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German Pages 246 Year 2015
Lotte Everts, Johannes Lang, Michael Lüthy, Bernhard Schieder (Hg.) Kunst und Wirklichkeit heute
Image | Band 68
2014-10-27 16-17-38 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0310380833456368|(S.
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Lotte Everts, Johannes Lang, Michael Lüthy, Bernhard Schieder (Hg.)
Kunst und Wirklichkeit heute Affirmation – Kritik – Transformation
2014-10-27 16-17-38 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0310380833456368|(S.
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Dieser Band geht auf eine Tagung des Sonderforschungsbereichs 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin zurück und wurde mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft gedruckt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.
Umschlagkonzept: Gestaltung nach einer Idee der Herausgeber Umschlagabbildung: Pierre Huyghe, Untilled, 2011-2012 (Detail). Courtesy the artist; Marian Goodman Gallery, New York, Paris; Esther Schipper, Berlin. Commissioned and produced by dOCUMENTA (13) with the support of Coleccin CIAC AC, Mexico; Fondation Louis Vuitton pour la cration, Paris; Ishikawa Collection, Okayama, Japan. Photograph by Pierre Huyghe Lektorat & Satz: Sylvia Zirden Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2733-6 PDF-ISBN 978-3-8394-2733-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
Drei Wirklichkeitsbezüge künstlerischer Praxis. Eine Einleitung
Johannes Lang | 7
AFFIRMATION. W IRKLICHKEITSERFAHRUNG DURCH K UNST Kunst, Wirklichkeit und Affirmation. Einige Gedanken zu Heideggers Kunstwerkaufsatz
Thomas Hilgers | 19 Dichtung und Wirklichkeit. Dreieinhalb Paradigmen
Frank Ruda | 47 „What does one see then?“. Perspektivwechsel mit Eija-Liisa Ahtila
Lotte Everts | 65 Design und ökologische Wirklichkeit
Johannes Lang | 91
KRITIK. W IRKLICHKEITSBESTIMMUNG DURCH K UNST Die Künste und die Wissenschaften. Beobachtungen anlässlich der dOCUMENTA (13)
Richard Hoppe-Sailer | 111 (Kunst-)Kritik in kollaborativen Zusammenhängen
Sabeth Buchmann | 125
Posthumanismus und Affirmation des Anorganischen als Kritik des Lebendigkeitskonsums
Diedrich Diederichsen | 143 Zum Beispiel RLF. Kritik, Kunst und Wirklichkeit heute
Friedrich von Borries und Anne Levy | 159
TRANSFORMATION. W IRKLICHKEITSVERÄNDERUNG DURCH K UNST Wie kann Kunst der Wirklichkeit nicht gegenüberstehen, sondern in sie verwickelt sein?
Wolfgang Welsch | 179 Adrian Pipers Funk Lessons – eine Mikropraxis transformierender Affirmation
Elke Bippus | 201 Denken der Ankunft. Pierre Huyghes Untilled
Dorothea von Hantelmann | 223
Autorinnen und Autoren | 241
Drei Wirklichkeitsbezüge künstlerischer Praxis Eine Einleitung J OHANNES L ANG
Mit den Avantgarden entwickelt sich ein Kunstverständnis, das nicht zuletzt die gesellschaftskritische Funktion der Kunst betont und in den Vordergrund stellt. Kritik und Affirmation als zwei Weisen der Kunst, sich zur Gesellschaft zu verhalten, werden hierbei zu bestimmenden Größen der Bewertung künstlerischer Praxis – wobei ‚Kritik‘ meist positiv besetzt ist und ‚Affirmation‘ negativ als die bloß unkritische Wiederholung des Status quo, oder gar als dessen wertende Bejahung. Angesichts jüngerer Kunstentwicklungen, die insbesondere das gesellschaftskritische Potenzial der Kunst auf die Probe stellen, ja, in den Augen einiger gar unterlaufen, möchte dieser Band – der auf eine gleichnamige Tagung des Sonderforschungsbereiches 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ zurückgeht – das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit erneut zur Diskussion stellen. Hierbei wird nach dem Wirklichkeitsverhältnis jüngerer künstlerischer Praktiken gefragt und danach, wie sich zu diesem nicht nur Begriffe wie Affirmation und Kritik, sondern auch der Begriff der Transformation verhalten. Diese künstlerische Praxis, für die insbesondere die dOCUMENTA (13) als repräsentativ gelten kann, scheint nicht nur die Grenzen des Bestandes künstlerischer Verfahren und Gegenstandsbereiche zu erweitern, sondern mit ihren Gestaltungen an der Grundsubstanz der Gegenüberstellung von Kunst und Wirklichkeit selbst zu rütteln. Es wird gewissermaßen
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versucht, den Wirklichkeitsbezug der Kunst neu zu untersuchen und zu gestalten, sie in das Zweckgefüge der Gesellschaft und die Wirkstrukturen natürlicher wie sozialer Wirklichkeiten zu integrieren. Zu denken ist hier insbesondere an zwei Arbeiten der dOCUMENTA (13), die starke Resonanz fanden: Mit Untilled1 verwandelte Pierre Huyghe die halbwilde Kompostbrache der Karlsaue in ein Biotop für halogene und giftige Pflanzen, versah den Kopf einer Betonskulptur mit einem Bienenschwarm, der sich von den Pflanzen nährte, siedelte einen Ameisenhaufen um und bestrich das Bein eines dort lebenden Hundes mit Farbe, während er die herumliegenden Bau- und Schuttmaterialien in eine scheinbar pragmatische Ordnung überführte. In der Folgezeit konnte sich die neu hinzugekommene Vegetation ausbreiten, der Hund ging seinen üblichen Beschäftigungen nach, die Ameisen verabschiedeten sich, und auch die Bienen hätten fortfliegen können. Auf diese Weise wurde das transformative Potenzial eigenständiger und sich zugleich wechselseitig beeinflussender Prozesse beobachtbar, wozu die Handlungen des Künstlers ebenso gehörten wie die Wechselwirkungen der mineralischen, pflanzlichen und tierischen Entitäten untereinander. Mit 12 Ballads For Huguenot House wiederum verwandelte Theaster Gates das baufällige ‚Hugenottenhaus‘ zusammen mit KünstlerInnen und Arbeitslosen aus Chicago und Kassel in ein bewohnbares interkulturelles Austauschzentrum. Die Bauarbeiten wurden zum Teil parallel zur Ausstellungszeit vorgenommen, sodass nicht nur die Prozesse des sozialen Zusammenlebens, sondern auch jene der materiellen Lebensraumgestaltung stattfinden konnten. Gates betonte, es gehe ihm ebenso um die materielle Sanierung von Wohn- und Lebensraum wie darum, die Bedingungen zur Entfaltung produktiver Fähigkeiten und sozialer Gemeinschaftsbildung zu schaffen. Im Unterschied zu einer gesellschaftskritischen Kunst, die von der Idee geleitet ist, die Bedingtheit – das heißt die kollektive Gestaltetheit – von Wirklichkeit, Verhaltensweisen und Erkenntnissen offenzulegen und aufzudecken, scheint diese Kunstpraxis soziale wie natürliche Wirklichkeiten weder als unverfügbar noch als bestimmten Machtstrukturen unterworfen zu thematisieren, sondern als durch Gestaltung erfahrbare und veränderbare Zusammenhänge kulturellen wie natürlichen Lebens zu behandeln. Wäh-
1
Vgl. hierzu in diesem Band: Dorothea von Hantelmann: „Denken der Ankunft. Pierre Huyghes Untilled“, S. 223.
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rend gesellschaftskritische Kunst versucht, die Bedingungen offenzulegen, die in der jeweiligen Auffassung als maßgeblich für die Modellierung der Gesellschaft gelten – Ende des 19. Jahrhunderts etwa das Milieu, dann die Ökonomie, später die Massenmedien und schließlich die Institutionen des Systems Kunst selbst –, scheint die gegenwärtige Kunstentwicklung nahezulegen, dass sie nicht mehr nur auf ein reflektierendes Außen verwiesen sein möchte, von woher sie die prinzipielle Gestaltetheit und Gestaltbarkeit von Wirklichkeit adressiert und problematisiert. Vielmehr möchte sie direkt verwickelt sein in und teilhaben an den Wirklichkeitsproduktionen der Politik und den Wirklichkeitserforschungen der Wissenschaft. Wenn Politik und Wissenschaft aber nicht mehr das sind, womit künstlerische Praxis distanziert reflektierend umgeht, sondern Teil ihrer selbst, so stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von Affirmation und Kritik vor diesem Hintergrund zu verstehen ist.2 Künstlerische Praxis kann in dieser Verwicklung in den Prozess der Gestaltung von Wirklichkeit nicht mehr nur auf ihre kritische Funktion verpflichtet werden, sondern muss ebenso am Moment der Affirmation teilhaben wie auch am Moment der Transformation, welches überhaupt erst in den Blick gerät, wenn künstlerische Praxis als Mitgestalterin, als Akteurin im Konzert der Wirklichkeit verstanden wird. Diese Rehabilitierung einer eigengesetzlichen, aber deshalb nicht unveränderlichen Wirklichkeit und ihrer prinzipiellen Erfahrbarkeit und Erkennbarkeit ist nun derzeit nicht nur in der Kunstpraxis zu beobachten, sondern wird flankiert von einer jungen philosophischen Strömung, die zunächst als Spekulativer und nun als Neuer Realismus bekannt wurde und bemüht ist, den (post)modernen ontologischen und epistemischen Anthropozentrismus zu überwinden.3 So konstatiert Graham Harman angesichts
2
Zur Problematisierung der Möglichkeit von Kritik unter den gegenwärtigen Bedingungen künstlerischer Praxis vergleiche in diesem Band: Richard HoppeSailer: „Die Künste und die Wissenschaften. Beobachtungen anlässlich der dOCUMENTA (13)“, S. 111, und Sabeth Buchmann: „(Kunst-)Kritik in kollaborativen Zusammenhängen“, S. 125.
3
Zur kritischen Charakterisierung dieser Strömung vergleiche in diesem Band: Diedrich Diederichsen: „Posthumanismus und Affirmation des Anorganischen als Kritik des Lebendigkeitskonsums“, S. 143, sowie die folgenden Schlüsselpublikationen: Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013; Markus Gabriel (Hg.): Neuer Realismus, Frankfurt am Main 2014; Maurizio
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des linguistic turn, welcher Erkenntnis auf die Bedingtheit eines Netzwerkes sprachlicher Bedeutungen verpflichtete: „Die Philosophie hat ihren Anspruch nach und nach aufgegeben, etwas mit der Welt selbst zu tun zu haben. Auf den waghalsigen Sprung zwischen Subjekt und Objekt fixiert, sagt sie uns nichts über die Kluft, die den Baum von der Wurzel oder das Bindegewebe vom Knochen trennt. Auf jeglichen Kommentar zum Bereich der Objekte verzichtend, schwingt sie sich auf zur Herrscherin über eine einzige Kluft zwischen dem Ich und der Welt [...].“4
Demgegenüber fragt er: „[B]esteht auch nur im geringsten Aussicht auf eine Objekt-orientierte Philosophie, auf eine Art Alchemie, um die Verwandlung einer Entität in eine andere zu beschreiben, um die Weise zu skizzieren, auf die sie Menschen wie Nicht-Menschen verführen oder vernichten?“5 Bruno Latour versucht diese Kluft zwischen Gesellschaftsordnung und Naturordnung dadurch zu überbrücken, dass er den Unterschied zwischen Epistemologie und Ontologie überhaupt aufhebt und mit diesem die Vorstellung sozialer Repräsentationen.6 Stattdessen schlägt er vor, menschliche und nichtmenschliche Wesen, wissenschaftliche Instrumentarien, Werk-
Ferraris: Manifest des neuen Realismus, Frankfurt am Main 2014; Armen Avanessian (Hg.): Realismus Jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert, Berlin 2013; Quentin Meillassoux: Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, Berlin 2008; Graham Harman: The Third Table / Der dritte Tisch, in: 100 Notes – 100 Thoughts / 100 Notizen – 100 Gedanken. dOCUMENTA (13), Buch 85, Ostfildern 2011. 4
Graham Harman: „Objekt-orientierte Philosophie“, in: Avanessian (Hg.):
5
Ebd., S. 124.
6
„Akzeptieren wir den Begriff der sozialen Repräsentationen der Natur, so kehr-
Realismus Jetzt, S. 122–136, hier: S. 123.
ten wir zurück zum unbrauchbaren Argument von der Existenz der Außenwelt und müssten zwischen der erzwungenen Alternative wählen: haben wir nun Zugang zur Außenwelt, also der Natur, oder müssen wir für immer in der dunklen Grube der Höhle dahindämmern? Oder, höflicher formuliert: Sprechen wir von den Dingen selbst oder nur von ihren symbolischen Repräsentationen?“ (Bruno Latour: Das Parlament der Dinge, Frankfurt am Main 2001, S. 51.)
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zeuge, Medien und Repräsentationen ontologisch gleichwertig als Aktanten in einem gemeinsamen Kollektiv zu behandeln, wodurch der Schein nicht mehr auf der Seite der sozialen Konstruktionen verortet werden kann, da der Unterschied zwischen Schein und Sein überhaupt aufgelöst wäre zugunsten nichtrepräsentationaler Beziehungen zwischen gleichwertig Seiendem. Quentin Meillassoux und Paul Boghossian versuchen die Wirklichkeit und ihre Erkennbarkeit wiederum dadurch zu rehabilitieren, dass sie dem (post)modernen Anthropozentrismus eine unzulässige Reduzierung ontologischer Fragen auf solche der Epistemologie attestieren. Eine zentrale Rolle spielen hierbei sogenannte anzestrale Aussagen, die sich auf eine Zeit, bevor es Subjekte gab, beziehen. Also Aussagen, die behaupten, „dass viele Tatsachen über die Welt unabhängig von uns bestehen und damit auch unabhängig von unseren sozialen Werten und Interessen“7. Es wird gefragt, wie das Verhältnis von Epistemologie und Ontologie gedacht werden muss, damit solche Aussagen einen Sinn haben können. Laut Maurizio Ferraris beruht die (post)moderne Infragestellung von Wirklichkeit und ihrer Erkennbarkeit auf drei Trugschlüssen: erstens, dass das Wissen grundsätzlich das Sein konstruiere, zweitens, dass etwas festzustellen zugleich immer auch bedeute, es zu akzeptieren, und drittens, dass nur Macht bestimme, was als Wissen gelte.8 Wolfgang Welsch wiederum versucht die (post)modernen Anthropozentrismen zu überwinden, indem er die Erkennbarkeit und Erfahrbarkeit der Wirklichkeit als Ergebnis aus der Koevolution von Mensch und Welt hervorgehen lässt.9 Während die Postmoderne Erkenntnisse, Verhaltensweisen und Wirklichkeiten als produzierte und damit als veränderbare und gestaltbare erkennt, jedoch diese Gestaltbarkeit von Erkenntnis, Verhalten und Wirklichkeit kaum mit Wahrheit, dem richtigen oder guten Handeln oder Natur zu
7
Paul Boghossian: Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und
8
Maurizio Ferraris: Manifest des neuen Realismus, Frankfurt am Main 2014,
9
Vgl. Wolfgang Welsch: Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform
Konstruktivismus, Frankfurt am Main 2013, S. 27. S. 30. der Moderne, Weilerswist 2012, und vgl. bezogen auf die künstlerische Praxis in diesem Band: „Wie kann Kunst der Wirklichkeit nicht gegenüberstehen, sondern in sie verwickelt sein?“, S. 179.
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vereinen weiß, scheinen die gegenwärtigen Bestrebungen sich dieser skeptischen Einschlüsse zu entledigen – allerdings unter Beibehaltung des Gedankens der Gestaltbarkeit. Das von Subjekten oder Kollektiven gestaltete Sein der Gesellschaft scheint weder weniger wirklich als das meist subjektlos gestaltete Sein der Natur, noch ist das subjektlos gestaltete Sein begleitet von dem Imperativ seiner grundsätzlichen Unveränderbarkeit, wie gerade die ökologischen Krisen und die Biotechnik wirkungsvoll demonstrieren. Wirklichkeit ist also weder ausschließlich das Ungestaltete, dasjenige, was von selbst da ist, noch dasjenige, was sich nicht gestalten lässt. Und Natur ist weder gleichzusetzen mit Wirklichkeit als solcher noch mit demjenigen, was unveränderbar ist, sondern wird zu einer ontologischen Kategorie unter anderen, die einen bestimmten Bereich des Seins umfasst, den des Anorganischen und den des Organischen, der die Kultur wie ihr ‚natürliches‘ Außen gleichermaßen durchzieht. Die Frage nach der Gestaltbarkeit oder Konstruiertheit verhält sich gegenüber diesen Kategorien völlig indifferent und kann nicht mehr als Richtschnur dessen gelten, was als wirklich und was als unwirklich, noch als natürlich oder kulturell zu gelten hat. Umgekehrt werden das Affektiv-Soziale und das Psychisch-Geistige zu anderen ontologischen Kategorien, die wiederum nicht nur menschliche Subjekte, sondern auch Leben und Verhalten der Tierwelt betreffen, wenn man die vielen Ansätze, die um eine Tierethik kreisen, in Betracht zieht.10 Wenn nun aber die Wirklichkeit als Ganze und nicht nur die gesellschaftliche Wirklichkeit eine gestaltete und sich gestaltende ist, so bietet – insbesondere für die künstlerische Praxis – das bloße Aufzeigen und Offenlegen gesellschaftlicher Gestaltetheit und Gestaltbarkeit keine motivierende Perspektive oder überhaupt einen Erkenntnismehrwert mehr. Stattdessen stellt sich die Frage, welche Rolle künstlerische Praxis in der Gestaltung von subjektlos oder subjekthaft gestalteter Wirklichkeit spielt, seien es nun die anorganischen, die organischen, die affektiv-sozialen oder die psychisch-geistigen Wirklichkeiten. In einer Zeit, in der die Gestaltetheit und Gestaltbarkeit von Natur, das heißt von anorganischem und organischem Sein, allgegenwärtig ist und von dem eigenen Körper über die
10 Vgl. beispielsweise die sehr unterschiedlichen Ansätze von Donna Haraway und Tom Regan: Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People and Significant Otherness, Chicago 2003, und Tom Regan: The Case of Animal Rights, Berkeley, CA 1983.
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Nahrung, die technischen Geräte, die Städte mit ihren Parks bis hin zur Erderwärmung reicht, mutet eine Kunst, die ihre Aufgabe darin sieht, affektiv-soziales und psychisch-geistiges Sein nicht mit einem falschen Begriff von Natur zu verwechseln, nicht mehr ‚progressiv‘, sondern geradezu antiquiert an. Denn Natur ist – wenn zu irgendeiner Zeit, dann heute – schon lange nicht mehr begleitet von dem Impetus ihrer Unveränderlichkeit und Ungestaltbarkeit. Kunst möchte nicht mehr – so scheint es – nur auf die Gestaltetheit und prinzipielle Gestaltbarkeit von Wirklichkeit kritisch hinweisen, sondern fragt nach ihrem Anteil in dem natürlichen wie gesellschaftlichen Konzert der Gestaltung von gestalteter Wirklichkeit. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum solche Kunstbestrebungen nicht mehr allein in dem Dualismus von Affirmation und Kritik auf der Seite der Kritik verortet werden können. Denn um in dem Konzert der Wirklichkeitsgestaltung mitspielen zu können, muss Wirklichkeit sowohl in dem, was sie ist, affirmiert werden, als auch in dem, was sie sein kann, kritisch reflektiert werden und überdies in das, was sie sein soll, transformiert werden. Es gilt also, Affirmation, Kritik und Transformation als drei wesentliche Momente des Wirklichkeitsbezugs von Gestaltung zu erkennen und in ihrer Relation zu diskutieren. Versteht sich künstlerische Praxis als gestaltender und gestalteter Teil von Wirklichkeit und nicht als ein urteilendes Quasisubjekt, das sich wertend auf die Wirklichkeit ‚da draußen‘ bezieht, so ist zunächst zu beobachten, dass sich die Begriffe der Affirmation, der Kritik und der Transformation von einer normativen zu einer deskriptiven Bedeutung verschieben. Affirmation kennzeichnet dann nicht mehr die bejahte, sondern die erfahrene oder vorgefundene Wirklichkeit, Kritik nicht mehr die negierte, sondern die erkannte oder bestimmte Wirklichkeit und Transformation nicht mehr die verbesserte, sondern die veränderte oder gewordene Wirklichkeit. Während es sich in der normativen Bedeutung der drei Worte um Werturteile handelt, zu denen man implizit die Kunst befähigt glaubt, handelt es sich in der deskriptiven Bedeutung um Modalitäten des Wirklichen, nämlich die seiende, die mögliche und die gewordene Wirklichkeit. Die These lautet demzufolge, dass künstlerische Praxis notwendig an allen drei Modalitäten des Wirklichen partizipiert. Denn fragt man nach dem Wirklichkeitsverhältnis der Kunst, so werden drei Unterfragen zu drei Wirklichkeitsbezügen deutlich, ohne die das Wirklichkeitsverhältnis der Kunst nicht zu denken ist. Erstens: Wie gründet Kunst in der Wirklichkeit?
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Zweitens: Wie differiert Kunst zur Wirklichkeit? Und drittens: Wie verändert Kunst die Wirklichkeit? Alle drei Unterfragen scheinen notwendig mitgestellt werden zu müssen, wenn nach dem allgemeinen Verhältnis der Kunst zur Wirklichkeit gefragt wird. Es wird sogleich deutlich, dass die Trias Affirmation, Kritik und Transformation diese drei Wirklichkeitsbezüge der Kunst adressiert. Wird je ein Wirklichkeitsbezug absolut gesetzt, so fällt künstlerische Praxis im ersten Fall mit dem zusammen, was ist, das heißt, sie ist dann weder möglich noch kann sie etwas werden; im zweiten Fall fällt sie zusammen mit dem, was möglich ist, ohne aber zu sein und ohne zu werden; und im dritten Fall schließlich fällt sie mit dem zusammen, was geworden ist, ohne möglich und gewesen zu sein. Wäre Kunst bloß affirmativ, dann wäre sie das, was ohnehin schon ist: das rein Gegebene, ohne von diesem zu differieren noch dieses zu transformieren. Wäre Kunst bloß kritisch, dann wäre sie reine Differenz: das, was nicht ist. Wäre Kunst bloß transformativ, so wäre sie reine Setzung: eine tautologische und deshalb paradoxe Wiederholung dessen, was ist. In allen drei Vereinseitigungen kann die Kunst nicht sein. Denn entweder ist sie die Wirklichkeit, dann ist sie selbst nicht; oder sie ist die Differenz zur Wirklichkeit, dann hat sie keine Wirklichkeit; oder sie ist die wiederholte Wirklichkeit, dann ist sie nicht möglich. Obwohl also alle drei Momente wesentlich sind für das Wirklichkeitsverhältnis künstlerischer Praxis, ist es denkbar, dass in künstlerischen und kunsttheoretischen Positionen je ein Wirklichkeitsbezug in den Vordergrund des Interesses rückt. Welcher Wirklichkeitsbezug im Mittelpunkt des Interesses steht, würde dann den einzelnen Positionen ihren entsprechenden Charakter geben, der in einer Verschiebung ästhetischer Konzeptionen und Rezeptionsweisen bestehen könnte. Es sind drei idealisierte Charakterisierungen denkbar, die im Folgenden als Navigationshilfe durch den Band angeführt seien. Die affirmative Position ist geleitet von der Frage, wie Wirklichkeit in Kunst eingeht, und sie richtet deshalb die Aufmerksamkeit insbesondere auf die Art und Weise, wie das Gegebene in der Kunst erfahren wird. Von zentraler Bedeutung wird deshalb für diese Position der Gegenstand der Kunsterfahrung, und sie tendiert zur Werkästhetik. Der Fokus liegt auf dem durch künstlerische Praxis ermöglichten Erfahrungsraum, denn es geht ihr primär um eine Veränderung der Erfahrung, sodass in ihr Wirklichkeiten als bestimmte und nicht nur gegebene erfahren werden können.
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Die kritische Position ist geleitet von der Frage, wie Kunst von der Wirklichkeit differiert und richtet deshalb die Aufmerksamkeit insbesondere auf die Art und Weise, wie das in die Kunst involvierte Rezipientensubjekt zu neuen Bestimmungen möglicher Wirklichkeit gelangt. Gerade die von Kunst ermöglichte und vom Rezipienten erlebte Unabhängigkeit vom Gegebenen gewinnt hier eine zentrale Bedeutung, und sie tendiert folglich zur Rezeptionsästhetik. Der Fokus liegt auf dem durch künstlerische Praxis ermöglichten Erkenntnisraum, denn es geht ihr primär um eine Veränderung des Erkennens, sodass dieses befähigt wird, Gegebenes in dem zu erkennen, was es sein kann. Die transformative Position ist geleitet von der Frage, wie Kunst Wirklichkeit verändert, und sie richtet deshalb ihre Aufmerksamkeit auf die Art und Weise, wie die in Kunst involvierten Handlungsprozesse die Wirklichkeit einer neuen Bestimmung zuführen; folglich tendiert sie zur Produktionsästhetik. Der Fokus liegt auf dem durch künstlerische Praxis ermöglichten Handlungsraum, denn es geht ihr primär um eine Veränderung des Handelns, sodass es befähigt wird, Gegebenes in das zu transformieren, was es sein kann. Die Zuordnung der Beiträge zu den drei Teilen dieses Bandes richtet sich danach, auf welchen Wirklichkeitsbezug künstlerischer Praxis die einzelnen AutorInnen ihren Schwerpunkt legen: auf den affirmativen, den kritischen oder den transformativen Wirklichkeitsbezug. Deshalb müssen die hier bewusst überzeichneten und vereindeutigten kunsttheoretischen Positionen nicht zugleich auch mit den in den Beiträgen entwickelten Positionen zusammenfallen, sondern stehen zu diesen bald in naher, bald in entfernterer Verbindung. Da wie angedeutet künstlerische Praxis womöglich gar nicht anders kann, als an allen drei Wirklichkeitsbezügen zu partizipieren, finden sich in allen Beiträgen affirmative, kritische und transformative Momente berücksichtigt, allerdings in deutlich unterschiedlicher Gewichtung.
Affirmation Wirklichkeitserfahrung durch Kunst
Kunst, Wirklichkeit und Affirmation Einige Gedanken zu Heideggers Kunstwerkaufsatz T HOMAS H ILGERS
In welchem Verhältnis stehen Kunst, Wirklichkeit und Affirmation? Gehen wir davon aus, dass es hier überhaupt ein positives Verhältnis gibt, dann können wir dieses zunächst einmal auf zwei Arten ausbuchstabieren. Wir können Affirmation als Behauptung oder Darstellung interpretieren und in der Kunst etwas sehen, was Wirklichkeit zeigt. Andererseits können wir Affirmation als Bekräftigung oder Bestätigung interpretieren und in der Kunst etwas sehen, was Wirklichkeit nicht nur zeigt, sondern auch bejaht. Verbunden mit einer Beschwörung des epistemischen Wertes der Kunst wurde in der Philosophie vor allem die erste Position oft vertreten. Selten jedoch wurde behauptet, dass die Kunst Wirklichkeit beziehungsweise die Gegenstände der Wirklichkeit einfach nur eins zu eins abbilde. Vielmehr ging es in der Ausbuchstabierung eines positiven Verhältnisses von Kunst, Wirklichkeit und Affirmation zumeist darum zu beweisen, dass Kunst Wirklichkeit so zeige, wie sie in Wahrheit ist. Kunst wurde also oft als etwas Aufdeckendes beschrieben, und als solches könnte sie durchaus Affirmation, Kritik und Transformation in sich vereinigen. Denn wenn Kunst uns zeigt, was oder wie Wirklichkeit in Wahrheit ist, dann kann sie eine Kritik alltäglicher Meinungen über Wirkliches ermöglichen und somit auch zu einer Transformation unserer aktualen Lebensvollzüge beitragen.1
1
Die Gruppe der Philosophen, die ein enges Verhältnis zwischen Kunst und Wahrheit sahen beziehungsweise sehen, ist groß. In diese Gruppe gehören so
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Nun klingt es zweifelsohne sehr imposant – und für die Kunst durchaus schmeichelhaft – zu behaupten, Kunst zeige, was oder wie Wirklichkeit in Wahrheit ist. Was genau jedoch wird hier eigentlich behauptet? Die Begriffe Wirklichkeit und Wahrheit sind schwierige Begriffe, die das metaphysische Denken seit der Antike beschäftigt haben. Ihr Gehalt ist alles andere als eindeutig und klar. Eine Kunstphilosophie, welche die Kunst als etwas Aufdeckendes betrachtet, muss somit zwangsläufig zur Metaphysik werden. Kaum ein Philosoph hat dies so klar gesehen wie Martin Heidegger. So schreibt er im Zusatz zu seinem Kunstwerkaufsatz: „Die Bestimmung darauf, was die Kunst sei, ist ganz und entschieden nur aus der Frage nach dem Sein bestimmt.“2 Wenn Heidegger also nach dem Wesen der Kunst fragt, dann fragt er gleichzeitig nach dem Sinn von Sein, dem Wesen von Welt und Erde sowie dem Unterschied zwischen Ding, Werk und Zeug. Im Fortgang dieses Fragens will Heidegger „die unmittelbare und volle Wirklichkeit des Kunstwerks treffen“3. Letztlich zu treffen meint er sie mit seiner These, dass im beziehungsweise durch das Kunstwerk Wahrheit geschehe. Fragen wir nach dem Verhältnis von Kunst, Wirklichkeit und Affirmation, dann ist Heideggers Kunstwerkaufsatz ohne Zweifel ein guter Ausgangspunkt. Im Folgenden werde ich mich daher mit diesem Aufsatz näher beschäftigen und untersuchen, inwiefern sich das Kunstwerk durch so etwas wie ein Wahrheitsgeschehen charakterisieren lässt. Dabei werde ich in drei Schritten vorgehen: Zunächst werde ich kurz Heideggers Verständnis von Wahrheit darstellen; dann erkläre ich, wie ein Werk Heidegger zufolge eine Welt eröffnen und Erde herstellen kann; und schließlich diskutiere ich vor dem Hintergrund der eingangs gestellten Frage Heideggers zentrale These, dass im Kunstwerk Wahrheit geschehe.
verschiedene Philosophen wie Hegel, Schopenhauer, Adorno und eben auch Heidegger. Für eine umfassende Darstellung der Wahrheitstradition innerhalb der Kunstphilosophie vgl. Paul Guyer: A History of Modern Aesthetics, Cambridge 2014. 2
Martin Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, in: ders.: Holzwege, 8. Aufl., Frankfurt am Main 2003, S. 1–74, hier: S. 73. (Die erste Ausgabe der Holzwege erschien 1950. Der Kunstwerkaufsatz selbst geht zurück auf einen Vortrag aus dem Jahr 1935.)
3
Ebd., S. 4.
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Wie die meisten Philosophen meint auch Heidegger, dass ein Kunstwerk einen wirklich vorhandenen Gegenstand nicht einfach nur abbilde. Im Gegensatz zu einem Philosophen wie Schopenhauer ist Heidegger aber deswegen keineswegs der Ansicht, dass ein Kunstwerk das Wesen eines empirischen Gegenstandes beziehungsweise die diesem Gegenstand zugrunde liegende Idee darstelle.4 Das Wahrheitsgeschehen eines Werkes lasse sich außerdem nicht in einem Behauptungssatz ausdrücken. Angesichts der Tatsache, dass Behauptungen oder Urteile gewöhnlich dasjenige sind, dem wir Wahrheit zusprechen beziehungsweise absprechen, stellt sich hier aber die Frage, ob Kunst tatsächlich etwas mit Wahrheit zu tun haben kann, wenn Heideggers Bestimmung zutrifft. Heidegger weiß natürlich, dass wir üblicherweise Behauptungen, Urteile, Aussagen, Sätze oder Darstellungen ‚wahr‘ beziehungsweise ‚falsch‘ nennen. Außerdem weiß er, dass der traditionelle Wahrheitsbegriff Wahrheit als die Übereinstimmung von Urteil und Sache definiert.5 Seit Sein und Zeit verteidigt Heidegger jedoch die These, dass der traditionelle Wahrheitsbegriff Wahrheit nicht in ihrem ursprünglichen Wesen treffe. Dieses Wesen müsse nämlich als „Unverborgenheit“6 definiert werden. Was aber verbirgt sich hinter dieser Definition? In Sein und Zeit behauptet Heidegger, dass der Mensch beziehungsweise „das Dasein“7 etwas in seiner Unverborgenheit sehen müsse – es also so sehen müsse, wie es sich von sich selbst her zeigt – damit er wahre Urteile über es treffen könne. Wahrheit hat für Heidegger also ihren Ursprung
4
Vgl. ebd., S. 22. Für Schopenhauers Explikation der Kunst als etwas Aufdeckendes vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Aufl., München 2002, S. 247–251. (Die erste Ausgabe des ersten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung erschien im Dezember 1818.)
5
Vgl. Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 38. Vgl. hierzu auch ders.: Sein und Zeit, 18. Aufl., Tübingen 2001, S. 214, und ders.: „Vom Wesen der Wahrheit“, in: ders.: Wegmarken, 2., erw. u. durchges. Aufl., Frankfurt am Main 1978, S. 177–180. (Die erste Ausgabe von Sein und Zeit erschien 1927, die erste Ausgabe der Wegmarken 1967.)
6
Heidegger: Sein und Zeit, S. 219.
7
Ebd., S. 7.
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in einem Verhalten des Menschen, das ihn Gegenstände innerhalb der Welt entdecken lässt. Um aber Gegenstände innerhalb der Welt zu entdecken, müsse sich dem Menschen sein je eigenes „In-der-Welt-Sein“8 erschlossen haben. „Erschlossenheit“9 ist Heideggers Terminus für das, wodurch dem Menschen sein eigenes In-der-Welt-Sein und somit auch die Welt als der Sinnhorizont all seiner Lebensvollzüge gegeben ist. Die Erschlossenheit des je eigenen In-der-Welt-Seins basiere dabei auf der je eigenen Befindlichkeit und dem je eigenen Verstehen; und erst die so konstituierte Erschlossenheit erlaube es dem Menschen, sich auf Gegenstände innerhalb der Welt zu beziehen und Urteile über diese zu fällen. Erschlossenheit sei also die unverzichtbare Grundlage jeder Bezugnahme auf und jedes Erscheinens von Gegenständen. In Sein und Zeit nennt Heidegger sie auch „die Lichtung“10 und setzt sie letztendlich mit Wahrheit als Unverborgenheit sogar gleich: „Wahrheit im ursprünglichsten Sinne ist die Erschlossenheit des Daseins, zu der die Entdecktheit des innerweltlichen Seienden gehört.“11 In seinen späteren Schriften rückt Heidegger von dieser Gleichsetzung zusehends ab. So versteht er Wahrheit im Sinne der Unverborgenheit schließlich nicht mehr als zugehörig zur „Grundverfassung des Daseins“12, sondern als einen „Grundzug des Seienden selbst“13. Auch im Kunstwerkaufsatz findet sich nicht mehr die Gleichsetzung von Erschlossenheit, Lichtung und Wahrheit. Heidegger versteht Wahrheit zwar weiterhin als Unverborgenheit und Lichtung, aber diese sei nun ein unserem Verhalten vorgängiges Geschehnis, das „seiender als das Seiende“14 selbst sei. Insgesamt bleiben seine Erklärungen hier allerdings eher dunkel.15 Für die
8
Ebd., S. 52.
9
Ebd., S. 133.
10 Ebd., S. 133. 11 Ebd., S. 223. 12 Ebd., S. 226. 13 Martin Heidegger: „Platons Lehre von der Wahrheit“, in: ders.: Wegmarken, S. 203–238, hier: S. 228. 14 Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 40. 15 Diese Erklärungen lassen sich wahrscheinlich nur dadurch transparent machen, dass man Heideggers späteren Ereignisbegriff in die Diskussion miteinbezieht. Ich habe mich hier dennoch für eine andere Herangehensweise entschieden,
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Fragestellung dieses Aufsatzes scheint es mir tatsächlich am besten, sich an Heideggers Beispiele zu halten und zu versuchen, anhand ihrer nachzuvollziehen, inwiefern Kunstwerke Wahrheit geschehen lassen. Bevor wir uns diesen Beispielen zuwenden, bleibt aber noch ein genereller Einwand gegen die Bestimmung der Wahrheit als Unverborgenheit zu diskutieren. In seiner berühmten Studie zu Husserls und Heideggers Wahrheitstheorien behauptet Ernst Tugendhat, dass Heidegger sowohl in Sein und Zeit als auch in seinen späteren Schriften den Begriff der Wahrheit letztlich preisgebe. Für diesen Begriff sei es nämlich wichtig, die Differenz zwischen Seiendem, das sich unmittelbar zeigt, und Seiendem, das sich so zeigt, „wie es selbst ist“, mitzudenken. Außerdem verlange der Wahrheitsbegriff das Mitdenken eines Leitfadens oder Maßes, das unsere Orientierung auf das Seiende, das sich so zeigt, „wie es selbst ist“, leiten und unser Verhalten damit zu einem verantwortlichen machen könne. Beides werde durch die Gleichsetzung von Wahrheit, Unverborgenheit, Lichtung und Erschlossenheit nicht geleistet: „Aber man kann nicht das, wonach die wahre Aussage sich richtet, einfach im SichZeigen, in der Unverborgenheit als solcher sehen. Auch die falsche Aussage richtet sich nach etwas, was sich zeigt. […] Die wahre Aussage […] richtet sich gerade nicht nach dem Seienden, wie es sich unmittelbar zeigt, sondern nach dem Seienden, wie es selbst ist.“16
Tugendhat zufolge erkennt Heidegger in seinen späteren Schriften, dass er mit seiner Gleichsetzung von Erschlossenheit und Wahrheit fehlgeht. So thematisiere er in „Vom Wesen der Wahrheit“ dann auch explizit den „Maß-Charakter“17 der Wahrheit. Da er diesen nun aber mit dem Seienden als Offenbarem einfach gleichsetze, gehe er erneut in eine falsche Richtung:
wohl wissend, dass diese einer ergänzenden Untersuchung des Ereignisbegriffes bedarf. 16 Ernst Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1967, S. 334. 17 Ebd., S. 395.
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„[W]oran sich das offenständige Verhalten anzumessen hat, ist nicht ‚das Offenbare‘, sondern ‚das Seiende wie es selbst ist‘, und dieses kann vielmehr durchaus verborgen sein. Das ‚ist‘, das für das Entbergen ein Maß ist, meint nicht die Entborgenheit, sondern das Selbstsein.“18
Tugendhat meint also, dass ein Wahrheitsbezug immer vor dem Hintergrund eines Maßes geschehen müsse, wobei dieses Maß nicht durch das gegeben sein könne, was sich uns als das Offenbare oder Unverborgene zeige. Natürlich könnten wir das Seiende, das sich so zeigt, „wie es selbst ist“, terminologisch als „das Unverborgene“ bezeichnen. Um das Unverborgene in diesem Sinne jedoch vom scheinbar Unverborgenen zu unterscheiden, bräuchten wir eben ein Maß, anhand dessen wir das unmittelbar Gegebene kritisch prüfen könnten. Nun mag die Idee des kritischen Prüfens tatsächlich keine sehr große Rolle für Heideggers Philosophie spielen. Allerdings ließe sich einwenden, dass für den frühen Heidegger ein maßgebender Hintergrund durch die Erschlossenheit des Daseins sehr wohl gegeben ist. Durch seine Erschlossenheit steht der Mensch in einem Bezug zu seinem je eigenen In-der-Welt-Sein, womit ihm auch eine Welt beziehungsweise ein Sinnhorizont eröffnet ist, der es ihm erlaubt, sich gemeinsam mit anderen sinnvoll und praktisch auf Gegenstände innerhalb einer Welt zu beziehen. Hubert Dreyfus nennt die Erschlossenheit eine „ursprüngliche Form von Intentionalität“19, wobei ihm zufolge zwischen dieser Intentionalität und dem, was sie eröffnet, nicht mehr zu unterscheiden ist.20 Dies müssen wir wohl so verstehen, dass es kein In-der-Welt-Sein und keine Welt ohne deren Erschlossenheit gibt, genauso wenig wie es Erschlossenheit ohne das durch sie Erschlossene gibt. In jedem Fall scheint klar zu sein, dass Heidegger zufolge seine Erschlossenheit den Menschen in einen Bezug zu seinem In-der-Welt-Sein setzt und ihm damit eine Welt eröffnet. Gleichzeitig gibt sie ihm aber auch ein Seinsverständnis. Das heißt, wenn jemandem sein eigenes In-der-Welt-Sein auf eine gewisse Weise erschlossen ist, dann versteht er auch sein eigenes Sein, das Sein der anderen
18 Ebd., S. 375. 19 Hubert L. Dreyfus: Being-in-the-World. A Commentary on Heidegger’s Being and Time, Division I, Cambridge/London 1991, S. 105. 20 Vgl. ebd., S. 106.
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und das Sein der verschiedenen innerweltlichen Objekte auf eine gewisse Weise. Natürlich kann ein Mensch seine Erschlossenheit und sein Seinsverständnis für gewöhnlich nicht genau artikulieren. In diesem Sinne bleibt beides vorontologisch. Um sich aber gemeinsam mit anderen sinnvoll und praktisch auf Objekte zu beziehen, muss einem sein eigenes In-der-WeltSein erschlossen und ein generelles Seinsverständnis gegeben sein. Dreyfus nennt die Erschlossenheit und das mit ihr einhergehende Seinsverständnis oft das „Hintergrundverstehen“21 und beschreibt dieses als ein Konglomerat verschiedener Praktiken: „In sum, the practices containing an interpretation of what it is to be a person, an object, and a society fit together. They are all aspects of what Heidegger calls an understanding of being. Such an understanding is contained in our various knowing how-to-cope in various domains rather than in a set of beliefs that such and such is the case. Thus we embody an understanding of being that no one has in mind. We have an ontology without knowing it.“22
Meine These ist nun, dass Erschlossenheit und vorontologisches Seinsverständnis Leitfäden beinhalten, um zwischen Unverborgenem und scheinbar Unverborgenem zu unterscheiden.23 Und genauso wie unser vorontologisches Seinsverständnis werden diese Leitfäden von uns für gewöhnlich nicht klar artikuliert und lassen sich auch nicht so einfach prüfen, da es für uns zunächst keinen unsere Erschlossenheit transzendierenden Hintergrund gibt. Beim durch die Erschlossenheit gegebenen Hintergrund und dem zugehörigen Seinsverständnis handelt es sich allerdings um keine Setzung eines Einzelnen, sondern um etwas, das ein Mensch qua seiner „Geworfenheit“24 in eine bestimmte kulturelle und historisch situierte Gemeinschaft
21 Ebd., S. 32. 22 Ebd., S. 18. Vgl. hierzu auch ebd., S. 249. 23 Ich glaube, dass Dreyfus in eine ähnliche Richtung argumentiert, wenn er schreibt: „Dasein’s preontological understanding of various ways of being opens up a clearing in which particular entities can be encountered as entities to be used or as the referents of true assertions, etc. The disclosedness opened by Dasein’s self-interpreting activity is called primordial truth.“ (Ebd., S. 280.) 24 Heidegger: Sein und Zeit, S. 175.
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mit allen Mitgliedern dieser Gemeinschaft weitestgehend teilt.25 Damit wird nun die Differenz zwischen Seiendem, das sich unmittelbar zeigt, und Seiendem, das sich so zeigt, „wie es selbst ist“, relativ zu Geschichte, Sozialität und Kultur. Diese Konsequenz mag den Wahrheitsbegriff letztlich wieder preisgeben. Sie könnte aber auch zu der Einsicht führen, dass der maßgebende Horizont der Wahrheit nicht als etwas Absolutes und klar Artikulierbares verstanden werden darf. Steht das Maß erst einmal fest, dann liegt es durchaus nicht in unserem Belieben zu entscheiden, was wahr oder falsch ist. Das Maß selbst jedoch hat keinen absoluten Charakter.26 Handelt es sich hierbei aber tatsächlich um eine Einsicht und nicht um eine verwerfliche Preisgabe des Wahrheitsbegriffes, dann stellt sich die Frage nach dem Status von Heideggers eigener Fundamentalontologie. Das heißt, es fragt sich, relativ zu welchem Hintergrund diese die richtige beziehungsweise wahre Ontologie ist; und es melden sich wohl gleich auch Zweifel an, ob eine solche Relativität dem Anspruch einer Fundamentalontologie nicht zuwiderläuft. Wie verhält es sich außerdem mit Heideggers berühmter Idee der „eigentlichen Erschlossenheit“ beziehungsweise der „Eigentlichkeit“?27 Verweist diese nicht auf etwas, das den maßgebenden Hintergrund der Erschlossenheit eines bestimmten Daseins übersteigt? Und zuletzt bleibt noch die Frage, wie wir uns die historischen Verschiebungen maßgebender Horizonte vorzustellen haben. Geschehen sie ohne Orientierung an einem Maß, dann sind sie auf keinen Fall rational nachvollziehbar. Geschehen sie mit der Orientierung an einem Maß, dann fragt sich, wodurch das höhere Maß gegeben ist. Ich werde hier leider keine dieser Fragen beantworten können. Es hat sich aber in der Diskussion von Tugendhats Einwand eine Interpretation von Heideggers Wahrheitsbegriff aufgedrängt, der zufolge Heidegger eine enge Verbindung zwischen Wahrheit, Geschichte und soziokultureller Gruppe beziehungsweise „Volk“28
25 Vgl. Dreyfus: Being-in-the-World, S. 161, 235 und 277. 26 Vgl. hierzu ebd., S. 37, 157 und 280. 27 Heidegger: Sein und Zeit, S. 221. 28 Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 61. Angesichts von Heideggers politischer Gesinnung und Verstrickung während seiner Verfassung des Kunstwerkaufsatzes mag uns seine Verwendung des Wortes „Volk“ verdächtig erscheinen. Ich meine jedoch, dass wir Volk zumindest hier recht harmlos im
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sieht. Diese Verbindung wird uns bei der Analyse des Kunstwerkaufsatzes wieder begegnen.
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Im Kunstwerkaufsatz fragt Heidegger nach dem Wesen beziehungsweise der Wesensherkunft der Kunst. Um diese zu bestimmen, wendet er sich dem Kunstwerk zu und fragt, „was und wie es ist“29. Im Kontext dieser Frage unterscheidet Heidegger dann zwischen drei Arten von Seiendem, nämlich zwischen Ding, Werk und Zeug. Dem Zeug widmete er bereits in Sein und Zeit sehr viel Aufmerksamkeit. Im Kunstwerkaufsatz fragt er erneut nach dem Sein beziehungsweise dem „Zeughaften des Zeuges“30. Um herauszufinden, was das Zeug ist, diskutiert er überaschenderweise ein Kunstwerk von van Gogh, nämlich dessen Gemälde Ein Paar Schuhe aus dem Jahre 1886.31 Heidegger zufolge zeigt uns dieses Gemälde ein Paar Bauernschuhe. Wie bei allem Zeug bestehe auch bei diesen ihr Zeugsein in ihrer „Dienlichkeit“32. Die Schuhe dienten also der Bäuerin bei der Verrichtung ihrer verschiedenen Tätigkeiten auf dem Feld; sie gebrauche sie, um ihre konkreten Aufgaben praktisch zu bewältigen. Dieser Dienlichkeit liegt Heidegger zufolge aber noch etwas Wesentlicheres zugrunde, nämlich die „Verläßlichkeit“33. Das heißt, die Bäuerin verlasse sich in ihren Betätigungen auf ihre Schuhe und das andere Zeug, das sie gebraucht, um Bestimmtes zu verrichten und zu erreichen; und nur durch diesen verlässlichen Umgang mit Zeug sei ihr eine Welt gegeben. Heidegger meint, dass sich diese
Sinne von soziokultureller Gruppe verstehen können. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass Heideggers Verwendung des Wortes für gewöhnlich harmlos ist. 29 Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 3. 30 Ebd., S. 17. 31 Erst durch seine Korrespondenz mit Meyer Shapiro können wir darauf schließen, dass Heidegger genau dieses Gemälde meinte. Vgl. hierzu Meyer Shapiro: „The Still Life as a Personal Object. A Note on Heidegger and van Gogh“, in: ders.: Theory and Philosophy of Art. Style, Artist, and Society, New York 1994, S. 135–142, hier: S. 136. 32 Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 18. 33 Ebd., S. 19.
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Verlässlichkeit der Bauernschuhe und damit das In-der-Welt-Sein der Bäuerin in van Goghs Gemälde zeigten: „Aus der dunklen Öffnung des herausgetretenen Inwendigen des Schuhzeugs starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. In der derbgediegenen Schwere des Schuhzeugs ist aufgestaut die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des Ackers […]. Durch dieses Zeug zieht das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes. Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet.“34
Heidegger zufolge zeigt van Goghs Gemälde, was „das Zeug, das Paar Bauernschuhe in Wahrheit ist“35. Indem es dies zeige, eröffne es gleichzeitig die Welt der Bäuerin. Dadurch sei dann im Gemälde auch „ein Geschehen der Wahrheit am Werk“36, und diese Folgerung führt Heidegger zu seiner Bestimmung der Kunst als dem „Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit“37. Bevor wir fragen, ob Heideggers Beschreibung des Gemäldes überzeugt, sollten wir zunächst zu verstehen versuchen, was sich gemäß dieser Beschreibung im Gemälde zeigt. Lassen wir dazu den Begriff der Erde vorerst beiseite und konzentrieren wir uns auf den Begriff der Welt. Eine Welt ist für Heidegger keine Ansammlung von Gegenständen. Wie bereits erwähnt, ist sie für ihn vielmehr der Sinnhorizont, der uns erlaubt, Gegenstände innerhalb einer Welt zu erfahren. Wie aber müssen wir uns diesen Horizont beziehungsweise das „Bezugsganze von Sinnbezügen“38 genau vorstellen? Da Heidegger oft von der „Verweisungsganzheit“39 oder
34 Ebd. 35 Ebd., S. 21. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Heideggers Philosophie der Kunst, 2., überarb. u. erw. Aufl., Frankfurt am Main 1994, S. 119. Vgl. hierzu auch ebd., S. 121 und 175, sowie David Espinet: „Kunst und Natur. Der Streit von Welt und Erde“, in: ders. und Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerkes. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 2011, S. 46–65, hier: S. 48. 39 Heidegger: Sein und Zeit, S. 70.
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„Bewandtnisganzheit“40 spricht, wenn er Welt und Weltlichkeit diskutiert, liegt es nahe, sich eine Welt als ein System vorzustellen, das Gegenstände miteinander in Beziehung setzt und ihnen gleichzeitig einen Platz innerhalb sinnvoller Praktiken zuordnet: „Den Verweisungszusammenhang, der als Bedeutsamkeit die Weltlichkeit konstituiert, kann man formal im Sinne eines Relationssystems fassen.“41 Worauf aber geht das System zurück? Dreyfus folgend könnten wir es als Produkt oder besser Korrelat unserer jeweiligen Praktiken verstehen. Dreyfus selbst setzt die Welt letztlich mit diesen Praktiken und all dem, was sie implizieren – also Fähigkeiten, Werkzeuge und so weiter – gleich. Ihm folgend verstehe auch ich eine Welt primär als Konglomerat sinnvoller Praktiken. Spreche ich hier außerdem gelegentlich von der Welt, dann spreche ich nicht von einem notwendig einzigen solchen Konglomerat, sondern nur von einem bestimmten.42 Inwiefern aber kann das Gemälde Ein Paar Schuhe die Welt einer Bäuerin beziehungsweise deren Praktiken eröffnen? Dahinter steckt wohl der Gedanke, dass sich in den Schuhen – beziehungsweise in ihrer spezifischen Dienlichkeit und Verlässlichkeit – die Welt der Bäuerin „bündelt“43. Das heißt, im Gemälde zeigen sich ihre routinierten Praktiken beziehungsweise praktischen Besorgungen (Arbeit auf dem Feld, Gang „durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des Ackers“), ihre Befindlichkeit bei diesen Besorgungen („Mühsal“, „Schwere“, „Zähigkeit“, „klagloses Bangen“, „Einsamkeit“, „wortlose Freude“) und schließlich das Worum oder der Sinn dieser Besorgungen („Sicherung des Brotes“, „Wiederüberstehen der Not“, „Ankunft der Geburt“). Wenn Heidegger mit seiner Beschreibung des Gemäldes recht hat, dann deutet sich an, dass Kunstwerke uns die Welt einer anderen Person zeigen können.44 Hier nun aber von ‚der Welt einer anderen Person‘ zu sprechen
40 Ebd., S. 84. 41 Ebd., S. 88. 42 Dreyfus: Being-in-the-World, S. 99. 43 Francisco de Lara: „Kunstwerk und Gebrauchsgegenstände. Ding, Zeug und Werk in ihrer Widerspiegelung“, in: Espinet und Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerkes, S. 19–32, hier: S. 26. 44 Vgl. hierzu Hubert L. Dreyfus: „Heidegger’s Ontology of Art“, in: Hubert L. Dreyfus and Mark A. Wrathall (Hg.): A Companion to Heidegger, Malden 2005, S. 407–419, hier: S. 409.
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mag befremden, da ich doch im letzten Abschnitt behauptete, dass es sich bei der Welt um einen weitestgehend geteilten Sinnhorizont handle. Diese Behauptung impliziert allerdings nicht, dass unsere jeweiligen Horizonte vollkommen deckungsgleich sind, selbst wenn wir uns gemeinsam miteinander sinnvoll und praktisch auf Gegenstände beziehen. Zu beachten ist auch, dass Heidegger von keiner bestimmten Bäuerin spricht. Ihm geht es um den Typ beziehungsweise die Daseinsform der Bäuerin und nicht um ein bestimmtes Individuum. Bäuerinnen teilen eben bestimmte Praktiken, die sie zum Beispiel von Fabrikarbeiterinnen unterscheiden. Das heißt nicht, dass beide in gänzlich getrennten Welten leben; es heißt aber, dass die Sinnhorizonte ihrer jeweiligen Besorgungen nicht vollkommen deckungsgleich sind. In van Goghs Gemälde öffnet sich also die Welt der Bäuerin beziehungsweise ihr In-der-Welt-Sein. Dieses öffnet sich uns aber nicht qua einer phänomenologischen Untersuchung, sondern es zeigt sich uns in der „natürlichen unmittelbaren Erfahrung“45. Für gewöhnlich haben wir wohl auch kaum Acht auf die Dienlichkeit und Verlässlichkeit von Bauernschuhen, selbst wenn wir eine Bäuerin in ihnen auf dem Feld arbeiten sehen. Sogar das von uns selbst gebrauchte Zeug fällt in seiner Dienlichkeit und Verlässlichkeit kaum ins Auge: „[D]as Zeug wird in einem tieferen Sinne abgenutzt und verbraucht.“46 Im Kunstwerk tritt es uns allerdings in „voller Rätselhaftigkeit und in einer ganz anderen Präsenz“47 wieder entgegen und ermöglicht uns zu erfahren, was es in Wirklichkeit ist und was für eine Welt sich in ihm jeweils bündelt. Nun stellt sich allerdings die Frage, ob Heideggers Beschreibung des konkreten Gemäldes tatsächlich überzeugt. Was könnte er dem entgegnen, der „die Mühsal der Arbeitsschritte“ nicht in der „der dunklen Öffnung des herausgetretenen Inwendigen des Schuhzeugs“ sieht? Können wir hier – zumindest andeutungsweise – ein Maß identifizieren, das uns erlaubt, zwischen demjenigen, was das Bild selbst tatsächlich zeigt, und demjenigen, was ein Interpret irrigerweise in es hineindeutet, zu unterscheiden? Heidegger selbst verwahrt sich vorsorglich gegen den Vorwurf, seine Beschrei-
45 Von Herrmann: Heideggers Philosophie der Kunst, S. 133. 46 Ebd., S. 24. 47 Diana Aurenque: „Die Kunst und die Technik“, in: Espinet und Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerkes, S. 33–45, hier: S. 44.
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bung habe „als ein subjektives Tun alles so ausgemalt und dann hineingelegt“48. Genau diesen Vorwurf hat Meyer Shapiro allerdings gegen ihn erhoben: „He has retained from his encounter with van Gogh’s canvas a moving set of associations with peasants and the soil, which are not sustained by the picture itself. They are grounded rather in his own social outlook with its heavy pathos of the primordial and the earthly.“49 Shapiro bezweifelt außerdem, dass das, was Heidegger angesichts von van Goghs Gemälde zu erfahren vermeint, nicht auch angesichts wirklicher Bauernschuhe erfahren werden könnte. Shapiro kann also wenig mit der Behauptung anfangen, dass „nur im Werk das Zeugsein des Zeuges eigens zu seinem Vorschein“50 komme. Schließlich setzt er seine eigene Interpretation des Gemäldes gegen diejenige Heideggers. Shapiro zufolge handelt es sich bei den Schuhen im Bild nämlich um van Goghs eigene Schuhe, die dieser als Teil von sich selbst darstelle: „One can describe van Gogh’s painting of his shoes as a picture of objects seen and felt by the artist as a significant part of himself […]. Is there not in that singular artistic conception an aspect of the intimate and personal, a soliloquy, and expression of the pathos of a troubled human condition in the drawing of an ordinarily neat and […] over-protected clothed body? The thickness and heaviness of the impasto pigment substance, the emergence of the dark shoes from shadow into light, the irregular, angular pattern […] are not all these component features of van Gogh’s odd conception of the shoes?“51
Shapiro stützt seine Deutung auf eine Beschreibung des Gemäldes und auf Informationen aus mehreren Texten von van Gogh selbst und von anderen Künstlern und Schriftstellern. So versucht er unter anderem, den Entstehungskontext des Bildes zu rekonstruieren.52 Anders als Heidegger verlässt sich Shapiro also nicht nur auf das, was das Gemälde seines Erachtens un-
48 Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 21. 49 Shapiro: „The Still Life as a Personal Object“, S. 138. 50 Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 21. 51 Meyer Shapiro: „Further Notes on Heidegger and van Gogh“, in: ders.: Theory and Philosophy of Art, S. 143–151, hier: S. 146. 52 Vgl. hierzu ebd., S. 143.
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mittelbar zeigt, sondern es deutet sich ein für seine Interpretation maßgebender Hintergrund an, der viel mit dem Entstehungskontext des Gemäldes und der Biografie des Künstlers zu tun hat. Dies sind Faktoren, die Heidegger offensichtlich für ganz unwesentlich hält, womit er sich in eine gewisse Opposition zu den üblichen Praktiken der modernen Kunstkritik stellt.53 Ich will daraus nicht schließen, dass Heideggers Beschreibung des Bildes zurückzuweisen ist. In Berufung auf die Relativität der Wahrheit könnte man sogar geneigt sein zu behaupten, dass das vom Bild Gezeigte abhängig sei vom jeweiligen Verstehenshorizont des Betrachters. Selbst wenn dem so wäre, müsste sich allerdings im Hinblick auf einen bestimmten Horizont der Unterschied zwischen demjenigen, was das Gemälde tatsächlich zeigt, und demjenigen, was ein Interpret irrigerweise in es hineindeutet, machen lassen. Dafür aber bedarf es eines Leitfadens oder Maßes; und Letzteres kann kaum durch die je eigene, unmittelbare Erfahrung gegeben sein, da deren Korrektheit ja gerade infrage steht. Nun könnte man meinen, dass sich die Korrektheit einer Erfahrung dadurch erweise, dass andere sie teilten. Um einen Unterschied zwischen einer Erfahrung des im Bild tatsächlich Gezeigten und einer subjektiven Ausmalung zu machen, bedürfte es dann nicht wirklich eines zusätzlichen Maßes. Heideggers Erfahrung beziehungsweise Beschreibung des Bildes erwiese sich einfach dann als korrekt, wenn wir sie am betreffenden Bild nachvollziehen könnten. Können wir sie nachvollziehen? Ich denke schon; zumindest fällt es mir nicht schwer, die Schuhe als Bauernschuhe und als Bündelungen einiger der von Heidegger angedeuteten Besorgungen und Praktiken zu sehen. Es fällt mir allerdings auch nicht schwer, sie als van Goghs eigene Schuhe oder als die Schuhe eines anderen zu sehen. Allein aufgrund des durch das Gemälde unmittelbar Gegebenen lässt sich letztlich nicht entscheiden, um wessen Schuhe es sich hier in Wirklichkeit handelt. Wenn es eine sinnvolle Antwort auf diese Frage gibt, dann wird diese durch etwas bestimmt, was zum durch das Gemälde unmittelbar Gegebenen hinzutritt. Dies führt natürlich zurück zu Tugendhats Punkt, dass nur aufgrund des unmittelbar Gegebenen nicht zu sagen ist, ob sich etwas so zeigt, „wie es selbst ist“. Um dies zu entscheiden, bedarf es eben eines zusätzlichen
53 Heidegger zufolge gibt das Werk einen „Stoß“, und dieser sei dann am reinsten, wenn der Entstehungskontext des Werkes unbekannt bleibe. Vgl. hierzu Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 53.
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Maßes. Heidegger kann seine Deutung des Gemäldes also nicht erfolgreich verteidigen, indem er sich einzig auf seine unmittelbare Erfahrung des im Gemälde Gegebenen beruft. Shapiro scheint mir hier im Vorteil zu sein. Heideggers Deutung muss deswegen immer noch nicht falsch oder das Produkt einer ontologisierenden Fantasie sein; sie steht aber auf wackligen Füßen und kann somit die zentrale These vom Wahrheitsgeschehen der Kunst nicht hinreichend plausibilisieren. Was Heidegger mit seiner Diskussion von van Goghs Gemälde nicht gelingt, könnte ihm aber mit seiner Diskussion des griechischen Tempels gelingen. Anhand dieses Beispiels lässt sich vielleicht auch überzeugender erläutern, wie das Werk eine Welt eröffnet. Ein Blick auf Heideggers Diskussion des griechischen Tempels sollte uns außerdem helfen, auch seinen Begriff der Erde in unsere kritische Untersuchung endlich miteinzubeziehen.54 Heidegger bespricht keinen konkreten Tempel. Es geht ihm vielmehr um den griechischen Tempel als eine Art von Bauwerk. Wie alle Werke eröffne der Tempel nicht nur eine Welt, sondern gehöre auch in eine solche beziehungsweise in einen „eigenen Wesensraum“55. Wenn Werke wie der griechische Tempel nicht mehr in ihrem eigenen Wesensraum stünden, dann sei ihre Welt zerfallen, und sie selbst hätten sich verwandelt: „Die Werke sind nicht mehr die, die sie waren. Sie selbst sind es zwar, die uns da begegnen, aber sie selbst sind die Gewesenen.“56 Dass Kunstwerke in eine Welt gehören, bedeutet gemäß unserer bisherigen Interpretation des Weltbegriffes, dass sie innerhalb bestimmter Praktiken situiert sind. So ist beziehungsweise war der antike Tempel vor allem innerhalb gewisser kultischer und religiöser Praktiken situiert. Wie hängt aber die Welt, in die der Tempel gehörte, zusammen mit der Welt, die er eröffnete? Und was für eine Welt eröffnete der Tempel überhaupt? Mit Blick auf die letzte Frage schreibt Heidegger:
54 Die These, dass der Entstehungskontext und die Biografie eines Künstlers für das, was sein Kunstwerk zeigt, entscheidend sein können, habe ich an anderer Stelle verteidigt. Vgl. Thomas Hilgers: „Künstlerische Intentionen und ästhetische Relevanz“, in: Frédéric Döhl, Daniel Martin Feige, Thomas Hilgers und Fiona McGovern (Hg.): Konturen des Kunstwerks. Zur Frage von Relevanz und Kontingenz, München 2013, S. 31–50. 55 Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 26. 56 Ebd.
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„Durch den Tempel west der Gott im Tempel an. Dieses Anwesen des Gottes ist in sich die Ausbreitung und Ausgrenzung des Bezirkes als eines heiligen. Das Tempelwerk fügt erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge um sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall – dem Menschenwesen die Gestalt seines Geschickes gewinnen. Die waltende Weite dieser offenen Bezüge ist die Welt dieses geschichtlichen Volkes.“57
Der Tempel eröffnete Heidegger zufolge also die Welt einer bestimmten soziokulturellen Gemeinschaft.58 Genauer gesagt, er eröffnete die Welt der alten Griechen, und in deren Welt gehörte er auch. Dies darf man nicht so verstehen, dass der Tempel eine Welt zum Vorschein brachte, die es ganz unabhängig von ihm bereits gab. Vielmehr spielte er eine wesentliche Rolle für das Bestehen dieser Welt beziehungsweise für den Vollzug der Praktiken, die diese Welt ausmachten. In der zitierten Passage schreibt Heidegger, dass der Tempel Sinnbezüge um sich fügt und sammelt. Dreyfus folgend verstehe ich diese These so, dass der Tempel Praktiken nicht aus sich heraus schaffte, sondern dass er sie pointiert zur Schau stellte und den Mitgliedern der antiken Gemeinschaft einen Orientierungspunkt beim Vollzug ihrer Praktiken ermöglichte. In diesem Sinne behaupte ich weiterhin, dass der antike Tempel Heidegger zufolge geradezu ein Maß bereitstellte, das den alten Griechen anzeigte, was in ihrer geteilten Welt zum Beispiel als Sieg oder Schmach zu gelten hatte.59 Dass Heidegger dem Tempel und überhaupt allen Kunstwerken eine solche Rolle zuschreibt, lässt sich daraus folgern, wie er die „Aufstellung des Werkes“60 beschreibt. Diese sei nämlich eine „weihend-rühmende Errichtung“61; und Errichten heiße in diesem Kontext: „Öffnen das Rechte im Sinne des entlang weisenden Maßes, als welches das Wesenhafte die Weisungen gibt.“62 Fungiere der Tempel aber nicht mehr als ein solch Maßgebendes – spiele er keine wesentliche Rolle mehr für die Praktiken von denjenigen, die sich auf ihn beziehen –, dann
57 Ebd., S. 27 und 28. 58 Vgl. hierzu von Herrmann: Heideggers Philosophie der Kunst, S. 154. 59 Vgl. ebd., S. 167. 60 Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 30. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 30.
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habe er seine Welt verloren und sei nicht mehr das Werk, das er einst war. Genau dies sei dem antiken Tempel widerfahren.63 Bezögen wir uns noch heute auf den Tempel als auf das Werk, das er einst war, dann bezögen wir uns auf ihn als auf etwas, in dem ein Gott tatsächlich wohnt. Genauso hielten wir das antike Bild nicht für die Darstellung eines Gottes, sondern für etwas, „das den Gott selbst anwesen lässt und so der Gott selbst ist“64. Und auch die antike Tragödie stellt Heidegger zufolge keinen Kampf dar, solange ihre Welt nicht zerfallen ist. Bei ihr verhalte es sich vielmehr so, dass „jedes wesentliche Wort diesen Kampf führt und zur Entscheidung stellt, was heilig ist und was unheilig, was groß und was klein, was wacker und was feig, was edel ist und was flüchtig, was Herr und was Knecht“65. All dies sei die antike Tragödie für uns nicht mehr, und damit sei auch sie zu einem Gewesenen geworden. Gemäß der von mir favorisierten Interpretation eröffnete der Tempel also eine Welt in dem Sinne, dass er eine maßgebende und orientierende Rolle innerhalb gewisser Praktiken spielte. Seine Rolle für die praktischen Lebensvollzüge der alten Griechen gab dem antiken Tempel außerdem seinen speziellen Wesensraum und seine Identität als Kunstwerk. Mit dem Verschwinden der betreffenden Praktiken verlor der Tempel folglich seine maßgebende Rolle, sein Wesensraum zerfiel, und er war nicht länger gegenwärtig als das Werk, das er ursprünglich gewesen war. Andererseits konnten die betreffenden Praktiken nur dadurch sinnvoll und erfolgreich
63 Dreyfus nennt die Sinnbezüge eines Volkes auch den „Stil einer Kultur“ (Dreyfus: „Heidegger’s Ontology of Art“, S. 409). Ihm zufolge verhält es sich so, dass das Kunstwerk diesen Stil artikuliert und „illuminiert“ (ebd., S. 414). Damit übernehme es auch eine entscheidende Rolle für das gesellschaftliche Handeln gemäß diesem Stil: „For everyday practices to give us a shared world, and so give meaning to our lives, they must be focused and held up to the practitioners. Works of art, when performing their function, are not merely representations of a pre-existing state of affairs, but actually produce a shared understanding.“ (Ebd., S. 409.) 64 Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 29. 65 Ebd.
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vollzogen werden, dass der Tempel den Vollziehern dieser Praktiken Leitung und Orientierung bot.66 Im Gegensatz zu seiner Beschreibung von van Goghs Gemälde bietet uns Heidegger etwas an, vor dessen Hintergrund wir prüfen können, ob seine Beschreibung des Tempels stimmig ist. Zu schauen wäre, ob der Tempel tatsächlich eine maßgebende und orientierende Rolle für das griechische Volk in der Antike spielte. Ich kann diese Prüfung hier nicht durchführen.67 Allerdings liegt es meines Erachtens auf der Hand, dass der antike Tempel einst eine Rolle spielte, die sehr viel mit den praktischen Lebensvollzügen derer zu tun hatte, die sich auf ihn bezogen. Ist es aber diese Rolle, die den Tempel zum Ort eines Wahrheitsgeschehens machte, dann gewinnt das Wort ‚Wahrheitsgeschehen‘ eine neue Bedeutung. Im Kunstwerk geschieht dann nämlich Wahrheit nicht allein aus dem Grund, dass sich Seiendes einfach unmittelbar zeigt. Wahrheit geschieht hier vielmehr deswegen, weil einer kulturellen und historisch situierten Gemeinschaft ermöglicht wird, sich so auf ein Maß zu beziehen, dass die Unterscheidung zwischen dem Unverborgenen und dem scheinbar Unverborgenen getroffen werden kann. Im letzten Abschnitt bin ich davon ausgegangen, dass Erschlossenheit und Seinsverständnis einen maßgebenden Hintergrund bereitstellen. Meine These nun ist, dass Heidegger zufolge das Kunstwerk diesen maßgebenden Hintergrund zwar nicht zu etwas klar Artikulierbarem macht, aber dennoch zu etwas, mit dem man sozusagen ‚arbeiten‘ kann. Durch den kultischen und religiösen Bezug auf den Tempel – also durch das entsprechende Weihen, Feiern, Opfern und so weiter – ließ sich für das Mitglied
66 Tobias Keiling drückt diesen Gedanken noch stärker aus, wenn er scheibt: „[Das Werk] bestimmt, was wie bewusst sein kann, und was sich dem Bewußtsein entzieht.“ (Tobias Keiling: „Kunst, Werk, Wahrheit. Heideggers Wahrheitstheorie in Der Ursprung des Kunstwerkes“, in: Espinet und Keiling [Hg.]: Heideggers Ursprung des Kunstwerkes, S. 66–94, hier: S. 78.) 67 Affirmierten wir den relativen Wahrheitsbegriff, dann müssten wir eingestehen, dass auch diese Prüfung sowie ihr Ergebnis an unseren je eigenen Hintergrund gebunden bleiben. Überhaupt müssten wir unsere Bewertung von Heideggers Kunstphilosophie als eine an unseren je eignen Horizont gebundene verstehen und könnten jene Philosophie folglich nicht als ‚absolut wahre‘ oder ‚absolut falsche‘ bezeichnen. Wie schon zuvor enthalte ich mich hier eines Votums und beschränke mich darauf, die Konsequenzen einer solchen Position aufzuzeigen.
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der antiken griechischen Gemeinschaft entscheiden, ob etwas zum Beispiel tatsächlich ein Unheil ist oder ob es sich nur fälschlicherweise als ein solches zeigt. Indem der Tempel die Griechen auf ein solches Maß kultisch und religiös ausrichtete, eröffnete er ihnen ihre Welt – beziehungsweise ihr Konglomerat sinnvoller Praktiken – und ließ sie Seiendes so sehen, wie es für sie selbst war. Die Eröffnung einer Welt ist das eine, was der Tempel Heidegger zufolge bewerkstelligte; die „Herstellung der Erde“68 ist das andere. Um zu verstehen, was genau Heidegger mit dieser Herstellung meint, müssen wir uns seine weitere Beschreibung des Tempels anschauen: „Dastehend ruht das Bauwerk auf dem Felsgrund. Dies Aufruhen des Werkes holt aus dem Fels das Dunkel seines ungefügen und doch zu nichts gedrängten Tragens heraus. Dastehend hält das Bauwerk dem über es wegrasenden Sturm stand und zeigt so erst den Sturm selbst in seiner Gewalt. Der Glanz und das Leuchten des Gesteins […] bringt doch erst das Lichte des Tages, die Weite des Himmels, die Finsternis der Nacht zum Vorschein. […] Der Baum und das Gras, der Adler und der Stier […]. Dieses Herauskommen und Aufgehen […] lichtet zugleich jenes, worauf und worin der Mensch sein Wohnen gründet. Wir nennen es Erde.“
Es liegt wohl nahe, sich die Erde als den sinnlich-stofflichen Untergrund unserer jeweiligen Praktiken vorzustellen.69 Die Erde wäre somit das Material, das wir durch unsere Praktiken nicht erschaffen, sondern mit dem wir im Vollzug unserer Praktiken umgehen müssen. Gegen eine solche Interpretation verwahrt Heidegger sich jedoch explizit.70 Angesichts der Beispiele müssen wir die Erde aber als etwas verstehen, das zumindest viel mit dem zu tun hat, was wir für gewöhnlich ‚Natur‘ nennen. So schreibt David Espinet zu Recht: „Erde tritt an die Stelle von Natur, in deren Begriffsgeschichte Heidegger problematische, weil sachverstellende semantische Verschiebungen ausmacht, die er mit dem Begriff der Erde abbauen möchte.“71 Espinet beschreibt die Erde außerdem als „das sinnlich Erfahrbare“72 und als
68 Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 34. 69 Vgl. beispielsweise Aurenque: „Die Kunst und die Technik“, S. 43. 70 Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 28. 71 Espinet: „Kunst und Natur“, S. 47. Vgl. hierzu auch ebd., S. 53. 72 Ebd., S. 58.
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„das für uns unbeherrschbare Element“73. Angesichts der Beispiele sticht die sinnliche Dimension der Erde tatsächlich ins Auge. Schließlich spricht Heidegger viel von Glanz, Leuchten, Schimmern, Klingen und so weiter. Darüber hinaus schwingt meines Erachtens die Idee eines sinnlichstofflichen Untergrundes in seinen Diskussionen der Erde stets mit – obwohl er sich, wie bereits erwähnt, gegen diese Idee der Erde ausspricht. So behauptet Heidegger, dass anders als das Zeug der Tempel „den Stoff nicht verschwinden, sondern allererst hervorkommen [lässt]“74. Spricht er hier vom Stoff, dann hat Heidegger Phänomene wie Felsen, Metalle und Farben im Auge. Durch ein Werk wie den Tempel kämen diese Phänomene in ihrer einzigartigen Sinnlichkeit zum Vorschein. Anders als bei der „technischwissenschaftlichen Vergegenständlichung der Natur“75 gebe es beim Werk nicht den Versuch, diese sinnliche Dimension durch quantitative Methoden weiter zu beschreiben und zu erklären. Das Werk zeige die Erde zwar einerseits als „heimatliche[n] Grund“76, offenbare sie allerdings zugleich als das „Sichverschließende“77. Als dieses und jenes komme die Erde durch das Kunstwerk überhaupt erst zur Erscheinung. Naturphänomene wie der Fels oder der Sturm ließen sich in ihrer einzigartigen sinnlichen Präsenz, ihrer grundierenden Rolle für unsere Lebensvollzüge und ihrer Unergründbarkeit erst durch ein Kunstwerk wie den antiken Tempel erfahren. Genauso wenig, wie die Welt etwas sei, das ganz unabhängig vom Werk bestehe und durch dieses lediglich noch einmal reflektiert werde, sei die Erde also etwas, das uns ganz unabhängig vom Werk als der Grund und das Sichverschließende erscheinen könne: „Der Tempel gibt in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst“.78 Die Herstellung der Erde und das Eröffnen einer Welt geschähen aber nicht voneinander getrennt. Heidegger zufolge sind Erde und Welt immer aufeinander bezogen: „Die Welt gründet sich auf die Erde, und Erde durchragt Welt.“79 Was genau jedoch bedeutet dies? Im Kunstwerkaufsatz beant-
73 Ebd., S. 62. 74 Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 32. 75 Ebd., S. 33. 76 Ebd., S. 28. 77 Ebd., S. 33. 78 Ebd., S. 29. 79 Ebd., S. 35.
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wortet Heidegger diese Frage nicht wirklich. Verstehen wir die Welt aber als ein Konglomerat sinnvoller Praktiken, dann scheint klar zu sein, dass es neben diesen Praktiken noch etwas anderes gibt, wodurch ihnen Widerstände und Grenzen gegeben werden. Das heißt, es scheint etwas zu geben, womit die Praktiken umgehen müssen, das aber niemals in den Praktiken ganz aufgeht, sondern ‚ein unbeherrschbares Element‘ bleibt. Außerdem muss es etwas geben, das den diversen Praktiken eine sinnliche Erscheinung ermöglicht – das sie also sozusagen materialisiert. Dieses etwas können wir mit Heidegger ‚Erde‘ nennen. Heidegger beschreibt die Beziehung zwischen Welt und Erde als einen Streit. Dies verstehe ich so, dass die Welt als das Konglomerat sinnvoller Praktiken danach strebt, alles mit Sinn und Bedeutung zu versehen, denn sie „duldet als das Sichöffnende kein Verschlossenes“80. Einem völligen Durchdringen und Verstehen entzieht sich die Erde aber und gerät damit in einen Konflikt zur Welt. Diesen darf man Heidegger zufolge jedoch nicht als reine Zwietracht deuten, da sich Welt und Erde erst durch diesen Konflikt als das offenbarten, was sie sind. So zeige sich die Welt erst durch das Widerstreben der Erde als das Sichöffnende, genauso wie sich die Erde erst durch den Andrang der Welt als das Sichverschließende zeige. Das Kunstwerk ist für Heidegger eine Austragung beziehungsweise „Anstiftung dieses Streites“81. Das Werk sei folglich immer in Bewegung, gewinne gleichzeitig aber seine besondere Ruhe – seine Einheit und sein „Insichstehen“82 – aus ebendieser Bewegtheit, die auf kein Ende angelegt sei, sondern auf eine Fortsetzung des Streites.83 Das Wahrheitsgeschehen der Kunst bestehe in der Austragung ebendieses Streites. Durch ihn gelange nämlich „das Seiende im Ganzen, Welt und Erde in ihrem Widerspiel, in die Unverborgenheit“84. Diese Schlussfolgerung interpretiere ich so: Durch den (ursprünglichen) Umgang mit einem Werk wie dem Tempel öffnet sich uns eine Welt in dem Sinne, dass wir auf ein Maß für unsere Praktiken ausgerichtet werden. Außerdem erscheint uns die Erde in dem Sinne, dass wir die unseren Praktiken zugrunde liegenden Naturphänomene in ihrer kon-
80 Ebd. 81 Ebd., S. 36. 82 Ebd., S. 34. 83 Ebd., S. 36. 84 Ebd., S. 43.
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kreten Sinnlichkeit und Unergründbarkeit wahrnehmen. Schließlich offenbart sich auch der Streit zwischen Welt und Erde dadurch, dass wir den notwendigen und fortschreitenden Bezug zwischen unseren Praktiken und den Naturphänomenen bemerken. Das Werk lässt uns also einerseits Seiendes als etwas Bestimmtes sehen – nämlich als Schande, Ehre, Sieg, Niederlage, Verbrechen und so weiter. Andererseits lässt es uns aber auch das sehen, was unseren Sinngebungen zugrunde liegt und sich diesen immer wieder entzieht. Diese Differenz zwischen sinnvollen Praktiken und dem, was sie erdet, wird durch das Werk gezeigt. Gleichzeitig wird aber auch gezeigt, wie beides einander bedarf und sich beides im ständigen Widerspiel von Andrang und Verweigerung offenbart. Das Kunstwerk hebt dieses Spiel hervor und stiftet dazu an, es intensiv fortzuführen.85 Das Kunstwerk ist für Heidegger allerdings nicht der einzige Ort des Wahrheitsgeschehens. In diesem Zusammenhang nennt er auch „die staatsgründende Tat“, „das wesentliche Opfer“ und „das Fragen des Denkers“.86 Anders als in der Philosophie geschehe in der Wissenschaft übrigens keine Wahrheit, da es in ihr zu keiner „wesentliche[n] Enthüllung des Seiendem als solchen“87 komme. Ein bestimmtes Wahrheitsgeschehen ist für Heidegger also immer an die Vorgabe eines bestimmten Seinsverständnisses gebunden. Durch dieses Geschehen werde kein einzelner Gegenstand dargestellt, sondern es werde vorgegeben, als was wir ‚Seiendes im Ganzen‘ zu verstehen hätten. Nun stellt sich an dieser Stelle natürlich die Frage, wie sich das Wahrheitsgeschehen der Kunst von anderen Wahrheitsgeschehen eigentlich unterscheidet. Heidegger nennt die Art, wie Wahrheit im beziehungsweise durch das Werk geschieht, die „Schönheit“88. Mit der Einführung dieses Terminus schließt er an eine lange Tradition innerhalb der Ästhetik und Kunstphilosophie an; ich sehe hierdurch aber keinen Gewinn für die Bestimmung des kunstspezifischen Wahrheitsgeschehens. Nun
85 Wenn ich die Welt mit dem Maßgebenden und die Erde mit dem Begrenzenden in Verbindung bringe, dann lässt sich dies durch Heideggers Beschreibung des Streites als eines Risses verteidigen: „Dieser Riß läßt die Gegenwendigen nicht auseinanderbersten, er bringt das Gegenwendige von Maß und Grenze in den einigen Umriß.“ (Ebd., S. 51.) 86 Ebd., S. 49. 87 Ebd., S. 50. 88 Ebd., S. 43.
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könnte man allerdings meinen, dass der Streit zwischen Welt und Erde etwas ist, was sich nur im Kunstwerk tatsächlich offenbart. Zwar gehört zum Wahrheitsgeschehen stets ein Streit, im letzten Abschnitt des Kunstwerkaufsatzes beschreibt Heidegger diesen aber noch basaler als „Urstreit von Lichtung und Verbergung“89. Was es mit dieser Fassung des Streites auf sich hat, werde ich hier nicht mehr diskutieren. Ich schlage aber vor, den Streit zwischen Welt und Erde als eine Art zu verstehen, wie der Streit zwischen Lichtung und Verbergung geschehen kann, und zwar als die Art, die im Kunstwerk geschieht. So können uns Maß und Sinn durch Politik und Philosophie ähnlich wie durch Kunst gegeben werden, doch die sinnliche Präsenz und Unergründbarkeit von demjenigen, was unseren Praktiken zugrunde liegt, sowie das konfliktreiche Wechselspiel, in dem dieses zu unseren Praktiken steht, scheint etwas zu sein, was sich nur im beziehungsweise durch das Kunstwerk wirklich zeigt. Nun mag ich mich mit der These, dass der Streit zwischen Lichtung und Verbergung nicht notwendigerweise mit dem Streit zwischen Welt und Erde zusammenfällt, und mit der These, dass nur durch das Kunstwerk der Streit zwischen Welt und Erde wirklich gezeigt wird, im Widerspruch zu Heideggers Position befinden.90 So könnte man einwenden, dass sich das kunstspezifische Wahrheitsgeschehen eher dadurch auszeichne, dass es den Streit zwischen Welt und Erde besonders augenfällig zeige, indem es diesen als „Ereignis leicht lokalisierbar“91 mache. Das heißt, die Kunst ermögliche es diesem Streit beziehungsweise dem Wahrheitsgeschehen, sich in einem konkreten Seienden sozusagen einzunisten. Tatsächlich schreibt Heidegger ja auch: „Weil es zum Wesen der Wahrheit gehört, sich in das Seiende einzurichten, um so erst Wahrheit zu werden, deshalb liegt im Wesen der Wahrheit der Zug zum Werk als einer ausgezeichneten Möglichkeit der Wahrheit, inmitten des Seienden selbst seiend zu sein.“92 Die letztere Bestimmung des kunstspezifischen Wahrheitsgeschehens könnte also Heideggers Denken eher entsprechen. Diese Bestimmung lässt sich
89 Ebd., S. 42. 90 Ich vermute, dass Tobias Keiling die Lage so einschätzen würde. Vgl. Keiling: „Kunst, Werk, Wahrheit“, S. 89 und 90. 91 Ebd., S. 92. 92 Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 50. Vgl. hierzu auch Keiling: „Kunst, Werk, Wahrheit“, S. 91.
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aber ohne Probleme mit meiner ersten – kontroverseren – Bestimmung kombinieren. Allein vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet, finde ich eine solche Kombination beider Bestimmungen reizvoll.
III. K OMPLIKATIONEN Heidegger zufolge besteht das Wahrheitsgeschehen der Kunst nicht in der Darstellung einer ahistorisch gedachten Wirklichkeit. Ein Kunstwerk wie der Tempel zeige einer bestimmten kulturellen und historisch situierten Gemeinschaft Seiendes so, wie es für diese Gemeinschaft selbst sei. Der ursprüngliche und wahrhafte Bezug auf ein Kunstwerk habe überhaupt wenig mit dem Empfinden eines einzelnen, ahistorischen Subjektes zu tun. Vielmehr müsse dieser Bezug als gemeinschaftliche Bewahrung verstanden werden: „Die Bewahrung des Werkes vereinzelt die Menschen nicht auf ihre Erlebnisse, sondern rückt sie ein in die Zugehörigkeit zu der im Werk geschehenden Wahrheit und gründet so das Für- und Miteinandersein als das geschichtliche Ausstehen des Da-seins aus dem Bezug zur Unverborgenheit.“93 Im Anschluss an Heidegger müssen wir das Kunstwerk also in einem doppelten Sinne als historisches Phänomen deuten. Einmal richtet es sich nämlich an die Mitglieder einer bestimmten historisch situierten Gemeinschaft als an die es Bewahrenden. Darüber hinaus vollzieht sich im Kunstwerk der Streit zwischen Welt und Erde. Das heißt, der Streit ist kein Zustand, sondern ein Geschehnis. Ein Kunstwerk wie der Tempel zeigt außerdem nichts, was unabhängig von ihm vorliegt. Die Welt, die er eröffnet, wird durch ihn als maßgebender Bezugspunkt mitbestimmt; die Naturphänomene, die er herstellt, können unabhängig von ihm nicht tatsächlich erscheinen; und der Streit, den er austrägt und anstiftet, findet ohne ihn in dieser Form nicht statt. Fragen wir also erneut nach dem Verhältnis von Kunst, Wirklichkeit und Affirmation, dann dürfen wir Heidegger zufolge dieses Verhältnis keineswegs so verstehen: Es gibt eine Wirklichkeit, und dann kommt die Kunst und zeigt uns, was und wie Wirklichkeit in Wahrheit ist. Ohne ein Verständnis der Wirklichkeit kann es Wirklichkeit nämlich gar nicht geben, genauso wenig, wie es eine Welt ohne eine Welteröffnung oder ein Seiendes ohne ein Seinsver-
93 Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, S. 55.
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ständnis geben kann. Die Aufstellung und Bewahrung von Werken ist für Heidegger ein wichtiger Faktor, der solche Verständnisse mitbedingt, fixiert und handhabbar macht. Bei ihm sind beide Affirmationsbegriffe daher mit ihm Spiel – Affirmation im Sinne von Darstellung und Affirmation im Sinne von Bekräftigung. Darüber hinaus zieht Heidegger eine enge Verbindung zwischen Wahrheit, Geschichte und Kultur, wenn er das Wahrheitsgeschehen der Kunst ausbuchstabiert. In der Einleitung zu diesem Aufsatz erwähnte ich, dass Kunst, verstanden als etwas Aufdeckendes, durchaus Affirmation, Kritik und Transformation in sich vereinigen könne. Eine solche Vereinigung im Denken Heideggers habe ich bislang allerdings nicht identifiziert. Im letzten Abschnitt des Kunstwerkaufsatzes gibt es jedoch Stellen, die diese Vereinigung andeuten und meine bisherige Interpretation damit in gewisse Schwierigkeiten bringen. So behauptet Heidegger hier unter anderem, dass ein Werk nicht wirklich ein Maß vorgebe, sondern aufzeige, dass man solch ein Maß brauche: „Die aufgehende Welt bringt das noch Unentschiedene und Maßlose zum Vorschein und eröffnet so die verborgene Notwendigkeit von Maß und Entschiedenheit.“94 Außerdem beschreibt er das Werk als das Ungewöhnliche und „Ereignishafte“95. Durch das Kunstwerk geschehe nämlich eine „Verrückung“96, die dazu führe, dass „alles anders ist als sonst“97. Es weise das Bestehende sogar zurück und erlaube damit die Ankunft des Neuen: „Das Bisherige wird in seiner ausschließenden Wirklichkeit durch das Werk widerlegt.“98 Wenn Heidegger das Werk als Anstiftung zum Streit beschreibt und das Wahrheitsgeschehen in der staatsgründenden Tat und Ähnlichem verortet, dann legt wohl schon allein dies eine Interpretation nahe, der zufolge im Wahrheitsgeschehen ein bestehendes Maß nicht einfach artikuliert, sondern vielmehr infrage gestellt und abgelöst wird: „Die Wirkung des Werkes […] beruht in einem aus dem Werk geschehenden Wandel der Unverborgenheit des Seienden, und das sagt: des Seins.“99
94 Ebd., S. 50. 95 Ebd., S. 53. 96 Ebd., S. 55. 97 Ebd., S. 59. 98 Ebd., S. 63. 99 Ebd., S. 60.
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Diesen letzten Gedanken Heideggers kann ich sehr viel abgewinnen. Spätestens seit der Moderne ist es ja eine weitverbreitete Ansicht, dass Kunstwerke Bestehendes nicht nur artikulieren und illuminieren, sondern dass sie es infrage stellen und letztlich sogar eine neue Auffassung der Dinge motivieren. Lässt sich diese Position jedoch mit Heideggers Ausführungen zum Tempel beziehungsweise mit meiner Interpretation dieser Ausführungen vereinbaren? Mit Letzterem zumindest scheint diese Position nicht so leicht vereinbar zu sein. Schließlich behauptete ich, dass Heidegger zufolge der Tempel ein maßgebender Bezugspunkt für die antike Gemeinschaft der Griechen war. Von einer Kritik oder Herausforderung bestehender Normen und Praktiken sprach ich nicht. Und so lassen sich meines Erachtens auch mindestens zwei Ideen des Wahrheitsgeschehens der Kunst aus Heideggers Kunstwerkaufsatz gewinnen. Auf der einen Seite können wir dieses Geschehen nämlich so deuten, dass es eine bestehende Welt offenhält – beziehungsweise stets von Neuem eröffnet –, indem es diese in ihrem Wechselbezug zur Erde zeigt. Auf der anderen Seite können wir dieses Geschehen aber auch so deuten, dass es eine neue Welt eröffnet, indem es die alte infrage stellt und damit einen ganz neuen Streit zwischen Welt und Erde entfacht. Betrachten wir Heideggers Aufsatz in seiner Gänze – und vor allem seine Anspielungen auf Hölderlins Werk am Ende –, dann scheint die zweite Deutung eher Heideggers Position zu entsprechen. Auch van Goghs Gemälde unterstützen wie so viele andere Werke der Moderne wohl eher die zweite Deutung. Im Hinblick auf den antiken Tempel sowie im Hinblick auf viele andere Werke der Antike, des Mittelalters und vielleicht auch der Neuzeit scheint die erste Deutung allerdings eine gewisse Plausibilität zu behalten. Zumindest melden sich Zweifel an, ob die Trias von Affirmation, Kritik und Transformation so, wie sie sich in Heideggers letzter Fassung des Wahrheitsgeschehens der Kunst andeutet, zu allen Formen von Kunst passt. Eine Konsequenz hier könnte nun sein, an beiden Deutungen festzuhalten und zwischen Kunstwerken, die Normen artikulieren, illuminieren und handhabbar machen, sowie Kunstwerken, die Normen herausfordern und ändern, zu unterscheiden.100
100 Man könnte hier aber auch eine andere Konsequenz ziehen und behaupten, dass jedes wahre Kunstwerk ein bestehendes Maß zunächst umstößt, zur Aufstellung eines neuen Maßes beiträgt und Letzteres dann verfügbar hält. Der Tempel wäre dann einerseits konstitutiv für die Entstehung bestimmter Praktiken gewesen,
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Zum Abschluss möchte ich noch eine weitere Schwierigkeit benennen. Heidegger hat keine Sympathien für den Subjektbegriff. Die besondere Individualität des Künstlers spielt für ihn keine Rolle; und was immer durch ein Kunstwerk gezeigt wird, es hat ihm zufolge nichts mit der besonderen Sicht oder Perspektive eines bestimmten Individuums beziehungsweise Subjekts zu tun. Fragen wir nach dem Verhältnis von Kunst, Wirklichkeit und Affirmation, dann steht aber auch diese Position zur Diskussion: Das Werk zeigt oder bejaht die Wirklichkeit so, wie der Künstler oder ein von ihm bewusst oder unbewusst erschaffenes Subjekt sie erfährt. In der Philosophie der Kunst ist dies keine unbekannte Position.101 Mit seinem Kunstwerkaufsatz hat Heidegger sie fulminant herausgefordert, ohne allerdings explizit gegen sie zu argumentieren. Sein Gegenargument ist eher in seiner eigenen Position beziehungsweise in deren Plausibilität enthalten. Genauso wenig wie ich entschieden habe, in welchem Sinne – ob relativ oder absolut – eine Position überhaupt richtig sein kann, werde ich entscheiden, welche der hier angesprochenen Positionen die richtige ist. In diesem Aufsatz kam es mir einzig darauf an, Heideggers Philosophie der Kunst vor dem Hintergrund der eingangs gestellten Frage so transparent wie möglich zu machen und einige Probleme für diese Philosophie sowie für die Kunstphilosophie im Ganzen zu benennen.102
und andererseits hätte er für die lebendige Fortsetzung dieser Praktiken gesorgt. Darüber hinaus hätte er zunächst einen neuen Streit zwischen Welt und Erde angestoßen, um diesen dann in Gang zu halten. Gemäß dieser Interpretation vereinigt also jedes wahre Kunstwerk Kritik, Transformation und Affirmation. 101 Vgl. hierzu Arthur Danto: The Transfiguration of the Commonplace, Cambridge 1983, und Eva Schürmann: Sehen als Praxis, Frankfurt am Main 2008. 102 Für ihre Kommentare zu diesem Aufsatz danke ich Lotte Everts und Johannes Lang.
Dichtung und Wirklichkeit Dreieinhalb Paradigmen F RANK R UDA „Gedichte […] halten auf etwas zu. Worauf? Auf […] ein […] Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit. Um solche Wirklichkeiten geht es […] dem Gedicht.“ PAUL CELAN1 „[P]oetry is the interruption of art.“ PHILIPPE LACOUE-LABARTHE2
Dichtung und Wirklichkeit. Das „und“ bezeichnet ein Verhältnis. Aber welcher Natur ist dasselbe? In welcher Weise bezieht sich Dichtung auf Wirklichkeit? Die Philosophie ist darüber uneinig. Das zeigt ihre Geschichte. Im Folgenden werde ich paradigmatische Bestimmungen dieses Verhältnisses unterscheiden, um die Frage zu beantworten, in welcher Weise man das Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit als eines der Beeinflussung verstehen kann. Dabei gilt es zu klären, inwiefern Beeinflussung nicht nur einseitig (von Wirklichkeit zu Dichtung) gedacht werden
1
Paul Celan: „Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen“, in: ders.: Ausgewählte Gedichte, Frankfurt am Main 1968, S. 128.
2
Philippe Lacoue-Labarthe: The Experience of Poetry, Stanford 1999, S. 44.
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kann, sondern inwiefern auch Dichtung Wirklichkeit beeinflussen, verändern kann. Für diese Verhältnisbestimmung soll im Folgenden eine Internationale zu Wort kommen, die sich zusammensetzt aus einem Griechen, zwei Deutschen und einem Franzosen: Aristoteles, Heidegger, Brecht, Badiou. Ergänzt wird sie in einer Coda um einen weiteren Franzosen und einen Slowenen: Lacoue-Labarthe und Žižek.
E RSTES P ARADIGMA . E IN G RIECHE Man findet eine berühmte Bestimmung der Dichtkunst bei Aristoteles. Diese rührt vom Begriff des Wirklichen her. Sie lautet: Dichtung zeigt an, was in der Wirklichkeit möglich ist. Dichtung hat eine die Wirklichkeit erläuternde Funktion. Erläuterung meint dann: Dichtung zeigt und weist auf, was die Wirklichkeit als Wirklichkeit ausmacht. In Dichtung geht es genau deswegen immer um wirkliche Möglichkeiten. Diese Bestimmung ist bereits in Aristoteles’ Herleitung des Ursprungs der Dichtung eingetragen. Dichtung existiert, weil „das Nachahmen […] den Menschen angeboren“ ist und er sich so „von den übrigen Lebewesen unterscheidet“. Ebenso existiert deswegen die „Freude, die jedermann an Nachahmungen hat“.3 Weil Menschen Menschen sind, können sie nicht anders, als nachzuahmen. Menschen werden zu Menschen durch Nachahmung, das heißt auch durch Dichtung. Und wenn Nachahmung das Wesen der Dichtung ist, sind Menschen wirklich Menschen, wenn sie Dichter sind oder haben. In der Dichtung versichern sich Menschen des Menschseins und verwirklichen dieses. Das bereitet ihnen Freude. Dichtung ist keine zufällig entstandene Praxis, sondern eine Verwirklichungsform der natürlichen Gattungsbestimmung des Menschen. Dichtung ist Verwirklichung der Natur (des Menschen). Deswegen können Menschen ihrer Natur nach, wollen sie Menschen sein, auch nicht nicht nachahmen und dichten. Dichten ist menschliches Verwirklichungsgeschehen ebenso wie natürliche Vorgabe. In der und durch die Dichtung erfüllt der Mensch seine natürliche Pflicht, die ihn erst wirklich (Mensch) werden lässt. Das heißt: Dichtung ist eine verwirklichte Naturangelegenheit des Menschen. Sie zeigt damit nicht nur an, was sie nachahmt, sondern darüber, dass sie nachahmt, bestätigt und verwirklicht sie die Möglichkeit des Menschen in der sonstigen
3
Aristoteles: Poetik, Stuttgart 1982, S. 11.
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Wirklichkeit. Anders gesagt: Die menschliche Natur macht Dichtung nicht nur möglich oder wirklich, sie macht sie nötig, das heißt notwendig. Dichtung ist notwendiges Geschehen. Das heißt aber wiederum: Dichtung ist (verwirklichter und verwirklichender Teil der menschlichen) Natur. Die Wirklichkeit dieser Natur fordert Dichtung und macht es unmöglich, nicht zu dichten, da ansonsten die Möglichkeit des Menschen jenseits der Verwirklichung verbliebe und so keine wirkliche Möglichkeit wäre. Dichtung hat es daher nicht mit Unmöglichkeiten, sondern immer mit der (doppelten) Verwirklichung von Möglichkeit zu tun. Sie ist für den Menschen eine wesentliche Verwirklichung seiner Wirklichkeit. Dichtung selbst ist wesentlich mögliche Wirklichkeit, wirkliche Möglichkeit des Menschen als Mensch. Aristoteles’ erste These lautet also, dass Dichtung die Verwirklichung einer Möglichkeit des Menschseins und als solche Bestätigung der Wirklichkeit des Menschen im Rahmen der durch die (Gattungs-)Natur (des Menschen) festgelegten Möglichkeiten ist. Dichtung hat es deswegen auch wesentlich mit Handlungen zu tun. Nur dem Menschen ist zu handeln möglich, und als Handlung ist Dichtung dadurch Bestätigung der Wirklichkeit dieser Möglichkeit. Deswegen ist sie etwas natürlich Menschliches, denn Nachahmung ahmt nicht nur Handlung nach, sie ist auch selbst Handlung, Handlung zweiten Grades. Nachahmung, das Wesen der Dichtung für Aristoteles, geht so einher mit dem Erkennen der Möglichkeitskoordinaten wirklicher Handlung. Denn sie zeigt die Möglichkeit (der Handlung) in der Wirklichkeit und die Wirklichkeit der (Handlungs-)Möglichkeit auf. Nachahmung von Handlung ist ein Typ von Handlung, der überhaupt darlegt, was mögliche Handlung ist, indem er verwirklichend Möglichkeiten (in der Wirklichkeit als solcher) ausweist. „Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht die Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.“4 Dichtung stellt das dar, was wahrscheinlich und notwendig möglich ist. Damit empfängt aber Dichtung die Regeln des Gedichteten von der Wirklichkeit. Sie stellt dar, was dem Menschen möglich ist, gerade weil es der Wirklichkeit des Menschen entspricht, die Wirklichkeit seiner eigenen Möglichkeit darzustellen. Doch diese Darstellung kennt genaue Gesetzmäßigkeiten: das Mögliche, so die zweite These von Aristoteles.
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Ebd., S. 29.
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Dichtkunst hat es so mit Wirklichkeit zu tun, und zwar konstitutiv. Sie kann nicht anders gedacht werden als in Bezug auf Wirklichkeit, aber worauf sie sich bezieht, ist Wirklichkeit im Modus der Möglichkeit. Ihr Objekt ist die Möglichkeit, die durch die Wirklichkeit vorgegeben ist. Wirklichkeit ist für Dichtung wesentlich nicht Aufgabe, sondern Vorgabe. Ihre Beziehung zur Wirklichkeit ist eine normative, deren Norm die Wirklichkeit vorgibt. Obgleich es in ihr, wie Aristoteles mit Agathon festhält, wahrscheinlich ist, dass sich vieles gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt, ist noch das Unwahrscheinliche nicht unmöglich.5 Dichtung kennt nichts Unmögliches, weil Wirklichkeit nichts Unmögliches kennt. Erstere muss „in ihrer Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar“6 sein. Das Lebewesen, dem Dichtung vergleichbar sein muss, ist der Mensch. Der Mensch dichtet für den Menschen, weil der Mensch sich in der Dichtung seiner Natur gemäß seiner eigenen Wirklichkeit als Möglichkeit versichert. In der Dichtung ahmt der Mensch sich selbst als natürliches Lebewesen nach und wird so allererst Mensch (mit dem Bewusstsein natürlicher Lebewesen ausgestattet). Dichtung ist (Wiederholung der) Anthropogenesis. Sie ist Naturbestimmung des Menschen, eine logische Möglichkeit seiner Natur, das heißt biologische Erschließung der Möglichkeiten der Wirklichkeit und Verwirklichung der eigenen Möglichkeit. Biologie ist die Lehre vom wirklich und natürlich Möglichen. Das heißt, die Wirklichkeit der Dichtung ist natürlich. Dichtung als Verwirklichung der Natur ist Bestätigung von Wirklichkeit und Teil der Naturgeschichte des Menschen. Sie hat nichts Künstlerisches, sondern ist eine Möglichkeit, die die Wirklichkeit der Natur vorgibt.
Z WEITES P ARADIGMA . E IN D EUTSCHER „Wozu Dichtung in dürftiger Zeit?“, fragt Heidegger 1946 unter Rückgriff auf Hölderlin.7 Es geht ihm um eine – technisch ausgedrückt – Funktions-
5
Aristoteles zieht das „Unmögliche, das wahrscheinlich ist“, dem „Möglichen, das unwahrscheinlich ist“ vor. Jedes Unmögliche muss man „rechtfertigen“ und somit aus der wirklichen Unmöglichkeit zerren (ebd., S. 93).
6
Ebd., S. 77.
7
Martin Heidegger: „Wozu Dichter?“, in: ders.: Holzwege, Frankfurt am Main 2003, S. 269–320.
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bestimmung der Dichtung. Um aber – heideggerisch gesprochen – das „Wozu“ der Dichtung zu verstehen, gilt es zunächst, die Zeit zu verstehen, in welcher man nach ihrem Wozu fragt. Heidegger bestimmt die zeitgenössische Funktion der Dichtung, ihre Aufgabe in Anbetracht der Wirklichkeit einer Zeit, der Neuzeit. Diese Wirklichkeit, die Heidegger dürftig nennt, zeichnet sich dadurch aus, dass etwas in ihr fehlt. Die Bestimmung dieses Fehlens erlaubt folglich auch eine Bestimmung der Dichtung in Anbetracht ihrer zeitgenössischen Aufgabe. Wie fasst Heidegger die dürftige Zeit? Zunächst indem er behauptet, in ihr fehle nicht nur etwas, sondern sie sei überdies durch ein Vergessen geprägt. Das Vergessen betrifft „den Fehl Gottes“8; vorab hat „Gott“ den Grund (der Schöpfung) der Wirklichkeit, Zeit, Welt und des Menschen benannt. Nun ist mit dem Fehlen dieses Grundes9 auch jegliche Dimension verloren, die über die Wirklichkeit, so wie sie ist, hinausweist. Wieso wird aber für Heidegger mit dem Fehlen dieser Dimension jegliche die Wirklichkeit transzendierende Bezugsgröße vergessen? Weil „die Durft“10, die sich aus und mit dieser „transzendentalen Obdachlosigkeit“11 ergibt, vollständig „als der Bedarf erscheint, der gedeckt sein will“12 – das heißt, man redet nur in Begriffen des Bedarfs, des Bedürfnisses und vergisst, was diesen Bedarf generiert hat, nämlich dass etwas fehlt. Der Bedarf verschleiert seinen eigenen Ursprung, nämlich das Fehlen eines Grundes, der die Welt so sein lässt, wie sie ist. Das Bedürfnis behandelt die Wirklichkeit so, wie sie ist, ohne noch daran zu denken, was sie so sein lässt. Die Zeit, die Heidegger dürftig nennt, ist seinsvergessen. Das seinsvergessene Bedürfnis geht mit der Behauptung einher, dass es eine weltliche Erfüllung kennen kann – ein Objekt (in) der Welt, das das Bedürfnis befriedigt. Solange es aber ein solches (noch) nicht gibt, muss immer wieder der Versuch unternommen werden, es herzustellen. Der
8
Ebd., S. 269.
9
Heidegger erläutert so die Konsequenzen, die sich aus der Überzeugung ergeben, Gott sei tot. Vgl. auch Martin Heidegger: „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘“, in: ders.: Holzwege, S. 209–268.
10 Heidegger: „Wozu Dichter?“, S. 271. 11 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt/Neuwied 1987, S. 32. 12 Heidegger: „Wozu Dichter?“, S. 271.
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Mensch wird in so einer Wirklichkeit zum „Funktionär der Technik“13 und „in seinem Wesen bedroht“ durch die „Meinung, das technische Herstellen bringe die Welt in die Ordnung, während gerade dieses Ordnen […] [j]eden Rang in die Gleichförmigkeit des Herstellens einebnet“.14 Der Mensch einer solchen Zeit ist ein Mensch, der vor allem eines will: wollen. Ein Mensch, der sein Bedürfnis so schlichten will, dass er diesem alles unterordnet und so eine Ordnung stiftet, die „in sich die Art des Befehls“15 hat. Der Befehl richtet die Welt ganz nach dem Willen des Menschen ein und zu. Er ist „ein Zeichen für die Herrschaft des technischen Vorstellens“16 und damit ein Zeichen, das dem dichterischen Zeichen und der Sprache des Dichters gegenübersteht. Dieses Zeichen verstellt noch den Zugang zur Dichtung, da es sie als ein mögliches Objekt der Wirklichkeit (und des Bedürfnisses) ansieht. Diese Wirklichkeit impliziert eine Beziehung zur Dichtung, die diese zum Objekt, etwa zum Objekt „literaturhistorischer Forschung“17 macht. So aber wird noch der Dichtung ein „Marktwert“ zugeschrieben, der – wie Heidegger in eigentümlicher wie treffender Formulierung festhält – auf dem Markt erscheint, „der nicht nur als Weltmarkt die Erde umspannt, sondern der als der Wille zum Willen im Wesen des Seins marktet und so alles Seiende in das Handeln eines Rechnens bringt, das dort am zähesten herrscht, wo es der Zahlen nicht bedarf“.18 Auch Dichtung gilt nur dann als wirklich, als Teil der Wirklichkeit, wenn sie (als) etwas zählt. Wenn sie etwas zählt für das Bedürfnis des Menschen – für ein Bedürfnis, das auf dem Willen basiert, immer nur mehr zu wollen.19 Die Zahl als Zeichen der technischen Herrschaft des Herstellens schreibt Gegenständen einen objektiven Wert zu, einen Marktwert, der – für Heidegger, der hier wie Marx klingt – so verfasst ist, dass man das Objekt in ein „erdachte[s] Gebilde“ verwandelt, das nur „für die Vernutzung
13 Ebd., S. 294. 14 Ebd., S. 295. 15 Ebd., S. 289. 16 Ebd., S. 290. 17 Ebd., S. 274. 18 Ebd., S. 292. 19 Zur Struktur des Willens zum Willen: Martin Heidegger: Nietzsche, Bd. 1, Stuttgart 1961.
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hergestellt“20 ist. Alle Dinge werden zu „errechneten Gegenstände[n]“, „[d]as Verrechnete wird zur Ware gemacht“, und für jede Ware muss es einen möglichen Ersatz geben – so „bewegt sich der Mensch im Medium der Geschäfte und der ‚Wechsel‘“21. Das Gedicht ist aus dieser Perspektive nur eine Ware unter anderen, der ein Wert zukommt und die ein gewisses Bedürfnis befriedigt. Das, was Dichtung sagt, wird im Horizont dessen gedacht, was die Wirklichkeit als errechenbare, kalkulierbare, wahrscheinliche Möglichkeit vorgibt. Dichtung wird zu einem Objekt „der von Satz zu Satz sich fortsetzenden Vernunft“ gemacht – die „Logik der Vernunft ist“ aber „selbst die Organisation der Herrschaft des vorsätzlich Sichdurchsetzens im Gegenständigen“.22 Dann hat man es in der Wirklichkeit und aus dieser heraus mit einem objektiven Bezug auf ein Objekt namens Dichtung zu tun. Ist Dichtung aber nicht Befriedigung eines er- wie verrechenbaren Bedürfnisses, zählt sie nicht(s). Anders gesagt: Zählt Dichtung etwas, hat sie einen objektiven Wert und wird so zu einer Ware unter vielen, zu einem Objekt neben anderen. Auf diese Weise ist Dichtung bestimmt von der Wirklichkeit (des Marktes) und als Dichtung abgeschafft. Ist sie aber nicht einfach ein weiteres vermarktbares Objekt der Welt, dann bedeutet das, dass sie objektiv nichts zählt, keinen Marktwert besitzt. So zählt Dichtung nicht wirklich. Entweder ist Dichtung eine Ware unter anderen Waren, dann zählt sie etwas, ist aber keine Dichtung. Oder sie ist etwas anderes als Ware, dann ist sie zwar Dichtung, zählt aber nichts. Wozu also Dichtung, wenn sie in der neuzeitlichen Wirklichkeit zwischen Warencharakter und Nicht-Sein oszilliert? Wenn die Wirklichkeit von dem Vergessen gekennzeichnet ist, dass der Welt ein Grund fehlt, dann zeigt Dichtung an, dass sich nicht einfach ein (innerweltlicher) Ersatz für diesen Grund finden lässt. Wenn man den Grund der Wirklichkeit, der fehlt und deswegen von Heidegger als „Abgrund“23 qualifiziert wird, einfach durch ein Objekt (in) der Wirklichkeit ersetzen könnte, wäre die Zeit wie ihre Wirklichkeit nicht dürftig. Das heißt, es gäbe kein Bedürfnis, wäre dies nicht von einem Fehlen, einem Mangel ausgelöst. Dichtung ermöglicht
20 Heidegger: „Wozu Dichter?“, S. 308. 21 Ebd., S. 308, 313, 314. 22 Ebd., S. 311. An dieser Stelle vermerkt Heidegger auch: „Nur innerhalb der Metaphysik gibt es Logik.“ 23 Ebd., S. 270.
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aber, anders mit diesem Mangel umzugehen. Das kann sie, weil sie immer mehr und weniger sagt, als sie objektiv sagt. Dichtung übersteigt und unterschreitet den objektiven Gehalt dessen, was man in einem Gedicht liest. Sie spricht auch immer etwas „Ungesprochene[s]“24 mit aus und konfrontiert mit einem Mangel in der Sprache. Das meint, dass sie anzeigt, dass sich nicht alles auf das bloß Vorhandene reduzieren lässt, in welchem das Bedürfnis seinen Ort findet. Sie bringt vielmehr „das Verschwiegene“ zum Ausdruck, das, was ansonsten vergessen wird, „das zu Sagende“25. Das zu Sagende ist das Fehlen. Wie aber sagt man Fehlen? Wenn Dichtung etwas Verschwiegenes zum Ausdruck bringt, dann nicht indem sie es einfach (nicht) sagt, sondern indem sie es mit-sagt. Zunächst heißt das, dass Dichtung erinnert. Dichtung ist Erinnerungsarbeit. Sie erinnert an das Fehlen des Grundes, an den Abgrund, und ermöglicht zudem „einige Merkpfähle auf dem Pfad zum Abgrund auszustecken“26 – das heißt, sie sagt etwas über den Abgrund, etwas, das man nur so sagen kann, dass man es im Sagen nicht sagt. Dichtung, genauer: wirkliche Dichter können das Verschwiegene mitsagen, weil ihnen „das Wesen der Dichtung frag-würdig wird“27. Bezieht man sich auf Dichtung in einem nichtobjektiven Sinne, bezieht man sich auf sie als etwas Frag-würdiges28, das heißt als etwas, das die Frage danach
24 Ebd., S. 273. Dass Heidegger deswegen vor allem das Ungesprochene nicht einfach nur als ein Nicht-Gesprochenes auslegt, hat ihm einige Kritik eingebracht – Kritik am „unwissenschaftlichen Vergewaltigen“ (ebd., S. 274) der Dichtung. Diese Kritik ist wiederum dadurch motiviert, dass sie einen objektiven Anhaltspunkt für die Auslegung der Dichtung einfordert, den es nach Heidegger gerade nicht geben kann. 25 Ebd., S. 318, 319. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Der psychoanalytisch geschulte Leser mag in der Gegenüberstellung der objektiven Logik des Bedürfnisses und der Fragwürdigkeit der Dichtung die Unterscheidung von männlicher (vollständig auf objektive Bedeutung setzender) und weiblicher (den Widerstand der Sprache und die Leere der Bedeutung markierender) Logik der Sexuierung erkennen. Aus einer solchen Perspektive kann man sagen, dass Heidegger einerseits die berühmte Frage Freuds aufnimmt und modifiziert, indem er fragt: „Was will die Dichtung?“ (sie will nichts), anderer-
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stellt, was es eigentlich ist. Dichtung ist Frage. Sie fragt danach, was Dichtung angesichts der Wirklichkeit überhaupt ist. Genau durch diese Fragwürdigkeit wird aber zugleich ein anderes Verhältnis ermöglicht. In diesem Sinne erinnern die Dichter daran, dass „Dichten auch die Sache eines Denkens sei“29 – eines Denkens, das über die Wirklichkeit, wie sie ist, hinausführt. Wirklichen Dichtern wird Dichtung zur Frage, und so befragen sie zugleich die Wirklichkeit, indem sie beide von der Herrschaft des Bedürfnisses befreien. Die Selbstbefragung der Dichtung erinnert daran, dass es etwas gibt, das nicht(s) zu zählen scheint. Dies ermöglicht ein „Erretten der Dinge aus der bloßen Gegenständlichkeit“30, da erinnert wird, dass noch jede objektive Beziehung zu Objekten in etwas gründet, das in derselben nicht aufgeht. Heidegger führt dies in einer Auslegung Rilkes vor. Rilkes Dichtung spricht für ihn von dem, was eine Welt und Wirklichkeit gründet und aufrechterhält. Sie spricht ein anderes Verhältnis an und aus. Sie spricht ihren Grund an als das, was „Wagnis schlechthin“31 ist – das heißt, sie erinnert daran, dass man sich wagen muss, den Grund, selbst wenn er Abgrund ist und sich nicht sagen lässt, zu sagen. Dichtung setzt uns in ein Verhältnis zum Grund der Welt und Wirklichkeit, sodass „[d]er Mensch […] der Welt gegenüber“32 steht. Die Welt und Wirklichkeit wird durch Dichtung zu einem Gegenüber, das nicht länger nur Gegenstand oder Objekt ist. Sie ermöglicht etwas, das in der Wirklichkeit nicht möglich ist, weil es in Vergessenheit geraten ist, nämlich ein nichtobjektives Verhältnis zur Welt. Auf diese Weise erscheint aber die Wirklichkeit als andere. Dichtung ist in diesem Sinne ent-setzlich, da sie sowohl unseren festen Sitz in der Wirklichkeit als auch unsere am Bedürfnis orientierten Setzungen ent-setzt und infrage stellt. Indem sie aber die Frage nach dem Verhältnis zur Wirklichkeit überhaupt stellt, dieses Verhältnis überhaupt wieder frag-
seits aber damit die Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit zur Frage nach dem sexuellen Verhältnis (dem von Mann und Frau) wird. Zu den Logiken der Sexuierung in der Psychoanalyse vgl. Slavoj Žižek: Less Than Nothing. Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism, London/New York, S. 739–804. 29 Heidegger: „Wozu Dichter?“, S. 277. 30 Ebd., S. 308. 31 Ebd., S. 279. 32 Ebd., S. 286.
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lich werden lässt, geht sie „jedes Seiende an“33, und zwar auf eine andere Weise als der Markt. In ihr ist „[d]ie ganze Sphäre der Präsenz […] gegenwärtig“34, weil das Ganze der Wirklichkeit durch sie fragwürdig wird. Dichtung weist so die Nicht-Notwendigkeit der Wirklichkeit, ihre immanente Abgründigkeit auf. Wirkliche Dichtung erinnert an ein anderes, schon immer verdecktes Verhältnis zur Wirklichkeit, indem sie etwas Verdecktes als Verdecktes präsentiert. Sie erinnert, indem sie etwas Ungesagtes als Ungesagtes gegenwärtig macht – Heidegger spricht vom „Anwesen im Anwesenden selbst“35 –, und gerade dies ermöglicht ihre Auslegung. Anders als bei Aristoteles ist die Möglichkeit (der Dichtung) nicht mehr durch die Wirklichkeit vorgegeben, nicht mehr objektiver Teil von ihr.36 Dichtung problematisiert vielmehr diese Vorgabe, indem sie ihre eigene Möglichkeit und damit überhaupt das Mögliche wie Wirkliche infrage stellt. Dichtung ist Befragung der Wirklichkeit als Erinnerung an eine andere Möglichkeit. Durch sie ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit zu denken – und das heißt Dichtung zu denken – ist ein Wagnis, weil man jeglichen Halt in der Objektivität verliert. Aus der Perspektive der Wirklichkeit ist Dichtung genau deswegen unmöglich (sie ist entweder überhaupt nicht oder ein Objekt unter vielen und daher nicht). Dichtung ist unmöglich, da sie den Blick auf den Abgrund möglich macht, die Möglichkeit der Wirklichkeit entreißt und ihr eine andere eröffnet. Deswegen ist in ihr nicht nur etwas Ungesagtes gegenwärtig, sondern immer auch ein „‚mehr‘“37. Dieses „mehr“ korrespondiert dem „weniger“ des Ungesagten. Ersteres liegt darin, dass sie die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und (fehlendem) Grund überhaupt wieder als Frage möglich macht. Letzteres zeigt Dichtung als Überschuss an Möglichkeit durch Präsentation eines Mangels. Ihr Überschuss erscheint als eine andere Möglichkeit, die einen „reinen Bezug“38 einsetzt – ein nichtobjektives Verhältnis zur Wirklichkeit. Dich-
33 Ebd., S. 309. 34 Ebd., S. 311. 35 Ebd., S. 316. 36 Ich lasse an dieser Stelle den von Heidegger als physis in Anschlag gebrachten Naturbegriff außer Acht, der – entgegen dem Anschein – die Differenz zu Aristoteles noch verschärfen würde. 37 Ebd., S. 310. 38 Ebd., S. 311.
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tung macht Wirklichkeit wieder möglich: Sie zeigt die Wirklichkeit der Welt als Möglichkeit des Menschen dem Menschen auf. Sie stiftet so eine neue Denkbarkeit; die einer vorab verborgenen Möglichkeit und hat genau in diesem Sinne etwas Ereignishaftes. Versteht man Dichtung wirklich – als Denken –, ist dieses Verstehen eine andere Beziehung zur Wirklichkeit. Der Mensch wird durch Dichtung aus der Wirklichkeit herausgerissen und kann sich, wie Heidegger siebzehn Jahre zuvor formuliert hat, als „Platzhalter des Nichts“39 verstehen, das heißt als das, was an Stelle des Abgrunds, des fehlenden Grunds steht. Dichtung spricht eine andere Wirklichkeit als die Wirklichkeit der Welt, wie sie ist, aus. Sie spricht von der Wirklichkeit des Menschen als einer wesentlich unbestimmten und deswegen möglichen. Der reine Bezug, den Dichtung zur Wirklichkeit ermöglicht, ist rein, weil weder der Mensch noch die Wirklichkeit in diesem schon bestimmt sind. Die wirkliche Welt ist, was dem Menschen offensteht. Dieses Offene schien durch das Vergessen unmöglich. An es erinnert die Dichtung. Daran, dass die Welt Möglichkeit für den menschlichen Entwurf ist, kann sie aber nur erinnern, wenn sie den Menschen aus der Welt nimmt, ihn in den Abgrund derselben stellt. So versichert Dichtung dem Menschen die Möglichkeit, sich in der Welt und die Welt zu entwerfen. Es geht Dichtung mit Rilkes Wort um „das Offene“40. An dieses wird dann erinnert, wenn das, was die Wirklichkeit so sein lässt, wie sie ist, gedacht wird, das heißt wenn Sein gedacht wird. Sein ist der abgründige Grund, der sein lässt, was ist, und den der Mensch denken muss. Das Denken dieses Grundes ist, was Dichtung als Sagen des Ungesagten leistet. Sie ändert nicht die Wirklichkeit, sie macht nur deutlich, dass es das Sein ist, das uns sein lässt. So entstehen keine neuen Möglichkeiten, nur verdeckte kommen ans Licht, und man kann verstehen, dass es des Seins „Geschick“ ist, das „entscheidet“41 – über uns, über Dichtung, über Wirklichkeit. Dichtung ist ereignishaft, weil sie uns an das Sein erinnert und damit an eine verstellte, aber als fehlende immer noch anwesende Möglichkeit wirkmächtiger Wirklichkeit (des Seins).
39 Martin Heidegger: „Was ist Metaphysik?“, in: ders.: Wegmarken, Frankfurt am Main 1996, S. 118. 40 Heidegger, „Wozu Dichter?“, S. 287 ff. 41 Ebd., S. 320.
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D RITTES P ARADIGMA . E IN D EUTSCHER , EIN F RANZOSE Bertolt Brecht schreibt Anfang der dreißiger Jahre folgendes Gedicht: „Zum Umsturz aller bestehenden Ordnung aufzurufen Scheint furchtbar. Aber das Bestehende ist keine Ordnung. Zur Gewalt seine Zuflucht zu nehmen Scheint böse. Aber da, was ständig geübt wird, Gewalt ist Ist es nichts Besonderes. Der Kommunismus ist nicht das Äußerste Was nur zu einem kleinen Teil verwirklicht werden kann, sondern Vor er nicht ganz und gar verwirklicht ist Gibt es keinen Zustand, der Selbst einem Unempfindlichen ertragbar wäre. Der Kommunismus ist wirklich die geringste Forderung Das Allernächstliegende, Mittlere, Vernünftige. Was sich gegen ihn stellt, ist nicht ein Andersdenkender Sondern ein Nichtdenker oder ein Ansichdenkender Ein Feind des Menschengeschlechtes Furchtbar Böse Unempfindlich Besonders Das Äußerste wollend, was selbst zum kleinen Teil verwirklicht Die ganze Menschheit ins Verderben stürzte.“
Sein Titel lautet „Der Kommunismus ist das Mittlere“42. Haben wir es hier mit einer von der Wirklichkeit vorgegebenen Möglichkeit zu tun, die sich im Gedicht ausgesprochen findet? Es scheint nicht so. Was Brechts Gedicht zur Sprache bringt, ist nicht etwas Mögliches. Es geht dem Gedicht vielmehr um die Behauptung einer anderen Möglichkeit für die Wirklichkeit.
42 Bertolt Brecht: „Der Kommunismus ist das Mittlere“, zit. n. Erdmut Wizisla, Benjamin und Brecht, Frankfurt am Main 2004, S. 272.
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Doch eine Behauptung kann etwas in die Existenz bringen, das in (der) Wirklichkeit noch nicht existiert. Es handelt sich hier um eine affirmative Behauptung (in) der Dichtung. Mit dieser wird aber nicht Wirklichkeit affirmiert (und auch keine vorgegebene Möglichkeit verwirklicht). Hat man es mit Erinnerungsarbeit zu tun? Es lassen sich einige Moment von Heideggers Bestimmung der Dichtung aufnehmen: Das Gedicht erinnert daran, dass die Wirklichkeit, wie sie ist, nicht alles ist. Jedoch geschieht dies im Gedicht, indem etwas behauptet, etwas affirmiert wird, das den Namen Kommunismus trägt. Vielleicht sollte man zunächst fragen: Wieso ein Gedicht über den Kommunismus? Es handelt sich bei diesem nicht um den Ausdruck einer politischen Verirrung Brechts. Auch nicht um Blindheit gegenüber dem Leid, das in den Ländern des sogenannten wirklich existierenden Sozialismus existierte. Vielmehr, so hat Badiou zu zeigen versucht, lässt sich eine andere Verbindung von Dichtung und Kommunismus annehmen.43 Wieso? Das Medium der Dichtung ist die Sprache – in den meisten Fällen die Muttersprache des Dichters –, die wiederum ein Gemeingut ist. Der Dichter ist für Badiou derjenige, der versucht, in einer Sprache Dinge sagen zu lassen, die sie zu sagen unfähig scheint. Dichtung sagt das, was vor ihr unsagbar war, und trägt so eine neue Sagbarkeit, eine neue Denkbarkeit in die Sprache, die allen gegeben ist, ein. Dichtung44 ist so auch für Badiou notwendig ein Denken – ein Denken, das sich sogar selbst als solches „identifiziert“45 –, aber eines, das nicht etwas Vergessenes freilegt und öffnet, sondern vielmehr „das, was die Sinnenwelt vermag […], kraftvoll“46 durch „ein singuläres Verfahren“47, das heißt durch eine einzigartige Artikulation übertrifft. Dichtung ist übermäßig sinnlich, übersinnlich, weil sie etwas Singuläres in singulärer Weise zum Ausdruck
43 Ich orientiere mich im Folgenden an Alain Badiou: „Poesie und Kommunismus“ (unveröffentlichtes Typoskript). Badiou geht bei seinen Überlegungen von dem Faktum aus, dass viele große Dichter des 20. Jahrhunderts selbsterklärte Kommunisten waren. 44 Zur Unterscheidung von Dichtung und Gedicht, die ich hier aus Platzgründen vernachlässige: Alain Badiou: Kleines Handbuch zur In-Ästhetik, Wien 2011, S. 45. 45 Ebd., S. 32. 46 Ebd., S. 33. 47 Ebd., S. 36.
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bringt, das durch sie und nur durch sie gewesen sein wird. Sie ist übersinnlich, weil in ihr „die Schreibweise […] das Denken selbst, als solches“48 ist. Man kann nicht zwischen dem, wie Dichtung sagt, und dem, was sie sagt, unterscheiden – so denkt man Ununterscheidbarkeit als das, was in Dichtung benannt wird. Sie benennt auf diese Weise in einer Sprache, was vor dem Gedicht keinen Namen hatte, und es ist ihr wesentlich, diese Schöpfungen in der Sprache ebenso allgemein, ebenso kommun zu verstehen wie die Sprache selbst. Für Badiou hat dichterische Benennung den Charakter der Behauptung, der Deklaration, weil in ihr etwas Ununterscheidbares – das entscheidende Kriterium dessen, was er Ereignis nennt49 – in der Sprache zur Sprache kommt und so die unmöglich scheinende Möglichkeit eines Ereignisses, das den Gang der Wirklichkeit fundamental zu ändern vermag, affirmiert. Dichtung ist supplement der Sprache, indem sie selbst die Unmöglichkeit eines solchen supplements möglich gemacht haben wird. Sie ist wesentlich Selbstbehauptung und als solche Affirmation einer Denkbarkeit grundsätzlicher, ereignishafter Veränderung der Wirklichkeit. Sie ist eine ereignishafte Hinzufügung zur Sprache, die an alle adressiert ist. Wie die Sprache ist sie damit allen gemeinsam, und dies erklärt für Badiou die interne Verbindung zum Kommunismus. Dichterische Ereignishaftigkeit ist direkt bezogen auf eine Veränderung der Wirklichkeit (der Sprache), indem sie affirmiert, dass etwas Unmögliches (etwas Unbenennbares in der Sprache) möglich gewesen sein wird. Auch Brechts Gedicht bejaht eine Möglichkeit, die unmöglich erscheint. Die dichterische Bejahung ist somit auch bei Brecht immanent schöpferisch. Es geht jedoch nicht um eine Möglichkeit, die in der Wirklichkeit oder im Sein selbst angelegt ist und die der berechnenden Vernunft opponiert. Brecht spricht die unmögliche Möglichkeit als Normalstes, als Mittleres, Vernünftiges an. Sein episches Gedicht spricht von einer minimalen Forderung, von dem, was nicht monströs oder gewalttätig ist. Es fordert, dass man vernünftig sei. Dass man denke. Ansonsten gibt es keine wirkliche Wirklichkeit. Brechts Gedicht de-realisiert, ent-wirklicht die Wirklichkeit und deklariert affirmierend die Möglichkeit von etwas Unmöglichem (als Vernünftigem). Brechts Dichtung, die für Badiou als paradigmatisch gelten kann, erinnert affirmierend daran, dass der Mensch ein Wesen ist,
48 Ebd., S. 59. 49 Vgl. dazu etwa Alain Badiou: Bedingungen, Zürich 2011.
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das zu Denken im Stande ist. Doch Denken – das zeigt Dichtung – bescheidet sich nicht mit von der scheinbaren Wirklichkeit vorgegebenen Möglichkeiten, es sucht auch keine vergessenen auf. Denken erschafft neue Möglichkeiten, die die Wirklichkeit supplementieren, verändern. Daher brandmarkt das Gedicht jede solche Beschränkung selbst als Gewalt, als Abschaffung des Denkens. Dichtung affirmiert (sich als) Denken, weil sie zeigt, dass man etwas jenseits der Möglichkeit affirmieren (und schöpfen) kann. Brechts Gedicht – und für Badiou alle wirkliche Dichtung – ist ein Beweis des Kommunismus in der Kunst, weil dieser politisch auf der Bejahung einer nicht möglich scheinenden Möglichkeit beruht. Dichtung erinnert in diesem Sinne, indem sie bejaht, und sie bejaht, indem sie erinnert. Sie erinnert daran, dass es Denken geben kann, dass das Unmögliche möglich gewesen sein kann, wenn es ein Ereignis (des Denkens) gegeben haben wird. Und sie erinnert in performativer Weise: indem sie selbst im Akt des Erinnerns etwas Unmögliches tut. Dichtung affirmiert, behauptet, deklariert und bringt genau auf diese Weise etwas vorab nicht Existentes in die Existenz. Sie ist konstitutiv affirmativ, obgleich nie apologetisch (wie bei Aristoteles). Sie ermöglicht ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit, weil sie etwas affirmiert, was in der Wirklichkeit (und ihrer Sprache) nicht existiert. Damit ist dichterisch erinnernde Bejahung auch Schöpfung; Schöpfung einer anderen und das heißt neuen Wirklichkeit. Dichtung ruft zur Vernunft – das ist, was Brechts Gedicht zum Ausdruck bringt. Weder haben wir es hier mit Dichtung als Verwirklichung vorgegebener Möglichkeiten noch mit einem Freilegen von verstellten Möglichkeiten zu tun. Dichtung ist vielmehr das, was Wirklichkeit deswegen verändert, weil schon die Existenz wirklicher Dichtung eine Veränderung der Wirklichkeit (der Sprache) ist, indem sie etwas Inexistentes in die Existenz bringt – sie ist Unmögliches, das möglich gewesen sein wird. Sie ist somit immer auch Benennung der unmöglichen Möglichkeit eines Ereignisses überhaupt – sie affirmiert in je singulärer Weise die Idee, dass etwas geschehen kann, was in der Wirklichkeit zuvor unmöglich schien, weil sie etwas ist, das vorab unmöglich schien. Indem sie dies tut, affirmiert sie, dass es Denken, das heißt die Schöpfung neuer Möglichkeiten geben kann.
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Für Philippe Lacoue-Labarthe kommt in Dichtung eine singuläre Erfahrung zum Ausdruck. Dichtung, indem sie es dem Verstehen schwer macht, artikuliert auch immer die grundlegende Frage nach Bedeutung überhaupt – die Frage, ob Sprache diese Erfahrung überhaupt bezeichnen kann. Das führt für ihn dazu, dass moderne Dichtung – paradigmatisch die Celans – so verstanden werden muss, dass sie gerade die Unmöglichkeit, eine singuläre Erfahrung zu fassen, in Sprache fasst. So ist Dichtung Übersetzung von Erfahrung – sie hat die Struktur dessen, was Freud sekundäre Bearbeitung nannte, die, anders als häufig angenommen, nicht erst beim Erzählen eines Traums, sondern in diesem selbst bereits wirksam ist. Dichtung als Übersetzung einer singulären Erfahrung in die Sprache „contains its own translation, which is a justification of the idiomatic. […] [T]he problem then becomes knowing what it explicitly translates.“50 Das erklärt, warum sie spricht wie ein Stotterer, wie ein Schluckauf (in) der Sprache. Dennoch ist sie nicht nur Absage an Bedeutung, sondern ein Versuch, wirkliche Singularität zur Sprache zu bringen – etwas, das „puts holes in life“51; der Versuch, diese Löcher im Leben, diese Aushöhlungen des Wirklichen als Löcher in Sprache auszusprechen. Dabei trifft sie immer auf die Unmöglichkeit, die mit diesem „pure wanting-to-say nothing“52, das Dichtung ist, einhergeht. In ihr findet man ein radikal Unaussprechliches, das sich der Sprache entzieht, ihre Grenzen übersteigt und nur in bearbeiteter, übersetzter Weise, die sich dennoch der Bedeutung sperrt, zum Ausdruck kommt. Slavoj Žižek hat Adornos Wort, dass alle Dichtung nach Auschwitz barbarisch ist, umgewendet: „[I]t is not poetry that is impossible after Auschwitz, but rather prose. […] [W]hen Adorno declares poetry impossible (or, rather, barbaric) after Auschwitz, this impossibility is an enabling impossibility.“53 Die Erfahrung von Auschwitz ist so singulär, dass sie sich nur in poetischer und nicht in prosaischer Weise sagen lässt. Dichtung fällt damit nach Auschwitz nicht selbst einem Vergessen dieser Erfahrung anheim. Vielmehr ist diese Erfahrung die eines Traumas, eine Erfahrung, die
50 Ebd., S. 18. 51 Ebd., S. 20. 52 Ebd. 53 Slavoj Žižek: Violence. Six Sideways Reflections, London 2008, S. 4.
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die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung durchbricht. Solch eine Erfahrung lässt sich daher nur in einer Weise sagen, die die Sprache selbst zerlöchert. Nur in Dichtung ist es möglich, eine Erfahrung so singulären Charakters, eine Erfahrung der zerlöcherten und zerlöchernden Wirklichkeit auszusprechen. Dichtung vermag so die Inkonsistenzen, die Löcherung der Wirklichkeit noch in ihrer radikal negativen Dimension zur Sprache zu bringen. Das bedeutet aber auch, dass das, was so bearbeitet zur Sprache kommt, gedacht werden kann, weil es bereits gedacht worden ist. Singuläre Erfahrung ist nichts Undenkbares für und in Dichtung. Denn Dichtung ist Denken noch der negativen Singularität der Erfahrung und fasst so das, was in der Wirklichkeit wie eine Lücke, eine Leere erscheint. Damit vermag sie aber nicht nur traumatische Erfahrungen in Sprache zu übersetzen, sie vermag es auch, das Moment der Löcherung der Wirklichkeit zur Sprache zu bringen, das am Anbeginn jeder wirklichen Veränderung von Wirklichkeit steht. Aus diesem Grund gibt es so unzählige Liebesgedichte. Dichtung ist Denken noch dessen, was (positiv wie negativ) undenkbar scheint. Wirkliche Dichtung ist immer Schöpfung neuer Denkbarkeit, neuer Möglichkeiten. Die Affirmation der unmöglichen Möglichkeit einer anderen Wirklichkeit.
„What does one see then?“ Perspektivwechsel mit Eija-Liisa Ahtila L OTTE E VERTS „Die Anderen sind ebenfalls da (sie waren schon da mit der Gleichzeitigkeit der Dinge), zunächst nicht als Geister, nicht einmal als ‚Psychismen‘, aber zum Beispiel in der Art, wie wir mit ihnen im Zorn oder in der Liebe in Berührung kommen. Es sind Gesichter, Gebärden, Worte, auf die wir mit unseren Blicken, Gebärden und Worten antworten, ohne ein Denken dazwischen zu setzen [...]; jeder trägt die Anderen in sich und wird durch sie in seinem Leib bestätigt.“ MAURICE MERLEAU-PONTY1
Ich glaube entgegen den üblichen Deutungen, dass sich die Arbeit EijaLiisa Ahtilas als Beispiel für eine affirmative, das heißt nicht skeptische und hier auch nicht medienkritische zeitgenössische Videokunst anführen lässt. Mit nicht skeptisch meine ich, dass Ahtilas Arbeiten es nicht nahele-
1
Maurice Merleau-Ponty: „Der Philosoph und sein Schatten“, in: ders.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, hg. v. Christian Bermes, Hamburg 2003, S. 274.
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gen, von der Subjektivität einer Wirklichkeitserfahrung auf die Konstruiertheit oder Künstlichkeit der so erfahrenen Wirklichkeit zu schließen. Stattdessen geht es in ihnen um Wirklichkeitserfahrungen, die sich durch die Möglichkeit des Perspektivwechsels als intersubjektiv zugänglich erweisen. ‚Nicht medienkritisch‘ soll heißen, dass die Videoinstallation, das heißt das mechanisch und technisch basierte Kunstwerk, nicht die Entstellung der Wirklichkeit in den Vordergrund stellt, die sie möglicherweise vornimmt. Das Kunstwerk ist vielmehr als Vehikel einer Wirklichkeitserfahrung zu verstehen und zu verwenden – es vermittelt Wirklichkeit. Um zu zeigen, dass Ahtilas Videoinstallationen weder in skeptischer noch in medienkritischer Perspektive angemessen zu fassen sind, analysiere ich im Folgenden zwei ihrer Arbeiten. Das Stück If 6 Was 9 von 1995 steht dabei exemplarisch für Ahtilas Arbeiten der neunziger Jahre, mit denen sie bekannt geworden ist und die bis heute als charakteristisch für die Künstlerin gelten. Die andere Arbeit, The Annunciation, entstand 2010. Während das vermittelnde Verhältnis zur Wirklichkeit in den charakteristischen Arbeiten der Neunziger eher implizit ist, wird die Möglichkeit solcher Vermittlung zu Beginn von The Annunciation explizit bezweifelt (worin ich auch eine Revision der früheren Arbeiten sehe). Im Zusammenhang des vorliegenden Bandes möchte ich zeigen, dass dennoch beide Arbeiten affirmativ sind, insofern sie Wirklichkeit vermitteln, anstatt sie letztlich infrage zu stellen. Und dass sie transformativ sind, insofern sie es ihren BetrachterInnen ermöglichen, andere und neue Aspekte dieser Wirklichkeit zu erfahren. Beide Arbeiten sind deswegen meines Erachtens nicht unkritisch. Sie sind nur unkritizistisch. Das soll heißen: In der Auseinandersetzung mit ihnen werden die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung zwar virulent, sie werden aber nicht verdächtigt, die zu erfahrende Wirklichkeit zu verfälschen. Die hier so genannten charakteristischen Arbeiten Eija-Liisa Ahtilas – If 6 Was 9, Today (1996/97) oder auch The House (2002) – entstanden im Kontext des erkenntnis- und medienkritisch dominierten Kunstdiskurses der 1990er Jahre. Zu ihren typischen Eigenheiten zählen zum einen unklare zeitliche Abläufe und unbestimmte räumliche Zusammenhänge. Zum anderen ist immer wieder zweifelhaft, wer die ProtagonistInnen sind, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, ob ihre DarstellerInnen zwischendurch die Rollen wechseln und auch ob diese tatsächlich schauspielern oder vielleicht ‚nur‘ dokumentiert werden. Solche Charakteristika galten inner-
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halb des genannten Diskurses, etwa für Peter Weibel, als „visuelle Symptome einer vollends künstlichen, konstruierten Wirklichkeit“2. Künstlich ist die Wirklichkeit aus dieser Sicht, weil sie unter Einfluss der (Massen-)Medien nach und nach durch ihre eigene mediale Repräsentation ersetzt wird. So schreibt etwa Beatrix Ruf: „Die Bildwelten sind ein konstitutiver Teil unserer Wirklichkeit. Der Wirklichkeitsverlust durch die Medien wird zwar schon seit Anfang unseres Jahrhunderts problematisiert, die Perfektion der Massenmedien, die Privatisierung der Möglichkeit, Bilder zu produzieren, die Wirklichkeit ins Filmische, ins Bild zu verwandeln, wird aber zunehmend präsenter.“3
Entsprechend muss sich das moderne Subjekt „zwischen privaten und medial vermittelten, öffentlichen Bildern […], zwischen Realitätskontrolle und individueller Wirklichkeitskonstruktion“ orientieren und verändert sich hierdurch stark. Es ist fortan ein „aus multiplen Elementen geschnürtes Bündel von Konstellationen, Konzepten und Dramaturgien“ und wird so „erst als Relation zu den medialen Darstellungen fassbar“.4 Eija-Liisa Ahtilas Kunst, so der Tenor, führe diese Entwicklung vor Augen. Nach Yvonne Spielmann zeichnet sie sich dadurch aus, „dass sie die Problematik multipler Identitäten im Computer und Internet rückbindet an die elektronische Simulation von Wirklichkeit.“5 Skepsis und Medienkritik sind hierin vereint: Das Subjekt ist an der Konstruktion seiner Wirklichkeit beteiligt, so dass diese ohnehin kaum eine objektive Wirklichkeit sein kann. Und zusätzlich wird diese subjektive Wirklichkeitskonstruktion durch den Einfluss der Medien derart verstümmelt, dass sie schließlich nur noch aus medialen
2
Peter Weibel: „Erzählte Theorie. Multiple Projektion und neue Narration in der Videokunst der neunziger Jahre“, in: Ursula Frohne (Hg.): video cult/ures. Multimediale Installationen der 90er Jahre, Ausst.-Kat. Museum für Neue Kunst/ ZKM Karlsruhe, Köln 1999, S. 35.
3
Beatrix Ruf: „Hybride Wirklichkeiten. Die ‚menschlichen Dramen‘ der Eija-
4
Ebd., S. 155.
5
Yvonne Spielmann: Video. Das reflexive Medium, Frankfurt am Main 2005,
Liisa Ahtila“, in: Parkett Nr. 55, 1999, S. 154.
S. 367.
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Abbildung 1: Video-Still aus Eija-Liisa Ahtila: If 6 Was 9, 1995, dreikanalige Video-Installation, 10:46 Min. Quelle: Eija-Liisa Ahtila: Eija-Liisa Ahtila. The Cinematic Works, Buch und DVD, Helsinki 2004
Repräsentationen – vielleicht auch aus Präsentationen6 – verzerrter Wirklichkeit besteht. Insofern Ahtilas Arbeiten nun die Wirklichkeit als inkohärent, zerstückelt und künstlich konstruiert beschreiben (und somit ‚visuelle Symptome‘ ihrer sind), haben sie für den skizzierten Diskurs aufklärende Funktion. If 6 Was 9, eine zehnminütige Videoinstallation, die aus drei nebeneinander angeordneten Screens besteht, wird für gewöhnlich angesichts ihrer diversen narrativen Brüche in ebendiesem Sinne verstanden. Inhaltlich geht es in der Arbeit um fünf pubertierende Mädchen, die von ersten, noch kindlichen sexuellen Erfahrungen und Fantasien berichten und dabei nur vage Grenzen zwischen erotischer Empfindung, Ekel und Neugierde sowie zwischen ihren eigenen und den Erfahrungen anderer ziehen. Irritierende Entdeckungen in Pornoheften spielen eine Rolle, die seltsame Faszination angesichts einer magischen Bergöffnung. Ein Video, heimlich gesehen und derart mit einer intimen Erinnerung vermischt, dass es sich nicht vergessen lässt. Um Geschlechtersolidarität geht es außerdem und um traumartige Langeweile. Die Geschichten der Mädchen werden in Episoden erzählt,
6
Vgl. Jean Baudrillards Begriff der „Hyperrealität“ in Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin 1978, S. 24 ff.
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Abbildung 2: Video-Still aus Eija-Liisa Ahtila: If 6 Was 9, 1995, dreikanalige Video-Installation, 10:46 Min. Quelle: Eija-Liisa Ahtila: Eija-Liisa Ahtila. The Cinematic Works, Buch und DVD, Helsinki 2004
und diese Erzählung ist nun in verschiedener Hinsicht fragmentiert, sodass ihre Konstruktion beziehungsweise Montage offensichtlich wird. Bedingt ist dies zum einen durch die Präsentation: Die drei Screens werden selten zu einem einzigen Panoramabild gefügt, häufiger ist zwei oder drei Mal dasselbe Bild zu sehen, und oft präsentieren die Screens drei verschiedene Bilder, die wiederum manchmal dieselbe Szene simultan aus verschiedenen Perspektiven zeigen (Abbildung 1). Entsprechend muss der narrative Zusammenhang jeweils mehr oder weniger mühsam hergestellt werden und ist niemals bruchlos aufzuklären. Zum anderen sind die Berichte der Mädchen eher nebeneinander gefügt als dass sie in der angedeuteten Rahmenhandlung aufgingen. Zwar sitzen die fünf Jugendlichen scheinbar kontinuierlich in irgendwie privatem Rahmen zusammen und erzählen ihre Geschichten im Beisein der anderen. Doch treten sie niemals in Dialog miteinander und scheinen einander nicht eigentlich zuzuhören, sodass unklar bleibt, ob das Erzählte nicht für ganz andere Ohren an einem ganz anderen Ort erklingt (Abbildung 2). Sprünge in der Kontinuität von Zeit und Raum, in der Weise des Schauspiels und in der Art, wie sich die Kamera gegenüber den Mädchen ‚verhält‘, durchsetzen das gesamte Geschehen und unterstützen den Eindruck der Fragmentiertheit. Eines der Mädchen spricht beispielsweise wie im zeitlichen Rückblick über einen Lebensabschnitt, der
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Abbildung 3: Video-Still aus Eija-Liisa Ahtila: If 6 Was 9, 1995, dreikanalige Video-Installation, 10:46 Min. Quelle: Eija-Liisa Ahtila: Eija-Liisa Ahtila. The Cinematic Works, Buch und DVD, Helsinki 2004
seiner Erscheinung nach zu urteilen noch vor ihm liegt: Es erzählt von seiner Highschoolzeit als promiskuitive Schülerin und erscheint dabei zunächst auf dem mittleren Screen, während die anderen beiden Bildfenster schwarz bleiben. Im Laufe des Berichts wechselt die Präsentation zur Bespielung aller drei Screens, die nun die übrigen Mädchen in einer Situation gesprächslosen Zusammensitzens zeigen. Es ist nicht klar, ob die Jugendlichen der fortlaufenden Promiskuitätserzählung im Voiceover lauschen – und wenn sie es tun, wann sie es tun. Wenn eine der Protagonistinnen in zwei Bildern simultan vorkommt, dann zu leicht verschiedenen Zeitpunkten. Zwischendurch ist es, als springe die Tageszeit in derselben Szene hin und her. Manchmal scheint ein Mädchen allein, jedoch zugleich in einem anderen Bildfenster mit den anderen in einem Raum zu sein. Dann wiederum ist das aus dem Off erzählende Mädchen in einer Szene zu sehen, in der es nicht spricht, aber mimisch auf das Erzählte Bezug zu nehmen scheint. Die Aufnahmesituation ändert sich in diesem kurzen Verlauf mehrmals: Die Erzählende spricht wie in einem Interview in die frontal positionierte Kamera (Abbildung 3). Recht bald erweist sich ihr Gebaren jedoch als demonstratives Schauspiel, für und durch die Kamera inszeniert. Die anschließend eingespielten Szenen mit den übrigen Mädchen sind aus beobachtender
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Abbildung 4: Video-Still aus Eija-Liisa Ahtila: If 6 Was 9, 1995, dreikanalige Video-Installation, 10:46 Min. Quelle: Eija-Liisa Ahtila: Eija-Liisa Ahtila. The Cinematic Works, Buch und DVD, Helsinki 2004
Perspektive aufgenommen und haben eher dokumentarischen Charakter (Abbildung 4). Das Ergebnis ist, betrachtet man alle zeitlichen, räumlichen und personalen Inkohärenzen als Bruchstellen, ein „aus multiplen Elementen geschnürtes Bündel von Konstellationen, Konzepten und Dramaturgien“7. Identifiziert man nun dieses „Bündel“ mit der Wirklichkeit, wie sie den Jugendlichen in If 6 Was 9 erscheint, so ist deren subjektive Welt in der Tat von der ‚Problematik multipler Identitäten‘ durchsetzt, die man der medialen ‚Simulation von Wirklichkeit‘ vorwerfen kann: Als ‚die Medien‘ in If 6 Was 9, mit denen die Vorstellungen, Erfahrungen und Erinnerungen der Jugendlichen hier und da zusammenhängen, kommen die Print- und Internetpornografie oder Fernsehsender wie MTV vor, berüchtigt für ihre wirklichkeits- und identitätsprägende Kraft. Ahtilas Arbeit kann so gesehen als Klage über die künstliche Konstruktion der jugendlichen Lebenswelt gedeutet werden: Das (unter anderem) medial geprägte jugendliche Subjekt ist nicht in der Lage, eine unmittelbare Erfahrung der ‚eigentlichen‘ Wirklichkeit zu machen, wie auch immer diese aussähe. Das Fragmentarische
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Ruf: Hybride Wirklichkeiten, S. 155.
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oder die Brüchigkeit als Merkmale des modernen Kunstwerks gehen so in ihre tradierte Deutung als Ausdruck entfremdeten Daseins ein. Meines Erachtens wird bei dieser Deutung jedoch die wichtigste Erfahrung, die sich mit If 6 Was 9 machen lässt, ganz außer Acht gelassen. Diese Erfahrung entfaltet sich erst, wenn man die vielen narrativ inkohärenten Fragmente formal als die mosaikartige Komposition betrachtet, zu der sie gefügt sind. Zum einen besteht diese Komposition in dem abzählreimartigen Wechselspiel der genannten Bestandteile des narrativen Ganzen, etwa der Zeit- und Ortfragmente, der Kameraperspektiven oder der Schauspielweisen. Zum anderen fügt der insgesamt gleichmäßige und zügige Rhythmus des Bildwechsels über die drei Screens hinweg die inhaltlich inkohärenten Elemente zu einem formal regelmäßigen Gewebe zusammen. Zusätzlich wirken die gefilmten Bewegungen innerhalb eines Bildfensters sowie in Bezug auf die Bewegungen in den anderen Bildfenstern wie choreografiert – oder doch wie sehr sorgfältig ausgeführt und kombiniert: In der oben beschriebenen Episode passen der Sprachrhythmus der Promiskuitätserzählung im Voiceover zu den beiläufigen Bewegungen in den Bildern, die parallel zu sehen sind. Ein gedankenloses Lippenspiel, eine webende Gabel und hebelnde Schere halten die eher verbindungslosen Bilder rhythmisch zusammen, in dem sie dem Tempo des Berichts korrespondieren. Dieses Tempo wird aufgenommen und beschleunigt durch einsetzende Klaviermusik, die Szenen wechseln stetig weiter, ein lesendes Mädchen baumelt mit den Beinen, knapp neben dem Takt, dann erscheint die Klavierspielerin zum Ton und bindet das Tempo an sich. Auf dem Screen neben ihr ist das parallel erzählende Mädchen zu sehen, das in diesem Bild schweigt, was auf der narrativen Ebene irritiert (Abbildung 5). Sein unwillkürlicher Griff an die Nase stimmt jedoch rhythmisch mit dem Umblättern eines Buches im Bild nebenan überein, und das plötzliche Lächeln des Mädchens bestimmt dann wie ein musikalischer Akzent die Stimmung, in der die Episode schließlich aufgehoben wird. Obwohl der inhaltliche Bezug der einzelnen Bestandteile oder Fragmente des Stücks also unklar ist, folgen sie formal demselben Rhythmus beziehungsweise konstituieren ihn gemeinsam. Überlässt man sich diesem Rhythmus, entsteht ein Sog: Eine gleichbleibende Dichte ist zu erfahren, dynamisch gefügt durch den regelmäßigen Wechsel und das zügige Tempo. Wer in den Sog jener formalen Einheitserfahrung gerät, mobilisiert allmählich in sich selbst einen Erfahrungs-
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Abbildung 5: Video-Still aus Eija-Liisa Ahtila: If 6 Was 9, 1995, dreikanalige Video-Installation, 10:46 Min. Quelle: Eija-Liisa Ahtila: Eija-Liisa Ahtila. The Cinematic Works, Buch und DVD, Helsinki 2004
modus, der das Gezeigte trotz seiner narrativen Brüchigkeit auch inhaltlich als konsistentes Ganzes erlebbar macht. Durch ihre künstlerische Form evoziert Ahtilas Arbeit eine Erfahrungsweise, im Zuge derer der intensive emotionale Zusammenhang zwischen phlegmatischem Gabelgestocher, der monotonen Folge immergleicher Tage, zappelnder Unruhe beim Totschlagen stillstehender Zeit, dahinklimpernder Klaviermusik und dem inneren Eindenken in etwas, das man sein möchte, ebenso evident wie miterlebbar wird – und zwar ohne konstruiert, unwirklich oder fiktiv zu erscheinen. Dieser ästhetisch motivierte Erfahrungsmodus hat viel gemeinsam mit dem gefühligen Zustand der Pubertät, aus dem heraus die Wirklichkeit sich als emotional angefüllt, als vage, aber sichtbar bedeutsam oder überall symbolisch aufgeladen erweist. Eigene und fremde, faktische und imaginäre Erfahrungen und mit ihnen verschiedene Identitäten vermischen sich. Es ist unklar, ob, wann und für wen etwas stattgefunden hat. Aber die Erfahrung weicher Übergänge zwischen mir und den Anderen, hier und dort, gestern und heute oder Imagination und Tatsache hat nichts Inkohärentes oder Brüchiges. Es ist aus diesem Modus heraus unwichtig, dass die Mädchen in If 6 Was 9 nie in Dialog miteinander treten, dass niemals eines auf das andere reagiert. Die Gruppe wird doch als Gemeinschaft erlebt, die ständig im Austausch steht, die eine besondere Art des stummen, aber soli-
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darischen Miteinanderseins teilt, in der klare Grenzziehungen nicht vorkommen. Ahtilas gesamte Arbeit wird zum Instrument einer Erfahrungsweise, die einen Wechsel in die Perspektive der Jugendlichen erlaubt – und die aufgrund ihrer Lebendigkeit, Kohärenz und Intensität eine Wirklichkeitserfahrung genannt werden kann, ebenso auf das gezeigte Geschehen bezogen wie auf die Wirklichkeit, deren Teil das Kunstwerk ist. Beides ist im Falle des Filmkunstwerks eng verbunden.8 Dass in dieser Wirklichkeit
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Mit ‚Wirklichkeit‘ bezeichne ich hierbei das Geschehen, das If 6 Was 9 zeigt, und müsste genauer sagen: dieses Geschehen als Wirklichkeit. Nicht um zu betonen, dass es sich weniger um die Wirklichkeit selbst als vielmehr um deren bestimmte, mediale Repräsentation handelt, sondern um zu betonen, dass die äußerst gegenwärtige, emotional intensive und inhaltlich bruchlose Erfahrung eines gefilmten Geschehens, die Ahtilas Arbeit ermöglicht, eher eine Wirklichkeitserfahrung als eine Unwirklichkeitserfahrung ist. Um es mit Béla Bálasz zu sagen: „Einzelwirklichkeiten ergeben noch keine Wirklichkeit, Tatsachen noch keine Wahrheit. Hingegen kann die Bedeutung der Zusammenhänge, der Sinn der Wirklichkeit auch in einem Märchen enthalten sein. […] [D]as Gegenteil von unwirklich ist in der Kunst nicht das dokumentarisch Tatsächliche, sondern das Lebendige, sinnfällig Gegenständliche. Aber echt, wahrhaftig, lebendig, kann auch ein Chaplin-Märchen sein.“ (Béla Bálasz: Der Geist des Films, Frankfurt am Main 2001, S. 129) Insbesondere im Filmkunstwerk ist die Erfahrung von Wahrhaftigkeit und Stimmigkeit zudem an die empirische, physische Realität gebunden. Gründe hierfür nennt die Forschung zahlreiche, etwa die Gegenwärtigkeit der gefilmten Bewegungen beim Betrachten des Films (vgl. etwa Christian Metz: „On the Impression of Reality in the Cinema“, in: ders.: Film Language. A Semiotics of the Cinema, Chicago 1974) oder die kinästhetische Einbindung des Körpers der Betrachterin (vgl. Vivian Sobchak: „What My Fingers Knew. The Cinesthetic Subject, or Vision in Flesh“, in: dies.: Carnal Thoughts. Embodiement and Moving Image Culture, Berkeley/Los Angeles/ London 2004). Meines Erachtens ist aber auch die konservativere These richtig, nach der ein fotografiebasiertes Medium angesichts der sinnlichen Anmutung der Welt, die es sichtbar macht, für uns von Wirklichkeit „gleichsam durchsengt“ ist (vgl. Walter Benjamin: „Kleine Geschichte der Photographie“, in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1977, S. 50), weil diese Welt in ihrer ‚Fotografizität‘ der Anmutung der ungefilmten physischen Welt in einer Weise verwandt ist, die wir
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massenwirksame Medien eine besonders wichtige Rolle spielen, steht außer Frage. Wichtiger als ein kritischer Blick auf diese Medien aber scheint mir für If 6 Was 9 die Weise zu sein, wie Jugendliche überhaupt Informationen, Geschichten und Bilder, die nicht von ihnen handeln, mit ihren selbst gemachten Erfahrungen und Erinnerungen zu einer Wirklichkeitserfahrung verschmelzen. Während die meisten Arbeiten Ahtilas bis etwa 2008 ähnlich wie If 6 Was 9 organisiert sind, zeigt die halbstündige Videoinstallation Marian Ilmestys beziehungsweise The Annunciation von 2010 wichtige Veränderungen im Vorgehen der Künstlerin.9 Ahtila reduziert ihre zuvor so kleinteilige und dichte Montagearbeit und nimmt die umfassende Inszenierung des Geschehens vor der Kamera deutlich zurück. Das Kunstwerk, so der Eindruck, dient bei The Annunciation weniger als Instrument der Motivation eines bestimmten Erfahrungsmodus. Stattdessen öffnet es sich für die Eigenständigkeit des Geschehens, das es zeigt. Im Vergleich zu den früheren Arbeiten wird dadurch der Einbezug in die subjektive Perspektive der ProtagonistInnen prekär. Umso interessanter scheint mir, dass Ahtila die Frage nach den Möglichkeiten des Perspektivwechsels beziehungsweise der Einnahme der Perspektive eines Anderen in The Annunciation explizit macht: Die Arbeit hebt mit Worten des Zoologen Jakob von Uexküll an, in denen dieser bezweifelt, dass es ein einziges Universum für alle Lebewesen gebe.10 Als Konstruktivist stellt von Uexküll die Möglichkeit, in die
zumindest teilweise als unabhängig von jedem Darstellungswillen mit ihr verbunden rezipieren. 9
Dass die drei Screens dieser Arbeit rechtwinklig zueinander angeordnet sind, als drei Wände eines Zimmers, kam allerdings bereits bei früheren Installationen vor.
10 Das anfangs eingeblendete Zitat lautet wie folgt: „We are easily deluded into assuming that the relationship between a foreign subject and the objects in his world exist on the same spacial and temporal plane as our own relations with the objects in our human world. This fallacy is fed by a belief in the existence of a single world, into which all living creatures are pigeonholed. This gives rise to the widespread conviction that there is only one space and one time for all living things. Only recently have physicists begun to doubt the existence of a universe with a space that is valid for all beings.“ (Jakob von Uexküll: „A Stroll through
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Perspektive eines Anderen einzurücken und so auf dieselbe gemeinsame Wirklichkeit hinzublicken, radikal in Frage. In meiner Deutung gibt The Annunciation eine Antwort auf diesen Zweifel – eine Antwort, die meines Erachtens auch Ahtilas frühere Arbeiten betrifft.11
the Worlds of Animals and Men“, in: Claire H. Schiller [Hg.]: Instinctive Behavior. The Development of a Modern Concept, New York 1957, S. 14.) 11 Von Mieke Bal stammt die bisher wohl umfassendste Deutung von The Annunciation. Bal versteht das Stück als Allegorie des bewegten Bildes (moving image) überhaupt, und in dieser Hinsicht gibt es ihrem Aufsatz wenig hinzuzufügen. Allerdings nimmt Bal meiner Ansicht nach das Zitat von Uexkülls, mit dem die Arbeit beginnt, nicht ernst genug, sondern versteht seine Position lediglich als eine von mehreren Stimmen, die in The Annunciation gegen eine umfassende Weltordnung wie etwa die des Christentums sprächen. Gegen eine solche Ordnung führe Ahtila ihr Denkstück über das Bewegungsbild an, das Bal sehr nahe an Henri Bergsons Wahrnehmungs- und Bildbegriff auslegt: Das Bild ist die Schnittstelle zwischen dem Wahrnehmenden und der Gegenstandswelt. Es ist aber kein momentaner, fest umrissener Ausschnitt, sondern eine Sequenz, deren Dauer sich aus der beziehungsreichen Verschmelzung vergangener und aktueller Wahrnehmungen konstituiere und deren Räumlichkeit sich aus mehreren körperabhängigen Raumwahrnehmungen biegsam zusammensetze. Entsprechend subjektiv geprägt sei die ‚Auswahl‘, welche jede menschliche Wahrnehmung von der Wirklichkeit treffe – und dieses Wirklichkeitsverständnis sei es, das Ahtila allen Weltordnungen entgegenhalte, in denen ein objektiver Weg zur Erkenntnis führe. Ihre mehrkanalige Videoinstallation nutze Ahtila schließlich dazu, eine Allegorie der Koexistenz vieler solcher Wahrnehmungssequenzen zu geben, um einer von vielen Subjekten bewohnten Wirklichkeit gerecht zu werden. Dass die Einsicht in die Sichtweisen der Anderen mithilfe des kinematografischen Mediums gelinge, darin bestehe das Wunder in The Annunciation: „The miracle, then, is not in the tricks, the illusions, the wondrous movement of cinema. According to Ahtila’s vision inspired by von Uexküll, it is in the radically different vision of (knowledge of) the other, with ‚of‘ meaning ‚cast on‘ as well as ‚emanating from.‘ Cinema allows art to figure this other vision. Video installation […] foregrounds the visibility of this possibility. The ‚emanation of past reality‘ that Barthes marvelled at in photography […] is compounded by an emanation of another’s (past or present) reality.“ (Mieke Bal: „The Moving Image as Witnessing“, in: Ilppo Pohjola [Hg.]: Eija-Liisa Ahtila. Marian ilme-
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Der Handlung nach geht es in The Annunciation um die Vorbereitung und Inszenierung einer Verkündigung des Erzengels Gabriel an die Jungfrau Maria für die Kamera. Gezeigt werden ein Casting, verschiedene Leseund Schauspielproben, Gespräche unter den Darstellerinnen (in der Inszenierung kommen ausschließlich Frauen vor) und die Einarbeitung in ihre Rollen und die zugehörigen Kostüme, angeleitet durch eine Regisseurin, die als Alter Ego Ahtilas fungiert. Das Geschehen findet seinen Höhepunkt in der Aufführung der Verkündigungsszene selbst gegen Ende der Arbeit, danach schließt ein kurzes Outro die Geschichte ab. Die Regisseurin in der Erzählung ist es auch, die Jakob von Uexkülls vorangestellte Metaebene mit dem Geschehen verbindet: Auf dessen anfangs eingeblendete Worte folgt, untermalt von fantastisch schönen Ansichten einer verschneiten Winterlandschaft, ihre Stimme aus dem Off. Die Regisseurin bezweifelt ebenfalls die Zugänglichkeit einer radikal anderen Sichtweise, indem sie über die Schwierigkeit reflektiert, etwas zu zeigen, das einem selbst unbekannt
stys – The Annunciation, Helsinki 2011, S. 82.) Wie gesagt, entgeht Bal jedoch meines Erachtens die Radikalität der Überlegungen von Uexkülls, welche der Arbeit vorangestellt sind. Sein Perspektivismus spricht nicht einfach nur gegen eine umfassende Weltordnung, sondern gegen die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt. Damit stellt er nicht zuletzt die Wirkung der früheren, bis dato charakteristischen Arbeiten Ahtilas als Instrument der Hervorbringung eines fremden Wahrnehmungsmodus infrage. Wird es in The Annunciation nun möglich, die Sichtweise eines Anderen zu übernehmen, also in seine Perspektive einzurücken (und das behauptet auch Mieke Bal), dann ist von Uexkülls skeptischer Perspektivismus angegriffen und nicht bestätigt und ebenso der Perspektivismus, der sich aus Bals Anlehnung an Bergson ergibt. Ahtilas Arbeit stellt eine Abarbeitung an der Behauptung des radikalen Perspektivismus dar, sie ist voll von Versuchen, doch irgendwie an der Stelle des Anderen zu sehen beziehungsweise wahrzunehmen, zu zeigen, wie genau das ginge und welche Rolle das Kunstwerk dabei spielen könnte. Und einige dieser Versuche misslingen offensichtlich. Nicht alle Mittel, die Ahtila für den Perspektivwechsel einsetzt, sprechen für ihn: Anders als Bal scheint mir etwa der Einsatz ungewöhnlicher Kameraperspektiven nicht als erfolgreiches Mittel des Perspektivwechsels ‚durchzugehen‘. Aber Ahtila findet Wege, ihre Arbeit zu behaupten – und diese haben, wie ich zeigen möchte, gerade nichts von einem Wunder, sondern sind ganz alltäglich.
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Abbildung 6: Video-Still aus Eija-Liisa Ahtila: Marian Ilmestys. The Annunciation, 2010, dreikanalige Video-Projektion, 32:10 Min. Quelle: Eija-Liisa Ahtila: Marian Ilmestys. The Annunciation, Helsinki 2010, DVD zur Installationsvorschau, zur Verfügung gestellt von der Marian Goodman Gallery (Paris)
ist. Im Laufe der Arbeit wird deutlich, dass es sich hierbei um die biblische Verkündigung handelt, um die Verklärung des Fleisches durch den heiligen Geist, die für die einen unmöglich, für andere aber äußerst wirklich und sichtbar ist. Die Aufgabe der Regisseurin besteht darin, die von ihr aus gesehen andere, gläubige Perspektive einzunehmen, womit sie die radikalperspektivistische These Jakob von Uexkülls auf die Probe stellt: Vielleicht, so fragt sie, könne man beobachten, wie Andere eine Sache betrachten, und dadurch lernen zu sehen, was jene sähen? Wie gesagt, überrascht Ahtila, indem sie sich dieser Aufgabe nun nicht mithilfe ihrer bis dato üblichen künstlerischen Mittel annimmt. Sie verabschiedet sich von der kleinteiligen rhythmischen Komposition und Variation der Bestandteile ihrer Arbeit, womit der beschriebene Sog nicht mehr erzeugt wird. Schon das Winterlandschafts-Intro in The Annunciation beginnt stattdessen mit einem ganz anderen Versuch, in die visuelle Perspektive des Anderen einzurücken, nämlich indem sich die Kamera mit diesem Anderen identifiziert und durch seine Augen ‚sieht‘: Während die Regisseurin noch spricht, gerät ein Rabe ins Bild, oben in den verschneiten Baumwipfeln schaukelnd. Die Kamera rückt ihm nahe, filmt über seine
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Abbildung 7: Video-Still aus Eija-Liisa Ahtila: Marian Ilmestys. The Annunciation, 2010, dreikanalige Video-Projektion, 32:10 Min. Quelle: Eija-Liisa Ahtila: Marian Ilmestys. The Annunciation, Helsinki 2010, DVD zur Installationsvorschau, zur Verfügung gestellt von der Marian Goodman Gallery (Paris)
‚Schulter‘ hinweg und dann ganz aus seiner Sicht (Abbildung 6). Die Stimme der Regisseurin berichtet nun von dem, was der Rabe sieht, und die Point-of-View-Shots verlaufen, die Kopfbewegungen des Vogels imitierend, in ruckartig die Richtung wechselnden Kameraschwenken. Wenn man also versucht zu sehen, wie ein Anderer sieht, „what does one see then?“, fragt die Regisseurin – und Ahtila kontert zunächst mit einem Witz: Ohne weitere Umstände lässt sie Santa Claus durch die verschneite Landschaft stapfen, wie um zu sehen, was die buchstäbliche Vogelperspektive dieser Figur über ihre allzu profane Erscheinung hinaus entlocken könne. Auf die Schnelle gar nichts!, antwortet das Kamerabild eines eher komisch verkleideten Mannes (Abbildung 7). Dann erst beginnen die Geschichte, die Proben, die Aufführung. Die Point-of-View-Perspektive als Kameraperspektive kam zuvor eher selten vor in Ahtilas Kameraarbeit, in The Annunciation wird sie nun zum geläufigen Mittel. Überhaupt nimmt die Kamera oft die verschiedenen visuellen Perspektiven ein, aus denen heraus ein Ereignis von den Beteiligten gesehen wird, und Ahtila hält sie demonstrativ nebeneinander. So etwa, wenn die Übung im Eselreiten der Maria-Darstellerin aus der subjektiven Per-
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Abbildung 8: Video-Still aus Eija-Liisa Ahtila: Marian Ilmestys. The Annunciation, 2010, dreikanalige Video-Projektion, 32:10 Min. Quelle: Eija-Liisa Ahtila: Marian Ilmestys. The Annunciation, Helsinki 2010, DVD zur Installationsvorschau, zur Verfügung gestellt von der Marian Goodman Gallery (Paris)
spektive der Reiterin, aus der einer Eselführerin, aus der auf und ab nickenden Sicht des Esels selbst und schließlich aus der eines möglichen zweiten Tieres hinter dem Esel gezeigt wird (Abbildung 8). An anderen Stellen wird ein zwischenmenschliches Geschehen so über die Screens verteilt, dass sich der Raum, in dem es während der Dreharbeiten stattfand, zwischen den rechtwinklig angeordneten Wänden der Videoinstallation realisiert (Abbildung 9). Ahtila zeigt so die Bestandteile einer Schuss-GegenschussMontage demonstrativ simultan. Recht deutlich erprobt sie auf diese Weise, ob die Identifikation der Kamera mit der leiblichen Perspektive des Anderen für den Perspektivwechsel tauglich ist – und lässt dieses Verfahren meines Erachtens weitgehend scheitern. Die Rabenperspektive vom Beginn der Arbeit kann – wie als Vorwegnahme der folgenden Versuche – nichts Neues aus Santa Claus machen. Der Point-of-View-Shot aus der Sicht des Esels verursacht ein leichtes Schwanken im Betrachter, aber auch in dieser Szene offenbart sich nicht die Welt aus der Sicht des Esels, sondern vielmehr die mechanische Nüchternheit des Filmbildes. Die vorkommenden Tiere – der Rabe, die Esel, ein paar Tauben im Atelier der Regisseurin – fallen durch ihr spontanes und scheinbar irrationales Verhalten gar als
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Abbildung 9: Video-Still aus Eija-Liisa Ahtila: Marian Ilmestys. The Annunciation, 2010, dreikanalige Video-Projektion, 32:10 Min. Quelle: Eija-Liisa Ahtila: Marian Ilmestys. The Annunciation, Helsinki 2010, DVD zur Installationsvorschau, zur Verfügung gestellt von der Marian Goodman Gallery (Paris)
Leerstellen in einer sonst vertrauteren Wirklichkeit auf: Von Uexkülls Perspektivismus wird durch sie bestätigt, ein Wechsel in die Perspektive dieser Anderen scheint unmöglich. Eine weitere Variation der Perspektiveinrückung scheitert am Ende der Arbeit, als sich die aufwendig aufgemachte finale Verkündigung samt Stifterinnen und Heiligen als die profanste Szene von allen entpuppt. Im gleißenden Scheinwerferlicht erscheint der Engel vor Maria. Es wird ihr verkündigt, sie zweifelt kurz und lenkt dann ein, ein tiefes Dunkel verhüllt die Szene – doch Schauspiel bleibt Schauspiel: Verkleidung, Maske, Bühnenbau und Beleuchtungskunst machen ein aus ungläubiger Sicht unwahrscheinliches Geschehen nicht wirklicher (Abbildung 10). Und da jene dichte Fügung der früheren Arbeiten fehlt, ihr Rhythmus, ihr Tempo und damit ihr bezwingender Sog, scheint die Mobilisierung des pubertären Erfahrungsmodus durch If 6 Was 9 das geeignetere Mittel gewesen zu sein, um die Perspektive zu wechseln beziehungsweise wechseln zu lassen, als die Identifikation der Kamera mit dem Anderen oder die Verkleidung des Sichtbaren in The Annunciation. Wie aber eine andere, im Vergleich mit If 6 Was 9 sehr unspektakuläre Weise des Perspektivwechsels dennoch stattfindet, zeigt sich in The Annun-
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Abbildung 10: Video-Still aus Eija-Liisa Ahtila: Marian Ilmestys. The Annunciation, 2010, dreikanalige Video-Projektion, 32:10 Min. Quelle: Eija-Liisa Ahtila: Marian Ilmestys. The Annunciation, Helsinki 2010, DVD zur Installationsvorschau, zur Verfügung gestellt von der Marian Goodman Gallery (Paris)
ciation eher nebenbei. Die Geschichte, die die Künstlerin hier erzählt, ist sehr viel bruchloser als die Geschichten in den charakteristischen Arbeiten der neunziger Jahre: Die einzelnen Szenen sind weder zeitlich noch räumlich gegeneinander austauschbar, sondern folgen meist auseinander. Die verwirrend theatralische Schauspielweise fällt vollständig weg. Das Geschehen vor der Kamera ist deutlich loser regiert und oft sich selbst überlassen.12 So wird die Dauer einer Szene nicht mehr durch den formalen Rhythmus der Arbeit bestimmt, sondern durch die Zeit, die es eben braucht, bis etwa eine Flügelanziehprobe beendet ist. Das narrative Fragment spielt somit keine herausragende Rolle mehr, sodass auch das häufig damit verbundene Urteil, es müsse sich bei Ahtilas Arbeiten um erkenntniskritische
12 Vgl. Alison Butler: „There seems to be a progression in Ahtila’s recent work […] towards a presentation of the work as loose constellation that doesn’t conceal or absorb its varied source materials“ (Alison Butler: „Eija-Liisa Ahtila’s Cinematic Worlds“, in: Lena Essling [Hg.]: Eija-Liisa Ahtila. Parallel Worlds, Ausst.-Kat., ModernaMuseet, Stockholm/Kiasma Museum of Contemporary Art, Helsinki/Carréd’Art, Nîmes 2012/13, Göttingen 2012, S. 173–189, hier: S. 189).
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Werke handeln, in dieser Hinsicht ausbleibt. Die Dominanz der formalen Mittel und Ahtilas choreografierende Regie sind gegenüber den früheren Arbeiten derart zurückgenommen, dass die Protagonistinnen in The Annunciation verglichen mit vorigen Filmfiguren Ahtilas an eigenständiger Präsenz gewinnen können13: Sehr langsam üben sich diese Frauen im Verlauf der Arbeit in ihre Rollen ein. Besonders aufmerksam werden die Darstellerinnen Marias und des Erzengels beobachtet, die eine zart und nach eigener Auskunft tief gläubig, die andere etwas älter, zögerlich, schüchtern und ein wenig plump. Die Jüngere fügt sich recht still, mit Ernst und Hingabe in die marienhaften Posen: Es ist ihr anzusehen, wie genau sie ihr eigenes Maria-Werden verfolgt. Der Engel geht einen schwierigeren Weg von der wortkargen Anprobe der mächtigen Flügel bei einer Kostümbildnerin bis zu seiner souveränen Verkündigung an Maria gegen Ende der Arbeit. Der Durchbruch der Engelsdarstellerin zur Identifikation mit ihrer Rolle ist erst während einer späten Szene zu beobachten, in der sie lernt, sich in einem Gurt zu halten, der es ihr gestattet, an langen Seilen hängend durch das Filmset zu ‚fliegen‘. Ängstlich und etwas verschämt lässt sie sich zunächst in die Luft hieven. Nach einer Weile beginnt sie dem Gurtsystem zu trauen und versucht sich an einer waagerechten Flugpose. Der Versuch scheitert in einer Art
13 Ich beschreibe hier etwas verkürzend und konzentriert auf die Abgrenzung zur Machart der früheren Arbeiten. Trotz des fehlenden extrem theatralischen Schauspiels aus den charakteristischen Arbeiten der neunziger Jahre bietet auch The Annunciation – ähnlich wie If 6 Was 9 – immer wieder Anlässe für die Frage, ob es sich um ein (realistisch) gespieltes oder ‚bloß‘ dokumentiertes Geschehen handelt. So bemerkt Alison Butler treffend: „The faces of the young and middleaged women are well documented in numerous close-ups, and they endow the work with a worldly beauty and reality. Signs of documentary spontaneity can be seen throughout the world […]. At the same time, the presence of a very recognisable actor, Kati Outinen, in the role of the director, draws attention to the fact that the preparations and rehearsals we see are staged.“ (Butler: „Eija-Liisa Ahtila’s Cinematic Worlds“, S. 187 f.) Obwohl The Annunciation also zwischen Inszenierung und Dokumentation oszilliert, reichen die „signs of documentary spontaneity“ in Kombination mit den übrigen oben beschriebenen Veränderungen hin, um einen signifikanten Wandel in Ahtilas Vorgehen und, als Resultat, eine relative Öffnung auf die sich selbst überlassene Wirklichkeit festzustellen.
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Abbildung 11: Video-Still aus Eija-Liisa Ahtila: Marian Ilmestys. The Annunciation, 2010, dreikanalige Video-Projektion, 32:10 Min. Quelle: Eija-Liisa Ahtila: Marian Ilmestys. The Annunciation, Helsinki 2010, DVD zur Installationsvorschau, zur Verfügung gestellt von der Marian Goodman Gallery (Paris)
Überschlag, die Zuschauenden und die Darstellerin selbst müssen lachen, das löst die Szene, und der nächste Flugversuch gelingt so gut, dass die zuvor zurückhaltende Fliegende spontan ausruft, ein Engel zu sein – ihre Verwandlung ist gelungen. In solchen Szenen gerät Ahtilas Arbeit als Kunstwerk gleichsam in Vergessenheit. Die Kamera, deren Rolle für den Perspektivwechsel in anderen Momenten so überbetont scheint, tritt zurück und gibt den Blick mitten ins Geschehen frei. Wie die Frauen durch sukzessive Einübung erst zu Darstellerinnen und dann zu dem werden, was sie darstellen, ist so in allen Schritten zu verfolgen: das Wechselspiel zwischen der zunächst befremdlichen Füllung eines Kostüms mit dem eigenen Körper und der sukzessiven Umbestimmung dieses Körpers durch das Kostüm; zwischen Präsenz, Repräsentation und hierdurch erweiterte Präsenz. Was hier am signifikanten Gegenstand der Probe zu verfolgen ist, ist die Einübung in eine (andere) Identität14, der Prozess der Identifikation, das schrittweise Anderswerden der
14 Ich danke Sabeth Buchmann für ihren Hinweis auf diesen zentralen Punkt im Hinblick auf die Weise des Perspektivwechsels in The Annunciation. Vgl. auch Bal: „The Moving Image as Witnessing“, S. 77.
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Protagonistinnen. Während das titelgebende Ereignis, die biblische Verkündigung selbst, immer weiter ans Ende der Arbeit rückt, weil erst noch miteinander gesprochen, erst noch gemeinsam die Bilder betrachtet, erst noch angeleitet und geprobt und dann noch hierüber reflektiert werden muss15, verändern sich die Frauen, indem sie agieren und interagieren: Ihre Perspektiven bilden sich um. Und es ist die als ZeugInnenschaft16 empfundene Sicht auf diese Ereignisse, die es der Betrachterin von The Annunciation erlaubt, Schritt für Schritt, durch intensive Beobachtung und ein sich so vertiefendes Verständnis der Ereignisse, ebenfalls die Perspektive zu wechseln. Beispielsweise dauert eine andere Probeszene, in der die Regisseurin Maria und den Erzengel anleitet, ihre Begrüßung in drei Varianten zu üben, auffällig lange, da sie ganz der selbstständigen Entwicklung der Dinge angepasst ist. Geprobt werden die ängstliche, die fromme und die gütige Begrüßung, die in einer vorigen Szene auf den Reproduktionen dreier Renaissancegemälde zu betrachten waren (Abbildung 11).17 Die Regisseurin
15 Vgl. Bal: „The Moving Image as Witnessing“, S. 77. 16 Für Bal besteht der ‚Witz‘ der ZeugInnenschaft als BetrachterInnenposition darin, dass sich keine einfache (für den üblichen Hollywood-Spielfilm typische) Identifikation mit dem betrachteten Geschehen ergeben kann, keine stellvertretende Teilnahme an der Situation. Stattdessen bleibt eine gewisse Distanz erhalten. Es ist richtig, dass etwa die empfundene Rührung der Betrachterin die einer Beobachterin ist, nicht die einer an der Situation konstitutiv Beteiligten. Zusätzlich bedeutet ZeugInnenschaft aber auch, bezeugen zu können, wie und somit auch dass etwas stattfindet beziehungsweise stattgefunden hat. Ein Zeuge ist stets ein Zeuge der Wirklichkeit. Dass dieses Verhältnis gegenüber dem beschriebenen Geschehen möglich ist, liegt auch daran, dass hier trotz der Probensituation keine Rollen gespielt werden, sondern die angeleiteten Ereignisse einen Moment lang als eigentliches, ungestelltes Geschehen empfunden werden. Die vorangegegangenen Voraussetzungen für dieses Geschehen kennt auch die Betrachterin zu diesem Zeitpunkt und kann deswegen die Tragweite der Situation erfassen – sie ist durch die Arbeit selbst ‚eingeübt‘ worden in die Perspektive der Protagonistinnen. Die Zeuginnenschaft der Betrachterin hat deswegen durchaus etwas mit innerem Nachvollzug und Empathie zu tun, nicht nur mit distanzierter und verwunderter Beobachtung der Situation. 17 Gezeigt werden Simone Martinis Annunciazione von 1333, in der Maria vor der unwirklichen Erscheinung des Engels aus reingoldener Untiefe erschrickt, Fra
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erläutert die einfachen Gesten sehr ausführlich. Die beiden Darstellerinnen lassen sich viel Zeit damit, alles zu verstehen und sich vorzustellen. Jede Haltung wird langsam und lange eingenommen und ganz offenbar konzentriert an sich selbst erfahren. Diese Verlangsamung des Geschehens, die Dauer und Konzentration der Handlung und die dahinter vergleichsweise zurückgenommenen formalen Mittel bieten der Betrachterin Gelegenheit zur Vertiefung in die Protagonistinnen, in ihre Gesten und in deren Bedeutung für sie. Insbesondere das Maria-Sein füllt sich dabei gleichsam sichtbar mit Ernst und Intensität (Abbildung 12). Die zuvor bekundete Gläubigkeit der Darstellerin wird als konstitutive Voraussetzung des Geschehens verständlich. Und als die ebenfalls äußerst konzentriert beobachtende Regisseurin während der frommen Begrüßung über eine spontane Umarmung zwischen Maria und dem Engel unwillkürlich lächeln muss, löst dies beim Betrachter beinahe eine Art Demut vor dem besonderen Ereignis aus. Die durch die Machart und Regie von The Annunciation möglich gewordene Durchsicht auf die Ereignisse lässt es zu, dass sich auch die Perspektive des Betrachters nach und nach umbildet. Und zugleich wird dabei der Perspektivwechsel als konstitutiv für neue Wirklichkeitserfahrungen verständlich: Dass sich nämlich im Zuge der Perspektivverschiebung nachhaltig etwas an der Wirklichkeit ändert, zeigt beispielsweise ein zweiter Blick auf die Renaissancegemälde: Die drei verschiedenen Gesten der Maria bei Simone Martini, Fra Angelico und Leonardo da Vinci, die beim ersten Hinsehen nicht viel besagten, sind nach der Erfahrung der Begrüßungsprobe unwiderruflich von der emotional innigen Interpretation erfüllt, die Ahtilas gläubige Maria von ihnen gab und die die Bilder tatsächlich verändert. Sie sind lebendiger und zugleich ernsthafter geworden. Dadurch machen sie zwar nicht gläubig. Aber sie zeigen nun, nach vollzogenem Perspektivwechsel, auch dem ungläubigen Zeugen etwas von dem, was ein Glaubender in einer Annunciazione Fra Angelicos sehen kann. Ganz unabhängig vom sonstigen Scheitern von The Annunciation, was die wundersame Verklärung des Fleisches betrifft, gelingt es somit
Angelicos Prado-Version um 1431 mit demütig geneigter Jungfrau auf einer fragil perspektivierten Terrasse und Leonardo da Vincis Bildfindung aus den 1470er Jahren, in der die Natur geordnet um einen mächtigen Palazzo herumsteht und ein knochenschwerer Engel unter dem souveränen Gruß der Mutter Gottes kniet.
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Abbildung 12: Video-Still aus Eija-Liisa Ahtila: Marian Ilmestys. The Annunciation, 2010, dreikanalige Video-Projektion, 32:10 Min. Quelle: Eija-Liisa Ahtila: Marian Ilmestys. The Annunciation, Helsinki 2010, DVD zur Installationsvorschau, zur Verfügung gestellt von der Marian Goodman Gallery (Paris)
doch, etwas von der Differenz, die zwischen der eigenen und einer anderen Sicht auf die Wirklichkeit besteht, zu überwinden. Der Perspektivwechsel, so geht es aus der Auseinandersetzung mit der anfangs skeptisch gestimmten Arbeit The Annunciation hervor, ist möglich, auch wenn das Kunstwerk nicht wie If 6 Was 9 als Instrument einer ästhetischen Mobilisierung des besonderen Erfahrungsmodus eines Anderen ‚verwendbar‘ ist. Der Perspektivwechsel ist etwas Alltägliches. Zugleich scheint er notwendig zu sein, wenn wir etwas Neues an der Wirklichkeit erfahren wollen. Vor dem Hintergrund des erkenntnis- und medienkritischen Kunstdiskurses der neunziger Jahre mag beides naiv erscheinen: einerseits die Rede vom möglichen Perspektivwechsel und andererseits jene vom Kunstwerk als Durchsicht auf die Wirklichkeit. Nichtsdestotrotz liegt hier meines Erachtens die Pointe der jüngsten Arbeit Eija-Liisa Ahtilas. Es sind nun beide Erfahrungen – die der ästhetischen Mobilisierung eines anderen Erfahrungsmodus in If 6 Was 9 und die der Umbildung der eigenen Perspektive durch die Beobachtung des Anderen in The Annunciation – nicht als Argumente gegen den radikalen Perspektivismus eines Jakob von Uexküll zu gebrauchen. Es lässt sich mangels eines unabhängi-
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gen Dritten auch nicht einfach überprüfen, ob meine veränderte oder neue Erfahrung und die Erfahrung des Anderen tatsächlich dieselben sind. Wenn ich wie von Uexküll davon ausgehe, dass jedes Lebewesen in seinem eigenen „Universum“ gefangen ist, dann zeigt mir die Auseinandersetzung mit der Arbeit Ahtilas nur, dass ich Erfahrungen mache und dadurch zu etwas gelange, das mir wie die Einsicht in jene Wirklichkeit vorkommt, die Andere (ebenfalls) erfahren. Die anderen Wesen, die in meinem Universum vorkommen, könnten dennoch bloß abhängige Teile meiner Vorstellungswelt sein, die nur solche Erfahrungen machen, die ich in sie hineinprojiziere. Überhaupt kann ich in der Perspektive des radikalen Perspektivismus nicht wissen, ob sich meine ‚Einsichten‘ überhaupt erkenntnisartig auf eine von meinen Vorstellungen unabhängige Wirklichkeit beziehen. Der radikale Perspektivismus ist ein Skeptizismus – sogar er selbst muss letztlich, wiederum aus seiner Perspektive, genauso gut wahr wie falsch sein können. Ahtilas Arbeiten argumentieren nicht gegen diese Perspektive. Sie legen aber eine andere Auseinandersetzung mit dem Perspektivwechsel, den sie selbst ermöglichen, nahe: The Annunciation scheint sich mir genau wie die Stücke aus den neunziger Jahren eher im Geiste eines ‚intuitionsfreundlich‘ geprägten Wirklichkeitsverständnisses zu erschließen als aus radikalperspektivistischer beziehungsweise skeptischer Sicht: Darin, dass ich mich erfahrungsgemäß recht weit in die Perspektive des Anderen, und sei sie mir auch sehr fremd, einüben kann und so zu Sichtweisen komme, die mir Neues an der vertrauten Wirklichkeit zu entdecken helfen, liegt bereits genug (erstaunliche) Evidenz, um an eine intersubjektiv miteinander teilbare Wirklichkeit zu glauben. Dieses Wirklichkeitsverständnis ist eher phänomenologischer Prägung. Und vor diesem phänomenologischen Hintergrund ist das tatsächliche Geschehen des Perspektivwechsels in und angesichts von The Annunciation nicht als „Wunder“ zu verstehen (wie Mieke Bal meint).18 Es gibt überhaupt kein Wunder in Ahtilas The Annunciation. Der Perspektivwechsel ereignet sich in der Auseinandersetzung mit dieser Arbeit ganz wunderuntypisch weder plötzlich noch ohne mein Zutun. Er ereignet sich nach und nach, indem ich meine Umwelt und die Anderen als selbständige Wirklichkeit zu verstehen suche. Er ereignet sich in alltäglicher Weise – vielleicht so, als bestünde zwischen den Subjekten einer gemeinsamen Wirklichkeit eine Art Verwandtschaft, welche es in bestimm-
18 Vgl. Fußnote 12.
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tem Maße ganz selbstverständlich ermöglicht zu sehen, wie die Anderen sehen: „Jeder trägt“ – so formuliert es Merleau-Ponty – „die Anderen in sich und wird durch sie in seinem Leib bestätigt.“19 Abschließend ein paar Worte zum Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, zu Affirmation, Transformation und Kritik. Ich habe If 6 Was 9 als Instrument eines Prozesses beschrieben, im Zuge dessen ich einen Erfahrungsmodus in mir mobilisiere, welcher der pubertären Wirklichkeitserfahrung nahekommt, sodass ich in diesem Sinne in die Perspektive der Jugendlichen einrücke. Von einem Instrument spreche ich, weil die medialen Mittel, etwa die Montage, in der Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk durchaus opak werden, jedoch mit der gelingenden ästhetischen Mobilisierung jenes Erfahrungsmodus zurücktreten. Diese Art der Verbindung der Fragmente macht die Erfahrung des Gezeigten „echt, wahrhaftig, lebendig“20 und kohärent, deswegen spreche ich von einer Wirklichkeitserfahrung. Ein so gefasstes Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit wäre nicht repräsentierend, sondern vermittelnd zu nennen. Und weil sie Wirklichkeit vermitteln, anstatt sie infrage zu stellen, können Ahtilas charakteristische Arbeiten der neunziger Jahre im Kontext des vorliegenden Bandes als affirmativ bestimmt werden. Für The Annunciation muss die Weise der Wirklichkeitsvermittlung allerdings anders erläutert werden, denn diese Arbeit lässt sich nicht insgesamt als Instrument des Anderserfahrens begreifen. Eher bietet sie dort, wo sie sich als Artefakt zurücknimmt, Einblicke in das, was, so der Eindruck, auch ohne die Arbeit geschieht, aber durch sie der intensiven Beobachtung zugänglich ist. Das Verhältnis von The Annunciation zur Wirklichkeit als sichtbares und eigenständiges Geschehen ist ebenfalls vermittelnd, jedoch nicht indem die Komposition ihrer Bestandteile ästhetisch einen besonderen Erfahrungsmodus evozierte. The Annunciation erlaubt vielmehr eine Zeugenschaft an der Wirklichkeit, in der die Perspektivwechsel der Protagonistinnen sich vollziehen, und damit die Anteilnahme an diesen Perspektivwechseln, wodurch sich auch die Perspektive der Betrachterin umbildet. Ein Wechsel der subjektiven Perspektive wird so als konstitutiv für neue Wirklichkeitserfahrungen erkennbar. In diesem Sinne ist auch diese zunächst skeptisch gestimmte jüngste Arbeit Ahtilas affirmativ zu nennen.
19 Merleau-Ponty: Der Philosoph und sein Schatten, S. 274. 20 Vgl. Fußnote 9.
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Weil Ahtilas Arbeiten aber affirmativ sind und zugleich eine Veränderung der Perspektive auf die Wirklichkeit erlauben, die sie vermitteln, sind sie auch transformativ: Sie befördern einen Wandel der Wahrnehmung von Wirklichkeit, um etwas an ihr zu entdecken, das zuvor nicht wahrnehmbar war. Anderes an der Wirklichkeit wahrnehmbar zu machen bedeutet aber bereits, die Wirklichkeit für uns zu verändern, denn eine anders wahrgenommene Wirklichkeit bedarf eines anderen Umgangs mit ihr. Bedeutet nun affirmativ und transformativ zu sein, nicht kritisch sein zu können? Ich glaube nicht. Indem Ahtilas Arbeiten die Erfahrung des Perspektivwechsels auffällig machen und so die Bedingungen der Möglichkeit von Wirklichkeitserfahrung virulent werden lassen, haben sie sogar eine kritische Funktion im klassischen Sinne. Doch da diese Bedingungen der Möglichkeit hier gerade nicht grundsätzlich unter Verdacht stehen, sind Ahtilas Arbeiten zwar kritisch, aber nicht kritizistisch.
Design und ökologische Wirklichkeit J OHANNES L ANG
Das Design wird gerne als Paradebeispiel einer Gestaltung aufgefasst, die transformierend in natürliche wie soziale Wirklichkeiten eingreift, eine unmittelbare Umgestaltung der Wirklichkeit leistet, während künstlerischen Praktiken gerne – gerade in Entgegensetzung zum Design – ein vermitteltes Reflexionsverhältnis zur Wirklichkeit attestiert wird und weniger ein wirklichkeitsveränderndes Verhältnis. Ich werde versuchen zu zeigen, dass dem Design neben dieser transformierenden Seite auch eine Wirklichkeit reflektierende Seite zukommt und wie diese beiden Dimensionen des Designs zusammenhängen. Hierzu werde ich mich auf Formen des Designs konzentrieren, die sich gegenwärtig durch die Betrachtung der Dinge nach ökologischen Gesichtspunkten entwickeln. Vor diesem Hintergrund werde ich schließlich einen kurzen Vorschlag machen, wie dieses Designverständnis für das Verständnis der Kunst fruchtbar gemacht werden könnte.
I.
Ö KOLOGISCHES B EWUSSTSEIN
Das wachsende Bewusstsein für ökologische Zusammenhänge hat nicht nur das Konsumverhalten, die Produktionsweisen von Konsumgütern und die Verfahren zu deren Entsorgung verändert, sondern auch die ästhetische Gestaltung von Produkten beeinflusst. Bevor ich zu diesen neuen Gestaltungsformen komme, möchte ich kurz dieses ökologische Bewusstsein charakterisieren, um dann später etwas zu dem Zusammenhang von Bewusstseinsveränderung und ästhetischen Veränderungen zu sagen.
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Was gerät in den Fokus, wenn die Wirklichkeit nach ökologischen Gesichtspunkten betrachtet wird? Für das ökologische Bewusstsein scheint es wesentlich zu sein, dass die Erde weder nur als ein anorganisches Gebilde betrachtet wird noch nur als ein unvermitteltes Nebeneinander von belebten und unbelebten Existenzen, sondern dass gerade die Zusammenhänge, die zwischen organischen und anorganischen Prozessen bestehen, virulent werden. Ernst Haeckel, auf den die Wissenschaft der Ökologie zurückgeht, drückt diesen Zusammenhang wie folgt aus: „Unter Oecologie verstehen wir die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle ‚ExistenzBedingungen‘ rechnen können. Diese sind teils organischer teils anorganischer Natur.“1 Was für eine ökologische Betrachtungsweise also an Bedeutung gewinnt, sind die organischen und anorganischen Zusammenhänge, in die Lebewesen eingebunden sind. Im kollektiven Bewusstsein wird Ökologie besonders mit anorganischen Prozessen in Verbindung gebracht, beispielsweise mit Energieressourcen, CO2-Ausstoß oder chemischen Abwässern. Bei genauerem Hinsehen scheinen jedoch diese anorganischen Prozesse nur insofern von Interesse für eine ökologische Betrachtungsweise zu sein, als sie in irgendeinem konstitutiven Zusammenhang mit Lebensformen stehen. Ökologische Probleme gibt es nur bezogen auf Organismen. Der Mars, sofern es zutrifft, dass dort kein Leben zu finden ist, kennt keine ökologischen Probleme, wie viel CO2 auch immer sich dort in der Atmosphäre befinden mag.2 Man könnte also durchaus sagen, dass sich für das ökologische Bewusstsein die Wirklichkeit nicht nur physikalisch, sondern auch im eminenten Sinne biologisch darstellt und gerade die Zusammenhänge zwischen anorganischer und organischer Natur virulent werden. Dieses Verhältnis von anorganischen Prozessen und Lebensformen möchte ich den ökologischen Aspekt der Wirklichkeit nennen. Die Neuerung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegenüber dem Haeckel’schen Verständnis von ökologischer Wirklichkeit besteht nun darin, diesen Zusammenhang von anorganischen Prozessen und Lebensformen auch auf die Artefaktwelt auszuweiten. Dadurch werden neue Di-
1
Ernst Haeckel: Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie, Berlin 1866, Bd. 2, S. 286.
2
Die Marsatmosphäre besteht zu etwa 95 % aus CO2.
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mensionen des Produktes relevant: Unter dem ökologischen Blick wird es hinsichtlich der stofflichen und energetischen Prozesse befragt, die es mit Organismen verbindet. Das Produkt wird nicht nur als physisches Objekt, das wiederum physikalische Veränderung ermöglicht gesehen, sondern als ein Ding, das auf vielerlei Weise mit Lebensprozessen verbunden ist.
II. DIE TECHNIKDOMINANZ IM ÖKOLOGISCHEN DESIGN Die ersten Versuche, diese ökologischen Zusammenhänge des Produktes bewusst in die Gestaltung einfließen zu lassen, treten bereits in den 1970er Jahren auf. Ich nenne hier nur Victor Papanek mit seinem einflussreichen Buch Design for the Real World3 oder Jochen Gros4, der sich an der HfG Offenbach für eine alternative Produktkultur einsetzte, oder den Designer und Umweltaktivisten Bernd Löbach5. Bis in die Gegenwart hinein hat sich die Integration ökologischer Fragestellungen in die Produktgestaltung mehr und mehr etabliert, sodass unter Bezeichnungen wie ‚Ecodesign‘ oder ‚nachhaltiges Design‘ bereits ein eigener Gestaltungsansatz entstanden ist. Es ist jedoch auffällig, dass hierunter in der Regel bloß die faktische Berücksichtigung ökologischer Zusammenhänge verstanden wird und nicht auch ein ästhetisches Phänomen. Hierdurch wird ökologisches Design auf
3
Die erste Ausgabe des Buches erschien auf Schwedisch: Victor Papanek: Miljön och miljonerna, Design som tjänst eller förtjänst?, Stockholm 1970, und ein Jahr später auf Amerikanisch: Victor Papanek: Design for the Real World. Human Ecology and Social Change, New York 1971
4
Vgl. Jochen Gros und weitere Mitglieder der Gruppe des-in: „des-in – ein neues Ornament?“, in: IDZ Berlin (Hg.): Produkt und Umwelt, Berlin 1974, S. 58 ff.; Jochen Gros: Eine Design-Initiative: „des-in“, in: form. Zeitschrift für Gestaltung Nr. 79 (1977), S. 15 ff.; ders.: „Halbfertigdesign. Auf der Suche nach Modellen und Beispielen für mehr Eigenarbeit“, in: Helmut Gsöllpointner (Hg.): Design ist unsichtbar, Wien 1981; ders.: „Alternativdesign – selber gemacht“, in: Kunst + Unterricht Nr. 56 (1979), S. 34 f.
5
Vgl. Bernd Löbach: Umwelterkenntnisse, Bielefeld 1972; ders.: Design durch alle. Alternativen zur fremdbestimmten Massenproduktkultur, Braunschweig 1983; ders.: „Welche Chancen hat ökologisch orientiertes Design?“, in: Bauwelt (1985) 29, S. 1157–1159.
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den Einsatz ökologischer Technologien reduziert, also auf bestimmte Produkteigenschaften und Herstellungsverfahren, deren mittelbare Auswirkungen auf Zusammenhänge von Lebensformen als weniger schädlich beurteilt werden. So beispielsweise Recycling, emissionsarme Produktionsverfahren oder die Verwendung von Bio- und Monomaterial. Dieser auffällige Mangel an theoretischer Auseinandersetzung mit der Ästhetik des ökologischen Produktdesigns ist insofern verständlich, als das Interesse der Designer gerade auf die faktische Veränderung und Berücksichtigung ökologischer Zusammenhänge zielt und zielte. Andererseits hat dieser Mangel historische Gründe, da das Ästhetische – zumindest in den Anfängen der ökologischen Bewegung – unter dem Generalverdacht stand, bloß ökonomischen Interessen zu dienen, gerade die tatsächlichen ökologischen und auch sozialen Zusammenhänge zu verschleiern und dem Konsumenten bloß etwas vorzuspielen, ihn zu verführen. Ein Produkt hatte ökologisch zu sein, es durfte nicht bloß ökologisch aussehen – was auch immer unter diesem ökologischen Aussehen konkret zu verstehen sei. Paradigmatisch für diese Sicht auf die Produktästhetik ist eine Äußerung von Fritz Haug, Autor der einflussreichen Kritik der Warenästhetik6, im Rahmen einer Umfrage des Internationalen Designzentrums Berlin: „In kapitalistischer Umwelt kommt dem Design eine Funktion zu, die sich mit der Funktion des Roten Kreuzes im Krieg vergleichen lässt. Es pflegt einige wenige – niemals die schlimmsten – Wunden, die der Kapitalismus schlägt. Es betreibt Gesichtspflege und verlängert so, indem es an einigen Stellen verschönernd wirkt und die Moral hochhält, den Kapitalismus wie das Rote Kreuz den Krieg. Das Design hält so durch eine besondere Gestaltung die allgemeine Verunstaltung aufrecht. Es ist zuständig für Fragen der Aufmachung, der Umwelt-Aufmachung.“7
Ökologische Gestaltung wurde so und wird bis heute tendenziell unter der Vorstellung theoretisiert, dass sie ohne Berücksichtigung ästhetischer Fragestellungen produziert, ihren Sinn also geradezu ausschließlich in dem Realisieren ökologischer Technologien erblickt. Dass es an Bewusstsein für die ästhetischen Veränderungen im Zuge einer ökologischen Betrach-
6
Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt am Main 1971.
7
Wolfgang Fritz Haug in: IDZ Berlin (Hg.): Design? Umwelt wird in Frage gestellt, Berlin 1970, S. 55 f.
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tungsweise der Dinge mangelt, heißt jedoch nicht, dass solche ästhetischen Veränderungen nicht auch auszumachen wären. Einige Beispiele dieser ästhetischen Veränderungen im Produktdesign werde ich im Anschluss an einige Vorbemerkungen zeigen. Hierbei werde ich mich auf eine bestimmte Gebrauchsästhetik konzentrieren, die allerdings nur eine Tendenz im Feld des ökologischen Designs darstellt. Daneben gibt es auch eine charakteristische Materialästhetik und eine Produktionsästhetik, die einer eigenen Betrachtung bedürften.8 Für diese Gebrauchsästhetik ist zunächst ein anderes verändertes Bewusstsein vom Gebrauch ausschlaggebend.
III. E IN
NEUES
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VOM
G EBRAUCH
Charakteristisch für den ökologischen Blick auf den Gebrauch ist, dass dieser – anders als beispielsweise noch im Funktionalismus – nicht mehr nur als ein mechanisches Ineinandergreifen von Objekten begriffen wird, sondern als ein prozessuales Geschehen, das das Produkt mit seiner Umgebung wie mit seinen Nutzern verbindet und durch das es mittelbar mit Lebensformen zusammenhängt. Technologisch äußert sich dieser Blickwechsel in der Berücksichtigung verschiedener Nebeneffekte, die nicht als der eigentliche Zweck des Produktes angesprochen werden können, sondern sich als Begleiterscheinung im Zuge des Gebrauchs ereignen. Dies wird beispielsweise in der Thematisierung von Autoabgasen oder der Grundwasserbelastung durch Reinigungsmittel deutlich, Prozessen, die ja nicht Teil des intendierten Gebrauchszwecks sind. Dadurch, dass das Produkt nun nicht mehr als autonomes Objekt, sondern in stofflicher und energetischer Interaktion mit seiner Umgebung betrachtet wird, wird die Frage nach seiner Haltbarkeit von einer reinen Objektangelegenheit zu einer Angelegenheit, die das Interaktionsverhältnis von Nutzer und Produkt betrifft. Wie ich zeigen werde, gewinnen hierdurch Gebrauchsspuren als die sichtbaren Äußerungen dieses stofflichen und körperlichen Interaktionsverhältnisses für eine Gestaltung unter ökologischen Gesichtspunkten besondere Bedeutung.
8
Vgl. zur Produktionsästhetik: Bernhard Schieder und Johannes Lang: „Formen des ‚Kontingenten‘ in Land-Art und ökologischem Design“, in: Frédéric Döhl, Fiona McGovern, Daniel Martin Feige und Thomas Hilgers (Hg.): Konturen des Kunstwerks. Zu Relevanz und Kontingenz, München 2013, S. 51 ff.
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IV. G EBRAUCHSSPUREN
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Einen frühen experimentellen Forschungsansatz zu dem Thema der Gebrauchsspur verfolgt Jochen Gros an der HfG Offenbach Anfang der 70er Jahre. Er vergleicht die Gebrauchsspuren einer „perfekten Minimalform“ mit den Gebrauchsspuren auf einem lackierten Blechgegenstand, der reliefartig erhabene Buchstaben aufweist und kommt zu dem Ergebnis: „Dort, wo bei der perfekten Minimalform mit der Zeit unansehnliche Flecken und Kratzer zufällig entstehen, werden hier – vorausbedacht – die erhabenen Stellen des Buchstabenreliefs abgeschliffen. Gebrauchsspuren entstehen dadurch nicht als lästige Einbrüche in die ursprüngliche Perfektion neuer Produkte, sondern im Grunde sind sie es erst, die das Produkt mit der Zeit zum Leben erwecken“.9
Er erkennt sogleich auch den Zusammenhang dieser Beobachtung mit der Gestaltung langlebiger Produkte: „Was Experimente dieser Art einmal für die Entwicklung von Langzeitprodukten, für unsere Motivation, Produkte reparieren zu lassen bedeuten könnten, liegt auf der Hand.“10 Auch Victor Papanek weist schon 1970 in seinem Buch Design for the Real World darauf hin, dass offenbar bestimmte Materialien „mit Anmut altern“, während andere es nicht tun.11 Es wird also bewusst, dass die Spuren, die ein Produkt während seines Gebrauchslebens annimmt, einen entscheidenden Einfluss auf das Verhältnis des Nutzers zum Produkt haben können, indem sie das Produkt ästhetisch entwerten oder aufwerten. Allerdings ist mit solchen Feststellungen
9
Jochen Gros: „Sinn-liche Funktionen im Design“, in: form. Zeitschrift für Gestaltung Nr. 75 (1976), S. 16.
10 Ebd. 11 Vollständig heißt es dort: „Strohdächer, hölzerne Möbel, Kupferkessel, Lederschürzen, Keramikschalen – alle diese Dinge altern mit Anmut. Sie bekommen kleine Kratzer und Kerben, bleichen aus und nehmen eine leichte Patina an; schließlich zerfallen sie wieder in ihre organischen Komponenten. Heute lehrt man uns, dass Altern eigentlich etwas Schlechtes ist. Wir tragen, benützen, freuen uns an Dingen nur, solange sie wie eben gekauft aussehen.“ (Victor Papanek: Das Papanek-Konzept. Design für eine Umwelt des Überlebens, übers. v. Wolfgang Schmidbauer, München 1972, S. 224.)
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noch nicht die Ästhetik charakterisiert, die sich durch die gestalterische Integration der Gebrauchsspuren ergibt. Für Jochen Gros hängt sie lediglich von dem Vorhanden- oder Nichtvorhandensein einer „perfekten Minimalform“ ab, für Victor Papanek von bestimmten Materialien. Anhand weniger Beispiele werde ich nun zeigen, wie der Produktgebrauch vor einem ökologischen Hintergrund ästhetisch verhandelt wird und welche Rolle hierbei die Gebrauchsspuren einnehmen. Dazu stelle ich zunächst unterschiedliche Beispiele vor, um dann ihre verbindende Ästhetik zu charakterisieren.
V. P RODUKTBEISPIELE Besonders explizit hat Kristine Bjadaal mit der Tischdecke „Underfull“ und dem Polsterstoff „Underskog“ die im Gebrauch der beiden Produkte auftretenden Spuren zu einem Moment der Gestaltung werden lassen. Zunächst
Abbildung 1: Kristine Bjadaal, „Underfull“, 2009. Quelle: Kristine Bjadaal
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erscheint „Underfull“ dem Nutzer wie eine herkömmliche weiße Tischdecke, auf der durch unterschiedliche Weberichtungen der Fäden ein Blumenmuster hervorschimmert. Erst wenn im Gebrauch etwa ein Getränk umgestoßen wird oder sich eine andere Flüssigkeit über das Tischtuch ergießt, taucht aus dem dezenten Blumenmuster in der Farbe der Flüssigkeit eine Anzahl von Schmetterlingen auf, die in einem dritten Faden eingearbeitet sind, der sich nur in seiner Saugfähigkeit, aber nicht in seinem Reflexionsverhalten von den anderen Fäden unterscheidet.12 Es ist anzunehmen, dass die Tischdecke nach einer längeren Gebrauchsdauer ein blasses mehrfarbiges Schmetterlingsmuster aufweisen wird, je nach Art der Flüssigkeiten, die im Gebrauch ihre Spuren hinterlassen. Der Polsterstoff „Underskog“ hingegen macht sich den mechanischen Abrieb von Textilfasern im Prozess des Gebrauchs von Sitzpolstern zunutze. Er besteht aus Samt- und Satinfasern, die sich durch unterschiedliche Abriebfestigkeit auszeichnen. Ähnlich der Tischdecke „Underfull“ ist in den Satinstoff mittels des DamastWebverfahrens ein florales Muster eingewebt, das erst im Prozess des Gebrauchs durch Abrieb der weicheren Samtfasern zur Erscheinung kommt. Wie lässt sich nun diese Art des Umgangs mit Gebrauchsspuren charakterisieren, und wie verändert sich hierdurch die Gebrauchserfahrung des Nutzers? In faktischer Hinsicht ist für Gebrauchsspuren zunächst charakteristisch, dass sie nicht Produkt einer produzierenden Absicht sind, sondern Begleiterscheinung einer zweckgerichteten Handlung, in deren Vollzug sich unwillkürlich und unbeabsichtigt eine formale Veränderung des gebrauchten Handlungsmittels ereignet. Dieses nichtintentionale Moment der Gebrauchsspuren, die eben nicht das Ergebnis von Gestaltung, sondern das unwissentliche Nebenprodukt des Handelns mit und durch Gegenstände sind, hat jedoch auch eine bestimmte Wahrnehmung zur Folge. Sie erscheinen dann als etwas, was nicht dem Produkt angehört, sondern eben jenen Prozessen, die sie hinterließen. Sybille Krämer fasst diese Eigenart der Spur in dem griffigen Satz zusammen: „Die Spur macht das Abwesende niemals präsent, sondern vergegenwärtigt seine Nichtpräsenz; Spuren zeigen nicht das Abwesende, sondern vielmehr dessen Abwesenheit.“13
12 Vgl. David Kasparek: „der schöne gebrauch. Mehrwert: Wertsteigerung durch Abnutzung“, in: der architekt (2010) 3, S. 10 f. 13 Sybille Krämer: „Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme“, in: dies., Werner Kogge und Gernot
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Abbildung 2: Kristine Bjadaal, „Underskog“, 2009. Quelle: Kristine Bjadaal
Anders verhält es sich jedoch mit den Gebrauchsspuren, die im Zuge der Benutzung von „Underfull“ und „Underskog“ entstehen. Da diese nun nicht mehr nur auf Abwesendes verweisen, sondern am Produkt einen formalen Sinn erhalten, werden sie auch nicht mehr als ein dem Produkt äußerlicher Einfluss erfahren, der die intendierte formale Ordnung des Produkts zerstört, sondern der im Gegenteil die vom Entwurf angelegten verborgenen Formmomente allererst in die anschauliche Anwesenheit überführt. Eine ganz andere Strategie, Gebrauchsspuren als Teil des Produktes zu gestalten, nutzt Tokujin Yoshioka mit seinem Sessel „Honey Pop“. Der Sessel besteht aus Papier, das so gefaltet und verklebt wurde, dass sich die in Rollen produzierten Papierschichten zu einem dreidimensionalen Gebilde mit der Grundform eines Sessels entfalten lassen. Im entfalteten Zu-
Grube (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt am Main 2007, S. 15.
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Abbildung 3: Tokujin Yoshioka, „Honey Pop“, 2000–2001. Quelle: Tokujin Yoshioka Inc.
stand weist der Sessel eine präzise rautenförmige Wabenstruktur auf, die in einer geschwungenen S-Form Sitzfläche und Lehne durchgängig verbindet. Entscheidend ist nun, dass diese zarte und homogene Struktur mit dem ersten Gebrauch unrevidierbar zerstört wird, indem sie den Körperabdruck des Gebrauchenden aufnimmt und bewahrt. Im Gegensatz zu den Beispielen von Bjadaal wird hier also durch den Gebrauchsprozess nicht eine vom Entwurf her angelegte Form zur Erscheinung gebracht, sondern umgekehrt fungiert die entwurfsbestimmte Form mit ihrer makellosen Geometrie als Kontrastmittel, durch das die gebrauchsbestimmende Form des Körperabdrucks allererst zur Erscheinung kommt. Hierdurch ist es dem Nutzer nicht mehr möglich, den Gebrauch als einen für die Produktwahrnehmung unwesentlichen Prozess aufzufassen, sondern der Gebrauch wird notwendig formgebend, und die vom Gebrauch unabhängige, autonome Gestalt des Produktes wäre nur zu haben, wenn es nicht gebraucht würde. Hat Bjadaal den unanschaulichen Verweisungs-
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Abbildung 4: Simon Heijdens, „Broken White“, 2004. Quelle: Studio Simon Heijdens Ltd.
charakter der Gebrauchsspuren dadurch kompensiert, dass diese die entwurfsbestimmte Textur zur Erscheinung bringen, so Yoshioka, indem er sie zum formalen Bestandteil der funktional relevanten Form macht. Es gibt jedoch auch Beispiele, in denen die Spurbildung so organisiert wird, dass an ihrer formalen Struktur weder entwurfsbestimmte Motive noch die gebrauchsbestimmende Form des Produktes präsent werden, sondern die für die Spurbildung relevanten anorganischen Prozesse. Die beiden Service „Broken White“ von Simon Heijdens und „CMYK“ von Matthias Lange sind solche Beispiele. Mit „Broken White“ macht sich Simon Heijdens die unterschiedlich starke Ausdehnung zweier Glasuren unter dem Einfluss von Wärme zunutze. Kommt das Geschirr mit warmen Speisen in Kontakt, so dehnt sich die in geschwungenen Linien aufgetragene Glasur stärker aus als die darüberliegende, homogen die Oberfläche versiegelnde zweite Glasur. Das Resultat sind feine Sprünge in der zweiten Glasur, die sich entlang der geschwungenen Linie der ersten Glasur bilden. Nach Angaben von Simon Heijdens bilden sich diese Sprünge erst nach und nach im Laufe des Gebrauchs aus. Während Simon Heijdens bewusst einen energetischen Prozess, der in der Regel keine Spuren hinterlässt, nämlich die Wärme von Speisen, zu einem spurbildenden Prozess werden lässt, widmet sich Matthias Lange einem stofflichen Prozess, dessen Spuren uns wohlbekannt sind: die durch Stöße unterschiedlichster Art erzeugten Absplitterungen und Macken an den Geschirrrändern. Da das Porzellan des Services in jeweils einer der aus der digitalen Drucktechnik bekannten Grundfarben eingefärbt ist und nur die Glasur dem Geschirr ein homogenes weißes Äu-
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Abbildung 5: Matthias Lange, „CMYK“, 2008. Quelle: Matthias Lange
ßeres verleiht, kommt erst durch die Absplitterung die Farbe des Porzellans zur Erscheinung. Worin unterscheidet sich nun diese Art des Umgangs mit der Gebrauchsspur von den vorangegangenen Beispielen, und was wird durch sie und an ihnen präsent? Auch die Spuren der Service „Broken White“ und „CMYK“ weisen entwurfsbestimmte Formmomente auf. Im ersten Fall die geschwungene Linie, an der die Spuren entstehen, im zweitem Fall die Farbe, in der die Spuren erscheinen. Diese entwurfsbestimmten Formmomente erfüllen jedoch weder die Funktion einer figuralen Repräsentation, wie bei Bjadaals „Underfull“ und „Underskog“, noch einer gebrauchsbestimmenden Form, wie bei Yoshiokas „Honey Pop“, sondern sie fungieren als formales Kontrastmittel für die Spur selber, vor deren Hintergrund die entwurfsunabhängigen Formmomente der Spur besonders deutlich zur Geltung kommen. Bei der Betrachtung von „Broken White“ befindet sich nicht etwa die entwurfsbestimmte Linie im Fokus der Wahrnehmung, nicht jene formale Verfasstheit, die ihr vom Entwurf her anhaftet, ist von Interesse, sondern jene ausgefransten, verästelten Formmomente, die sich gerade entwurfsunabhängig und prozessbedingt entlang der Linie bilden. Für das Geschirr „CMYK“ gilt dasselbe. Auch hier liegt das eigentliche Wahrnehmungsinteresse nicht auf der entwurfsbestimmten Farbe der Spuren, sondern die Farbe ist bloß das Kontrastmittel, durch das die Spuren und ihre entwurfsunabhängigen Formmomente sich besonders wirkungsvoll von dem umgebenden spurenlosen Weiß abheben können. Während bei Bjadaal die Formmomente der Spur einer entwurfsbestimmten Form zur
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Erscheinung verhelfen und in ihr aufgehen, verhilft hier eine entwurfsbestimmte Form den spureigenen Formmomenten zur kontrastreichen Erscheinung. Die formale Seite der Spur, ihre je eigengesetzliche Ausprägung wird so zum Hauptinteresse der Wahrnehmung, hinter den ihr Verweisungscharakter zurücktritt.
VI. P RODUKTÄSTHETIK UND ÖKOLOGISCHE W IRKLICHKEIT Wie lässt sich nun die gemeinsame Ästhetik der vorgestellten Beispiele charakterisieren? Und welcher Zusammenhang lässt sich zwischen dieser Gebrauchsästhetik und ökologischer Wirklichkeit ausmachen? Für alle Beispiele ist charakteristisch, dass die anorganischen Prozesse des Gebrauchs sich nicht nur faktisch ereignen, was sie ohnehin tun, sondern dass sie zu einem konstitutiven Moment der Produktwahrnehmung werden. Mal bringen die anorganischen Prozesse erst bestimmte Momente des Entwurfs zur Erscheinung, mal erzeugt der körperliche Interaktionsprozess erst die Formen der Brauchbarkeit und mal gelangt im Kontrast zum Entwurf gerade die charakteristische Eigengesetzlichkeit der Spurformen in die Wahrnehmung. Die anorganischen Prozesse artikulieren sich hierin als ein notwendiges Moment des Gebrauchs, als jener Zusammenhang anorganischer Prozesse, ohne deren Wechselwirkung kein Produkt zu gebrauchen ist. Während jeder Gebrauch faktisch die Wechselwirkung einer Lebensform – nämlich des Nutzers – mit anorganischen Prozessen einschließt, also eine ökologische Wirklichkeitsdimension aufweist, ist dieser Zusammenhang nicht unbedingt zugleich auch ein wahrnehmbarer. In den beschriebenen Verfahren wird dieses Interaktionsverhältnis des Nutzers mit den anorganischen Prozessen des Gebrauchs jedoch wahrnehmbar artikuliert. So, wie für Lebensformen Wechselwirkungen mit den anorganischen Prozessen ihrer Umgebung konstitutiv sind, so werden hier die anorganischen Prozesse, die den Gebrauch neben affektiven und anderen Dimensionen auszeichnen, konstitutiv für die Produkterscheinung. Sofern also ökologische Wirklichkeit genau jene Wechselbeziehungen meint, die zwischen Lebensformen und den anorganischen Prozessen ihrer Umgebung bestehen, kann diese Ästhetik auch eine sinnliche Artikulation, eine ästhetische Reflexion
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eines solchen Zusammenhangs genannt werden, der hier die spezifische ökologische Wirklichkeit des einzelnen Produktgebrauchs ist.
VII. P RODUKTÄSTHETIK
UND
P RODUKTTECHNOLOGIE
Es ist nun auffällig, dass keines der gezeigten Beispiele ein ökologisches Produkt im herkömmlichen Sinne genannt werden kann. Hieran wird deutlich, dass die geläufige Verwendung des Prädikats ‚ökologisch‘ bezogen auf die Wirklichkeit normativ und nicht deskriptiv ist. ‚Ökologisch‘ bezeichnet in dieser Verwendung bereits einen bestimmten technischinstrumentellen Umgang mit den für Lebensformen konstitutiven anorganischen Prozessen des Produktes. Das heißt, mit dem normativen Prädikat ‚ökologisch‘ oder dem gängigeren Äquivalent ‚umweltfreundlich‘ wird nicht eine Wirklichkeit benannt, sondern eine Technik, die sich auf diese Wirklichkeit instrumentell bezieht. Diese habe ich eingangs die ökologische Wirklichkeit genannt, und sie kommt jedem Produkt zu, sofern es nur in irgendeinem konstitutiven Zusammenhang mit Lebensformen steht. In der deskriptiven Verwendung ist also jedes Produkt wesentlich ökologisch oder ‚umwelthaltig‘, um das entsprechende Pendant zu ‚umweltfreundlich‘ zu verwenden. Erst der instrumentell-technische Umgang mit dem ökologischen Wirklichkeitszusammenhang des Produktes entscheidet darüber, ob es nun auch in einem normativen Sinn ‚ökologisch‘ genannt werden kann, also eine ökologische Technologie aufweist. Da die gezeigten Beispiele nun nicht im normativen Sinn ökologisch sind, das heißt keine ökologische Technologie aufweisen14, stellt sich die Frage, wie der Zusammenhang von ökologischer Produkttechnologie und ökologischer Produktästhetik zu erläutern wäre. Wie lässt sich das Verhältnis von einerseits Wirklichkeitstransformation und andererseits Wirklichkeitsartikulation durch das Design beschreiben?
14 Man mag einwenden, dass die behandelten Produktbeispiele durch die womöglich längere Nutzungsdauer auch eine ökologische Technologie aufweisen. Dieser ökologische Effekt ist jedoch ein Nebeneffekt einer ästhetischen Leistung. Um eine technische Leistung würde es sich beispielsweise handeln, wenn Merkmale des Produkts in Hinblick auf eine gesteigerte Haltbarkeit verändert würden.
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Hierzu scheint es nötig, das Verhältnis von Ästhetik und Technologie nicht deterministisch zu denken, wie es im Zuge einer einseitigen Lesart des Funktionalismus mit seinem Credo ‚Form follows function‘ auch heute noch getan wird. Denn offensichtlich hat die Ästhetik der gezeigten Beispiele weder eine ökologische Technologie zu ihrer Voraussetzung, noch ist dieser technisch-instrumentelle Umgang mit ökologischer Wirklichkeit – also ‚Umweltfreundlichkeit‘ – das, was ästhetisch reflektiert wird. Existierte ein deterministischer Zusammenhang von Technologie und Produktästhetik, so könnten wir uns im Übrigen die verschiedenen Ökosiegel zur Kennzeichnung ökologischer Produkte – also von Produkten mit einer ökologischen Technologie – getrost sparen, ihre abweichende Ästhetik würde die Verwendung ökologischer Technologien hinreichend erkennbar machen. Stattdessen klärt sich meines Erachtens das Verhältnis von Produktästhetik und Produkttechnologie, wenn wir nicht versuchen, das eine aus dem anderen abzuleiten, sondern ihren Zusammenhang in einem gemeinsamen Bezugspunkt suchen, nämlich bestimmten Aspekten der Wirklichkeit, mit denen das Produkt zusammenhängt. Diese werden unter bestimmten Bewusstseinsbedingungen – hier den ökologischen – zum Gegenstand des Gestaltungsinteresses. Im ökologischen Produktdesign bezieht sich dieses Gestaltungsinteresse auf die anorganischen Prozesse, die das Produkt mit Lebensformen verbinden. Wird dieses Gestaltungsinteresse Ausgangspunkt technologischer Gestaltung, so resultiert es in einer instrumentellen Veränderung dieser anorganischen Prozesse zu solchen Prozessen, die in Hinblick auf den Zusammenhang von Lebensformen als wünschenswert beurteilt werden. Diese instrumentelle Veränderung der anorganischen Prozesse ist das, was wir eine ökologische Technologie nennen können. Wenn dagegen dieses Gestaltungsinteresse zum Ausgangspunkt ästhetischer Gestaltung wird, so werden diese anorganischen Prozesse nicht instrumentell verändert, sondern zu einem reflexiven Moment der Wahrnehmung, sie werden sinnlich artikuliert. Die technologische und die ästhetische Seite des Produktes müssen jedoch nicht zwangsläufig in einem Zusammenhang stehen. Ob ein solcher besteht, hängt vielmehr davon ab, ob die technologische Gestaltung mit der ästhetischen ein gemeinsames Gestaltungsinteresse verbindet. Dieses würde sich im Falle des ökologischen Designs auf den produkteigenen ökologischen Wirklichkeitszusammenhang richten.
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VIII. D ESIGN
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Die zu Beginn aufgegriffene Ansicht, Design zielte auf eine unmittelbare Umgestaltung von Wirklichkeit, kann also zwar für die technische, nicht jedoch für die ästhetische Seite gelten, die eher als Artikulation denn als Transformation von Wirklichkeit zu erläutern wäre. Vielmehr ließe sich fragen, ob der Unterschied zwischen den Gestaltungspraktiken der Kunst und des Designs nicht weniger in der Art der Gestaltung – also in den einerseits ästhetischen und andererseits technischen Verfahren – als vielmehr in ihrem Gegenstand besteht. Ich meine hiermit den Wirklichkeitsbereich, der bearbeitet und zum Ausgangspunkt von Gestaltung wird. Dies würde bedeuten: Tritt der Wirklichkeitszusammenhang eines Mittels des alltäglichen Lebens in den Fokus von Gestaltung, so nennen wir es Design, geht es um die Gestaltung anderer, meist umfassenderer Wirklichkeitszusammenhänge – wie die eines Ortes, einer Situation, dieses oder jenes gesellschaftlichen oder natürlichen Lebens oder der Bedingungen dieses oder jenes Wahrnehmungsmomentes –, so nennen wir es Kunst. Die Gegenüberstellung von Kunst und Design würde dann nicht mehr zugleich auch eine Unterscheidung von ästhetischer und technischer Gestaltung nahelegen. Vielmehr würde die Unterscheidung von ästhetischer und technischer Gestaltung quer zu der Entgegensetzung von Kunst und Design liegen, also sowohl die Kunstpraxis wie auch die Designpraxis betreffen. Demnach wäre es eine Herausforderung, beide Seiten – die technische und die ästhetische, die transformierende und die artikulierende Seite – nicht nur im Design, sondern auch in der Kunst nachzuweisen. Sofern es sich um die ästhetische Seite der Kunst- wie der Designpraxis handelt, hätten wir es dann jedoch womöglich gleichermaßen mit einer sinnlichen Artikulation des Wirklichen zu tun, seiner ästhetischen Reflexion. Wollte man diese Auffassung in den Zusammenhang historischer Auffassungen stellen, so wäre sie in Abgrenzung zu Heideggers Gegenüberstellung des Zeuges – also den Gebrauchsdingen – auf der einen Seite und dem Werk auf der anderen Seite zu erläutern.15 Nach Heidegger ist das
15 Vgl. für eine ausführliche Darstellung von Heideggers Kunstauffassung bezogen auf den Zusammenhang von Kunst, Affirmation und Wirklichkeit in diesem Band: Thomas Hilgers: „Kunst, Wirklichkeit und Affirmation. Einige Gedanken zu Heideggers Kunstwerkaufsatz“, S. 19.
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Kunstwerk „eine Möglichkeit der Wahrheit inmitten des Seienden selbst seiend zu sein“16. Dieser Zusammenhang gilt jedoch nicht für die Gebrauchsdinge. Für diese gilt vielmehr: „Dagegen ist die Anfertigung des Zeuges nie unmittelbar die Erwirkung des Geschehens der Wahrheit. Fertigsein des Zeuges ist Geformtsein eines Stoffes, und zwar als Bereitstellung für den Gebrauch. Fertigsein des Zeuges heißt, daß dieses über sich selbst hinweg dahin entlassen ist, in der Dienlichkeit aufzugehen“.17
Das für die Moderne charakteristische und berechtigte Bemühen, gedanklich zwischen dem Ästhetischen und Technischen zu unterscheiden, ist nicht bei einer gedanklichen Unterscheidung stehen geblieben, sondern ist zu einer Unterscheidung von Artefakten geworden. „Während somit in der autonomen Kunst die ästhetische Funktion von allen externen Zwecken sich löst, scheint sie im Produkt der Industrie mit der Zweckmäßigkeit zu verschmelzen.“18 Das Ästhetische und Technische sind danach nicht Aspekte der Dinge, je nach ihrer Erfahrung oder des Umgangs mit ihnen, sondern die Dinge selbst: auf der einen Seite das Designprodukt und auf der anderen Seite das Kunstwerk. Wie gesagt, hat aber alles, was überhaupt wahrgenommen werden kann, eine bestimmte technische Eignung einerseits sowie die Befähigung zu ästhetischer Reflexion andererseits. Heideggers Zeug-Theorie ist demnach keine solche des wirklichen Gebrauchsprodukts, sondern eine allgemeine Theorie des technischen Prinzips, der technischen Praxis, die jedoch bezogen auf alles Wahrnehmbare möglich ist und nicht nur bezogen auf Artefakte, die eigens für diese Praxis hergestellt wurden. Umgekehrt wird von ihm das ästhetische Reflexionspotenzial nur Kunstwerken zugesprochen: „Was vom Zeug gilt, dass wir das Zeughafte des Zeuges erst eigens durch das Werk erfahren, gilt auch vom Dinghaften des Dinges“.19
16 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart 1960, S. 62. 17 Ebd., S. 65. 18 Albrecht Wellmer: „Kunst und industrielle Produktion“, in: ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt am Main 1985, S. 116. 19 Vgl. Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 71. Wie ich erläutert habe, ist das ästhetische Reflexionspotenzial des ökologischen Produktdesigns zudem gerade nicht als Reflexion der dem Produkt eigenen Technologie zu verstehen,
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Während bei Heidegger die ästhetische Reflexion des Seins der Dinge oder des Zeuges erst mit dem Kunstwerk auftritt, ist bei Fritz Haug das Gebrauchsprodukt zwar einer Ästhetik fähig, jedoch ist diese nicht die sinnliche Artikulation bestimmter Wirklichkeitszusammenhänge, sondern als bloße zum Kauf verleitende und Bedürfnisse schaffende „Umwelt-Aufmachung“20 selbst technisches Prinzip, also eine die Wirklichkeit mittelbar transformierende Kommunikations- oder Werbetechnik. Ich wollte hingegen zeigen, dass im Design beides stattfindet: Das Design affirmiert die Produktwirklichkeit, wo es sinnlich artikuliert, und es transformiert diese, wo es technisch verändert.
sondern bezogen auf dessen ökologischen Wirklichkeitszusammenhang, auf den sich auch eine ökologisch zu nennende Technologie beziehen würde. 20 Vgl. Anm. 7.
Kritik Wirklichkeitsbestimmung durch Kunst
Die Künste und die Wissenschaften Beobachtungen anlässlich der dOCUMENTA (13) R ICHARD H OPPE -S AILER
Immer wieder sind in der zeitgenössischen Kunst Bestrebungen zu beobachten, Kunst und benachbarte gesellschaftliche Felder wie soziale und politische Bewegungen oder aktuelle naturwissenschaftliche Forschungen in einen Bezug zueinander zu setzen, der die traditionellen Grenzen zwischen diesen Handlungsräumen obsolet werden lässt. Die dOCUMENTA (13) von 2012 hat diesen Verknüpfungen zwischen ästhetischen, sozialen und wissenschaftlichen Handlungsfeldern besonders große Aufmerksamkeit gewidmet. Sie hat sie nicht allein in den Werken selbst aufgesucht, sondern auch in deren unterschiedlichen Präsentationsformen. Damit schließt die aktuelle Kunst an eine Reihe von ästhetischen Vorstellungen der historischen Avantgardebewegungen an, an die Idee der Verschmelzung von Kunst und Leben, die die Kolonie auf dem Monte Verità zu verwirklichen suchte, oder auch an diejenige des Gesamtkunstwerks Wagner’scher Provenienz.1 Die Geschichte hat gezeigt, dass solche Grenzgänge und Vereinigungsphantasmagorien nicht ohne Aporien möglich sind, die anhaltende Debatten darüber auslösen, ob eine solche Kunst noch kritischen oder doch einen tendenziell affirmativen Charakter trägt. Diese allgemeinen Fragen möchte ich in einigen wenigen Gedankengängen und einem kurzen
1
Vgl. Harald Szeemann (Hg.): Monte Verità. Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie, Ausst.-Kat. Museum Villa Stuck, München, Mailand 1980.
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historischen Rückblick etwas zu konturieren versuchen. Dabei kreise ich um die Frage, wie sich in der aktuellen Kunst ein verändertes Natur- und Wissenschaftsverständnis niederschlägt. Ein solcher Naturbezug kann nur ein mehrfach gebrochener und vermittelter sein. Die Rede vom unmittelbaren und unvermittelten Naturbezug ist längst als eine hochgradig ideologische entlarvt. In Zeiten globaler Visualisierungsmodelle erscheint diese Vermitteltheit als ein ästhetisches Phänomen, dessen Ausdifferenzierung von den Wissenschaften selbst nachhaltig betrieben wird. Die Unanschaubarkeit ihrer Erkenntnisse zwingt sie zu vielfältigen Visualisierungsstrategien, wollen sie gesellschaftlich und politisch wahrgenommen werden. Adaptieren die Naturwissenschaften ästhetische Strategien, so übernehmen die Künste im Gegenzug wissenschaftliche Attitüden, nicht zuletzt verbunden mit der Hoffnung, vermeintlich verlorene gesellschaftliche Akzeptanz zurückzugewinnen. So entsteht eine Grauzone, in der sich die Frage nach den künstlerischen Kosten einer solchen Akzeptanz besonders nachdrücklich stellt. Anders gesagt: Wie ist es im Lichte dieser wechselseitigen Mimikry noch möglich, eine kritische künstlerische Position auszubilden? Oder ist die Erwartung einer solchen Kritik selbst obsolet geworden? Wie gehen Künstlerinnen und Künstler also mit dem Problem um, dass der Mensch des 21. Jahrhunderts Natur – in einer hoch technisierten und in weiten Teilen virtuell zugänglichen und manipulierbaren Welt – als im mehrfachen Sinne gebrochene erfährt?
E IN
KURZER
B LICK
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Auf der Folie dieser Problemskizze stellt sich auch die naturphilosophische Frage nach der Bedeutung der Begriffe ‚Umwelt‘ und ‚Mitwelt‘ neu. Erfahren wir Natur als uns Fremdes und Anderes, das die Welt um uns herum bestimmt, oder erfahren wir uns als deren unabscheidbaren Teil? In Letzterem klingen holistische Vereinigungsfantasien an, die möglicherweise auch die neueren Bestrebungen, die Kunst-Nichtkunst-Dichotomie aufzulösen oder, genauer, einen nahezu symbiotischen Naturbezug der Kunst herzustellen, grundieren. Es ist wohl nicht zufällig, dass es genau diese Vorstellungen waren, die weite Teile der klassischen Moderne beeinflussten. Natürlich ist es der immer wieder beschworene Nietzsche, dessen Texte im Umkreis der Expres-
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sionisten intensiv diskutiert wurden.2 Mindestens ebenso bedeutsam ist die Vielzahl lebensphilosophischer Literatur, die die Vorstellung des Wechselverhältnisses von Natur und Kunst nachhaltig geprägt hat.3 Besonders verlockend erschien dies natürlich einem Naturwissenschaftler wie Ernst Haeckel, der die Kunstmächtigkeit der Natur selbst meinte nachweisen zu können. Seine zwischen 1899 und 1904 publizierten Kunstformen der Natur4 standen in nahezu jedem Atelier der Zeit. Betrachtet man sie genauer, entlarven sie auch zugleich eines der großen Missverständnisse, die mit dieser Kunst-Natur-Ehe verbunden waren und sind. Aus Haeckels Aufzeichnungen und vor allem aus seinen Briefen wissen wir, wie artifiziell er die Präparate zurichten musste, um genau jene Bilder zu erhalten, die die Wirkmächtigkeit seines monistischen Gedankengebäudes stützen sollten. Nicht anders als heutige digitale Manipulationen veränderte Haeckel seine Befunde in mehreren Stufen. Er bereitete bereits sein Präparat auf das gewünschte Bild hin zu. Und auch der Bildprozess selbst war so organisiert, dass er nicht etwa die Struktur der Kalkgerüste von Einzellern eindeutig wiedergab, sondern dass in seinem Gefolge ein neues, höchst artifizielles und eigenständiges Bild entstand.5 Dieses konnte dann, ganz in Haeckels Sinne, der Propagierung von Symmetrie und allgegenwärtiger ästhetischer Harmonie dienen, die er zur Veranschaulichung seines holistischen Konzeptes der Allbeseeltheit benötigte. Damit schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe: Er fand den visuellen Beleg für seine philosophische These, und er konnte zugleich der Kunst ihr Letztbegründungsargument liefern, nämlich dass sie untrennbar mit der Natur und mit Naturprozessen verbunden sei,
2
Vgl. Emil Nolde: Jahre der Kämpfe, 2., erw. Aufl., Flensburg o. J. [1949], S. 94; Donald E. Gordon: Expressionism. Art and Idea, New Haven/London 1987, S. 14–25.
3
Vgl. Karl Albert: Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Lukács, Freiburg 1995; vgl. zur Lebensreformbewegung: Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilke Peckmann und Klaus Wolbert: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001.
4
Vgl. Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur, Leipzig/Wien 1899 f.
5
Vgl. Richard Hoppe-Sailer: „Der Biologe als Ästhet. Ernst Haeckel“, in: Jahrbuch des Kulturwissenschaftlichen Instituts des Landes Nordrhein-Westfalen in Essen 1994, Essen 1995, S. 162–179.
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weil ja die Natur selbst ästhetisch verfahre. Ich rekurriere auf diese historische Position deshalb, weil ich davon überzeugt bin, dass auch in aktuellen künstlerischen Konzepten, die sich explizit mit Natur und Naturwahrnehmung befassen, ähnliche wechselseitige Legitimationsprozesse einschließlich aller damit verbundenen Aporien zu beobachten sind.
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War es unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg noch die Hoffnung auf die Verbindung von technischem Fortschritt und Ästhetik, die die Künstler vor allem interessierte, so verschoben sich die Gewichte bereits gegen Ende der 50er Jahre, spätestens aber in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Was als Fluxus, aber auch als Körperkunst der Wiener Aktionisten in den Ausstellungen und Museen erschien, bezog sich zwar programmatisch weniger auf Natur und Naturerfahrung, adaptierte aber in der Betonung der Körperlichkeit und des aktionistischen Prozesses genau jene Vorstellungen, die seit dem späten 18. Jahrhundert mit der Formulierung der natura naturans als dem wirkenden Prinzip alles künstlerischen Tuns verbunden wurden. Zugleich tauchten in diesen Umfeldern künstlerische Verfahren auf, die auf Partizipation und dezidierte Aufhebung der Grenze zwischen Kunst- und Alltagserfahrung ausgerichtet waren. Damit wurden zugleich Präsentationsformen gefordert, für die in den traditionellen Ausstellungs- und Museumskonzepten noch kein Platz war. Auf diese Provokation antworteten die Museen sehr bald, und es ist auffallend, dass eines der Modelle eines neuen Verständnisses von ‚Museum‘ das einer Forschungseinrichtung ist. So notierte Gerhard Storck 1976 in einem Katalogheft anlässlich einer Ausstellung mit Werken von Joseph Beuys: „Wie aber sollte ein Museum aussehen, das auf den unaufhörlichen Bewegungszusammenhang ausgerichtet ist und nicht auf feste Formen fixiert bleibt? Denkbar wäre ein Institut, das Anschauungsmaterial sammelt, um es miteinander in Verbindung zu bringen, das Forschungsbereiche definiert im Zusammenhang mit Künstlern, Objekten, Publikum. Und zwar im Hinblick auf die Problemverdeutlichung, daß Lebensformen ohne Berücksichtigung dessen, was wir vage als Kunst bezeichnen – und was immer den ganzen Menschen betrifft – zu einer Katastrophe im allgemeinen Denken und Handeln führen müssen. Eine solche ‚Bildungsinstitution‘
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(der Prozeß des Bildens steht hier im Mittelpunkt) würde vom permanenten Gespräch leben und auf den geschaffenen Tatsachen (Kunstwerken) aufbauen. Aber von einem solchen Museum sind wir noch weit entfernt.“6
Etliche Jahrzehnte später tauchen ähnliche Überlegungen wieder auf, wenn es im Begleitbuch zur dOCUMENTA (13) heißt: „Eine Ausstellung besteht immer in dem Akt, Kunstwerke und Körper zu verorten, um ein Verständnis für die Rolle des Partiellen und für die Bedeutung der Auseinandersetzung mit einem Ort zu erzeugen und zugleich einen Polylog mit anderen Orten herzustellen. Ein Ort ist nichts Unveränderliches […]. Neben den traditionellen Hauptorten findet die [Ausstellung; R. H. S.] […] in einer Vielzahl anderer Räume statt, die unterschiedliche physische, psychologische, historische und kulturelle Bereiche und Realitäten repräsentieren.“7
Vergleicht man die beiden Texte miteinander, findet man Spuren einer spezifischen Denktradition. Bereits in Storcks Ausführungen ist die Rede von dem Museum als einer Forschungseinrichtung, die die Dinge der Lebenswelt mit jenen Objekten zusammenbringt, die wir als Kunst bezeichnen. Der Autor erhofft sich von dieser Zusammenführung ganz im Sinne der Ästhetik Schillers eine Verbesserung der Moral.8 Er formuliert es schärfer und redet von einer gesellschaftlichen Katastrophe, die es mithilfe der Kunst abzuwenden gelte. Es geht vor allem darum, Dinge unterschiedlicher Provenienz, vor allem auch naturwissenschaftlicher, miteinander in Kontakt zu bringen. Ähnlich argumentiert der nicht signierte Text im Begleitbuch der dOCUMENTA (13). Hier wird der Schwerpunkt verschoben, er liegt nun auf der Bedeutung unterschiedlicher Orte und der dort agierenden „belebten und unbelebten Produzenten der Welt, Menschen inbegriffen“, wie es an
6
Gerhard Storck: Bildheft 1. Joseph Beuys im Kaiser Wilhelm Museum, Krefeld 1976, o. P.
7
Carolyn Christov-Bakargiev (Hg.): Ausst.-Kat. dOCUMENTA (13), Kassel,
8
Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Briefe an
Bd. 3: Das Begleitbuch, Ostfildern 2012, S. 6. den Augustenburger, Ankündigung der „Horen“ und letzte, verbesserte Fassung, hg. v. Wolfhart Henckmann, München 1976.
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anderer Stelle des dreibändigen Documenta-Kataloges heißt.9 Aber auch hier sind es vor allem Räume der Natur- und Technikgeschichte, die von Interesse sind. Nicht zufällig entwickelt die Documenta diese Fragestellungen im Ottoneum und in der Orangerie, also in den naturwissenschaftlichmusealen Räumen und Kabinetten Kassels. Naturwissenschaftliche Forschung erscheint als künstlerische Aufgabe – oder, wie es Gerhard Storck mit Blick auf Beuys formuliert: „Das Ziel muss ein neuer Begriff von Kunst und Wissenschaft sein.“10 Dieser neue Wissenschaftsbegriff, der zahlreiche Werke im Grenzbereich von Kunst und Natur bestimmt, ist, wie wir wissen, bei Beuys verknüpft mit einem Lebensbegriff, der seine Quellen in genau jener Lebensphilosophie hat, von der eingangs bereits die Rede war. Die romantischen Wissenschaftler und Künstler Lorenz Oken und Carl Gustav Carus sind ebenso seine Gewährsmänner wie Johann Wolfgang von Goethe und Rudolf Steiner. Aber deren Projekte waren ja bereits im Ansatz gescheitert. Carus war in erster Linie Arzt, und seine künstlerischen Arbeiten sind da von Interesse, wo er sich mit einer Leitwissenschaft seiner Zeit, der Geologie, auseinandersetzt.11 Die Mehrzahl seiner Gemälde erweist sich gegenüber Caspar David Friedrich oder Johann Clausen Dahl als eher epigonal. Die Entdeckung des Zwischenkieferknochens war auch nicht Goethes Verdienst allein, der Knochen war bereits beschrieben worden, Goethe wusste es nur nicht. Und in der Optik hat er den Kampf gegen Newton schlussendlich verloren. Es hat in jüngster Zeit eine Fülle von Ausstellungen gegeben, die zu belegen versuchten, wie eng die Verbindung zwischen der bildenden Kunst und der Naturwissenschaft war und ist. Aber die Wolkenbilder haben eben nicht Dahl, Constable oder Turner erfunden, die Klassifikation geht auf den englischen Apotheker Luke Howard zurück.12 In dessen Erkenntnis fand
9
Carolyn Christov-Bakargiev (Hg.): Ausst.-Kat. dOCUMENTA (13), Kassel, Bd. 1: Das Buch der Bücher, Ostfildern 2012, Frontispiz.
10 Storck: Bildheft 1. 11 Vgl. Jutta Müller-Tamm: Kunst als Gipfel der Wissenschaft. Ästhetische und wissenschaftliche Weltaneignung bei Carl Gustav Carus, Berlin 1995. 12 Vgl. Luke Howard: On the Modification of Clouds, and on the Principles of their Production, Suspension, and Destruction, London 1803. Vgl. auch Bärbel Hedinger (Hg.), Inés Richter-Musso (Hg.), Ortrud Westheider (Bearb.): Ausst.-
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wiederum Goethe eine naturwissenschaftliche Stütze seiner ästhetisch begründeten Metamorphosenlehre, mit deren Hilfe er Naturwissenschaft und Ästhetik zu verknüpfen suchte. Die Systematisierung des Unsystematisierbaren war eines der expliziten Ziele dieses Unternehmens.13 Die Wolkenlehre Luke Howards bot für Goethe eine faszinierende Möglichkeit, naturwissenschaftliches und ästhetisches Denken in diesem Sinne miteinander zu verbinden. Und auch die Felsformationen der Geologie sind für die Künstler zu Beginn des 19. Jahrhunderts dankbare Metaphern, um sich in den Streit zwischen den Neptunisten und den Plutonisten einklinken und demonstrieren zu können, dass ihr wissenschaftliches Interesse auf der Höhe der Zeit ist.14 Diese Liste ließe sich nahezu beliebig weit bis hin zu aktuellen Tendenzen in der bio art fortsetzen.15 Auch dort überwiegt der Eindruck, dass sich die Künstler zur Legitimation ihrer Zeitgenossenschaft avancierter naturwissenschaftlicher Methoden bedienen oder sie im Gestus einer Metapher ästhetisieren. DNA-Sequenzen oder gentechnisch verändertes Material wird benutzt wie jedes jeweils avancierte Material in der Geschichte der Künste. Haeckel arbeitete auf beiden Seiten dieser Front. Als Wissenschaftler nutzte er die Kunst zur Nobilitierung und gleichzeitigen Ideologisierung seiner Ergebnisse, und als Künstler konnte er seine Produkte mit der Plausibilität einer exakten Wissenschaft nahezu unangreifbar machen.
Kat. Wolkenbilder. Die Entdeckung des Himmels, Bucerius Kunstforum und Jenisch Haus, Hamburg, München 2004. 13 So in Goethes Gedicht „Howards Ehrengedächtnis“ (1817), in dem es heißt: „Er faßt es an, er hält zuerst es fest; Bestimmt das Unbestimmte, schränkt es ein, Benennt es treffend!“ (Johann Wolfgang von Goethe: Werke, hg. v. Erich Trunz u. a. [Hamburger Ausgabe], München 1988, Bd. 1, S. 350, Z. 18–20.) 14 Vgl. Carl Gustav Carus: Neun Briefe über die Landschaftsmalerei, geschrieben in den Jahren 1815–1824 [1831], 2., durchges. Aufl., Dresden 1955. 15 Vgl. dazu u. a.: Susanne Witzgall: Kunst nach der Wissenschaft. Zeitgenössische Kunst im Diskurs mit den Naturwissenschaften, Nürnberg 2003; Ingeborg Reichle: Kunst aus dem Labor, Wien/New York 2005.
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Angesichts dieser historischen Folie stellen sich zwei Fragen. Zum einen, ob diese Diskurse in die aktuellen Debatten hineinwirken, zum anderen, wie dies vor dem Hintergrund eines veränderten Werkverständnisses zu bewerten ist. Nimmt man das immer wieder zitierte Generalthema der dOCUMENTA (13) in den Blick, kann man durchaus der Ansicht sein, dass die verabschiedet gewähnten holistischen Modelle eines Haeckel beispielsweise fröhliche Urstände feiern. „Die dOCUMENTA 13 widmet sich der künstlerischen Forschung und Formen der Einbildungskraft, die Engagement, Materie, Dinge, Verkörperungen und tätiges Leben in Verbindung mit Theorie untersuchen, ohne sich dieser jedoch unterzuordnen. Die dOCUMENTA 13 wird von einer ganzheitlichen und nichtlogozentrischen Vision angetrieben, die dem beharrlichen Glauben an wirtschaftliches Wachstum skeptisch gegenübersteht. Diese Vision teilt und respektiert die Formen und Praktiken des Wissens aller belebten und unbelebten Produzenten der Welt, Menschen inbegriffen.“16
Diese Sätze klingen sehr vertraut, schaut man auf Ideen der Lebensphilosophen um 1900 oder etwa in Haeckels Kristallseelen. In der Einleitung dieser 1917 verfassten Schrift heißt es: „Alle Substanz besitzt Leben, anorganische ebenso wie organische; alle Dinge sind beseelt, Kristalle so gut wie Organismen.“17 Der Beweis dieser Allbeseeltheit der Naturreiche ist bei Haeckel eng verknüpft mit der Untersuchung der Übergänge zwischen belebter und unbelebter Natur, mit der Aufdeckung der spezifischen Zellstruktur der Einzeller sowie den Baugesetzen der Radiolarien und der Kristalle. Hier, in den Ähnlichkeiten der inneren Strukturen der Einzeller und der Kristalle, findet der Autor den Beweis für seine These der allbeseelten, nicht dualistisch aufgebauten Natur. Es geht also in der Diktion der dOCUMENTA (13) darum, „künstlerische[…] Forschung und Formen der Einbildungskraft“ sowie „tätiges Leben in Verbindung mit Theorie“ zu un-
16 Christov-Bakargiev: Ausst.-Kat. dOCUMENTA (13), Bd. 3. 17 Ernst Haeckel: Kristallseelen, Studien über das anorganische Leben, Leipzig 1917, S. VIII.
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tersuchen. Was hier um 1900 ausdifferenziert wird hat, wie der Literaturwissenschaftler Wolfgang Riedel in seiner Schrift „Homo natura“. Literarische Anthropologie um 1900 detailliert nachweist, seine Vorläufer in der Romantik.18 Neben Haeckel zitiert Riedel vor allem die Tradition der Ozeaniker und ihre allumfassende lebensmystische Literatur, beispielsweise Malwida von Meysenbugs im Uraufführungsjahr des Wagner’schen Rings 1876 erstmals veröffentlichte Memoiren einer Idealistin. Nachdrücklich beeinflusst von Schopenhauer, verbindet sie in ihrem Text autobiografische Idealisierungen mit Reflexen auf zeitgenössische wissenschaftliche Modelle von der Atomlehre bis hin zur Untersuchung des Metabolismus als einer „ununterbrochenen chemischen Metamorphose der ‚Materie‘“.19 Offensichtlich besitzen diese Gedanken eine nachhaltige Ausdruckskraft in krisenhaft erlebten Zeiten. Es ist eine Sehnsucht der Einheit mit allem, die als Idealrezeptur angesichts einer höchst ausdifferenzierten und unbeherrschbar, möglicherweise auch unerkennbar gewordenen Welt gilt. Davon erzählt auch von Meysenbug: „Ich war allein am Meeresufer, als mich all diese Gedanken befreiend und versöhnend umfluteten, und wieder, wie einst in fernen Tagen in den Alpen der Dauphiné, trieb es mich, niederzuknien vor der unbegrenzten Flut, Sinnbild des Unendlichen. Ich fühlte, dass ich betete, wie ich nie zuvor gebetet hatte, und erkannte nun, was das eigentliche Gebet ist: Einkehr aus der Vereinzelung der Individuation heraus in das Bewußtsein der Einheit mit allem, was ist, niederknien als das Vergängliche und aufstehen als das Unvergängliche.“20
Wenn es richtig ist, dass sich heutige Naturkonzepte in den Künsten mit lebensphilosophischen Konzepten des frühen 20. Jahrhunderts in Verbindung bringen lassen, so steckt in dieser Passage möglicherweise ein Hinweis auf die nicht zu unterschätzende Attraktivität einer solchen Ahnenreihe, die sich von den Bauhäuslern um Itten, Klee und Kandinsky über Moholy-Nagy und sein Chicagoer New Bauhaus bis hin zu Cage und Nam
18 Vgl. Wolfgang Riedel: „Homo Natura“. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin 1996. 19 Ebd., S. 89. 20 Malwida von Meysenbug: Memoiren einer Idealistin, 7. Aufl., Berlin/Leipzig 1903, Bd. 3, S. 166.
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June Paik tatsächlich nachzeichnen lässt.21 Die Attraktivität ist eine doppelte: Es ist die Hoffnung der Aufhebung des Individuellen im Unvergänglichen. Diese Hoffnung ist, trotz aller Betonung von Prozesshaftigkeit und ephemeren Strukturen, ein Grundton auch der zeitgenössischen Kunst, der sich hier mit einem anderen in der Moderne tabuisierten Grundton vermischt: dem des Religiösen.22 Von Meysenbug berichtet von einem religiösen Erweckungserlebnis. Dieses religiöse Erlebnis wird jedoch, wie Riedel unterstreicht, nicht mehr an eine Gotteserfahrung geknüpft, sondern an eine Naturerfahrung, die in der Romantik durchaus mit Kategorien des Erhabenen vergleichbar wäre, wenn beispielsweise von der Flut und vom Meer die Rede ist. Kleists respektive Brentanos Beschreibung von Caspar David Friedrichs Mönch am Meer (1810) könnte das kunsthistorische Pendant dazu liefern.23 Eine solche Naturerfahrung als Entgrenzungserfahrung ist wirklich ozeanisch. Diese Entgrenzungssehnsucht liegt als Subtext unter jenen inhaltlichen und formalen Weiterungen, die die letzte Documenta und ihre Werke prägten. Egal, ob die Grenze zwischen sozialem Handeln und künstlerischer Intervention durchbrochen wird oder ob es um die Metapher des Metabolismus in einer Kompostieranlage geht wie bei Pierre Huyghe: Ziel ist eine Grenzaufhebung, die nicht die Grenze thematisiert und damit auf Differenz und Entfremdung verweist, sondern der es um Aufhebung im ozeanischen Gefühl zu tun ist. Die Bienen sind nicht zu zähmen, der Blumensamen verteilt sich unkontrolliert und chaotisch.
21 Vgl. Richard Hoppe-Sailer: „Die Metamorphose des Videobildes. Natur und Medienkritik bei Nam June Paik“, in: Martina Dobbe und Peter Gendolla (Hg.): Winter-Bilder, Siegen 2003, S. 354–374. 22 Vgl. Dorothee Böhm (Hg.): Erscheinungen des Sakralen, Berlin 2011. 23 Vgl. Heinrich von Kleist: „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“, in: Friedmar Apel (Hg.): Romantische Kunstlehre, Frankfurt am Main 1992, S. 357–358 [Erstveröffentlichung: Berliner Abendblätter, 12. Blatt, 13. Oktober 1810].
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E INSPRUCH Und doch entkommen diese Werke nicht der Grundbedingung jeder Kunst: Diese gelingt nur in Differenz. Die Idee der Verbindung von Kunst und Lebenswelt im Sinne völliger Entgrenzung kann am Beispiel der Kompostieranlage oder des Hundes paradoxerweise nur deutlich werden, insofern diese vorab als Kunst, das heißt als gesondertes Terrain, markiert werden, um daraus erst die Idee einer Verknüpfung aller möglichen Bedeutungsfelder zu generieren. Es handelt sich also ganz im Sinne Daniel Burens und Marcel Broodthaers’ um Modelle der Integration von Kunst in unterschiedliche Lebenswelten, die nur und allein darauf beruhen können, dass Kunst als ein besonderer Raum wahrgenommen werden kann.24 Das Spiel dieser Modelle mit Grenze und Entgrenzung besteht darin, dass sie aus dem Feld der Kunst heraus Werke initiieren, die die für ihre Existenz notwendige Grenze zu transzendieren trachten. Das mag banal klingen, bedarf aber immer wieder dann der Erinnerung, wenn jene utopischen Gesellschaftsentwürfe eine Ausstellung so nachdrücklich beeinflussen wie die letzte Documenta. Wohl nicht zufällig steht eine Aufnahme des „Monte Verità“ am Anfang des Buchs der Bücher – wobei es sich bei diesem Titel bekanntlich um eine alte Metapher für die Bibel handelt. Bleibt die Frage, wie sinnvoll und zulässig solche Historisierungsversuche sind, verbindet sich mit ihnen doch die seit den Studioli der Renaissance und den avantgardistischen Theorien der Moderne unablässige Rede von der „Innovation“. Neuerdings wird diese Rede von der Idee eines fluiden Diskurses unterschiedlicher künstlerischer Praxen und wissenschaftlicher Debatten abgelöst, die auch die Grenze zwischen akademischer Wissenschaft und künstlerischer Arbeit obsolet werden lässt. Eine der daraus resultierenden Konsequenzen scheint zu sein, dass der Modus Operandi der Wissenschaften, nämlich die kritische Auseinandersetzung mit den Thesen und Hypothesen der Community und deren Umsetzung in standardisierte
24 Vgl. Daniel Buren: Ausst.-Kat. Position – Proposition. Eine Manifestation von Daniel Buren, Städtisches Museum Mönchengladbach, Mönchengladbach 1971; Susanne König: Marcel Broodthaers. Musée d’Art Moderne, Départment des Aigles, Berlin 2012.
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Sprache, nun auch in die Kunst eindringt.25 Wie ein Theorieschleier legen sich lange Literaturlisten über den doch erfrischend anders gedachten Diskurs. Das kann nicht jene Haltung sein, die Chus Martínez fordert, wenn sie notiert: „Vielfalt soll wirksam sein, aber nicht als Thema […]. Vielmehr sollte die vorherrschende Vervielfältigung von Stilen, Verhaltensweisen, Logiken und Sprachen als Baumaterial angesehen werden, aus dem der Ort einer dialogischen Aktivität zwischen der Kunst und ihrer Art und Weise entsteht, das Wesen des Wissens zu erforschen.“26
Das ist eine höchst fruchtbare Vorstellung, die in ihrer Provokation kreativen Arbeitens sicherlich auch in den Forschungsabteilungen internationaler Konzerne gerne gehört wird. Zwar plädiert die Autorin für die Vorherrschaft der Kunst und ihrer Regeln in einem solchen Diskurs, doch sind diese längst ökonomisch geworden. Nichts ist so wertvoll für rohstoffarme Länder wie gerade die kreative Kraft ihrer Eliten, und da ist jedes Mittel recht, sie zu stimulieren – selbst das der Kunst. Und wenn die Kunst von sich aus jetzt diesen Weg hinein in die Labore geht und sich dabei der gleichberechtigten Kooperation mit den Wissenschaftlern rühmt, so klingt dabei doch immer noch an, dass es die Wissenschaftler sind, die die Vorgaben machen, und dass man doch so stolz ist, bei diesem Spiel mitmachen zu dürfen. Warum pocht Kunst in einer nicht nur ökonomisierten, sondern eben auch in weiten Teilen technisch-naturwissenschaftlich geprägten Gesellschaft cartesianischer Provenienz gerade darauf, Teil dieses Diskurses zu sein? Kann es wirklich gelingen, in dessen Modus das Eigene so fremd zu stellen, dass das Andere der Kunst als Korrektiv der durchgängigen Operationalisierung der Gesellschaft noch deutlich wird? Martínez fordert von „künstlerischer Forschung“: „[…] nicht die Verkörperung einer bestimmten Form der akademischen Ausbildung, sondern die Geste, das Vielleicht im Inneren des Realen zu platzieren. Und dies löst
25 Vgl. dazu kritisch: Elke Bippus (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich 2009. 26 Chus Martínez: „Wie eine Kaulquappe zum Frosch wird“, in: ChristovBakargiev (Hg.): Ausst.-Kat. dOCUMENTA (13), Bd. 1, S. 48–61, hier: S. 59.
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etwas sehr Einfaches aus: Eine Schwankung des Wissens. Unter künstlerischer Forschung verstehe ich diese ständige Oszillation, die uns hier positioniert – indem sie einige Eigenschaften des Realen isoliert, als Repräsentation fungiert und der Materie Form verleiht – und uns zugleich über die Gegenwart hinausführt.“27
Liest man diese Sätze, so stellt sich die Frage, welche Art von akademischer Ausbildung die negative Folie abgibt, vor der die weiteren Überlegungen angestellt werden? „Eine Schwankung des Wissens“ ist eine poetische Umschreibung eines jeden Thesenbildungsprozesses, in welcher Wissenschaft auch immer, und auch dabei geht es genau darum, „Eigenschaften des Realen [zu] isolieren“ und einer neuen Materie Form zu verleihen. Dies alles führt uns – als Innovation, als Utopie – über die Gegenwart hinaus. Und es würde bedeuten, dass die Künste und die Wissenschaften im Kern kein unterschiedliches heuristisches Verfahren besitzen. Diese Erkenntnis ist ebenfalls so neu nicht, bleibt also die Frage nach der ästhetischen Differenz, mit welcher die Kunst einen solchen Prozess betreibt. Und es bleibt die darüber hinausgehende Frage, warum und zu welchem Zweck „künstlerische Forschung“ betrieben wird.28 Möglicherweise stehen diese Bestrebungen in einer anderen Tradition, die die Kunst seit ihren frühen Anfängen begleitet. Victor Stoichiţăs Rede vom „selbstbewussten Bild“29 kommt hier ins Spiel. Wenn es richtig ist, dass die kreativen Prozesse, die essenziell für jede künstlerische Arbeit sind, hohe Affinitäten zu wissenschaftlichen Erkenntnisverfahren haben, dann besteht in „künstlerischer Forschung“ eine Möglichkeit selbstreflexiver Untersuchung des eigenen Tuns auf der Höhe heuristischer Verfahren einer naturwissenschaftlich-technisierten Welt. Das könnte für die Kunst selbst ein doppelter Gewinn sein. Zum Ersten erweiterte sie ihre selbstreflexiven Methoden, die als Ausweis ihrer Modernität gelten, und zum Zweiten täte sie dies in der Nähe zu Naturwissenschaft und Forschung, womit sie erfolgreich suggerierte, aus dem gesellschaftlich prekären Feld der Kunst heraus Anschluss an gesellschaftlich anerkannte Handlungsfelder
27 Ebd., S. 50–51. 28 Vgl. zu den überraschenden Parallelen zwischen Wissenschaft und Kunst aus wissenschaftstheoretischer Sicht: Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst, Frankfurt am Main 1984. 29 Vgl. Victor I. Stoichiţă: Das selbstbewusste Bild, München 1998.
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zu erhalten. Ein solches wechselseitiges Legitimationsmuster ist uns aus den ästhetischen Modellen Haeckels, insbesondere aber aus deren Rezeptionsgeschichte in der Kunst der klassischen Moderne bekannt. Die Frage bleibt, wie sich ein Kunstbereich definieren lässt, der nicht modernistisch isoliert erscheint und dennoch ein kritisches gesellschaftliches Potenzial zu entwickeln vermag. Beuysʼ Modell der „Sozialen Plastik“ war bestimmend für Aktionen wie 7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung 1982 in Kassel oder auch für das 1983 geplante, aber nicht realisierte Projekt Gesamtkunstwerk Freie und Hansestadt Hamburg, das die Bepflanzung der im Zuge der Hafenerweiterung entstandenen Spülfelder in Hamburg-Altenwerder vorsah. Bereits seine Free International University und deren Kasseler Dependance im Rahmen der Honigpumpe (1977) war der Versuch einer Verbindung von Kunst und Wissenschaft, verknüpft mit der Hoffnung, eine holistische Wissenschaftskonzeption im Gefolge der Romantiker Carus, Oken und Schubert wieder in Erinnerung rufen zu können. Diesen Ansatz verfolgen zeitgenössische Entwürfe weniger, aber geblieben ist die Idee der Verbindung disparater Lebensbereiche unter einem künstlerischen Blickwinkel. Was dabei aus dem Blick zu geraten droht, sind die inhärenten Widersprüche, die mit einem solchen Vorhaben verbunden sein können – nämlich immer dann, wenn es sich derjenigen Methoden bedient, die es zugleich zu kritisieren und zu überbieten unternimmt.
(Kunst-)Kritik in kollaborativen Zusammenhängen S ABETH B UCHMANN
I. Jede Documenta entwirft einen Begriff der Kunst, schrieb Christoph Menke am 14. Juni 2012 in der ZEIT. „Eine Documenta ist nicht gegenwärtig durch ihre Objekte und ihre Themen, sondern weil sie die Frage nach dem gegenwärtigen Begriff der Kunst stellt. Deshalb verwandelt jede Documenta die Frage nach der derzeitigen Lage der Kunst in die Frage nach der Kunst in unserer derzeitigen Lage.“1
Menke ist zweifelsohne darin recht zu geben, dass auch die dOCUMENTA (13) von dem Ansinnen einer allumfassenden Lagebestimmung geleitet war. Doch sind es oftmals solche aufs Große und Ganze gerichteten Ansprüche, die eine die Grenzen ihrer Wirkungssphäre verkennende Monumentalisierung der Kunst betreiben. Wie bei vielen Festivalausstellungen zu beobachten, scheinen sich die Konturen des jeweiligen Kunstbegriffs mit seiner globalen Inanspruchnahme aufzulösen. Dieser Verdacht drängte sich angesichts der umfassenden, nämlich dezidiert allgemein (weil ethisch) gehaltenen Themen wie „Zusammenbruch und Wiederaufbau“ oder „Trauma
1
Christoph Menke: „Brauchen wir Kunst?“, http://www.zeit.de/2012/25/DocumentaMenke.
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und Heilung“ auch bei der dOCUMENTA (13) auf. Der von der Festivalleiterin Carolyn Christov-Bakargiev schon im Vorfeld gestreute Eindruck der Konzeptlosigkeit, sowohl in Bezug auf ihre kuratorische Ausrichtung als auch auf die Auswahl der Künstler_innen, passte zu der Vorahnung eines eher vagen Kunstbegriffs, und Christov-Bakargiev formulierte diesen schließlich auch, indem sie erklärte, die Unterschiede von Kunst und NichtKunst seien unwichtig. Insofern sprechen Susanne Leeb und Sven Beckstette in ihrem in Texte zur Kunst abgedruckten dOCUMENTA (13)Gespräch mit Christoph Menke meines Erachtens zu Recht von einem „schwachen Kunstbegriff“ mit „starken Setzungen“2. Ich möchte ChristovBakargievs Erklärung im Folgenden in Bezug auf die zweifelsohne herausfordernde Tagungsthese aufgreifen, der zufolge es den Anschein macht, dass die Kunst „[s]tatt als Fiktion oder Spiegel in Opposition zu Wirklichkeiten der Natur oder des Sozialen zu treten […] vermehrt die unmittelbare Transformation von Wirklichkeiten [anstrebt] – eine Gestaltungsauffassung, die üblicherweise dem Selbstverständnis des Designs oder der Architektur vorbehalten bleibt“3.
So wäre zu fragen, ob und wie weit eine solche Transformation mit der von Christov-Bakargiev befürworteten Entdifferenzierung von Kunst und Nicht-Kunst einhergeht und welche Konsequenzen dies für die ‚Materialität‘ des Institutionellen hat, wie es durch die Documenta beispielhaft verkörpert wird. Auch wenn die Annahme einer Angleichung von bildender Kunst und den sogenannten ‚angewandten Künsten‘ sicherlich aufgrund der konstitutiven Rolle historischer Avantgarden sowie der Pop- und kommerziellen Kultur für die Moderne zutreffend ist, liegt meines Erachtens in ihrer vollends unterschiedslosen Wahrnehmung, wie Christov-Bakargiev sie polemisch vorschlägt, einer der entscheidenden Gründe für eine unzulässige
2
„Reflektieren/Transzendieren. Eine Diskussion über die dOCUMENTA (13) zwischen Christoph Menke, Susanne Leeb und Sven Beckstette“, in: Texte zur Kunst Nr. 87, 22 (2012) 3, S. 85–109, hier: S. 85.
3
„Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation – Transformation – Kritik“, Ankündigung der Tagung des Sonderforschungsbereichs 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ am 28./29. Juni 2013 im ICI.
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Harmonisierung des zeitgenössischen Kunstbegriffs: Dort, wo dieser Begriff bei aller in Anspruch genommenen Kritik (am Kunstmarkt, an ökonomischer Ausbeutung, gesellschaftlichen Missständen, sozialen Ausschlüssen) in den (Re-)Produktions- und Konsummustern des Alltags und des Lifestyles aufgeht, scheint es auch keine Differenzen und Konflikte zwischen Kunst und Wirklichkeit und mithin auch keine Maßstäbe der Kritikbildung mehr zu geben. Angesichts der auffällig auratisierenden Werkpräsentationen, die die Wahrnehmung der dOCUMENTA (13) als einer angeblich endlich wieder kunstaffinen Ausstellung geprägt haben, waren jedoch auch Widersprüche in Bezug auf die vermeintlich irrelevante Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst zu erkennen, entsprechend lässt sich der das Festival prägende Wirklichkeitsbegriff nicht einfach für ein fortgeschrittenes Simulakrum halten. Vielmehr ist so der These der Tagungsveranstalter_innen recht zu geben, dass die Wirklichkeit, von der wir hier sprechen, vor allem ein Effekt ihrer ästhetischen Gestaltung ist. ChristovBakargievs Erklärung erinnert daher nicht von ungefähr an jene mehr oder weniger instrumentellen Versöhnungsversuche von Kunst, Gesellschaft und (Natur-)Wissenschaft, wie sie die Geschichte/n der Moderne durchziehen: Es ließen sich an dieser Stelle zahllose Beispiele für die Suggestion einer Aufhebung von Repräsentation in einer schieren Präsenz des ästhetischen Objekts respektive seiner Wahrnehmung als einem ‚real thing‘ nennen: Doch wie sicherlich eines der bekanntesten Beispiele – das Readymade – zeigt, lassen sich solche Konzepte nicht ohne jene sozialen, diskursiven, medialen, juristischen, ökonomischen etc. Vermittlungen denken, die die Institution Kunst konstituieren. Für die Kunstkritik aufschlussreicher sind da eher die historisch variierenden Begründungen. Christov-Bakargiev erhielt nämlich argumentative Schützenhilfe durch derzeit populäre Diskurse aus dem weit gesteckten, gleichwohl im Kontext zeitgenössischer Wissenschaftstheorie verknüpften Feld der Kultur-, Natur- und Technikwissenschaften: Darunter die seitens des feministischen Kunst- und Mediendiskurses intensiv rezipierten Thesen der Naturwissenschaftlerin und Biologin Donna Haraway, deren aufsehenerregende Beiträge zu „companion species“4 die Vorlage für die Forderung nach einem gleichberechtigteren Miteinander von Menschen und Tieren
4
Siehe unter anderem Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago 2003.
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innerhalb der kapitalistischen Ökonomie liefern sollten. Zudem suggerierte die dOCUMENTA (13)-Leiterin mit Begrifflichkeiten wie jener des Quasioder Übergangsobjekts5 einen ebenso an Michel Serres wie an Bruno Latour erinnernden Anspruch auf gleichberechtigte Interaktionen von Objekten und Subjekten, mithin auf eine erhöhte Aufmerksamkeit für den Beteiligungsgrad der Objekte an jenen Handlungen, die gemeinhin den Menschen zugeschrieben werden. Genau in dieser – wissenschaftstheoretisch ertragreichen – Relativierung eines vornehmlich subjektzentrierten Handlungsbegriffs ist nun meines Erachtens ein möglicher Grund für jene unterschiedslose Wahrnehmung von Kunst und Nicht-Kunst und die daraus resultierende Harmonisierung des Kunstbegriffs zu erkennen, von denen die Rede war. Denn auch wenn Latours Angriff auf die für die Moderne konstitutive Unterscheidung von Wissenschaft und Politik im Sinne der von ihm kritisierten „Reinigungspraktiken“ triftige Argumente dafür liefert, die Sphären der Gesellschaft, Politik, Kultur, Natur und Technik miteinander zu vernetzen, so geht dies auf Kosten jener konstitutiven Spannungen und Konflikte, die die Kunst zu diesen tatsächlich unterhält. Dem könnte man entgegenhalten, dass ein aus der Wissenschaftskritik hergeleiteter Diskurs im Rahmen der dOCUMENTA (13) doch gerade dazu diente, die noch bestehenden Hierarchien zwischen Kunst und Nicht-Kunst auch deswegen abzubauen, um die Wirklichkeit gerechter, schöner und realer zu gestalten – etwa in Gestalt eines Hundeparcours oder von Gartenhäuschen im Heimwerkerstil. Den wechselseitigen Transfers zwischen Kunst und Wirklichkeit schienen somit zumindest hinsichtlich des Transfers zwischen Kunst und kritischer Theorie die Hürden genommen. Wie selten zuvor erlebten wir ihre jeweiligen Repräsentant_innen als kooperative Aktanten im ökologisch fortgeschrittenen Vorgarten der Welt da draußen. Die trotz der omnipräsenten Krisenrhetorik augenscheinlich fröhliche Grundstimmung der dOCUMENTA (13) ließ dabei institutionelle Machtverhältnisse – traditioneller Gegenstand eines institutionskritischen Kunstbegriffs – weitgehend ins Hintertreffen geraten. Die Ansprüche der zu Kunst- und Gesellschaftstheorie aufgestiegenen Wissenschaftskritik schienen offenbar zu global, um als konkreter Reflexionsrahmen zeitgenössi-
5
Siehe unter anderem Carolyn Christov-Bakargiev: „Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit“, http://vermittlung-gegenwartskunst.de/downloads/Pressemitteilung/A0105d01.pdf.
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scher Kunst und Kunstkritik zu taugen. Doch unter Anwendung welcher Kriterien wäre ein solcher Rahmen (im Sinne Menkes) zu bestimmen?
II. In seinem 2013 erschienenen Buch Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art stellt der englische Philosoph Peter Osborne fest, dass unter der Voraussetzung, dass Kunstkritik heute immer auch (ihre eigene) Kunstgeschichte schreibe, diese gefordert sei, sich selbst im Rahmen eines spezifischen philosophischen Konzepts der Zeit zu historisieren. Diese Forderung in Bezug auf die Tagungsthese aufgreifend, der zufolge mit der Entdifferenzierung von realen und symbolischen Kategorien auch die hergebrachten Unterscheidungen von Kritik und Affirmation hinfällig seien, scheint hierin jener Krisenbefund der Kunstkritik auf, zu dem Osborne zu Recht festhält, dass er sich auf die von dieser mitgeschriebenen Kunstgeschichte auswirke. Wie, so lautet daher eine weitere Frage, können also jene für die Moderne charakteristischen Realwerdungsbehauptungen des Symbolischen, die die dOCUMENTA (13) zu aktualisieren suchte, im Sinne einer sich selbst historisierenden Kunstkritik bewertet werden? Wenn man sich in diesem Zusammenhang die in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren formulierten und praktizierten Dialektiken von Kunstpraxis und Institutionskritik anschaut, könnte hierin in der Tat eine Bestätigung der These gefunden werden, dass die Kunst nur mehr als ein graduell unterschiedener Modus des Realen gefasst werden kann: Denn gerade sogenannte kritische Praktiken zeugen – wie der zeitgenössische Ausstellungsbetrieb generell – von einer Befrachtung des Ästhetischen mit ethischen Postulaten, ohne indes, wie Osborne moniert, eine Annäherung an eine Definition des spezifischen Kunsturteils zu leisten.6 Dieses hätte, konsequent weitergedacht, tatsächlich auch keine Funktion mehr. Doch läuft dies automatisch auf eine Steigerung des Wirklichkeitsgehalts der Kunst hinaus, und erscheint ihr Referent damit als umso materiellerer? Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an einen Klassiker der Postmodernetheorie: In seiner 1978, also inmitten des Umbruchs zwischen der ersten und zweiten
6
Peter Osborne: Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art, London/New York 2013, S. 4.
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Generation der Institutionskritik, erschienenen Schrift Agonie des Realen stellt der französische Philosoph und Soziologe Jean Baudrillard die These auf: „Heutzutage funktioniert die Abstraktion nicht mehr nach dem Muster der Karte, des Duplikats, des Spiegels und des Begriffs. Auch bezieht sich die Simulation nicht mehr auf ein Territorium, ein referentielles Wesen oder auf eine Substanz. Vielmehr bedient sie sich verschiedener Modelle zur Generierung eines Realen ohne Ursprung oder Realität, d. h. eines Hyperrealen.“7
Baudrillards damaliger Anschlag auf die Grundfeste des Marxismus respektive des historischen Materialismus sollte den von postmoderner (Medien-)Theorie maßgeblich geprägten Kunstdiskurs der 80er Jahre ironischerweise gerade hinsichtlich der Notwendigkeit eines graduellen Unterscheidens und Inbezugsetzens von realen und symbolischen Orten schärfen: Der Versuch, solche Unterscheidungen im Namen einer nur mehr medial erfahrenen Hyperrealität zur Gänze aufzuheben, wurde zu einem der entscheidenden Angriffspunkte institutionskritischer Praktiken. Diese rekurrierten bezeichnenderweise nicht mehr – wie noch in den historischen Avantgarden – auf einen monolithisch gedachten Gesellschaftsbegriff, sondern im Sinne von Systemtheorie und neuerer Soziologie auf ausdifferenzierte und miteinander vernetzte soziale, kulturelle, institutionelle und mediale Felder. Dies ist insofern bemerkenswert, als die dOCUMENTA (13) – augenscheinlich mit Anspruch auf einen global gültigen Kunst- und Wirklichkeitsbegriff – solche Unterscheidungen erst gar nicht mehr trifft. Eher spricht aus ihrem (Nicht-)Konzept jener zugleich negationsepistemologische Begriff des Sozialen, dem laut der Kritik des Weimarer Soziologen Andreas Ziemann an Latours Aktanten-Netzwerk-Theorie kein Begriff des Gesellschaftlichen, sondern nur mehr des Kollektiven im Sinne einer „politischen Forderung nach Gleichbehandlung von Mensch, Materie, Natur, Objekt, Gesellschaft, Technik“8 zugrunde liegt.9 Erinnert man sich in die-
7
Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin 1978, S. 7.
8
Siehe Andreas Ziemann: „Latours Neubegründung des Sozialen“, in: Friedrich Balke, Maria Muhle und Antonia von Schöning (Hg.): Die Wiederkehr der Dinge, Berlin 2011, S. 103–114, hier: S. 104.
9
Ebd., S. 103.
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sem Zusammenhang an Christov-Bakargievs – ob ernst gemeinte oder ironisch-strategische – Forderung nach einem Wahlrecht für Erdbeeren und Bienen, so kann deutlich werden, dass und auf welche Weise vermeintlich radikaldemokratische Konzepte dazu angetan sind, jene gesellschaftlichen Konfliktfelder im Namen rechtloser Früchte und Tiere zu verharmlosen, denen noch die Auseinandersetzung institutionskritischer Künstler_innen gegolten hat. Doch auch wenn sich der Einsatz für Erdbeeren, Bienen und Hunde aus der Perspektive einer für die zunehmend unsichtbareren, gleichwohl weiterhin bestehenden Unterschiede zwischen dem ‚Realen‘ und dem ‚Symbolischen‘ sensibilisierten Institutionskritik nach einem leeren Signifikanten anhören mag: Für die akademische Kunstkritik, die – wie ihre Gegenstände – nunmehr über keinen materiellen Referenten10 außerhalb der von Osborne konstatierten ‚heterogenen empirischen Totalität von Kunstwerken‘ mehr verfügt11, muss es, um Tagungen wie diese zu legitimieren, gleichwohl immer noch ein paar bislang unverwertete Enklaven geben, die in das kollektive „Parlament der Dinge“ (Latour) Einlass finden sollten. Doch das heißt auch, dass Kritik – sei es auf Seiten der Kunst, sei es auf Seiten der Theorie – nicht mehr aus den Reibungen und Konflikten entsteht, die die Beziehung zwischen dem Realen und Symbolischen kennzeichnen, sondern aus einem Konsens derer, die Ausstellungen im Schulterschluss mit den sie beauftragenden Institutionen mit mehr oder weniger kritischen Inhalten (Ökologie, Feminismus, Kapitalismustheorie etc.) beliefern. Die allgemeine Lagebestimmung der dOCUMENTA (13) war somit für jede Zielgruppe geeignet. Die ohnehin alle fünf Jahre steigenden Besucher_innenzahlen wurden nochmals übertroffen. Dass die für die dOCUMENTA (13) entwickelten Werke zudem keine vermittlungsrespektive marktunabhängigen Realitäten bilden, lässt sich an der wenig überraschenden Tatsache ersehen, dass einzelne Bestandteile der im Tagungskonzept genannten Beispiele, darunter Kader Attias Installation The Repair from Occident to Extra-Occidental Cultures und Pierre Huyghes Environment On Seeds and Superspecies auf der Basler Messe des darauffolgenden Jahres angeboten wurden.
10 Ebd., S. 2. 11 Osborne: Anywhere or Not at All, S. 2.
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III. Vor diesem Hintergrund wäre nach der Wechselwirkung von Kunst- und Kritikbegriffen zu fragen. Spielt hierfür, wie von der traditionellen Institutionskritik reklamiert, der Ort und Kontext, an und in dem eine Arbeit realisiert wurde, eine bestimmende Rolle, oder haben solche ‚materiellen Referenten‘ angesichts einer das Soziale durch das Kollektive ersetzenden Netzwerkökonomie ihre Denomination verloren? So machte es im Rahmen der dOCUMENTA (13) den Anschein, dass die traditionell institutionskritische Frage nach Repräsentations- und Machtstrukturen sowie nach sozialen Ein- und Ausschlussbedingungen in die für überwunden gehaltene Politik der Fürsprache – für Kriegsopfer, Verfolgte und Traumatisierte sowie für Flora und Fauna – zurückfiel. Der bereits in den 90er Jahren gegen die Institutionskritik erhobene Vorwurf, die Analyse des Betriebssystems mit (strukturell korporatistischer) Dienstleistungskultur zu verwechseln, schien bei der dOCUMENTA (13) nicht einmal der Rede wert: Ihre Palette reichte von gehobenem Ökomarketing bis hin zu Psychotherapieangeboten (siehe Sanatorium von Pedro Reyes). Wer würde hier nicht an jene für den Neoliberalismus entscheidende Rolle individual-kreativer Bedürfnis- und Konsumprofile denken, die gleichsam idealer Gegenstand für eine aktualisierte Befragung jener sozialen Realität wäre, als deren ästhetische Transformation die im Tagungspapier genannten Werke in Erscheinung zu treten suchen. Vergleicht man an dieser Stelle etwa Huyghes zweifelsohne entwaffnend lakonisches Earth Art Piece oder Theaster Gates’ 12 Ballads for Huguenot House mit Michael Ashers Property Line von 1978, so zeigt sich hieran eine weitgehende Neutralisierung jener Konflikte, die Kunst in der Konfrontation mit der sogenannten sozialen und/oder institutionellen Realität auszulösen vermag. In der von Gates gemeinsam mit Architekten, Designern und anderen Kulturproduzent_innen betriebenen Revitalisierung leerstehender Gebäude durch nichtkommerzielle Aktivitäten mag sich durchaus der auf Selbstverwaltung rekurrierende Gedanke kollektiven Lebens und Arbeitens aktualisieren; doch gerade dessen Kompatibilität mit einem neoliberalen Verständnis von ‚common goods‘, das auf die (selbstredend idealistische) Bereitschaft zu möglichst hohem Einsatz der Beteiligten bei geringfügig bezahlter Arbeit zielt und für das unter anderem auch avancierte Bauprojekte zwischen Kunst, Kreativwirtschaft, Ökologie und Bildung Anschauungsmaterial lie-
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fern, lässt keine strukturelle Auseinandersetzung mit einem der traditionell wohl streitbarsten Grundprinzipien sozialer Realität, dem Eigentumsrecht, erkennen. In einer solchen Auseinandersetzung liegt aber, wie ich am Beispiel von Ashers für die in Brentwood, einem Vorort von Los Angeles gelegene Privatsammlung des Ehepaars Stanley & Elyse Irinstein entworfene Property Line zeigen möchte, eines der Grundprinzipien klassischer Institutionskritik. Ashers Beitrag für die aus Außenskulpturen bestehende Sammlung richtete sich dabei auf die Einfriedungsmauer, die das Gelände umgibt: Wie die Kunsthistorikerin Birgit Pelzer in ihrer profunden Projektanalyse schreibt, repräsentieren solche Mauern in ihrer Funktion, Nachbargrundstücke voneinander abzugrenzen, „Reichtum und Privateigentum“12. So sah Ashers Entwurf vor, einen Teil der an das Nachbargrundstück stoßenden Betonmauer zu entfernen und hiervon ein Duplikat anfertigen zu lassen, um dieses in den Skulpturengarten zu integrieren. Es oblag dabei dem Ehepaar, einen Abschnitt der zwischen ihrem Garten und dem der Nachbarn gelegenen Mauer auszuwählen. Wie Pelzer festhält, empfand das Sammlerehepaar, das Asher bewusst in die Projektrealisation einbezogen hatte, die Arbeit als „zu subtil“13, mit anderen Worten: als zu unrepräsentativ. Um ihr also mehr Sichtbarkeit zu verleihen, entschied es sich für einen an der Straße gelegenen Mauerabschnitt. Der Abriss kam natürlich den Nachbarn zugute, die ein 5 Meter langes und 27 Zentimeter breites Stück Grund und Boden hinzugewannen. Insofern also ein architektonisches Element, das in diesem Fall Grundeigentum markieren sollte, durch seine Umwidmung zu einer Skulptur seine ursprüngliche Funktion verlor, brachte es fest gefügte Eigentumsverhältnisse ins Wanken. Das Kunstwerk wurde so laut Pelzer als ein Besitz ansichtig, der über klassen- und eigentumsspezifische, gemeinhin unausgesprochene Codierungen verfügt. Das heißt, dass die Involvierung des Sammlerehepaars dazu angetan war, einen
12 Birgit Pelzer: „Raumübertragungen. Skulptur bei Dan Graham, Michael Asher und Isa Genzken“, in: Sabine Breitwieser und EA-Generali Foundation, Wien (Hg.): White Cube/Black Box, Skulpturensammlung, Wien 1996, S. 175–192, hier: S. 184. Siehe hierzu auch meinen Beitrag: „Kritik der Institutionen und/ oder Institutionskritik? (Neu-)Betrachtung eines historischen Dilemmas“, http://www.donau-uni.ac.at/imperia/md/content/campuscultur/kritik_der_ institutionen_und_oder_institutionskritik.pdf. 13 Pelzer, „Raumübertragungen“, S. 184.
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Prozess der Sichtbarmachung des Konfliktverhältnisses zwischen Künstler, Werk und Sammlung in Gang zu setzen. Pelzer kommentiert den Vorgang folgendermaßen: „Asher weist auf diese Ordnung der gesicherten Kapitalbildung und den Übergang von der Problematik des Habens zur Problematik der Identifizierung hin, den sie verbirgt. Es handelt sich hier um eine Metapher der Spekulation, der Mobilien und Immobilien, das Objekt der Überschneidung.“14
Hierin besteht nach Pelzer zugleich das Humoristische an Ashers Projekt: „Ist der Grund und Boden mehr oder weniger wert als das Kunstwerk, das hieraus entstanden ist?“ Property Line vermag daher ihrer Ansicht nach aufzuzeigen, dass „die Logik des Besitzes eine der Ausschließung ist. Das Eigentum des einen unterdrückt das Eigentum des anderen.“15
IV. Man muss nicht auf die idealisierungsanfällige Geschichte der Institutionskritik zurückgreifen, um ein Bewusstsein für die Rolle zu schaffen, die die Materialisierung sozialer ‚Referenten‘ für das Verhältnis von Kunst und Kritik spielt. Wenn ich in diesem Zusammenhang die Installation Panel 2 – Nothing better than a touch of ecology and catastrophe to unite the social classes des Künstlers und Ausstellungsdesigners Martin Beck ins Feld führe, dann auch vor dem Hintergrund der eingangs zitierten Tagungsthese, dass die bildende Kunst auf eine mit der Architektur und dem Design vergleichbare Gestaltung der Wirklichkeit ziele. Becks Installation, die unter anderem in der von Diedrich Diederichsen und Anselm Franke 2013 kuratierten Ausstellung The Whole Earth im Berliner Haus der Kulturen der Welt zu sehen war, berührt dabei auch die für die dOCUMENTA (13) programmatische Bedeutung der Ökologie für die Bestimmung der „Kunst in unserer heutigen Lage“. Wie die beiden Kuratoren rekurriert auch Becks Projekt auf einen historisch exemplarischen Versuch der Übertragung von „ökologisch-systemischen Konzepten auf Gesellschaft, Politik und Ästhe-
14 Ebd. 15 Ebd., S. 185.
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Abbildung 1: Ausstellungsansicht von Martin Becks Panel 2 – Nothing better than a touch of ecology and catastrophe to unite the social classes … bei Gasworks, London, 2008. Foto: Matthew Booth
tik“16. Während The Whole Earth Steward Brand zitierte, den späteren Erfinder des Begriffs ‚Personal Computer‘, beziehungsweise seinen Katalog The Whole Earth aus dem Jahr 1968, zitiert Beck die berühmtberüchtigte Aspen-Konferenz von 1970, in deren Rahmen damals tonangebende Architekten, Designer und Künstler über die zukünftige Rolle der Ökologie bei der Entwicklung von architektonischen Environments diskutierten. Im Rahmen dieser Debatte kam es, wie die von Beck zusammengetragenen Materialien zeigten, zu heftigen Tumulten seitens einer heterogenen Gruppe aus Polit-, Graswurzel- und Hippieaktivist_innen, die den auf der International Design Conference in Aspen vorherrschenden Designdiskurs als elitär, männlich und weiß brandmarkten.17 In der Weise, in der
16 Siehe Ausstellungsinformation des Hauses der Kulturen der Welt zu „The Whole Earth“, http://www.hkw.de/de/programm/projekte/veranstaltung/ p_87732.php. 17 Siehe hierzu meine Beiträge: „Navigieren im/mit System. Kunst, Technik, Natur: 1970/heute“, in: Diedrich Diederichsen und Anselm Franke (Hg.): The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen, Ausst.-Kat. Haus der Kulturen der Welt Berlin, Berlin 2013, S. 60–66 und „Between Structure
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Abbildung 2: Martin Beck: Videostill aus The Environmental Witch-Hunt, 2008. Mit freundlicher Genehmigung von Martin Beck und 47 Canal, New York
nun in The Whole Earth eine Verbindung zwischen sozioökologischen Ansätzen der 1960er und 70er mit der wenig später einsetzenden „kalifornischen Ideologie“ als „Allianz zwischen Hippies und Kybernetikern, NaturRomantikern und Technologie-Verehrern, zwischen Psychedelia und Computerkultur“18 hergestellt wird, rekapituliert auch Becks Installation die Zusammenhänge zwischen Weltverbesserungsansprüchen und ökonomischen Entwicklungen, die in der interdisziplinären Kollaboration der in Aspen Beteiligten angelegt waren. Wie in The Whole Earth die Rolle der Gegenkulturen der 60er und 70er für die Herausbildung der „Umweltbewegung und den Aufstieg digitaler Netzwerk-Kultur“19 sind es in Panel 2 die im Kunstgeschehen der späten 60er und frühen 70er Jahre sichtbar werdenden Parallelentwicklungen von Sozial- und Ökobewegungen sowie von neuen Technologien, die hier rekapituliert und aus zeitgenössischer Perspektive reflektiert wurden. Entscheidend für die Transformation des Verhältnisses von Kunst- und Kritikbegriffen scheint gemäß Panel 2 die Nachhaltigkeit zu sein, mit der die damalige Forderung nach einer Versöhnung der „zwei
and Praxis. The Heteronomy of ‚Panel 2‘“, in: Martin Beck: The Aspen Complex, Berlin/New York 2012, S. 30–69. 18 Siehe Fußnote 16. 19 Ebd.
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Kulturen“ bis heute wirksam ist. 1959 von dem englischen Wissenschaftler und Schriftsteller Charles Percy Snow formuliert, ging es hierbei um die Überwindung der Trennungen von Natur- und Technikwissenschaften sowie von Geistes- und Kulturwissenschaften. Auch wenn Snows damalige Brandrede in erster Linie auf eklatante Mängel des US-amerikanischen Bildungssystems zielte, stellte sie nichts Geringeres als die Lösung globaler Probleme in Aussicht. Ein ähnlicher auf Versöhnung und Rettung zielender Anspruch spricht, wie Susanne Leeb in ihrem mit Christoph Menke geführten Gespräch über die dOCUMENTA (13) zu bedenken gibt, aus deren Krisenbefund, lasse sich dieser doch mit den „negativ-humanistischen Ideen der 1950er Jahre“ vergleichen, „als Sartre die Menschheit durch die Bedrohung der Atombombe vereint sah“.20 Solche die vielfältigen Komplizenschaften von soziokulturellen, politökonomischen und technowissenschaftlichen Prozessen thematisierenden Diskurse lassen sich wohl kaum mit Christov-Bakargievs Krisenbewältigungsrhetorik in Einklang bringen. Die Kunst, so die Grundthese von Panel 2, ist vielmehr Teil des Problems. Dies gilt selbstredend auch für die aus der Bundesgartenschau hervorgegangene Institution der Documenta, die – wie gemeinhin bekannt – aufgrund ihres Standortes nahe der ehemaligen Zonengrenze als kulturelles Bollwerk gegen den aus westlicher Sicht unfreien Geist des Sozialismus galt. Nicht, dass die dOCUMENTA (13) diesen historischen Umstand ausgeblendet hätte. Im Gegenteil: Er diente ihr als Folie für historische und aktuelle Beispiele eines auf Krieg und Frieden zugeschnittenen Krisenszenarios.21 In diesem Zusammenhang scheint die Einschätzung des Hamburger Soziologen Heinz Bude, der zufolge sich Kurator_innen heute vor allem durch „Weltverbesserungswissen“22 empfehlen, durchaus zutreffend. Aber sicherlich ist der keinesfalls auf Erdbeeren, Bienen und Hunde beschränkte Anspruch, nicht nur die Kunst, sondern auch
20 Siehe „Reflektieren/Transzendieren“, S.103. 21 Siehe zu diesem Phänomen auch Susanne Leeb: „Asynchronous Objects/Asynchrone Objekte“, in: Texte zur Kunst Nr. 91, 23 (2013) 3, S. 41–61. 22 Heinz Bude: „Metakünstlertum (The curators)“, unveröffentlichter Vortrag im Rahmen der Tagung „Experimentelles Arbeiten. Die Ästhetik der Selbstentäußerung“ des DFG-Netzwerkes „Kunst und Arbeit“, Hamburger Institut für Sozialforschung, 29. November 2012. Bude macht seine These beispielhaft an den Selbstvermarktungsstrategien eines Kurators wie Hans-Ulrich Obrist fest.
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Probleme dieser Welt zu kuratieren, nicht allein den globalplayerhaft agierenden Ausstellungsmacher_innen in die Schuhe zu schieben: Dies gilt auch für die von der Kunstkritikerin Patricia Grzonka als „universal soldiers“23 charakterisierten Künstler_innen, denen kein Krisenherd zu heiß ist, um angepackt zu werden. Mit der scheinbar reibungslosen (Re-)Produktion kritischer Inhalte geht dabei eine Neutralisierung institutionskritischer Methoden einher: Ich denke hierbei unter anderem an Kader Attias Entscheidung, in The Repair from Occident to Extra-Occidental Cultures die von ihm ausgelegten Bücher und Magazine auf den Regalablagen festzuschrauben, anstatt diese – wie in themenbezogenen Installationen üblich – zugänglich zu machen. Man könnte in dieser Geste eine berechtigte Kritik an einer inzwischen leergelaufenen Partizipationsrhetorik lesen; gleichwohl läuft sie Gefahr, Wissen und Information auf einen zugegeben aufsehenerregenden Gegenstand der Repräsentation zu reduzieren. Wenn ich an dieser Stelle die Tagungsthese erneut aufgreife, der zufolge die im Rahmen der dOCUMENTA (13) gezeigten künstlerischen Werke „sich als unmittelbar transformative Momente von Wirklichkeit zu verstehen (gegeben) hätten“, so verweisen doch gerade solche Problematiken auf die unhintergehbar ästhetische, gleichwohl scheinbar unsichtbar gewordene Vermitteltheit sogenannter ‚Wirklichkeit‘. Dies trifft unter anderem auch auf das zuvor angesprochene Projekt Gates’ als eines der von den Tagungsveranstalter_innen genannten Beispiele zu. Bezeichnenderweise – und hier gehe ich mit der Tagungsthese konform, wenn auch mit einer anderen Intention – traten solche Vermittlungen im Rahmen der dOCUMENTA (13) konsequenterweise zugunsten einer Wahrnehmung von Kunst und Wirklichkeit als friedlich „koexistierende Zustände“24 zurück oder, wie es der Kunsthistoriker Sebastian Egenhofer formuliert:
23 Patricia Grzonka: „Im Knast – Kunstproduktion unter den Bedingungen der Zwangsvollstreckung“, Patricia Grzonka im Dialog mit der Manifesta 8, Murcia/Cartagena,
http://www.textezurkunst.de/daily/2010/nov/29/im-knast-
kunstproduktion-unter-den-bedingungen-der/. 24 In Anlehnung an Gilles Deleuze: „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, in: Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt am Main 1993, S. 254–262 , hier: S. 257.
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„Während in New Yorker Biofoodläden das sandgestrahlte Holz aus alten Scheunen verbaut wird […], schießen in Miami die Preise für die Residuen von Theaster Gates’ kommunitären Wohn- und Arbeitsprojekten durch die Decke. […] Die letztjährige documenta hat mit ihrer Beschwörung der agency der ‚Dinge‘ – von Hitlers Badetuch über zerstörte Vasen aus Beirut und Strommasten aus Zypern bis zu Sandstein aus Afghanistan – dieser Spektakularisierung von Geschichte einen Rahmen theoretischer Nobilitierung geliefert. Jedoch war die Ausstellung selbst nur ein Symptom der Orientierung des aktuellen universalismus- und rationalitätskritischen Diskurses an Simulakren voraufklärerischer Welt- und Wissensmodelle.“25
Diese auch laut Osborne symptomatische Beliebigkeit der zeitgenössischen Historiografie ist keineswegs allein charakteristisch für die dOCUMENTA (13). Aus ihr sprechen womöglich die transversalen Effekte einer den Erfordernissen der „offenen Kreisläufe der Bank“26 entsprechenden Netzwerk-Aktanten-Ökonomie, die sich zwischen Selbstorganisation, Galerien, Museen, Akademien, Sammlungen, Auktionen, Festivalausstellungen, Kollaborationen, Public-Private-Partnerships etc. bewegt. Die Vermittlungen, Reibungen und Konflikte zwischen institutionskritischen und ökonomieaffinen Praktiken sind demnach hinfällig. Dieses Problem bringt die portugiesische Kunstkritikerin Ana Teixeira Pinto in Bezug auf die sich vermeintlich über die Unterscheidung von guter und laienhafter Kunst hinwegsetzende Integration von ‚Outsider-Art‘ in die letztjährige VenedigBiennale (2013) beispielhaft zur Sprache: „Roughly put, the exhibition is composed of two distinct demographics: passionate amateurs and accidental authors – mostly dead – on the one hand, and professional artists on the other. Operating in a temporal void, ‚The Encyclopedic Palace‘ showcases the works of the former to conjure a chimerical past made to match the ana-
25 Sebastian Egenhofer: „Zeit, Geld und Materie“, in: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Richard Birkitt und Sam Lewitt (Hg.): and Materials and Money and Crisis, Ausst.-Kat. Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Köln 2013, S. 43–56, hier: S. 45. 26 Deleuze: „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, S. 260.
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chronistic present of its own making. The result is art without history: a perfect loop inside of which the market rules supreme.“27
Die kuratorische Sorgfalt gegenüber Amateur_innen und Entrechteten, gegenüber Bienen, Hunden und Erdbeeren ist augenscheinlich dazu angetan, eine besondere Nähe zu anderen Wirklichkeiten als ausschließlich jenen der Kunst zu suggerieren. Hier liegt womöglich einer der Gründe dafür, dass wir über die „Kunst in unserer derzeitigen Lage“ nicht mehr erfahren, als dass sie sich mit diesen Wirklichkeiten vernetzt. Auch die von Osborne monierte Definition des spezifischen Kunsturteils, das sich nicht reibungslos in die offenen Kreisläufe der Banken einspeisen lässt, ist damit hinfällig. Der pazifistische Tenor der dOCUMENTA (13) erscheint somit nicht zuletzt auch deswegen so erfolgreich, weil er die Rezeption der Kunst ausgesprochen geschmeidig zu gestalten wusste. So nimmt es nicht wunder, dass wir uns erst gar nicht mehr fragen, als welche und wessen Wirklichkeit die Kunst sich transformiert. Wir erleben die in ihrem Namen produzierten Werke nur mehr als immanente und modulare Aktanten, die die ins Soziale und Ökologische expandierende Wirklichkeit der Kunst nach den Gesetzen der (ökonomischen) Kreisläufe (re-)organisiert. Auf diese Weise kann sie der in der Tat unangemessenen Opposition aus Affirmation und Kritik – allerdings mit erheblichem Reibungsverlust – entkommen. Sie kann, Andreas Ziemanns Latour-Lektüre zufolge, nur mehr innerhalb eines „symmetrische[n] sozialtheoretische[n] Holismus“28 agieren. Dies kann sie, ohne an den „Strukturmuster[n], Handlungsstile[n], Normerwartungen und Werte[n]/Ideen“ der „differenzierten Unterscheidungslogiken und Wertbezüge der ‚modernen‘ Kultursphären und Gesellschaftssysteme“29 zu rütteln, die weiterhin existieren und in „eklatanter soziale[r] Ungleichheit, Prekariat und radikale[n] Mechanismen sozialer Exklusion“30 ihr neoliberales Fortleben finden.
27 Ana Teixeira Pinto: „Tree of Life. 55th Venice Biennial, Venice, 6. Oktober 2013“, http://art-agenda.com/dossiers/tree-of-life/. 28 Siehe Ziemann: „Latours Neubegründung des Sozialen“, S. 114. 29 Ebd. 30 Ebd.
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Vor diesem Hintergrund scheint die (wissenschaftstheoretische) Diskreditierung von Kritik31 mit der Absage an eine Analyse sozialer Wirklichkeit zu korrelieren: Das soll nicht heißen, dass die (Kunst-)Kritik an ihrem Elend unschuldig ist, scheint sie doch keinen ernst zu nehmenden Widerstand gegen ihr konfliktbefreites Funktionieren im Rahmen der von Osborne diagnostizierten ‚heterogenen empirischen Totalität von Kunstwerken‘ zu bieten. Sie trägt vielmehr ihrerseits zur Befriedung und Harmonisierung jener (Interessens-)Konflikte bei, die die institutionellen Vermittlungen zwischen Kunst und Wirklichkeit auf unterschwellig aggressivere Weise bedingen.
31 Siehe hierzu auch Bruno Latour: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Berlin 2007.
Posthumanismus und Affirmation des Anorganischen als Kritik des Lebendigkeitskonsums D IEDRICH D IEDERICHSEN
Um 2000 vor unserer Zeitrechnung, also doch eine Weile, bevor es eine entwickelte Kunsttheorie gab, die sich fragte, ob lieber Affirmation oder Kritik, ging ein dichter Meteoritenschauer über Argentinien nieder. Ursprung dieser kosmischen Attacke war ein ungefähr 800 Tonnen schwerer, aus Eisen bestehender Asteroid, der von der Bahn im Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter abgekommen war und auf der Erde zerschlug. Dieser Eisenbrocken war älter als der Planet, mit dem er nun zusammenstieß und der seiner kosmischen Existenz ein Ende bereitete: die Erde. Die Gegend, in der diese Kollision stattfand, gehört heute zur der armen und weit unter dem Lebensstandard des übrigen Landes lebenden Provinz Santiago Del Estero im Norden Argentiniens, nicht weit von der Grenze zu Paraguay. Kunst hat hier selten eine große Rolle gespielt. Jedoch: Die ebenso arme Nachbarprovinz Tucumán stand während der 1960er Jahre im Zentrum einer längst legendär gewordenen Aktion politischer Kunst.1 Künstler_innen aus Buenos Aires und Rosario sind im
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Vgl. Andrea Giunta: Vanguardia, internacionalismo y política. Arte argentino en los años sesenta, Buenos Aires/Barcelona/México 2001, S. 372–384; Guillermo Fantoni: Arte, vanguardia y política en los años ’60. Conversaciones con Juan Pablo Renzi, Buenos Aires 1998; Inés Katzenstein (Hg.): Listen Here Now!
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Jahre 1968, als es nicht zum ersten Mal zu einer Hungersnot in der Gegend gekommen war, nach Tucumán gezogen, haben in einer ersten Phase mit lokalen Gewerkschaftern und anderen Aktivisten Kontakt aufgenommen und in einer zweiten das Leben der Landbevölkerung dokumentiert. In einer dritten Phase präsentierten sie in Buenos Aires und Rosario ihre Ergebnisse: sozialrealistische Fotografien ebenso wie installative Elemente: Das Licht bei der Eröffnung flackerte im Rhythmus der Säuglingssterblichkeitsstatistik. Die Eröffnung in Buenos Aires wurde zum Eklat und von der Polizei geschlossen. Das Archiv der Bewegung wurde konfisziert, weil es für die Militärregierung wichtige Informationen über politische Gegner und deren Netzwerke enthielt. 4000 Jahre vorher wurde der namenlose Asteroid in zahllose Einzelteile zerschmettert. Unser Planet zeigte an seiner nordargentinischen Front unerbittliche Härte. Die Trümmer des fremden Himmelskörpers verteilten sich auf einem Feld, das bis in die Nachbarprovinz Chaco reichte. Wir wissen nicht, wer damals dort gelebt hat. Wir wissen nur, dass ca. 3000 Jahre später ein indigenes Volk dort siedelte, das schließlich von einem anderen, Quechua sprechenden Volk verdrängt wurde, welches unter dem Einfluss des peruanischen Inkastaates stand und sich von ihm unterstützt dort niederließ. Dieses Volk nannte das Gebiet, auf dem Trümmer verteilt waren, Piguem Nonralta, Himmelsfeld, und verehrte die dort herumliegenden Asteroidenreste als höhere Wesen oder Symptome höherer Wesen. Die nach Mineralien suchenden spanischen Eroberer, die gegen Ende des 16. Jahrhunderts dort eintrafen, übersetzten diesen Namen korrekt mit Campo del Cielo und schauten nach, ob es etwas Verwertbares im Metall gab. Noch später, in den 1960er Jahren, holten deutsche Wissenschaftler den Asteroiden in die BRD, um ihn zu Forschungszwecken zu zerschneiden: Seine eine Hälfte landete anschließend in Buenos Aires, die andere in Washington DC. 2010, kurz nach Beginn des aktuellen Jahrtausends fügte ihn das argentinische Künstlerduo Faivovich & Goldberg für eine Ausstellung im Frankfurter Portikus wieder zusammen. Und dasselbe Künstlerduo wollte ihn nun zur dOCUMENTA (13) bringen. Objekte und Tiere spielten eine große Rolle bei der letzten Documenta. Da aber Objekte in Kunstausstellungen bereits eine gewisse Tradition ha-
Argentine Art of the 1960s. Writings of the Avant-Garde, New York 2004, S. 305–326.
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ben, wandte sich das öffentliche Interesse mit seiner Neigung, witzige OneLiner zu konstruieren, den Tieren zu und erfand die „dogumenta“. Dabei folgen Tiere wie Objekte einem gemeinsamen Trend, dem Carolyn Christov-Bakargiev auch bei ihrer Künstlerauswahl gefolgt ist, einem Trend, der auch in der Bemühung mancher historischer Kronzeugen und in der Auswahl von theoretischen Texten für die Veröffentlichungsreihe der dOCUMENTA (13) bestätigt wurde, etwa von Graham Harman oder Bruno Latour. Auch wenn man konzedieren muss, dass die letzte Documenta eine solche Heterogenität an Praktiken aufgefahren hat, dass die Dominanz eines bestimmten Zugangs nur etwas gewaltsam behauptet werden kann. Dies wäre nun die sogenannte objektorientierte Philosophie, die, wenn man Veranstaltungen im Kunstmilieu und die Anzahl neuer Blogs als Kriterium anerkennen will, eine rasch wachsende und sich großer Anteilnahme erfreuende Schule geworden ist. Oft wird sie als Modeerscheinung abgetan; für mich, dem Moden zunächst nun gerade nicht suspekt sind, sondern im Gegenteil der zentrale Gegenstand des diagnostischen Interesses, ist das aber nicht nur kein Grund, sie nicht ernst zu nehmen, sondern Grund, das Ernstnehmen etwas anders zu justieren und zu fragen, welchem Bedürfnis der von dieser Entwicklung erfreuten Menschen diese Tendenz eigentlich nachkommt: Was erhoffen sie sich, und was erhalten sie von objektorientierter Philosophie? Anders gefragt: Ist das, was oft das Motiv von Kritik, Politisierung, Antagonismus ist, nämlich Einwände und Absetzbewegungen in Bezug auf aktuell hegemoniale Konstellationen, auch in dieser Bewegung ein wichtiger und womöglich strategischer Hintergrund, der sich aber in diesem Fall hinter einer metaphysischen Tieferlegung versteckt? Was aber ist das überhaupt: objektorientierte Philosophie (oder auch objektorientierte Ontologie)? Im Prinzip zwei relativ weit voneinander entfernte Denkschulen, die in den letzten Jahren in den USA von einigen Leuten einerseits im Kunstfeld, andererseits in den neueren Ökobewegungen zusammengeführt wurden. Die eine geht zurück auf Bruno Latours Actor-Network-Theory und die darin enthaltene Rolle des Objekts als selbstständiger Aktant in einem Zusammenhang. Diese Beschreibung der Handlungsfähigkeiten von Objekten ist aus gesellschaftlichen Beobachtungen insbesondere im Zusammenhang von Wissensproduktion entstanden und basiert nicht in erster Linie auf philosophischen oder gar metaphysischen Entscheidungen: eher auf Fragen der Perspektive, des Erkenntnisinteresses und nicht zuletzt auch der wissenschaftlichen Strategie.
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Die andere objektorientierte Theorie ist der sogenannte spekulative Realismus, der mit der von seinen Vertretern vor allem auf Kant zurückgeführten philosophischen Tradition brechen will – Stichwort: Unerreichbarkeit des Dings an sich –, der sie vorwerfen, auf die eine oder andere Weise die Philosophie darauf zu reduzieren, die Gegenstände der Welt nur insofern zur Kenntnis zu nehmen, wie sie sich dem Subjekt darbieten. Der spekulative Realismus nennt all diese Philosophien korrelationistisch und möchte diesem subjektiv beschränkten Korrelationismus eine realistische Philosophie gegenüberstellen, die zwar, wie der Name schon sagt, spekulativ bleiben muss, aber dafür eine Welt jenseits des Subjekts erreicht. Diese Position hat schon vor fast einem Jahrzehnt der französische Philosoph Quentin Meillassoux entwickelt, die Briten Graham Harman und Ray Brassier haben diese vor allem in Großbritannien bekannt gemacht. Der legendäre, charismatische Nick Land muss dafür den Boden bereitet haben. Mittlerweile gibt es nicht nur in London zahllose Lesegruppen und BlogDiskussionen, im Kunstfeld ist das Zeug wie eine Bombe eingeschlagen. Der US-Amerikaner Levi Bryant hat in dem viel gelesenen Text The Democracy of Objects seine Version, eine an Latour orientierte, von Meillassoux inspirierte und mit vielen anderen ‚posthumanistischen‘ Autoren von Luhmann bis Lacan angereicherte Mischung, in den USA verbreitet, wo er vor allem in radikal ökologisch orientierten Kreisen viel gelesen wird.2 Die besondere Bedeutung, die beiden Strängen in der bildenden Kunst mittlerweile zukommt, ist aber weder allein dadurch zu erklären, dass hier eine interessante, wenngleich auch an vielen Stellen löcherige philosophische Spekulation angestellt worden ist, noch allein durch die besondere Eignung einer objektorientierten, posthumanistischen Perspektive für ökologische Fragestellungen. Das Interesse alternativer Kulturen an Tierrechten und an der Kommunikation zwischen den Spezies, am Antispeziesismus, an Donna Haraways Cyborg und an der Emanzipation der Mischformen technischer und anderweitig künstlicher Körper mit biologischen Körpern erklärt die Begeisterung ebenfalls nicht hinreichend. Meillassoux hat eine Kategorie, die er in einer merkwürdigen Abweichung von seiner
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Einen ersten Überblick über die mittlerweile schon wieder ziemlich ausdifferenzierte Bewegung gibt: Levi Bryant, Nick Srnicek und Graham Harman (Hg.): The Speculative Turn. Continental Materialism and Realism, Melbourne 2011.
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ansonsten rein philosophischen Begründung für seinen Bruch mit dem Korrelationismus quasi historisch einsetzt; mit der er mithin argumentiert, dass gerade jetzt und auf der technischen Höhe dieser Zeit das Ding an sich als Abschiebeort für die Welt da draußen jenseits unseres Blickes ausgedient hat und jetzt die asubjektive Welt erkannt werden kann. Diese Kategorie ist die des Archifossils. Archifossile sind solche Objekte, die älter sind als Subjekte oder zur Subjektivität fähige Dinge (sprich Menschen), noch besser: älter als jedes Leben. Seit wir mit naturwissenschaftlichen Methoden Objekte nicht nur einstufen, sondern präzise ihr Alter als eines bestimmen können, das vor dem der Menschheit liegt, ja vor der Entstehung des Planeten wie im Falle des argentinischen Brockens, haben wir einen unmittelbaren Zugang zu etwas, das unserer Subjektivität entgangen ist und entgehen musste. Daher war es auch ein besonderes Statement, dass Carolyn Christov-Bakargiev schon 2011, also lange vor der dOCUMENTA (13), das Projekt ankündigte, einen Stein vom argentinischen Campo del Cielo über Tausende von Kilometern, genau gesagt über die längste Nonstop-Strecke, die die deutsche Lufthansa fliegt (Buenos Aires–Frankfurt) zu transportieren, um ihn dann vor dem Kasseler Fridericianum abzulegen. Dort würde er schnell unter seinesgleichen Freunde finden, dachte man, etwa in Walter De Marias Earth Kilometer. Es war ja eh gerade ‚Landart‘- oder, wie man im Original sagt, ‚Earthworks‘-Saison. Die gleichnamige Münchner Ausstellung3 hatte wieder daran erinnert, dass auch das Fleisch des Planeten und seine besondere Prä-Gestaltung, das Mahlen der Geokräfte an Masse und Gestein, Bearbeitungen im gleichen Range sind wie die Stunden, Monate und Jahre, die irgendwelche Menschen mit der Bearbeitung von Gegenständen verbringen. Womöglich lässt sich aus tektonischen Verschiebungen genauso eine Subjektivität herauslesen wie aus Handschrift und Duktus? Oder etwas viel Unglaublicheres als Subjektivität? Ein Stein sollte ja schon einmal verschleppt werden. Die Gruppe Minus Delta t, Vertreterin einer aktivistischen und/oder aktionistischen Kunst, die beiden heutigen Bedeutungen dieser Begriffe wenig entspricht und zu einer einstweilen ausgestorbenen Gattung gerechnet werden muss, hatte um 1980 die Idee, einen Stein aus Stonehenge zu stehlen und nach Bangkok zu
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„Ends oft he Earth“, Haus der Kunst, 11. Oktober 2012 bis 20. Januar 2013.
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transportieren.4 Das Publikum konnte diese Aktion kofinanzieren, indem man sich für DM 20,– eine Aktie des Projekts kaufte. Der versuchte Diebstahl in Stonehenge wurde entdeckt, und die Gruppe wich nach einem Aufenthalt im britischen Knast auf einen walisischen Steinbruch aus, wo sie einen Granitbrocken legal erwarb, der angeblich aus genau dem Material bestand, das auch in Stonehenge vorkam; ja, die Stonehenge-Kultur soll sogar denselben Steinbruch ausgebeutet haben. Es ging also auch beim Stein von Minus Delta t um einen Transfer aus einer unglaublich weit zurückliegenden, quasi unerreichbaren Zeit. Und dieser Stein schaffte es dann tatsächlich nach Bangkok, wurde dort wieder abgeholt und wartet heute auf dem Gelände der österreichischen Botschaft in Neu-Delhi darauf, bei entsprechend günstigeren politischen Bedingungen noch nach Beijing zu reisen, um seine Tage auf dem Tiananmen-Platz zu beschließen. Doch hat nach Auskunft von Mike Hentz, einem der Gründungsmitglieder der Gruppe, damals nicht der Gedanke der Unerreichbarkeit, sondern der der Verbindung den Ausschlag gegeben. Die Gruppe habe Stonehenge als Beginn von Europa definiert – und mit diesem Beginn von Europa habe man so weit wie möglich nach Asien gewollt, alles andere sollte sodann die Poesie der Reise ergeben: Konfrontationen mit pakistanischen und türkischen Grenzbehörden, aus naheliegenden Gründen eine Begegnung mit Mick Jagger vor seinem Hotel in Paris, Segnung durch Papst Woytila, der das Projekt als Friedensmission missverstand, und so fort. Hentz spricht von einer Batterie, die es semantisch aufzuladen gegolten hätte, mit so viel Bedeutung wie möglich – aus strategischen Gründen. Denn nur so hätte die politisch und logistisch beschwerliche Landreise gelingen können. Man hatte, wie Hentz ausdrücklich erklärt, keinen politischen, sondern einen poetischen Grund, aber eben auch nicht den philosophischen, den ich Faivovich & Goldberg und auch Carolyn Christov-Bakargiev unterstelle, nämlich uns mit einem Archifossil konfrontieren zu wollen. Bevor Minus Delta t dieses lange und eigentlich bis heute nicht endgültig abgeschlossene Projekt begonnen hatte, war man als eine unruhige, extreme, gewaltbereite und auch physisch leidensfähige Performancetruppe aufgefallen. Zu ihren Werken gehörten fast immer Konfrontationen mit dem Publikum oder einer Öffentlichkeit, ob durch Hentz als SS-Mann im Kölner Karneval, das Tragen von US-Uniformen in Ländern des War-
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Minus Delta t: Das Bangkok-Projekt, Berlin 1982.
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schauer Pakts oder auch durch das stundenlange Einschließen eines Vernissagenpublikums; dazu kamen die üblichen Punk- und Kunstfestivals, auf denen man sich zu Beginn der 1980er Jahre ebenfalls oft und gerne prügelte. Der Körpereinsatz der Gruppe war enorm und der Existenzialismus der Transgression nicht zu übersehen. Der Stein kann in der Entwicklung der Gruppe auch als eine Antithese zu diesen Aktionen und ihrer Logik gesehen werden. Die Intensität der Körperlichkeit stand in keinem Verhältnis zur steigenden Armut der konfrontativen Strukturen, in denen sich diese entfaltete. Der Stein und seine implizite Dynamik des Stillen, Großen, Alten, das man mit Semantik unbegrenzt aufladen kann, der stillhält und gewichtig ist, wenn der Papst ihn unkonzentriert segnet oder Mick Jagger sich verarscht fühlt, weil er erkennt, dass er ins Zentrum eines practical joke geraten ist, ist das natürliche Gegenstück zu einer außer Kontrolle geratenen Steigerungslogik der Performance, die natürlich nie das Ziel erreichen kann, das sie sich bei ihren Vorstößen ins Leben außerhalb der Kunst vornimmt. Was man in der Mikrogeschichte dieser Gruppe während der 1980er Jahre beobachten konnte, wiederholt sich, so meine These, im größeren Rahmen der Gegenwartskunst wie auch der Massenkultur der letzten zehn plus Jahre. Wir haben nicht nur seit mehr als einem Jahrzehnt einen Boom der Performance- und Livekünste mit ihren typischen Versprechungen von Beschleunigung und Intensität. Darüber hinaus geht es in einem ebenfalls wachsenden Teil dieser Formate um eine Einbeziehung sozialer Umgebungen, die über das Partizipieren, Mitmachen etc. des ehemaligen Publikums weit hinausgeht. Straßenschlachten werden in Reenactment-Performances nachgestellt, problematische Vorstädte mitsamt ihren Bewohnern zu Bestandteilen von Kunstwerken. Zugleich breitet sich eine Ästhetik des Authentischen und der absorbierten Akteure in der Massenkultur aus: Statisten und Freiwillige sind die ebenso begehrten wie billigen Bestandteile einer längst im Mittelpunkt von TV und Netzkultur stehenden Verwertung von Intimität, Privatheit und Biografie. Steigerungen von Nähe, Intimität, Lebendigkeitskonsum entfalteten sich parallel zum Aufstieg immaterieller und prekärer Arbeitsformen und sorgten für deren Ästhetisierung. Darum reicht heute nicht ein einzelner Stein für die Entwicklung einer Gegenposition. Wir haben es eher mit einem Panorama von Faszinationen und Obsessionen zu tun, die sich in den letzten Jahren parallel mit der und zugleich gegen die Bio-, Sozial- und Voyeurästhetik entwickelt haben. In
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deren Mittelpunkt stehen meist auch wieder Objekte, oft und mit etwas guten Willen im entweder Latour’schen oder spekulativ-realistischen Sinne interpretierbar, doch haben sie noch andere Gemeinsamkeiten. Mein Vorschlag wäre eher, Latour und Meillassoux wie auch die Position der dOCUMENTA (13) in das Panorama einzusortieren, als ihnen einen privilegierten explikativen Status zuzuweisen. Der stillhaltende Stein vom Campo del Cielo fällt dann unter die Überschrift vom „Sex-Appeal des Anorganischen“5, dem Mario Perniola in seiner gleichnamigen Schrift nachgeht, gemeinsam mit einer Reihe von anderen Objektsorten und Objektbezügen, die in letzter Zeit Konjunktur hatten. Eine der entscheidenden Kategorien von Meillassoux ist ja „Le Grand Dehors“, das ich gern mit ‚Das große Draußen‘ übersetze, weil es dann nahe bei ‚The Great Outdoors‘ liegt, dem amerikanischen Begriff für klassisch, ja kanonisch gewordene Ausflugsorte in der freien Natur wie der Grand Canyon oder die großen Salzseen. Was bei Meillassoux eine Kategorie spekulativer Erkenntnis sein soll, eine Zone des bisher Nichtdenkbaren oder Nichtgedachten, wird durch diesen kleinen Übersetzungsschachzug zu einem Ort, an dem man erwarten kann, etwas Abenteuerliches zu erleben. Eine womöglich kalte, menschenfeindliche, gestaltlose Zone, in der sich aber all die Undenkbarkeiten ereignen können, wenn man Meillassoux in der Behauptung folgt, dass Naturgesetze nicht nur nicht notwendig sind, sondern vielmehr notwendig kontingent. Diese absolute Offenheit ins Unmögliche hinein, das auch noch erreichbar, zugänglich sein soll, ist auch deswegen so attraktiv, weil es zwei kulturelle Gründe schlechter Laune zugleich bekämpft: zum einen die politische Aussichtslosigkeit des westlichen kapitalistischen Pragmatismus, zum anderen die bereits erwähnte nicht mehr steigerungsfähige endgültige Ausbeutung der Ressource Menschheit, die Menschenbeobachtung und den Aufmerksamkeitstypus Voyeurismus. Auch wenn Meillassoux’ sich als strikt philosophisch gerierendes Programm keinerlei politische Komponenten enthält und gerade nicht die üblichen Anarchie-ist-machbar- oder Eine-andere-Welt-ist-möglich-Durchhalteparolen anbietet, so ist einerseits die Verkündung bis Herleitung der Möglichkeit des Unmöglichen, andererseits aber die Tatsache, dass diese Herleitung nicht den Umweg über die sattsam bekannten menschlichen Potenziale nimmt, ein sauberer Schnitt durch gordische Knoten. Und es ist
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Mario Perniola: Der Sex-Appeal des Anorganischen, Wien 1999.
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kein Wunder, dass dieses Programm sich damit wunderbar einsortieren lässt in eine Reihe von anderen kulturellen Sensibilitäten, die, wenn ich sie jetzt aufzähle, auf den ersten Blick gar nicht so zusammenhängend wirken: Black Metal, Sound Art, Drones, finstere Cormac-MacCarthy-Romane, Konrad Smolenskis riesige handgemachte Glocken im polnischen Pavillon bei der diesjährigen Venedig-Biennale6 und nicht zuletzt der Film Leviathan von Lucien Castaing-Taylor und Veronica Paravel. Die erwähnten Beispiele sind nur ein kleiner Ausschnitt dieses Geschmacks- und Assoziationspanoramas, aber ich möchte kurz begründen, warum das alles zusammengehören könnte. Nehmen wir Reza Negarestani, der vor einigen Jahren mit dem vor Kurzem auch auf Deutsch erschienenen Band Cyclonopedia. Complicity with Anonymous Materials eine Mischung aus einem experimentellen Sci-Fi-Roman zwischen Ballard und Burroughs und einem theoretischen Buch vorgelegt hat.7 Negarestani schreibt darin die über gefundene Tagebücher und andere narrative Komplizierungen gebrochen erzählte Geschichte des Nahen Ostens, in der das Öl und die Erde selbst neben Göttern und Dämonen zu Akteuren werden, deren Irrsinn eines Kampfes gegen die Sonne sich wie angewandter spekulativer Realismus liest. Auch hier gibt es einen Vorläufer aus einer ganz anderen, in einem direkteren Sinne politischen Zeit: den großartigen unvollendeten Roman von Pier Paolo Pasolini: Das Öl. Negarestani nun liefert auch die Texte für die neueste Klanginstallation des Musikers und Künstlers Florian Hecker, Chimerizations, und vor dieser noch hatte Hecker eine CD mit dem Titel Speculative Solutions (2011) veröffentlicht, zu der sich wiederum Quentin Meillassoux in den Liner Notes Gedanken über eine dritte Science Fiction macht. Negarestanis Cyclonopedia ist wiederum so erfolgreich, dass es bereits ein eigenes Symposium nur über dieses Buch gab: „Leper Creativity“8. Letztes Jahr erschien der Tagungsband, auf dessen Seiten Negarestani mit Nicola Masciandaro diskutiert. Die beiden reden aber auch in einem anderen Tagungsband miteinander: Hideous Gnosis, welcher das erste Black
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Konrad Smolenski: Everything Was Forever Until It Was No More (kuratiert
7
Reza Negarestani: Cyclonopedia. Complicity with Anonymous Material, Mel-
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Reza Negarestani, Eugene Thacker und Ed Keller (Hg.): Leper Creativity.
von Daniel Muzyczuk und Agnieszka Pindera). bourne 2008. Cyclonopedia Symposium, Brooklyn, NY 2012.
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Metal Theory Symposion dokumentiert9 – damals noch eine überaus kontroverse Veranstaltung, der ein großer Teil der angesprochenen Interessenten vorwirft, Black Metal an Akademia auszuverkaufen. Mittlerweile hat es diverse Nachfolgesymposien gegeben und auch eine wieder von Negarestani und Masciandaro herausgegebene Nummer der Zeitschrift mit dem schönen Namen Glossator, die ganz dem Black Metal gewidmet ist. Nun müsste man wahrscheinlich erklären, was Black Metal ist, von seinen skandalumflorten Anfängen bei musikalisch originellen norwegischen Nazis, Mördern und Knallköpfen bis zu seiner Erfolgsstory einerseits als Musik naturromantischer, eher am Erhabenen als am Morbiden interessierter amerikanischer Melancholiker wie der Gruppe Wolves in the Throne Room und andererseits als Musik bizarrer Gewaltphantasten wie Bone Awl, dessen Mitglied He Who Crushes Teeth ebenfalls im Tagungsband Hideous Gnosis mitdiskutiert. Doch bei Phänomenen wie Black Metal ist es wie mit den anderen erwähnten Beispielen: Entweder man kennt sie eh schon, oder man muss mir an dieser Stelle einfach glauben: Eine Vorstellung würde zu lange dauern. Für mein Argument sind nur die Eigenschaften des auratisierten, sich verselbstständigenden elektrischen Sounds und dessen Nähe zu ozeanischer Gewalt wichtig, zu außerhalb von Subjektivität liegenden Vorstellungen von Natur, vor allem unbelebter Natur, Magnetismus, Elektrizität, aber vor allem zu unbekannten dunklen Kräften und ebensolcher Materie: Gothic-Naturwissenschaft, wenn man so will – aber nicht als wuchernde, tentakelbestückte Giger’sche Alienhaftigkeit, sondern wüst, schwarz, leer, riesig. Und dann doch belebt, aber mit einem unvorstellbar langsamen, schweren Atem: etwa mit dem symbolischen Atem eines Drone-Konzerts von einer Band wie SunnO)))) oder Earth oder Boris oder einer der vielen anderen, die seit einigen Jahren das Genre der um jeden Preis langsamsten, dröhnendsten, tiefstgestimmten und lautesten Musik bespielen. Auch ihnen geht es um das Alter der Erde oder eine ältere Erde, um ein unbuntes, ahumanes Territorium aus Staub und Nebel, auf dem Lebewesen eigentlich nur als Skelette vorkommen. Soll das heißen, es gehe ihnen um die Utopie des Unbelebten, um den endlich vom Gewürm der Menschheit befreiten Planeten? Niemand möchte das so unfein aussprechen, auch weil Misan-
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Nicola Masciandaro (Hg.): Hideous Gnosis. The 1st Black Metal Theory Symposion [Charleston, SC, 2011] (http://www.radicalmatters.com/metasound/ pdf/Hideous.Gnosis.Black.Metal.Theory.Symposium.I.pdf).
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thropie in einer bestimmten Szene nur die Deckbezeichnung für einen bestimmten kulturellen Rechtsradikalismus ist. Die von mir erwähnten Akteure sind aber fast alle eher in linken Zusammenhängen geerdet, sodass ihr Genuss am Prä-, Post- und Präterhumanen sich also vielleicht leichter als ein Ekel vor dem und Kritik am Lebendigkeitskonsum lesen lässt, am Humanspektakel, der allerdings auf den ersten Blick etwas undialektisch ausfällt. Biopolitik muss man nicht mit Nekropolitik beantworten. Dazu zweierlei. Zum einen: Der Lieblingsautor des spekulativen Realismus ist natürlich H. P. Lovecraft, über ihn hat Graham Harman unlängst das Buch Weird Realism10 geschrieben, weil er Lovecraft zugutehält, anders als der Rest der hoffnungslos korrelationistischen Moderne erkannt zu haben, dass nicht die Sprache das Problem sei, sondern das Universum selbst. Es sei nämlich ‚weird‘. Das ist nach Harman der Grund, warum Lovecraft die Menschen nicht eine menschengemachte Zukunft erleben lässt wie andere Science-Fiction-Autoren und warum er sie nicht auf Feinde stoßen lässt, die ihnen erst durch zukünftige Expansionen erreichbar werden. Stattdessen lässt er sie auf der Erde, wie sie ist, unglaubliche Entdeckungen machen, die auf die Existenz oder frühere Existenz anderer Erdbewohner schließen lassen, auf die sogenannten alten Wesen, die blasphemisch hässlich sind und infernalisch stinken und riesig sind und so fort. Genau die Form von Biomasse, von der diese antilebendigkeitskonsumistische, posthumanistische Szene heute träumt. Durch die Konstruktion von Lovecraft als idealen ‚Realisten‘ gelingt es Harman, die verschiedenen kulturellen Phänomene, die ich oben als Faszinationspanorama zusammengestellt und über personale und soziale Beziehungen in Verbindung gebracht habe, durch eine Gemeinsamkeit vergleichbar zu machen: Lovecrafts Mittel, mit dem er zum glaubwürdigen Zeugen von etwas Unbezeugbarem wird, eben eines Abenteuers des entdeckenden Horrors auf und inmitten der bekannten Erde, ist seine stilistische Hilflosigkeit. Seine oft stereotypen, widersprüchlichen, unlogischen Tiraden, für jeden Lovecraft-Freund zentral für diesen Autor, besitzen eine Glaubwürdigkeit des Ausgedachten – gerade so, wie Black-Metal- und Drone-Bands oder ein Teil heutiger Sound-Art jede Musikfortsetzung und -stilisierung, ja jede Idee von Musik verweigern und sich auf bestimmte Effekte zurückziehen. Die Effekte bilden Beziehungen zwischen Objekten, die auf Subjektivität verzichten können und überhaupt
10 Graham Harman: Weird Realism. Lovecraft and Philosophy, London 2012.
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auf all das, was Voyeurismus und Humanploitation Spaß macht. Dass Lovecraft ein politisch gelinde gesagt problematischer Kopf war, ist da nicht so wichtig. Zum anderen: Das Argument von der undialektischen und absoluten Negation ist damit nicht vom Tisch. Es wird noch dadurch unterstrichen, dass die gewissermaßen nekrophile Negation all der Lebendigkeitsvermarktung aus Kunstbetrieb und Kulturindustrie in letzter Instanz vielleicht wieder nur den konservativen Status quo ante herstellt. Dem Erfolg performativer und partizipativer Formate und deren Normativierung und unguter Verkopplung mit Aktivierungs-, Belebungs- und Partizipationsimperativen aus Wirtschaft, Konsumkultur, Internetmarketing und neoliberaler Selbstvermarktung waren ja womöglich auch ein paar gute Gründe vorausgegangen, den Umgang mit künstlerischen Objekten in heiligen Hallen zu verändern. Die Reaktionen aus dem hier skizzierten finsteren Faszinationspanorama, der gewissermaßen emergente Geschmack des Undergrounds der letzten Jahre würde eventuell nicht nur die Lebendigkeitsimperative negieren, sondern auch die möglicherweise brauchbaren Ideen aus den Performancekulturen und so dann selbst bei einer problematischen Position landen. Er flieht nicht nur die kapitalistische Umarmung, Nutzung, Reformulierung, sondern jeden Einwand gegen die nekrophile Objektverehrung, die bildende Kunst auch schon einmal war. Als der Plan der dOCUMENTA (13), den Stein (erneut) zu übersiedeln, veröffentlicht wurde, regte sich Protest. 2010 hatte Daniel Birnbaum, damaliger Leiter des Portikus, in einem anlässlich der dortigen Ausstellung des Meteoriten geführten Gespräch11 mit Carolyn Christov-Bakargiev Meillassoux zitiert, und das Künstlerduo Faivovich and Goldberg betrachtete das Zusammenfügen der Hälften als einen Akt der Heilung des in der Umlaufbahn um die Erde „traumatisierten“ (Christov-Bakargiev) Himmelskörpers. Nun legte aber der in Deutschland lebende argentinische Künstler Guillermo Fiallo Montero im Namen der Nachfahren und Sympathisanten der früheren indigenen Bewohner der Gegend um den Campo del Cielo
11 Das Gespräch zwischen Birnbaum und Christov-Bakargiev erschien als Vorwort in dem Künstlerbuch The Campo del Cielo Meteorites, Bd. 1: El Taco, publiziert von dOCUMENTA (13) mit weiteren Texten von Hernán Pruden, Tim McCoy und Jutta Zipfel sowie einem Gespräch zwischen Simon Starling und Faivovich and Goldberg, dreisprachig, Ostfildern-Ruit 2012.
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Widerspruch ein, weil man den Stein nicht aus seinem „Kontext“ herauslösen dürfe, nämlich seiner „sozialen und kosmologischen Bedeutung“ für diese Bevölkerung, so die Hannoverschen Neusten Nachrichten.12 Der Erfolg dieses Einspruchs, der mit drastischen Argumenten arbeitete – die Präsentation komme dem Akt gleich, sich als antirassistisch zu positionieren und zugleich Völkerschauen auszurichten –, war, dass das Projekt abgeblasen wurde und nun nur noch symbolisch mit ein paar Fotografien auf der Ausstellung präsent war. Die Politik oder das Politische taucht anscheinend immer als Double jener Realität auf, die man mit neuen Methoden außerhalb des Politischen und des Historischen zu verorten versucht. Neben Santiago del Estero liegt Tucumán. Neben wüsten weiten Feldern siedeln die Ärmsten der Armen. Auch am Rande der kalifornischen Wüsten, auf der Strecke der Grand Tour der Land-Art, kommt man an den Trailer-Camps der Deklassierten vorbei. Das gilt auch für das Öl von Negarestani, sowohl in dessen Text, vor allem aber in Pasolinis Vorgängerroman. Und auch der Stein von Minus Delta t, obwohl in dem Fall durchaus auch erwünscht, aggregierte eine kulturelle Bedeutung nach der anderen. Dies gilt auch für andere Projekte, die das Jenseits des Historischen gesucht haben: als Earthworks, Lichtwerke und dergleichen. Dieser Umstand verhält sich eigentümlich komplementär zu einem anderen Dilemma, mit dem sich Kunst zur Zeit herumschlägt, nämlich zum Normativwerden des Politischen, jener Einladung zur Institutionskritik, die genau von den zu kritisierenden Institutionen ausgeht. Wer dem Imperativ der Criticality zu entkommen versucht, etwa in unerschließbare, präsubjektive Ultrarealität, wird offenbar gleich wieder von den politischen Bedingungen eingeholt – nun aber nicht als Ermunterung zur Aktion, sondern als deren Störung und Unterbrechung. Ist der Umweg über die Anzestralität am Ende sogar ein Weg, das Politische auf eine Weise zu erzwingen, die der politischen Kunst entgeht? Oder ist der Stein einfach das falsche Objekt? Das falsche, weil zu offensichtliche Stand-in für Objekthaftigkeit und Objektivität, für den Widerstand des Realen und das Verhältnis des Realen zur Realität? Metaphysische Verwechslung von besonders primärem Material mit primären Eigenschaften? Ist vielleicht die komplexe Konstellation aus altem Material
12 Mark-Christian von Busse: Das Meteoriten-Projekt der documenta kommt nicht zustande, in: Hannoversche Neueste Nachrichten, 31. Januar 2012.
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und dessen Bearbeitung in historischer Zeit, auch bekannt als Skulptur, nicht schon eine viel wirkungsvollere Exposition alter bis anzestraler Eigenschaft, nämlich wirkungsvoll vor der Kontrastfolie menschlich subjektiver Einflussnahme, die immer nur so weit reicht? Ist der Stein nicht eh längst zur Allegorie von Subjektivität geworden, und zwar im Stande des Kontrollverlusts – siehe Muddy Waters, Bob Dylan, The Temptations? As in: Papa was a … – now you don’t talk so loud. Nicht der Stein ist das große, Zeiten überdauernde Stabile in dieser Geschichte. Und er ist als rollender eher längst ein Bild beschädigter und ausgebeuteter Lebendigkeit als deren ästhetische Kritik. Der wahre Stein in der Geschichte vom Scheitern des Meteoritentransportes ist das Wort ‚Kontext‘, mit dem der Anwalt der indigenen Bevölkerung sich über den Transport beschwerte. Der andere ist das Wort ‚Readymade‘, das Daniel Birnbaum benutzte, kurz bevor er, wahrscheinlich als Erster in deutscher Sprache, einen Zusammenhang zwischen Quentin Meillassoux’ Abhandlung Nach der Endlichkeit13 und einem zeitgenössischen Kunstwerk herstellte.14 Dem Prinzip des Readymade und seinem ebenso alten Freund, dem Kontextwechsel, ist es nämlich scheißegal, ob das Objekt gerade eben erst ready oder älter als die Erde ist. Genau gegen diese Indifferenz und kontextvernarrte Beliebigkeit wurden natürlich auch die Performance und die Ortsbezogenheit, die ganze Lebendigkeitskunst erfunden. Ein Fall von viel Pech und falscher Dialektik, wenn uns dagegen nichts anderes einfällt, als die Macht des Kontexts auszuspielen und Readymades von viel Gewicht über beeindruckende Distanzen zu schleppen. Das Readymade ist ja ganz gezielt die Negation von Arbeit, ja von allen Prozessen, die zur Entstehung eines Objekts notwendig waren. Das Gegenteil von Aufzeichnung, Symptom, Dokument, stattdessen das Erzwingen oder auch Zurschaustellen des Resultativen. Kunst, die in letzter Zeit im Namen des Kontexts Objekte immer öfter nach dem ehrwürdigen Vorbild von Robert Morris’ Box With The Sound of its Own Making als Zeugen oder Symptome der für ihre Herstellung notwendigen Prozesse ausstellt, versucht das Readymade in die ältere Modalität von Kunst zu reintegrieren,
13 Quentin Meillassoux: Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, Zürich/Berlin 2008. 14 Birnbaum und Christov-Bakargiev: „Vorwort“, in: The Campo del Cielo Meteorites.
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der zufolge Kunstobjekte Hinweise auf Herstellerinnen, andere Welten etc. enthalten. Auf diese Weise aber berühren sich das Archifossil und das Readymade. Das Archifossil soll ja das bisher und für Korrelationisten immer schon Unlesbare sein, das nun lesbar wird, genauso wie die kontextinteressierte Kunst sich für die Lesbarkeit, ja das Auslesen von Readymades interessiert hat. Wer aber aus dem Stein nur die Geologie und aus dem Meteoriten nur die Astrophysik ausliest, kriegt Ärger mit den semantischen Aufladungen, die als Wissensprodukt notwendig wurden, um überhaupt die Anzestralität des Steins zu bemerken. Dafür musste eine Quechua sprechende Post-InkaZivilisation her, die hier Götter erkannte. Lovecraft hätte ‚alte Wesen‘ gesagt. Und darum habe ich vorhin schon den Film Leviathan erwähnt. Er schildert mit den Augen zahlloser kleiner Kameras die Hochseefischerei vor Maine. Diese Kameras haben keine menschlichen Blicke, aber sie erfassen durchaus auch das, was Menschen tun. Ja, es gibt neben atemberaubenden Blicken auf Vogelschwärme Blicke auf dieselben Schwärme, aber aus der Perspektive eines Vogels unter Vögeln, und Blicke auf Vogelschwärme eines Schwarmmitgliedes, das aber auf dem Kopf fliegt, den Blick sterbender Meeresbewohner auf andere sterbende Meeresbewohner und schließlich auf verschiedene Orte auf dem Schiff, auch den lang anhaltenden Blick auf einen erschöpften Mann, dem wir mit viel Geduld dabei zusehen, wie er seine offensichtlich restlos verbrauchte Arbeitskraft unter Deck und in der Nähe eines laufenden Fernsehapparats reproduziert. Wie in vielen anderen Kunstwerken, die sich um posthumane Perspektiven bemühen, schwillt auch hier ein gewaltiger Sound-Berg an. Es scheint, dass nichts Posthumanes die Humanen so anzieht und lockt wie das große, gewaltige Schwellen, Zischen und Grollen von Sound. Aber es wird in diesem Film auch deutlich, dass die Objekte auf Augenhöhe keine ‚Steine‘, keine semantikfähigen Bewohner gothic-romantischer, erzplanetarischer Gegenden sind, sondern winzige Fischlein, Körperteile, Mechanismen, Verdunkelungen ohne Ursprung, Massen unbenannter Vögel. Lärm.
Zum Beispiel RLF Kritik, Kunst und Wirklichkeit heute F RIEDRICH
VON
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In diesem Text soll RLF als ein gesellschaftskritisch motiviertes, transmediales Projekt vorgestellt werden, das die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Kunst und Kritik sowie Affirmation und Subversion auflöst. RLF – Akronym für das ‚richtige Leben im Falschen‘ und für ‚Real Life Fiction‘ – ist eine Intervention in die Welt der Kunst, des Marketing und der Medien und versteht sich dabei als Form von Kritik, die – im besten Falle – einen Beitrag zu einer möglichen Transformation leistet. Die Autoren nehmen bei ihrer Betrachtung keine objektive Außenperspektive ein, da sie an der Entstehung von RLF beteiligt waren. Bevor im Folgenden RLF in seinen verschiedenen Aspekten dargestellt werden soll, lohnt es sich, den Möglichkeiten und Begrenzungen dessen nachzugehen, was wir heute ‚Kritik‘ nennen. Denn der zu hinterfragende oder zumindest zu explizierende Ausgangspunkt von RLF war und ist, dass heute gesellschaftliche Kritik nicht mehr von einem objektiven Standpunkt aus zu äußern ist. Ein objektiver Standpunkt müsste von einem Ort her argumentieren, der außerhalb des zu kritisierenden Systems liegt. Doch der aktuelle Kapitalismus ist total, er umfasst alle Lebensbereiche. Es gibt innerhalb der westlichen Welt kein Außerhalb, von dem aus man argumentieren könnte. Nicht nur sind wir Teil des Kapitalismus, sondern der Kapitalismus ist Teil von uns. Selbst das Feld der Liebe ist, wie
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Eva Illouz aufzeigt, ökonomisiert, vom Kapitalismus durchdrungen.1 Eine Kritik, bei der der oder die Kritisierende gleichzeitig auch einen Teil seines oder ihres Selbst kritisieren muss, ist nicht mehr objektiv. In Reaktion darauf ist RLF ein Versuch, Kritik nicht vom vermeintlichen Außen, nicht aus einer wie auch immer behaupteten Unabhängigkeit heraus zu formulieren, sondern im Gegenteil aus einem Innen, aus einer tiefen Verflochtenheit, einer Be- und Verfangenheit heraus. RLF interveniert in die zu kritisierende Realität, passt sich ihr affirmativ an, um dann in möglichen Wendungen Risse und Einblicke zu erzeugen. RLF interveniert in die Wirklichkeit, agiert affirmativ, greift genau jene Mechanismen auf, die es kritisiert. Es macht sich zum Teil des Systems, das es kritisiert, und wird dadurch angreifbar und missverständlich. Dabei nutzt RLF die Spannungen, die zwischen Realität und Fiktion, Simulation und Virtualität entstehen, nutzt Grauzonen, die Irritation erzeugen. Diese Auflösung klarer Verhältnisse findet ihren Fortsatz in der Verschiebung von Realität und Fiktion. Kein Verhältnis ist eindeutig, keine Rolle klar definiert, nicht nur der Modus der Kritik verschwimmt, sondern auch die Person des Kritikers oder der Kritikerin. Der Modus der Reflexion wird ergänzt um den Modus der Performance. Damit verabschiedet sich RLF auch von einer Form von Kritik, die eineindeutig ist, verabschiedet sich von einer Form von Präzision und setzt an ihre Stelle die Unschärfe dessen, was man als das Erfahren eines Kunstwerkes bezeichnen könnte. Statt Kritik zu explizieren, versetzt RLF die Rezipienten in eine von ihnen selbst zu kritisierende Situation. Man mag dies als Verlust verstehen, als Schwäche. Perspektivisch aber bleibt zu bedenken, ob in Zeiten der algorithmischen Erfassung und Vorausberechnung aller Handlungen, Verhaltensweisen und Wünsche die Irritation, die Unschärfe, das Sich-der-Logikdes-Eineindeutigen-Verweigern nicht die einzige Möglichkeit ist, sich den heutigen Formen von Erfassung, Überwachung und Kontrolle zu entziehen. Denn da, wo Realität und Fiktion sich durchdringen, lassen sich keine Handlungen interpolieren.
1
Vgl. Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2007; sowie dies.: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt am Main/New York 2003.
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1. A KT : E RZÄHLUNG Ausgangspunkt von RLF ist eine Geschichte, die im gleichnamigen, 2013 bei Suhrkamp erschienenen Roman auf verschiedenen Ebenen erzählt wird. Dessen Autor, Friedrich von Borries, tritt in seinem Roman auch als Protagonist auf. Er fungiert als Berichterstatter, der über die Vorkommnisse rund um RLF durch die Daten informiert wird, die auf dem Handy und in der iCloud des Protagonisten Jan gespeichert sind. Plot Jan gerät per Zufall in die Londoner Riots von 2011. Angestachelt von einer schönen Frau und seiner eigenen Unzufriedenheit gerät er in einen Gewaltrausch. Am nächsten Tag beschließt er, aus dieser Erfahrung ein völlig neues Produkt zu entwickeln: einen Lifestyle-Club, der das Bedürfnis nach Protest und Widerstand als Produkt vermarktet. Als Partner gewinnt er die Aktivistin Slavia und den Künstler Mikael Mikael. Gemeinsam entwickeln sie das Geschäftskonzept weiter. RLF wird dabei genauso zum Kunstwerk wie die Produkte, die RLF herstellt. Deren Verkauf, so die Idee, soll zur Finanzierung einer Mikro-Nation beitragen. Am Ende verkauft Jan das Unternehmen, das gleichzeitig Kunstwerk ist, an einen französischen Unternehmer und Kunstsammler. Nach der Unterzeichnung stirbt Jan; es bleibt offen, ob es sich um Selbstmord oder um Mord handelt. Der Roman versucht nicht, sich in Sprachlichkeit oder psychologischer Durchdringung der Personen der ‚Hochliteratur‘ anzunähern, sondern arbeitet mit plakativen Klischees und einfachen Spannungsbögen. Sachinformation Der Roman ist von wikipediaartigen Sacheinträgen durchsetzt, sei es zu den London Riots, sei es zu künstlerischen Projekten, die man als Quelle für die von Jan, Mikael Mikael und Slavia entwickelten Ideen verstehen kann. Diese Sachebene folgt affirmativ einer Rezeptionsebene, wie sie durch Google und Co. vorgegeben und eingeübt ist. Gleichzeitig durchbricht sie den Spannungsbogen, reißt den Leser aus dem Erzählfluss und konterkariert dabei genau das Format, das sie affirmativ nachgeahmt hat.
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Interviews Drittes Element des ‚Romans‘ sind Interviews, die Jan, so der Plot, als Benchmarking mit diversen Intellektuellen und Künstlern geführt hat. Es treten auf: der Fotograf Oliviero Toscani, der Adbuster Kalle Lasn, der Menschenrechtler Stéphane Hessel, die Philosophin Judith Butler, der Künstler Joep van Lieshout, der Wissenschaftler Harald Welzer und viele mehr. Diese ‚Realitätsebene‘ durchbricht den fiktionalen Raum, sofern der Rezipient nicht die umgekehrte Rezeptionsrichtung einschlägt und die Interviews für fiktiv hält. Twitter Parallel zum Erscheinen des Romans begann Slavia zu twittern. Sie berichtete über die Ereignisse rund um RLF und kommentierte das politische Tagesgeschehen. So wurde auf Twitter die Geschichte von RLF über den Roman hinaus weitererzählt.
2. A KT : I NTERVENTION Wie bereits angedeutet, ist RLF kein fiktives Projekt, sondern ein reales. Mikael Mikael und Slavia tauchen in der Realität (was auch immer das ist) auf. Und nach dem Tod von Jan tritt Friedrich von Borries als Geschäftsführer hinzu. Sie nehmen gemeinsam eine Reihe von Interventionen in unterschiedlichen ‚Realitäten‘ vor – in der des Protests, der der Warenwelt oder der der Medien. Sichtbarkeit Um in der Realität sichtbar zu sein, muss Sichtbarkeit erzeugt werden. Was wie eine Tautologie klingt, ist Ergebnis eines komplexen Design- und Kommunikationsprozesses, der in sich den Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie abbildet. Strategien der Sichtbarkeit beginnen beim visuellen Erscheinungsbild, der Corporate Identity von RLF, und setzen sich fort in Aktionen, Ausstellungen und öffentlichen Auftritten.
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Slogan Auch Sprache erzeugt Sichtbarkeit. Drei Slogans prägen die Kommunikation von RLF. Das Doppelpaar „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ und „Das richtige Leben im Falschen“, das Motto „Show You Are Not Afraid“, das in der Arbeit von Mikael Mikael und im Vorgängerroman 1WTC eine zentrale Rolle spielt, sowie die Aufforderung „Werde Shareholder der Revolution“, welche die Widersprüchlichkeit von Konsum und Protest in eine sprachliche Überspitzung führt. Corporate Identity Das Inszenieren von irritierenden Kontrasten und schnellen Effekten prägt auch das visuelle Erscheinungsbild von RLF, vom Cover bis zu den Produkten. Die CI orientiert sich zum einen an Op-Art-Effekten, wie sie in Kunst und Grafikdesign seit den 1960er Jahren entwickelt und erprobt wurden, zum anderen an der Camouflage-Technik des ‚Dazzle‘, die im ersten Weltkrieg eingesetzt wurde. Demonstration Der erste öffentliche Auftritt von RLF war eine Intervention in die Welt des Protests, nämlich in die ‚Revolutionäre 1.-Mai-Demo‘ in Berlin. Mit zwanzig Mitstreitern bildeten wir einen eigenen Block und diskutierten mit den anderen Demonstranten über das richtige Leben im falschen. Produkte Eine Intervention in die Logik der Warenwelt und ihres Marketing war die Realisierung der im Roman beschriebenen Produkte. Dazu arbeiteten wir mit realen Unternehmen zusammen und sprachen mit den zuständigen Produktions- und Marketingabteilungen. Als Partner für die Produktentwicklung gewannen wir internationale Unternehmen (unter anderen Adidas und KPM) und Designer (unter anderen Konstantin Gricic und Kostas Murkudis). Die immer ausgesprochene, aber letztlich nicht zu beantwortende Frage war dabei, wer wen instrumentalisiert: RLF die Kooperationspartner oder die Kooperationspartner RLF.
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Abbildung 1: RLF auf der revolutionären 1.-Mai-Demonstration, 2013. © RLF, Foto: RLF
Grundlage für die Kooperation war dabei stets, dass die Produkte Zwitter aus Gebrauchsgegenstand und Kunstwerk sein sollen. Kunst diente den beteiligten Unternehmen als Legitimation, ein Projekt zu unterstützen, das die Existenzbedingungen der Kooperationspartner – Kapitalismus, symbolische Mehrwertproduktion, Marketing – kritisiert. Die Definition der konkreten Produktpalette – und damit verbunden die Auswahl der Kooperationspartner – erfolgte nicht willkürlich, sondern aus der Logik der Narration. Da die Kernaussage von RLF sich auf ein Zitat von Adorno („Es gibt kein richtiges Leben im falschen“2) bezieht, das aus einem Text über das bürgerliche Wohnen stammt, widmen sich zwei Produktreihen (nämlich „Esszimmer“ und „Wohnzimmer“) dem Wohnen. Zusätzlich stellten wir eine Grundausrüstung (Turnschuh, Kampfanzug, Schmuckaccessoires) zur Verfügung. Die Preise lagen zwischen 120 Euro (für ein Armband) und 18 000 Euro (für ein Regal). Jedem Produkt ist eine in sich widersprüchliche Auf- und Entwertungsstrategie eingeschrieben. Welche Kooperationspartner dabei real und welche nur behauptet sind, bleibt am Ende eine Entscheidung der Rezipienten (oder der Juristen).
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Theodor W. Adorno: Minima Moralia, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt am Main 1997, S. 43.
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Esstisch und Stuhl Ausgangspunkt sind zwei Entwürfe von Enzo Mari aus der Serie „Autoprogettazione“ von 1974. Ursprünglich zum Selbstbau gedacht, wird zumindest der Stuhl inzwischen von der finnischen Firma Artek hergestellt. RLF bietet in Zusammenarbeit mit Artek eine Sonderedition an, bei der die Schäfte der mitgelieferten Nägel vergoldet sind. Im Moment des Zusammenbauens verschwindet der Mehrwert in der Unsichtbarkeit. Teeservice Das RLF-Teeservice wurde in Zusammenarbeit mit KPM entwickelt. Es besteht aus der Teekanne „Berlin“, die von Enzo Mari entworfen wurde, sowie aus der Teetasse, Untertasse und dem Dessertteller „Urbino“ von Trude Petri. Moderne trifft auf Postmoderne und bildet eine harmonische Einheit. Das Service ist mit dem RLF-CI bedruckt und bemalt, der klassische Goldrand befindet sich an der Unterseite der Objekte, sodass er sich mit der Zeit abnutzt.
Abbildung 2: RLF-Teeservice „Strudel“, Design: Trude Petri, Enzo Mari, Redesign: Mikael Mikael, 2013, Hersteller: KPM Berlin. © RLF, Foto: Dan Beleiu für RLF
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Tapete Die RLF-Tapete wurde zusammen mit der Firma Rasch entwickelt. Sie perpetuiert das RLF-Strudelmotiv ins Unendliche. Die Rückseite der Tapete ist mit Fragmenten der Botschaft „Show You Are Not Afraid“ bedruckt – natürlich in Gold. Sofa Ausgangspunkt für das RLF-Sofa war das von Established & Sons hergestellte und von Konstantin Gricic entworfene Sofa „Cape“. Basis von „Cape“ ist ein dem Ikea-Produkt „Klippan“ sehr ähnliches Sofa, für das Gricic aber zusätzlich eine Husse entworfen hat. Da die Husse in mehreren Farben erhältlich ist, lässt sich das Sofa unterschiedlichen Stimmungen anpassen. Aus Sicht von RLF ist die wechselbare Husse nicht nur ein Stimmungskatalysator, sondern ein Instrument der Camouflage. Deshalb fügte RLF auf dem Unterbau des Sofas die durch die Husse zu versteckende Botschaft „Show You Are Not Afraid“ hinzu. Für Insider wurde die Husse dann noch mit einer Goldborte versehen. Couchtisch Der meistverkaufte Couchtisch der Welt ist „Lack“ von Ikea. Ebenfalls mit Muster und Botschaft versehen, wurde „Lack“ in unserer Version anschließend verblattgoldet. Diese Goldschicht wurde aber nicht versiegelt, sodass sich mit dem Anfassen des Objektes das Gold – wie bei einem Rubbellos – vom Tisch löst und an den Fingerkuppen festsetzt. Regal Das Regal „FNP“, der Klassiker des Neuen deutsches Designs, 1989 von Axel Kufus herausgebracht, wurde fast unverändert übernommen. Nur das Standardelement, das FNP im Innersten zusammenhält – die Niete –, wird in dieser 18 000 Euro teuren Sonderedition in Massivgold ausgeführt.
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Abbildung 3: RLF-Overall, Design: Kostas Murkudis, 2013. © RLF, Foto: Dan Beleiu für RLF
Teppich Kein bürgerliches Wohnzimmer ohne Teppich. Der RLF-Teppich ist ein Wendeteppich. Handgeknüpft im Iran, ist auf der einen Seite der bekannte Slogan im RLF-CI zu lesen. Da bei der gewählten traditionellen Knüpftechnik die Wollfäden auf einer Seite ähnlich wie bei einem Flokati offen stehen bleiben, ist auf der Rückseite (zumindest wenn der Teppich genutzt und die einzelnen Fäden ordentlich ‚verwuschelt‘ sind) die Botschaft nicht mehr lesbar, also versteckt. Overall Der Kampfanzug für die Revolution stammt von Kostas Murkudis und folgt Schnitten historischer Pilotenanzüge der amerikanischen Armee. Er ist da-
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bei als Wendeanzug konzipiert: Je nach Bedarf kann die in Gold auf den schwarzen Stoff gedruckte Botschaft gezeigt oder eben verborgen werden. Armband Wer mit Konsum die Revolution finanzieren will, darf nicht auf Schmuck verzichten. Das von Achim Haigis als Halskette entworfene, einseitig mit Gold beschichtete Lederband wird gekürzt und zum Armband umfunktioniert. Mit den Kernsätzen der Bewegung bedruckt, wird es zum subtilen Erkennungszeichen. Turnschuh Höhepunkt der Bekleidungskollektion ist die RLF-Sonderedition des Adidas-Klassikers „Allegra“. Der mit verschiedenen schwarzen Ledersorten belegte Schuh ist mit einigen Goldapplikationen – zum Beispiel einer goldenen, die oberste Öse der Schnürsenkel verschließenden Niete – versehen. Das eigentliche Geheimnis ist versteckt. Denn zwischen der durchsichtigen Sohle und dem eigentlichen Schuh ist das RLF-Muster mit den Slogans „Werde Shareholder der Revolution“ und „Show You Are Not Afraid“ eingelegt. Doch da die Sohle schwarz lackiert ist, wird die Botschaft erst sichtbar, wenn man diese Schutzschicht abgelaufen hat.
Abbildung 4: RLF-Schuh, Design: adidas, Redesign: Mikael Mikael, 2013. © RLF, Foto: Dan Beleiu für RLF
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Ausstellung Als Intervention in die Kunstwelt wurden die Produkte von RLF in einer Ausstellung in Zusammenarbeit mit der renommierten Galerie Johann König in Berlin präsentiert. Ort für die Präsentation war eine ehemalige Kirche, in der wir unser goldenes Kalb auf einem Altar aus Europaletten präsentierten. Religion trifft Konsum, Kunst auf Verkündung. Point of Sale Die Intervention in die Welt der Waren und des Marketing endete nicht mit der Entwicklung der Produkte, sondern wurde bis an die Points of Sales fortgeführt. Dies beinhaltete eine Präsentation des Schuhs im angesagten Berliner Sneaker-Laden „Solebox“ und im Concept Store „Andreas Murkudis“. Höhepunkt der Eröffnungsveranstaltung der RLF-Sonderverkaufsfläche war die Stürmung der Veranstaltung durch schwarz maskierte Aktivisten der Bewegung, die die Kommerzialisierung von RLF bekämpfen.
3. A KT : A KTIVIERUNG Doch RLF wollte seine Rezipienten nicht zu bloßen Konsumenten reduzieren, sondern als aktive ‚Shareholder der Revolution‘ verstehen. Das Unternehmen ist gleichzeitig eine Grassroots-Bewegung, in deren Entwicklung die ‚Shareholder‘ von RLF einbezogen sind. RLF sollte ihnen die Möglichkeiten eigener – politischer – Aktivität aufzeigen. Ziel war deshalb, für die Shareholder einen Rahmen für künstlerische Aktivitäten zu schaffen. Gemeinsam mit dem UFA-Lab (und finanziert von Arte Creative, der InternetKunstplattform des Fernsehsenders Arte) entwickelten wir deshalb eine breit angelegte Social-Media-Kampagne. Sie übernahm mehrere Funktionen: Information, Dialog und Aktivierung. Sie wurde in Anlehnung an die bereits in diversen Protestbewegungen erprobten Wirkmechanismen von sogenannten ‚sozialen‘ Medien wie Facebook, Twitter und einer Website konzipiert.
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Webseite Kernstück der Onlinepräsenz war die Website www.rlf-propaganda.com. Hier wurden dem Interessierten neben Informationen über die Gründer von RLF sowie über die Produkte und Aktionen rund um das ‚Unternehmen‘ im „Resistance-Ticker“ auch Informationen über aktuelle Protestbewegungen und künstlerische Projekte zum Thema Widerstand zur Verfügung gestellt. Hier fanden sich die Interviews mit Judith Butler, Harald Welzer, Oliveira Toscani, Kalle Lasn, Femen und anderen wieder, die bereits im Roman abgedruckt waren – nun aber als Video- oder Audiodatei, also nicht mehr als mögliche Fiktion, sondern als faktisches Material. Auch die Geschäftsführer von RLF – also Slavia und Friedrich von Borries – meldeten sich zu aktuellen Ereignissen zu Wort. Neben derartigen Hintergrundinformationen aus dem Erzählkosmos von RLF wurden Termine zu aktuellen politischen Aktionen, Quellen und Anleitungen für Protestaktionen bereitgestellt. Neben dieser informationellen Ebene war die Webseite ein Instrument des Dialoges sowohl für den Austausch zwischen den Shareholdern und den Gründern von RLF als auch zwischen den Shareholdern selbst. Hier stellten in Blogbeiträgen etc. die Rezipienten von RLF ihre eigene Sicht auf revolutionäre Bewegungen und das ‚richtige Leben im Falschen‘ vor – oder schrieben die Geschichte von RLF nach eigenem Gusto weiter. Eigentliches Ziel der Social-Media-Kampagne war aber nicht Information (oder, böswillig ausgedrückt, Entertainment), sondern Aktivierung: Es sollte ein Netzwerk von RLF-Shareholdern entstehen, die ihre eigenen Aktionen, Projekte und Utopien formulieren und, so weit möglich, realisieren. Dazu wurde ein moderiertes Forum eingerichtet, damit die Shareholder sich gegenseitig über relevante Themen informieren, in Kontakt treten und zu einer Community formen können, die dann über den perspektivischen Fortgang von RLF mitbestimmen kann. Facebook Als erweiterndes Social-Media-Element dient eine redaktionell betreute Facebook-Likepage als Aktivierungstool für eine breit angelegte Zielgruppe. Primär dazu angelegt, die User emotional anzusprechen und insbesondere Facebook-User ohne explizit politisch-aktivistischen Hintergrund anzusprechen, bot die RLF-Facebookseite einen Überblick über tages-
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aktuelle Themen als Grundlage für an Ort und Stelle moderierte Diskussionen über diese Themen. Zur Aktivierung und revolutionären CommunityBildung wurden dort fortlaufend Informationen und Grafiken zu Systemund Konsumkritik publiziert. Inhaltlich verwandte Seiten wurden geteilt, RLF mischte sich in Diskussionen in etablierten Gruppen ein und machte sich so selbst als neue Protestbewegung bekannt. Öffentliche Diskursplattformen wurden so zu Instrumenten des viralen ‚Marketings‘ von RLF. Von allen Online- und Social-Media-Kanälen hatte die RLF-Facebookseite die meisten Follower. Dort zeichnet sich besonders deutlich ab, dass eine Vergabe von ‚Likes‘ an bestimmte Beiträge und Seiteninhalte als erster Zugang zu den Projektschwerpunkten funktioniert und die Einstiegsschwelle vom ‚Slaktivisten‘ zum Aktivisten relativ niedrig ist. Game Wichtigstes Element der Social-Media-Aktivitäten war das Game „Start-aRevolution“. Vom „Revolutions-Rookie“ konnten man über mehrere Stufen zum „True Shareholder of the Revolution“ aufsteigen. „Start-a-Revolution“ war in mehrere Phasen aufgeteilt, um ein bestmögliches Heranführen der Shareholder an den Themenkomplex zu gewährleisten und ihr Interesse aufrechtzuerhalten. Ausgehend von einer eher passiven ‚Lean-back‘-Haltung der Spieler zu Beginn des Games sollte eine ‚Lean-forward‘-Situation zum Ende hin erreicht werden. Das Genre ‚Spiel‘ schien uns dabei besonders geeignet, Formen des Engagements und Protests in unserer Gesellschaft zu thematisieren, weil ‚Spiel‘ in besonderer Weise die Paradoxien des Kapitalismus abbildet. Zum einen gilt ‚Spielen‘ als Inbegriff der freien, selbstbestimmten, zweckfreien Tätigkeit. Wenn Kinder ‚spielen‘, sind sie frei. Zum anderen ist ‚Spiel‘ immer reglementiert, die Einhaltung der Regeln wird kontrolliert, Verstoß bestraft. ‚Spiel‘ ist kompetitiv und produziert Gewinner und Verlierer. Diese Ambivalenz trieben wir in der Gamemechanik von „Start-aRevolution“ auf die Spitze. Über einen Zeitraum von elf Wochen wurde in einer Taktung von etwa drei bis vier Tagen jeweils eine neue Aufgabe – oder ganz korrekt: eine ‚Challenge‘ – geboten, die mit unterschiedlicher Intensität an Interaktion und Aufwand zu einem beliebigen Zeitpunkt gelöst beziehungsweise ‚abgearbeitet‘ werden musste. Für jede absolvierte ‚Chal-
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lenge‘ gab eine vorab definierte Anzahl Punkte. Weitere Punkte erhielt man von seinen Mitspielern. Diese soziale Interaktion, also das Diskutieren und Bewerten der Aktionen der anderen Mitspieler, trug aber auch dem Bewertenden Punkte ein: Im kognitiven Kapitalismus wird auch soziale Interaktion belohnt. Durch diese auch das soziale Engagement bewertende Game-Mechanik entstand eine lebendige Community aus Shareholdern. Die Absurdität des Spieles drückte sich auch in dem zu gewinnenden Preis aus. Der Gewinner, also der „True Shareholder of the Revolution“ erhielt ein Paar der von Adidas hergestellten RLF-Sneaker: die ersten Turnschuhe, die man nicht kaufen, sondern nur mit politisch-künstlerischem Protest erkämpfen kann. Spielphase 1: Warm-up Den Shareholdern wurden zunächst Aufgaben gestellt, die sich in wenigen Minuten vom Computer oder Smartphone aus erledigen lassen und deshalb mit sehr niedrigem zeitlichen und organisatorischen Aufwand verbunden sind: einen Diskussionsbeitrag schreiben, Bilder zu einem politischen Thema im Internet suchen etc. Diese Spielphase wurde von den Usern auf der Website sehr positiv angenommen. Die durch die Redaktion moderierten Diskussionen und Beiträge erstreckten sich von aktuellen politischen Tagesereignissen wie der zu diesem Zeitpunkt stattfindenden Koalitionsbildung der neu gewählten Bundesregierung bis zu individuellen Perspektiven auf das ‚richtige Leben im Falschen‘. Spielphase 2: Information Die nächste Spielphase begann mit der Frage nach den persönlichen Informationsquellen, die jeder Spieler mit seinen Konkurrenten teilen sollte. Es folgten kleine Missionen, in denen die Spieler die eigenen vier Wände verlassen mussten. Um das eigene Konsumverhalten zu reflektieren, sollte jeder Spieler drei private Besitztümer vor der eigenen Haustür verschenken. In einer anderen Mission sollten Geldscheine als Motor des Kapitalismus in der Tradition des Hackings ‚verschönert‘ werden. Punkte gab es für ein Beweisfoto der Aktion, das auf der RLF-Website hochgeladen werden konnte. Parallel sollten die Spieler sich über Ideen und Visionen von Systemalternativen austauschen und ihre persönlichen Vorbilder des Widerstandes reflektieren und angeben. Am Ende dieser Spielphase wurde zur Entwicklung einer eigenen Spielaufgabe aufgefordert.
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Spielphase 3: Vernetzung Die folgenden Challenges gingen einen Schritt weiter und verlangten vom Spieler mehr außerhäusliche ‚Off-Line‘-Aktivität, die wieder qua Fotopost ‚bewiesen‘ werden musste. Hier forderte das Game zur Teilnahme an einer politischen Veranstaltung auf, etwa an einer Diskussion, Demonstration oder Intervention. Vernetzung als essenzielles Werkzeug revolutionärer Bewegungen konnte über drei verschiedene Aufgaben erprobt und eingeübt werden. Die Spieler sollten Links und Hinweise zu kommenden Demonstrationen in der eigenen Umgebung posten, dann mit einer kleinen Urban-GardeningAktion den sie umgebenden Raum erkunden und einnehmen und abschließend in der Aufgabe „Show you are not afraid“ die eigene Handlungsfähigkeit und den eigenen Mut zur Veränderung hinterfragen. Spielphase 4: Propaganda Die vierte Phase forderte von den Spielern ein sehr deutliches Bewegungsmoment aus der Lean-back-Haltung heraus in die Lean-forward-Haltung. Mit dem bewusst provozierenden Titel „Propaganda“ wurden die User aufgefordert, ihre politischen Botschaften und Anliegen mit abwaschbarer Kreide an für sie relevante Stellen in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen, an einer politischen Veranstaltung teilzunehmen und darüber zu berichten. Als letzte Stufe sollten die Spieler das eigene Konsumverhalten und ihre Position im kapitalistischen System reflektieren, indem sie sich über die ‚wahren Preise‘ eines individuell wählbaren Produktes informierten und im Anschluss das Preisschild im Supermarkt mit einem Post-it korrigierten. Spielphase 5: Aktion „Kein Widerstand ohne Interaktionen mit anderen“ war das Credo der finalen Spielstufe. Zunächst sollten über die Aufgabe „Free-Hugs“ Umarmungen verschenkt werden – um andere für die Anliegen von RLF auf einer persönlich-emotionalen Ebene positiv einzunehmen. Darauf folgte die finale Aufgabe: Jeder Spieler sollte ein Stück öffentlichen Raum kreativ besetzen. Das Game wurde während aller Phasen von der RLF-Redaktion begleitet. So konnten nicht nur aufkommende Fragen beantwortet werden, sondern es konnte auch über auf der Website etwa zweimal wöchentlich veröffentlichte Texte auf die aktuellen Spieltendenzen eingegangen werden.
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Ein fester Spielerstamm in Frankreich und im deutschsprachigen Raum von etwa vierzig bis sechzig Spielern diskutierte auf der Website und auf Facebook, brachte sich aber auch via Twitter mit ein. Die Redaktion hatte etliche persönliche Nachfragen zu beantworten, da die Spieler während des Spielverlaufes bemerkten, dass die angebotenen Challenges viele Bereiche ihres Lebens tangierten. Das eigentliche Spielfinale fand nach der Preisverleihung statt. Die drei Spieler mit der höchsten Punktzahl gewannen je ein paar RLF-Sneaker. Den per Post versandten Schuhen war eine Nachricht von Slavia beigefügt: „Du weißt was du zu tun hast!“. Wider den Erwartungen der Redaktion kommentierte der Spielbeste, er heißt „Claus“, wenige Tage später nach Versand auf der Website, dass er nun nicht mehr sicher sei, was das zu bedeuten habe, da er sich „in das Spiel richtig reingehängt“ habe. Eine Woche später lud er ein Video auf der Videosharing-Plattform YouTube hoch, das zeigte, wie sein Gewinn, die Turnschuhe, verbrannte.
4. A KT : M EDIALE V ERBREITUNG Als gesellschaftskritisches Projekt versteht sich RLF auch als medienkritisch. Die Reflexion des Feedbacks in den Medien ist daher zentral. Aufgrund der Behauptung (oder auch „Vortäuschung“) künstlerischer Handlungen und der daraus resultierenden Inanspruchnahme (und Zuweisung) kultureller Relevanz wurde viel über RLF berichtet. Kulturnachrichten im Fernsehen (ZDF, ARD, ORF, 3Sat, Arte) und seriöse Feuilletons (Spiegel, Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Süddeutsche Zeitung, Die WELT, Der Freitag, Der Tagesspiegel) berichteten genauso wie beispielsweise WirtschaftsWoche, Page, Monopol und Art – Das Kunstmagazin. Der Spiegel übernahm dabei sogar das CI von RLF. Verschiedene Webseiten (unter anderen Spiegel Online) stellten die RLF-Interviews als redaktionellen Content online. So wurde RLF einem breiten Publikum bekannt. Parallel wurde RLF von einem Kamerateam begleitet. Diese Fernsehdokumentation wurde gemeinsam mit der UFA entwickelt und von der UFA im Auftrag von Arte/ZDF produziert. Ziel dieser Dokumentation war, RLF kritisch-reflexiv in andere Protestbewegungen wie Occupy und Co. einzuordnen. So konnten wir nicht nur Produkte, Botschaften und Akteure
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von RLF an eine breite Öffentlichkeit kommunizieren, sondern auch als kulturell relevant markieren. Auch bei der Dokumentation wurden die Grenzen von Realität und Fiktion verwischt und unterlaufen. Welche Handlungen sind real? Welche gescriptet? Welche Akteure echt und welche Schauspieler? Inhaltlich erzählt der Film vom wachsenden Konflikt zwischen Friedrich und Slavia, der schließlich darin mündet, dass Slavia einen frisch eingetroffenen Container mit 10 000 neuen RLF-Turnschuhen anzündet und damit die ökonomische Grundlage von RLF zerstört. Dem Vorbild von Slavia folgen auch die Shareholder von RLF in der Realität. Wie bereits erwähnt, verbrennt Claus, der Gewinner des Start-aRevolution-Games und damit Besitzer der RLF-Sneaker, seine Turnschuhe und stellt das zugehörige Video bei YouTube online. Der Film endet mit einer – vermeintlichen – Auflösung. In den Abspann ist eine Sequenz aus den Casting-Videos montiert. Slavia ist keine Aktivistin, sondern eine Schauspielerin. Aber was ist mit Friedrich von Borries? Ist er eine real existierende Person?
5. A KT : O FFENES E NDE Mit der Ausstrahlung der Dokumentation über RLF ist das Projekt aber noch nicht beendet. Im Gegenteil: Friedrich von Borries nimmt mit RLF am Businessplan-Wettbewerb der Investitionsbank Berlin-Brandenburg teil. Schließlich handelt es sich bei RLF um ein neues Unternehmen, das vom Staat, Business-Angels oder risikofreudigen Venturekapitalgebern gefördert werden könnte. Für die Kampagne, die RLF bekannt machte – also die oben beschriebenen Elemente Roman, Film und Ausstellung –, nimmt RLF am Art Directors Club Award, der deutschen Oscar-Verleihung der Werbewelt, teil. Denn zum in diesem Text vorgestellten Prinzip des affirmativen Intervenierens gehört, direkt am Gegenstand der Kritik aktiv zu werden, hier also in der Welt des Gründerprotagonisten Jan, dem Werber. Und auf einer Shareholder-Versammlung soll mit den Mitstreitern des bisherigen Prozesses besprochen und entschieden werden, wie sich RLF weiterentwickeln kann und soll. Denn die Grenzen von Realität und Fiktion existieren nur in unserer Einbildung, aber nicht in Wirklichkeit.
Transformation Wirklichkeitsveränderung durch Kunst
Wie kann Kunst der Wirklichkeit nicht gegenüberstehen, sondern in sie verwickelt sein? W OLFGANG W ELSCH
Im Rahmen der diesem Band zugrundeliegenden Tagung, die sich für Kunstwerke interessierte, „die innerhalb der natürlichen und sozialen Wirklichkeit bestehende Prozesse aufnehmen und mitgestalten, als seien sie ein Teil von ihnen“, wurde ich aufgefordert, zur genannten Perspektive einen Beitrag zu liefern. Anlass dafür sind meine neueren Veröffentlichungen, in denen ich mich für ein nichtoppositives Verhältnis von Mensch und Welt ausspreche.1 Sollte sich – so die Vermutung – diese Blickrichtung nicht auch speziell für Fragen der Kunst fruchtbar machen lassen?
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M ENSCH UND W ELT : EIN V ERHÄLTNIS NICHT O PPOSITION , SONDERN DES I NNESEINS
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Als Erstes möchte ich in aller Kürze meine Überlegungen zum MenschWelt-Verhältnis umreißen. Teilweise schon in der Tradition und durchgän-
1
Vgl. Immer nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie, Berlin 2011; Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, Weilerswist 2012; Mensch und Welt. Philosophie in evolutionärer Perspektive, München 2012; Blickwechsel. Neue Wege der Ästhetik, Stuttgart 2012.
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gig in der Moderne hat man dieses Verhältnis als eines der Opposition angesehen: Mensch und Welt sollten einander gegenüberstehen, es sollte ein grundsätzlicher Dualismus gelten, der Mensch recht eigentlich ein Weltfremdling sein. Die für die Moderne charakteristische Form dieses Dualismus basiert auf der neuzeitlich entstandenen Auffassung, dass Natur und Geist wesensfremd seien. Die Natur, die in etlichen antiken Konzeptionen oder im Christentum noch als geistbestimmt gegolten hatte, wird neuzeitlich als reine Materie angesehen, die allein durch Ausdehnung und Schwere, Räumlichkeit und Zeitlichkeit bestimmt ist und die in allem rein mechanischen Prinzipien folgt. Die Natur ist absolut geistlos. Der Geist stellt eine andere Ordnung dar. Er kann, weil die Natur völlig geistfern ist, nicht aus der Natur entstanden, nicht mundanen Ursprungs sein. Für den Menschen, der weiterhin wesentlich als Geistwesen (als animal rationale) verstanden wird, bedeutet dies, dass er notwendigerweise ein Weltfremdling sein muss, dass er mit der Welt kein gemeinsames Maß haben kann. Folgerichtig kann er die Welt dann aber auch nicht erkennen, wie sie ist, sondern vermag nur mit den Mitteln der ihm eigenen Geistigkeit (beziehungsweise Rationalität) eine Welt nach seiner Art zu konstruieren – eine Menschenwelt, für die er dann natürlich das Zentrum und Maß bildet. Aus dieser Konstellation erwächst die Leitmaxime der Moderne, die man erstmals 1755 bei Diderot klar ausgesprochen findet: Der Mensch, erklärt Diderot, „ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muss“.2 Dieses anthropische Prinzip durchzieht und bestimmt die Moderne bis auf den heutigen Tag. Die Moderne kennt gewiss eine stattliche Anzahl unterschiedlicher Positionen. An der Oberfläche sind sie einander zum Teil radikal entgegengesetzt. Im Grunde aber folgen sie alle unisono dem anthropischen Prinzip. So meinte Kant, dass wir „nicht anders verfahren“ können als „zu anthropomorphisieren“3 – „wir machen alles selbst“4; oder Nietzsche schrieb: „Wir sehen alle
2
Denis Diderot: Artikel „Enzyklopädie“ [1755], in: ders., Philosophische Schrif-
3
Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798], BA 76,
4
Immanuel Kant: Opus postumum, in: Kant’s gesammelte Schriften (Akademie-
ten, Berlin 1961, Bd. 1, S. 149–234, hier: S. 187. Anm. [§ 27, recte § 30]. Ausgabe), Bd. 22, Berlin 1938, S. 82 [VII,VII,2].
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Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden“5, sodass unsere Wahrheit „durch und durch anthropomorphisch“ ist und „keinen einzigen Punct“ enthält, „der ‚wahr an sich‘, wirklich und allgemeingültig, abgesehen von dem Menschen, wäre“6; und für die analytische Philosophie erklärte Neurath, dass die „wissenschaftliche Weltauffassung“ „das stolze […] Selbstbewusstsein“ vermittle, „dass der Mensch das Maß aller Dinge“ ist.7 Natürlich kennt man dieses anthropische Prinzip nicht nur aus der Philosophie, sondern auch aus den Deklarationen der modernen Technologen oder der Architekten – die Rhetorik der modernen Architektur ist (seit der Charta von Athen) voll von Beschwörungen des Menschen als des Maßes der Architektur. Grundlegend für die moderne Position ist also die Weltfremdheit des Menschen: Als Geistwesen befinden wir uns zur geistlosen Welt in einer unaufhebbaren Distanz. Deshalb können wir nirgendwo von der Welt, sondern müssen in allem von uns ausgehen, müssen Anthropozentriker sein. So vermögen wir aber auch nie zu der Welt, sondern immer nur zu von uns konstruierten Welten zu gelangen. Aber wie grundlegend falsch diese Position ist, lehrt jeder auch nur einigermaßen informierte Blick auf die wirkliche Verfassung des Menschen. Die moderne Wissenschaft, insbesondere die Evolutionsbiologie, hat gezeigt, dass wir Menschen von der Anatomie bis zur Kognition durch Errungenschaften der Evolution geprägt sind, die schon lange vor dem
5
Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, Erster Band [1878], in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980, Bd. 2, S. 9–366, hier: S. 29 [9].
6
Friedrich Nietzsche: „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ [1873 diktiert], in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 873–890, hier: S. 883. Vgl. auch: „Wenn man nur nicht ewig die Hyperbel aller Hyperbeln, das Wort: Welt, Welt, Welt, hören müsste, da doch Jeder, ehrlicher Weise, nur von Mensch, Mensch, Mensch reden sollte!“ (Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben [1874], in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 243–334, hier: S. 312 [9]).
7
Otto Neurath: „Wege der wissenschaftlichen Weltauffassung“ [1930/31], in: Erkenntnis 1 (1930/31), S. 106–125, hier: S. 125.
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Menschen begonnen und sich in Abstimmung mit der Welt herausgebildet haben. Von daher sind wir grundsätzlich Weltwesen: auf die Welt bezogene und auf sie abgestimmte Wesen. Zudem sind wir – wie alle Organismen – nicht bloß in der Welt vorkommende, sondern inmitten der Prozesse der Welt stehende und an ihnen mitwirkende Wesen. Unser Verhältnis zur Welt ist, kurz gesagt, nicht das eines Gegenüberstehens, sondern das eines Inneseins. Im Grunde ist das nicht einmal etwas so Besonderes. Es gilt genau genommen für jedes Seiende. Alles ist nicht bloß ein Vorkommnis in der Welt, sondern ein Teilnehmer und Mitgestalter der Welt. Man kann sich das an jedem beliebigen Gegenstand klarmachen – etwa an einer Plastikflasche. Dass eine solche Flasche überhaupt existiert, verdankt sich schon einer Veränderung der Welt: Rohstoffe mussten gewonnen werden und einen Produktions- und Transportprozess durchlaufen, damit diese Plastikflasche nun hier verfügbar ist. Und sie wird weiterhin die Welt beeinflussen – in diesem Fall zum Beispiel durch die hochproblematische Unverwüstlichkeit dieses Plastikprodukts. Schon ein solch simpler Gegenstand hat mehr Bezüge und Auswirkungen, als man gemeinhin glaubt. Und nun denke man an seine eigene Situation – an das Verhältnis zu Familie, Freunden, Lebenspartnern. In alledem gestaltet man Wirklichkeit. Das tut man beispielsweise auch durch seine wissenschaftliche Arbeit: Einerseits zehrt man da von den Leistungen anderer, andererseits setzt man auch selbst Wirkungen in der akademischen Welt; beispielsweise minimiert man durch exzellente Arbeiten die Chancen von Studienkollegen, und wenn man eine Professur erlangt, dann kann man gute, aber auch weniger gute Studierende fördern. Was immer: Man ist nicht bloß ein Rädchen, sondern auch ein Treiber im akademischen Betrieb. Man denke schließlich daran, wie jemand, der eine erfolgreiche Theorie in die Welt setzt, auf das wissenschaftliche wie private und reale Leben etlicher Leute Einfluss gewinnt, die er gar nicht persönlich kennt. Deren Lebensläufe – und die von Menschen, mit denen sie wiederum Kontakt haben – werden anders verlaufen, als es ohne diese prominente Theorie der Fall gewesen wäre. – In diesem Sinn meine ich (mit Whitehead), dass wir alle nicht bloß Vorkommnisse, sondern Mitspieler und Mittäter im Konzert der Wirklichkeit sind.8
8
Vgl. Alfred North Whitehead: Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie [1929], Frankfurt am Main 1979.
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Heute, denke ich, vollzieht sich gegenüber dem modernen Bild einer Opposition zur Welt ein grundsätzlicher Wandel unseres Selbstverständnisses: hin zur Einsicht und Realisierung unserer grundlegenden Verbundenheit mit der Welt, unseres Weltinneseins.9 Künstlerische Naturen haben seit Langem gespürt und artikuliert, dass wir Menschen keineswegs Weltfremdlinge, sondern Welteinheimische sind – dass wir mit allen Fasern der Welt zugehören und sie (ob banal oder hochkünstlerisch) mitgestalten. Ich weise nur auf Leonardo da Vinci, Cézanne und Rilke hin.10 Man könnte ebenso an die chinesische Legende vom Maler denken, der in sein Bild eingeht.11 Auch da wird ja eine gewöhnlich für sicher gehaltene Trennung aufgehoben – in diesem Fall nicht die von Mensch und Welt, sondern die von Künstler und Werk, die
9
Vgl. dazu ausführlich Welsch: Homo mundanus, sowie Welsch: Mensch und Welt.
10 Vgl. dazu ausführlicher: Welsch: Homo mundanus, S. 562–575. 11 „Ein chinesisches Märchen aus der Ära, als Weise noch etwas galten, erzählt von einem Maler, der lange, lange an einem Bilde saß. Er war über der Arbeit an diesem Hauptwerk alt geworden und einsam. Als er’s schließlich vollendet hatte, bat er die Freunde, die ihn noch verblieben waren, zu sich. Sie kamen, sahen, standen um das geheimnisvolle Gemälde und begutachteten es. Es zeigte einen Park, zwischen Wiesen führte ein schmaler Weg zu einem Haus auf einer Anhöhe. Als die Geladenen sich ein Urteil gebildet hatten und es dem Künstler eröffnen wollten, fanden sie ihn nicht mehr unter sich. Er war verschwunden. Sie entdeckten ihn schließlich auf seinem eigenen Bild, wie er den Weg die Anhöhe hinauf zum Haus ging, die Tür öffnete und sich noch einmal umwandte. Winkend nahm er Abschied von den Getreuen und schloss die kleine Pforte fest hinter sich zu“ (Quelle: Programmheft Berliner Festwochen 1999: Gustav Mahler – Das Gesamtwerk, S. 187). Alle historisch relevanten Details dazu finden sich dargestellt bei: Shieh Jhy-Wey: „Grenze wegen Öffnung geschlossen. Zur Legende vom chinesischen Maler, der in seinem Bild verschwindet“, in: Zeichen lesen – Lese-Zeichen. Kultursemiotische Vergleiche von Leseweisen in Deutschland und China, hg. v. Jürgen Wertheimer und Susanne Göße, Tübingen 1999, S. 201–225. Einen Interpretationsvorschlag habe ich unterbreitet in: „Wie die Kunst über die Enge der menschlichen Welt hinausführt. Auf dem Weg zu einer transhumanen Sichtweise“, in: Welsch: Blickwechsel, S. 135–170, hier: S. 164–169.
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aber eben zugleich die Vordergründigkeit der Gegenüberstellung von Mensch und Welt signalisieren soll. Auch in der zeitgenössischen Ästhetik und Kunst, so will mir scheinen, bildet vielfach die neuere Einsicht in die grundlegende Gemeinsamkeit von Mensch und Natur den Ausgangspunkt. Man versucht, dieser Gemeinsamkeit Ausdruck zu geben oder in ihrem Sinn zu gestalten. So, wie in der Anthropologie der Mensch nicht mehr im Gegensatz zur Natur beziehungsweise Wirklichkeit gesehen wird, also nicht mehr eine anthropologische Differenz oder die Alterität und Exklusivität des Menschen die Leitlinie bildet, so geht es auch in der Kunst immer weniger um die autonome Kreation einer Gegenwelt oder von Gebilden einer in sich ruhenden Kunstwelt. Man sucht vielmehr nach Möglichkeiten, uns Menschen mit dem anderen Seienden um uns herum zu verknüpfen, uns Menschen zu unseren natürlichen, nichtmenschlichen Partnern zurückzuverbinden.
II. W IE LÄSST SICH I NNESTEHEN STATT G EGENÜBERSTEHEN REALISIEREN ? Im Folgenden will ich nun genauer überlegen, wie sich ein Verhältnis des Inneseins kunstbezogen realisieren ließe. Wie kann die Kunst der Wirklichkeit nicht gegenüberstehen, sondern in ihr stehen – ein Teil, ein Moment ihrer sein? Wie sähe ein solch integratives Weltverhältnis aus? Wie könnte man Innestehen statt Gegenüberstehen realisieren? Wohlgemerkt: nicht bloß darstellen12, sondern realisieren? 1.
Distanz qua ästhetischer Differenz
Diesem Vorhaben scheint etwas hartnäckig entgegenzustehen, was für Kunst gerade konstitutiv ist: die ästhetische Differenz – die Unterscheidung der Kunst von der Wirklichkeit. Für Kunstwerke ist diese Unterscheidung essenziell. Eine solche ästhetische Differenz kennzeichnet Kunst generell – innerhalb der bildenden Kunst beispielsweise beide Hauptrichtungen derselben: den Repräsentationalismus ebenso wie den Fiktionalismus.
12 Das hat ja offenbar die Romantik getan.
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Der Repräsentationalismus gibt Wirkliches im Medium der Kunst wieder. Aber dabei muss die künstlerische Wiedergabe etwas anderes sein als eine einfache Reduplikation – die Letztere ergäbe nicht ein Kunstwerk, sondern nur ein weiteres Exemplar desselben Wirklichkeitsbestandes. Mithin kommt es darauf an, dass die Wiedergabe als eine solche der Kunst zu erkennen und nicht einfach als eine Verdoppelung im Medium der Wirklichkeit zu nehmen ist. Insofern ist bei aller repräsentationalistischen Orientierung an der Wirklichkeit doch die ästhetische Differenz essenziell. Gute Mimesis zeichnet sich, wie man seit Aristoteles weiß, gerade dadurch aus, dass sie das Wirkliche nicht einfach so wiedergibt, wie es gerade ist, sondern so, wie es im Kern (im Wesen) ist oder wie es spezifisch ästhetisches Interesse zu erregen vermag.13 Der Fiktionalismus auf der anderen Seite macht die ästhetische Differenz von vornherein deutlich, indem er nicht eine Wiedergabe der Welt, wie wir sie kennen, anstrebt, sondern (etwas pauschal gesagt) Eigenwelten oder Gegenwelten zu schaffen sucht. – Beiden Richtungen also ist das Insistieren darauf gemeinsam, dass Kunst etwas anderes ist als das Wirkliche. Die ästhetische Differenz gehört, wie gesagt, zur ratio essendi der Kunst. 2.
Differenzunsicherheiten
Andererseits ist diese Differenz nicht unbedroht – und nicht etwa nur von außen, sondern geradezu von innen. Innerhalb des Repräsentationalismus taucht immer wieder das Ideal auf, dass das Kunstwerk genau so sein solle wie das Wirkliche – dass es diesem zum Verwechseln gleichen solle. Diese Vorstellung belegen schon die antiken Künstleranekdoten über Zeuxis und Parrhasios. Ihnen zufolge läge gerade in der Aufhebung der ästhetischen Differenz der Erweis des Gelungenseins der Kunstwerke. Und wenn es zunächst nur Vögel sind, die dem Kunstwerk ein Authentizitätszertifikat erteilen, so genügt das eben noch nicht: Es müssen Menschen sein und am besten der Kunstverstän-
13 Vgl. Aristoteles: Poetik, Kap. 9 u. 25. Speziell zur Malerei: „Wenn es unmöglich ist, dass es solche Menschen gibt, wie sie Zeuxis gemalt hat, dann hat er sie eben zum Besseren hin gemalt; das Exemplarische muss ja die Wirklichkeit übertreffen“ (1461b 12 f.).
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digste aller Menschen überhaupt, nämlich Zeuxis.14 Dieses Problem der ästhetischen Differenz begleitet die diversen Realismen bis in die Moderne, wo das Problem etwa von René Magritte („Ceci n’est pas une pipe“, Bildtitel: La trahison des images, 1929) oder von Mark Tansey (The Innocent Eye Test, 1981) jeweils unterschiedlich behandelt wird. Auf umgekehrte Weise kommt auch der Fiktionalismus von der Wirklichkeit nicht los. Während diese für den Repräsentationalismus insgeheim das Ideal bildet, stellt sie für den Fiktionalismus einen lästigen Bodensatz und Pferdefuß dar. Denn all die wunderbaren Fabelwelten und Gegenwelten sind doch verschwiegenerweise (manchmal freilich auch ziemlich offensichtlich) von der bekannten Wirklichkeit abgeleitet und durchzogen. Sie modifizieren Elemente oder Strukturen der Wirklichkeit, sie stecken voller Wirklichkeitsreminiszenzen und -lasten. Daher können viele heutige Maler mit der gängigen Frage, ob sie denn nun abstrakt oder figürlich malten, herzlich wenig anfangen, weil ihnen klar ist, dass all das abstrakt Erscheinende, dem sie zuneigen, von gegenständlichen Anlässen und Mustern durchzogen ist. Darauf haben ja schon Kandinsky, Klee und Picasso hingewiesen. Ich sagte also erstens, dass die ästhetische Unterscheidung, die Differenz zum Wirklichen für Kunst essenziell ist. Und sage nun zweitens, dass
14 „Zeuxis malt Weintrauben, Sperlinge fliegen herbei und picken an den Trauben. Parrhasios bittet den Zeuxis, ihn in sein Atelier zu begleiten, dort werde es sich erweisen, dass auch er dergleichen vermöge. In der Werkstatt des Parrhasios bittet Zeuxis diesen, den Vorhang, der das Bild verdeckt, beiseite zu schieben. Der Vorhang ist gemalt. Zeuxis anerkennt die Überlegenheit des Parrhasios: Ich habe die Sperlinge, du aber hast mich getäuscht“ (Ernst Kris und Otto Kurz: Die Legende vom Künstler [1934], Frankfurt am Main 1980, S. 90 [Quelle: Plinius: Naturkunde, entst. ca. 77 n. Chr., XXXV, 65]). – Die gegen die ästhetische Unterscheidung überhaupt gerichtete Negativversion dieses Ideals findet man bei Platon, der die Kunst eben deswegen verurteilt, weil man die Illusion für bare Münze nimmt (Politeia X), sowie bei Pascal, der klagt: „Welche Eitelkeit liegt doch in der Malerei, die unsere Bewunderung durch die Abbildung von Dingen erregt, deren Originale wir in keiner Weise bewundern“ („Quelle vanité que la peinture qui attire l’admiration par la ressemblance des choses, dont on n’admire point les originaux!“ Pascal: „Pensées“ [postum 1669], in: ders.: Œuvres complètes, hg. v. Louis Lafuma, Paris 1963, S. 504 [40]).
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diese Differenz gleichwohl schon kunstimmanent jeweils prekär ist – dass sie nicht einen robusten, sondern einen fragilen Befund darstellt. Hinzu kommt, dass jedes Kunstwerk immer auch ein realer Gegenstand in der realen Welt ist. Und in dieser Perspektive kann es von anderem Wirklichen durchaus ununterscheidbar sein. Jedenfalls dann, wenn die ästhetische Differenz, wie Arthur Danto argumentiert hat, nicht eine objektive Eigenschaft des Kunstgebildes, sondern nur ein Charakteristikum unserer Einstellung ist.15 Dann ist der ästhetische Status gar nicht am Gegenstand abzulesen, also nicht objektiv auszumachen, sondern nur subjektiv zu entscheiden. Daher kann es eben passieren, dass die Fettecke einer Beuys’schen Badewanne dem Reinlichkeitssinn von Hausfrauen zum Opfer fällt.16
15 Vgl. Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst [1981], Frankfurt am Main 1991. 16 „‚Wir brauchen Stühle‘ – mit dieser Äußerung nahm das Unheil im Museum Schloss Morsbroich im Herbst 1973 seinen Lauf. Die Leverkusener SPD veranstaltete dort am 3. November eine kleine Feier. Vom Eifer des Festkomitees angesteckt ließ sich der Hausmeister überreden, den Magazinraum aufzuschließen, wo noch eine Reihe von Stühlen lagerte. Während er sie herauswuchtete, entdeckten zwei SPD-Damen in einer Ecke eine alte Badewanne, die mit Mullbinden, Pflastern und Fett übersät war. Darin lassen sich doch vorzüglich Gläser spülen, dachten sich die beiden und schleppten sie in den Festraum. ‚Die Wanne fanden viele von uns viel zu versifft‘, erinnert sich der Leverkusener SPD-Mann Leo Monz, der damals ebenfalls im Festkomitee saß. Doch die beiden Damen waren nicht mehr zu bremsen. ‚Wir dachten, dat alte Ding können wir sauber machen‘, erzählten Marianne Klein und Hilde Müller 2006 im Interview mit dem WDR. ‚Wir dachten uns nicht viel dabei.‘ Mit Ata bewaffnet machten sie sich ans Werk und scheuerten nach guter Hausfrauenart drauf los, bis die Wanne weiß und glänzend dastand. Innerhalb weniger Minuten zerstörten die ahnungslosen Damen ein Kunstwerk, dessen Wert Experten damals schon auf 80 000 D-Mark schätzten. Kein Geringerer als der berühmte Filzhutträger Joseph Beuys hatte den versifften Zuber erschaffen, der als Teil der vom Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum organisierten Wanderausstellung ‚RealitätRealismus-Realität‘ im Schloss Morsbroich gelandet war.“ (http://einestages. spiegel.de/static/topicalbumbackground/24067/gescheuerte_kunst.html).
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So viel vorab zur Schwierigkeit für die Kunst, kein oppositives Verhältnis zur Wirklichkeit einzunehmen. Eine solche Opposition scheint der ästhetischen Differenz wegen vielmehr geradezu zur ratio essendi der Kunst zu gehören. Kunst muss sich vom Wirklichen unterscheiden – oder kann nicht Kunst sein. Ein nichtoppositives Wirklichkeitsverhältnis scheint für die Kunst unmöglich. Oder bieten die untergründigen Verbindungen zur Wirklichkeit, auf die ich zuvor hinwies – die Wirklichkeit als Ideal repräsentationalistischer oder als Bodensatz fiktionaler Werke –, doch Einfallstore für den Versuch, künstlerisch von einem oppositiven zu einem integrativen Wirklichkeitsverhältnis überzugehen? Bereiten sie einer solchen Transformation der Kunst den Boden?
III. V ERSIONEN KÜNSTLERISCHEN N ICHT G EGENÜBERSTEHENS , KUNSTHAFTEN I NNESEINS Wie aber ließe sich ein solches Involviertsein realisieren? Wie wäre es möglich, dass Kunstwerke der Wirklichkeit nicht gegenüberstehen (gleichsam wie Inseln, die inmitten des Meeres der Wirklichkeit eine ganz andersartige Ontologie aufweisen), sondern dass sie in die Wirklichkeit verwickelt sind? 1.
Die Wirklichkeit selbst geht in Kunst über, bringt Kunst hervor, macht Kunst
Darauf gibt es eine einfache erste Antwort. Zumindest dort, wo man der Auffassung ist (und sie plausibel machen kann), dass die Wirklichkeit selber Kunst oder Kunstartiges hervorbringt. Dann besteht – insoweit – natürlich kein Gegensatz, sondern eine Kontinuität zwischen Wirklichkeit und Kunst. Die Kunst ist dann ein Teil der Wirklichkeit selbst. a. Leon Battista Alberti: Naturursprung der Kunst Ein bekanntes Beispiel für diese Vorstellung bietet Albertis These hinsichtlich des Ursprungs der Kunst: Die Natur, meinte er, bringe gelegentlich
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Darstellungen hervor (sie malt „an den Bruchstellen von Marmorstücken nicht selten Centauren und bärtige Gesichter von Königen“)17, und aus der Beobachtung solcher Phänomene seien dann Malerei und Plastik hervorgegangen.18 – Hier ist das Kunsthafte ursprünglich ein Zug der Wirklichkeit selbst. Allenfalls die von solcher Naturkunst inspirierte Menschenkunst wird dann der Wirklichkeit gegenübertreten können. b. Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur Eine andere Version des Topos, dass die Natur Kunst hervorbringe, liegt dort vor, wo diesmal nicht Kunstwissenschaftler, sondern Naturwissen-
17 Leone Battista Alberti: Drei Bücher über die Malerei [Della Pictura libri tre, 435], in: Leone Battista Alberti’s kleinere kunsttheoretische Schriften, Wien 1877, S. 45–163, hier: S. 96. König Pyrrhus habe sogar einen Edelstein besessen, „auf welchem man, von der Natur gemalt, alle neun Musen, unterschieden nach ihren Attributen, sehen konnte“ (ebd.). 18 „Die Künste Jener, welche darauf ausgehen, die von der Natur geschaffenen Körper künstlich ab- und nachzubilden, haben meiner Meinung nach ihren Ursprung in Folgendem gehabt. Man sah nämlich vielleicht an einem Baumstumpf, einer Erdscholle oder einem anderen leblosen Körper dieser Art einige Lineamente, welche nach geringer Veränderung irgend etwas darstellten, was der äusseren Gestalt eines wirklichen Naturdinges sehr glich. – Indem man Solches also bemerkte und mit großer Sorgfalt erwog, begann man zu versuchen, ob man nicht dort und da hinzufügen oder wegnehmen und nicht (so) erlangen könne, was noch zu fehlen schien, um ein völliges Ebenbild vor sich zu haben. So erreichte man denn, Linien und Flächen verbessernd und vervollkommnend, soweit die Sache selbst es forderte, das Erstrebte; und dies wahrlich nicht ohne Vergnügen. Zweifellos wuchs von da an von Tag zu Tag die Fähigkeit der Menschen, Abbilder zu gestalten, bis dass sie jedes beliebige Abbild hervorzubringen vermochten, auch wenn die Hilfe mangelte, die ersten Umrisse dazu in irgend einem Stoffe schon vorgebildet zu schauen“ (Leone Battista Alberti: Über das Bildwerk [De Statua, entst. ca. 1435 bzw. nach 1450], in: Leone Battista Alberti’s kleinere kunsttheoretische Schriften, S. 165–205, hier: S. 168). – Natürlich steht dabei noch immer das aristotelische Theorem von der Strukturgleichheit zwischen phýsis und téchnē und von der téchnē als einer Fortsetzung des Werks der phýsis, die zwar mit künstlichen Mitteln, aber ganz im Sinn der Natur operiert („ars imitatur naturam“), im Hintergrund.
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schaftler darauf hinweisen, dass die Natur selber wunderschöne Gebilde hervorbringe, die Kunstrang besäßen. Man denke beispielsweise an Ernst Haeckels Kunstformen der Natur19, ein Werk, das Einfluss auf den Jugendstil gewann (Obrist, Olbrich, Endell, Tiffany) und das vor allem René Binet zu seiner berühmten Eingangspforte für die Pariser Weltausstellung von 1900 inspirierte. Der interessante Gedanke bei Haeckel ist der, dass die Natur nicht erst die menschliche Kunstproduktion inspiriert (wie bei Alberti), sondern dass die Natur selbst sich mittels ihrer künstlerischen Produktion vorantreibt, dass Kunstgebilde und Kunstproduktion also buchstäblich einen Bestandteil, ein Verfahren der Wirklichkeit selber darstellen. Damit ist der Gegensatz von Wirklichkeit und Kunst, wie er später für die menschliche Welt charakteristisch werden mag, in der Natur unterlaufen beziehungsweise von vornherein inexistent. Kunst ist eine Strategie der Natur und damit der Wirklichkeit selbst.20 Die Kunst hat ursprünglich kein oppositives, sondern ein implikatives Verhältnis zur Wirklichkeit. c. Charles Darwin: der natürliche Ursprung der Ästhetik Ähnliches gilt für Charles Darwins Theorie bezüglich des Ursprungs der Ästhetik. Auch für Darwin war es eine Selbstverständlichkeit, dass die Natur selber wunderschöne Gebilde hervorbringt. Aber die Natur tut ihm zufolge sogar mehr: Sie bringt auch die ästhetische Einstellung, den ästhetischen Sinn hervor. Was Haeckel thematisiert hatte, war die nichtintentionale Schönheitserzeugung, etwa bei Radiolarien (zu deren biologischem Sinn es nicht gehört, Gefallen zu erregen). Was Darwin hingegen erklärt, ist der Ursprung des ästhetischen Sinnes und einer auf diesen zielenden Schönheitsproduktion. Dass dergleichen schon im Tierreich entstanden ist
19 Das Werk erschien von 1899–1904 in zehn Einzelbänden und 1904 als Komplettausgabe. 20 Auf dieser Linie bewegt sich Haeckels Selbstverständnis seiner Darstellung der Schönheiten der Natur. Er verstand sein Erkennen selber als einen Akt der Natur. Für ihn waren „die Gestalt des Zeichnenden, seine Sinnesorgane, seine Motorik […] Resultate einer Entwicklung, mit der sich letztlich die Natur nur selbst abbildet“ (Olaf Breidbach: „Kurze Anleitung zum Bildgebrauch“, in: Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur [1904], München 1998, S. 9–18, hier: S. 14).
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und nicht etwa erst beim Menschen anhebt, ist das große Thema von Teil II. in Darwins zweitem Hauptwerk, dem 1871 publizierten Descent of Man. In diesem zweiten Teil entwickelt Darwin die Theorie der sexuellen Selektion. Diese geht über die natürliche Selektion hinaus. Es geht dabei, kurz gesagt, darum, dass ästhetisch attraktive Merkmale des einen Geschlechts beim anderen Geschlecht Erregung hervorrufen, sodass es zu einer ästhetisch bestimmten Partnerwahl und folglich zu Paarung und Reproduktionserfolg kommt. Die sexuelle Selektion beruht seit dem Auftreten von Ästhetik nicht mehr auf Kraft und Kampf, sondern auf ästhetischem Sinn und ästhetischen Präferenzen. Die Ästhetik ist also laut Darwin nicht erst eine kulturelle Errungenschaft – die als solche dem Natürlichen gegenübertreten oder gegenüberstehen könnte –, sondern sie ist von Grund auf ein Naturprodukt. Und sie gehört nicht nur zur Natur, sondern ist eine Weise, wie die Natur sich selbst reproduziert, weitergestaltet und voranbringt. Der Prozess der Arten treibt sich mittels ästhetischer Raffinessen und Entscheidungen voran. Ästhetik ist ein Aktiv- und Produktionsfaktor der Wirklichkeit, ist ein Agens der Weiterentwicklung der biologischen Evolution.21 Erneut kann also gar nicht die Rede davon sein, dass die ästhetische Sphäre der Wirklichkeit gegenüberstünde. Sie ist vielmehr ursprünglich eine Dimension der Wirklichkeit selbst und in dieser aktiv, in die Wirklichkeit verwickelt. Übrigens kommt es innerhalb der Tierästhetik dann auch schon zur Generierung erster selbstständiger Kunstwerke. Für gewöhnlich erfolgt die Schönheitsproduktion an den Körpern des einen Geschlechts, meist des männlichen. Die Männchen entwickeln Ornamente, Capricen und alle möglichen ästhetischen Exuberationen – man denke etwa an das Pfauenrad. Aber dann gibt es eine Art (die Laubenvögel), wo die Männchen gar nicht schön sind, sondern ihre Schönheitsarbeit vom eigenen Körper auf externe Objekte verlagert haben, auf die sogenannten „Begattungslauben“: kunstvolle Gebilde, die einzig der Anlockung von Partnern und der Paarung die-
21 Ganz ähnlich wie generell die Kognition seit Beginn des Lebens ein Faktor der Weitertreibung der Wirklichkeit ist: Wo Leben vorliegt, ist die Kognition gewissermaßen der neue große Motor der Weiterentwicklung des Seins. Vgl. Welsch: Homo mundanus, S. 900, 908 f., 918–920.
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nen.22 Mit diesen Begattungslauben beginnt im Tierreich sozusagen die Produktion von selbstständigen Kunstwerken. Die männlichen Laubenvögel sind die ersten Objektkünstler.23 2.
Ist Kunst noch immer Natur?
Es ist ein attraktiver und verschiedentlich wiederkehrender Gedanke, dass die Natur selber Kunst hervorbringt und die Kunst somit zur Wirklichkeit gehört. Aber für die menschliche Kunstproduktion scheint man diesen Gedanken schwerlich aufrechterhalten zu können. Die menschliche Kunstproduktion ist eben ein kulturelles und nicht ein naturhaftes Geschehen. Sie spielt in einem anderen Register als dem der Natur. Insofern ist sie von ihrem Geschehensbereich her von der Naturproduktion unterschieden und tritt dann eben auch durch die ästhetische Differenz der Wirklichkeit – der natürlichen wie der sonstigen kulturellen Wirklichkeit – gegenüber. Allerdings: Wenn man nicht von vornherein einen kategorialen Unterschied zwischen Natur und Kultur machen wollte, wenn man die humane Kulturproduktion vielmehr als Fortsetzung der animalischen und letztlich als kulturelle Variante von Natur verstehen würde, dann müsste die menschliche Kunstproduktion nicht als etwas gegenüber der Wirklichkeit anderes aufgefasst und verbucht werden, sondern dann könnte sie als einer der vielen Fälle von ästhetischer Wirklichkeitsproduktion angesehen werden, die von der Bildung von Kristallen über schöne Blumen, Haeckels Radiolarien und Darwins Vogelgesang bis hin zu Picasso & Co. reichen. a. Autonomisierung (Alberti) Alberti, dieser frühe Naturursprungstheoretiker, hat Natur und Kultur freilich auseinanderhalten wollen. In diesem Sinn hat er für die menschliche Kunst ein Freiwerden gegenüber Naturvorgaben reklamiert. So betonte er,
22 Darwin stimmte John Gould darin zu, „dass ‚diese in hohem Grade verzierten Versammlungshallen als die wunderbarsten Beispiele von Vogelarchitektur betrachtet werden müssen, die bis jetzt entdeckt wurden‘“ (Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, 2 Bde., Stuttgart 1871, Bd. 2, S. 98). 23 Vgl. ausführlich zu Darwins Theorie: Wolfgang Welsch: „Der animalische Ursprung der Ästhetik“, in: ders., Blickwechsel, S. 211–251.
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dass die Menschen bald „jedes beliebige Abbild hervorzubringen vermochten, auch wenn die Hilfe mangelte, die ersten Umrisse dazu in irgend einem Stoffe schon vorgebildet zu schauen“24. Gewiss sollte für Alberti die menschliche Kunst naturgetreu sein, aber für ihn galt ebenso als ausgemacht, dass die voll entwickelte Kunst ein autonomes Produkt der Menschen und keineswegs mehr der Natur ist. b.
Das Kunstwerk: ein zutage gefördertes Naturkunstwerk (Michelangelo) Wenig später wollte jedoch Michelangelo diese Verselbstständigung, diese Autonomisierung noch einmal zurücknehmen. Ihm zufolge sollte das kulturelle Kunstwerk nur das zutage geförderte natürliche Kunstwerk sein. Im Stein seien alle Figuren schon vorhanden, der Bildhauer entferne nur die Hüllmasse, um die im Stein schlummernden Figuren zu befreien. – Auf diese Weise wollte Michelangelo das Kunstwerk noch einmal an Natur zurückbinden, in der Natur verwurzelt sehen. An solcher Naturbindung wird in der nachfolgenden Kunsttheorie auf zwei Weisen festzuhalten versucht, die verwandt sind, sich aber doch etwas unterscheiden: einmal in Form der (im weitesten Sinn romantischen) These vom Künstler als Medium, und zum anderen in Form der Auffassung, dass die Kunst eine sich an der Natur orientierende Parallele zur Natur sei. 3.
Die romantische Kunstidee: der Künstler als Medium der Natur (des Universums)
Die romantische Auffassung geht von der natura naturans, der schöpferischen Natur aus, die alle uns bekannten Erscheinungen der Natur (natura naturata) hervorbringt. Dazu bedient sie sich im Fall der Kunst des Künstlers; sie bringt mittels seiner (als Medium) das Kunstwerk hervor. Das Besondere an Kunstwerken ist dann, dass sie anders als der Großteil der sonstigen Erscheinungen die natura naturans eigens ausdrücklich machen. Wenn man ein Kunstwerk richtig betrachtet, sieht man es also nicht nur als Bild oder Produkt (als natura naturata), sondern erfährt durch es die Produktivität der natura naturans. Und wenn man sich als Künstler richtig ver-
24 Alberti: Über das Bildwerk, S. 168.
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steht, dann begreift man sich als Medium, durch welches die natura naturans sich zur Anschauung bringt. Diese romantische Auffassung war sehr einflussreich. Man findet sie beispielsweise noch bei Gustav Mahler: „Nun aber denke Dir so ein großes Werk, in welchem sich in der Tat die ganze Welt spiegelt – man ist, sozusagen, selbst nur ein Instrument, auf dem das Universum spielt.“25 „Ich sehe immer mehr: man komponiert nicht, man wird komponiert.“26 4.
Parallelismus (Cézanne, Nolde)
Eine zweite Weise, wie an einer Naturbindung unter Bedingungen des Bewusstseins kultureller Autonomisierung festzuhalten versucht wird, liegt bei der These vor, dass die Kunst eine Parallele zur Natur darstelle, die sich an der Natur orientiere. Im Unterschied zum romantischen Modell wird hier nicht mehr mit einer Naturtäterschaft spekuliert oder kokettiert, sondern der kulturelle Status des eigenen Tuns und seine Distanz von der Natur wird anerkannt – daher ist die Naturbeziehung eben nicht mehr die einer direkten Ableitung, sondern nur noch die einer Parallele –, aber andererseits soll die Natur wenn schon nicht mehr der subkutane Täter, so doch zumindest noch das richtunggebende Vorbild für die eigene Kunstproduktion sein. Paradigmatisch hat Cézanne die Malerei in diesem Sinn als „Harmonie parallel zur Natur“ bestimmt: „Die Kunst ist eine Harmonie parallel zur Natur. Das ganze Bestreben des Malers muss die Stille sein. Er muss in sich alle Stimmen der Vorurteile zum Schweigen bringen, vergessen, vergessen, Stille eintreten lassen, ein vollkommenes Echo sein. Dann wird sich auf seiner empfindsamen Tafel die ganze Landschaft einschreiben.“27
25 Brief Gustav Mahlers an Anna von Mildenburg, Juni oder Juli 1896, in: Gustav Mahler – Briefe, Wien 1982, S. 164 f. 26 Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, hg. v. Gustav Killian, Hamburg 1984, S. 161. 27 Conversations avec Cézanne, hg. von P. Michael Doran, Paris 1978, S. 109.
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Am Ende macht Cézanne also doch noch einmal einen Schritt ins romantische Lager. Ganz im Sinn eines Parallelismus sagt hingegen Emil Nolde: „Ich wollte im Malen immer gern, dass die Farben durch mich als Maler auf der Leinwand sich so folgerichtig auswirkten, wie die Natur selbst ihre Gebilde schafft, wie Erz und Kristallisierungen sich bilden, wie Moos und Algen wachsen, wie unter den Strahlen der Sonne die Blume sich entfalten und blühen muss.“28
5.
Menschliche Kunst – aber unter Mitarbeit des Wirklichen zustande gekommen, gleichsam eine Selbstdarstellung des Wirklichen
Noch im 20. Jahrhundert konnte man demgegenüber anspruchsvoller sein, sich mit einem bloßen Parallelismus nicht begnügen, sondern die alte Hoffnung erneuern, dass doch die Wirklichkeit selber das Werk hervorbringe oder zumindest daran mitarbeite. Ein Beispiel dafür sind Max Ernsts Frottagen (Histoire Naturelle, ab 1925). Beim Frottageverfahren manifestiert sich die Oberflächenstruktur von Gegenständen in der Darstellung – die Oberflächenstruktur drückt sich gewissermaßen durch. Insofern sind die Gegenstände selber an ihrer Vergegenwärtigung beteiligt – die Darstellungen erscheinen jedenfalls so, als hätte das Wirkliche selbst sie hervorgebracht, zumindest an ihnen mitgewirkt.29 Das geht nicht nur über den Parallelismus, sondern auch über die romantische Idee hinaus, dass der Künstler als Medium eines tiefen Naturgrundes tätig sei; hier sind es vielmehr Erscheinungen der Natur (roman-
28 Emil Nolde: Jahre der Kämpfe, Berlin 1934, zit. n. Walter Hess: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Reinbek bei Hamburg 1956, S. 45. Ähnlich: „Ich will so gern, dass mein Werk aus dem Material hervorwachse“ (Emil Nolde: Briefe aus den Jahren 1894–1926, hg. v. Max Sauerlandt, Berlin 1927, zit. n. Hess: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, S. 45). 29 Vgl. Wolfgang Welsch: „Frottage“. Philosophische Untersuchungen zu Geschichte, phänomenaler Verfassung und Sinn eines anschaulichen Typus, Bamberg 1974.
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tisch gesprochen also Instanzen der natura naturata), die zur Geltung kommen, und dies eben so, dass sie sich selbst und direkt in der Darstellung niederschlagen – zwar mit Hilfe von Verfahren, die von Künstlern ersonnen wurden, die aber doch gerade so sind, dass sie dem Wirklichen erlauben, sich selbst zur Geltung zu bringen, sich gleichsam selber niederzuschreiben. Sofern hier das Wirkliche selbst an der Produktion des Kunstwerks beteiligt ist, könnte man glauben, dass mit diesem Modell nun endlich ein integratives Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit erreicht sei. 6.
Eine bleibende Grenze all dieser Verfahren: Das fertige Werk steht für sich, ist nicht mehr in die sonstige Wirklichkeit involviert
Aber das Verfahren hat eine Grenze, und zwar eine harte Grenze – wie all die zuvor erörterten Verfahren auch: Am Ende kommt doch ein für sich stehendes Kunstwerk heraus, das vom sonstigen Wirklichen wieder unterschieden und nicht in dieses involviert ist – das ihm vielmehr gegenübersteht. Die Wirklichkeit mag am Zustandekommen des Werkes beteiligt gewesen sein, aber wenn das Werk fertig ist, ist Schluss damit, dann steht (oder hängt) das Werk für sich allein. Die Verbindung mit Wirklichkeit beschränkte sich auf den produktiven Aspekt, sie gilt nicht mehr für das Resultat. Das fertige Werk ist von den Wirklichkeitsprozessen abgekoppelt und steht nun der Wirklichkeit, die zu ihm geführt hat (wie allen anderen Wirklichkeitsformen auch), gegenüber. Wie naturinspiriert oder naturinitiiert die genannten Verfahren auch sein mochten, am Ende kommen jedes Mal für sich stehende Werke heraus. Dies, denke ich, ist ein unumstößlicher Befund. Wenngleich ein enttäuschender. Denn gesucht, angezielt war in den diversen Richtungen von Romantik, Parallelismus und Frottageverfahren ja offenbar etwas anderes: dass die Verbindung zur Natur durchgängig bestehe, das sie erhalten bleibe, nicht am Ende gekappt werde. Morton Feldman hat diesen Unterschied einmal so formuliert: „Früher waren meine Stücke wie autonome Objekte; jetzt sind sie wie sich entwickelnde Dinge.“30 Man versteht das gut. Die Stücke sollen idealerweise nicht wie selbstgenügsame Objekte sein, sondern Entwicklungen zeigen,
30 Zit. n. Morton Feldman. List of Works – Werkverzeichnis, London 1998, S. 3.
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auch Zufall einschließen, und sie sollen vor allem von sich aus (und nicht aufgrund einer vom Komponisten festgesetzten Kompositionslogik) dorthin finden, wo sie hingehen. – Schön und gut. Aber die Frage lautet erneut: Sind diese Stücke bloß wie „sich entwickelnde Dinge“ oder sind sie tatsächlich „sich entwickelnde Dinge“? Das Letztere scheint mir auch bei den späten Stücken von Feldman nicht der Fall zu sein. Sie sind wunderbare Musikstücke – aber eben Stücke von Kunstmusik, auf CDs zu kaufen oder im Konzertsaal zu hören. Sie kommen über eine Parallele zur Entwicklung von Dingen nicht hinaus – sie entwickeln sich im Medium des Klangs analog zu natürlichen Phänomenen wie Flussläufen oder Blattbildungen oder dem Wetter, aber sie sind nicht Teil solcher Vorgänge, sondern tun nur etwas Entsprechendes im Medium der Musik.31 Als Musikwerke mögen sie Wirklichkeitsanklänge enthalten, aber als Kunstwerke sind sie nicht in die Wirklichkeit involviert, sondern stehen dieser gegenüber.32
31 Dasselbe gilt für die Werke vom Typus „Artificial Life“. Hier erzeugt man im Wesentlichen virtuelle Bilder und Prozesse. Es bleibt also bei einer klaren Differenz zwischen dem Kunstwerk auf der einen und der Realität auf der anderen Seite. Spezifisch und neu ist nur, dass die Kunstwerke nach dem Muster der Evolution modelliert sind (Mutation, Selektion, Zufall, Population, Variation, Rekombination, Umwelteinflüsse, Genaktivierungsfolgen etc.). Die Wirklichkeit fungiert also als Taktgeber der Weiterentwicklung – aber nicht die Erscheinungswirklichkeit, sondern eine wissenschaftlich begriffene Wirklichkeit beziehungsweise deren Entwicklungslogik. Eigentlich handelt es sich also um eine auf evolutionstheoretischem Wissen basierende Produktion von Kunst. Die Berührungsfläche mit der Wirklichkeit ist nur eine logische, keine reale. 32 Am ehesten wären ein Beispiel für Kunstwerke, die tatsächlich „wie sich entwickelnde Dinge“ sind, manche Arbeiten von Sigmar Polke seit Anfang der 80er Jahre. Polke setzte dabei chemische und biologische Prozesse zur Postfestum-Veränderung dessen ein, was er als Maler auf die Leinwand gebracht hatte. Als Malmittel verwendete er chemische Substanzen, und er schleuste Bakterien ein, die das Bild nach dessen Fertigstellung (während es also beispielsweise im Museum hängt) verändern. Die Natur macht also auf ihre Weise weiter – zwar vom Künstler initiiert, aber doch im Einzelnen unvorwegnehmbar.
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7.
Die Lösung: vom Werk zum Prozess
Mir scheint: Man kommt, solange die Kunsttätigkeit auf die Hervorbringung von selbstständigen Werken zielt, nicht über den Parallelismus hinaus. Man kann auf diese Weise nicht zum Involviertsein, nicht zu einem wirklichkeitsimplikativen Status der Kunst, nicht zu einem Verwickeltsein der Kunst in die Wirklichkeit gelangen. Denn man kann nicht zugleich die Abgrenzung – die ästhetische Differenz, die für Werke konstitutiv ist – aufrechterhalten und diese Schranke niederlegen. Die einzige Alternative, die aus diesem Dilemma herausführt, scheint mir die zu sein, die künstlerische Tätigkeit nicht auf selbstständige Werke auszurichten, sondern auf Prozesse. Und natürlich nicht auf Prozesse, die ihrerseits wieder in einem künstlerischen Werk der üblichen Art terminieren (wie das bei künstlerischen Herstellungsprozessen für gewöhnlich der Fall ist), sondern auf Prozesse der Wirklichkeit selbst. Dabei kann man künstlerisch solche Prozesse neu initiieren, oder man kann in schon laufende Prozesse eingreifen. Ein Beispiel für das Erstere wäre Beuys’ Aktion 7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung bei der documenta 7 (Kassel 1982). Ein Beispiel für das Letztere wären mikroinvasive Verfahren, wie sie beispielsweise die Gruppe Superflex entwickelt hat. In solchen Fällen übergibt die Kunst sich Prozessen, die, wie bei Wirklichkeitsprozessen üblich, von selbst weiterlaufen. Nach einiger Zeit wird man oft nicht mehr wissen oder nicht mehr erkennen können, dass dabei Kunst ihre Hand im Spiel hatte. Die schöne von Lucius Burckhardt für das Design formulierte Devise „Gutes Design ist unsichtbar“ gilt analog auch für derlei interventionistische Kunst. Dies scheint mir, wie gesagt, der einzig mögliche Fall zu sein, wie Kunst tatsächlich in die Wirklichkeit verwickelt sein kann. Sie kann es nicht, indem sie in der Wirklichkeit Stücke kreiert (Werke), sie kann es nur, indem sie sich in Prozesse der Wirklichkeit hineinbegibt und in diesen gleichsam auf- oder auch untergeht. Dies bedeutet freilich auch, dass der Kunstcharakter hier zunehmend verschwindet. Oder besser: dass er sich transformiert, nämlich weg vom konventionellen Sinn von Kunst, der auf autonome Werke zielte, hin zu einer künstlerischen Anregung oder Impulsgebung in der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit wird durch den künstlerischen Input energetisiert und intensi-
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viert, und sie schlägt Wege ein, die ohne diese Anregung nicht entstanden wären – wobei der ursprüngliche künstlerische Input sukzessiv weniger kenntlich werden und am Ende ganz verschwinden kann (oder wo allenfalls das Ensemble von Künstlichkeit und Wirklichkeit als wirklicher Prozess weitergeht). Oder mit einem Vergleich gesagt: Es verhält sich mit solchen künstlerischen Interventionen ähnlich wie in buddhistischer Perspektive mit der Erleuchtung oder schlicht einer guten Tat. Diese strahlen auf ihre Umgebung aus, erhellen oder erleuchten diese mit, machen sie etwas besser.33 Und erfüllen sich darin. Ähnlich geht hier auch die Kunst in ihren Wirklichkeitswirkungen auf. Wenn ich mich nicht täusche, bezeichnet dies eine Suchrichtung (und vielleicht auch Sehnsucht) etlicher Künstler seit mehreren Jahren.34 Schließen möchte ich mit zwei allgemeinen Bemerkungen. Seit einiger Zeit erleben wir in der philosophischen Diskussion (und ähnlich und sogar intensiver noch in den Grundlagendiskussionen der Physik) einen Übergang von einer Betrachtung der Welt nach Maßgabe der Substanzenontologie zu einer Betrachtung im Sinn der Prozessontologie.35 Für das Alltagsverständnis stehen noch immer Gegenstände, Dinge im Vordergrund. Für das wissenschaftliche Verständnis hingegen rücken Prozesse ins Zentrum. Demzufolge ist nichts das, was es ist, einfach aus sich selbst heraus, sondern es wird dazu als Produkt von Prozessen, die es konstituieren und auch wieder auflösen. Heute scheint ein Übergang von der traditionellen Substanz- zur neueren Prozessontologie geboten.
33 Dōgen: Für einen Moment strahlt unsere Erleuchtung auf die Welt aus, macht die Dinge durchsichtiger. „Wenn ein Mensch auch nur für einen Augenblick aufrecht im Samādhi sitzt und in Körper, Rede und Geist die Buddha-Haltung offenbart, nimmt die ganze Dharma-Welt diese Haltung ein, und der unendliche Raum kommt zum Erwachen“ (Dōgen: „‚Bendōwa‘. Ein Gespräch über die Praxis des Zazen“ [1231], in: ders.: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma, Bd. 1, übers. v. Ritsunen Gabriele Linnebach und Gudō Wafu Nishijima, Heidelberg/Leimen 2001, S. 27–49, hier: S. 29). 34 Vgl. Wolfgang Welsch: „Am Nullpunkt der Kreation“, in: Gretchenfragen. Kunstpädagogik, ästhetisches Interesse, Atmosphären, hg. v. Stefan Graupner, Kathrin Herbold und Andreas Rauh, München 2010, S. 13–25. 35 Vgl. dazu näher: Welsch, Homo mundanus, S. 894–897.
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Vielleicht vollzieht sich ein ähnlicher Wandel in der Kunst. Die Produktion in sich geschlossener Werke mutet heute, gelinde gesagt, einigermaßen antiquiert an. Sie will gleichsam noch einmal die Substanzontologie beschwören. Demgegenüber herrscht heute eine Zuwendung zu Prozessen vor. Gewiss, das ist, ich habe es schon gesagt, mit einem „Verschwinden der Kunst“ verbunden. Aber andererseits ist es doch auch ein altes Ideal – selbst im europäischen Raum, vor allem aber außerhalb Europas –, dass die Kunst, statt nur für sich zu stehen, einen Beitrag zum besseren, zum gelingenden Leben leisten solle.36 Das scheint mir in Kunstformen, die sich in Prozesse der Wirklichkeit hineinbegeben, angezielt. Insofern hat das „Verschwinden der Kunst“ auch Züge der Einlösung eines alten Ideals. Schließlich: Ich habe heute in vielem den Eindruck, dass sich ein Kreis schließt. Der ästhetische Sinn hat sich, wie ich zuvor unter Rückgriff auf Darwin darlegte, ursprünglich in der Natur entwickelt und zu Zwecken sexueller Werbung gedient. Dann hat er sich autonomisiert, zuerst schon bei manchen Vögeln und dann vollends beim Menschen – und das gesteigert in den letzten 500 Jahren in Europa. Jetzt scheint es, als würde er sich wieder seinem Ursprung zukehren, sich auf neue Weise mit diesem verbinden. Wir suchen eine Kunst, die nicht mehr abgespalten ist von der Wirklichkeit, die nicht mehr für sich ist und der Wirklichkeit gegenübersteht, sondern die von der Wirklichkeit, in der sie operiert, nicht mehr kategorisch unterschieden ist. Die eher ein Transformationselement oder ein Verbesserungsferment dieser Wirklichkeit ist. Die Kunst kehrt in die Wirklichkeit zurück. – Den Museen (ich weiß) könnte Besseres geschehen. Der Kunst wohl kaum.
36 Vgl. Friedrich Schiller: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“ [1795]. Sekundär können natürlich auch Werke einen diesbezüglichen Effekt auslösen. Sie ergreifen und inspirieren die Museumsbesucher, verändern sie. Vgl. Rilkes „Du musst dein Leben ändern“ („Archäischer Torso Apollos“, 1908). Vollends klar ist die Verbindung von Ästhetik und Ethik in der ostasiatischen Tradition, beispielsweise im Daoismus.
Adrian Pipers Funk Lessons – eine Mikropraxis transformierender Affirmation E LKE B IPPUS
Die Herausgeber_innen der vorliegenden Publikation stellen mit Affirmation, Transformation und Kritik Begriffe zusammen, die im Poststrukturalismus neu konzipiert wurden. So spielt beispielsweise die Affirmation in Derridas Versuch, „eine andere Geschichtlichkeit zu denken“1, eine zentrale Rolle, und Jean-François Lyotard hat der Ästhetik der Negation eine affirmative Ästhetik entgegengestellt.2 Gilles Deleuze und Félix Guattari denken Transformation als wesentliches Charakteristikum von Existenz, die einem konstanten Prozess des Werdens gleichkommt.3 In den 1990er
1
Derrida zielt auf eine „Eröffnung der Ereignishaftigkeit als Geschichtlichkeit, die es erlaubte, […] den Zugang zu einem affirmativen Denken des messianischen und emanzipatorischen Versprechens als Versprechen zu eröffnen: als Versprechen und nicht als onto-theologisches oder teleo-eschatologisches Programm oder Vorhaben.“ (Jacques Derrida: Marx’ Gespenster, überarb. Aufl., Frankfurt am Main 1996, S. 124.)
2
Jean-François Lyotard: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982.
3
Gilles Deleuze und Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I., Frankfurt am Main 1974. Insbesondere das Denken von Deleuze gilt in diesem Zusammenhang als ein affirmatives Unternehmen, das „statt auf Repräsentation […] auf Trugbilder, statt auf Negation auf Affirmation, statt auf Identität auf Differenz“ setzt (Christine Blättler: „Serial Sixties auf Französisch. Zur
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Jahren galt der Poststrukturalismus mit diesen Neuperspektivierungen tradierter Begriffe als eigenständiger, radikaler Weg der Gesellschaftskritik, der eine kritische Theorie auf der Höhe der Zeit zu formulieren erlaubt. In den letzten Jahren ist die poststrukturalistische Kritikform allerdings unter Beschuss geraten. Der in der Soziologie jüngst ausgebildete Kritikbegriff grenzt sich von poststrukturalistisch kulturalisierenden Analysen komplexer Kräftekonstellationen und Wissensordnungen ab und verwirft die Problematisierung von Subjekt, Wahrheit und großen Ordnungen zugunsten der Untersuchung von „Gesellschaft als ‚großem Ganzen‘“4. Die Soziologin Silke van Dyk stellt fest, dass die „in poststrukturalistischen Theorien und Cultural Studies zentrale […] Vorliebe für (eigensinnige) Mikropolitiken, komplexe Kräfterelationen und Deutungskämpfe […] so manchem (neuen) Gesellschaftskritiker im Angesicht der großen Krise als überholt“5 gilt. Die poststrukturalistische Kritik, so ein Einwand, habe mit ihrer akademischen Etablierung ihre politischen Dimensionen eingebüßt, sie flüchte in eine für den akademischen Betrieb gefahrlose Abstraktion, in rhizomatische Texturen. Es gehe nur noch um den Tauschwert einer akademischen Theorie, nicht aber um den Gebrauchswert als gesellschaftskritisches Instrumentarium; ein authentisches gesellschaftliches Engagement fehle dementsprechend. Im Kontrast dazu beklagen Vertreter_innen des Poststrukturalismus wiederum, dass die akademische Philosophie das poststrukturalistische Denken weiterhin ignoriere und es lediglich Eingang in kulturwissenschaft-
Ambivalenz der Serie“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 7 [2012] 2, S. 70–79, hier: S. 74). 4
Silke van Dyk: „Poststrukturalismus. Gesellschaft. Kritik. Über Potenziale, Probleme und Perspektiven“, in: Prokla Nr. 167, 42 (2012) 2, S. 185–210, hier: S. 186.
5
Ebd. Die der poststrukturalistischen Kritik gegenüber formulierten Vorbehalte sind keineswegs neu. Bereits in den 90er Jahren wurde ein Verlust von Kritik formuliert, dazumal wurde er jedoch nicht mit dem Argument der Akademisierung bekräftigt. Stattdessen wurde mit der Aufgabe des Subjekts einerseits und einer vom erkennenden Subjekt unterschiedenen, geschichtlich oder natürlich begründeten ‚Wahrheit‘ oder ‚Vernunft‘ andererseits eine Ästhetik der Theorie kritisiert, die deren kommunikative Momente ausblende und das kritischkommunikative Potenzial der zeitgenössischen Sozialwissenschaften vernachlässige.
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liche Fächer gefunden habe.6 Die konstatierte Ignoranz verstehen sie als Komponente „einer allgemeineren diskursiven ‚Aufstandsbekämpfung‘, in der die Ausschweifungen einer ‚gefährlichen Theorie-Klasse‘ möglichst unschädlich gemacht werden sollen“7. In dieser (politisch-theoretischen) Oppositionsbildung droht ein für die Kunst und Kunsttheorie bedeutsamer Aspekt poststrukturalistischer Theoriebildung und Kritik unterzugehen: das kritische Potenzial des Ästhetischen als analytisches und performatives Erkenntnisinstrument. Der Poststrukturalismus hat zu einer Neuperspektivierung der Kunst geführt, die sich nicht am Biografischen oder Rezeptionsästhetischen orientiert, sondern an den ästhetischen Praktiken und deren materialer und formaler Beschaffenheit. Poststrukturalistische Denker reflektierten die ästhetische Strukturiertheit der Theorie selbst und hinterfragten normative Vorstellungen von Wissen und Wissenschaft zugunsten einer neuen Kritik. Roland Barthes hat in den 1960er Jahren eine solche sich den Leseanweisungen der traditionellen französischen Literaturwissenschaft widersetzende Kritik postuliert. Der neuen Kritik geht es nicht darum zu urteilen, sondern Schreibweisen „zu unterscheiden, sie voneinander zu trennen, sie zu verdoppeln“8. Barthes erkennt in der neuen Kritik eine subversive Wirkung, weil sie von der Sprache spreche, „statt sich ihrer einfach zu bedienen“9. Gerade hierdurch greife sie die herkömmliche Ordnung der Sprachen und ihre Hierarchien – etwa jene von Autor und Kommentar – an. Die neue Kritik ziele nicht auf die Wahrheit des Werkes, sondern wünsche zur „Wahrheit des Sprechens selbst“10 vorzudringen. Schreiben wird als ein performativ kritischer Akt
6
In ihrer Einleitung geben die Herausgeber_innen von Inventionen zu bedenken, dass durch den „kleinteiligen Transfer in kulturwissenschaftliche Einzeldisziplinen“ die Theoreme des Poststrukturalismus „häufig ihre transversalen Ansprüche, ihre Intensität und Explosivität“ verlören (Isabell Lorey, Roberto Nigro und Gerald Raunig: „Inventionen. Zur Aktualisierung poststrukturalistischer Theorie“, in: dies. [Hg.]: Inventionen, Berlin 2011, S. 9–19, hier: S. 18).
7
Ebd., vgl. auch Dyk: „Poststrukturalismus“, S. 194.
8
Roland Barthes: Kritik und Wahrheit, Frankfurt am Main 1967, S. 23.
9
Ebd., S. 24.
10 Ebd., S. 59.
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verstanden, wenn es heißt: „Denn schreiben heißt ja wohl, die Welt auf eine bestimmte Weise ordnen“.11 Ähnliche Einwände gegen traditionelle Formen der Kritik finden sich auch in der US-amerikanischen und britischen Konzeptkunst der 1960er Jahre.12 Die Konzeptkunst attackiert mit ihrer selbstkritischen Reflexion und Analyse der Bedingtheit künstlerischer Praktiken das formalistische Prinzip modernistischer Reduktion und das mit ihm einhergehende normative Regelwerk. Die Vertreter_innen der Konzeptkunst, die von der Idee einer kritischen Kunstöffentlichkeit geleitet waren, bezogen sich auf die historischen Avantgarden, vor allem auf den Konstruktivismus und seine Verbindung von „künstlerisch-ästhetischer und wissenschaftlichtheoretischer Produktion“13. Ein Ziel war es, herrschende autoritäre, aber als natürlich geltende Kunstparadigmen durch analytische Verfahren offenzulegen. Während die Gruppe Art & Language paradigmatisch eine analytisch-theoretische und sprachlich orientierte Perspektive propagierte14,
11 Ebd., S. 43. 12 Roland Barthes’ Texte und seine Auseinandersetzung mit der Sprache wurden im US-amerikanischen Kontext der Konzeptkunst rezipiert. In dem aufwändig gestalteten Aspen Magazin Nr. 5/6 erschien Barthes’ „Der Tod des Autors“ in englischer Übersetzung 1967, ein Jahr vor der Veröffentlichung des französischen Originals. In dem Magazin finden sich weiterhin Sol LeWitts Text „Serial Project No. 1 (ABCD)“, Partituren von John Cage, Beiträge von Morton Feldman, Susan Sontag, ein Auszug aus Alain Robbe-Grillets Erzählung Jalousie und andere mehr. 13 Sabeth Buchmann und Tom Holert: „Materielle Praxis, Wissensproduktion. Kollektivität und Kollaborativität als Fluchtlinien des Künstlerischen“, in: Elke Bippus, Jörg Huber und Dorothee Richter (Hg.): „Mit-Sein“. Gemeinschaft – ontologische und politische Perspektivierungen, Zürich 2011, S. 189–213, hier: S. 190. 14 Dementsprechend charakterisieren Ian Burn und Mel Ramsden ihr Vorgehen als systematisches Studium und „Offenlegung sämtlicher beteiligter Vorschriften“ an der Praxis und als eine theoretisch-analytische Methode. Der Bruch mit der Praxis als Basis eines kritischen Tuns ist ihres Erachtens notwendig, da diese determiniert sei und lediglich erlaube, Variationen herzustellen, sich jedoch grundlegend an die gültigen Konventionen und Erscheinungsformen eines Kunstwerkes halte und diese damit stillschweigend akzeptiere und fortführe. Als
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verbinden Konzeptkünstler wie etwa Robert Smithson oder Adrian Piper eine Dekonstruktion der normativen Regeln künstlerischer Praxis mit neuen ästhetischen Verfahrensweisen. Adrian Piper, deren Performances Funk Lessons im Folgenden im Zentrum stehen, problematisiert in selbstkritischer Weise die Bedingtheit künstlerischer Praktiken und Ordnungen, arbeitet an den normativ gültigen Grenzen und setzt eine wirklichkeitserschaffende poetische Kraft der ästhetischen Praktiken, Verfahren und Darstellungsweisen frei. Meine Analyse ihrer Funk Lessons greift die Begriffe Affirmation, Transformation und Kritik auf und konkretisiert diese in der Auseinandersetzung mit Pipers Projekt aus einer poststrukturalistischen Perspektive als politische Mikropraxis.15 Die Künstlerin stellt – so meine These – mittels ästhetischer Praktiken normative Vorstellungen sozialer wie künstlerisch-ästhetischer Wirklichkeit radikal zur Disposition und öffnet mit ihrer Kritik die Möglichkeit neuer Denk- und Handlungsweisen.
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ALS PARTIZIPATIV - KOLLEKTIVES
M EDIUM
Adrian Piper ist eine Konzeptkünstlerin der ersten Generation. In ihrer Arbeit nehmen partizipative Praktiken, die auf künstlerische Verfahren in der
das Hauptproblem der praktischen Kunst beschreiben Burn und Ramsden dementsprechend „eine Tendenz […], die übersieht, daß Praxis auf Regeln beruht und daß die Regeln der Praxis vorangehen“. Ihre Bewegung hin zur Theorie und Analyse verstehen sie als eine „wichtige Verschiebung“ vom „Handeln aus einem gegebenen Kontext heraus (Praxis) hin zu[m] Herausfinden über jenen Kontext (Analysen)“. Den Künstlern geht es darum, neue Verhaltensweisen in das Feld der Kunst und ihre Produktionen aufzunehmen, die außerhalb einer enggefaßten Praxis liegen“ und die das Feld so erweitern, „bis […] [es] einen Begriff von Theorie in sich aufnehmen kann“ (Ian Burn und Mel Ramsden: „Some Notes on Practice and Theory / Einige Bemerkungen über Praxis und Theorie“, in: On Art. Artists’ Writings on the Changed Notion of Art after 1965 / Über Kunst: Künstlertexte zum veränderten Kunstverständnis nach 1965, hg. v. Gerd de Vries, Köln 1974, S. 96–102, hier: S. 97 und 98). 15 Mit dieser Formulierung geht es mir um eine Verschiebung von der Mikropolitik zur Mikropraxis ästhetischer Verfahren, die mittels Praxis auf Reflexion im Unterschied zur politischen Aktion zielen.
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Abbildung 1: Adrian Piper, Funk Lessons with Adrian Piper (Bootsy Poster), 1984. Werbeplakat für Adrian Pipers Funk-LessonsPerformance am Freitag, 23. März 1984, bei New Langton Arts, San Francisco, 46,5 x 61,5 cm. Foto: Phillip Dixon. Quelle: Collection of the Adrian Piper Research Archive Foundation Berlin. © APRA Foundation Berlin
Tradition der Cage-Schule sowie auf die Aktionskünste Fluxus und Happening zurückgehen, einen großen Stellenwert ein. Solche partizipativen Ansätze, die das Publikum durch Anweisungen in den Produktionsprozess integrieren, sind grundlegend für jene künstlerischen Arbeiten, die die Scheidung von Kunst und Wirklichkeit problematisieren.16 Wenn Piper schreibt, dass die Ignoranz und Xenophobie gegenüber der ästhetischen Ausdrucksweise der Kultur der schwarzen Arbeiterklasse von Beginn an auch das Verständnis geprägt habe, das das Publikum ihren Performances entgegenbrachte17, dann verweist sie auf eine grundlegende Verbindung von Kunst und Wirklichkeit auf der Wahrnehmungs- und Verstehensebene. Sie begreift künstlerische Praktiken dementsprechend in ihrer Performativität. Aufgrund dieser Perspektive verwundert es nicht, dass sie ihre künstlerische Arbeit im gesellschaftlich-sozialen Feld ästhetisch-formal übersetzt und zurückspiegelt in das Feld der Kunst, um auch die in ihm verinnerlichten und unbewussten Wahrnehmungsmuster und Vorstellungen aufzustören und zu transformieren.
16 Vgl. hierzu Christian Kravagna: „Arbeit an der Gemeinschaft. Modelle partizipatorischer Praxis“, in: Marius Babias und Achim Könneke (Hg.): Die Kunst des Öffentlichen, Dresden 1998 (http://republicart.net/disc/aap/ kravagna01_de.htm, 7. März 2014). 17 Vgl. Adrian Piper: „Notes on Funk I–IV“, in: Adrian Piper seit 1965. Metakunst und Kunstkritik, hg. v. Sabine Breitwieser, Köln 2002, S. 231–247, hier: S. 239.
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Abbildung 2: Adrian Piper, Funk Lessons Defaced Poster, 1982. Schwarz-WeißReproduktion des Originalplakats, veröffentlicht vom Minnesota College of Art & Design, mit Text auf gerissenem Hartpapier collagiert, 17,8 x 27,3 cm. Quelle: Collection Adrian Piper Research Archive Foundation Berlin. © APRA Foundation Berlin
„get down and party. together.“ (PIPER)
Zwischen 1982 und 1984 hat Piper ihre Funk Lessons. A Collaborative Experiment in Cross-Culture Transfusion, die politische Inhalte mit lustvollen Erfahrungen zu verbinden suchen, durchgeführt. Kurz nach ihrem PhD in Philosophie begann sie mit diesem Projekt. Unter dem Motto „get down and party. together“ unterrichtete sie ein von der Universität, aus der Nachbarschaft und aus dem Kunstfeld kommendes Publikum über die Geschichte des afroamerikanischen Funk und Soul. Ein 15-minütiges, unter der Regie von Sam Samore produziertes Video zeigt Pipers Lessons an der University of California, Berkeley.18 Piper lässt ihren Film mit Aufnahmen der Musikbox beginnen, die an die Bildsprache Dziga Vertovs erinnern und den Apparat und dessen Mechanik in den Blick bringen. Daran angeschlossen ist eine kurze Sequenz, die vorwiegend schwarze Tänzer_innen in einer Disco zeigt und von einer Nahaufnahme ausgehend unmittelbar in die Situation an der U. C. Berkeley wechselt. Die darauf folgenden Aufnahmen
18 Vgl. hierzu http://www.adrianpiper.com/vs/video_fl.shtml (3. Oktober 2014).
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Abbildung 3–4: Adrian Piper, Funk Lessons, 1983, Video, 00:15:17. Regie: Sam Samore, Dokumentation der interaktiven Performance an der University of California in Berkeley. Details: Stills #249 und #251. Quelle: Collection Adrian Piper Research Archive Foundation Berlin. © APRA Foundation Berlin
werden von eingeblendeten didaktischen Sätzen wie „FUNK IS MODULAR“, „FUNK IS IMPROVISATIONAL“ oder „SHOULDER SHRUG“ begleitet. Die filmische Präsentation von Funk Lessons ist eine Montage von Einblicken in die Performance, Sequenzen der bereits anfänglich eingespielten Discoszene, Pipers nachträglich in einem Interview formulierten Erläuterungen, Video-Musik-Clips von James Brown oder Aretha Franklin und einer dokumentarischen Aufnahme einer rassistischen Zuschreibung an die Rock-’n’-Roll-Musik von einem Vertreter des Alabama White Citizens Council, der das Schwarz-Werden der Weißen durch den Rock ’n’ Roll prognostiziert.19 Ausgehend von der verbreiteten rassistischen Ablehnung seitens der weißen Mittelschicht gegenüber dem Funk-Idiom als black working-class culture, setzt Piper in ihren Lessons Funk als kollektives und partizipatorisches Medium der Selbstüberschreitung und Affizierung20 didaktisch ein und macht kulturelle und rassistische Barrieren reflektierbar. Mit „Funk“ und „Lesson“21 montiert die Künstlerin zwei Begriffe, die geradezu gegen-
19 In der dokumentarischen Aufnahme äußert der Sprecher: „[…] the obscenity and vulgarity and the rock ’n’ roll music […]. It is obviously a means by which the white man and his children will be driven to the level of the Negro […]. It is obviously Negro music.“ (Funk Lessons 1983, 6:11 Min.) 20 Vgl. hierzu Piper: Notes on Funk I–IV, S. 232. 21 Insofern ‚dance lesson‘ ein stehender Begriff ist, ist mit ‚lesson‘ nicht allein die (dozierende) Lektion, sondern auch die Übung gemeint.
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Abbildungen 5–6: Adrian Piper, Funk Lessons, 1983, Video, 00:15:17. Regie: Sam Samore, Dokumentation der interaktiven Performance an der University of California in Berkeley. Details: Stills #254 und #257. Quelle: Collection Adrian Piper Research Archive Foundation Berlin. © APRA Foundation Berlin
sätzlich konnotiert sind. Funk steht, so Piper in ihren 1985 publizierten Notizen zu ihren Performances, für schwarze Popmusik und einen Tanzstil, der in den 70er Jahren zur typischen Ausdrucksform schwarzer Kultur wurde. Piper beschreibt Funk als „eine Sprache, die der interpersonellen Kommunikation und kollektiven Selbstdarstellung dient“22. Funk steht für ein gemeinsam gelebtes Vergnügen und ist ein Tanz, der auf „einem System bestimmter Symbole, kultureller Bedeutungen, Haltungen und Bewegungsmuster“ basiert, die „man selbst erfahren muss, um sie zur Gänze verstehen zu können“.23 Während Tanz in der schwarzen Kultur als ein „kollektives, alle mit einbeziehendes Mittel der Selbsttranszendenz und sozialen Vereinigung“24 verstanden wird, nimmt ihn die weiße Kultur „vielfach unter dem Aspekt der Leistung, der sozialen Würde und Kompetenz sowie der publikumsorientierten Unterhaltung“25 wahr.
22 Piper: Notes on Funk I–IV, S. 231. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd.
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In ihren Performances greifen körperliche Erfahrungen musikalischtänzerischer Grundelemente mit Informationen zu kulturellen Hintergründen wie etwa die der Beziehung des Funk zu anderen, „weißen“ Musiken ineinander. Die Performance, die laut Piper mehr als sechzig Personen adressiert, vermittelt hierdurch nicht allein ein Gemeinschaftserlebnis, sie verbindet Erleben und Reflexion. Die Affirmation von Funk lädt dergestalt nicht zum bloßen identifikatorischen Rausch ein, die affektive Kraft von Funk wird vielmehr unterbrochen. Darin ist Pipers Verfahren mit Bertolt Brechts Modell des epischen Theaters vergleichbar, das nach Walter Benjamin imstande ist, aus Lesenden oder Zuschauern Mitwirkende zu machen und die Akteure zur Stellungnahme zu ihrer eigenen Rolle aufzufordern. Hervorgerufen wird diese Reflexion nach Benjamin durch das Prinzip der Unterbrechung, das er als ein Verfahren der Montage beschreibt. Das „Montierte unterbricht ja den Zusammenhang, in welchen es montiert ist. […] Die Unterbrechung der Handlung, derentwegen Brecht sein Theater als das epische bezeichnet hat, wirkt ständig einer Illusion im Publikum entgegen. Solche Illusion nämlich ist für ein Theater unbrauchbar, das vorhat, die Elemente des Wirklichen im Sinne einer Versuchsanordnung zu behandeln.“26
Die Unterbrechung hat eine organisierende, sich von einer Reizreaktion emanzipierende Funktion: „Sie bringt die Handlung im Verlauf zum Stehen und zwingt damit den Hörer zur Stellungnahme zum Vorgang, den Akteur zur Stellungnahme zu seiner Rolle.“27 Piper verwandelt die ursprüngliche Lernsituation der Unterrichtsstunde durch Gespräche in kleinen Gruppen28 zu einer „didaktischen Grundlage der Zusammenarbeit“ und hebt „die Trennung in Publikum und Performer
26 Walter Benjamin: „Der Autor als Produzent. Ansprache im Institut zum Studium des Fascismus in Paris am 24. April 1934“, in: Walter Benjamin: Medienästhetische Schriften, Ausw. u. Nachw. v. Detlev Schöttker, Frankfurt am Main 2002, S. 231–247, hier: S. 244 f. 27 Ebd., S. 243 f. 28 Laut Piper gelang es, die ausgelösten Reaktionen in kleinen parallel zu den Events veranstalteten Gruppen zu artikulieren und manchmal auch abzubauen. Das Ergebnis solcher Treffen schildert sie als „kathartisch, therapeutisch und intellektuell stimulierend“ (Piper: Notes on Funk I–IV, S. 236).
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auf“.29 Anstelle eines bloßen Dozierens versucht sie deutlich zu machen, dass das, was sie „zu ‚lehren‘ vorgab“, ein „fundamentales sinnliches ‚Wissen‘“ ist, „das jede/r besitzt und anwenden kann“.30 Die Performance strebt keine „wohlwollende Erfahrung von oder Partizipation an schwarzer Kultur an“31, ebenso wenig geht es um die Mitwirkung an einem Kunstwerk wie in der interaktiven Kunst, und auch nicht darum, ein dumpfes Gefühl von Gemeinschaft zu stiften. Die Beteiligten werden vielmehr als immer schon Teilhabende adressiert; sie sind Teil eines historisch-kulturellen Dispositivs, in dem sie sich subjektivieren, ihre Identität, ihr Denken, ihre Wahrnehmung, ihre Vorstellungen und ihre Haltung ausbilden. Die Prozesse der Subjektivierung werden von Piper nicht auf kognitive Prozesse reduziert. Im Gegenteil reflektiert sie in ihrer Performance das Zusammenspiel zwischen Selbstpraktiken und diskursiv vermittelten Normen und versucht, Funk von seiner normativen Engführung zu lösen, indem sie ihn in einzelne Übungen zerlegt, um ihn so in neuartiger Weise für Individuationsprozesse wirksam werden zu lassen. So heißt es in einem zu den Funk Lessons ausgeteilten Handout: „1. Entspannter Rücken […] 4. ‚Isolierung‘ der einzelnen Körperteile […] 7. Personalistisch: Festgelegte Tanzkonventionen können zum Zweck des individuellen Selbstausdrucks spielerisch variiert werden. […] 9. Partizipatorisch und nicht exhibitionistisch: Tanz als integratives Gemeinschafts-Event, nicht als Unterhaltung für ein passives Publikum. […] 12. Repetitiv: Die Muster werden wiederholt, und zwar so oft, bis sie ‚sitzen‘. 13. Improvisierend: Einfachere Körperbewegungen gehen in komplexere Bewegungen über, die graduell oder augenblicklich die ausgeprägteren Muster verändern.“
29 Ebd., S. 233. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 244.
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ALS WIDERSTÄNDIGE
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Piper möchte „die soziale Identität der beteiligten Personen neu strukturieren, und zwar dadurch, dass ihnen ein gemeinsames Kommunikationsmedium – Funk-Musik und -Tanz – zur Verfügung gestellt wird“32. In den Funk Lessons werden Körper- und Denkpraktiken in Beziehung gesetzt, Affekte unterbrochen und neue Affizierungen und damit transformierende Subjektivierungen möglich. Piper reflektiert Affekte als von historischen, kulturellen oder sozialen Deutungsmustern strukturiert und determiniert.33 Indem sie Funk in einzelne Körperübungen aufgliedert, zerstückelt sie auch das einheitliche und als Identifikationsangebot wirkende Bild von Funk, das bei den von Piper befragten weißen und schwarzen College-Absolvent_innen aus der Mittelschicht je unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen hat.34 Sie demontiert die affirmativ-identifikatorischen wie aversivrassistischen Dimensionen dieses Bildes und transformiert Funk in ein kulturelles Kommunikationsmedium, das nicht an stereotypen Mustern ausgerichtet ist, sondern essenzialistische Zuschreibungen wie die auf Dichotomien basierenden Adressierungen gerade infrage stellt. Piper verbindet Erleben mit Analyse und eine genießende mit einer kritischen Haltung. Sie schafft ein Milieu (das Kommunikationsmedium Funk), in dem sich
32 Ebd., S. 236. 33 Nach Butler sind wir „in die soziale Produktion von Affektivität eingebunden, bevor wir einen Affekt als unseren fühlen und behaupten können; unser Affekt ist mithin niemals bloß unser eigener. Affekte werden, von Anfang an, von anderswoher vermittelt. Soziale Deutungsmuster veranlassen uns dazu, die Welt in einer bestimmten Weise wahrzunehmen, für bestimmte Dimensionen der Welt zugänglich zu sein und anderen zu widerstehen. Reaktionen sind immer Reaktionen auf einen in bestimmter Weise wahrgenommenen Zustand der Welt.“ (Judith Butler: „Über Lebensbedingungen“, in: dies.: Krieg und Affekt, Zürich/ Berlin 2009, S. 11–52, hier: S. 35 f.) 34 Weiße begegneten der Musik mit Angst, Wut und Verachtung, Schwarze reagierten wiederum mit Gefühlen der Herablassung oder Verlegenheit. Die Reaktionen auf die Funk Lessons waren dementsprechend durchaus konträr, die einen wollten die therapeutischen Effekte nutzen und ihre tief verwurzelten rassistischen Stereotype bearbeiten, die anderen hatten Bedenken ob der didaktischen Seite der Arbeit. Vgl. hierzu Piper: Funk Lessons 2002, S. 233.
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Subjektivierungen auf mikropraktischer Ebene in der Einübung einer „bestimmten Körpersprache vollziehen, zu deren Verwendung sich schließlich alle ermächtigt fühlten“35. Pipers Funk Lessons lassen sich folglich insgesamt als repräsentationskritische Analyse und als Übung zur Selbstermächtigung beschreiben. Die von Piper angestrebte heterogene und diversifizierte soziale Gemeinschaft steht im Widerspruch zur US-amerikanischen Gesellschaft der 1980er Jahre, die sich durch Homogenisierung und Assimilation auszeichnete und in der den Schwarzen allein durch Anpassung eine gewisse politische, ökonomische, soziale und kulturelle Gleichstellung gelang.36 Die Inklusion in die (weiße) Gemeinschaft war mit der Exklusion bestimmter kultureller Lebenspraktiken verknüpft. So galt es für Piper auf den Funk, den sie als zentralen Teil ihres Lebens und ihrer Identität als schwarze Frau beschreibt, als ein kulturelles Kommunikationsmedium zu verzichten. Sie begegnete dieser Forderung und Zumutung mit der Strategie, „dieses Medium mit meinem Publikum zu teilen, um es in meiner Arbeit erfolgreich als Kommunikationswerkzeug oder gemeinsame Sprache einsetzen zu können, die als solche auch anerkannt und verstanden würde“37. Pipers Affirmation von Funk verdankt sich einer kritischen Reflexion der als natürlich angenommenen Normen der weißen Gesellschaft und ihrer Hochkultur sowie der Weigerung, sich diesem Wertesystem unter- oder sich in es einzuordnen. Piper musste das Verständnis ihrer Rolle als Künstlerin und den von ihr erlangten Status als relativ privilegiertes Mitglied der (weißen) Gesellschaft radikal infrage stellen, um Funk als „eine unglaublich vielfältige und bereichernde Kunstform“ aufzugreifen und ihn als „kulturellen ‚Gewinn‘“ ihres überwiegend „weißen Publikums aus der oberen Mittelschicht“38 zu vermitteln. Um zu erkennen, dass die „schwarze ArbeiterInnenklassenkultur […] für dieses Publikum eine unendliche Bereicherung dar[stellt] – und nicht immer nur umgekehrt“39, war es notwendig, sich von der sozialen Hierarchie zu emanzipieren und nicht in ihr aufzugehen.
35 Ebd., S. 232. 36 Vgl. ebd., S. 237. 37 Ebd., S. 239. 38 Ebd., S. 240. 39 Ebd. Mit dieser Sichtweise emanzipierte sich Piper von ihrer anfänglich Annahme, die davon „ausgegangen [war], dass jede sinnvolle politische Arbeit auf
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Piper reflektiert die Bedingungen der In- oder Exklusion in der Wirklichkeit und der Kunst. Sie problematisiert einerseits die Ansprüche, Forderungen und Zumutungen, die mit dem Partizipationsangebot, Teil der weißen Kultur und Gemeinschaft zu sein, verbunden sind, und andererseits die zu leistenden und häufig unbewusst bleibenden Anpassungen an die Werte der Kultur, an der man teilzuhaben wünscht. In ihren Performances bekräftigt sie die verschiedenen kulturellen Dimensionen ihrer Identität und lotet sie aus. Sie nutzt die je unterschiedlichen Kommunikationsregeln und Ausdruckweisen, die sie sich im Lauf ihrer Akkulturation innerhalb der weißen Kultur angeeignet hat – „das analytische Denken, die formale und strukturale Analyse, den Prozess des überlegten und konstruktiven rationalen Dialogs, den pseudo-akademischen Vortragsstil“40 und so weiter. Ihr geht es darum, mit Leichtigkeit zwischen den differenten Verfahren der Kulturen hin- und herzuwechseln. Die Überlagerung von soziokulturellem Erleben und analytischer Reflexion in der Performance und im Video Funk Lessons legt die amerikanische Kultur als eine afroamerikanische offen, die ihre ‚Blackness‘-Anteile unterdrückt und als fremdes und bedrohlich Anderes konstruiert, um ein identitäres weißes Sein zu behaupten. Die Performances der Funk Lessons zielen auf ein Anderswerden, indem sie eine Irritation provozieren und diese für die Partizipierenden existenziell spürbar werden lassen. Das Video inszeniert das ereignishafte und sinnlich erfahrene Geschehen der Performance. Diese ästhetische Übersetzung im Medium Video verkörpert und performiert41 das implizite fundamental sinnliche Wissen, von dem Piper
den Privilegien meiner Mittelschichtsausbildung und ästhetischen Akkulturation aufbauen müsse, die ich ‚zugunsten‘ der benachteiligten Bevölkerungsschicht, aus der ich kam, einsetzen wollte; so als wären diese Privilegien eine unendliche Bereicherung, mit nichts vergleichbar, was diese Schicht selbst zu bieten hat, und als müsse man sie so weit wie möglich zu verbreiten versuchen. Aus heutiger Sicht erscheint mir diese Haltung bevormundend und elitär, und zwar im Hinblick darauf, wer wem welche Werte zu bieten hat.“ 40 Ebd., S. 241. 41 Verkörperung meint hier kein magisches Zusammenfallen von Zeichen und Bezeichnetem, vielmehr wird verkörperndes Darstellen als ein Herstellen verstanden. Vgl. hierzu Sybille Krämer: „Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Thesen über Performativität als Medialität“, in: Paragrana 7 (1998) 1, S. 33–57.
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ausgeht, und führt es dem Kunstsystem zu – als Text sowie als höchst komponiertes, filmisch montiertes Zusammenspiel von Bild- und Textmaterialien unterschiedlicher Herkunft. Dabei wendet sich das Mediale gegen das Mediale, wenn dieses auf die Funktion einer bloßen Übermittlung reduziert wird; anders gesagt, das Video vermittelt seine Performanz, unterbricht die referenziellen Bezüge und verweist so auf das, was sich der Repräsentation entzieht, und öffnet sich zugleich vielfältigen Diskursivierungen. Mit Gilles Deleuze und Félix Guattari ließen sich Pipers Funk Lessons als eine mikropolitische Kritik beschreiben. Die „Mikropolitik“, wie sie von Deleuze und Guattari gedacht ist, bezeichnet ein politisches Experiment, ein politisches Engagement, das auf die durch den Kapitalismus bewirkte Neutralisierung „revolutionärer Politik“ und des „revolutionären Subjekts“ seit den 1970er Jahren reagiert: Der Kapitalismus entwickelt „eine ökonomische Ordnung […], die ohne Staat auskommen kann“.42 Die Disziplinargesellschaft wird durch die Kontrollgesellschaft abgelöst, und die mit ihr wirksam werdenden Machtformationen operieren über flexible Normalisierungsanforderungen. Infolge dieser Veränderungen werden die Taktiken und Strategien einer revolutionären Politik, die sich gegen eine repressive Normierung wenden, wirkungslos. Denn die Normen werden nicht länger repressiv aufgezwungen, sie ergeben sich vielmehr als wandelbare aus der Fülle der gesellschaftlichen Differenzen und Abweichungen und dienen als Richtwerte, die abgelehnt wie begehrt werden. Die Individuen adjustieren ihr Verhalten ihnen entsprechend selbst.43
42 Gilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1997, S. 630. 43 Die Mikropolitik deckt deshalb in widerständiger Absicht unterhalb der großen, als molar bezeichneten Einheiten (Staat, Gesellschaft, Kirche, Schule, Kapital, Unternehmen etc.) mikroskopische Phänomene auf und kartografiert gleichsam Bewegungen, Linien und Kräfte. Sie achtet dabei insbesondere auf solche Linien, die nicht vollständig der staatlichen Codierung unterworfen sind, aber auch auf die staatlich codierten binären Gegensätze sowie auf „Fluchtlinien“ der Decodierung, die sich den Machtzentren und Machtkonzentrationen zu entziehen versuchen. Die mikropolitische Strategie versucht Molares und Molekulares zu einem Gefüge zu verklammern, um sich den Zuordnungen der Verhaltensregierung und den Indienstnahmen zu entziehen und um sich als politisches und zugleich als existenzielles Subjekt zu behaupten. Vgl. dazu Manola Antonioli:
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Piper scheint sich insbesondere für diese Praktiken der Selbstzurichtung zu interessieren, wenn sie ihre ästhetischen Verfahren mit körperlichen Selbstpraktiken verknüpft. Ich werde, um gerade diese Bedeutung der Arbeit für den individuellen Körper herauszuarbeiten, den Begriff der Mikropraxis einführen.44 Denn auch wenn vielfältige Berührungen und Überschneidungen zwischen Mikropolitik und Mikropraxis zu finden sind, so können mit dem Begriff der Mikropraxis verstärkt jene Machtprozeduren der Gouvernementalität45 in den Fokus gerückt werden, die auf den individuellen Körper zielen. In der Familie wie in Institutionen – etwa der Schule, den Krankenhäusern und Unternehmen – werden Selbstpraktiken eingeübt, durch die sich das Individuum in irreduzibler Weise auf sich selbst bezieht und sich subjektiviert. Die Mikropolitik dagegen lässt sich insbesondere mit der Biomacht in Beziehung setzen, die auf die Bevölkerung und insofern auf den Gattungskörper als das zu kontrollierende und zu beeinflussende Objekt gerichtet ist und die beispielsweise mittels Diskurspraktiken wirksam wird, die epistemologische Regeln der Produktion von Wissen festlegen. Diese Differenzierung impliziert nicht, dass sich Mikropraktiken unabhängig von Diskurspraktiken ausbilden. Im Gegenteil: Körperliche Mikropraktiken sind immer auch von mentalen Repräsentationen begleitet. Die Entwicklungspsychologie zeigt, dass Mikropraktiken zu-
„Fluchtlinien des Politischen. Über mikropolitische Gefüge und das MinoritärWerden“, in: Ralf Krause und Marc Rölli: Mikropolitik. Eine Einführung in die politische Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari, Wien/Berlin 2010, S. 7–26, hier: S. 16. 44 Die Überlegungen zur Mikropraxis verdanke ich meiner gemeinsamen Forschungsarbeit mit Sebastian Dieterich und Wiktoria Furrer in dem Projekt „Mikropraxis. Formen des Widerstands und Engagements“. Das Forschungsprojekt wird an Zürcher Hochschule der Künste durchgeführt und ist zugleich ein Teilprojekt der von Beate Ochsner und Isabell Otto geleiteten Forschergruppeninitiative „Mediale Teilhabe. Partizipation zwischen Anspruch und Inanspruchnahme“ der Universität Konstanz. 45 Foucault nennt die „Verbindung zwischen den Technologien der Beherrschung anderer und den Technologien des Selbst […] ‚Gouvernementalität‘“ (Michel Foucault: „Technologien des Selbst“, in: ders.: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, hg. v. Daniel Defert u. a., Frankfurt am Main 2007, S. 287– 300, hier: S. 289).
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nächst im Kontakt zu den Bezugspersonen ausgebildet werden, in weiteren Entwicklungsphasen kommen „soziale körperliche Mikropraktiken hinzu, die im Sinne erlernter Nuancen […] sozial normativ sind“46. Mikropraktiken sind zutiefst ambivalent. Sie lassen das Individuum über den Körper systemkonform werden, sie können aber ebenso in widerständiger Weise wirken und die verinnerlichten und normierten Körperpraktiken öffnen und für neue Affizierungen durchlässig werden lassen. Die Mikropraktiken Pipers mobilisieren die Ambivalenz eines körperlichen Wissens. Mit ihren Übungen unterbricht sie internalisierte körperlich-perzeptive Bahnungen, stört deren affektive Wirksamkeit und eröffnet gerade hierdurch die Möglichkeit neuer Affizierungen. Anders gesagt, ihre ästhetischen Verfahren reduzieren die körperlichen Affekte nicht auf Reizreaktionen, sondern aktivieren vielfältige Affizierungen, um mit ihnen transformierende Subjektivierungen möglich werden zu lassen, das heißt Subjektivierungen, die sich von binären Mustern emanzipieren. Die Übungen können verhärtete habitualisierte Körperpraktiken buchstäblich in Bewegung versetzen und so die normativen Vorstellungen und Zuschreibungen von Funk auf einer mikropraktischen Ebene wirkungslos werden lassen. Auf dieser körperlichen Grundlage können Kräfte mobil werden, die sich widerständig zeigen gegenüber der Macht der Normen, die über die Dualismen und die Optimierung der Differenzierungen und Individualisierungen wachen. Die künstlerisch-ästhetischen Praktiken in Funk Lessons entsprechen grundlegenden Annahmen des mikropolitischen Denkens, wie etwa jener, dass ein politisches Projekt nicht abzuspalten ist von einer Lebensform, dass ein verändertes Verhalten der Individuen sich auf die Gestaltung der
46 Die körperliche Mikropraxis wird in der Entwicklungspsychologie als eine Kompetenz eigener Art beschrieben, als verkörperte Fertigkeiten. Sie steht „für das, was gelegentlich als prozedurales oder implizites Wissen bezeichnet wird, einem ‚Wissen-Wie‘ im Unterschied zu einem ‚Wissen-Dass‘“ (George Downing: „Frühkindlicher Affektaustausch und dessen Beziehung zum Körper“, in: Gustl Marlock und Halko Weiss [Hg.]: Handbuch der Körperpsychotherapie, Stuttgart 2006, S. 333–350, hier: S. 335 u. 337).
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Welt auswirkt, aber auch dass „keine Situation vollständig durch ideologische Strukturen oder Kodierungen vorherbestimmt“47 werden kann. Anders als in der Mikropolitik, die dem Ereignis eine zentrale Funktion zuerkennt, das der ökonomischen, sozialen und politischen Geschichte immanent ist, ohne dass es auf sie reduziert werden könnte, setzt Piper auf eine mikropraktische, das heißt auf eine sinnlich-körperliche Arbeit, die gleichwohl, da sie die Aufteilung des Sinnlichen48 modifiziert und eine Sensibilität für (Mikro-)Ereignisse herstellt, auch mikropolitische Effekte haben kann. Damit ist gemeint, dass Pipers Performances die Wirkung eines Ereignisses, wie es aus einer mikropolitischen Perspektivierung bestimmt ist, entfalten können: Sie eröffnen neue Handlungsmöglichkeiten und neue Subjektivierungsweisen.49 Mit Maurizio Lazzarato kann diese „augenblickliche subjektive Veränderung“ beschrieben werden als ein „Akt des Widerstandes […] und der Hervorbringung von Möglichkeiten, deren Konturen nicht klar und deutlich abgesteckt sind“.50 Die hier beschriebene
47 Brian Massumi: „Über Mikroperzeption und Mikropolitik. Brian Massumi im Interview mit Joel McKim“, in: ders.: Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin 2010, S. 69–103, hier: S. 79. 48 Jacques Rancière legt dar, dass der Politik selbst eine Ästhetik zugrunde liegt, die – so formuliert Rancière mit Foucault – bestimmt, „was der sinnlichen Erfahrung überhaupt gegeben ist. […] Die Politik bestimmt, was man sieht und was man darüber sagen kann, sie legt fest, wer fähig ist, etwas zu sehen und wer qualifiziert ist, etwas zu sagen, sie wirkt sich auf die Eigenschaften der Räume und die der Zeit innewohnenden Möglichkeiten aus.“ Auf dieser Basis einer „primären Ästhetik“ gilt es ästhetische Praktiken dahingehend zu befragen, welche Formen der Sichtbarkeit sie produzieren, welchen Ort sie einnehmen und „was sie im Hinblick auf das Gemeinsame ‚tun‘“ (Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, übers. v. Maria Muhle, Susanne Leeb und Jürgen Link, Berlin 2006, S. 26 f.). 49 Das Ereignis überschreitet, folgt man Maurizio Lazzaratos Charakterisierung, augenblicklich und kollektiv eine Schwelle, es erzeugt „einen Bruch, eine Diskontinuität in der ‚Geschichte‘, aber auch in der Subjektivität“ (Maurizio Lazzarato: „Die Dynamik der politischen Ereignisse. Subjektivierungsprozesse und Mikropolitik“, in: Lorey, Nigro und Raunig [Hg.]: Inventionen, S. 151–174, S. 167). 50 Ebd.
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Mikropraxis Pipers führt – dies macht sie dem Ereignis vergleichbar – in einen instabilen Zustand und setzt die bestehenden Gesetze, Normen und Werte außer Kraft. Sie eröffnet Subjektivierungsprozesse, deren „Seinsund Handlungsmodalitäten noch unbestimmt sind“. Die Mikropraxis kann aus dieser Perspektive wie das Ereignis als eine Öffnung beschrieben werden, als „eine Möglichkeit zur Selbstveränderung und infolgedessen eine Möglichkeit zur Veränderung der soziopolitischen Situation“.51
A FFIRMATION – T RANSFORMATION – K RITIK Pipers Affirmation transformiert das vermeintlich Affirmierte, und gerade hierin liegt ihr kritisches Potenzial. Das Transformierte durchquert die dichotomen Zuschreibungen von Funk und nimmt hierdurch der Logik von Affirmation und Negation ihre Basis. Piper transformiert das Bild von Funk, ohne die Spezifik der Funk-Praxis aufzulösen. Pipers Projekt besticht darin, dass es die Verschränkung von Kunst und Wirklichkeit auf der Ebene der Wahrnehmung, des Denkens und der Kritikfähigkeit erkennbar macht. Die Künstlerin limitiert ihre künstlerische Praxis nicht auf das Atelier, nicht auf die individuelle Arbeit am Material, nicht auf die bloße Produktion eines Objekts: Sie verlässt sich nicht auf die Arbeitsteilung von Praxis und Theorie. Im Gegenteil, sie nimmt aktiv teil an der Diskursivierung ihrer Arbeiten.52 Sie legt rassistische Werturteile und Wahrnehmungsweisen in der Kunst offen, kennzeichnet blinde Flecken und macht Beschränkungen und unbewusste kulturelle und soziale Vorstellungen sichtbar, erfahrbar und reflektierbar. Solche Entgrenzungen zwischen Künstler und Kunsttheoretiker/-kritiker gehören zu den Prinzipien der Konzeptkunst. Die aktive Teilhabe an der Diskursivierung von Kunst trägt dazu bei, sie zu einem zeitdiagnostischen Instrument und zum Medium des Denkens und Handelns zu machen, das – um auf Barthes’ zitierte Formulierung zu rekurrieren – die Welt auf eine bestimmte Weise ordnet.
51 Ebd., S. 167 f. 52 Auf ihrer Website stellt Piper das Material ihrer Arbeiten digital zur Verfügung, sie publiziert Texte, hält Vorträge und führt seit 2002 ein umfangreiches Archiv, die Adrian Piper Research Archive Foundation (APRA) mit Sitz in Berlin, wo Piper seit 2005 lebt und arbeitet.
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Piper greift mit ihren Verfahren Strategien emanzipatorischer Konzepte der Avantgarde auf: die Schaffung einer spezifischen experimentellen Situation, die Benjamin einst auf Brecht bezogen als dramatisches Laboratorium53 bezeichnete. Die Mikropraktiken Pipers entsprechen nicht den Vorstellungen von einem (spektakulären und einschneidenden) Ereignis. Gleichwohl ist ihnen das Moment der Unterbrechung ebenso inhärent wie dasjenige der Aufstörung und Irritation von verinnerlichten Affekten. Hierdurch können die mikropraktischen Übungen ein widerständiges Potenzial entfalten. Die Kritik/Politik von Pipers Projekt ist nicht urteilend und nicht revolutionär im Sinne einer radikalen Umwälzung. Ihre Mikropraktiken transformieren den Subjektivierungsapparat, und sie theoretisieren und diskursivieren diese Praktiken in den ästhetischen Übersetzungen, die zur Ausstellung gelangen, das heißt dem Video und den dazugehörigen BildText-Materialien. Mit ihnen performiert Piper gleichsam das DiskursivWerden ihrer Praxis. Pipers praxeologisch54-analytischer Ansatz vermittelt sich als ein radikal ästhetisches Verfahren, das an einem fundamental sinnlichen Wissen ansetzt, körperliche Disziplinierungen, die den reduktionistischen Vorstellungen von Funk als einem unmittelbaren affektiven Ausdruck folgen, auf-
53 Nach Benjamin stellt Brecht dem Gesamtkunstwerk das dramatische Laboratorium gegenüber (Benjamin: „Der Autor als Produzent“, S. 244). Auch in der bildenden Kunst gab es in dieser Zeit Bemühungen, Kunst als analytisches Instrument erkennbar zu machen. 1929 verweist Sigfried Giedion in seinem Aufsatz „Lebendiges Museum“ auf die Notwendigkeit, in jeder öffentlichen Institution ein „Versuchslaboratorium“ einzurichten, das heißt eine „Abteilung, die die im Augenblick zur Diskussion stehenden Kunstrichtungen zu Wort kommen läßt“, um sich mit ihr aktuellen Fragestellungen zuzuwenden (Sigfried Giedion: „Lebendiges Museum“, in: Der Cicerone. Halbmonatsschrift für Künstler, Kunstfreunde und Sammler 21 [1929] 4, S. 103−106, hier: S. 103). Vgl. hierzu auch: Elke Bippus: „Kann man im Ausstellungsraum forschen? oder: Die Ausstellung zwischen Labor und Verhandlungsraum von Wissen“, in: Anke te Heesen und Margarete Vöhringer (Hg.): Wissenschaft im Museum – Ausstellung im Labor, Berlin 2014, S. 196–215. 54 Vgl. hierzu Andreas Reckwitz: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, insbesondere das Kapitel „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken“, S. 97–130.
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löst und Funk zu einem affizierenden Kommunikationsmedium werden lässt, zu einer interpersonellen Kommunikation und kollektiven Selbstdarstellung. Pipers ästhetisches Verfahren realisiert so eine immanente Kritik im Sinne Brian Massumis – das heißt eine Kritik, die in der Tradition eines poststrukturalistischen Denkens differenzierend und pluralisierend verfährt und gerade hierdurch aktiv ihre Entstehungsbedingungen verändert: Statt zu beurteilen, bezieht sie das Werden mit ein.55
55 Massumi: „Über Mikroperzeption und Mikropolitik“, S. 92.
Denken der Ankunft Pierre Huyghes Untilled D OROTHEA VON H ANTELMANN
Pierre Huyghes Beitrag für die dOCUMENTA (13) erforderte einigen Einsatz, um überhaupt entdeckt zu werden. Nicht nur hatte sich Huyghe mit der weit hinten im Aue-Park gelegenen Kompostieranlage für einen ausgesprochen dezentralen Ausstellungsort entschieden. Auch war der Kunstcharakter dieses Ortes, hatte man ihn denn gefunden, alles andere als evident. Man befand sich in einer Art überwucherten Brache: bewachsene Komposthügel, durch die ein Weg, stellenweise eher Trampelpfad, mit veralgten Pfützen führte. Reifenspuren zeugten von menschlicher Präsenz. Auf den Hügeln wucherten Pflanzen und Unkraut, am Rande des Pfads lagen gestapelte Gehwegplatten und ein Haufen schwarzer Splitt, am Fuß einer Eiche hatte sich eine Ameisenkolonie angesiedelt. Selbst auf den zweiten oder dritten Blick blieb unklar, was hier künstlerisch gestaltet war und was nicht, wo die Kompostieranlage aufhörte und das Kunstwerk anfing. Es gab so etwas wie ein Zentrum der Arbeit: eine liegende Figur aus Beton auf einer Freifläche inmitten dieser Brache – die Replik eines Werkes des Bildhauers Max Weber aus den 1930er Jahren –, die anstelle eines Kopfes einen Bienenstock auf den Schultern trug, der von einem wabernden, summenden Bienenschwarm bevölkert war, sowie die elegante weiße Windhündin Human, die mit ihrem pink gefärbten Bein zu einem Wahrzeichen dieser Documenta avancierte. Andere Elemente der Arbeit erschlossen sich mit der Zeit: Die Komposthügel waren mit psychotropen, medizinischen und aphrodisierenden Gewächsen wie Fingerhut, Tollkirsche und
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Stechapfel bepflanzt. Auch Cannabis war dabei sowie Roggen, ein an sich völlig harmloses Getreide, das aber besonders gern vom Mutterkorn besiedelt wird, einem Pilz, aus dem man LSD extrahieren kann. Irgendwann ahnte man, dass die gestapelten Gehwegplatten ebenso arrangiert waren wie das Wasserbecken, in dem sich Kaulquappen tummelten. Huyghe hatte in der Kompostieranlage mehrere Artefakte – er spricht von ‚Markern‘ – aus verschiedenen Zeiten und Kontexten versammelt. So erinnerten die gestapelten Gehwegplatten an die Form- und Materialästhetik der Minimal Art, während ein gefällter Baum auf Robert Smithsons dead tree von 1969 verwies. Eine zwischen den Steinplatten liegende umgekippte Bank war Teil von Dominique Gonzalez-Foersters Installation auf der Documenta11, und eine umherliegende vertrocknete kleine Eiche gehörte zu den 7000 Eichen von Joseph Beuys. Einige dieser Markierungen waren offensichtlicher, andere wenn überhaupt nur mithilfe einer im Kurzführer veröffentlichten Zeichnung des Künstlers als solche erkennbar. Zu diesen gehörten verschiedene physische Adaptionen fiktionaler Elemente aus literarischen Texten. Angeblich lief eine Schildkröte in der Kompostieranlage umher, die Huysmans’ ästhetizistischem Roman Gegen den Strich entnommen war. Und der junge Mann, der nahezu immer anwesend war, um sich um Hund und Pflanzen zu kümmern, verkörperte mit seinen beständig wiederholten, immer gleichen Handlungen eine Referenz an die lebendigen Toten im Garten von Raymond Roussels phantastischem Roman Locus Solus. Es gab aber auch Aspekte der Arbeit, die offen blieben. Ich weiß bis heute nicht, ob Huyghe die Hügel aufgeschüttet hatte oder ob diese bereits vorher da waren, ob der Weg angelegt war und welche Pflanzen an diesem Ort wuchsen beziehungsweise welche er gepflanzt hatte. Die Bienen und der Ameisenhaufen waren ebenso arrangiert wie das Wasserbassin und die Steinhaufen. Aber was war mit anderen an der Grenze der Sichtbarkeit liegenden Ökosystemen (wie etwa den Kaulquappen)? Waren sie Teil der Arbeit? Ein Zusammenspiel von Gestaltung und Ungestaltetheit prägte diesen Ort und ließ ihn merkwürdig aufgeladen erscheinen, als einen Ort, an dem die künstlerische Arbeit, die in seine Komposition gesteckt worden war, spürbar wurde, auch wenn sich diese Komponiertheit nie ganz aufschlüsselte. Landschaften sind ein durchgängiges Thema der Filme Huyghes. So beginnt Streamside Day Follies (2003) mit der Darstellung eines pastoralen Gartens, der als eine Art Prolog oder Matrix fungiert für das folgende fik-
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tionale Narrativ über die Bildung einer sozialen Gemeinschaft. In One Million Kingdoms (2001) wandert eine animierte Mädchenfigur durch eine Mondlandschaft, deren Gestalt den Höhen und Tiefen der aufgezeichneten Schallwellen der Stimme Neil Armstrongs folgt. Die historischen Äußerungen Armstrongs überlagern sich dabei mit Exzerpten aus Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde. Der Topos der Expedition zum Unbekannten bestimmt auch A Journey that Wasn’t (2005), eine Reise in die Antarktis auf der Suche nach einem Albinopinguin, die Huyghe dann in eine musikalische Aufführung auf dem Eisfeld des New Yorker Central Parks übersetzt. Ähnlich wie bei Robert Smithson, auf den sich Huyghe immer wieder bezieht1, geht es in diesen Arbeiten um das Verhältnis von Erfahrung und Repräsentation, von ‚site‘ und ‚non-site‘. Nur realisieren sich Huyghes Arbeiten anders als bei Smithson nicht als Dialektik zwischen einem außerhalb der Zivilisation liegenden ursprünglichen ‚site‘ (der Wüste bei Smithson) und einem diskursiv geformten ‚non-site‘ (etwa dem Ausstellungsraum), sondern als Schaffung einer topografischen Struktur, die weder das eine noch das andere ist und eher einen Raum dazwischen markiert beziehungsweise einen Ort, der beides zugleich sein kann. In A Journey that Wasn’t verschränken sich die Bilder der Antarktisexpedition mit den Nachtaufnahmen der Skyline von Manhattan und einer Menschenmenge, die einem Orchester im Central Park zuhört, das klassische Avantgardemusik spielt. Dabei sehen die Menschen manchmal aus wie Pinguine, und die Aufnahmen der Gebäude Manhattans wirken in gewissen Momenten wie Gletscher aus der Antarktis. Solche Überlagerungen physischer Orte und Landschaften mit narrativen oder fiktionalen Sedimentierungen markieren einen Grundzug der Arbeiten Huyghes. Sie zeigen sich als Durchdringungen von Realität und fiktionalen Bildern, oder, anders ausgedrückt, sie lokalisieren den Kern des Realen in der Imagination. Huyghe spricht häufig von ‚Szenario‘, um den Entstehungsprozess seiner Arbeiten zu beschreiben, und meint damit ein Set, eine Struktur an Regeln und Möglichkeiten, die der Künstler initiiert, die dann aber vom Künstler unabhängig etwas Eigenes hervorbringt. Ein Szenario ohne Skript gewissermaßen. Kontingenz, Zufall und Eigengesetzlichkeit sind dabei stets Teil der Arbeiten. Was die Documenta-Arbeit Untilled – was so viel wie ‚nicht bestellt‘, ‚nicht kultiviert‘ bedeutet – jedoch von den skizzierten
1
Vgl. Marie-France Rafael: Pierre Huyghe. On Site, Berlin 2012, S. 25.
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Abbildung 1: Pierre Huyghe: Untilled, 2011–2012 (Detail). Foto: Pierre Huyghe
filmischen Werken unterscheidet und weshalb auch das fiktionale Bild hier anders gedacht wird, ist die Tatsache, dass wir es hier nicht mit einem Film, sondern mit einem konkreten physischen Ort zu tun haben, dessen eigene Materialien und Prozesse konstitutiver Bestandteil der Arbeit sind – mit einem Szenario, das in einem hohen Maße kontingent bleibt und bleiben muss, weil es abhängig ist von Faktoren, auf die der Künstler keinen Einfluss hatte, wie etwa dem Wetter, Tages- und Jahreszeiten oder dem Biorhythmus des Hundes. Die Realisierung dieser Arbeit basierte auf Prozessen und Ereignissen, die vom Künstler initiiert worden waren, um sich dann unabhängig und gleichgültig gegenüber der Ausgangsform zu organisieren. Dass Bienen und Ameisen die Samen der Pflanzen verbreiteten, war Teil des Arrangements. Auf welche Weise dies passierte, entzog sich freilich der Planung. Man befand sich inmitten eines Prozesses, der sich in der Kontingenz selbst generierte. Die Bienen verbreiteten nicht nur die Samen, sie vermehrten sich auch selbst, wodurch der Kopf der Skulptur beständig wuchs und nach einigen Monaten monströs angeschwollen war. Huyghe hatte einen Ort geschaffen, der weder Anfang noch Endpunkt hatte, der selbst in seiner topografischen Form unbestimmbar blieb; ein Werk, das buchstäblich in seiner Umgebung verwurzelt war und sich in jedem Moment seiner Existenz weiter verwurzelte. Huyghe selbst spricht von einer
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biologischen Kreation: „Je ne pense plus l’exposition mais une forme biologique de la création.“2 Jene Durchdringung von Realität und Imagination, von der auch Huyghes Filme grundsätzlich gekennzeichnet sind, entsteht bei Untilled an und ausgehend von den Bedingungen einer konkreten Topografie – einem Ort, an dem sich nach wie vor Pflanzenabfälle in fruchtbaren Humus verwandeln, während ihn Huyghe zugleich mit Narrativen überformt und in einen site verwandelt, der physisch konkret und fiktional, künstlerisch gestaltetes und real vorgefundenes Milieu zugleich ist. Zachary Cahill hat die Metapher des „auslaufenden Bildes“ ins Spiel gebracht, um diese Überformung eines Kontextes mit Fiktion zu beschreiben.3 Ein imaginäres, mentales Bild erhält einen materiellen Träger und tritt gewissermaßen in die Welt ein. Der Hund ist, wenn man so will, ein solches „auslaufendes“, lebendiges Bild, eine Art reale Fiktion. Die Eiche ist eine von Beuys’ 7000 Eichen, bleibt aber, gerade weil sie weder Bezeichnung noch einen Kontext hat, vor allem auch eine Eiche. Die Bienen verleihen der Skulptur einen surrealen Touch, aber sie verteilen auch die Samen der Pflanzen und katalysieren damit selbst Formbildungsprozesse, die organisch/biologisch, nicht künstlerisch bestimmt sind. Weil Huyghe pflanzliche und tierische, mithin nichtsubjektgesteuerte Formen von Intelligenz ganz buchstäblich in die Erschaffung seiner Arbeit miteinbezogen hat, ist diese beständigen Veränderungen unterworfen, die sich unabhängig vom Künstler wie auch von der Betrachterin vollziehen. Organische, biologische und künstlerische Formbildungsprozesse greifen dabei ineinander. Es ist diese instabile, sowohl künstlerische als auch nichtkünstlerische, biologische oder organische Prozesse umfassende ontologische Verfasstheit, die den Ausgangspunkt meines Nachdenkens über diese Arbeit markiert. Dass Huyghe hier ein Werk geschaffen hat, das eher Netzwerk als Werk ist, führt mich dazu, die Arbeit mit der Figur der Assoziation zusammenzubringen, die im Kontext jüngerer anthropozentrismuskritischer philosophischer und wissenschaftstheoretischer Ansätze an Bedeutung gewonnen hat. In welchem Verhältnis die Figur der Assoziation zur Idee der
2
Zit. n. Stéphanie Moisdon: „3 questions à Pierre Huyghe“, in: Beaux Arts 7
3
Zachary Cahill: „The Image is Bleeding. Pierre Huyghe as Landscape Artist“,
(2012), S. 79. in: Mousse 11 (2012), S. 140–141, hier: S. 140.
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Abbildung 2: Pierre Huyghe: Untilled, 2011–2012 (Detail). Foto: Pierre Huyghe
Kunst selbst beziehungsweise dem Format der Ausstellung und seiner regierungstechnischen Ausrichtung steht, soll dann abschließend behandelt werden.
I.
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ALLEGORISCHE
Die Schlüsselfrage jeder Philosophie ist, ob sie Objekt-Objekt-Beziehungen auf dem gleichen Grund ansiedelt wie Mensch-Objekt-Beziehungen. Tut sie dies nicht, ist es doch nur wieder die gleiche alte anthropozentrische Theorie in anderem Gewand. So ungefähr ließe sich der Ansatzpunkt eines zeitgenössischen Denkens zusammenfassen, in dessen Zentrum der Versuch einer konsequenten Überwindung des Anthropozentrismus steht.4 Donna Haraway spricht in diesem Zusammenhang von der ethischen und praktischen Aufgabe, Landschaften, Technologien und Spezies zu „reworlden“, ohne dabei auf die tröstende Prämisse der „menschlichen Son-
4
Vgl. u. a. Graham Harman: Guerilla Metaphysics. Phenomenology and the Carpentry of Things, Peru, IL 2005.
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Abbildung 3: Pierre Huyghe: Untilled, 2011–2012 (Detail). Foto: Pierre Huyghe
derstellung“ („human exceptionalism“) zurückzugreifen.5 Sowohl Haraway wie auch Bruno Latour beziehen sich in ihren Ansätzen auf Alfred North Whitehead, der wohl am explizitesten eine Ontologie entwickelt hat, die nicht auf dem erkennenden Subjekt basiert.6 Whitehead war nicht nur von der Relativitätstheorie Einsteins geprägt, er wurde vor allem auch von der Evolutionsbiologie Darwins und dessen Theorien über die Bedeutung des Zufalls sowie über die Verkettung von Lebewesen und Lebeweisen beeinflusst. Whiteheads Projekt ist es, eine Metaphysik zu entwickeln, die den Theorien Einsteins und Darwins standhalten kann. Damit geraten Lebensprozesse beziehungsweise Prozessualität überhaupt sowie eine NichtAnthropozentrizität in den Mittelpunkt des Denkens. Der modernen Bifur-
5
Vgl. Donna J. Haraway: When species meet, Minneapolis 2008; Nicholas Gane: „When We Have Never Been Human, What Is To Be Done? Interview with Donna Haraway“, in: Theory, Culture & Society 23 (2006), S. 138–158.
6
Vgl. Alfred North Whitehead: Process and Reality. An Essay in Cosmology [1929], hg. v. David Ray Griffin und Donald W. Sherburne, New York 1979; Alfred North Whitehead: The Concept of Nature [1920], Cambridge 2004.
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Abbildung 4: Pierre Huyghe: Untilled, 2011–2012 (Detail). Foto: Pierre Huyghe
kation von Natur und Kultur setzt Whitehead graduelle, nicht mehr kategorische Unterscheidungen entgegen. So unterscheidet er zum Beispiel nicht kategorial zwischen den Modalitäten eines Steins, eines Tieres oder eines Menschen, sondern ordnet sie auf verschiedenen Punkten einer Skala an.7 Von dem Moment an, an dem man beginnt, die Opposition von Subjekten und Dingen zu hinterfragen und nicht mehr von einem Subjekt der Moderne auszugehen, das die Erde primär als Ressourcenlager auffasst und das im Gegensatz zu den anorganischen Stoffen, die es umgeben, exklusiv die Freiheit und Agency besitzt, seine natürliche Umgebung umzuwandeln, beginnt sich eine ganze Reihe traditioneller Binarismen – wie etwa die Unterscheidung zwischen organisch/anorganisch, Mensch/Tier oder Wille/Determination – aufzulösen. An die Stelle kategorialer Unterschiede treten Verkettungen und Assoziationen, die insbesondere Latour ins Zentrum seines Denkens stellt, wenn er Wirklichkeit als Assoziationen von Einheiten begreift, die aus sowohl menschlichen wie nichtmenschlichen Elementen bestehen und in sich prozessual sind. Latours terminologische Bezeichnung hierfür ist die einer „variablen Ontologie“.8 Untilled stellt sich als eine Assoziation im Latour’schen Sinne dar, als Verknüpfung verschiedenartiger Lebensformen, Modi und Materialitäten.
7
Vgl. Whitehead: The Concept of Nature, S. 166.
8
Bruno Latour: We have never been modern, Cambridge, MA 1993, S. 85.
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Das Organische, Biologische und Mineralogische ist ebenso Teil dieser Assoziation wie das Menschliche und die Industrieproduktion (etwa der Gehwegplatten). Es gibt individuelle und kollektive Organismen (Mensch, Bienenschwarm und Ameisenkolonie) mit ihren jeweiligen Formen der Arbeitsteilung, sozialen Organisation und Intelligenz. Alle diese Elemente sind über biologische oder soziale Prozesse miteinander verbunden; alle sind in Bezug auf ihre Vermehrung, Verbreitung oder ihr Vergehen (Kompostieren) in unterschiedliche Prozessualitäten eingebunden. Auch die Kunst ist Bestandteil dieser Assoziation. Sie manifestiert sich in der im Zentrum liegenden Frauenfigur, einer typischen Parkskulptur mit Fruchtbarkeitsmotiv, die Huyghe mit den Bienen in eine Art surreales Bild transformiert, das aber ganz reale Befruchtungsprozesse in Gang setzt. ‚Kunst‘ erscheint aber auch in Form von Referenzen an die Documenta (die 7000 Eichen) oder an verschiedene Künstler, mit deren Werk Huyghe in einem engen künstlerischen Dialog steht (Robert Smithson) beziehungsweise darüber hinaus auch befreundet ist (Dominique Gonzalez-Foerster). Keiner dieser ‚Marker‘ ist ‚ausgestellt‘ oder im Sinne postmoderner Zitate angeeignet. Sie sind einfach da – die Bank als Bank, die Eiche als Eiche –, als Bestandteile einer Assoziation und buchstäblich verwoben mit den biologischen Prozessen dieses Ortes. Wir haben es hier also mit einer Assoziation zu tun, die menschliche (Kunst, Industrie) und nichtmenschliche Produktionsformen und Produkte umfasst, die unhierarchisch auf einer Ebene angeordnet und in künstlerischen wie organisch/biologischen Formbildungsprozessen miteinander verzahnt sind. Keinem der Elemente dieser Assoziation kommt eine herausgestellte oder übergeordnete Position zu. Huyghes Arbeit bringt ein Wirklichkeitsverständnis zum Ausdruck, das im Sinne Latours „die Dinge und Tiere wieder mit reinbringen will“9, das aus ganz verschiedenartigen menschlichen wie tierischen, pflanzlichen und dinghaften Aktanten zusammengesetzt ist. Korrespondierend mit einer solchen netzwerkhaften Auffassung von Wirklichkeit realisiert sich das Kunstwerk Untilled auch selbst als ein Netzwerk: als ein Werk ohne stabile Form, das bis in seine innerste Struktur hinein von Kontingenz durchzogen ist. Die Arbeit existiert nicht nur in Abhängigkeit von den jeweiligen sub-
9
Andreas Ziemann: „Latours Neubegründung des Sozialen?“, in: Die Wiederkehr der Dinge, hg. v. Friedrich Balke, Maria Muhle und Antonia von Schöning, Berlin 2011, S. 103–114, hier: S. 104.
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Abbildung 5: Pierre Huyghe: Untilled, 2011–2012 (Detail). Foto: Pierre Huyghe
jektiven Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Interpretationsweisen seiner Besucher, sondern verändert sich ganz buchstäblich und unablässig. Weder Kunst noch Wirklichkeit existieren dabei als distinkte, autonome Entitäten.
II. D IE F RAGE
DER
K RITIK
In seinem Versuch eines kompositionistischen Manifests führt Bruno Latour den Begriff der Komposition ein, dem er eine geradezu paradigmatische Bedeutung gibt: „Even if the word […] is a bit too long and windy, what is nice is that it underlines that things have to be put together (Latin componere) while retaining their heterogeneity. Also, it is connected with composure; it has clear roots in art, painting, music, theater, dance and thus is associated with choreography and scenography; it is not too far from ‚compromise‘ and ‚compromising‘, retaining a certain diplomatic and prudential flavor. Speaking of flavor, it carries with it the pungent but ecologically correct smell of ‚compost‘, itself due to the active ‚de-composition‘ of many invisible agents […]. Above all, a composition can fail and thus retains what is most
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important in the notion of constructivism […]. It thus draws attention away from the irrelevant difference between what is constructed and what is not constructed, toward the crucial difference between what is well or badly constructed, well or badly composed.“10
Komposition ist bei Latour ein vor allem konstruktivistisch konnotierter Begriff. Nicht ob, sondern wie die Dinge zusammengesetzt sind und dass sie auch anders komponiert sein könnten, ist entscheidend. Er verweist auf die Art und Weise der Konstruiertheit, auf die Modalität und das Funktionieren einer Sache. Des Weiteren fungiert der Begriff für Latour als Gegenbegriff zu dem der Kritik. Während er Kritik als den Motor der Moderne versteht, als eine „Dampfmaschine“ („steam engine“)11, die darauf zielt, rigide Bindungen und Strukturen aufzubrechen und infrage zu stellen, folgt die Komposition einem gegenläufigen Impuls. Sie ist darauf ausgerichtet, Wege zu finden, um die von der Kritik aufgebrochenen Bindungen bewusst neu zu verknüpfen: ein Regelwerk zu entwickeln, das gut funktioniert, sowie eine Assoziation zu entwickeln, die etwa – das wäre ein Beispiel Latours – auf globaler Ebene Klimafragen verhandeln kann. Die Perspektive, die Latour hier vorschlägt, ist auch für Untilled produktiv, weil das Thema dieser Arbeit – ein nichtanthropozentrischer Blick auf Wirklichkeit – tatsächlich auch auf der ontologischen Ebene des Kunstwerks ausgespielt wird. Ihre Ausrichtung und ihr kritischer Gehalt zeigt sich in ihrer spezifischen, das heißt netzwerkhaften und prozessualen Verfasstheit, die, wie ausgeführt, ein ebenso netzwerkhaftes Welt- und Wirklichkeitsverständnis impliziert. Was dies konkret bedeutet, zeigt sich im Vergleich dieser Arbeit mit einer ganz anders ausgerichteten künstlerischen Komposition: Walter De Marias Installation 13, 14, 15 Meter Rows von 1985. De Marias Arbeit besteht aus 42 auf dem Fußboden des Ausstellungsraumes in Reihen angeordneten Edelstahlstangen aus legiertem Metall, das auf Hochglanz poliert wurde. Dem Betrachter, der dieses Werk nicht nur formalästhetisch, sondern in Relation zu politisch-gesellschaftlichen Kontexten betrachtet, zeigt sich hier die technische Perfektion einer hochverfeinerten Industrieproduktion: alchemistische Verfahren, die den
10 Bruno Latour: „Steps Toward the Writing of a Compositionist Manifesto“, in: New Literary History 41 (2010), S. 471–490, hier: S. 473–474. 11 Vgl. Bruno Latour: Das Elend der Kritik, Berlin/Zürich 2007.
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Abbildung 6a: Pierre Huyghe: Untilled, 2011–2012 (Detail). Foto: Pierre Huyghe Abbildung 6b: Walter de Maria: 13, 14, 15 Meter Rows, 1985
Eindruck materieller Homogenität zu erzeugen vermögen, serielle Produktionsformen sowie ein materieller Glanz, der Produktförmigkeit suggeriert – alles Aspekte des Industriezeitalters. Im Vergleich zu De Marias Installation weist Huyghes Arbeit eine viel größere Spannbreite an Bestandteilen und Materialien auf, deren Heterogenität sichtbar bleibt und nicht durch industriell-maschinelle Verfahren überformt wird. So gegensätzlich wie die Komposition der zwei Werke sind auch die Orte, an denen sie präsentiert beziehungsweise realisiert werden: Der White Cube Walter De Marias ist ein geradezu cartesianischer, ein freigeräumter, von allen Wirklichkeitsdurchdringungen befreiter Raum. Er ist ein Raum, der von natürlichen Prozessen getrennt ist beziehungsweise in dem (nicht ausschließbare) natürliche Prozesse und Schwingungen – Temperatur, Licht, Akustik – reguliert werden. Dagegen existiert Huyghes Garten in einem wuchernden, undurchschaubaren, komplexen Raum ohne kategoriale Trennungen von Natur und Kultur, von belebter und unbelebter Materie. Als Komposition im Latour’schen Sinne bleibt De Marias Installation eher einem auf Ausschlüssen und kategorialen Trennungen basierenden Denken verhaftet, einer ‚Utopie der Ökonomie‘, die zugleich die Utopie des Industriezeitalters ist. Huyghes Arbeit bewegt sich dagegen in die Richtung einer ‚Utopie der Ökologie‘, in der Natur nicht mehr bloß Ressource ist, sondern selbst als ein leistungsfähiger und in seiner Komplexität und Verfeinerung fortschrittlicher Apparat wahrgenommen wird. Als Komposition ist sie eher dem kreislaufförmigen Modus der Ökologie als dem demiurgischen Modus der Ökonomie verhaftet. Und so bleibt Walter De Marias Komposition anthropozentrisch ausgerichtet, während bei Huyghe an die Stelle des produktförmigen Werks – das den Prozessen, die zu ihm geführt haben, getrennt gegenübersteht – jene Prozessualität tritt, die sich als Wechselspiel
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zwischen Komposition und ihrer – mithilfe von Mikroben, Bakterien und anderen unsichtbaren Agenten – fortwährend realisierten Dekomposition zeigt.
III. D IE A USSTELLUNG Pierre Huyghe entwirft mit Untilled eine Idee der Kunst und der Kunsterfahrung, die sich von dem normalen Modus einer Gruppenausstellung, zu dem seine Arbeit ja letztlich gehört, grundsätzlich unterscheidet. Anders ausgedrückt: Sein Werk setzt eine Weltsicht ins Bild, die sich genau gegenteilig zu der Weltsicht verhält, der die kulturellen Formate der Ausstellung sowie des White Cube als deren paradigmatischer Ort verhaftet sind. Gleichwohl bleibt Untilled aber Teil des Ausstellungsformats. Wie also positioniert sich Huyghes Arbeit in diesem Spannungsfeld? „Der Korrelationismus ist das Paradigma der zeitgenössischen Kunst“, behauptet Suhail Malick in einer kürzlich erschienenen Ausgabe des Spike Magazine.12 Im Kontext eines nichtanthropozentrischen Denkens fungiert die Wortschöpfung Korrelationismus als ein Sammelbegriff für alle letztlich in einer kantianischen Tradition stehenden Denkformen, in deren Mittelpunkt das erkennende Subjekt steht. Denken ist dabei immer auf die Welt bezogen, so wie die Welt immer einem denkenden Subjekt erscheint. Eine Alternative zu dieser Tradition, an der auch Malick interessiert ist, versucht auf ein Jenseits dieses Bezugs zu spekulieren. Die zeitgenössische Kunst hält er insofern für ausgeprägt korrelationistisch, als sich diese seit dem proklamierten ‚Tod des Autors‘ umso mehr auf den ästhetisch erfahrenden Rezipienten ausrichtet. „Zeitgenössische Kunst geht von einem betrachtenden Subjekt aus, das dem Werk einen Sinn gibt, ihr wahrer Adressat ist, der seine eigenen Bedeutungen erschafft und interpretativen Reichtum hinzufügt.“13 Im Zentrum des heutigen Kunstsystems stehen für ihn die Betrachter oder, wie er es ausdrückt, „interpretierende Subjekte“, die in einer „net-
12 „Beyond the Contemporary. Jenseits des Zeitgenössischen“, Roundtable über die Anfänge des philosophischen spekulativen Denkens und seine Bedeutung für die zeitgenössische Kunst, moderiert von Armen Avanessian, in: Spike Magazine 36 (2013), S. 90–104, hier: S. 100. 13 Ebd.
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ten sanften Demokratie des pluralen Widerstreits um die Bedeutung der Kunst streiten“.14 Ich will an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehen, ob die Kunst seit den 1960er Jahren tatsächlich korrelationistischer geworden ist oder ob in der Hinwendung zur Erfahrungsästhetik nicht vielmehr auch Ansätze einer alternativen Ausrichtung liegen. Denn auch wenn man Malicks Begründungszusammenhang nicht teilt, ist ihm im Kern zuzustimmen. Es handelt sich bei der bildenden Kunst um einen dezidiert korrelationistischen Diskurs. Entscheidend ist dabei allerdings, dass der Kunst nicht nur ein subjektzentriertes Denken zugrunde liegt, sondern dass sie – über das Ritual der Ausstellung – historisch daran mitgewirkt hat, diesen Denkstil durchzusetzen sowie fortwährend daran mitwirkt, ihn einzuüben.15 Nicht zufällig entsteht das Format der Ausstellung historisch ungefähr zur gleichen Zeit wie das Denken Kants. Ausstellungen sind kulturelle Formate, Dispositive, die auf der Gegenüberstellung eines denkenden, erkennenden Subjekts und eines erfahrenen, erkannten Objekts basieren. Ihr Paradigma ist das der Autonomie, gerade nicht das der Assoziation. Das präsentierte Objekt ist ein aus-gestelltes, das heißt ein aus seinen ursprünglichen Kontexten (oder Netzwerken) herausgelöstes Objekt. Ihm tritt eine als vereinzelt gedachte Betrachterin gegenüber, die, ihrer körperlichen Verwobenheit mit der Welt enthoben, zumeist auf den Augensinn reduziert ist und damit auf jenen Sinn, über den ein kognitives und rationales Erkennen der Welt primär abläuft. Diese Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, die den Kern des Ausstellungsdispositivs markiert, ist zutiefst korrelationistisch verfasst. Aber, und hierin liegt die regierungstechnische Wirkmächtigkeit dieses Dispositivs, sie impliziert darüber hinaus auch wesentliche sozioökonomische Prämissen moderner Gesellschaftsordnungen. So korrespondiert die ästhetisch erfahrende, kritisch urteilende Betrachterin mit der Figur des modernen Individuums; es ist eine der zentralen kulturellen Leistungen des Formats Ausstellung, eine große Menge von Leuten aufnehmen zu können, die dennoch als Individuen und gerade nicht als Masse oder Gruppe adres-
14 Ebd. 15 Vgl. Dorothea von Hantelmann: „On the Socio-Economic Role of the Art Exhibition“, in: Cornerstones, hg. v. Juan A. Gaitán, Nicolaus Schafhausen und Monika Szewczyk, Rotterdam/New York 2011, S. 266–277.
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siert werden – als Individuen freilich, die sich in Relation zu materiellen Objekten erkennen und differenzieren. Es ist kein Zufall, dass eine Gesellschaft, die sich buchstäblich an dem misst, was sie herstellt, ein Ritual entwirft, das sich um den Wert des materiellen Artefakts zentriert, das strukturell produktförmig organisiert ist und dessen Einfügung in offene Ordnungssysteme wiederum der Verfasstheit einer pluralistisch marktgeprägten Gesellschaftsordnung entspricht. Der Wert des Pluralen, auf den Malick in dem oben genannten Zitat mit dem Hinweis auf den ‚pluralen Widerstreit um die Bedeutung der Kunst‘ anspielt, ist kein postmodernes Phänomen der zeitgenössischen Kunst. Er ist konstitutiv für das Format der Ausstellung, wie er auch konstitutiver Bestandteil eines modernen Wertesystems ist. Nicht nur sind Ausstellungen wesentlich entlang von Blickachsen organisiert, die das einzelne Werk stets in Relation zu anderen zeigen und es somit in seiner Singularität relativieren. Auch trägt bereits die Idee der Sammlung als einer Ansammlung verschiedener (Künstler-)Subjektivitäten bereits dem Pluralen und Diversen Rechnung, das hier als Wert kultiviert wird. In Ausstellungen kommt ein Ritual zur Aufführung, das individualisierte und liberale Züge trägt und deshalb zu einem zentralen Ritual moderner, ebenso individualisierter und liberaler Gesellschaften avanciert.16 Sowohl der Denkstil wie auch die sozioökonomischen Prämissen dieser Gesellschaften – Individuum, Objekt, Markt, Fortschritt, Pluralismus – werden über dieses Ritual eingeübt, kultiviert und reflektiert. Weil also die Kunst über das Format der Ausstellung gewissermaßen bis in ihre DNA hinein mit dem subjektbezogenen, anthropozentrischen Denkstil des Korrelationismus verknüpft ist, kann ein Ausstieg aus dieser Ordnung nicht auf einer rein formalen oder inhaltlichen Ebene erfolgen. Daniel Buren, um ein Beispiel zu nennen, ist einer der wenigen Künstler, die dies erkannt haben. Er arbeitet aus dieser Einsicht heraus über Jahrzehnte hinweg an einer veränderten Ontologie des Kunstwerks und verbindet diese mit einer Rekonfiguration des Ausstellungsrituals.17 In Burens Insitu-Werken gibt es einen Ort und einen Kontext, aber kein Gegenüber mehr im Sinne eines zu betrachtenden, von der Architektur getrennten dis-
16 Ebd. 17 Vgl. Dorothea von Hantelmann: „Reconfigurer le rituel“, in: Le Musée qui n’existait pas. Daniel Buren, Ausst.-Kat. Centre Pompidou, Paris, Paris 2010, S. 285–309.
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kreten Gegenstandes. Aus dem dinghaften Objekt wurde bei Buren ein ‚visuelles Werkzeug‘, das durchaus Bezüge zum Konzept des Dekors aufweist, aus der Ausstellung wiederum eine situative Intervention. Das üblicherweise aus-gestellte, aus seinem Kontext herausgestellte Kunstwerk ist bei ihm ein wieder eingestelltes, das heißt in einem und für einen Kontext geschaffenes. Durchaus in Weiterentwicklung von Burens In-situKonzept könnte man in Bezug auf Untilled von einem situierten Kunstwerk sprechen: einem Werk, das buchstäblich mit seinem Kontext verwoben ist, das Wurzeln schlägt, das sich in eine bestehende Assoziation einfügt und diese neu komponiert. Versteht man die Ausstellung in dem hier dargelegten Sinn als ein Regierungsinstrument, wie fügt sich dann Pierre Huyghes Projekt in das Staatsritual documenta ein?18 Welche anderen Formen der Einübung schlägt es vor? Zunächst einmal tritt Huyghe ein Stück weit aus dem pluralen Spiel aus, das, wie dargelegt, dem Format Ausstellung grundsätzlich eingeschrieben ist. Man hat keine anderen Arbeiten mehr im Blick, wenn man in der Kompostieranlage steht. Es gibt keine Blickachse mehr und damit auch keine stete Erinnerung an ein Immerweitergehen. Stattdessen trägt Huyghe eine gewisse Ruhe – gewissermaßen ein Denken der Ankunft – in das Fortschrittsdispositiv Ausstellung hinein. Man hat eher das Gefühl, an einem Ort anzukommen als ein Exponat zu begutachten. Ähnlich wie in einer Ausstellung muss man den Ort, den Huyghe geschaffen hat, erkunden und ergehen, um seine einzelnen Elemente zu erfassen. Anders als in einer Ausstellung verändern sich diese aber beständig. Sie gehen ineinander über, werden „porös“, wie Huyghe es ausdrückt; sie laufen gewissermaßen aus. „The compost is the place where you throw things that you don’t need, that are dead“, sagt Huyghe. „You don’t display things. You don’t make a mise-en-scène, you don’t design things, you just drop them. And when someone enters that site, things are in themselves, they don’t have a dependence on the person. They are indifferent to the public. You are in a place of indifference. Each thing, a bee, an ant, a plant, a rock, keeps growing or changing.“19
18 Die documenta wird traditionell durch den Staatspräsidenten eröffnet. 19 Zit. n. „Christopher Mooney on Pierre Huyghe“, in: Art Review 10 (2013), S. 92–99, hier: S. 97.
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Im Kontext der Ausstellung führt Huyghe mit Untilled gewissermaßen eine Gegenfigur zur Ausstellung ein. Er spekuliert auf eine Kunst, die weder einen Künstler noch eine Betrachterin braucht und die sich fast von selbst erzeugt. Huyghes Arbeit weist dabei eine merkwürdige Doppelstruktur auf, einerseits situiert und ortsspezifisch, andererseits aber auch Werk zu sein im Sinne des modernen, das heißt flexiblen und mobilen Werkkonzepts. In dieser Hinsicht wäre sie vielleicht vergleichbar mit Dan Grahams Pavillons, die ebenfalls einen äußeren Kontext in sich aufnehmen, sich mit diesem verbinden und dadurch eine situative Komponente haben, während sie dennoch mobil bleiben und ihren Kontext wechseln können. Denn es gehört zur Konzeption von Untilled, zwar situiert zu sein, aber nicht für diesen Ort allein. Untilled ist verwurzelt, ein-gestellt, und bleibt dennoch eine strukturelle Entität, die auch woanders stattfinden könnte. Im Unterschied zu den grundsätzlich ortsspezifischen und damit nicht wiederholbaren Arbeiten Burens ist Huyghes Arbeit situativ und ein-gestellt, ohne aber hinter ein modernes Paradigma der strukturell flexiblen Bindungen, für welches das Prinzip des aus-gestellten Kunstwerks ja steht, zurückzutreten. In dieser Verbindung von Situiertheit und Werk, in dieser Idee eines Werks, das auf einer ‚variablen Ontologie‘ (Latour) basiert, liegt, wie mir scheint, tatsächlich eine originäre Setzung. Was diese Setzung allerdings schwächt, ist die Tatsache, dass Huyghe in der Kompostieranlage einen Film produziert hat, der nun anstelle des Kassler Projekts in Ausstellungen und Sammlungen zirkuliert. Allein die Existenz dieses Films verändert den Status der ursprünglichen Arbeit. Sie ist doch wieder ein In-situ-Werk, ein besonderer Ort beziehungsweise genauer: eine legendäre Aufführung, die sich über 100 Tage erstreckt hat und deren Relikte man heute noch besuchen kann. Als das eigentliche Kunstwerk aber bleibt der Film – und somit eine abgeschlossene, aus-zustellende Entität und gerade kein Algorithmus, der immer wieder neu aufgeführt wird, keine lebendige, sich stetig weiterentwickelnde Assoziation. Abbildungen 1–6a mit freundlicher Genehmigung des Künstlers, der Marian Goodman Gallery, New York/Paris, und von Esther Schipper, Berlin. Auftrag und Produktion der dOCUMENTA (13) mit Unterstützung von Colección CIAC AC, Mexico; Fondation Louis Vuitton pour la création, Paris; Ishikawa Collection, Okayama, Japan.
Autorinnen und Autoren
Elke Bippus ist Professorin für Kunsttheorie an der Zürcher Hochschule der Künste im Departement Kunst & Medien, Vertiefung Bildende Kunst. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Kunst der Moderne und Gegenwart. Friedrich von Borries ist Architekt und lehrt als Professor für Designtheorie und kuratorische Praxis an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. 2008 war er Generalkommissar des deutschen Beitrags auf der Architekturbiennale in Venedig. Sabeth Buchmann ist Kunsthistorikerin und -kritikerin sowie Professorin für Kunstgeschichte der Moderne und Nachmoderne an der Akademie der bildenden Künste Wien. Diedrich Diederichsen ist Professor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien. Zuvor war er Professor für ästhetische Theorie und Kulturwissenschaften an der Merz Akademie Stuttgart. Lotte Everts ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich 626 der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Bildtheorie, Theorie der Fotografie und des bewegten Bildes sowie Phänomenologie. Derzeit promoviert sie zum Verhältnis von Kunst, Subjekt und Wirklichkeit bei der Videokünstlerin Eija-Liisa Ahtila. Dorothea von Hantelmann ist documenta-Gastprofessorin an der Kunsthochschule/Universität Kassel. Sie ist Kunsthistorikerin und lehrt bezie-
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hungsweise forscht zu Themen der zeitgenössischen Kunst sowie zur gesellschaftlichen Funktion von Kunstausstellungen. Thomas Hilgers ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin im Sonderforschungsbereich 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“. 2010 promovierte er an der UPenn im Fach Philosophie mit der Arbeit On Aesthetic Disinterestedness. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen auf den Gebieten der Ästhetik und der klassischen deutschen Philosophie. Richard Hoppe-Sailer ist Professor für Kunstgeschichte an der RuhrUniversität Bochum. Seine Schwerpunkte liegen unter anderem auf dem Wechselverhältnis von Kunst- und Naturwahrnehmung, dem Verhältnis von Kunst und Religion in der Moderne sowie der zeitgenössischen Kunst. Johannes Lang ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der BauhausUniversität Weimar und war bis 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin im Sonderforschungsbereich 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“. Gegenwärtig promoviert er zu den Paradigmen der Ästhetik des Designs im 20. Jahrhundert. Anne Levy ist Kunst- und Bildwissenschaftlerin. Schwerpunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeit sind Bilder in digitalen Räumen und deren narrative Verknüpfungen. Michael Lüthy ist Professor für Geschichte und Theorie der Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar. Arbeitsschwerpunkte sind französische Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, US-amerikanische Kunst nach 1945 und Kunsttheorien der Moderne. Am Sonderforschungsbereich 626 der FU Berlin leitet er das Teilprojekt „Erweiterungen der Gegenstandserfahrung in Kunst und Design seit den 1960er Jahren“. Frank Ruda vertritt zurzeit den Lehrstuhl für Philosophie audiovisueller Medien an der Bauhaus-Universität in Weimar. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Ästhetik, Phänomenologie, Deutscher Idealismus und gegenwärtige französische Philosophie.
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Bernhard Schieder ist Kunsthistoriker und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ der Freien Universität Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf US-amerikanischer Kunst seit 1945. Er promovierte zur Neugestaltung der Beziehung zwischen Kunst und alltäglicher Wirklichkeit im Kontext der US-amerikanischen Neoavantgarde. Wolfgang Welsch ist emeritierter Professor der Philosophie, zuletzt lehrte er an der Universität Jena. Seine Forschungsschwerpunkte sind Anthropologie und Epistemologie, philosophische Ästhetik und Kunsttheorie, Kulturphilosophie sowie Philosophie der Gegenwart. 1992 erhielt er den Max-PlanckForschungspreis.
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