der Aneignung, Reinterpretation und Modifikation schließt, gerade weil sie als solche erkannt ist,65 eine kritische Meta-Position der Kunstgeschichte mit ein. Wie sich in den Werken Smithsons, Sekulas oder Kacs gezeigt hat, beharrt auch die Kunst auf ihrer eigenen ,Stimme', selbst wenn sie sich legitimatorischer β' Osthoff 2006 (wie Anm. 56), S. 15-16. 62 Zu einer Diskussion der Unterscheidung von Kunstkritik und Kunstgeschichte und ihrem jeweiligen Anteil an einer „Zeitkunstgeschichte", vgl. Nicole Scheyerer, Kunstkritik und Kunsttheorie: Wer schreibt „Zeitkunstgeschlchte/n"? Round-Table-Gespräch, in: Kunstgeschichte, Nr. 22/23, 2006, S. 44—51. Hier wird jedoch gerade nicht auf die Rolle der Künstlerinnen und Künstler selbst eingegangen. 63 Alloway 1984 (wie Anm. 6). Donald Kuspit, The Critic is Artist. The Intentionallty of Art (Contemporary American Art Critics, Bd. 2), A r n Arbor, Mich. 1984, bes. S. xv-xviii. Von künstlerischer Seite wurde Kuspits Forderung gerade als Entmündigung und Bevormundung der Künstler kritisiert, siehe Marcia Harfife Beitrag in: Susan Bee und Mira Schor (Hg.), M/E/A/N/l/N/G: An Anthology of Artists' Writings, Theory and Criticism, Durham, NC 2000. 65 Vgl. dazu Stefan Germer, Mit den Augen des Kartographen - Navigationshilfen im Posthistoire, in: AnneMarie Bonnet und Gabriele Kopp-Schmidt (Hg.), Kunst ohne Geschichte? Ansichten zu Kunst und Kunstgeschichte heute, München 1995, S. 140-151, bes. S. 149.

210

Strategien der Verwissenschaftlichung bedient. Insofern geht es für die Kunstwissenschaft nicht um einen Anspruch auf letztgültige Bedeutungserzeugung, sondern um ein Insistieren auf den eigenen .Skills' und die Analyse der funktionalen und eventuell auch erkenntnistheoretischen Differenzen der jeweiligen Produktionsformen des Wissens.66 Künstlerliteratur kann demnach durchaus als Quellentext für kunsthistorisches Wissen funktionieren, aber auch als künstlerisches Produkt des Wissens analysiert sowie als ein theoretischer Beitrag gelesen und diskutiert werden. Eine schlichte Exegese der Künsderliteratur ist daher genauso wenig fruchtbar wie eine autoritäre Geste der Bedeutungserzeugung von Seiten der Kunstgeschichte. Ich würde aus dieser Perspektive dafür plädieren, nach den jeweiligen Interessen am Wissen zu fragen und dem künsderischen Werk eigene ,Skills' entgegenzusetzen, anstatt wie Rogoff „mit" dem Künsder schreiben zu wollen. Letztlich fordert doch auch sie ein, dass wir uns dafür interessieren sollen, was künsderische Theorie von kunsthistorischer unterscheide und wie sie aufeinander bezogen seien.67 Erst in dieser kritischen Gegenüberstellung von Textgattungen und ihrer funktionalen Analyse wird dann auch der Kunsthistoriker zum Produzenten'.

66

Vgl. dazu Rosalind Krauss, Der Tod der Fachkenntnisse und Kunstfertigkeiten, in: Texte zur Kunst, Nr. 20, 1995, S. 60-67.

e? Rogoff 2003 (wie Anm. 59), S. 283.

211

performative Kunstgeschichte

philip ursprung

Die performative Kunst der 1960er und 1970er Jahre, also Happening, Fluxus, Performance und Body Art, haben die Kategorien der Kunstgeschichtsschreibung grundlegend verändert. Das Interesse vieler Kunsthistoriker hat sich von der Beschreibung statischer Objekte hin zur Analyse von dynamischen Prozessen verlagert. Die dualistische Unterscheidung zwischen Kunstwerk und Betrachter ist der Analyse der Interaktionen zwischen Produktion und Rezeption gewichen. Die Wahrnehmung und Interpretation von Kunstwerken ist als kontingenter, von spezifischen Interessen und Bedingungen geleiteter Prozess ins Blickfeld gerückt. Und auch die Historiographie der Kunst wird seit einiger Zeit auch unter dem Aspekt des performatives Schreibens reflektiert, das heißt als eine Praxis, welche die Bedingungen und Motive der Autoren ins Spiel bringt und der es weniger darum geht, Bedeutung zu fixieren, als darum, sie offen zu halten. Amalia Jones und Andrew Stephenson brachten dies in der Einleitung des Aufsatzbandes Performing the Body / Performing the Text (1999) auf den Punkt: „Since the 1960s, visual art practices, from body art to Minimalism, have opened themselves to the dimension of theatricality in such a way as to suggest that art critics and art historian might reassess our own practices of making meaning through an engagement with the process of art production and reception as performative. (...) The notion of the performative highlights the open-endedness of interpretation, which must thus be understood as a process rather than an act with a final goal, and acknowledged the ways in which circuits of desire and pleasure are at play in the complex web of relations among artists, patrons, collectors, and "both specialized and nonspecialized viewers. (...) Adopting the notion of performativity as a critical strategy within the study of visual culture thus enables a recognition of interpretation as a fragile, partial, and precarious affair and, ultimately, affords a critique of art criticism and art history as they have been traditionally practiced. Since meaning is negotiated between and across subjects and through language, it can never be fully secured: meaning comes to be understood as a negotiated domain, in flux and contingent on social and personal investments and contexts. (...) Interpretation itself is a performance between artists (as creators, performers, and spectators of their work) and spectators (whether 'professional' or non-specialist)."1 Das Buch erschien im Kontext einer Reihe von Publikationen zur Performativität, darunter Peggy Phelans Unmarked: The Politics of Performance (1993), Judith Butlers Exätabie Speech: A Po/itics of the Performative (1997), Rebecca Schneiders The Explicit Body in Performance (1997) und Amelia Jones' Body Art: Performing the 1 Amelia Jones and Andrew Stephenson, Introduction, in: Dies. (Hg.), Performing the Body, Performing the Text, London und New York 1999, S. 1-10, hier: S. 1-2.

Subject (1998). Diese Bücher standen am Beginn einer Trendwende in der Kunstgeschichte. Scheinbar unverrückbare Grenzen wie die Unterteilung in Gattungen, Medien und Epochen wurden ebenso geöffnet wie der Zugang zu Kino, Tanz, Theater, Literatur, Populärkultur. Die Erkenntnis setzte sich durch, dass gerade ephemere Kunstwerke, die notwendigerweise der medialen Repräsentation durch Fotografie und Video bedürfen, auch nach historischer Nacherzählung rufen, also gleichsam privilegierte Gegenstände der Historiographie sind. Selbst offensichtlich statische Artefakte wie die Objekte der Minimal Art wurden mit einem Mal als Elemente von performativer Wahrnehmung interpretiert. Lange Zeit marginalisierte Künstler wurden in den kunsthistorischen Kanon aufgenommen. Und, nicht zuletzt dank Erika Fischer-Lichtes Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen an der FU Berlin, konnte die deutschsprachige Kunstgeschichtsschreibung in Bezug auf die methodische Beweglichkeit, die Offenheit gegenüber benachbarten Disziplinen, sowie die Affinität zur Kunst der eigenen Gegenwart ihren notorischen Rückstand auf die englischsprachige Kunstgeschichtsschreibung verringern. Innerhalb des erstaunlich kurzen Zeitraums von einem Jahrzehnt wurde die Kunstgeschichte des Performativen institutionalisiert. Was heute hingegen fehlt, so meine These, ist eine performative Kunstgeschichte. Obwohl die Kenntnisse der performativen Gegenstände zugenommen haben, betrachten die meisten Historiographen sie nach wie vor aus der Distanz. Auch wenn das „Ich" der kunsthistorischen Autoren gelegentlich hinter der vorgeblicher Neutralität hervorblickt und die persönlichen Motive und die Umstände der Forschung nicht mehr nur ausschließlich in den Danksagungen vor oder nach dem Haupttext versteckt bleiben, wird die Performanz der Historiographen kaum diskutiert. Mit anderen Worten, die Wandlung vom Beobachter zum Teilnehmer, welche die Kunst vor vierzig Jahren verändert hat, hat in der Kunstgeschichte noch nicht stattgefunden. Aber wie könnte eine performative Kunstgeschichte aussehen, die sich vornimmt, den eigenen Gegenstand nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu beeinflussen? Also vorzugehen in Analogie zu Karl Marx' Satz aus den Thesen über Feuerbach, „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern."2 Und warum, so werden manche zu Recht fragen, sollte dies überhaupt nötig sein? distanzierte kunstgeschichte Der Grund für eine performative Kunstgeschichte, eine Kunstgeschichte, die sich einmischt und exponiert, so meine Antwort, liegt darin, dass sie sich die traditionelle Rolle der distanzierten Betrachtung nicht mehr leisten kann. Die goldenen Zeiten ihres Vermittlungsmonopols sind vorbei. Die Vermittlung von Gegenwartskunst ist in den letzten dreißig Jahren zu einem immer stärker um· 2

Karl Marx, Thesen über Feuerbach (11. These), geschrieben 1845, nach der Ausgabe von 1888, Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bertin (Ost) 1952, Bd. 2, S. 372.

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kämpften Feld geworden, um dessen Kontrolle sich diverse Instanzen bemühen. Die Kunstgeschichtsschreibung hat in diesem Prozess zunehmend an Terrain verloren. Sie hat ihre zwischen dem mitderen 19. und dem mittleren 20. Jahrhundert bestehende Vorrangstellung auf dem Feld des künsderischen Diskurses an andere Akteure der Vermitdung und Bewertung abgeben müssen, namentlich Sammler, Händler und Museumskuratoren. Diese Entwicklung setzte im Lauf der 1960er Jahre ein. Im Übergang von der „artist's world" — so ein Schlagwort im New York der 1950er Jahre - zur „art world" - so der in den 1960er Jahren langsam eingebürgerte Begriff — rückten die Kunsthistoriker zunehmend an den Rand. Die Kunstwelt konsolidierte sich Anfang der 1970er Jahre. Museen und Ausstellungszentren, freischaffende Kuratoren und Sammler sowie der eng damit verflochtene Kunstmarkt rückten ins Zentrum der Vermitdung und sind seither die Instanzen, welche über Wert und Bedeutung der zeitgenössischen Kunst - und damit teilweise auch über die Kunst früherer Epochen - entscheiden. Es ist für die Kunstgeschichte ein geringer Trost, dass es der Kunstkritik, von der sie sich im Lauf des 20. Jahrhunderts immer mehr distanzierte, noch schlechter erging als ihr selber. Diese im 19. Jahrhundert meinungsbildende Praxis ist seit den 1970er Jahren bekanntlich nur noch ein Schatten ihrer selbst. Und auch die Künsder büßten seit damals an diskursivem Gewicht ein. Die Kunsttheorie, die Jahrhunderte lang stark von Künstlertexten geprägt war, bedarf der Stimmen der Künstler schon lange nicht mehr. Sie tauchen, ebenso wie die Stimmen der Kritiker, allenfalls im Künsderinterview noch auf. Kunstgeschichte, Kunstkritik und Künsder sitzen damit sozusagen im selben Boot. Dieser Trend ist ungebrochen. Nach der Preisexplosion der zeitgenössischen Kunst in den 1980er Jahren und dem nach dem kurzfristigen Einbruch des Kunstmarktes 1991 folgenden Boom der späten 1990er Jahre expandierte die Kunstwelt abermals stark und lehnt sich seither an die Dynamik der globalisierten Wirtschaft an. Das heißt, sie zielt auf die Konzentration von kulturellem Kapital und lokalisiert sich in den ökonomischen Zentren, ohne den nationalstaatlichen Grenzen Beachtung zu schenken. Sie organisiert sich um ein stabiles Portfolio von vergleichsweise wenigen lebenden und bereits verstorbenen Künsdern mit einem sehr hohen Preisniveau. Und sie entwickelt zugleich einen schier unersättlichen Appetit nach neuer Kunst aus Bereichen jenseits der globalisierten Welt oder vermeintlich marginalisierten Künsdern aus dem Fundus der Kunstgeschichte. Diese Dynamik hat Rückwirkungen auf die universitäre Kunstgeschichtsschreibung. Denn auch wenn nur eine Handvoll von Künstler-Stars, Galeristen und Sammlern von dem Boom unmittelbar finanziell profitieren können, ist der seit den 1990er Jahren ungebrochene Triumph der Kunstwelt ein Motor für die gegenwärtige Blüte des akademischen Faches Kunstgeschichte und den Trend hin zur Geschichte der Gegenwartskunst. Das Interesse einer wachsenden Öffentlichkeit an Fragen der zeitgenössischen Kunst bedeutet Arbeitsplätze und Zukunftsperspektiven für junge Kunsthistoriker, von denen ihre Vorgänger in den 1960er und 1970er Jahren kaum zu träumen wagten. Mit einer Mischung 215

aus Neid und Herablassung verfolgen Kollegen aus anderen Disziplinen denn auch die Vitalität der Kunstgeschichte. Hans Ulrich Gumbrecht meinte im Gespräch, dass sie sicherlich das lebendigste Fach im deutschen Sprachraum sei, obwohl sie sich weder über ihren Gegenstand noch über ihre Methoden im Klaren sei. Entsprechend erstaunt war er darüber, dass sie vor allem in die eigene Vergangenheit blickte und meinte provozierend: „Bredekamp ist doch viel interessanter als Warburg".3 Tatsächlich vermag die optimistische Rhetorik ihrer Protagonisten eine grundsätzliche Unsicherheit nicht zu verbergen. Und die Vitalität des Fachs Kunstgeschichte kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie am aktuellen Boom nur wenig Anteil hat. Sie ist eher davon getrieben, als dass sie selber eine treibende Kraft wäre. Auf die Dynamik der Kunstwelt ist sie nicht vorbereitet. Sie erwartet Selbstheilung entweder aus dem verdrängten Arsenal ihrer eigenen Disziplingeschichte — Stichwort Aby Warburg — oder, indem sie sich an andere Disziplinen anlehnt wie die Philosophie, die Soziologie, die Naturwissenschaften, die Medizin oder die Ökonomie. Ich möchte, quasi als Antwort auf Gumbrecht, unter dem Begriff „performative Kunstgeschichte" ein paar Überlegungen zu der Frage formulieren, wie wir als Kunsthistoriker unsere Positionen, Motivationen und Interessen ins Spiel bringen und dabei unseren Ort innerhalb der boomenden Kunstwelt besser lokalisieren können. Wie wir als Historiographen „ich" sagen können nicht als distanzierte Berichterstatter abgeschlossener Ereignisse, sondern als lokalisierbare Teilnehmer eines sich ständig ändernden Geschehens. Mein Motiv ist, dass sich die Kunstgeschichte von ihrer passiven Beobachterposition lösen und ihr Gewicht stärker einbringen möge. Mein Gegenstand ist der amerikanische Künstler Allan Kaprow (1927 - 2006).

, m e i n ' alian k a p r o w

Als Hedy Graber und ich Allan Kaprow 1996 zu einem Workshop in die Kunsthalle Palazzo in Liestal einluden, einem alternativen Ausstellungszentrum bei Basel, das wir damals kuratierten, führte er mit uns eine Reihe von so genannten Activities durch. Sie trugen den Titel Performing Ufe. Eine davon bestand darin, dass jemand mit einer Kreide einen Strich auf die Strasse zog und ein anderer diesen mit einem Radiergummi wieder auslöschte. Die Activity dauerte so lange, bis entweder die Kreide oder der Gummi aufgebraucht waren. Als ich auf dem Bahnhofsplatz vor der Kunsthalle kniete und meinen Strich malte, während mein Partner eifrig nibbelte, um diesen wieder unsichtbar zu machen, schaute uns eine wartende Frau zu. Sie fragte, was wir täten. Ich antwortete, dass ich einen Strich zöge, den mein Partner wieder ausradierte, solange bis entweder die Kreide oder der Gummi verbraucht waren. Sie rief: „Ja, aber das ist ja wie im Leben!"

3

Hans Ulrich Gumbrecht, Gespräch mit dem Autor, Palo Alto, 8. Februar 2007.

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alian kaprow, performing life, activity, liestal, 15. juni 2006

Die Annäherung der Kunst an das Leben 2Íeht sich als roter Faden durch die Kaprows Kunst. Ausgebildet in New York als Maler und Kunsthistoriker, suchte er wie viele seiner Generation in den 1950er Jahren nach einem Weg, der Malerei des Abstrakten Expressionismus zu entkommen. Er entwickelte als Alternativen zum Tafelbild das Environment, also Umgebungen aus Plastikfolien, Leinwandstreifen, zerbrochenen Spiegeln, Gerüchen, Esswaren, in welche die Betrachter eintauchen und die sie buchstäblich konsumieren konnten. Anfang der 1960er Jahre entwickelte er diese Methode weiter in den so genannten Happenings. Die Bilder wurden quasi lebendig, sie wurden aufgeführt. In einem dritten Schritt überwand er die aus dem Bereich des Theater stammende Trennung zwischen Akteuren und Zuschauern. Nun gab es in seinen Happenings keine Zuschauer mehr, sondern nur Mitspieler. Außerdem verband er die Happenings untrennbar mit dem Ort des Geschehens. Für Household (1964) baute er mit Architekturstudenten der Cornell University auf einer Mülldeponie aus Abfall Häuser auf und zerstörte diese wieder. Für Fluids (1967) errichtete er in Los Angeles Bauten aus Eisblöcken, die bald schmolzen. Und für Sweet Wall (1970) errichtete er in einer Kriegsbrache unmittelbar neben der Berliner Mauer mit Freunden eine Mauer aus Zementsteinen, die mit Brot und Marmelade verkittet waren, um sie gleich danach wieder einzureißen. Indem Kaprow auf handhabbare Werke verzichtete, entzog er sich dem Einfluss von Sammlern und Galerien. Auch die Museen verloren ihn ab den 1970er Jahren aus den Augen. Er lebte von den Honoraren für die Happenings sowie von seiner Lehre an Universitäten, zuletzt, bis zu seiner Emeritierung Mitte der 217

1990er Jahre, an der University of California San Diego. Es ging ihm dabei nicht um die Kritik des Kunstbetriebs. Er begriff, dass diese Kritik ihren Gegenstand unweigerlich reproduzierte und stärkte. Als wir Kaprow 1996 nach Liestal einluden, stand er am Tiefpunkt seiner Bekanntheit. Olav Westphalen, der bei ihm studiert hatte, hatte uns auf ihn aufmerksam gemacht. Die Ausstellung zog etwa zwei Dutzend Besucher an, und den Katalog verkauften wir vielleicht fünf Mal.4 Aber die Activities — neben derjenigen auf dem Bahnhofjplatz beispielsweise sich die Hand zu geben und zu fragen „Is it warm yet?" bis einer sagt „yes" — hinterließen bei uns Teilnehmern einen bleibenden Eindruck (Abb. 1). Für mich veränderte sie die Art der Wahrnehmung von ganz alltäglichen Gesten und das Gefühl für den Lauf der Zeit. Die Begegnung mit Kaprow war Anlass, mich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen. Dies änderte meinen Blick auf die jüngere Kunstgeschichte und brachte mein damals stockendes Habilitationsprojekt in Schwung.5 Dass von den Happenings nur photographische Dokumente übrig bleiben, empfand ich nicht als Problem, sondern im Gegenteil als Vorteil, weil sie ja auf der Ebene der Narration existierten und damit nach historischer Nacherzählung gleichsam rufen. Dass er damals fast vergessen war, kam mir zupass, weil ich freie Bahn hatte, meine eigene Darstellung dieser Kunst zu entwickeln. Ich konnte mich auf das „performative writing" stützen, welches, wie oben erwähnt, Amelia Jones und Rebecca Schneider, aufbauend auf Judith Buder, fruchtbar auf Performances und Body Art anwandten. Motiviert von der Autoritätskritik des Postfeminismus boten sie eine Weiterentwicklung der postmodernistischen Ideologiekritik, etwa durch Hal Foster und Benjamin H.D. Buchloh. Allerdings erwähnten sie Kaprow nie. Und sie sprachen auch nie von einer „performative art history". Eines ihrer Ziele war die Revision des Kanons, also die Rehabilitation und Integration von Figuren, welche die Historiographie oder der Betrieb ausschließt — darunter viele Performancekünsder sowie solche, die wegen feministischer, homosexueller oder politischer Themen marginalisiert waren. Aus der Perspektive dieser so engagierten und differenzierten Historiographie war Kaprow als einstmals sehr einflussreiche, akademisch abgesicherte Figur zu fest etabliert. Mit dem, was ich unter performativer Kunstgeschichte verstehe, geht es mir nicht darum, den bestehenden Kanon zu revidieren, indem ich marginalisierte Figuren wieder einfüge. Es geht mir vielmehr darum, den Kanon zu ändern. Dieses Ziel ist natürlich unerreichbar. Aber es gibt mir eine Richtung vor. Ich will Kaprow deshalb nicht als Ausnahme zu einer etablierten Erzählung der Kunst der 1960er Jahre darzustellen, sondern als zentrale Figur innerhalb meiner Erzählung dieser Kunst, einer Erzählung, die sich von meinen gegenwärtigen Fragestellungen beziehungsweise von sich im Laufe des letzten Jahrzehntes immer wieder ändernden Fragestellungen aus entwickelt. Eine Herausforderung ist es, Gegenstände zu wählen, die sich für diese methodischen Beschreibungen Hedy Graber/Philip Ursprung (Hg.), Allan Kaprow, Ausst.-Kat. Kunsthalle Palazzo Liestal, Basel 1996. Philip Ursprung, Grenzen der Kunst, Allan Kaprow und das Happening, Robert Smlthson und die Land Art, München 2003.

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eignen, ohne dass sie dadurch neutralisiert werden, dass sie als Beleg für eine Theorie dienen. Anders gesagt: Gegenstände, anhand derer ich nicht in Versuchung komme, Fragen aufzuwerfen, deren Antworten bereits bekannt sind, sondern die ich nicht verstehe. 2 alian iaprow 18 happenings in 6 parts, rauben gallery, new york 4., 6.-10. Oktober 1959

Ein besonders geeigneter Fall in Kaprows Œuvre ist das erste Happening überhaupt. 18 Happenings in 6 Parts wurde Anfang Oktober 1959 an sechs Abenden in einer New Yorker Galerie aufgeführt. Die Galerie war in drei Räume unterteilt. Die Zuschauer erhielten Kärtchen, die anordneten, wann sie in welchem Raum zu sitzen hätten. Pro Abend traten sechs Akteure auf, vornehmlich Künsder. Ein Glockenschlag eröffnete die Veranstaltung. Elektronisch generierte Geräusche ertönten aus Lautsprechern. Dias wurden projiziert. Die Akteure führten in der Folge kurze Aktionen auf, rhythmische Bewegungen, Musikaufführungen, gesprochene Texte über Kunst, etc. Sie führten kleine Geschehen auf, eben „happenings", wie Klötze anordnen, eine Leinwand bemalen, Orangen auspressen, Texte aufsagen (Abb. 2). In den Pausen mussten die Besucher sich gemäß den Anordnungen auf dem Programm umsetzen. Es kam zu Verwirrungen und Diskussionen, Paare wurde auseinander gerissen usw. Das letzte Happening bestand daraus, dass sich alle Akteure in einem Raum trafen, Papierrollen von der Decke zogen und begannen, die darauf geschriebenen Wörter laut zu lesen. Die Stimmen vermischten sich zu einem babylonischen Gewirr. Die Lichter gingen aus und ein Dia von Kaprows Mund und Kinn wurde projiziert (Abb. 3). Dann waren die 18 Happenings zu Ende. 219

alian kaprow, 18 happenings in 6 parts, reuben gallery, new york, 4., 6.-10. oktober 1959, aufnehme von kaprows nase und mund, kleinbilddia, während des happenings projiziert

18 Happenings in 6 Parts gilt als Meilenstein der Kunstgeschichte, aber kaum ein Kunsthistoriker geht über die Erwähnung des Titels hinaus. Interessant ist der Bericht des amerikanischen Science Fiction Autors Samuel Delany, der als 18jähriger dabei war. In seiner 1988 erschienenen Autobiografie The Motion of Light in Water schreibt er: „The only truly clear memory I have of the performance proper was that I wasn't very sure when, exacdy, it began." 6 Er beschreibt, dass er enttäuscht gewesen war, nicht alles gesehen zu haben. Zugleich hat er den Eindruck, Zeuge eines epochalen Werks gewesen zu sein. Denn gerade die Tatsache, dass niemand dasselbe sieht und begreift, „was geschieht", dass es keinen linearen Handlungsablauf, keine Geschlossenheit gibt, zeigte ihm, dass dieses Kunstwerk wie ein historisches Ereignis organisiert war. Sein Nichtverstehen interpretiert er damit, dass er in den modernistischen Vorstellungen einer linear ablaufenden Zeit verhaftet gewesen und zum ersten Mal mit postmodernistischer Simultaneität konfrontiert worden sei. Unter den Kunsthistorikern

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Samuel Delany, The Motion of Light in Water, Sex and Science Fiction Writing in the Eeast Village, 1957 -

1965, New York 1988, S. 112.

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beschrieb bisher nur Gavin Butt das Happening ausfuhrlich. 7 Er sieht darin ein Emblem für den fragmentarischen Charakter der Erinnerung, ein Anlass für ein Plädoyer als Historiograph, Bedeutung generell offenzuhalten. Weder Butt noch sonst ein Historiograph erwähnen allerdings, dass Kaprow das Happening 1988 in New York mit einem ganz neuen Score neu aufführte. Wenn wir es auf die historische Einmaligkeit reduzieren, noch dazu auf seinen Status als ,erstes' Happening, fixieren wir seine Bedeutung ungewollt ebenfalls. Das fuhrt mich zu einer wichtigen Frage der performativen Kunstgeschichte. Wie halten wir die Bedeutung im Fluss und verhindern, dass sie erstarrt? Wie erhalten wir den Gegenstand am Leben? Wie können wir uns methodisch mitreißen lassen und zugleich den Gegenstand mitreißen? Wie Delany glaube ich, dass 18 Happenings von der Stellung des Subjekts in der Geschichte handelt. Aber mich interessiert nicht der Unterschied zwischen moderner und postmoderner Geschichtsauffassung — diese Diskussion fand in den 1980er Jahren statt —, sondern die Frage, wie man zu unterschiedlichen Zeiten an der Vergangenheit partizipieren kann. Wie Butt möchte ich die Bedeutung nicht endgültig festschreiben. Aber ich möchte sie auch nicht einfach offen halten, denn damit distanziere ich mich ja meinerseits wieder von meinem Gegenstand. performance und arbeit Meine Geschichte von 18 Happenings in 6 Parts setzt bei der Thematik der Unterteilung an, und zwar namentlich der Arbeitsteilung. Der Autor selber ist ihr unterworfen. Er tauchte im Programm auf, als Autor und Mitwirkender. Innerhalb der Veranstaltung trat er in verschiedenen Rollen auf, etwa als Sprecher, als Musiker und, wie erwähnt, vermittels des Dias seiner unteren Gesichtshälfte. Der Autor hatte das letzte Wort — doch er blieb augenscheinlich stumm und blind, da die Augen nicht zu sehen waren. Auch die Akteure waren nur für Ausschnitte verantwortlich. Und selbst die Zuschauer waren dieser Partikularität unterworfen. Sie konnten jeweils nur ahnen, was im Nachbarraum vor sich ging. Es gab keinen Ort, von dem aus die Gesamtheit des Ablaufs überblickt werden konnte. Alle waren Teil eines Prozesses, der nicht zwischen Produktion und Rezeption unterscheidet. Warum betrachte ich das Happening gerade unter dem Aspekt der Arbeitsteilung? Einerseits scheint mir ^Arbeit' derjenige Begriff zu sein, der vom Begriff performance' gern verdrängt wird. Die Moderne scheint mit Ausnahme des Realismus keine Möglichkeit zu bieten, Arbeit zu repräsentieren. Dies ist ein Grund für mein Interesse. Der andere Grund ist pragmatischer, nämlich dass ich seit den 1990er Jahren regelmäßig mit Architekten und Ausstellungsmachern zusammenarbeite, für die ein kreativer Prozess ohne Arbeitsteilung gar nicht denkbar ist. Ich erfahre diese Tätigkeiten als Alternative zu der ver-

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Gavin Butt, Happenings in history, or, the epistemology of the memoir, in: Oxford Art Journal, 2001,24, S. 113126.

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gleichsweise einsameren Arbeitsweise der Kunsthistoriker, die ja in der Regel alleine am Schreibtisch sitzen. Ich entnehme also meine Vorstellungen aus dem Œuvre von Kaprow ebenso wie ich sie darauf projiziere. Dies fallt mir in seinem Fall leicht. Er ist, wie gesagt, ausgebildeter Kunsthistoriker. Seine Master's Thesis über Mondrian schrieb er bei keinem Geringerem als Meyer Schapiro an der Columbia University. Er agierte stets im Kontext der Hochschulen und veröffentlichte im Verlauf seiner Karriere zahlreiche Aufsätze und Bücher. Wir sprechen sozusagen dieselbe Sprache. Zeit und der Ort seiner wichtigsten Produktion fallen außerdem teilweise mit meiner eigenen Kindheit zusammen. Ich wuchs in den 1960er Jahren in der universitären Welt der amerikanische Ostküste auf — mein Vater war Professor für Biologie an der Johns Hopkins University. Tätig im deutschen Sprachraum und zugleich orientiert an der angloamerikanischen Kunstgeschichte, entspricht mir seine Verwurzelung im amerikanischen Pragmatismus und die ironische Skepsis gegenüber dem europäischen Idealismus. Ich habe Sympathie für seine Haltung, die Realität zu spiegeln — also nicht, sie im Sinne einer symbolischen Kunst zu transzendieren. Und schließlich gibt es auch eine politische und ökonomische Affinität. Denn auch wenn die Struktur seiner Happenings oft rituelle Züge aufweist, sind sie es nicht im religiösen Sinn, sondern im Sinn gemeinschaftlicher Arbeit wie das Aufrichten einer Scheune durch die Quäker, oder des Spiels von Kindern, die spontan einer selbst gegebenen Spielregel folgen. Diese Spielregeln sind sehr wichtig. Sie machen seine Arbeit alles andere als willkürlich oder anarchisch, sondern durch und durch reguliert im Sinne von demokratischen Konventionen. Nicht zuletzt ist Kaprows Kunst eine, die an meine ökonomische Klasse adressiert ist. In seinen Worten: „Middle-class money, both public and private, should be spent on middle-class art, not on fantasies of good taste and noble sentiment."8 Unter performativer Kunstgeschichte verstehe ich, noch einmal, die Verfahren, „meinen" Kaprow darzustellen, beziehungsweise meiner Geschichte der Kunst Gehör zu verschaffen. Nicht, um einem Subjektivismus zu huldigen, sondern um eine unter vielen möglichen Darstellungen besser nachvollziehbarer und angreifbarer zu machen und damit die Diskussion in Bewegung zu halten. Dazu gehört es, die Grenzen zu den unterschiedlichen Institutionen zu artikulieren. Als Vertreter der Institution Universität genieße ich heute das Privileg der akademischen Freiheit. Das heißt, ich muss mich nicht den Wertvorstellungen der Sammler, Museen und Galerien unterwerfen. Im Fall von Kaprow bestand diese Gefahr lange nicht. Aber nun ist der Kunsthandel auf ihn aufmerksam geworden. Wie beeinflusst diese meine Position? Als Kaprow mich Anfang 2005 fragte, ob ich mit meinen Studierenden das Happening Fluids anlässlich der Art Basel 2005 neu inszenieren möchte, lehnte ich ab.9 Nicht weil ich gegen den Kunstmarkt bin oder ihm die Popularität missgönnte. Aber weil ich nicht leichtfertig meine Erzählung dieser Kunst dem Interesse des Kunstmarktes ausliefern wollte - und weil ich, pathetisch gesagt, nicht öffentliche Subventionen 8

Allan Kaprow, .The artist as a man of the world", in: Art News 63/6,1964, wieder in: Allan Kaprow, Essays on the Blurring of Art and Life, Jeff Kelley (Hg.), Berkeley 1993, S. 46-58, hier: S. 57. 9 Vgl. Allan Kaprow, Fluids, hg. von Hauser & Wirth Zürich London, Köln 2005.

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(das Engagement von mir und meinen Studenten) für die Zwecke einer kommerziellen Galerie einsetzen wollte. Aber dies war erst der Anfang seines Comebacks. Im Herbst 2006 startete im Haus der Kunst in München eine große Retrospektive von Kaprow, die danach in Eindhoven, Bern, Genua und Los Angeles zu sehen war. In München wurden etliche von Kaprows Happenings neu aufgeführt, als Höhepunkt eine originalgetreue Rekonstruktion von 18 Happenings in 6 Parts.10 Ich war bei der Wiederaufführung von 18 Happenings in 6 Parts dabei, und meine größte Überraschung war es, die formale Schönheit zu sehen, das Ineinandergreifen von Bewegung, elektronischen Geräuschen, Bildern und Gerüchen. Problematisch war, dass in der Retrospektive die Gier der Institutionen, sich den einstigen Renegaten einzuverleiben, ihn in den historischen Kanon aufzunehmen, stets spürbar blieb. Schlagartig, das heißt mit Kaprows Tod, fühlte sich jeder für das Erbe zuständig. Die Bühne, die für die Pressekonferenz im Münchner Haus der Kunst aufgebaut worden war, vermochte die Vermittler kaum zu fassen, die beanspruchten, die Bedeutung von Kaprows Kunst zu vertreten. Symptomatisch war, dass der Hauptraum der Ausstellung gänzlich von Archivmaterialien eingenommen wurde, so als wollte die Institution den Fall bei der kreativen Wurzel fassen. Offener war die Interpretation von einigen Environments, welche die Studierenden der Kunstakademie München anboten. Sie inszenierten einige Werke neu, darunter Words (1962/2006) durch die Klasse Magdalena Jetelova. Ironischerweise fußt dieses 1962 zum ersten Mal aufgeführt Happening auf einem Projekt mit dem Titel Chapel, das Kaprow 1961 für eine Ausstellung im Museum of Modern Art in New York konzipiert hatte. Er hatte damals vorgeschlagen, dass Künstler Papierbahnen bemalen sollten, die von den Besuchern in der Ausstellung übermalt worden wären. Die Direktion lehnte das Projekt damals ab. In München erwies es sich als offenster Teil der Ausstellung, der spontan von Besuchern und deren Kindern in Beschlag genommen wurde. Die Ablehnung durch das Museum of Modern Art hatte den Beginn einer fast fünfzigjährigen Verdrängung durch die Institution Museum eingeläutet. Nun, das wurde mir in München klar, wollte sie ihn wieder haben. Zugleich wurde mir klar, dass auch ich nicht anders vorging, wenn ich die Darstellung dieses Künsders im Rahmen des universitären Diskurses begrenzen wollte. Zum Projekt der performativen Kunstgeschichte gehört, sich dieser Mechanismen gewahr zu sein und die Kunst weder dem Museum alleine zu überlassen, noch exklusiv für sich zu beanspruchen.

Schlingensiefs kaprow Gleichzeitig mit München richtete Christoph Schlingensief an der Berliner Volksbühne die, wie er es nannte, begehbare Installation Kaprow City ein (Abb.

10 André Lepecki, Redoing 18 Happenings in 6 Parts, in: Allan Kaprow, 18 Happenings in 6 Parts, Göttingen 2007, S. 45-50.

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4). Während Kaprow vor fünfzig Jahren das Theater in die Kunst holte um diese aus ihrer damaligen Stagnation zu lösen, führte Schlingensief die Kunst ins Theater, um sie aus ihrer, wie er es sieht, Selbstgefälligkeit und Hermetik zu befreien. Während Kaprow Künsder spielen ließ, die nichts aufführten, sondern alltägliche Verrichtungen wie Orangen auspressen durchführten, setzte Schlingensief Akteure mit Behinderungen ein, die ebensolche Verrichtungen machten und die, wie er sagt, nichts „vorspielen", sondern „einfach da sind".11 Er stellte diese Akteure in keiner Weise bloß. Vielmehr artikulierte er mit ihnen die Tatsache, dass die Kunstwelt eine hochgradig exklusive ist. Unwillkürlich musste ich an die Stellen in Delanys Autobiographie denken, wo er seine Eindrücke bei 18 Happenings schildert. Zusammen mit seinem Vetter stand der Teenager verlegen herum und sagte zu einer Frau neben ihm: „That was kind of fun." Sie entgegnete: „Oh, did you think so? How did you come here?" Er antwortete, dass er ein kleines Plakat gesehen habe. „You did?" fragte sie etwas ungläubig. Er hatte bereits bemerkt, dass er und sein Cousin die einzigen Afroamerikaner im Publikum waren und die einzigen, die wohl niemand von Sehen kannte. „,You liked it?' And she smiled. ,How unusual.'"12 In dem auf der Drehbühne aufgebauten Environment aus Versatzstücken aus Kaprows Bilderwelt mischten sich Akteure, herumirrende Zuschauer, Techniker sowie Schlingensief selber, der unentwegt kommentierend die Zuschauer durch das Labyrinth führte. Die Handlung, oder eben Nicht-Handlung, drehte sich um die Fiktion eines angeblich geplanten Films über Lady Diana. Die Akteure waren als Figuren aus diesem Film verkleidet, unter anderem als Elisabeth II. Und wie bei Kaprow die Zuschauer mehrmals die Plätze tauschen mussten und deshalb nur Fragmente wahrnahmen, teilte auch Schlingensief das Publikum in Gruppen. Nach dem Motto „keiner sieht alles" war eine Gruppe auf der Drehbühne, die zweite darum herum, die dritte im Zuschauerraum und die vierte in einem Separée platziert, wo sie ein Diner serviert erhielt, aber nichts von der Aufführung sah. Kaprow City war eine fragile Komposition, so wie ja auch Schlingensiefs Position als Künsder stets lokalisierbar und angreifbar ist. Seine Kunst hält, wie diejenige von Kaprow, der Welt den Spiegel vor. Die englische Boulevardpresse tobte, die Deutschen würden die Queen als Faschistin darstellen. Und Klaus Staeck, Präsident der Akademie der Künste Berlin, outete sich als genuiner deutscher Philister, als er nach einer Aufführung fragte: „Was will uns der Künsder sagen?"13 Er entsprach damit Kaprows Beobachtung, dass manche Menschen immer noch „Zäune um ihre Taten und Gedanken" legen.14 Für mich wiederum war Kaprow City von Schlingensief, der Anfang der 1980er Jahre

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Christoph Schlingensief, Gespräch mit dem Autor, Berlin, 19. Oktober 2006. Delany 1988 (wie Anm. 6), S. 113. „Kaprow-City eröffnet', DPA-Meldung vom 14.September 2006, zitiert nach wvw.schlingensief.com/webloq/index.php?p=138 (April 2008). 14 „Most humans, it seems, still put up fences around their acts and thoughts." Allan Kaprow, „The shape of the art environments, How anti-form is .antl-form'?", in: Artforum, 6,10, Sommer 1968, wieder in Kaprow 1993, S. 90-94, hier: S. 93. 12

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Christoph Schlingensief, kaprow city, Volksbühne berlin, 19. Oktober 2 0 0 6

in München Kunstgeschichte studierte, ein ausge2eichnetes Kunstwerk und ein Instrument, 18 Happenings in 6 Parts deutlicher zu sehen, ja es überhaupt als jenen Gegenstand wahrzunehmen, der performative Kunstgeschichte hervorbringen kann. Und zugleich nahm ich durch Kaprow Schlingensief zum ersten Mal als visuellen Künstler wahr. Mehr als in der Rekonstruktion in München verschwamm das unmittelbares Erlebnis von Kaprow City und die historische Fiktion in eines. Ich schwankte zwischen dem Text der Historiographie und der Textur des Kunstwerks.

Zeitgenossenschaft Zeitgenossenschaft ist heute ein kostbares Gut. Wir befinden uns, zumindest in den Industrienationen, in einer Phase, welche einerseits von immer neuen Ereignissen beziehungsweise ,Events' geprägt ist — wo also ständig ,etwas passiert' —, dass wir aber andererseits unsere Zeit zugleich als ewige Gegenwart empfinden, innerhalb derer keine Veränderung stattfindet — wo also eigentlich „nichts geschieht". Der Appetit nach „Präsenz" ist enorm. Dies ist zweifellos ein Grund dafür, warum wir die Performances, welche das Spiel zwischen Ab- und 225

Anwesenheit artikulierten, heute wieder als aktuell empfinden. Und so hängt denn auch die Konjunktur der zeitgenössischen Kunst damit zusammen, dass eine zunehmend breite Öffentlichkeit Antworten von ihr erwartet, Orientierung und Präsenz in einer Umgebung, die sie als zeitlich und räumlich diskontinuierlich wahrnimmt. Die Kunstgeschichte hat alle Voraussetzungen, sich in diesem Kontext zu exponieren und Gehör zu verschaffen. Es mag sein, dass die meisten von uns als Vertreter der universitären Kunstgeschichte am kürzeren Hebel sitzen als diejenigen, welche die neue Kunst sammeln und fördern. Aber zugleich tragen wir auch weniger Risiko und müssen keine Rücksicht auf Besucherzahlen nehmen. Und die Kunstwelt ist, trotz ihrer exklusiven Natur, in sich differenzierter und für Widersprüche offener als beispielsweise die Welt des Kinos oder der Mode. Die Praxis der Kunstgeschichte ist, auch dank der Blüte der Kunstwelt, sehr vielfältig. Die Recherche in Archiven, das Reisen und das Schreiben von Texten überlagert sich mit dem Kuratieren von Ausstellungen, dem Vermitteln in Podiumsdiskussionen, dem Beurteilen von Wettbewerben, dem Verfassen und Jurieren von Forschungsanträgen. Wir stehen am Schnittpunkt von diversen Disziplinen und Fragestellungen. Vor unseren Augen laufen eine Fülle von Fäden zusammen, die wir bloß in die Hand zu nehmen brauchen, um wieder im Spiel zu sein.

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anne-marie bonnet Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte (C 4) am Institut für Kunstgeschichte und Archäologie der Universität Bonn, Seminar für Kunstgeschichte. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Renaissancemalerei, Kunst der Moderne und Gegenwart, Kunst und Körper, Museums-/Sammlungstheorie, Betriebsystem Kunst, Kunstgeschichte und Moderne/Gegenwart, Zukunft des Faches. Publikationen: Kunst der Moderne. Kunst der Gegenwart. Herausforderung und Chance, Köln 2004; Rodin: der Kuss, die Paare, Ausst.-Kat. Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München/Museum Folkwang Essen 2006 (Hg. und Beiträge).

christian demand Jg. I960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunk-Journalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach mehreren Jahren als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien, wurde er Anfang 2006 an den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen. Christian Demand beschäftigt sich in seinen wissenschaftlichen Aufsätzen und Vorträgen vor allem mit Fragen der Kunstkritik und Kunsttheorie. 2003 erschien seine Habilitationsschrift „Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte".

hans dickel Jg. 1956. Studium der Kunstgeschichte und Geschichte, Promotion 1985, Habilitation 1996. Ausstellungskurator, Assistent an der Hochschule der Künste Berlin, Gastdozenturen in Harvard, Kyoto, Minneapolis und Prag, Lehrstuhlvertretungen am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin 1997-2002, seit 2002 Professor für Kunstgeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. Forschung und Lehre zur Kunst und den Künsten im 19. und 20. Jahrhundert. Letzte Monographien: Kunst als zweite Natur. Studien zum Naturverständnis in der modernen Kunst, Berlin 2006. Künsderbücher mit Photographie seit 1960, Hamburg 2008.

sebastian egenhofer Laurenz Professor für zeitgenössische Kunst an der Universität Basel. Arbeitsschwerpunkte: Zeitgenössische Kunst und Philosophie, Theorie und Geschich229

te der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, Perspektivtheorie in der frühen Neuzeit. Habilitationsprojekt über Hercules Seghers und die Entstehung der Niederländischen Landschaftsmalerei. Soeben erschien: Abstraktion - Kapitalismus — Subjektivität. Die Wahrheitsfunktion des Werks in der Moderne, München 2008.

julia gelshorn Assistentin am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich und derzeit Habilitationsstipendiatin am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris. Forschungsschwerpunkte: die Kunst der Moderne und Gegenwart (Appropriation Art, Künstlertexte und -interviews, Autorschaft und Identität, Intermedialität von Bild und Text), Kunst und Kultur des 18. Jahrhunderts (Körpergeschichte, ästhetische und soziale Normen). In Kürze erscheint: Strategien der Aneignung. Bilddiskurse im Werk von Gerhard Richter und Sigmar Polke (Dissertation), München 2008.

antje von graevenitz I.R., geboren in Hamburg, lebt in Amsterdam. Lehrte als Dozentin für Kunstgeschichte an der Universität von Amsterdam, von 1989 — 2005 als Professorin für Kunstgeschichte des 20./21. Jahrhunderts an der Universität zu Köln. Als Kunstkritikerin und -wissenschaftlerin publizierte sie weltweit, arbeitete in niederländischen und deutschen Redaktionen von Fachzeitschriften und leitete 10 Jahre lang die niederländische Sektion der AICA. Ihr Forschungsinteresse gilt anthropologischen und gattungsübergreifenden Aspekten der Kunst. Kürzlich veröffentlichte sie erneut Aufsätze zu Joseph Beuys und das „Festum Fluxorum Fluxus" von 1963 sowie über existentialistische Inspirationen im Werk deutscher Künstler nach 1945. Weiterhin widmet sie sich der Erforschung des Ephemeren in der surrealistischen Kunst und bei Marcel Duchamp.

richard hoppe-sailer Professor für Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Schwerpunkte: Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, zeitgenössische Kunst, Wechselverhältnis von Kunst- und Naturwahrnehmung, Neue Medien, Kunst und öffentlicher Raum, Kunst der Dürerzeit. Habilitation 1998 über „Gut ist Formung. Schlecht ist Form." Zum Problem des Naturbegriffs bei Paul Klee. Zuletzt erschien: Logik der Bilder: Präsenz — Repräsentation — Erkenntnis. Gottfried Boehm zum 60. Geburtstag, hg. zusammen mit Claus Volkenandt, Berlin 2005. 230

Verena krieger Professorin für Kunstgeschichte an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Zuvor Lehrtätigkeit an den Universitäten Stuttgart, Bern, Jena und München sowie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik und Kunsttheorie, Konzepte des Künstlers, Geschlechterforschung, Überschreitungen des Kunstbegriffs. Zuletzt erschienen: Was ist ein Künsder? Genie — Heilsbringer — Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007; Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne, Köln/Weimar/Wien 2006; Metamorphosen der Liebe. Kunstwissenschaftliche Studien zu Eros und Geschlecht im Surrealismus (Hg. mit Beiträgen), Hamburg 2006.

hans-rudolf meier Seit 2008 auf der Professur für Denkmalpflege und Baugeschichte an der Fakultät Architektur der Bauhaus-Universität Weimar, davor fünf Jahre an der Technischen Universität Dresden auf der Professur für Denkmalkunde und angewandte Bauforschung Leiter des Masterstudiengangs Denkmalpflege und Stadtentwicklung. Kunsthistoriker mit Forschungsschwerpunkt in der Architekturund mittelalterlichen Kunstgeschichte sowie der Geschichte und Theorie der Denkmalpflege. Mitherausgeber der Schriftenreihe Stadtentwicklung und Denkmalpflege, in der er im Herbst 2008 den Band „StadtBild und Denkmalpflege. Konstruktion und Rezeption von Bildern der Stadt" ediert.

reinhard Steiner Jg. 1950. Promotion 1978 über Leonardo da Vinci. 1987 Habilitation über „Prometheus. Ikonologische und anthropologische Aspekte der bildenden Kunst der frühen Neuzeit". Seit 1994 Professor für Kunstgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Stuttgart. Veröffentlichungen zu Malerei und Bildhauerei des Hoch- und Spätmittelalters, zu Kunst und Kunsttheorie der Renaissance und des Manierismus sowie zu Motiven und Problemen der modernen Kunst vom 18. bis zum 20 Jahrhundert. Forschvings Schwerpunkte sind Profane Wandmalerei des Mittelalters in Europa, Ausdrucksdarstellung in den Bildkünsten sowie Serialität in der Kunst der Moderne. philip ursprung Professor für Moderne und zeitgenössische Kunst an der Universität Zürich. Er unterrichtete u.a. an der Universität der Künste Berlin, der ΕΤΗ Zürich und der 231

Graduate School of Architecture, Planning and Preservation der Columbia University New York und war Gastkurator u.a. am Museum fur Gegenwartskunst in Basel und am Canadian Center for Architecture in Montreal. Forschungsschwerpunkte: Kunst- und Architekturgeschichte seit den 1960er Jahren. Publikationen: Grenzen der Kunst: Allan Kaprow und das Happening, Robert Smithson und die Land Art, München, 2003. Herausgeber von Herzog & de Meuron: Naturgeschichte, Montreal und Baden 2002. Einfuhrung und Interviews in: Olafur Eliasson: Encyclopedia, Köln 2008.

beat wyss Lehrstuhl für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Publikationen: Nach den Grossen Erzählungen, Frankfurt a. M. 2008; Die Wiederkehr des Neuen, Berlin 2007; Vom Bild zum Kunstsystem, Köln 2006; Hegel's Art History and the Critique of Modernity, New York, Cambridge University Press 1999; deutsch: Trauer der Vollendung, München 1985; Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne, Köln 1996.

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meier (1) Titel- und eine Tafelseite von Carl Heideloff, Taschenbuch des byzantinischen Baustyles. Zum Handgebrauch für Architekten und technische Lehranstalten, Nürnberg 1837. (2) (3) Buchseiten aus Siegfried Giedion, Raum, Space, Time and Architecture. The Growth of a New Tradition, Cambridge/Mass. 1947. (4) James Stirling, Staatsgalerie Stuttgart, 1983: Inszenierter Wandausbruch (Foto: Verfasser). (5) Also Rossi, Wohnblock Schützenstraße Berlin mit Zitat der Fassade des Palazzo Farnese in Rom (Foto: Verfasser).

wyss (1) Doppelseite des Aufsatzes von Robert Rosenblum, ARTNews, Februar 1961, S. 28-29. (2) Frontispiz der Bibliografie zu Meyer Schapiro, hg. von Lillian Milgram Schapiro, New York 1977. (3) Doppelseite aus: Meyer Schapiro, World view in painting. Art and Society, New York 1999. (4) Doppelseite aus Schapiros Dissertation The Romanesque Sculpture of Moissac (1929). Tafelseite aus dem Bildband von Beat Wyss: Vom Bild zum Kunstsystem, Köln 2006, S. 50. (5) (6) (7) Moissac, Kreuzgang, Köpfe der heiligen Philipp, Simon, Andreas, fotografiert von David Finn, in: Meyer Schapiro, Romanesque sculpture of Moissac (1985), S. 7,21,22. (8) Moissac, Kreuzgang, Andreas, Gewandfigur, fotografiert von David Finn, in: Meyer Schapiro, Romanesque sculpture of Moissac (1985), S. 12. (9) Vincent van Gogh, Schiahe, (1886), Amsterdam, Museum Vincent van Gogh. In: Meyer Schapiro, The Still-life as personal object. A note on Heidegger and van Gogh.

hoppe-sailer (1) François Morellet, Grilles se déformantes, 1963 (Foto: Claudia Heinrich). (2) Rolf Luther, Hohlspiegelobjekt, 1965 (Foto: Thorsten Koch). (3) Günter Uecker, Sandmühle, 1968 (Foto: Thorsten Koch). (4) George Rickey, Two Open Rectangels, 1977 (Foto: Thorsten Koch) (5) Blick auf Serras Right angel prop und Giacomettis Diego in der Kunstsammlung der Ruhr-Universität Bochum (Foto: Thorsten Koch). (6) Jan Jaap Schoonhoven, R 74-8, Relief, und Abguss der Laokoongruppe in der Kunstsammlung der Ruhr-Universität Bochum (Foto: Irma Berndt).

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(7) Blick in die Kunstsammlung der Ruhr-Universität Bochum mit einem Relief Schoonhovens neben einer antiken Skulptur (Foto: Irma Berndt). © für alle Fotos: Institut für Kunstgeschichte der Ruhr-Universität Bochum. graevenitz (1) Cy Twombly, Notes from the Tower. 20 Zeichnungen 70x 100 cm, Bleistift und Kugelschreiber. In: Faltblatt der Galerie Friedrich & Dahlem 1964 (Bibliothek, Stedelijk Museum, Amsterdam). (2) Robert Ryman, Standard, 1967, Partial Installation. Galerie Heiner Friedrich, München, 1969, in: GIE, Guggenheim International Exhibition 1971, The Solomon R. Guggenheim, New York, 1971 (loses Blatt in der Kassette über Ryman). (3) Carl Andre, 22 Steel Row, Galerie Heiner Friedrich, München, 1968 und Installationsfoto durch die beiden Türen des mitderen und des 2. Raumes. In: ZADIK, Köln. (4) Fred Sandback, Plakat zu seiner Ausstellung in der Galerie Heiner Friedrich, München 1968. In: Friedemann Malsch/Chistiane Meyer-Stoll (Hg.) Fred Sandback, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Lichtenstein 2006 S. 241. (5) Dan Flavin: Einblick in seine Ausstellung in der Galerie Friedrich, München 1968. In: Tate online.BT http: / / \ v w . tate.org.uk/archivejourneys /reisehtml/mov artworld.html. 6) Donald Judd, 8 Sculptures. Turkoise enamelaluminium. In: Brydon Smith, Donald Judd. Catalogue Raisonnée of Paintings, Objects and Wood-Blocks, National Gallery of Canada, Ottawa 1975 S. 150. (7) Michael Heizer, Munich Depression. In: Michael Heizer. Ausst.-Kat. Rijksmuseum Kröller-Müller, Otterlo 1979 S. 15. (8) Carl Andre, Poposal for the Olynpics in Munich, Versuchsaufstellung für ein Olympiade-Projekt, 1972. In: Cuts. Carl Andre. Texts 1959 - 2004, hg. von James Meyer. Cambridge, Mass./London 2005, S. 187. (9) Walter de Maria, Die olympische Erdskulptur, Olympia-Projekt für das Olympiade-Gelände, München 1971. In: Lazio Gloser, Die Erdskulptur. Materialien zu einem olympischen Projekt, Süddeutsche Zeitung, Sa./So., 16./17. Dez. 1972. krieger (1) Auguste Rodin, Das Höllentor, Detail: Die drei Schatten (1880). In: Rosalind Krauss, Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, hg. von Herta Wolf, Amsterdam/Dresden 2000. (2) Sherrie Levine, After Eliot Porter, 1981. In: Ebenda, S. 218.

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(3) Louise Lawler, Pollock and Turreen, arranged by Mr. and Mrs. Burton Tremarne, Connecticut, 1984. © Louise A. Lawler. In: Ausst.-Kat. Louise Lawler and Others, Kunstmuseum Basel, Ostfildern-Ruit 2004, S. 8. (4) Sherrie Levine, After Piet Mondrian, 1983, in: Beyond Boundaries. New York's New Art, by Jerry Saltz, Essays by Roberta Smith and Peter Halley, New York 1986, S. 23. dickel (1) Albert Renger-Patzsch, Kauper, von unten gesehen, Hochofenwerk Herrenwyk, Lübeck (1928) © Albert Renger-Patzsch Archiv/Ann und Jürgen Wilde/VG Bild-Kunst, Bonn 2008. In: Ausst.-Kat. Albert Renger-Patzsch. Meisterwerke, Sprengel Museum Hannover 1997. (2) Albert Renger-Patzsch, Agave americana (Kernstück einer amerikanischen Agave), (1923) © Albert Renger-Patzsch Archiv/Ann und Jürgen Wilde/VG Bild-Kunst, Bonn 2008. In: Ausst.-Kat. Albert Renger-Patzsch. Meisterwerke, Sprengel Museum Hannover 1997. (3) Andreas Gursky, Hong Kong Shanghai Bank (1994) © Courtesy: Monika Sprüth/Philomene Magers/VG Bild-Kunst, Bonn 2008. In: Ausst.-Kat. Andreas Gursky, The Museum of Modern Art, New York 2001. (4) Andreas Gursky, Bundestag, Bonn (1998) © Courtesy: Monika Sprüth/Philomene Magers/VG Bild-Kunst, Bonn 2008. In: Ausst.-Kat. Andreas Gursky, The Museum of Modern Art, New York 2001. gelshorn (1) Bruce Nauman, The true artist helps the world by revealing mystic truths, 1967, Neonröhren und Glas, 149,9 χ 139,7 χ 5,1 cm, Otterlo, Sammlung Rijksmuseum Kröller-Müller. (2) Bruce Nauman, Please Pay Attention Please: Bruce Nauman's Words. Writings and Interviews, hg. von Janet Kraynak, Cambridge, Mass./London 2005, Umschlag (mit Abbildung: Bruce Nauman, Eating my Words, 1967, Edition of 8, 50,2 χ 58, 4 cm, Courtesy Sperone Westwater, New York). (3) Allan Sekula, Fishstory, Düsseldorf 1995, Umschlag. (4) Allan Sekula, Fishstory, documenta 11, Kassel, 2002, Teilansicht der Installation. Foto: Werner Maschmann, in: Allan Sekula, Fishstory, Düsseldorf 1995, S. 188.

(5) Eduardo Kac, Telepresence & Bio Art. Networking Humans, Rabbits, & Robbots, Ann Arbor 2005.

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ursprung (1) Allan Kaprow, Performing Life, Activity, Liestal, 15. Juni 2006 (Foto: Philip Ursprung). (2) Allan Kaprow, 18 Happenings in 6 Parts, Reuben Gallery, New York, 4., 6.10. Oktober 1959, Probenaufnahme (Foto: Fred McDarrah). In: Jeff Kelley, Childsplay, The Art of Allan Kaprow, Berkeley, University of California Press, 2004, S. 37. (3) Allan Kaprow, 18 Happenings in 6 Parts, Reuben Gallery, New York, 4., 6.10. Oktober 1959, Aufnahme von Kaprows Nase und Mund, Kleinbilddia, während des Happenings projÌ2Ìert (Foto: Unbekannt), Allan Kaprow Papers, Getty Center, Los Angeles. (4) Christoph Schlingensief, Kaprow City, Volksbühne Berlin, 19. Oktober 2006 (Foto: Philip Ursprung).

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KUNSÏGI: SCHICHTE NACH 184 S KONTINUITÄT UN» WSUEECIH« TU OEURSCHIA«» Nikola Doll, R u t h

Heftrig,

Olaf Peters, Ulrich

Rehm

(Hg.)

Kunstgeschichte nach 1945 Kontinuität u n d g i n n in

Neube-

Deutschland

(ATLAS, Bonner Beiträge zur Kunstgeschichte. N.F., Bd. 3) 2006. 245 S. Mit 34 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-00406-4

Auch für das Fach Kunstgeschichte ist die historische Zäsur der Jahre 1933 bis 1945 in Deutschland oft betont und untersucht worden. Doch allein die auffällige Kontinuität der Fachvertreter fordert dazu heraus, den Blick über die zeitlichen Grenzen des Nationalsozialismus hinaus zu lenken. Als Auftakt einer breiten disziplingeschichtlichen Forschung widmet sich der vorliegende Band der Situation der Kunstgeschichte im westlichen Nachkriegsdeutschland. Welche personellen und institutionellen Kontinuitäten oder Diskontinuitäten lassen sich benennen? Wie sahen die wissenschaftspolitischen und fachmethodischen Rahmenbedingungen in der frühen Bundesrepublik aus? Das sind die maßgeblichen Fragen, denen hier eine jüngere Generation von Kunsthistorikern nachgeht. Schwerpunkte der Untersuchung sind zudem die Entwicklung der kunsthistorischen Methoden und Denkmodelle sowie die Deutungen der modernen Kunst. Dabei werden auch Gegenstandsfelder und ¡Methoden aus der Zeit vor 1933 als mögliche Bezugspunkte berücksichtigt. Ein Exkurs erweitert die Perspektive auf die Situation in Ostdeutschland.

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