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German Pages 298 Year 2014
Silvia Henke, Nika Spalinger, Isabel Zürcher (Hg.) Kunst und Religion im Zeitalter des Postsäkularen
Image | Band 37
Silvia Henke, Nika Spalinger, Isabel Zürcher (Hg.)
Kunst und Religion im Zeitalter des Postsäkularen Ein kritischer Reader
Die Publikation entstand im Rahmen des Forschungsprojekts Holyspace, Holyways an der Hochschule Luzern Design & Kunst. Projekt wie Publikation wurden gefördert von der Hochschule sowie vom Schweizerischen Nationalfonds SNF.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Barbara Mühlefluh, Meeting (2010), Kirchplatz Stäfa (ZH) Redaktion: Silvia Henke, Isabel Zürcher Satz: Andreas Hagenbach Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2040-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung Silvia Henke | 9
T EIL 1: K UNST IM Z EITALTER DES P OSTSÄKUL AREN Wie inspiriert eigentlich christliche Bildlichkeit die Kunst der Gegenwart? Johannes Rauchenberger | 21
Berühren, glauben, verinnerlichen. Notizen zu Psychoanalyse, Religion und Kunst Karl-Josef Pazzini | 43
Inkarnation – Didaktik – Freiheit: Kontextualisierungen im Verhältnis von Kunst und Religion Andreas Mertin | 61
Hat Kunst eine Konfession? Ein Schreibgespräch David Plüss und Johannes Stückelberger | 69
Gott und die Welt – Zu Barbara Mühlefluhs Projekt Meeting Irene Müller | 85
Zeitgenössische Literatur und die Schönheit der Religion Sibylle Lewitscharoff im Gespräch | 91
Kunst und Religion? Teil I Künstlerinnen und Künstler im Gespräch | 99
T EIL 2: K UNST UND G L AUBE IM B ILDUNGSKONTEXT Noli me tangere – Gleichnis, Erzählung und die Frage des Glaubens im Kunstunterricht Silvia Henke | 119
Wem gehören religiöse Symbolsysteme? Neue Formen des Religionsunterrichts und die Vermittlung religiöser Symbole Ansgar Jödicke | 137
Zeitgenössische Kunst im Religionsunterricht: Überlegungen zu einem religionspädagogischen Problem anhand der bildlichen Repräsentation von Essen Monika Jakobs | 147
Fressen und Gefressenwerden: anthropologische Betrachtungen zum Verständnis der Eucharistie Wolfgang W. Müller | 161
„What else is there?“ – Kann Kunst religiöse Bildungsprozesse initiieren? Andreas Mertin | 171
Die Kunst zu verkörpern. Reflexionen zu künstlerischem Handeln im Feld des Religiösen Nika Spalinger | 181
T EIL 3: D IE F RAGE DER KATHOLISCHEN P RÄGUNG Kunst und Religion? Teil II Künstlerinnen und Künstler im Gespräch | 197
Sakral, religiös, katholisch? Eine kunsthistorische Sichtung der Innerschweiz Fabrizio Brentini | 215
Wie man einen Heiligen malt: ein Bild des Bruder Klaus Benno Zehnder | 225
Religiosität als Hintergrund der Innerschweizer Kunst? – Eine Spurensicherung Niklaus Oberholzer | 235
„Ich baue für stramme Gemüter.“ – Christian Kathriner Christoph Lichtin | 253
Von der Leichtigkeit des Heiligen bei Judith Albert. Konfessionelle Spuren in der Kunstkritik Isabel Zürcher | 265
Wie im Himmel, so auf Erden – Eva-Maria Pfaffen Monika Jakobs | 279
D OKUMENTATION /M ATERIALIEN Personenverzeichnis | 283 Literaturverzeichnis | 288 Bildnachweise | 293
Einleitung Silvia Henke
R ELIGIÖSE K UNST ? U M G OT TES W ILLEN! „Um Gottes Willen“ ist im heutigen Sprachgebrauch ein Seufzer der Perplexität oder Resignation. Manchmal ist es auch eine Form, um ‚Nein Danke’ zu sagen. Die Wendung ist, ganz im Gegensatz zu ihrer ursprünglichen Bedeutung, zu einer Formel der Abwehr geworden. Für Intellektuelle und insbesondere Künstlerinnen und Künstler ist diese geschützte Reserve im Verlauf des 20. Jahrhunderts auch die gängige Haltung zur Religion geworden: Religiöse Kunst? Um Gottes Willen! Religiöse Kunst gibt es in Kirchen, in historischen Museen, allenfalls noch in Museen für außereuropäische Kunst und im Umfeld geistig verwirrter Künstlerinnen oder Künstler. Nicht aber in den White Cubes der großen Kunsttempel. Dort ist religiöse Kunst strikt tabu, so wie religiöses Denken im Wissenschaftsbetrieb als intellektuell stumpf gilt. Es gibt natürlich gute Gründe für diesen dezidierten Abstand zum Religiösen: Der radikale Subjektivismus in der Kunst und ihre Autonomie entstanden nicht im Geist der Kirche. Die offizielle Kirche hat wenig beigetragen zu den Konzepten gesellschaftlicher Erneuerungen, und spätestens seit 9/11 vermischt sich das Religiöse im westlichen Bewusstsein mit gefährlichen, fundamentalistisch gefärbten Überzeugungen. Daneben treiben in der westlichen Welt freie Spiritualität und bunte Esoterik ihre Blüten, Bibelparks entstehen als Freizeitanlagen, während die Kirchen sich leeren und Klöster zu Yogazentren umfunktioniert werden. Aus dieser Gemengelage heraus schreibt der Kunstkritiker Dan Fox in seiner Einleitung zum amerikanischen Kunstmagazin Frieze im Dezember 2010: „Mit Ausnahme von Posen einer dandyhaften Religiosität sind Künstler, die offen Affinität zur offiziellen christlich-jüdischen oder islamischen Religion bekunden, so verdächtig wie polygame Mormonen oder Starscientologen.
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Nur Damien Hirst kommt immer gut weg mit seinem Gebrauch von Religion, weil er sie sofort in harten Cash verwandelt.“ 1 Dennoch hat die zeitgenössische Kunst ihr religiöses Gedächtnis und das ikonografische Erbe der christlichen Religion nicht getilgt. Ganz im Gegenteil: Man kann durchaus sagen, dass das Religiöse seit längerem im Gewand der Kunst und der Kultur in der säkularen Gesellschaft weiterlebt. Ob in der Metaphysik der letzten Fragen im Werk von Bill Viola, in James Turrells Lichtkathedralen, in Christoph Schlingensiefs Installationen oder Marina Abramovics Performances: Ohne ein religiös empfindsames Publikum wären diese Arbeiten chancenlos, in ihrer Tiefendimension verstanden zu werden. Der Kunstbetrieb hat diese neue religiöse Disponiertheit der zeitgenössischen Kunst auch erkannt und in großen Themenausstellungen weiter entfaltet. Allein in den Jahren 2002 bis 2009 fanden im deutsch-, französisch- und englischsprachigen Raum über vierzig Themenausstellungen zu Kunst und Religion statt – die größten waren Belief in Singapore (2006), Traces du sacré im Centre Pompidou (2008) sowie Medium Religion im ZKM Karlsruhe (2009). Mit Ausnahme dieser letztgenannten, von Boris Groys und Peter Weibel kuratierten Ausstellung wagte aber kein Kurator eine Aussage oder Stellungnahme zum Zustand des Religiösen. Dieses fand eher in seiner Vielfalt, Heterogenität oder in lose addierten Einzelpositionen eine neue Aufmerksamkeit. Während einzelne Künstlerinnen und Künstler für sich sehr wohl eine bestimmte subjektive Religiosität in Anspruch nehmen (über die sie allerdings oft nur ungern Auskunft geben), verstehen sich öffentliche Kulturveranstaltungen und Ausstellungen nicht als religiöse Ereignisse, sondern bestenfalls als ‚Umgang mit dem Religiösen‘ oder schlicht als Kultur. Denn dort, wo säkulare zeitgenössische Kunst mit einer christlichen Institution zusammengeführt wird, gibt es sofort die Angst vieler Künstlerinnen und Künstler, in den Verdacht der Frömmigkeit zu geraten und die eigene Arbeit durch einen kirchlichen Kontext zu verharmlosen oder gar zu verderben. Nur international erfolgreiche Künstler wie Gerhard Richter oder Sigmar Polke haben im Bereich der Kirchenfenstergestaltung selbstbewusste Impulse und deutliche Zeichen für eine neue Freiheit der Kunst im Kirchenraum gesetzt.
K UNST IM Z EITALTER DES P OSTSÄKUL AREN Fasst man diese Auslegeordnung als eine Topographie mit beweglichen Grenzen und Schichten zusammen, so kann man für die zeitgenössische Kunst durchaus feststellen, was Religionssoziologen und Philosophen für die gesamte 1 Fox, Dan: Believe it or not!, in: Frieze Art Magazine, Dezember 2010, S. 3 (Überset-
zung S.H.).
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westliche Gesellschaft seit längerem diagnostizieren: sie befindet sich im Stadium des Postsäkularen. Der Begriff der „postsäkularen Gesellschaft“, den Jürgen Habermas 2001 in seiner Friedenspreis-Rede geprägt hat, meint weder eine diffuse Neoreligiosität noch besagt er, dass die Säkularisierung gestoppt werden könne. Er hält an der Säkularisierung fest, bezeichnet aber ein gesellschaftliches Szenario, in welchem religiöse und säkulare Werte gemeinsam in Erscheinung treten können, egal in welcher Dichte, Zahl, Konfession und in welcher Form der religiösen Bindung. Bedingung dafür ist, dass religiöses Denken sich selber kritisch darlegen lässt und dass säkulares Denken die Allgegenwärtigkeit des Religiösen in seinen multiplen Erscheinungen im Prozess der Säkularisierung mitdenkt.2 Somit ist der Begriff des Postsäkularen geeignet, sich mit dem Paradoxon zu beschäftigen, in welchem sich auch die zeitgenössische Kunst und Philosophie befinden: dass sie nämlich durch und durch von religiösen Fragen, Werten und Bildern leben, dies aber nicht mehr im Sinne von ‚naivem‘ Glauben oder gemeinschaftlichem Kult, sondern in Form von Kultur und einem damit einhergehenden pluralisierten Individualismus. Man könnte dies als die postsäkulare Kondition beschreiben, als den Glauben an Außerweltliches, der seine Unschuld verloren hat. Und der erst langsam dabei ist, mit aller Vorsicht einen Weg zurückzufinden in den öffentlichen Diskurs. Bedenken und Skepsis begleiten diese Rückkehr unvermeidlich und werfen über Jahrzehnte gereifte Fragen auf: Soll man nicht einfach akzeptieren, dass Religion frei und somit restlos privat ist? Und damit das Grübeln über den religiösen Sinn kultureller Äußerungen bleiben lassen? Vielleicht ist das Religiöse ja in der Musik, in Filmen, in den Bildern oder auch in der freien Spiritualität, in sportlichen Ritualen, Yoga und Transzendenz-Seminaren der Gegenwart besser aufgehoben? Vielleicht kann und muss ja eine solchermaßen individualisierte Religiosität nicht mehr ins theologische Konzept überführt werden, das eine Gemeinschaft voraussetzt. Das vorliegende Buch, das aus einem längeren Forschungsprojekt3 hervorging, vertritt demgegenüber eine skeptische Haltung, aufgrund welcher das Religiöse aus seiner ebenso persistenten wie verschwiegenen Existenz heraus2 Vgl. Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Rede zum Friedenspreis des Deutschen
Buchhandels, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 2001, S. 12ff., sowie aus religionssoziologischer Perspektive; Molendijk, A., Beaumont, J, Jedan, C: Exploring the Postsecular: The Religious, the Political and the Urban, Brill E-NBook, 2010. 3 Holyspace, Holyways. Die Rolle der zeitgenössischen Kunst bei der Vermittlung und Re-
präsentation privater und öffentlicher Religiosität am Beispiel der Innerschweiz (Projektleitung Silvia Henke und Nika Spalinger) war ein dreijähriges Forschungsprojekt an der Hochschule Luzern – Design und Kunst, durchgeführt in Kooperation mit der Universität Luzern und diversen nichtakademischen Institutionen und unterstützt vom schweizerischen Nationalfonds SNF. Forschungsplan siehe unter: www.holy-kunstforschungluzern.ch.
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geholt und kritisch befragt wird. Dies in der Annahme, dass künstlerischen Werken eine Vermittlungsfunktion zukommen könnte zwischen stummem Glauben und rationalem Wissen. Eine Vermittlerrolle auch zwischen einer dogmatischen Religiosität, die Glaube mit Überzeugung verwechselt und einer ganz individualisierten Egal-wie-und-was-Religiosität, in welcher Glauben reine Privatsache ist. Zwischen diesen beiden Polen versuchen die Beiträge dieses Readers zu vermitteln. Das Buch wie das Forschungsprojekt stützen sich dabei insgesamt auf fünf Forschungsparadigmen, die hier weiter ausdifferenziert werden sollen: 1. Religion, insbesondere die christliche, ist ein sehr nachhaltiges Symbolsystem. Aus Sicht der praktischen Theologie und der Kunst lohnt es sich deshalb zu erforschen, inwiefern das christliche Verständnis von Zeichen, Geschichten und Bildern für zeitgenössische Kunst und für bestimmte Wissenschaftsdisziplinen anschlussfähig ist, auch dort, wo es um ‚Unglaubliches’ geht.4 2. Kunst und Religion stehen symboltheologisch und symboltheoretisch in einem engen Verhältnis. Die Verweisfunktion von Symbolen und ihr gleichzeitiger Sinnüberschuss beschäftigen Theologie, Kunst- und Literaturwissenschaft und Psychoanalyse gleichermaßen.5 3. Das ‚Nachleben‘ der Religion hat sehr unterschiedliche gesellschaftliche Wirkungsweisen und verweist auf einen blinden Fleck im Diskurs der Aufklärung, der seit 2001 in den öffentlichen Diskurs zurückgefunden hat. In der bildenden Kunst, besonders in katholischen oder ländlichen Gebieten, ist dieser Fleck nie ganz blind geworden, da der Bezug zum religiösen Leben durch starke Traditionen bis in die jüngere Generation lebendig geblieben ist.6 4. Religion ist eine Form des Wissens, die das Nichtwissen einschließt. Sie thematisiert die grundsätzlich ungesicherte Dimension des Daseins. Weil 4 Vgl. Bieritz, Karl Heinrich: Zeichen und Wunder, in: Ritter, Werner H.: Zeichen
und Wunder, Interdisziplinäre Zugänge, Göttingen (Vandenhoek & Ruprecht) 2007, S. 290-312. 5 In verschiedenen Disziplinen, insbesondere auch der Musik leistet dies der Band von
Wolfgang Müller: Auf der Suche nach dem Unbedingten. Spirituelle Spuren in der Kunst, Zürich (TVZ) 2008, S. 11-22. Für das Theater kann die Auseinandersetzung mit sakraler Repräsentation, theatralischer Präsenz und Immanenz der Zeichen zurückverfolgt werden bis ins barocke Trauerspiel, vgl. hierzu: Weidner, Daniel: Schau in dem Tempel, an dem ganz zerstückten Leib, der auf dem Kreuze lieget! Sakramentale Repräsentation in Gryphius’ Leo Armenius, in: Daphnis, Bd. 39(Bielefeld), 2010, S. 287-312. 6 Zur Figur der ‚Rückkehr‘ vgl. Treml, Martin, Weidner, Daniel (Hg.): Das Nachle-
ben der Religionen, München (Wilhelm Fink) 2007, S. 10ff. Zur Lebendigkeit sakraler Kunst vgl. etwa den Katalog Der Rosenkranz zur gleichnamigen Ausstellung in Stans des Kunsthistorikers und Experten für sakrale Kunst Urs-Beat Frei, Luzern 2004.
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Wissen systematisch Unwissen produziert und damit symbolische Formen der Kommunikation braucht, haben Kunstschaffende als Spezialisten symbolischer Setzungen oft eine religiöse „Begabung“, mit welcher sie das Ungesicherte als Voraussetzung für ihr Tun hinnehmen.7 5. Die Wissensgesellschaft hat sich, so Michel de Certeau, eingerichtet in der Unglaubwürdigkeit einer Politik, die durch Sehen glauben machen will und dabei den Rückfluss des Spirituellen nicht kalkuliert. Wie dieser Rückfluss aussehen kann, welche Wirkungen das verdrängte Religiöse in der Gesellschaft zeitigt, belegen auch die kulturtheoretischen Schriften von Jean-Luc Nancy, welche das Christentum nochmals als grundsätzliches Verhältnis zwischen Subjekt und der Frage der Gemeinschaft zu denken suchen.8 Weil Kunst Wissen nie stabilisieren kann, kann dieser Rückfluss des Spirituellen in künstlerischen Formen besser gelingen als in den gesicherten Bahnen empirisch ausgerichteter Gesellschaftswissenschaften – sei es als Religionsvermittlung, Religionskritik, aber auch als Transzendenz im Sinne eines Begehrens nach einem Außerhalb des Hier und Jetzt. Deshalb sind Stimmen und Projekte von Künstlerinnen und Künstler integraler Bestandteil des Forschungsprojektes und auch dieses Buches. Es geht also nicht nur um eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf Kunst und Religion, sondern auch um jene aus Kunst auf Religion. Denn gerade die künstlerische Auseinandersetzung mit Religion kann nicht allein als private spirituelle Äußerung verstanden werden, auch dort nicht, wo Künstlerinnen und Künstler ihre Konzepte ohne öffentlichen Auftrag finden. Künstlerische Werke und Projekte sind grundsätzlich interessant, weil sie sich sinnlicher und intelligibler Symbolsysteme bedienen und sich damit zwischen Dogmatismus und Beliebigkeit, zwischen Wissen und Glauben ansiedeln. Wenn ihnen eine Übersetzung von sakralen Zeichenwelten in die Sprache der säkularen Kunst gelingt, dann geschieht dies nicht so sehr als Blasphemie oder als Destruktion des Religiösen, sondern (im Sinne von Habermas und Nancy) als „rettende Dekonstruktion“.9 Von diesen Thesen und Interessen gesteuert, gliederte sich das Forschungsprojekt in drei Teile, die hier im Buch wieder aufgenommen sind. 7 Sellmann, Matthias: Der Buddha wohnt auch auf Mikroprozessoren, in: Gutmann,
Hans-Martin, Gutwald, Cathrin (Hg.): Religiöse Wellness, München (Wilhelm Fink) 2006, S. 55. Sellmann bezieht diesen Bedarf an symbolischer Kommunikation nicht auf Kunstschaffende, die Konsequenz liegt jedoch auf der Hand. 8 De Certeau, Michel: Arten und Weisen des Glaubens, in: ders.: Die Kunst des Han-
delns, Berlin (Merve) 2001 und Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart (Patricia Schwarz) 1988 und ders.: Dekonstruktion des Christentums, Zürich-Berlin (diaphanes) 2008. 9 Habermas, a.a.O., S. 29.
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D IE B EITR ÄGE Die Beiträge im ersten Teil Kunst im Zeitalter des Postsäkularen zeigen Wege auf, wie religiöse Fragen und Werte ihren Weg in säkulare kulturelle und gesellschaftliche Systeme zurückfinden. Die Ausstellungen der Minoritenkultur Graz sind hierfür im Kunstkontext beispielhaft. Der Beitrag des Kurators Johannes Rauchenberger zeigt, wie Ästhetik, Anthropologie und Theologie sich in einzelnen Arbeiten der von ihm in Graz organisierten Ausstellungen verbinden – aber auch wo sie sich trennen. Karl-Josef Pazzini erweitert den Zusammenhang von Kunst und Religion durch Einbezug der Psychoanalyse. Alle drei Systeme verlangen auf ihre Weise eine Wahrheit, die als Selbstwert nicht zu haben ist und auch nicht als ein Jenseits, sondern als Zeugnis für etwas Unbegreifliches, welches herrschende Diskurse und Märkte übersteigt. Der Beitrag von Andreas Mertin begründet aus theologischer Sicht, warum sich die Kunst nur autonom und restlos säkularisiert dem kirchlichen Kontext wieder andienen sollte und argumentiert zugleich als Kunsthistoriker, dass gute Arbeiten sich dekonstruktiv auf Religion einlassen. Der Dialog der Theologen David Plüss und Johannes Stückelberger besteht dagegen eher darauf, dass Künstler, die in Kirchen arbeiten, die Voraussetzungen des sakralen Raums präzise mitdenken. Dass sich dabei konfessionelle Differenzen auch als protestantische oder katholische Ästhetik rekonstruieren lassen, zeigen zwei jüngere Beispiele von Kirchenfenstergestaltungen durch die Künstlerinnen Judith Albert sowie Claudia und Julia Müller. Arbeiten hingegen, die außerhalb des Kirchenraums liegen, zum Beispiel auf einem Kirchplatz, folgen der Herausforderung, öffentliche und religiöse Zeichensprachen so zu mischen, dass Säkulare wie Gläubige sie verstehen – dies bezeugt Irene Müller in ihrer Besprechung der Bodenarbeit Meeting von Barbara Mühlefluh (die auch das Umschlagbild für den vorliegenden Band abgibt). Eine andere Stimme wiederum ist Sibylle Lewitscharoff, die zwar ohne Angst eine Verbindlichkeit des christlichen Glaubens auch in einem ästhetischen Sinn einfordert, dabei aber das, was Gott und Religion sein könnte, radikal absondert von zeitgenössischer Ästhetik – sogar von der eigenen Literatur. Im Anschluss daran zeugen Künstlerinnen und Künstler im Gespräch von ihrer eigenen Schwierigkeit, das Religiöse in Begriffe zu fassen, von Faszination und Tücken des Katholischen, von Brüchen sowie von der gleichzeitigen Unmöglichkeit, die Frage der religiösen Prägung hinter sich zu lassen. Im zweiten Teil des Bandes Kunst und Glaube im Bildungskontext geht es um den Dialog zwischen künstlerischer Praxis mit Kulturwissenschaft, Religions- und Kunstpädagogik sowie Theologie. Denn das Unterrichten als komplexes Zusammenspiel von Lehr- und Lernprozessen tangiert auch im säkularen Bildungskontext immer wieder die Schnittstellen von Glauben und Wissen.
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Deshalb ist Kunstpädagogik, wenn es um die Vermittlung von Religion geht, besonders aufgerufen, das eigene Tun im Hinblick auf eine möglicherweise nie ganz säkularisierbare Voraussetzung zu bedenken. Das thematisiert unter anderem der Beitrag von Silvia Henke am Beispiel des religiösen Gleichnisses. Er entwirft eine Konstellation, die sich in Unterrichtssituationen zwangsläufig einstellt und die mit der grundsätzlichen Spannung zwischen Verstehen, Wissen und Glauben zu tun hat. Gerade an einer Kunsthochschule, die sich mit Religion befasst, erfordert dies besondere Aufmerksamkeit. Von zentraler Bedeutung für den Glauben, ob im Kunst- oder im Religionsunterricht, ist die Frage der Aneignung von Erzählungen oder der Verwendung von Symbolen. Letzteres thematisiert der Beitrag von Ansgar Jödicke aus religionssoziologischer Sicht. Religiöse Symbole, so Joedicke, gehören (wie Erzählungen) niemandem, sie können nur verwendet werden. Auch der Beitrag von Wolfgang Müller zeigt, indem er theologische und kulturanthropologische Konzepte aufeinander bezieht, wie durchlässig Glaubensfragen auf praktizierte alltäglich-religiöse Rituale sind – am Beispiel des Essens. Monika Jakobs untersucht aus der Perspektive der Religionspädagogik, inwiefern ästhetische Konzepte der zeitgenössischen Kunst für die Vermittlung von religiös-abstrakten Themen fruchtbar gemacht werden können und warnt vor Kurzschlüssen. Zeitgenössische Kunst ist selber so hochkomplex, dass sie sich für didaktische Prozesse nur eignet, wenn Lehrpersonen ästhetisch kompetent sind. Hier ist die Position von Andreas Mertin optimistischer. Er zeigt auf, dass Religionsunterricht sehr viel profitieren könnte vom Einsatz populärkultureller Medien, aber auch vom Gebrauch komplexer Videoarbeiten. Wie genau künstlerische Entwürfe im Atelier einer Kunsthochschule vom Religiösen profitieren können, welchen Ansätzen der individuelle künstlerische Prozess folgt, und mit welchen Konsequenzen im Hinblick auf gesellschaftliche und theologische Konzepte und künstlerische Qualität, zeigt Nika Spalinger in ihrem Beitrag auf. Im dritten Teil Die Frage der katholischen Prägung kommt nochmals im engeren Sinn die Perspektive der Künstlerinnen und Künstler ins Spiel. Ihr konkreter Umgang mit religiösen Zeichen, die Theologie des Bildes, das ästhetische Erlebnis des sakralen Raums sowie die Bedeutung des Körpers als Verkörperung und Materialisierung im religiösen Sinn, kommt in vielstimmiger Weise im Hinblick auf die konkrete künstlerische Arbeit zur Geltung. Das hauptsächlich katholische Umfeld, in welchem die befragten Künstlerinnen und Künstler arbeiten oder aufgewachsen sind, wird von kunsthistorischen Beiträgen konturiert. Fabrizio Brentini erinnert unter anderem an die Signal setzende Ausstellung der Innerschweizer Künstler von 1981, die im Zurückgehen auf die Legende des Heiligen Bruder Klaus die Frage nach der Verbindung von Christentum, Mystik und Friedenspolitik neu stellte. Benno Zehnder geht dieser Legende künstlerisch und biografisch nochmals auf den Grund, indem
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er genau nachzeichnet, was der Auftrag, heute ein Heiligenbild zu machen, für Schwierigkeiten und auch Glücksmomente beinhaltet. Ohne magisches Denken geht es dabei nicht. Niklaus Oberholzer seinerseits zeigt auf, wie man die Kunst zwar nicht von religiöser Bindung lösen, aber in der Deutung von religiöser Vereinnahmung befreien muss, um das Rätsel des „Heiligen“ nicht zu verraten. Exemplarisch hierfür sind die beiden Positionen, die zwei im Projekt mitwirkende zeitgenössische Kunstschaffende mit ihrem Werk bekleiden: der Installationskünstler Christian Kathriner sowie die Videokünstlerin Judith Albert. In seinem Beitrag zu Christian Kathriner interessiert Christoph Lichtin zum Beispiel, inwiefern besonders die räumlichen Arbeiten des Künstlers letztlich eine Referenz darstellen an ein ikonografisches Vokabular des Christentums als einer Sehnsucht nach spezifischen (geheiligten) Orten, die heute vielleicht nur noch Kunst und Architektur liefern können. Obschon Kathriner von präzisen theologischen Fragen ausgeht, werden sie für den Kritiker und Kurator Lichtin also unter der Hand des Künstlers zu Fragen der Kunst. Anders in der Rezeption des Werks von Judith Albert durch Isabel Zürcher. Indem sie ihre eigene protestantisch geprägte Sozialisation in die Rezeption einer mit dem Katholizismus spielenden Künstlerin einbringt, trägt sie mit einiger Leichtigkeit eine wichtige Frage ins Feld von Kunst und Religion: dass es nämlich auf die eigenen Voraussetzungen ankommt, ob man religiöse Bezüge feststellen will oder ob man diese aufgibt zugunsten eines freien Spiels der Zeichen. Die Frage der religiösen Prägung ist mithin für die Rezipienten mindestens so wichtig wie für die Künstler. Interessanterweise kreisen aber beide Beiträge um die (auch medientheoretisch) interessante Frage des Spiels und des Tricks, die eine konstitutive Funktion haben für das Ritual und damit auch für den Glauben. Ob Wunder, Verwandlung oder Trick: ohne diese wären die Tür zur Religion, aber auch zu jeder Transzendenz als dem Himmel der Kunst verschlossen. In diesem Sinn schließt der Band mit einem Intermezzo zwischen Kunst und Religionspädagogik von Monika Jakobs und Eva-Maria Pfaffen, die sich den Himmel zwischen Religion und Kunst nochmals teilen. Wenn religiöse Vorstellungen, wie Freud dies vor hundert Jahren diagnostiziert hat, starke Illusionen sind, in welchen ein großer Teil der Menschen Wünsche und Reminiszenzen verstauen kann, dann haben sie zu Beginn des
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21. Jahrhunderts einen anderen Platz gefunden, zwischen Religion und Wissenschaft, nämlich im Raum der Kunst und Kultur, wo sich (frei nach Heinrich Heine) Engel und Spatzen den Himmel teilen.10 Wenn sie sich treffen, können sie vielleicht auch einmal gemeinsam ein Lied davon singen, dass das Unglaubliche, mit dem Kunst sich abgibt, jenen Glauben mobilisiert, den wir brauchen, um das Profane der Gegenwart auszuhalten.
10 Heinrich Heines Verse aus dem Gedichtzyklus Deutschland, ein Wintermärchen wer-
den von Freud in seinen Aufsatz über die Zukunft einer Illusion zum Leitsatz für den Bestand des Religiösen in der Gesellschaft. In diesem Aufsatz sieht Freud die Kultur als Alternative zur Religion, und dies vor allem, weil die Religion noch die Forderung aufrechterhalte, für wahr gehalten zu werden. Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion (1927), in: ders., Schriften zu Kultur und Religion, Studienausgabe BD. IX, Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt a.M. (Fischer) 1974, S. 174-183.
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TEIL 1
K UNST IM Z EITALTER DES P OSTSÄKUL AREN
Wie inspiriert eigentlich christliche Bildlichkeit die Kunst der Gegenwart? Johannes Rauchenberger
Religion war im östlichen Teil Europas lange Zeit verboten, im westlichen verpönt. Salonfähig war sie – bei manchen ist das immer noch so – nur unter dem Paradigma der Privatheit und im Cocktail verschiedener Religionsgemengen, vor allem östlicher Weisheitslehren. Das galt auch in hohem Ausmaß für die religiös motivierte Kunst und die sie begleitende Kritik. 9/11 und mit diesem Datum die ganze Globalisierungswelle haben Religion zurück ins Debattenfeld geschleudert. Der Fokus auf Fundamentalismus und Gewalt sowie die Angst vor dem Islam überdecken allerdings nicht selten die inspirierende Kraft, die Religion auf die Künste einmal ausgeübt hat. Mein Beitrag nimmt im Diskurs von Kultur und Religion bewusst das Christentum und seine Bildlichkeit in die Pflicht. Der Parcours führt von der medialen Inszenierung von Religion, von der unerwarteten Rückkehr religiöser Motive in der Werbung über den so wesentlichen Aspekt der Figuration im Christentum, die Behauptung von Präsenz und die Vorstellung von Transformation bis hin zur Frage, ob es so etwas wie eine ‚Grammatik‘ von Religion geben kann, eine Struktur oder ein Muster, deren sich vor allem Ritus und Gebet bedienen.
S TR AMME K NIE Wie inspiriert christliche Bildlichkeit die Kunst der Gegenwart? Die Frage meines Titels, ich weiß es, ist suggestiv. Denn die Antwort ist eigentlich schnell klar: Nämlich gar nicht. Schließlich ist, wie wir seit Nietzsche wissen, Gott tot und die ‚Bildgeschichte Gottes in der Kunst‘, die wir seit Wolfgang Schöne kennen, mit 1800 ‚abgelaufen‘.1 Nicht nur der Protestant Hegel hatte in jener Zeit schon 1 Schöne, Wolfgang: Die Bildgeschichte der christlichen Gottesgestalten in der abend-
ländischen Kunst, in: Schöne, Wolfgang, Kollwitz, Johannes, von Campenhausen, Hans (Hg.): Das Gottesbild im Abendland, Witten und Berlin (Eckart) 1957, S. 7.
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das Knien verlernt: „Seien es noch so schöne Bilder vom Herrn und von der Madonna: Es hilft nichts, wir beugen das Knie nicht mehr.“ 2 Die christliche Kunst hat sich eben überhaupt auf merkwürdigen Sonderwegen etabliert, in so genannten Binnenmilieus, die es in den Olymp des Museums kaum mehr geschafft haben und nur mehr im Gebrauchssektor der Propagandagrafik (in Zeiten nach der Reformation) und in Internet Blogs ihre Tätigkeitsfelder haben. Ich erinnere mich: Mit solchen Gemeinplätzen erhielt ich vor fünfzehn Jahren ein Auslandstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes für ein Doktorat in Köln. Als ich die genannten Credos abgespult hatte, fragte mich mein Gegenüber – es war Alex Stock, der mittlerweile bereits acht Bände seiner Poetischen Dogmatik vorgelegt hat – in zwinkernder Güte eines alten Professors: „Aber was ist, wenn doch jemand sein Knie beugt vor einem Bild und ihm seine Bitten überbringt?“ Zugegeben, das hat mich nachdenklich gemacht. Aber kann es wirklich sein, dass eine Religion des Bildes, wie es nun das Christentum einmal ist – wer sagt, es sei eine reine Buchreligion, lügt! – seine imaginativen Ressourcen so schwach zu nutzen weiß, dass sie es als erwachsen gewordenes Gegenüber nicht einbringen könnte in einen Diskurs um das Bild, in ein Interesse um den anderen Bereich? Irgendeinen Sinn müssen die Autonomiedebatten des aus dem einst kirchlichen Machtanspruch gelösten Bereichs doch gehabt haben, sodass man sich mittlerweile wenigstens mit Respekt begegnet, selbst wenn man die Ansichten des anderen keineswegs mehr teilt. Was ich hier jedoch fragen möchte ist, ob die Bildwelt des Christentums am Beginn des dritten Jahrtausends noch irgendeine inspirierende Kraft für die Kunst der Gegenwart haben kann.
S CHAT TEN UND OFFENE T ÜREN Es bleibt ein Schatten. Sind respektvolle Begegnungen, so selten sie auch sind, letztlich doch nur Feigenblätter, mild belächelt, nicht ganz ernst zu nehmen? Wie weit lässt die Kirche Kunst an sich heran, wie weit darf sie ins Zentrum vor, wie sehr darf sie die Finger in die Wunden legen? Scheinheiliger Kirchenfuzzi von Klaus Mosettig war das große Dankgeschenk für eine von mir kuratierte Ausstellung, die sich eruptiven Beschimpfungen der Gesellschaft widmete. Die Frage steht also. Sie steht aber längst nicht nur in der Kirche. Der kritische Wert der Kunst hat heute zunehmend an Kraft eingebüsst, weil sie selbst ihre Kritik systemisch einverleibt. Kunst darf kritisch sein. Sie soll sogar. Selbst Papst Benedikt XVI. hat sich in Anlehnung an Georges Braque zu einer solchen Sicht bekannt: „Kunst soll stören, die Wissenschaft hingegen 2 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I-III, Werke in zwanzig
Bänden, Bd. 13-15, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1970, Werke 13, S. 142.
W IE INSPIRIERT EIGENTLICH CHRISTLICHE B ILDLICHKEIT DIE K UNST DER G EGENWART ?
beruhigt.“ 3 Aber was ist, wenn Kunst im Raum der Kirche nicht nur einfach als Glasfenster anwesend sein soll, nicht einfach als Raum füllende Installation vorkommen möchte, wenn sie einen Altarauftrag annimmt und mit der Konsekrierung wieder zurücktreten muss? Wenn sie mit der ihr eigenen Sprache ins Zentrum des laufenden Kults will?
Klaus Mosettig, Scheinheiliger Kirchenfuzzi, aus der Serie: So lässt man sich einfach nicht gehen (2008), Grafit, Ölkreide, Deckweiß auf Papier, 88 x 120 cm
Für die Wiener Universitätskirche der Jesuiten mit den berühmten Fresken Andrea Pozzos hat der österreichische Künstler Manfred Erjautz Kreuz, Patene, Kelch gestaltet. Kunst bloß auszustellen, reichte ihm nicht, er wollte ins Zentrum vor. Sein Ansatz: ein radikaler Wechsel der Materialität der Ewigkeit: Von Gold in …? Wer vermag Dauer überhaupt noch zu erleben? Wer die Ewigkeit? Erjautz’ Ansatz greift auf die Kinder zurück und auf ihr Spiel, mit der sie die Zeit außer Kraft setzen. Was vermag, in der Sprache des Materials, Dauer und Ewigkeit ästhetisch zu zeigen in der heutigen Lebenserfahrung permanenter Brüche? Die Hostienschale, der Kelch und das Vortragskreuz bestehen aus dem Bausatz der Marke Lego, jenem Material, das für Kinder in ihrer Zeiterfahrung des Spielens einen (zerbrechlichen) Ewigkeitswert hat. Der Kelch, eigentlich ein Haus, eine intime Lebenszelle, nimmt den Glanz des Kristalls zwar auf, aber realisiert ihn mit dem Industrieprodukt der Legobausteine. Ob Ruine oder nicht fertig gestelltes Architekturmodell, es führt in distanzlose Nähe eines 3 Zitiert aus Kunst ist Gottesdienst, Ansprache von Papst Benedikt XVI. anlässlich des
Künstlerempfangs 2009 in der Sixtinischen Kapelle, in: Roers, Georg Maria (Hg.): Im Hause der Blinden. Künstlerreden zum Aschermittwoch von 2004 bis 2010, München (Sankt Michaelsbund) 2010, S. 7-16, hier S. 12.
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Grundmoduls menschlichen Lebens. Wie veredelt wird es von einem Unterbau kristallklarer Bausteine in die Höhe gehoben, unterstrichen noch durch den Arkadenbogen, der ein im barocken Altaraufbau dieser Kirche mehrfach wiederkehrendes Motiv zitiert. Das Haus als Container ist modifiziert in der Gestaltung der Patene als LKW für den Transport von Fischen. Wie das Kelch-Haus nach oben geöffnet und durch durchsichtige Steine wertvoll gemacht, halten die geöffneten Türen eines LKW-Zuges die Hostie in fragiler, vertikaler Balance. Die Ikonografie des Kreuzes schließlich ist ziemlich durcheinander geraten, ein Kruzifix ist nicht einmal angedeutet, vielmehr ist im Zentrum der Achsen ein Lastwagen eingebaut, mit schwebenden Rädern und offenen Türen – ein starkes Symbol für den Übergang, für die Fahrt in eine andere Welt. Die Einladung in diesem LKW mitzufahren schließt zwiespältige Erinnerung ein, lässt die Imagination einer Deportation, die Furcht vor einem Unfall aufkommen: Führt der Weg zu Gott?
Manfred Erjautz, General Systems (2004), Patene und Kelch, Legobausteine
C HRISTLICHE B ILDLICHKEIT IN ZEITGENÖSSISCHER K UNST ? Dieses erste Beispiel führt ins Zentrum unserer Fragestellung: Haben Bildmotive, die die christliche Kunst in ihrer Geschichte so zentral für die europäische Kultur bearbeitet hat, noch eine inspirierende Kraft für die heutige Kunst? Und wenn ja, ist uns dies überhaupt recht? Die Suche nach Motiven reicht hier nicht aus. Interessanter als die ikonografische Suche scheint mir, die Frage dort fortzusetzen, wo das Bild als Bild, wo die Bildwerdung zum Ereignis wird. Zum Bei-
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spiel: Wo das Kreuz zur Chiffre des Transports in ein anderes Leben wird. Wo das gewordene Material für den Inhalt zu einem Diskurs über Zeit wird. Denn das ist Bildlichkeit: Jenes Netz zu knüpfen, das ein Bild zum Bild macht. Was bedeutet aber nun eine ‚christliche Bildlichkeit‘? Sind das notwendig Figuren? Verspricht es die Präsenz des Unsichtbaren? Wie ist es überhaupt beschaffen? Welche Materialität hat es? Ist es von Malerhand gemacht? Ist es ein Geschenk des Himmels? Vermag es auch zu wirken? Worin ist es echt – in den Spuren auf Trägermaterialien wie Tüchern oder einfach in der Präsentation handfester Reliquien, die man in Glassärgen sieht? Oder ist es nur ein Serienprodukt, im Zeitalter der Reproduktionstechnologie unzählig aus Druckmaschinen hervorgegangen oder als Datenmaterial unendlich oft abspielbar? Fest steht jedenfalls: Christliche Bildlichkeit ist weiter zu denken als bis zur Codierbarkeit von Zeichen. Auch Materialien, Körper, Säfte, Reliquien, Rituale, Gesten, Betrachteranteile, Visionen, Räume sind ein Teil davon.
M EDIENOPFER . D AS B ILD DES S TELLVERTRE TERS Aber Hand aufs Herz: Wann erkennen wir in unserer medialen Bildwahrnehmung die religiöse Bildwelt? Das religiöse Bild wird als solches vor allem dann gelesen, wenn es von leicht und schnell reproduzierbaren religiösen Botschaften geprägt ist. Die Rückkehr der Religionen ins öffentliche Bewusstsein ist auch wesentlich dadurch bestimmt, dass sie sich aus der privatisierten Sphäre des persönlichen Glaubens, wie wir sie uns in unseren Breiten angewöhnt haben, hinaus in die Öffentlichkeit der visuellen Kommunikation bewegt haben: Videobotschaften bedienen dabei die klassische religiöse Propaganda, sind aber auch terroristisches Druckmittel. Das öffentliche Bewusstsein der Religion wird massenmedial bestimmt, das hat der so genannte Karikaturenstreit 2006 gezeigt, aber auch die Flächenbrände in den großen Konfliktzonen des gegenwärtigen Pontifikats um Islam, Piusbruderschaft und Priestermissbrauch. Die mediale Wahrnehmung der Religion führt freilich – daran leidet die katholische Kirche derzeit vielleicht am stärksten – zu bizarren Verschiebungen, was die alltägliche Realität anlangt. Die dogmatischen Regulierungen durch das Medium Schrift funktionieren im medienzentrierten Zeitalter immer weniger. Es mag eine Ironie der Geschichte sein, dass ausgerechnet der gegenwärtige Papst als einer der wichtigsten Dogmatiker seiner Zeit daran so zu leiden hat. Es fällt auch auf, dass bildkünstlerische Auseinandersetzungen mit der Person des gegenwärtigen Papstes bei weitem nicht so ausgeprägt sind wie jene mit der Person seines Vorgängers.
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Manfred Erjautz, General Systems (2004), Legobausteine, Stahl, 197 x 32,5 x 11 cm
Johannes Paul II., auch schauspielerisch hochbegabt, war versiert in Medienfragen und wusste sie gezielt für die massenmediale Verbreitung seiner symbolischen Handlungen einzusetzen (Küssen der Erde in beinahe allen Ländern der Welt, Öffnen der Heiligen Pforte, Vergebungsbitten in der Klagemauer). Das hat diesen Papst zum medialen Superstar werden lassen, was sich schließlich im Sterben und im Begräbnis 2005 – einem der massenwirksamsten Ereignisse der bisherigen Mediengeschichte (bis zur Verabschiedung von Michael Jackson) – vollendet hat. Papstmessen und Papstreisen sind seit Johannes Paul II. zum Inbegriff medialer religiöser Ereignisse geworden, die frühere religiöse Bildinszenierungen bei weitem übertreffen. Im öffentlichen Bildbewusstsein verschiebt sich damit freilich der Bildgegenstand des christlichen Bildes hin zur Inszenierung des Stellvertreters. Der polnische Papst ist jedenfalls als Medienphänomen nicht nur medientheoretisch, sondern auch künstlerisch mehrfach zum Gegenstand der Auseinandersetzung geworden, so bei Maurizio Cattelan, Marta Deskur, Piotr Uklanski oder Korpys/Loeffler. Ob als vielfach blasphemisch wahrgenommener kosmischer Einschlag auf den bereits greisen Papst in La Nona Ora bei Cattelan, ob als levitierende Vision zwischen Papsttalar und Brautkleid inmitten der Polish Landscape bei Deskur, ob aus Menschmassen bestehende, den Nord-Süd-Konflikt thematisierende ‚Gesichtsskulptur’ bei Uklanski oder als Offenlegung der gigantischen medialen Bildinszenierung des greisen, von schwerem Leid gezeichneten Papstes
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bei Korpys/Loeffler: Es sind künstlerische Bearbeitungen zwischen Realität und Virtualität, Vision und Wirklichkeit, Blasphemie und Verehrung, welche die massenmediale Präsenz weiter schreiben. Die bildende Kunst signalisiert damit auch die veränderte Wahrnehmung des Religiösen im öffentlichen Bewusstsein.
Maurizio Cattelan, La Nona Ora (1999), Wachs, Kleidung, Polyesterharz mit Metallstaub, Teppich, Glas, vulkanisches Gestein, Kunsthalle Basel
U NERWARTE TE R ÜCKKEHR Parallel, beziehungsweise unabhängig von der offiziellen Inszenierung des religiösen Bildes und der genialen medialen Strategien von Johannes Paul II., war das medialisierte religiöse (christliche) Bild gerade in der Unterhaltungskultur bereits mit aller Wucht zurück gekehrt. Und zwar noch vor dem zu Beginn des 21. Jahrhunderts für die religiöse Bildkultur einschneidenden Datum 9/11. Die Rückkehr der scheinbar überkommenen christlichen Ikonografie war überraschend. Ein Feuilleton-Beitrag der Münchener Romanistin Barbara Vincken nimmt für sich in Anspruch, die Zeichen der Zeit deuten zu können und stellt die Situation um die Jahrtausendwende folgendermaßen dar: „In einer Zeit, die sich ebenso aufgeklärt wie postreligiös gibt, ist die Wiederkehr religiöser Bilder und Figuren in der Werbung, Kunst und Mode ein Rätsel. Jean-Paul Gaultier bedruckt seine Badeanzüge mit dem Turiner Grabtuch. Otto Kern stellt Leonardos Abendmahl in Werbefotos nach. Besonders beliebt sind die Ikonen der populären Devotion des 19. Jahrhunderts: Notre-Dame de Lourdes, das Herz Jesu, das Porträt der kleinen Thérèse de Lisieux und nicht zuletzt das Kreuz selbst in allen möglichen devoten Verarbeitungsweisen. Die Dolce-&-GabbanaKollektion 1999 stand ganz im Zeichen des Herzens Jesu. […] Der erfolgreichste Popstar der neunziger Jahre namens Madonna bringt ein Label Immaculate
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Collection heraus und lässt nun seit Jahren schon in seinen Videoclips Statuen heiße Tränen weinen. Das offizielle Porträt der Thérèse de Lisieux kommt dazu, Viva-Maria-Unterwäsche zu bebildern. Ein Modelabel, das in diesem Jahr in New York für Aufsehen sorgt, heißt Imitation of Christ. Die Show fand in einem Beerdigungsinstitut statt.“ 4 Der Befund, der zwischen einem Horrorkabinett von Blasphemie, Bagatellisierung und Vermüllung religiöser Kultur und der Beweisführung für die unabgegoltene religiöse Energie oszilliert, zeugt von der Dringlichkeit der Bilderfrage, der sich gerade auch die Religion nicht mehr entziehen kann: Diese ist zurückgekehrt, aber bloß als Objekt, an dem andere Interessen Hand anlegen. Sie ist in dieser neuen Medienrevolution des Bildes Funktionsglied eines Kunstsystems. Die Eigentumsrechte über ihre Bilder hat sie dabei allerdings längst verloren. Die Klärung medialer Fragestellungen hinsichtlich des religiösen Bildes transformiert sich somit zur kultur-, ja sogar zur zeitdiagnostischen Debatte. Wem gehören die Motive und warum?
Bettina Rheims und Serge Bramly, Die Dornenkrönung, aus dem Zyklus I.N.R.I. (1998), C-Print, Maße variabel
F IGUR ATION ALS M ATERIAL FÜR NEUE B ILDDISKURSE Werbung arbeitet mit dem letzten Rest jener Energien, die hinter den Bildern steckt. Man glaubt in der Bilderflut zu wissen, was ein christliches Bild ausmacht. Gerade seine Breitenwirkung hat die Codes für das ‚christliche Bild‘ ge4 Vinken, Barbara: Die Wiederkehr der Vanitas. Das Kreuz und Jesu Herz: Religiö-
se Bilder prägen Mode und Pop, in: DIE ZEIT, 19. Dezember 2001, http://www.zeit. de/2001/52/Die_Wiederkehr_der_Vanitas (ges. am 5.1.2011).
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prägt: Es ist keine bloße Atmosphäre, auch nicht Abstraktion, es sind jedenfalls Figuren. Blasse Gesichter mit eindringlichen Blicken, süßlich meist, inszeniert im Gestus, pathetisch zuweilen, mit einer künstlichen Aureole umgeben. Der Körper steht im Zentrum dieser Art von Kunst, die meist Malerei ist. Die Inszenierung von Gesichtern und Gesten hätten den Zweck über das eben Dargestellte hinaus, den dahinter liegenden Schein einer anderen Welt zu vermitteln. Körperlichkeit im Lichte der Heilsgeschichte zu thematisieren hat das Christentum in einer entsprechend weiten Spannbreite entwickelt. Ihre malerische Erschöpfung hat schließlich Hochkunst und religiöse Gebrauchskunst entzweit. Ihre Ausweitung in die Trivialkultur hat zur Folge, dass Jenseitigkeit in Diesseitigkeit umschlägt. Davor ist oft gerade die kirchliche Gebrauchskunst betroffen. Im Kitsch geschah und geschieht dieses Umschlagen unreflektiert. In manchen neuen Formen aber ist es Teil der künstlerischen Strategie. Beispielhaft kann etwa der um die Jahrtausendwende äußerst erfolgreiche Bildband I.N.R.I. der französischen Fotografin Bettina Rheims und des Philosophen Serge Bramly gelten.5 Er zeigt das Leben Jesu, seine Passion und Auferstehung in zeitgenössischer Werbefotografie. Die aus der Glamour- und Erotikfotografie kommende französische Fotografin arbeitete für I.N.R.I. in einem ehemaligen psychiatrischen Krankenhaus. Ihre Protagonisten waren Models, wie die Darstellung des Menschen im Modekosmos des späten 20. Jahrhunderts sie prägen. „Die artistische Kunst der Herrichtung wird auf den Fotografien nicht naturalisierend verborgen, sondern zur Schau gestellt: Als zurechtgemachte Kunstprodukte streichen sie ihre Modellqualität heraus. Rheims’ Fotos zeigen einen typisch abwesenden Modelblick und die typischen Mannequinposen.“ 6 Die Repräsentation wird dabei am Körper der Models ausgetragen. Models – oder Mannequins – sind aber eben nicht das, was sie zu sein vorgeben: wahrhafte Körper. Ihre Abwesenheit ist nicht aus einer Anwesenheit begründet. Sie sind inszeniert. Gerade die Verwendung von Bildmedien aus der Geschichte der religiösen Repräsentationsmalerei – eine Mischung aus Nazarenermalerei und Spätrenaissance à la Dolci und Reni – steigert das Scheitern der wirklichen Repräsentation und entlarvt sie als bloße Strategie. Die einschlägigen Blicke sind nicht wirklich zum Himmel gerichtet, sondern bloß himmelnd. Die Wunden sind aufgeschminkt, die Körper nur mehr Hüllen ohne wirkliches Blut. In der Rezeption aber hatten die Bilder Erfolg. Zeitgeistig gestylt weckten sie wie aus der (Groß-)Elterngeneration noch bekannte religiöse Imagerie. Während dort aber die Leere der Inszenierung das Schicksal des Verschwindens besiegelte, ist sie hier reflektiert und bewusst gesetzt. Auch wenn das Spiel von Sein und Schein im religiösen Bild schon lange bekannt ist – in den barocken Schaufassaden, der Inszenierung der Altäre, den auf der Hinterseite ausgehöhlten 5 Serge Bramly & Bettina Reims: I.N.R.I., München (Keyahoff ) 1998. 6 Vinken (wie Anm. 4).
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Statuen, die auf der Vorderseite ihre ganze Pracht entfalten – der Reflexionsgrad der ‚Täuschung‘ ist in diesen spätmodernen Bildern neu. Die Intensität eines Auseinanderfallens von Inhalt und Form wird gerade angesichts ihrer religiösen Thematik vorgeführt. Religiöse Szenerie als „künstlich zurechtgemachtes, vollkommen hergerichtetes, rein im Materiellen liegendes Ideal, das in seiner ostentativen Geist- und Seelenlosigkeit fasziniert“. 7 Kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern bloß eine Puppe mit einem glänzenden Schein ist es, der nach der Wiederentdeckung einschlägiger Sujets aus der religiösen Bildwelt der Status eines Geschichten erzählenden Gegenübers zuerkannt wird.
Muntean/Rosenblum, Ohne Titel (The overhelming spell...) (2010), Öl auf Leinwand, 260 x 220 cm
Ähnlich verfährt das österreichisch-israelische Künstlerpaar Muntean/Rosenblum. Es schöpft besonders gerne aus dem Fundus von Gesten, Posen, Attributen, Kompositionsstrategien und Farbsymboliken, die es – ihres religiösen, mythologischen Hintergrundes entkleidet – einsetzt, um Emotionen künstlich zu erzeugen. Kunstgeschichtlich wurden diese Gesten „Pathosformeln“ (Aby War-
7 Ebenda.
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burg) genannt. „Pathos ist der Religion vorgängig.“ 8 Für unser Thema sind die beiden auch deshalb von besonderem Interesse, als für sie Religion „als Glaubensform nicht zur Verfügung steht“,9 sie sich aber gleichzeitig in Pathos, Bild, Gefühl dem Steinbruch der Geschichte von Bildern bedienen – in der künstlerischen Strategie des Sampelns. Immer wieder sind in ihren Bildern und Videos Jugendliche mit leererem Gesichtsausdruck zu sehen, die gelernt haben, sich dem durch die Medien geprägten Schönheitsideal und Gesellschaftsmodell anzupassen. Sie sind die Produkte einer medialisierten Gesellschaft, haben die Botschaften der Werbeindustrie verstanden und verinnerlicht und doch suchen sie – bewusst oder unbewusst – nach viel mehr. Diese Kritik an der Repräsentationskultur mit den Mitteln der kulturell prägenden Schemen der Repräsentation, die das Christentum wesentlich mitbestimmt hat, trifft natürlich ins Mark dieser Religion. Was ist an ihren Figuren, die zum leeren Spielball werden, lebendig, wie können sie Heilsgeschichte noch legitimieren?
Boris Mikhailov, Case History Nr. 05 (1999), C-Print, 192 x 127 cm 8 Rauchenberger, Johannes, Kölbl, Alois: Präzise Mehrdeutigkeiten, um die Frage of-
fen zu halten... Ein Gespräch mit Muntean/Rosenblum, in: Plötzlich nicht nur Spiel. Pathos und Emotion in der aktuellen Kunst, Kunst und Kirche Nr. 2, 2002 Darmstadt, S. 102-105, hier S. 105. 9 Ebenda.
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G ESTEN : W ÜRDE , E RZ ÄHLKL ANG , C OMPASSION
Marta Deskur, Visitation (1999), Leuchtkasten, 125 x 185 cm
Was ist, wenn die ‚Pathosformeln‘ in der Kunst der Gegenwart nicht das Ausmaß der Sinnentleerung dokumentieren, sondern wenn sie sich mitten im Leben der Globalisierungsverlierer zeigen? Einer der bekanntesten Fotokünstler der ehemaligen Sowjetunion, Boris Mikhailov, hat in seiner Serie Case History Obdachlose, Verstoßene und Arbeitslose, körperlich und psychisch Kranke aus seiner ukrainischen Heimatstadt Charkov fotografiert: jene, die ausgegrenzt sind von der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung. Die Bilder, in der Tradition von Tableaux vivants, versetzen in Szenen, wie sie vornehmlich die christliche Ikonografie im Kontext religiöser Erzählungen im Motiv der Kreuzabnahme, in Beweinungsszenen und in der Darstellung von Trauernden vorbringt. Die Darstellungen basieren auf keiner Heilsgeschichte, im Gegenteil: Die Fotografien offenbaren die Abwesenheit jeglicher Überhöhung durch Geschichte und Geschichten, das Dargestellte wird sogar zum ‚Fall Geschichte‘, wie der Titel suggeriert. Das Leiden dieser Menschen ist buchstäblich hoffnungslos; die Folie der Rückerinnerung durch aus der christlichen Bildwelt konnotierten Gesten ist nicht einmal Anklage der Ohnmacht angesichts dieser Existenzen, höchstens der blasse Schimmer einer in der Hoffnungslosigkeit geborenen Weltdeutung
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– aber mit dem seltsamen Glanz einer Haltung, die man mit ‚Würde‘ umschreiben kann. Die Folien der christlichen Erzählstrategien sind aber nicht nur als Pathosformel eine Inspiration. Mitunter spielen sie auch weiter auf jener Klaviatur, die den Klang der Bilderzählungen seit Giotto, Fra Angelico, Piero della Francesca, Giacomo Pontormo und wie sie eben nebst Raffael noch heißen, formt. Nicht selten sind auch direktere Anknüpfungspunkte zu jener Kunst entstanden, die man christlich nennt: Verkündigung, der Besuch Marias bei Elisabeth, Fußwaschung, Kreuzigung, Verklärung, Beweinung, Himmelfahrt. Jungfrauengeburt wird bei der polnischen Künstlerin Marta Deskur zu einer Debatte um künstliche Reproduktion. Die schwangeren Bäuche ihrer Virgins haben bei genauer Betrachtung immer dasselbe Gesicht. Wird das Geheimnis des Lebens beim Eingriff in die Erbsubstanzen in dieser Form bleiben? Das alte Motiv der Heimsuchung erscheint bei ihr erfrischend gegenwärtig, wenn die beiden jungen Frauen einander vom werdenden Leben in ihrem Bauch erzählen. Bill Viola hat schon vor Jahren in der bekannten Videoarbeit The Greeting eine Zusammenkunft zweier schwangerer Frauen, die in der Realzeit vierzig Sekunden gedauert hat, auf fünf Minuten gedehnt. Was man als Fußwaschung zu erkennen meint, ist bei der polnischen Künstlerin Deskur ein Akt der Krönung mit einem Tuch. Das Werk hat seinen Einfallsort in der Marienkrönung Fra Angelicos im Pariser Louvre. Deskurs Hintergründe in ihren Leuchtkästen sind weiß. Ihre künstlerische Frage ist: Lassen sich die Bildmotive des Christentums in die heutige Welt übertragen? Der ‚Lichtmeß-Blick‘ vom Lobgesang Simeons auf das Kind hat den Berliner Medienkünstler Tobias Trutwin zu einer Arbeit über das Sehen verleitet: Simeon sieht im Kind das Heil – und kann nun sterben. Das Gesehene aber überlebt. Die Flugversuche des Künstlerpaares Anderwald+Grond zeigen tollpatschige Engel. Deskurs Himmelfahrten sind Erscheinungen in der schönen polnischen Landschaft zwischen Papstsoutane und weißem Brautkleid über Magnolienblättern. Wie Pathos als Ausdruck der Emotion bezieht sich die Schwerelosigkeit auf eine christliche Bildlichkeit, und bezieht, herausgelöst aus der ursprünglichen Bedeutung, dennoch von ihr her ihre Wärme. Den Schmerz der Welt im Schmerz eines Körpers zu binden war die kulturelle Integrationskraft der christlichen Passionsidee. Die Andacht solcher Passion erfordert die Geste innerer Devotion. Es geht nicht um das Leiden an sich, sondern um den Konzentrationspunkt des Leidens der Welt überhaupt, der hier zum Beweis am eigenen Körper gefordert wird. Als das zentrale Motiv christlicher Emotionalität drohte das Mit-Leiden immer wieder ins Depot der religionsbeschwerlichen Belastungen zu gelangen. Das Christentum als die etikettierte und nach Nietzsche allzu oft verspottete Religion des Leidens hat deshalb mitunter versucht, sich eine andere Corporate Identity zu verpassen. Zwar hat sich die Politische Theologie angesichts der globalen Armut dieses Motiv wieder zueigen gemacht, aber längst jenseits jener inneren Devotion, die die Geste des kulturell so bestimmenden Andachtsbildes einst erfordert hatte.
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Mit einer künstlerischen Verschränkung aus persönlicher Biografie und politischem Statement nähert sich der aus Albanien stammende und in Mailand lebende Künstler Adrian Paci diesem Thema. Auf vielschichtige Weise setzt er sich mit dem Schicksal von Emigranten, das auch sein eigenes ist, auseinander. 1997 ist er mit seiner Familie aus den bürgerkriegsähnlichen Zuständen seiner albanischen Heimat nach Italien geflohen. Paci gibt intimen Einblick in sein engstes familiäres Umfeld, wenn er etwa seine dreijährige Tochter mit der Videokamera beobachtet, wie sie die Geschichte ihrer Familie und ihrer Heimat in die suggestiven kindlichen Bilder eines Märchens fasst. Immer aber geht es ihm um das Allgemeine, das sich im Besonderen, nur subjektiv Erlebbaren erschließt. In seiner fotografisch dokumentierten Performance Home to Go hat er sich ein Hausdach auf den Rücken geschnallt und eröffnet in einer subtilen Anknüpfung und Vermischung der Ikonografie des Kreuz tragenden Christus und des nach übermenschlicher Freiheit suchenden Ikarus einen assoziationsreichen Blick auf die Bedeutung von Heimat zwischen Bedrängnis und Sehnsucht.
Adrian Paci, Home to Go (2001), 9 C-prints, je 100 x 100 cm
Mit dem Gestus der Andacht geht der aus Bosnien stammende und in Zagreb lebende Künstler Zlatko Kopljar in seiner neunten Performance Compassion K 9 und Compassion K 9+ an die kulturelle Öffentlichkeit, indem er seinen eigenen Körper, immer in derselben knienden Haltung in schwarzem Anzug vor den Tempeln der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Macht New Yorks
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‚mappt‘: Wall-Street (lange vor der Weltwirtschaftskrise), Guggenheim-Museum, Times Square. Sodann vor den großen Parlamenten der Welt in London, Moskau, Peking. Die dabei entstandenen Fotografien hängen nun in der ständigen Sammlung des neu eröffneten Museums of Contemporary Art in Zagreb. Die Knieperformance Kopljars ist eine Apotheose der Ohnmacht. Die Dialektik von Schwäche als Stärke ist das eigentlich Provozierende für jedes scheinbar funktionierende System. Ob Kopljar in seiner Performance meditiert, ob er anbetet, um Gnade ersucht, ob er in einer zynischen Haltung anklagt – es ist nicht entschieden. Kopljars Arbeiten entstanden bereits seit den 1990er Jahren in einer paradoxen Konfrontation zwischen der damaligen Mikro- und Makropolitik, zwischen individuellen Verlusterlebnissen während des Balkankrieges (sein Vater wurde Opfer eines Bombenangriffs) und dem Versuch der Bewältigung in größerem Zusammenhang. Das Verständnis des Körpers – seines eigenen Körpers – sucht im Prozess des performativen Mappings eine Neubildung im Verständnis von Gegenwart. Es ist die Konfrontation zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Aggressivität und Meditation, zwischen Politik und Religion. Christentum wird dabei dem Materialismus entgegengesetzt, die Erfahrung des Neoliberalismus jener der postkommunistischen Zeit, die Schere zwischen lokal und global geöffnet – all dies erfährt in diesen Bildern des Kniens vor den Tempeln der Gegenwart eine künstlerische Synthese.
Zlatko Kopljar, Wallstreet aus der Serie K9 compassion (2004), UVPrints auf Synthetikfolie, 180 x 220 cm
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P R ÄSENZ Hinter der Performancekunst im Stile Kopljars steckt jenes Phänomen, das christliche Bildlichkeit immer besonders interessiert hat: der Anspruch, Präsenz, also Gegenwart zu stiften. Die Idee der Präsenz durchzieht im christlichen Imaginationshaushalt vor allem drei Bildebenen: das bildloseste Bild, die Eucharistie (mit nicht selten ausuferndem Imaginationsgehalt), die Reliquien der Heiligen und das Antlitz Jesu. Während die Reliquien und das Antlitz Jesu in den Etappen der Kirchengeschichte nicht immer den gleichen Präsenz-Status zuerkannt bekommen haben, ist jener der Eucharistie zumindest seit der Einführung der Transsubstantiationslehre dogmatisch fixiert. Auch in der bildlosen Form der Eucharistie ist das Motiv des Mitleids (engl. compassion) prägend: Die Anrufung „Ave verum corpus“ gilt einem passionierten Körper. Um diese visuelle Unscheinbarkeit herum wurde und wird inszeniert. Aber gleichzeitig, so lehrt uns der heutige musealisierte Blick, sind die Geräte dieser Inszenierung – und seien sie auch aus Lego! – keineswegs nur den eucharistischen Gaben vorbehalten. Auch anderes wird mit gekonnten Bildstrategien überhöht. So sind es nicht nur Symbole der Repräsentation, die in der christlichen Religion besonders bildwürdig sind, sondern auch Reste von Körpern, deren Umhüllung und bildliche Inszenierung auf den ersten Blick beinahe gleich den Monstranzen für die Eucharistie gestaltet sind. Hinter dieser bildlichen Ähnlichkeit verbirgt sich wohl eine ganz grundlegende Fragestellung des Christentums in seinem Verhältnis zum Bild als Körper. Die Inszenierung als Ummantelung beziehungsweise als Hülle hat auch für zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler produktives Potenzial: „Meine Arbeit ist ohne die mittelalterliche Idee der Reliquiare nicht denkbar“, resümierte der britische Künstler Antony Gormley, der seit mehr als zwanzig Jahren mit den bleiernen und eisernen Abgüssen seines eigenen Körpers die Präsenzerfahrung des Ichs unaufhörlich zu steigern sucht – nicht nur in Museen, sondern an oft atemberaubenden Orten in der Landschaft, an Knotenpunkten von Verkehrswegen oder an historischen Stätten. Diese Struktur ist unter anderem von der Inszenierungsqualität kultischer Zeigegeräte hergeleitet – freilich mit dem entscheidenden Unterschied, dem schauenden und in sich versunkenen Subjekt selbst jene Qualität von Präsenz zu verleihen, die einst die Umhüllung von Reliquien intendierte. Dass etwa die Hand oder der Finger eines Heiligen in der Umhüllung den Heiligen pars pro toto meinte – auch wenn die Umhüllung vielmehr idealistischer als mimetischer Natur war – ist eben auf den Inhalt der Umhüllung selbst übertragen: Es geht darum, mit Hilfe der Hülle des Körpers, die bei Gormley anfangs Blei, dann Eisen ist, das Innere erst zu imaginieren, Körper und Realität von innen heraus zu formen und die Gegenwart des Körpers zu evozieren. „Es ist doch so, dass der Raum, den wir in Wahrheit bewohnen, hinter den Erscheinungen
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liegt“ .10 Der Körper als Bild, das von innen heraus erst geschaffen werden muss, ist bei Gormley das Produkt eines meditativen und imaginativen Prozesses. Was aber ist, wenn der Prozess selbst zur Fragestellung nach der Medialität des Bildes wird? Man kommt künstlerisch nicht darum herum, in „gewisser Weise eine Keimzelle zu definieren, das Eigentliche des Körpers als einen Ort der Transformation zu zeigen“.11 Mit der Frage nach seiner prozesshaften Struktur verschiebt sich die Medialität des Bildes von der Präsenz zur Energie: Welche Kraft geht von einem Bild aus, noch dazu, wenn es sich als prozesshafter Körper zeigt?
Antony Gormley, Divided States: Supplicate I (2006), rostfreier Stahl, 143 x 56 x 65 cm
Gormleys Beispiel zeigt ein werkimmanentes Spannungsfeld zwischen Materialität und Virtualität: Nach rund 20 Jahren des Abgießens seines eigenen, ganzen Körpers und dem Ausloten präsentischer Körpererfahrung interessierte ihn immer mehr die Auratisierung des Körpers mit klassischen skulpturalen Methoden. Der Künstler fragt danach, wie im Medium des Bildes beziehungsweise der Skulptur der Prozess der Transformation von leibhaftiger Materie in strahlenhafte Energie erfahrbar wird. Wenn auch immer noch an der Materiali10 The Darkness within the Body. A Space full of Potential, Antony Gormley im Ge-
spräch mit Johannes Rauchenberger und Alois Kölbl, in: Transformationen der Schwerkraft, Kunst und Kirche Nr. 1, 2003 Darmstadt, S. 28-32, hier S. 29. 11 Ebenda, S. 30.
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tät des Metalls und der Umrissform der Figur festhaltend, liegt für Gormley der (vorläufige) Endpunkt seiner skulpturalen Körperkunst in der Zerlegung des Körpers in Atomteilchen und in gleichsam skulpturale Pixelbausteinen. Beides, Atomkerne, Elektronen wie auch die Pixel digitaler Bildgenerierung, sind ins Medium der Skulptur übertragen. Sie zeigen somit den Widerspruch an, sich überhaupt der Bausteine des Bildes wie auch die Verwandtschaft der energetischen und der transformatorischen Kraft des Körpers bedienen zu können. Das Interesse an der Transformation des Körpers ist eine grundsätzliche Fragestellung der Religionen. Im Christentum hat es nicht nur durch sein Beharren auf der Bindung von Körper und Geist eine besondere Brisanz, sondern vor allem in der Frage der Auferstehung. Aus ihr sind in der Geschichte der Malerei mitunter äußerst kühne Projekte entstanden – nicht zuletzt in jener Phase, als man eben den (darstellbaren) Körper zum Medium des Bildes erklärte. Und gerade in einer Zeit steigender virtueller Bild- und Wirklichkeitswahrnehmung, die sich mit dem Verlust des Körpers auseinanderzusetzen hat, sind neue künstlerische Bearbeitungen auch für die damit verbundenen religiösen Aspekte zu erwarten.
TR ANSFORMATION Das Aufkommen neuer künstlerischer Medien hat auch die Bearbeitung des Körpers mit neuen Interessen versehen. In der Ausstellung Himmelschwer. Transformationen der Schwerkraft habe ich eine aus Eisenstäben strahlende Figur Gormleys mit einer Verklärung Gianlorenzo Berninis konfrontiert. Was ich zeigen wollte: Die Verwandlung von Materie in Licht, wie die biblische Erzählung sie zur Anschauung bringt, und der Übergang von der Materialität der Skulptur in eine auratische Strahlung. Dass sich dieses Interesse der Verwandlung des Körpers in Energie mit explizit theologischen Fragestellungen verknüpfen lässt, hat der russische Künstler Gor Chahal gezeigt. In der Moskauer Off-Szene der 1980er-Jahre und der beginnenden digitalen Kunst sein Profil entwickelnd (er war einer der ersten Künstler in UdSSR, der virtuelle Skulpturen herstellte), begann Chahal bald die verschütteten spirituellen Traditionen seiner Heimat und der orthodoxen Tradition künstlerisch zu bearbeiten. Den am Medium des Bildes sichtbaren Transformationsprozess mit der Frage der Bildenergetik zu verbinden ist ein Aspekt, den die ostkirchliche Bildtheologie des 13. und 14. Jahrhunderts gerade an der Verklärungserzählung am Berge Tabor (Mk. 2, 2-9) durchdeklinierte. Die so genannten Hesychasten (Gregorios Palamas) beschrieben in vielfältigster Form die Energie des Lichts, die sie an der Ikone fest machten. Gerade das Tabormotiv hat Chahal in zahleichen Werken verarbeitet – als mit den Bildmitteln des Virtuellen brennende Körper, die sich zwischen den ‚drei Grazien‘ und schönen Kreuzigungsdarstellungen bewegen, bis hin zu
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virtuellen und realen Modellen des Berges Tabor selbst. Wie die Anhänger des ‚Hesychasmus‘ durch Gebets-, Meditations- und Atempraktiken an den ‚göttlichen Energien‘ Anteil zu erhalten und das so genannte Taborlicht zu schauen hofften, ließ sich Chahal gerade von dieser Tradition inspirieren: In konzentrischen Kreisen bewegen sich etwa in der Arbeit Stages die Gottesnamen des Trishagions („Heiliger Gott, Heiliger Starker Gott, Heiliger Unsterblicher Gott“) auf die Betrachterinnen und Betrachter zu, destabilisieren den Realraum und entfalten einen Sog in ein virtuelles Jenseits. In zahlreichen anderen Arbeiten hat Chahal die bewegte Ornamentik von Pixeln in blitzartige figurale Momente überführt, um sie der aus Goldblättern bestehenden feuerhaften Figuration einer verklärten Kruzifixation gegenüberzustellen: Als Korrespondenz zwischen „My Earth“ und der „Sonne der Wahrheit, Anmut und Schönheit“ verbindet der Künstler Techniken der virtuellen Bildentstehung mit dem Anspruch der ostkirchlichen Bildtheologie, Korrespondenzen und Transformationen von Materie und Licht zu erschließen.
Gor Chahal, Sun of Truth. Kindness and Beauty (2003), Solventdruck auf Leinwand, 220 x 220 cm
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S TRUK TUR Christliche Bildlichkeit ist also keineswegs nur eine Frage der Motive. Sie hat vielmehr mit einem Diskurs über Körperlichkeit zu tun, der von ihrer Entstehung bis zur Leidensfähigkeit und seinem Absterben reicht, mit Verfall und Verwandlung, mit Aura und Energie, mit Gegenwart und Performanz. Um einen Grenzbereich zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen Bild und Wort, zwischen Reden und Plappern, zwischen Bitten und Beten, zwischen Ordnung und Einfall auszuloten, ist es mitunter notwendig, nach einer grundsätzlichen Grammatik zu suchen, nach einer Struktur, mit der eine Bildwelt gebaut ist. Chahal hat die Schrift eingesetzt, um das virtuelle Jenseits der Anbetung im Trishagion in den Betrachterraum einfallen zu lassen. Ein anderes Beispiel: Der Grazer Maler Günter Gutjahr schreibt seit zehn Jahren, von niemanden beauftragt und ohne genaue Absicht, auf unzählige Leinwände das Ave Maria. Es ist für ihn ein Akt purer Gegenwartserfahrung. Für die Betrachterinnen und Betrachter bleiben blaue Leinwände, die von einer faszinierenden Bildstruktur aus Worten gewebt sind. Es hat sich ein Gestus verselbständigt, längst jenseits der Bedeutung des Geschriebenen, aber von der täglichen Einwilligung des Künstlers abhängig, der sich die Freiheit nimmt, jeden Tag auch nein sagen zu können – und es nicht tut. Für die Ausstellung RELIQTE zeigt das Grazer Künstlerpaar 0512 ein computergeneriertes Relief, ein Sonogramm des Wortes ‚Allah‘. Die Faszination für das Bilderverbot, das in Judentum und Islam um einiges stärker ausgeprägt ist als im Christentum, ist der Ausgangspunkt einer aus einer synthetisch generierten Stimme abgeleiteten, bildnerischen Struktur. Die akustische Analyse überträgt das Wort ‚Gott‘ in ein rechtwinkliges Koordinatensystem (Zeit, Frequenz, Intensität) und schafft die Basis für eine dreidimensionale Umsetzung. Der Name Gottes, der die lange Geschichte der Bilderlosigkeit in die Dimensionen des Ornaments, der Mathematik, der Proportion, der Symbolik, der Stimme, des Klanges entfalten ließ, wird in einer Form der Abstraktion bildhaft, die sich eben neuer medialer Wirklichkeitsdarstellung bedient. Diese Abstraktion hat eine Struktur, die mit den Kategorien der Schönheit beschreibbar ist. Formen beziehen sich eben nicht nur auf Bilder, sondern auch auf abstrakte, wissenschaftliche Darstellungsmöglichkeiten. Formen beziehen sich aber auch auf Riten und Klänge – und können durch technische Hilfsmittel eine Distanz der Erhabenheit dazwischen schieben, die eine neue Form des Einbruchs einer anderen Wirklichkeit nach sich zieht. Die Surround-Serie der aus Sarajewo stammenden Künstlerin Danica Dakić mit den abgebildeten Händen (nackter Menschen), die vor den heiligen Büchern der Weltreligionen mit der Geste der Behutsamkeit schweben – ein Szenenfoto aus einer Performance, aus der diese daraus vorlesen –, gehört zu den kostbarsten Stücken der Auseinandersetzung mit Religion unter den Vorzeichen nicht der Gewalt, sondern der Versöhnung
W IE INSPIRIERT EIGENTLICH CHRISTLICHE B ILDLICHKEIT DIE K UNST DER G EGENWART ?
in der internationalen Gegenwartskunst der letzten Jahre. Ursprünglich für die Istanbul Biennale 2003 entstanden, inszenierte die Künstlerin ein feierlicharchaisches Lese-Ritual.
Danika Dakić, Surround (2003), insgesamt 7 C-Prints, je 50 x 42 cm
Sieben Menschen bewegen sich langsam auf eine schwarze Drehscheibe zu, auf der sieben aufgeschlagene und zu einem ornamentalen Heptagon-Ring verbundene Bücher zu sehen sind. Die Menschen sind nackt, ohne kulturelle Codes wie z.B. Kleidung, allein auf ihre körperliche Erscheinung reduziert. Bewegung entsteht auf der runden Scheibe, die sich langsam und gleichmäßig zu drehen beginnt und die Runde der Leser in ein Lebensrad verwandelt. Man hört verschiedene Stimmen, die in verschiedenen Sprachen wie Sanskrit, Latein, Arabisch, Chinesisch oder Hebräisch religiöse Texte vorlesen und vorsingen. Jeder Körper steht für eine Weltreligion: Christentum, Judentum, Islam, Konfuzianismus, Hinduismus, Taoismus und Buddhismus. Und gleichzeitig stehen sie auch für verschiedene Geschlechter, Herkunft und Hautfarben: Männer und Frauen, Schwarze, Weiße und Asiaten – der Ausschnitt eines Kosmos hat sich hier versammelt. Die daraus entstandene Fotoserie ist für das Kulturzentrum bei den Minoriten in Graz entstanden. Die Seite der heiligen Bücher, die das Christentum bezeichnet, ist jene mit „Ad Corinthos I, Kap XIII“: „… und hätte aber die Liebe nicht“ ist schlicht jene christliche Gegenwelt, entnommen der Schönheit heiliger Texte, die einer einseitigen Monotheismusthese, die im Eingottglauben die Quelle für Gewalt und Fundamentalismus sehen will, den Stachel zieht. Für das aus mehreren Kunstformen bestehende Symposium Kunst zu glauben. Über die Glaubwürdigkeit der Kunst und die Kunstwürdigkeit des Glaubens12 12 Das Symposium fand anlässlich des 70. Geburtstags des in Kunstfragen sehr ver-
sierten Grazer Bischofs Egon Kapellari statt.
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hat der Komponist Peter Ablinger eine Klangskulptur im barocken Minoritensaal, dem Ort, wo ich seit zehn Jahren das Kulturzentrum bei den Minoriten in Graz leite, gebaut, und mit diesem Beispiel, das eigentlich ein Beispiel aus der Musik ist, möchte ich meinen Strukturblick auf christliche Bildlichkeit abschließen. Ablinger verfährt in seinen Kompositionen meist so, dass er ortspezifische Geräuschkulissen aufnimmt und daraus seine charakteristischen Kompositionen entwickelt. Ablinger kommt aus einem Milieu, in dem Rhythmus, Klang, Struktur schon in kindlicher Erfahrung angelegt gewesen sind. Seine Eltern beteten täglich den Rosenkranz. So hat er zu diesem Symposium ein ‚Portrait seiner Eltern‘ gebaut. Er zeichnete sie beim Rosenkranzbeten auf und komponierte so das Stück seiner Quadraturen-Serie für zwei selbst spielende Klaviere, die gleichzeitig monumentale Skulpturen sind. Allein durch die computergesteuerten mechanischen Tastenanschläge entsteht ein Klangbild, das beim einen in „Ge-grü-sset-seist-du-mar-ia-v’oll-der-gnade-derherr-ist-mit dir…“, während beim anderen dieser Effekt überhaupt nicht eintritt. Ob sie es hören oder ob sie es nicht hören, die Grammatik des Christentums ist auch Klang. Ebenso jedoch ist es auch Materie, Transformation, Erzählung, Körper, Spiel. Und denken Sie an das Lego am Anfang: Es ist auch Zeitlosigkeit, selbst wenn sie zerbricht.
Berühren, glauben, verinnerlichen. Notizen zu Psychoanalyse, Religion und Kunst Karl-Josef Pazzini
S UCHE NACH DER W AHRHEIT Psychoanalyse, Religion, Kunst: alle drei zur Diskussion stehenden Diskurse sind auf der Suche nach der Wahrheit. Das wird ihnen zugeschrieben oder sie behaupten es von sich selbst. Die Suche nach der Wahrheit, das Auftauchen der Wahrheit, das Entbergen der Wahrheit ist ein diffiziles Unterfangen, etwas anderes als das Zielen auf effektive Verwertbarkeit und Anschlussfähigkeit. Und wahrscheinlich altmodisch zusätzlich. Wahrheit hat vor allem auch mit der Verarbeitung von Enttäuschung und Trennung zu tun. Wahrheit nenne ich die Berührung mit dem Uneindeutigen, dem Paradox, das Aushalten der Spannung. Sie unterscheidet sich von der Reduzierung auf Regelhaftigkeit; diese würde Komplexität und Singularität ausblenden. Zunächst sieht es so aus, als behaupte nur die Religion, einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zu haben. Manche Dogmen der katholischen Kirche beispielsweise legen das nahe, so das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes. Empirisch kommt der Anspruch auf Wahrheit allerdings auch in den anderen Diskursen vor. Wahrheit, auch wenn man sie nicht hat, verlangt gleichwohl eine Entscheidung. Angelehnt an das, was in dem Ausruf zur Sprache kommt: „Das ist die Stunde der Wahrheit!“
S UBJEK T Gleichzeitig kommt in der Suche nach Wahrheit das Subjekt, bzw. ein Subjekt überhaupt zum Vorschein, psychoanalytisch gesprochen ist es das Subjekt des Unbewussten, das Subjekt, das sich selbst bestenfalls in einem Begehren, das vom anderen her kommt, bemerkt, durch eine Herausforderung mit ungewissem Ausgang. Dieses Subjekt ist nicht autonom und auch nicht zu verwechseln mit dem stark narzisstisch angehauchten Ich, das selber mit seinen Vorlieben
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permanent vorkommen muss in der Welt. Es geht beim Bezug auf die Wahrheit um das „Funktionieren der Dysfunktion“ 1 – das könnte man Leben nennen. Wittgensteins letzte Worte sollen gewesen sein: „Sagen Sie ihnen, dass ich ein wundervolles Leben gehabt habe!“ 2 „Ein wundervolles Leben: ein Leben also, das dem Appell des Unlebbaren, der Versuchung der Wahrheit nicht ausgewichen ist. Ein Leben, das das Rätselhafte, das auch der Tod darstellt, zu empfangen, aufzunehmen und zu beherbergen versuchte. Ein Wahrheitsleben, solange wir unter Wahrheit die Grenze der Gewissheiten verstehen. Wahrheitsberührung ist diese Erfahrung des Ethischen“ 3. Wahrheit wird zeitlebens verstellt sein. Das gewaltsame Abräumen von Hindernissen oder die ungebremste Neugier der Entlarvung führen in ihrer Aggressivität direkt zum Tod, wie es etwa Schiller im Jüngling zu Sais geschildert hat. Sinnlichkeit, die Sehnsucht des direkten Bezuges zum Realen, muss also gekonnt, kultiviert, verzögert, ihre Energie genutzt und umgewandelt werden. Das ist der Bereich der Ästhetik, insbesondere der Künste. Die Künste können das aber nicht genau dosieren, insofern sind sie auch ohne Absicht Sterbehilfe. Insbesondere dann, wenn sie Trost bieten. Künste setzen sich mit Trennung und Abschied auseinander. Um den tatsächlichen oder den psychischen, vorzeitigen Tod zu vermeiden, um Bildung, d.h. unter diesem Aspekt Umwege wahrscheinlicher zu machen, braucht es Menschen, Kunstvermittler, Kuppler, Kunstpädagogen, die sich gegen die Gewalttätigkeit des Imaginären richten. Kunst als Sterbehilfe, das heißt Kunst als Trennmittel zu nutzen, um spannungsvoll leben zu können.
R ELIGION Religion hat unter den Folgen der Neuzeit, der Aufklärung, der Ideologiekritik sehr gelitten. Und zwar insbesondere die Formen der Religion, die suggerierten, sie hätten etwas Erfüllendes zu geben, wenn man etwa die Sinnlichkeit einschränke, loswerde, sich nur in vorbestimmten Formen, etwa der eines barocken Hochamtes mit Weihrauch und Choral, hingebe. Ausprägungen der Religion, die quasi fetischistisch eine Beruhigung wollten und herzustellen versprachen, sind als Volksreligionen unter die Räder gekommen, weil sie in Konkurrenz zu diesseitigen Glücksversprechen gerieten, die kurzfristiger machbar
1 Steinweg, Marcus: Behauptungsphilosophie, Berlin (Merve) 2006, S. 39. 2 Malcolm, Norman: Erinnerungen an Wittgenstein, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1987, S.
137, hier zitiert nach Steinweg (wie Anm. 1) S. 41. 3 Steinweg (wie Anm. 1), S. 41.
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erscheinen, oder weil sie weit unterkomplex ewige Wahrheiten wiederholten und meinten, diese so kontrollieren zu können. Es ging auch Religionen einmal um die gesellige Inszenierung einer Beziehung hin zum Transzendenten, zu etwas Jenseitigem, über das wir nicht verfügen, etwas uns Übersteigendes, etwas Unbegreifliches, etwas, das vom prinzipiell fremden Anderen kommt. Religion unterlag zumal als Staatskirche der Versuchung, gleich die Methode zum Erreichen der Wahrheit mitzuliefern. Dafür sorgen heute strukturell äquivalente Einrichtungen: die Wissenschaftsbürokratie, ihre Hohepriester der Evaluation, die diversen Inquisitionen in der Form der Zertifizierungsbehörden usw. Vielleicht kann auf solche Äquivalente nicht verzichtet werden. Aber das ist noch nicht erwiesen. Die ehemalige Spannung, die in vielen Kernen von Religion geborgen ist, konnte aber im Vergleich zu anderen, sich differenzierenden Diskursen unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nicht aufrechterhalten werden. Gegenwärtig fehlt es an Erfahrung gemeinsamer Orientierung auf die Wahrheit, die nicht zu haben ist, dennoch aber die notwendige Luft zum Durchatmen lässt – bei der Dichte der Anforderungen und Ansprüche, die sich scheinbar selber verstehen, der Sachzwangtheologie, als heruntergekommene Form des kirchlichen Dogmatismus. Deshalb lohnt es sich, die Frage nach dem Zusammenhang von Kunst und Religion wieder aufzunehmen. Im Folgenden möchte ich mich an Nam Jun Paik halten, der auf mannigfaltige Weise Religion und Kunst zusammengebracht hat.
Nam June Paik, TV Buddha (1974), Closed Circuit Videoinstallation mit Bronzeskulptur, Installation im Stedelijk Museum Amsterdam
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Man könnte sagen, dass mit der Warnung die Transkription einer inneren Stimme aus dem Über-Ich gemeint sei, damit wäre auch der dritte Diskurs genannt, um den es hier gehen soll.
W AHRHEIT UND F UNDAMENTALISMUS Anstelle der offenbar schwierigen und in Gefahr bringenden Suche nach der Wahrheit, die sich universitär in der mittlerweile mythisch überhöhten Zeit der Humboldtschen Universität ausprägen konnte, sind drei zentrale fundamentalistische Reaktionen getreten. Die ehemalige Suche konnte sich allerdings nur dadurch halten, dass sie per negationem noch von einer mächtigen Religion, einem mächtigen autoritären Staat und einer kanonisierten Kunst lebte. Die Bedingungen sind heute weg. Kann Kunst in Verbindung mit Pädagogik hier eine anders strukturierte (G)Leitplanke sein? Sie bekommen es sofort mit mindestens drei Fundamentalismen zu tun, die Wahrheit durch Richtigkeit ersetzen. Diese sind schon in der Renaissance angelegt. Man kann sie so benennen: • Gut und richtig ist das, was in überschaubarer Zeit – zeitnah heißt das im Jargon – auf dem Markt verkauft werden kann. • Richtig ist das, was man empirisch belegen kann, das heißt: was messbar und im Prinzip sichtbar im Sinne von berührbar ist (siehe die Auseinandersetzung damit bei Caravaggio). • Richtig und gut ist das, was sich in der Praxis bewährt und zwar sofort und ohne Bruch. Dieser Fundamentalismus verheert unsere Institutionen der Bildung und Forschung, verletzt die kommenden Generationen, da bei solchem Wahrheitskriterium nicht mehr von Vertrauen, Geduld, Liebe, Hoffnung, Achtung, Demut und ähnlichen, milde lächelnd als veraltet bezeichneten Konzepten geredet werden kann. Jeder Evaluationsbeauftragte würde schallend lachen oder sich mitleidig abwenden. Zusammenhänge der drei Diskurse, Kunst, Religion und Psychoanalyse, zu entfalten, und dies angesichts der Fundamentalismen, ist eine reizvolle Aufgabe. Zunächst ein Fresko aus der Zeit, als es noch keine Psychoanalyse gab: Masaccio produziert zusammen mit Brunelleschi in Santa Maria Novella in Florenz das erste erhaltene zentralperspektivische Bild, ein Fresko, das eine Kapelle simuliert und wohl ein Wahrnehmungsereignis war, das heutigen perfekten 3D-Filmen, gesehen mit entsprechendem Helm und zusätzlichen Datenhandschuhen, vergleichbar wäre.
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Masaccio, Trinità in Santa Maria Novella, Florenz (ca. 1427), Fresko, 667 x317 cm (Ausschnitt)
Mit dem neuen rationalen Verfahren der Zentralperspektive, das hier zur Anwendung kommt, wird im Gefolge der Darstellungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten eine radikale Immanenz mithergestellt. Ohne die Folgen im Einzelnen zu erläutern, verkürze ich das Ergebnis mit dem Zitat eines Mementos von Bruno Latour: „Wir vergessen immer, dass das, was der Modernismus der Religion angetan hat, schlimmer ist, als das, was er der Wissenschaft angetan hat. Er raubte ihre Energie, beschränkte sie, wie Whitehead sagte, auf Einrichtung, auf die Möbel der Seele (‚furniture of the soul’).“ 4 Die bis dahin Heilige Dreifaltigkeit wird zumindest auch in einen diesseitigen Raum gebracht, der vielleicht nur noch deshalb als heilig bezeichnet werden kann, weil konstruktionsbedingt der gezeigte Raum nicht betreten werden kann. „Wir wollen von dem Verbotscharakter ausgehen, der so fest am Heiligen haftet. Das Heilige ist offenbar etwas, was nicht berührt werden darf.“ 5 Spätestens ab jetzt gibt es die provozierte Einbildung, man könne dabei sein, drinnen sein, mitmachen – im Prinzip, so wie Lotta bei Astrid Lindgren ‚im Geheimen‘, man bleibt aber ausgeschlossen. Das physische Gefühl des Drinnenseins bleibt der Sexualität und ihren Derivaten vorbehalten. 4 Latour, Bruno: Will non-humans be saved? An Argument in Ecotheology, vgl. http://
www.bruno-latour.fr/node/147 (ges. am 9. 1. 2012). 5 Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Frankfurt a.M.
(Fischer) 1974 (Studienausgabe IX), S. 455-581, hier S. 566.
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Man prallt ab an einer undurchdringlichen Oberfläche, am besten dargestellt durch den Spiegel und seine Oberfläche. Der Spiegel wurde auch zur Konstruktion der Zentralperspektive genutzt. Man kann den anderen Raum nicht betreten und in die andere Zeit überwechseln.
I NTERFACE Das Undurchdringliche ist eine Herausforderung für Übersetzungen, für Imaginationen. Ein Interface, wie z.B. eine Tastatur, trägt der Unüberschreitbarkeit Rechnung und bietet eine Zugangsweise an, ist zugleich Grenze und Brücke. Schützt vor der Berührung mit Gefahren, schottet aber auch ab gegen Erfahrung. Man kann sich einbilden zu berühren, ganz nahe dran zu sein, zu überprüfen im Kontakt mit der materia, ist es aber nicht. Unwirksam ist ein Interface dennoch nicht; erfolgreich spielt mit seinen Möglichkeiten und Grenzen die Pornografie. Tatsächlich aber kommt es zum Schnitt zwischen der Welt und dem Individuum, mitten durchs Subjekt. Diese Schnitte erscheinen als Interfaces und Methoden. Es entsteht mit der Wissenschaft zunächst im Verein mit der Kunst eine nicht betretbare, nicht berührbare, aber sichtbare Welt, eine Welt, aus der die jeweilige Singularität, die emotionale Färbung, herausgehalten ist. Das Individuum wird zum abgegrenzten starken Ich der Ich-Psychologie und wandert von dort in die Pädagogik.
K UNST UND W ISSENSCHAF T Wissenschaft – in der Renaissance kaum sauber abzugrenzen von dem, was heute Kunst heißt – ist so erfolgreich, weil sie auf zwei fundamentalen Einschränkungen beruht, sozusagen auf Verzichtserklärungen: In der Wissenschaft wird nicht mit den Gegenständen selber operiert, sondern mit in ein anderes Medium übersetzten Merkmalen von Wirklichkeit, die im Forschungsprozess konstruiert werden. Kurz: Wissenschaft versucht das Reale aus ihrem Prozedere auszuschließen. Sie kann es aber nicht, weil das Reale und sie selber als symbolische und imaginäre Konstruktion Bestandteil eben jener Realität ist, die sie beschreiben möchte. Anders formuliert: Es gibt weder eine Metatheorie noch überhaupt eine Ebene, die aus der Immanenz der Realität ausbrechen könnte. Das hiermit aufgeworfene Problem ist nicht anders als durch Setzungen zu überbrücken. Solche Setzungen nehmen das auf, was einem vor die Füße fällt (das wäre die wörtliche Übersetzung von problema). Sie tun dann, als ob das so gesucht worden wäre, als wenn es ein klarer Ausgangspunkt sein könnte. Es geht um wirksame Fiktionen.
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Zum zweiten wird das Subjekt ausgeschlossen. Die jeweiligen besonderen Vorlieben des individuellen Subjekts, soweit sie einer bewussten Reflexion zugänglich sind, werden zumindest aus der Geltung der wissenschaftlichen Forschungsergebnisse ausgeschlossen. In der Genesis des Forschungsprozesses kommen sie vielleicht noch vor, für die endgültige Darstellung, Rezeption und ihre Überprüfung sollen sie aber irrelevant sein. Dies zusammengenommen hat unter anderem eine Kritik der Religion zur Folge, eine Säkularisierung, d.h. die Abschaffung eines Jenseits, eine Umwandlung des Verständnisses von Transzendenz – oft auch der eher tumben Art: „Gagarin hatte Gott im All nicht gesehen, Sauerbruch hat beim Operieren die Seele nicht gefunden …“ Die Konstruktion eben jener Realität erfolgt im Dienste der Verallgemeinerbarkeit mittels Algorithmen. Methoden legen sich als virtuelle Wegbeschreibungen zwischen das Subjekt und die Welt, es entsteht ein Subjekt und Objekt und daraus mit einem neuen Schub im 19. Jahrhundert Objektivität als Stil.6 „Fortan wurden Methoden als Verwirklichung einer Form von Objektivität und Autonomie aufgefasst. Methoden waren insofern amoralisch, als das Subjekt der Erkenntnis sich nicht mehr in einer privilegierten ethischen Stimmung befinden musste, um die Wahrheit empfangen zu können. Die Rezeption objektiver Wahrheit wiederum zog keine notwendigen Konsequenzen bezüglich der ethischen Stimmung des rezipierenden Subjekts nach sich. Die Suche nach einer Methode entspricht vielmehr der Suche nach ‚einer Form der Reflexivität, die eine Gewissheit zu erlangen sucht, die als Kriterium für alle Wahrheiten dient und die, von diesem fixierten Punkt aus, die Wahrheit zu einer systematischen Organisation objektiven Wissens führen kann.“ 7 Das individuelle Subjekt, das als solches erst entsteht, allmählich, wird zur Leibnizschen Monade, zur Ich-AG, zum autonomen, zum Ich-starken (für die Forschung: zum drittmittelstarken) Ich, das aus der Gesellung herauszufallen droht. Eine zeitlang hatte dann Kunst die Funktion, durch ihre zusätzliche ‚Sinnlichkeit‘, durch die Möglichkeit bei der Vermittlung noch nicht sichtbarer, noch nicht berührbarer Inhalte, besonders beeindruckend und animierend zu sein. In der strengen Wissenschaft herrscht dagegen Bilderverbot, idealerweise nimmt sie die Form der Mathematik an. Die intelligenteren und aufmerksameren Künstler entdecken genau in der Fortsetzung der Monadisierung, dem erstickenden Abschluss des Individuums, die Erinnerung an ein Sehen, das bei 6 Vgl. Zimmermann, Anja: Ästhetik der Objektivität. Genese und Funktion eines wissen-
schaftlichen und künstlerischen Stils im 19. Jahrhundert, Bielefeld (transcript) 2009. 7 Den Hinweis auf diese Stelle bei Foucault verdanke ich meiner Doktorandin Claudia
Lemke. Foucault, zitiert nach Rabinow, Paul: Was ist Anthropologie? Studien zu Wissenschaft und Lebensführung (hgg. und übers. von Carlo Caduff und Tobias Rees), Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 2004, S. 15.
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Meister Eckhart oder Hildegard von Bingen Qualitäten hatte, die mit dem, was man fotografieren oder scannen kann, kaum etwas gemein hat. Mit ihrem Verständnis von Sehen liegen sie eher in der Nähe dessen, was man gegenwärtig vielleicht als Halluzination bezeichnen würde. Sie sehen etwas da, wo es ‚naturgemäß‘ nicht ist. Es findet sich auch in der Einschätzung von Künstlern als denjenigen, die dem Wahnsinn nahe seien, positiv formuliert in deren Genie. Man merkt, dass sie etwas Wahres sagen können, aber in einer Form, die der Objektivitätsforderung nicht entspricht.
K UNST, R E AK TION AUF DEN P ROZESS DER R ATIONALISIERUNG In der Bildenden Kunst wird bemerkt, dass im Prozess der Rationalisierung und der Säkularisierung einiges auf der Strecke geblieben ist. Künstler machen das zum Thema unter den Bedingungen, dass sie individuelle Subjekte der Neuzeit geworden sind. Diese zeichnen sich seit Descartes aus durch den Zweifel und durch fehlende Gewissheit. Sie bemerken auch, dass der ausgeschlossene Wahn durch eine Normierung der Methoden zur Gewissheitsgewinnung hinterrücks wieder einwandert, gerade durch den Ausschluss. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, bis heute andauernd, gibt es in der Kunst Reaktionen und Produktionen, die den Zweifel weiter traktieren, ihn aushaltbar zu machen versuchen, auch in der Form der Reflexion aller Momente des künstlerischen Produktionsprozesses, die in die geronnene Darstellung des Werks Einzug halten: Reflexion der Verfahrensweisen, des Materials, der Farbe, der Werkzeuge, der Gesten. Vielleicht wäre auch van Goghs ‚Abschneiden des Ohrs‘ ein solcher (außerkünstlerischer) Versuch, im Schmerz Gewissheit zu erlangen – etwas, was später bei Performances in die Kunst selber einwandert (etwa bei Kogler, Orlan, Stelarc, um nur einige zu nennen). Freud versuchte in Anknüpfung an den Monotheismus des Moses einen Umgang mit dem Zweifel und der Ungewissheit zu kultivieren. Davon ist jedes seiner drei letzten Werke zumindest geprägt, Der Mann Moses und die monotheistische Religion aus dem Jahr 1938 am stärksten.8 Er schrieb den Text nach seiner Vertreibung mit letzter Kraft zu einem Ende. Mit dem Versuch der Vernichtung der Juden wurde wie immer in zum Fundamentalismus neigenden Gesellschaften versucht, die Kunst des Interpretierens zu unterbinden. Das, was Religion sein könnte, wurde z.T. verschüttet durch die Zerstörungen des
8 Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion: Drei Abhand-
lungen (1934-1938), in ders.: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Studienausgabe Bd IX, Frankfurt a.M. (Fischer) 1974, S. 455-581.
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Faschismus, eines Faschismus, der auch in antisemitischen Strömungen der Kirchen Widerhall fand.
K UNST UND P SYCHOANALYSE In der Kunst der Moderne kommt es dann zu einem Versuch, das mittlerweile durch Wissenschaft unbewusst geworden Subjekt wieder zu fassen: Wie konstituiert sich überhaupt individuelle Subjektivität, subjekthafte Wahrnehmung? Es ging, bisweilen ähnlich wie in der Psychoanalyse, darum, die Bildungen des Unbewussten als wahrheitsmächtig anerkennbar zu machen. Künstlerinnen und Künstler der Moderne suchen nach diesen Spuren des Ausschlusses und in der Produktion von Unbewusstsein nach den Panzerungen und Bewaffnungen des autonom gedachten individuellen Subjekts, seinem Schutz und seiner Abkapselung durch Normen. Psychoanalytisch gesprochen geht es darum, eine andere Beziehung zu sich und zur Welt nicht nur wahrnehmbar zu machen, sondern im gleichen Zug auch zu erzeugen. Ausgeschlossene Bildfähigkeiten, auch Bildungsfähigkeit tauchen hier und da auf, alte wie neue. Es müssen durch das Darstellen selber Darstellungsweisen gefunden werden, die Spuren dieser Subjektivität als singuläre für die anderen wahrnehmbar machen, um sie so in Gesellungsprozesse zu integrieren. In der Kunst der Moderne entsteht ein Prozess, in dem deutlich wird, dass die Abbildungsalgorithmen, die auf Sichtbarkeit beruhen, Wichtiges nicht greifen können. Ähnliches läuft gleichzeitig in der Neurologie und Psychiatrie ab. Dort ist Freud dem Unsäglichen und Unsagbaren auf der Spur, nachdem er bemerkt zu haben glaubt, dass mit den Verfahren des Sichtbarmachens der prinzipiellen Berührbarkeit, dem Sehen als Substitut der Berührung nicht weiterzukommen ist. Und man könnte nun sagen, dass dieses Hören dadurch, dass Freud in der Tradition oder Transmission des Judentums lebte, wieder ermöglicht wurde. Ein Hören der vokalisierten Schrift, etwas von einem Sprechen, das wirkt.
K UNST ALS PAR ADOX ALER A UFENTHALTSR AUM – B ILDERVERBOT Kunst kann einen paradoxalen Aufenthaltsraum bieten, der nicht messerscharf entscheidet, zwischen dem Vorstellbaren, dem Berührbaren, den Inhalten, den Formen, dem Richtigen und Falschen, dem Moralischen und Unmoralischen. Und das wird getan, indem genau diese Differenzen als sich nicht ausschließende differenziert werden. Es ist ein Raum, der nicht einfach Entscheidungsunlust protegiert, sondern der die Komplexität der Herausforderung mit der ikonischen Differenz anders näher bringt, als dies über das Hören und Lesen möglich ist. Kunst ‚erlöst‘ so vielleicht auch – wie das viele der biblischen Ge-
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schichten auch tun könnten – von der Ideologiekritik, die immer von dogmatischem Maßstab ausgeht und diesen beibehält, um den Kritiker auf der besseren, der wissenden, nicht wahnhaften Seite abzusichern. Das Bilderverbot ließe sich so auslegen, dass es verbietet, sich ein fixes Bild zu machen, fix im Sinne von schnell und fest. Vielleicht ist mit dem Bilderverbot besagt, dass man damit leben muss, dass Bilder sich einstellen (Verbote verbergen oft etwas Unmögliches. Unmögliches wäre kränkend). Es braucht Instrumente, um Bilder aufzulösen – und solche versucht Psychoanalyse hier in großer Strukturähnlichkeit zur Kunst immer wieder herzustellen. Freud kommt in dem schon erwähnten Mann Moses und die monotheistische Religion auf den Fortschritt in der Geistigkeit zu sprechen. In dieser Schrift wird deutlich, dass sich ein roter Faden durch die Kapitel zieht: die Frage, wie das jüdische Volk als Gesellung entstanden ist und wie es sich erhalten hat. Mindestens zwei Momente, die benannt werden, die Anerkennung der Funktion des Vaters und die Beschneidung, entfernen sich vom sinnlich überprüfbaren Zweck-Mittel-Denken und stellen den Zusammenhalt auf ‚geistige‘ Prinzipien um, die Sublimation erfordern. Freud geht es zuletzt um den Status der Psychoanalyse im Verhältnis zur Religion – zum Judentum, zum Christentum – und zur Wissenschaft als eines sozialen Bandes, das die Errungenschaften der Kultur aufnimmt, weiterentwickelt und aushaltbar macht. Er bezeichnet sie in einem Brief an Groddeck als ein „exquisit geselliges Unternehmen“.9 Die Psychoanalyse ist ein geselliges, kein meisterliches Unternehmen, das nicht Verehrung oder Liebe zu Meistern zum Grund nehmen kann, sich zu assoziieren – eigentlich. Geselligkeit hat eben eine Voraussetzung darin, dass die Gesellen einen gemeinsamen Lebensraum, einen großen Saal teilen – gerade dann, wenn es keine Lösung gibt. Sie versammeln sich und arbeiten ausgehend vom Ding, um das es geht, das aber nicht genau definiert werden kann und das deshalb ein Erstaunen auslöst: „Das ist ja ein Ding!“
THING Der Struktur nach war beispielsweise das Thing eine solche Versammlung. Es umfasste einen leeren Platz und ließ Streitigkeiten zu. Oft in der Mitte einen Hinweis auf etwas dieser Versammlung örtlich, zeitlich, menschlich Jenseitiges. Das wird in der Revolutionsarchitektur angedeutet. Solche Versammlungsorte sind auch die Synagoge, die Moschee, die Kirche.
9 Freud, Sigmund: Briefe 1873-1939, Frankfurt a.M. (Fischer) 1968, S. 373 (Brief vom
21.12.1924 an Groddeck).
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E NGPASS DER P SYCHOANALYSE Freud ist sich im Klaren darüber, dass die Psychoanalyse alleine als Kur keine Zukunft hat. Sie könnte so nicht wirklich anschließen an die zivilisierenden Leistungen der Religion und ihre destruktiven Kräfte nicht zu vermeiden helfen. Sie kann die Frage danach wach halten, wie das geschehen kann. Freud sieht es über weite Teile seiner Schrift noch als einen Fortschritt an, dass Menschen in der Lage sind, Verbote, Gebote, Kulturleistungen zu verinnerlichen. Das ver- leiht Autonomie – auch wenn es durch Rigidität krank machen kann. Wir haben es gegenwärtig damit zu tun, dass solche Prozesse nach außen verlagert werden. Eine vergegenständlichte, medialisierte, beobachtende Kontrollfunktion wird offenbar gewünscht, da die Mühen der Verinnerlichung zu groß scheinen, als dass sie vom einzelnen getragen werden können, gerade auch deshalb, weil die dafür zu erlangende Anerkennung – die ursprünglich die Anerkennung durch die Eltern war – vom autonomen Subjekt selber als Stolz und Befriedigung produziert werden muss. Es entsteht daraus die Frage, wie eine Anerkennung der Effekte von Verinnerlichung erfahren werden kann (sie sind ja dem naturwissenschaftlichen Paradigma der Sinnlichkeit nicht zugänglich). Wie kann erfahren werden, dass es andere ähnlich machen, welche Schwierigkeiten sie dabei haben, wo können Gleichgesinnte gewonnen werden, die den einzelnen anerkennen? Es braucht dazu soziale Erfindungen, wie sie etwa im Freudschen Setting liegen, das auch die Art und Weise des Forschungsprozesses verändert. 10 So sucht Freud am Ende seiner Schrift Der Mann Moses deutlich nach einem Ausweg ins Soziale und Politische. Er findet ihn aber nicht. Er endet bei der Frage nach der Bearbeitung der Schuld, er vergleicht darin Christentum und Judentum, erwähnt zum wiederholten Mal die Gedanken des Paulus, der in den späten Schriften immer wieder einmal als Orientierung für Freud auftaucht.
10 vgl. Pazzini, Karl-Josef: Couch und Sessel. Entstehung und subversive Kraft des Set-
ting, in: Pazzini, Karl-Josef, Gottlob, Susanne (Hg): Einführungen in die Psychoanalyse II. Setting, Traumdeutung, Sublimierung, Angst, Lehren, Norm, Wirksamkeit, Bielefeld (transcript) 2006, S. 15-34.
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G L AUBEN Caravaggio liefert schon sehr früh mit seinem Bild ein Dispositiv, an welchem man heute herausbilden kann, was es mit Glauben, Berühren und Zeugnis geben auf sich hat.11 Insofern halte ich das Bild auch für eine kondensierte Anregung mit Kunst umzugehen. Der Text zum Bild stammt aus dem 20. Kapitel, Vers 24-29 des JohannesEvangeliums12 , das mit der Betonung der Wirkmächtigkeit des Wortes beginnt: „Am Anfang war das Wort …“.13 Es spricht einiges dafür, dass dies auch ursprünglich der Schluss des Johannes-Evangeliums war.14 Der Text sagt fast nichts über den im Bild dargestellten Moment. Das Bild erscheint zunächst eher als die Stopfung der im Text spannungsvoll ausgelassenen Füllung. Die Geschichte stand für die Aufforderung, auf das Wort zu hören, Zeugnis abzulegen, obwohl und auch wenn man nicht gesehen oder gar mit eigenen Fingern berührt hatte. Thomas war nicht anwesend, als der tot und abwesend Geglaubte anwesend war. Er vertraute den Zeugen nicht, glaubte auch nicht einfach. Er wollte überprüfen. Gerade, weil so Unwahrscheinliches berichtet wurde. Diesen Wunsch kann man nachvollziehen, er widerspricht aber dem gesamten Tenor dessen, was Johannes schreibt. Wäre es so, dass Thomas erst durch die tatsächliche Berührung zum Verkünder der Auferstehung geworden wäre, dann wäre Johannes mit seiner Botschaft gescheitert. So steht denn auch konsequenterweise im Showdown dieses Evangeliums nichts von einer Berührung geschrieben. Beim aufmerksamen Zuhören müsste man die Berührung als Bestätigung hin11 Der folgende Abschnitt ist in einer ersten Form publiziert unter dem Titel: Cara-
vaggios Powerpoint, in: Blohm, Manfred (Hg.): Kurze Texte zur Kunstpädagogik, Schriftenreihe Medien-Kunst-Pädagogik, Bd. 2., Flensburg (University Press) 2008, S. 33-40. 12 „Thomas aber, der Zwölf einer, der da heißt Zwilling, war nicht bei ihnen, da Je-
sus kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den HERRN gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Es sei denn, daß ich in seinen Händen sehe die Nägelmale und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, will ich‘s nicht glauben. Und über acht Tage waren abermals seine Jünger drinnen und Thomas mit ihnen. Kommt Jesus, da die Türen verschlossen waren, und tritt mitten ein und spricht: Friede sei mit euch! Darnach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und siehe meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein HERR und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Dieweil du mich gesehen hast, Thomas, glaubest du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ 13 Joh. 1, Vers 1. 14 Vgl. Most, Glenn W.: Der Finger in der Wunde. Die Geschichte des ungläubigen Thomas,
München (C.H.Beck) 2007.
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zufantasieren. Eine Konkretisierung liefert Caravaggio. Man könnte jetzt sagen, Caravaggio liefert mit seiner Kunst, was in der Schrift nicht geschrieben steht und was man demnach beim Vorlesen auch nicht hören kann.
Caravaggio, Der zweifelnde Thomas (1602-1603), Öl auf Leinwand, 107 x 146 cm
Malerei setzt methodisch, aber auch inhaltlich seit dem ausgehenden Mittelalter auf den Ersatz der Berührung durch konfektioniertes Sehen, sie schafft damit die Möglichkeit zur Distanzierung und gleichzeitigen Glaubwürdigkeit. Es ist die Zeit der Herausbildung des frühbürgerlichen autonom gedachten Individuums und der Konzeption einer Visualität, deren Modellierung z.B. im Konzept des Sehstrahls auf Berührung basiert. Was aber durch Berührung als existent gefühlt werden kann, muss nicht geglaubt werden. Caravaggio macht nicht das, was heutigentags in der Hochschuldidaktik bei der epidemischen Verwendung von Powerpoint15 geschieht: es wird gezeigt, was gesagt wird, oft wörtlich. Die Projektion wird zur Beglaubigung des gesprochenen Wortes. Das, was man lesen kann, stimmt überein mit dem Gesprochenen. Also ist das Gesprochene wahr. Man kann das auch als Aberglauben bezeichnen. Die Seitenwunde wird richtig schön ausgemalt, wird dabei einer Vulva ähnlich, Thomas fingert in dieser Öffnung herum. Erzeugt wird eine sexuelle 15 Adams, Catherine: PowerPoint, Denkgewohnheiten, Unterrichtskultur, in: Erzie-
hungswissenschaft. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), Nr. 36, 19. Jg./2008, S. 8-32.
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Konnotation16, nebenbei auch die Frage nach der sozialen Konstruktion des Geschlechts. Auch die Brust von Jesus weicht von der geläufigen männlich muskulösen Form ab. Das weibliche Geschlecht wird am männlichen Körper simuliert, Differenz tritt zurück, eine Art platonischer Ganzheit ist angedeutet, aber nicht da. Ein Kitzel begleitet die Forschungsfrage, ob es sich denn tatsächlich um den lebendigen Jesus handelt. Neben der Sichtweise als Vulva bleibt die der Wunde. Man könnte auch sagen, es gehe um eine eher homoerotische Situation, vielleicht gar um einen Hermaphrodit.17 Die Wunde am Körper Jesu, eigentlich der Ausweis, der Beweis seines Todes, wird zum Lebensbeweis. Geschlecht, was hier markiert wird, und Gattung, an die sich das Evangelium durch Erzählung wendet, übersteigen das Individuum. Das ist die Übersetzung für Sexualität. Aber das Individuum bleibt die wirkende Durchgangsstation für dieses Treiben. Um solche Bewegung geht es in didaktischen Prozessen, um das Überschreiten des bloßen Meinens hin zu den offenen Stellen des Anderen. Ein Strukturmoment zieht sich durch alle didaktischen Veranstaltungen: die Zuordnung von Signifikant und Signifikat und 16 Es gibt viele Versionen dieser Szene, die z.T. noch deutlicher in diesem Detail sind.
„Im urbildlichen London des 18. Jahrhunderts erforderten sexuelle Experimente die Tarnung solcher Splitterkirchen wie der Herrnhuther Brüdergemeinde und der surrealen Anhänger Swedenborgs (für die sich die „Liebe des Heiligen“ am besten im „projectione semenis“ ausdrückte): Beide predigten die Tugend der Verbindung von religiöser und sexueller Ekstase. Sexualorgien bildeten einen festen Bestandteil des Rituals der Herrnhuter Brüdergemeinde, demzufolge die Penetration verwandt mit dem Eindringen in die Wunde in Jesus Seite war. William Blake und sein Zirkel praktizierten dies eifrig und einige seiner Bilder, welche diese Welt abbildeten, wurden damals zensiert“ (Ali, Tariq: Renegaten sind in jeder Regierung, in: taz, 19.4.2008). – Die Herrnhuther Brüdergemeinde kommt aus der böhmischen Reformation. Als wichtiger Promoter gilt Nikolaus Graf von Zinzendorf; vgl. Beyreuther, Erich: Die große Zinzendorf-Trilogie, Marburg an der Lahn (Francke Buchhandlung) 1988; Gassmann, Lothar: Pietismus – Wohin? Neubesinnung in der Krise der Kirche, Wuppertal (Verlag für Reformatorische Erneuerung) 2004. – Die erotische und sexuelle Konnotation der dargestellten Berührung sowie der Berührungsmöglichkeit von Bildern überhaupt (im Museum steht gewöhnlich „Berühren verboten!“), kann vielleicht auch Hinweise für Widerstände und Begeisterung bei der Rezeption von Bildern geben. 17 Es gibt andere Bildbeispiele, die belegen, dass die Darstellung der Seitenwunde et-
was mit den Variationen über die Geschlechtszugehörigkeit seit alters her zu tun haben. Siehe etwa Jean Malouel: Pietà ca. 1400 (Steinberg, Leo: The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in modern oblivion, New York (Pantheon) 1983, S. 59) oder Henri Bellechose: Retable of Saint Denis, 1416 ebd. und Jean de Beaumetz and Shop: Crucfixin with Carthusian, 1390-95, a.a.O. S. 160). Hier rinnt das Blut aus der Seitenwunde auch ein wenig gegen die Schwerkraft, über den Penis Jesu, diesen verdeckend.
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die Auflösung überkommener Zuordnungen. Vielleicht geht es auch darum, Möglichkeiten zu schaffen, eine nicht gelingende oder unmögliche Zuordnung auszuhalten, Strategien zu entwickeln, wie man ohne Fundamentalismen im wahrsten Sinne des Wortes Feststellungen und Schlussfolgerungen trifft, handlungsmächtig bleibt, Akte vollzieht. Fundamentalismus ersetzt Glauben, der auf Zeugenschaft basiert, durch die Gewissheit eines Wahns und befestigt die Verbindung von Signifikant und Signifikat mit Gewalt.
Mark Tansey, Ungläubiger Thomas (ca. 1985), Öl auf Leinwand, 332 x 400 cm
H IER UND J E T Z T Thomas stellt für den Betrachter und für sich ein ‚Hier und Jetzt‘ her. Jetzt fühle ich, was ich da sehe und geahnt habe, eine beglaubigende Aktion, die beim Betrachten des Bildes zusammenschießt: Die Malweise erscheint (hyper-) realistisch, die Situation ist wie in einem Lehrtheater freigestellt und beleuchtet, die Atmosphäre ist dicht und schweigsam auf den Moment der Berührung konzentriert, thematisch wird ein Akt des Sehens in der Gleichzeitigkeit von
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Berührung und Sehen dargestellt. Wird damit nicht auch unser Wunsch bei der Bildbetrachtung im Bild selber dargestellt? Wenn man dann beginnt, die Uneindeutigkeiten wahrzunehmen, das Umkippen einer Deutung zwischen Wunde und Vulva, zwischen Mann und Frau, zwischen Text und Bild, und dann noch detaillierter die Komposition analysiert, dann ist die anfängliche Identifikationsfreude darüber, dass man genau zu wissen scheint, worum es da geht, dahin.18 Es fällt dann z.B. auf, dass die aufgeplatzte Naht an der linken Schulter von Thomas in etwa auf der gleichen Höhe liegt wie die Wunde. Wolfram Pichler ist zusätzlich aufgefallen, dass der Umriss um alle vier Gestalten eine Symmetrieachse ermöglicht und die Wunde und Naht zwar nichtdeckungsgleich, aber in etwa kreuzförmig aufeinander fallen.19 Beide, die Wunde wie die geplatzte Naht, sind Hinweise auf die Zeit, auf eine Zustandsveränderung, darauf, dass etwas aus der Ordnung ist. Im Bild sind zwei Öffnungen an Stellen, wo sie nicht sein sollten. Bildende Kunst als Bezugspunkt kann in der Hinsicht ein starker Partner sein, wenn man sie zulässt. Im Falle des Gemäldes von Caravaggio verdoppelt sich Einiges, Wiederholungen führen aus der Eindeutigkeit: Wunde – Narbe, Symmetrieachse, Eindeutigkeit – Zweifel. Und der, dem die Naht geplatzt ist, Thomas, ist sowieso der Zwilling, der Zweifel und die Verdoppelung. Und die Verdoppelungen werden erst deutlich in den Mediensprüngen zwischen Schrift (in dem Fall der Schrift) und Bild, zwischen Abgebildetem und Konstruktion, zwischen Erinnerung und dem, was man im Augenblick sieht. Es braucht den Wechsel der Abstände zeitlich und räumlich. „Der Thomas, den Caravaggio malt, ist nicht jemand, der sich schließlich doch noch einer Sache versichert, an der er zunächst gezweifelt hatte. […] denn er ist der Sache, die er feststellen wollte in gewisser Weise zu nahe gekommen.“ 20 Caravaggio schafft Metaphern: Wunde für Naht, Naht für Wunde, Wunde für Vulva und umgekehrt, Sehen für Berühren und Berührtsein durch die Wunde, das Bild steht für den Text, der Text ist die Basis des Bildes, usw.
18 Siehe hierzu beispielsweise Suthor, Nicola: Bad touch? Zum Körpereinsatz in Miche-
langelo/Pontomoros „Noli me tangere“ und Caravaggios „Ungläubigen Thomas“, in: Rosen, Valeska von, Krüger, Klaus, Preimesberger, Rudolph (Hg.): Der stumme Diskurs der Bilder, Berlin (Deutscher Kunstverlag) 2003, S. 261-281. 19 Pichler, Wolfram: Die Evidenz und ihr Doppel. Über Spielräume des Sehens bei
Caravaggio, in: Beyer, Vera, Voorhoeve, Jutta, Haverkamp, Anselm (Hg.): Das Bild ist der König. Repräsentation nach Louis Marin, München (Willhelm Fink) 2006, S. 150. 20 Ebenda, S. 155.
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A USGANG Geht man von der Religion aus, so kann man sagen, dass einige der Themen, die ursprünglich religiöse waren, als solche erst entdeckt wurden, als neue Diskurse entstanden, nämlich jener der Modernen Kunst und der ihr nachfolgenden Richtungen. Die Themen werden dadurch versetzt und können wohl kaum zurückgeholt werden. Die Transzendenz der Religion ist nicht mehr im „Himmel“ oder „Jenseits“ zu finden in einem ontologischen Sinne, sondern in einem des Überschreitens selbstgewisser Diskurse unter gegenwärtigen Bedingungen. Aus der Perspektive der Psychoanalyse geht es um eine Kritik der Religion, nicht wie in den ersten rationalistischen Formulierungen von Freud, sondern in Form der Arbeit an den bewegenden Relationen zwischen Menschen (Übertragung, Übertragungsliebe), also in der Art der Fragestellungen der zweiten Religionskritik von Freud im Mann Moses. Sie ist Kritik in dem Sinne, als sie geronnene Denkformen an die Krisis bringt, wo es um neue Entscheidungen geht und die damit verbundene Trennung und Trauer. Dass Bildende Kunst von der Psychoanalyse angeregt wurde, müsste man aus der Freudschen Perspektive als Kollateralschaden sehen, er selbst hat dies jedenfalls nur in Andeutungen verstanden.21 Erst die Psychoanalyse Lacans ist ohne einen Durchlauf durch die Künste nicht zu denken. Aus der Perspektive der Kunst wird die Konstitution individueller Subjektivität in ihrer Singularität untersucht (hierin hat sie Berührungspunkte mit der Psychoanalyse), es wird gerungen um veränderte Symbolisierungsformen bis an die Grenze der Darstellbarkeit und geläufigen Interpretierbarkeit. Wie die Psychoanalyse steht auch Kunst in Gefahr, zur Ersatzreligion zu werden gemäß einer perversen Struktur 22, die der Versuchung erliegt, über bestimmte Rituale Mangel und Unbeherrschbarkeit zu kompensieren und zu beruhigen. Kunst, wie auch die Psychoanalyse, sind darauf verwiesen, sich nicht als abgeschlossene Diskurse, als autarke Betriebssysteme gegen irritierend Fremdes abzuschließen. Das können sie nicht als gefräßige Aneignungsmaschinen subsumierend tun, sondern nur, indem sie sich durch anderes selber als Differenz(ierungs)geschehen spannungsvoll stabilisieren, ohne es notwendigerweise ,begriffen‘ zu haben. Auch Negation ist Anerkennung, Integration kann Beherrschung bedeuten. Religion wird da obsolet, wo sie sich im Heil(en) 21 Siehe die mühsamen und kaum als verständig zu bezeichnenden Kontakte mit Bre-
ton und Dalí. 22 Vgl. Widmer, Peter: Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder Die zweite Revolution
der Psychoanalyse, Wien (Turia+Kant), 2. erw. Aufl., 1997, S. 153.
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etabliert hat, sie geht da weiter, wo sie unberuhigt durch die Anregung selber sich stabilisiert und damit auch den Trost einer Heimat gibt im Unterwegssein. Manche Kunst, indem sie von Unbegreiflichem, noch nicht Darstellbaren zeugt, besagt, dass es etwas Jenseits der Kontrolle gibt, etwas, das übersteigt. Für Kunst wird es zur Gefahr, wenn sie den Markt als Ersatzreligion für die Herstellung ihres Selbstwertes nimmt. Ohne sich dem Austausch auszusetzen, bei dem man nie genau weiß, was man sich einhandelt, geht es nicht. Der Markt ist Lebensmittel. Vielleicht war es weise, dass in früheren Zeiten nicht immer Markt war.
Inkarnation – Didaktik – Freiheit: Kontextualisierungen im Verhältnis von Kunst und Religion Andreas Mertin
D IE E ULE DER M INERVA Wenn Georg Wilhelm Friedrich Hegel in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts über das Verhältnis des Philosophen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit schreibt, „die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ 1 , dann bezieht sich das darauf, dass wir erst rückblickend erkennen können, was zentrale Konstellationen der Geschichte sind.2 Und wir können erst dann daraus auch Lehren für die Gegenwart ziehen. Wenn wir in diesem Sinne auf das Verhältnis von Kunst und Religion im Abendland blicken, dann können wir im Wesentlichen – mit der gebotenen Elementarisierung – drei Modelle entdecken, die ihren Ursprung im 8. Jahrhundert haben und meines Erachtens bis in die Gegenwart Geltung beanspruchen dürfen. Das theologische Verhältnis zur Kunst lässt sich danach dreifach spezifizieren und zwar in jeweils einander ausschließender Weise: • Das Inkarnations-Argument: Bilder bzw. Kunstwerke sind für den Glauben und für die christliche Religion heilsnotwendig. • Das didaktische Argument: Bilder bzw. Kunstwerke sind für den Glauben hilfreich und zwar insbesondere für seine Vermittlung. • Das kulturelle Argument: Bilder bzw. Kunstwerke sind im Blick auf den Glauben neutral und ausschließlich kulturelle Erzeugnisse des Menschen. 1 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Natur-
recht und Staatswissenschaft im Grundrisse, mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen [Nachdr.], Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1986, S. 19. 2 Im Blick auf die Kunst vgl. dazu Wyss, Beat: Trauer der Vollendung. Von der Ästhetik des
Deutschen Idealismus zur Kulturkritik an der Moderne, München (Matthes u. Seitz), 1985.
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Wir können diese drei religiösen Perspektiven auf die Kunst auch religiösen Bewegungen bzw. Kirchen zuordnen. • Die Heilsnotwendigkeit der Bilder vertritt die Orthodoxie im Gefolge von Johannes von Damaskus und den sich im byzantinischen Bilderstreit durchsetzenden Ikonodulen. Nur wenn Christus darstellbar ist, ist er auch Mensch geworden. • Den didaktischen Nutzen der Bilder im Rahmen des Glaubens vertrat die Römische Kirche im Gefolge Gregor des Großen, aber auch die spätere lutherische Kirche. Was die Bibel für jene, die lesen können, ist das Bild für jene, die des Lesens unkundig sind, so Gregor der Große. Und Luther: Wenn ich von Christus spreche, entwirft mein Herz ein Bild von ihm. Die Neutralität der Bilder vertraten die Hoftheologen Karls des Großen in den Libri Carolini und später die reformierte Theologie. Es kommt nicht auf den Inhalt des Bildes an, sondern ausschließlich auf das Ingenium des Künstlers (Libri Carolini).3 Und, so Calvin: Kunst sei ganz allein Menschenwerk. Dies hat Konsequenzen im Blick auf die Bilder und Kunstwerke, die betrachtet werden (können/dürfen): • Wenn Bilder heilsnotwendig sind, muss darauf geachtet werden, dass nur heilskompatible Bilder verwendet werden. Dafür sorgt die Kirche mit einer adäquaten Benennung, nämlich der superstitio.4 • Wenn Bilder in didaktischer Perspektive genutzt werden, sind alle Bilder zu vermeiden, die vom didaktischen Zweck wegführen, uneindeutig sind und die Menschen verwirren. • Wenn es auf die kulturelle Perspektive ankommt, treten die Bilder in den Vordergrund, die nach den Regeln der Kunst als gute Werke zu bezeichnen sind (Autonomie der Kunst). Meines Erachtens lassen sich alle theologischen (nicht die künstlerischen!) Überlegungen zum Mit- und Gegeneinander von Kunst und Religion in der Gegenwart auf dieses Modellraster abbilden. Daraus folgt: Entweder geht es um die unmittelbare religiöse Erfahrung im Bild – dann spielt die Autonomie der Kunst keine Rolle, sondern die Übereinstimmung von Bild und Lehre. Oder es 3 Freeman, Ann: Opus Caroli Regis contra synodum (Libri Carolini), [Neuausg.], Hanno-
ver (Hahn) 1998. 4 Vgl. dazu Lange, Günter: Bild und Wort. Die katechetischen Funktionen des Bildes in der
griechischen Theologie des sechsten und neunten Jahrhunderts, Würzburg (Echter) 1968, (Schriften zur Religionspädagogik und Kerygmatik, 6).
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geht um die Vermittlung religiöser Einsichten mit Hilfe der Kunst – dann ist autonome Kunst möglich, aber nicht zwingend, es hängt davon ab, welchen didaktischen Nutzen sie hat. Oder es geht darum, religiöse Erfahrungen mit ästhetischen Erfahrungen zu ermöglichen 5 – dann ist die autonome Kunst konstitutiv vorausgesetzt, weil die ästhetische Erfahrung als vorgängig gedacht wird und es kommt nun darauf an, religiöse Erfahrungen mit Kunstwerken zu machen. Ich persönlich favorisiere aus hoffentlich unmittelbar einsehbaren Gründen das dritte Modell. Denn zum einen ist die Zahl religiöser Sujets in der bildenden Kunst von 97 % im 13. Jahrhundert auf knappe 4 % im 20. Jahrhundert zurückgegangen und nur durch eine Erweiterung des Religionsbegriffs kommt man auf bessere Werte.6 Würde man sich auf das Religiöse in heilsgeschichtlicher oder didaktischer Perspektive konzentrieren, verlöre man 96 % der Kultur aus den Augen. Das kann sich auf Dauer keine Religion leisten. Zum anderen aber ist die Kunst in ihrer errungenen Autonomie wirklich ernst zu nehmen, ist die Entwicklung des Betriebssystems Kunst in seiner Eigenlogik anzuerkennen.7 Dabei kann ich auch auf Überlegungen zurückgreifen, die Martin Luther bereits vor fast 500 Jahren niedergelegt hat. Luther hat wiederholt darauf hingewiesen, dass es Gott eher gefällt, wenn jemand recht seine Arbeit tut, „als aller Mönche Beten, Fasten, und was sie noch alles für hohe Gottesdienste rühmen.“ 8 Das ist eine klare und unmissverständliche Sprache. Nicht die Einordnung in die Verkündigung und schon gar nicht die Zugehörigkeit des Künstlers zur christlichen Gemeinde macht die Kunst christentumskompatibel, sondern allein und ausschließlich ihre Qualität, ihr Ingenium, wie die Hoftheologen Karls des Großen betont haben. Die Schweizer Theologen Kurt Marti und Urs Lüthi haben dies schon vor Jahren als die Befreiung der Künste zur Profanität durch Jesus Christus gedeutet.9 Die Künstler erweisen sich als in christlicher Perspektive bedeutsam, wenn sie gute Kunstwerke schaffen und nicht dadurch, dass sie kirchliche Inhalte 5 Vgl. Erne, Thomas: Vom Fundament zum Ferment. Religiöse Erfahrung mit ästheti-
scher Erfahrung, in: Herrmann, Jörg, Mertin, Andreas und Valtink, Eveline (Hg.): Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, München (Wilhelm Fink) 1998, S. 283-295. 6 Vgl. dazu Morel, Julius: Säkularisierung und die Zukunft der Religion, in: Hanf,
Theodor (Hg.): Funk-Kolleg sozialer Wandel, Frankfurt a.M. (Fischer) 1975, Orig.-Ausg., S. 237ff. 7 Wulffen, Thomas (Hg.):Betriebssystem Kunst – Eine Retrospektive, Kunstforum Interna-
tional, Bd. 125, 1994. 8 Luther, Martin (hgg. v. Aland, Kurt): Die Predigten, Göttingen (Vandenhoeck & Rupr echt) 1983, 3. Aufl. (Luther deutsch, 8), S. 84. 9 Marti, Kurt (1958): Christus, die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität, in:
Evangelische Theologie (8), S. 371-375. Vgl. auch grundsätzlich Marti, Kurt, Lüthi, Kurt,
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bearbeiten. Hatten die Libri Carolini diesen Tatbestand bereits festgehalten, so hat sich der Reformator Johannes Calvin in seiner Institutio 10 positiv darauf bezogen, und nicht umsonst hat Umberto Eco diese Schrift als erstes Manifest eines autonomen Kunst- und Kulturverständnisses in der europäischen Kulturgeschichte gerühmt: „Das ist eine außerordentlich klare Formulierung des Eigenwertes der Sprache der bildenden Kunst […] Die Ästhetik der Libri Carolini ist eine Ästhetik des unmittelbar Sichtbaren, und sie ist zugleich eine Ästhetik der Autonomie des Werkes der bildenden Kunst.“ 11
D IE F REIHEIT DER K UNST Meine eigene Position in dieser Frage bestimmt sich von dem her, was Kunst und Kultur für den Menschen – und nicht nur für den religiösen Menschen – bedeuten. Erst wenn uns klar wird, weshalb die Kunst so bedeutsam ist, können wir über das Verhältnis von Kunst und Kirche reden. Es ist eine Erkenntnis seit über 200 Jahren, dass die Kunst mehr Bedeutung hat, als nur ein Ausstattungsstück, Darstellung von etwas oder ein Spiegel der Wirklichkeit zu sein. Kunst, so kann diese Erkenntnis zusammengefasst werden, ist der einzige Bereich, an dem wir Menschen in einem umfassenden Sinne frei sind und Freiheit erleben können. Während wir überall sonst Begrenzungen vornehmen, Dinge auf bestimmte Erkenntnisse reduzieren, ist das bei der Betrachtung der Kunst und des Schönen nicht so. Immanuel Kant hat das ästhetische Urteil als jenes bestimmt, bei dem unsere Erkenntniskräfte frei spielen können. Im ästhetischen Urteil geht es nicht um eine bestimmte Erkenntnis, sondern darum, dass wir das, was wir als ästhetisch erfahren, um seiner selbst willen schätzen und beurteilen. Kant nennt dies das „interesselose Wohlgefallen“.12 Der Künstler und Theologe Thomas Lehnerer hat diesen Gedanken Kants vor einigen Jahren in seinem Buch Methoden der Kunst aufgegriffen und ästhetische Erfahrung als „Empfinden aus Freiheit“ und die Kunst als „Methode aus Freiheit“ beschrieben. Das Empfinden von Schönheit ist danach „die vielleicht ganz alltägliche, aber unbedingte Freude daran, dass etwas ohne Not und Grund – frei – sich beFischer, Kurt von (Hg.): Moderne Literatur, Malerei und Musik. Drei Entwürfe zu einer Begegnung zwischen Glaube und Kunst, Zürich [u.a.] (Flamberg) 1963. 10 Calvin, Jean (übers., bearb., hgg. von Weber, Otto): Unterricht in der christlichen Re-
ligion (Institutio Christianae religionis), 5. Aufl. d. einbändigen Ausg., NeukirchenVluyn (Neukirchener) 1988. 11 Eco, Umberto: Kunst und Schönheit im Mittelalter, 3. Aufl., München (Dt. Taschen-
buch) 1995, S. 169. 12 Kant, Immanuel (hgg. von Weischedel, Wilhelm): Kritik der Urteilskraft, Frankfurt
a.M. (Suhrkamp) 2009, 1. Aufl., [Nachdr.], S. 116-124.
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wegt, dass etwas lebendig ist in dieser Welt, einfach so […] Schönheit ist ein an sich selbst freier, unbedingter, dennoch aber subjektiv wahrnehmbarer Glücksfall.“ 13 Kunstwerke sind dementsprechend Gegenstände, die gemacht werden, um dieses „Empfinden aus Freiheit“ auszulösen. Die bildende Kunst ist ein ausgezeichneter Ort, Freiheit erfahren zu können. Als freies Spiel ist die Kunst unbedingt ernst zu nehmen. Allerdings spricht nichts dagegen, die Erfahrungen mit der Kunst religiös zu deuten, sie z.B. als von Gott geschenkten Freiraum des Menschen zu verstehen. Aber religiöse Deutungen sagen nichts über die ästhetische Qualität eines Kunstwerks aus. Derartige Urteile geben Auskunft darüber, welche religiösen Erfahrungen die Urteilenden mit einem künstlerischen Objekt machen, aber sie qualifizieren das Betrachtete nicht in ästhetischer Hinsicht. Die Wahrnehmung und die Gestaltung von Kunst geschieht nach eigenen Gesetzen, das Betriebssystem Kunst ist autonom. Vor diesem Hintergrund müssen sich die Aktivitäten ausweisen, die in der Kirche im Blick auf die Kunst geschehen. Die Fragen lauten: Inwieweit ist Freiheit, wie sie in der Kunst zum Ausdruck kommt, in der Kirche möglich? Können Kirchen Freiräume bieten für den homo ludens? Mit welchen Zielen und Interessen, so wird man kritisch fragen müssen, wird faktisch in der Kirche mit Kunst umgegangen, wie wird dabei die Autonomie der Kunst geachtet? In theologischer Perspektive geht es darum, eine offene Gastfreundschaft zu pflegen. Künstlerinnen und Künstler sind in der Kirche, sind im Raum der Kirche willkommen, sie sind eingeladen, diesen Raum auf Zeit zu gestalten und darüber in Austauschprozesse mit den Raumnutzern zu treten. Das macht religiöse Räume ja vielleicht auch für Künstlerinnen und Künstler attraktiv.
D ER R AUM DES R ELIGIÖSEN Wenn man also die Perspektive wechselt und nach der künstlerischen Sicht fragt, dann treten andere Gesichtspunkte in den Vordergrund. Für die Künstlerinnen und Künstler bildet Religion das außerästhetische Material, mit dem sie in künstlerischer Perspektive arbeiten. Das kann der bloße Raum bzw. Kontext sein, das kann die kunstgeschichtliche Tradition sein, das kann eine bestimmte herausragende Fragestellung sein. Tatsächlich verändert der religiöse Kontext die Wahrnehmung jedes Werkes, unabhängig davon, ob es sich im Außerästhetischen auf religiöse Fragen einlässt oder nicht.
13 Lehnerer, Thomas: Methode der Kunst, Würzburg (Königshausen und Neumann)
1994, S. 176.
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Wenn Yves Netzhammers Video-Installation Die Subjektivierung der Wiederholung – Projekt B im Berner Kunstmuseum 14 platziert ist, erzählt sie unverkennbar eine anders gefärbte Geschichte, als wenn sie während der documenta 12 in Kassel in einer hugenottischen Kirche steht, in der weiterhin Gottesdienst gefeiert wird.15 Das Kunstwerk ist exakt dasselbe, aber es entbindet bei den Besucherinnen und Besuchern unterschiedliche Erfahrungen, weil der Kontext jeweils ein anderer ist.16 Und natürlich reflektiert ein Künstler wie Netzhammer diese unterschiedliche Kontextualisierung. Das macht vielleicht den Reiz derartiger raumästhetischer Experimente aus.
Yves Netzhammer, Die Subjektivierung der Wiederholung – Projekt B (2007), Karlskirche, Kassel anlässlich der documenta 12, Installation aus Holz, Spiegelfolie, diverse Materialien; 3 Videos auf DVD, Ton je 37:37, ca. 6,5 x 5 x 10 m 14 http://www.kunstmuseumbern.ch/index.cfm?nav=567,1250,1939,1957&SID=1&D
ID=9 (ges. am 14.2.2012). 15 Netzhammer, Yves (unter Mitarbeit von Wulf Herzogenrath): Yves Netzhammer, Ost-
fildern (Hatje Cantz) 2008. 16 Vgl. Berger, John: Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt, Reinbek bei Hamburg
(Rowohlt) 2005.
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Max Glauner hat in einer Ausstellungsbesprechung seine Wahrnehmung so beschrieben: „Die Arbeit Die Subjektivierung der Wiederholung aus Kassel […] musste auf die räumlichen Gegebenheiten in Bern angepasst werden. Nun steht ein keilförmiger Bühnenkasten auf hundert Quadratmetern eng bis unter die fast sechs Meter hohe Decke. Zur Fensterseite öffnet er dem Besucher ein Spiegelkabinett, das sich zu einem weiten Raum ergänzt, in dessen Mitte ein stilisierter Baum mit übergroßen Blättern aufragt – Baum der Erkenntnis oder Weltenesche Yggdrasil. In seinen Ästen hängen merkwürdige Früchte, Projektionsflächen für drei animierte Videos Netzhammers, die sich mit ihrem für Netzhammer typischen Bestiarium und Figurinen mit Laub und Ästen des Baumes samt dem Betrachter ins Unendliche duplizieren. Der Dialog mit dem umgebenden Raum, der im Kassler Zentralbau so bestach, fehlt in Bern völlig.“ 17 Und tatsächlich korrespondierte Netzhammers Installation in Kassel nicht nur präzise zum oktogonalen barocken Kirchenbau und bildete einen Gegenentwurf zu ihm, sondern sie trieb einen Keil in die bilderlose Welt des reformierten Gottesdienstes und bildete mit künstlerischen Mitteln einen eigenen Erzählkosmos aus, der wiederum den religiösen Kontext zu Stellungnahmen herausforderte.18
Yves Netzhammer, Die Subjektivierung der Wiederholung – Projekt B (2007), Kunstmuseum Bern 17 Glauner, Max: Yves Netzhammer – Das Reservat der Nachteile, Ausstellungsbespre-
chung, in: Banz, Claudia (Hg.): Social Design. Kunstforum International, Bd. 207, 2011, S. 362. 18 Zur Kontextualisierung des Werkes in Kassel vgl. Mertin, Andreas: Speculum Yves
Netzhammer, in: tà katoptrizómena – (Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik) 2007, Jg. 9, H. 47, online verfügbar unter http://www.theomag.de/47/am214.htm (ges. am 14.2.2012).
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So gesehen bedarf es keiner besonderen religiösen Akzentuierung der Kunstwerke, sondern nur ihrer bewussten Kontextualisierung. Künstlerische Interventionen in den religiösen Raum einzubringen heißt, künstlerische Eingriffe in den Raum des Religiösen vorzunehmen.19 Und da die Tradition der religiösen Raumstrukturierung so übermächtig, weil geschichtlich so tief verwurzelt ist, bedarf es ganz besonders starker Werke der freien, autonomen Kunst, die dem religiösen Kontext standhalten und den Dialog mit ihm eröffnen und führen. Es geht nicht einfach um ‚Ausstellungen‘ im religiösen Raum oder im Raum des Religiösen – es geht um Interventionen, es geht um Lernprozesse mit offenem Ausgang.20
19 Vgl. auch Mertin, Andreas, Wendt, Karin (Hg.): Der freie Blick. Künstlerische Inter-
ventionen in den religiösen Raum, Begleitausstellung der Evangelischen Kirche zur documenta XI. Ausstellungskatalog mit Arbeiten von Thom Barth, Bjørn Melhus, Nicola Stäglich, Kassel (EKKW) 2002. 20 Vgl. dazu Mertin, Andreas: Complete this Sculpture, Gemeinsamkeiten und Diffe-
renzen zweier Erfahrungsräume, in: Herrmann, Jörg, Mertin, Andreas und Valtink, Eveline (Hg.): Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, München (Wilhelm Fink) 1998, S. 23-43.
Hat Kunst eine Konfession? Ein Schreibgespräch David Plüss und Johannes Stückelberger David Plüss: Im Rahmen des Forschungsprojekts Holyspace, Holyways an der Hochschule Luzern haben wir wiederholt die katholische Prägung von in der Innerschweiz entstandener Kunst festgestellt.1 Die konfessionellen Konturen der erforschten Künstlerinnen und Künstler, Bilder und Installationen beziehen sich zunächst – auf der Oberfläche gewissermaßen – auf die eingespielten Traditionsbezüge, auf die verwendete Symbolik und die Ikonografie. Kruzifixe, Schutzmantelmadonnen und Heilige lösen selbst bei uns spätmodernen Protestanten leichtes Befremden aus. Eine mir emotional und biografisch unvertraute Welt wird hier künstlerisch in Szene gesetzt. Davon ausgehend stellt sich mir die Frage nach der Konfessionalität von Kunst, vor allem dann, wenn sie sich auf religiöse Symbolik bezieht. Ist es überhaupt sinnvoll, das Verhältnis von Religion und Kunst außerhalb der Konfessionsfrage zu verhandeln? Stellt sich das Verhältnis nicht als ein je anderes dar, sobald unterschiedliche Religionskulturen ins Spiel kommen? Ich meine tatsächlich, Kunst habe eine Konfession – in diesem weiten Verständnis. Jedenfalls Kunst mit einem explizit religiösen Hintergrund. Vielleicht aber alle Kunst, auch nicht-religiöse. Johannes Stückelberger: Die Frage nach der konfessionellen Prägung der Kunst beschäftigt mich seit langem.2 Auch ich stelle fest, dass nicht nur der religiösen, sondern oftmals auch der nicht-religiösen Kunst – ohne letztere damit religiös vereinnahmen zu wollen – bestimmte Gottesbilder zugrunde liegen, die in der Regel konfessionell geprägt sind. Im Zusammenhang mit moderner Kunst 1 Zum Forschungsprojekt Holyspace, Holyways
VLHKH http://holy.kunstforschunglu
zern.ch (ges. am 24.4.2012). 2 Vgl. Stückelberger, Johannes: Das unsichtbare Bild – Prolegomena zu einer refor-
mierten Ästhetik, in: Krieg, Matthias, Rüsch, Martin, Stückelberger, Johannes, Zeindler, Matthias (Hg.): Das unsichtbare Bild. Die Ästhetik des Bilderverbotes, Zürich (TVZ) 2005, S. 11-19; Stückelberger, Johannes: Das unsichtbare Bild als Figur protestantischer Ästhetik, in: Theologische Zeitschrift, 2/67, Basel (Reinhardt), 2011, S. 203-222.
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spreche ich gerne von ‚latenten Gottesbildern‘ 3, da der religiöse Bezug oft verborgen bleibt oder nicht so offensichtlich ist. Wir sind beide reformiert. Es soll in unserem Gespräch jedoch nicht darum gehen, reformiert und katholisch geprägte Kunst gegeneinander auszuspielen. Ich sehe unseren Beitrag als Chance, in einem Forschungsprojekt, in dem vor allem in einem katholischen Umfeld entstandene Kunst zur Sprache kommt, die Frage der konfessionellen Prägung auch aus einer protestantischen Perspektive zu stellen. Denn ich vermute wie du, dass es auch eine reformiert beziehungsweise protestantisch geprägte Kunst gibt, die sich von der katholisch geprägten in manchem unterscheidet. David Plüss: Ich schlage vor, dass wir uns zwei zeitgenössische Werke vornehmen, die jüngst für zwei Schweizer Kirchen entstanden sind. Zweimal Glasfenster. Die einen hat Judith Albert in Zusammenarbeit mit Gery Hofer 2008 bis 2010 für die katholische Kirche Sacré-Cœur in Montreux geschaffen, die anderen Claudia und Julia Müller 2010 für die reformierte Kirche in Pratteln bei Basel. Albert ist katholisch, die Geschwister Müller sind in einem reformierten Pfarrhaus aufgewachsen.4
D ER G EGENSTAND UNSERES G ESPR ÄCHS Johannes Stückelberger: Die Voraussetzungen waren an beiden Orten ähnlich. Die Fenster im Chor der reformierten Kirche in Pratteln zeigen eine Farbkomposition, die sich über alle fünf Fenster erstreckt, die folglich wie ein einziges Bild gelesen werden kann, als Landschaft mit einer großen roten Wolke. In diese Farblandschaft hinein haben die Künstlerinnen mit Schwarzlot sieben, aus der Ferne kaum erkennbare Motive gezeichnet: ein nacktes Menschenpaar, ein Huhn mit drei Küken, ein Ei, Werkzeuge, dreimal ein X, eine Flöte, eine Schachtel mit einem Totenkopf darin sowie eine Blumenwiese. Für die Fenster verwendeten die Künstlerinnen Antikgläser, die jedoch nicht in der traditionellen Technik der Bleiverglasung gefasst, sondern auf ein Trägerglas aufgeklebt sind.5 3 Vgl. Stückelberger, Johannes: Gottesbilder in der modernen Kunst, in: Gott sehen. Das
Überirdische als Thema der zeitgenössischen Kunst, Ausstellungskatalog Warth (Kunstmuseum des Kantons Thurgau), Sulgen/Zürich (Niggli) 2005, S. 43-49. 4 Aktuelle Biografien und Publikationslisten der drei Künstlerinnen in: www.judithal
bert.ch; http://www.peterkilchmann.com/artists/ (beide ges. am 24.4.2012). 5 Zu den Fenstern von Claudia und Julia Müller in Pratteln: Die Glasfenster von Claudia
und Julia Müller in der reformierten Kirche Pratteln, hg. von Clara Moser, Brassel, Claudia und Julia Müller, Johannes Stückelberger, Pratteln: Reformierte Kirchgemeinde
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In Montreux galt es Fenster zu ersetzen, die im Juli 2005 durch einen Hagelsturm zerstört worden waren. Albert übernahm von diesen Vorgängerscheiben das Motiv der Heiligenfiguren, die nun – auf ihre Umrisse reduziert – vor einem prächtigen Abendhimmel erscheinen. Die Künstlerin verwendete Fotografien realer Himmel als Vorlagen, die sie in einer neuartigen Technik mit Glaskeramikfarben transluzid auf Antikglas übertrug.6 Beide Arbeiten folgen insofern einer ähnlichen Anlage, als in beiden der Himmel eine dominante Rolle spielt.7
H IMMEL Johannes Stückelberger: Zwischen den beiden Arbeiten gibt es einen kleinen, jedoch entscheidenden Unterschied. In Pratteln zeigt sich unter dem Himmel ein schmaler Streifen Landschaft, der in den Fenstern in Montreux fehlt. Dort sind wir eingeladen, in die Ferne zu schauen und mit unseren Augen umherzuschweifen. In Pratteln bewirkt der Horizont, dass wir die Wolke in einer Beziehung zur Erde und damit auch zu unserem eigenen Standort wahrnehmen. Im Kontext der Kirche liegt es nahe, eine Himmelsdarstellung mit Vorstellungen des religiösen Himmels, wenn nicht sogar mit der Vorstellung von Gott in Verbindung zu bringen. So darf man auch die Arbeiten von Albert und Claudia und Julia Müller daraufhin befragen, wie sie den Himmel interpretieren, welche Vorstellungen von Gott sie vermitteln. Landschaftsdarstellungen als Gottesbilder zu lesen, dafür gibt es seit der Romantik eine Tradition. So deutet Caspar David Friedrich etwa die untergehende Sonne in seinem Gemälde Kreuz im Gebirge als Metapher für Gott, als ‚Bild des ewigen, allbelebenden Vaters‘. Eines Gottes, den wir direkt nicht sehen können, dessen Strahlen jedoch auf ihn verweisen und die im Bild die Wolken rot färben.8 Die Arbeiten in Montreux und Pratteln stehen in dieser Tradition. Pratteln-Augst, 2010 (mit Beiträgen von Moser, Clara, Stückelberger, Johannes, Derix, Barbara und René Salathé), Stückelberger, Johannes: Neue Kirchenfenster in der Reformierten Kirche Pratteln/Schweiz, in: Kunst und Kirche, 4, 2010, S. 64-65. 6 Zu den Fenstern von Judith Albert und Gery Hofer in Montreux: Les nouveaux vit-
raux du Sacré-Coeur à Montreux de Judith Albert und Gery Hofer, s.l., s.d. [mit Beiträgen von Françoise Jaunin und Stefan Trümpler]; http://www.judithalbert.ch/pdf/works.pdf (ges. am 12.12.2011). 7 Ausführlicher habe ich mich mit Darstellungen und Deutungen des Himmels in der
Moderne befasst in: Stückelberger, Johannes: Wolkenbilder. Deutungen des Himmels in der Moderne, München (Wilhelm Fink) 2010 (Habilitationsschrift, Basel 2003). 8 Aus einem Brief von Caspar David Friedrich an Professor Schulz, Dresden, 8. Feb-
ruar 1809, hier zitiert nach: Uerlings, Herbert (Hg.): Theorie der Romantik, Stuttgart (Reclam), 2000, S. 279. Zu Friedrichs Bild Kreuz im Gebirge (auch „Tetschener Altar“
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Judith Albert in Zusammenarbeit mit Gery Hofer, Ciel (2008-2010), Glasfenster in der Église du Sacré-Cœur Montreux
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In Montreux schaue ich durch die Fenster hindurch in einen Außenraum, auf Wolken, die sich in einer nicht näher bestimmbaren Distanz zu uns befinden. Zu dieser Wahrnehmung tragen nicht unwesentlich die Heiligen bei, die auf der Schwelle zwischen dem Innen- und dem Außenraum zu stehen scheinen, gleichsam in die waagrechten Windeisen ‚eingewoben‘ beziehungsweise auf ihnen stehend. Die Windeisen und die Heiligen sind – einem Spinnennetz nicht unähnlich – im Fensterrahmen verankert und markieren die Ebene der Fensteröffnung. In Pratteln nimmt man die Fensterfläche anders wahr. Sie ist nicht die transparente Membran, die Innen und Außen trennt, vielmehr hat man den Eindruck, die Landschaft und insbesondere die rote Wolke klebten von außen auf den Scheiben. Dadurch und durch ihre Größe erscheint die Wolke sehr nahe. In Montreux schauen wir von hier nach dort, von innen nach außen. Auf der Schwelle stehen die Heiligen. In Pratteln befindet sich auf dieser Schwelle die Wolke. Die Fenster von Claudia und Julia Müller wirken nicht durchsichtig, was die in Montreux natürlich auch nicht sind, aber die dortigen Motive des Wolkenhimmels und der Heiligen suggerieren doch diese Wahrnehmung. Die Wolke in Pratteln macht auf mich den Eindruck, als wolle sie sich ins Kircheninnere ergießen. Anders formuliert: In Montreux schauen wir den Himmel an, in Pratteln schaut der Himmel uns an. In beiden Arbeiten geht es um die Darstellung religiöser Erfahrung. In Montreux ist es die Erfahrung von Transzendenz (Gott als der Andere), in Pratteln die Erfahrung von Immanenz (Gott im Eigenen). Zu diesen unterschiedlichen Auffassungen von Gottesschau lassen sich Parallelen ausmachen in der Theologie: Der Protestant Friedrich Schleiermacher definiert Religion als Anschauung des Unendlichen im Endlichen. Religiöse Erfahrung ist für ihn – so lese ich ihn – eine Erfahrung von Transzendenz in der Immanenz, die Erfahrung, dass Gott in unsere Wirklichkeit hineinwirkt. So, wenn er etwa von der „Vermählung des Unendlichen mit dem Endlichen“ spricht oder davon, dass sich ihm „unter dem Endlichen und Einzelnen das Bewusstsein des Unendlichen und des Ganzen“ entwickelt hat.9 Zu meiner Formulierung, der Himmel in Pratteln schaue uns an, gibt es bei Schleiermacher eine schöne Parallele, wobei ich nicht ausschließe, dass meine Deutung der Pratteler Fenster von meiner Schleiermacher-Lektüre beeinflusst ist. Im Zusammenhang mit Überlegungen zur Anschauung des Universums schreibt der deutsche Theologe: „Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluss des Angeschaueten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren seiner Natur genannt) von 1807/08 vgl. Busch, Werner, Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München (Beck) 2003, S. 34-45. 9 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Über die Religion. Reden an die Gebildeten
unter ihren Verächtern [1799], Hamburg (Reimer) 1958, S. 149
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gemäß aufgenommen, zusammengefasst und begriffen wird.“ 10 Religiöse Erfahrung stellt sich nach Schleiermacher so ein, dass das Jenseits ins Diesseits ‚hineinscheint‘. Anders sieht der katholische Theologe Günter Rombold das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz. Die durch Kunst vermittelte religiöse Erfahrung ist für ihn eine Erfahrung des Überschreitens einer Schwelle in eine andere Wirklichkeit. Transzendenzerfahrung stellt sich für Rombold so ein, dass wir vom Hier in ein Dort hinüberschauen. So schreibt er: „Wir verstehen darunter [unter Transzendieren, Anm. J. S.] das Überschreiten der endlichen Wirklichkeit auf die unendliche hin, der bedingten Wirklichkeit auf die unbedingte, der relativen auf die absolute.“ Wobei, so schließt er an, „zu bemerken ist, dass dabei das eine auf das andere bezogen bleibt: Das Unbedingte wird im Bedingten gefunden, das Absolute im Relativen.“ 11 David Plüss: Die von dir vorgenommene Beschreibung und Kontextualiserung der beiden Werke ist hilfreich. Der These, wonach sich der Protestantismus programmatisch auf das Diesseits bezieht, stimme ich grundsätzlich zu. Dies gilt zumindest seit dem 19. Jahrhundert. Schleiermacher, auch Kirchenvater des Neuprotestantismus genannt, hat allerdings, wie du selber zeigst, keine platte Diesseitigkeit von Religion vertreten, sondern gerade auf die unaufhebbare Spannung von Immanenz und Transzendenz Wert gelegt. Religion ist für ihn bekanntlich „weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl“, nämlich das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“.12 Religion wird vom jungen Schleiermacher geradezu ästhetisiert. Gefühl und Anschauung machen das Religiöse als solches aus, nicht aber das sittliche Handeln im Alltag oder die Vernunft.13 Diese Ästhetisierung ermöglicht ihm, die Transzendenz zu denken und sie vor allem sinnlich zu erfahren. Der Immanenzbezug wird dabei an keiner Stelle aufgegeben, sondern stellt den Zielpunkt religiöser Transzendenzerfahrung dar. Religion ist immer eine solche des religiösen Subjekts und auf dessen religiöse Selbstentfaltung im Diesseits 10 Ebenda, S. 31 11 Rombold, Günther: Transzendenz in der modernen Kunst, in: Schmied, Wieland
(Hg.): Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde: religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog Berlin (Schloss Charlottenburg, Grosse Orangerie), Stuttgart/Mailand (Klett-Cotta/Electa) 1980, S. 14-26, hier S. 15. – Vgl. Rombold, Günther: Das Transzendieren des Kunstwerks, in: ders.: Der Streit um das Bild. Zum Verhältnis von moderner Kunst und Religion, Stuttgart (Katholisches Bibelwerk), 1988, S. 261-268. 12 Schleiermacher 1958 (wie Anm. 9), S. 29-30. 13 Vgl. Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre, München (Carl Hanser)
2007, S. 145.
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bezogen. Dieses Religionsmodell kann als typisch (neu-)protestantisch gelten und scheint mir auch für eine Dechiffrierung konfessioneller Konturen der Gegenwartskunst hilfreich. Die Glasfenster von Montreux metaphorisieren tatsächlich ein Jenseits. Sie entwickeln einen machtvollen Sog in das Reich der Wolken und den mit mythischen Heiligenfiguren bevölkerten Himmel. Aber sie tun dies mittels einer fast schon überzeichneten Realistik der Wolken und der Farben. Die Fenster in Pratteln dagegen verblüffen mit einer knallrot-gelben Großwolke, die einen nicht wegzieht, sondern geradezu bedrängt und die Selbstreflexion des betrachtenden Subjekts provoziert. Die Subjektivität ästhetischer Wahrnehmung und sinnlicher Erfahrung ist hier unvermeidbar – und damit der Diesseitsbezug von Religion. Mein Fazit: Sowohl die Pratteler Glasfenster als auch diejenigen in Montreux eröffnen die Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz, allerdings mit unterschiedlichen Ankerpunkten. Während der Abendhimmel Judith Alberts die Frömmigkeit im Jenseits verankert, haftet die durch die Glasfenster von Claudia & Julia Müller evozierte Religion am religiös affizierten Subjekt.
TR ADITION Johannes Stückelberger: Aufschlussreich für die Frage der konfessionellen Prägung scheinen mir auch die den beiden Wettbewerben vorausgegangenen Programme zu sein. Teil der Ausschreibung in Montreux war eine „Message de la Paroisse“, in der die Pfarrei ihre Erwartungen formulierte. Erstens sollen die Scheiben als Zeugnisse der Kunst unserer Zeit erkennbar und gleichzeitig der Tradition verpflichtet sein. Zweitens sollen sich die Wettbewerbsteilnehmer/ innen von den traditionellen alten Scheiben inspirieren lassen. Und drittens sollen die Fenster an die traditionelle Aufgabe der Kirche erinnern, die darin besteht, das Reich Christi zu verkünden.14 Dreimal ist von Tradition beziehungsweise von der Tradition der Kirche die Rede. Das lässt mich fragen – und diese Frage möchte ich an dich richten –, worin die Protestanten die Aufgabe der Kirche sehen und welche Rolle bei ihnen die Tradition spielt. David Plüss: Tatsächlich unterscheiden sich Katholiken und Protestanten in ihrem jeweiligen Traditionsbezug beträchtlich. Während für die römisch-katholische Kirche die Lehrentscheidungen der Konzilien und die ‚ex-cathedra‘14 Concours de projets pour la recréation de cinq vitraux (détruits par la grêle du
18.7.2005 et irréparables) à l’église catholique du Sacré-Cœur, avenue des Planches 27, 1820 Montreux, Annexe V02 (du règlement du premier tour): Message de la Paroisse, 2007 (Typoskript), Archiv Johannes Stückelberger, Therwil.
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Entscheide des Papstes normative Geltung haben und Unfehlbarkeit für sich reklamieren, lehnen die Protestanten diesen Anspruch sowie viele einzelne Entscheidungen ab. ‚Sola scriptura‘, einzig die Bibel kann für sie Maßstab sein. Oder genauer: einzig das durch die Auslegung des Bibeltextes in der jeweiligen Gegenwart verkündigte und den Menschen befreiende Gotteswort. Es wird ein vermeintlich traditionsfreier Rückgriff auf die Heilige Schrift postuliert und zudem die Unmittelbarkeit göttlicher Erleuchtung durch den Heiligen Geist im Prozess des Auslegens und Verstehens. Die theologische Hochschätzung der Tradition dagegen ist Protestanten fremd und suspekt. Ich meine, dass sich dieser Unterschied auch beim Vergleich der beiden Werke zeigt. Die durch Silhouetten angedeuteten Heiligen, welche in Montreux gleichsam als Mittler und Schwellenwesen fungieren, wären in Pratteln undenkbar. Johannes Stückelberger: In Pratteln haben Claudia und Julia Müller sieben unterschiedliche Motive auf die Scheiben gezeichnet. Drei davon kennen wir aus der christlichen Ikonografie: das Menschenpaar, den Totenschädel sowie das X, wobei letzteres – im griechischen Alphabet ist es der Buchstabe „Chi“ – für Christus steht. Die übrigen Motive zählen nicht zu den bekannten kirchlichen Symbolen. Man fragt sich, wie sie mit biblischen oder theologischen Inhalten in Zusammenhang gebracht werden können. Dazu ein paar Hinweise: Die Zeichen verweisen auf Stationen des Lebens von der Geburt (Ei), über die Ehe (Paar) bis zum Tod (Totenkopf): Stationen, die in der Kirche mit Übergangsritualen wie Taufe, Hochzeit oder Beerdigung gefeiert werden. Sie stellen etwa die Frage, was zuerst war, das Huhn oder das Ei. Sie versinnbildlichen in der Blumenwiese den unermesslichen Reichtum und die Fülle der Schöpfung. Sie verweisen mit den Werkzeugen auf das tätige Leben und mit der Flöte auf die Kunst. Und dies alles ist einer Landschaft eingeschrieben, die von Gottes Präsenz durchwirkt ist. Das menschliche Leben und Tun wird in den Pratteler Scheiben in eine Beziehung gestellt zu Gott. Die Kirche wird als Ort definiert, an dem man sich immer wieder neu dieser Beziehung versichert, sie lebt und bekennt. Die Künstlerinnen sprechen von den Zeichen als visuellem Vokabular, das sich mit Symboltraditionen verbinden lasse, das jedoch immer auch individuell bestimmbar bleiben und poetische Momente evozieren soll.15 Mit dieser Aussage und mit ihrer ‚neuen‘ Symbolsprache laden sie zu einer persönlichen Auseinandersetzung mit den ganz alten und gleichzeitig aktuell bleibenden theologischen Fragestellungen ein. Sie sagen damit: Die biblischen Inhalte müssen immer wieder neu interpretiert werden, die Kirche muss sich immer wieder
15 Claudia und Julia Müller: Suche nach Sieben. Wettbewerb für neue Kirchenfenster im
Chor der Reformierten Kirche Pratteln, Dezember 2008 (Typoskript), Archiv Johannes Stückelberger, Therwil
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Claudia und Julia Müller, Suche nach Sieben (2008-2010), Glasfenster in der reformierten Kirche Pratteln
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erneuern, gemäß dem Wahlspruch der Reformierten: „Ecclesia reformata et semper reformanda“. David Plüss: Ich habe vorhin vom vermeintlich traditionsfreien Rückgriff auf die in den Heiligen Schriften offenbarte göttliche Wahrheit gesprochen. Tatsächlich ist ein solch direkter, unverstellter Rückgriff nicht möglich. Auch die protestantische Religion ist eine traditionsvermittelte. Auch wir Protestanten stehen in einem kulturellen Gedächtnisraum und pflegen diesen in Theologie, Kirche und Gesellschaft. Eine unterstellte Unmittelbarkeit ist naiv und sogar gefährlich. Insofern vermisse ich bei uns Protestanten zuweilen den ästhetischen, spirituellen und reflexiven Umgang mit Tradition, wie er für Katholiken selbstverständlich ist. Protestantinnen und Protestanten sind oft erstaunlich ahnungslos, was ihre eigene Herkunft und Tradition anbelangt – eine Tradition, die wir nota bene über 1’500 Jahre miteinander teilen. Die in Pratteln verwendeten Motive scheinen mir symptomatisch für diesen mehrheitlich ignorierten oder durchgestrichenen Traditionsbezug des Protestantismus. Sie sind diskret, man sieht sie kaum. Sie regen die Reflexion an, gewiss, aber sie versetzen uns nicht in einen durch religiöse Motive eröffneten Andachtsraum. Christentum und Glaube werden nicht unmittelbar thematisch, sie werden nicht symbolisiert. Die religiöse Konnotation der Motive ergibt sich in durchaus produktiver Offenheit durch den Kirchenraum. Das ist für das religiöse Individuum reizvoll und anregend, aber in Bezug auf die eigene Tradition und Ikonografie auch ein wenig verschämt.
K IRCHE Johannes Stückelberger: Den beiden Arbeiten in Pratteln und Montreux liegt – so möchte ich behaupten – ein unterschiedliches Verständnis von Kirche zugrunde. Albert beschließt ihre Projekteingabe mit einer allgemeinen Bemerkung zur Rolle der Glasfenster in einer Kirche als Kontaktstelle zwischen dem heiligen Raum und der Quelle, die diesen erhellt. Mit ihrer Arbeit wolle sie zum Ausdruck bringen, dass die Kirche ein Ort sei, an dem Grenzen überschritten werden: Grenzen zwischen Innen und Außen, Tag und Nacht und vor allem zwischen dem Diesseits und dem Jenseits.16 Kirche ist für Albert ein Ort der Versöhnung von Diesseits und Jenseits, ein Ort der Transzendenz. Ist das ‚typisch katholisch‘? Und wenn ja, wie sieht im Unterschied dazu das Kirchenverständnis der Reformierten aus? 16 Judith Albert: Ciel. Démarche créatrice/Descriptif technique. Un projet de Judith Albert
en collaboration avec Gery Hofer, 2008 (Typoskript), Archiv Johannes Stückelberger, Therwil
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D AVID P LÜSS UND J OHANNES S TÜCKELBERGER David Plüss: Die Kirche im katholischen Verständnis ist ein Sakralraum, und zwar sowohl im theologischen („extra ecclesia non salus est“) als auch im räumlichen Sinn. Katholische Kirchen sind geweihte Orte mit geheiligten Elementen – geweihtes Wasser beim Eingang, gewandelte Hostien im Tabernakel, verehrte Altarreliquien. Das Heilige ist gleichsam physisch präsent und sinnlich wahrnehmbar. Das Gebet und die Frömmigkeit haben ihre Kraftorte und ihre Ausrichtung. Wenn nach Albert die Kirchenfenster zwischen Sakralraum und Transzendenz vermitteln, so handelt es sich hier um eine prägnant katholische Funktionszuweisung. – Im protestantischen Verständnis sind Kirchenräume dagegen weitgehend pragmatisch bestimmt. Sie haben bestimmte Funktionen zu erfüllen: Sie haben der Versammlung der Gemeinde, der frommen Belehrung und der Andacht zu dienen. Ihre sakrale Qualität bemisst sich daran, ob und in welcher Weise sie diese Funktionen erfüllen. Und auch wenn sie für die Feiernden einen Schutz- und Freiheitsraum darstellen, so befindet sich dieser doch ganz in der Welt und grenzt an kein Jenseits. Kirche ist für Protestanten zwar ein visionäres Projekt, aber kein Himmel auf Erden. Auch dies wird in Pratteln schön sichtbar.
G OT T Johannes Stückelberger: Ich habe oben das Programm des Wettbewerbs von Montreux erwähnt. Auch in Pratteln hat die Kirchgemeinde ein Programm formuliert. An einem Gesprächsabend, zu dem alle Mitglieder der Gemeinde eingeladen waren, haben sich die Anwesenden über ihre Gottesbilder ausgetauscht und darüber, was ihnen Kirche bedeutet. Die Gedanken wurden in dem Satz zusammengefasst, der dann auch dem Wettbewerbsprogramm als Grundlage diente: „Gott lädt uns ein, ihm nahe zu sein. Diese göttliche Kraft stärkt uns, einander über Grenzen hinweg zu begegnen.“ 17 Dem Satz liegt – so scheint mir – ein anderes Gottesbild und auch ein anderes Verständnis von Kirche zugrunde als dem Programm von Montreux. Doch was ist es, das uns diesen Satz als protestantische Formulierung empfinden lässt? David Plüss: Gott wird hier als Kraft bestimmt, die in zwischenmenschlichen Beziehungen Gestalt gewinnt. „Gott als Kraft der Beziehung“, wie es die amerika-
17 Protokoll des Gesprächsabends mit Interessierten der Gemeinde am 10. April 2008. An-
hang 1 zu: Evang.-ref. Kirchgemeinde Pratteln-Augst, Wettbewerb für neue Kirchenfenster im Chor der Reformierten Kirche Pratteln. Wettbewerbsprogramm, von der Jury genehmigt am 25. Juni 2008 (Typoskript), Archiv Johannes Stückelberger, Therwil.
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nische Feministin Carter Heyward prägnant formuliert hat.18 Räume, Symbole und geweihte Ämter spielen hier zunächst keine Rolle. Die Gotteskraft bedarf keiner Vermittlung, sondern wirkt unmittelbar und bewährt sich in Mitmenschlichkeit und Verantwortung. Dass sich Protestantinnen und Protestanten mit dieser Unmittelbarkeit, Diesseitigkeit und Verantwortung auch immer wieder schwer tun und überfordern, ist die Rückseite derselben Medaille. Dass religiöse Sinnsuche und Selbstvergewisserung Schutz- und Kraftorte braucht, Orte der Berührung und der Verwandlung, Orte der Schönheit und der Erbauung, Orte des Geheimnisses und der Absolution haben die Katholiken deutlicher erkannt als wir Protestanten. Gleichwohl bleibt die in Pratteln sinnlich gestaltete Religion nicht im Diesseits des Zwischenmenschlichen stecken, sondern eröffnet eine Atmosphäre der Andacht, einen weiten, transzendenzoffenen Raum. Johannes Stückelberger: Auch in den Pratteler Fenstern wird eine direkte Gottesbeziehung thematisiert. Die im Programm formulierte „Einladung Gottes, ihm nahe zu sein“, bringe ich mit der roten Wolke in Verbindung, die sich von rechts in den Kirchenraum schiebt. Die Leserichtung in unserer Kultur verläuft von links nach rechts. Die Wolke ist gegenläufig, was ich als Metapher dafür lese, dass Gott uns entgegenkommt. In den Fenstern durchdringen sich zwei Bewegungen. Die eine folgt dem Lauf der Sonne von links nach rechts: das Nordfenster ist in blauen Tönen gehalten, die für die Nacht stehen, vom Ost- zum Südfenster gibt es eine steigende Bewegung im grünen Bodenstreifen, was man als Zeichen für den sich entfaltenden Tag lesen kann. Die andere Bewegung ist wie gesagt die der Wolke von rechts nach links, eine antizyklische Bewegung: Zeichen für das Sich-uns-Zuwenden Gottes. David Plüss: Das ist eine sehr schöne und einleuchtende Lesart! Allerdings vermag ich hier keine konfessionellen Eigenheiten zu erkennen, sondern die Bebilderung des religiösen Transzendenzbezugs schlechthin.
B ILD David Plüss: Mich fasziniert der Himmel in der Kirche von Montreux. Er entwickelt eine Sogkraft, die einen hineinzieht – in die Andacht, ins Gebet. Dabei wird mir das ambivalente Verhältnis von uns Protestanten zum religiösen Bild, zur Bebilderung unserer Religion bewusst. Denn der Protestantismus ist eine Religion der Innerlichkeit, vor allem in seiner reformiert-zwinglianischen Spiel18 Vgl. Heyward, Carter: Our passion for justice. Images of power, sexuality, and liberation,
Cleveland (The Pilgrim Press), 1994. Heyward war Theologieprofessorin an der Episcopal Divinity School in Cambridge (Massachusetts, USA).
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form. Hör- und Sichtbares im Kirchenraum stellt für die Zürcher Reformatoren eine Gefahr dar, weil es vom Eigentlichen ablenkt und zum Götzendienst verführt, sofern nicht Gott, sondern menschliches Machwerk verehrt wird.19 Religion soll das Herz des Menschen betreffen und bewegen. Seine Andacht ist der Zielpunkt jeglicher Religionspraxis. Was diese befördert, ist geistlich, was sie hindert, gilt es zu unterlassen oder zu entfernen. Entsprechend wurden die Kirchen geräumt und die Liturgie entschlackt. Reformierte Liturgie ist ein Kult der Innerlichkeit und der entleerten Kirchenräume. Dies ist seit Pietismus, Romantik und Schleiermacher noch verstärkt der Fall. Dieses spannungsvolle Verhältnis zur Äußerlichkeit bildhafter Darstellung ist auch den Pratteler Kirchenfenstern anzumerken. Die Darstellung ist gegenständlich und zugleich eigenartig abstrakt. Formen und Farben verfremden das Bekannte. Dadurch regen sie die Innerlichkeit des religiösen Erlebens und Reflektierens an und machen sie unabdingbar. Anders die Fenster in Montreux. Sie entlasten den Betrachter von aufwändiger Reflexion und lassen ihn die Schönheit des dargestellten Abendhimmels meditieren und darin das Jenseits erahnen. Das Verhältnis zur bildhaften Darstellung erscheint entspannter und selbstverständlicher. Katholische Frömmigkeit erweist sich hier allerdings keineswegs als bloß äußerliche und gegenständliche. Vielmehr symbolisieren die Darstellungen von Heiligen und Abendhimmel das nicht darstellbare göttliche Geheimnis. Johannes Stückelberger: Du benennst ganz wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Arbeiten, die ich abschließend mit einer unterschiedlichen Auffassung der Funktion von Bildern in Verbindung bringen möchte. Diese unterschiedliche Auffassung ließe sich anhand der Geschichte der katholischen und protestantischen Bildproduktion diskutieren, wofür hier nicht der Platz ist. Ich will mich auf ein paar Hinweise beschränken, die sich auf die Fenster von Pratteln und Montreux beziehen. Nach katholischer Auffassung haben religiöse Bilder und insbesondere Bilder in Kirchen die Funktion von Andachtsbildern, von Bildern, die die Gläubigen zur Andacht hinführen, die sie emotional ansprechen wollen. Im Lauf der Geschichte sind dafür eigene Bildtypen entstanden wie der Schmerzensmann, die Christus-Johannes-Gruppe oder das Heilige Grab. Insbesondere erfüllen auch alle Mutter Gottes- und Heiligendarstellungen diese Funktion: als direkte Gegenüber, zu denen man seine Nöte und Sorgen bringen kann, als Vorbilder, die durch ihr eigenes Leben und Leiden, in das zu vertiefen die Bilder einladen, Trost spenden, oder als Fürbitter, von denen man sich Hilfe erhofft. Die Beziehung zu diesen ‚heiligen‘ Bildern spielt sich 19 Knellwolf, Ulrich: Die Musik im reformierten Gemeindegottesdienst, in: Musik der
evangelisch-reformierten Kirche. Eine Standortbestimmung, Zürich (Institut für Kirchenmusik der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich) 1989, S. 45-86.
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auf einer emotionalen Ebene ab. Das, denke ich, ist auch die Faszination, die – wie du sie beschreibst – von den Fenstern von Albert ausgeht. Im Unterschied dazu ist die Funktion der Bilder im Protestantismus primär eine hermeneutische. Die Bilder dienen der Schriftauslegung und der Vermittlung von Glaubensinhalten. Sie erzählen, interpretieren und führen in Symbolen vor Augen, woran die Protestanten glauben. Sie übernehmen gleichsam die Rolle von Glaubensbekenntnissen. Und dafür eignet sich eine figürliche Bildsprache besser als eine abstrakte. Die Bilder sollen lesbar sein, wie die Schrift. Bezeichnenderweise haben im 20. Jahrhundert abstrakte Kunstwerke in reformierte Kirchen weit weniger Eingang gefunden als in katholische. Abstrakte Kunst ist den Protestanten suspekt: als Kunst, die nicht direkt auf das Wort verweist, die unmittelbar anspricht und emotional berührt. Auf einen ersten Blick möchte man vermuten, die Fenster von Judith Albert würden in ihrer auf Fotografien basierenden Gegenständlichkeit und Naturalistik eher einem reformierten, textgebundenen Bildbegriff entsprechen. Dem ist aber nicht so. Die Wolken entziehen sich als Motiv der Textnähe. Natürlich kann man sie als Metaphern für Gott und Unendlichkeit lesen. Doch zunächst berühren sie uns auf einer anderen Ebene. Der gefärbte Abendhimmel versetzt uns ins Staunen, er zieht unseren Blick in die Tiefe, er bringt in uns Saiten zum Schwingen, er berührt uns emotional. Wolkenhimmel haben mit abstrakten Bildern gemein, dass sie unsere Blicke schweifen lassen, dass sie uns nicht auf dieses oder jenes Detail fokussieren, dass sie vielmehr eine Stimmung vermitteln und eine Atmosphäre schaffen. Mit ihren Wolkenhimmeln und den Heiligen funktionieren die Fenster in Montreux wie Andachtsbilder. Die Fenster in Pratteln wirken zwar auf den ersten Blick und aus der Distanz abstrakter als die in Montreux. Doch laden sie nicht in gleicher Weise wie die letzteren zur Andacht ein. Die Farben sind dafür zu intensiv und zu aktiv, die rot-gelbe Wolke zu groß und zu präsent. Die in die Farblandschaft eingeschriebenen Zeichnungen verlangen vollends eine andere Lektüre. Wir sind aufgefordert, nach den sieben Motiven zu suchen, sie zu deuten und mit uns und unserem Glauben in Beziehung zu bringen. Dabei sind unser Intellekt und unser Assoziationsvermögen gefragt. Nichts von Beschaulichkeit und Andacht. Die Pratteler Fenster sind nicht einfach schön. Sie haben – auch in der Darstellung der Wolke – etwas Sperriges, Widerständiges, Unbequemes, Direktes, das ich mit dem Protestantismus in Verbindung bringe.
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S CHLUSS David Plüss: Mir ist aus unserem Gespräch Folgendes deutlich geworden: Die Konfessionalität ist auch in der Gegenwartskunst noch immer erstaunlich stilprägend, zumindest in religiösen Kontexten. Die beiden Kunstwerke von Montreux und Pratteln spiegeln den Frömmigkeitsstil, den Habitus und die Theologien der unterschiedlichen Religionskulturen in eindrücklicher Weise. Zugleich beschränken sich unsere Analysen zunächst auf die beiden Werke, und es wäre durch weitere Vergleiche zu prüfen, ob und in welcher Weise sie eine darüber hinausreichende Allgemeinheit beanspruchen können. Johannes Stückelberger: Wir haben den Fokus auf die Konfessionalität gerichtet. Dass sie nicht das einzige Element ist, das die von uns diskutierten Werke prägt, versteht sich von selbst. Auch Zeit, Ort, Milieu, Alter, Individualität und anderes tragen zur Ausbildung einer künstlerischen Sprache bei. Und auch die Auftraggeber und die Orte, für die die Fenster geschaffen wurden, spielten in diesem Fall eine Rolle. Und doch dürfte es kein Zufall sein, dass den Wettbewerb in Montreux eine katholisch sozialisierte Künstlerin aus der Innerschweiz gewonnen hat, während beim Wettbewerb in Pratteln zwei reformierte Künstlerinnen zum Zuge kamen. Die wichtigste Voraussetzung war natürlich die künstlerische Qualität der Arbeiten. Gleichwohl: Albert hat offensichtlich am besten gespürt, was zur katholischen Kirche in Montreux passt, während die Schwestern Müller mit ihrem Erfahrungshintergrund in der reformierten Kirche in Pratteln den richtigen Ton fanden. Wobei es natürlich auch Beispiele gibt, wo konfessionslose Künstler oder Angehörige einer anderen Konfession einen kirchlichen Auftrag erhalten, weil es ihnen gelingt, sich in die Aufgabenstellung und die Eigenheiten der jeweiligen Kirche einzufühlen. Darauf hinzuweisen ist mir wichtig, damit nicht der Eindruck entsteht, wir würden alles der konfessionellen Prägung zuschreiben. Und doch ist diese nicht zu unterschätzen, was unser Gespräch deutlich zeigt und was ich in dieser Deutlichkeit nicht erwartet habe.
Gott und die Welt – Zu Barbara Mühlefluhs Projekt Meeting Irene Müller
Im Herbst 2007 wird dem historischen Bau-Ensemble auf dem Kirchbühl in Stäfa im Kanton Zürich mit dem Neubau des Kirchgemeindehauses ein weiteres Element hinzugefügt. Mit dem niedrigen kubischen Baukörper erhält der Platz, der von der evangelisch-reformierten Kirche im Osten und dem Pfarrhaus im Süden eingerahmt wird, nun auch einen Abschluss im Westen. Das Areal selbst liegt auf einem Plateau über dem Zürichsee, es ist durch seine städtebaulichen Entwicklungen, die über Jahrhunderte gewachsene Baustruktur 1 , aber vor allem durch verschiedenartige soziale und gesellschaftliche Handlungen und zahlreiche Zirkulationszonen geprägt, die hier aufeinandertreffen und einander überlagern. Während die drei flankierenden Gebäude klar definierte Funktionen erfüllen, die insbesondere im Fall der Kirche auch von außen ablesbar sind, bleibt der mit Natursteinpflaster belegte Platz eher gesichtslos. Er erscheint als eine zwischen Bauten und Mauern eingespannte Fläche, die entlang der Verkehrswege mit Beleuchtungskörpern, Bänken und großteils jungen Bäumen ‚möbliert‘ ist. Ein Jahr nach Bauabschluss lanciert die Kirchenpflege einen Wettbewerb für künstlerische Projekte auf diesem Areal und lädt vier Schweizer Künstlerinnen und Künstler (Bob Gramsma, Barbara Mühlefluh, Markus Müller, Katja Schenker) ein. Den Perimeter bildet der Bereich des Kirchenplatzes, konzeptuell wird der Akzent auf das räumlich, topografisch und inhaltlich artikulierte Spannungsfeld gelegt, das aus dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Kirche resultiert. Die Aufgabenstellung ist somit unmittelbar an den Kontext angebunden, im Fokus stehen die Frage nach der Sichtbarkeit von Religion als gesellschaftlicher, kultureller Faktor sowie die Möglichkeiten, an diesem spezifischen Ort eine kirchlich-religiöse Identität auch lesbar zu machen. 1 Ende 18. Jh. Totalumbau der Kirche, die in einzelnen Baubereichen auf das 13. Jh. zu-
rückgeht; 1836/37 neuer Kirchturm; diese Außenstruktur ist ebenso integral erhalten wie diejenige des 1563/64 erbauten Pfarrhauses.
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Das von der Jury ausgewählte Siegerprojekt Meeting von Barbara Mühlefluh ist als Bodenarbeit konzipiert: Ein längsrechteckiges Feld (4 x 6,30 Meter), das in der Breite in drei gleich große Segmente unterteilt ist, ist in gelber Farbe auf dem Boden markiert, die Linien folgen der Pflasterung des Platzes. Unterhalb jedes Feldes steht ein Wort: „father“, „son“ und „holy ghost“. Hinsichtlich ihrer Dimensionen und der formalen Gestaltung orientiert sich die Struktur unmittelbar am ‚Design‘ von Parkplätzen. In diesem Kontext bedeutet die gelbe Farbe eine Reservation für ganz spezifische Nutzfahrzeuge (Rettungswagen, Taxis etc.) oder explizit für das Fahrzeug eines individuellen Halters.
Barbara Mühlefluh, Meeting (2010), Kirchplatz Stäfa
Bereits kurz nach ihrer Fertigstellung im Herbst 2009 besaß diese Arbeit einen Übernamen: „Gottesparkplätze“ oder „Parkplatz für die Trinität“. Wenn man davon ausgeht, dass mit dem Verleihen eines Spitznamens eine gewisse emotionale Bindung zum benannten Gegenstand hergestellt wird, dann hatte es dieses Projekt geschafft, es wurde wahrgenommen.2 Selbstverständlich fielen die Reaktionen nicht nur positiv aus, es war von der „Verletzung religiöser Gefühle“ die Rede, die Arbeit wurde als unangemessene symbolische Darstellung der Trinität kritisiert oder auch ihr grundlegender künstlerischer (Stellen-)Wert infrage gestellt. Die Wogen der Diskussionen haben sich in der Zwischenzeit geglättet, die Arbeit wird heute, knapp drei Jahre später, als durchaus geschätz2 Vgl. hierzu auch: Kumpert, Markus: Der liebe Herrgott hat seinen eigenen Parkplatz,
in: Tages-Anzeiger, 18. September 2009, greif bar unter: http://www.tagesanzeiger.ch/ schweiz/gemeinde/Der-liebe-Herrgott-hat-seinen-eigenen-Parkplatz/story/20125307 (ges. am 19.2.2012); Daniela Schwegler, Drei Parkplätze sind für Gott reserviert, in: Reformiert. Kirchenbote Kanton Zürich, Nr. 11, 29. Oktober 2010, S. 2, greif bar unter: http://www.reformiert.info/artikel_6369.html (ges. am 19.2.2012). Weitere Erwähnungen auf Blogs und Online-Plattformen: http://www.jesus-netzwerk.ch/freunde/ mitgliederprofil/blog.html?blogDetail=643; http://mailman.datenpark.ch/pipermail/ wegwort/2009-December/000943.html (ges. am 19.2.2012)
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tes Element auf dem Kirchbühl betrachtet, sie hat ihren Platz im Stäfaner Alltag gefunden. Im Folgenden möchte ich einige Momente des künstlerischen Entwicklungsprozesses nachzeichnen, um anschließend mögliche Lesarten von Barbara Mühlefluhs Arbeit aufzuzeigen. Den Ausgangspunkt der künstlerischen Ideenfindung bildet die Analyse des Areals, aus der die Künstlerin zwei zentrale Aspekte herausgreift: einerseits die eingangs erwähnte übermäßige ‚Platzmöblierung‘, andererseits die doppelte soziale Funktion des Platzes als öffentliche Durchgangszone und als Kirchplatz, als Raum vor der Kirche, der – unabhängig vom effektiven Besitzstand des Bodens – von der Bevölkerung als ein der Kirche zugehöriger Ort empfunden wird. Insbesondere die funktionale Ambiguität, die auch die Architektur des neu gebauten Kirchgemeindehauses prägt3, bestärkt die Künstlerin in der Haltung, „dass hier gerade Respekt und Toleranz gegenüber Anderen (der Arbeit von Anderen) ein Thema [sei].“4 Zugleich setzen diese Überlegungen eine assoziativ-symbolische Lesart des Platzes in Gang, der schlussendlich in die konkrete Projektformulierung mündete: „Ein Symbol für einen Platz. Ein Symbol für einen Kirchenplatz. Ein Symbol eines Kirchenplatzes, der für alle offen ist. Ein Symbol, das aus ‚öffentlicher Sprache‘ besteht und die Kirche einschließt.“ 5 In dieser Projektphase konkretisiert sich auch der Titel der Arbeit, abgeleitet aus den Gedanken, wie die zwei visuellen Ressourcen miteinander in Beziehung treten sollen: „Eine Zusammenführung. Ein Aufeinandertreffen von Zeichen zweier Welten. Ein Platz im Platz. Ein Meeting.“ 6 Die Künstlerin untersucht in der Folge Kombinationen von Ideogrammen, die bei Verkehrszeichen und -schildern Verwendung finden, mit dem religiösen Symbol des Kreuzes (vgl. Skizze): Vorfahrtsstraße, Schleudergefahr, Sackgasse, Zebrastreifen, Zickzack-Markierung. Es ist dieses Durchspielen verschiedener, teils auch subversiver Ansätze, aus denen Mühlefluh ihre endgültige Konzeption 3 Vgl. hierzu das Statement von Rolf Kühni (Pfarrer, Jurymitglied, Stäfa) in der Aus-
schreibung des Kunst am Bau-Wettbewerbs (Januar 2009): „Diese Verknüpfungen [von moderner Architektur und offener Gebäudestruktur, Anm. I.M.] haben zur Folge, dass das Forum Kirchbühl seinen spirituellen Hintergrund als kirchliches Gebäude nicht wirklich zum Ausdruck bringen kann. Ein reines Versammlungsgebäude, ein neutraler Treffpunkt soll es aber doch nicht sein. Damit trägt das Forum Kirchbühl mit an einem gesamtreformierten Problem: Nicht einfach eine Organisation unter anderen sein, sondern Kirche – aber Kirche, die ganz geöffnet ist gegenüber dem allgemeinen Leben der heutigen Zeit.“ 4 Barbara Mühlefluh: Meeting. Projektwettbewerb evangelisch-reformierte Kirchge-
meinde Stäfa, Forum Kirchbühl, eingereichte Projektunterlagen, Mai 2009, ohne Seitennummerierung. 5 Ebenda. 6 Ebenda.
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herausarbeitet, die auch dem Gedanken verpflichtet ist, „zu einer für die Allgemeinheit akzeptablen Lösung zu gelangen“.7 Diesem Ansatz verdankt sich letztlich eine Arbeit, die sich einerseits durch eine formale und materiale Reduktion, andererseits durch eine inhaltliche Offenheit und Präzision auszeichnet.
Barbara Mühlefluh, Skizzenblatt
Barbara Mühlefluh stellt mit Meeting nicht nur die Wirkungsmächtigkeit von unterschiedlich geprägten Symbolen respektive Zeichensystemen auf die Probe; sie reagiert auch unmittelbar auf die räumlichen, urbanistischen Gegebenheiten des Areals, zu dessen zahlreichen vertikal ausgeprägten Elementen sie einen expliziten Gegenpol formuliert. Am nördlichen Ende des Kirchgemeindehauses in unmittelbarer Nähe zur Gebäudeecke platziert, akzentuiert die Intervention die Scharnierstelle zwischen den verschiedenen Platz-Einheiten, dem Areal vor dem weiter nördlich gelegenen Schulgebäude, dem Zugangsweg zu den Friedhöfen und dem eigentlichen Kirchplatz – und somit auch deren unterschiedlich gewachsenen Identitäten. Zudem sind die Bodenmarkierungen so gesetzt, dass der in diesem Bereich situierte stelenartige Beleuchtungskörper eine direkte Zufahrt auf das mittlere Parkfeld verunmöglicht. 7 Barbara Mühlefluh im Gespräch mit der Autorin, 21. Dezember 2011.
G OTT UND DIE W ELT – Z U B ARBARA M ÜHLEFLUHS P ROJEK T M EETING
Barbara Mühlefluh, Meeting (2010), Kirchplatz Stäfa
Braucht Gott überhaupt einen Parkplatz oder kommt er nicht sowieso mit dem Fahrrad? Und wer darf den Parkplatz, der für den Heiligen Geist reserviert ist, benutzen? Auch wenn Barbara Mühlefluhs Arbeit im ersten Augenblick zu solchen eher unbekümmerten Gedankenkapriolen verleiten mag, wird bei näherer Betrachtung deutlich, dass Meeting ein vielschichtiges Angebot in der Auseinandersetzung mit Religion und Öffentlichkeit, von Glaubensgemeinschaft und individuellem Alltag formuliert. Die Parkplatzmarkierung als Element einer Zeichensprache des öffentlichen Raums erfährt durch die begriffliche Anbindung an die Dreifaltigkeit eine religiöse Aufladung, die auch auf ihre genuine Funktion übergreift. Platz freihalten, Raum geben – für den Glauben, für individuelle Vorstellungen von Gott, für Zweifel und Fragen. Inmitten der architektonisch gefassten Zeichen von religiösen Ritualen und gelebter Religion signalisiert die Arbeit einen unmittelbaren Lebensbezug, eine unprätentiöse Alltäglichkeit – wir alle suchen manchmal verzweifelt nach einer Möglichkeit, um unser Vehikel abzustellen, um etwas ‚parken‘ zu können. Gemäß ihrer Beschriftung sind die drei Parkfelder auf dem Stäfaner Areal für Vater, Sohn und den Heiligen Geist reserviert, für die „Firmenleitung“, wie es ein Kommentar zum Projekt zusammenfasst.8 Wann diese anwesend ist oder sein wird und wie sich ihre Gegenwart äußert, dazu liefert Barbara Mühlefluh bewusst keine An8 Wilhelm, Heinz (Sozialdiakon, reformierte Kirche Stäfa): Freier Parkplatz!, in: refor-
miert.stäfa, Nr. 11, 2009, zitiert nach: http://www.kirchestaefa.ch/parkplaetze (ges. am 11.2.2012).
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haltspunkte. Sie entwirft vielmehr ein Bild, das einen physisch wahrnehmbaren und eventuell auch geistig erlebbaren Raum bezeichnet, der sich individuell mit Vorstellungen von Spiritualität und Religion füllen lässt. Meeting kann jedoch nicht nur auf symbolischer Ebene als Platzhalter einer religiös geprägten räumlich-gedanklichen Präsenz gelesen werden. Durch die Verwendung der englischen Begriffe der Trinität problematisiert die Arbeit auch grundlegende Aspekte von Sprache und Kommunikation, von Kodierung und (erfolgreicher) Entschlüsselung. Obwohl das Englische zunehmend in unseren Sprachgebrauch einsickert und gerade auch in Form von Werbung, Signaletik und Beschriftung immer mehr den öffentlichen Raum durchsetzt, ist es für wahrscheinlich fast alle Bewohnerinnen und Bewohner der Gemeinde eine Fremdsprache. Aber wie kommuniziert Gott? Verstehe ich seine Sprache? Und ist Religion auch eher eine Fremdsprache? Mit diesem impliziten Verweis auf Sprache und Übersetzung wirft Barbara Mühlefluh letztlich auch einen linguistisch fokussierten Blick auf die Rolle der Kunst beziehungsweise auf die Formulierung einer künstlerischen Aussage. Gerade dadurch, dass Meeting die Verankerung in einem kirchlichen Vokabular auf der sprachlichen, nicht auf der bildlich-visuellen Ebene herstellt, gewinnt die Arbeit ein metaphorisches Potenzial, das über den unmittelbaren Kontext auf zentrale Bereiche des Lebensalltags ausgreifen kann. Nach welchen Regeln und Mustern wir unsere zwischenmenschliche Kommunikation und unser Verhalten im öffentlichen Raum gestalten, welche Formen wir im Umgang mit dem Fremden, dem Anderen ausgebildet haben – all das trägt wesentlich zu Formulierung unserer Identität bei. Es ist die Leistung von Barbara Mühlefluhs Arbeit, ein künstlerisches Statement zu Religion und Öffentlichkeit zu formulieren, das den Besucherinnen und Besucher im übertragenen Sinn auch eine eigene Stellungnahme zu grundlegenden Werten der menschlichen Existenz abverlangt. Und dies scheint mir für ein Kunstprojekt, das im Zeitalter des Postsäkularen im Auftrag der Kirche entwickelt wurde, äußert passend zu sein.
Zeitgenössische Literatur und die Schönheit der Religion Sibylle Lewitscharoff im Gespräch 1
Ich, ein Mann mit kleinem Register für die Tat, mit großem fürs Geistig-Sinnliche, homo minimus und homo maximus in einer Haut und nicht zu ihrem Glück vereint. Wohin ich mich auch wende, ich komme von den Toten nicht los. Sie drücken mir aufs Herz und pfeifen in meinen Lungen. Ob es mir passt oder nicht, die Toten sind immer um mich geschart. S.L. Consummatus, S. 8
Silvia Henke: Bei der Lektüre Ihres Romans Consummatus 2 betritt man ein fast burleskes Reich der Toten, ein leiser Spott liegt über dem Geschehen zwischen Himmel und Erde. Die Toten kommen zurück, sind mitten im Geschehen, und wie! Man wird konfrontiert mit einem blasphemisch-komödiantischen Stil einerseits und einem durchaus theologischen Ernst in der Frage nach dem Jenseits, die sich in den Gesprächen zwischen den Noch-Lebenden, Fast-Lebenden und den Toten ergeben. Die Frage nach dem Danach, wenn das Leben aufhört (consummatus est) ist ja sehr ernst gemeint. Können Sie Auskunft geben darüber, wie diese beiden Ebenen zusammengekommen sind, wie dieser Stil entstanden ist?
1 Das Gespräch fand im Rahmen des Forums für Fragen von Kunst und Öffentlich-
keit statt, zu welchem im Rahmen des Forschungsprojektes Holyspace, Holyways zur Bedeutung des Religiösen in der zeitgenössischen Kultur die Forschungspartner eingeladen waren (s. www.larc.ch). Die Beiträge von Karl-Josef Pazzini und Johannes Rauchenberger stammen ebenfalls aus diesem Kontext. Explizit ging es dabei auch um eine Übertragung der Fragestellung aus der Kunst auf andere Sparten: Literatur und Architektur. 2 Sibylle Lewitscharoff: Consummatus, München (Deutsche Verlagsanstalt) 2006.
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S IBYLLE L EWITSCHAROFF IM G ESPÄCH Sibylle Lewitscharoff: Man kann darüber Auskunft geben, nur weiß man nicht genau, warum man so schreibt, wie man schreibt. Das ist auch eine Charakterfrage, über die man nicht Bescheid weiß. Andere sehen einen ja schärfer als man selbst. Es liegt in meinem Charakter, den bohrenden Ernst zu ergründen, mich auch in die Welt des religiösen Denkens seriös einzufinden, aber natürlich immer mit einem leicht irritierten Schalk. Darin zeigt sich auch eine Suchbewegung. Als Romanfigur habe ich einen Mann gewählt, der ungefähr so alt ist wie ich. Es ist aber nicht möglich, eine Figur zu wählen, die tief im Glauben verwurzelt ist, so jemanden gibt es gar nicht. Vielleicht gab es das mit Müh und Not noch in der Generation unserer Großeltern: da mag es einzelne gegeben haben, die stärker im Glauben gewohnt haben. Aber ich kenne keinen Menschen mehr, nicht mal mehr in den Dörfern, von dem ich sagen würde, er sei wirklich gläubig. Trotzdem gibt es natürlich, sogar bei Menschen, die sehr kirchenfremd sind und nichts von Esoterik halten, große Suchbewegungen in eine ganz andere Richtung, weil die moderne Welt, wie wir sie vorfinden, der immensen Trostbedürftigkeit des Menschen keinen Platz gewährt. Der Philosoph Hans Blumenberg hat das schön und knapp formuliert. In dem Maße, in dem wir uns immer stärker dem Diktat des Realismus verschreiben, werden wir vollkommen trostunfähig. Und damit kann man sehr schwer leben. Hinter diesen ganzen Bewegungen: eine Art Rückfindung in die christlichen Religionen, in die jüdische Religion, in den Islam, liefert der Trost sehr starke Beweggründe. Ich würde diese Gründe nie zynisch behandeln. Aber mit einem Witz, der einfach gegeben ist, kann man jedes Thema behandeln! Silvia Henke: Ralph Zimmermann, die Hauptfigur in Ihrem Buch, wurde von seinen protestantischen Eltern ja doch noch religiös erzogen, hat daraus auch eine bestimmte religiöse Moral in sein Denken eingebaut und wird nun heftig konfrontiert mit der Welt einer zügellosen Underground-Popikone. Die Populärkultur war ja auch einmal eine ‚Erlösungsbewegung‘, in Ihrem Roman aber wird sie für den Helden zur unheiligen Allianz: er geht an der Frau und dem Milieu, aus dem sie stammt, beinahe zu Grunde. Sibylle Lewitscharoff: Es ist tatsächlich eine unheilige Allianz, wobei mich das wahnsinnig interessierte. Wenn man z.B. Gedichte von Stefan George nimmt, die von einer gewissen Todeskühle oder -inbrunst sprechen, und ihnen einige Songs von Jim Morrison entgegenhält, kann man verblüffende Ähnlichkeiten entdecken. Zumindest in der Lyrik ist das keine so andere Welt. Die Lyrik ist die Textart, die am weitesten Erkundungen in das Jenseits und in diese andere Sphäre betreiben kann, stärker als die Prosa. Deswegen habe ich als Figur auch einen Lehrer genommen, der sich in der Lyrik gut auskennt. Die Lyrik hat einen leichteren ‚Durchschlupf‘ in die andere Welt, und deswegen wollte ich Verglei-
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che ziehen zu den wirklich interessanten Formen der Popkultur, die von einer gewissen Rasanz und Todessucht geprägt war. Aber Sie haben recht, es ist eine unheilige Allianz. Sehen wir uns den Wandel der realen Sängerin Nico an, die ich kennengelernt habe: Es ist unglaublich, was aus einer so gutaussehenden Frau, die bei Fellini bessere Statistenrollen gespielt hat, geworden ist. Durch Drogen aufgezehrt, fing sie plötzlich an, alle Verse des Deutschlandliedes zu singen, sich wie eine schwarze Nonne zu kleiden, Germanenlieder zu intonieren. Da könnte man auch sagen, das unbewusste Todesschicksal Deutschlands ist in dieser Figur derartig gegenwärtig und kommt in ihr unheilvoll und vollkommen unbewusst zum Tragen. Es gibt schon eine sehr zerstörerische Form, in der Mythologeme des eigenen Landes zum Tragen kommen und wirklich gefährlich werden. Davon möchte ich die Religionen klar abgrenzen! Weil sie meistens, z.B. durch Ritualbindung, ein ungleich höheres ‚zivilisierendes Korsett‘ haben. Paranoia ist da auch manchmal gegeben, aber im Großen und Ganzen sind sie gefestigter. Damit wollte ich auch ein wenig die zwei Seiten einer ‚schrägen‘ Medaille zeigen.
Woran wächst Gott, welche Eigenschaften werden ihm von all dem Toten zugetragen? Drei Eigenschaften bestimmt: Einsamkeit, umfassende Wirksamkeit, verstörende Unwirksamkeit. Von den Menschen außerdem das Kopfweh, von den Insekten der Fleiß. Danke, auf vierundsechzig bitte. Jungejunge, es ist vollbracht. Der letzte Schluck intus. Jetzt aber marschmarsch raus aus diesem Totenpensionat. S.L., Consummatus, S. 205
Silvia Henke: Der Ich-Erzähler, Ralph Zimmermann, schwankt nun im Buch über viele Kapitel hinweg zwischen Todessehnsucht, Aufgehen im Schneegestöber oder Alkohol und einer offenen Rechnung im Diesseits. Er kommt zwar aus der Lyrik, ist da vielleicht schon gefestigter. Aber dann gibt es bei ihm auch ganz skurrile, intime Erweckungsfantasien oder Erweckungsbilder, z.B., dass er das Ohr ans Kruzifix hält und darin das schwarzen Loch des Jenseits wähnt. Woher kommen solche Bilder? Ist das Ironie? Sibylle Lewitscharoff: Das kann ich nicht sagen, das fällt mir beim Schreiben ein. Eines weiß ich jedoch sicher: für mich hat der Schnee, auch physisch, eine riesige Bedeutung, der erste Schnee natürlich und auch der immerwährende Schnee. Die Verwandlung in Stille, besonders in einer Stadt, ist für mich ein Himmelszeichen. Zeichen, die gesandt werden, haben mit Akustik zu tun, d.h.
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es muss still sein, und es muss etwas vernehmbar sein, was man sonst nicht hört. Deswegen gebrauche ich gerne den Begriff der „Fledermausohren“. Der Mensch bekommt sie, wenn es etwas Wichtiges gibt. In solchen Fantasien und auch in realen Erlebnissen im Schnee kommen dann die Einfälle. Silvia Henke: Es wird ja im Zusammenhang von Kunst und Religion auch von einem Spannungsfeld gesprochen, das sich besonders in säkularen kulturellen Umfeldern ergibt und das auch zu bestimmten Distanzierungen führt: Man möchte als Künstler nicht vereinnahmt, nicht falsch verstanden, nicht einer Glaubensgemeinde zugeschlagen werden. Ihr Buch ist ja mit dem unvollständigen Zitat „consummatus“ schon platziert in einem religiösen Sinn und Kontext – die Sterbeworte Christi. Und daraus ergab sich auch eine Ambivalenz in der Rezeption, wo der Roman auch als „mythologischer Schnickschnack“ oder als „massive Bibelton-Prosa“ 3 kritisiert wurde. Das Religiöse an ihm fand in der Literaturkritik wenig Gnade, oder? War das ein Problem für Sie, wie Sie verstanden werden, wenn Sie sich in eine religiöse Tradition stellen? Sibylle Lewitscharoff: Wie man verstanden wird, kann man ja nicht planen. Ich habe aber gar kein Problem, mich präzise in einen christlichen Kosmos einzuschreiben und als ‚zugehörig‘ bezeichnet zu werden. Ich habe also kein Freiheitsproblem, zumindest nicht in dem Sinne, dass mir eine Freiheit genommen würde. Die Schwierigkeit ist für mich eine andere: nämlich die, dass die beiden christlichen Kirchen sich in einer Form großer Verwahrlosung zeigen. Für mich gehört zu einem religiösen Leben unbedingt die Gemeindebildung. Alles andere halte ich für unernst. Ich gehe oft in Messen, in evangelische Gottesdienste und komme erzürnter heraus, als ich hineingegangen bin. Ich würde gern dazugehören. Aber ich habe mit der Verwahrlosung zu kämpfen, mit einer Rhetorik, die nahe an der Werbesprache ist, die scheußliche Wörter benutzt; ich habe größte Mühe mit dem komischen Zeug, das in den Kirchen rumsteht und diesen merkwürdigen Klatschgesängen zur Gitarre – das ganze uferlose, dumme Zeug, das einem heute in den Kirchen begegnet. Es ist einfach eine Zumutung. Bei den Katholiken ist es noch etwas geordneter als bei den Protestanten. Letztere haben die Reden verschleudert. In 500 Gottesdiensten höre ich vielleicht eine gute Predigt. Karl-Josef Pazzini: War das mal besser? Das finde ich interessant: Dieses ‚Nichtdazu-gehören-können‘, das ist mir vertraut. Aber was ist das für eine Annahme, dass es einmal besser war mit den Kirchen? Wer weiß eigentlich genau, wie gotische Kirchen waren? Man sagt heute, dass die viel seriöser und viel durchdachter und strenger waren, aber stimmt das wirklich? 3 Vgl. taz vom 1.4.2006 und Frankfurter Rundschau vom 15.3.2006.
Z EITGENÖSSISCHE L ITERATUR UND DIE S CHÖNHEIT DER R ELIGION Sibylle Lewitscharoff: Man soll die Frühzeit nicht romantisieren, das ist klar. Ich bin sehr auf der Seite Martin Mosebachs mit seinem Essay Häresie der Formlosigkeit.4 Was die Katholiken mutwillig binnen weniger Jahre abgeschafft haben, und zwar nicht durch einen langsamen Änderungsprozess, sondern plötzlich, z.B. der plötzliche Abriss von Chorschranken, Priester, die sich der Gemeinde wie Entertainer zuwenden, statt mit dem Rücken gegen sie zu stehen – all diese Dinge, die von Mosebach aufgezählt werden, sind ungeheuerlich. Da hat eine schlagartige Verwerfung stattgefunden. Das hat sicher auch mit dem großen moralischen Zusammenbruch der beiden Religionen während des Faschismus zu tun. Dadurch, dass die beiden Religionen der katastrophalen Vernichtung der Juden nicht schärfer widerstanden haben und nicht früher gehandelt haben, als noch Zeit war, etwas dagegen zu tun. Das ist natürlich eine riesige Bürde, mit der sie, sich verschleudernd, in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg gingen. Eine so riesige geschichtliche Herausforderung vor der Nase zu haben und sie so katastrophal nicht zu bestehen – das ist ein großes Dilemma. Nika Spalinger: Ist es denn in anderen Ländern, die diese Herausforderung nicht oder weniger hatten, besser? Sibylle Lewitscharoff: Das ist leider nicht der Fall, es trifft den gesamten europäischen Raum und nicht nur Deutschland. Ich frage mich auch, ob ich das vielleicht überbewerte, weil ich aus Deutschland komme. Aber ich muss mir diese ‚neumodische Verwahrlosung‘ mit absurden Kunstprojekten in Kirchen, die ich einfach schauderhaft finde, erklären. Nika Spalinger: Die auch etwas mit dem Fehlen von ästhetischer Bildung an den theologischen Fakultäten zu tun hat. Sibylle Lewitscharoff: Trotzdem ist der Einwand von Karl-Josef Pazzini sicher berechtigt, dass man nicht glauben kann, dass 1870 alles noch gut war in den Kirchen und alle mit feurigen Ohren in den Bänken saßen. Nun, man kann mit dem Zustand der Kirchen unzufrieden sein, aber an der Bibel kann man sich trotzdem enorm erfreuen. Ich bin zwar im Unfrieden mit der Theologie, die mit historischer Bibelkritik die Geschichten so spröde macht, dass das Lebendige
4 Mosebach, Martin: Häresie der Formlosigkeit, Die römische Liturgie und ihr Feind, Wien
(karolinger) 2002. Der Essay ist eine Verteidigung des alten römischen Messritus, der nach dem 2. Vatikanischen Konzil abgeschafft wurde. Was dabei verloren ging, an gemeinschaftsbildender Kraft des Rituals und gewachsener historischer Form ist Mosebachs Frage – mit der zentralen These, dass das Wunder der Eucharistie nur in der alten Form glaubwürdig zelebriert werden konnte (Anm. der Hrsg.).
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darin im Keim erstickt wird; wenn ein Mensch die Bibel gut und lebendig auslegen kann, bin ich aber Feuer und Flamme. Stefan Zollinger:5 Ich möchte auf den Wunsch des Dazugehörens zurückkommen. Ich habe selber lange im dörflichen Umfeld gelebt, wo bis vor zehn Jahren der Katholizismus noch sehr stark war. Ich bin nicht katholisch, ich wollte nicht dazugehören. Ich empfand es nicht als gemeinschaftsbildend, dass jeder Schritt kontrolliert wurde. Was von Ihnen Verwahrlosung genannt wird, könnte doch auch begrüßt werden: Es war eine Befreiung, aus dieser totalen Kontrolle der Kirche herauszukommen. Karl-Josef Pazzini: Die Kontrolle gehört zum Ritus – das ist ein Paradox. Sich dieser Spannung auszusetzen, ist schon interessant. Ohne diese geht es nicht. Dann kommt genau diese Verwahrlosung zustande. Für mich wäre beim „Dazugehören“ das Interessante, dass das Bewusstsein dieser Paradoxalität besteht und dieses Spannungsverhältnis dann gelebt wird. Die andere Frage ist schon auch: wenn man in einer solchen religiösen Tradition gestanden hat und dann aufgrund bestimmter Ansichten eine Ferne dazu entwickelt, nicht mehr mitmacht, ist es dann nicht auch arrogant zu sagen, das alles brauchen wir, braucht die Gesellschaft nicht mehr? Johannes Rauchenberger: Ich möchte noch etwas zur „Formlosigkeit“ sagen. Ich stimme zu, dass die Kirchen in ihrem Kultbewusstsein weitgehend ästhetisch verwahrlost sind. Ich plädiere dennoch dafür, die realen Kirchen nicht so arg abzuwerten. Gerade in Künstlerkreisen, die sich für Themen der Bibel, des Kults oder des Sakralraums überhaupt erst interessieren, ist das verdächtig oft der Fall. Ich meine, dass da eine ästhetische Verklärung Raum greift. Ich glaube nicht, dass Martin Mosebach mit seiner Häresie der Formlosigkeit vollends Recht hat, weil er im Rückgriff auf den alten Ritus etwas verklärt, was so in den 1950er und 1960er-Jahren entleert war und nicht mehr ‚funktioniert’ hat. Der Sog der Reform lag nicht nur im Verordnen von oben. Es lag da wirklich etwas in der Luft. Ich kenne ehrenwerte Leute, denen es im Herzen weh tut, wenn sie hören, wie verklärend Ästheten von der tridentinischen Messe sprechen. Die Erneuerung der Liturgie war ihnen ein Lebensanliegen, und sie haben erlebt, wie die Messe plötzlich von vielen aktiv mitgefeiert werden konnte, was früher nicht der Fall gewesen war. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Kirchenoberen eine Erneuerung in dem Maße zugelassen hätten, wenn sie nicht davon überzeugt gewesen wären, dass der alte Ritus für das allgemeine Volk unter den 5 Stefan Zollinger, Leiter der Stadtmühle Willisau, Kanton Luzern, Partner im For-
schungsprojekt Holyways, Holyspace.
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damaligen Lebensverhältnissen nicht vermittelbar gewesen war. Was allerdings in der Reform wirklich daneben gegangen ist, ist die Rolle und die Funktion des Priesters. Liturgie wurde viel zu sehr von der Figur des Bischofs her gedacht und entwickelt. Dass es in der Messe um das Heilige geht, das im priesterlichen Kult sozusagen‚ gehütet und beschützt werden muss, war die große Stärke des alten Ritus. Diese Frage weiterzuentwickeln ging in der Reform gründlich daneben. Nur in dem Punkt würde ich Mosebachs Kritik weiterschreiben wollen, nicht aber in seiner ganzen Polemik. Silvia Henke: Damit würde ich gerne zur Literatur zurückkommen: Kann die Kunst, die Literatur dieser verlorenen ästhetischen Dimension der Kirche auf die Sprünge helfen? In Ihrem Buch steht die Frage: Woran wächst Gott? Gerade wenn es um Trost und Trostlosigkeit geht, könnte doch eine Antwort sein, dass er wächst an dieser Art von Geschichten erzählen, im Fabulieren, durch die Kraft der Literatur, oder? Sibylle Lewitscharoff: Gott wächst zunächst gewaltig im Alten Testament. Er wächst von einem drohenden Gott mit vulkanischen Attributen durch bedeutende Menschen, die mit ihm ringen. Das ist die Zivilisierung Gottes im Alten Testament. Das sind große Figuren, die das Ringen immer subtiler aufnehmen. Der Schritt ins Christentum ist nochmals sehr groß. Die Gottesvorstellung ist ja nicht gleich geblieben, hat eine interessante Transformation durchgemacht. Selbstverständlich ist das Erzählen für die Gottesvorstellung von hoher Bedeutung. Ein großes Problem für mich stellen dabei die Mutter-Gottes-Vorstellungen dar. In dem Moment, wo eine Gottesvorstellung von der Möglichkeit der männlich-abstrakten Form losgelöst wird, landet man sofort bei Naturgottheiten. Sobald eine Frau verehrt wird, wird das große Plus dieser Religion über Bord geworfen, nämlich die Möglichkeit, eine Distanz aufzubauen. Ein bestimmter Abstraktionsgrad muss immer gehalten werden, sonst ist der Rückfall in die Naturreligion sofort da. Silvia Henke: Demnach wächst Gott also nur als einsamer, männlicher, verborgener Schöpfer. Und die Antwort auf die Frage, „Woran wächst Gott?“ wäre demnach in der Kunst oder Literatur nicht zu finden? Sibylle Lewitscharoff: Nein. Kunst und Literatur sind nur Nebenschauplätze. Sie haben mit der Schönheit Gottes nichts zu tun.
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S IBYLLE L EWITSCHAROFF IM G ESPÄCH Wieviel ungebrüllte Stille in all den verschütteten Materialteilchen unter dem Schnee, was für gewaltige Wahrheiten darin verborgen, wie viele ungelüftete Inkognitos. In den Lücken, die die ineinander verhakten Kristalärmchen frei lassen, wird mit Engelsfingern geliebt, werden schallarme Küsse getauscht. Weiches träges Flüstern in Aussparungen, die winzigen Grundrissen von Sakristeien gleichen. Ein Glaube schlürft den anderen, in ihren Eiswiegen rüsten sich die Himmlischen zur Wiederkunft… S.L. Consummatus, S.224
Kunst und Religion? Künstlerinnen und Künstler im Gespräch. Teil I
Gott ist vielleicht doch unfertig – von der Schwierigkeit, das Religiöse in Begriffe zu fassen
Kruzifix in der Küche, Heiligkreuz (2009)
Die folgenden Äusserungen entstammen längeren Gesprächen, die Silvia Henke und Nika Spalinger im Zeitraum 2010 /2011 mit Kunstschaffenden geführt haben. Diese leben, entstammen oder arbeiten mehrheitlich in der Innerschweiz (genaue Angaben s. Personenverzeichnis). Die Statements wurden von den Herausgeberinnen transkribiert und arrangiert und von den Künstlern und Künstlerinnen leicht redigiert für diesen Band.
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K ÜNSTLERINNEN UND K ÜNSTLER IM G ESPRÄCH „Religion verstehe ich als eine Art Bildwerdung, sodass ich als Maler das Höhere – oder meinetwegen die Transzendenz – in Bildern aufzunehmen versuche. Das hat zu tun mit einem Gegenstand und mit meiner Subjektivität und deren Umsetzung. […] Aus der Jugend würde ich meinen Begriff von Religion nicht ohne weiteres ableiten wollen: Ich bin in einer katholischen Familie aufgewachsen, habe auch ministriert und habe dort einen Zugang gefunden zur Liturgie, und die Liturgie ist mir später wieder begegnet im Kloster. Darum glaube ich, dass die Liturgie etwas zu tun hat mit Spiel und mit Bildern, was für mich bestimmend war, damals und jetzt. Dann kommt dazu, dass ich die Religion zuerst als Schüler im Gymnasium und dann in der Theologie studiert habe – aber es blieb eigentlich nie beim Wort. Auch in der Theologie habe ich sie immer schon in Bilder umgesetzt, die Sprache der Bibel ist für mich immer eine Bildersprache. Sie ist nie eine theoretische Sprache, und für mich ist Religion auch nicht einfach Spekulation.“ – Eugen Bollin
„Mein Bezug zur Religion ist die Kunst. Wenn man sich mit Kunst beschäftigt, beschäftigt man sich automatisch mit religiösen Themen. Als die Kunst einmal wirklich das Haupt der Welt war – das war sie ja einmal und das ist lange her, so zwischen 1450 und 1540, da sind alle Kräfte zusammengeflossen, finanziell wie intellektuell – und was produziert wurde, war verknüpft mit Religion. Wenn man also an die Kunst glaubt, wird man konfrontiert mit religiös konnotierten Formzusammenhängen – man kann das gar nicht umgehen. Aber an das Religiöse im Sinne von Spiritualität glaube ich überhaupt nicht.“ – Franz Wanner
„Das subjektiv Religiöse, das Spirituelle interessiert mich weniger, für mich ist das Religiöse das ‚Große Objektive’, der Weg vom Subjekt in das große Objektive. Die esoterische Welle kann in Privatheit versenken, auf eine Einbahnstraße bis zur Sackgasse führen. Ich persönlich bewege mich lieber auf Wegen mit Gegenverkehr, in Auseinandersetzung mit anderen Menschen und Meinungen. Für mich ist das christlich Religiöse das „große Objektive“, das „große Menschliche“. Es geht nach innen, aber mit der ‚Antenne’ nach oben und nach außen.“ – Anton Egloff
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Cécile Stadelmann, Das unsichtbare Sichten (2010), 1800 Löwenzahnkugeln an Nylonfäden, 800 x 200 cm, Stadtmühle Willisau
„Meine Arbeit knüpft dort an Religion an, wo es um etwas geht, worauf es keine Antworten gibt, etwas, das über die Alltagsrealität hinausgeht, existentielle Fragen wie Sterben, Geburt, Leben und Tod. Eine Ahnung, dass hinter dem sinnlich Fassbaren eine unsichtbare Wirklichkeit verborgen ist. Das Religiöse verbinde ich mit der Erfahrung von Grenzen und Grenzenlosigkeit, von Vergänglichkeit, vom Wandelbaren der sichtbaren Erscheinungen und dem Geheimnis, in einem größeren Zusammenhang zu leben. Religion ist für mich, wie die Kunst, eine Wahrnehmung mit offenen Sinnen, ist Versenkung, Hingabe und Konzentration, Transparenz und Transzendenz. Der Begriff Religion ist so missverständlich und so besetzt – es werden Kriege geführt unter diesem Begriff! So viele Wörter sind negativ besetzt und abgegriffen. Am ehesten verwandt sehe ich mich mit Mystikern. Die Kunst ist die Schwester der Mystik. Religion und Kunst sind für mich Grundhaltungen dem Leben gegenüber, eine Art und Weise des ‚in der Welt seins‘“. – Cécile Stadelmann
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K ÜNSTLERINNEN UND K ÜNSTLER IM G ESPRÄCH „Das Spirituelle ist für mich eher dort, wo es Brüche gibt, wo nichts mehr so zusammenhält, wo nichts mehr fest und sicher scheint. Dieses ‚Brüchig-Fließende’ bestimmt mein Grundverständnis vom Leben. Und darin ist Gott vielleicht ja auch noch unfertig und immer noch am Entstehen, wie die Welt und wie wir und ich als Teil von ihr. Diese Vorstellung von Gott tut ihm meines Erachtens keinen Abbruch. Wir entstehen durch ihn und er durch uns. Die Vorstellung dieser Interdependenz zwischen ihm und uns gefällt mir… aber ich würde lieber von einer ‚Göttin’ sprechen, der Begriff ‚Göttin’ scheint mir weiter als so ein ‚Herr’.“ – Benno Zehnder
„Glaube ist eine absolut individuelle Angelegenheit und lässt sich meiner Meinung nach nicht in eine Organisation pressen. Mich interessiert der „Zufall“ und die Existenz des Unerklärbaren. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein oder an Dinge, Menschen, Situationen zu glauben, welche sich unweigerlich begegnen müssen. Und ich glaube, dass es etwas gibt, was die Welt im Innern zusammenhält und wir alle ein Teil davon sind. Mich interessieren nicht Theorien und Dogmen, sondern das Leben. Und ich glaube an das Gute im Menschen – ganz elementar und ein bisschen pathetisch gesagt.“ – Judith Albert
„Ich verstehe es ja und muss es auch akzeptieren: dass man umgeben ist von einer nervösen spirituellen Suche in der Gesellschaft, die teilweise kuriose Blüten treibt. Ich denke, dass man doch in der eigenen religiösen Tradition vielleicht mehr Antworten finden könnte, als man denkt. Unser ganzes alltägliches Leben ist zutiefst geprägt von christlichen Vorstellungen, und indem wir darin leben, geben wir auch unser unterbewusstes Einverständnis in ihre Werte.“ – Christian Kathriner
„Primär hat mich immer die Kunst interessiert. Innerhalb der Kunst sehe ich alle religiösen Bereiche irgendwie abgedeckt. Kunst ist ein Weg zur Spiritualität, oder anders gesagt: Kunst und Religion, das sind zwei Schwestern, die manchmal auch streiten, das ist wichtig, der Streit spielt eine große Rolle, denn er bedeutet Auseinandersetzung.“ – Anton Egloff
K UNST UND R ELIGION ? T EIL I „Als Jugendlicher war ich relativ aktiv in einer protestantischen Jugendgruppe und bin später, mit etwa 19, 20 während des Studiums in Hamburg – ein bisschen aus Neugier, aber auch mit einem Wunsch zu verstehen – tage- oder wochenweise in verschiedene Praktiken eingetaucht. Ich war einige Male bei Sufis, aber auch – und jetzt kommt ein wichtiges Erlebnis – in einem tibetanisch buddhistischen Kloster in Österreich. Da habe ich einen Tag verbracht. In die Gegend war ich wegen der Teilnahme an einer Ausstellung gekommen. Ich habe an Meditationen teilgenommen. Ich wollte es ausprobieren. An eine Form kann ich mich gut erinnern: Zum Sprechen von Mantren bekam man ein verknotetes Tuch. Man knotete es auf, und darin lagen fünf oder sieben silberne Ringe mit unterschiedlichen Durchmessern sowie Reis. Während des Sprechens der Mantren füllte man den größten Ring mit Reis, setzte den nächst kleineren darauf, füllte diesen wieder, bis man eine Pagode aus diesen zwei Materialien vor sich auf dem Schoß hatte. Dann war das Gebet beendet, man nahm alles wieder auseinander, knotete es wieder in das Tuch und gab es ab. Das hat mich beeindruckt, weil es ein plastischer Gestus ist, der mich aus meiner künstlerischen Ausbildung heraus angezogen hat. Um das auf die Ebene des Erlebens, des Reflektierens von Glaube zurückzubinden: Von Interesse ist für mich, dass in allen Religionen Praktiken existieren, die helfen, den Alltag zu entgrenzen: Momente der Überschreitung des Alltagszustandes des Bewusstseins. Wir können das ‚Trance’ nennen oder ‚Meditation’. Es sind jedenfalls Techniken, die einen bestimmten mentalen Zustand provozieren, und in allen Religionen existieren. Die Erkenntnis, dass das Erreichen dieser mentalen Zustände ein wichtiger Bestandteil religiöser Praxen ist, hat mich beruhigt. Diese Praxen stellen also einen eigenen Ort, solche Zustände zu erleben, her, und sie stellen ihn auch dar, ihr Ort ist gesellschaftlich identifiziert.“ – Hinrich Sachs
„Der Begriff Religiosität umschreibt für mich persönlich ein breites emotionales Feld, das schwierig auf den Punkt zu bringen ist. Ich bin in einer katholischen Familie aufgewachsen. Die Teilnahme an traditionellen Ritualen als Kind haben starke emotionale Erinnerungen hinterlassen, welche bis heute immer wieder auftauchen. Insbesondere Prozessionen, Rosenkranz beten, gesungene lateinische Messen oder aufwendig inszenierte Gottesdienste an Festtagen mit Orgelspiel, Kirchenchor mit farbigen Gewändern und Objekten haben mich als Kind in den Bann gezogen. Als Altardiener und Chorsänger hatte ich das Privileg, an vorderster Front mit dabei zu sein. Insbesondere Beerdigungen haben mich in hohem Maße fasziniert, die Vergänglichkeit als Fakt und daneben der Wunsch nach Unsterblichkeit. Wenn es darum ging, den Schmerz der Trauernden irgendwie zu ertragen, war ich froh um die Form des Gebets und den Glauben daran, dass damit verbunden mit allen Anwesenden Trost gespendet werden kann.“ – Robert Müller
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K ÜNSTLERINNEN UND K ÜNSTLER IM G ESPRÄCH „Ja, das sind Arbeiten, wo es um Farbe am Bau geht, Farbe in der Architektur – nicht um applizierte Farben, sondern um solche, die dadurch erscheinen, dass Licht herein fällt. Das Wichtige ist, dass sich diese stets verändern, jeder Tag ist anders, das Licht ist anders, die Tage sind nicht gleich lang. Diese konstante Veränderbarkeit, die konstante Bewegung sind das Wichtigste. Darin drückt sich das zutiefst Religiöse, Spiritualistische aus, das, was für mich der Inbegriff des Lebens ist, die permanente Bewegung und Veränderung. Wenn es nicht mehr bewegt ist, wenn du die Bewegung nicht mehr wahrnimmst, dann bist Du tot. […] Punkto Religion ist für mich der Aspekt des Daseins und Nicht-Daseins sehr wichtig, den erlebe ich ja auch. Ich würde es auch gerne im Tafelbild herstellen können. Dass man es aushält, dass etwas da ist und es nicht sicher ist, auch dass ich nicht sicher sein kann, wie es gemeint ist, dass Ja und Nein gleichzeitig da sind, und dass das Ja nur interessant ist, wenn das Nein gleichzeitig da ist.“ Spiritualität manifestiert sich in meinen Arbeiten am offensichtlichsten dort, wo es um Farben in der Architektur geht. Da wo Licht die Farbe trifft und diese sich ausbreitet, dass wir die Farben nicht nur ansehen, sondern uns in ihnen aufhalten können. Im Sonnenlauf eines Jahres erleben wir die Zeit, die Veränderung, die Wiederkehr und verstehen und erfahren, dass diese immerwährende Bewegung und Veränderung eben das Leben ist. Ich spüre darin etwas zutiefst Spirituelles, Religiöses. Und in meinen Bildern? Wenn ich an Bilder denke, die als ‚Gnadenbilder’ oder ‚Heil-Bilder’ aufgesucht wurden und immer noch werden, dann möchte ich eigentlich schon auch so ein Bild malen können.“ – Benno Zehnder
„Religion, Spiritualität – das ist eine ungeheuer schwierige begriffliche Entwirrungsarbeit. Ich würde jetzt zu Beginn sagen, dass etwas für meine Arbeit viel zentraler ist als die Fragen der Religion, nämlich dass es mir um Überlieferung geht. Es geht eigentlich immer um eine Arbeit am Getanen in der Kunst. Und das hat dann fast schon etwas Spiritistisches insofern, als man wirklich mit verstorbenen Künstlern Zwiegespräche führt. […] Mich beschäftigt der Stellenwert von Religion heute durchaus. Aber der beschäftigt uns ja alle, besonders im Zeitalter des neuen Fundamentalismus. Ich verfolge natürlich auch die Statements der Kirche mit größtem Interesse und entdecke da immer wieder überraschend resignative Töne. Ich glaube, ich zitiere Papst Benedikt sinngemäß richtig, wenn er anlässlich eines Deutschlandbesuchs gesagt hat, dass hier die christliche Kultur mittlerweile den Status einer Subkultur erreicht hätte. Und das ist natürlich, von berufener Stelle, ein drastisches Wort. Mir persönlich wird es wichtig sein, auch in der Erziehung meines Kindes und in einer Zeit, in der die Prägekraft des Religiösen beinahe verschwunden ist, eine Form bereitzustellen. Ich werde keine religiöse Indoktrination betreiben, aber ich werde doch Formen bereitstellen, Formen, die ich so ähnlich selbst durchlebt habe. Und was mein Kind mit dieser Form im Verlauf seines Lebens machen wird, ist ihm überlassen.“ – Christian Kathriner
Faszination und Ernüchterung – der katholische Faktor, seine Wunder und Wunden
Margrit Rosa Schmid, Maria End ½ (2006), Acryl auf Messingplatte, 25 x 38 cm
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K ÜNSTLERINNEN UND K ÜNSTLER IM G ESPRÄCH „Der Kirchenraum meiner Kindheit war für mich ein Ort, wo ich mit Kunst in Berührung gekommen bin. Unsere Kirche aus den 1950er Jahren besaß drei große Apsiden, ganz ausgemalte halbkreisförmige Räume mit Landschaft und Himmel, einer Darstellung der Kreuzigung, des Pfingstereignisses und der Himmelfahrt von Maria. Beim Betrachten des schweren blauen Marienmantels fand ich damals, diese Gestalt könne doch unmöglich fliegen, sie sei viel zu schwer. Was mich auch mit der Kirche der Kindheit verbindet ist die Musik, da saß ich mittendrin auf der Empore, nah bei der Orgel, den Geigen und dem Vater, der im Kirchenchor gesungen hat, dazu all die Bilder und mein Sonntagskleid. In all den Ritualen war ich staunend dabei. Die Religion meiner Kindheit bleibt mir als guter Boden in Erinnerung. Die Mutter betete mit mir Heiliggeist-Gebete am Morgen, bevor ich zur Schule ging: „Komm Heiliger Geist, herab zu mir, erleuchte mich, begleite mich“ – das hat mich ermutigt. Den heiligen Geist verband ich fortan mit den Begriffen Klugheit, Begeisterung und Inspiration. Auch das Schutzengel-Gebet schenkte mir ein gutes behütetes Gefühl. Eine brennende Frage löste die Seite im Familienalbum mit einem Kindersarg aus. Darin lag ein ‚schlafendes Kind‘ – mein Bruder, der gestorben ist, bevor ich geboren wurde. Das sah so schön aus! Als Kind habe ich mich dann immer gefragt: Was heißt denn ‚tot sein‘, wenn es aussieht wie schlafen? Diesem Kind und allen toten Kindern habe ich später mein ‚Distelsamenkleid‘ gewidmet.“ – Cécile Stadelmann
„Die neue Begegnung mit katholischen Bilderwelten blockierte zunächst meine Arbeit […] Nein, ich habe nie mit bestehenden Heiligenbildern gearbeitet. Es war ein langer Prozess, eigene Bilder zu finden. Ein Beispiel sind die Metallplatten auf dem Friedhof von Reussbühl. Die Bildfindung entstand auf dem Dorffriedhof, wo ich mich als Kind oft aufgehalten hatte. Dort lagen unter der Erde Kinder, die ich gekannt hatte und die gestorben sind. Für mich sind sie immer noch dort, auch wenn die Grabfelder längst aufgehoben wurden. Die Metallplatten mit den Handmotiven liegen wie damals die niedrigen Erdhügel geometrisch, symmetrisch angeordnet, über den toten Kindern.“ – Margrit Rosa Schmid
K UNST UND R ELIGION ? T EIL I „Ich bin tatsächlich in einem charakteristischen katholischen Innerschweizer Milieu aufgewachsen. Mitte der 1970er Jahre geboren, wo in dieser Gegend möglicherweise mehr als anderswo noch eine religiöse Gewissheit herrschte und von der ich mich – für mich selbst unmerklich – langsam gelöst habe. Dieses Milieu hat mich aber an die Kunst herangeführt, eben durch sonntägliche Kirchgänge, das hat eine ganz, ganz große Bedeutung für mein Interesse, für das, was dann erwacht ist. Das Loslösen davon war dann Prozess des Sich-Verabschiedens von diesen Gewissheiten. Das hat sich nicht dramatisch ereignet, das hat sich ganz sanft, wie ein Nebel, gelöst.“ – Christian Kathriner
„Sicher hat mich das Katholische insofern geprägt, als ich mit Formen, mit Zeichen, Formzusammenhängen, die Inhalte transportieren, konfrontiert war, zum Beispiel durch die Ausmalung der Kirche meiner Heimatstadt, die nazarenisch-giottoesk ausgemalt war wie viele in dieser Gegend so um 1890 oder 1900 herum, sehr figürlich natürlich. Und als ich in die Kirche gehen musste am Sonntag, da habe ich ja nichts anderes gemacht als geschaut. Da war für mich insofern dieses Wunder, dass Gedanken oder der Geist ins Gewand der Bilder schlüpfen kann, das war eigentlich meine ‚Urszene’. Das Kunsterlebnis war für mich als Kind vielleicht gar nicht in der Kunst manifest, sondern in diesen – wie soll man sagen? – damals gängigen Dekorationssystemen in katholischen Kirchen um 1900. Ob das mit Kunst zu tun hat?“ – Franz Wanner
„Erst mit dem Beichtunterricht bin ich dann in Kontakt mit Schuld und mit Erbsünde gekommen und mit der Behauptung, Katholiken seien bessere Menschen. Das glaubte ich ganz einfach nicht. Von da an habe ich als Kind eigene Spuren verfolgt, da bin ich selber auf die Suche gegangen und habe eigene Erfahrungen gesammelt – ohne es vermittelt zu bekommen. Ganz lebendig bleibt meine Erinnerung an den Freudenberg, das war ein Berg nahe von St. Gallen. Den habe ich immer gesehen von meinem Zimmer aus. Ich war überzeugt, dass ich dort den Himmel werde anfassen können. Als wir dort hinaufstiegen und immer ein neuer Horizont auftauchte, habe ich gemerkt: Den Himmel kann man nicht berühren. So war es auch mit den Sternschnuppen. Ich dachte, man müsste sie doch irgendwo finden. Ich wollte in der Erde die Sternschnuppen ausgraben, die vom Himmel gefallen waren. Ich war gerne in der Natur, hatte eigene Projekte mit Freunden dort. Wir haben gegraben, gingen in Höhlen hinein. Das taten wir im Geheimen, es war unser Geheimnis, das Geheimnisvolle passt zum Religiösen. Diese Suche setze ich als Künstlerin fort. Von einer Vision geleitet, erforsche ich Räume und Landschaften, um darin das Unerwartete zu finden und neue Erfahrungsräume zu schaffen.“ – Cécile Stadelmann
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K ÜNSTLERINNEN UND K ÜNSTLER IM G ESPRÄCH „Die Gottesdienste waren für mich wie ein Bühnenstück. Die Rituale, der Weihrauchduft, eher das Sinnliche hat mich angezogen. Ich habe gerne gesungen. Besonders die Marienlieder, die fand ich speziell schön. Auch die Ohren- und Halssegnungen waren etwas Spezielles. Der Pfarrer berührte mit zwei gesegneten Kerzen unsere Wangen und den Hals. Während er mit den kühlen, brennenden Kerzen das Ritual vollzog, murmelte er ein Gebet. Das war sehr aufregend als Kind! Oder das Agathabrot: Die heilige Agatha war eine Märtyrerin, ihr wurden die Brüste abgeschnitten und zu ihrem Gedenktag gab es jeweils dieses spezielle Brot zu kaufen. Wir liebten dieses Brot mit der schönen Form. Für uns Kinder war dies einfach ein spezielles Brot, aber wenn ich mir das jetzt so aus der Distanz überlege, dass wir dieses Brot aufgeschnitten und es mit Butter und Konfitüre bestrichen haben…“ – Judith Albert
„In meinen Jugendjahren habe ich mich dann von allem Katholischen strikte distanziert. Die Faszination an archaischen Ritualen und dem, was neben dem rational Fassbaren entsteht, ist jedoch geblieben. Ein spannender Raum, der mich immer noch sehr interessiert und inspiriert. Ich bin vielleicht dieser Faszination wegen zur Kunst gekommen. Ich weigere mich indessen, diesen genau zu definieren — ich sehe diesen Ort als einen spannenden Ort, in dem gerade die Unsicherheit eine entscheidende Rolle spielt.“ – Robert Müller
„Ich mag das katholische Ritual der Eucharistie. Ich nehme gerne an seinem präzisen, klar gegliederten immer gleichen Ablauf teil. Dieser hat sich über Jahrhunderte kaum verändert und die Heilige Messe, wie sie einst genannt wurde, wird auch heute überall auf der Welt täglich gefeiert. Brot wird zum Leib Christi, Wein zu seinem Blut. Als Kind habe ich an dieses Wunder geglaubt. Heute bin ich aus dem Glauben ‚gefallen‘ und vermag trotzdem, allerdings ganz selten und vage, dieses Wunder zu erkennen, von Großem nicht ausgeschlossen, im Kleinen getragen zu sein. Ich habe während meiner Arbeit als Dokumentarfilmerin in Ländern anderer Kulturen viele Rituale beobachtet und Menschen getroffen, die etwas gesehen haben, was ich nicht wahrzunehmen vermochte. Rituale fremder Kulturen werden weniger hinterfragt. Je vertrauter ein Ritual, je größer kann die Ambivalenz sein. Ich habe immer wieder festgestellt, dass auch mich Fremdes in einer fremden Welt weniger beunruhigt als Unverständliches in meiner vertrauten Umgebung.“ – Margrit Rosa Schmid
K UNST UND R ELIGION ? T EIL I „Ich bin in einer katholischen Großfamilie aufgewachsen. Schon als junger Bub verstand ich die Machtstrukturen im Dorf: Pfarrer – Lehrer – Vater. Sie funktionierte von oben nach unten, aber auch von unten nach oben. Und ich erinnere mich an meine früheste Wertvorstellung: Schweizer und Katholik zu sein war das Höchste. Schweizer und Protestant ging grad noch. Aber traurig und verloren war, wer Ausländer und nicht katholisch oder wenigstens protestantisch war. Ich wähnte mich auf der guten und sicheren Seite. Als Ministrant war ich in besonderer Nähe zum kirchlichen Geschehen. Schon früh habe ich zu unterscheiden gelernt zwischen Kirche und Glauben und dass das eine mit dem anderen nicht unbedingt etwas zu tun haben musste. Es gab auch fiese Gestalten in der Kirche und um die Kirche. Aber ein ‚levitiertes’ Hochamt war ein großartiges Schauspiel und Erlebnis. Emotional, sinnlich, ergreifend und ergriffen, weil bis ins Innerste von Schönheit, Geheimnis, Wunder und dem Mysterium getroffen. Das Mysterium fand seinen Weg durch die Ohren, Nase, Augen und Mund ins Innerste, ins Herz, ins Gemüt, in mein Wesen. Worte, Weihrauch, Musik, die kostbaren Priestergewänder, Blumen überall und gleißendes Sonnenlicht durch farbige Glasfenster. Diese ganze Sinnlichkeit, Sinnbild für die Nähe von Gott und Mensch. Heute ist das anders. Die Sinnlichkeit ist irgendwo zwischen Rom und der Hölle verloren gegangen. Geblieben ist ein gruftiger Geruch von feuchtem, klarem Beton. Die Sinnlichkeit des alles beherrschenden Materialismus.“ – Benno Zehnder
„Als Kind einer Arbeiterfamilie bin ich in einem katholischen Milieu aufgewachsen. Nicht alles war Gold, was glänzte. Aber gerade Flecken und Lücken brachten mich zu eigenem Denken. Der Religionsunterricht interessierte mich auch als kulturelles Angebot. Der Horizont erweiterte sich. Soziale Fragen fingen an, mich zu interessieren, und es entwickelte sich ein existenzielles Interesse an Kunst. Das spürte der alte Pfarrer, der uns Unterricht erteilte. Er schenkte mir sein achtbändiges Herder Lexikon mit Jahrgang 1908. Damit verbrachte ich viel Zeit des Lernens und Entdeckens. Als junger Mann ging ich nach Paris in die Banlieue, wo ich in einer Communauté von Abbé Pierre mit andern Schweizerinnen und Schweizern für die Menschen in den Bidonvilles an der vernachlässigten Infrastruktur baute. Abbé Pierre hat mich stark beeindruckt. Er war eine im wahrsten Sinn große religiöse und politische Persönlichkeit. Er hatte als reicher Industriellensohn alles aufgegeben, um als Arbeiterpriester mit Clochards und Flüchtlingen zu leben und zu arbeiten.“ – Anton Egloff
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K ÜNSTLERINNEN UND K ÜNSTLER IM G ESPRÄCH „Die ersten 50 Jahren meines Lebens wurden vom ‚kalten Krieg’ geprägt. Wir lebten unter dem ‚Gleichgewicht des Schreckens’. Es war ein liebloser und gottloser Zustand. Wir waren in Geiselhaft machttrunkener Gesellschaftssysteme, die jedes für sich die Wahrheit beanspruchte und diese notfalls auch durch einen ‚Erstschlag’ durchsetzen wollten. In meiner Fantasie dachte ich: eines Tages wird einer aufstehen und sagen: „Das ist alles Unsinn“. So ist es dann mit dem Mauerfall ja auch fast passiert. Das ‚Gleichgewicht des Schreckens’ wurde durch das ‚Ungleichgewicht des Habens’ ersetzt. Nackter, gieriger Materialismus hält unsere Seelen und unser Denken seither gefangen. Der einfache Auftrag an uns Christen: „Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst“, wäre ja eigentlich immer noch eine grandiose und gesellschaftsverändernde Kraft. Nur ist der Nächste inzwischen auch farbig geworden und pflegt andere Sitten und Bräuche. Es ist beschämend mitansehen zu müssen, wie in unserer Gesellschaft und Politik immer noch die Wertvorstellungen eines Kindergärtners vor 63 Jahren maßgebend sind.“ – Benno Zehnder
„Die Religionsfreiheit in der Verfassung zu haben hat sich sehr positiv für unsere Gesellschaft ausgewirkt. Man muss nicht mehr mitmachen, nur weil man in diese oder jene Familie hineingeborenen wurde, das erlebe ich als große Freiheit. Ich habe meine Wurzeln in diesen katholischen Traditionen und ich kann nach Belieben daraus schöpfen. Aber es wäre für mich sehr fremd, zum Beispiel in der islamischen Religion nach Formen zu suchen für meine künstlerische Arbeit.“ – Judith Albert
(Dis-)Kontinuität religiöser Bildlichkeit – Überlieferungen dies- und jenseits der Konfessionsgrenzen
Benno Zehnder, Westwand Beinhaus Steinhausen (2009), Mineralfarben geschichtet, 320 x 210 cm
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K ÜNSTLERINNEN UND K ÜNSTLER IM G ESPRÄCH „Als Maler von Bildern begegnete ich den Werken großer Meister oft mit Eifersucht. Denn die wussten noch, was sie malen mussten, ihre Thematik war klar. Sie konnten oder mussten z.B. immer wieder die Kreuzigung malen. Der Inhalt des Bildes stand fest und die Künstler konnten sich ganz der ‚Veranschaulichung des Unaussprechlichen’ widmen. Dadurch ergab sich eine unerhörte Steigerung der Bildmittel und es entstanden diese fantastischen Werke, die ich nur bewundern kann. Diese Werke scheinen eine Symbiose zwischen Kunst und Religion zu sein, zwischen der Lehre der Kirche und der künstlerisch-sinnlichen Manifestation derselben. Kirche ohne Kunst war undenkbar und Kunst ohne die Kirche ebenfalls. Nicht jedes dieser Bilder, auch mit religiösem Inhalt, fördert die Tiefe des Glaubens, sondern oft auch eher das Ansehen der Kirche. Ich fand das wunderbar, dass die wussten, was zu tun war und finde es unfair, dass wir das nicht mehr wissen. Aber meine Leidenschaft beim Malen war und ist sicher gleich groß. […] Die nördlichen Meister waren für mich eher religiöse Maler, in deren Werk das Leben der Inhalt war und die Italiener waren für mich die Propagandisten, die Werbeabteilung des Himmels und der Kirche. Heute sehe ich Unterschiede, sehe auch bei den Italienern religiöse Maler. In Arth-Goldau gibt es ein zeitgemäßes umfangreiches Bilder-Fries im Stil von Ferdinand Gehr, das aber keine religiöse Kraft mehr hat. Alles ganz freundlich und wie auswendig gelernt. Es zeigt mir, wie weit sich die Kunst von der Religion entfernt hat und wie die Religion keine (neue) Kunst mehr hat. Die Kunst sucht ihre Inhalte oft lieber in der Kunst als im Leben. Und die Kirchen glauben, dass sie das Unaussprechliche ohne die Kunst anschaulich machen können, was meistens in unerträglichen und inhaltlich beleidigenden kindischen Formalismen endet.“ – Benno Zehnder
„Mit dem Stichdatum 9/11 war das Thema der Religiosität auf dem Tapet, in der Öffentlichkeit. Die Auseinandersetzung mit Fundamentalismen, ob muslimisch oder christlich, ist mir in Gesprächen konkret begegnet. [...] Eine gewisse Sorglosigkeit des westlichen Alltags hat sich seit diesem historischen Ereignis verschoben, latente Unsicherheit ist gekommen. Ihr wird mit einer neuen Auseinandersetzung mit Religiosität oder Glauben begegnet. Ein Aspekt davon ist die quasi neue Konkurrenz in der Deutung der Welt. Neben dem dominanten, technisch-wirtschaftlichen Diskurs treten Modelle auf, die mit Glauben begründet werden. Es gibt einen Text von Chantal Mouffe aus der politischen Philosophie, der mich bei dieser Sichtweise geleitet hat. Sie spricht davon, dass im Kontext der westlichen Moderne ‚Passion‘ – also ‚Leidenschaft‘, der Text ist sicher zunächst in Englisch oder Französisch verfasst – , dass Leidenschaft in der vernunftgeleiteten Demokratie keinen Ort der Repräsentation habe. Leidenschaft wiederum schließt sowohl sehr positive Momente, wie auch Leiden, also schwierige Momente, mit ein. Dieses neue, andersartige Einbringen von Leidenschaften, von Geglaubtem, aber das bedeutet ja auch von Gefühltem – das hat ein Gefäß gesucht. Was sich natürlicherweise anbietet, sind verschiedene, tradierte Varianten religiöser Praxis.“ – Hinrich Sachs
K UNST UND R ELIGION ? T EIL I „Das andere Thema ist für mich ein kulturelles, anthropologisches – ein so genanntes Bildproblem. Vielleicht kann man es auch ein kunstgeschichtliches Problem nennen: aufgrund von philosophischen und anderen Überlegungen ist die Avantgarde-Diskussion ausgelaufen und nicht mehr geführt worden. Denken wir an die 1980er und 1990er Jahre, wo eine bestimmte Form von reflexiver Moderne – andere haben es Postmoderne genannt – als Leitbild galt, eben jenes formale Nebeneinander verschiedenster Stile. Dieses Leitbild wiederum ist nun in Frage gestellt durch eine verstärkte Präsenz von nichteuropäischen kulturellen Praktiken im Bereich der bildenden Kunst – ganz konkret im Kunstmarkt, der sich indischer, chinesischer und afrikanischer Kunst in abwechselnden Wellen gewidmet und versucht hat, diese nach dem Modell des 20. Jahrhunderts zu integrieren. Aber irgendwie funktioniert das nicht mehr. Das Organisieren eines Deutungszentrums ist verändert, aufgelöst, ist weicher geworden, ist heterogener. Jene, die in westlichem, christlichem Umfeld aufgewachsen sind, müssen sich auch als Künstler mit anderen Formen von Bildbehauptungen auseinandersetzen. Die Interpretationsmodelle, die zur Verfügung standen und im jüdischen, protestantischen oder katholischen Sinn klare Deutungen angeboten haben, müssen sich einer neuen Befragung stellen. Wir müssen da nur an Asien denken, wo wir ganz verschiedene Modelle der Deutung erkennen. Und die bedeuten Konflikt, Auseinandersetzung, Widerspruch, Paradox, alles das.“ – Hinrich Sachs
„Konkret habe ich als Student einmal für eine Arbeit ein Narrativ aufgegriffen, das mir als Protestant völlig fern ist, mich aber trotzdem interessiert hat: Das ist das Narrativ der Transsubstantiation. Folgende Anekdote ist für ein Kirchlein in den Bergen auf dem Weg nach Compostela verbürgt. Da gibt es einen Priester, der nicht mehr glauben kann, der also zweifelt – und dennoch die Messe abhalten muss. Es stürmt. Es kommt ein Bauer in die Kirche, der Priester will die Messe gar nicht abhalten, aber, naja, es ist eben Sturm, der Mann ist trotz des Sturms gekommen... Der Priester hält dann doch die Messe für den Mann und gibt ihm das Abendmahl. Und während er die Worte dazu herunterleiert, verwandelt sich der Wein in Blut. Transsubstantiation ist eine problematische Thematik heute, die aber, wenn wir so wollen, sehr viel mit Kunst zu tun hat. Denn das Materialisieren eines Werkes kann auch metaphorisch gelesen werden, oder aber anders herum: auch die Metapher ließe sich ‚materialisieren’. Ich habe damals daraus eine Fotoarbeit gemacht. Und ich glaube, das ist die einzige unmittelbar inhaltliche Auseinandersetzung mit einem christlichen Glaubensinhalt.“ – Hinrich Sachs
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Judith Albert, Heiliger Maximilian, aus der Serie 4 neue Schutzheilige (2007), Heiligenbildchen, Offsetdruck, je 11 x 7 cm (Auflage: je 60’000 Stk.) „Ein Teil in mir möchte, dass für jede erdenkliche Situation ein Schutzheiliger an meiner Seite steht. Als Kind hatte ich viele Heiligenbildchen geschenkt bekommen. Zu den 4 neuen Heiligen habe ich eine kleine Recherche gemacht und Leute befragt. Dabei ist herausgekommen, dass jene, die als Kind schon Bezug zu solchen Bildchen hatten, die Arbeit mit den 4 neuen Schutzheiligen viel besser verstanden als Leute, welchen dieser katholische Hintergrund fehlte. Zum Beispiel meine Freundin: Sie wohnt in der Westschweiz, ist sehr protestantisch aufgewachsen und hatte zuerst gar keinen Zugang zu dieser Arbeit und wozu solche Bildchen gut sein sollten. Da ist mir so richtig bewusst geworden, dass es auch in unserer heutigen Zeit nach wie vor eine Rolle spielt, welche Prägung man abbekommen hat. […] Eigentlich wollte ich auch einen Schutzheiligen für das Internet machen. Ich habe auf dem Internet gesucht, für welche Bereiche es schon Heilige gibt und bin darauf gestoßen, dass tatsächlich die katholische Kirche vor drei oder vier Jahren für das Internet einen Heiligen nominiert hat, der heilige Isidor von Sevilla. Der hatte im Mittelalter die erste Enzyklopädie zusammengetragen vom damaligen Wissen und in ein System mit einer Baumstruktur geordnet. Da habe ich nicht schlecht gestaunt.“ – Judith Albert
K UNST UND R ELIGION ? T EIL I „Es fällt schnell auf, wenn man in Italien umherreist, dass die Tiere dort unbelasteter sind im religiösen Kontext. Giotto zum Beispiel malt die Tiere, etwa den Löwen des Markus oder den Ochsen des Lukas so, dass der Ochse das viel größere Kunsterlebnis ist als der Mensch. Auch wenn ich an gewisse Gefäße bei Giotto denke, dann sind dies wirklich Kunstwunder. Zum Beispiel in der Abendmahlszene oder in der Hochzeit zu Kanaa, da sind die Gefäße zwar Teil der Geschichte, aber trotzdem zeigen sie dieses Wunder des Bildwerdens, das mit Religion oder der Bilderzählung gar nichts zu tun hat, sondern vielmehr mit dem Wunder, dass etwas überhaupt Bild wird.“ – Franz Wanner
„Ich denke schon, dass die konfessionelle Prägung bedeutend ist, aber man muss aufpassen, dass man da nicht wieder irgendwelche Kulturkämpfe entfacht. Gleichzeitig ist es persönlich sehr aufschlussreich, sich die Einflüsse seiner Identitätskonstitution auch bewusst zu machen. Gerade Fragen nach dem Bild und seinem Wahrheitsanspruch, nach der Vera Icon sind natürlich konfessionell geprägt, etwa durch die Geschichte der Bilderstürme. Das sind Fragen, die fortwirken, das ist ungebrochene künstlerische Aktualität. In der Schweiz gibt es eine kulturelle Dominante: Obwohl es ja prozentual offenbar ausgeglichen sei, ist die Schweiz kulturell stark protestantisch dominiert – ich spüre dieses teilweise richtiggehend manifeste kulturelle Überlegenheitsgebaren des Protestantismus im Umgang mit meinem Schaffen deutlich. Es wird einem schwer verziehen, wenn man Themen, die für abgeschlossen, für sedimentiert gelten, wieder aufwirbelt. […] Das Distanzierende des Fotografischen ist eine kunstimmanente Frage. Ich habe zur Fotografie gefunden durch die Beschäftigung mit dem Werk von Andy Warhol, den ich für einen ungeheuren Künstler halte. Ich persönlich glaube, es ist kein Zufall, dass Warhol ein orthodoxer Katholik war. Das blendet man natürlich bei dem ganzen Glamour- und Oberflächen-Image, das er selbst mitgeliefert hat, aus. Man hält es gemeinhin für einen schwulen Spleen, dass jemand im Baldachinbett in mit grüner Seide beschlagenen Gemächern schläft und neben seinem Bett, in Reichweite, einen Gebetsstuhl mit Kruzifix stehen hat, wie uns Fotos zeigen, die nach seinem Tod veröffentlicht wurden. Ich glaube, dass die Vera Icon – die Vorstellung, dass Veronika am Wegesrand der Passion steht und mit einem Leintuch einen Abdruck des Antlitzes Christi empfängt – dass das eine entscheidende unterbewusste Konsequenz hatte für jemanden wie Warhol, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Allein die Idee, dass er einen Siebdruck aufbringt auf eine Leinwand: Seit ich von diesen religiösen Hintergründen von Warhol weiß, ist es mir unmöglich geworden, diesen Zusammenhang nicht als höchst evident zu sehen. Das meine ich auch mit den Konstanten im Konfessionellen. Es wird ersichtlich, dass die Fragen nach dem echten Bild richtige gedankliche Maschinerien in unserer Identitätssuche sind, die, einmal angekurbelt, nicht mehr stillstehen.“ – Christian Kathriner
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K ÜNSTLERINNEN UND K ÜNSTLER IM G ESPRÄCH „Meine Via Crucis damals hat einfach versucht, die Frage nach der Überlieferung oder nach der Nutzbarmachung von Überlieferung sehr prononciert zu stellen, im klassischen Thema schlechthin, einem der Urtexte unseres kulturellen Gedächtnisses, der Passion Christi. Überrascht bin ich immer wieder von Leuten, die behaupten, dass ja das religiöse Bild nur Teil unserer überlieferter Bildwelten sei, ich glaube aber, dass die Einbettung dieser Bildwelten in einen heilsgeschichtlichen Kontext das wirklich Allerprägendste gewesen ist, auch für Bildgenres, die scheinbar neutral sind, wie etwa das Portrait, ob uns das alles aus heutiger Perspektive gefallen mag oder nicht.“ – Christian Kathriner
TEIL 2
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Noli me tangere – Gleichnis, Erzählung und die Frage des Glaubens im Kunstunterricht Silvia Henke
V ERSTEHEN ODER G L AUBEN SCHENKEN ? Tizians Bild der biblischen Szene der Begegnung des auferstandenen Christus mit Maria von Magdala war Ausgangspunkt in einem Projektmodul, das Religion im Kunstunterricht thematisierte.
Tizian, Noli me tangere (1511), Öl auf Leinwand, 101 x 91 cm
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Das Modul wurde an der Hochschule angeboten für Studierende aus den Abteilungen Kunst, Design und Visueller Kommunikation.1 Die Hintergrundüberlegung war: Wenn, wie oft und auch im Rahmen dieses Buches, konstatiert wird, religiöse Themen in der zeitgenössischen Kunst eine neue Aktualität erfahren, dann sollten Kunststudierende selber erproben können, worin diese Aktualität besteht und welche religiösen Formen und Inhalte ihnen überhaupt zugänglich sind. Statt um eine irgendwie geartete innere Religiosität oder Spiritualität ging es mir um eine explizite Auseinandersetzung mit Religion als symbolischem System. Dabei kommt man um die christliche Heilslehre als Bezugsrahmen nicht herum. Noli me tangere habe ich neben anderen biblischen Gleichnissen als Beispiel ausgewählt, weil es in höchstem Maß eine Glaubenssache darstellt. Das Motiv ist nämlich ebenso bekannt wie rätselhaft. Die Studierenden haben die Szene zuerst durch eine Erzählung rekapituliert. Dabei gab es zwei methodisch interessante Momente: 1. Nur vier von sechzehn Studierenden konnten ihre Erzählung auf eine Erinnerung an die Geschichte stützen. Das Wissen und die eigentliche Spur zur Geschichte fehlten. (Es gab Motive, die diesbezüglich einfacher waren, etwa der Sündenfall, die Verkündigung oder das letzte Abendmahl). Somit haben die einen frei assoziiert, die andern haben, gestützt auf ihre vage Erinnerung, erzählt. Erzählanfänge waren etwa: Mann und Frau treffen sich heimlich außerhalb der Stadt; eine Bettlerin fleht einen Heiligen an; eine Frau begehrt Jesus, der sie zurückweist; eine Frau braucht Hilfe, der Mann (Jesus?) hat keine Zeit. 2. Nachdem wir die Textstelle im Johannesevangelium gelesen haben und die Geschichte ungefähr einordnen konnten, sahen alle das Bild anders.2 Die 1 Der Unterricht fand im Rahmen eines sechswöchigen Projektmoduls statt, das Nika
Spalinger und ich 2010/2011 durchführten. Die Studierenden wählten das Modul zu Kunst und Religion freiwillig, sie kamen vorwiegend aus bildender Kunst und Illustration. Die vorliegenden Ausführungen beziehen sich zum einen auf die konkrete Unterrichtssituation, gehen zum Teil über die konkrete Lehrerfahrung hinaus und kommen wieder auf Ergebnisse des Moduls zurück. Zu den einzelnen Arbeiten vgl. auch Nika Spalingers Beitrag in diesem Band. 2 Maria kommt nochmals zum Grab zurück, beugt sich hinein, sie findet es leer, aber
zwei Engel sind in der Grabkammer: „Sie sagten zu ihr: Frau, warum weinst du? Sie antwortete ihnen: Man hat meinen Herrn weggenommen und ich weiss nicht, wohin man ihn gelegt hat./Als sie das gesagt hatte, wandte sie sich um und sah Jesus dastehen, wusste aber nicht, dass es Jesus war./Jesus sagte zu ihr: Frau, warum weinst du? Wen suchst du? Sie meinte, er sei der Gärtner, und sagte zu ihm: Herr, wenn du ihn weggebracht hast, sag mir, wohin du ihn gelegt hast. Dann will ich ihn holen./Jesus sagte zu ihr: Maria! Da wandte sie sich ihm zu und sagte auf Hebräisch zu ihm: Rabbun! Das heißt: Meister./Jesus sagte zu ihr: Berühre mich nicht, denn ich bin noch
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spontane realistische Bedeutung, die sie dem Bild gaben, stand also der tradierten und schriftlich fixierten gegenüber. Offensichtlich wurde: weder ist diese Geschichte eindeutig noch ist ihre bildnerische Umsetzung von Fra Angelico über Holbein, Rembrandt, Tizian, Tintoretto bis Pontormo oder Poussin einheitlich. Einmal ist das Grab zu sehen, dann nicht, einmal spielen die Engel eine Rolle, dann wieder nicht. Besonders die Verwechslung von Jesus mit dem Gärtner hat den Malern viel Freiraum geschaffen für die Frage, wie Jesus denn ausgesehen habe. Nicht nur, dass Geschichte und Bild nicht übereinkommen, auch die bildnerische Auslegung differiert sehr stark. Zudem ist die Aufforderung „Berühre mich nicht“ durch die Wendung „denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater“ nur lückenhaft begründet. Denn wie ist das zu verstehen? Meint es: Ich bin noch hier, obwohl ich schon dort sein sollte? Und wenn Jesus „aufgefahren“ wäre: wer könnte ihn dann noch berühren? Ist er nur berührbar in seiner Absenz? Es gibt also einige Verständnisprobleme und diese haben auch mit der Struktur des Gleichnisses zu tun. Denn was heißt es, ein Bild oder eine Geschichte als Gleichnis zu sehen: was sieht man, was versteht man, was zeigt sich, was verbirgt sich im Gleichnis? Wenn einmal klar ist, dass man es eigentlich mit dem Bild eines Toten zu tun hat, eines Auferstandenen, so wird jede Aneignung durch eine realistische Betrachtung schwierig. Denn der Sinn und die Ausgestaltung des Gleichnisses – ein Toter, der aufersteht und sich den Lebenden nochmals zeigt, bevor er zum Vater in den Himmel geht und dabei nicht berührt, also nicht verifiziert werden darf – sind dunkel oder zumindest vernunftwidrig. Damit fordern sie nicht nur die Vorstellung der Künstler heraus, sondern auch den Glauben. Der Glaube – so habe ich den Studierenden vorgeschlagen – ist der wunde Punkt des Gleichnisses. Vielleicht aller Gleichnisse. Jean-Luc Nancy hat in seiner akribischen Auseinandersetzung mit dem Motiv Noli me tangere auf diesen Punkt besonders verwiesen: Das Gleichnis spricht immer von einer Wahrheit, die sich im religiösen Sinn nicht abschwächen lässt: entweder man sieht sie oder man sieht sie nicht. Der Glaube (Nancy spricht hier von einer „bestimmten Sicht“) war oder ist zu gewissen Zeiten auch der wunde Punkt der Theologie.3
nicht zum Vater hinaufgegangen. Geh zu meinen Brüdern und sag ihnen: ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott./ Maria von Magdala ging zu den Brüdern und verkündete ihnen: ich habe den Herrn gesehen. Und sie richtet aus, was er ihr gesagt hatte.“ Joh. 20, 11-18. 3 Auf die Frage der konstitutiven Verbindung von Glaube und Theologie stützt sich
etwa die Schriftenreihe Theologie und Glauben der Theologischen Fakultät der Universität Paderborn. Nancy, Jean-Luc: Noli me tangere, Zürich/Berlin (diaphanes) 2008, S.12
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Vielleicht habe ich deshalb diese Szene ausgewählt. Weil ich eigentlich nicht weiß, wie ich als moderner Mensch etwas über den Glauben lehren soll, bzw. ob ich ihm ausweichen kann. Kann ich als Professorin in einem säkularen Hochschulsystem sinnvoll über den Glauben sprechen? Kann und soll ich Glaube glaubwürdig machen? Was mich dabei interessiert, ist eine Überführung von Religion in Anthropologie, Literaturwissenschaft oder Psychoanalyse, kurz: in eine Kulturwissenschaft, die das Religiöse nicht ganz im Profanen auflöst. Das pièce de résistance liegt im Glauben als dem „heißen Kern“ der Religionen, dies kann man zumindest aus Sicht der praktischen Theologie sagen,4 sicher aber auch aus der Erfahrungswelt der Studierenden: In der westlichen Welt unterscheiden wir im 21. Jahrhundert kaum mehr nach Konfessionen, sondern nach Gläubigen und Nichtgläubigen.5 Mir geht es demgegenüber um eine andere Differenzierung, die einen Schritt vor oder neben dieser Opposition von Glaube und Nichtglaube liegt. Gerade für Kunststudierende ginge es eher darum, sich mit dem zu befassen, was Glaube denn eigentlich meint. Was unterscheidet Glaube von Wissen oder Verstehen? Wenn von Duchamps ein Satz überliefert ist wie jener, dass man das meiste nicht weiß, sondern glaubt,6 dann geht es nicht um einen Blankoschein gegenüber dem Wissen. Um das zu verstehen, darf der Glaube nicht nur persönlich, innerlich, unaussprechlich bleiben, sondern muss als Bedeutungsstruktur auch nachvollziehbar sein. Denn für die Frage nach der Bedeutung des Religiösen im Zeitalter des Postsäkularen scheint es gerade im Bildungskontext zentral, das Verständnis einer – lediglich glaubhaften – Geschichte zu prüfen. Ist im Akt des Glauben-Schenkens nicht das Verstehen impliziert?
4 Wenn Bieritz vom „heißen Kern“ der Religion spricht, meint er damit auch: „die
schrecklichen Schönheiten des Glaubens“, die sich nicht einfach einbinden lassen in die spätbürgerliche Kultur. Vgl. Bieritz, Karl Heinrich: Zeichen und Wunder. Praktisch-theologische Annäherungen, in: Ritter, Werner H., Albrecht, Michaela (Hg.): Zeichen und Wunder, Interdisziplinäre Zugänge, Göttingen (Vandenhoek & Ruprecht) 2007, S. 290-312, hier insb. S. 307. 5 Die Ausstellung Glaubenssache im Stapferhaus Lenzburg hat diesen Umstand auf-
gegriffen und deshalb zwei Eingangstüren zur Ausstellung geboten: eine für Gläubige, eine für Nicht-Gläubige, wobei man sich zwangsläufig für eine Türe entscheiden musste. Glaubenssache, Ausstellung Stapferhaus Lenzburg 28.10.2006 bis 28.10.2007. 6 „J’aime le mot croire. En général, quand on dit, ‚je sais’, on ne sait pas, on croit.“
Duchamp in: Duchamp du signe, zitiert nach: de Certeau, Michel, L’invention du quotidien, 1 arts de faire, Paris (Gallimard,) 1990, S. 259.
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G LEICHNIS UND A NEIGNUNG DES U NWAHRSCHEINLICHEN Es ist nützlich, wenn nicht zwingend, über Religion zu sprechen, indem man eine einigermaßen verbindliche Definition derselben zu Grunde legt. Es ist auffällig, wie sehr Religion im Bewusstsein der Studierenden im säkularen Kontext an ein diffuses Gefühl oder eine zutiefst suspekte Haltung gebunden ist. Die Definition von Emile Durkheim, die für die Religionssoziologie grundlegend ist, bietet sich hier an, weil sie versucht, das Wesen aller Religionen im Hinblick auf Vergangenheit wie auf ihren Ist-Zustand zu erfassen: „Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, das heißt abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.“ 7 Während Praktiken und Überzeugungen, die sich auf Heiliges beziehen, für Kunstschaffende grundsätzlich nicht fremd sind,8 bleibt ihnen die Kirche als moralisches Kollektiv suspekt. Der Gottesbegriff kann nach Durkheim ausgeklammert bleiben, nicht aber das kollektive Moment.9 Da es unmöglich ist, diese Bedeutung der Kirche in der Gegenwart wieder einzuholen oder einzufordern,10 fragt sich, welche Substitute – wenn überhaupt – sich hier anbieten. Der am nächsten liegende Gedanke ist wohl, dass man die über mögliche individuelle Praktiken und Überzeugungen hinausgehende kollektive Form von Religion in der Funktion von Erzählungen sucht; im Besonderen Erzählungen in Form von Gleichnissen. Erzählungen aber sind, das muss man klar benennen, nicht das, was moralische Überzeugungen festigt, sondern eher etwas, was diese ins Wanken bringt. Trotzdem stiften sie Verbindendes. Gerade das Gleichnis Noli me tangere, dem Jean-Luc Nancy nicht von ungefähr ein ganzes Büchlein widmet, handelt eigentlich vom Schwanken zwischen Sehen, Hören, Glauben und Erkennen 11 – einem Schwanken, das erst durch den Glauben Marias und die daraus folgende Erzählung beendet wird. Zwischen der Auferstehung und der Befestigung der Legende liegt als Gegenstück zu Noli me tangere die Episode, in welcher der ungläubige Thomas seine ‚Lektion’ erhält. Im Unterschied zu Maria glaubt er ja erst, nachdem er gesehen und berührt hat – bei
7 Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1968), Frankfurt a.M.
(Verlag der Weltreligionen) 2007, S. 76. 8 Vgl. Künstleinnen und Künstler im Gespräch. Teil I in diesem Buch. 9 Durkheim (wie Anm. 7). 10 Vgl. hierzu die pointierte Einschätzung von Sibylle Lewitscharoff in diesem Band. 11 Nancy, Jean-Luc: Noli me tangere, (wie Anm. 3) S. 30 und passim.
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Caravaggio sogar noch viel mehr als dies.12 Hier könnte man auch sagen: Der Unglaube sucht den wunden Punkt.
Giotto, Noli me tangere (1304-1306), Cappella degli Scrovegni, Padua, Fresko, 200 x 185 cm
In der Episode am offenen Grab aber, wo noch Wunder und Zweifel dominieren, sind der Körper und die Erscheinung des Auferstandenen höchst unsicher. Niederschlag findet diese Unsicherheit wie oben gesagt besonders in der bildlichen Entscheidung darüber, wie Jesus aussieht – er kann ja nur so aussehen, wie ihn Maria gesehen hat und immerhin hat sie ihn nicht an seiner Gestalt, sondern erst an seiner Stimme erkannt. Ihre Unsicherheit ist deshalb so entscheidend, weil es sich um das Bild eines Mannes handelt, das in höchstem Maß unwahrscheinlich ist und genau durch diese Unwahrscheinlichkeit ein Stolpern zur Folge hat. In seiner Erzählung Magdalena am Grab, in welcher Patrick Roth das Einstudieren dieser Grabesszene auf einem Filmset in Hollywood minutiös Schritt für Schritt schildert, wird dieses Stolpern auch als ein Stolpern im Text thematisch, das erst in der körperlichen Nachahmung zu Tage tritt – wie in der Malerei auch. Es liegt begründet in einem Vorbeigehen: Magdalena muss an Jesus vorbeigegangen sein, sonst könnte sie sich nicht wieder umwenden. Aus diesem kleinen Vorbeigehen schöpft die Erzählung ihre ganze Spannung: Es ist das Geheimnis einer Beziehung, die sich zwischen Abwendung und Zuwendung, Hingehen und Vorbeigehen, zwischen Mensch und Gott, Mann und Frau ereignet, in mehrfachen Wendungen, in welchen kurz, aber entscheidend 12 Zur Bedeutung des Eindringens mit dem Finger bei Caravaggio vgl. den Beitrag von
Karl-Josef Pazzini in diesem Buch sowie ders.: Caravaggios Powerpoint, in: Manfred Blohm (Hg.): Kurze Texte zur Kunstpädagogik. Schriftenreihe Medien-Kunst-Pädagogik. Bd. 2. Flensburg (University Press) 2008, S. 33-40.
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innerhalb aller Verfehlungen ein Moment blitzt, in welchem sie sich erkennen.13 Aufgrund dieses Blitzes, dieser Erkenntnis, ist Maria von Magdala jene, die das Unmögliche beglaubigt – ohne sich empirisch sicher zu sein, das heißt: ohne Jesus berührt zu haben. Das erlaubt einen ersten Schluss: Wir müssen insgesamt mehr verstehen, als wir berühren können. Der Glaube ist daher dem Verstehen verwandt, nicht dem Wissen. In diesem Sinn muss auch innerhalb eines katholisch geprägten Umfelds auf das Erbe der Aufklärung und einer protestantischen Ethik verwiesen werden, auf die Zusammengehörigkeit von Religion und Religionskritik, die seit Kant das Verstehen erst herausfordern und den Glauben in Bezug auf die Vernunft einzuordnen versuchen.14
Hans Holbein d.J., Noli me tangere (1524), Öl auf Leinwand und Eiche, 77 x 95 cm
E RZ ÄHLUNG UND DIE K UNST, NICHT ALLEIN ZU SEIN Maria von Magdala macht aus dieser Begegnung eine Erzählung, sie ist die erste, die die Geschichte der Auferstehung überliefert, weil sie etwas verstanden hat. Mit ihrer Erzählung ernährt sie die Gemeinschaft der Jünger – aus welcher sie selber in den offiziellen Überlieferungen bald verschwindet.15 13 Roth, Patrick: Magdalena am Grab, Frankfurt a.M. (Insel-Bücherei) 2003. 14 Höffe, Otfried: Einführung in Kants Religionsschrift, in: ders.: (Hg.), Immanuel
Kant: die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Berlin (Akademie Verlag) 2011. 15 Im Umfeld der Agnostiker haben sowohl Maria von Magdala wie Judas noch lange
zum Gefolge Christi gehört – ein Zweig, der vor allem die feministische Theologie beschäftigt. Vgl. etwa Starbird, Margaret: Das Erbe der Maria Magdalena. Das geheime Wirken der Witwe Jesu, Berlin (Allegria) 2006.
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Was heißt das nun für die Erzählung als gemeinschaftbildende Kraft? Zunächst gilt festzuhalten: Erzählen ruft die Vorstellung und den Glauben wach, es braucht dazu weder Berührung noch Wissen. Erzählen impliziert Wiedererzählen, das Weitererzählen, Weitertragen, Mitteilen: Erzählen ist deshalb im Gegensatz zum Berühren gemeinschaftsbildend. Es ist die Kunst, nicht allein zu sein. In einer kulturanthropologischen Perspektive lässt sich die These aufstellen, dass der Ursprung des Geschichtenerzählens in der Bewältigung des Todes liegt und im Impuls einer Vergegenwärtigung des Lebens, das vorbei geht, in der Präsentationen des Abwesenden oder Toten und vor allem: in der radikalen Erfahrung einer Trennung. Alle Kreuzwege stellen eigentlich diese Trennung Station für Station nach. Im Bild des Gekreuzigten findet sie ihren höchsten christlichen Ausdruck. Die Trennung wäre die Voraussetzung für das Begehren nach Bildern und Geschichten. Man könnte die Erzählung der Auferstehung so gesehen auch plausibilisieren als ein Mittel von Maria und den Jüngern, um den Tod von Jesus zu verkraften. Julia Kristeva hat in ihrer psychoanalytischen Deutung des Bildes von Holbein Der Leichnam Christi im Grab eigentlich eine melancholische Erzähltheorie entworfen. (Auch bei diesem Bild handelt es sich um ein ‚unmögliches’ Bild, ein Bild des toten Körpers, den keiner gesehen haben kann, ein Bild, das die radikalste Form der Trennung, den Tod ausdrückt). Gestützt auf die psychoanalytische Erkenntnis, dass der Eintritt des Kindes in die Sprache einhergeht mit einer Trennung und einer depressiven Phase, nämlich dem Verlust der Zweisamkeit mit der Mutter, auf dem Weg zum Vater, konstatiert sie, dass die Geschichte der Auferstehung der Hölle des Getrenntseins, dem Grab, eine imaginäre Verarbeitung bietet.16 Deshalb beginnen Kinder sich Geschichten zu erzählen oder brauchen Geschichten, weil diese ihr Begehren nach Bindung aufnehmen. In der Trennung von der Mutter, im Übergang zum Vater entsteht der Bedarf nach Geschichten. Vor diesem Hintergrund ist auch jene Erzähltheorie zu verstehen, die besagt, dass der homo narrans im Grunde ein trauriger Mensch ist. Stellvertretend sei hierzu Peter Bichsel zitiert, der im Jahr 2004 von der Theologischen Fakultät der Universität Basel zum Dr. theol. h.c. ernannt wurde, weil er – so der Theologe Georg Pfleiderer in seiner Laudatio – das Geschichtenerzählen wie eine religiös-theologische Praxis betreibe.17 Bichsel schreibt in seinen Poetikvorlesungen:
16 Kristeva, Julia: Le Christ mort de Holbein, in: dies.: Soleil noir. Mélancolie et dépression,
Paris (Gallimard) 1987, S. 144ff. 17 Pfleiderer, Georg: Das Sakrament der kleinen Dinge, zitiert nach Mauz, Andreas
(Hg.), Nachwort zu Bichsel, Peter: Über Gott und die Welt, Texte zur Religion, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 2009, S. 225f.
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„Geschichten Erzählen ist Umgehen mit der Zeit, und dass wir unser Leben als Zeit erleben, hat damit zu tun, dass unser Leben endlich ist und auch damit, dass das Leben unserer Freunde endlich ist. Natürlich ist die Angst vor dieser Endlichkeit überwindbar; Religion und Philosophie bieten die Werkzeuge dazu an. Was bleibt ist die Traurigkeit über die Endlichkeit. Traurigkeit ist nicht überwindbar. Sie kann abgelehnt werden oder angenommen, und Geschichtenerzählen hat etwas damit zu tun, Trauer anzunehmen.“ 18 Bichsel wird später, in seiner Dankesrede zur Verleihung des Ehrendoktors, diese Differenz zwischen dem Geschichtenerzählen und den Werkzeugen der Religion verkleinern, indem er auf religiöse Geschichten zu sprechen kommt und den grundsätzlichen Unterschied zwischen einfachen und religiösen Geschichten gänzlich minimiert.19 Warum? Weil beide Gattungen nicht der Realität, sondern der Wahrheit verpflichtet sind. Aber nicht der Wahrheit der Wissenschaft, sondern Wahrheit im Sinne einer subjektiven Sicht, wie sie Nancy dem Gleichnis als Generator zuordnet. Demnach spielt es keine Rolle, ob die Geschichte der Auferstehung stimmt. Sie könnte auch erfunden sein, weil sie davon lebt, ‚gesehen’ zu werden – wie viele Mythen und Märchen. „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“ ist deshalb genauso wahr wie das gravitätische „Es war einmal“. Glauben heißt demnach mit etwas leben können, was unverständlich und sogar unwahrscheinlich ist und dennoch ‚gesehen’ wird. Und Geschichtenerzählen hat mit der Annahme dieses Unwahrscheinlichen zu tun. Das ist die heimliche, aber tiefe Verwandtschaft von Erzählung, Gleichnis und Religion. Geschichten – ob wahre oder erfundene – erzählt man dort, wo der Sinn wankt, der Glaube hinkt, das Wissen aussetzt. Dass man später erzählt: „Am ersten Tag der Woche kommt Maria von Magdala früh, als es noch finster war, zum Grab und sieht, dass der Stein vor dem Grab weg war“ – ist der Anfang einer wunderbaren Geschichte, die erzählt wird, um das Unverständliche, den Tod, anzunehmen.
A LLEGORIE : M EDIENWECHSEL UND RELIGIÖSER S INN Es gilt für das Bild wie für die Erzählung: „Das Bild ist Sicht, wenn es gesehen wird, und es wird gesehen, wenn die Schau in ihm und durch es entsteht, so wie
18 Bichsel, Peter: Der Leser. Das Erzählen. Frankfurter Poetik-Vorlesungen, Frankfurt a.M.
(Luchterhand) 1989 (5. Aufl.), S. 10-11. 19 Bichsel, Peter: Von der Erfindung der heiligen Schriften, in: Über Gott und die Welt
(wie Anm. 17) S. 170 ff.
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die Schau nur sieht, wenn sie mit und in dem Bild gegeben ist. Zwischen Bild und Sicht liegt nicht Nachahmung, sondern Teilhabe und Durchdringung.“ 20 Der Medienwechsel vom Narrativ zum Bild ist wichtig, er ist eine Schwelle, die im Kunstunterricht permanent reflektiert werden muss. Die Angel, an welcher Bild und Text gemeinsam hängen, ist das Gleichnis in seiner Fähigkeit, das Sichtbare mit dem Unsichtbaren zu verknüpfen. Ich schlage hier einen Wechsel in der Terminologie vor und brauche künftig den benjaminschen Begriff ‚Allegorie’ als Form des Gleichnisses, das vom Erzählerischen ins Bildliche gelangt. Was nämlich die Allegorie im Feld der bildenden Künste weit über den Barock hinausweisend verrichtet, so Benjamin ausdrücklich, ist, einen Zwiespalt einzuführen zwischen theologischer und künstlerischer Intention. Die Allegorie, weil sie ihre „kritische Zersetzung gewissermaßen in sich trägt“, verweist auf eine Wahrheit, die gerade auch im Religiösen, untröstlich bleibt.21
Fabian Hipp, Auferstehung Jesu (2010), Tintenstrahldruck
20 Nancy, Jean-Luc: Noli me tangere, (wie Anm.3), S. 17. 21 Damit verwende ich Benjamins Begriff der Allegorie aus dem Trauerspielbuch in:
Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften I,1, S. 352f. Die Definition des Allegorischen steht hier nur begrifflich, nicht logisch, jener von Nancy entgegen, der die Allegorie als Zurechtstutzung des Gleichnisses von diesem deutlich absetzt. Vgl. Nancy, Jean-Luc: Noli me tangere, S. 12.
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Ein Student wollte sich nicht mit dem biblischen Gleichnis und seiner produzierten Sicht auf das Unwahrscheinliche abfinden, sondern dieses ausmalen und plausibilisieren. Man könnte sicher auch sagen: Er wollte es normalisieren. Ein Weg, den viele Künstler zurücklegen, indem sie das Unwahrscheinliche und das Jenseits medientechnisch ‚verorten‘. Das ist kulturell gesehen nicht naiv, sondern ziemlich bedeutsam – wie die Ausstellung Medium Religion am ZMK in Karlsruhe 2008 umfänglich belegte. „Religion im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“, wie Boris Groys seinen Einleitungstext zum Katalog nicht ganz überraschend übertitelt, verlagert das religiöse Ritual in die Welt der digitalen Bilder, die die Sichtbarkeit von Zeichen und Wundern aus der Unsichtbarkeit digitaler Daten heraus generiert.22 Die studentische Illustration hängt an die medientechnische Ausmalung des Gleichnisses noch eine medizintechnische. Auch das ist sehr zeitgemäß: neben dem Internet ist die Medizin die größte Projektionsfläche für Religion und Erlösungstaten. Jesus ist hier also weder auferstanden noch tot, er hängt an einer Lebensverlängerungsmaschine. Johannes studiert eine Gebrauchsanweisung zur komplizierten technischen Installation, und Maria muss feststellen, dass sie das Skype-Bild ihres geliebten Toten im Bildschirm zwar empfangen, aber nicht berühren kann. Hier zeigt sich nun eventuell eine Grenze zwischen illustrativer Allegorie und ‚Allegorie’ im Sinne Benjamins oder ‚Gleichnis’ im Sinne Nancys. Das Gleichnishafte der Geschichte anzunehmen würde nämlich bedeuten, den Sinn offen zu lassen und zu akzeptieren, dass kein Bild das Gleichnis ausmalen kann, dass das Gleichnis immer nur auf sich selbst zurückkommt und dabei das produziert, was Nancy „einen Überschuss an Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit“ nennt. Für die Szene am offenen Grab heißt das, dass es eine Kluft gibt zwischen der ‚Repräsentation’ dieser Begegnung und der dahinter liegenden Auferstehung: die malerische Darstellung kann diese Imagination anregen, aber sie bleibt immer getrennt von einer Erzählung, die das Kernstück – die Wahrheit – ausmalt. Der Glaube als „bestimmte Sicht“ – nach Nancy – lässt sich nicht malen.23 Wenn die strukturelle Ähnlichkeit des religiösen Gleichnisses mit der modernen Kunst darin liegt, dass es mehr zu sehen gibt, als wir sehen,24 dann könnte dies ein methodisch entscheidender Punkt sein, wenn es um eine zeitgenössische Beziehung von Kunst und Glaube geht. Werke der modernen Kunst, insbesondere allegorische, enthalten wie religiöse Gleichnisse eine Botschaft für jemanden, der hören oder sehen will. Wer dies nicht will, 22 Groys, Boris: Religion.in.the.Age.of.Digital.Reproduction, in Groys, Boris, Weibel,
Peter (Hg.): Medium Religion. Faith. Geopolitics, Art., Köln (Buchhandlung Walther König) 2011, S. 23-29. 23 Vgl. Nancy, Jean-Luc: Noli me tangere, (wie Anm.3), S. 33f. 24 Nancy spricht hier ausdrücklich nur vom christlichen Gleichnis, das in seiner Per-
sistenz ein hartnäckiges Verhältnis hat zur ganzen modernen Kunst, Ebenda, S. 13f.
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dem verschließt sich der Sinn des Gleichnisses und der Sinn der Kunst. Damien Hirst ist der Künstler, der es am besten versteht, aus diesem ‚Sinn’ Cash zu machen.
Damien Hirst, Forgive Me Father for I Have Sinned (2006), Fliegen, Leim auf Leinwand, 102 x 137 x 10 cm
Auch wenn Damien Hirst mit genau dieser (Über-)Schätzung der Kunst zynisch umgeht, tilgt seine Arbeit diesen spezifischen Glauben (diese Sicht) nicht. Wer an die Kunst glaubt, der glaubt eben doch mehr und er sieht in den tausenden toter Fliegen und Fliegenlarven mehr als die niedrige Natur, die dem Nichts eines lackierten Objektes ausgeliefert ist.25 Hinter der zynischen Geste der Selbstanklage des Künstlers, der sich wohl um die Absolution eines Gottes schert, berührt das Bild etwas, was rätselhaft und heilig ist, was wir weder sehen noch berühren können. Der Tod oder das Nichts und auch die Frage nach der Schuld – und sei es die alte Frage nach der Schuld des Künstlers, der sein Material tötet, um es in Kunst zu verewigen. Die Frage bleibt unlösbar verstrickt mit dem Triptychon der toten Fliegen, deren Sichtbarkeit eben so glänzend ist wie die Unberührbarkeit und Unsichtbarkeit ihres ‚Gestorbenseins’. Auch wenn Hirst ‚unglaublich’ viel verdient mit seiner Kunst: Was er bedient, ist keine bürgerlich-private Kunstreligion, die nach Erlösung durch Transzendenz strebt, sondern eine ziemlich ungemütliche Gottlosigkeit, in der sich die gemeinschaftlich relevante Frage nach dem Nichts, nach der Schuld, nach der Sünde nirgendwo mehr richtig artikulieren kann. In diesem Sinn ist die Arbeit eigentlich nicht 25 Diesbezüglich greift Wolfgang Ullrichs Essay Ikonen des Kapitalismus. Moderne Kunst
zwischen Markt und Transzendenz zu Damien Hirst zu kurz. Er verkürzt das Problem des Glaubens grundsätzlich, in dem er es in der „Sehnsucht nach dem Erhabenen“ unterbringt. Ullrich, Wolfgang: An die Kunst glauben, Berlin (Wagenbach) 2011, S. 90-112.
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konsumierbar, sondern gewalt- und mitteilsam zugleich, wie alle gelungenen allegorischen Arbeiten.
Mark Wallinger, Angel (1997), Video, Ton, 5:00
Mark Wallinger ist einer der britischen Künstler, der sich in seiner Arbeit am intensivsten mit dem Verbleib sakraler Gesten in profanen Alltagskulissen auseinandersetzt. Ähnlich wie Hirst, aber grundsätzlicher, geht es ihm dabei um eine bestimmte Unübersetzbarkeit des religiösen Sinns in die säkulare Gegenwart und die Rolle des Künstlers, der in der Videoarbeit Angel als Engel namens blind faith auftritt. Die Szene spielt in der Tube Station Angel im Londoner Stadtteil Islington. Obschon bewegtes Bild, ist sie allegorisch zu lesen. Der Engel geht die Treppe hinunter und rezitiert einen Text. Es sind immer dieselben Verse, der Anfang von allem, nämlich die ersten Verse des Johannesevangeliums: „In the Beginning was the Word and the Word was in God and God was the Word.“ Der Text ist aber weitgehend unverständlich. Wallinger geht bei dieser Arbeit offensichtlich davon aus, dass er als Engel nicht zuerst ein Botschafter göttlicher Rede, göttlicher Heilspläne ist, sondern ein Botschafter und Leser Benjamins, der sich hier als ‚blinder Glaube’ unter die Menge mischt – mit einer Botschaft, die eigentlich ‚unerhört’ bleibt. Für diesen (baudelairschen) Flaneur oder „man of the crowd“ (Poe), der nach Benjamin unbekannt, aber in der Mitte der Menge sich bewegt und eingeschlossen bleibt in die Mechanik des Großstadtlebens,26 gibt es keinen Himmel, sondern Untergrund, keine Leiter, sondern eine Roll26 Benjamin, Walter: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapita-
lismus (um 1914), in: Gesammelte Schriften I,2, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1991, S. 537-569.
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treppe, die immer in Bewegung und doch statisch ist. Die Allegorie als ‚Dialektik im Stillstand’ springt hier über ins Dinghafte, Sichtbare und ist damit eigentlich das Gegenteil einer Botschaft. Wallinger unterläuft nun das didaktische Moment der Allegorie mit einem technischen Trick: Der Film läuft nämlich rückwärts. Damit werden die Vektoren der Vertikalen vertauscht: Jene, die nach oben fahren – nach religiöser Ikonografie die Erlösten, die zu Gott fahren –, blicken nach unten. Die Verdammten zeigen dem Abgrund, in den sie gleiten, den Rücken. Der Engel, weil er ebenfalls rückwärts die Treppe hochgeht, bleibt an Ort, am Ort der Verkündung. Für diese Verkündung hat Wallinger den Bibelvers rückwärts auswendig sprechen gelernt. Beim Rückwärtsabspielen des Films wird er wieder vorwärts gedreht, bleibt aber durch diese Verdrehungen schwer verständlich, wie ein langsam unleserlich gewordener Text. Begleitet wird er durch Händels Musik aus Zadok the Priest. Latour spricht in Bezug auf die religiöse Rede von ihrer notwendigen Enttäuschung und hält fest, dass sich – nähme man alle Botschaften, die Engel verkünden in der Bibel, zusammen – nicht viel an Informationsgehalt ergäbe. Er folgert daraus, dass die Engel gar keine Botschaften überbringen, sondern das Leben derer verändern, an die sie sich wenden.27 Hier ändert sich aber nichts. Die Geschichte trägt nicht mehr, die Botschaft bleibt unerhört, die Menschen bleiben in ihren Pfaden. Auch als postsäkulare Allegorie trägt diese Arbeit mithin jenes kritische Potenzial ihrer Zersetzung in sich und fordert heraus, was offenbar nur blind zu haben ist: den Glauben. Aber: sie weiß ihren Text, das heißt, sie versucht den biblischen Text im Medientransfer zu retten. Der geschriebene Text, das Wort Gottes, im protestantischen Sinn das ursprüngliche Medium der Religion, der in keine so genannte Verkörperung ganz übersetzbar ist, wird durch Wallinger zwar buchstabentreu wiederholt, aber nicht rekonstruiert als Ursprung, sondern für immer ‚verdreht’. An dieser Stelle ist nochmals auf eine Definition des Religiösen zurückzukommen, auch im Sinne einer konfessionellen Unterscheidung. Für viele Studierende scheint diese nämlich keine Rolle zu spielen, weder für die Kunst im allgemeinen, noch für ihre eigenen Arbeiten. Gerade weil die Prägung vor Ort so deutlich katholisch ist (vergleiche Teil 3 dieses Readers), kann das Verständnis von ‚Gleichnis’ im katholischen Sinn (mit Nancy) und ‚Allegorie’ im jüdischprotestantischen Sinn (mit Benjamin und Wallinger) hier thematisch werden. Ging es bei Noli me tangere ganz wesentlich um ein religiöses und bei Nancy auch ethisches Verständnis dessen, was wir nicht berühren können als Problem des Bildes, geht es hier um ein Problem der Schrift. Die Allegorie bei Wallinger erlaubt die visuelle Übersetzung von Schriftsinn in Bilder nicht, sie sucht sie nicht einmal. Umso mehr bleibt der Engel verbunden mit dem Text, dem die Allegorie entrissen ist. Hier kann auch an die An27 Latour, Bruno: Jubilieren. Über religiöse Rede, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 2011, S. 49.
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fangshypothese angeschlossen werden, dass Kunst und Religion dort zu einer interessanten Reibung kommen, wo sie die Lehre, das Dogma und den Bezug zur Theologie suchen, im präzisen Bild- oder Wortsinn. Blind zu glauben, um in Wallingers Metaphorik zu bleiben, ist ein Privileg der künstlerischen Allegorie, nicht aber ihrer hermeneutischen Aneignung. Damit wäre eine Bewegung abgeschlossen, in welcher Glauben und Verstehen sich sehr nahe kommen können, ohne jenen schöpferischen Kern der theologischen Lehre, den Benjamin ihr beimisst und der sich nur im Widerstreit mit dem Künstlerischen zeigt28, aufzulösen. Eine der Arbeiten, die im Verlauf des Projektmoduls entstanden, war eine Performance, die sich auch auf einen Text stützt, der bewusst außerhalb der christlichen Religion bei den Weisen der griechischen Antike anzusiedeln ist. Der wichtigere Text, auf den sie sich stützt, ist aber ein ungeschriebener, nämlich die religiöse Form des Rituals. Viele Arbeiten der zeitgenössischen Kunst haben im Verlauf des 20. Jahrhunderts und spätestens seit Beuys mit der Überführung des Rituals in die Performance genau diese religiöse Form aufgesogen. Eine der am meisten beachteten Arbeiten, die auf der Folie der heiligen Audienz aufbaute, war jene der serbischen Künstlerin Marina Abramovic 2011 im MOMA New York : The Artist is present, eine 736 Stunden dauernde Performance, für welche das Publikum bis zu acht Stunden Wartezeit in Kauf nahm, um für einen Moment der Künstlerin von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu sitzen. Dieses solistische Ritual, in welcher sich der säkulare Künstler, die säkulare Künstlerin als Erlösungsfigur inszeniert, ist ein wiederkehrendes Motiv der Kunstgeschichte.29 Anna Matter und Rahel Lüchinger ging es mit der Prozession De mortuis nihil nisi bene nicht um diese solistische Form der Erlösung. Allerdings hatten sie mit ihrem kleinen Bestattungsritual auch Großes im Sinn. Die Requisiten waren zunächst denkbar einfach: eine Urne, schwarze Kleidung, eine rote Blume, eine Trompete. Damit führten sie die Gruppe aus dem Atelier hinaus in einer Prozession, die zu einer kleinen Grabstätte in einem verborgenen Winkel des Hochschulgebäudes führte. Ein codiertes Schild auf dem improvisierten Grabsockel zeigte an, wer oder was bestattet würde. Lesbar war das Schild aber nur mit Hilfe des iPhone Apps i-inigma, dessen sich die Umstehenden bedienen mussten, um die Botschaft zu erhalten: das Grabmal/die Urne gehörte den „leer gewordenen Bildern“. In ihrer Dokumentation präzisierten die beiden, sie gedächten der leer gewordenen religiösen Bilder. Weil sich ihnen der Glaube nicht 28 Vgl. Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders.: Gesammelte
Schriften I.1, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1991, S. 353. 29 Die Arbeit von Wallinger wäre in gewisser Weise auch hier einzuordnen, weitere
Beispiele finden sich von Beuys bis Schlingensief, vgl. dazu auch die Beispiele im Beitrag von Johannes Rauchenberger in diesem Band.
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mehr im alten christlichen Symbolsystem und seinen visuellen Codes erschließe, seien die religiösen Andachtsbilder für sie leer geworden. Sie hatten diese Wirkung im Verlauf des Moduls an sich erprobt, beim Besuch von Kirchen und Klöstern, auf Pilgerwegen und in Messen. Der Glaube sei nicht zurück gekehrt. Die Arbeit war insofern auch eine Reflexion des Lernprozesses innerhalb unseres Moduls, im Verlauf dessen sich das Verständnis für das Religiöse geändert hatte. Die beiden meinten es sehr ernst mit ihrer Prozession, was sich auf die Anwesenden übertrug: Man fühlte sich als Trauergemeinde ohne bestimmten Toten, das Religiöse stellte sich über das gemeinsame Ritual ein, die Form war glaubwürdig und somit auch verbindlich. Das war wohl der springende Punkt, denn auf simple Weise führten die beiden Studentinnen damit zur Definition des Religiösen von Durkheim zurück: zum Glauben, der durch eine Praxis erzeugt wird, nämlich durch das Ritual. Gleichzeitig haben sie die medienbasierte Seite des Religiösen beherzigt: Das Geheimnis der ‚verstorbenen’ Bilder, diese eigene Form von Gedenken kann nur in medientechnischer Übersetzung decodiert werden.30 Die beiden Studentinnen haben nun durch den Akt des Begräbnisses die Religion und den Glauben nicht einfach fallen lassen, sondern haben sie durch diese Bestattung im Gedächtnis hinterlegt. In einem gemeinschaftlichen Akt, an dem sich alle beteiligen konnten, die wollten – ohne zu wissen, worum es geht, der Form der Prozession vertrauend. Hilfreich war dazu sicher auch die Trompete, die den akustischen Teppich legte, klagend, aber weltlich. Wenn die Bilder auch leer geworden sind – im religiösen Sinn – so gibt es doch nichts als Gutes („nihil nisi bene“) von ihnen zu lernen, so offenbar das (durchaus postsäkulare) Fazit, das diese Arbeit abgab.
D AS H INTERLEGTE UND DIE F R AGE DER G EMEINSCHAF T Diese Geste des Hinterlegens in der Form der Bestattung verweist nicht nur auf die Ursprünge der Religion, sondern auf das Geheimnis der Gemeinschaft, mit allen Komplikationen, wie Jean-Luc Nancy sie seit 1983 in seinen Werken ausführt. Soziale Allegorien, Gleichnisse, Erzählungen sind postsäkulare Rituale, die auf eine Gemeinschaft verweisen, nicht auf eine Privatreligion und auch nicht nur auf die Figur des Künstlers als Erlöser und Märtyrer. Alles Gleichnishafte oder Allegorische beruht auf einer unerlösten Seite, auf einem Geheimnis, das über die Figur des Künstlers oder der Künstlerin hinaus auf ein Geheimnis der Gemeinschaft hinweist. Ist das Gleichnis einerseits eine Mit-teilung, die mit 30 Für eine genaue produktionsästhetische Lektüre dieser Arbeit vgl. Nika Spalingers
Beitrag in diesem Band.
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Teilen zu tun hat (und deshalb Gemeinschaft impliziert), bleibt diese gleichzeitig undarstellbar in dem Sinne, als sie sich auf ein Gemeinsames bezieht, das nicht ausgeplaudert werden kann. Deshalb halte ich die Geste des Hinterlegens einer Leere, wie die Performance sie zeigt, für wichtig. Sie ist mehr als das, was der Nihilismus zu bewerkstelligen meint, nämlich die Leere mit sich selber abzudichten.31 Nancy hat seine Schrift Die undarstellbare Gemeinschaft nach dem 11.9.2001 kritisch kommentiert unter dem Titel Die herausgeforderte Gemeinschaft – auch angesichts der Gefahr von Religionsgemeinschaften. Die zentrale Herausforderung an die undarstellbare Gemeinschaft liege in der Einsicht, dass es kein Miteinander ohne Gegeneinander gibt, weil wir immer nicht nur miteinander sind, sondern uns auch entgegenstehen. Er nennt es so: ein „Zusammensein ohne Zusammenfügen“, manchmal nur das Teilen eines Ortes.32 Wenn wir im Kontext von Hochschullehre fragen, in welcher Form sich das Religiöse in der Kunst der Gegenwart als etwas Gemeinschaftliches oder eventuell sogar als etwas Politisches zeigt, dann liegt die Antwort in dieser Richtung einer Aneignung, die ihre Gebrochenheit mitthematisiert, dekonstruktiv, mitteilsam und nicht ganz erkaltet vor den sakralen Resten der Ikonografie und Riten. Dazu braucht die künstlerische Geste theologische und kulturwissenschaftliche Konzepte, um nicht der Esoterik oder einer naiven Privatreligion anheim zu fallen. Man kann den Text der Religion nämlich erinnern, das Dogma im Allegorischen bewahren – wie Wallinger dies in seiner Arbeit Angel tut –, weil das Allegorische den kleinen Zwiespalt im Herzen der religiösen Lehre offenhält. Religion könnte dann ihrem alten Wortsinn nach ein Band sein, das zusammen bringt, ohne zusammen zu fügen. Der Antagonismus von profanen und sakralen Zeichen, mit welchen zeitgenössische Kunstwerke operieren, sollte also nicht unbedingt zur Alternative führen, säkular oder religiös aufgenommen zu werden. Im Sinne einer Ästhetik des Postsäkularen ginge es eher darum, die Struktur des Gleichnisses als symbolische Form ernst zu nehmen, als eine Struktur, deren sakraler Charakter nicht getilgt werden kann, sondern die ihre Spannkraft gerade aus der Unauflösbarkeit des Gleichnisses bezieht. Dabei wird eventuell auch verständlich, was das Geheimnis zeitgenössischer Kunst ausmachen könnte oder ausmacht: dass Wahrheit sich nur im Entzug, in der Unberührbarkeit und im Glauben an ein Abwesendes, nicht Verfügbares zeigt. Das ist der gemeinsame Einsatz von Kunst und Religion. Wenn an diese Wahrheit dann auch die Frage nach einem politischen Sinn von Religion gestellt wird – von studentischer Seite aus gestellt werden muss –, 31 Vgl. Nancy, Jean-Luc: Dekonstruktion des Christentums, Zürich/Berlin (diaphanes)
2008, S. 10. 32 Nancy, Jean-Luc: Die herausgeforderte Gemeinschaft, Zürich/Berlin (diaphanes) 2007,
S. 31.
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dann lässt sich zum Abschluss auf das kleine freche Bändchen des belgischen Kunstwissenschaftlers Thierry de Duves verweisen. Unter dem Titel: Encore un effort humain si vous voulez devenir post-chrétien! zeigt er auf, warum die Moderne – mit ihren revolutionären und aufklärerischen Parolen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – den Austritt aus der Religion keineswegs begründet hat. „Liberté, Egalité, Fraternité“ seien im Gegenteil, so de Duve, nur aus den christlichen Maximen des Paulus Glaube, Hoffnung, Liebe ableitbar. Deshalb könne man aus dem Religiösen so wenig austreten wie aus dem Politischen. Die Werte sind aufeinander bezogen, verstrebt durch den Glauben, insofern Glauben heißt, das Ungewisse als Dimension des Menschlichen anzuerkennen.33 Das Rätsel des Menschseins ist somit in Kunst und Christentum viel besser aufgehoben als in den wissenschaftlichen Systemen, die das Christentum abzulösen meinen, um das Menschliche aufzuklären. Dass wir mit dem Vergangenen, mit dem Toten, dem Fortgehenden, dem Unbegreiflichen und Abwesenden leben, ohne es berühren zu können – Noli me tangere – wäre also nicht nur ästhetisch und menschlich, sondern auch politisch das Wesentliche, das immer wieder zu Überprüfende.
33 de Duve, Thierry: Auf, ihr Menschen, noch eine Anstrengung, wenn ihr post-christlich
werden wollt! Zürich/Berlin (diaphanes) 2009.
Wem gehören religiöse Symbolsysteme? Neue Formen des Religionsunterrichts und die Vermittlung religiöser Symbole Ansgar Jödicke Die Frage im Titel dieses Beitrags ist etwas ungewöhnlich. Gemeint ist – wenn wir schon in der juristischen Sprache bleiben wollen – keine Frage des Besitzes, sondern eine des Eigentums. Wer verwendet religiöse Symbole mit welchem Recht? Die juristische Metapher soll hier als Stimulus dienen, um Fragen zu erschließen, wenn wir von Religion, Kunst und der Vermittlung religiöser Symbole im Religionsunterricht sprechen: Wer produziert religiöse Symbole, wer verwaltet sie, wer kontrolliert ihren Gebrauch? Die Kirche? Die Pfarrer? Die Theologie? Oder ist es jeder einzelne Mensch, unabhängig von seiner sozialen Stellung? Wer vermittelt im Religionsunterricht religiöse Symbole an wen und zu welchem Zweck? Im Zusammenhang der Tagung 1 gelten die gleichen Fragen für Künstler: Mit welchem Recht benutzen sie religiöse Symbole, insbesondere dann, wenn Sie sich nicht als religiöse Künstler verstehen? Leihen Künstler religiöse Symbole aus? Was geben sie mit ihrer Anleihe wem wieder zurück? Mit welchem Selbstverständnis lässt sich eine künstlerische Botschaft auf der Basis religiöser Symbole entwickeln? 2 In verschiedenen einflussreichen Strängen der Religionstheorie werden die Grundbausteine der Religionen als Symbole begriffen.3 Doch der Begriff Symbol ist auch im populären Religionsverständnis weit verbreitet. Gemeinhin 1 Der vorliegende Beitrag geht wie die folgenden auf die Tagung Beühren und Essen im
Kontext von Religions- und Kunstunterricht zurück, die im Rahmen des Forschungsprojekts Holyspace, Holyways im Mai 2010 im Kloster Engelberg stattfand. 2 Die Frage, die Andreas Mertin in seinem Beitrag stellt, ob sich eine religiöse Bot-
schaft auf der Basis künstlerischer Symbole entdecken lässt, kann also auch umgedreht werden. 3 Vgl. z.B. Geertz, Clifford: Religion as a Cultural System, in: Banton, Martin (Hg.): An-
thropological Approaches to the Study of Religion, London (Tavistock Publications) 1966,
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gelten Symbole als vieldeutig. Dabei wird die Mehrdeutigkeit von Symbolen in der Regel als Mehrdeutigkeit der Referenz verstanden. Ein Symbol, d.h. seine materiale Repräsentation, ermöglicht unterschiedliche, wenngleich nicht beliebige Bezüge auf Referenten. Im Folgenden soll jedoch vor allem auf die unterschiedlichen Verwendungskontexte von Symbolen hingewiesen werden. Am Beispiel der neuen Formen des Religionsunterrichts lässt sich zeigen, dass die Verwendung religiöser Symbole in der Hand unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure liegt (hier: Kirchen oder Schulbehörden) und entsprechend unterschiedliche Verwendungsformen religiöser Symbole institutionalisiert werden. Der hier vorgeschlagene Begriff der „Verwendung“ soll nicht rationalistisch missverstanden werden. Es geht mir lediglich darum, darauf hinzuweisen, dass die gesellschaftliche Prägung einer bestimmten religiösen Bedeutung eines Symbols auch über die Festlegung seines Verwendungskontextes geschieht und dass somit religiöse Symbole in einer Gesellschaft in verschiedenen Verwendungskontexten vorkommen. Neben idiosynkratischen und individualistischen Verwendungen sind vielfältige Formen gesellschaftlich relevant: ästhetische, folkloristische, ironische, museale. Individuelle Verwendungen und idiosynkratische Deutungen können gesellschaftlich verborgen bleiben oder den Keim zur Entwicklung neuer Religionsgemeinschaften enthalten. Deshalb ist es religionsgeschichtlich der Normalfall, dass in ein und derselben Gesellschaft dieselben symbolischen Bestände in verschiedener Auslege- und Praxisordnungen existiert. Von der Organisation religiöser Gruppen, ihrer Macht und dem Verhalten anderer gesellschaftlichen Akteure hängt es ab, wer mit welchem Selbstverständnis diese Verwendung festlegt. Der Religionsunterricht ist ein solcher Fall, an dem die Beteiligung verschiedener Akteure zu ganz unterschiedlichen Verwendungsweisen und Bedeutungskontexten religiöser Symbole geführt hat. Religionsunterricht stellt eine komplexe Situation für Mikrostudien dar. Zur Klärung möchte ich zwei unterschiedliche Perspektiven vorausschicken: die Vermittlungslogik und die Institutionenlogik.
D IE V ERMIT TLUNGSLOGIK Die Verwendung religiöser Symbole im Religionsunterricht lässt zunächst an einen Vermittlungs- und Sozialisationskontext denken. Religionsunterricht ist
S.1-46, oder ganz anders: Sperber, Dan: Über Symbolik, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1975.
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eine wichtige Institution der Vermittlung religiöser Symbole 4 , wobei diese Vermittlungsform alles andere als selbstverständlich ist. Der Erwerb von Kompetenz im Umgang mit religiösen Symbolen geschieht in den Religionen nur in Ausnahmefällen durch explizites Lernen. Für die elementare religiöse Sozialisation dominiert die Imitation, das ‚learning by doing‘. Formen der rituellen Aufnahme (rites de passage, Initiationsriten) dienen normalerweise nicht zur Einführung in eine Religion. Die Spannweite ist groß, aber normalerweise vermitteln sie nur wenig Wissensstoff. Das in den asiatischen Religionen weit verbreitete Lehrer-Schüler-Verhältnis ist hingegen stärker auf religiöse Spezialisten ausgerichtet und nicht zur Vermittlung eines religiösen Grundwissens gedacht. Auch in der Geschichte des Christentums ist Religionsunterricht kein selbstverständliches Vermittlungsinstrument: Zwar enthält das sehr früh nachweisbare Katechumenat Elemente des Unterrichtens, aber was genau gelernt wurde, ist kaum bekannt.5 Immerhin lässt das Vortragen von Gelerntem (die „Rückgabe des symbolon“) darauf schließen, dass der Text memoriert werden musste und also auch anders als im religiösen Kontext gesprochen wurde. Das Lernen von Texten ist in vielen schriftgebundenen Religionen Bestandteil religiöser Sozialisation. Im Christentum entwickelt sich mit der Reformation und Gegenreformation erst langsam eine solche Lernkultur, die auf die Aneignung von Texten (v.a. Katechismus) hinauslief und für die der Religionsunterricht des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts typisch ist. Die Steigerung des Lernstoffes und die auf Effizienz ausgerichtete Aneignung religiöser Symbole im schulischen Vermittlungskontext fallen in die Zeit der Entstehung des staatlichen Schulwesens. Gleichzeitig beginnt die Theologie das Verhältnis religiöser Symbole zu ihrer praktischen Wirkung zu reflektieren. Mit Schleiermacher entwickelt sich die so genannte „praktische Theologie“, die mit der Reflexion auf das Verhältnis von Praxis und Theologie auch die Verwendung religiöser Symbole in den Blick nimmt und den Weg für die Disziplin der Religionspädagogik ebnet. Die klassische, vom amerikanischen Religionspädagogen George Albert Coe gestellte Frage „Can religion be taught?“ (1909) ist noch ganz an der Vermittlungslogik orientiert, ebenso wie der evangelische Theologe, Richard Kabisch, mit seinem verbreiteten „Wie lehren wir Religion?“, der zwischen den religiösen Symbolen und der innerlichen Religion unterscheidet: „Der Religionsun-
4 Für die religiöse Sozialisation wird dennoch in der älteren soziologischen Literatur
die Familie als wichtiger eingestuft. Vgl. die klassische Position von Vaskovics, Laszlo A.: Familie und religiöse Sozialisation, Wien (Notring) 1970 mit Sabe, C.J.: The crisis in religious socialization: an analytical proposal, in: Social Compass 54/1, 2007, S. 97-111. http://scp.sagepub.com (ges. am 28.2.2012). 5 Paul, Eugen: Geschichte der christlichen Erziehung, Bd. 1, Freiburg i.B. (Herder) 1993.
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terricht will objektive Religion vermitteln, um subjektive zu erzeugen.“6 Die religiösen Symbole sind hier zwar nicht einfach Mittel zum Zweck – jedenfalls nicht Selbstzweck – aber sie führen zur subjektiven Religion! Insgesamt rückt die subjektive Sicht im Laufe des 20. Jahrhunderts immer stärker in den Mittelpunkt der religionspädagogischen Konzepte, was sich versuchsweise als ‚Pädagogisierung‘ der Religion bezeichnen ließe. Die so genannte „Wende zum Subjekt“ bzw. die „Korrelation“ (Tillich) zwischen der subjektivexistentiellen Lebenswelt und der religiösen Symbolwelt bestimmt die an den Individualismus des ausgehenden 20. Jahrhunderts angepasste Vermittlungslogik.
D IE I NSTITUTIONENLOGIK Die Verwendung religiöser Symbole im schulischen Religionsunterricht ist wesentlich durch die Institution der Schule geprägt, die sich in allen europäischen Ländern im 19. Jahrhundert etabliert. Die Kulturtechniken Lesen und Schreiben sind für Militär und Verwaltung der entstehenden Nationalstaaten bedeutsam und für Schreib- und Leseübungen werden bis ins 20. Jahrhundert hinein selbstverständlich biblische Texte verwendet. Die religiösen Symbole stehen damit in einem neuen Kontext und die sich entwickelnde pädagogische Eigenlogik bleibt, wie bereits erwähnt, nicht ohne Folgen für die christliche Theologie. In der immer stärker durch schulische Institutionen bestimmten Gesellschaft stellt sich die Frage, welche Rolle die Vermittlung von Religion im schulischen Kontext spielen soll, im Zusammenhang mit der Frage nach der Rolle von Religion in der Gesellschaft. In vielen Ländern wird die Einbindung der christlichen Kirchen in die Institution Schule beendet. Andere Länder wie z.B. Deutschland setzten sie modifiziert fort, indem eine vor allem im deutschen Sprachraum bis heute nachwirkenden Zweiteilung der Aufgaben zwischen parochialem und schulischem Religionsunterricht entwickelt wird. Der bereits erwähnte Richard Kabisch erklärt „dass die Kirche die religiöse Erziehungsarbeit des Staates, der zugleich über die weltliche Kultur der Zeit verfügt, als heilsam für sich selbst erkennt […] und ihm sowohl die Vermittlung der Kenntnis der objektiven Religion wie ihre Verschmelzung mit dem übrigen Kulturleben des Individuums überlässt. Dann bliebe ihr selbst [der Kirche, A.J.] noch ein besonderes Feld: die Erziehung zur Beteiligung am Leben der religiösen Gemeinschaft als solcher.“7 Die religiöse Sozialisationsaufgabe geschehe demnach in der religiösen Gemeinde, in der Schule wird hingegen 6 Kabisch, Richard: Wie lehren wir Religion? Versuch einer Methodik des evangelischen
Religionsunterrichts, Göttingen (Vandenhoek und Ruprecht) 1910, S. 101. 7 Ebenda, S. 7f.
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eine staatsbürgerliche Identität gebildet, in der religiöse Symbole zu einer allgemeinen Humanität beitragen. Diese (zunächst kulturprotestantisch gedachte) Kompatibilität religiöser Symbole mit Staatswesen und Gesellschaft wirkte im ganzen 20. Jahrhundert auch über die deutschsprachigen Regionen hinaus als enge Kopplung religiöser und gesellschaftlich-staatsbürgerlicher Sozialisation. Auf dieser Basis war Religionsunterricht in Deutschland seit 1919 in der Verfassung verankertes reguläres Schulfach. In einer Formulierung, die sich auch im späteren Grundgesetzt noch erhalten hat, heißt es, er werde „nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ erteilt. Gleichzeitig steht der Unterricht unter staatlicher Schulaufsicht. Beides qualifiziert den Unterricht als gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirche, wobei schon deutlich wird, dass dieses Konzept nicht ausschließlich drauf ausgerichtet ist, den Kirchen zu ermöglichen, ihren eigenen Nachwuchs an der öffentlichen Schule zu sozialisieren, sondern eine Zuordnung auf schulische und staatsbürgerliche Bildungsziele verlangt. Der Gebrauch religiöser Symbole ist hierbei nicht mehr auf einen Kompetenzerwerb gerichtet, der für die Religionsgemeinschaft erlernt wird, um in ihr bestehen zu können. Diese religiös-staatsbürgerliche Sozialisation verblieb die längste Zeit des 20. Jahrhunderts in der Hand der beiden großen christlichen Religionsgemeinschaften. Interessant ist, dass diese Kopplung auch die Veränderung staatlicher Identitätskonstruktion überdauert hat: Während im frühen 20. Jahrhundert – zur Blüte des Kulturprotestantismus – die nationale Identitätsbildung im Vordergrund stand, zeigte sich im späten 20. Jahrhundert die religiöse Seite staatsbürgerlicher Sozialisation in der Unterstützung einer personalen Autonomieentwicklung, der sich auch die Katechetik im Katholizismus immer stärker anglich. Als sich mit der Wende zum 21. Jahrhundert die religiöse Gegenwartsdiagnose zunehmend änderte und der Leitbegriff Pluralisierung die Deutungen zu beherrschen begann, konnte z.B. das deutsche Bundesland Hamburg einen interreligiösen „Religionsunterricht für alle“ einführen, der immer noch „nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft“ (nämlich der evangelischen Kirche und „in Absprache“ mit den Religionsgemeinschaften) durchgeführt wurde, aber dennoch religiöse Symbole für alle erschließen soll. Die Umdeutung von Katechese in gesellschaftlich-staatsbürgerliche Sozialisation ist hier besonders gut sichtbar.
N EUE F ORMEN DES R ELIGIONSUNTERRICHTS Im Bereich der Schule ist in den letzten zehn Jahren an verschiedenen Stellen Europas die Tendenz zu neuen Formen des Religionsunterrichts zu verzeichnen, bei denen der Staat die Verantwortung für Lehrpläne, Lehrerbildung und Durchführung des Religionsunterrichts übernimmt und das Fach anderen
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Schulfächern gleichstellt (eingeführt u.a. in verschiedenen Schweizer Kantonen sowie in Berlin, Schweden und Norwegen). Entgegen den aus dieser religionspädagogischen Tradition entwickelten Unterrichtsformen werden die staatlichen Formen in letzter Konsequenz als obligatorischer Unterricht implementiert, von dem sich niemand abmelden kann. Das ‚allgemein‘ gedachte Modell des konfessionellen Unterrichts funktionierte nur in einer Gesellschaft, in der die Zugehörigkeit zu einer der beiden grossen Konfessionen der Normalfall war. Die Argumente für einen staatlichen Unterricht sind ebenfalls staatsbürgerlicher Art:8 Die religiöse Pluralisierung fordere Grundkenntnisse über verschiedene Religionen. Gleichzeitig führe die voranschreitende Säkularisierung zum Verlust kultureller Grundkenntnisse über die eigene Religion. Umfangreiche Anpassungsprozesse auf didaktischer Ebene sind für derartige Unterrichtsformen nötig, die noch längst nicht abgeschlossen sind. Obwohl die Begründungen denjenigen des bereits erwähnten Hamburger Religionsunterrichts entsprechen, ist der Verwendungskontext in diesen Religionsunterrichtsformen gänzlich anders. Im Zusammenhang der Frage nach unterschiedlichen Verwendungsformen religiöser Symbole ist zu bemerken, dass den neuen Unterrichtsformen explizit der nicht-religiöse Umgang mit religiösen Symbolen zum Programm gemacht wird und von staatlichen Instanzen politisch durchgesetzt und verwaltet wird.
D AS B EISPIEL : E SSEN Das Motiv des Essens erlaubt es, die genannten Kontexte für das Verständnis der Verwendung religiöser Symbole im Religionsunterricht nochmals zu illustrieren. Essen ist ein Vorgang, der kulturwissenschaftlich immer wieder als symbolischer Akt verstanden wurde.9 Gerade weil Essen biologisch zweifellos notwendig ist, sind die konkreten Formen des Essens mit kulturspezifischen Bedeutungen aufgeladen. Religiöse Codierungen greifen nicht selten auf solche biologischen Basiselemente zurück.10 Typisch ist dabei, dass die ursprüngliche 8 Vgl. den Bericht meines Forschungsprojektes Religionsunterricht zwischen Reliogions-
gemeinschaften, im Rahmen des nationalen Forschungsprogramms NFP 58 Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft, http://www.nfp58.ch/d_projekte_jugendliche. cfm?projekt=76. (ges. am 10.2.2012). 9 Vgl. etwa Douglas, Mary: Ritual, Tabu und Körpersymbolik, Frankfurt a.M. (Fischer)
1986. 10 Vgl. Stolz, Fritz: Von der Begattung zur Heiligen Hochzeit, vom Beuteteilen zum
Abendmahl, in: ders. (Hg.): Homo naturaliter religiosus? Gehört Religion notwendig zum Mensch-Sein? Bern etc. (Lang) 1997, S. 39-64.
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Funktion in der religiösen Symbolisierung zurücktritt. Das Abendmahl sättigt nicht; ebenso wenig wäscht das Taufbad. Die biologische Funktion wird hier offenbar zurückgedrängt, dafür steigt die Handlungsregulierung und das Abendmahl sowie die Taufe bekommen ihren Ort in der christlichen Liturgie. In der Kodifizierung zum religiösen Symbol werden damit Freiräume der Referenz geschaffen, die gegenüber der physischen Funktion andere Bedeutungen von Sättigung und Waschung zur Geltung bringen können. Die Verwendung der religiösen Symbole bleibt dabei auch innerhalb der Bezugsgruppen umstritten und ist Gegenstand zahlreicher Auseinandersetzungen. Der Kanonisierungsprozess religiöser Rituale ist hier permanent um Klärung bemüht. Die Kreativität im Umgang mit Ritualen, sozusagen die religionsproduktiven Ressource, kommt jedoch in der Religionsgeschichte nie zur Ruhe. Regelmäßig stoßen unüberwindbare Gegensätze aufeinander, z.B. in der Frage, ob in den ökumenischen Gottesdiensten von evangelischen und katholischen Christen gemeinsam Abendmahl gefeiert werden kann, ob also der gesellige Charakter des Essens dieses gemeinsame Tun verlangt, oder ob die unterschiedliche theologische Interpretation des Rituals dieses Tun verhindern muss.11 Ein solcher Streit mag – ungeachtet anderer Aspekte – auch als Frage interpretiert werden, ob das Abhalten des Rituals primär von seinem rationalisierten Verständnis, der Dogmatik, her verstanden werden muss, oder ob auch der Eigendynamik des Essens Rechnung getragen werden muss. Ein gemeinsames Mahl, bei dem einige nicht mitessen dürfen, ist jedenfalls schwer vorstellbar – ein religiöses Ritual, an dem nicht einfach jeder teilnehmen kann, hingegen schon. Der Bezug auf das Essen bleibt in den religiösen Symbolen bestehen und ermöglicht z.B. auch die Frage, ob im Religionsunterricht gegessen werden soll bzw. kann oder darf. Während Eucharistie- bzw. Abendmahlsfeiern im frühen 20. Jahrhundert selbstverständlich im Kontext des Religionsunterrichts ihren Platz hatten, ist die Betrachtung künstlerischer Essens- oder Abendmahlsdarstellungen wesentlich mitteltbarer und in Hinblick auf die Repräsentationsform komplexer. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermuten Religionspädagogen und -pädagoginnen – im Zuge der beschriebenen Subjektorientierung des schulischen Religionsunterrichts der christlichen Konfessionen –, dass sich bei der Sakramentenpastoral an die unmittelbaren Erfahrungen des Essens auch im Religionsunterricht anknüpfen lässt. Auf dieser Basis wird die religiöse Symbolik des Essens zunächst zurück in die Praxis des Essens trans-
11 http://www.oekt.de/programm/oekumene_von_a_bis_z/abendmahleucharistie.
html (ges. am 10.2.2012).
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formiert und mit existenziellen Erfahrungen (z.B. des Hungers oder des Gemeinschaftserlebnisses) verknüpft.12 In anderer Weise – gleichwohl als Weiterentwicklung zu erkennen – hat die interreligiöse Pädagogik versucht, ausgehend vom gemeinsamen Essen auch gemeinsame religiöse Erlebnisse zu behandeln. „Gemeinsames Essen unter Beachtung der Vorgaben der Religionsgemeinschaften, Raumgestaltung mit religiösen Symbolen (Menora, Kreuz, Halbmond) und Tages- oder Wochenbeginn und -ende mit einem religiösen Impuls ermöglichen authentische Erfahrung religiös geprägter Lebensführung anderer.“ 13 Wie authentisch diese Erfahrung tatsächlich ist und inwieweit sie den religiösen Erfahrungen in den genannten Religionen entspricht, mag hier dahingestellt bleiben. Auffällig ist jedoch, dass hier in einer für die interreligiöse Pädagogik typischen Weise, ein religiöses Symbol außerhalb des originären religiösen Kontextes in den schulischen Kontext transferiert wird und dann mit allgemein-gesellschaftlichen Werten (z.B. Toleranz) verbunden wird. Für die neuen staatlichen Formen des Religionsunterrichts wäre es hingegen wesentlich, den religiösen Verwendungskontext zu unterbinden. Die verschiedenen Verwendungs- und Interpretationsmöglichkeiten zeigen, dass eine genaue Klärung der Ziele einer solchen Verwendungspraxis unumgänglich ist. Die Berufung auf einen elementaren biologischen und gesellschaftlichen Vorgang ist nicht selbsterklärend. Im Gegenteil könnte die Beobachtung, dass die biologische Seite des Rituals in der religiösen Codierung normalerweise eben gerade nicht mehr präsent ist, zur Einsicht führen, dass der Versuch, religiöse Rituale zu verstehen, gerade nicht bei der Erfahrung des Essens anknüpfen sollte. Entsprechende Konzepte bedürfen jedoch der Ausarbeitung.
A USBLICK Zum Schluss komme ich auf die Frage zurück, wem religiöse Symbolsysteme gehören. Die Frage war keine sinnvolle wissenschaftliche Forschungsfrage; sie diente hier nur als Werkzeug, um Fragen zu erschließen, an die man nicht sofort denkt, wenn man sich mit Religion befasst: Die Verwendung religiöser Symbole ist in keiner Weise aus sich selbst heraus evident und sie ist nicht auf einen (von 12 In einer kurzen, nicht repräsentativen Durchsicht verschiedener Praxisbücher zum
Religionsunterricht konnte ich jedoch das Thema Essen nur selten entdecken. Mag dies daran liegen, dass gerade bei diesem Thema die existentiellen Erfahrungen des Hungers in unserer Gesellschaft keinen Anknüpfungspunkt mehr darstellt? 13 Z.B. Verburg, Winfried: Juden, Christen und Muslime machen Schule. Ein interre-
ligiös ausgerichtetes Experiment des Bistums Osnabrück, In: Stimmen der Zeit 1/2011 München (Herder) 2011, S. 3-12.
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wem auch immer definierten) expliziten religiösen Kontext begrenzt. Dies gilt verstärkt in Zeiten und Regionen, in denen die politische Kontrolle über die Verwendung religiöser Symbole beschränkt ist. Die Verwendungskontexte werden gesellschaftlich ausgehandelt und unterliegen deshalb Verteilungskämpfen, die wiederum von gesellschaftlicher Machtverteilung abhängig sind. Es ist ein heute leicht durchschaubarer Irrtum zu glauben, dass religiöse Symbole einer Kirche gehören, da Kirchen den Symbolgebrauch weitaus weniger stark kontrollieren können als sie es vielleicht möchten und als beispielsweise eine Firma den Gebrauch ihres Logos kontrollieren kann. Es ist allerdings ein ebenso schwerer, heute nicht so leicht zu durchschauender Irrtum, wenn man daraus schließt, sie gehörten jedem einzelnen. Die Rolle der Kirchen wird meines Erachtens tendenziell eher unter- und die Möglichkeiten des Einzelnen werden hier tendenziell überschätzt. Der Religionsunterricht diente mir als Fallbeispiel für den Umgang der Gesellschaft mit religiösen Symbolen an einem prominenten Ort in der Öffentlichkeit. Der zunehmende staatliche Einfluss war in diesem Sinn ein Beispiel für damit verbundene, veränderte Vermittlungs- und Verwendungsformen von Religion. In den neueren Formen des Religionsunterrichts werden die religiösen Symbole nicht mehr in den Dienst der Religionsgemeinschaften, sondern (vom Staat) in einen nicht-religiösen Verwendungszusammenhang gestellt und damit der direkten Kontrolle durch Religionsgemeinschaften entzogen. An diese Beobachtungen lassen sich weiterführende Fragen anschließen, z.B. solche nach Parallelen und dem Verhältnis zu anderen Verwendungsformen und -kontexten. Parallelen zu dieser Tendenz zur kognitiven Religions aneignung finden sich im Phänomen der wachsenden Anzahl von Informationsbüchern, Information über Religion in der Presse und im Internet.14 Der Versuch zu versachlichen und auf die Verwendung religiöser Symbole durch Informationen einzuwirken ist selbst ein interessantes Phänomen der Religionsgeschichte. Die Anknüpfung an Theorien der Modernisierung, Säkularisierung und Individualisierung steht aus. Neben den neuen Formen des Religionsunterrichts finden sich auch künstlerische, ironisierende, journalistische etc. Repräsentationsformen von Religion. Möglicherweise lässt sich in diesem Rahmen der verbreitete Begriff des ‚Fundamentalismus‘ genauer situieren: ‚Fundamentalismus‘ wäre dann die Option – mit demonstrativer Gleichgültigkeit gegenüber anderen Verwendungsund Brechungskontexten –, auf einer rein religiösen Verwendung zu beharren.
14 Auch meine eigene wissenschaftliche Disziplin, die Religionswissenschaft, erfreut
sich wachsender Bekanntheit und hat ihrerseits Erfahrungen damit gesammelt, sich wissenschaftlich mit religiösen Symbolen zu befassen, ohne sich dabei von deren religiöser Botschaft affizieren zu lassen.
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Weiterführend ist auch die Frage, wie engmaschig die Verwendung religiöser Symbole von welchen Instanzen kontrollierbar ist und welche Formen die staatliche Verfügung über religiöse Symbole annehmen kann. Ein derartiges Beispiel staatlicher Kontrolle begegnete uns z.B. in der Klosterkirche Engelberg: Wem gehören die Bilder an der Decke? Darf die Schweizer Gesellschaft aus Gründen des Denkmalschutzes einen Zustand der Bilder wieder herstellen, der rein kunstgeschichtlich gerechtfertigt ist, weil das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft daran interessiert ist zu konservieren, was vor 130 Jahren gerade modern war? Oder hätte nicht auch eine Religionsgemeinschaft das Recht, einen gegenwärtigen Ausdruck zu finden und Altes niederzureißen? Die Unterstellung, Religionen seien konservativ, leitet hier in die Irre, weil sie die unterschiedliche Verwendung religiöser Symbole im Kunstkontext einerseits und in historisierenden Kirchenbauten andererseits verwischt. Der museale Umgang mit religiösen Symbolen entspricht jedenfalls nicht unbedingt dem aktuellen religiösen Ausdruck. Und der aktuelle religiöse Ausdruck in der zeitgenössischen Kunst ist nicht die einzige Form künstlerischer Aneignung religiöser Symbole; es gibt keine trennscharfe Unterscheidung zu zitierenden, ironisierenden oder provozierenden Bearbeitungen in der Kunst. Die Verwendung religiöser Symbole im Religionsunterricht durch politische Instanzen lässt sich deshalb auch nicht einfach als kulturelle Spur des Christentums begreifen oder zur christlichen Wurzel Europas stilisieren. Wenn der Staat die Gemälde der alten Klosterkirche erhalten lässt oder das Christentum im Religionskundeunterricht behandeln lässt, dann ist dies nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist die Veränderung des Verwendungskontextes, die immer auch zu Spannungen mit den Religionsgemeinschaften führen können, die ihrerseits um eine Festlegung der Verwendung bemüht sind.
Zeitgenössische Kunst im Religionsunterricht: Überlegungen zu einem religionspädagogischen Problem anhand der bildlichen Repräsentation von Essen Monika Jakobs Kunst und Religion sind Segmente von Gesellschaft. Als Milieus berühren sie sich nur selten; teilweise kommen sie sogar als konkurrierende Deutungssysteme zur Darstellung.1 Beide Milieus leiden darunter, dass sie als spezialisiert und als nur Eingeweihten zugänglich wahrgenommen werden, haben sie doch beide von ihrem Selbstverständnis her eine zentrale gesellschaftliche Bedeutung. Inhaltlich gibt es zwischen Kunst und Religion große Schnittmengen, die vor allem von der Theologie in den letzten Jahrzehnten reflektiert und gepflegt wurden. Dies spiegelt sich auch im Teilbereich der Religionspädagogik: Einerseits in der grundsätzlichen Theorie ästhetischen Lernens, andererseits in der Bedeutung von Kunstwerken als Medien religiösen Lernens.2 In der Religionspädagogik spricht man seit nunmehr fast 40 Jahren von einem Traditionsabbruch der religiösen Vermittlung. Er zeigt sich darin, dass 1 Vgl. z.B. Eggensperger, Thomas: Das Museum als Kathedrale? Versuch der Erfah-
rung individualisierter Religiosität, in: Dienberg, Thomas u.a. (Hg.): Woran glaubt Europa? zwischen Säkularisierung und der Rückkehr des Religiösen, Münster (Aschendorff ) 2010, S. 181-186. 2 Burrichter, Rita: Theologische Kunstvermittlung, in: Biehl, Peter u.a. (Hg.): Jahrbuch
der Religionspädagogik, Bd. 13: Kunst und Religion, Neukirchen-Vluyn (Neukirchener) 1997, S. 163-186; Gärtner, Claudia: Plädoyer für einen neuen Bilderstreit im Religionsunterricht, in: Garhammer, Erich (Hg.): Bilderstreit: Theologie auf Augenhöhe, Würzburg (Echter) 2007, S. 223-244; Goecke-Seischab, Margarete: Biblische Kunstwerkstatt: 8 Bildbetrachtungen und 60 Gestaltungsvorschläge, Lahr (Ernst Kaufmann) 2002; Lange, Günter: Bilder zum Glauben. Christliche Kunst sehen und verstehen, München (Kösel) 2002; Mertin, Andreas, Wendt, Karin: Mit zeitgenössischer Kunst unterrichten. Religion – Ethik – Philosophie, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2004.
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Kinder und Jugendliche im Religionsunterricht kaum noch über religiöse Erfahrungen und/oder Sachkenntnis verfügen. Das Interesse an den traditionellen Stoffen ist gering. Die hermeneutische Kluft zwischen dem Gegenstand und den Schülerinnen und Schülern wird größer, konkrete Lebensbedeutung von biblischen Texten und von Glaubenstradition ist nur schwer zu vermitteln. In diesen Zusammenhang ist der Einsatz von Bildern der Kunst im Religionsunterricht einzuordnen. Insbesondere die Beschäftigung mit moderner Kunst gilt als Möglichkeit, am Puls der Zeit und des Lebensgefühls zu sein und befindet sich in diesem Sinne auf der gleichen Ebene wie die Beschäftigung mit Populärkultur im Religionsunterricht. Spezifischer ist die Erwartung, wonach der religiöse Gehalt von Kunst sowie die besonderen Möglichkeiten des nicht sprachlichen Mediums zum Verständnis des religiösen Glaubens und der Glaubenstradition beitragen. Geht die Gleichung auf? Multipliziert sich nicht im didaktischen Prozess die schwierige Zugänglichkeit zu Religion und zu Kunst? Können sich ästhetische und religiöse Lernprozesse gegenseitig befruchten? Dieser Frage geht der vorliegende Beitrag beispielhaft anhand der bildlichen Repräsentation von Essen in religionspädagogischen Lehrmitteln nach. Dabei versuche ich die Perspektive einer der Kunst gegenüber offenen, wenn auch nicht spezialisierten Religionslehrperson einzunehmen – einer Lehrperson, die im Alltag des Unterrichts möglichst verantwortlich mit dem Bildmaterial umgeht, das ihr zur Verfügung steht.
W ELCHE B ILDER SEHEN WIR IN RELIGIONSPÄDAGOGISCHEN M ATERIALIEN UND L EHRMIT TELN ? Die bildliche Darstellung von Essen ist in der Religionspädagogik meist mit der Eucharistie verknüpft.3 Betrachtet man gängige Lehrmittel für den schulischen Religionsunterricht und Mappen für die Vorbereitung auf die Erstkommunion, kommt man zu einem ernüchternden Ergebnis. Der religionspädagogische Diskurs zum ästhetischen Lernen scheint sich noch nicht niedergeschlagen zu haben. Zwar enthalten viele neuere Religionsbücher Abbildungen von Kunstwerken, allerdings kaum in Verbindung mit der Eucharistie.4 Beim Thema Eucharistie entsprechen die illustrativen Darstellungen den dominierenden sprachlichen Referenzen zu Brot, Weizenkorn, Ähre und Wachstum. Der liturgische Vollzug in der Eucharistie ist meistens fotografisch abgebildet. Künstlerische Anleihen werden bei Da Vincis Abendmahl gemacht 3 Möglich wären auch bildliche Darstellungen von Speisewundern. Diese kommen je-
doch in den Materialien und Lehrmitteln selten vor. 4 Layout und Bebilderung der Lehrmittel wären ein ganz eigenes Thema.
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(bis hin zur Ausmalvorlage!), gelegentlich bei Chagall, dort mit Blick auf die jüdischen Quellen der Eucharistie. Bei der Verwendung der Bilder sind verschiedene Aussageintentionen zu erkennen: Die Wandlung in der Eucharistie steht gleichnishaft in Bezug zum wachsenden Weizenkorn. Jesus Christus ist für die Glaubenden lebensnotwendig wie Brot. Gemeinschaftlichkeit untereinander und mit Jesus Christus ist zentraler Aspekt der Eucharistie. Als nicht sprachliche Unterrichtsmethoden werden das Backen und Essen von Brot empfohlen. Die ethische Dimension der Eucharistie, des Teilens als symbolisches Handeln für weltweite Solidarität, wird auch vermittelt durch bildliche Darstellungen, die sich auf andere Kontinente beziehen (Motiv des Hungers/Mangels), oder durch ein Hungertuch.5 Die Bebilderung der Materialien, so wie sie sich mir präsentiert, verschafft jedoch keinen Zugang zum theologisch anspruchsvollen Verständnis der eucharistischen Wandlung von Brot und Wein zum Realsymbol des Leibes Christi. Bei den zitierten Kunstwerken ist eine vertiefte Auseinandersetzung nicht vorgesehen. Religiöse und ästhetische Lernprozesse können sich hier nicht befruchten, denn ein ästhetischer Lernprozess ist nicht vorgesehen.
B ILD UND RELIGIÖSES L ERNEN Die Frage des Einsatzes von Bildlichkeit im Dienste religiöser Vermittlung ist nicht neu. Die Problematik hat sich in der Moderne jedoch verschoben vom Kontext einer weitgehend analphabetischen Gesellschaft, wo Bilder eine unabdingbare Vermittlungsform sind, hin zum Kontext einer auf Text fokussierten schulischen Bildung, in dem Bilder als alternative, nämlich ästhetische Lernform verstanden werden. Das Urchristentum musste ohne Bilder auskommen, weil diese heidnisch besetzt waren. Erst im 3. Jahrhundert findet man vermehrt Bilder, das 4. Jahrhundert brachte den Kirchenbau. Biblisch-narrative Zyklen auf Sarkophagen und in den Katakomben wurden weiter entwickelt, wobei sich die christliche Bildsprache nicht-religiöser Motive und Erzählweisen bediente. Diese aber waren nur jenen verständlich, welche die dazu gehörige Geschichte schon kannten. Das Bild wird ab dem 6. Jahrhundert zum Kultobjekt, vor dem man innehält, sich verneigt, niederkniet, Kerzen anzündet, das man ehrfürchtig berührt 5 Beim Hungertuch handelt es sich um ein großes, kunsthandwerklich gestaltetes
Tuch, das während der Fastenzeit zum Auf hängen in der Kirche bestimmt ist. Es wird jährlich neu von einem kirchlichen Hilfswerk in einem Entwicklungsland in Auftrag gegeben. Die Motive sind meist biblisch geprägt und stellen überdies die Inkulturation des Christentums in die jeweilige Kultur dar.
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und küsst. Diese religiöse Praxis führt zu einem Bilderstreit, der beim Zweiten Konzil von Nicäa (787) verhandelt wird und schließlich mit einer Niederlage der mehr westlich orientierten Ikonoklasten – im Gegensatz zur Ostkirche – endet.6 Ihre Hauptargumente sind das alttestamentliche Bilderverbot und die Ablehnung des Bilderkultes als Rückfall in heidnische Praktiken des Götzendienstes. Die Bilderfreunde bezogen sich auf die Inkarnation Gottes in Jesus Christus, mit der sich Gott selbst über das Bilderverbot hinweg gesetzt habe. Inkarnation sei „die letzte Aus-Bildung des an sich selbst bildlosen Gottes in die Materie, von der die Gläubigen dann wieder aufsteigen können, vom Sichtbaren in das unsichtbare Licht Gottes.“ 7 Hinter diesem theologischen Argument verbirgt sich letztlich ein pädagogischer Anspruch, wie er schon von Papst Gregor dem Grossen (590-604 n.Ch.) geäußert worden war: „Bilder werden in der Kirche gebraucht, damit die, die die Schrift nicht kennen, wenigstens auf den Wänden mit den Augen lesen, was sie in Büchern nicht lesen können. Es ist nämlich etwas anderes, ein Bild anzubeten oder durch die Geschichte des Bildes zu lernen, was zu beten ist. Denn was für die Leser die Schrift, das bietet den Ungebildeten das Bild.“ 8 Von da aus spricht man von einem dreifachen Zweck der Bilder: • Unterrichtung der ungebildeten Leute • Verfestigung der Heilsgeschichte im Gedächtnis • Erregung des Gefühls der Frömmigkeit Durch Bilder lassen sich also Verstand, Gedächtnis und Gefühl ansprechen. Die im Westen bevorzugte Legitimation von Bildern kennzeichnet man gemeinhin als didaktisch, während in der Ostkirche der kultische, der mystische und sakramentale Zugang gepflegt wird. Allerdings weist Günter Lange in seiner Untersuchung über die katechetischen Formen des Bildes in der griechischen Theologie des 6. bis 9. Jahrhunderts nach, dass diese Trennlinie nicht so scharf sei. Auch in ihrer didaktischen Funktion, d.h. mit dem Zweck, an eine Bibeloder Heiligengeschichte zu erinnern, vermag die Bildbetrachtung9 Kräfte – gemeint sind Fantasie, spirituelle Kräfte und Einfühlungsvermögen in die Heils6 Lange, Günter: Der byzantinische Bilderstreit und das Bilderkonzil von Nicaia (787),
in: Hoeps, Reinhard (Hg.): Handbuch der Bildtheologie, Bd.1: Bild-Konflikte, Paderborn (Ferdinand Schöningh) 2007, S. 171-190. 7 Stock, Alex: Wozu brauchen Christen Bilder? In: Ders., Keine Kunst. Aspekte der Bild-
theologie, Paderborn (Ferdinand Schöningh) 1996, S. 17. 8 Ebenda. 9 Lange, Günter: Bild und Wort. Die katechetischen Funktionen des Bildes in der grie-
chischen Theologie des sechsten bis neunten Jahrhunderts, Paderborn (Ferdinand Schöningh) 1999, S. 278.
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geschichte – zu wecken. Im heutigen religionspädagogischen Sprachgebrauch ausgedrückt: Die Bildbetrachtung in didaktischer Absicht kann auch performativ sein, denn die Bilder aktualisieren, konzentrieren, bekräftigen und schaffen damit eine eigene Präsenz. So darf es nicht verwundern, dass das performative Potenzial der Bildbetrachtung in der Kirche zu ihrer Domestizierung geführt hat. Die Hinzufügung von Kommentaren, die Einhaltung strenger Gestaltungskriterien und schließlich vorgeschriebene Bilderkanones sind Belege dafür.
Ä STHE TISCHES L ERNEN IM R ELIGIONSUNTERRICHT HEUTE Im Zuge des problemorientierten Religionsunterrichts der 1970er Jahre, bei dem die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler den Ausgangspunkt des Unterrichts bildet, werden auch Kunstwerke als pädagogische Medien aufgewertet. Hier ist vor allem Folkert Doedens zu nennen.10 Ende der 1970er Jahre sind es dann Günter Lange und Alex Stock, welche gerade in der Respektierung der Eigenständigkeit der Kunst das entscheidende Potenzial für den Religionsunterricht sehen. Heute kann man drei Richtungen ästhetischen Lernens unterscheiden.11 Performativ ästhetisches Lernen: Ausgangspunkt für den Religionsunterricht sind die sinnlich-ästhetischen Objektivationen der konkreten Religion, wie z.B. das Ritual, die persönliche religiöse Praxis, aber auch künstlerische Darstellungen. Diesen kann man in einem rein rationalen Lernzugang nicht gerecht werden. Der Umgang mit religiösen Vollzügen erfordert neue kreative und performative Methoden im Religionsunterricht. Wahrnehmungsorientierte Ansätze: Ästhetik wird hier als Wahrnehmungslehre verstanden. Sie beschränkt sich nicht auf Kunstwerke oder auf die ästhetische Empfindung des Subjekts. Vielmehr ist der Ansatzpunkt grundsätzlicher: Er geht von der Parallelität von ästhetischer und religiöser Erfahrung aus, z.B. bei Unmittelbarkeit, Grenzerfahrung, Widerfahrnischarakter oder Verwandlung des Gegenständlichen auf symbolische Zeichenhaftigkeit hin.12 Dieser Ansatz 10 Doedens, Folkert: Bildende Kunst und Religionsunterricht. Theoretische Grundlagen
der Praxis, München/Stuttgart (Kösel/Calwer) 1972. 11 Im folgenden nach Gärtner, Claudia: Mehr als Bilder im Religionsunterricht. Ko-
operationen von Kunst- und Religionsunterricht berühren Grundvollzüge von Religion und Kunst, in: Theo-Web 7, Heft 1 Religionsdidaktik im Dialog – Religionsunterricht in Kooperation (2008), S. 158-171, http://www.theo-web.de/zeitschrift/ausgabe-2008-01/ (ges. am 14.2.2012). 12 Ebenda, S. 160.
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ist subjektorientiert. Er wendet sich, wie der obige, gegen eine rationalistisch verengte Unterrichtskonzeption und stellt die Förderung der grundlegenden Wahrnehmungskompetenz in den Vordergrund. Kennzeichnend hierfür sind Methoden, welche Erfahrungen evozieren und reflektieren. Kunstorientierte Ansätze: Das Kunstwerk steht im Mittelpunkt, der Lernprozess wird vom Kunstwerk her gedacht. Kunst gilt ausdrücklich als locus theologicus. „Kunstwerke besitzen für die Theologie entsprechend einen Erkenntnisgewinn, da ihnen ein bildnerischer, sprachlich nicht einzuholender Mehrwert eigen ist.“13 Diesen will man für den religiösen Lernprozess nutzbar machen. Kunstorientierte didaktische Ansätze in der Religionspädagogik rezipieren Ansätze ästhetischen Lernens in der Kunstdidaktik. Im religionspädagogischen Diskurs am intensivsten praktiziert wird die ästhetische Alphabetisierung nach Klaus Mollenhauer. Sie zielt auf die Kompetenz ab, selbständig ästhetische Objekte zu rezipieren. Mollenhauer bezieht sich auf den oben erwähnten Bilderstreit und betont: „[Ästhetische] ‚Lesefähigkeit‘ im Hinblick auf Bilder bedeutete für Gregor, ikonische Zeichen in einem homologen Kontext von Sprache, Handlung und Mythos zu lokalisieren.“ 14 Nachdem aber die Kunst ihre Autonomie erlangt hat, könne man von dieser ungespaltenen Welt nicht mehr ausgehen. Um zu einem Kunstwerk Zugang zu finden, muss man seine Codes ausmachen und die für seine Entstehung und Rezeption maßgeblichen kulturellen Regeln kennen. Das erfordert zunächst eine intellektuelle und eine Wissensanstrengung. „Wer […] die Figurationen auf einem Bild Cy Twomblys als kindliche Kritzelzeichen missversteht, verhält sich wie jemand, der das Ugarit-Alphabet als ornamentalen Schmuck, Hieroglyphen als hübsche Bildchen betrachtet: er kann nicht lesen.“15 Ästhetische Alphabetisierung bedeutet demnach, „das historische und soziokulturelle Verständnis der ästhetischen Zeichen, die Kenntnis ihres kulturellen Kontextes als Grundvoraussetzung eines sachangemessenen Umgangs.“ Und Kunstpädagogik muss „die nachwachsende Generation mit den Lesbarkeiten der ästhetischen Objektivationen unserer Kultur vertraut […] machen.“ Das ist aber nur ein erster Schritt. Zeichen sind zwar kognitiv lesbar, aber auch empfunden; unsere Wahrnehmungsorgane sind nie vollständig in den dominanten kulturellen Codes gefangen. In dieser ästhetischen Wahrnehmung „vollzieht sich die Konfrontation des wahrnehmenden Subjekts mit sich selbst, 13 Ebenda, S. 159. 14 Mollenhauer, Klaus: Die vergessenen Dimensionen des Ästhetischen in der Er-
ziehungs- und Bildungstheorie, in: Lenzen, Dieter (Hg.): Kunst und Pädagogik. Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Ästhetik?, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1990, S. 9. 15 Ebenda, S. 11.
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mit der Empfindung seiner selbst.“ 16 Dieser Prozess spielt sich auf der Grenze von Verstand und Sinnlichkeit ab, worin nach Mollenhauer das eigentliche Bildungspotenzial besteht – ein Bildungspotenzial allerdings, das nicht pädagogisch planbar und verfügbar ist, weil die Bilderfahrung sich nicht vollständig in pädagogische Prozesse integrieren lässt. Die Parallelen zum religiösen Lernen liegen auf der Hand: Versteht man religiöses Lernen im Sinne eines performativen Lernens, bei dem religiöse Vollzüge in Gang gesetzt werden sollen, dann entzieht es sich letztendlich der Unterrichtsplanung und Lernzielorientierung. Und wie im religiösen Lernen entsteht im ästhetischen Prozess etwas Neues. „Für beide gilt, dass im Dialog mit dem ästhetischen Objekt in der subjektiv gestalterischen Auseinandersetzung Neues entsteht, das (religiöse resp. ästhetische) bildende Relevanz besitzt. Dabei steht der Prozess des Wahrnehmens, Entstehens und Reflektierens im Vordergrund, der eng auf den Selbstbildungsprozess bezogen ist.“ 17 In der Auseinandersetzung mit moderner Kunst spitzt sich diese Problematik noch zu: „Das autonome Bild beansprucht, nicht nur länger Wirklichkeit abzubilden oder nachzuahmen, sondern es bringt, und zwar vermittels seiner optischen Organisation, Wirklichkeit hervor und ermöglicht Erkenntnisse und Erfahrungen, die nur hier, in der Erfahrung des Bildes selbst, erlangt werden können.“ 18 Das trifft besonders auf ikonoklastische Strategien der modernen Kunst zu: die gezielte Überforderung der Wahrnehmung (z.B. im überwältigenden Farbund Bilderlebnis, in der Entgrenzung des Blicks, im Durchbrechen gewohnter Seherfahrungen).
D IE P ROBE AUFS E XEMPEL : B E T TINA R HEIMS ’ A BENDMAHL UND S ALVADOR D ALÍS B ROTKORB Zwei konkrete Beispiele der bildenden Kunst seien hier zur Veranschaulichung religionspädagogischer Denkmuster herangezogen. Der Grund für die Auswahl dieser beiden Bilder ist ein empirischer: Beide kommen in den von mir untersuchten Lehrmitteln vor. Was macht denn eine Religionslehrperson mit einer solchen Abbildung? Kann der künstlerische Zugang religiöses Verständnis fördern, ohne dass es zu einer religiös-didaktischen Verzweckung des Kunstwerks kommt? Beide Reproduktionen sind in den entsprechenden Lehrerhandbüchern nicht kommentiert.
16 Burrichter (wie Anm. 2), S. 176. 17 Gärtner (wie Anm. 11), S. 165. 18 Burrichter (wie Anm. 2), S. 171.
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Bettina Rheims’ Fotografie Das Abendmahl (1998)19 ist in folgendem didaktischem Zusammenhang situiert: Sechs moderne Kunstwerke, die auf Da Vincis Abendmahl Bezug nehmen, sind auf einem Arbeitsblatt kopiert und sollen verglichen werden. Die Qualität der Reproduktion lässt trotz der autorisierten CD zu wünschen übrig, reale Größenverhältnisse sind nicht sichtbar. Was ist zu sehen? Der Bezug zu Da Vinci ist leicht zu erkennen. Dreizehn Männer sitzen an einem langen Tisch, mit Ausrichtung auf den Betrachter, allerdings bei Rheims oval um den Tsch angeordnet. Auffällig sind die Jesusfigur in der Mitte und Judas, der einzige Blonde unter Dunkelhaarigen. Es fällt auf, dass alle Männer ganz offensichtlich schön sind; auch die Kleidung ist ästhetisch inszeniert. Der Raum ist schmucklos und bildet mit seiner hellen, beigen Färbung von Wand und Steinfußboden den Hintergrund zur Szene, die sich davor deutlich abhebt. Drei schmale, nebeneinander angeordnete Oberlichter, die hellblau erscheinen, bilden einen oberen Rahmen und geben eine vertikale Dreiteilung vor. Jeweils rechts und links befinden sich sechs Personen, in der Mitte Jesus. Die seitlichen Figuren überschneiden sich und sind nicht klar voneinander abgetrennt, während die Jesusfigur klar silhouettiert ist und niemanden berührt. Der Tisch ist ein langer solider Klapptisch mit hölzerner Oberfläche, wie er in Biergärten und bei Zeltfesten zum Einsatz kommt. Er bildet eine parallele Linie zu den Oberlichtern. Zum religiösen Code gehören Anklänge ans Judentum und ans christliche Priestertum: Kippa, Priestergewand, priesterähnliches Gewand. Sie könnten auf die Vergangenheit, die Wurzel der Eucharistie im Judentum, verweisen. Abgebildet ist eine ganz und gar postmoderne und kosmopolitische Versammlung, von denen fünf Personen Instrumente spielen aus Australien, Europa und Afrika. Die Jesusfigur in der Mitte trägt einen jüdischen Gebetsmantel, dessen weiter Ausschnitt eine glatte Brust zeigt. Im Gegensatz zu den anderen ist er leicht bekleidet und zeigt viel Fleisch. Er erinnert in seiner süßlichen Ästhetik mit langem, wallendem Lockenhaar an ein Nazarenerbild. Seine besondere Stellung wird hervorgehoben durch das helle Gewand, auf das außerdem noch der sichtbare Scheinwerfer gerichtet ist. Unter dem Tisch sind helle Turnschuhe zu sehen. Die Hände sind golden, der linke Zeigefinger ist in die Höhe gerichtet, die rechte Hand liegt aufgestellt und nach der linken Seite offen auf dem Tisch. Die Fußstellung unter dem Tisch wiederholt die Haltung der Hände. Symmetrisch zwischen den beiden Händen sind ein in der Mitte durchbrochener Brotlaib und ein einfaches kleines Wasserglas mit Rotwein angeordnet. Die Lichtquelle ist als solche (Scheinwerfer) sichtbar. Dass es sich um Kunstlicht handelt, 19 ReliReal 6 (Material 5.7: „Das letzte Abendmahl“ in der zeitgenössischen Kunst),
München (Kösel) 2006.
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wird noch einmal verstärkt durch die Reflexion des Lichtes in den Oberlichtern des Raumes. Da gibt es kein Geheimnis, kein göttliches Licht – oder ist es etwa die Künstlerin, die diese Funktion übernimmt? Die vorliegende Beschreibung und Deutung kann als typisch für eine nicht kunsthistorisch qualifizierte Religionslehrperson gelten; diese erfasst, was man durch aufmerksame Beobachtung wahrnehmen kann. Über die künstlerische Qualität traut sie sich kein Urteil zu. Das Faktum, dass es im offiziellen Schulmaterial abgebildet ist, bringt diesbezüglich eine gewisse Normativität mit sich. Welche Erkenntnisprozesse kann das Bild auslösen? Das Bild provoziert. Die glatte postmoderne Ästhetik, das Künstliche und Makellose der Menschen, die allesamt Models sein könnten, passen nicht zur Passion Jesu. Das Bild strahlt keine Vitalität aus, obwohl Menschen darauf sind, die musizieren. Diese Ästhetik scheint so gar nicht geeignet für das Sujet. Kann die Provokation einen theologischen Erkenntnisprozess auslösen? Man könnte daran die Frage anschließen, inwiefern die Grausamkeit, Gewalt und Dramatik der Passion in der Frömmigkeitsgeschichte weitgehend eingeebnet worden sind. Goldene Hände erinnern an die Bedeutung der Hände bei der Konsekration des Brotes in der Eucharistie. In der Eucharistie wird das Brot aus dem von Händen gemachten (manufactum) in das „Nicht von Händen Gemachte“ transferiert. „Mit dem Wort Hand […] ist eine semantische Achse markiert, auf der die Differenz zwischen Bild und Sakrament eingetragen wird. Beide gehen hervor aus einer Handlung. Das Bild selbst ist ein manufactum, Handwerk […] durch das die Materie erstaunlich sichtbar verändert wird. Das Sakrament aber geschieht durch Auflegung der Hände und anrufende Besprechung, wodurch die Materie unsichtbar verwandelt wird.“20 Sakralität wird hier als an körperlichen Kontakt gebundene göttliche Kraft verstanden. „Priesterliche Konsekration und Reliquienkult entspringen demselben Interesse an der Heiligkeit des Körpers.“21 Goldene Hände können etwas verwandeln. Die Handhaltung im besprochenen Bildbeispiel ist jedoch kein Segensgestus. Und wenn sie denn das Wunder der Wandlung vornehmen würden, so verwandelten sie das Brot nicht zu Gold, wie im Märchen, wo ein Mann sich wünscht, dass alles, was er anfasst, zu Gold würde (und er ohne fremde Hilfe verhungern muss). Die Hände Jesu verwandeln das Brot in eine umfassende, unbegrenzte Speise, eine Lebensspeise. Neben dem Bild ist das Bibelzitat aus dem Korintherbrief abgedruckt: „Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus diesem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn bis er kommt.“ Ein zweites Zitat verweist ebenfalls auf 20 Stock, Alex: Bilderstreit als Kontroverse um das Heilige, in: Ders., Keine Kunst. As-
pekte der Bildtheologie, Paderborn (Ferdinand Schöningh) 1996, S. 29. 21 Ebenda.
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die Erinnerung der Juden an die Befreiung aus der Gefangenschaft, die beim Passahfest immer wieder aktualisiert wird. Falls man die religiöse Semantik des Bildes nicht lesen kann, so ist dies ein eindeutiger Hinweis. Aber: das in der Bibel erzählte und vielleicht historische Ereignis des letzten Abendmahls ist hier nicht fotografiert – es enthält die Vergangenheit und die Zukunft dieses Ereignisses. Der Jesus in der Mitte ist vielleicht schon der Wiedergekommene; vielleicht ist es die endzeitliche Tafel, bei der alle Religionen und die Menschen der ganzen Welt (allerdings unter Auslassung von Frauen und von Vertretern der nichtweißen Weltbevölkerung) dabei sind.
Salvador Dali, Der Brotkorb (1945), 33 x 38 cm, Öl auf Holz
Bei Salvador Dalís Gemälde Der Brotkorb – Lieber Tod als Schande (1945) handelt es sich um die zweite Fassung desselben Motivs, die in mehreren Lehrmitteln reproduziert ist.22 Dieerste stammt aus dem Jahr 1926/1927. Was ist zu sehen? Das Bild hat einen schwarzen Hintergrund. Auf der rechten unteren Seite bildet sich als Rechteck knapp links von der vertikalen Mittellinie und knapp unterhalb der horizontalen Mittellinie ein gemalter Holztisch mit einem Brotkorb und einem gebrochenen halben Brotlaib heraus.
22 Halbfas, Hubertus: Religionsbuch für das 3. Schuljahr, Düsseldorf (Patmos) 1983, S.
65; Dreiner, Esther, Frisch, Hermann-Josef: Lebenswege 3 (Grundschule), Düsseldorf (bsv/Patmos) 2001; Titelbild von Trummer, Peter: ‚Das ist mein Leib.’ Neue Perspektiven zu Eucharistie und Abendmahl, Düsseldorf (Patmos) 2005.
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Der Korb steht am Rand des Tisches, ragt etwas über ihn hinaus, gefährdet durch jede kleine unachtsame Bewegung. Die ovale Form des Brotes und des Korbs durchbrechen auch die Linien des Rechtecks, so dass der Tisch ein Bild im Bild ist, welches in die Schwärze hineinragt. Welche Erkenntnisprozesse kann das Bild auslösen? Ein schöner Holztisch, ein schöner Korb, ein knuspriges Brot, schön gemalt: die Einladung zu einem naturalistischen Missverständnis. Aber das Bild ist nicht naturalistisch. Das Brot leuchtet im Dunkeln, in einer kontextlosen Schwärze. Es ist keine Lichtquelle erkennbar, obwohl das Licht irgendwoher kommen muss, es fällt auf die Tischplatte und das Tischbein. Die Mahlzeit ist offensichtlich beendet, denn es liegt ein halbes, bereits gebrochenes Brot im Korb, aber der Tisch ist frei von Krümeln, ist ganz blank und sauber. Ein unnatürlich ordentliches Bild von einem Brotkorb also. Und ein unnatürlich leuchtendes. Ist das Brot die Lichtquelle? Dieses Brot ist offensichtlich mehr als ein Brot – es ist lebensspendend in einem umfassenden Sinne. Diese Schwärze ist nicht einfach ein dunkler Raum, sonst würde das leuchtende Brot oder die Lichtquelle den Raum beleuchten. Aber beleuchtet ist nur der Tisch. Es ist eine absolute Schwärze, oder kann man sagen, abstrakte Schwärze, das Schwarz an sich? Ist das hier ein Bild von Leben und Tod? Die Ikonoklasten wollten beim zweiten Konzil von Nicäa erreichen, dass nur die Eucharistie selbst als Bild zugelassen würde. Ich betrachte also Dalís Brotkorb, dann lese ich: „Das wahre Bild (Jesu Christi ist hier gemeint) ist nicht das ähnliche, sondern das unähnliche, nicht gemaltes Menschengesicht, sondern konsekriertes Brot,“23 schreibt Stock und später: „Das wahre Bild Christi ist nicht das Bild des Inkarnierten, sondern ein Bild der Inkarnation Gottes, die anschaulich-wirkmächtige Ausprägung und Einprägung der Inkarnation Gottes im eucharistischen Brot.“24 Diesen Anspruch können aber rein illustrativ eingesetzte Abbildungen von Brot nicht erfüllen; sie vernebeln das Geheimnis des Brotes, das mehr ist als Brot.
23 Stock, Bilderstreit (wie Anm. 22), S. 27. 24 Ebenda, S. 28.
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F A ZIT Claudia Gärtner beklagt meines Erachtens zu Recht, dass die didaktische Verwendung von Kunst im Religionsunterricht, um es vorsichtig auszudrücken, unterkomplex sei. Meine kleine Erhebung in den Lehrmitteln bestätigt das. Es braucht nicht nur ästhetisch alphabetisierte Kinder, sondern vor allem ästhetisch alphabetisierte Lehrpersonen im Sinne Mollenhauers. Immer wieder wird betont, dass es zwischen der Theologie und der modernen Kunst besondere Anknüpfungspunkte gibt, insofern das Nichtdarstellbare im Bild selbst thematisiert wird.25 Wenn es aber stimmt, dass sowohl die Religion wie die Kunst Systeme sind, die als wenig zugänglich und als nur Fachleuten vorbehalten angesehen werden, fragt sich, ob der ästhetische Zugang den religiösen erleichtern kann und umgekehrt. Die genannten Beispiele zeigen die Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Prozesses realistisch auf: Eine in Bezug auf die bildende Kunst durchschnittlich qualifizierte Lehrperson wird mit dem Material arbeiten, das ihr automatisch begegnet, z.B. in den üblichen Lehrmitteln. Sie wird nicht oder nur mit erheblichem Mehraufwand in der Lage sein, die Qualität eines Kunstwerks zu beurteilen und auf das religiöse Lernziel des Unterrichts zu übertragen. Die elementaren Zugänge zur Kunst können trotzdem auch theologische Lernprozesse im Sinne von ‚Frag-Würdigkeiten erzeugen‘ anstoßen: Durch die aufmerksame Wahrnehmung dessen, was zu sehen ist, durch den Zusammenhang von Inhalt und Form, durch die symbolische Bedeutung von Farben und Formen. Ein Lernprozess, der die ästhetischen Merkmale ernst nimmt, wird die Autonomie des Kunstwerks wahren, wobei es nicht zur Illustration für schon Bekanntes verkommt. Von Maximalvorstellungen in Bezug auf ästhetische Kompetenz bei den Religionslehrpersonen ist unbedingt Abstand zu nehmen. Ein Weg der kleinen Schritte, der eine Annäherung von religiösem und ästhetischem Lernen über elementare Zugangsweisen ermöglicht, bleibt jedoch viel versprechend.
25 Gärtner (wie Anm. 11), S. 228.
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Fressen und Gefressenwerden: anthropologische Betrachtungen zum Verständnis der Eucharistie Wolfgang W. Müller ‚Essen‘, ‚speisen‘, ‚Mahl halten‘, ‚fressen‘ sind Verben, die unterschiedlich nuancierte Bedeutungsvarianten unserer Sprache anzeigen, um den Vollzug der Nahrungsaufnahme zu beschreiben. Das Essen als vitaler Akt menschlicher Bedürfnisse ist jedoch auch ein Akt des Genießens. Menschen essen, Götter speisen, Tiere fressen. Im vorliegenden Beitrag soll das Verständnis des altkirchlichen Herrenmahls sowie der daraus abgeleiteten (konfessionellen) Theorien der Eucharistie und des Abendmahls, wie sie sich in Folge der kirchlichen Spaltungen entwickelt haben, anhand der Grundphänomene des Essens und Trinkens aufgezeigt werden. Als Arbeitshypothese gilt, dass vor allen konfessionellen Differenzierungen des Verständnisses von Abendmahl und Eucharistie das Gemeinsame in den Phänomenen von Essen und Trinken Beachtung finden sollte. Die hier vorgelegten Reflexionen gehen von der anthropologischen Perspektive aus, die Kultur, Kunst und Religion verbindet.
I. Der Akt der Nahrungsaufnahme, das Phänomen des täglichen Essens, hängt mit einem Mangel zusammen, denn durch die Nahrungsaufnahme führen wir dem Körper Energie zu, die ihm sonst fehlte. Die Nahrungsaufnahme zeigt, dass wir von anderen abhängig sind. Diese existenzielle Abhängigkeit begründet eine symbolische Ordnung. Sie definiert, was Nahrung sei und beschreibt die gesellschaftlichen Formen ihrer Gewinnung, ihres Erwerbes, ihrer Zubereitung und ihres Verzehrs.1 Kulturanthropologie und Psychoanalyse weisen nach, dass der banale Akt des Essens einen Moment der Gewalt impliziert. Die aufgenommene Nahrung muss zerbissen oder zermalmt werden, in einem Säurebrei 1 Siehe dazu etwa: Lacan, Jacques: Le Séminaire. Livre IV, Paris, 1994.
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verflüssigt sein, um im Körper aufgenommen zu werden. In Säure und bakteriellem Milieu restlos zerstört, wird Nahrung, verwandelt, für den tierischen wie menschlichen Körper wertvoll. Sie regelt für den Körper die lebensnotwendige Brennstoffzufuhr. Bedürfnisse und Begehren bestimmen unsere Nahrungsaufnahme; die Vergesellschaftung des Essens geht eine Symbiose mit Sexual- und Destruktionstrieb ein, die mit einer symbolischen, kulturellen und religiösen Ordnung verwoben sein können. Vielfältige Ausdrücke der Umgangssprache zeugen von dieser Tiefenstruktur des alltäglichen Essens: ‚Ich habe dich zum Fressen gern‘, ‚Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder‘. Essen und Trinken, so sagt man, halten Leib und Seele zusammen. Richtig Essen steht gegen einen Fraß und den (entsprechenden) Akt des Fressens. Wer einmal aus dem Blechnapf frisst, dem glaubt man nicht, lautet der Titel des Romans von Hans Fallada, der, 1934 in Berlin erschienen, das Schicksal eines Vorbestraften zum Inhalt hat. Der Film Ein Prophet (2009) von Jacques Audiard mit Tahir Rahim in der Hauptrolle nutzt den Knast als Metapher für die Brutalität der Gesellschaft: Der Stärkere gewinnt, der Schwächere verliert, Zwischenstufen sind im Lebenskampf nicht vorgesehen. Dazu steht im krassen Gegensatz die Rede vom Genießen des Essens. Essen zu sich zu nehmen ist mehr als nur Nahrungsaufnahme. Essen zu genießen impliziert Mehreres: Die Essenden verstehen, sich einen Genuss zu verschaffen, die Nahrung auf ihre Eigenschaften und Qualitäten hin zu prüfen und dem folgenden Verzehr Lust abzugewinnen, d.h. sie auszukosten. Das Essen konstituiert sich in einem symbolischen Netz. Neben der Produktion von Speisen kann die soziale Situation, die sich in einen sozialen Raum wie Zeit unterteilt, als ein solches symbolisches Netz verstanden werden. Die soziale Zeit beinhaltet die Dauer der Mahlzeit. So spricht man in unterschiedlichster Bedeutung vom Essen, wobei man sowohl den Akt des Essens als auch das damit verbundene Ritual benennt. Die Einnahme der Nahrung wird im Verlauf des Tages, innerhalb der Arbeits- oder Freizeit, der Werk- oder Feiertage geregelt (Mittagspause in der Werkskantine, Brunch mit der Familie am Sonntag). Das deutsche Wort ‚Mahl‘2 war ursprünglich identisch mit ‚mal‘: Zeitpunkt, festgesetzte Zeit. Zum sozialen Raum zählen die Orte des Verzehrs ebenso wie die dazugehörigen Ordnungen und Rituale.3 Der Ort des Essens kann demnach als Ort symbolischer Erfüllung verstanden werden. Novalis beschreibt dies in seinen Fragmenten: „Das gemeinschaftliche Essen ist eine sinnbildliche Handlung der Vereinigung […] Alles Genießen, Zueignen und Assimilieren ist Essen, oder Essen ist vielmehr nichts als 2 Das Herkunftswörterbuch. Mannheim/Zürich (Duden) 4. Aufl. 2007, S. 503. 3 Barlösius, Eva: Soziologie des Essens: eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung
in die Ernährungsforschung, Weinheim (Juventa) 1999.
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eine Zueignung. Alles geistige Genießen kann daher durch Essen ausgedrückt werden. – In der Freundschaft isst man in der Tat von seinem Freunde oder lebt von ihm. Es ist ein echter Trope den Körper für den Geist zu substituieren und bei einem Gedächtnismahle eines Freundes in jedem Bissen mit kühner, übersinnlicher Einbildungskraft sein Fleisch und in jedem Trunke sein Blut zu genießen. Dem weichlichen Geschmack unserer Zeit kommt dies freilich ganz barbarisch vor – aber wer heißt sie gleich an rohes, verwesliches Blut und Fleisch zu denken. Die körperliche Aneignung ist geheimnisvoll genug, um ein schönes Bild der geistigen Meinung zu sein – und sind denn Blut und Fleisch in der Tat etwas so Widriges und Unedles? Wahrlich, hier ist mehr als Gold und Diamant, und die Zeit ist nicht mehr fern, wo man höhere Begriffe vom organischen Körper haben wird.“4 Essen wie Trinken besitzen eine soziale, Gemeinschaft stiftende und Gemeinschaft symbolisierende Dimension. Dieser grundsätzliche Bezug zeigt sich besonders im semantischen Feld von Gastlichkeit, Gastfreundschaft und Freundschaft als grundsätzliche mitmenschliche Beziehungsrelation. So schreibt bereits G.W.F. Hegel in seiner frühen Schrift Der Geist des Christentums und sein Schicksal: „Wenn ein Araber eine Tasse Kaffee mit einem Fremden getrunken hat, so hat er damit einen Freundschaftsbund mit ihm gemacht. Diese gemeinschaftliche Handlung hat sie verknüpft, und durch diese Verknüpfung ist der Araber zu aller Treue und Hilfe gegen ihn verbunden. Das gemeinschaftliche Essen und Trinken sind hier nicht das, was man ein Zeichen nennt; die Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist selbst nicht geistig, Leben, es ist ein objektives Band. Zeichen und Bezeichnetes sind einander fremd, und ihre Verbindung ist außer ihnen nur in einem Dritten, eine gedachte. Mit jemand essen und trinken ist ein Akt der Vereinigung und eine gefühlte Vereinigung selbst, nicht ein konventionelles Zeichen; es wird gegen die Empfindung natürlicher Menschen sein, die Feinde sind, ein Glas Wein miteinander zu trinken, dem Gefühl der Gemeinschaft in dieser Handlung würde ihre sonstige Stimmung widersprechen.“5 Die Nahrungsaufnahme als eine narzisstische Befriedigung kann die Brücke zur kulturellen und religiösen Dimension des Essens bilden. Als Einverleibung eines Objekts der Wertschätzung und als Modus der Befriedigung verschiedener archaischer Triebe kann die Nahrungsaufnahme mit Bildern einer Heilsvorstellung verknüpft werden. Darunter ist beispielsweise die mythische Idee einer Zufuhr von ‚Lebenskraft‘ wie auch das rationale Verstehen eines ‚Nachfüllens‘ von Nährstoffen zu subsumieren (vgl. den Werbeslogan: „Mars 4 Novalis: Fragment I, zitiert nach: Seelig, Carl (Hg.), Novalis, Gesammelte Werke, Bd. 3,
Herrliberg-Zürich (Bühl Verlag) 1946, S. 128 f. 5 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Der Geist des Christentums und sein Schicksal. In:
Frühe Schriften, Werke 1; Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1971, S. 364f.
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bringt verbrauchte Energie sofort zurück“). Die etymologische Wurzel des Wortes ‚Nahrung‘ weist ebenfalls auf diesen Sachverhalt hin. Das Wort ‚Nahrung‘ stammt von ‚nara‘ (althochdeutsch) und ‚nar‘ (mittelhochdeutsch) ab und meint ursprünglich ‚Heil, Rettung, Nahrung, Unterhalt‘. ‚Nähren‘ heißt ursprünglich ‚genesen machen, davonkommen, am Leben erhalten‘.6 Nahrungsaufnahme ist zugleich ein Füttern mit Signifikanten, die kulturellen oder religiösen symbolischen Ordnungen entspringen und – im pathologischen Fall – einem Wahn entspringen können. Mit der analytischen Theorie Jacques Lacans ließe sich sagen, dass die Nahrung und deren Aufnahme ein Loch stopft, einen Mangel ausgleicht. Immer fehlt etwas zur Vollkommenheit, der Mangel ist immanent und stört eine symbolische Ordnung. Essen und Trinken zählen zu den wichtigsten Mitteln, um diesen Mangel zu beheben und das imaginäre Ganze in einer symbolischen Ordnung wieder herzustellen.7 Der soziale wie religiöse Aspekt von Essen und Trinken verweist auf seine Identitäts- und Transzendenzdimension. Die kulturelle Überformung der genannten Triebstruktur hat stets eine gemeinschaftliche Dimension. Ereignisse, die im Leben der Einzelnen wie des Kollektivs wichtig und bedeutungsvoll sind, können mit einem Mahl verbunden sein (z.B. Geburt, Geburtstag, Hochzeit, Tod).
II. Die einleitenden Bemerkungen zum Phänomen des Essens können in einer kulturgeschichtlichen Perspektive weitergeschrieben werden. So kennt beispielsweise der Epos Ennuma Elis der babylonischen Tradition bereits die Schilderung eines Symposions (Ennuma Elis, III, 130-137): „Die großen Götter allzumal, die die Geschicke bestimmen, traten vor Ansar hin; sie füllten das Festgemach, sie küssten einander, sie sammelten sich zu einer Versammlung, die Zungen ließen sie laufen, setzten sich zum Festmahl. Brot aßen sie, sie tranken Wein, den süßen Trank ließen sie in ihre Becher fließen. Da sie den Rauschtrank getrunken hatten, weitete sich ihr Körper, ein Leichtsinn stieg kräftig in ihrem Sinn auf.“ Der germanische Epos Edda spricht im Thrymlied davon, dass der Gewittergott Thor bei einem Fest drei Tonnen Met trinkt, dazu einen Ochsen isst, acht Lachse und alles Backwerk, das für die Frauen bestimmt war.8 Die Kriegerelite der Einherjer, die in Walhall versammelt ist, wird mit dem Fleisch des Ebers 6 Duden (wie Anm. 2) S. 550. 7 Lacan, Jacques: Ecrits, Paris (Editions du Seuil) 1966 8 Vgl. zu Folgendem: Die Edda. Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der
Germanen, übersetzt von F. Genzmer, München (Eugen Diederichs) 1997, S. 75.
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Sähmnir verköstigt. Geschlachtet, gesotten und verspeist von vielen Tausend Kämpfern, wird der Eber jeden Abend wieder lebendig und steht erneut zur Verfügung. Met, Rauschtrank, von Hirsch und Ziege aus der Weltesche Ygdrasill abgezapft, gibt es so viel man will. Die Götter bewirten sich nicht nur gegenseitig, sie lassen sich auch gerne von Menschen verköstigen. Die Menschen bringen den Göttern alle möglichen Gaben, ein Großteil der Opfergaben sind verzehrbar: Getränke, Brot, Getreide, Fleisch, Pflanzen, Blut. Der opfernde Mensch weiß dabei, dass das höchste Wesen die Speise annimmt, sie verzehrt und genießt. In der Erzählung Homers klingt dies an, wenn Odysseus Chryses seine Tochter zurückbringt und gemeinsam zum Dank ein Opfer für Apollon vorbereitet wird: „Das Opfer konnte beginnen. Sie beteten und streuten geweihte Gerste. Sie werfen die Tiere zur Erde, bogen ihnen die Köpfe zurück und schnitten ihnen die Kehlen durch. … Die Opferkeulen waren verschmort. Die Männer kosteten von den Innereien, schnitten alles Übrige klein, steckten es auf Spieße, brieten es und häuften die Stücke aufeinander. Es gab so viel, dass jeder nach Herzenslust zulangen konnte. Als sie den heftigsten Hunger gestillt hatten, füllten sie die Mischkrüge bis zum Rand und teilten die Becher aus. Das Mahl dauerte den ganzen Tag. Dazu sangen und tanzten sie den Paian zum Preis Apollons. Der Gott sah zu und freute sich. Als die Dunkelheit hereinbrach, legten sie sich bei den Haltetauen ihres Schiffes schlafen.“9 Die römische Opferpraxis zeichnet sich dadurch aus, dass nach früher wie späterer Überlieferung das Opfer hauptsächlich in der Zubereitung der Speise für die Götter bestand.
III. Essen und Trinken manifestieren sich in einer religionsgeschichtlichen Perspektive als Beziehungsgeschehen, das stark mit polytheistischen Vorstellungen verbunden ist. Die soziale Ordnung der Mahlzeit verschwindet in monotheistischen Religionen aus einem einfachen Grund: Es fehlt die notwendige Mehrzahl der Personen. Die Art und Weise der göttlichen Selbsterhaltung wird in abstrakten Formen wie Allmacht, Ewigkeit, unbegrenzte Fülle usw. ausgedrückt. Das Reden vom Essen und Trinken eines Gottes ist damit aber nicht gänzlich verschwunden. In der biblischen Tradition können noch Reste ausgemacht werden. So schreibt der Psalmist (Ps 50, 12-13): „Hätte ich Hunger, ich brauchte es dir nicht zu sagen, denn mein ist die Welt und was sie erfüllt. Soll ich denn das Fleisch von Stieren essen und das Blut von Böcken trinken?“
9 Homer: Ilias – Odyssee, in Prosa übertragen von Karl Ferdinand Lempp, München
1985, S. 25 f.
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Die monotheistischen Religionen kennen bezüglich des Essens und Trinkens einen Weg der Vergeistigung. Es entwickeln sich andere Formen der Hinwendung, um dem Göttlichen zu entsprechen, und es verändern sich die systematischen Modelle und Vorstellungen: Es wird nun von einer Öffnung der Herzen, dem Postulat eines gerechten Handelns und vom Gebet gesprochen. Zugleich tritt eine stärkere Ethisierung der Vorstellungen Gottes ein. Damit geht der Verzicht auf das materiale Opfer einher. Der grundsätzliche Akt des Essens und Trinkens verschwindet jedoch nicht aus dem religiösen Sprachspiel. Die beiden Hochfeste des Islam, das Fest des Opfers Abrahams (id al-fitr) und das Fastenbrechen (id al-adha) verbinden das religiöse Fest mit dem Essen. Beim Opfer Abrahams wird ein Schaf geschlachtet und mit der Familie und Freunden verzehrt, wobei den Armen ein Anteil zukommt. Das Fastenbrechen ist mit einem üppigen Festmahl verbunden. Ganz allgemein spricht der Koran in der Sure al-Mā’ida (Der Tisch) (V, 3ff.) vom Essen und von Essensritualen, die die islamische Kultur bestimmen. In der Sure II, 167-168 heißt es im Koran vom Essen: „Ihr Menschen! Esst von (alle)dem, was es an Essbarem auf der Erde gibt, soweit es erlaubt und gut ist.“ Als Speisevorschriften kennt die islamische Tradition das Verbot des Konsums von Schweinefleisch und von Alkohol.
V. Die jesuanische Verkündigung kennt die Praxis der offenen Tischgemeinschaft, zu der Jesus immer wieder geladen hat. Randständige, Zöllner, Sünder usw. wurden von Jesus von Nazaret zum gemeinsamen Mahl eingeladen. Die historische Zuverlässigkeit dieser Überlieferung kann als gewährleistet gelten. Dieses Verhalten reißt die bisher geltende Ordnung nieder, die zwischen den gesellschaftlichen Schichten trennend wirkte. Die vielen Gastmähler, die Jesus während seiner Verkündigung in Galiläa immer wieder hielt und dafür Menschen zusammenrief und versammelte, sind im Neuen Testament die markantesten prophetischen Symbole seiner Verkündigung. Es handelt sich dabei keineswegs um einmalige, nicht wiederholbare und spektakuläre Aktionen, sondern um unscheinbare, immer wiederholbare Handlungen des Alltags, mit denen Jesus seine Botschaft vom Reich Gottes illustriert. Das so genannte letzte Abendmahl, von dem die synoptischen Evangelien erzählen, kann als Abschluss und Aufhebung (im Sinne Hegels) der jesuanischen Mahlpraxis gelten. So schreibt der Exeget Thomas Söding zu dieser Perikope: „Das letzte Abendmahl Jesu ist der konzentrierte Abschluss in der Reihe dieser Gastmähler – und ein neuer Anfang. Die Tischgemeinschaft Jesu mit den Zwölfen verheißt die vollendete Festgemeinschaft Jesu mit dem ganzen Gottesvolk im Angesicht Gottes, des Vaters,
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und bildet sie im Vorhinein ab.“10 Die Außergewöhnlichkeit dieser Praxis zeigt sich ebenfalls daran, dass sie in späteren Gemeinden, die aus dem jüdischen Milieu stammen (vgl. Gal 2, 11-14) als auch in hellenistischen Gemeinden noch für Unruhe sorgte. So berichtet Paulus beispielsweise von Lieblosigkeit und Schwierigkeiten bei gemeinsamen Mahlzeiten (vgl. 1 Kor 11, 20-22): „So aber, wenn ihr nun zusammenkommt, ist das Essen gar kein Mahl des Herrn. Denn jeder nimmt beim Essen sein eigenes Mahl vorweg, und der eine hungert, der andere ist schon betrunken. Habt ihr denn keine Häuser, in denen ihr essen und trinken könnt?“ In der nachösterlichen Perspektive kann man die Genese der neuen Praxis der jungen christlichen Gemeinden für das Herrenmahl nachzeichnen. Bereits der Apostel, der seine Briefe um 50 n.Ch. schrieb, vermerkt, dass es in Gemeinden, die er kennt, eine solche Praxis gibt (vgl. 1 Kor 11, 17-34). Das Mahl kann, auch dies ist für die junge Kirche selbstverständlich, immer wiederholt werden: „Sooft ihr dieses Brot esst und diesen Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er wiederkommt.“ (1 Kor 11, 26) Diese neue kultische Form nimmt im weiteren Verlauf ihrer historischen Ausgestaltung Linien zum kulturellen und religiösen Verständnis des Essens und Trinkens auf, wie sie weiter oben nachgezeichnet worden sind. Das gemeinsame Mahl war in der hellenistischen Antike allgemein bekannt, streng ritualisiert und Teil des gesellschaftlichen wie religiösen Lebens. Die Mähler, sie wurden Syssitien (gemeinsames Essen) genannt, an welche sich ein Trinkgelage (Symposion) anschloss, das der eigentlichen Geselligkeit diente. Es gibt eine reiche Literatur zum gesellschaftlichen und religiösen Tun der Symposien, die bekanntesten Texte stammen von Platon und Xenophon. Daneben gibt es zahlreiche Vereine, die sich aus Mitgliedern aller sozialen Schichten zusammensetzen. Diese Vereine dienen in der Regel religiösen Zwecken. Ebenso kennt man gemeinsame Mähler, die aus einer religiösen Motivation das symbolische Verzehren der Gottheit (Theophagie) pflegten. Eine rituelle wie kultische Mahlpraxis war gleichfalls im Mithras- und Sarapiskult bekannt. Als ein weiteres prominentes Beispiel solcher Mahlpraxis kann gleichfalls der Isiskult gelten. Dieser Mysterienkult wird etwa bei Apulius von Madura (ca. 125-170 v.Ch.) beschrieben. Auch die Gemeinschaft von Qumran, die im jüdischen Umfeld Jesu anzusiedeln ist, kennt eine ausgestaltete wie ritualisierte Mahlpraxis. Die sakramentale Praxis des Herrenmahls der Alten Kirche entstand in einem Kontext, der sich in soziologischer Hinsicht durch die Organisationsformen griechischer wie römischer Vereine, aber auch durch die Gemeinschaft 10 Söding, Thomas: ,Tut dies zu meinem Gedächtnis …!‘ Das Abendmahl Jesu und die
Eucharistie der Kirche nach dem Neuen Testament, in: Loos, Stephan und Zaborowski Holger (Hg.): „Essen und Trinken ist des Menschen Leben“ – Zugänge zu einem Grundphänomen, Freiburg i.Br./München (Karl Alber) 2007, S. 57-88, hier S. 62f.
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von Qumran erhellen lässt. Der Grund hierfür liegt darin, dass die frühen Gemeinden in ihrer sozialen Organisationsform Ortsgemeinden waren. Erst ab dem 2. und vermehrt ab dem 3. Jahrhundert, als die Gemeinden größer wurden, bekommt die Mahlpraxis und deren theoretische Begründung eine einheitliche Form und übergreifende institutionelle Strukturen. Die Ausbildung einer eigenen liturgischen Tradition beginnt, die mit einer auch organisatorisch und institutionell selbstständigen religiösen Gemeinschaft einhergeht. Allgemein lässt sich der Zusammenhang von Gemeinschaft und Mahl feststellen, wobei dem Mahl ein ‚heiliger‘ Charakter zugesprochen wird. Bei aller theoretischen Reflexion und Weiterentwicklung der jesuanischen und später kirchlichen Mahlpraxis sowie der späteren konfessionellen Differenzkriterien im Blick auf das Eucharistie- und Abendmahlsverständnis bleiben die weiter oben genannten anthropologischen Grundkonstanten der Phänomene des Essens und Trinkens bestehen!
VI. Der kurze Überblick über die Momente Essen und Trinken im christlichen Verständnis lassen zwei inhaltliche Aussagereihen zu: 1. Menschen essen, Tiere fressen. Beides sind Modi der Nahrungsaufnahme und der Energiezufuhr für den Körper. In dieser biologischen Perspektive gleichen sich Mensch und Tier. Beide müssen Nahrung aufnehmen und sie verwerten. Der Mensch isst, das Tier frisst, wobei es auch da Unterschiede in unserer Wahrnehmung gibt (Verschlingen des Zebras durch einen Tiger erscheint uns in der Wahrnehmung anders als die Gras fressende Kuh auf der Wiese). Im Essen und Trinken als Grundvollzug zeigt sich zugleich ein erster Zusammenhang mit der Eucharistie/dem Abendmahl: Die banale Handlung des Essens, das Aufnehmen der Nahrung von außen ins eigene Innere ist ebenfalls ein Akt der religiösen Handlung der Eucharistie, des Kommunizierens. Der Kreis des Verzehrens schließt sich. Alle Lebewesen tun es, die Tiere wie die Menschen. Das ist einfach und zugleich vollzieht es sich fraglos. Auf diesem Vollzug baut die symbolisch-religiöse Deutung des Abendmahls oder der Eucharistie auf. So bezieht sich ein mittelalterlicher Eucharistiehymnus auf diese Grunddaten des Essens und Trinkens, wenn es in Verbindung mit der scholastischen Eucharistielehre heißt: „Was Christus beim Mahl ausgeführt hat,/das hieß er zu tun/zu seinem Gedächtnis./Belehrt durch heilige Lehren,/weihen wir Brot und Wein/als Opfergabe des Heils.“11
11 Zit. nach Jan-Heiner Tück: Gabe der Gegenwart. Theologie und Dichtung der Eucharis-
tie bei Thomas von Aquin, Freiburg i.Br./Basel/Wien (Herder) 2009, S. 246.
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2. Die Rede vom Essen oder Fressen einer Nahrung zeigt neben der biologischen Dimension auch eine kulturelle und religiöse. Während das Verb ‚essen‘ die positive Seite der Nahrungsaufnahme thematisiert (Mahl, genießen), wird durch das Verb ‚fressen‘ die dunkle Seite des Aktes artikuliert. Hierbei klingt das rohe, das kulturell nicht Bearbeitete der Nahrungsaufnahme an. Das christliche Verständnis des Abendmahls/Eucharistie, ungeachtet der theologischen Ausbildung dieser Glaubensaussage und der religiösen Praxis durch die Jahrhunderte, kennt beide genannten Modi. Vor jeglicher konfessionellen Differenz, die das Abendmahl in der Geschichte des Christentums kennen lernen wird, halten alle Konfessionen am grundsätzlichen Akt von Essen und Trinken fest, um symbolisch eine religiöse Aussage zu treffen. „Das eine eucharistische Brot“, so folgert der Exeget Joachim Gnilka, „versinnbildet die durch die Eucharistiefeier ausgedrückte Einheit der Gemeinde. […] Wird im Vollzug der Feier in der Gegenwart Gemeinschaft mit dem Herrn gewährt und Gemeinschaft der Mahlteilnehmer untereinander gestiftet, besitzt das eucharistische Mahl darüber hinaus eine in die Vergangenheit und eine in die Zukunft reichende Perspektive.“12 Beide Modi (‚Leib für euch‘ und ‚in meinem Blut‘) beinhalten nämlich ein doppeltes Postulat. Einerseits erinnern sie an das Handeln Christi beim Letzten Abendmahl, andererseits verweisen sie auf die Heilsbedeutung des Todes Jesu. Das Essen des Brotes und das Trinken des Bechers/Kelches verstehen sich als die jesuanische Verkündigung in einer nachösterlichen Perspektive. „Der Begriff der Verkündigung fasst die ganze Feier zusammen […] Handlung und Wort sind zusammen zu sehen und bilden gemeinsam die besondere Form der Verkündigung.“13 Die Aufmerksamkeit der Theologie in Geschichte und Gegenwart galt und gilt systematischen Fragen der Substanzverwandlung bei der Eucharistie. Unabhängig davon, ob diese Theorie in der klassischen thomistisch-aristotelischen Form der Transsubstanziationslehre oder in der modernen Theorie der Transfinalisation artikuliert wird,14 lässt sich der symbolische Vollzug dieses religiösen Geschehens auch vom banalen Vorgang des Essens aufschlüsseln und interpretieren. Das Essen impliziert einerseits die Logik des Verzehrens, andererseits manifestiert sich darin eine Kultur des Essens. Beide Argumentationslinien fanden, unterstützt durch die religiöse Symbolik, Eingang in die Kunst der Vergangenheit und Gegenwart.
12 Gnilka, Joachim: Theologie des Neuen Testaments, Freiburg i.Br./Basel/Wien (Herder)
1994, S. 122. 13 Ebenda, S. 123 14 Zu beiden Theoriekonzepten siehe etwa: Theodor Schneider (Hg. von Sattler, Do-
rothea): Kritische Treue. Grundfragen der Systematischen Theologie, Ostfildern (Matthias Grünewald) 2010, S. 348-397.
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„What else is there?“ – Kann Kunst religiöse Bildungsprozesse initiieren? Andreas Mertin
G RUNDSÄT ZLICHES Denkt man heute über das Verhältnis von Kunst und Religion nach, kann man durchaus auf Friedrich Schlegels Aphorismus in seinen Kritischen Fragmenten zurückgreifen, wo er schreibt: „In dem, was man Philosophie der Kunst nennt, fehlt gewöhnlich eins von beiden: entweder die Philosophie oder die Kunst.“ 1 Entweder beziehen sich nämlich religiöse Menschen auf einen ästhetischen Standard, der seit 200 Jahren nicht mehr der der Kunst ist (im Sinne der Illustration der Heilsgeschichte), oder die Künstler operieren mit einem Begriff von Religion, den diese im 19., spätestens aber im 20. Jahrhundert hinter sich gelassen hat (Religion als mirakulöses und nicht rationales Geschehen). Zur Begegnung von zeitgenössischer Kunst und zeitgenössischer Religion sind daher (nicht nur im schulischen Kontext) die grundsätzlichen Voraussetzungen mehr als schlecht. Theologisch herrscht ein weitgehend instrumentelles Verhältnis zur Kunst vor, während für die Kunst gerade nicht die aufgeklärte Theologie interessant ist, sondern die Verzauberung der Welt, wie sie noch Max Weber der Religion zugewiesen hat. Ein Blick in Schulbücher des Faches Religion offenbart zudem ein anästhetisches Desaster, das mit schlechter Kunst beginnt und mit einer Fülle von Fehlinformationen zu den Bildern und Werken noch lange nicht endet. Selbst dort, wo zeitgenössische Kunst in den Blick gerät, steht der illustrative Charakter im Vordergrund und keinesfalls die Kunst als Kunst.
1 Schlegel, Friedrich von: Werke in zwei Bänden, hgg. von Hecht, Wolfgang, Berlin u.a.
(Auf bau-Verlag) 1980, Bd. 1, S. 166.
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1. R ELIGION (SUNTERRICHT) Es ist nicht die Aufgabe dieses Textes, darüber nachzudenken, was im Religionsunterricht in Sachen Religion – zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit dem Thema Essen – zu geschehen hat, aber die Reflexion darüber hat auch Folgen für die Begegnung mit der Bildenden Kunst. Deshalb nur ein paar Frageskizzen: Geht es im Religionsunterricht um Vermittlung, geht es um Aneignung, geht es um Teilhabe oder geht es um ein Probehandeln – oder geht es um ein wenig von all dem? Je nachdem, wie man das Ziel religiöser Unterrichtung beschreibt, ändert sich auch der Einsatzpunkt der Kunst im Religionsunterricht. Vermittlung: Ginge es im Religionsunterricht um Vermittlung, dann müssten die normativen Standards künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Thema Essen und hier spezifisch mit dem so genannten Sündenfall (als Einverleibung der Sünde) und dem Abendmahl (als Einverleibung der Erlösung) bearbeitet werden. Schülerinnen und Schüler müssten also die Geschichte und Aktualität visueller Kommunikation dieser Themen in der Kunst in groben Konturen beherrschen. Was sind die wichtigsten Abendmahlsbilder? Wann und wie tritt das Abendmahl in die Kunst? Welche Aktualität hat das Thema heute in der zeitgenössischen Kunst und wie verhält sich das zur zeitgenössischen Lehre der Abendmahlstheologie? Und Analoges wäre für den so genannten Sündenfall und den Griff zu der Erkenntnis über Gut und Böse vermittelnden Frucht zu fragen. Abweichungen und Differenzen, freies Spiel wären dabei gerade nicht gefragt, sondern wären kontraproduktiv. Wenn also, um historische Beispiele zu nennen, Hieronymus Bosch oder Meister Bertram von Minden auf ihren Darstellungen der Paradiesgeschichte die Sünde vor dem Sündenfall auftauchen lassen, vermittelt dies gerade nicht die biblische Lehre, die Gegenstand des Religionsunterrichtes ist. In der Moderne sind diese Abweichungen natürlich oftmals noch gravierender. Aneignung: Ginge es im Religionsunterricht um die subjektive Aneignung religiöser Überlieferung durch die Schülerinnen und Schüler, dann müssten genau solche Bilder und Werke in den Vordergrund treten, die diesen den persönlichen Zugang zur Thematik erleichtern. Es ginge also nicht um eine pädagogisch durchaus wünschenswerte Fremdheit (die neue Erkenntnisse auslöst), sondern um Werke, die in der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler ansetzen und von ihnen hermeneutisch adaptierbar sind. Wie situiert sich das Essen beziehungsweise das folgenreiche Naschen heute in der Welt der Schülerinnen und Schüler und welche Werke arbeiten sich genau an dieser Grenze zwischen Subjektivität und religiöser Lehre ab – aktuell wie historisch? Ich vermute, man ist in diesem Fall schnell weit entfernt von Fragestellungen der zeitgenössischen
„W HAT ELSE IS THERE “ – K ANN K UNST RELIGIÖSE B ILDUNGSPROZESSE INITIIEREN ?
Kunst bzw. nivelliert diese zugunsten religiöser Fragestellungen. Produktiv ist das – zumindest für die Kunst – nur in Ausnahmefällen.2 Teilhabe: Ginge es im Religionsunterricht um Teilhabe als Einweisung in den und Teilnahme am religiösen Ritus, dann würde Kunst vermutlich schnell der Instrumentalisierung unterworfen, sie würde zum religiösen Kunsthandwerk. Kunst, die nur zur Teilhabe am religiösen Ritus einlüde, wäre vermutlich ganz und gar vormodern und nicht autonom, sie würde das Erbe europäischer Aufklärung im Interesse religiöser Sinnsysteme revozieren. Das kann sie selbstverständlich von sich aus tun (wie dies etwa Künstler wie Jan Knap von der Gruppe Normal oder auch Bill Viola in einigen seiner Arbeiten getan haben), aber sie muss dann auch den Preis dafür bezahlen und der wäre vermutlich die Freiheit der Kunst. Jedenfalls bestünde die Gefahr, dass Religion und Kunst ununterscheidbar würden und ihr Differenzierungsgewinn in der Moderne verloren ginge.3 Probehandeln: Ginge es im Religionsunterricht um eine Art religiöses und reflektiert durchgeführtes Probehandeln, um ein spielerisches Ingebrauchnehmen religiöser Überlieferungen, dann wäre der performative Anteil des Geschehens stärker zu bedenken.4 Hier käme Kunst als Spiel im Sinne der alten Bestimmung Friedrich Schillers stärker zum Tragen.5 Es gäbe wenig Grenzen und viel Spielraum, aber auch enorm viel Konfliktpotenzial, denn das Spiel der Kunst wäre in aller Regel und vor allem nach anderen Regeln ein anderes als das der Religion. Aber im Sinne des Religionsunterrichts als Probehandeln wäre gerade diese Ambivalenz das Interessante, weil sie Schülerinnen und Schülern dazu verhilft, ein Wahrnehmungssystem in Sachen Kunst und Religion auszubilden.
2 Man könnte hier an Karla Blacks Arbeit im schottischen Pavillon im Palazzo Pisani
auf der Biennale Venedig 2011 denken, die mit dem Kontrast von Alltagskultur, Nahrung, Essen und Verbrauch spielte. http://www.scotlandandvenice.com/artist/works (ges. am 14.2.2012). 3 Vgl. Adorno, Theodor W.: Theses upon Art and Religion today, in: Adorno, ders.: No-
ten zur Literatur (I-IV), Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 2002, S. 647-653. 4 Vgl. Klie, Thomas, Leonhard, Silke (Hg.): Schauplatz Religion. Grundzüge einer perfor-
mativen Religionspädagogik, 2. Aufl. Leipzig (Evang. Verlags-Anstalt) 2006. Klie, Thomas, Leonhard, Silke (Hg.): Performative Religionsdidaktik. Perspektiven und Unterrichtspraxis, Stuttgart (Kohlhammer) 2008. 5 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Brie-
fen, Stuttgart (Reclam) 1981.
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2. K UNST Angesichts dieser schwierigen Voraussetzungen wird schnell fraglich, was Kunst aus Sicht des ‚Betriebssystems Kunst‘ für die Vermittlung von Religion eigentlich leisten kann, vor allem, ob sie das auch leisten sollte und ob sie es leisten will. Illustration: Im schlimmsten Falle ist die Bildende Kunst nur Illustration eines biblischen Textes bzw. einer religiösen Lehre, so wie es in einem Großteil der religionspädagogischen Literatur gemacht wird. Zum Thema Abendmahl zeigt man dazu Werke aus der Kunstgeschichte, beginnend mit den Mosaiken aus Ravenna bis zu Leonardo da Vincis Abendmahl oder einschlägigen Bildern von Otto Dix und Emil Nolde und visualisiert auf diese Weise das Textgeschehen. Differenzen und Abweichungen spielen weniger eine Rolle oder werden weginterpretiert. Ähnliches gilt für Darstellungen des Sündenfalls. Für die Bildende Kunst bliebe die ‚Funktion‘, die zeitgenössisch angemessene Gestalt- und Ausdrucksform des Abendmahls 6 oder des Griffs zur Frucht zu finden.7 Irritation: Im etwas besseren Falle wäre Kunst eine Art Wahrnehmungsirritation, eine Infragestellung vertrauter Einstellungen. Kunst arbeitet dann mit vertrauten Wahrnehmungsmustern, unterläuft und befragt diese visuell. Auf dieser Ebene arbeitet ein guter Teil der heutigen popularkulturellen Auseinandersetzungen mit dem Thema, etwa wenn im Videoclip von Metallica zu Until it sleeps der Sündenfall mit dem Griff zur Frucht im Stil von Hieronymus Bosch nachgestellt wird. Auch einige bedeutende Kunstwerke aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfremden das Geschehen so, dass eine Wahrnehmungsirritation entsteht. In der Dialektik von Kunst und Religion wird die Kunst aber so immer zu einem Reagens der Religion. Religion wird zum Vorgängigen, dessen Wahrnehmung die Kunst irritiert. Ich persönlich finde diese Form zwar religionsproduktiv und vor allem religionspädagogisch produktiv, vermute aber, aus der Sicht einer freien und zeitgenössischen Kunst ist diese Verwendung eher problematisch.8 6 Schwebel, Horst, Schmidt-Ropertz, Heinz Ulrich: Abendmahl. Zeitgenössische Abend-
mahlsdarstellungen, Marburg (Inst. für Kirchenbau u. Kirchl. Kunst d. Gegenwart) 1982. 7 Schwebel, Horst: Die andere Eva. Wandlungen eines biblischen Frauenbildes, Menden
(Trapez) 1985. 8 So jedenfalls das Urteil des Theologen und Künstlers Thomas Lehnerer in seiner
Habilitation im kritischen Rückblick auf seine frühen Arbeiten: „Denn […] das Interessante meiner Arbeit stammte nicht aus der Kunst, sondern aus der Religion. Diese aber verwandelte ich in Kunst. Was aber bedeutete dann Kunst? Worin hat sie ihre Eigenständigkeit, wenn sie sich thematisch nur im Verhältnis zu dem, was sie nicht
„W HAT ELSE IS THERE “ – K ANN K UNST RELIGIÖSE B ILDUNGSPROZESSE INITIIEREN ? Surrogat: Höchst ambivalent – aber sowohl religiös wie ästhetisch nicht uninteressant – ist es, wenn die Kunst zum Surrogat des Religiösen wird. Kann Bildende Kunst Religion substituieren? Und was hieße das im Blick auf das Gemeinschaft stiftende Essen? Sind die Fallenbilder von Daniel Spoerri Abendmahlssurrogatextrakte – in Analogie zum Malzkaffee als Kaffee-Ersatz? Ist das Fest, das Timm Ulrichs zu seinem Geburtstag unter dem Motto „Nehmet hin und esset“ feierte, ein Religionssurrogat, erreicht es die Intensität seines Vorbildes, seine Nachhaltigkeit und vor allem auch seine eigene Ikonizität? Ich fürchte, die früher einmal von Immanuel Kant und Goethe der Kunst an dieser Stelle angesonnene Rolle überfordert diese systematisch. Sie läuft zudem dem Differenzierungsgang der Moderne, der eben keine Substitutionsentwicklung war, zuwider. 9 De-Konstruktion: Denkbar ist Kunst im Religionsunterricht auch als De-Konstruktion. Sie nimmt das Essen, die Frucht, das Mahl, das Abendmahl als außerästhetisches Substrat, de-kontextualisiert es und legt so neue Wahrnehmungen und neue Sinnschichten frei, die im alten Kontext verdeckt und oft auch nicht denkbar waren. Orientierungspunkt der Kunst ist dabei die Kunst selbst, nicht die Darstellung von Religion. So arbeitet die Kunst an der Logik der künstlerischen Problemlösungen weiter, statt sich in den Dienst eines religiösen Systems oder eines religiösen Interesses zu stellen. Das halte ich für eine zeitgemäße Form des Umgangs. Erfahrungsanlass: Im Idealfall ist Kunst im Blick auf den Religionsunterricht ein Erfahrungsanlass. Die Schülerinnen und Schüler lernen anhand zeitgenössischer Kunst, religiöse Erfahrungen mit ästhetischen Erfahrungen zu verbinden.10 Das grenzt Kunst in keiner Weise ein, weder inhaltlich noch formal (die ästhetische Erfahrung bleibt von der religiösen Erfahrung klar getrennt), und befähigt Schülerinnen und Schüler, ihre im Religionsunterricht erworbene Deutungskompetenz im Blick auf zeitgenössische Kunst produktiv anzuwenden. Das sollte der Bewährungsfall eines gelingenden Religionsunterrichts sein.
ist, bestimmt?“ Lehnerer, Thomas: Methode der Kunst, Würzburg (Königshausen und Neumann) 1994, S. 27 (Anm.). 9 Vgl. dazu Müller, Ernst: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion in den Philosophien
von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin (Akademie) 2004. 10 Vgl. Erne, Thomas: Vom Fundament zum Ferment. Religiöse Erfahrung mit ästhe-
tischer Erfahrung, in: Herrmann, Jörg, Mertin, Andreas, Valtink, Eveline (Hg.): Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, München (Wilhelm Fink) 1998, S. 283-295.
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K ONKRE TION Im Folgenden möchte ich anhand von drei Kunstwerken die Möglichkeiten von Kunst im Religionsunterricht ausloten und fragen, ob und wie (Medien-)Kunst religiöse Bildungsprozesse initiieren kann. David Bowies Video-Clip The heart’s filthy lesson (1995, 5:00, Regie Samuel Bayer) ist eine avantgardistische Verbindung von Kunst und Musik. Bowie greift in seinem von Bayer gemachten Clip auf verschiedene europäische Impulse der Fluxus-Bewegung zurück. Deutlich erkennbar ist der Einfluss von Joseph Beuys und auch der des Wiener Aktionisten Hermann Nitsch. Ähnlich deutlich ist der Bezug auf die überlieferten Zeichen des Christentums: Das Abendmahl – in einer Inszenierung, wie sie dem Film des spanischen Surrealisten Luis Buñuel Viridiana aus dem Jahr 1961 entspricht – die Kreuzigung, die Taufe, aber auch der Tanz ums goldene Kalb sowie subtil religiöse Motive wie das der Waschung oder des Harlekins tauchen auf. Alles ist in erdig-goldenen Tönen gehalten, viel Erde, Dreck, Wasser und Blut, alles elementar religiöse Elemente, sind zu sehen. „Die schmutzigen Lektionen des Herzens“ verkünden eine komplexe und nur schwer zu durchschauende Lehre. Der Liedtext fällt leider hinter die ebenso faszinierende wie irritierende Inszenierung des Clips zurück. Er wiederholt immer wieder wenige Sätze mit dunklen Anspielungen, ohne ganz konkret zu werden oder seine Bezüge aufzudecken. In der Häufung der Wörter sind aber immer wieder religiöse Konnotationen mitzuhören („Something in our skies, something in our blood; hearts filthy lesson falls upon deaf/dead ears; what a fantastic death abyss...“). Lohnend und sinnvoll ist auf jeden Fall die Zusammenarbeit mit dem Kunstunterricht, weil die Querverweise auf die zeitgenössische Kunstszene der letzten dreißig Jahre zahlreich sind. Für Bowie bzw. den Regisseur Bayer ist die religiöse Ikonografie das Material, aus dem sie die neue künstlerische Performance gestalten. Aus dem überlieferten Zeichenarsenal der Religion greifen sie jene Elemente auf, die sie künstlerisch für tragfähig, diskussionswürdig oder kritisierbar halten. Für die Schülerinnen und Schüler wird daran deutlich, dass das ‚Material‘, also der religiöse Stoff, nicht ein Fossil der Vergangenheit ist, sondern gerade in der zeitgenössischen künstlerischen Bearbeitung einen neuen Sinn ergeben kann. Es geht nicht darum, das Abendmahl mit Hilfe des Clips zu verstehen, sondern darum, dessen virale Effekte in der Gegenwart zu erkunden, mit anderen Worten: Es geht um kulturelle Geistesgegenwart. Barszcz ist die Dokumentation einer Performance in der Kunstakademie Karlsruhe, die Patrycja German am 28. Juni 2004 durchgeführt hat. Sie schreibt dazu: „Ich bin mit einer feierlichen weißen Bluse bekleidet. Ich setze mich an einen weiß gedeckten Tisch. Der Topf ist gefüllt mit 10 Litern Barszcz (traditi-
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onelle polnische Rote Bete-Suppe, die an Heiligabend serviert wird). Ich trinke die Suppe, indem ich mir den Inhalt des Topfes in den Mund gieße.“ 11
Patrycja German, Barszcz (2004), Videoperformance, 2:30
Der Betrachter sieht zunächst einen weißen Raum, in dem ein mit einem weißen Tuch gedeckter Tisch samt Stuhl steht. Es folgt der Auftritt der Künstlerin, die mit einem großen Stahltopf die Szene betritt. Sie setzt sich auf den Stuhl und platziert den Topf vor sich. Dann hebt sie mit beiden Händen den Topf an, führt ihn über den Kopf – während sie den Betrachter frontal anblickt. Sie blickt nach oben, öffnet den Mund und kippt langsam den Topf nach hinten. Zunächst nur tröpfchenweise, dann in einem immer stärkeren Schwall ergießt sich eine rote Suppe aus dem Topf in den sich rasch füllenden Mund und dann über das Gesicht der Künstlerin, über ihre weiße Bluse und dann über die Hälfte der Tischfläche. Wie der Topf leer ist, setzt sie ihn vorsichtig auf einen noch nicht überfluteten Bereich des Tisches ab und verlässt die Szenerie. Die Künstlerin hat bei ihrer Video-Performance ganz sicher nicht an das Abendmahl oder gar an den so genannten Blutstrahl der Gnade12 gedacht, sehr wohl aber an die Feier, an das Essen, an die Einverleibung, die Befleckung und an die überschießende Fülle. Das visuelle Endergebnis ist natürlich kalkuliert. 11 Patrycja German, Ausstellungsprospekt Kunstakademie Karlsruhe 2006, S. 5. 12 Vgl. Ohly, Friedrich: Gesetz und Evangelium. Zur Typologie bei Luther und Lucas Cra-
nach – zum Blutstrahl der Gnade in der Kunst, Münster (Aschendorff ) (Schriftenreihe der Westfälischen Wilhelms-Universität, Münster, N.F. 1) 1985.
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Alles Weitere ist eine Frage der Assoziationen und Wahrnehmungen der Betrachter. Es geht um Grenzen, um Grenzüberschreitungen und um das Zeichenarsenal, das wir im Kopf haben.13 Selbstverständlich löst dieses Werk unterschiedliche Wahrnehmungen aus, abhängig davon, wo man das Video sieht. Im reinen Kunstkontext wird die Verknüpfung mit dem Abendmahl eher akzidentiell sein, in der Seitenkapelle einer Kirche sich dagegen schnell nahelegen. Im Religionsunterricht ist durch den fachlichen Kontext eine bestimmte Lesart präfiguriert, aber nicht zwingend, da für die Schülerinnen und Schüler ganz andere Assoziationskontexte relevant sein können. Hier kommt es dann auf die konkrete Erschließungsarbeit an. Das Musikvideo zum Song What else is there? der norwegischen Musikgruppe Royksopp wurde 2005 unter der Regie von Martin De Thurah gemacht, einem jungen dänischen Regisseur, der aus dem Bereich der Kunst kommt. Der Liedtext ist hoch verrätselt und deutungsbedürftig, er schildert eine existenzielle Grundstimmung des Getrenntseins und Wieder-Zusammenkommens. Die verwendeten Bilder und Symbole gehen in der Illustration des Liedtextes nicht auf, sie sind ebenso deutungsbedürftig wie bleibend rätselhaft. Der Clip ist sicher nicht als Video über das religiöse Essen konzipiert. Ich würde ihn als visuelle Herausforderung verstehen, um verschiedenen Lesarten des Zeichenkomplexes ‚Abendmahl‘ auf die Spur zu kommen. Ich sage nicht, dass der Liedtext die Gedanken Jesu bei seinem Weg mit den beiden Jüngern nach Emmaus darstellen soll, meine aber, dass man ihn so deuten kann. Es geht um einen Weg, auf dem jemand nicht erkannt wird, ein Weg, der zumindest auf der Bildebene mit einem Essen seinen Höhepunkt findet. Alles Weitere ist Deutungsarbeit, populärkulturelle Auslegungskunst, Erzeugung neuer und Augen öffnender Lesarten. Ästhetisch/Künstlerisch werden wir im Clip zunächst einmal in einen von der Alltagserfahrung deutlich abgekoppelten Suchprozess geschickt. Niemand schwebt – es sei denn metaphorisch – 50 cm über dem Boden durch die Welt. Und auch fliegende Häuser sind (sieht man einmal ab von der religiösen Überlieferung des Wunders von Loreto)14 äußerst selten. Wir werden also auf surreale, vermutlich eher auf metaphorische Zusammenhänge verwiesen. Die TischSzene im Haus ist erkennbar auf barocke Stillleben bezogen und damit auch in einen metaphorischen Deutungskontext eingebunden. Der Clip ist aber konsequent ein „offenes Kunstwerk“ 15 , insofern es Bezugspunkte für Lesarten bereitstellt, diese aber nicht eindeutig fixiert. Für den Religionsunterricht bedeutet das, dass man studieren kann, welchen Erkenntnisgewinn man im Blick auf 13 Vgl. dazu Dressler, Bernhard; Meyer-Blanck, Michael (Hg.): Religion zeigen. Religi-
onspädagogik und Semiotik, Münster (LIT) 1998. 14 Vgl. Ökumenisches Heiligenlexikon, ‚Maria‘, online abruf bar unter http://www.heili
genlexikon.de/BiographienM/Maria.htm (ges. am 14.2.2012). 15 Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M (Suhrkamp) 1977.
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dieses Medienkunstwerk hat, wenn man es in einen religiösen Lektürekontext stellt. Welche Lesarten werden dadurch erschlossen, welche werden dadurch verbaut? Sieht man etwas anderes im Videoclip, wenn man zur Vertiefung die Geschichte der Emmaus-Jünger (oder meinetwegen auch die Legende vom Geburtshaus der Maria in Loreto) liest? Wird der Clip dadurch dichter? Und umgekehrt: Wird durch diese Wahrnehmung nicht auch die religiöse Überlieferung reicher, insofern sie um einen visuellen Code des 21. Jahrhunderts ergänzt wird?
F A ZIT Was können uns die drei vorgestellten Kunstwerke lehren, was kann ihr Beitrag zu religiösen Bildungsprozessen sein? David Bowies Arbeit ist eine Performance, die nach den symbolischen Codierungen des Lebens fragt, zu denen eben auch das gemeinschaftliche Essen (und der Verrat) gehören. Patrycja Germans Performance geht dem Essen wesentlich direkter nach, so direkt, dass der Betrachter Ekelreiz in sich spürt. Und Royksopps Video fragt nach dem befriedenden Aspekt des Essens am Ende der Suche. Bowie vergegenwärtigt die verzweifelte Suche nach Sinn, German geht der Fülle und den Grenzen nach, Royksopp inszeniert das Essen als allegorisches Geschehen. Alle drei Medienkunstwerke arbeiten auf der Zeichencodierungsebene heutiger Jugendwelten, und alle drei Arbeiten überschreiten diese deutlich. Im Religionsunterricht käme es in Zusammenarbeit mit dem Musik- und dem Kunstunterricht darauf an, unter differenzierenden Fragestellungen verschiedene Lesarten dieser Werke freizusetzen. Würde man sich auf das Essen konzentrieren, wäre die verbindende Fragestellung jene nach dem Einsatz des Essens in den einzelnen Arbeiten, danach, mit welchen sozialen, kulturellen, ästhetischen und körperlichen Bedeutungen das Essen in den einzelnen Arbeiten verbunden wird. Ich würde die Schülerinnen und Schüler bitten, ihre Wahrnehmungen so präzise wie möglich zu beschreiben und im Anschluss ihre ästhetischen und danach ihre religiösen Erfahrungen zu artikulieren. Wo gibt es Schnittstellen, wo Differenzen? Wo, das heißt an welchem Punkt genau, findet eine Veränderung der religiösen Erfahrung durch eine ästhetische Erfahrung statt? Dabei befindet man sich zwar auf theologischem Glatteis, aber das wäre genau das Interessante.
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Die Kunst zu Verkörpern. Reflexionen zu künstlerischem Handeln im Feld des Religiösen Nika Spalinger
P R ÄMISSEN Die Vermittlung von Religion geht in zunehmender Tendenz aus der Verantwortung der Kirchen an den Staat über. Angesichts einer zunehmend multikulturellen und multireligiösen Bevölkerung ist das Ziel eines schulischen Religionsunterrichts (auch: „Religion und Kultur“ genannt) nicht mehr so sehr das Einüben einer spezifischen religiöse Praxis oder das Einleben in eine Glaubensgemeinschaft, sondern vielmehr die Vermittlung von Wissen über die verschiedenen religiösen Wirklichkeiten mit dem Ziel, gegenseitiges Verständnis, Respekt und ein friedfertiges Zusammenleben zu fördern.1 Was nun in diesem Kontext ist das Spezifische, was eine Kunsthochschule in der Beschäftigung mit Religion auszeichnen könnte? Welche Bedeutung kommt der künstlerischen Praxis im Feld des Religiösen zu? Ich gehe bei dieser Fragestellungen vom Potenzial der Kunst aus, im Handeln und Materialisieren Unsichtbares zu ‚verkörpern’ und – mit ästhetischer Kompetenz, mit verschiedenen Medien und bleibendem Anspruch auf Autonomie – auf religiöse Inhalte Bezug zu nehmen. Unter ‚künstlerischer Praxis‘ verstehe ich das individuell oder gemeinschaftlich ausgeübte Handeln im Sinne eines erweiterten Kunstbegriffs, der neben bildnerischen auch sozial-performative, räumliche und diskursive Verfahren einbezieht. Bei ‚Religiosität‘ folge ich einer Definition von Monika Jakobs: Der Begriff fasst zusammen, wie eine Person, sich auf innere Dimensionen, Werte, Praktiken und Äußerungen beziehend, biografisch mit Religion befasst ist.2 Mit
1 Vgl. hierzu u.a. den Beitrag von Ansgar Jödicke im vorliegenden Buch. 2 Vgl: Jakobs, Monika: Religiosität als biografische Verarbeitung von Religion. Religi-
onssoziologische Perspektiven, in: Angel, Hans-Ferdinand (Hg.): Religiosität. Anthro-
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Religion bezeichne ich – einer Definition von Clifford Geertz folgend – ein institutionell gefasstes System mit einem verbindlichen Repertoire an Symbolen. 3 Aufgrund der Beobachtungen und Gespräche im Unterricht sowie der Resultate aus der Auswertung der Gespräche, die wir im Rahmen unseres Forschungsprojekts mit Künstlerinnen und Künstlern geführt haben, gliedere ich den Bezug zu Religion und Religiosität durch künstlerische Praxis in einen individuellen, einen gemeinschaftlichen und einen gesellschaftlichen Zugang. Diese Gliederung basiert auf der These, wonach eine künstlerische Auseinandersetzung mit überindividuellen, gesellschaftlichen im Allgemeinen und mit Fragen der Religion im Besonderen eine individuelle und/oder gemeinschaftlich reflektierte Auseinandersetzung voraussetzt. So ist auch im Kunstunterricht zum Thema Religion auf einen Raum zu achten für eine freie, individuelle Auseinandersetzung. Dabei geht es nicht darum, dem Religiösen und der Religion einen genuin gemeinschaftlichen und vor allem gemeinschaftsbildenden Charakter abzusprechen. Es geht vielmehr darum, ein Bewusstsein über die eigene religiös-kulturelle Identität zu entwickeln und sich dadurch der verschiedenen Dimensionen bewusst zu werden, die im künstlerischen Ausdruck religiöser Belange mitspielen. Um solche körperlichen, emotionalen, kognitiv-geistigen Dimensionen zu umschreiben, benutze ich im Folgenden den Begriff ‚innere Wahrnehmung‘. Auf ihrer Basis lassen sich Wissen und Kompetenzen aufbauen, die für den produktiven Umgang mit überindividuellen, nicht konfessionell gebundenen Aspekten des Religiösen gefordert sind; künstlerische Setzungen, die auch im öffentlichen, gesellschaftlichen Kontext qualitativ bestehen können. Schwarze Löcher, verbotene Äpfel und Marienbäume – Kunst und Religion heute hieß das Unterrichtsmodul, das wir 2010 und 2011 an der Hochschule Luzern – Design und Kunst im Rahmen des Forschungsprojekts Holyspace, Holyways anboten. Der Titel zielte darauf, einen Bezug zur katholisch geprägten Innerschweiz herzustellen und gleichzeitig einen Hinweis auf die breite und offene Ausrichtung zu geben. Wir wollten erfahren, ob das Thema Religion Kunst- und Designstudierende überhaupt interessiert und wenn ja, welche Fragen sie dabei sie umtreiben. Gleichzeitig machten wir uns auf, künstlerische und theoretische Zugänge zu erproben, um uns diesem komplexen Themenfeld aus heutiger Perspektive anzunähern. Zur Einführung in den Kontext4 der katholisch geprägten Innerschweiz boten wir Vorlesungen zum Umgang mit christlichen pologische, theologische und sozialwissenschaftliche Klärungen, Stuttgart (Kohlhammer) 2006, S. 116-132. 3 Geertz, Clifford: Religion als kulturelles System, in: ders.: Dichte Beschreibung, Frank-
furt a.M. (Suhrkamp) 1987, S. 48. 4 Wir besuchten u.a. die Wallfahrtskirche Unserer Lieben Frau in Hergiswald nahe Lu-
zern, das Bruder Klaus Museum in Sachseln, die Bruder Klaus Kapelle in Flüeli Ranft und die Jesuitenkirche Franz Xaver in Luzern.
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Bildern an und organisierten Führungen zu wichtigen Pilgerorten. Weiter hatten die Studierenden die Möglichkeit, sich in einer theologischen Sprechstunde beraten zu lassen. 5 Im Rahmen der Ausstellung Um Gottes Willen – Kunst und Religion im Dialog in der Stadtmühle Willisau fand ein Workshop statt zur interreligiösen Performance Made in Paradise.6 Im Übrigen waren die Studierenden frei, zu welchem Schwerpunkt sie sich vertiefen und in welchen Medien sie eine künstlerisch-gestalterische Arbeit entwickeln wollten. Obschon wir die katholische Innerschweiz zum Ausgangspunkt nahmen, standen nicht in erster Linie die katholische Konfession und Kultur im Zentrum des Interesses, sondern grundsätzlicher die Frage nach Bedeutung und Rolle zeitgenössischer Kunst und Gestaltung bei der Vermittlung, Befragung und Repräsentation von Religiosität und Religion.
Verbotene Äpfel (2010): studentischer Arbeitsplatz im Projektmodul
I NDIVIDUELLER Z UGANG Der individuelle Zugang nimmt in erster Linie Bezug auf Religiosität; hier geht es um die Art und Weise, wie eine individuelle künstlerische Praxis das Religiöse biografisch, unter Einbezug innerer Dimensionen, Werthaltungen und Praktiken zum Ausdruck bringt. Matthias Bieri, Student der Illustration aus 5 Die theologische Sprechstunde boten unsere Forschungspartner der Theologischen
Fakultät der Universität Luzern an: Prof. Dr. Monika Jakobs und Prof. Dr. Wolfgang Müller. 6 Performance von Yan Duyvendak, Omar Ghayatt und Natalie Bourgeat am 8.2.2011,
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dem ersten Bachelor Studienjahr, versuchte über zeichnerisch-konstruktive Rekonstruktionen des Kirchenraums eine bildliche Entsprechung für den eigentümlichen Charakter von Erinnerung im Allgemeinen und von Erinnerung an diesen konkreten sakralen Raum zu finden. Die ersten Resultate schienen ihm ungenügend. Um auf bessere Lösungen zu kommen, besuchte Bieri eine Kirche in der Nähe (die Kirche seiner Kindheit war umgebaut worden), wo er verschiedene Selbstversuche machte, um dem Funktionieren der Erinnerung von Raumatmosphären auf die Spur zu kommen. Er beschreibt diese in seiner Projektdokumentation wie folgt: „[...] Bei der Beobachtung von der Kirchenbank aus gelingt es mir ohne zu skizzieren, dank Zählen und Messen der Verhältnisse, ein beinahe vollständiges Gesamtbild zu rekonstruieren. Auch mit dieser Methode entspricht das Erinnerungsbild nicht der Bruchstückhaftigkeit der Erinnerung. Beim Beobachten durch Begehen des Raums wirken die Erinnerungsbilder auf Papier gebracht weniger steif. Durch die Überfülle an Informationen beschränke ich meine Beobachtungen automatisch auf wenige Aspekte: Bruchstücke wie die Lichtstimmung, verschiedene Ecken und Ausblicke.“ 7 Nach vielen Versuchen gelang es dem Studenten, die in seinen Experimenten gemachten Erfahrungen unter Verwendung von Kohlestiften auf großen Papierbögen in atmosphärisch dichte und gleichzeitig bruchstückhafte, zwischen Opazität und Transparenz fluktuierende Raumeindrücke zu ‚übersetzen’ und als Zeichnungen festzuhalten.
Matthias Bieri, Ohne Titel (2011), Kohle auf Papier, ca. 100 x 120 cm
Dieses Beispiel zeigt die Bedeutung genauer Beobachtung unterschiedlicher Arten von Wahrnehmung und des Körpereinsatzes im Prozess der Bildfindung: 7 Matthias Bieri in der unveröffentlichten Projektdokumentation.
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Das Abschreiten des Raumes sowie das ‚Herantasten’ an Gefühle aus der Kindheit über die Tätigkeit des Zeichnens. Mit einem konstruktiven, ausschließlich an äußeren, architektonischen Merkmalen orientierten Zeichnen war das nicht gelungen. Es brauchte ein genaueres Beobachten von Erinnerungen und den dazu gehörigen Gefühlen, um deren fragmentarischen Charakter zu erkennen um diesen, durch Weglassen von Details vereinfacht, in künstlerische Bilder zu übersetzen. Auf der Suche nach der Verortung von Heiligem setzte sich Leonie Lindgren, Studentin im Studiengang Non-Fiction Illustration ebenfalls im 1. Bachelor Studienjahr, zuerst mit Natur-Raum auseinander. In ihrer Projektdokumentation schreibt sie: „[…] Das Thema religio (lat. Aberglaube, Glaube, Religion) hat mich beschäftigt. Ich fragte mich, was denn für mich heilig sei, und die Natur und Fauna kamen mir in den Sinn. Später entdeckte ich, dass das lateinische Wort fanum Heiligtum bedeutet. Natürliche Abläufe und organische Formen faszinieren mich und wecken eine große Ehrfurcht in mir.“ Und zu ihrer Ausgangssituation: „Am Anfang meiner Auseinandersetzung mit dem Thema Kunst und Religion wollte ich auf die Themen Körper, Landschaft, Tempel, Land Art eingehen. Ich bin davon ausgegangen, dass die Natur ein Lebensraum und zugleich ein Heiligtum ist. Ich machte einen Ausflug auf die Rigi 8 und setzte einen Tempel aus Naturmaterialien in der Natur um.“ Die Studentin hatte mit Naturmaterialien experimentiert und einen kleinen Tempel errichtet. Das Resultat befriedigte sie jedoch nicht. Bei weiteren Versuchen mit anderen Medien, mit Installationen und Fotografie gelang es ihr ebenso wenig, die ihr vorschwebenden Bilder zu realisieren. Schließlich fing sie an zu zeichnen. Sie experimentierte mit ganz unterschiedlichen Mitteln und Techniken zunächst auf sehr kleinen, dann – mit hoher Intensität und Körpereinsatz – auf immer größeren Papierformaten. Sie arbeitete ohne Vorlage und ließ sich von ihrem Gefühl und ihrer Hand leiten. Rückblickend schreibt sie: „Mit etwas Hilfe konnte ich mich auf die Zeichnung konzentrieren und ein Projekt starten. Hier ging es mir nun um meine eigenen Bilder, um archaische Vorstellungen, die sich automatisch auf dem Blatt bildeten, sobald ich mit einem Stift zu zeichnen anfing. Dieser Fährte folgend zeichnete ich stundenlang. Technik und Zeichenwerkzeug veränderten sich und bald nahm ich ein großes Stück Karton, auf dem das erste Bild entstand. Mit dem Weiterentwickeln in verschiedenen Techniken konnte ich meine Formensprache präzisieren und erweitern.“ Rückblickend reflektiert die Studentin das Resultat ihrer Arbeit wie folgt: „Die Suche nach Ursprünglichem bringt bei mir organische Formen und raue Gesteinswuchten hervor. Die Bilder lassen viel Freiraum für Eigeninterpretationen des Betrachters, der Betrachterin. Mit meiner Arbeit stelle ich die
8 Bergmassiv in der Innerschweiz.
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Frage nach den Wurzeln der Religion: Ich weise auf Zustände hin, die vor jeder Definition des Seins geherrscht haben könnten.“ Auch Leonie Lindgrens Arbeit folgt einer Suchbewegung. Sie verläuft von der Auseinander-setzung mit dem Naturraum unter Einsatz gefundener, natürlichen Materialien zum Umgang mit Objekten im Innenraum (Installation) über die distanzierende Fotografie bis zur Zeichnung, einer der unmittelbarsten künstlerischen Ausdrucksformen. Beim Zeichnen – zuerst in ganz kleinen, dann in großen Formaten, welche den Einsatzes des ganzen Körpers erfordern – gelingt es ihr, festzuhalten, was ihrer Ideenwelt entspricht. Das „Heilige“, das sich für Lindgren mit etwas „Ursprünglichem“ deckt, sucht Lindgren zunächst in der Natur, bevor es sich auf befriedigendere Art und Weise über die Tätigkeit des Zeichnens selbst darstellen lässt.
Leonie Lindgren, o.T. (2011), Mischtechnik auf Papier, ca. 80 x 120 cm
Ein Aspekt, der künstlerische Praxis auszeichnet, ist die Möglichkeit, über einfache, körpernahe Praktiken den oft volatilen, dem Bewusstsein schwer zugängliche inneren Wahrnehmungen einen Körper zu verleihen, sie zu fixieren und damit reflektierbar zu machen. Im Unterricht an der Hochschule sind die Lust und Freude, sich mit voller Hingabe und ganzem Körpereinsatz handwerklichen Tätigkeiten hinzugeben und das Bedürfnis, aus der Aktion, aus dem Tun heraus etwas entstehen zu lassen, nicht zu übersehen. Die Betonung von Körperlichkeit mag – so Fischer-Lichte, Norbert Elias zitierend – die Gegenreaktion auf Abstraktionsprozesse sein, die mit der fortschreitenden Medialisierung die Distanz zum eigenen Körper immer größer werden ließen.9 Gleichzeitig, so 9 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 2004,
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würde ich anfügen, vergrößert sich – vor allem infolge globaler Verstädterung – der Abstand zur Natur und verringert sich damit das Bewusstsein, Teil derselben zu sein. Der Künstler Robert Müller gibt einer ähnlichen Vermutung Ausdruck: Über körperliche Arbeit im bildnerischen Prozess könne eher eine Verbindung zum Spirituellen aktiviert werden als über rein abstrakte Auseinandersetzungen.10 Möglich, dass die christlichen Rituale und Praktiken heute der beschriebenen Entfremdung vom eigenen Körper nicht genügend Rechnung zu tragen vermögen und deshalb vermehrt künstlerische Aktivitäten und östliche Meditationspraktiken im kirchlichen Kontext Einzug halten. 11
G EMEINSCHAF TLICHER Z UGANG Beim gemeinschaftlichen Zugang geht es um eine Annäherung an oder Bezugnahme auf Religion durch mehrere Personen, hier durch zwei Kunststudentinnen – die eine reformiert, die andere katholisch sozialisiert – und ihr Publikum12: Rahel Lüchinger und Anna Matter setzten sich künstlerisch mit ihrem eigenen Zwiespalt auseinander. Beide bezeichnen sich als ‚ungläubig‘, ohne sich deswegen aber als Atheistinnen zu sehen. In gemeinsamen Gesprächen, beim Besuch von Kirchen, auf Wanderungen wie anläßlich eines KlosterAufenthalts reflektierten sie ihre religiöse Prägung: „In den Kirchen haben wir bemerkt, wie ungewohnt und befremdend es ist, in der jeweils anderen Konfession zu sein. Wie stark die kulturelle Prägung ist, wurde uns nochmals klar vor Augen geführt. Sie liegt tiefer als die Ratio. Geprägt wurden wir selber vor allem in der Kindheit, weshalb dort auch die meisten Bezüge zu Religion sind.“ 13 In ihren gemeinsamen Reflexionen versuchten sie das, woran sie tatsächlich glauben, zu benennen: „Der Glaube beginnt für uns da, wo das unfassbare, beängstigende Nichts beginnt. Er hängt im Zustand zwischen Traum und Wachsein, in dem der Verstand noch nicht die Kontrolle übernommen hat, und man ins unfassbare Nichts fallen kann. Unser Glaube wurzelt auf keinen Fall in der Bibel. Bei Tag sind wir Verstandes-Menschen. Doch in kleinen alltäglichen Momenten taucht
10 Vgl. Robert Müller in: Künstlerinnen und Künstler im Gespräch. Teil II, in diesem
Buch. 11 Kari Jollers Land Art Kurse werden auch von Pfarrern besucht, denen ein künstleri-
scher Zugang zur Natur neue Wege zur Spiritualität öffnet. Vgl. Kari Joller in: Künstlerinnen und Künstlern im Gespräch. Teil II, in diesem Buch. 12 Vgl. Silvia Henkes Besprechung derselben Performance in Hinblick auf deren Er-
zählstruktur, in diesem Buch. 13 Rahel Lüchinger und Anna Matter in der unveröffentlichten Projektdokumentation.
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blitzartig das Nichts auf. Die ausgelöste Angst oder Verunsicherung treibt uns zu kindischen Handlungen und zu Stoßgebeten.“ Die gemeinsamen Erkenntnisse in eine künstlerische Form zu fassen, war nicht einfach: Auf der Suche nach inhaltlichen und formalen Ansatzpunkten standen immer wieder gängige religiöse Metaphern, Symbole und Geschichten im Weg, welche die Studentinnen als bedeutungslos und plakativ empfanden. Zusätzlich wollten sie sich von einer rein objektorientierten Werkauffassung lösen. Schließlich wählten sie, nachdem sie etliche Ideen verworfen hatten, den „künstlerischen Umgang mit dem Nichts“ als ihr Thema. Die daraus entwickelte Performance fand an der Hochschule im Rahmen der Abschlusspräsentation des Moduls statt. Die beiden in Trauerschwarz gekleideten, eine Urne tragende Studentinnen gingen einem kleinen Trupp von Studierenden und Dozierenden voran. Von einem melancholische Weisen spielenden Trompetenspieler begleitet, schritten sie mit ernsten Gesichtern einen Flur entlang, die Treppe hinunter bis zu einer kleinen Koje am Ende des Gangs. Dort stellten sie die Urne auf einen Sockel und besprengten ihn aus dem bereitstehenden Weihwasserbecken mit Wasser. Auch das Publikum wurde dazu eingeladen, die Urne zu segnen. Am Sockel in der Koje war ein geheimnisvolles schwarzweißes Zeichen angebracht. Es handelte sich um einen QR-Code, der nur mit Hilfe eines Smartphones aufzuschlüsseln war. Die Botschaft auf dem Display lautete „Wir gedenken den leer gewordenen Bildern, 19.4.-25.5.2011“. Es war eine vorwiegend diskursive Auseinandersetzung mit ihrer religiösen Herkunft und Prägung, die beide Künstlerinnen gemeinsam unternahmen, allerdings unter Einbezug von Elementen religiöser Praxis wie einer Pilgerwanderung, Kirchen- und Klosterbesuchen. Die Anleihen an religiöse Praktiken vermochten zwar keine schlüssigen Ideen für eine künstlerische Arbeit auszulösen, machten den beiden jedoch klar, dass die christliche Sozialisation sie zwar nachhaltig geprägt hatten, ihr persönlicher Glaube jedoch darin keine Wurzeln fand. Im Verlauf des künstlerischen Prozesses schwankte die Auseinandersetzung zwischen Heiterkeit und Trübsinn. Humor und Witz schufen vielleicht die nötige Distanz, um den oben beschriebenen Fragen zu begegnen. Mit der Performance haben die Studentinnen schließlich eine präzise Form gefunden, um dem ‚Toten’ – den ‚leer gewordenen Bildern’, die auch als abhanden gekommener Kinderglaube lesbar sind – sein letztes Geleit zu geben. Das formal und ästhetisch kohärente, gemeinschaftlich begangene Ritual erhielt mit der frech-fröhlichen und darum keineswegs respektlosen Aneignung bekannter Ritual-Formen eine unerwartete Präsenz. In Kombination mit dem Einsatz eines High-Tech Zeichens und dem für dessen Entschlüsselung notwendigen Tool (QR-Code und Smartphone) funktionierte die Performance über den Ablauf mit den rituell konnotierten Handlungen im gegebenen zeit-räumlichen Setting (Trauermarsch, Gang Treppe, Segnung der Urne, Koje, Sockel), dem Einsatz von Rollenspielen (der Trompeter, die Trauerfamilie, die Trauergemein-
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de, das) und von Objekten (Trompete, Urne, Weihwasserkübel und Besen, QRCode und Smartphone) wie eine ‚Zeitmaschine’ und gab den Rahmen für vielschichtige soziale, emotionale und gedankliche Assoziationen.
Rahel Lüchinger und Anna Matter, De mortuis nihil nisi bene, Performance, Hochschule Luzern – Design und Kunst, 25. Mai 2011
Körper und Materie sind zum Einsatz gekommen; Materie in Form von Objekten, wobei hier nicht deren Entstehungsprozess wichtig ist, sondern ihr Vermögen, Unsichtbares zu ‚verkörpern’. Es geht hier um „die Herstellung einer Gemeinschaft von Akteuren und Zuschauern, basierend auf der leiblichen KoPräsenz“ 14 in einem definierten zeit-räumlichen Setting. Mit der Aufführung der Bestattung, einer typisch „liminal“ 15 konnotierten Erfahrung, tauchen die Beteiligten über gemeinsame, rituell gefärbte Handlungen (Schreiten, Weihwasser, andächtige Stille) und der Evokation außeralltäglicher Gefühle in ein Erlebnis ein, das in seiner wechselseitigen Dynamik („Feedback-Schleife“ 16) unvorhersehbar ist und die Beteiligten für die Dauer der Performance in einer „temporären Gemeinschaft“ 17 verbindet. Mit dem Einsatz ritueller Elemente werden sinnlich dichte, räumlich und zeitlich begrenzte Situationen der Begegnung und das Alltagsbewusstsein transzendierende Erlebnisse geschaffen, wobei mit dem Gestalten reflexiver Erfahrungsräume eine Beziehung zum Religiösen, zur Religion entstehen kann.
14 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: (wie Anm. 9) S.82. 15 Ebenda, S. 305. 16 Ebenda, S. 80. 17 Ebenda, S. 90.
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G ESELLSCHAF TLICHER Z UGANG Im Gegensatz zum individuellen und gemeinschaftlichen Zugang bezieht sich der gesellschaftliche Zugang ebenso auf Religiosität wie auf Religion. Dabei geht es um die Auseinandersetzung mit Religion und/oder die Repräsentation von Religion in einem öffentlichen, gesellschaftlichen Kontext. Für diesen Zugang wähle ich als Beispiel eine Arbeit des Luzerner Künstlers Christian Kathriner, die im Rahmen der Ausstellung Um Gottes Willen – Kunst und Religion im Dialog der Stadtmühle Willisau entstand.18 Der Künstler hatte die Arbeit unter dem Titel Die Zerstörung der Stadt Willisau ortspezfisch für die unmittelbare Nachbarschaft von Kulturzentrum und Kirche entwickelt. Ausgangspunkt war die Auseinandersetzung mit dem Städtchen Willisau sowie mit religiösen Heils- und Endzeitvorstellungen. Der Künstler hatte vorgeschlagen, ein riesiges Bauplakat aufzustellen, prominent über den Stufen, die zur katholischen Stadtkirche führen. Das Plakat sollte als Fotomontage eines Stadtmodells in schwarzweiß die aktuelle Stadt fast gänzlich verschüttet und in Trümmern zeigen. Wir gingen davon aus, dass es ein provozierendes Bild werden könnte. Es galt in der Folge, den Priester und dessen Gemeinde sowie Geldgeber für das Projekt zu gewinnen. Die angefragten Parteien zeigten sich aufgeschlossen und Die Zerstörung der Stadt Willisau konnte wie geplant prominent über der Kirchentreppe realisiert werden.
Christian Kathriner, Die Zerstörung der Stadt Willisau (2011) (Auschnitt)
18 Zur Ausstellung Um Gottes Willen – Kunst und Religion im Dialog‚ 8.5. bis 10.7.2011 in
der Stadtmühle Willisau vgl. http://www.stadtmuehle.ch/ausstellungen/archiv/ (ges. am 21.4.2012).
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An Fronleichnam führte die katholische Prozession wie gewohnt durch das Städtchen vor das Tor und wieder zurück zur Kirche. Vor dem Trümmerbild hielt sie inne, der Priester besprach das Kunstwerk in einigen Sätzen, bevor die Prozession endete. Erstaunlicherweise löste das apokalyptische Bild kaum Reaktionen aus; die Arbeit war der lokalen Zeitung nicht mehr als ein kleines Bild und drei Zeilen wert. Ich selbst halte sie für ungewöhnlich und vieldeutig und kann mit ihr einige grundsätzliche Gedanken zur Rolle zeitgenössischer Kunst in Bezug auf die Vermittlung und Repräsentation von Religiosität und Religion im öffentlichen Raum entwickeln. Die Herstellung der großformatig auf Platten applizierten Fotomontage, ist, viel stärker als die vorgängig besprochenen studentischen Arbeiten, das Resultat einer gedanklich und konzeptuell generierten Arbeit. Sie kreist um eine grundsätzliche Frage in Bezug auf Religionen – die Frage nämlich, wie sich in innerem Frieden leben lässt ohne Glauben an eine Bestimmung oder ein heilsgeschichtliches Ziel. Der Künstler verknüpft die Theodizeefrage mit der Geschichte des Orts sowie mit Gesichtspunkten aus Theologie, Philosophie, Kunstgeschichte und Literatur.19 Für Kathriner stehen Gerüst und Modell als Bild für künftig zu Bauendes. Das Modell ist zerstört – es mutiert zur Prophezeiung und zum Träger von Sinnlosigkeit. Dass das Kunstwerk wider Erwarten keine heftigen Reaktionen auslöste, hängt meiner Ansicht nach an verschiedenen Faktoren: Zum einen war es wohl im Wettstreit mit gängigen Werbeformaten schlicht zu klein. Kam hinzu, dass Die Zerstörung der Stadt Willisau aus einer Vogel- oder ‚Herrgotts-Perspektive’ von oben gezeigt war, in starken Kontrast zur Perspektive auf die tatsächliche Kirche geriet, die den Blick nach oben zwingt. Im Verbund mit der schwarz-weißen Gestaltung des Plakats wirkte dieser Kontrast distanzierend und half mir als Betrachterin nicht, mich emotional in die zerstörte Stadt und ihre Geschichte hineinzuversetzen. Indem ich das Werk in seiner Entstehung verfolgen konnte, hatte ich jedoch Gelegenheit, zu erleben, wie anspruchsvoll die Vermittlung solcher Werke an eine Öffentlichkeit ist. Meine kleine Analyse möchte denn auf die vermittelnde Rolle von Kunst als ästhetische Praxis hinweisen: Wie müssen Bilder, Zeichen und Räume gestaltet sein, damit sie ein heterogenes Publikum nicht nur kognitiv, sondern ebenso sinnlich-körperlich wie emotional ansprechen? Das sind Fragen, die Kunstschaffende herausfordern. Mit der Anleihe auf ein mit Bautätigkeit konnotiertes Format und der Platzierung unmittelbar vor der Kirche musste Kathriners Werk fast zwangsläufig als Repräsentation eines kirchlichen Vorhabens gelesen werden, z.B. als Ankündigung einer Ausstellung zur Geschichte der Stadt und deren Verwüstungen.20 Die erklärenden Worte des Priesters im 19 U.a. war Heinrich von Kleists Novelle Erdbeben in Chili (1807) eine Inspirationsquelle. 20 Die mittelalterliche Gründung der Stadt Willisau ist viermal durch Feuer und Krieg
zerstört worden.
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Rahmen der Prozession taten das ihre, um das Kunstwerk in den Schoß der Kirche aufzunehmen und raubten ihm wohl, auch wenn das so sicherlich nicht intendiert war, sein letztes kritisches Potenzial.
Christian Kathriner, Die Zerstörung der Stadt Willisau (2011), Holz, Metall, C-Print, ca. 500 x 800 x 400cm
F A ZIT Damit Kunstschaffende Themen um Religion und Religiosität im öffentlichen Raum reflektiert, zeitgemäß und in hoher künstlerisch-gestalterischer Qualität bearbeiten können, sind Orientierungshilfen gefragt. Das Projekt Holyspace, Holyways hat versucht, solche im Dialog mit den Studierenden an der Hochschule Luzern zu entwerfen. Ich selbst bin im Unterricht von den Gemeinsam-
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keiten zwischen Kunst und Religion ausgegangen: Künstlerische Praxis vermag den ganzen Menschen in seinen physischen, emotionalen und kognitiv-geistigen Dimensionen einzubeziehen. Der künstlerische Prozess im individuellen Zugang pendelt zwischen Produktion, Rezeption und Reflexion hin und her, wobei er über körperbezogene Handlungen Unbewusstes zu erschließen vermag und unterschiedliche Arten ‚innerer Wahrnehmung’ differenziert zu beobachten erlaubt. Mit der ‚Verkörperung’ solcher Wahrnehmungen werden diese anschaulich und kommunizierbar. Eine differenzierte Unterscheidung von ,Wahrnehmungs-Dimensionen’ wie Fantasien, Vorstellungen, Träume, Eingebungen oder Visionen und die Möglichkeit, tiefere Schichten des Bewusstseins zu erreichen, bilden eine wichtige Basis für die künstlerische Arbeit, ich halte sie für ebenso wesentlich im Bereich des Religiösen. Ein gemeinschaftlicher Zugang zum Religiösen, zu Religion über künstlerische Praxis kann eine offene Plattform bieten, für einen Dialog zwischen Religionen, aber auch zwischen Gläubigen und Ungläubgen. Unter Berufung auf ein religiöses Symbolsystem vermittelt sie zwischen individuellem Anspruch auf Freiheit und Autonomie und kollektivem Bedürfnis nach Gemeinschaft. Mit einem gesellschaftlicher Zugang können sich Kunstschaffende oft erst auf der Basis der Reflexion und Klärung der eigenen, individuellen Werthaltungen, Prägungen und Vorstellungen engagieren. Denn religiöse Themen in einem öffentlichgesellschaftlichen Kontext über künstlerische Praxis zu artikulieren, verlangt nebst hohen künstlerisch-gestalterischen auch konzteptuelle und kommunikativen Kompetenzen: Die Kenntnis von Zeichen- und Symbolsystemen, von diskursiven Strategien ist nötig, um sich in einem heterogenen, multikulturellen und multireligiösen Kontext verbal wie nonverbal verständlich zu machen. Ein solcher gesellschaftlicher Zugang zu Religion über künstlerische Praxis erfordert eine Verknüpfung von Praxis und Theorie und eine multidisziplinäre Perspektive. Basierend auf der Erkenntnis, dass in einer zunehmend multikulturell gemischten Gesellschaft Kunst und Kultur eine wichtige Brückenfunktion für das friedliche Zusammenleben der Menschen spielt, is dies besonders wichtig – nicht zuletzt im Wissen darum, dass Kultur im Zeitalter des Postsäkularen in Unkenntnis eigener religiöser Bindungen wesentliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens nicht zu fassen vermag.
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TEIL 3
D IE F R AGE P R ÄGUNG
DER K ATHOLISCHEN
Kunst und Religion? Künstlerinnen und Künstler im Gespräch Teil II
Orte für Bilder: Initiation, Ehrfurcht, Widerspruch
Charles Moser, Fusswaschung (2007), C-Print
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K ÜNSTLERINNEN UND K ÜNSTLER IM G ESPRÄCH „Ich besuche nicht regelmäßig den Gottesdienst, aber halte mich gerne in kirchlichen Räumen auf, vorwiegend in katholischen Kirchen. Ihre Größe, die Töne, Geräusche, die Ausrichtungen, die Geometrie, die Symmetrien, das Licht, die Dunkelheit oder die Gerüche öffnen und leiten meine Gedanken in unerwartete Richtungen; ich bin anwesend, aufgehoben, ohne etwas zu wollen. Das ist für mich auch religiös sein. Bereits als Kind habe ich Kirchen wegen der Farben und dem, was man Kitsch nennt, besucht. Die barocke Figurenvielfalt löst ein erotisches Glücksgefühl aus. Angemalte Finger- und Zehenspitzen, rote Lippen oder leuchtende Pupillen an Frauen- und Männerfiguren, Glitzer und Goldfäden, Ornamente, Pfeilblitzen, offene Wunden, bestickte Knochen, Tote, Sternenhimmel etc. auf Kirchenaltären, an Decken und Wänden genieße ich gerne und oft. […] Ich empfinde religiöse Räume physisch. Es gibt innerhalb der Kirche Räume, die ich nie betreten würde ohne Erlaubnis und Begleitung und auch dann nur mit einem ‚heilgen Schauder‘. Dieses tief-innere Erschauern kenne ich seit frühester Kindheit, wo es wohl auch entstanden ist. In der Kirche, die ich seit dem 5. Lebensjahr besuchte, war der Altarraum für Mädchen und Frauen tabu. Kam ich der Abschrankung zu nah, erschauerte ich bereits vor Furcht, unbeabsichtigt verbotenen Raum zu betreten. Der Altarraum war Spielort des für mich damals geheimnisvollsten und gefährlichsten Spektakels, der Heiligen Messe. Auf dem Boden dieses Altarraums habe ich vor einigen Jahren eine Installation platziert. Bei jedem Betreten stellte sich sofort dieser Schauder ein, ein physisches Erlebnis eines sakralen Raumes. Ohne die streng konservative katholische Erziehung hätte sich wohl diese Raumbesetzung nie ergeben.“ – Margrit Rosa Schmid
„Die kirchlichen Bauten hatten für mich nichts Totalitäres. Gerade ein barocker Raum hat etwas von einem Kosmos, das hat mich zum Atmen gebracht und nicht bedrückt. Jeder Künstler hat wohl in Bezug auf den Raum eine Art Urerlebnis. […] Anlässlich einer Burgund-Reise wurden mir die Kapitelle der Kirche von Autun zu einem tiefen, grundlegenden Erlebnis. Diese bildnerischen Meisterwerke sind eine großartige biblische Erzählung. Details sind wegen Lichtmangel und Entfernung nur mit besonderer Aufmerksamkeit und besser aus Fotografien lesbar. Dafür packte mich etwas anderes, Zusätzliches: Diese Kapitelle brachten im Raum ein Spiel hervor, einen Rhythmus aus Binden und Lösen, aus Atem und Klang. Es packte mich, ich spürte: jetzt hast Du es. Was? Nichts? Zuversicht! eine Koordinate. Später verstand ich, was Paul Klee nach seiner Tunesienreise schrieb: ‚Die Farbe hat mich!’“ – Anton Egloff
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Anton Egloff, Espace Parole (2001-2011), Stahl, 10 x 8 x 1 m, Kulturweg Baden-Wettingen „Wenn du mit dem Bleistift und dem Papier etwas herstellst, das ist ja das Wunder, dass man etwas sichtbar machen kann, das natürlich viel größer ist, oder? Das ist vielleicht die Brücke zur Religion. In der Religion versammeln wir ja Urphänomene, das heißt intellektuelle, menschliche, soziale, ethische Erstkonnotierungen und in der Kunst ist das sehr ähnlich. Jedes gute Kunstwerk ist wie ein Urknall, wie ein ‚Rappel à l’ordre’, ein Zurück zu den Wurzeln. Ich könnte zum Beispiel den Michelangelo anders nicht erklären. Es gibt nichts Schwierigeres, als eine Michelangelo-Skulptur zu lesen. Sie ist weder gut noch schön, aber sie versammelt alle Kräfte oder den ganzen Mut zum Scheitern. Seine Christus-Skulptur in Santa Maria Sopra Minerva zum Beispiel ist ein wirklich absolut unansehnliches Ding. Im Gegensatz zu einer Christusfigur von Sansovino etwa – die ist eloquent, perfekt, rhetorisch, intellektuell, konzepthaft. Und bei Michelangelo hast du einen Trümmerhaufen, ein Versagen, das ist das Große!“ – Franz Wanner
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K ÜNSTLERINNEN UND K ÜNSTLER IM G ESPRÄCH „Es gibt Arbeiten, die entstehen zu bestimmter Musik. Mein Vater hat mir ja mit meinem Namen Cäcilia die Patronin der Musik mitgegeben. Ich durfte schon früh mit Klavierspielen anfangen. Hören bleibt für mich wichtiger als Schauen. Dabei rückt die zeitliche Dimension in den Vordergrund. Ich bilde nicht ab, was ich sehe, sondern lebe vielmehr in den Schwingungen. Ich glaube, das hat mit dem Metaphysischen zu tun: Schwingungen – nicht esoterisch geredet, die auch in der Stille sind. Erst aus Leere und Stille, aus dem Sterben heraus, kann wieder Neues werden. Ich kenne das Gefühl des Neuanfangs in meinem Schaffen sehr gut. Beim Zeichnen und Malen gehe ich gerne von der Vorstellung aus, dass ich noch nie vor einem leeren Blatt gesessen bin. Auch bei den Rauminstallationen horche ich in die Stille und schöpfe aus der Leere, um darin neue Seinszustände zu schaffen, die den Raum zum Klingen bringen.“ – Cécile Stadelmann
„Den Ort der Kunst kann man – ebenso wenig wie den Wahrheitsgehalt des Bildes – in einen absoluten Begriff fassen. Aber man kann Versuchsanordnungen lancieren. Und insofern ist meine Arbeit in Stans, die Via Crucis, eine solche Versuchsanordnung gewesen: wieder einen Ort zu finden, in dem sich ein Bild einfügt. Dort waren es CPrint-Bahnen, die wir direkt an die Wand aufgebracht haben, wissend, dass die ganze Pracht und Herrlichkeit in zwei Monaten zu Ende sein würden und wir das Ganze von den Wänden reißen und vernichten müssen. Die Frage nach dem Ort der Kunst und nach ihrer Funktion ist gebunden an ihre institutionelle Tradition. Und das ist maßgeblich der Grund, weshalb ich interessiert war, in einer Kirche auszustellen. Hergiswald war kein Bekenntnis oder ein naives Sehnsuchtsbild, sondern eine Versuchsanordnung, um letztlich dann auch zu zeigen, dass es den selbstverständlichen Bezug des Bildes zum religiösen Raum nicht mehr geben kann.“ – Christian Kathriner
„Als Kunstgewerbeschüler hatte ich einen Skiunfall. Die abgerissene Stahlkante an meinen Skis durchtrennte meine Schlagader am Handgelenk und zwei Sehnen für zwei Finger. Als ich im Spital in Stans wieder aufwachte, saß der behandelnde Arzt noch bei mir. Er sagte, dass er heute seine Frau verloren habe. Er erzählte mir von ihr und auch davon, dass sie zusammen nach Ronchamps fahren wollten, um die Kapelle von Le Corbusier anzusehen. Wir fuhren dann zusammen nach Ronchamps. Dort habe ich zum ersten Mal Farben gesehen, Farben, die durch einen Kamin in den Kirchenraum hereinflossen. Raum – Licht – Farbe. Architektonische und farbliche Sinnlichkeit. Nichts mehr von perspektivischem Fluchtpunkt, vorne – hinten, oben – unten. Eine radial bewegte Angelegenheit. Für mich als junger Mann war das einfach richtig!“ – Benno Zehnder
K UNST UND R ELIGION ? T EIL II „Die Vorräume von Kirchen haben immer eine große Rolle gespielt. Der Vorplatz der Jesuitenkirche hin zur Reuss oder die Beruhigung durch den Platz vor der Franziskanerkirche – es gibt gute Beispiele in Luzern. Im Moment aber ist es schwierig, fast unmöglich, diese Funktion von Ruhe oder Stille in den öffentlichen Raum zu bringen – für die Jungen funktioniert öffentlicher Raum anders, da geht es mehr um Tumult. Könnte man wieder Säulen konstruieren, Abfolgen von Säulen, dann könnte man auch einen Zusammenhang konstruieren, der beruhigt. Abgesehen von Kirchen-Architekturen haben Plätze eine Rolle gespielt, in den 1970er Jahren, wo man ähnliche Freiräume hätte schaffen sollen wie in der Kirche. Das war nur eine kurze Zeit, dann kamen Parkverbote, Mistkübel, Parkplätze, Regelungen. Die Künstler haben sich weitgehend zurückgezogen.“ – Hans-Peter von Ah
„Alle Plätze können heilig werden, es ist die Frage, wie man sich darauf einlässt. Wenn man sich länger auf einen Platz eingelassen hat, wird dieser heilig. Mich interessieren nicht die üblichen, in Büchern beschriebenen Kraftplätze. Ich suche mir selber einen Platz, der ist immer wieder anderswo, es ist wie das Geheimnis vom Glück. Es braucht auch Ausdauer, man muss manchmal tagelang ausharren, auch wenn es regnet, und wenn sich dann plötzlich der Nebel auflöst oder das Licht wieder kommt, dann werden Orte durch die Erfahrung heilig oder heilsam.“ – Kari Joller
„Santiago de Compostela habe ich mit meinen Eltern, als ich sieben oder acht war, mit der ganzen Geschichte der Rückeroberung der spanischen Halbinsel durch die Christen, mitbekommen. Von tatsächlicher Anregung jedoch würde ich erst sprechen, wo so etwas wie eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Bild stattgefunden hat, und das hat sicher mit dem Kunststudium eingesetzt. Ich habe auch Kunstgeschichte studiert und Literaturwissenschaft und ich bin vor meiner Zwischenprüfung nochmals nach Santiago de Compostela gewandert, alleine. Erstens, weil’s mir Spaß macht und zweitens mit einem spezifischen Interesse. Da habe ich mich mit Michel Foucault auseinandergesetzt – Die Ordnung der Dinge hatte ich quasi intus – und habe diesen Weg phänomenologisch betrachtet: Was passiert, wenn ich eine Kirche in der Landschaft sehe, nachdem ich drei Tage lang herumgewandert bin? Da passiert nämlich etwas. Es gibt durchaus eine architektonische Bedeutung, die sich eingeschrieben hat in die Wahrnehmung von Landschaft, von nicht-moderner Landschaft natürlich, aber auch in die Bildprogramme der Bibel.“ – Hinrich Sachs
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Das Wesentliche der Kunst als Körper
Eugen Bollin, Magdalena (1999), Bleistift auf Papier, 24 x 20 cm
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K ÜNSTLERINNEN UND K ÜNSTLER IM G ESPRÄCH „Ob das Christentum körperfeindlich sei? Da besuchen sich zum Beispiel die beiden Frauen, die junge Maria, die alte Elisabeth, beide sind schwanger, beide verstehen es aber nicht. Elisabeths Mann Zacharias schimpft gegen Gott, weil ihr diese Unfruchtbarkeit als Joch auferlegt wurde und die junge Maria, die hat überhaupt kein Interesse an so einem Ding, die findet das eher unheimlich. Jetzt kommen die zueinander und da hüpfen diese Kinder in den Bäuchen, weil sie einander erkennen. Und durch dieses Hüpfen der Kinder im Bauch erkennen die beiden Frauen, dass sie schwanger sind. Gibt es ein ‚körperpositiveres’ Bild als dieses?“ – Franz Wanner
„Christus ist doch eine Gestalt von existenzieller Dichte, die man mit esoterischem Geplänkel nicht erledigen kann. Christus ist immer viel stärker. Ich muss diesen Christus körperlich erfassen und zwar aus meinem eigenen Körper heraus und aus der Körperlichkeit einer Gemeinschaft heraus oder einer räumlichen Anlage heraus. Und dann stimmt das. Und es muss ja wahr sein und echt sein, sonst zerbricht es, zerbröckelt wie eine alte Wand.“ – Eugen Bollin
„Ich denke, dass bei der Arbeit mit dem Körper (z. B. Abbild, Performance) schnell die Verbindung zum Spirituellen aktiviert werden kann. Gerade durch die Zerbrechlichkeit, dadurch, dass wenn man einen Menschen gehen sieht, geht es um mehr als nur den reinen Akt der Bewegung. Möglicherweise ist dann das Spirituelle näher, als wenn man sich mit ganz abstrakten Fragen in der Kunst auseinandersetzt. Jemand, der sich mit abstrakten Fragen auseinandersetzt würde mir vielleicht widersprechen?“ – Robert Müller
„Ich mache Kunst nicht bewusst als Ersatz für eine Religion, es ist eher die Essenz dessen, wie ich Beziehung lebe und hat ohne Zweifel spirituelle Aspekte. Ich muss etwas herstellen, was man sieht. Ich muss die Materialität erfahren und all meine Sinne einsetzen. Ich bin Handwerker, je länger eine Arbeit dauert, desto schöner für mich. Das konzentrierte Arbeiten, wenn ich ganz im Hier und Jetzt bin, das ist für mich meditative Arbeit. Wiederholen ist wie ein Gebet: sich ganz auf etwas einlassen. Ich könnte nicht eine Woche sitzen und meditieren. Ich brauche Arbeit mit den Händen, brauche einen Grundkörper, auf den ich mich konzentrieren kann.“ – Kari Joller
K UNST UND R ELIGION ? T EIL II „Die Frage ist ja, wie die Künstler ihr eigenes Metier zur Geltung bringen über das hinaus, dass sie den Auftrag erfüllen, die Kreuzigung zu malen. Denn das tun sie ja: Sie illustrieren nicht die Kreuzlegende, sondern bringen ihr Metier zur Geltung, das die Kunst ist, nicht die Religion. Ich finde die Übertragung der Inkarnation in Haut und Körper nirgends so strahlend gelöst wie in der Kunst. Die Kunst im religiösen Zusammenhang ist meistens nicht körperfeindlich, weil der Künstler seinen Auftrag zur Geltung bringt, nämlich Kunst zu machen und nicht religiöse Erzählung zu illustrieren.“ – Franz Wanner
Franz Wanner, Kern und Gehäuse (1984), Acryl auf Leinwand, 110 x 160 cm
„Im europäischen Umfeld ist Sprache, Logos, die dominante Ausdrucksform. Materie, Körper und Bild haben sich ihr unterzuordnen. Das ist sozusagen auch Genesis. Dass in der Kunst diese Dominanz nicht nur angezweifelt, sondern im Gegenteil wieder umgekehrt wird in etwas Positives, ist das eine der Chancen, die der Kunst tatsächlich ihren gesellschaftlich relevanten Ort gibt heute. Das ist ein der für mich ganz wichtiger Antrieb, Kunst zu machen, sei das nun Theater oder Bild oder sogar Musik: es geht immer um Verkörperung. Kunst ist für mich Verkörperung. Es gibt immer Inhalte und eine spirituelle Dimension, aber es geht durch den Körper hindurch und kommt aus dem Körper heraus. Es sind die Hand und das Auge involviert, die die Dominanz der Sprache zurückweisen.“ – Hinrich Sachs
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K ÜNSTLERINNEN UND K ÜNSTLER IM G ESPRÄCH „Verkörperung ist ein gutes Wort. Es geht nicht nur um Illustration oder Re-Lektüre, es geht um Verkörperung. Das heißt zum Beispiel: spüren, in dieser Person war Maria Magdalena oder Christus da! So. Und das muss ich irgendwo körperlich spüren. Kunst macht ja körperlich. Wir sind oft zu sehr an der Außenseite der Texte geblieben oder haben sie mit Recht exegetisch hinterfragt. Wir haben uns ja mit der historisch-kritischen Methode weiß Gott in vielen Vorlesungen befasst! Alles okay: Es gibt keine Exegese ohne Bultmann. Aber Augustinus sagt: Gott ist Bild geworden – wer hat das übersetzt? Es gibt Literaten, die diese Geschichte von Jesus zum Teil eben dann in andere Geschichten eingeflochten haben, da gibt es Übersetzungen des Ganzen, die haben also in eine andere Geschichte diese Jesusgeschichte eingebracht, also eine Aktualisierung der Christus-Botschaft, nicht einfach im Sinne Bultmanns exegetisch, sondern im Sinne der Personen handelnd, aktualisierend. Bei mir im Kloster oder in der Klasse. Da gibt es zum Beispiel einen elenden Kerl, der immer wieder total an die Seite gedrängt wird: Lazarus vor der Türe, da ist er ja! Jetzt lesen wir diese Lazarus-Geschichte und stellen fest, dieser arme Lazarus ist doch da! Diese Aktualisierung müsste doch irgendwo stattfinden. Eigentlich müsste biblische Botschaft mehr verkörpert werden. […] Wenn Kunst nicht körperlich ist, dann ist sie Illustration. Dann können wir zurück zu Overbeck und zu den Nazarenern. Die Sache ist versüßt worden damals, und jetzt ist sie nicht präsent. Es sei denn indirekt. Bei Beuys oder als sakrale Kunst. Das ist gut, aber das ist noch nicht alles. Man müsste heute eine Sprache finden, die körperlich ist!“ – Eugen Bollin
„Die Malerei muss ohne Sprache auskommen. Sie kann mit Sprache geklärt, umstellt werden. Wenn ich etwas mit Worten sagen kann, muss ich es jedoch nicht malen. Dann ist es besser, Worte zu wählen, weil diese die Erde nicht beschweren. Es ist besser, mit sprachlichen Dingen zu operieren, die die Welt nicht belasten. Wenn es geht. Aber es geht nicht immer: Oft ist etwas sprachlich nicht fassbar oder zu determinierend. […] Für mich ist das Objekt Stellvertreter für etwas Anwesendes, nicht Abwesendes. Beim Krug z.B., diesem frühen Stillleben, handelt es sich um ein Gefäß. Jeder weiß, es hat eine Höhlung. Sie ist nicht sichtbar, aber anwesend. Das hat mich immer interessiert, darum habe ich dieses Stillleben gemalt. Ich wollte etwas zeigen im Sinne des Wunders des Bildes: dass etwas anwesend ist, aber nicht sichtbar. Du möchtest etwas zeigen, aber du kannst es nur zeigen, indem du es verdeckst. Durch diese sprachliche… wie soll man sagen? Durch dieses ‚Verdammtsein zur Sprache’ können wir gar nicht anders als Dinge zu verdecken, wenn wir sie mitteilen wollen. […] Die Kunst kommt nicht darum herum, dass sie Dinge befleckt, zum Beispiel diese leere Leinwand, diese reine, die einfach befleckt wird. Kunst ist vielleicht noch das Einzige in einer wirklich perfekten Welt – wo die Dinge, die Oberflächen so hermetisch sind, dass sie alles verschließen –, das ein bisschen davon erzählt, dass alles krückenhaft ist.“ – Franz Wanner
K UNST UND R ELIGION ? T EIL II „Ein Problem, mit dem ich mich als Mönch und als Maler beschäftigt habe, ist die Frage: Wie kommt Christus dazu, Frauen um sich zu haben? Nun wissen wir, dass solche Fragen auch immer aufgeladen wurden, filmisch, medial. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich arbeite unspektakulär. Es geht mir um die Frage, wie es kommt, dass sich diese reine Männergestalt mit Frauen umgibt? Magdalena ist eine Spezielle. Das ist ein exegetisches Feld, aber es ist ganz klar, dass es nicht irgendeine Frau war, sondern eine Frau, die Jesus liebte und umgekehrt. Wie gehe ich als zölibatärer Mönch, als Maler, mit dieser Frage um, ohne meine Rolle zu verlassen, ohne meine Berufung aufzugeben? Ich beschäftige mich existenziell und seit Jahrzehnten innerhalb des traditionsgeladenen Mönchstums mit dem Bild der Frau. Aber gerade nicht so, dass da der Verdacht aufkommt, der stehe da mit einem Bein im anderen Lager, sondern ich möchte das im Sinne der Bibel zeigen, denn Frauen waren um Jesus. […] Bei mir spielt das erotische Element zweifellos mit – es gibt keine Malerei ohne Erotik – aber sie hat einen anderen Stellenwert insofern, dass, wenn ich Christus in der Passion zeige, ein alter Mönch erscheint. Ich stelle nicht Christus dar, wie er uns in biblischen Darstellungen mit diesem Rembrandt-Typus überliefert ist, sondern einen alten Bruder. Ich habe damit die Sache entschärft. Der, den ich immer wieder als Christus gezeigt habe mit Magdalena, ist inzwischen gestorben. Ich zeige Bruder Martin, der bei uns Konventbruder war – ein einfacher, schlichter Mann. Der Bruder Martin kommt in der Kutte oder in seinem weißen Arbeitskostüm mit einer junger Frau zusammen, das geht ohne weiteres.“ – Eugen Bollin
„Und dann die Madonnenfiguren! Keine Frau ist ähnlich wie Maria, die Mutter Gottes, so umfassend und vielschichtig dargestellt worden. Sie wird von der Großmutter Jesu her gezeigt. Wir sehen in Kirchen und Museen Marias Zeugung und ihre Geburt, den Beginn von Marias eigener Schwangerschaft, Maria sterbend und tot. Maria Empfängnis in Annas Schoß ist vielerorts ein Feiertag. Katholische Bilderwelten stellen Zeugung und Geburt als heilige Handlungen vor. In diesem katholischen Milieu haben sexuelle Dinge Platz, ohne dass man sie anspricht – aufgeschrieben sind sie in Symbolsprache.“ – Margrit Rosa Schmid
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Eine Theologie des Bildes: Lernen und Lehren an der ‚Außenhaut’ der Exegese
Christian Kathriner, Via Crucus – Statio XII (2004), C-Print, 270 x 300 cm
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K ÜNSTLERINNEN UND K ÜNSTLER IM G ESPRÄCH „Ganz viele Menschen sind auf der Suche. Das merke ich immer mehr. In letzter Zeit erhalte ich auch Anfragen von Kirchen, von Institutionen, die mich irgendwie wahrgenommen haben. […] Und irgendwann sind dann auch Pfarrer gekommen, einer kommt fast jedes Jahr wieder – die finden, so muss man eigentlich Spiritualität leben heute, damit Menschen wieder den Zugang zum Göttlichen finden: Man kann nicht einfach so abstrakt in einem Kirchenraum, sondern wieder vermehrt in der Natur Spiritualität erleben. Und für den einen geht dann das weiter, für den ist der Schöpfer, Jesus Christus oder Gott – und das ist wie eine Basis – die Natur, die ist berührend, wenn man sich auf sie einlässt, und was dann der Mensch weitermacht mit dem, wo er seine Spiritualität weiterführt, das ist jedem Einzelnen überlassen. […] Ich weiß nicht, wo die Grenzen sind zwischen tiefenpsychologischen Erfahrungen und Spiritualität oder Berührungen und Spiritualität. Meine Arbeiten, die im öffentlichen Raum zu sehen sind, werden oft spirituell gedeutet. Menschen sprechen mich darauf an und ich erfahre immer wieder, dass sie den Ort dadurch neu und intensiver wahrgenommen und erlebt haben.“ – Kari Joller
„Aber als Lehrer glaube ich nicht, dass man alles auf Würfel, Kugel und Dreiecke hätte reduzieren sollen, das war für mich natürlich überhaupt nicht wichtig gewesen. Es ist hingegen so, dass die konkrete Kunst mehr ist als das – sie ist Ausdruck einer bestimmten Lebenshaltung. Es kommt letztlich nicht drauf an, ob etwas figürlich oder konkret oder abstrakt ist, man muss das Leben des Einzelnen dahinter oder hindurch spüren. Für mich ganz aufschlussreich war 1968 eine Bauhaus-Ausstellung in Stuttgart. Das Bauhaus ist natürlich damals das große Licht gewesen. Eine wunderbare Sache – Faltarbeiten in Papier, Papierschnitte – wunderbar! Als ich aus der Ausstellung kam, da sah ich Kaufhöfe mit Aluminifassaden – alles wie Papierschnitt und Faltarbeiten. Da habe ich gesehen: Die Ideen des Bauhauses waren zur Ideologie geworden, zur formalistischen Methode. Diese Beobachtung war für mich als Lehrer wichtig: Du musst jetzt bei den Schülerinnen und Schülern zurückgreifen auf ihre ursprüngliche Kraft, und du musst nicht konkrete Künstler aus ihnen machen. Das war der Grund, warum ich bis zuletzt wieder Naturstudium mit ihnen machte. Ich holte die jungen Menschen dort ab, wo sie waren in ihrer Biografie und führte sie in ein Größeres, Objektiveres. Das hat vielleicht auch mit Religion etwas zu tun.“ – Anton Egloff
K UNST UND R ELIGION ? T EIL II „Luzern ist die einzige katholische Kunstschule und sie beherbergte immer Freiheit und Sinnesfreudigkeit. Im Gegensatz zu Zürich, das streng rational war oder Basel, das mit der Fasnacht eine Neigung zum Surrealen hat. Aber chaotische Urzustände waren nur in Luzern möglich. Das ist auch von Studierenden ausgenützt worden, das war schon anders als in Zürich. Diese Tendenz wird unterdrückt von dem, was man im Moment für wichtig hält – Rationalisierung, Globalisierung. Aber die Tradition der Schule ist geprägt durch Kunstlehrer, die stärker mit religiösen Themen befasst waren als anderswo: Godi Hischi hat Theologie studiert, Werner Andermatt hat die Paramentik in die Textilabteilung der Schule geholt. Solche Ausweitung war möglich, es sind Dinge gemacht worden, die verpönt gewesen waren und noch heute gemacht werden, zum Beispiel die Doppelausbildung von Künstler und Zeichen- und Werklehrer. Ich habe es sehr geschätzt, dass sehr viel möglich war und außerhalb der Normen der Studienreglemente funktionierte. Was anderswo nicht im Programm drin war, ist hier geduldet worden; nicht unbedingt gefördert, aber es konnte eine Eigendynamik entwickeln. Das ist die Luzerner Schule mit ihrer Tradition. Ob das direkt mit dem Katholischen zu tun hat?“ – Hans-Peter von Ah
„Was mich am Isenheimer Altar so beeindruckt ist seine schiere Größe, die unerreichte Malerei und die physische wie inhaltliche Komplexität. Die Veranschaulichung des Unaussprechlichen: Gottessohn. Menschwerdung Gottes. Gott als Mensch und als Mensch durch alle Leiden und Ängste bis in den Tod. Dieser göttliche Sohn hat als Mensch nie Tricks angewandt, er hat durchgehalten bis zum Schluss, nie gezaubert, das ist als Idee von Gott verrückt. Bei Grünewald ist er dann auch Mensch in jedem Sinn, und seine dargestellten Leiden schmerzen beim Anblick des Bildes. […] Hier manifestiert sich auch die Transformation aller Schmerzen, alles Unseligen, alles Menschlichen ins Licht. Hier wird das Unaussprechliche dargestellt. Malerei kann das, kein anderes Medium ist dazu so gut geeignet. Deshalb war mir der Isenheimer Altar (quasi als Lehrmittel) wichtig. Die Studierenden hatten ja nichts am Hut mit diesen Themen und auch nichts mit dieser Art von Malerei. Aber einmal vor dem Bild, im kühlen Unterlinden in Colmar, verstummten sie, saßen da und staunten und ließen das Bild gewähren. Aufgeregte, intensive Gespräche fanden spontan statt. Wir sind dann doch auch auf das Religiöse zu sprechen gekommen und sie fragten, ob ich in die Kirche ginge? Wichtiger war mir der Hinweis, dass der Maler dieses Bildes in ihrem Alter war! Das war meine Frage an die Studierenden: Was gebe ich mit meinen Bildern? Wie nahe sind meine Bilder bei den Menschen? Das ist, gesellschaftlich gesehen, eine religiöse oder spirituelle Frage.“ – Benno Zehnder
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K ÜNSTLERINNEN UND K ÜNSTLER IM G ESPRÄCH „Mit meiner Malerei stehe ich im Kloster allein. Die Bilder kann ich ja kaum den Mitbrüdern zeigen, den Schülern schon gar nicht. Im theologischen Kurs, da weiß ich, dass die Schüler dort keine künstlerische Vorbildung haben. Dort muss ich immer beweisen, dass ich zeichnen kann. 95 Prozent der Theologen haben keinen Zugang zur zeitgenössischen Kunst. Und das ist für mich eigentlich die Katastrophe: dass unsere Theologie der letzten Jahrzehnte nicht dahin gekommen ist, theologische Bilder so aufzubereiten, und zwar aus der Romanik, der Gotik und dem Barock, dass ein heutiges, der Thematik angemessenes Kunstverständnis möglich ist. Da haben wir einfach eine Lücke. […] Ich kenne keine Theologen, die das erklären könnten. Die stehen vor dem Bild und sagen, der malt zum Glück auch noch anderes, auch noch Frauen mit Hut. Aber es wäre wirklich an der Zeit, dass man ähnliches einmal zeigen könnte. Aber welcher Theologe hat da Zugang? Es sind wenige. Das kreide ich der Theologie und der theologischen Ausbildung, die zwar top ist, an: dass sie diesen Bereich vernachlässigt hat, über Jahrzehnte! Theologengenerationen, die auch katechetisch immer mit diesen simplen Dingen arbeiten, in der Karwoche, am Erstkommunionstag, da werden irgendwelche Körbchen aufgehängt und Fischchen heruntergelassen, es ist eine…“ – Eugen Bollin
„Ich fühle mich Agnes Martin sehr verwandt. Sie hat mich darin bestärkt, in der Leere die Fülle zu finden. Ähnlich inspiriert hat mich auch eine Ausstellung im Aargauer Kunsthaus von Jan Hubertus, der 1996 während der Ausstellung, 90-jährig, gestorben ist. Seine Arbeit erinnert mich an meine eigenen Erfahrungen in buddhistischen Klöstern von Nepal. Seither empfinde ich das Gestalten in sich schon als ‚Stirb- und Werdeprozess‘, wie ein ‚Ein- und Ausatmen‘. Jedes Mal geht es darum, alles loszulassen und ‚in den Fluss zu steigen‘, um verwandelt und woanders wieder anzukommen. Es ist ein Vortasten in die Wahrnehmung von Zeit und Raum, ich erlebe das Flüchtige neben dem Beständigen, das Vergängliche der Erscheinungen und die fragile Materialität und arbeite damit. Die Kunst ist ein Weg, in neue Räume vorzustoßen, in kollektive menschliche Erfahrungen einzudringen und in ein Mysterium einzutauchen. Mit der universellen Dimension von Gebären und Geboren werden, von Eros, Leben und Sterben in Berührung zu sein. Mit meiner Kunst suche ich die Verbindung zum Geheimnisvollen, erlebe ich die Gleichzeitigkeit von materieller und immaterieller Existenz, von physischer und geistiger Präsenz. Die Kunst eröffnet Wege, um Ordnungen zu schaffen, die das Verletzliche halten, Ordnungen, die das Vergängliche bewahren. Eigentlich ist meine Arbeit eine Gegenkraft gegen den Tod. Je intensiver ich etwas erlebe, desto kristalliner wird der Augenblick – Gestalten gegen das Verschwinden, das Verflüchtigen.“ – Cécile Stadelmann
K UNST UND R ELIGION ? T EIL II „Als ich die Leitung der Luzerner Kunstgewerbeschule übernahm, führte ich neben anderem auch die Illustration als Studienfach ein. Nicht nur weil die Luzerner Schule ja eine große zeichnerische Tradition hatte, sondern weil die Illustration eben das Erzählerische, das Figurative als ihr Wesen beinhaltet. Ich verbrachte ja die 17 Jahre davor in England und erlebte dort einen total unverkrampften Umgang mit Figuration, mit Erzählung im Bild in der Kunst. Die Illustratorin, die die Welt kennen und in ihren Werken eine Welt erfinden muss, war eine heilsame, fast subversive Gegenspielerin zur damaligen ‚Freien Künstlerin’.“ – Benno Zehnder
„Es gibt in der zeitgenössischen Kunst Tendenzen spiritueller Richtungen. Elementare Materialien wie Erde, Mineralien, Wasser, Feuer, Luft bilden den Stoff für eine zum Teil neue ritualisierte Kunst. Das kann als Religionsersatz erfahren werden. Bis anhin waren diese Materialien, wie auch Wachs und Öle, im religiösen Brauchtum verankert. Heute wird vieles übernommen, was dann oft in überhöhten Gefühlsempfindungen oder in der Esoterik stecken bleibt. – Ich möchte aber noch auf etwas anderes hinweisen: Vor etwa 600 Jahren hat sich der Künstler innerhalb der christlichen Religion zur autonomen Person emanzipiert. Er sah sich nicht mehr nur als Diener und Ausführender von theologischen Konzepten, sondern als selbständigen Partner. Im Großen und Ganzen kann man feststellen, dass in allen Epochen in Zusammenarbeit und wirklicher Partnerschaft Meisterwerke der religiösen Kunst entstanden sind. Ich erinnere an die Kapelle von Matisse in Vence von 1954. Es fasziniert, wie ein genialer Künstler sich auf Fragen und Geheimnisse der christlichen Botschaft einlässt und im Hier und Jetzt ein Gesamtkunstwerk schafft, das sich in einem universellen Sinn weiter entfaltet.“ – Anton Egloff
„Warum ist die romanische Kunst immer noch so aktuell? Weil sie eine Körperlichkeit zeigt, die voll ist von lebendiger Geistigkeit der damaligen Zeit, sei es in den Augen oder im Mund – reduziert, aber so klar! Und das muss heute auch passieren, sonst ist es nur noch Außenhaut. Wir haben zu viele Außenhäute, wir müssten uns mal wieder häuten. Kunst dringt zum Wesentlichen vor im Raum des Körperlichen und des Geistigen.“ – Eugen Bollin
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Sakral, religiös, katholisch? Eine kunsthistorische Sichtung der Innerschweiz Fabrizio Brentini
Chor der Pfarreikirche St.Karl, Luzern mit Wandfresken von Hans Stocker (1935)
Kunst und Religion gingen seit dem 19. Jahrhundert weitgehend getrennte Wege. Wer Kunst für Kirchen schuf, war in der offiziellen Szene nicht präsent, andererseits waren Werke arrivierter Künstler für Kirchen eher die Ausnahme. In Frankreich gab es um 1950, gefördert durch den Dominikanerpater AlainMarie Couturier, eine kurze Phase, in der berühmte Kunstschaffende für religiöse Institutionen arbeiteten. Es entstanden die Rosenkranzkapelle von Henri Matisse in Vence bei Nizza (1951), die Glasfenster von Fernand Léger für die Kirche Sacré-Cœur in Audincourt (1951) und die Wallfahrtskapelle Notre-Dame du Haut von Le Corbusier in Ronchamp (1955). Ob die Werke auch als religiös zu kennzeichnen sind, bleibt unklar. Die erwähnten Künstler waren keine beken-
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nenden Christen, im Gegenteil. Man muss somit, wenn kein klares Manifest vorliegt, bei der Auslegung solcher Ensembles vorsichtig sein. In der Schweiz versuchte die 1924 gegründete Schweizerische St. Lukasgesellschaft (SSL) eine moderat moderne Kunst für Kirchen zu propagieren. Diese Bemühungen gipfelten 1934 in der Einweihung der Kirche St. Karl in Luzern, die nach den Plänen von Fritz Metzger errichtet wurde und die als erste moderne Kirche in der Innerschweiz zu werten ist. Zahlreiche Künstler erhielten Aufträge für die Ausschmückung. So konnte Hans Stocker einen Bilderzyklus sowie figurale Fenster im Treppenrund zur Unterkirche, August Blaesi die vier großen Evangelistenfiguren über dem Haupteingang ausführen. In der Folge wurden etliche Kirchen gebaut, die sowohl in Bezug auf die Architektur wie auch in Bezug auf die Ausstattung Anleihen machten an die Strömungen der aktuellen profanen Kunst. Die beteiligen Baumeister und Künstler waren jedoch weder an nationalen, geschweige denn an internationalen Ausstellungen renommierter Kunsthäuser vertreten. Der einzige explizit religiöse Maler, der vorwiegend für kirchliche Kreise arbeitete und später die höheren Weihen der Kunstwelt erhielt, war Ferdinand Gehr, der in der Innerschweiz einige wichtige kirchliche Arbeiten ausführen konnte, unter ihnen das Deckenbild und die Glasfenster in der Unterkirche von St. Josef in Luzern (1948), die Wandbilder in der Bruder Klaus-Kirche von Oberwil,1 (1957-1960), die einen emotionalen Bilderstreit 2 auslösten oder die Wandbilder und Teppiche in der St. JohannesKirche in Zug (1971 bzw. 1977).
N IKL AUS VON DER F LÜE UND DIE KÜNSTLERISCHE A VANTGARDE – I NNERSCHWEIZER M YSTIK , P OLITIK UND R ELIGION Ausgelöst durch das Ausstellungsprogramm von Harald Szeemann waren in der Schweiz um 1970 neue Bildfindungen und -strategien zu bestaunen, man denke an das epochemachende Ereignis When attitudes become form (1969) in der Kunsthalle Bern. 1968 übernahm Jean-Christophe Ammann, der in Bern Assistent von Szeemann gewesen war und später an der documenta 5 (1972) in 1 Alle im Folgenden genannten Ortschaften befinden sich in der Schweiz, nicht nur in
der Innerschweiz. 2 Vgl. Zenklusen, Laetitia: Pfarrkirche Bruder Klaus und Kapelle St. Nikolaus in Oberwil,
Kanton Zug, Bern (Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte) 2002, S. 7. Der Kunstskandal entzündete sich an der formalen Gestaltung des „direkt unter den Leuten“ dargestellten Christus und der abstrahierten Engel. „Dabei wurde um weit mehr als um die streitbaren Wandgemälde diskutiert. Es ging im Grunde genommen um die Etablierung moderner Sakralkunst, die Stellung der Schweizerischen St. Lukasgesellschaft und die Frage, wer über öffentliche Kunstfragen zu entscheiden hatte.“
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Kassel mit ihm eng zusammenarbeiten sollte, die Leitung des Kunstmuseums Luzern und machte die Innerschweiz mit der internationalen Avantgarde vertraut. Hiesige Künstlerinnen und Künstler nahmen den Richtungswechsel auf und gingen als Vertreter einer eigenen Richtung mit der irreführenden Etikette „Innerschweizer Innerlichkeit“ in die damalige Kunstkritik ein. Wortreich charakterisierte Theo Kneubühler die Stoßrichtung des Aufbruchs in Katalogen, die in der ersten Hälfte der 1970er Jahre Ausstellungen von Innerschweizer Kunst begleiteten. Er betonte die Freude am Figuralen, welches im Gegensatz stand zur Sachlichkeit der Zürcher Konkreten, das Interesse an Ritualen und das Experimentieren mit unterschiedlichsten Materialien. Explizit nannte er die Bilderwelt des Katholizismus als wichtige Quelle für neue künstlerische Manifestationen. Die Künstlerinnen und Künstler gerade in der Innerschweiz würden sich dieses Schatzes bedienen, ohne sich damit in Bezug auf religiöse Bekenntnisse einordnen zu lassen.
Chor der Pfarreikirche Bruder Klaus in Oberwil mit Wandfresken von Ferdinand Gehr (1957-1960)
Zweifellos kann man in dieser Zeit der verbreiteten Kritik an der offiziellen Kirche von einer Faszination für das Religiöse sprechen. Ein erster Höhepunkt dieser Faszination ist 1981 auszumachen, als der schon damals arrivierte Bildhauer Kurt Sigrist 30 Schweizer Kunstschaffende einlud, in Sachseln, auf dem Weg nach Flüeli-Ranft und schließlich in der Ranftschlucht auf die Ausstrahlung von Niklaus von Flüe zu reagieren.3 Dieser war nicht nur eine für die Schweiz wich3 Anlass war das 500-jährige Jubiläum des Stanser Verkommnises von 1481. Damals
überwanden die acht Orte des Bundes der Eidgenossen ihre inneren Konflikte, insbesondere zwischen Stadt- und Landorten.
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tige politische Figur. Sein Eremitendasein zog viele von der Mystik Affizierte in ihren Bann. Die künstlerischen Realisationen setzten den Innerschweizer Heiligen denn auch in ein breiteres Bezugsfeld, verbanden sein Leben und Wirken etwa mit der damals hochaktuellen Friedensbewegung (Anton Egloff, Godi Hirschi, Hugo Schumacher, Hannes Vogel), mit den Visionen (Werner Andermatt, Irma Ineichen) oder mit den bekannten Porträts von Bruder Klaus (Anton Bruhin, Ferdinand Gehr). In Sachseln waren einige Exponate im 1976 eröffneten Museum Bruder Klaus zu sehen, dessen erster Leiter, der Bildhauer Alois Spichtig, nicht nur die Rezeptionsgeschichte des Heiligen, sondern auch die Bedeutung seiner politischen wie religiösen Botschaften zum Thema einer permanenten Installation, später von Wechselausstellungen machte. Seither entwickelte sich das Museum kontinuierlich weiter und versteht sich heute als Ort des Dialogs zwischen Kunst und Religion ganz allgemein.
Kurt Sigrist, Die vier Lichter (1987), Pappelholz, weiß lasiert, diverse Maße, Museum Bruder Klaus, Sachseln
Ich selber war damals von der Anlage der Ausstellung außerhalb des üblichen Museumsbetriebs derart fasziniert, dass ich mit Kurt Sigrist ein Folgeprojekt ausarbeitete. Sechs Jahre später jährte sich der Todestag von Niklaus von Flüe zum 500. Mal. Als damaliger Präsident der SSL wollte ich die Obwaldner Mitglieder zu einer Ausstellung bewegen, die wir unter Sigrists Federführung zu einem Gemeinschaftswerk entwickelten. Ausgangspunkt waren die Visionen des Eremiten, als Material schrieben wir Holzstämme vor. In einer Arbeitswoche im Kloster Engelberg mit Hans-Peter von Ah, Eugen Bollin, Franz Bucher, Karl Imfeld, Kurt Sigrist, Alois Spichtig und Karl Stadler entstand die siebenteilige Reihe Vom Turm zum Brunnen, für die der Architekt Paul Dillier einen Pavil-
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lonweg entwarf. Das erstmals 1987 im Museum Bruder Klaus gezeigte Ensemble wanderte zu verschiedenen Pfarreien, bis sie schließlich, vom Kanton Obwalden angekauft, 1993 im Garten des genannten Museums einen definitiven Standort erhielt. Das 100-Jahr-Jubiläum der Theologenverbindung Waldstättia im Jahre 1991 gab mir den Ansporn, auf dem Areal der Hofkirche St. Leodegar Luzern, an meinem damaligen Arbeitsort, eigens geschaffene Kunstwerke aufstellen zu lassen. In Zusammenarbeit mit der SSL stimmten sechzehn Künstlerinnen und Künstler der Auseinandersetzung mit dem durch die Institution Kirche stark geprägten Areal zu. Ein religiöser Bezug war nicht vorgeschrieben, es entstanden Arbeiten, die ebenso in einem profanen Kontext hätten gezeigt werden können. Doch die Nähe zu Kirche, Friedhof und zum Priesterseminar ließ fast zwangsläufig nach möglichen Relationen zu religiösen Aspekten fragen. Die vierzehn weißen Tafeln von Jörg Niederberger an der Außenmauer des Friedhofes riefen Assoziationen zur Stationenzahl des Kreuzweges wach. Eine Holzskulptur von Jo Achermann vor dem Eingang der Hofkirche war als eine Art Himmelstreppe lesbar. Besonders herausgefordert fühlten sich Kirchgänger durch die Bronzefigur Großes Weib von Rudolf Blättler – mehrmals wurde sie Ziel von Vandalenakten. Als Erinnerung an das Jubiläum schenkte die Theologenverbindung dem Priesterseminar das von Hans-Peter von Ah geschaffene Kreuz, das zumindest eine Zeitlang in der Kapelle aufgestellt war. Schließlich unternahm ich 1994 den Versuch, die 60-jährige Geschichte der SSL mit einer Ausstellung im Kunstmuseum Olten aufzubereiten. Der Titel … SEQUENZEN… spielte auf die unterschiedlichen Phasen in der Vergangenheit der SSL an. Kontraste waren bei der Werkauswahl unvermeidlich. Hielt sich beispielsweise August Wanner bei seinem in den 1930er Jahren in Lithografie ausgeführten Kreuzweg (der bis zur Renovation von 1989 in der Pfarrkirche Littau zu sehen war) an ein traditionelles ikonografisches Muster, waren die Bronzeknäuel von Egloff oder das eigens für die Ausstellung geschaffene Oktogon von Achermann offene Kunstwerke, die keine klare inhaltliche Präferenz zum Ausdruck brachten. Man konnte Bezüge zu einer religiösen Symbolik herstellen – das Oktogon als Nachhall von oktogonalen Zentralkirchen wie San Vitale in Ravenna –, musste aber nicht.
L ITURGISCHE B ÜHNEN Ende der 1960er Jahre war der Boom des Kirchenneubaus am Abebben. Es folgten Renovationsaufgaben, bei denen vor allem für die durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) erlaubte Neuordnung des Altarbereichs oft Wettbewerbe ausgeschrieben wurden. Die Akteure der liturgischen Handlungen zeigten sich neuerdings den Gottesdienstbesuchern, was eine erhöhte Bewe-
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gung im Chorbereich nach sich zog. Viele Kirchen wünschten eine räumliche Öffnung der oft engen Chorarme – eine komplexe gestalterische Aufgabe, für die in erster Linie Bildhauer, gelegentlich auch Maler, beigezogen wurden. Die folgende Sammlung an Beispielen ist nicht vollständig, möchte aber auf ein höchst interessantes Betätigungsfeld Innerschweizer Kunstschaffender hinweisen. Sie mussten zwar von einer klaren Funktion, der Ermöglichung liturgischer Handlungen, ausgehen, konnten jedoch in der Formsprache weitgehend frei agieren. Etliche Realisationen sind nicht einfach eine Addition von Mobiliar, sondern erweisen sich als plastische Gesamtkompositionen. Die Neugestaltung von Altarräumen forderte auch international agierende Bildhauer zu Vorschlägen heraus. Für die katholische Kirche St. Peter und Paul in Oberwil schuf Hans Arp 1964/1965 nicht nur die funktionalen Skulpturen für den Altarraum, sondern entwarf runde Bodeneinlagen mit einfachen Zeichen. In der katholischen Kirche St. Michael in Luzern (1967 eingeweiht) wird der Chorbereich vom wuchtigen Altarmonolith von Fritz Wotruba beherrscht, der zudem auf dem Vorplatz eine kubisch aufgebrochene Bronzeskulptur aufstellen liess.
Zentrum St. Josef, Köniz (1991), Chorraum von Godi Hirschi und Kurt Sigrist
Sigrist verschrieb sich eine Zeitlang fast ausschließlich der Schaffung liturgischer Bühnen, wobei er häufig den Dialog mit anderen Kunstschaffenden suchte. Eine der verblüffendsten Ergebnisse präsentierte er zusammen mit dem Luzerner Maler Godi Hirschi im 1991 eingeweihten Zentrum St. Josef in Köniz, wo sich Malerei und Bildhauerei nicht nur im Chorbereich, sondern auch in der Taufnische oder in den Seitenschiffen ergänzen. Zudem versuchte Sigrist mit der Akzentuierung des Vorplatzes das Äußere mit dem Inneren zu verzahnen.
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Etwas bescheidener fiel sein Eingriff im Andachtsraum des Paraplegikerzentrums in Nottwil aus, wo der weiß lasierte Holzaltar mit dem entfernten Kern (eine subtile Andeutung des Leidens der Patienten) durch roh gesägte Platten an den Wänden ergänzt sind. Eine ungleich schwierigere Herausforderung war die Umgestaltung des Altarbereichs in der ehrwürdigen Hofkirche Luzern (2000-2001). Eine Plattform, die sich auch farblich von der sie umschließenden Raumhülle abhebt, akzentuiert das Neue, aus dem die plastischen Objekte aus Basalt, dem aus der Tiefe stammenden vulkanischen Rohstoff, zu wachsen scheinen. Als erratische Blöcke bieten sie Orientierungshilfen für die liturgische Handlung. Auch von Ah, der lange Zeit an der Bildhauerabteilung der Schule für Gestaltung in Luzern (heute Hochschule Luzern) lehrte, setzte sich in den 1980er Jahren häufig mit Chorraumgestaltungen auseinander. Ihn interessierten vor allem mögliche formale Bezüge zum architektonischen Raum. Seine Objekte, hergestellt aus unterschiedlichen Werkstoffen, sind präzis konstruierte Kleinarchitekturen mit bewussten Zitaten der Gebäude, für welche sie gedacht sind. In der Innerschweiz sind seine Chorraumgestaltungen für die Pfarrkirchen in Littau und Goldau zu nennen. In Littau schuf von Ah 1989 die Skulpturen als geschlossene Steinblöcke, in die teilweise sanfte Rundungen eingeschrieben sind. Diese wiederholen sich in den Stufen wie auch im kaum wahrnehmbaren Wandelement an der Chorwand, das die Funktion hat, die Bildflächen der Sgraffitto-Malereien optisch abzustützen. In der neuen Unterkirche zog von Ah eine gebogene und frei stehende Wand ein, die er mit gelb eingefärbtem Stuckmarmor einkleidete. In der römisch-katholischen Pfarrkirche Goldau inspirieren der Chorbogen und die Säulen im Schiff die Struktur der Chorstufen und die Architektur der liturgischen Objekte. Zusätzlich erweitern die unterschiedlichen Werkstoffe die farbliche Vielfalt, die schon durch den Altbau gegeben war. Jo Achermann, ein weiterer Obwaldner Bildhauer, erhielt mehrmals Gelegenheit, Chorraumgestaltungen vorzunehmen. Für die katholische Kirche St. Georg in Oensingen fügte er bei der Erneuerung des Altarraumes 1993 Vierkanthölzer zu einem monumentalen, scharf konturierten Altarblock zusammen, um ihn durch filigrane Metallobjekte (Kerzenstöcke, Hocker) zu ergänzen. Dieser minimalistischen Sprache blieb er auch 1996 bei der Chorraumgestaltung in Gurtnellen treu, nur dass er hier statt Holz Granitplatten wählte, die er präzise aufeinander schichtete und dadurch noch mehr als in Oensingen den Altar als Opferstätte erscheinen ließ. Blockhaft ist auch der Altar der Kapelle St. Niklausen ob Kerns (1995). Er besteht aus drei Kalksteinquadern, die derart zusammengefügt sind, dass die Fugen auf der Schauseite ein T zeichnen. Im Kontrast dazu konstruierte Achermann die Sedilien, das Chorgestühl und den Tabernakel aus anthrazitfarben gespritztem Metall.
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Hof kirche Luzern, Liturgiebereich mit Stufenanlage von Kurt Sigrist, 2000 bis 2001, Basalt und diverse Materialien
Eine bemerkenswerte Arbeit schuf Mundi Nussbaumer 1996 für die Kirche St. Peter in Wil. Mit Stein und Metall setzt er ein subtiles Form- und Materialspiel ein. Beim Altar umrahmt ein aus drei Platten konstruierter Tisch den dunklen Block, der damit die ursprüngliche Bedeutung des Altars als Grabstätte betont. Vorgezogen sind die Objekte für das Lesepult sowie für den Kredenztisch. Eine ähnliche plastische Haltung wird in den Chorraumgestaltungen von Anton Egloff manifest, von denen hier diejenige für die Kirche der Beneditkinerabtei St. Othmarsberg in Uznach (1988) und für die Dreifaltigkeitskirche in Zollikon (1997) erwähnt sei: In Uznach nannte Egloff die liturgischen Objekte Farbraumkörper. Es sind kubisch zugeschnittene und teilweise durchbrochene, mit Stuckmarmor überzogene Einheiten. Besonders eindrücklich ist der hermetisch abgeschlossene Metallwürfel für den Tabernakel, der auf einem ausladenden Podest ruht. In Zollikon stellte Egloff die liturgischen Objekte, die vom Kontrast von Stein und Metall leben, auf ein rundes Podest und umschloss dieses an der Rückwand mit einem Wandelement, das er mit einer an einen Sternenhimmel gemahnende Malerei versah. Das filigrane Kreuz drapierte er mit unterschiedlichen, in den liturgischen Farben gehaltenen Textilien.
K REUZ WEGE Eine zweite im Zusammenhang mit religiösen Konnotationen stehende Werkgruppe sind Kreuzwege. Der traditionelle Kreuzweg besteht aus vierzehn Stationen, die nach einem seit dem 18. Jahrhundert festgeschriebenen Programm den Leidensweg Jesu von der Verurteilung durch Pilatus bis zur Grablegung bildlich
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festhalten. Der Krienser Kunstmaler Charles Wyrsch verband den Kreuzweg, den er 1966 für die Unterkirche der katholischen Kirche St. Pius in Meggen ausführte, mit der Verarbeitung einer persönlichen Tragödie, dem Unfalltod seiner dreijährigen Tochter. Das zwanzig Meter lange Band weist zwar alle vierzehn Szenen des Kreuzweges auf, doch man kann in der Figur des Leidenden unschwer die Züge des Künstlers erkennen, der das Fallen und Aufstehen auf seine eigene Trauerarbeit bezog. Ebenfalls autobiografisch geprägt ist der Kreuzweg des 1979 an Krebs erkrankten Franz Bucher für die katholische Pfarrkirche in Rotkreuz. Ob in Holzschnitt oder als Tuchmalerei: Die Figur des Leidenden repräsentiert verschiedene Menschentypen, die unterschiedlichen Herausforderungen gegenüber stehen. Persönliche Krisen sind ebenso gemeint wie Gefährdungen durch die Umwelt. Bucher ließ künstlerische Bildfindungen seines ganzen bisherigen Schaffens in diese Bilderserie einfließen, etwa die in Süditalien skizzierten Küstenhöhlen als Matrize für die Grablegung. Der Kreuzweg als Metapher für den Lebensweg überhaupt – dies war für Rudolf Blättler ein für ihn gangbarer Weg, in der Klosterkirche Ingenbohl eine eigene Deutung zu wagen. Der 1979 in Bronze gegossene Fries, der durch eine Ecke um neunzig Grad umgelenkt wird, zeigt eine menschliche Figur, wie sie, nur leicht von der Grundfläche hervorgehoben, unterschiedliche Relationen zur Landschaftslinie eingeht. Der Mensch steht, liegt, steigt empor, hat Begegnungen und erlebt Situationen, die jeden Lebensweg kennzeichnen. Im oben genannten Andachtsraum für das Paraplegikerzentrum Nottwil skizzierte Bollin, anknüpfend an den traditionellen Kreuzweg, auf den von Sigrist vorbereiteten Holztafeln neun Lebenssituationen in der Spannung zwischen Leiden und Hoffen. Die Relation zwischen den existenziellen Grenzerfahrungen Querschnittgelähmter und dem Leidensweg Christi wird von Bollin nur angedeutet. Nüchtern distanziert ging von Ah in der schon erwähnten Pfarrkirche Goldau an die Aufgabe Kreuzweg heran. Die vierzehn, aus drei Gesteinsarten zusammengefügten Bodenplatten dienen als Wegmarkierungen für eine mögliche szenische Aktivität im gesamten Kirchenraum. Die Szenen sind grafisch auf ein Minimum reduziert. Die Felder gleichen Piktogrammen, die als Module einer neuen Bildsprache von Otl Aicher beispielsweise für die olympischen Spiele in München von 1972 verwendet wurden. Eine umfassende Befragung des Kreuzes nahm Egloff vor, wobei sie sich nicht alleine auf die Arbeiten in einem explizit religiösen Kontext konzentriert, sondern in seinem ganzen Schaffen immer wieder Spuren hinterlassen hat – man denke an seine in den 1990er Jahren öfters gezeigten Bronzeknäuel, von denen er einige mit Kreuzmotiven versah. 1991 gewann Egloff den von Hilfswerken Fastenopfer und Brot für Brüder ausgeschriebenen Wettbewerb für ein neues Hungertuch, das als Textilie während der Fastenzeit in kirchlichen Räu-
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men aufgehängt wird. In zwei Registern reihte Egloff insgesamt zwölf Kreuzvarianten aus seinem Repertoire aneinander, die inhaltlich die Leidenszeit vor Ostern ansprachen. Den Kreuzweg in der Kirche von Zollikon führte Egloff in Glas aus und setzte die Scheiben in die kleinen Öffnungen entlang der Schiffswände. Einfachste Formen lassen ein Gesicht, eine Kreuzkontur, einen Balken, ein Kleid erkennen; es sind lediglich Andeutungen an die herkömmlichen Kreuzwegstationen, die erst durch die Nummerierung auf den schwarzen Platten unter den Fenstern lesbar werden. Und ein letztes Beispiel: In Hünenberg war die Schaffung eines Kreuzweges schon lange ein Desiderat, doch erst 1995 konnte diesem Wunsch durch eine Stiftung entsprochen werden. Aufgrund schwieriger Raumverhältnisse in der Kirche entschied sich die Vorbereitungskommission, der ich angehörte, für einen Stationenweg im Außenbereich, wo die Kirche an einen eindrücklichen Waldfriedhof angrenzt. Am Wettbewerb beteiligten sich Mundi Nussbaumer und René Büchi. Beide Lösungen fanden derart Anerkennung, dass man sich für eine Kombination entschied. Nussbaumer entwarf fünf Bronzeobjekte vom Zugang zur Kirche bis zum Eingang des Friedhofs und thematisierte mit rein formalen Mitteln die primären Zäsuren auf jedem Lebensweg: Geburt, Kindheit, Erwachsenensein, Alter, Tod. Büchi versah vier Holzstelen mit Kreuzmotiven, wobei die Stelen selber vor dem Friedhofeingang an den Eckpunkten eines imaginären Kreuzes aufgerichtet wurden.
K ÜNSTLERISCHE F REIHEIT Die Landeskirchen erteilten Kunstschaffenden mancherorts bedeutende Aufträge. In etlichen Pfarreien achteten aufgeschlossene Pfarrherren zusammen mit den kirchlichen Behörden bei der Suche nach Künstlern auf Lösungen, die sich mit denen im profanen öffentlichen Bereich vergleichen lassen. Bisweilen waren die Rahmenbedingungen im kirchlichen Kontext sogar offener als in Gebäuden von politischen Institutionen. Was gerade zwischen 1975 und 2000 in der Innerschweiz in Bezug auf Kunst für und in Kirchen geschaffen wurde, verdient eine größere Beachtung, als dies bis anhin geschehen ist.
Wie man einen Heiligen malt: ein Bild des Bruder Klaus Benno Zehnder
Anläßlich der Eröffnung der letztjährigen Diplomausstellungen der Hochschule Luzern begegnete ich unter anderen zufällig auch dem Kurator des Bruder Klausen Museums in Sachseln, Urs Sibler. Fast unvermittelt fragte er mich: „Malst du mir einen Bruder Klaus?“ – „Ja, klar“, war meine Antwort. Später am Abend war ich ob meiner schnellen Antwort doch etwas erstaunt. Aber seit ich mich für Bilder interessiere, und das ist schon mein ganzes Leben, haben mich die Bilder, die im Auftrag entstanden sind, besonders fasziniert. Und dazu gehören ja all die Bilder, mit denen ich aufgewachsen bin, wie auch all die Bilder, die ich auf meinen Italienreisen immer wieder bewundere. Dazu gehört auch der wunderbare Isenheimer Altar in Colmar und natürlich die einzigartigen Malereien von Ferdinand Gehr, die mich bei jedem Besuch in einer von ihm bemalten Kirche von neuem faszinieren. Ein Auftragsbild ist ein Bild, das in der Regel einem Ort, einem Inhalt und eben, dem Auftraggeber verpflichtet ist. Im Falle der Kirche, die über Jahrhunderte wohl größte und mächtigste Auftraggeberin für die Künste, diente sie als Mittel der Erbauung, der Orientierung und Belehrung. Wichtige Begebenheiten aus der Bibel oder Stationen aus dem Leben Christi oder eines Heiligen wurden immer wieder in lebendigen Bildern erzählt. Die Bilder verherrlichten die Allmacht Gottes und zeigten gleichzeitig die unmissverständliche und gottgegebene Macht der Kirche. Es gibt auch Beispiele kirchlicher Kunst, die nur noch der Machterhaltung der Kirche – und in keiner Weise der religiösen Erbauung – dienten und dienen. Durch die Emanzipation der Künstler vom Auftraggeber befreiten sie auch die Kunst von ihrer Aufgabe und ihrem Zweck. Künstler und Kunst wollten aus dem Dienstverhältnis mit den Mächtigen und Reichen austreten und endlich frei sein, nur noch sich selber genügen. Kunst konnte fortan, frei von allen Zwängen, der Kunst selber dienen. Aber zu dienen hat sie keineswegs aufgehört, die Kunst.
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D ER A UF TR AG Darauf habe ich mich lange gefreut: Einmal gefragt zu werden, einmal einen Auftrag zu erhalten. Und da war er, der Auftrag. Und dieser Auftrag hatte es in sich. Das Museum Bruder Klaus in Sachseln ist im Besitz eines Bildes, das den Niklaus von Flüe darstellt und das im Jahre 1492 gemalt wurde. Es ist das älteste Bildnis des Eremiten. Dieses so kostbare, fast lebensgroße Bildnis des Bruder Klaus wurde nur fünf Jahre nach seinem Tod gemalt, als Außenseite des rechten Altarflügels des ehemaligen Hochaltares der Pfarrkirche in Sachseln. Auf der Innenseite des Altarflügels ist das Bildnis des Kirchenpatrons, des Heiligen Mauritius. Dieser Altarflügel wird das Museum für einige Monate verlassen, weil das Bild des Eremiten Teil einer großen Mystik-Ausstellung sein wird.1 Also wurde ich gefragt, für die Zeit der Abwesenheit dieses kostbaren Altarflügels einen ‚Ersatz‘ zu schaffen. Vielleicht ein neues Bild des Bruder Klaus? Von allen möglichen Heiligenbildern: ein Bild des Bruder Klaus zu malen! Er ist ja ein einheimischer Heiliger, ein Schweizer Heiliger. Und wie mit anderem Einheimischem ist es auch mit dem Bruder Klaus so, dass er anfänglich viel weniger auffällt. Ein einfacher Heiliger, unelegant, nicht wie andere, vornehme Heilige. Die etablierten Heiligen, wie der Hl Mauritius, sein Nachbar auf dem Altarflügel, oder der Hl Sebastian, die Hl Verena, sie alle haben eine nicht unbescheidene visuelle Eleganz erreicht, die den Heiligen vom Ranft bis heute nicht zu berühren scheint. Dieses älteste Bild des Bruder Klaus, das dann zum Vorbild für die nachfolgenden Darstellungen wurde, stellt den Einsiedler in seiner Bergwelt dar. Eine aufrechte, schlanke Figur im grauen Gehrock, feingliedrige, verschränkte Hände (in der einen die Paternoster-Schnur), steht über der Melchaaschlucht, in der auch seine Klause steht. Ein schmales, aber durchaus noch junges Gesicht mit geduldigen, lebendigen Augen und einem lächelnden Mund. Barhäuptig und barfüßig, wobei die Füße groß, aber zartgliedrig sind. Diese nackten Füße wurden mit so viel Nähe, Zuneigung, ja Verehrung für diesen Menschen gemalt, dass sie für mich das Persönlichste in diesem Bild sind. Längst ist es nun kein Bauer mehr, sondern einer, der auf anderem Grunde geht. Ein lebender Heiliger, ein natürlicher Heiliger, von den Menschen seiner Zeit erkannt und aufgesucht und damals schon verehrt. „Ja klar“, war meine Antwort, und so machte ich mich an einem regennassen Sommermorgen, in aller Frühe auf den Weg vom Wohnhaus des Bruder Klaus in Flüeli hinab in den Ranft, in der Schlucht der Melchaa. Das kühle Morgenlicht verdrängte nur langsam die Regennacht. Ein zarter Nebel stieg aus dem Gehölz und den feuchten Wiesen und verzauberte den einsamen Ort. Still 1 Rietberg Museum Zürich, 23.9.2011 bis 15.1.2012, Katalog: Lutz, Albert (Hg.): MYS-
TIK – Die Sehnsucht nach dem Absoluten, Zürich (Scheidegger & Spiess) 2011.
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war es nicht an diesem Morgen, denn fallende Tropfen von den nahen Bäumen erzeugten ein unregelmäßiges, fast gespenstisches Trommeln. Aus der nahen Schlucht hörte ich ein gleichmäßiges Rauschen. Die Steine im Inneren der Klause waren feucht und trotz des Sommers kalt. Auch das Holz in der Klause fühlte sich an diesem Morgen kalt und feucht an. Ich kniete mich auf die Bank vor dem Fenster, das den Blick in die Kapelle frei gibt und versuchte einfach da zu sein. Einfach zu sein. Versuchte nichts zu denken, gleichmäßig zu atmen und zur Ruhe zu kommen. Hier an diesem Ort, so hoffte ich, könnte ich dem Wesen dieses einzigartigen Menschen näher kommen. Hier müßte es möglich sein, eine Fährte aufzunehmen, die mich in seine Nähe führt, in ein Verständnis oder in eine Erkenntnis. Vom Geist dieses Ortes berührt werden, da sein, wo er war, an dem Ort, an dem er während zwanzig Jahren die Sehnsucht nach dem Absoluten lebte. Ich war an diesem Ort. Aber die Visionen kamen nicht. Ich war nicht leer genug, wie konnte ich auch. Die Einfachheit dieses Ortes in der feuchten Kühle dieses Sommermorgens verunsicherte, ja erschütterte mich bis ins Innerste meines modernen Wesens. Von diesem Ort durchdringen seine Gedanken und Visionen seit seinem Hiersein noch immer die Welt. „… nimm mich mir und gib mich ganz zu Eigen dir…“. Es war mir nicht möglich, mit dieser Einfachheit eine Verbindung herzustellen, in sie einzutreten. Ich nahm sie wahr, ich spürte sie, ja, aber sie erschütterte mich zutiefst. Ich fand keine Entsprechung in meinen Gefühlen. Sie war viel zu radikal, zu unversöhnlich, diese Einfachheit, diese Einsamkeit. In dieser Einfachheit erinnerte ich mich an seine Heiligsprechung. Ich war sechs Jahre alt damals. Unsere Dorfkirche war ein schmuckloser, großer, düsterer Raum, der nur einmal im Jahr, während der Mitternachtsmesse an Heiligabend, seine Kälte und Düsterheit verlor. Die flackernden Kerzen in den Händen der Gläubigen und die Hundertschaft am großen Christbaum im Chor der Kirche, der Geruch des Weihrauchs und von neuen Lederhandschuhen und die wunderbaren Weihnachtslieder, die nur in dieser Nacht gesungen wurden, verwandelten diesen Raum für viel zu kurze Augenblicke in einen warmen, glücklichen Ort. Aber an diesem Sonntag, an dem die Heiligsprechung des Bruder Klaus mit einem feierlichen Hochamt gefeiert wurde, wogte im Chor ein Meer von Blumen. Es war, als hätte die Botschaft aus Rom farbiges Licht in diese Kirche gegossen. Der Eremit aus dem Ranft wurde heilig gesprochen. Und auf den Stufen zum Altar wurde sein Meditations- oder Betrachtungsbild in einer farbigen Kopie gezeigt. Ich erkannte die Kirche nicht wieder, so feierlich und so schön war sie. Etwas Unerhörtes ist geschehen. Ein Heiliger, hier, bei uns, in der Schweiz. Bis dahin dachte ich, dass die heiligen Menschen aus der Ewigkeit kamen. Sie waren so weit von mir entfernt, dass sie, trotz den Predigten und den Heiligenbildchen, nichts mit meinem Leben zu tun hatten. Unser Kirchenheiliger war der ‚Tugendheld‘ Sebastian. Er hatte einen eigenen Seitenaltar. Da stand er, über dem Altar, an einen Säulenstumpf gebunden. Er war ein schön
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gewachsener, junger Mann in einem knappen Lederröckchen und einem SixPack-Panzer. Pfeile steckten in seinem jungen Körper. Einer in einem Oberarm, einer im Hals, einer durchbohrte gar den Panzer und steckte in seiner Brust. Und trotz all den Schmerzen zeigte er uns ein lächelndes Gesicht. Mir war klar, dass – wem so was widerfährt – heilig gesprochen werden muss. Damals war das eben noch möglich, so zu sterben. Auch schien mir, dass die Heiligen vorwiegend Ausländer waren, viele Italiener, auch Franzosen und Araber, aber keine Schweizer. Und: Heilige waren in der Regel auch eher Bischöfe, Klosterfrauen, Päpste, Reiche, auf alle Fälle alles schöne Menschen. Viele der Heiligen starben für ihren Glauben, viele auch für ihre Reinheit, das waren die Märtyrer. Aber heute, wer könnte heute schon ein Heiliger werden? Und dazu ein Schweizer, und kein Geistlicher, sondern ein Bauer, ein einfacher Mann aus dem Volke. Das schien mir völlig ausgeschlossen. Und doch, da war der Bruder Klaus von nun an der Heilige Bruder Klaus. Er war ja schon lange als Bruder Klaus verehrt worden, hatte einen festen Platz in meinem ganz frühen Denken und Fühlen. Er war bei uns zu Hause. Bruder Klaus gehörte einfach irgendwie zu unserem Haushalt. Dass er noch nicht heilig war, war mir gar nicht bewusst. Wie würde ich jetzt den Unterschied sehen? Über dem „Weihwasserbeckeli“ zu Hause hing eine verkleinerte Kopie des Bildes, das zur Heiligsprechung in der Kirche stand. Mit dem schmalen, bärtigen und gekrönten Gesicht des Gottvaters in der Mitte, umgeben von einem Kranz von Bildmedaillons. Oft sah ich, wie mein Vater mit dem mit Weihwasser benetzten rechten Daumen auf diesem Bild ein kreuzartiges Zeichen machte. Oben, unten, links, rechts berührte er das Bild und ich bemerkte, wie seine Lippen sich dazu leise bewegten. Er betete. Durch diese feuchten Berührungen des Bildes waren die Stellen, die er berührte, schon ganz aufgeweicht und abgegriffen. Darum wusste ich, bis zum Sonntag der Heiligsprechung, als das Bild in der Kirche ausgestellt wurde, nicht, wie das Bild ‚unberührt‘ ausgesehen hat. Wenn mich niemand sah und meine Anliegen wieder mal schwer und gewichtig genug waren, machte ich diese Berührungen dem Vater nach. Es war eine fast unheimliche Tat, dieses so sehr benutzte Bild auch zu berühren. Mir schien, als müsse die Hilfe unmittelbar eintreten, als müsse die Last sofort leichter werden und als hätte ich nun allen Mut dieser Erde, um ‚was auch immer‘ durchzustehen. Es waren so kleine Lasten damals, als Kind. Als Kind, das eigentlich alles recht machen wollte, es aber nie schaffte, weil mich etwas antrieb, es anders, unüblich zu tun. Konflikte waren an der Tagesordnung, und wie das so ist, man kriegt einen Ruf, der eilt einem voraus, auch wenn man das gar nicht so wollte. Die Chance, etwas zu verändern und besser zu machen, hat man nicht wirklich, weil eben der Bub so ist. Er kann eben nicht anders, usw. – da brauchte es mindestens den Bruder Klaus und dieses vom Vater so oft berührte Bild. Ein Bild zum Berühren. Ein Bild, das durch die Berührung Kraft spendete. Ich sah das bei meinem Vater, dem Schmied.
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Während der Zeit der Heiligsprechung war Bruder Klaus auch Thema im Religionsunterricht. Ich lernte, dass er Bauer war, aber auch in der Regierung, und in der Armee, also ein wichtiger Mann, kein armer Mann. Und dass er zehn Kinder hatte, und dass er dann seine Familie verließ, um ganz alleine und ohne Nahrung, betend in einer einfachen Holzklause bis zu seinem Tode zu hausen. Dieser Umstand machte mir Sorgen. Denn etwa zu dieser Zeit bekam ich noch einen kleinen Bruder. Jetzt hatte mein Vater auch zehn Kinder und war gut und lieb, und die Bauern kamen in seine Werkstatt, um mit ihm über wichtige Dinge zu reden. Ob uns denn unser Vater auch verlassen würde, um nur noch zu beten? Er war ein frommer Mann, das wusste ich, aber grad so fromm? Er tat es nicht und das war gut so … Die Kniescheiben schmerzten vom ungewohnten Knien und die Ellenbogen verkrampften sich. In aller Ruhe und von mir unbemerkt hat sich, an diesem frühen Sommermorgen, die abgelegene Kapelle im Ranft mit betenden und singenden Menschen gefüllt. Ich war wieder hier, in seiner Klause, auf der Spur zu seinem Bild.
E IN B ILD MALEN Es braucht einen Antrieb, um ein Bild malen zu wollen. Es braucht auch Lust, diesem Antrieb stattzugeben und malen zu wollen. Es braucht Verwegenheit, ein Bild zu beginnen und Verstand und Kraft, es auch zu beenden. Es braucht Durchläßigkeit, um malend ein Bild in die Wirklichkeit zu bringen. Ein Bild will entstehen, will wachsen aus der Lust am Malen. Meine Bilder entstehen, während ich sie male. Es braucht Aufmerksamkeit, um beim Malen das Bild zu finden. Sobald ein Bild begonnen ist, ist nicht mehr alles möglich. Die Sehnsucht bewegt sich nicht mehr im Überall, sie wird geführt und gezähmt von dem, was schon auf der Leinwand ist. Ich kann Bilder denken und in gedachten Bildern malen, intensiv in ihnen mich mit ihnen beschäftigen, aber sobald ich sie zu malen beginne, zerplatzen sie wie eine Seifenblase. Gedanken haben eine andere Dimension als die Formen oder Linien oder die Farben. Gedanken und Bilder sind nicht in der gleichen Realität. Das Sichtbare ist kein Gedanke und doch beginnt mit dem ersten sichtbaren Strich das Denken. Die Linien, Flächen, Farben wollen auch im Verstehen einen Platz finden. Dennoch absichtslos zu malen, so lange wie möglich, das ist meine Sehnsucht. Das Bild aus dem Bilden entstehen zu lassen. Dem Bilde alles zugestehen, was es will, es gehen zu lassen, wohin es will. Seinem Willen eine Form geben, formen können, genau sein wollen. Genau worin? Genau sein darin, was es sein kann und sein will. Ein Bild ist dem Denken oft weit voraus.
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Benno Zehnder, Bruder Klaus (2011), Acryl auf Lindenhoz, 205 x 104 cm
Ein Bild hat dennoch seinen Ursprung in mir, es entsteht aus den Tiefen meiner eigenen Erfahrungen. Ein Bild muss ganz persönlich, ganz bei mir beginnen und darf nicht bei mir enden. Ein Bild muss mehr als das Ich und das Malen und das Denken sein, ein Bild muss immer irgendwie magisch sein. Wenn ich in meinem Atelier ein Bild zu malen beginne, weiß ich normalerweise nicht, wohin mich die Reise führen wird. Ob es eine kurze, lange, einfache oder schwierige Reise werden wird, davon habe ich höchstens eine Ahnung. Aber mit diesem Auftrag wusste ich, wo und wann die Reise enden würde oder musste. Es gab einen Ort und einen Tag, an dem das Bild erwartet wurde. Und seine Aufgabe war, das abwesende Bild des Eremiten würdig zu vertreten. Ein Bild des Heiligen oder ein Bild des Bauern, des Visionärs? Ein neues Bild angesichts so vieler Vor-Bilder? Das Denken, Wirken und das Wesen dieses Heiligen
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schien seine Entsprechung in den bekannten Darstellungen wie auch in den ganz neuen gefunden zu haben. Die Aspekte des frommen Bauern, des feinsinnigen Mannes, des verantwortungsvollen Familienvaters, des hellhörigen Zeitgenossen, des fastenden Mystikers – sie alle waren schon malerisch umgesetzt worden. Wie konnte ich in diesem Falle absichtslos ans Werk gehen? Leer und durchläßig sein, wenn alle Bruder Klaus-Bilder und -Geschichten und der Ranft und das Wohnhaus und die vielen Pilger und Bücher und meine Jugend und mein Vater, mein Atelier und mein Denken bevölkerten? Aber nicht nur die Bilder des Bruder Klaus besetzten mein Denken, nein, es waren alle die HeiligenDarstellungen, denen ich im Laufe meines Lebens begegnet bin. Wunderbare, magische Bilder, die ich zutiefst bewundere und deren Autoren ich verehre. Auch sie saßen in meinem Atelier, nahmen Platz. Der Herr Giotto und der Fra Angelico, Monsieur Matisse und der große, bescheidene Grünewald und auch der Ferdinand Gehr. Da hockten sie und folgten jedem Pinselstrich, den ich auf die Holztafeln setzte, lachten und scherzten, machten neckische Bemerkungen und forderten mich immer wieder heraus. Strenge Begutachter waren sie, aber auch großzügig und liebenswert und ließen mich meistens gewähren, während Malerfreunde fragten, ob ich denn noch bei Trost sei, heute einen Bruder Klaus zu malen, einen Heiligen. Wie unzeitgemäß. Aber, was ist schon zeitgemäß! Würde es nicht reichen, wenn es einfach gut wäre, das neue Bild, anders, ungewohnt, poetisch, stark und eben auch irgendwie magisch? Die alten Maler nickten und schmunzelten, sie kennen sich ja aus im ‚Zeitgemäßen‘. Ich fasste wieder Mut. Diese wunderbare Herausforderung nahm mich einen Sommer lang ganz in Anspruch. Es war schwierig und es war aufregend. Ich lag viele Nächte schlaflos da, suchte nach der Spur, die ich im Ranft schon gefunden zu haben glaubte. Wie viel ich auch lustvoll malte, sie wollte sich nicht zeigen, lange nicht. Es gab Abende, da verließ ich mein Atelier aufgeregt und erregt, weil mir schien, dass da etwas aufblitzte, sich etwas zeigte, etwas, woran ich am Morgen wieder würde weiter malen können. Dann kam der Morgen und weg war sie, die Spur, nichts war da, was einen Weg vorgab, ich konnte es nicht mehr sehen. Leer schien es, das eine Bild, nur Oberfläche, angestrengt und hergedacht das andere. Groß standen sie da, die beiden Holztafeln, mitten im Atelier. Ich konnte sie nicht mehr ignorieren. Ich wollte ein Pendant zum alten Altarflügel malen. Der krasse Gegensatz zwischen dem frommen Bauern und dem arrivierten Heiligen auf dem selben Altarflügel inspirierte mich immer mehr. Da drin spürte ich endlich eine Spur, da drin schien der Weg zum Bruder Klaus verborgen. Ich brauchte ihn nur zu finden und Schritt für Schritt weiter zu verfolgen.
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Das Bild des Eremiten auf dem alten Bild wurde ja zur Verehrung gemalt, schon lange bevor der Bruder Klaus selig, geschweige denn heilig gesprochen wurde. Es war das Bildnis eines einfachen Bauern, gleichzeitig aber das eines hellwachen und sehenden Menschen. Farblich entspricht dieses Bild dem Dargestellten: eine ländliche, warme Monochromie mit hellen, leuchtenden Verweisungen. Im krassen Gegensatz das Bild auf der Rückseite. Der Heilige Mauritius. Da steht ein Heiliger, abgehoben über der Welt. Das Monochrome des Diesseitigen verwandelt sich in eine Explosion von reinen Farben. Gold und Silber spielen mit den kostbaren Farben der Zeit. Diese visuelle Eleganz des Heiligen zeigt eindrücklich und sehr anschaulich, wie weit der Weg des Bruder Klaus noch sein würde. Und gleichzeitig stellt sich ja die schöne Frage, wie denn ein Bild des Heiligen Bruder Klaus aussehen könnte, nachdem er durch die Heiligsprechung dem Heiligen Mauritius auch hierarchisch gleichgestellt wurde? Das war meine Fährte, da drin suchte ich nun die Bilder für meinen ‚Ersatzaltarflügel‘. Zwei Seiten des einen Bruder Klaus, die man nicht zusammen sehen kann, die Rücken an Rücken sind, mal der eine dann der andere oder umgekehrt. Es waren gute Fragen, die malend zu beantworten waren. Und das Bild ist ein wunderbares Medium, um Unsichtbares zu veranschaulichen. Deshalb sind die Bilder eigentlich Komplizen des Heiligen. Das Malen muss ohne Sprache auskommen. Die Bilder entstanden in meinem Atelier und wurden zu Bildern wie die anderen Bilder auch: Der ‚tanzende Mystiker’ entstand wie die aktuellen Bilder aus dem „Liquid Universe“, wo das Fließen sich zu verfestigen droht oder das Feste sich verflüssigt und der Heilige entstand mit den Erfahrungen der Bilderreihe Archäologien, in denen Ablagerungen, Überlagerungen, Zeit- und Formbrüche ein neues Ganzes werden. Diese Entstehung eines Bildes lässt sich eben nicht sagen, aber sie lässt sich sehen.
E IN NEUES B ILD KOMMT IN DIE W ELT Ein Schreinerfreund aus dem Dorf, der den schweren und dem Original genau nachgebildeten Rahmen für die beiden Holztafeln schuf und meine Tochter, die diesen Rahmen bemalte, waren die ersten, die die beiden Bilder zu Gesicht bekamen. Viele unerwartete Fragen und aufgeregte Bewunderung waren die ersten Reaktionen. Also, sie waren jetzt da, die Bilder. Ich war zufrieden, weil sie mich überraschten und obwohl ich sie gemalt habe, waren sie mir in einer Weise ebenso fremd, wie sie meinen ersten Besuchern waren. Ich musste akzeptieren, dass sie nun so sind, wie sie da sind und dass die Zeit nun um ist. Der Platz im Museum in Sachseln war seit gestern leer und wartet auf den ‚Ersatz‘.
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Der neue Altarflügel wurde ein richtig schweres Objekt. Besucher, die zufällig an diesem Sonntagmorgen im Museum waren, halfen spontan, das gewichtige Bild ins Museum zu tragen. Geburtshelfer waren sie und das Bild wurde in die leere Halterung gesteckt am selben Ort, an dem das alte, kostbare Bild normalerweise steht. Fremd für alle Beteiligten und noch ungesehen von der ‚Welt‘, stand mein Bild da, aufrecht und groß. Und wie ich es so dastehen sah, in dieser neuen Umgebung, spürte ich, wie es mich verließ. Ich verlor mein Bild. Es war plötzlich da draußen, in der Welt, im Museum Bruder Klaus. Es stand da, als wäre es schon immer und wie selbstverständlich so dagestanden. Es stand nun alleine da, ich konnte ihm nicht mehr helfen.
Benno Zehnder, Bruder Klaus (2011), Acryl auf Lindenholz, 205 x 104 cm
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Die zufällig anwesenden Helfer und der Konservator des Museums, der Auftraggeber, schlichen um das neue Bild, standen da, im Sehen versunken, wechselten unsicher erste Eindrücke. Aber es war nicht laut, nicht ausgelassen und wir beschlossen ganz spontan, in einer Woche, am Bruder-Klausen-Fest, ein kleines Geburtstagsfest für die neuen Bruder-Klausen-Bilder auszurichten. Zufällige wie auch geladenen Gäste standen dann um das Doppelbildnis des Bruder Klaus. Es war nicht mehr still, die ersten interpretierenden Worte wurden nun gefunden. Lachen und Staunen und genaues Hinsehen wechselten von der einen Seite zur anderen. Fürs Erste hielt das Bild dem physischen und gedanklichen Ansturm stand. Fragen und Erklärungen machten die Runde. Ich hatte nichts mehr zu tun mit dem Bild, es brauchte mich nicht mehr. Es war da, selbständig, stark. Es genoss im Mittelpunkt zu sein und liebte die Blicke. Ich glaube sogar, es hatte einen Hauch von Magie. Während dem anschließenden Apéro im Barockgarten des Museums kam mein jüngerer Bruder zu mir und sagte: „Schön, dass der tanzende Bruder Klaus aussieht wie unser Vater.“
Religiosität als Hintergrund der Innerschweizer Kunst? – Eine Spurensicherung Niklaus Oberholzer
H INTERGRUND Die nachfolgenden Überlegungen sind das Ergebnis einer rund 30-jährigen Beobachtung der Kunst in der Innerschweiz und eines Verfolgens der Diskussionen um das Verhältnis von Kunst und Religiosität. Zwei Begriffe sind zu Beginn zu diskutieren und allenfalls zu klären, um Missverständnissen zuvorzukommen – einerseits der Begriff der ‚Religiosität‘, andererseits jener der ‚Innerschweizer Kunst‘. Dann soll anhand konkreter Werke nach Spuren des Religiösen in der Innerschweizer Kunst gefragt werden.
R ELIGIOSITÄT Der Begriff ‚Religiosität‘ ist keineswegs klar. Ohne ihn auf eine bestimmte Religion zu beziehen, besagt er wenig und verweist allenfalls auf den Umstand, dass viele Menschen sich nicht mit den rein materiellen Voraussetzungen und Dimensionen ihres Lebens begnügen, sondern nach einer Verortung in einem spirituellen Raum suchen. Wie genau eine derart allgemeine und oft wohl auch sehr persönlich-individuell ausgerichtete und auf Bindung an Institutionen verzichtende Religiosität beschaffen ist, bleibt, auch wenn sie heute weit verbreitet ist, offen. Ihre Spuren lassen sich naturgemäß fast überall ausmachen, in der Kunst ohnehin, aber auch in weiten Bereichen des täglichen Lebens. Sie sind entsprechend unklar. Eine Einengung des Begriffs führt zu einer Klärung der Grundlagen der Diskussion. Da es hier um die Innerschweizer Kunst und damit um eine Region geht, wo Alltag und Festzeiten der Menschen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vom Christentum – und präziser, weil sich da große Unterschiede ergeben –, von Katholizität geprägt waren, müsste man wohl die christliche religiöse Prägung genauer unter die Lupe nehmen. Doch die Dinge liegen auch da alles
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andere als einfach, was sich schon darin zeigt, dass sich manche Politiker gerne zu ‚christlichen Werten‘‚ bekennen – und andererseits gegen solche Werte votieren, wenn sie ihren Intentionen, etwa innerhalb ihrer Ausländer- oder Sozialpolitik, im Widerspruch stehen. Was wären denn diese christlichen und nun nicht einfach in einem allgemeinen Sinne religiösen Werte? Sicher geht es dabei nicht nur und auch nicht in erster Linie um Brauchtum oder barocke Bildwelten und damit eine unverwechselbare kulturelle Atmosphäre. All das prägt selbstverständlich einen Lebensraum. Das Entscheidende aber liegt – das lässt sich hier nur verkürzt darlegen – in der Gewissheit, dass es einen personalen Gott gibt, der sich offenbart, in der Einsicht in die Erlösungsbedürftigkeit oder die Notwendigkeit der Befreiung des Menschen und im Versuch, dem christlichen Hauptgebot der Nächstenliebe nachzuleben, also anderen Menschen diese Befreiung zukommen zu lassen. Entsprechende Akzente würden Religionswissenschafter auch bei anderen Religionen setzen. Die Brücken zwischen christlicher Religiosität und Kunst können sehr unterschiedlich gebaut sein. Am einfachsten verhält es sich, wenn Künstlerinnen und Künstler Inhalte der christlichen Botschaft, der Evangelien zum Beispiel, illustrieren und sich explizit in den Dienst von Religion oder Kirche als religiöser Institution stellen. Komplexer, aber zugleich spannender ist es, nach Beziehungen zwischen kirchenfremder Kunst und christlichen Glaubensinhalten zu fragen. Friedhelm Mennekes, Jesuit und Professor für Praktische Theologie und von 1987 bis 2008 Pfarrer in der Kirche St. Peter in Köln, nahm sich dieses Themas ganz konkret an, indem er bedeutende Werke der zeitgenössischen Kunst in den Kirchenraum einbezog. Er befragte Arbeiten von Francis Bacon, James Lee Byars, Cindy Sherman, Gotthard Graubner, Alfred Hrdlicka, Joseph Beuys, Ulrike Rosenbach, Wolfgang Laib, Eduardo Chillida, Hermann Nitsch oder Arnulf Rainer im Hinblick auf Inhalte, die für eine Deutung aus christlicher Sicht relevant sein können. Es lässt sich nicht behaupten, diese Künstlerinnen und Künstler hätten sich nicht für Fragen der christlichen Religion interessiert – einige taten es ausdrücklich –, doch eine theologische Interpretation ist, von Ausnahmen abgesehen, nicht intendiert, auch wenn sie, einer offenen Anlage der Werke entsprechend, möglich und sinnvoll sein kann. Ob sich sogar sagen lässt, dass jedes bedeutende Werk der bildenden Kunst für religiöse Fragestellungen offen bleibt, weil beide – Kunst und christliche Religion – auf ihre Weise nach den Grundbedingungen des menschlichen Lebens fragen können und weil beide mit ihren Mitteln vielleicht sogar nicht nur Fragen stellen, sondern auch Deutungsversuche anbieten im Hinblick auf Ausrichtung und Sinn der menschlichen Existenz? Dann allerdings liegt es auch oder gar vor allem bei den Betrachtenden, ob sie existenzielle Erfahrungen des Künstlers nachzuvollziehen bereit sind, und ob sie sich selber in der Erfahrung der Kunst in Frage stellen lassen.
R ELIGIOSITÄT ALS H INTERGRUND DER I NNERSCHWEIZER K UNST ? – E INE S PURENSICHERUNG
I NNERSCHWEIZER K UNST Die Innerschweizer Kunst, vor allem jene der späten 1960er und der 1970er Jahre, wurde und wird häufig mit dem Begriff „Innerschweizer Innerlichkeit“ charakterisiert. Wer den Begriff wann prägte, lässt sich kaum mehr ermitteln. Sicher sprach der Kunstkritiker Theo Kneubühler 1973 im Katalog der Wanderausstellung Innerschweizer Kunst – Standort von einer „Neuen Innerlichkeit“. ‚Innerlichkeit‘ könnte als ausgeprägte Bereitschaft der Künstler dieser Region zu religiöser oder mindestens zu spiritueller Thematik oder zur Kontemplation als einem konzentriert beschaulichen Nachdenken interpretiert werden, aber ebenso als Wille zum Rückzug auf die eigene Person, die eigene Intimsphäre. In der damaligen Kunstszene der Innerschweiz gab es tatsächlich einen Hang zum Privaten, zum ausgeprägten Individualismus, zur Betonung des Gefühls, zum kleinen Format, zum Prozesshaften der Arbeit, zum Ephemeren, etwa in Zeichnung oder im kleinen Aquarell. Es gab vielleicht auch einen Hang zum Archaischen und Grundsätzlichen und gegen Rationalismus und Berechenbarkeit. Es war eine Kunst, die sich gerne vom kommerziellen Umfeld distanzierte und die, wie ihr Theoretiker Theo Kneubühler dies einmal schrieb, „am Küchentisch, auf dem Bett liegend, im konzentrierten Zwischenhinein“ geschaffen wurde. 1 Das traf sich auch mit einer übergreifenden Zeitstimmung, wie sie sich in der von Harald Szeemann verantworteten und von Jean-Christophe Ammann mitgestalteten documenta 5 (1972) und deren Abteilung Individuelle Mythologien artikulierte. Die Verbindung nach Luzern war gegeben, leitete doch Ammann von 1968 bis 1977 das Kunstmuseum Luzern. An der documenta 5 gab es neben Lothar Baumgarten, Michael Buthe und Markus Raetz auch die Luzerner Rolf Winnewisser, André Thomkins und Luciano Castelli. Man begegnete in Kassel auch Paul Thek, der wie Buthe und viele der in Kassel vertretenen Arte Povera-Künstler auch im Kunstmuseum Luzern ausstellte. Die Abteilung der Individuellen Mythologien machte deutlich, dass die Kunst der Innerschweizer nicht isoliert dastand, und dass sie sich mit den Arbeiten vieler anderer Künstlerinnen und Künstler im westeuropäisch-amerikanischen Raum traf, ganz zu schweigen davon, dass es auch Brücken zur Kunst anderer Schweizer Regionen gab – zur Ostschweiz (Roman Signer, Bernhard Tagwerker), nach Aarau (die Künstler der Ateliergemeinschaft Ziegelrain, Ilse Weber), nach Bern (Markus Raetz, Jean-Frédéric Schnyder), nach Solothurn/Olten (der frühe Martin Disler), nach Basel (Alex Silber) oder, im Falle von Dieter Roths Zeichnungen, nach überall hin. Vielleicht fand die Bezeichnung Individuelle Mythologien damals gerade darum ein so breites Echo, weil sie widersprüchlich war: Mythen haben es 1 Theo Kneubühler im Ausstellungskatalog Rapport der Innerschweiz, Helmhaus Zü-
rich, 1974, (ohne Seitenzahlen).
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ja – als innerhalb einer strukturierten Gesellschaft entstandene und überlieferte Geschichten – wohl in sich, dass sie überindividuell sind. „Es spielt natürlich eine Rolle, ob jemand unter dem Bild des Gekreuzigten aufwächst oder unter einem lächelnden Buddha.“ So verwies Ammann auf die religiöse Prägung, die auch in der zeitgenössischen Kunst ihre Spuren hinterlässt.2 Wobei das Religiöse beziehungsweise Konfessionelle mit seinen Verästelungen bis in Volkskunst oder Musik nur ein Element ist neben anderen wie Sozialstruktur, Wirtschaft, Landschaft, Verkehrslage usw. Und: Längst nicht alle Künstlerinnen und Künstler der Innerschweiz fühlten sich überhaupt von einer allfälligen Katholizität dieses Kulturraumes angesprochen. Manche mochten sogar eine eigentliche Abneigung gegen ihr religiös geprägtes Herkommen entwickeln: Sie empfanden es, da es von außen gerne mit Konservatismus oder mit Verharren im ‚katholischen Ghetto‘ gleichgesetzt wurde, als Behinderung. Und vergessen wir nicht, dass Eduard Renners wegweisendes Buch Goldener Ring über Uri, das für die gesamte Innerschweiz Gültigkeit haben mag, bereits 1941 erschienen ist.3 Vom archaischen Sagenreichtum des Bergkantons und seiner teils animistischen Kultur dürften also die Künstlerinnen und Künstler, von denen hier die Rede ist, kaum betroffen sein – viele von ihnen haben es wahrscheinlich nicht einmal gekannt. Das alles heißt aber wiederum nicht, dass der traditionelle Bilderreichtum dieses katholischen Raumes ohne Einfluss auf das künstlerische Schaffen blieb. Wir finden seine Spuren einmal in bewussten Rückgriffen auf die Sakralkunst und ihre christliche Ikonografie, in einem gefühlsmäßigen Reagieren auf die prägenden Bilder dieses Raumes oder in Versuchen, im weitesten Sinne des Wortes spirituelle Befindlichkeiten visuell zu fassen.
S PURENSUCHE IN DER FREIEN K UNST Mehr als im protestantischen Raum gab und gibt es in der Innerschweiz Aufträge für Kirchen. Sie bilden im Schaffen mancher Künstlerinnen und Künstler eine Konstante, wobei Bezüge zur Religiosität auf inhaltlicher oder formaler Ebene auf der Hand liegen. Spannender wird die Spurensuche, wenn es sich um freie Kunst handelt, die einen viel größeren Interpretationsspielraum bietet und kaum eindeutig auf eine religiöse Ausrichtung hin festgelegt werden kann. Der Weg soll uns dabei von Künstlern und ihren Arbeiten, bei denen die Bezüge offensichtlich sind, zu eher verborgenen Hinweisen auf eine christliche Thema2 Referat an der Delegiertenversammlung des Schweizerischen Kunstvereins am 16.
Mai 2009 in Luzern (S. 3), vgl. www.kunstverein.ch/aktuell/archiv (ges. am 9.2.2012). 3 Renner, Eduard: Goldener Ring über Uri. Ein Buch vom Erleben und Denken unserer
Bergler, von Magie und Geistern und den ersten und letzten Dingen, Zürich (Metz), 1941.
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tik führen – und dabei auch Werke streifen, bei denen eine religiöse Intention des Künstlers kaum beabsichtig ist. Die Dinge lassen sich aber nicht so klar unterscheiden, und so gibt es zu den einzelnen Beispielen – es sind wenige unter sehr vielen möglichen – denn auch eher Fragen als Antworten.
Margaretha Dubach, Uraka, bitt für uns! (2002), Schrein, verschiedene Materialien, 52 x 39 x 11 cm (Ausschnitt)
S UBJEK TIVE B EKENNTNISR ÄUME Es sieht auf Anhieb sehr eindeutig aus: Margaretha Dubach bedient sich in Uraka, bitt für uns (2002) jener Muster, die ihr die im katholischen Milieu beheimatete volkstümliche Sakral- und Devotionskunst anbietet: Ein altarähnlicher Aufbau mit Säulen, zwischen zwei Pfeilern eine Frauengestalt ohne Arme, daneben vertikal zwei Arme, die wir unschwer als die Arme eines Gekreuzigten erkennen, unter der Frau eine ovale getriebene Metallplatte mit zwei Augen, darüber in einem horizontal angebrachten Fach kleine Objektchen und eine alles bekrönende Verzierung. Alle diese Objekte sind alte Fundstücke, die ihrem ursprünglichen Kontext entrissen sind. Ein Altar also für eine Heilige, für Uraka. Wer ist Uraka? Es gibt, in Corneilles Cid, eine Königin von Aragonien mit diesem Namen. In Hans Henny Jahnns Roman Fluss ohne Ufer heißt eine Hotelbesitzerin so. In Hein-
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rich Heines Atta Troll ist Uraka eine Hexe. Sicher findet sich Dubachs Uraka, die für uns bitten soll, in keinem traditionellen Heiligenkalender, und sicher hat sie gar nichts mit dem Augenpaar zu tun, das uns an Devotionsgaben für Augenheilung an Ottilie erinnert. Natürlich beziehen sich Dubachs Arbeiten wie dieser Schrein auf all die Bilder, die die Innerschweiz als von der katholischen Konfession mitgeprägten Kulturraum ausweisen. Ob diese Bezugnahme etwas zu schaffen hat mit dem spezifisch Christlichen, ist eine andere Frage. Dubach scheint sich aus dem, was sie aus dieser alten Welt zusammenträgt, auf spielerische Weise eine eigene Welt zu schaffen.
Hans Eigenheer, Pilgerweg (1976), Radierung, 25 x 34,5 cm
Der Befund mag bei Radierung Pilgerweg (1976) von Hans Eigenheer bei allen Unterschieden ähnlich sein. Mehrere Motive auf dem Blatt verweisen eindeutig in sakrale, teils auch unmittelbar christliche Zusammenhänge. Das gilt vor allem von dem in eigenartiger Weise unspezifischen Kruzifix, in dessen Körper eine Mandorla-Form eingeschrieben ist, und von der doppeltürmigen Kirche. Weiter gibt es in Nachbarschaft zum Kreuz eine Schildkröte sowie den Schild einer Schildkröte, der so gestaltet ist, dass sich an eine Madonna mit Behang (wie die Einsiedler Madonna) denken lässt. Aber da sind auch Motive, die mit Christlichem nichts zu tun haben – eine nackte und offenbar schwangere Frau wiederum mit einer Mandorla-Form im Körper, ein sich niederkauernder Hirsch, Diamanten, usw. und, nun dominierend, ein doppelgeschlechtliches Wesen in der Art der Anatomien des Vesalius, das in den Armen ein Wickelkind in einem Schiffchen trägt. Wir treffen auf eine Aneinanderreihung von mit geradezu schulmeisterlicher Strenge vorgetragenen Bildmythen, die in Eigenheers Arbeiten jener Jahre
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immer wieder auftauchen, mitunter begleitet von deutlichen Anspielungen auf Eucharistie und auf die Blutopfer-Thematik. Die in sorgfältiger Antiqua gestalteten Buchstaben VFGA an der oberen linken Ecke stehen für Voto Fatto Grazia Avuta: „Das Gelübde ist abgelegt, Gnade habe ich erhalten“. Ein Gelübde ist etwas sehr Privates. Es wird geleistet im Rechnen auf Gegenleistung. Zweifellos finden sich in diesem Blatt Spuren des Religiösen. Welche religiöse Haltung dahinter steht, können wir nicht entschlüsseln. Wir sind Zeugen eines zeichnenden Nachdenkens über ein sehr persönliches und für Außenstehende kryptisches Weltbild. Ein beinahe unerschöpfliches Interpretationsfeld ist eröffnet, auf dem man sich leicht verlieren kann.
Albrecht Schnider, Ohne Titel (1993), Bleistift, Acryl und Gouache auf Papier, 126,5 x 51,8 cm
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‚F ROMME B ILDER ‘ IN KÜNSTLERISCHEM N EUL AND Die Malerei Albrecht Schniders von 1993/94 bezieht sich unverkennbar auf Malereien, wie man sie in sehr vielen Innerschweizer Kirchen antrifft und die häufig von Melchior Paul von Deschwanden (1811-1881) stammen, dem produktivsten Sakralmaler der Schweiz im 19. Jahrhundert, oder von seinen Schülern und Mitarbeitern. Schnider wuchs in Sörenberg auf – in einem Kerngebiet innerschweizerischer Katholizität. Er hatte in seiner Jugend jeden Sonntag während des Gottesdienstes an den Seitenaltären der Pfarrkirche die Bilder der Deschwanden-Schule vor Augen. Im Bild Ohne Titel (1993/94) nimmt er sich dem vielleicht intensivsten Kunsterlebnis seiner frühen Jugend an, wobei die unverkennbare Anlehnung an Gesehenes in seinem Schaffen neu ist. Spuren des Religiösen scheinen ins Auge zu springen; zu schön ist der Knabe mit Heiligenschein, der das Tier liebkost. Ob es ein Schaf ist? Schnider sagt, es sei ein Hund. Doch ist er nicht ein Künstler des Vordergründigen. Wir wissen nicht, um wen es sich beim mehr gezeichneten als gemalten Jungen handelt. Der Jesusknabe? Vielleicht, doch es fehlen wichtige ikonografische Hinweise. Sicher ist nicht einmal, ob die konzentrischen Kreise hinter seinem Kopf ein Heiligenschein sind. Die mit subtilem Farbauftrag erzielte Helligkeit entrücken den Bildgegenstand in eine weite Ferne, ja bringen ihn beinahe zum Verschwinden: Er wird sich demnächst in weiter Distanz auflösen. Der Linie kommt in dieser Malerei ein sehr bedeutender Stellenwert zu: Er sei ohnehin eher Zeichner als Maler, sagt Schnider. Das führt zu Arabesken und Ornamenten, zu komplexen Überschneidungen, zu ausgeklügelten Linienführungen in den Händen, die sich an Tierkopf und -hals legen, und zu den merkwürdigen Schatten auf dem Boden. Die Linien und die Formen, die diese Linien umschreiben, beginnen ein Eigenleben zu führen, und wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, Schnider nehme die frömmelnde Malerei des 19. Jahrhunderts zum Anlass einer abstrakten Komposition. Damit allerdings erhielten die Zeichen des Religiösen einen anderen Stellenwert, und das Bild bezöge sich nur vordergründig auf die Sakralmalerei des 19. Jahrhunderts. In Wirklichkeit sucht sich der Maler aufgrund seiner visuellen Jugenderlebnisse den Weg in eine ihm bis anhin fremde künstlerische Zukunft. Dass er sich nach 1994, als er diese Malereien in der Manor Kunstpreis-Ausstellung4 in Luzern gezeigt hatte, Abstraktem zuwandte, bestätigt diesen Eindruck. 2004 lud das Nidwaldner Museum in Stans Christian Kathriner ein, seine Arbeiten im Zusammenhang mit Werken von Melchior Paul von Deschwanden zu präsentieren. Kathriner entschied sich für eine Trilogie. Er malte das Erdgeschoss als Prosecenium in Allover-Malerei mit einem Dornenranken-Motiv aus. 4 Der Manor Kunstpreis ist seit 1982 eine schweizweit renommierte Nachwuchsför-
derung von jungen Kunstschaffenden, ermöglicht durch die Warenhauskette Manor.
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Im Hauptgeschoss zeigte er die Via Crucis, einen monumentalen Kreuzweg, im Dachstock Elysium, ein ‚Paradies‘ mit Bildern Deschwandens aus Museumsbesitz. Die Via Crucis ist eine mit großem Aufwand realisierte Installation. Kathriner suchte in seinem Bekanntenkreis nach Laienschauspielern, kostümierte sie, ließ sie die vierzehn Kreuzwegstationen nach zuvor gefertigten Skizzen in Tableaux vivants darstellen und fotografierte die Szenen. Es folgten die digitale Bearbeitung des Fotomaterials und der Ausdruck auf Papierbahnen, die er an den Wänden zum Zyklus zusammenfügte. Kreuzwege in ihrer strengen Form als Bilderfolgen – zuerst sieben, dann vierzehn – kommen im späten 15. Jahrhundert auf und gehören seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert meist als kleine Andachtsbilder zur Grundausstattung der barocken Kirche. Monumentale Kreuzweg-Zyklen gibt es erst später. Bekanntestes, oft kopiertes und nachgeahmtes Beispiel ist der aus den 1840er Jahren stammende Kreuzweg des Nazareners Joseph von Führich in der Wiener Johannes-Nepomuk-Kirche. Kathriner zeigt das Kreuzweg-Geschehen in der Art einer in der Materialschilderung höchst realistischen, dazu pathetischen, effektvoll inszenierten und bunten Historienmalerei. Auf was genau er sich in seiner antiquierten Ausdrucksweise bezieht, bleibt offen. Kathriner wählte wohl historisierende, in diffusem Sinne ‚biblische‘ Kleider, kostümierte aber die Soldaten als Schweizer Landsknechte. Man kann sich an Fotos der Oberammergauer Passionsspiele erinnert fühlen. Er suchte nicht jene ganz direkte Zeitgenossenschaft wie Willy Fries, der 1936 bis 1944 das Kreuzweggeschehen konsequent in seine Heimat Wattwil und in die Gegenwart verlegte – mit Soldaten in Schweizer Uniform, was damals einen Skandal erregte. Kathriner verzichtete bewusst auf jeden Versuch, die Ikonografie neu zu erfinden. Er greift in Thematik und religiösem Pathos auf Kunst früherer Jahrhunderte zurück. Für den Kunsthistoriker Felix Thürlemann führt dieser Rückgriff zu neuem Erleben. Er schreibt im Katalog, Kathriners Darstellungsweise führe dazu, dass wir tradierten Bildinhalten, die wir üblicherweise nur durch „die Nebelwolke des Ästhetischen und Musealen“ wahrnehmen, „befremdlich nah“ und damit völlig neu erfahren würden.5 Wie denn genau aber diese Rezeption erfolgen soll, und ob uns das Bekannte so tatsächlich neu nahe gebracht wird, ist, wie vieles, eine Frage der Befindlichkeit der Betrachtenden. Wichtiger scheint, dass der Künstler in seiner Kunst ähnlich wie Schnider die historische Sakralkunst seiner Heimat als Ausgangslage für eine neue künstlerische Auseinandersetzung ernst nimmt. Pate gestanden haben die ,frommen‘ Bilder der NazarenerNachfolger, aber auch generell eine nicht näher spezifizierte, theatralisch inszenierte narrative Malerei in Barock und Manierismus.
5 Thürlemann, Felix: Christan Kathriners Universum der Malerei, in: Nunc Stans 1811-
2004, Stans (Nidwaldner Hefte zur Kunst 4) 2004.
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Ein fraglos religiöses Bild des frühen 16. Jahrhunderts bildet den Hintergrund von Rochus Lussis Liegende (2004). Lussi bezieht sich in dieser Holzskulptur auf Hans Holbeins Leichnam Christi im Grab (1521) im Kunstmuseum Basel.6
Rochus Lussi, Liegende (2004), Holz, 420 x 65 x 16 cm
Liegende – das sind fünfzig ausgestreckt in Regalfächern liegende, nackte Gestalten. Lussi schuf vorerst einen hölzernen Prototyp, der in etwa Holbeins Christus entspricht, aber sowohl männlich wie weiblich ist. Lussi stellt daraus maschinell insgesamt fünfzig hölzerne Figuren her, die Hälfte davon spiegelverkehrt. Er bearbeitete sie – machte sie zu Männern oder Frauen, veränderte Haare, Körperfarbe, Augen, die Stellung des Kopfes. Ist das noch der Holbein’sche Christus? Es sind Erinnerungen an dieses Bild, aber es sind zugleich Variationen dieser Erinnerungen. Dabei spielt die Jetztzeit eine wichtige Rolle, denn es sind Menschen von heute, die wir hier liegen sehen. Im Unterschied zum Holbein’schen Christus sind sie gesund und ohne Spuren irgendwelcher Schindungen und Foltern. Sie tragen statt des zeitlos ‚biblischen‘ Lendentuchs zum Teil recht modische weiße Unterwäsche von heute. Die Szene ist ambivalent: Die Beziehung zum Christusbild ist da, die Brücke von heute zu einem Hauptinhalt christlicher Religiosität ist geschlagen, aber sie könnte labil sein. Die Ähnlichkeit ist frappant, aber nicht total: Bei Holbeins Christus fällt der Mittelfinger über den Rand der Nische, bei Lussis Figuren ist es der Zeigfinger. Vielleicht gar sehen wir statt Holbeins Christus Menschen, die sich im Solarium bräunen lassen. 6 Holbein schuf das Werk wahrscheinlich für das Grab der Amerbach-Familie im Klei-
nen Kreuzgang der Basler Kartause. Reformation und Bilderfeindlichkeit veranlassten Bonifacius Amerbach, das Bild in sein Kunstkabinett aufzunehmen. Mit der Wiedergabe des geschundenen Leichnams waren stets die Auferstehung und damit Ostern als Überwindung des Todes mitgedacht.
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H ANS S CHÄRERS AMBIVALENTE M ADONNEN Die Madonnen-Bilder von Hans Schärer entstanden zwischen den späten 1960er und den mittleren 1980er Jahren, verweisen in religiöse Zusammenhänge: Schärer sprach davon, diese Bildidee, die in seinem Lebenswerk einen bedeutenden Stellenwert einnimmt, gehe zurück auf einen Besuch in der romanisch-byzantinischen Kirche in Torcello bei Venedig, in deren mit Mosaiken ausgeschmückten Apsis-Kalotte eine aufrecht stehende, majestätische, blau gewandete Maria mit Kind im Goldgrund aus dem 12. oder 13. Jahrhundert zu schweben scheint.7
Hans Schärer: Madonna (1969), Mischtechnik auf Leinwand, 127 x 105 cm
Der Künstler bezieht sich also direkt auf Elemente christlicher Ikonografie. Ob damit für ihn aber ein explizierter religiöser oder christlicher Zusammenhang gegeben ist, bleibt offen. Es gibt wohl in Schärers Werk, auch in seinen Arbeiten auf Papier und in seinem Stundenbuch (1980er Jahre), sehr viele Anspielungen auf Bilder, doch selten solche auf traditionelle christliche Ikonografie. Ich bin geneigt, die Madonnen trotz der Titelgebung, die übrigens alles andere als eindeutig ist, und trotz der klaren Bildhierarchie in profanen Gefilden anzusiedeln. Mit Madonna muss nicht Maria gemeint sein. 7 Hans Schärer im Gespräch mit dem Autor im Juli 1982.
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Schärers Madonnen sind Ölmalereien, in denen der Künstler den Typus einer hoch aufragenden menschlichen Gestalt entwickelte. Sie ist armlos und mit reduziertem Gesicht, in das, wie in den ganzen Körper, verschiedene Materialien wie Steinchen, Erde, Haare oder Zähne eingearbeitet sind. Die Gestalt ist selten eindeutig als Frau, geschweige denn als Maria gekennzeichnet. Die Grundform ist phallisch, aber zugleich bringt das aus dem Arsenal weltweit verbreiteter kultureller Zeichen übernommene Motiv der Vagina Dentata die Madonna in die Nähe eines Männer verzehrenden Ungeheuers. Schärer selbst anerkannte die Ambivalenz dieser Werkgruppe. Die vom jungianischen Tiefenpsychologen Willy Obrist geäußerte Meinung, die Bilder würden das Negative des Weiblichen zeigen, nahm er allerdings mit Skepsis auf. 8 Im erwähnten Gespräch mit dem Autor betonte der Künstler 1982 vor allem den rituellen Charakter dieser Arbeiten sowie den rituellen Charakter des malerischen Vorganges als solchen, der ihn auch in den Bereich der Magie führe. Und zur Frage, warum denn die Bilder mit Madonna betitelt seien, sagt er einfach: „Man hat den Bildern diesen Namen gegeben.“ Zu den Vorbehalten, wonach die Madonnen bedrohlich, wie Schreckensbilder wirkten, meinte er: „Ich glaube nicht, dass die Bilder bedrohen. Vielleicht sind es Bannbilder, aber sie sind nicht intellektuell so konzipiert. Wenn schon, so geht das über die Emotionen. Ich selber schaue sie mit Humor an.“ Wie denn das? Schärer dazu: „Humor beinhaltet natürlich auch den Tod.“ Schärers Madonnen handeln zweifelsfrei von existenziellen Grundfragen des Menschen und rufen nach Antworten, die auch ins Zentrum der Domäne der Religionen weisen.
D AS K REUZ : M ARKENZEICHEN UND W EGMARKE Der Innerschweizer Ian Anüll besuchte die Luzerner Kunstgewerbeschule. Entdecken wir in der Arbeit des kosmopolitischen Künstlers einen religiösen Hintergrund oder Hinweise auf eine katholische Tradition, die er als Kind zweifellos erlebt hat? Nicht auf den ersten Blick, auf einen zweiten allerdings schon, auch wenn es keinesfalls um Bekenntnisbilder geht. Claude Ritschard unterzieht Ohne Titel von 1986, eine Arbeit, in der Anüll die Buchstaben ‚INRI‘, die Kreuz-Inschrift aus der Passionsgeschichte, verwendet, in einer Publikation der Hall Sud in Genf einer Analyse.9 Sie konstatiert unterschiedliche Bedeutungsschichten und Wege, die Anüll einschlägt, um diese erlebbar zu machen. Den Ausschnitt aus einem Rosen-Ornament oben deutet sie einerseits formal als Horizontalmoment und damit als möglichen Querbalken eines Kreuzes und andererseits als Hinweis auf das vielschichtig, 8 Willy Obrist im Ausstellungskatalog Rapport der Innerschweiz (wie Anm. 1). 9 Ritschard, Claude: Ian Anüll. Seine Ikonographie, in: Halle Sud Genève. Nr. 25, 2005.
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auch religiös interpretierbare Motiv der Rose. Die goldene Farbe der Inschrift ‚INRI‘ ist für Ritschard ein Unsterblichkeits- oder Siegeszeichen, aber natürlich ist die Inschrift auch, zusammen mit dem Kreuz, wesentliches ‚Markenzeichen‘ des Christentums. Markenzeichen – seine Macht, sein Glücksversprechen und sein Segen, sein Faszinosum, sein Realitätsbezug – haben Anüll stets interessiert, und er hat sie oft zum zentralen Aspekt gewählt seiner auch alle Register der Ironie ziehenden Arbeit. So auch das Kreuz: Einmal ist es schwarz als Blackmoney-Cross (mit Dollar-Noten-breiten Balken, wozu der Hinweis Anülls erhellend ist, dass sein erstes verkauftes Kunstwerk mit Schwarzgeld bezahlt wurde); ein zweites Mal ist es vergoldet als Golden Cross, ein Fundstück wie so manches in Anülls Werk.
Ian Anüll, o.T. (1986), 2-teilig, Stoff, Acryl auf Leinwand, 170 x 80 cm
Die Plastik Zeitraum von Kurt Sigrist, die seit 1990 auf dem Areal der GotthardAutobahnraststätte in Erstfeld steht, ist im Zusammenhang mit Spuren des Religiösen in der Innerschweizer Kunst mehrfach von Interesse. Es handelt sich um zwei vierräderige Karren mit hausförmigem Aufbau, die sich kreuzweise überschneiden. Die Stirnwände fehlen, man kann diese Korridore also betreten. Man fühlt sich im Dunkeln eingeengt, doch steht man in der Mitte, so sieht man in jeder Richtung einen Landschaftsausschnitt.
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Das Objekt bietet Anlass zu theologischen Überlegungen zum Thema des Kreuzes als eines der Kern-Symbole des Christentums. Von Sigrist sind keine Aussagen zu solch möglichen Inhalten bekannt. Allerdings liegen trotz der Kreuzform, die in der Innerschweiz ohne Bezug auf das Christentum kaum denkbar ist, auch ganz andere Interpretationen nahe oder gar näher: Zeitraum ist gerade an diesem Standort auch lesbar als eine kritische Stellungnahme oder als eine Ironisierung jedes modischen Mobilitätsfetischismus: Die hausförmigen Karren sind, weil sie sich durchkreuzen, zur Immobilität verurteilt.
Kurt Sigrist, Zeitraum (1980), Corten-Stahl, 400 x 400 x 218 cm, Autobahn-Raststätte Gotthard, Erstfeld
Mit einigem Staunen wird man allerdings zur Kenntnis nehmen, dass Sigrist, wie er selber im Gespräch sagte, weder dieses noch jenes im Auge hatte, sondern dass er, als er sich mit diesem Objekt (erfolglos) am Wettbewerb für Kunst am Bau der Kantonsschule Obwalden in Sarnen beteiligte, primär an seiner eigenen Biografie und am Erlebnis einer wichtigen Entscheidung während der Schulzeit orientierte. Es ging ihm also um eine Wegkreuzung. Die Spuren des Religiösen sind zweifellos da, aber sie sind mehrfach überlagert. Am heutigen Standort kann der Zeitraum, der als freies Kunstwerk ohne institutionelle Bindung verstanden sein will, wiederum zum Meditationsraum über den Gang des Lebens und jene Entscheidungen werden, die dem Leben diese oder jene Richtung weisen. Der Andachtsraum gegenüber, auf dem Areal der Raststätte in Erstfeld an der Route nach Süden, ein 1998 vollendeter Bau der Zürcher Architekten Pascale Guignard und Stefan Saner, möchte das wohl ebenfalls sein: Ein Ort des Innehaltens und der an keine Religion gebundenen Besinnung im steten Fluss der Mobilität.
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Markus Döbeli, o.T. (2009), Acryl auf Leinwand, 81 x 122 cm
R EINE M ALEREI In den Werken von Godi Hirschi und Markus Döbeli sind keine Spuren von christlicher Ikonographie und nichts Erzählerisches zu entdecken. Sie fügen sich trotzdem in den Zusammenhang dieser Spurensuche, weil gerade ihre Ungegenständlichkeit oft als spirituell empfunden wird und weil im Zusammenhang mit solchen Werken häufig von nicht näher spezifizierbaren meditativer Malerei gesprochen wird. Es liegt nahe, dass es dabei weniger um eine Frage der künstlerischen Absicht als vielmehr um eine Frage der Rezeption geht. Hirschi hat Theologie studiert und wurde erst dann Künstler. Er hat viel für Kirchenräume gearbeitet und seine Arbeit auch in den Dienst der Liturgie gestellt. Er wählte dabei aber nicht den Weg der Illustration. Ein Beispiel ist die Chorraumgestaltung der in den 1920er Jahren errichteten Pfarrkirche St. Martin in München (1999). Hinter dem Altar befindet sich eine hoch aufragende dreieckige Stele, deren drei Flächen gelbgolden, blau-violett und lindengrün bemalt sind. Diese Stele lässt sich entsprechend den liturgischen Zeiten drehen. Die Apsis ist in lichtem, stark mit Weiß durchsetztem Blau ausgemalt. In einem sehr viel Zeit beanspruchenden Malvorgang sind Lasuren über Lasuren gesetzt. Die immer gleiche Bewegung der Hand bleibt sichtbar: Die unscheinbar wirkende Malerei ist damit voller Spuren des Lebens und erschließt auch einen musikalisch atmenden Rhythmus. Auch wenn diese Arbeit Hirschis der Liturgie dient, so ist ihre Qualität doch gebunden an ihre Autonomie. Ähnlich seine freien Arbeiten, wobei das Wort „frei“ nicht bloß bedeutet, dass sie nicht in einem Auftrag entstanden. Freiheit war schon in den späten 1970er Jahren, als er sich als Künstler politisch äußerte, von grundsätzlicher Bedeutung. Sie ist es aber auch in seinem Verhältnis zur christlichen Religion. Er
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habe, so sagte er in einem Interview, wohl die Theologie verlassen, doch die Religiosität könne er nicht abgelegen: „Ich lebe sie in der Kunst, und die braucht Freiheit, um sich entfalten zu können“. Manche seiner Werke betrachtet er selber als eigentliche Mysterienbilder, gestaltet aus einem Hunger nach Hoffnung und aus einer Sehnsucht nach Mitmenschlichkeit. Seine Kunst hat deswegen nicht Bekenntnischarakter, denn sie gibt – bei aller Strenge – die Freiheit an den Betrachter weiter, davon je nach seiner eigenen Befindlichkeit Gebrauch zu machen. Hirschis künstlerische Arbeit hat denn auch einen undogmatischen Charakter. Aus den Malereien von Döbeli ergeben sich keine nachweislichen Beziehungen zu Religion und Theologie. Mit ihrem weichen malerischen Duktus, mit dem Sich-Hineinbegeben in den Malvorgang, das uns wie eine meditative Versenkung erscheinen mag, können sie dennoch als religiös empfunden werden. Vielleicht aber richtet sich das Interesse des Künstlers auf ganz anderes, auf Grundfragen des Malerischen, auf die Farben und ihre Wertigkeiten und Beziehungen zueinander, auf das Verhältnis zwischen Fläche und Raum. Oder auf die Frage nach einer „begriffslosen Wirklichkeit“, wie das Ulrich Loock in seinem Text zu Döbeli zur Winterthurer Ausstellung 2010 vieldeutig ausführte.10 Ungegenständliche oder ‚reine‘ oder ‚inhaltlose‘ Malerei wie jene Hirschis oder Döbelis wurde immer wieder in Kirchenräumen eingesetzt – oder es wurde, wie mit Brice Mardens Entwürfen aus den frühen 1980er Jahren für Glasmalereien im Basler Münster, mindestens versucht. Realisiert wurden entsprechende Malereien als Stützen einer sakralen Atmosphäre beispielsweise von Jörg Niederberger in der Dreifaltigkeitskirche in Bern und in St. Josef in Gstaad.
E CCE H OMO Von Hirschi und Döbeli kann der Weg auch zu Anton Egloff führen. Er hat für Kirchenräume gearbeitet, doch auch hier sei auf eine freie Arbeit verwiesen, auf die Installation Storefront (2011) bei den Edizioni Periferia. Egloff ordnete an der Wand und auf dem Boden rund sechzig Kästen mit Werken aus knapp vierzig Jahren künstlerischer Arbeit an. Es handelt sich um Ablagerungen eines langen Künstlerlebens. Wenn eine christliche Grundhaltung in dieser Lebensarbeit sichtbar wird oder wenn ein Betrachter eine solche Grundhaltung konstatieren mag, so geht das nicht über Zitate, sondern über eine Haltung, die über die Kunst hinaus ins Allgemeine führt. Storefront ist in freiem Spiel kombinierbar und gehorcht nicht einem klar festgelegten Plan. Die Materialien sind ‚arm‘ und schlicht. Die einzelnen Kästen und ihre ganze Anordnung strahlen eine lichte 10 Loock, Ulrich: Begriffslose Wirklichkeit, in: Markus Döbeli – Gemälde und Aquarelle,
Winterthur (Kunstmuseum Winterthur) 2010, S. 65-71.
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Heiterkeit aus. Es geht um Offenheit und, ähnlich wie bei Hirschi, Freiheit, um eine Absage an Dogmatismen und das unverrückbar Feste und um ein Plädoyer für den offenen Prozess, für die Vorläufigkeit, vielleicht gar für Bescheidenheit.
Charles Wyrsch, Liegender Akt (1972), Öl auf Leinwand, 65 x 81 cm
Zum Schluss sei auf zwei Künstler hingewiesen, die mit großer Selbstverständlichkeit in einer Welt christlich-katholischer Prägung leben. Dieser Umstand findet in ihrem Werk einen zwanglosen Niederschlag. Eugen Bollin ist Benediktinermönch. Er wirkte während Jahren an der Stiftsschule Engelberg als Zeichenlehrer. Im Kloster hatte er sich als Prior lange Zeit um das Wohl der Mönche zu kümmern. Bollins spontanes Zeichnen und Malen ergibt sich seit Jahren aus seinem Alltag. In seinem Schaffen findet das tägliche Erleben seiner Umwelt seinen Niederschlag, und dieses Erleben ist geprägt von einer ausgeprägten Dualität. Auf der einen Seite ist das Kloster mit seiner barocken Architektur, die sich in die Berglandschaft Engelbergs einfügt, und die der malende Mönch immer wieder als atmenden und ihm auch Schutz und Geborgenheit bietenden Organismus erlebt. Das Kloster mit seiner mehrhundertjährigen Geschichte ist heute geprägt von der Überalterung seiner Mönche. In den letzten zwei Jahrzehnten hat Bollin manchen seiner Mitbrüder in den Tod begleitet. Auf der anderen Seite leben und arbeiten hier Schülerinnen und Schüler, welche sich in der Schule und im täglichen Zusammenleben des Internats auf ihre Zukunft vorbereiten. Manche von Bollins Werken sind von dieser intensiven Spannung zwischen Leben und Tod in einer christlich geprägten Umgebung
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geprägt. Er gibt ihr in spontanem malerischem Gestus und weniger in der intellektuellen Reflexion Ausdruck. Charles Wyrsch hat 1966 in der Unterkirche der Piuskirche in Meggen einen eindrücklichen Kreuzweg gemalt. Sein Werk kommt hier aber nicht deswegen zur Sprache und auch nicht, weil manche seiner dunklen Ölmalereien vom Titel her als Christusdarstellungen lesbar sind, sondern weil sehr viele seiner Malereien als Ecce Homo-Darstellungen gelten können – als eine malerische Annäherung an das Wesen des Menschen, das Wyrsch, darin natürlich seinem Herkommen aus traditionellem katholischen Milieu treu, als ein den grossen Polen christlicher Weltsicht ausgeliefertes Wesen erlebt: Ob Selbstporträt, ob Porträt, ob weiblicher Akt, ob Darstellung von Schmerz, Leid, Trauer, Ausgeliefertsein, Einsamkeit, ob Anklage gegen Spekulanten oder Landschaftszerstörer – es geht, darin Bollins Werken vergleichbar, buchstäblich um Leben und Tod und Erlösung. Das gilt auch von seiner Aktmalerei, die ihn von den frühen 1970er bis in die späten 1990er Jahre umtrieb. Die beschriebenen Beispiele scheinen zum Teil sehr direkt an christliche Inhalte heranzuführen: Rückgriffe auf die in der Innerschweiz vielfältig präsente christliche Ikonografie ist allerdings kein sicheres Indiz für eine religiös motivierte Bildlektüre, deren objektive Kriterien ohnehin schwer zu finden sind. In welchem Sinn das Religiöse mitspielt, bleibt im Ermessen der Betrachterinnen und Betrachter. Spuren des Religiösen sind da sichtbar, wo wir mit der Kunst das Religiöse als eine Sinnsuche sehen, die dem Leben eine über alles Materielle hinausweisende Dimension verleiht.
„Ich baue für stramme Gemüter.“ – Christian Kathriner Christoph Lichtin
Aus Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen weiß ich: man ist für ihn oder gegen ihn. Wenn die Rezeption eines künstlerischen Werkes derart kontrovers diskutiert wird, ist es offenbar schwer einzuordnen. Im Fall von Christian Kathriner könnte der Vorwurf gewisser Kollegen vernichtender nicht sein, wenn sie behaupten, was Kathriner mache, habe gar nichts mit Kunst zu tun. Was er mache, sei die Tätigkeit eines Architekten (als er etwa Architekturmodelle oder Brückenkonstruktionen ausstellte), oder diejenige eines Schreiners (als er Intarsienbilder zeigte oder eine massive Eichentüre installierte), oder diejenige eines Designers (als er großformatige, in einem Zeichnungsprogramm entworfene Farbfeldmalereien präsentierte). Das klingt hart, doch die Kritik ist Ausdruck davon, dass heute offenbar über die Aufgaben eines Künstlers keine Einigkeit mehr besteht. Das war früher anders, denn es galt, dass ein Künstler alle handwerklichen Techniken beherrschen musste, dass er also beispielsweise nicht nur zu malen verstand, sondern auch wusste, wie man ein Portal entwirft, eine Brücke baut oder eine schöne Kanone gestaltet. Nun ist Kathriner kein Nostalgiker, der sich in die Frühe Neuzeit zurückwünschte; aber dass der Künstler heute von der Einbindung in eine öffentliche, gesellschaftliche Aufgabe losgelöst ist, empfindet er als Mangel. Der 1974 in Obwalden geborene Künstler ist nun bereits ein gutes Jahrzehnt mit Ausstellungsbeiträgen präsent; ein erster Überblick ist demnach möglich, und der Vergleich seiner Werke macht deutlich, dass sich seine künstlerische Tätigkeit in vielen Zügen mit dem Rollenbild eines klassischen Künstlers deckt. Zudem schöpft er thematisch und formal ganz direkt aus der Vergangenheit. Die Kunstgeschichte ist ihm ein faszinierender Fundus, den er sich (wie fast seine ganze Generation) zu Nutzen macht. Indem er Dinge neu zusammensetzt, gelangt er zu eigenen Formulierungen, erreicht gleichzeitig aber auch eine Einbindung in die lange Tradition der Kunst. Urs Lüthi (*1947) hat in Bezug auf die Herausforderung, die sich einem zeitgenössischen Künstler im Umgang mit den Errungenschaften der Kunst stellt, davon gesprochen, dass er das bereits
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Vorhandene als ein Vokabular verstehe, welches eine neue Formulierung in der Gegenwart erlaube, ohne den Zwang, etwas Neues erfinden zu müssen: „Man hat ja auch viele Väter, wenn man Kunst macht. Und gerade wenn man heute Kunst macht. Immer wieder merke ich, dass viele Menschen, die Kunst rezipieren, also Kritiker und Museumsleute, damit überhaupt nicht klar kommen, sie suchen immer noch nach dieser Avantgarde des 20. Jahrhunderts, also: Wer hat wo, was erfunden? Und sie haben überhaupt nicht gemerkt, dass wir eigentlich die erste Generation nach der Kunst des Handwerks, nach diesem 20. Jahrhundert sind, die diese Art von Avantgarde nicht mehr befriedigen dürfen, nicht mehr müssen und nicht mehr können. Ich glaube, dass es auch heute wirklich völlig ein Anachronismus wäre, avantgardistisch zu denken. Wir müssen eher die Dinge wieder ins rechte Licht rücken! Und mit diesem bereits erfundenen Vokabular eigene Geschichten erzählen.“1 Zu diesem „erfundenen“ Vokabular gehört auch die christliche Ikonografie.
Christian Kathriner, Via Crucis – Statio XI (2004), C-Print, 270 x 300 cm 1 Das Leben als Steinbruch für die Kunst. Christoph Lichtin im Gespräch mit Urs Lü-
thi, in: Urs Lüthi – Spazio Umano. Katalog zur Ausstellung anlässlich der Verleihung des Arnold Bode-Preises im Museum Fridericianum Kassel, hgg. vom Kasseler Kunstverein, Kassel 2009, S. 1-11.
„I CH BAUE FÜR STRAMME G EMÜTER .“ – C HRISTIAN K ATHRINER
Als Christian Kathriner 2004 vom Nidwaldner Museums in Stans eingeladen wurde, sich mit Melchior Paul von Deschwanden (1811–1881) zu beschäftigen, ein von der Malerei der Nazarener geprägter religiöser Künstler, der seine Kunst ganz im Dienste der Vermittlung frommer Inhalte gesehen hatte, konzipierte er einen raumgreifenden Kreuzweg. Von von Deschwanden stammt der viel zitierte Satz „Ich male für fromme Gemüter und nicht für die Kritiker“2 . An von Deschwanden interessierte Kathriner jedoch nicht das Religiöse, sondern vielmehr die gemeinsame Tradition: die großen Meister der Renaissance, des Klassizismus und schließlich der Nazarener. Von Deschwanden ist ganz der routinierte Epigone, seine Bilder sind emblematische Darstellungen der christlichen Heilsgeschichte. Kathriner dienten sie als Ausgangspunkt für eine zeitgemäße Neuinterpretation eines Kreuzwegs, einer Via Crucis. Die einzelnen Stationen wurden mit Laiendarstellern, einem Tableau vivant ähnlich, nachgestellt und fotografiert. Die Inszenierung in einer Obwaldner Landschaft (der Heimat Kathriners) erfolgte am Computer. Die Computerausdrucke wurden sodann zu 270 x 261.5 cm (bzw. 270 x 300 cm) großen Einzelbildern zusammengesetzt und an die Ausstellungswände appliziert. Nun wäre es möglich zu behaupten, Kathriner interessierte in diesem künstlerischen Dialog den über alle Epochengrenzen hinweg geltenden Wettstreit über die Lehre von Komposition und Farbe, indem er die Möglichkeiten der neuen Technologie ins Spiel brachte. Dabei hätten ihm die Fotografie und die digitale Bildbearbeitung als Medium gedient, einen fest konnotierten Bildzyklus in die Gegenwart zu transformieren. Dass er selbst eine religiös-vermittelnde Motivation hatte, dürfen wir ausschließen, denn sein Bildzyklus hat außer der zeitgenössischen Technik keinen direkten Gegenwartsbezug. Ähnlich der Wiederaufführung eines Osterspiels erzählt der Zyklus, auch wenn der Künstler selbst sowie sein Bekanntenkreis in einem Rollenspiel die biblischen Protagonisten mimen, von etwas längst Vergangenem. An diesem Bildtypus, der für uns heute im Alltag keine Funktion mehr hat, interessierte Kathriner vielmehr die früher selbstverständliche Einheit von Bild und Raum, das selbstverständliche Zusammengehen von Malerei und Architektur. Um die fotografischen Darstellungen der Kreuzwegstationen ‚baute‘ er deshalb mittels Bildbearbeitung auch eine Architektur. Die Einzelbilder wurden mit einem gedrehten Stabornament eingefasst und ebenso waren die monochrom gefassten Zwischenräume durch dieses Ornament begrenzt. Der ganze Zyklus war passgenau auf den bestehenden Raum bezogen. Dem Künstler ging es nicht um die Rezeption der Malerei, indem er in Anlehnung an von Deschwanden (oder die Nazarener, oder die Renaissancekünstler etc.) selbst 14 Kreuzwegstationen machte, sondern darum, einen speziellen Ort zu kreieren, wie er früher den Bildern selbstverständlich zugedacht war. Den Künstler inte2 „Ich male für fromme Gemüter.“ Zur religiösen Schweizer Malerei im 19. Jahrhundert.
Katalog der Ausstellung im Kunstmuseum Luzern, Luzern 1985.
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ressierte in Stans die sich aus der Kombination von Bild und Raum ergebende Versuchsanordnung: „Den Ort der Kunst kann man – ebenso wenig wie den Wahrheitsgehalt des Bildes – in einen absoluten Begriff fassen. Aber man kann Versuchsanordnungen lancieren. Und insofern ist meine Arbeit in Stans, die Via Crucis, eine solche Versuchsanordnung gewesen: wieder einen Ort zu finden, in dem sich ein Bild einfügt. Dort waren es C-Print-Bahnen, die wir direkt an die Wand aufgebracht haben, wissend, dass die ganze Pracht und Herrlichkeit in zwei Monaten zu Ende sein würden und wir das Ganze von den Wänden reißen und vernichten müssen. Die Frage nach dem Ort der Kunst und nach ihrer Funktion ist gebunden an ihre institutionelle Tradition.“ 3 In diesem Sinne ist die Via Crucis Kathriners wohl eine Referenz an die Geschichte der Bilder, aber noch mehr an jene Orte, wo Bilder einst eine spezifische, durch einen religiösen Kanon bestimmte Bedeutung hatten. Christian Kathriner studiert nicht nur Vorbilder unserer visuellen Kultur, für ihn sind auch architektonische Gegebenheiten, die als Strukturen eine Narration umschreiben, von Interesse, besonders, wenn sie sich selbst durch eine gewisse Rhetorik auszeichnen. So war auch die Idee, in der Kirche von Hergiswald eine Installation zu zeigen, kein Bekenntnis zu einer religiösen Thematik, sondern war vielmehr dem Interesse an den institutionellen Bedingungen der Kunst geschuldet. In Zusammenarbeit mit Davide Cascio (*1976) baute Kathriner 2009 in der Wallfahrtskirche von Hergiswald ein Gehäuse nach den genauen Maßen der Santa Casa, der Kapelle von Maria Loreto in Italien, die in Hergiswald selbst hinter Chor und Altar nachgebaut ist. Die Konstruktion aus Messingstangen, die sich über den Kirchenbänken erhob, trug auf den Seiten zwei als Mauerwerk gewobene Tücher, die Decke bildete ein aus Neonröhren gestaltetes Oberlicht. Im Innern dieser Raum-im-Raum-Konstruktion hingen zwei gigantische Gobelins, geschaffen in einer flandrischen Weberei. Die beiden Bildteppiche beinhalten anspielungsreiche figürliche Kompositionen. Man denkt beim einen Bild, auf dem zwei Männer eine Leiter heruntersteigend einen Menschen von einer Baumhütte wegtragen, unweigerlich an die Kreuzabnahme. Vor dem anderen Bild, das eine Menschengruppe zeigt, die den Kampf zweier Personen im Hintergrund verschläft, fühlt man sich an den Garten Gethsemane und den Kampf Jesu mit seinem Schicksal erinnert. Doch sind die zeitgenössisch gekleideten Personen in den Kanon der christlichen Bildtradition nicht recht einzuordnen, es sind nur noch Schemen einer hundertfach durchdeklinierten christlichen Ikonografie, deren Sinnzusammenhang uns abhanden gekommen ist. In dieser Arbeit verbindet sich Kathriners Interesse an der Bildtradition mit seinem Interesse für den Ort, „wo sich ein Bild einfügt“. Dabei ist dieses Verhältnis ein gebrochenes, denn die Architek3 Vgl. Künstlerinnen und Künstler im Gespräch. Teil II in diesem Band.
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tur, die geschaffen wurde, um die Teppiche zu zeigen, besteht ihrerseits aus Versatzstücken unterschiedlicher Kontexte: Die beiden Künstler brachten nach Hergiswald eine Zeltstruktur mit, die auf den zeitgenössischen Kunstbetrieb verweist, in welchem der Künstler gewissermaßen als Nomade von Ort zu Ort zieht, um seine Interventionen zu platzieren; die Neonröhrendecke erinnert an den White Cube, die Ikone des zeitgenössischen Kunstraums, in welchem das Kunstlicht alles Architektonische nivelliert; die Teppiche wiederum rufen längst vergangene Präsentationsformen in Erinnerung, nämlich den zusammenrollbaren Bilderschmuck, den etwa Heerführer mit sich führten. Diese Bildform und die mobile Tragstruktur machten umso mehr Sinn, weil die beiden Künstler planten, auch dieses Gebäude, wie ihr Vorbild, auf eine Reise zu schicken, nämlich zurück nach Loreto, um es in der Pinacoteca im Palazzo Apostolico wieder aufzubauen.
Christian Kathriner, Die Demonstranten (2009), Tapisserie, ca. 300 x 500 cm
Anstelle von „Versatzstücken“ könnte man auch den Begriff des Fragments verwenden, wie ihn Kathriner im bereits zitierten Interview vorgebracht hat. Ein Fragment bezieht sich per se auf die Vorstellung eines ursprünglich anderen Kontextes. „In Museen haben mich immer schon diese Bilder fasziniert, die aus Altären ausgebrochen wurden, wo man die Kapitell-Einschnitte der Altararchitektur noch sehen konnte. Manches Kunstwerk ist auf ganz ähnliche Weise zum Fragment geworden, ich behaupte, das ist eigentlich mit der meisten Kunst so. Es geht bei der Bestimmung von Kunst immer um die Fragen nach deren verschütteter Intention und geistigem Kontext.“ 4 4 Christian Kathriner im Gespräch mit Silvia Henke und Nika Spalinger, Februar 2011.
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Christian Kathriner/Davide Cascio, Transposition (2009) Installation in der Wallfahrtskirche Unserer Lieben Frau in Hergiswald, Messing, Aluminium, Leinen, Tapisserien, Neon
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Christian Kathriner, Zwilling (2010-2011), Installation im Kunstmuseum Luzern, Eiche massiv, gebeizt, geölt, Messing und Bronze, patiniert, 340 x 194 x 14 cm
Bei der Arbeit Zwilling aus dem Jahr 2011 ist dieser geistige Kontext vorab durch den Präsentationszusammenhang gegeben. Die Installation wurde für eine Ausstellung mit Werken von Max von Moos (1903-1979) im Kunstmuseum Luzern verfertigt. Christian Kathriner und zwei weitere Künstler waren eingeladen, künstlerische Kommentare zum Werk des bekannten Luzerner Surrealisten zu realisieren.5 Im letzten Raum dieser Ausstellung stand der Besucher, die Besucherin vor einem verschlossenen, über drei Meter hohen Holzportal und stellte vielleicht etwas irritiert einen Bruch zwischen White Cube und aus
5 Max von Moos – gesehen von Peter Roesch, Christian Kathriner und Robert Estermann,
Ausstellung im Kunstmuseum Luzern 19.3. bis 31.7.2011.
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anderem Kontext stammendem Architekturzitat fest. Die nach allen Regeln der Tischlerkunst gefertigte und mit Wachs polierte Tür war nicht nur geschlossen, das eingefräste, einem Ziegelmauerwerk entsprechende Muster schuf eine zusätzliche Hemmschwelle. Die Mutigen lockte der Griff zur Türklinke, auch wenn das Zupacken nicht leicht gefallen sein dürfte, zeigte die in Bronze gegossene Klinke doch die Form eines Handabdrucks, womit sich unweigerlich die Frage stellte, wer denn hier seine Hand im Spiel hatte. Trat man durch das Portal, sah man sich in einem leeren Raum mit einer identischen Türe an der gegenüberliegenden Wand konfrontiert, eben einem ‚Zwilling’. Kathriner spekulierte darauf, dass sich hier eine Enttäuschung einstellen würde, denn auch wenn die architektonische Anlage eine Enfilade von Türen und Räumen suggerierte, so war doch schon vor der zweiten Türe Schluss: sie blieb geschlossen. Der Besucher, die Besucherin kam in ihrer Absicht, vorwärts zu schreiten, nicht weiter, blieb letztlich auf sich selbst zurückgeworfen. Der Installation war damit eine Metaphorik der Vergeblichkeit eigen, und sie reflektierte eine gedankliche Atmosphäre, wie sie in der Kunst von Max von Moos allgegenwärtig ist. Auch seine Figuren sind letztlich Gefangene ihrer eigenen Wirklichkeit. Doch weitere Kontexte sind zu erwähnen. Die Eichentüre hat eine konkrete Vorlage, nämlich jene Eichentüre im alten Gymnasium von Sarnen, durch die der Gymnasiast Christian Kathriner zu seinem Zeichnungsunterricht schritt. Neben diesem biografischen Bezug hat die Arbeit auch einen kunsthistorischen Background. Eine der berühmtesten Türen der Kunstgeschichte ist jene von Marcel Duchamp (1887-1968) in der Installation Etant donnés: 1° la chute d’eau / 2° le gaz d’éclairage, 1946-1966. Diese Türe, die notabene von einer Backsteinmauer eingefasst ist, thematisiert ein grundsätzliches Problem des bildnerischen Gestaltens. In Anspielung auf die Metapher des Bildes als Fenster, das uns die Fiktion beschert, wir könnten eine Wiederholung der realen Natur sehen, schuf Duchamp eine vertrackte Installation, die den Blick von einem Raum in einen anderen real aufgreift. Die beiden Löcher in der Türe, durch die man sehen kann, bieten eine Fiktion der realen Natur (wie beim Bild als Fenster) und eine ’reale Natur‘, die von einer Fiktion handelt: Zu sehen ist ein inszenierter Handlungsschauplatz mit einem entblößten Frauenkörper in freier Natur. Alles ist derart echt drapiert, dass wir uns anstrengen müssen, den Wasserfall nicht als ein tatsächliches Naturschauspiel oder die Schaufensterpuppe nicht als wirklichen Menschen wahrzunehmen. Unser Sehen ist somit von einer Täuschung herausgefordert, denn wir wissen, dass das Gesehene hinter der Türe, die nicht geöffnet werden kann, im Raum real vorhanden ist, das sich dabei einstellende ‚Bild‘ jedoch auf eine Fiktion zielt. Bei Christian Kathriner lässt sich die Türe öffnen. Dem Besucher, der Besucherin wird damit in kurzer Folge die Erfahrung des Werweißen (vor der geschlossenen Tür), der Vergewisserung (beim Eintreten in den Raum) und
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des erneuten Nachsinnens (vor der zweiten Tür) ermöglicht. Die Installation bedient sich der klassischen Mittel der Erfahrungsgestaltung. In seinen Frankfurter Vorlesungen über die „totale“ Installation hat der russische Künstler Ilya Kabakov (*1933) dem Eingang respektive dem Ausgang einer Installation eine große Bedeutung beigemessen. Unter einer „totalen“ Installation versteht Kabakov übrigens eine künstlerische Arbeit, die einen Betrachter, eine Betrachterin vollständig in sich aufnimmt. Da eine solche Installation einen völlig anderen Raum darstellt als der Museumsraum, der die Installation beherbergt, ist die Grenzlinie zwischen diesen Räumen wichtig und mit viel Sinn beladen. Der geeignete Übergang sei fast immer eine Türe, die auch das beste Symbol für „Zutritt verboten bzw. gestattet“ sei. „Die Welt der totalen Installation ist eine andere Welt, und die Tür zu ihr ist im Prinzip für Unbefugte geschlossen (und jeder Betrachter einer Installation ist teilweise ein Unbefugter, der gleichsam unter bestimmten Voraussetzungen eingelassen wird). Darum muss die Beschaffenheit der Türe, ihre Maße, ihre Ausführung, ihre Farbe, etwas über den Platz aussagen, den der Betrachter betreten wird. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang, wie diese Türe ‚aufgeht‘ und wie weit sie geöffnet ist.“6 Denn nur so lasse sich entscheiden, ob man in diese andere Welt auch eintreten soll oder nicht. Kathriners Zwillingstüren handeln von diesem Zutritt bezw. der Zutrittsverweigerung. Dass beides von einer Person, und zwar von einer ganz bestimmten, abhängig ist, darauf verweisen jene heimtückischen Türklinken, die ja in irgendeine Hand passen müssen. Das Fiktionale, das sich an diesem eigenartigen Ort aufbaut, handelt demnach von der Abwesenheit einer Person, die über eine gewisse Macht über uns verfügt. Die Vorstellung einer solchen Macht, die wir annehmen, aber nicht wahrnehmen, entspricht dem, was wir unter religiösem Denken verstehen. In diesem Sinne ist Kathriners Installation religiös konnotiert, wenn wir unter Religion die Vorstellung von etwas verstehen, das gleichzeitig da und abwesend sein kann. Damit sind wir bei einer im Zusammenhang von Kunst und Religion heute zentralen Fragestellung angelangt. Der Frage nämlich, inwieweit sich Spuren des Religiösen in der Kunst von Christian Kathriner festmachen lassen. Die obigen Ausführungen versuchen sein Werk von einer religiösen Bedingtheit losgelöst und in der Kunstgeschichte verortet zu verstehen. Diese wiederum ist allerdings ebenso wenig frei von Spuren der Religion wie Kathriners Biografie. Einem in eine katholische Familie im katholischen Kanton Obwalden Geborenen wird der allgegenwärtige barocke Katholizismus kaum entgangen sein. Bilder der Heilsgeschichte sind an jeder Ecke auszumachen, und auch im Privatbereich gehörten religiöse Bilder zum festen Inventar. Eine schöne Grablegung etwa 6 Ilya Kabakov, Über „die totale“ Installation, Ostfildern (Cantz) 1995, S. 28-29.
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von Antonio Ciseri (1821–1891) können wir uns im Wohnzimmer der Familie Kathriner gut vorstellen, prominent die Szenerie beherrschend, währenddem der Knabe Christian am Boden mit Lego-Bausteinen spielt. Doch stellten eventuell nicht diese Bausteine die wichtigere Erfahrung für die spätere Künstlerkarriere dar? In seiner Kunst sehen wir zumindest mehr Belege für ein im Bauen geübtes analytisches Denken als für religiöses Empfinden.
Antonio Ciseri, Il trasporto di Cristo al sepolcro (1864-1870), Santuario della Madonna del Sasso, Locarno, Öl auf Leinwand, 190 x 273 cm
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Von der Leichtigkeit des Heiligen bei Judith Albert. Konfessionelle Spuren in der Kunstkritik Isabel Zürcher Aus dem Autoradio trällert etwas dumpf der ABBA-Song I have a dream. Das Surren des Motors schwillt während der kurvenreichen Fahrt an und wird wieder leiser, begleitet vom rhythmischen Takt der Scheibenwischer, gelegentlich der Blinkanlage. Vor der verregneten Windschutzscheibe baumelt der Heilige Bruder Klaus. Das ziellos anmutende Anhalten und Weiterfahren im kleinen Radius einer Innerschweizer Ortschaft wirft ihn – genauer: die Münze mit dem Relief seines Kopfes – nach rechts und nach links, lässt ihn im Gegenlicht baumeln am Ring eines Schlüsselanhängers. Ebenda hängt auch ein Kreuz, dessen hölzerne Perlenkette einen Rosenkranz mimt.
Judith Albert, Träume und Visionen (2001), Video, Ton, 3:47
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In der Unaufgeregtheit und Kürze der frühen Videoarbeit Visionen und Träume fängt die fixe Kameraeinstellung etwas ein, was mich im Kontext des hier ausgelegten Themenfelds an Judith Alberts Schaffen am meisten fasziniert: ihre Leichtigkeit im Umgang mit religiös konnotierten Motiven, Zeichen, Handlungen. Denn nicht nur hier spricht die Künstlerin mit großer Sympathie, mit verspieltem Ernst und ungebrochener Selbstverständlichkeit von einem Zauber des Alltäglichen, der sich unter anderem aus dem materiellen und bildnerischen Repertoire religiöser Praxis nährt. In ihrer Vorliebe für das Tagträumerische und in ihren Versuchsanordnungen, die das zielgerichtete Handeln befragen oder außer Kraft setzen, greift sie auf ein Spektrum an Bildern, Stoffen, Dingen und Klängen zu, wie die katholische Kirche und ihr kulturelles ‚Umland’ sie ihr gleichsam direkt und vorbildlich zur Verfügung stellen. Dabei bleibt die Herkunft einzelner Motive aus dem Feld des Religiösen nicht das Zentrale, was mich bei Albert wiederholt an eine ‚katholische Mentalität’ denken lässt. Es ist mehr noch ihre Unbefangenheit im Aneignen, Inszenieren und Veröffentlichen, in der ich – selber protestantisch sozialisiert – eine große Differenz im Wahrnehmen, Werten und Deuten des „Realen“ orte. Wo der tiefblaue Mantel der Muttergottes sich zwischen Tür und Schwelle über den Plattenbelag des Trottoirs im Londoner East End ergießt, sickert etwas in den profanen Ausstellungsraum, das der aufgeklärte Protestantismus als Augenwischerei, Trick oder gar Werbung für das mächtige System ‚Kirche‘ hinter sich zu lassen beabsichtigte.
Judith Albert, Maria breitet den Mantel aus (2010), Video, Ton, 5:00
„Wir sind beide katholisch. Das heißt: Wir waren es einmal. Aber doch: einmal katholisch, immer katholisch!“ So explizit bin ich, vor der Mitarbeit an der vorliegenden Publikation, erstmals im Gespräch mit Muda Mathis und Sus Zwick der Liaison zwischen dem Fundus katholischer Bildlichkeit und Verfahren in der zeitgenössischen Kunst begegnet. „Unsere Kunst und die katholische Kir-
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che sind ein bisschen verwandt“, meinten die beiden im Interview und lenkten meine ganz unbedarft gestellte Frage nach ihrer Konfessionszugehörigkeit auf mein eigenes kulturelles Selbstverständnis. Aus ihm – nämlich: dem protestantischen Hang zur Objektivierung, zur nüchternen Beschreibung – gewinnt ihr Bezug zu Bild, Wort, Bewegung und Material seine provokante Pointe: „Dieser seriösen Welt, die glaubt, die Welt wäre gut, wenn sich nur alle an die Regeln halten würden, Widerstand und Paroli zu bieten, das macht Spass.“ 1 Schon vor meinem Atelierbesuch bei Judith Albert im Sommer 2011 schien mir klar: Ich kann nicht glaubwürdig zu Einflüssen, Um- und Weiterschreibungen von katholisch vorgezeichneten Elementen in ihrer Kunst Stellung beziehen, wenn ich nicht offen lege, von welchem konfessionellen Standort her meine eigene Argumentation gerinnt. Denn losgelöst von einer gelebten und bekennenden Religiosität stelle ich fest, dass mein protestantisch untermaltes Weltbild Spuren legte für meine Auseinandersetzung mit bildender Kunst, mehr noch: dass es meine Vorstellung über ihren ‚eigentlichen’ Wert entscheidend formte. Zwei Beispiele aus meiner professionellen ‚Vita’ erlauben nachfolgend den Brückenschlag zu Alberts Werk und werfen vielleicht ein kleines Licht auf konfessionelle Kategorien innerhalb (m)einer heutigen Kunstkritik. Im Wintersemester 1993/1994 verfasste ich im Rahmen eines Hauptseminars am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Hamburg eine schriftliche Arbeit mit dem Titel Licht und Farbe bei Philipp Otto Runge. Dreh- und Angelpunkt meiner Auseinandersetzung war die erste, kleinere Fassung des Morgen (1809), ein Hauptwerk der Romantik in der Gemäldesammlung der Hamburger Kunsthalle – und eines, das für mich selbst noch lange Maßstab für tatsächlich und nachhaltig ‚wichtige’ Kunst bleiben sollte: Wo ich, ausgehend vom fein lasierten Bildgrund des Himmels, nach der Farbe zu fragen begann, gelangte ich zu Runges Farbenkugel, die eine religiös und naturwissenschaftlich getränkte Weltanschauung zu fassen versprach. Die nackte Aurora im morgendlichen Firmament legte Spuren zu Eva, zur Mondsichelmadonna wie zu allegorischen Figuren der Frühen Neuzeit. Die arabeske Rahmenhandlung verknüpft die Inkarnation des Gottessohnes mit einem gleichsam naturreligiösen Gestus des Gebets. Mensch, Pflanzen und die himmlischen Chöre proben den Einklang, Ideales und Reales wollen ineinander übergehen. Den kühnen Mix zwischen Andachts- und Landschaftsbild hat der Künstler auch in den Entwürfen seines Zyklus der vier Zeiten vorangetrieben sowie in Briefen und programmatischen Texten begründet: Runges Schaffen und Denken galt einer neuen, universalen Kunst. Er suchte die Synthese zwischen konfessionell möglichst ungebundenen religiösen Motiven und einer genauen, dem Studium der Natur 1 Vgl. Das Reine und das Schmutzige. Isabel Zürcher im Gespräch mit Muda Mathis
und Sus Zwick, in: Bundesamt für Kultur (Hg.), Prix Meret Oppenheim 2009, S. 94-119, hier S. 98f.
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verpflichteten Beobachtung. Der Morgen mitsamt seiner nachhaltigen Rezeption war für mich als junge Wissenschaftlerin beispielhaft. Ein Bild, das mich im Glauben stärkte, wonach die spannendsten Werke der Kunst gleichzeitig in die Zukunft weisen und zu schier unerschöpflichen geisteswissenschaftlichen Tiefbohrungen einladen; wonach sie gleichzeitig subjektive Bekenntnisse sind wie auch sinnstiftende Beiträge zu einer anderen, öffentlich relevanten Wahrnehmung von Welt.
Philipp Otto Runge, Der Morgen (erste Fassung) (1808), Öl auf Leinwand, 109 x 85,5 cm
Zweihundert Jahre liegen dazwischen. Unterschiedlichste künstlerische Selbstverständnisse trennen beide Himmelsbilder, andere Entstehungs- und vor allem Rezeptionsbedingungen schmälern die lockende Vergleichbarkeit. Und doch: Beide Werke berufen sich auf die menschliche Figur, deren Positionierung inmitten eines von Licht durchfluteten Himmels sie an einer Grenze zwischen Hier und Dort ansiedelt und damit mit einem Versprechen auszeichnet: Etwas Überpersönliches grüßt uns aus dem Lichtraum und lädt dazu ein, den
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eigenen Standort auf das zu beziehen, was wir als ‚Jenseits‘ zu beschreiben gewohnt sind. Als ich die von Judith Albert gemeinsam mit Gery Hofer realisierten Kirchenfenster in der katholischen Kirche von Montreux kennen lernte2 , lag meine Erinnerung an Philipp Otto Runges Morgen nahe.3 War jedoch dort jene Synthese, die das Sehen zu unterschiedlichen Quellen führt, das Aufregende, bestimmen hier Entleerung, vielleicht auch: Entlastung die Sinnlichkeit des von gefärbtem Licht gefluteten Raums. Albert und Hofer lag bei der neuen Gestaltung der Kirchenfenster nicht an der Fortschreibung von Religions- und Kirchengeschichte. Die Attribute der Heiligen, deren Silhouetten den Hagelsturm unbeschadet überstanden hatten, sind zwar noch lesbar, in der nur noch zeichenhaften Präsenz mutieren die Heiligen gegenüber ihrem originalen Auftritt allerdings zu Möglichkeitsformen des vorbildlichen Lebens. Auch die aktiven Mitglieder der katholischen Kirchgemeinde können von Umriss und Attribut wahrscheinlich nicht ohne weiteres auf Leben und Martyrium des jeweiligen Vorbilds schließen. Die Fenster werden zur Membran zwischen Innen und Außen. Einer ‚Romantik’ im landläufigen Sinn verpflichtet, feiern sie das Phänomen ‚Licht‘ und deuten den Kirchenraum neu in seiner Abhängigkeit von der laufend sich ändernden Witterung. „Die Griechen haben die Schönheit der Formen und Gestalten aufs höchste gebracht in der Zeit, da ihre Götter zu Grunde gingen; die neuern Römer brachten die historische Darstellung am weitesten, als die Katholische Religion zu Grunde ging“, formulierte Runge in einem Brief 1802. Und weiter: „bey uns geht wieder etwas zu Grunde, wir stehen am Rande aller Religionen, die aus der Katholischen entsprangen, die Abstractionen gehen zu Grunde, alles ist luftiger und leichter, als das bisherige, es drängt sich alles zur Landschaft… Ist denn in dieser neuen Kunst… nicht auch ein höchster Punct zu erreichen?“ 4 Da spricht einer, der mit seinem künstlerischen Schaffen unter Berufung auf Kosmos und Kulturgeschichte einer ‚Wahrheit‘ zuarbeitet. Es wäre kurzsichtig, die umfassenden Ansprüche eines Schlüsselwerks der deutschen Romantik ungefiltert auf die herausfordernde Neugestaltung von Kirchenfenstern in unserem Jahrhundert zu übertragen. Die genannte Entlee2 Eine ausführliche Beschreibung der Kirchenfenster von Montreux liefert der Beitrag
von David Plüss und Johannes Stückelberger in diesem Band. 3 Umso mehr, als Philipp Otto Runge seine allegorisch überhöhten Entwürfe der Ta-
geszeiten liebend gern in einen architektonischen Kontext übertragen hätte. Vgl. Hohl, Hanna: Philipp Otto Runge - Die Zeiten – Der Morgen (Hg. Uwe M. Schneede), Ostfildern-Rujt (Gerhard Hatje) 1997, S. 6. 4 Runge, Philipp Otto: Hinterlassene Schriften. Herausgegeben von dessen ältestem Bru-
der, 2 Bde., Hamburg 1840/41, Neudruck Göttingen (Vandenhoek & Ruprecht) 1965, hier Bd. 1, S. 7, hier zitiert nach: Hohl, Hanna (wie Anm. 3), S. 10f.
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rung lese ich, wertfrei, auch als Indiz einer hohen Verfügbarkeit und Verflüssigung eines bildnerischen Repertoires.5 Es gibt sie noch, die Vorbilder, auch wenn sie an Bekanntheit eingebüßt haben, auch wenn sie durchlässig geworden sind und ihre Wirkung nun mehr im Atmosphärischen liegt als in der Wiederaufführung ihrer geheimnisvollen Wundertätigkeit.
Judith Albert (mit Gery Hofer), Le Ciel (2008-2010), Kirchenfenster in der katholischen Kirche Sacré-Coeur, Montreux
Albert selbst hat sich in einem kirchenferneren Kontext die Nomination und Distribution von neuen Heiligen zueigen gemacht. Sie entwarf je zwei neue Schutzpatrone und -patroninnen, um sie als Heiligenbildchen, wie sie in Wall-
5 Den Begriff der Verflüssigung habe ich auch benutzt im Versuch, das Schaffen von
Monika Dillier (*1947) zu beschreiben. Auch sie ist in der katholischen Innerschweiz aufgewachsen, was ihr rückblickend ganz generell als Grundlage für den Zugang zu Bildern, deren Aneignung und Verwandlung erscheint. Vgl. Zürcher, Isabel: Denken im Flüssigen, in: dies. (Hg.), Monika Dillier: Knabenmorgenblüthenträume, St. Gallen (Vexer) 2012, S. 24-30.
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fahrtskirchen zum Andenken mitgenommen werden können, in Umlauf zu bringen.6 Ein leichtfüßig verspielter Umgang mit der Vorbildlichkeit des Heiligen ist Alberts himmlischen Auftragnehmern anzusehen: Freundliche Zeitgenossen sind sie allesamt. Dem Heiligen Horatio etwa, der für jegliche Probleme in unserem Umgang mit Zeit einsteht, verleiht das schematisch hinter ihm angedeutete Zahnrad eine strahlende Aura. Er scheint gleichzeitig in Kenntnis aller historisch und wissenschaftlich verbürgten Zeitmessung verpflichtet wie auch den Gesetzen der Natur: In der Hand hält er einen kleinen Bund Blumen.
Judith Albert, Heiliger Horatio, aus der Serie 4 neue Schutzheilige (2007), Heiligenbildchen, Offsetdruck, je 11 x 7 cm (Auflage: je 60’000 Stk.)
Die luftigen Löwenzahn-Samen werden schon bald den nächsten Zyklus von Werden und Vergehen einleiten. Alberts Quartett behauptet und personifiziert mit sanftem Nachdruck den Bedarf nach neuen Adressaten in der unübersichtlichen Schar von Fürsprecherinnen und Fürsprechern kirchlicher und anderer 6 4 neue Schutzheilige waren Judith Alberts Beitrag zur Ausstellung ZEICHEN ZEIGEN
– Glauben in der Innerschweiz im Nidwaldner Museum Stans, 24.6. bis 30.9.2007. Zur überraschenden Feststellung, dass die katholische Kirche auch heute noch Heilige für neue Aufgaben nominiert, sind Albert und Hofer über Internet-Recherchen gelangt. Vgl. Judith Albert in: Künstlerinnen und Künstlern im Gespräch. Teil I, in diesem Buch.
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Herkunft. Ohne Anspruch auf Bewährung stellt uns das neue Himmelspersonal mit seinem jeweiligen Arbeitsfeld eine Diagnose: Wir leben unter Zeitdruck und ohne Einfluss auf die Kräfte des Weltraums. Wir riskieren mit den hohen Erwartungen an unseren Lebenslauf den Verlust tatsächlicher, eigener Wünsche und schauen ohnmächtig der globalen Einebnung kultureller Vielfalt zu. Streng genommen müsste man diesen vier Seelsorgerinnen und Seelsorgern die Glaubwürdigkeit absprechen. Denn anders als die ‚richtigen’ Heiligen beziehen die vier unversehrt Lächelnden ihre Weisheit nicht aus Demut, Frömmigkeit, nachweislichem Einsatz für die Benachteiligten dieser Welt. Sie scheinen vielmehr dem unübersichtlichen Dienstleistungssektor der Hellseherei oder einem therapeutisch angehauchten Freizeit-Angebot nachgezeichnet. Nett verkleidet mit unseren selbst gebastelten Zeichen für Vitalität, Zeit und Raum, schmuggeln sie sich in unsere Handtaschen oder teilen unsere Bürowand mit Post-its und Kalenderblättern. Doch da ist sie wieder, die ungetrübte Leichtigkeit im Umgang mit dem Heiligen: Ohne den Wunderglauben ernsthaft anzufechten, entfalten diese geschichtslosen Brüder und Schwestern ihr charmantes Heil. Als augenzwinkerndes Echo auf die sakrale Bildlichkeit fragen sie nach unseren Referenzen im Umgang mit den bekannten Herausforderungen, die das Leben und das Wissen um den Zustand der Welt uns stellen. Horatio und Vita, Maximilian und Sibylla haben nicht Teil an einer geistlichen Kunst, auch wenn sie die Oberfläche religiöser Volkskultur kräuseln. Wie ihr allein gebliebener Nachfolger, San Carlo di Monte Grande,7 geistern sie vielmehr in unseren privaten Universen herum. Sie haben sich angepasst und sind bereit, mit ihrer doppelten Abstammung die Grenzen zwischen sakral und profan, lokal und universell leise zu unterwandern. Doch zurück zum ‚harten Brot’ einer Bildlichkeit, die ich wieder eindeutig meinem protestantischen Hinterland zuordne. Meine schriftliche Lizentiatsarbeit verfasste ich im Bereich profaner Malerei des 17. Jahrhunderts. Es war das Stillleben mit Glutherd, Spechte, Wasserzuber und Karpfen des aus Strassburg stammenden Sebastian Stoskopff (1597-1657) im Kunstmuseum Basel, das es mir angetan hatte: ein durch und durch unheimliches Bild, das den getöteten Spechten mit der Tischkante gleichsam nochmals das Genick zu brechen scheint und im Bottich verschattet einen Karpfen kreisen lässt. Ich hatte mir ein Vanitas-Thema ausgesucht, um zu prüfen, welche bildnerischen Mittel der eigensinnige Maler zur Anwendung brachte, um die greifbaren Dinge einer dop7 Im Rahmen der Kunstausstellung Wanderziel Kunst: Ein- und Aussichten hat Judith Al-
bert dem selbst erfundenen San Carlo di Monte Grande (dt. Hl. Karl des Großen Bergs) eine versteinerte Träne abgerungen, die man zum Schutz für die Berge und das ewige Eis wieder im Freien aussetzen darf. Vgl. Fiedler, Andreas: Wanderziel Kunst: Ein- und Aussichten, Bern (Schweizer Alpen Club SAC) 2009.
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pelten Lesbarkeit zuzuführen. Denn so viel schien mir von Anfang an klar: Die haptische Präsenz dieser Gegenständlichkeit, die sparsame Auslegeordnung sind so raffiniert und so behandelt, dass der Blick auf die Küchenablage zur Gewissensfrage wird. Die Spannung ortete ich im fast zudringlich inszenierten Widerspruch zwischen dem Angebot von Speisen und ihrem gleichzeitigen Entzug.8
Sebastian Stoskopff, Stillleben mit Glutherd, Spechten, Wasserzuber und Karpfen (1625-1639), Öl auf Leinwand, 55 x 73 cm
Ich war (und bin noch immer!) fasziniert von solchen Bild-Erfindungen, weil sie dem Sehen selbst eine Gewissensfrage und den Dingen mit subtilen Verweisen auf Fragilität und Endlichkeit eine übergeordnete Bedeutung zumuten. Meisterhaft hat das barocke Stillleben die Ambivalenz zwischen dem (verhängnisvollen) Genuss raffinierter Speisen und dem Besitz kunsthandwerklicher Wertobjekte ausgereizt. Die symbolische Unterwanderung des Essens spielt – oft todernst – mit der moralischen Entlastung der Sinneslust. Die zartesten Kelche, die exklusivsten Speisen, die Rarität exotischer Trophäen oder der üppige Faltenwurf fein schimmernder Stoffe sind nur zu haben gegen den Preis der Einsicht, dass alles letztlich zerbricht und verrinnt.9 8 Ein überarbeitetes Kapitel dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist publi-
ziert: Vgl. Zürcher, Isabel: Reinheit in der Bildersprache. Überlegungen zu einem Stillleben von Sebastian Stoskopff, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 186 vom 12.08.2000, S. 79. 9 Ebenso wenig wie die skizzierte Auseinandersetzung mit Philipp Otto Runge nen-
ne ich hier das Stillleben als Beleg für ein religiöses Bild. Ich bin als Kunstwissen-
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Professor Dr. Gottfried Boehm folgte meiner hartnäckigen Auseinandersetzung mit dem Gemälde, das ich als „Fastenbild“ beschrieb, mit wohlwollender Unterstützung. Dass er hinter meiner Themenwahl auch eine konfessionell bedingte Vorliebe erkannte, schließe ich unter anderem aus einer viel später gemachten Äußerung: Anlässlich der Eröffnung eines frisch sanierten Universitätsgebäudes im Herzen Basels fragte ich ihn, ob die altstädtische Idylle mit Blick über den Rhein nicht eine produktive, stimulierende Reibung mit Fragen der Gegenwart vermissen lasse. Darauf erwiderte er gelassen: „Frau Zürcher, wir müssen uns doch nicht in Sack und Asche hüllen!?“ – Dass diese Antwort nicht nur die privilegierte Lage der neuen Räumlichkeiten in Schutz nahm, sondern den im Lutherischen Basel verbreiteten Vorbehalt gegenüber öffentlich einsehbarem Wohlstand kommentierte, muss Boehm so klar gewesen sein wie mir.10 Nicht nur die Kunst selbst, auch kunstwissenschaftliche Fragestellungen sind Gradmesser des konfessionellen Selbstverständnisses. Mit der Analyse von Stoskopffs Stillleben hatte ich ‚hinter den Dingen’ einen Diskurs der Entbehrung angeschnitten. Die Gegenstände selbst und ihre sinnlichen Oberflächen schienen mir mit einem Verdacht belegt – einem Verdacht, der auch im Protestantismus wurzelt und den Judith Albert nicht zu kennen scheint: Denn Oberflächen sind für sie da, um gezeigt, gespiegelt, inszeniert zu werden. Sie bieten sich an als Ding und als Stoff, ohne jeweils einen Appell ans Gewissen vorauszuschicken, sondern um nachgestellt als neues Bild zurückzukehren. Albert richtet kollektiv Erinnertes, im profanen oder sakralen Bild Erfasstes noch einmal ein, und unterzieht auch mystifizierte Materie nochmals einer Prüfung. Die Methode der Neu-Inszenierung existierender Bilder, Motive und Handlungen bezieht sich keineswegs nur auf die hier diskutierte religiöse Ikonografie. Albert hat etwa auch ein Gemälde von Vermeer oder von Félix Vallotton videotechnisch neu ‚aufgeführt’ – wobei sie viel daran setzt, die Integrität des Orischaftlerin nicht mit einer „religiös grundierten“ Sicht ans Beschreiben gegangen und gehe auch bei Judith Albert nicht von einer religiös motivierten Kunst aus. Dass sich die ästhetische Erfahrung allerdings auch eine religiöse einschließen kann, sei hier nicht bestritten. Vgl. zu diesem weitgehend ungeklärten Verhältnis z.B. Wendt, Karin: Überschreitungen? Überlegungen zur Deutung und Möglichkeiten und Grenzen in der Begegnung mit Kunst, in: Werntgen, Cai (Hg.): Szenen des Heiligen. Vortragsreihe in der Hamburger Kunsthalle, Berlin (Insel: Verlag der Weltreligionen) 2011, S. 161-190, insbesondere S. 171 ff. 10 Während meines Studiums spielte das Thema konfessioneller Prägung in Kunst und
Rezeption höchstens implizit eine Rolle. Sicher scheint mir, dass Gottfried Boehms methodischer Umgang mit Werken der bildenden Kunst eher einer ‚katholischen’ Bildlektüre geschuldet ist als der skizzierten ‚Verdächtigung’, eher einer „Verlängerung des Andachtsbildes“ als einer Bilderzählung (für das diesbezüglich inspirierende Gespräch danke ich Dr. des. Katrin Grögel).
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ginals zu wahren, bevor es von der videotechnischen Bewegung erfasst wird.11 Mit dieser Behutsamkeit nähert sich die Künstlerin auch dem theologisch hoch komplexen Thema der Transsubstantiation – und schützt sich vor dem nahe liegenden Vorwurf der Verwässerung: Zu groß sind Achtsamkeit und Tiefenschärfe der Wandlung, um diese als Provokation der christlichen Glaubensgemeinschaft erscheinen zu lassen.
Judith Albert, Wandlung (2010), Video, Ton, 7:30
11 Vgl. etwa Peperoni Chili (2009) oder Zwischen der Zeit (2004). Aus einer genuin
kunstkritischen Perspektive wäre es lohnend, auch weitere Videoarbeiten Alberts im aktuellen Diskurs des Re-Enactments oder in der Geschichte der Tableaux vivants zu lokalisieren. Projektbeschreibungen unter http://www.judithalbert.ch/pdf/videos.pdf (ges. am 21.4.2012).
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Zwölf unterschiedliche Wein- und Wassergläser aus transparentem Glas sind auf einer mit weißem Tuch bedeckten Tischfläche um einen vergoldeten Kelch aufgestellt. In unbewegter Kameraeinstellung verfolgen wir, wie die schlanke Hand der Künstlerin tiefroten Wein aus dem Kelch in ein Glas schenkt – wobei dieses kleine Ereignis ebenso akustisch wie optisch einen markanten Eindruck hinterlässt. Aus jedem gefüllten Glas schüttet dieselbe Hand den Wein zurück in den Kelch. Anfangs kaum merklich, dann zunehmend deutlicher erscheint die Flüssigkeit aufgehellt: beim zwölften Ein- und Ausschenken, welches das zwölfte Glas berücksichtigt, haben wir es offensichtlich nur noch mit Wasser zu tun. Minutenlang bezeugen wir die allmähliche Verwässerung des Weins, haben Zeit, die verschiedenen Gläser, die kleinen Unterschiede, die verlässliche Wiederkehr des wertvollen Behältnisses zu verfolgen. Wie der Zauberer in Zirkus und Variété lässt uns die Künstlerin auch in den Kelch hinein blicken: kein Geheimnis verbirgt sich in seinem Inneren. Der digital manipulierte Realismus – Albert hat nach jeder Sequenz die Kamera kurz ausgestellt, um die Flüssigkeit in Etappen zu verdünnen – lädt unvoreingenommen dazu ein, die Glaubensfrage neu zu erwägen. Doch so weit mag man anfangs gar nicht gehen: Zunächst schmeichelt die Wandlung dem Auge, fordert die genaue Beobachtung heraus, rührt – wie der eingangs erwähnte blaue Mantel, der geheimnisvoll, lautlos, aber ebenso trickreich die Strasse flutet – etwas an, gibt dem Zauber recht, erinnert an das biblische Wunder zu Kanaan und kehrt es doch ziemlich unmissverständlich um. Die Rückverwandlung von Wein zu Wasser ist so ernsthaft und würdevoll zur Aufführung gebracht, dass man ihr keine Provokation unterstellen mag: Anders als das Künstlerinnenduo Muda Mathis und Sus Zwick legt es Judith Alberts Einsatz religiöser Bilder und Techniken nicht auf die kokette Umdeutung oder Übertreibung an, sondern vertraut der Gegenständlichkeit, welche die Kirche ihr zum Beispiel im Messgeschirr oder im blauen Mantel anbietet. Sie hält sich an den Respekt, den das Thema im innersten Kern religiöser Erfahrungen gebietet, auch wenn sie es nicht bruchlos wiedergibt. Oszillierend zwischen Stillleben und Abendmahl, Performance und Malerei vollzieht sich die Wandlung in einem doppelten Sinn: Die nachvollziehbare Verflüssigung des Weins macht ein Wunder gleichsam rückgängig – und sieht doch selbst ganz wie ein Wunder aus. Und: Mit dem Auszug des Messbechers aus der Kirchgemeinde in den Ausstellungsraum beansprucht das Bild eine neue Autonomie und macht das religiöse Thema zum ästhetischen Objekt, zur Frage, auf die vor allem durch die eigene Wahrnehmung, durch Sehen und Hören, eine Antwort erhoffen.12 12 Die katholische Kirchgemeinde stellte der Künstlerin den Messkelch zur Verfü-
gung. Der Impuls zur Video-Arbeit Wandlung geht u.a. auf die so genannte HeiligblutLegende von Willisau zurück, mit der die frühneuzeitliche Kirche einen Wallfahrtsort initiiert hatte.
V ON DER L EICHTIGKEIT DES H EILIGEN BEI J UDITH A LBERT
Nun sind die beiden zuletzt genannten Video-Arbeiten nicht ideale Belege für Alberts freien künstlerischen Umgang mit dem Religiösen: Beide Werke entstanden als Beiträge zu einer Ausstellung, die den katholischen Raum in der jüngeren zeitgenössischen Kunst der Innerschweiz zu vermessen versprach – und gaben somit den inhaltlichen Rahmen vor.13 Wandlung und Maria breitet den Mantel aus bezeugen jedoch beide ein ungebrochenes Verhältnis zum Wunder und zum Heiligen, das der fundamentale historische Angriff aufs Bild dem protestantischen Erbe gründlich entrissen hat. Viel weiter entfernt als Judith Albert kann man eigentlich von einer protestantischen (und auch: modernistischen) Bilderstürmerei nicht sein. Umso mehr jedoch entwickelt die Künstlerin – und das zeigt sie immer wieder – eine konsistente Autorschaft entlang der Sorgfaltspflicht gegenüber Bildern und Stoffen, wie sie schon sind, in der Kirche und außerhalb. Während ich diesen Text noch verfasse und wir einige E-Mails wechseln, arbeitet Albert an der Neugestaltung des Kirchenchors in der St. Ursen-Kathedrale von Solothurn. Die Jury hat letztes Jahr den Vorschlag ihres Teams mit dem Titel L’ultima cena zur Ausführung empfohlen: Ins Zentrum rücken wird, in dreidimensionaler Nachbildung aus Marmor, der Abendmahlstisch aus Leonardos berühmter Freske in Mailand.14 Zurzeit entsteht die erste Nachbildung aus Ton. „Es macht großen Spaß hier im Atelier in Carrara mitzuarbeiten und zusammen mit Nicola über das Fallen des Stoffes etc. in Ton zu diskutieren. Einen Ausdruck zu finden, der naturalistisch ist, aber etwas Unaufgeregtes, Selbstverständliches hat, wie eben ein mit einem weißen Leinentuch gedeckter Tisch. Genau zu beobachten und zu abstrahieren, dass die Falten dann im Marmor um die Hälfte weniger sichtbar sein werden. Das weiche Material immer und immer wieder umzuformen bis die Falte gefällt, es so und nicht anders sein kann.“ 15 – Naturalistisch, unaufgeregt, selbstverständlich, so und nicht anders: Solche Tuchfühlung mit dem berühmten Wandgemälde, solches Glück der Nachahmung kann ich gut und gerne nachvollziehen. Da begreift eine Künstlerin ihr Material, schätzt seine Leuchtkraft ein, erlaubt sich, seine widerständige 13 Die Ausstellung Um Gottes Willen in der Kulturmühle Willisau fand im Rahmen des
Forschungsprojekts Holyspace, Holyways statt, wobei die Partnerinstitution Judith Albert und Christian Kathriner während einiger Woche ein Atelier zur Verfügung stellte. Zur Ausstellungskritik vgl. Zürcher, Isabel: Um Gottes Willen. Kunst und Kirche im Dialog, in: Kunst und Kirche Nr. 3/2011, S. 39. 14 Die Wettbewerbseingabe L’ultima cena erfolgte auf Einladung. Judith Albert entwi-
ckelte ihren künstlerischen Beitrag gemeinsam mit Gery Hofer und den Architekten Ueli Brauen und Doris Wälchli. Vgl. Römisch katholische Kirchgemeinde Solothurn: Neugestaltung Chorraum in der St. Ursen-Kathedrale Solothurn (Studienauftrag auf Einladung), Bericht des Beurteilungremiums, 21. November 2011. 15 Judith Albert in einer E-Mail vom 16. April 2012.
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Härte in die Illusion des von Falten gezeichneten Tuchs zu übersetzen. Und ganz leise meldet sich doch eine kritische Unsicherheit, die mir eine Unerfahrenheit mit dem Katholischen ebenso einflüstert wie meine Erwartung an Kunst: Ist die dreidimensionale Überlieferung dieses künstlerischen Vorbilds geeignet, der heiligen Messe einen zeitgenössischen Akzent mitzuteilen? Kann der ungebrochene Anschluss an eine eigentliche ‚Ikone’ der Kunstgeschichte ein Bild erzeugen, das seinen strahlend hellen Zauber für Generationen aufrecht erhält? An der Schnittstelle zwischen einer (vermeintlich) aufgeklärten Kunstkritik und den Anforderungen an ein Werk, das auch im prominenten Auftritt dem Ritus den Vortritt lässt, steht dessen Autonomie in Frage. Spätestens beim Altarbau, wo die Kunst zum Ort des Wunders vorrückt, tritt die Kritik an ihren Quellen in den Hintergrund – zu Gunsten des Heiligsten, das sich seit zweitausend Jahren der Historisierung widersetzt. Mit großer Sorgfalt nähert sich Judith Albert der Aufgabe, die – ähnlich wie in Montreux – den Sakralraum nach plötzlicher Zerstörung gleichsam wieder heil macht.
Wie im Himmel, so auf Erden – Eva-Maria Pfaffen Monika Jakobs
Dass man der Natur eine innewohnende Spiritualität zuschreibt, ist nichts Neues: viele Menschen würden heute Erfahrungen in und mit der Natur als spirituell bezeichnen. Die Natur repräsentiert dabei das vermeintlich Unbearbeitete, Unverfälschte, Ahistorische und Unmittelbare. Ihre Unwägbarkeit bis hin zum Unbezwinglichen wie etwa bei Bergen, Felsen, Meer, Wetter fügen dem Fascinosum noch das Tremendum hin, Kennzeichen auch des Religiösen. Allzuleicht würde Eva-Maria Pfaffen in dieses Schema passen: als naturverbundene Frau aus dem Wallis, die mit Naturmaterialien arbeitet und mit Alltagsmaterialien der bäuerlichen Wirtschaft wie Lärchennadeln, Fleischpapier, Salzlecksteine, Butterbrotpapier, Kalbermilchpulver. Ihre Sujets: Bilder der Fülle wie der Milchfluss, der sich in der Rauminstallation Wie im Himmel so auf Erden (Brig 2009) vom Himmel in den Raum ergießt, dazu Erdig-nahrhaftes, wie die ‚unendlich‘ vielen Gugelhupfe aus Erde. Ein Bild der Fülle bietet sich auch bei den beiden riesigen Brüsten Urgiganten (Luzern 2011). Mein eigener Zugang zum Werk von Eva-Maria Pfaffen ist geprägt von einer nicht-professionellen Sicht, vom Bemühen, einerseits möglichst genau hinzuschauen, und andererseits frei Assoziationen, Stimmungen und Gefühle zuzulassen. Die Sicht ist aber auch geprägt vom theologischen Interesse und einem vertieften Bezug zur christlichen – genauer zur katholischen Tradition. Schließlich spielt eine biografische Parallele zur Künstlerin eine Rolle: auch ich bin sozialisiert als Landkind, habe den Aufbruch in intellektuelle Welten erfahren ohne die Wurzeln verleugnen zu müssen. Eva-Maria Pfaffen ist keine naive Romantikerin des ländlichen Berglebens, wo das Gras gesünder ist, die Kühe froh muhen, alle Menschen naturverbunden sind und die Kirchenglocken den Abend einläuten. Ihre Materialien sind Produkte und Werkzeuge ländlicher Alltagskultur, denen per se nichts Romantisches anhaftet. Als Mädchen vom Lande weiß die Künstlerin, dass Natur von Mensch und Tier bearbeitet, ja vielleicht verdichtet werden muss (wie etwa beim Lärchennadel-Block und bei den Gugelhupfen), damit sie lebensfreundlich sein
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kann. Indem Eva-Maria Pfaffen Naturmaterialien bearbeitet, neu formt, arrangiert oder mit vorgefertigten Materialien Natur herstellt, wird klar, dass Natur nur in der kulturellen Bearbeitung zugänglich ist.
Eva-Maria Pfaffen, Urgiganten (2011), Installation in der Matthäuskirche Luzern, Butterbrotpapier gehäckelt, Ø 135cm
Ist es aber wirklich so, dass ihre Installationen von der Fülle der Natur handeln? Das Gefühl der Abhängigkeit von dem, was die Natur an Lebensmitteln und Brennstoff anbietet, ist sicherlich ein Bestandteil ländlicher Erfahrung. Gerade die unerschöpfliche Fülle aber ist ‚unnatürlich‘, denn das Angebot der Natur ist wechselnd, knapp und jahreszeitlich begrenzt. Die unbegrenzte Fülle ist das Ziel menschlicher Sehnsucht. Der Milchfluss aus Butterbrotpapier ergießt sich aus einer Lichtquelle von oben in den Raum – wie das himmlische Manna für die hungrigen Israeliten. Die wollknäuelähnlichen Enden verleihen dem Fluss die Dynamik, zeigen das ‚Mehr‘ an. Er ist die pure Fülle und er kommt von ‚oben‘ – er ist nicht erarbeitet, sondern geschenkt. Das Material verleiht der Fülle Leichtigkeit; durch seinen ursprünglichen Verwendungszweck assoziiert man auch die Festigkeit des Butterbrots, das ins Papier eingewickelt wird. Der Milchfluss ist nicht einer, in dem man ertrinken kann. Eine weitere Quelle der Fülle ist die Erde: die säuberlich angeordneten, (unendlich?) vielen Gugelhupfe. Sie zeigen das Ergebnis menschlicher Arbeit – die Bearbeitung des Bodens und seiner Früchte sind die Voraussetzung dafür. Die Assoziation des Milchflusses legen auch die Urgiganten nahe, die von der Künstlerin als Brüste bezeichnet werden. Es handelt sich um zwei aus 7700 m Butterbrotpapier gehäkelten Gebilde, die auch sein könnten: zwei Hütten,
W IE IM H IMMEL , SO AUF E RDEN – E VA -M ARIA P FAFFEN
Eva-Maria Pfaffen, … wie im Himmel so auf Erden… (2009), Erde, Fleischpapier, Butterbrotpapier, Alter Werkhof Brig
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zwei Bienenkörbe oder zwei Tibet-Hüte. Auch hier: Leichtigkeit des Papiers und Stabilität der Konstruktion, Festigkeit der Wände und die Weichheit der gehäkelten Rundungen. Brüste – Milchquellen, Bienenkörbe – Quellen des Honigs, afrikanische Rundhütten – Quellen von Geborgenheit, geschlossen und doch luftig und hell, tibetische Hüte zum Schutz vor Kälte, Sonne und Regen? Welche Fülle wird hier thematisiert? Wie steht ein Bild der Fülle in einer Kultur, welche Menschen mit ihrem Angebot – auch an Lebensmitteln – eher überfordert? Seltsam ist ja, dass das Überangebot des Kommerzes Menschen nicht wirklich zufrieden und wirklich satt macht. Es stillt nicht den Hunger nach mehr. Und weil das so ist, können auch politisch immer wieder Gefühle der Knappheit, des Zuwenig, des Zu-Kurz-Gekommenseins, der Konkurrenz von Ressourcen aktiviert und zur Abgrenzung eingesetzt werden. Die Installationen von Eva-Maria Pfaffen repräsentieren für mich unendlich Nahrung, Schutz, Wärme für Menschen. Es ist genug da: materiell und spirituell. Der wahrhafte Über-Fluss ist geschenkt und verheißend; er überfordert nicht, sondern gibt Geborgenheit und Sicherheit, aber er ist letztlich der menschlichen Verfügbarkeit entzogen. Das meint die Bibel, wenn sie vom verheißenen Land spricht, in dem Milch und Honig fließen, vom himmlischen Hochzeitsmahl oder vom Wasser des Lebens, das den Durst für immer löscht, das Versprechen an die Frau am Jakobsbrunnen. Das ist möglicherweise die spirituelle, für mich auch religiöse Komponente an diesem Werk: Das Thematisieren menschlicher Ursehnsüchte in geradezu eschatologischen Bildern des ‚schon da‘ und ‚noch nicht‘ der Fülle. Die Visualisierungen sind nicht entrückt, sondern greifbar, schon da im Bezug zu Alltagsmaterialien und Alltagshandlungen. So wie die Natur sind auch Religion und Spiritualität nur in geschichtlich-kulturellen Manifestationen zugänglich. Glücklich, wessen Kindheitserfahrungen Quelle dafür sind, diese Sehnsüchte und auch ihre verheißene Erfüllung ins Bild zu bringen.
Dokumentation/Materialien
P ERSONENVERZEICHNIS Fabrizio Brentini (*1957), Dr. phil., Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Theologie, Promotion 1994. Unterrichtet an der Kantonsschule Sursee Religionskunde und Ethik sowie Philosophie, zahlreiche Veröffentlichungen (www.architekturgeschichte.ch). Lebt mit seiner Familie in Luzern.
Silvia Henke (*1962), Dr. phil., ist Kulturwissenschaftlerin und seit 2001 Professorin für Kulturtheorie an der Hochschule Luzern – Design & Kunst, daneben auch freie Publizistin. Zuvor Studium der deutschen und französischen Philologie an der Universität Basel und Hamburg, Promotion in Dramentheorie, 1990-2000: Lehrbeauftragte für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Universität Basel. Arbeitet seit längerem und auch aktuell an den Schnittstellen von Text und Bild, Kunst und Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit, Kunst und Pornographie, Kunst und Religion. Publikationen s. www.silviahenke.ch Monika Jakobs (*1959), Prof. Dr. phil., ist katholische Theologin und seit 1999 Professorin für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern. Zuvor Studium der katholischen Theologie, Germanistik und Sozialkunde an den Universitäten Saarbrücken und Cardiff. Referendariat für das Lehramt an Gymnasien. Promotion zur feministischen Theologie. Berufstätigkeiten als Gymnasiallehrerin, in der Erwachsenenbildung, in der Pfarrei und in der LehrerInnenausbildung. Lehraufträge und Gastprofessuren in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Konfessioneller und bekenntnisunabhängiger Religionsunterricht, Kirchliche Katechese und Erwachsenenbildung in der Pluralität, Gender in Wissenschaft, Theologie und Gesellschaft, Kunst/Medien und Religionspädagogik. www.unilu.ch/deu/publikationen-jakobs_345341.html
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Ansgar Jödicke (*1965), Dr. phil., ist Religionswissenschaftler und seit 2006 Lehr- und Forschungsrat im Studiengebiet Religionswissenschaft an der Universität Fribourg. Studium der Religionswissenschaft, Philosophie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in München und Zürich. Promotion in Religionswissenschaft mit Schwerpunkt qualitative Sozialforschung. Arbeitsschwerpunkte: Religionsunterricht, Religion und Öffentlichkeit, Religion und Politik, qualitative Sozialforschung, Religionsgeschichte Europas, Südkaukasus. Christoph Lichtin (*1963), lic. phil., ist Kunsthistoriker und seit 2004 Sammlungskonservator und Kurator am Kunstmuseum Luzern. Von 2002 bis 2004 war er Geschäftsführer des Projekts Kunstmuseum Bern/Gegenwart. Sein Fachgebiet ist die zeitgenössische Kunst (Themenschwerpunkte z.B. Bildhauerzeichnungen, Künstlerinterview, Künstlernetzwerke) bzw. der Bereich Sammlungs- und Ausstellungsgeschichte (z.B. Geschichte des Kunststandortes Solothurn, Geschichte der Bernhard Eglin-Stiftung, Sammlung Walter Minnich). Neben Projekten im Bereich von Sammlungspräsentationen kuratierte er Einzelausstellungen von Urs Lüthi, Stefan à Wengen, Josef Reinhard sowie Christian Kathriner. Andreas Mertin (*1958), Dr. phil. h.c., ist Theologe und Kulturwissenschaftler, Herausgeber des E-Zines tà katoptrizómena – Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik (www.theomag.de) und Kurator der kirchlichen documenta-Begleitausstellungen 1997-2005 der Evangelischen Kirche in Deutschland. Publiziert zur Geschichte und zur aktuellen Begegnung von Kunst und Kirche und zur Verhältnisbestimmung von Theologie und Ästhetik. Publikationen s. www.amertin.de
Irene Müller (*1969), lic. phil., studierte Kunstgeschichte, Archäologie und Germanistik in Wien und Zürich. 2000-2004 Leiterin der Dokumentationsstelle für Schweizer Kunst am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft, Zürich. 2004-06 Mitarbeiterin bei AktiveArchive, einem Forschungsprojekt zur Erhaltung und Dokumentation elektronischer Kunst (www.aktivearchive. ch). 2010-12 Mitarbeiterin beim Forschungsprojekt archiv performativ, Institute for Cultural Studies, ZHdK. Lehrtätigkeit an der Hochschule Luzern –Design & Kunst und F+F, Schule für Kunst und Mediendesign, Zürich. Seit 2005 freie kuratorische Projekte (landpartie, Zürich und andere Orte, 2005 ff.; Ausstellungsraum Klingental, Basel 2008/2011; ACME Project Space, London 2009; Le-lieu, Trogen 2009; Dienstgebäude, Zürich 2010); sie verfasst regelmäßig Beiträge für Kataloge und Zeitschriften (u.a. Kunst-Bulletin) und ist als Herausgeberin von Monografien und Künstlerbüchern tätig.
PERSONENVERZEICHNIS
Wolfgang W. Müller (*1956), Dr. theol., ist Theologe und seit 2000 Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern und Leiter des Oekumenischen Instituts Luzern. Studium der Theologie und Philosophie in Freiburg i.Br. Lyon, Montpellier, Paris und München. Promotion in Dogmatik, Habilitation in Dogmatik und Dogmengeschichte (München). Schwerpunkte: Theologische Anthropologie, Sakramententheologie, Oekumene, ästhetische Theologie. Publikationen unter: www.unilu.ch/deu/dogmatikforschungspublikation_15574.html
Niklaus Oberholzer (*1940) studierte Deutsche Literaturgeschichte und Kunstgeschichte in Freiburg, Zürich und Wien und promovierte 1967 mit der Dissertation Das Michelangelo-Bild in der deutschen Literatur. Viele Jahre Redaktor und verantwortlich für das Kulturressort bei den Luzerner Tageszeitungen Vaterland, Luzerner Zeitung und Neue Luzerner Zeitung. Vor allem Kunstkritik. Beiträge in Katalogen und Zeitschriften. Letzte Buchpublikation: 51 Bilder aus der Zentralschweiz 1972-2008, erschienen 2009 bei der Edizioni Periferia, Luzern und Poschiavo. Niklaus Oberholzer lebt in Horw (Luzern).
Karl-Josef Pazzini (*1950) ist Professor für Bildende Kunst & Erziehungswissenschaft (Universität Hamburg), Psychoanalytiker in eigener Praxis, Arbeit an: Bildung vor Bildern, Psychoanalyse & Lehren, psychoanalytisches Setting, unschuldige Kinder, Übertragung & Grenze von Individuum und Gesellung. Siehe auch http://mms.uni-hamburg.de/blogs/pazzini, http://freudlacan.de, http://www.cafeleonar.de/, http://psybi-berlin.de/
Eva-Maria Pfaffen (*1963) ist seit 2001 als Dozentin an der Hochschule Luzern – Design und Kunst tätig. Ihre Schwerpunkte bilden Material und Raum, Kunst im öffentlichen Raum sowie Ausstellungsgestaltung. Als Künstlerin setzt sie sich mit alltäglichen Materialien auseinander, die sie mehrheitlich als Rauminstallationen zeigt. Sie erhielt verschiedene Auszeichnungen und Preise, u.a. den Eidgenössischen Preis für Freie Kunst.
David Plüss (*1964), Dr. theol., ist Professor für Homiletik, Liturgik und Theorie der religiösen Kommunikation der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Studium der Theologie in Basel, Berlin und Paris. 2001 Promotion mit einer religionsphilosophischen Arbeit über Emmanuel Lévinas. 2005 Habilitation in Praktischer Theologie mit einer Arbeit im Schnittbereich von Liturgiewissenschaft und Performance-Theorie. 2006-2009 Assistenzprofessor für Praktische Theologie an der Universität Basel. Forschungsschwerpunkte: Liturgiewissenschaft, Homiletik, Ritualtheorie, Performance Studies, Visible Religion, Religion und Gesellschaft.
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Nika Spalinger (*1958) ist Professorin an der Hochschule Luzern – Design und Kunst. Nebst reger Ausstellungstätigkeit im In- und Ausland ist sie seit 1996 an der Luzerner Hochschule tätig. 2002-2007 Entwicklung und Leitung Pilotklasse MAPS (Master in Arts in Public Spheres). Zahlreiche Kunstprojekte im öffentlichen Raum. Vom Schweizerischen Nationalfonds untersützte Forschungsarbeiten: Kunst&Tourismus – Eine Versuchsanordnung über die Alltagskultur des außeralltäglichen Erlebens oder Kunstpraxis im touristischen Raum (2006-2008) und Holyspace, Holyways. Seit 2008 Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission, lebt in Zürich.
Johannes Stückelberger (*1958), PD Dr. phil., ist Kunsthistoriker, seit 2010 Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter für Religions- und Kirchenästhetik am Kompetenzzentrum Liturgik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern sowie Privatdozent für Neuere Kunstgeschichte an der Universität Basel. Davor war er Assistent, Oberassistent, Dozent, Vertretungsprofessor und ordentlicher Professor an den Universitäten Basel, Genf, Freiburg/Schweiz, Lausanne und Taipei. Er gehört zum Redaktionsteam der Zeitschrift Kunst und Kirche und war Präsident der Schweizerischen St. Lukasgesellschaft für Kunst und Kirche. Publikationen vgl. www.liturgik.unibe.ch/mitarbeitende.html
Benno K. Zehnder (*1941) ist Maler, Zeichner und Farbarchitekt, Farbkonzepte und Wandmalereien u.a. für Schulen, Spitäler und Kirchen. Ausbildung an der Kunstgewerbeschule Luzern, Goldsmith College London, Studium der Malerei und Kunstgeschichte. Ausstellungsgestaltungen: Design Centre London, Swiss Centre London, Royal Academy London u.a. Dozent und Leiter des MA Course in Film Animation am City of Birmingham Polytechnik, Leiter der Abteilung für visuelle Kommunikation an der ehemaligen Bath Academy of Art Corsham/Wilts GB, Direktor der Hochschule für Gestaltung und Kunst Luzern, Professor für Farbe, Zeichnung und Bild an der Hochschule Luzern. Ausstellungen im In- und Ausland. www.farbarchitektur.com
Isabel Zürcher (*1970), lic. phil., studierte Kunstgeschichte und Geschichte an den Universitäten Basel und Hamburg; nach ihrer wissenschaftlichen Assistenz an der Kunsthalle Basel arbeitete sie seit 2005 als Publizistin, Kritikerin und Redaktorin, seit Januar 2012 ist sie Mitarbeiterin im Direktionsstab an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel HGK FHNW. Publikationen u. a. Monika Dillier: Knabenmorgenblüthenträume (St. Gallen: Vexer, 2012); gelobtes Land, Foto- und Text-Essay von Christa Ziegler (Zürich: edition fink, 2009); Werner von Mutzenbecher – im Film sein (Freiburg i.Br.: Modo Verlag, 2006); Till Velten: Gespräche (Zürich: edition fink, 2006); When Attitudes escape form: Kunsthalle Basel 1969-1971 (Frankfurt a.M.: Revolver und Basel: Schwabe, 2004).
KÜNSTLERINNEN UND KÜNSTLER DER GESPRÄCHE
K ÜNSTLERINNEN UND K ÜNSTLER DER G ESPR ÄCHE Hans-Peter von Ah (1941-2011), Bildhauer, 1966-2006 Dozent an der heutigen Hochschule Luzern – Design & Kunst.
Judith Albert (*1969), Künstlerin, lebt und arbeitet zwischen Zürich und London, www.judithalbert.ch/ .
Eugen Bollin (*1939), Pater und Zeichenlehrer, lebt im Kloster Engelberg (Schweiz).
Anton Egloff (*1933), Bildender Künstler, 1964-1990 Dozent/Leiter Abteilung Freie Kunst der heutigen Hochschule Luzern – Design & Kunst, lebt in Luzern (Schweiz).
Kari Joller (*1952), Bildender Künstler, lebt in Dierikon (Schweiz). Christian Kathriner (*1974), Bildender Künstler, vgl. www.christiankathri ner.ch/ .
Robert Müller (*1962), Künstler, Regisseur und Produzent, Dozent an der Hochschule Luzern – Design & Kunst, lebt in Buttisholz (Schweiz).
Hinrich Sachs (*1962), Bildender Künstler und Autor, lehrt seit 2007 an der Kungliga Konsthögskolan in Stockholm, lebt in Basel (Schweiz).
Margrit Rosa Schmid (*1950), Bildende Künstlerin und Filmemacherin, leitet seit 2006 den SJW-Verlag, lebt in Zürich (Schweiz).
Cécile Stadelmann (*1947), Bildende Künstlerin, freie Dozentin für Kunst, Gestaltung und Kunsttherapie, lebt in Stans (Schweiz). Franz Wanner (*1956), Bildender Künstler, künstlerischer Mitarbeiter an der Akademie der Bildenden Künste München und Dozent am Departement für Architektur der ZHAW Winterthur, lebt in Walenstadtberg (Schweiz).
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L ITER ATURVERZEICHNIS (A USWAHL) Adorno, Theodor W.: Theses upon Art an Religion today (1945), in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1981, S. 647 – 653. Albrecht, Christian: Kunst und Religion, Ein Forschungsbericht, New York/Berlin (Walter de Gruyter) 2004, IJPT, vol. 8, S. 251-287. Apostolos-Cappadona, Diana: Art, Creativity, and the Sacred, New York (Continuum) 1995. Baltensberger, Marianne; Helbling, Regine (Hg.): Nunc Stans – Melchior Paul von Deschwanden (1811-2004)/Christian Kathriner (*1974), Stans (Nidwaldner Museum) 2004. Baumann, Martin: Religion und umstrittener öffentlicher Raum. Gesellschaftspolitische Konflikte und religiöse Symbole und Stätten im gegenwärtigen Europa, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 7, 1999, S. 187-204. Bednorz, Achim; Kluckert, Ehrenfried: Heilige Räume, Köln (DuMont) 2002. Beier-de Haan, Rosemarie; Jungblut, Marie-Paule (Hg.): Das Ausstellen und das Immaterielle, Beiträge der 1. Museologischen Studientage Neumünster 2006, Luxemburg (Dt. Kunstverlag München) 2007. Belting, Hans: Das echte Bild – Bildfragen als Glaubensfragen, München (C.H. Beck) 2005. Bianchi, Paolo: Das Neue Ausstellen II – Gott ausstellen, in: Denken 3000 Kunstforum International, Bd. 190, Köln 2008. Bichsel, Peter: Über Gott und die Welt, Texte zur Religion (hgg. von Mauz, Andreas), Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 2009. de Certeau, Michel: Arten und Weisen des Glaubens, in: ders.: Kunst des Handelns, Berlin (Merve) 2001. Daggett Dillenberger, Jane (Hg.): The Religious Art of Andy Warhol, Oregon, WI USA (Midwest Book Review) 2001. Doedens, Folkert: Bildende Kunst und Religionsunterricht. Theoretische Grundlagen der Praxis, Stuttgart/München (Kösel) 1972. Douglas, Mary: Ritual, Tabu und Körpersymbolik, Frankfurt a.M. (Fischer) 1986. Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1968), Frankfurt a.M. (Verlag der Weltreligionen) 2007. de Duve, Thierry: Auf, ihr Menschen, noch eine Anstrengung, wenn ihr post-christlich werden wollt! Zürich/Berlin (diaphanes) 2009. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1989. Frei, Urs Beat: Der Rosenkranz. Andacht – Geschichte – Kunst, Bern (Benteli) 2003. Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion (1927). Schriften zu Kultur und Religion, in: ders., Studienausgabe BD. IX, Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt a.M. (S. Fischer) 1974, S. 135-190.
LITERATURVERZEICHNIS
Gärtner, Claudia: Mehr als Bilder im Religionsunterricht. Kooperationen von Kunst- und Religionsunterricht berühren Grundvollzüge von Religion und Kunst, in: Theo-Web 7 (2008), H. 1, 158-171. Geertz, Clifford: Religion als kulturelles System, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1987, S. 44-95. Graf, Friedrich Wilhelm: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München (Beck) 2007. Gräb, Wilhelm: Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur, Gütersloh (Gütersloher Verlagshaus) 2006. Grimes, Ronald L.: Rite out of Place, New York (Oxford University Press) 2006. Groys, Boris, Weibel, Peter (Hg.): Medium Religion. Faith. Geopolitics, Art., Köln (Walther König) 2011. Gutmann, Hans-Martin, Gutwald, Cathrin (Hg.): Religiöse Wellness, Seelenheil heute, München (Wilhelm Fink) 2006. Habermas, Jürgen: Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den ‚öffentlichen Vernunftgebrauch‘ religiöser und säkularer Bürger, in: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 2005, S. 119-154. Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a.M. (Sonderdruck Ed. Suhrkamp), 2001. Harpur, James: Sacred Tracks – 2000 Years of Christian Pilgrimage, Berkeley (University of California Press) 2002. Henke, Silvia: Das Imaginäre ist schwindelerregend. Ein Versuch im Intermedialen, in: Huber, Jörg, Ziemer, Gesa, Zumsteg, Simon (Hg.): Archipele des Imaginären, Zürich (Ed. Voldemeer) 2008. Henke, Silvia, Spalinger Nika: Kunst und Religion. Vom transdisziplinären Forschungsprojekt zum Unterrichtsexperiment, in: Bachman, Ursula, Nigg, Marie-Louise (Hg.): Tangente: Inter- und transdisziplinäre Praxis in Kunst und Design, Luzern (Interact) 2010. Henke, Silvia: Innerlichkeit im erweiterten Sinn. Betrachtungen eines Innerschweizer Topos im Lichte der Gegenwart, in: TANDEM, Ein Projekt des Schweizer Kunstvereins und der Hochschule Luzern Design & Kunst, Alpnach (Verlag Martin Wallimann) 2011, S. 19-25. Herzogenrath, Wulf: Die Räume der Religion und der Künste, in: Bürgel, Rainer (Hg.): Raum und Ritual. Kirchbau und Gottesdienst in theologischer und ästhetischer Sicht, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1995, S. 115-135. Heumann, Jürgen (Hg.): Stadt ohne Religion? Zur Veränderung von Religion in Städten: Interdisziplinäre Zugänge (Religion in der Öffentlichkeit, Bd. 7), Frankfurt a. M. (Lang) 2005.
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Höffe, Otfried: Einführung in Kants Religionsschrift, in: ders. (Hg.): Immanuel Kant: die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Berlin (Akademie Verlag) 2011. Jakobs, Monika: Religiosität als biografische Verarbeitung von Religion. Religionssoziologische Perspektiven, in: Angel, Hans-Ferdinand (Hg.): Religiosität. Anthropologische, theologische und sozialwissenschaftliche Klärungen, Stuttgart (Kohlhammer) 2006, S. 116-132. Jakobs, Monika: Konfessioneller Religionsunterricht in multireligiöser Gesellschaft: eine empirische Studie für die deutschsprachige Schweiz, Zürich (Theologischer Verlag, Beiträge zur Pastoralsoziologie 13) 2009. Joas, Hans: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg i. Br. (Herder) 2004. Joas, Hans: Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt a. M. (Fischer) 2007. Joswig, Benita: Altäre. Theologie und Kunst im urbanen Raum – ein Tischprojekt, Gütersloh (Gütersloher Verlagshaus) 2003. Klie, Thomas, Leonhard, Silke (Hg.): Performative Religionsdidaktik. Perspektiven und Unterrichtspraxis, Stuttgart (Kohlhammer) 2008. Knoblauch, Hubert: Ganzheitliche Bewegungen, Transzendenzerfahrung und die Entdifferenzierung von Kultur und Religion in Europa, in: Berliner Journal für Soziologie 2002, S. 296-307. Kristeva, Julia: Le Christ mort de Holbein, in: dies.: Soleil noir. Mélancolie et dépression, Paris (Gallimard) 1987, S. 117-150. Latour, Bruno: Jubilieren, Über religiöse Rede, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2011. Lichtin, Christoph, Schneemann, Peter J.: Das Künstlerinterview: Analyse eines Kunstprodukts, Bern (Lang) 2004. Marx, Wolfgang: Der sakrale Raum als öffentlicher. Elemente einer Ästhetik religiöser Raumgestaltung, in: Bürgel, Rainer (Hg.): Raum und Ritual. Kirchbau und Gottesdienst in theologischer und ästhetischer Sicht, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1995, S. 25-38. Mennekes, Friedhelm: Künstlerisches Denken und Spiritualität, München (Artemis & Winkler) 1995. Mertin, Andreas, Wendt, Karin: Mit zeitgenössischer Kunst unterrichten, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2004. Mertin, Andreas, Herrmann, Jörg; Valtink, Eveline (Hg.): Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, München (Fink) 1998. Mertin, Andreas (Hg.): tà katoptrizómena – Magazin für Kunst/Kultur/Theologie/ Ästhetik, Online-Magazin, 14. Jg. (alle Hefte verfügbar unter http:///www. theomag.de). Mollenhauer, Klaus: Die vergessenen Dimensionen des Ästhetischen in der Erziehungs- und Bildungstheorie, in: Lenzen, Dieter (Hg.): Kunst und Pädagogik. Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Ästhetik?, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1990.
LITERATURVERZEICHNIS
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BILDNACHWEISE
B ILDNACHWEISE Wo nicht anders vermerkt, haben uns die Künstlerinnen und Künstler freundlicherweise ihre Fotografien zur Verfügung gestellt. S. 23 Courtesy of KULTUMDepot Graz, Sammlung Religion in der Kunst S. 24 Courtesy of Jesuitenkirche Wien, Foto: Daniela Beranek S. 26 Foto: Manfred Erjautz S. 27 Courtesy of Kunsthalle Basel, © Foto Christian Vogt S. 28 © Keyhoff Verlag München S. 30 Courtesy of Georg Kargl Fine Arts Vienna S. 31 Courtesy of the Artist S. 32 Courtesy of KULTUMDepot Graz, Sammlung Religion in der Kunst S. 33 Courtesy of Galerie Peter Kilchmann, Zürich und KULTUMDepot Graz, Sammlung Religion in der Kunst S. 34 Courtesy of the Museum of Contemporary Art, Rijeka, © Foto Christian Nguyen S. 37 Foto Stephen White S. 39 Privatsammlung Graz S. 41 Courtesy of KULTUMDepot Graz, Sammlung Religion in der Kunst S. 45 Abb. aus: Herzogenrath, Wulf (Hg.): Nam June Paik – Fluxus/Video, Ausstellungskatalog, Kunsthalle Bremen 1999/2000, S. 187. S. 47 Wikimedia Commons S. 55 Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, Bildergalerie Schloss Sanssouci, Potsdam, Abb. aus: Marini, Maurizio: Michelangelo Merisi da Caravaggio ‚pictor praestantissimus’, Rom (Newton Compton) 1987, S. 177. S. 57 Courtesy of Gagosian Gallery S. 66 © Foto Stefan Daub, Darmstadt S. 67 © Foto Dominique Uldry, Bern S. 68-69 © Foto Rémy Gindroz S. 74 © Foto Stefan Altenburger S. 99 © Foto Nika Spalinger S. 119 © National Gallery, London S. 124 Wikimedia Commons S. 125 Royal Collection of the United Kingdom (Wikimedia Commons) S. 130 © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved, DACS 2011 S. 131 © of the artist, Courtesy of Anthony Reynolds Gallery, London S. 154 Courtesy of Kösel-Verlag, München S. 157 © Salvador Dalí, Gala-Salvador Dalí Foundation / 2012, ProLitteris, Zürich S. 177 © Patrycja German, Pro Litteris, Courtesy Bernd Kugler, Innsbruck S. 183 © Foto Goran Galic S. 184 © Foto Nika Spalinger
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S. 186 © Foto Nika Spalinger S. 199 © Foto Andreas Hagenbach S. 203 Abb. aus: Britschgi, Markus: Eugen Bollin – Magdalena. Zeichnungen, Luzern (Diopter-Verlag für Kunst und Fotografie) 2000 S. 205 © Foto Theres Bütler, Luzern S. 217 Bildarchiv Kantonale Denkmalpflege Zug, © Alois Ottiger, Zug S. 218 © Foto Kurt Sigrist, Sarnen S. 220 © Foto Daniel Schönbächler, Disentis S. 222 © Foto Robert Baumann, Luzern S. 241 Privatbesitz Berlin, © Albrecht Schnider, Foto Torsten Leukert, Berlin S. 247 Abb. aus: Ian Anüll, Ausstellungskatalog Kunsthalle Zürich, St. Gallen (Vexer) 1990, S. 35. S. 248 Kunstverein Uri, Depositum an der Autobahnraststätte My Stopp, Schattdorf/Uri, © Foto Franz Wanner, Walenstadtberg S. 260 © Foto Andri Stadler S. 263 Eigentum der Gemeinde Locarno, Abb. aus: „Ich male für fromme Gemüter“ – Zur religiösen Schweizer Malerei im 19. Jahrhundert, Ausstellungskatalog, Kunstmuseum Luzern 1985, S. 201, Foto Lerch Endrik Foto, Ascona. S. 270 © Foto Rémy Gindroz S. 268 © Hamburger Kunsthalle / bpk (Foto: Elke Walford) S. 273 Öffentliche Kunstsammlung Basel, Kunstmuseum, Abb. aus: Hahn-Woernle, Birgit: Sebastian Stoskopff, Stuttgart (Gerd Hatje), 1996, S. 135.
Image Thomas Abel, Martin Roman Deppner (Hg.) Undisziplinierte Bilder Fotografie als dialogische Struktur August 2012, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1491-6
Doris Guth, Elisabeth Priedl (Hg.) Bilder der Liebe Liebe, Begehren und Geschlechterverhältnisse in der Kunst der Frühen Neuzeit Oktober 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1869-3
Lilian Haberer, Annette Urban (Hg.) Bildprojektionen Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur September 2012, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1711-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Image Katja Hoffmann Ausstellungen als Wissensordnungen Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11 August 2012, ca. 496 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2020-7
Lill-Ann Körber Badende Männer Der nackte männliche Körper in der skandinavischen Malerei und Fotografie des frühen 20. Jahrhunderts Juli 2012, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-2093-1
Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Juli 2012, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Image Elize Bisanz (Hg.) Das Bild zwischen Kognition und Kreativität Interdisziplinäre Zugänge zum bildhaften Denken 2011, 426 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1365-0
Viola Luz Wenn Kunst behindert wird Zur Rezeption von Werken geistig behinderter Künstlerinnen und Künstler in der Bundesrepublik Deutschland Juni 2012, 558 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2011-5
Julia Bulk Neue Orte der Utopie Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen
Jeannette Neustadt Ökonomische Ästhetik und Markenkult Reflexionen über das Phänomen Marke in der Gegenwartskunst
August 2012, ca. 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1613-2
2011, 468 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1659-0
Walburga Hülk Bewegung als Mythologie der Moderne Vier Studien zu Baudelaire, Flaubert, Taine, Valéry
Christine Nippe Kunst baut Stadt Künstler und ihre Metropolenbilder in Berlin und New York
Juni 2012, 242 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2008-5
Doris Ingrisch Pionierinnen und Pioniere der Spätmoderne Künstlerische Lebens- und Arbeitsformen als Inspirationen für ein neues Denken Januar 2012, 288 Seiten, kart., mit DVD, 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1792-4
Dietmar Kammerer (Hg.) Vom Publicum Das Öffentliche in der Kunst Mai 2012, 246 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1673-6
2011, 382 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1683-5
Alejandro Perdomo Daniels Die Verwandlung der Dinge Zur Ästhetik der Aneignung in der New Yorker Kunstszene Mitte des 20. Jahrhunderts 2011, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1915-7
Eva Reifert Die »Night Sky«-Gemälde von Vija Celmins Malerei zwischen Repräsentationskritik und Sichtbarkeitsereignis 2011, 258 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1907-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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